Kunst und Erinnerung: Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters 9783412321932, 3412099023, 9783412099022


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Kunst und Erinnerung: Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters
 9783412321932, 3412099023, 9783412099022

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Ulrich Ernst und Klaus Ridder (Hg.) · Kunst und Erinnerung

ORDO Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit Herausgegeben von Ulrich Ernst, Christel Meier und Klaus Ridder

Band 8

Ulrich Ernst und Klaus Ridder (Hg.)

Kunst und Erinnerung Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters

§

2003

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2003 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91 39 00, Fax (0221) 91 39 011 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: MVR Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-09902-3

Inhalt

EINLEITUNG

IX

I. MNEMOTECHNISCHES SCHRIFTTUM SABINE HEIMANN-SEELBACH

Konzeptualisierung von Mnemotechnik im Mittelalter 3

II. ANTIKENROMAN U D O SCHÖNING

Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische Antikenroman 33 BARBARA HAUPT

Altiu mcere aus alten ziten. Historische Erinnerung im Spannungsfeld von Oralität und Literalität. Zu Lamprechts 'Alexander' 53

III. HELDENEPIK HARALD HAFERLAND:

Das Gedächtnis des Sängers. Zur Entstehung der Fassung *C des 'Nibelungenliedes' 87

Inhalt

IV. HÖFISCHER ROMAN KATHARINA PHILIPOWSKI

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung. Sein und Nicht-Sein in der Dichtung des Mittelalters 139 WALTRAUD FRITSCH-RÖBLER

Multiple Memorialisierung in Gottfrieds von Straßburg 'Tristan' 159

V. CHANSON DE GESTE MARTIN PRZYBILSKI

Die Selbstvergessenheit des Kriegers. Rennewart in Wolframs 'Willehalm' 201 JÜRGEN WOLF

Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur 223 VI. LEGENDE UND THEOLOGISCHE ANTHROPOLOGIE EDITH FEISTNER

Imitatio als Funktion der Memoria. Zur Selbstreferentialität des religiösen Gedächtnisses in der Hagiographie des Mittelalters 259 WENDELIN KNOCH

Selbsterkenntnis und Selbstvergessen im Spiegel des Gotteswortes Bernhard von Clairvaux 277

VI

Inhalt

VII. AUTOBIOGRAPHISCHE KINDHEITSERINNERUNG FRIEDRICH WOLFZETTEL

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung 291

QUELLENREGISTER 315

FORSCHERREGISTER 319

ADRESSEN DER BEITRÄGER UND HERAUSGEBER 325

Einleitung

Als der französische Historiker Pierre Nora dazu aufrief, die lieux de memoire, die Gedächtnisorte des französischen Nationalbewußtseins zu versammeln,1 war kaum damit zu rechnen, daß dieser Gedanke eine Welle von Gedächtnisforschung auf ganz unterschiedlichen Gebieten auslösen würde. Die Auseinandersetzung über den aktuellen Kult des Gedächtnisses hat mittlerweile ihren festen Platz in den Feuilletons gefunden (FAZ 8.7.1998, S.41; 2.9.1998, S. N6), und die ganze Richtung hat von Henri Rousso bedenkenswerte Kritik erfahren (FAZ 5.5.1998, S. 41). Die Frage nach dem Verhältnis von Gedächtnis und Kultur, nach der Bedeutung der Erinnerung und des Vergessens in verschiedenen Epochen und Kulturen, hat sich jedoch insgesamt als sehr fruchtbar erwiesen.2 Insbesondere in der Geschichtswissenschaft ist das 'kulturelle Gedächtnis' das große Thema der letzten Jahre.3 In den Kultur- und Literaturwissenschaften steht heute vielfach die Frage nach den Gedächtnistheorien und Erinnerungstechniken im Vordergrund, nachdem die Aufarbeitung der lateinischen Gedächtnistraktate des Mittelalters in der Vergangenheit eher vernachlässigt worden ist. Die anhaltende Auseinandersetzung um das epochemachende Buch von FRANCES A. YATES4 ist hier ebenso zu nennen wie die Studie v o n MARY CARRUTHERS5 und das Projekt v o n JOCHEN BERNS und WOLFGANG NEUBER, das auf die Erfassung aller mittelalterlichen und frühneuzeit-

lichen Traktate zur ars memorativa zielt.6 Diese Arbeiten erschließen die Gat' Vgl. Les lieux de memoire, sous la direction de P. NORA, Paris 1984ff. Vgl. beispielsweise J. ASSMANN / T . HÖLSCHER (Hgg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988; J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl. München 1997; Α. ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; H. WEINRICH, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997. 3 Vgl. O. G. OEXLE, Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: J. HEINZLE (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder in einer populären Epoche, Frankfurt a. M. 1994, S. 297-323 sowie D. GEUENICH / O. G. OEXLE (Hgg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Göttingen 1994, (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111); O . G. OEXLE (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121). 4 Vgl. F. A. YATES, The Art of Memory, London 1966 (dt. Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990) sowie den Bericht über die Potsdamer Tagung zum Werk von YATES in der FAZ vom 25.3.1998, S. N6. 5 Vgl. M. CARRUTHERS, The book of memory. A study of memory in medieval culture, Cambridge 1990. 6 Vgl. J. J. BERNS / W . NEUBER (Hgg.), Documenta mnemonica. Text- und Bildzeugen zu Gedächtnislehren und Gedächtniskünsten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit, Bd. II: Das enzyklopädische Gedächtnis der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998; vgl. auch die von BERNS und NEUBER herausgegebenen Tagungsbände: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400 - 1750, Tübingen 1993, (Frühe Neuzeit 2

Einleitung

tungsgeschichte der Mnemonik und Wechselwirkungen der mnemotechnischen Theoriebildung mit anderen Wissensdiskursen.7 Auch die mediävistische Literaturwissenschaft diskutiert intensiv die Bedeutung des Gedächtnisses für die Produktion und Rezeption mittelalterlicher Literatur.8 Die Transformation von antik-mittelalterlichen Gedächtnistheorien und Erinnerungstechniken in literarisch-ästhetische Formen stand jedoch bisher nicht im Blickpunkt. Ebenso ist das moderne theoretische Denken über das Erinnern und Vergessen nur sporadisch für das Verständnis mittelalterlicher Literatur fruchtbar gemacht worden. Die von SIEGFRIED J. SCHMIDT entwickelte konstruktivistische Gedächtnistheorie faßt beispielsweise das Gedächtnis nicht mehr als Aufbewahrungsinstrument, sondern „als Konstruktionsarbeit" auf. Erinnern wird nicht als Rekonstruktion, sondern als Konstitution eines Erlebnisses eigener Art gesehen. Daher liegt es nahe, einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Erinnern und Erzählen anzunehmen, dergestalt, „daß die Organisation des Erlebens, die Koordination von Wahrnehmungen durch handlungsschematische Strukturen und die Organisationsmuster des Erinnerns mit den Schemata kohärenter Erzählungen (Geschichten) strukturell vergleichbar sind".9 Der vorliegende Band stellt das Verhältnis von mittelalterlichen und modernen Gedächtnis- und Imaginationskonzepten zu Literarisierungsstrategien des Erkennens und Erinnerns in den Mittelpunkt. Die Perspektive soll zum einen auf der Ebene von literarischen Strukturen, Episoden, Motiven und Symbolen im einzelnen Werk verfolgt, zum anderen auf literarische Gattungen und Texttypen ausgeweitet werden. Sowohl die ästhetische Spezifik des Einzelwerkes als auch der größere literarhistorische und gattungspoetische Zusammenhang kommen auf diese Weise in den Blick. Das Buch bietet Beiträge zum mnemotechnischen Schrifttum, zur Heldenepik und Chanson de geste, zum höfischem Roman, zur Hagio-

7 8

9

X

15); Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien 2000, (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), sowie die Monographien von S. HEIMANN-SEELBACH, Ars und Scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Mit Edition und Untersuchung dreier deutscher Traktate und ihrer lateinischen Vorlagen, Tübingen 2000 und B. KELLER-DALL'ASTA, Heilsplan und Gedächtnis. Zur Mnemologie des 16. Jahrhunderts in Italien, Heidelberg 2001. Vgl. z.B. U. ERNST, Memoria und ars memorativa in der Tradition der Enzyklopädie, in: J. J. B E R N S / W . NEUBER ( H g g . ) , S e e l e n m a s c h i n e n ( w i e A n m . 6), S. 1 0 9 - 1 6 8 .

Vgl. H. WENZEL, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995; B. KELLNER, Autorität und Gedächtnis. Strategien der Legitimierung volkssprachlichen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg .Tristan', in: J. FOHRMANN u.a. (Hgg.), Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997, Bielefeld 1999, Bd. 2, S. 484-508. S. J. SCHMIDT, Gedächtnis - Erzählen - Identität, in: A. ASSMANN / D. HARTH (Hgg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 378-397, hier S. 378.

Einleitung

graphie und theologischen Anthropologie sowie zur autobiographischen Kindheitserinnerung. Heldenepik versteht man schon seit längerem als mündliches Geschichtsgedächtnis, als eine Form der kollektiven Adelsmemoria.10 Solche Überlegungen schließen an die Diskussion über das kulturelle Gedächtnis nichtliterarisierter Gesellschaften an. Mündlich tradierte Helden- oder Heiligenmemoria wird dann im 12. Jahrhundert, wie etwa die Chansons de geste im französischanglonormannischen Raum dokumentieren, verschriftlicht und als ein besonderer Typus volkssprachiger Geschichtsüberlieferung neu funktionalisiert. Die Forschung hat sich intensiv mit der Bedeutung des Medienwechsels, mit den Konsequenzen des Übergangs vom Gedächtnis des Sängers zum Gedächtnis der Texte beschäftigt. Man hat nach fingierter oder nachempfundener Mündlichkeit in der schriftlich tradierten Heldenepik gefahndet, dabei aber die Möglichkeit einer 'auswendigen Tradierung' der strophischen Heldenepik kaum mehr erwogen. Die Einbeziehung antik-mittelalterlicher und moderner Gedächtniskonzepte vermag auch hier neue Einsichten zur Struktur sowie zur Vortrags- und Tradierungsform dieser Werke zu liefern. Die Frage nach der Ambivalenz von Erinnern und Vergessen, von Erinnerungsstruktur und Vergessenssymbolik, von Erkennen und Verkennen fuhrt bei vielen volkssprachigen höfischen Romanen des Hochmittelalters ins Zentrum der Sinnvermittlung. Die Autoren reflektieren diese Probleme, und die Werke selbst sind Zeugnisse solcher Reflexionsprozesse. Der Medienwechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit (Autor - Erzähler), die neue Akzentuierung der Liebesthematik (Präsenz - Absenz) sowie die zunehmende Psychologisierung des Erzählens (Innen - Außen) befördern die Auseinandersetzung mit diesem Komplex. Es scheint daher gerechtfertigt, von einer Poetik des Erinnerns und Vergessens im höfischen Roman zu sprechen.11 Die rationale und die affektive Dimension der Memoria spielt aber nicht nur im höfischen Roman eine Rolle. Formen von Rationalisierung und Verinnerlichung manifestieren sich im 12. Jahrhundert auf sehr viel breiterer Basis. Im religiösen Bereich begegnet eine hochaffektive Braut- und Passionsmystik. Selbsterkenntnis als Zurücklassen menschlicher Bedingtheit wird in der Sprache der Mystik als 10

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Vgl. dazu W. HAUBRICHS, Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/60), Frankfurt a.M. 1988, (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1,1), S. 140ff. Vgl. z.B. die entsprechenden Beiträge in den Bänden A. HAVERKAMP / R. LACHMANN (Hgg.) / R. HERZOG (Mitwirkung), Memoria, Vergessen und Erinnern, München 1993, (Poetik und Hermeneutik XV); W. HAUBRICHS (Hg.), Memoria in der Literatur, Stuttgart 1997, (LiLi 27); W. FRÜHWALD u.a. (Hgg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998 sowie K. RIDDER, Parzivals schmerzliche Erinnerung, LiLi 29 (1999), S. 21-41.

XI

Einleitung

'Sich-Vergessen' bezeichnet, das der Memoria des Menschen als Erkenntnis der Selbstmitteilung Gottes den Weg bereitet. Inwieweit beispielsweise die mystische Reflexion von Affektivität, Personsein und Gotteserkenntnis und die in den höfischen Romanen dargestellten Formen affektiver Personenbindungen unter dem Gesichtspunkt von Vergessen und Erinnern zusammenhängen, ist eine noch weitgehend offene Frage. Die Kodierungen des Erinnerns und Vergessens in der Legende unterscheiden sich deutlich von denen in der mystischen Literatur. Memoria meint hier die zeichenhafte Vergegenwärtigung des körperhaft nicht mehr anwesenden Heiligen, den Kampf gegen das permanent drohende Vergessen und das Bemühen um Gedächtnissicherung durch kontinuierliche Tradierung. Erinnerung ist nicht als subjektiver Akt der Selbstdeutung, sondern als eine von Gott verliehene Gnade der religiösen Erfahrung gefaßt. Die Spannung von heilssichernd-erlösendem Erinnern und sündhaft-teuflischem Vergessen ist für die Spezifik des religiösen Gedächtnisses im christlichen Mittelalter sicher konstitutiv. In ihren verschiedenen textuellen Ausprägungen ist sie allerdings erst ansatzweise in den Blick gekommen.12 In der autobiographischen Literatur des Mittelalters kommt der subjektiven Erinnerung große Relevanz zu. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts schreibt Guibert de Nogent eine Autobiographie ('De vita sua'), die zwar auf den 'Confessiones' von Augustinus fußt, die Darstellung der Kindheit jedoch am Modell der Heiligenvita (Motiv der frühen Berufung) orientiert. Weniger für die erzählende Literatur, wohl aber für die neue höfische Lyrik in Frankreich ist dann der Modus der subjektiven Erinnerung bestimmend. Eröffnend zeichnet SABINE HEIMANN-SEELBACH die Entwicklung der ars memorativa im Mittelalter nach, die in einem explosionsartigen Ansteigen der Zahl der mnemotechnischen Schriften in den 40er Jahren des 15. Jahrhunderts ihren Höhepunkt findet. Anhand exemplarischer Analysen zu Albertus Magnus und Bernhard von Clairvaux sowie zu zwei anonym überlieferten Texten ('Nunc igitur' und 'Artificiosa Memoria secundum parisienses') aus dem 15. Jahrhundert legt sie dar, daß vor allen Dingen die 'Rhetorica ad Herennium', die Cicero zugeschrieben wurden, und die aristotelischen Werke 'De anima' und 'De memoria et reminiscentia' die mittelalterlichen Autoren beeinflußt haben. Dieser Rezeptionsprozeß fuhrt zu unterschiedlichen Konzeptionen des (artifiziellen) Gedächtnisses, indem die antiken Werke im christlichen Kontext mit theologisch-ethischen, rationalistisch-erkenntnistheoretischen oder psychologisch-spekulativen Reflexionstraditionen vermittelt werden. 12

XII

Grundlegend zu diesem Komplex C. MEIER, Vergessen, Erinnern, Gedächtnis im GottMensch-Bezug, in: Verbum et Signum. Bd. 1: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, hg. von H. F R O M M u.a., München 1975, S. 143-194.

Einleitung

U D O SCHÖNING untersucht den Transfer antiken Geschichtswissens durch die Antikenromane in die französische Adelskultur des 12. Jahrhunderts. Die literarische Erinnerung interpretiert die antike Vergangenheit als Vorgeschichte der eigenen Gegenwart und fördert zugleich die Herausbildung eines sozial exklusiven, auf Klerus und Adel beschränkten, kollektiven Gedächtnisses. Der Gedanke des Erinnerns wird in diesem Prozeß zum literarästhetischen Programm. Zudem geht SCHÖNING der Frage nach, wie die Erinnerung an die Antike im Roman inszeniert wird. Die Texte halten die Distanz zwischen der Ebene des aktuellen Erzählens und der dargestellten Vergangenheit stets bewußt. Die Erinnerung schafft die Möglichkeit, zwischen beiden Horizonten deutend zu vermitteln. Dem altfranzösischen Antikenroman kommt im Vorgang der „Herausbildung einer neuen höfischen Erinnerungskultur" ein besonderer Stellenwert zu. BARBARA HAUPT legt dar, daß der Pfaffe Lamprecht die schriftliterarische Erinnerung an Alexander, die er in seiner altfranzösischen Vorlage vorfand, nach dem Muster mündlicher volkssprachiger Heldenepik gestaltet. Er siedelt damit das Werk „bewußt in einer kulturellen Übergangszone" zwischen schriftlich fixierter lateinischer Geschichtsschreibung und mündlich-heroischer Geschichtsüberlieferung an. Lamprecht wendet sich von heilsgeschichtlich orientierten Erzählkonzepten ab, zeichnet ein primär weltliches Bild des Herrschers und schafft ein 'literarisches Heldenepos'. Alexander kann so für ein feudaladliges Publikum, das weitgehend noch in oraler Kultur verwurzelt ist, zu einer geschichtlichen Erinnerungs- und Identifikationsfigur werden. Lamprechts Akzentuierung des Alexanderstoffes bereitet somit auf der einen Seite der späteren Literarisierung des Heldenepos den Weg, wertet jedoch das mündlich tradierte Heldengedächtnis gegenüber den vielfach begegnenden Polemiken von klerikaler Seite auch deutlich auf.

sieht in der Fassung *C des 'Nibelungenliedes' ein „Relikt der untergehenden Kultur der Mündlichkeit". Er untersucht die Abweichungen dieser Fassung von der Version *B und gelangt zu dem Ergebnis, daß die Varianten nicht auf einem konkreten Bearbeitungsplan beruhen, sondern einem improvisierenden Sänger zuzuschreiben sind, der Gedächtnislücken ad hoc mit Ersatzstrophen und Flickversen ausfüllt. HAFERLAND spricht in diesem Zusammenhang von „aleatorischen Abweichungen". Er nimmt an, daß die Fassung *C aus dem Diktat eines solchen Sängers entstanden ist, dieser Redaktion also kein materieller Schriftträger zugrunde lag oder diesem nur marginale Bedeutung zukam; der Ausgangsfassung *B und der Version *C sei vielmehr das Gedächtnis des Sängers zwischengeschaltet. HAFERLAND beschäftigt sich ferner mit der Frage nach der Technik, die der Sänger angewandt hat, um den Text zu memorieren, und rekurriert dabei u.a. auf moderne psychologische Erkenntnisse der GedächtnisforHARALD HAFERLAND

XIII

Einleitung

schung. Er kommt zu dem Schluß, daß die Fassung *C auf die mnemotechnische Leistung eines einzelnen Sängers zurückzuführen ist und nicht - wie in der Forschung bisher angenommen - mehrere Vortragende zu ihrer Entstehung beigetragen haben. Die Problematik von Erinnern und Vergessen in heroischem und höfischem Epos steht im Zentrum des Aufsatzes von KATHARINA PHILIPOWSKI. Das Vergessen ist in diesen Werktypen eine „nahezu allgegenwärtige Bedrohung" der kriegerisch-höfischen Identität, das „richtige Maß an Erinnerung" aber „existentiell für denjenigen, der Herrschaft ausüben muß". Das Vergessen wird häufig den Protagonisten zugeschrieben (Erec, Iwein, Tristan), während eine zu starke Erinnerung eher als ein Problem der Frauen erscheint (Brünhild, Kriemhild). Erinnerung und Vergessen dürfen dabei nicht „abstrakt und unkörperlich" bleiben, sondern müssen an einen Körper gebunden werden. Im 'Willehalm' beispielsweise vergegenwärtigt der Leib des Heroen durch die asketische Nahrungsbeschränkung die entbehrungsreiche Situation in Orange. Information und Körper bilden dabei eine Einheit. Offenbar ist es nicht unproblematisch, etwas nicht mehr unmittelbar Gegenwärtiges gegenüber der Übermacht des sinnlich Wahrnehmbaren in der Erinnerung festzuhalten. Für PHILIPOWSKI ist der Körper des Heroen der ausschließliche Träger der Identität; Innen und Außen sind noch nicht auseinandergetreten. Fehlen körperliche Informationsträger (z.B. Kleidung, Schmuck und Rüstung), dann gerät sogar die betreffende Figur selbst in Verwirrung über ihre Position in der Gesellschaft: Sie verliert „die Erinnerung an sich selbst" (Iwein) und damit ihre Identität. WALTRAUD FRITSCH-ROBLER entfaltet die These, daß Gottfried den 'Tristan' als Ganzes unter dem Signum der Memoria strukturiert und semantisiert habe. Nach einer Analyse des Prologs konzentriert sie sich insbesondere auf die Interpretation der Minnegrotte, die sie als eine Allegorie des Gedächtnisses versteht. Die Konzeption einer Theorie des Vergessens, die sich mit dem Phänomen der Erinnerung verschränkt, kommt nach FRITSCH-ROBLER im Hündchen Petitcreiu personifiziert zum Ausdruck. Die Verfasserin gewichtet den Aspekt der Erinnerung im 'Tristan' neu, indem sie die Liebesgemeinschaft von Tristan und Isolde als Memorialgemeinschaft bezeichnet; die Liebe vollzieht und erhält sich im bewußten Erinnern. Dieser Memoria-Bezug spiegelt sich im Werk facettenreich auf mehreren Ebenen wider. Die Figur des Rennewart in Wolframs 'Willehalm' sieht MARTIN PRZYBILSKI geprägt von den Motiven des Verwandtenhasses und des Vergessens, der eigenen Vergeßlichkeit und des Vergessenwerdens durch die Sippe. Für Rennewarts Gedächtnisschwäche ist seine tumpheit verantwortlich; sie bezieht sich auf seine wichtigsten Utensilien: die Waffen. PRZYBILSKI sieht im Vergessen der Waffen

XIV

Einleitung

die Selbstvergessenheit des Kriegers repräsentiert. Diese ist notwendig, um im Krieg gegen die eigenen Verwandten antreten zu können. Im Verbrennen der Stange - Rennewarts signifikantes Kampfgerät - erkennt der Verfasser eine symbolische Transferierung des Helden, der seinen höchsten persönlichen Wert (Sippenbindung) durch einen anderen (Krieg als Lebensform) ersetzen muß. Der Verstoß gegen das ursprüngliche Ideal endet in einer Katastrophe. Hierin sieht PRZYBILSKI den Grund für das Verschwinden der Figur am Ende des Werkes. JÜRGEN W O L F geht der Frage nach, ob sich im 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach neben historiographischen Momenten auch Tendenzen einer Heiligen-Memoria, eines Fürstenspiegels und höfischer Repräsentationskunst nachweisen lassen. Er stellt bereits in der französischen Vorlage fur das deutsche Epos, der 'Chanson d'Aliscans', einen ambivalent historiographisch-hagiographischen Charakter fest. Das Werk verbindet oral vermittelte Memorialkultur mit ursprünglich schriftlicher Geschichtsdichtung. Eine mündlich erinnerte Geschichte oder Legende wird schriftlich in neue Zusammenhänge integriert (Zyklusbildung) und schließlich von Wolfram für einen ganz anderen Kulturraum adaptiert. Spätestens seit seiner Aufnahme in die 'Weltchronik' Heinrichs von München im ausgehenden 14. Jahrhundert ist der „Willehalm" dann ein fester Bestandteil höfischer Geschichtsschreibung geworden. Der ursprünglich konkrete Gegenstand der Memoria, der Ritterheilige Guillaume, verliert dabei in den verschiedenen Phasen der Literarisierung soweit an Kontur, daß die memorierte Figur ein letztlich sogar völlig vom historischen Ursprung losgelöstes Eigenleben entfalten kann. In der Tradierung und der jeweils unterschiedlichen Funktionalisierung entwickelt die Memoria eine komplexe, weit über das Erinnern hinausreichende Eigendynamik. Sie wird zu einem aktiv wirkenden Gegenstand von Didaxe, Propaganda, Andacht und (Heiligen)kult. versteht die memoriale Funktion der mittelalterlichen Hagiographie in Anlehnung an den memorialen Charakter gottesdienstlicher Liturgie. Die Eucharistie als Gedächtnisfeier der Passion und Auferstehung Christi erinnert die Gläubigen zugleich an die verheißene Erlösung der Menschheit. Die in den Legenden festgehaltenen Heiligenviten erfüllen einen ähnlichen - paraliturgischen - Zweck: Durch ihre imitatio des Lebens Jesu stellen die Heiligen eine weitere Vermittlungsebene dar, die als menschliches Spiegelbild göttlichen Wirkens die religiöse Memoria ermöglicht. Die schriftliche Fixierung ihrer Lebens- und Leidensgeschichten schützt das zu Erinnernde vor dem Vergessen. Die Gefährdung der Erinnerung durch das Vergessen ist laut FEISTNER Ziel des Teufels, der danach strebt, die Objekte der Vermittlung von Erinnerung, insbesondere die Leichname der Heiligen, die primären memorialen Verweischarakter besitzen, zu zerstören. EDITH FEISTNER

XV

Einleitung

Religiöse Memoria ist insofern keine vom Menschen technisch steuerbare intellektuelle Fähigkeit, sondern eine Gnadengabe Gottes, die es dem Menschen ermöglicht, die durch den Sündenfall bedingte Entfernung vom Schöpfer partiell zu überbrücken. WENDELIN KNOCH analysiert den Standpunkt Bernhards von Clairvaux zur Memoria, die in den Weg des Sich-Findens der Seele in Gott eingebunden ist. Der Verfasser erläutert die mystische Theologie Bernhards, die das Erkennen der eigenen Sündhaftigkeit an den Anfang aller Selbsterkenntnis setzt. Diese „fußt auf dem liebenden Handeln Gottes, der auf diese Weise den Akt der Umkehr einleitet." Gott, der als Liebesmacht den Zielpunkt allen Sehnens darstellt, kann auf dem Weg der Überwindung der Selbstliebe und der im Sinne einer Christusnachfolge praktizierten Nächstenliebe geschaut werden. Dabei ist es ausschlaggebend, daß Gott selbst eine Vereinigung mit der gläubigen Seele als einer „Hochzeit des Herzens" wünscht. In ihr erfolgt eine Selbstgabe Gottes verbunden mit menschlicher Selbstaufgabe, und die Selbstmitteilung Gottes kann nun über das sich Versenken in sein Wort hinaus genossen werden. hebt abschließend - in Abgrenzung zur These von Philippe Aries, das Mittelalter habe über keinen Begriff von Kindheit verfugt - die Bedeutung autobiographischer Kindheitserinnerung in der Literatur hervor. Bereits am Beginn des 12. Jahrhunderts sieht Guibert de Nogent ('De vita sua') Kindheit als einen wesentlichen Teil des eigenen Lebens, der - ebenso wie die sich anschließende frühe Adoleszenz - die spätere klerikale Laufbahn vorbereitet. Im lyrischen Diskurs ist die subjektive Erinnerung ein konstituierendes Element: Im höfischen Liebeslied wird die Spannung zwischen Sehnsucht und Erinnerung thematisiert, die durch das Vergessen zunichte gemacht wird. Auch hier spielt die im Modus der Erinnerung reflektierte Kindheit eine bedeutende Rolle, etwa bei einem Autor wie Gace Brule, fur den Dichten ohne den Rekurs auf die enfance nicht möglich ist. Das Liebesgefuhl, welches das Singen erst ermöglicht, ist für ihn in frühen Jugenderlebnissen vorgeprägt und bedingt damit das gegenwärtige Erleben. Bei den Vertretern der Seconde Rhetorique Anfang des 14. Jahrhunderts erhält die Erinnerung dann einen authentifizierenden und poetologischen Stellenwert. Dichter wie Jean Froissart betonen in Rückblenden auf ihre Kindheit und Jugend die Prozesse des Reifens und Lernens, die es ihnen erst ermöglichen, in dichterischer Sprache exemplarisch über die Welt zu sprechen und so poetische Professionalität zu entwickeln. Darüber hinaus bieten das Opus Christines de Pizan und die 'Vita nova' Dantes einen Einblick in die Funktion der Kindheit als Wegbereiterin späteren Erwachsenseins. FRIEDRICH WOLFZETTEL

XVI

Einleitung

Überblickt man das Spektrum der Beiträge, so wird man Aufsätze zu zahlreichen Texttypen und Einzelwerken vermissen, z.B. Historiographie, fürstliche Gedächtnissicherung 13 , Mystik 14 , geistliches Spiel 15 , die fur eine Behandlung des Themas 'Literatur und Gedächtnis im Mittelalter' eigentlich nicht verzichtbar sind. Geplantes hat sich jedoch nicht in vollem Umfang realisieren lassen, anderes ist von vornherein angesichts der beschränkten Möglichkeiten eines Sammelbandes unberücksichtigt geblieben. Dennoch hegen die Herausgeber die Hoffnung, daß der Band die wissenschaftliche Diskussion eines Themas intensivieren wird, dessen Möglichkeiten noch keinesfalls ausgeschöpft sind. Unser Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen, die diesen Band durch ihr Engagement ermöglicht haben, sowie Frau Ruth Sassenhausen M.A., die den Satz erstellt hat, und Frau Dr. Silke Grothues, die bei der Anfertigung der Register half.

Ulrich Ernst und Klaus Ridder

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14 15

im Herbst 2002

Vgl. J.-D. MÜLLER, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982, (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2); K. GRAF, Fürstliche Erinnerungskultur. Eine Skizze zum neuen Modell des Gedenkens in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, in: Les princes et l'histoire du XIV'au XVIIPsiecle. Actes du colloque organise par l'Universite de Versailles - Saint-Quentin et l'Institut Historique Allemand, Paris / Versailles, 13-16 mars 1996, publies sous la direction de C . GRELL u.a., Bonn 1998, (Pariser Historische Studien 47), S. 1-11. Vgl. M. HUBRATH, Schreiben und Erinnern. Zur „memoria" im Liber Specialis Gratiae Mechthilds von Hakeborn, Paderborn 1996. Vgl. J.-D. MÜLLER, Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel, in: Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, hg. von C . ÖHLSCHLÄGER / B. WIENS, Berlin 1 9 9 7 , (Geschlechterdifferenz & Literat u r 7), S. 7 5 - 9 2 .

XVII

Konzeptualisierungen von Mnemotechnik im Mittelalter v o n SABINE HEIMANN-SEELBACH

Seit Beginn der 80er Jahre erleben kulturanthropologische und kultursemiotische Forschung, welche sich das 'Gedächtnis' zu ihrem Leitbegriff wählten, eine Hochkonjunktur, die sich in einer kaum noch überschaubaren Anzahl von Studien und Tagungen niederschlug und zur Herausbildung relativ abgeschlossener Diskursgemeinschaften mit jeweils abgegrenzten Gegenständen und Frageperspektiven gefuhrt hat. Bei aller Vielfalt spielten jedoch gerade diejenigen Texte, die explizit dem Gedächtnis, seiner Beschaffenheit und seinen Förderungsmöglichkeiten gewidmet sind, die mnemotechnischen Traktate, innerhalb der vielen bislang geführten interdisziplinären Debatten eine eher untergeordnete Rolle. Dies war nicht zuletzt dem unzureichenden Stand der Erschließung des Korpus an einschlägigen Texten zuzuschreiben. Der von BERNS und NEUBER zu Beginn der 90er Jahre ins Leben gerufene Arbeitskreis versuchte erstmals, dem schon von HAJDU und YATES 1 konstatierten Materialdefizit zu begegnen, indem er sich in erster Linie der umfassenden und systematischen Aufarbeitung und Präsentation von Textzeugen der mnemonischen Literatur,2 aber auch der interdisziplinären Erforschung dieses Materialkorpus3 verschrieb. Im Rahmen dieses Projekts hat auch ein Repertorium der handschriftlich überlieferten mnemotechnischen Traktate des 15. Jahrhunderts seinen Platz,

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H . HAJDU, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters, Leipzig 1936; F. A. YATES, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare (dt. Übers, der engl. Originalausgabe: The Art of Memory, London 1966), Weinheim 1991. Zu diesem Ziel wurde mit der Reihe 'Documenta mnemonica' ein breit angelegtes Repertorium in Angriff genommen, welches die gesamte Überlieferung von den antiken Quellen über die mittelalterlichen Handschriften bis hin zur Drucküberlieferung der Frühen Neuzeit umfassen soll und dessen erster Band bereits vorliegt: Documenta mnemonica. Text- und Bildzeugen zu Gedächtnislehren und Gedächtniskünsten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit, hg. von J. J. BERNS / W. NEUBER, Bd. II: Das enzyklopädische Gedächtnis der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998. Diese Bemühungen fanden ihren ersten Niederschlag in der Veranstaltung zweier Symposien, deren Erträge in zwei Tagungsbänden vorliegen: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750, hg. von J. J . BERNS / W. NEUBER, Tübingen 1993, (Frühe Neuzeit 15); Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, hg. von J. J. BERNS / W. NEUBER, Wien 2000, (Frühneuzeit-Studien N.F. 2).

Sabine Heimann-Seelbach

das mit über 100 Traktaten und ca. 300 Hss. die Materialgrundlage fur die folgende Studie darstellt.4 Die ars memorativa wurde von je her begriffen als eine Technik zur Schaffung einer an das Individuum gebundenen mentalen Infrastruktur, die aus den Koordinaten der Örter {loci) und Bilder (imagines) bestehen sollte. Die örter bildeten das äußere Gerüst des künstlichen Gedächtnisraumes, die Bilder galten als assoziativ gewonnene Gleichnisse der zu speichernden Merkinhalte bzw. -begriffe. Seit ihrer Ursprungszeit im 5. Jahrhundert v. Chr. und ihrer in hellenistischer Zeit nachweisbaren intensiven Rezeption gewinnt sie im 15. Jahrhundert zum dritten Mal formale und sachliche Eigenständigkeit, d. h. sie verläßt ihren angestammten Ort als mehr oder weniger obligatorischer Bestandteil der Rhetorik und bringt wieder eine nennenswerte Anzahl eigenständiger Texte hervor. Bei aller Unterschiedenheit hinsichtlich der Begründung der ars, der Autoritätenbezüge und der Ausformung des Regelwerks im Detail erweist sich das Textkorpus bezüglich seiner systematischen Grundkomponenten als bemerkenswert homogen. Die Texte werden mit Überlegungen zu Ursprung und Leistungsvermögen der artes im allgemeinen sowie der ars memorativa im besonderen und mit einer Selbstbestimmung eingeleitet. Die Überleitung zur Methodik der ars wird zumeist durch das Wachstafelgleichnis5 geleistet. Die Örterlehre besteht aus den drei Elementen condiciones locorum (Beschaffenheit der Örter), loci-Systeme und deren Binnenstrukturierung, wobei dem dritten Element in der Darstellung zumeist die größte Aufmerksamkeit zuteil wird. Am differenziertesten ausgearbeitet wird jedoch die Imaginationslehre. Nach der Gegenstandsunterscheidung in memoria rerum (Sachgedächtnis) und memoria verborum (Wort- bzw. Textgedächtnis) geben die Traktate entsprechend unterschiedene Reihen von Imaginationsmöglichkeiten: fur das Sachgedächtnis in Abhängigkeit vom Abstraktionsgrad des Merkgegenstands vor allem Abbild, Metonymie und Metapher, für das Wortgedächtnis Personifikation, Etymologie, Onomatopoeie, Chiffren und Änderungskategorien.6 Die allgemeinen Regeln für Auswahl und Anordnung der Bilder bestehen in den Forderungen nach Anschaulichkeit, Auffälligkeit und Subjektivität, nach Plazierung der Bilder gemäß der Ordnungsvorgabe des /oc/'-Systems und Angaben über ihre Löschbarkeit. In dem sich anschließenden Teil, der sich praktischen Anwendungen widmet, gehen die Traktate hingegen recht weit auseinander. 4

5 6

4

Vgl. dazu ebenfalls S. HEIMANN-SEELBACH, Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Mit Edition und Untersuchung dreier deutscher Traktate und ihrer lateinischen Vorlagen, Tübingen 2000. Die Örter werden darin mit einer Wachstafel verglichen, auf der, einzuritzenden Buchstaben gleich, die Bilder einzuprägen sind. Vgl. J. KNAPE, Art. Änderungskategorien, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. UEDING, Tübingen 1992, Bd. 1, Sp. 549-566.

Konzeptualisierungen von Mnemotechnik im Mittelalter

Dieses mnemotechnische System ist zu Beginn des 15. Jahrhunderts ohne erkennbare Generierungsprozesse quasi mit einem Mal da und bereits in den frühesten greifbaren Texten präsent. Einen Interpretationsbedarf zieht dieser Umstand vor allem deshalb auf sich, weil die wenigen seit der Spätantike bekannten und zitierten römischen Quellen zur Gedächtniskunst, die 'Rhetorica ad Herennium', Ciceros 'De oratore' und Quintilians 'Institutio oratoria', eine elaborierte Mnemotechnik in dieser Form nicht überliefern. Die topische Knappheit dieser Quellen, die ihre Legitimation aus der allgemeinen Bekanntheit mnemotechnischer Prinzipien bis zum Beginn christlicher Zeitrechnung bezog, hatte schon B L U M veranlaßt, 'mittelalterliche' Schriften als Kommentierungshilfe heranzuziehen.7 Für die Frage nach Quellen und Einflußfaktoren der ars memorativa im 15. Jahrhundert besteht durchaus ein Bedarf, wesentliche Dokumente der vor der 'mnemotechnischen Explosion' liegenden Jahrhunderte noch einmal in Augenschein zu nehmen und in diesem Zusammenhang die bislang in der Forschung angebotenen hermeneutischen Konzepte näher zu beleuchten. Zunächst gilt es, den auch andernorts schon mehrfach konstatierten Umstand zu vermerken, daß sich die spätantike wie auch frühmittelalterliche Rhetorik des für den Redner so wichtigen Gedächtnisinstrumentariums weitgehend entledigt.8 Diejenigen Rhetoriken, die das klassische Fünf-q^zc/a-Schema zugrundelegen, gehen kaum einmal über Benennung und Kurzdefinition der memoria (firma animi rerum vel verborum perceptio9) hinaus.10 So erwähnt Fortunatianus zwar das künstliche Gedächtnis und seine Erfinder und Praktiker Simonides, Charmadas und Metrodorus. Er beschränkt sich dann aber auf die Gebote der Ordnung und Übung sowie den Rat, sich auf die jeweilige Sache, nicht auf ihren verbalen Ausdruck zu konzentrieren." Augustinus stellt die memoria als thesaurus rerum omnium in den Dienst der rhetorischen inventio,12 Auch Julius Victor folgt dieser 7

H . BLUM,

Die antike Mnemotechnik, (Phil. Diss. Tübingen

1964),

Hildesheim

1969,

pas-

sim. 8

9 10

11 12

HAJDU [Anm. 1], S. 34-46.

Cicero, De inventione I. VII 9. Zur Gesamtproblematik vgl. zuletzt J. KNAPE, Memoria in der frühneuzeitlichen Rhetoriktheorie, in: Ars memorativa [Anm. 3], S. 274-285; ders., Memoria in der älteren rhetoriktheoretischen Tradition, in: Memoria in der Literatur, hg. von W. HAUBRICHS, Stuttgart 1997 [=LiLi 105 (1997)], S. 6-21. C. Chirii Fortunatiani Artis rhetoricae libri III, II 13-14, in: Rhetores latini minores (RLM), hg. von K. HALM, Leipzig 1863 (im folgenden: RLM), S.128-130. Aurelii Augustini De rhetorica liber, in: RLM, S. 137, 16-17. Augustinus bezieht sich ausdrücklich auf Cicero 'De oratore' (I 18). Die von YATES zusätzlich herangezogenen Stellen aus den 'Confessiones' (X, 9, 17, 25-26) und 'De trinitate' (IX, 6) sind von BLUM ([Anm. 7], S. 136-141) und M. CARRUTHERS (The Book of Memory. Α Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990, S. 146) zurecht gegen YATES ([Anm. 1], S. 49-51) als archetypische Gedächtnismetaphern interpretiert worden, die keinen unmittelbaren Rückschluß auf eine mnemotechnische Praxis bei Augustinus zulassen. 5

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letztlich auf Quintilian zurückgehenden Linie und fügt hinzu, daß ihm die vielfach überlieferte Lehre von den Örtern und Bildern zur Unterstützung des Gedächtnisses nutzlos erschienen.13 Martianus Capeila, der im Zusammenhang mit der Theorie des künstlichen Gedächtnisses in der Forschung überbewertet zu werden pflegt, rekapituliert lediglich den Inhalt der Passage bei Fortunatianus. Allein die Aussagen über Simonides sind ihm Anlaß, das Gebot des ordo terminologisch auf die Örter- und Bilderlehre hin auszuformulieren und in diesem Zusammenhang gemeinsam mit zwei gar nicht so originellen lakonischen Bildbeispielen das Wachstafelgleichnis kurz zu erwähnen.14 Cassiodor und Isidor von Sevilla beschränken sich in ihren Ausführungen zur Rhetorik auf die Benennung der fünf official Als die für die karolingische 'Still-Legung' der Gedächtniskunst maßgebliche Autorität16 weist Alkuin jegliche Art von praecepta ab und läßt allein die bei Cicero gegebene Thesaurus-Definition17 gelten. Interessanterweise fugt er im Zusammenhang des Auswendiglernens, wo seine Vorgänger allein das auditive Hilfsmittel der vox modica empfehlen,18 das Schreiben als Instrument des Lernens hinzu.19 Den gleichen Gedanken tradiert auch Notker der Deutsche in seiner Rhetorik. Neben diätetischen Hinweisen und der Orientierung auf die meditatio gilt ihm das Aufschreiben als Gedächtnisstütze.20 Insgesamt bleibt die rhetorische Gattung hinsichtlich der ars memorativa bis ins 12. Jahrhundert hinein auf charakteristische Weise stumm. Aus dem Theorienfundus der Antike setzt sich diejenige Linie durch, die das Gedächtnis vorrangig als Naturgabe ansieht und jedweder artifiziellen Unterstützung zunächst einmal skeptisch gegenübersteht. Damit wird der Horizont, den die römischen Hauptautoritäten Cicero und Quintilian wenngleich in ebenfalls skeptischer Hinsicht - auf die Gedächtniskunst noch offengehalten hatten, noch einmal verkürzt. Den ersten Fixpunkt, von welchem ein mittelalterlicher Neuansatz in den Überlegungen zum künstlichen Gedächtnis möglich geworden sei, findet nun 13 14 15

16

17 18

19

20

C. Julii Victoris Ars rhetorica. Kap. 23, in: RLM, S. 440, 15-17. Martiani Capellae De rhetorica. Kap. 42, in: RLM, S. 483 f. Ex Cassiodorii Humanarum Institutionum pars quae de arte rhetorica agit, in: RLM, S. 495; Ex Isidori Originum libro secundo capita quae sunt de rhetorica, in: RLM, S. 507. Alkuin, Disputatio de rhetorica et de virtutibus sapientissimi regis Karli et Albini magistri, in: RLM, S. 545f. Der Ausruf von YATES „Das künstliche Gedächtnis ist verschwunden!" ([Anm. 1], S. 57) ist als treffende Beschreibung des Sachverhalts von späterer Forschung immer wieder aufgenommen worden. De oratore 118. Vgl. z.B. Fortunatianus: Quem ad modum ediscendum est? Voce modica et magis murmure. (Ars rhetorica, in: RLM, S. 129, 15f.) Non habemus eius alia praecepta, nisi ediscendi exercitationem et scribendi usum et cogitandi Studium et ebrietate cavenda [...] (RLM, S. 546, 3-5). Solemus etiam succurrere oblivioni scribendo et notando que cogitavimus. et monitores substituendo (Die Schriften Notkers und seiner Schule 1, hg. von P. PIPER, Freiburg 1882, S. 6 7 1 ) . V g l . K N A P E [ A n m . 1 0 ] , S . 14 f.

6

Konzeptualisierungen von Mnemotechnik im Mittelalter

in der Renaissance der Schriften Ciceros im 12. Jahrhundert, die von der Kommentierung der Schrift 'De inventione' durch Thierry von Chartres ihren Ausgang nahm.21 Die in diesem Zuge einsetzende intensivere Beschäftigung mit der Cicero zugeschriebenen 'Rhetorica ad Herennium' sei dann namentlich für die Theoriebildung der Hochscholastik ausschlaggebend gewesen. Die scholastische Brücke ist für H A J D U wesentlich, denn auf dieser Grundlage legitimiert sich ihre Darstellung der gesamten nachklassischen Mnemotechnik als Rezeptionsgeschichte der 'Rhetorica ad Herennium'. Die hierfür herangezogene maßgebliche Passage aus der 49. Quaestio der 'Secunda secundae' der 'Summa theologiae' 22 des Thomas von Aquin jedoch als Zusammenfassung des 3. Buches der 'Rhetorica ad Herennium' zu bezeichnen,23 ist schlichtweg unrichtig. Denn Thomas nimmt auf diese Schrift nur in jenen Punkten Bezug, wo sie die Aristotelische Assoziationslehre aufnimmt. Aristoteles hatte namentlich in 'De memoria et reminiscentia' den Prozeß des Erinnerns als Erregung der gewünschten Vorstellungsbewegung durch naturgegebene bzw. gewohnheitsbedingte Verflechtungsassoziationen beschrieben.24 Diese könnten beschleunigt und gestärkt werden durch die Prinzipien der O r d n u n g (Ablage der Dinge in einem Topos-System im Sinne der inventio) und W i e d e r h o l u n g (häufiges Durchlaufen der Örter). Ebenso ist die Notwendigkeit der V e r a n s c h a u l i c h u n g v o n A b s t r a k t a zum Zwecke ihrer Denkbarkeit bei Aristoteles bereits vorformuliert 25 Damit sind drei der quatuor per quae homo proficit in bene memorando der Aristotelischen Gedächtnistheorie entnommen. Wenngleich nun diese Punkte gewisse BerührungsHAJDU

21

22

23

24 25

HAJDU [ A n m . 1], S. 6 6 .

Die betreffende Stelle sei hier ausfuhrlich zitiert: Et sunt quatuor per quae homo proficit in bene memorando. Quorumprimum est ut eorum quae vult memorari quasdam similitudines as sum at convenientes, nec tarnen omnino consuetas; quia ea quae sunt inconsueta magis miramur, et sie in eis animus magis et vehementius detinetur; ex quo fit quod eorum quae in pueritia vidimus magis memoremur. Ideo autem neccessaria est huiusmodi similitudinum vel imaginum aninventio, quia intentiones simplices et spirituales facilius ex animo elabuntur, nisi quibusdam similitudinibus corporalibus quasi alligentur; quia humana cognitio potentior est circa sensibilia: unde et memorativa ponitur in parte sensitiva. Secundo oportet ut homo ea quae memoriter vult tenere sua consideratione ordinate disponat, ut ex uno memorato facile ad aliud procedatur. Unde Philosophus dicit, „A locis videntur reminisci aliquando. Causa autem est, quia velociter ab alio in aliud veniunt." [Aristoteles, De mem. 452al3] Tertio oportet ut homo sollicitudinem apponat, ad affectum adhibeat ad ea quae vult rememorari, quia quanto aliquid magis fuerit impressum animo, tanto minus elabitur. Unde et Tullius dicit quod „sollicitudo [sie!] conservat integras simulacrorum figuras." [Rhetorica ad Herennium III, xix 31] Quarto oportet quod ea frequenter meditemur quae volumus memorari. Unde Philosophus dicit quod „ meditationes memoriam salvant" [De mem. 451al2], quia dicitur, „ consuetude est quasi natura" [De mem. 452a27], (Thomas von Aquin, Summa theologiae II.II 49,1). HAJDU [ A n m . 1], S. 68.

Aristoteles, De memoria et reminiscentia 451bl l-452b7. Vgl. dazu BLUM [Anm. 7], S. 7577. Ebd., 450a 24-25.

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beziehungen zu ableitbaren mnemotechnischen Regeln aufweisen, so waren diese jedoch keinesfalls Zielpunkt, allenfalls Denkanstoß der Überlegungen Aristoteles' über die Funktionsweise des natürlichen Gedächtnisses. Und um diesen Bereich geht es auch Thomas, der damit den Aspekt der Erwerbbarkeit von Fertigkeiten durch das Zutun des Menschen, nicht den einer systematisch erlernbaren und lehrbaren ars im Auge hat.26 Der beste Beweis hierfür wird schließlich durch den vierten der bei Thomas genannten Hinweise zur 'artifiziellen' Gedächtnisstärkung gegeben: sollicitudo conservat integras simulacrorum figuras. Entscheidend ist hier das Mißverständnis der 'Ad Herennium'-Stelle, in der es heißt: solitudo conservat integras simulacrorum figuras.21 Die Regel von der besseren Eignung einsamer, verlassener (solitudo) Örter für die Dauerhaftigkeit des Gedächtniseindrucks ist Bestandteil der condiciones locorum und damit des auf der Lehre von den Örtern und Bildern basierenden mnemotechnischen Regelwerks der 'Rhetorica ad Herennium'. Thomas setzt statt des zentralen Begriffs nun sollicitudo,28 womit der Boden der tradierten Mnemotechnik verlassen und ein eher allgemeinpädagogischer Ratschlag formuliert wird. Ein solches terminologisches Mißverständnis kann im Grunde nur dort entstehen, wo es keinerlei Interesse am Regelwerk der Örter- und Bilderlehre gibt.29 Die vielzitierte und -interpretierte ThomasStelle ist daher wohl ein wichtiges Zeugnis für die Tradierung der Aristotelischen 26

27 28

29

Wenn er dann mit der Unterscheidung von natürlichen und erwerbbaren Voraussetzungen des Gedächtnisses tatsächlich einmal auf die 'Rhetorica ad Herennium' zurückgreift (Rhetorica ad Herennium III, xvi 28), so dient das nicht - wie in der Quelle - der Vorausdeutung auf ein zu präsentierendes System von praecepta. Er findet in dieser Unterscheidung vielmehr ein für seine Argumentation brauchbares Analogon zu derjenigen, die die Konstituenten seines prudentia-Begriffs maßgeblich differenziert und ihm die Möglichkeit dazu gibt, die memoria im Bereich der prudentia zu verorten. Rhetorica ad Herennium III, xix 31. Die in diesem Zusammenhang von Thomas gebrauchten Wendungen des sollicitudinem apponare und affectum adhibere sind wohl eher als Anhalten zur verstärkten Sorgfalt und Anstrengung der Willenskraft zu deuten denn als Zutun eines Affekts, wie HAJDU meint ([Anm. 1], S. 68), die damit wohl auf die imagines agentes als weiteren mutmaßlich von Thomas verwendeten Regelbestandteil der 'Rhetorica ad Herennium' anspielt. YATES hat diesem Mißverständnis eine hermeneutische Dimension abgewonnen: Zusammen mit der - nachweislich bereits Aristotelischen - Lehre, Abstraktes durch sinnliche Vorstellungen zu veranschaulichen, die sie als Imagination für „subtile und geistige Intentionen" im Sinne ,,mittelalterliche[r] Frömmigkeit" deutet, gilt ihr die Substitution des Begriffs sollicitudo, verstanden als „mit andächtiger Ergebenheit", als Umgestaltung mnemotechnischer Prinzipien „in moralisierender, gottesfurchtiger Absicht" (S. 74). Abgesehen davon, daß die Stelle eine solche Deutung nicht zuläßt, will es mir insgesamt doch erscheinen, daß es sich bei dem vorliegenden Fall um ein einfaches Mißverständnis handelt. Dies nicht zuletzt auch deswegen, weil eine bewußte Umformung einer Autorität nach mittelalterlicher Praxis nie unkommentiert geboten worden wäre. Daß dieses Mißverständnis beim Autor und nicht unbedingt in der Überlieferung seine Ursache hat, wird schließlich durch dem Umstand nahegelegt, daß Albertus Magnus, dem es tatsächlich um die Diskussion des Regelwerks ging, an entsprechender Stelle die 'Rhetorica ad Herennium' korrekt zitiert (vgl. Albertus Magnus, De bono. Tractatus IV, qu. II, art. 1, in: Opera omnia, hg. von H. KÜHLE u.a., M ü n s t e r 1951, S. 247.)

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von Mnemotechnik im Mittelalter

Gedächtnistheorie, für die der Mnemotechnik aber ist sie ohne nennenswerten Belang.

I. Transzendierung des Kontingenten: Albertus Magnus Während H A J D U die kontinuierliche Rezeption der römischen Quellen als maßgebliche Entwicklungslinie verfolgt und notwendigerweise in den Jahrhunderten des Mittelalters nur brüchig verwirklicht sieht, findet Y A T E S in dieser Epoche eher einen Spielraum selbständiger Umgestaltung und Anverwandlung der ars memorativa im weiteren Sinne gedächtniskultureller Techniken ausgeschritten, den sie vor allem im Bereich der Ethik und der Frömmigkeit verortet.30 Auch sie stützt sich auf die erwähnte Thomas-Stelle und unter anderem auf Albertus Magnus ('De bono'). Wie sich erweisen wird, geht der Rahmen einer ethischen Ausrichtung des Gedächtniskonzepts bei Albert jedoch in der eigentlichen Abhandlung der ars memoranda weitgehend verloren. Bei der Präsentation des Gedächtnisabschnitts aus dem dritten Buch der 'Rhetorica ad Herennium', der seine einzige mnemotechnische Quelle darstellt, behandelt Albert die Lösung der Widersprüche, in welche er aufgrund seines Bestrebens gerät, die Aussagen dieser Quelle mit denen des Aristoteles ('De anima', 'De memoria et reminiscentia') in Einklang zu bringen. Dieses Vorgehen aber als eine „Verschmelzung der Aristotelischen Lehre von der Wiedererinnerung mit der in 'Ad Herennium' dargestellten Gedächtnisschulung"32 darzustellen, beschreibt den Sachverhalt nur ungenau. Aristoteles stellt vielmehr die entscheidende Autorität dar, an welcher Wahrheit und Gültigkeit der pseudo-ciceronianischen Sätze kritisch geprüft werden. Die Kritik konzentriert sich darauf, daß der Auetor ad Herennium dem Gedächtnis Prädikate zuspricht, die ihm nach den für gültig befundenen medizinischen Erkenntnissen über die Temperamente wie auch nach der Aristotelischen Gedächtnispsychologie nicht zukommen. So falsifiziert er beispielsweise mittels der Temperamentenlehre den Satz vom Entstehungszusammenhang des natürlichen Gedächtnisses mit der cogitatio (Rhetorica ad Herennium III, xvi 28). Ferner seien die Prinzipien induetio und praeeeptio keine propria des künstlichen Gedächtnisses. In diesem Falle sind die entstehenden Widersprüche terminologischer Art: Albert legt für induetio und praeeeptio die logischen, nicht die didaktischen Begriffe zugrunde. Außerdem findet er im Regelwerk selbst 30 31

32

YATES [Anm. 1], S. 54-78. CARRUTHERS hat daraufhingewiesen, daß der Begriff der ars memorandi in der Geschichte der mittelalterlichen Gelehrsamkeit hier zuerst verwendet wird ([Anm. 12], S. 137). YATES [ A n m . 1], S. 6 4 .

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viele unverständliche Formulierungen, die der Kommentierung bedürfen, und zu enge Bestimmungen etwa bezüglich der condiciones locorum, denen Alternativen an die Seite zu stellen seien. Die vorgebrachten Einwände, die immer wieder die erkenntnistheoretische Stimmigkeit der 'Rhetorica ad Herennium' thematisieren, werden im zweiten Teil des Artikels über das künstliche Gedächtnis nacheinander entkräftet. Die Argumentation, deren sich Albert zu diesem Zweck bedient, ist insofern bemerkenswert, als sie sich vor allem als terminologische Diskussion darstellt. So wird der Satz vom Entstehungszusammenhang der memoria mit der Vorstellung im Denken (cum cogitatione nata) verifiziert, indem der dort verwendete memoria-Begriff mit der Aristotelischen reminiscentia in eins gesetzt und damit seine Nachgeordnetheit gegenüber der natürlichen bonitas memoriae gesetzt wird.33 Die Prinzipien der inductio und praeceptio erhalten ihre Gültigkeit erst durch ihre terminologische Verlagerung auf die erkenntnistheoretische Ebene, indem sie also nicht im vorgefundenen didaktischen Sinne als Anleitung und Vorschrift, sondern als gegenläufige Assoziationsbewegungen der Seelentätigkeit, vom auslösenden principium zur imago (praeceptio) und von dieser aus rückschließend auf das principium (inductio) aufgefaßt werden.34 Durch diese Deutung wird mit den Aspekten der Lehrbarkeit und Erlernbarkeit der ars-Charakter des künstlichen Gedächtnisses zurückgedrängt. Ein weiterer Problemkomplex liegt für Albert im Bereich der Örter, die als loca corporalia zunächst einmal der imaginatio zuzuordnen seien, aber im Rahmen der reminiscentia der rationalen Seelentätigkeit dienten und daher ihre Rechtfertigung in diesem Bereich erhielten.35 Durch eine enge Verknüpfung des zu wählenden Ortes mit den in ihm zu speichernden Inhalten36 wird der Begriff des locus zudem in einem anderen semantischen Feld angesetzt. Stellte der Auetor ad Herennium in den Örtern im Grunde leere Strukturen zur Applikation beliebiger, auch wechselnder Inhalte bereit, so geht es hier zumindest im Ansatz um den Entwurf einer Art 33

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10

Ad aliud dicendum, sicut saepius habitum est, quod memoria pro reminiscentia a Tullio posita est, quia cum reminiscentia non est sine memoria, ideo etiam bonitas memoriae ad reminiscentiam operatur. (Albertus Magnus, De bono, S. 250, 20-23). Unde necesse est, quod apud animam sit id ex quo procedit, et id in quod procedit. Ex quo autem procedit, est principium, quod Tullius vocat praeeeptiones. In quod autem procedit, sunt imagines, quae sunt apud animam per modum litterarum, ut dicit Tullius. (Ebd., S. 250, 39-44). Ad id autem quod contra obicitur, patet solutio per ante dicta, quia licet reminiscentia insit secundum rationalem animam, tarnen sibi subservit memoria, et ideo conferunt ad loca imaginabilia. (Ebd., S. 251, 31-34). Im Zusammenhang mit der Lozierung abstrakter Inhalte schlägt Albertus die Wahl metaphorisch mit diesen zusammenhängender konkreter Örter vor: [...] sicut ad laeta locus similitudinarius est pratum et ad debilitatem inflrmaria vel hospitale et ad iudicium consistorium et sie de aliis. (Ebd., S. 250,67-69).

Konzeptualisierungen

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mentaler Landkarte, die - in thematische Regionen gegliedert - die Hauptsachen und Argumente zur jeweiligen Materie in einer strukturierten Form in sich versammelt. Die Umdeutung des mnemotechnischen Verständnisses der Örter im Sinne des Aristotelischen topos-Begriffs ist bei Albert unverkennbar.37 Schließlich bleibt die Verwendung von Bildern, die ja eo ipso im Bereich des imaginativen Seelenteils angesiedelt sind, innerhalb ihres intellektiven Teils zu rechtfertigen. Alberts Argumentation hat zwei Teile: Sie bezieht sich zum einen auf die allgemeine Nutzbarkeit der imagines, wobei sie wie im Falle der loca corporalia als Operationsinstrumente einer notwendig vom Konkreten zum Abstrakten fortschreitenden rationalen Seelentätigkeit begriffen werden.38 Sie finden zum anderen eine spezielle Legitimation in der Anwendung auf Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Denn dessen proprium sei es, seine Existenz im anschaubaren Besonderen zu haben, weswegen es in den imagines corporales adäquat repräsentiert sei.39 Und in diesem Zusammenhang steht schließlich Alberts Bemerkung, daß die memoria artificialis, so wie sie durch „Tullius" vermittelt werde, mit ihrem Hang zum Sinnlich-Konkreten und Partikularen vornehmlich dort nutzbar sei, wo es um die Beurteilung und Verhandlung menschlichen Tuns gehe, wissenschaftlich in der Ethik, lebenspraktisch in der Gerichtsbarkeit. Bevor nun aber vorschnell eine generelle Ausrichtung von Alberts Memoria-Konzept auf eine vordergründig verstandene Tugenden- und Lasterlehre postuliert wird, gilt es zu bedenken, daß die Gültigkeitseinschränkung, die die memoria artificialis hier nämlich auf den Bereich des Handlungswissens - erfahrt, keineswegs katechetischer, sondern erkenntnistheoretischer Natur sind. Wenn YATES diese Stelle als „moralischen Triumph" deutet, den das künstliche Gedächtnis hier erfahre, und damit die von ihr konstruierte, an mittelalterlicher Frömmigkeit orientierte Linie bestätigt sieht,40 so geht sie daher m.E. an den Intentionen des Verfassers vorbei. Insgesamt wird eher ein permanentes Mißbehagen Alberts an der Lehre vom künstlichen Gedächtnis deutlich, ein Mißbehagen, das sich immer wieder an ihr generelles methodisches Verhaftetsein im Sinnlich-Konkreten anbindet. Er unter37

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40

Aristoteles selbst stellt eine strukturelle Analogie topologischer und mnemotechnischer Örter fest: Denn wie der Mnemoniker (der in der Gedächtniskunst Bewanderte) nur die mnemonischen Örter vor sich zu haben braucht, um durch sie sofort an die Sache selbst erinnert zu werden, so werden einen auch diese Stücke im Schließen geschickt machen, weil man die gedachten Prinzipien und Sätze in bestimmter Zahl vor sich hat. (Topik 163b). Cum autem id quod est rationis, non per proprietatem sit in corporalibus imaginibus, oportet, quod sit ibi per similitudinem et translationem et metaphoram. (De bono, S. 250, 64-67). Dicimus, quod ars memorandi optima est, quam tradit Tullius et praecipue in memorabilibus pertinentibus ad vitam et iudicium, et illae memoriae praecipue pertinent ad ethicum et rhetorem, quia cum actus humanae vitae consistat in particularibus, necesse est, quod apud animam sit per imagines corporales. (Ebd., S. 249, 66-72). YATES [Anm. 1], S. 67.

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streicht daher die von der 'Rhetorica ad Herennium' selbst geäußerte Kritik an der grenzenlosen und daher nicht mehr sinnvoll beherrschbaren Bilderflut der Griechen, mehr noch, er schränkt die in der Quelle durchaus noch vorhandene Imaginationsfreudigkeit als zu aufwendig und unnütz weiter ein. Dies geschieht wiederum durch Umdeutung ihrer Aussagen: Wie auf der Wachstafel ein zahlenmäßig begrenzter Zeichenvorrat (Buchstaben) geeignet sei, unendlich viele konkrete Dinge auszudrücken und zu speichern, so müßte auch der Bildervorrat so beschaffen sein, daß er sich nicht in die grenzenlose Singularität seiner Denotate verliere, sondern aus dieser Fülle das Wesentliche zu abstrahieren imstande sei.41 Der Prozeß der Bildfindung stellt fur Albert also nicht eine einfache Bedeutungsübertragung auf gleicher Ebene, sondern eine Art klassifikatorischer Abstraktionsleistung dar, mittels derer sich die Seele vom Schauen der Dinge zu ihrem Denken fortbewegt. So entsteht insgesamt das Paradox, daß Albert die ars memorativa der 'Rhetorica ad Herennium' zwar über breite Passagen hin zitiert, aber nicht wirklich repräsentiert. Durch die beschriebenen Umdeutungen vor allem auf terminologischem Gebiet wird dem Text der Quelle eine zweite Sinnebene unterlegt, vor welcher die mit dem Verweilen im Bereich sinnlicher Erfahrung verbundenen arsAspekte der Lehre hinweggearbeitet, ihre Aussagen quasi 'entmaterialisiert' erscheinen. Nicht von einer Verschmelzung der Gedächtniskunst der 'Rhetorica ad Herennium' mit der Aristotelischen Seelenlehre kann daher die Rede sein, sondern vielmehr von einer Transzendierung jener in diese. Die Einbindung in die Ethik erweist sich als erkenntnistheoretisch geleitet. Der Bereich des menschlichen Handelns wird dabei als niedrige Ebene des Wissens in die Randständigkeit verwiesen - seine Inhalte bedürfen, um wahrheitsfahig zu werden, der Spiritualisierung. Dieser Akzeptanz des Kontingenten als immerhin legitime Wissensform in einem angestammten Bereich des Seins stehen jedoch wesentlich prinzipiellere Bewertungen gegenüber, deren radikalste wohl in der Gedächtniskonzeption Bernhards von Clairvaux faßbar wird.

II. Palimpsest oder Konkordanz: Bernhard von Clairvaux Mit den drei Potenzen intellectus, voluntas und memoria baut Bernhard auf der trinitarischen Seelenlehre Augustins auf. Wie dieser, so sah auch er die menschlichen Seelenkräfte in statu corruptionis und die Aufgabe des Menschen darin, sei41

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Ad aliud dicendum, quod Tullius vocat proprias imagines, quae expressis et notabilibus similitudinibus certificant et non quae singulares sunt singularium. (De bono, S. 251, 8790).

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ne durch den Sündenfall verlorene Gottesebenbildlichkeit wieder in sich aufzurichten. Während aber Augustin allein den Willen als perzeptionsleitendem Prinzip einer im Hinblick auf dieses Ziel kritischen Betrachtung unterzog, während er die 'Schatzkammer der Erinnerung' als relativ wertfreies Reservoir von Stoffen der Urteilsbildung ansah, weitet Bernhard diesen kritischen Blick auf die memoria aus. Den Inhalten dieser 'Schatzkammer', den Geschehnissen der Vergangenheit, sei prinzipiell mit Mißtrauen zu begegnen, denn sie erfüllten das Gedächtnis mit dem Bösen. Die res gestae, vergangener oder gegenwärtiger Zeit, die im frühen Humanismus zur Quelle prudentialen Wissens avancieren, werden hier als Erfahrungsquelle explizit ausgeschlossen, ja, die Erinnerung daran soll ausgelöscht werden. Die memoria gilt Bernhard als befleckt, sie kann nur gereinigt werden durch eine Konversion der Sinne: die Eingangstore für die Welt des Bösen und damit für die Sünde müssen verschlossen, die Tätigkeit der inneren Sinne spiritueller Leitung anvertraut werden. Für eine solche Neuorientierung ist es aber ebenso erforderlich, jene 'Schatzkammer des Gedächtnisses', die der Mensch in der Phase seiner Fehlleitung bereits akkumuliert hat, gänzlich weißzuwaschen, auszulöschen. In seiner Schrift 'De conversione'42 beschreibt Bernhard den Weg. Hatte Augustin die Erfahrungen der Sinne in bestimmtem Maße als Quelle von Wissen und Verstehen anerkannt, so sind für Bernhard alle inneren Abbilder solcher Sinnenerfahrung von vornherein anrüchig und stellen einen ihnen verfallenen Menschen unter das Verdikt der curiositas. Sie spendeten lediglich eitlen, flüchtigen Trost, in diesem Sinne der Vergänglichkeit früherer Sinnenfreuden gleich.43 Wie also soll der Mensch diese Bilder löschen, wie sein Leben aus seiner Erinnerung herausschneiden? Das zunächst geprüfte Gleichnis des Palimpsestierens des Gedächtnisses würde mit den Bildern auch die memoria selbst zerstören 44 Das einzige Mittel, welches, ein intaktes Vermögen der Erinnerung zurücklassend, das Gedächtnis reinzuwaschen imstande sei, findet Bernhard in der Sündenvergebung durch Gott 4 5 Erst im Bewußtsein dieser göttlichen Gnade könnten die Bilder ihrer irdischen Farben entkleidet und gleichsam in einen neuen Aggregatzustand über42 43

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45

Bernhard von Clairvaux, De conversione ad clericos sermo seu über, PL 182, Sp. 834-856. Caeterum spectacula vana, rogo, quid corpori praestant, quidve animae conferre videntur? At certe nihil in homine cui curiositas prosit invenies. Frivola prorsus et inanis ac nugatoria consolatio: et nescio quid illi durius imprecer, quam ut semper habeat quod requirat, qui jucundae quietis pacem [uel otia] fugitans, curiosa inquietudine delectatur [...] (De conversione VIII14, Sp. 842). Quomodo enim α memoria mea excidet vita mea? Membrana vilis et tenuis atramentum forte prorsus imbibit: qua deinceps arte delebitur? Non enim superftcie tenus tinxit; sed prorsus totam intinxit. Frustra conarer eradere: ante scinditur Charta, quam inserti characteres deleantur. (Ebd., XV 28, Sp. 849). Solus utique sermo vivus et efficax et penetrabilior omni gladio ancipiti: Dimittuntur tibi peccata tua. Murmuret Phariseus, et dicat: Quis potest dimittere peccata, nisi solus Deus? [Marc. II 5,7] (Ebd.).

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führt werden, in welchem sie, der Aussageweise universeller Wahrheit kompatibel, in einer spirituellen Weise deutbar seien.46 Diese Aufhebung individueller Erinnerung im Universellen gelingt durch die Aufnahme ihrer Bildlichkeit und deren Transzendierung hin zu einer höheren spirituellen Sinnebene. In letzter Konsequenz bedeutet dies die Allegorisierung der Wirklichkeit. Nicht selten greift Bernhard in seinen Predigten auf die Bildlichkeit real existierenden oder literarisch gestalteten weltlich-feudalen Lebens zurück,47 die er selbst aus seinem vormonastischen Leben erinnern und auch bei seinen Konventsbrüdern voraussetzen konnte, indem er sie aber von ihrer litteralen Bedeutung als Elemente persönlicher oder literarisch vermittelter Erfahrung abhob und insbesondere im Lichte biblischer Bilder und Gleichnisse der Tätigkeit und dem Verstehen der höheren Seelenkräfte anheimgab. Diese Kräfte verstand Bernhard weniger als intellektive denn als sensitive. Er behandelt sie als ein Sinnesorgan, in welches die Vermögen aller Sinne eingegangen sind, das jedoch seine Tätigkeit allein in den Gefilden spiritueller Erfahrung entfalten könne. Die spirituellen Freuden schließen etwa den Genuß des Brotes der Engel und die Entdeckung eines von Gott angelegten blühenden und duftenden Paradiesgartens als einen Ort der Erquickung ein.48 Diese Methode der conversio, die lebendige, sinnliche Erinnerung zu entaktivieren, indem die Bilder ihrer Elemente durch solche biblischer Reminiszenzen substituiert bzw. in solche überfuhrt wurden - COLEMAN spricht in dieser Hinsicht gar von einer Konkordanz49 - hat natürlich Konsequenzen hinsichtlich der Ausformung einer Bilderwelt als eines Verweissystems spiritueller Bedeutungen sinnlicher Dinge. In dieser auf die Frömmigkeit abzielenden Gedächtniskonzeption sowie der entsprechenden Ausformung einer Bilderwelt hatte, wie oben bemerkt, Y A T E S die eigentlich konstitutive Linie für das Mittelalter gesehen, der sie auch die späteren Gedächtnistraktate subsumierte.50 Dem ist entgegenzuhalten, daß Beispiele für eine Übertragung jener conversio auf das Regelwerk der ars memorativa zumindest in den bislang bekannten Traktaten zur Gedächtniskunst so 46 47 48

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Haec igitur et his similia intus suggerit ratio voluntati, eo copiosius, quo perfectius illustratione spiritus edocetur. (Ebd., XI 22, Sp. 845). Vgl. J. LECLERCQ, Monks and Love in Twelfth-Century France. Psycho-Historical Essays, Oxford 1979, S. 90-92. Inveniet enim locum tabernaculi admirabilis, ubi panem Angelorum manducet homo; inveniet paradisum voluptatis plantatum α Domino; inveniet hortum floridum et amoenissimum; inveniet refrigerii sedem, et dicet: Ο si audeat vocem meam misera ilia voluntas, ut Ingrediens videat bona, et visitet locum istum! (Ebd., XII 24, Sp. 847). „And he did so because his memory was flooded with biblical images that served to transform personal experiences by the activity of higher mind's activity. The operation of his memory was like a living concordance where he was able to explain one verse by another in which the same word occurs." (J. COLEMAN, Ancient and Medieval Memories. Studies in the Reconstruction of the Past, Cambridge 1992, S. 177). YATES [Anm. 1], S. 82-101 u n d 101-122.

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gut wie gar nicht aufscheinen. Aus dem gesamten Bereich der Überlieferung mnemotechnischer Traktate des 15. Jahrhunderts ist mir nur ein Fall bekanntgeworden, in welchem dies zumindest teilweise umgesetzt wird:

III. Frömmigkeit: Der Anonymus 'Nunc

igitur'51

Dieser Text bezieht sich in den wenigen definitorischen Eckpunkten (natürliches und künstliches Gedächtnis, Örter, Bilder, Wachstafelgleichnis) ausschließlich auf die 'Rhetorica ad Herennium'. Sogleich wird jedoch versucht, schon die aus der paganen Tradition ererbten Voraussetzungen einer vorbildlichen Lebensführung (vacacio, mansuetudo, sobrietas)52 für ein gutes natürliches Gedächtnis aus der Bibel zu begründen. Wo sich eine Kongruenz der Aussagen nicht unmittelbar herstellt, wird diese durch hinführende Deutungen herbeigeführt.53 Diese Deutungen reichen so weit, bereits das natürliche Gedächtnis, losgelöst von den Einflüssen sinnlicher Erfahrung, in den spirituellen Bereich zu überfuhren: Psalmista: Quoniam non cognoui litterarum uel negociacionem, introibo in potencias domini etc. [Psal. 70, 16] Et non poterat propheta aliter habere iugem Dei memoriam, scilicet nisi vacaret et nisi negociacionem dimitteret, que est superflua litteratura inutiliter occupans memoriam.

Um präziser herauszuarbeiten, daß es vor allem der Bereich irdischen Tuns ist, welcher der anzustrebenden memoria entgegensteht, wird sogar der Psalmentext verändert (Zusatz vel negociacionem). Die Überführung der paganen Leitsätze in den Dienst der memoria Dei erfolgt stets nach dem gleichen Algorithmus. Dem Ausgangssatz (I) wird eine biblische Autorität an die Seite gestellt (II), die zumeist bereits in einem übertragenen Sinnverhältnis zu ihm steht; diese wird (zumeist allegorisch) ausgelegt (III), die hinzugezogene erste Autorität bzw. die Ele51

Inc.: Nunc igitur, ut ait Tulius, due sunt memorie, vna naturalis alia artißciosa. Naturalis est ea, que nostris animis insita est et simul cum cogitacione nata [...]. (= Anonymus: De arte memorandi; l.V.15.Jh.); Hss.: Basel, UB, Cod. A X 9, 108r-128r; Melk, Stiftsb., Cod. 177, 23r-43v; Melk, Stiftsb., Cod. 1805, 202r-220v; München, BSB, Clm 4393, 16v-26v; München, BSB, Clm 7721, lr-14r (l.V.15.Jh.); München, BSB, Clm 11927,94r-l 12r; München, BSB, Clm 18888,49r-65v. 52 Debent esse tres circumstancie, scilicet vacacio, manswetudo et sobrietas: Vacacio, ne distrahatur, manswetudo, ne turbetur, sobrietas, ne suffocetur - ne distrahatur per curiosam occupacionem vis racionalis, ne turbetur per inpacienciam vis irascibilis, ne suffocetur per intemperanciam vis concupiscibilis. (An. 'Nunc igitur', München, BSB, Clm 18888, 50r„ 50v). Quod vacacio sit opportuna memorie, habetur Ecclesiastice 38: Sapienciam scribe in tempore vacuitatis; et qui minoratur actu, sapienciam percipiet [qua sapientia replebitur; Eccli 38, 25] Tempus vacuitatis est tempus vacacionis, quod est opportunum ad scribendam sapienciam in libro memorie. (Ebd., 50v). 54 Ebd., 50v.

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m e n t e der A u s l e g u n g werden schließlich durch weitere Autoritäten gestützt b z w . präziser ausgedeutet (IV): (I) Quod manswetudo sit opportuna memorie, (II) Psalmista: conturbatus est in ira oculus meus, anima mea et veter meus [Psal. 30,10], (III) Oculus est intelligencia, qua deus cognoscitur, venter est memoria, qua in mente geritur et tenetur, anima est voluntas, qua Deus diligitur; et sic ista tota trinitas deordinatur per iram, si sit per vicium uel ad minus turbatur, ad tempus, si sit ira, per zelum, ut durante illo furore homo nonpossit verum cernere. [...] (IV) Iacobus primo: Gloria maturitas sapiencie non est nisi ubi tranquilla mente pereipitur. Vnde Iacobus primo: In mansuetudine suseipite insitum verbum [Jak. 1,21]. Propter hoc summopere cauent sibi boni oratores siue aduocati, ne irascantur uel turbentur. Ysaie 42: [Qui] in veritate educet iudicium, non erit tristis neque turbulentus [Jes. 42, 3-4], 55 Eigentlicher A n w e n d u n g s b e r e i c h der ars memorativa

ist in d i e s e m Traktat das

M e m o r i e r e n v o n Texten. D i e s e haben dabei eine Art Initialfunktion, u m die Tätigkeit der memoria

in G a n g z u setzen. A l s eine Grundsituation, in welcher dies z u

g e s c h e h e n habe, wird das Anhören einer Predigt, z.B. über das L o b der Jungfräulichkeit, vorgestellt. 5 6 In e i n e m ersten Schritt soll das Gehörte mittels der biblis c h e n Autoritäten festgehalten werden, die damit stillschweigend als vorhandener Gedächtnisfundus vorausgesetzt werden. D i e Bibel bildet demnach eine Art topis c h e s N e t z w e r k , d e m das Gehörte an thematisch relevanter Stelle zu assoziieren ist. Zur m n e m o n i s c h e n Verfestigung der Vorstellung v o n Jungfräulichkeit werden s o l c h e Bibelstellen versammelt, die sich um den thematischen Kern der seltenen Vortrefflichkeit und Unbeflecktheit gruppieren. 5 7 Erst in e i n e m z w e i t e n Schritt w e r d e n die a u f die Hl. Schrift gestützten Attribute der virginitas

mit H i l f e der

E l e m e n t e sinnlicher Erfahrbarkeit in ein Bild umgesetzt. Dabei sind die ausgew ä h l t e n B i l d k o m p o n e n t e n nicht der unmittelbaren Erfahrung, sondern ihrerseits bereits e i n e m vorausgesetzten Reservoir literarisch konventionalisierter Allegorizität e n t n o m m e n : Hanc commendacionem et distinccionem virginitatis tali ymaginacione poterimus notare et memorie commendare: Virginem collocans in Castro excelso, cuius ascensus sit adeo difflcilimus, et hoc in memoria difflcultatis. Virgo constituetur sola in memoriam raritatis, niveis vestimentis erit induta in memoriam mundicie virginalis, sedebit in leccio in memoriam quietis, ad orientem respiciat in memoriam deuocionis, et floribus et lilys erit fulta et seipata in memoriam fruetuositatis, vexillum crucis triumphaliter habebit in manu in memoriam securitatis, aues habebit circa se cum 55 56 57

16

Ebd., 50v-51r. Item pono quod tu auscultes sermonem in quo laudetur virginitas hoc modo decern, in quibus suntprerogatiue virginitatis [...] (Ebd., 54r). Est enim difficilis [...] Non omnes capiunt verbum istud, et ita qui possit capere, capiat item rara. Apocalypsis 3: habes pauca nomina in Sardis, qui non inquinaverunt vestimenta sua. [Apoc. 3,4] Et Genesis 6: Omnis [quippe] caro corrupit viam suam super terram. [Gen. 6,12] Item munda (Apocalypsis 14:) hij sunt, qui cum mulieribus non sunt coinquinati [virgines enim sunt], [Apoc. 14,4] Et Canticum canticorum 1°: Ecce, tu pulchra es, amica mea, ecce tu pulchra [Cant. 1,14] His dicta pulchra propter virginitatem mentis et corporis. [...]. Ebd., 54r.

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quibus ludet in memoriam familiaritatis [...] Has decern proprietates huius ymaginis releges in corde tuo eo ordine quo sunt proposite et confertim cum Ulis decern commendacionibus et sie habebis numerum et ordinem decern commendacionum virginitatis.5S

In gleicher Weise wird der beschriebene Algorithmus in der Folge mit der Imagination der duodeeim genera graciarum59 und der octo beatitudines vollzogen. Dieser Schatz auf die Bibel und konventionelle Auslegungsmethoden gegründeter Gleichnisse und Bilder, der beim Hören des Wortes aktiviert wird, um dieses unter Ausschluß realer Erfahrung - in einer apriori konstituierten Gedächtnistopologie zu verankern, dient nach der Auskunft des Texts auch fur den umgekehrten Weg. Er wird als Grundlage der inventio bei der Verfertigung von Texten, namentlich von Predigten, empfohlen.60 Es handelt sich also um ein geschlossenes System mit festen Verweiszusammenhängen, in dessen Grenzen sich das Verstehen von Texten in der Rezeption beziehungsweise das Anlegen von Verständniswegen bereits in der Textproduktion realisieren. Wenn gelegentlich, etwa im Abschnitt über die octo beatitudines, das architektonische /oci'-System der 'Rhetorica ad Herennium' hinzugezogen wird, so stellt dieses lediglich ein zusätzliches Ordnungsraster dieses ohnehin bereits topisch geordneten Verweissystems dar. Bei der Aufnahme des Raritäts- und Merkwürdigkeitsgebots hinsichtlich der zu wählenden Bilder handelt es sich schließlich um eine gänzlich aufgesetzte Regel. Denn die Assoziation, welche in der römischen Quelle die passenden Bilder erst hervorzubringen hat, ist hier keineswegs eine spontane und individuelle. Ihre Wege sind vielmehr mit dem benannten Zeichenvorrat und den darin waltenden Verweisformen bereits vorgegeben. Innerhalb der mnemotechnischen Traktatliteratur des 15. Jahrhunderts stellt der Anonymus 'Nunc igitur' einen singulären Fall dar. Demgegenüber stellt sich innerhalb der Überlieferung der mnemotechnischen Traktate eine Linie als klar dominierend heraus, die wiederum an die zuerst beschriebenen erkenntnistheoretischen Bestrebungen des 13. Jahrhunderts anknüpft.

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60

Ebd., 54v-55r. In diesem Bereich wird die Auslegung der Bildelemente sogar noch breiter ausgeführt, wie zum Beispiel die Allegorie der Pfingstrose als Bild der ewigen Glückseligkeit: Passa rosa dicitur quia transcendit rosam in venustate et ideo ponitur in memoriam eterne beatitudinis, in qua est summa delectacio in conspectu summe venustatis, in qua et omnes saneti summo decore venustantur. Sed nota quod passa rosa ita habet allegantem speciem et tarnen nullum habet odorem. Et hoc bene conpetit eterne beatitudini, vbi nemo indiget odore, fame seu laudis aliene. (Ebd., 58v). Excogitacio artificiosa ymaginum faciei invenire multas parabolas elegantas ad propositum in sermonibus. (Ebd., 55r).

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IV. Mundus intellectualis - memoria intellectualis: Die 'Artificiosa memoria secundum Parisienses' Den überlieferungsgeschichtlichen Schwerpunkt innerhalb des Korpus an mnemotechnischen Traktaten bilden Texte, die eine theoretische Einleitung psychologisch-spekulativen Charakters besitzen. Mit wenigen Ausnahmen konzentrieren sie sich im Bereich der genealogisch zusammengehörigen Gruppe der 'Artificiosa memoria secundum Parisienses'61. Es handelt sich um eine Gruppe von in den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts gleichzeitig auftretenden Großtraktaten, die inhaltlich wie konzeptionell weitgehende Übereinstimmungen zeigen und sich vor allem durch ihren dezidierten Rückgriff auf die Aristotelische Gedächtnispsychologie bzw. die Augustinische Trinitätslehre, die zusätzliche Berufung auf mittelalterliche Autoritäten, vor allem auf Thomas von Aquin, und ihr selektives Vorgehen hinsichtlich der Aufnahme überlieferter Anwendungsgebiete auszeichnet: Sie konzentrieren sich auf Bereiche gelehrter Bildung. Die umfangreicheren Texte wurden jeweils in mehrere kleinere Texte ausgeschrieben. Die 'Pariser Gruppe' ist es vor allem, die damit den Anschluß an die mittelalterlichen Diskussionen zur Gedächtnistheorie seit der Hochscholastik sucht. Das beschriebene Spektrum der dabei eingenommenen Positionen deckt sich weitgehend mit den schon im 13. Jahrhundert entwickelten Grundrichtungen. Wie COLEMAN darlegt, führte namentlich die Bemühung Pariser Theologen der 1230er Jahre, die verschiedenen Traditionen der Konzeption vom Menschen aufzuarbeiten, auch zu einem vertieften Verständnis des Gedächtnisses. Die theologische Konzeption, in welcher der Mensch in erster Linie in seiner Rolle als agens innerhalb der göttlichen Heilsordnung begriffen wurde, führte in Augustinischer Tradition zur Begründung des Gedächtnisses auf der Trinitätslehre. Die grecoarabische Tradition, die den Menschen als eines von vielen konstitutiven Elementen der Welt sah und eine Lesung des Aristoteles durch seine arabischen Kommentatoren (Avicenna) darstellte, hatte demgegenüber hinsichtlich des Gedächtnisses eine Konzentration auf die externen und internen Sinne, die menschlichen Strebevermögen und den potentiellen und agierenden Intellekt zur Folge.62 Im gleichen Zeitraum gab es aber bereits auch die Bemühung um Vermittlung beider Positionen, etwa in dem zwischen 1233 und 1239 entstandenen 'Tractatus de anima' des Franziskaners Johannes de Rupella (John of la Rochelle),63 der beide Aspekte des Gedächtnisses, seine Rolle innerhalb einer auf die Heilsordnung aus61

Zu den Vertretern dieser Textgruppe vgl. weiter unten.

62

V g l . COLEMAN [ A N M . 4 9 ] , S . 3 8 9 f.

63

Johannes de Rupella, Tractatus de divisione multiplici potentiarum animae, ed. P. MlCHAUD-QUANTIN, Paris 1964, (Textes philosophiques du moyen age 11).

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gerichteten Ethik und seine Position innerhalb der fiir sich betrachteten Natur und Tätigkeitsweise der einzelnen Seelenkräfte, in einer eher kompilativen Weise zusammenbrachte. 64 Die Diskussion aller dieser Ansätze im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit blieb gleichwohl bis in nachskotistische Zeit virulent. Die Schwierigkeiten bei der Rezeption der aristotelisch-averroistischen Linie, die das Gedächtnis als eine rein sensitive Potenz gefaßt hatte, bestand zum einen in der Vermittlung mit der christlichen Vorstellung einer trinitarischen Struktur der Seele als auch hinsichtlich der Festlegung des Leistungsvermögens der einzelnen Kräfte einer als vom Leib abgeschieden gedachten Seele. 65 Die Fülle zum Teil sehr filigran ausdifferenzierter Lösungsvorschläge von Scotus über Petrus Aureolus, Johann von Baconthorp und Durandus (de S. Porciano) bis zu Ockham, die sich im wesentlichen auf die Frage konzentrierten, auf welche Art von Realität die einzelnen Seelenkräfte Zugriff hätten, 66 finden in dieser Form keinen Niederschlag in den Gedächtnistraktaten. Hier wird lediglich das allen diesen Vorschlägen gemeinsame übernommen: die Einigkeit darin, daß das Gedächtnis zunächst als eine sensitive Potenz zu begreifen sei, welche dann aber durch die Tätigkeit der nunmehr zu einer hierarchischen Rangfolge geordneten apprehensiven und retentiven Potenzen zu einem intellektiven Gedächtnis zu steigern sei. Es sind dies die anonymen Traktate 'Gloriosus deus'61, 'Sciendum 'Attendentes

nonnulli'69,

''Aristoteles

sumrnus'10,

quod'6s,

der Traktat des J o h a n n e s

de

64

V g l . COLEMAN [ A n m . 4 9 ] , S. 3 9 0 - 4 0 0 .

65

Vgl. K. WERNER, Die nachskotistische Scholastik, Wien 1883, S. 67. Vgl. hierzu ebd., S. 66-76. Inc: Gloriosus deus sublimis artifex in superiora parte humana corporis, que templum anime nuncupatur, mire et artiflciose distinxit tres cellulas quarum prima scilicet anterior diciturymaginatiua [...]. (= Anonym: Tractatus de arte memorandi; 2.V.15.Jh.); Hss.: Berlin, SB, Ms. germ. qu. 1522, 194v und 305r-308v (I); Berlin, SB, Ms. germ. qu. 1522, 295r-304v (II; 2.H.15.Jh.); Frankfurt, StuUB, Ms. Barth. 90, 341va-342vb (Fragment; 2.V.15.Jh.); Mainz, Stb, Hs. I 556, 24r-27r (um 1450); München, BSB, Clm 16226, 282v-250r (1463); Paris, BN, Lat 8750, lr-7r (1448). Inc.: Sciendum quod dicit Aristoteles summus philosophorum princeps in libro de secretis secretorum: Non minus peccat qui indignis secreta nature ministrat tamquam qui thesaurum fodit in agro [...]. (= Anonym: Ars memorativa; 1443); Hss.: Linz, Diözesanarchiv, Hs. 166, 239r-245v; Mainz, StB, Cod. I 556,27v; München, BSB, Clm 4749,120r; München, BSB, Clm 21067, 142r-143r; Trier, StB, Cod. 157,22v-24v; Wien, ÖNB, Cod. 4096,248v-256r. Inc.: Attendentes nonnulliphilosophieprofessores veritatis studio [...] Hic dicturi sumus de arte miriflca, que aprincipio aggredienti quasi nauseam generare videtur [...]. (= Anonymus: De memoria artificiaii secundum Parisienses; ca. 1445-1450); Druck: Rom: Stephanus Plannck, ca. 1480 (Rom, Bibl. ap. Vat., Inc. 307.12); Hss.: Berlin, SB, Ms. theol. lat. qu. 223, 99r-105v; Berlin, SB, Ms. lat. oct. 386, 5v-10r; Bethesda, National Library of Medicine, Ms. 31; Colmar, Bibl. consist., Ms. 277; Donaueschingen, Hofbibliothek, Cod. 225, 107r-11 Or; Erlangen, UB, Ms. 554, 105r-110v; Kassel, UB, 8° Ms. med. 6, 124r; Linz, Studienbibliothek, Cod. 160 (Adligat zu Inkun. Nr. 449), 22r-27r; London, National Library of Medicine, cod. 516, lr-5v; München, BSB, Clm 4393, 7r-llr; München, BSB, Clm 5964, 86r-95r; München, BSB, Clm 6017, 34r-44v; München, BSB, Clm 16226, 234r-242r;

66 67

68

69

19

Sabine Heimann-Seelbach Prussia 71 und schließlich die 'Ars memorativa'

des Magister Hainricus 72 mit einer

Reihe benachbarter Varianten. Kriterien für eine Differenzierung dieser Traktatgruppe geben vor allem die Einleitungstexte an die Hand. Sie sind der Ort flir Erklärungen von Ursprung und Funktionsweise des Gedächtnisses, der Legitimation bzw. Relativierung des künstlichen Gedächtnisses als ars sowie der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Einordnung des Themas. Danach lassen sich im wesentlichen drei Richtungen unterscheiden. Die erste, repräsentiert durch die Anonyma 'Sciendum quod' und 'Gloriosus deus\

verbleibt ganz innerhalb ei-

nes gleichsam naturwissenschaftlichen Erklärungsrahmens auf der Basis der aristotelischen Perzeptionstheorie, von welcher die Theorie des Gedächtnisses abgeleitet ist. Aristoteles bestimmt Wahrnehmung als Interaktion v o n wahrnehmbaren Formen und wahrnehmungsfahigen Organen der Seele 7 3 , in deren Folge das

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71

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73

20

München, BSB, Clm 18413, 68v-75r; München, BSB, Clm 18941, 43r-48r; München, BSB, Clm 24516, 37r-47v; München, BSB, Clm 24539, 83r-92r; Olomouc, SB, Cod. Μ I 156, 259r-267v; Olomouc, SB, Cod. Μ I 301, 121r-126r; Olomouc, SB, Cod. Μ I 309, 141a-142b; Ottobeuren, Stiftsb., Ms. O. 45, 166r-173v; Rom, Bibl. ap. Vat., Cpl 884, 8r12r; Salzburg, St. Peter, Cod. b. II. 42, 242r-245r; Salzburg, St. Peter, Cod. b. VI. 16, 347r350v; Stuttgart, LB, Cod. HB XII 2, lr-2r; Tübingen, UB, Mc 226, 75r-80r; Wien, ÖNB, Cod. 5254, 285r-288v; Wroctaw, UB, Cod. IV Ο 9, lr-10v; Wroclaw, UB, Cod. I Ο 19; Wroclaw, UB, Cod. I Q 27,252r-257r; Würzburg, UB, Cod. M. ch. q. 2, 367v-371r; Zürich, ZB, Ζ V 703,42v-49r. Inc.: Aristoteles summusphilosophorumprinceps 3 "de anima dicit quodanima inprincipio sue creacionis est tamquam tabula rasa in qua nihil est depictum [...]. (= Anonymus: De arte memoratiua; Mitte des 15. Jh.); Hs.: München, BSB, Clm 19668, 206v-213v. Inc: Quemadmodum dicit Aristoteles summus philosophorum princeps IX methaphisice per habitus et ususpromtificantur potencie naturales [...] Vnde si quis velit sumere loca accipiat vnam domum [...]. (= Dominus Johannes de Prussia: Ars memoratiua; 1445); Hss.: München, BSB, Clm 7495, 39v-40v (Auszug; Inc.: Ars imitatur naturam in quantum potest)·, München, BSB, Clm 19876, 133v-139r. Inc.: Quemadmodum intellectus scienciis illuminatur et voluntas virtutibus decoratur sie memoria libro adiuuatur: De auxilis intellectus et voluntatis [...]. (= Magister Hainricus: Ars memorativa; um 1447); Texte mit nahezu identischem Inhalt und teils auch mit Übereinstimmungen im Wortlaut sind unter den folgenden Incipits überliefert: 1.) Quia natura humana multipliciter serva et ancilla multis defectibus subicitur conveniens est quaerere artes in expulsionem defectuum et nature sublevacionem·, 2.) Omnes defectus tarn corporis quam anime arte repelluntur et eadem natura iuvatur, 3.) Ex naturali instinetu omnis homo anhelat expellere defectus, si aliquis habeat, arte et ingenio; 4.) Ars memorandi nihil aliud est nisi quedam subtilitas scribendi; 5.) Sicut scienciis iuuatur intellectus; 6.) Aller menschen tagliche sarig ist das sij dy durstichait vnd geprechen irer natur mit künstert helfen mügen. Hss.: Bamberg, SB, Ms. Class. 48, 98v-100r (Inc.: Ex naturali instinetu); Bamberg, SB, Ms. Class. 48, 100r-102v (Inc.: Omnes defectus); Erlangen, UB, Ms. 554, 100r-102v (Inc.: Omnes defectus)·, Göttingen, UB, Cod. 8° theol. 121, 30r-31v (Inc.: Quia natura); Mainz, StB, Ms. 556, 22r (Inc.: Quia natura); München, BSB, Clm 4749 (um 1447), 129r-131v (lat.; Inc.: Quemadmodum intellectus), 120v-123v (dt.; Inc: Aller menschen); St. Gallen, Stiftsb., Cod. 764, 581-585 (Inc.: Ars memorandi nihil); Würzburg, UB, Cod. M. ch. f. 54, 243r-246r (Inc.: Sicut scienciis iuuatur). Vgl. De anima 424a-b.

Konzeptualisierungen

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Wahrnehmbare in Gestalt immaterieller Vorstellungsbilder der Seele 'eingeprägt' (Wachstafelgleichnis) wird. Gedächtnis und Erinnerung sind der passive und aktive Besitz der Dinge anhand ihrer durch frühere Wahrnehmung erzeugten Vorstellungsbilder. Innerhalb dieses Konzepts gibt es nur zwei wirkende Komponenten, die zu rezipierenden Dinge und die rezipierende Seele. Der Anonymus 'Gloriosus deus' fugt dem noch die aus der galenischen Tradition stammenden Überlegungen zur phrenologischen Grundlage des Wahrnehmungsvorgangs hinzu74. Der gemeinsame Nenner der zwei anderen Richtungen besteht darin, daß sie die Existenz einer ars memorativa durch eine grundsätzliche und positiv geführte Diskussion des Verhältnisses von Natur und Kunst auf dem Rechtfertigungswege des Schulsatzes „Ars adiuvat naturam" zu begründen suchen. Dieser Schulsatz stellt jedoch einen sehr allgemeinen Rahmen dar, der sich verschiedenen Argumentationsstrategien öffnet. 75 So setzt der Anonymus 'Attendentes nonnullf bei der Analogie von vita corporalis und vita intellectualis an, deren Einzelbereiche auf jeweils spezifische Weise durch Artifizien unterstützt würden; zur Unterstützung der Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers seien die artes mechanicae erfunden worden - auch das Schreiben wird hier eingeordnet. Für die Unzulänglichkeit der vita intellectualis wird allerdings allein das Beispiel des labilen Gedächtnisses behandelt, zu dessen Stärkung das mentale Schreiben - die Gedächtniskunst - diene. Darüber hinaus wird die Abhängigkeit der memoria von der ethischen Entscheidung76 und von der Erkenntnisleistung77 hervorgehoben.78 74

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Vgl. E. CLARKE / Κ. DEWHURST, Die Funktionen des Gehirns. Lokationstheorien von der Antike bis zur Gegenwart. Aus dem Engl, übertr. und erw. von M. STRASCHILL, München 1973, S. 57-60. Die Diskussion darüber, ob eine Fähigkeit oder Fertigkeit naturgegeben oder vom Menschen erwerbbar ist, zieht sich bereits in der Antike toposartig nahezu durch das gesamte Artesschrifttum (vgl. dazu BLUM [Anm. 7], S. 150-163). Auch die in dem Schulsatz gegebene Ausgleichslösung war bereits in vorplatonischer Zeit Topos und wurde auf verschiedenste Wissenszweige angewandt (vgl. F. HEINIMANN, Eine vorplatonische Theorie der τέχνη, in: Museum Helveticum 18 (1961) 105-130, hier S. 106-113). Etiam artiflcium, in quantum est se, indifferens est ad bonum et ad malum. Sed applicabile ad malum per eos, qui habent voluntatem malam, scilicet ad ostentacionem sui coram alijs in recitacione multorum verborum uel factorum, lectorum aut auditorum et ad lucra terrena, ad auariciam et litigia etc. Applicabile vero ad bonum per eos, qui habent bonam voluntatem, quia mediante tali memoria artificiali melius habent modum se posse recolligere et in se subsistere et ea, quorum delectantur recordari, videlicet predicaciones, ewangelia, epistulas, psalmos, capitula, allegationes, autoritates, causas iuridicas et sie de singulis, quae tunc voluerint memorari. ('Attendentes nonnulli', München, BSB, Clm 6017, 35r). Cogitacio bona est prineipium omnis boni, quia post cogitacionem bonam sequitur delectacio in bono. (Ebd.). Dies sind Argumente, die, für sich genommen, noch ciceronianisch anmuten und somit in den Zusammenhang der ebenfalls topisch geführten Diskussion um den Wert der Rhetorik zu rücken wären (vgl. Cicero, De inventione I.I-II). Alle Komponenten des Argumentationsgangs finden sich jedoch gemeinsam bei Hugo von St. Viktor (Didascalicon I 5-6 und II 21-28) in dem Konzept, nach welchem mechanische Künste, Wissenschaften und Tugenden

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Die dritte Richtung verbleibt mit ihrer Argumentation ganz im Bereich der vita spiritualis. Die mechanischen Künste werden unter Berufung auf Augustinus als unedel und dem moralisch verwerflichen Handeln zuneigend abgewertet gegenüber den artes liberales, die demjenigen Seelenteil zugehörten, welches nach göttlichem Vorbild trinitarisch gebildet sei. An dieser Stelle wird auf Piatons 'Timaios' verwiesen, wo dargelegt wird, daß die maßgebende Form der Seele diejenige sei, die, im obersten Teil des Körpers angesiedelt, den Menschen von der Erde zu seiner ursprünglichen, gottebenbildlichen Wesensart zurückstreben läßt. Wie jedem Seelenteil, so muß auch dieser Geistseele, um nicht durch Untätigkeit in Schwäche zu verfallen, angemessene 'Nahrung' und Bewegung zukommen: das Streben nach Einsicht, Erkenntnis. 79 Weitere Theorieversatzstücke dieser Linie bestehen in der Aristotelischen Wahrnehmungstheorie, die aber lediglich in stark abbreviierter Form geboten wird, und in der Aristotelischen Sprachtheorie, die ebenfalls in verknappter Form, im Diktum von der durch Stufen von Abbildbeziehungen hierarchisch geordneten Trias res - vox - scriptum*0 erscheint. Unterschiede bestehen also insgesamt bei den untersuchten Traktaten in der Entscheidung für die augustinische oder die aristotelisch-averroistische Gedächtniskonzeption bzw. in ihrer Vermittlung, ferner in der Verdeutlichung des zugrundeliegenden Modells einer hierarchischen Struktur der Seelenkräfte. In der Zielorientierung auf das intellektive Gedächtnis, für welches das sensitive lediglich eine notwendige Vorstufe darstelle, nehmen die mnemonischen Traktate jene in der vorangegangenen philosophischen Diskussion ausgeprägte Grundtendenz zur rationalistisch-spekulativen Überformung des Gedächtniskonzepts von Aristoteles auf, der ein intellektives Gedächtnis gar nicht erwähnt. Das Insistieren auf einer solchen Kategorie bildet ein erkenntnistheoretisches Problem ab, nämlich die Schwierigkeit des transcensus zwischen sinnlich erfahrbarer Welt (Bereich des Partikularen, Kontingenten) hin zum mundus intellectualis (Bereich des Universellen, Notwendigen, Wahren) mit den Mitteln der selbst dem Bereich des Geschöpften zugehörigen menschlichen Vernunft. Das Gedächtnis wird in jener rationalistischen Konzeption auf eine Teilhabe an dieser anzustrebenden Grenzüberschreitung verpflichtet. Praktisch soll sich eine solche Teilhabe dadurch realisieren, daß schon bei jedem apprehensiven Akt die zuvor bereits gebildete Einsicht der höheren, intellektuellen Seelenkräfte zu aktivieren ist, durch deren Tätigkeit der Gegenstand der sinnlichen Apperzeption auf die Ebene der göttlichen Prädi-

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als Heilmittel der körperlichen, intellektuellen und moralischen Unzulänglichkeiten des Menschen dazu beitragen, dessen ursprüngliche Unversehrtheit wiederherzustellen und das Bild Gottes wieder in ihm aufzurichten. Piaton, Timaios 90a-d. De interpretatione 16a2-9.

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kate und mittels Logik und Metaphysik gewonnenen Kategorien 'hinaufzuläutern' sind, um damit Anteil an der göttlichen Wahrheit zu haben.81 Die Lehre vom künstlichen Gedächtnis rückt somit von ihrer ursprünglichen artifiziellen Abbildfunktion real gegebener Dinge (Gegenstände, Sachverhalte, Textverläufe) in den Rang einer erkenntnistheoretischen Teildisziplin. In ihrer Überfuhrung der Dinge aus ihrer kontingenten Vereinzelung in die kategoriale Welt des Notwendigen und Wahren realisiert sich ihr Charakter als scientia. Doch diese epistemische Tendenz eignet nicht allein den hierfür programmatischen Einleitungstexten, sie findet ebenso ihren Niederschlag in einer entsprechenden Umformung des traditionell rhetorischen Regelwerks der ars memorativa. So bildet etwa Matthaeus de Verona82 sein /ocz'-System nach dem Muster der aristotelischen Prädikabilien.83 Die Prädikabilien geben parallel zu den zehn Kategorien ein Paradigma zur Bestimmung von Seinsmodalitäten. Konzentrieren sich die Kategorien auf die qualitativen Unterscheidungen der Dinge, so haben die Prädikabilien die Verortung der Dinge in der Hierarchie der aristotelischen Substanzenlehre zum Ziel. So bezeichnet Gattung der Art nach Verschiedenes in seiner Wesenheit, Art versammelt Individuen unter sich auf Grund der nur ihr zukommenden Eigenschaften. Differenz ist dasjenige, was das unter dieselbe Gattung Fallende scheidet. Proprium bezeichnet die Eigenschaft einer Art dann, wenn sie in einer Weise zum abgrenzenden Kriterium gegenüber anderen Arten wird. Akzidens heißt die Eigenschaft einer Sache dann, wenn sie artenunspezifisch ist, 81

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Zum Intellektualgedächtnis bei Thomas von Aquin, Nikolaus Cusanus und Robert Fludd vgl. W. SCHMIDT-BIGGEMANN, Robert Fludds Theatrum memoriae, in: Ars memorativa [Anm. 3], S. 154-169. Inc.: Conspiciens ex una parte scolares quam plures α scientia, quam omnes homines natura desiderant amoueri [...] ego frater Matheus de Verona ordinis predicatorum baccalariorum minus [...] hausi hoc compendium, quod insignitur de arte memorandi [...]. (= Matthaeus de Verona: De arte memorandi; Padua 1420). Hss.: Bamberg, SB, Cod. Q V. 38 (theol. 234), 174r-186r; Mailand, Bibl. naz. Braid., A D IX 14, 92r-100v; München, BSB, Clm 14260, 77ra-85rb; Neapel, Bibl. naz., V.C. 20, 303r-310v; Oxford, Bodl. Lib., Saville 18, 105r-113r; Parma, Bibl. Pal., Cod. Pal. 746, lr-40v; Rom, Bibl. ap„ Cod. vat. lat. 6293, 199v-213v; St. Paul im Lavanttal, Stiftsb., Cod. 137/4, 133r-136r (Exz.; Inc.: Nota quod scientia memorandi prima sui [!] diuisione diuiditur in duas species); Venedig, Bibl. naz. marc., Cod. lat. XIV 292 (4636), 195r-209r. Der Verfasser ist 1415 als Prior des Dominikanerkonvents zu Verona belegt; das Graduiertenverzeichnis der Universität Padua nennt ihn für den 31. Januar 1419 unter den Bakkalaren; 1422-1424 Vorlesungen über Petrus Lombardus an der theologischen Fakultät der Universität Padua; 1422 Magister Theologiae daselbst. Et secundum hunc assimilantur hec loca artis et predicabilibus. Generalia quidem generibus, differenciis et speciebus, particularia autem siue singularia proprio et accidenti. Nam genera sunt sicut vnus vicus uel vna stata in qua sunt multe domus, species vero domus ipse, differencie autem sunt officine in domo ut sala, camera, cenaculum; propria autem sunt loca singularia in offlcina ut fenestra, caminus, discus etc. sed accidencia sunt locelli facti circa discos, caminos uel fenestras ex opposicione ymaginum. (Matthaeus de Verona, München, Clm 14260, 77rb).

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wobei es zwischen den beiden letztgenannten Unschärfebereiche gibt. Wenn Matthaeus also seiner Örterlehre das Ordnungsbild der Prädikabilien aufprägt, so ruft er deren Leistungsvermögen mit auf den Plan, nämlich sacherschließender Zugang zur Welt und deren Ordnung nach den Gesichtspunkten von Substanz und Akzidens zu sein. Auf dieser Ebene operiert Matthaeus ebenfalls, wenn er nach dem Prinzip der Ähnlichkeit die Unterscheidung der Bilder in imagines perfectae und imperfectae vornimmt.84 Die vollständigen Bilder bezögen sich auf ihr Referenzobjekt in seiner Gesamtheit, die unvollständigen nur auf Eigenschaften seiner Teile, und die Bandbreite der partiellen Ähnlichkeit reichte bis zur vollständigen Unähnlichkeit.85 Hier kommen die potentiellen Prädikationen des Begriffs Ähnlichkeit selbst ins Spiel, nämlich die Kontrarietät und das Zulassen von quantitativen Abstufungen.86 Insgesamt konstruiert Matthaeus hier einen Gedächtnisraum, dessen Gliederungsprinzipien denen der kategorialen Erschließung des Seienden nachgebildet sind. Das Ordnungsmittel wird zum Speichermittel. Die loca des Matthaeus partizipieren damit am Charakter der Kategorien als Denkformen und stellen sich in den Dienst der gleichen Erkenntniszwecke. Vergleichbares haben auch die bereits benannten Traktate der „Pariser Gruppe". So begreift etwa der 'Attendentes nonnulli'87 die memorabilia nicht von ihrer partikularen Vereinzelung her, in welcher sie der Wahrnehmung als ihrer primären Rezeptionsform entgegentreten, sie werden vielmehr als Substanzen, also unter dem Aspekt kategorialer Unterscheidungen der Seinsformen aufgefaßt und somit bereits auf die Ebene der intellektiven Rezeptionsform gehoben (intellectus rerum capere).ss Sie stellen damit alles das dar, was weder von einem Zugrundeliegenden (Subjekt) ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist.89 Sie werden ihrerseits ontologisch als Träger von Eigenschaften, als Ausgangspunkte von Prädikationen begriffen. Auf diese Prädikationen wiederum greift die ars memorativa in ihrer Imaginationstätigkeit zu.90 Umgekehrt werden diese Eigenschaften nie 84

Duplex est imago scilicet perfecta et inperfecta. (Ebd., 79ra). Perfecta est ilia que est in toto similis sicut filius dei est ymago perfectissima patris et petrus est ymago perfecta sui patris. [...] Imago inperfecta est ilia que est partim similis et partim dissimilis vel in toto dissimilis quantum ad denominacionem. (Ebd., 79ra). 86 Vgl. die Diskussion des Ähnlichkeitsbegriffs im Rahmen der Relativitätskategorie bei Aristoteles (Kategorien 7. 6a37-6b27). " Vgl. [ A m 69], Primo dicendum est de sumpcione locorum, secundo de imaginibus substanciarum, tertio de imaginibus accidencium, quarto de imaginibus proposicionum, quinto de imaginibus argumentorum, sexto de imaginibus collacionum, septimo de imaginibus orationum in propria forma, octauo de imaginibus ignotarum diccionum. ('Attendentes', München, Clm 6017, 38v). 89 Vgl. Aristoteles, Kategorien 2a 13-14. 90 Et in substanciis spiritualibus debet semper habere recursum ad aliquod mirabile, quod operibus talium substanciarum appropriatur, vt pro Seraphim, qui ardet in amore, ponitur 85

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zusammenhangslos behandelt, da ihnen ontologisch keine selbständige Existenz zukommt.91 Sind Eigenschaften Zielpunkt der memoria, so hat demzufolge deren imaginative Tätigkeit an den Substanzen anzusetzen, denen sie zugehören.92 Analog wird auch der Prozeß der Imagination selbst auf eine erkenntnistheoretische Basis gestellt. Denn ihre möglichen Wege (per intellectum, per sonum vel vocem, per scripturamf3 beziehen sich exakt auf die Stufen, in welchen das intellektuell Erfaßte aussagbar ist und die in der Aristotelischen Vorstellung hierarchisch gegliederter Abbildbeziehungen vom mentalen Vorstellungsbild einer Sache über ihren sprachlichen Ausdruck bis hin zur schriftlichen Umsetzung gegeben sind.94 Der Dreischritt von perzeptionstheoretischem Ausgangspunkt, der Überführung des Perzipierten in den Bereich der intellektiven Tätigkeit und seiner Erfassung schließlich in einem substanzenontologischen System von loci und imagines bildet im Bereich der ars memorativa jenen anzustrebenden Erkenntnisprozeß ab, in welchem die Dinge der sinnlichen Wahrnehmung der Singularität und Zufälligkeit ihrer in der gegenständlichen Welt vorfindlichen Daseinsweise entkleidet und durch die Rückführung auf ihre wesentlichen kategorialen Bestimmungen einem höheren Wahrheitsstatus zugeführt werden. In dieser Teilhabe am Generieren von Wahrheit realisiert sich der epistemische Aspekt der Gedächtniskunst, welchem gegenüber ihr ars-Charakter (im Sinne der Erlernung von Vorschriften zu einem praktisch-kulturellen Zweck) als sekundär zurücktritt. Dieser Dreischritt findet sich in allen Traktaten, die Rezeptionsformen des Anonymus 'Attendentes nonnulW darstellen, wie auch in den anderen Traktaten, die die 'Pariser Gruppe' konstituieren 95 Auch die Unterscheidung der memorabilia in substantia und accidentia ist ihnen allen gemeinsam. Dabei geht das erkenntnistheoretische Instrumentarium, namentlich der Logik, in verschiedener Auswahl und terminologischer Ausformung in die Texte ein. So verwendet Magister Hain-

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candela ardens, pro Cherubim liber plenus Uteris aureis, ex quo, vt Cherubim dicitur a plenitudine seiende, pro Throno seeptrum etc. ('Attendentes nonnulW, München, Clm 6017, 41r). Aristoteles, Metaphysik 1025al4-1027al5. Si vis memorari accidencia, ex quo talia non habent propriam noticiam, sed eorum noticia a substancia dependet. ('Attendentes nonnulW, Clm 6017, 43r) . Ymago in proposito nichil aliud est quam quedam similitude mente, per quam homo faciliter devenire possit ad noticiam rei actuali, cuius vult memorari. Item nota, quo ad secundum principale, videlicet ad applicacionem materie, quod ista habet se in arte tripliciter, videlicet secundum intellectum, vocem uel sonum uel scripturam. (Ebd., 42v-43r). Aristoteles: De interpretatione 16a2-9: Quae igitur sunt in voce, sunt notae passionum quae sunt in anima; et quae scribuntur, sunt notae eorum quae sunt in voce. Atque ut literae non sunt apud omnes eaedem, ita nec voces sunt eaedem, sedpassiones animi, quarum hec primum sunt signa, eaedem sunt apud omnes, eaedem sunt etiam res, quarum hae passiones sunt simulacra. Die Gruppe umfaßt insgesamt 18 Traktate, die hier nicht alle in ihren Überlieferungsdaten aufgeführt werden können. Ich verweise daher auf den Katalog und die genealogische Zuordnung in meiner Habilitationsschrift (Ars und scientia [Anm. 4]), S. 47-86.

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ricus96 das /oc/-System der Logik, um mit dem dort gegebenen Spektrum an Dependenzrelationen zwischen den Dingen gleichsam das Spektrum von Bedeutungsbeziehungen zwischen Merksache und imago vorzugeben. ad omne pone id, quod tibi placet quod equalem dependenciam habet causalitatis, contrarietatis, similitudinis vel alterius dependencie, et ad hoc multum suffragantur loci dyaletici, potissime locus α causa, ab effectu, locus ab oppositis, locus ab usibus, locus a communiter accidentibus et presertim loci intrinsici a diffinicione et descripcione. (Hainricus, Clm4749,130v)

In den logischen Örtern sind die Strukturen vorgegeben, nach welchen eine Sache in der Hierarchie der Seinsformen zu verankern und hinsichtlich ihrer Seinsursachen und ihrer Eigenschaften zu prädizieren ist. Die Örter sind somit Systemstellen (sedes argumentorum), von welchen aus unterschiedliche Kategorien von Aussagen generierbar sind. Sie unterschieden sich zunächst in loci intrinseci, deren Aussagen all das betrifft, was einer Sache ihrer Substanz nach zugehört, und loci extrinseci, deren Aussagen von all dem her gebildet werden, was von der Sache ihrer Substanz nach geschieden ist.97 Zu den loci intrinseci gehören die bei Hainricus aufgeführten loci a diffinitione und a descriptione. Während erstere auf der Grundlage übereinstimmender substantieller Merkmale die Zuordnung einer Art zu einer Gattung bzw. eines einzelnen Seienden zu einer Art vornehmen,98 bilden letztere ihre Aussagen über das betreffende Seiende durch Kombination von Zuordnung zum genus und akzidentellen Merkmalen.99 Zu den loci intrinseci zählen ebenfalls die loci α causa, die die Bedingtheit eines Seienden durch verschiedene ursächliche Prinzipien beleuchten und denen in der Umkehrung der locus ab effectu zuzuordnen ist, 100 und der locus ab usibus, der die beurteilende Aussage

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Vgl.Anm.72. Ich ziehe zur Definition der logischen Örter die 'Summule logicales' des Petrus Hispanus hinzu, die neben anderen Logik-Kompendien maßgebliche Autorität und obligatorischer Lehrstoff an den Artesfakultäten bis zum Ende des 15. Jahrhunderts waren: Locus intrinsecus est quando sumitur argumentum ab eis que sunt de substantia rei, ut a diffinitione. Locus extrinsecus est quando sumitur argumentum ab eis que omnino separata sunt a substantia rei, ut ab oppositis. (Petrus Hispanus, Tractatus sive Summule logicales, e d . L . M . D E R I J K , A s s e n 1972, S . 5 9 , 2 3 - 2 6 ) .

Diffinitio est oratio quid est esse significans. Locus α diffinitione est habitudo diffinitionis ad diffinitum. [Exemplar] 'animal rationale mortale currit; ergo homo currit.'[...] 'Sortes est animal rationale et mortale; ergo Sortes est homo. · (Ebd., S. 60, Ζ. 1 Of., 16, 20 f.). Descriptio est oratio significans esse rei per accidentalia, ut 'animal risibile' est descriptio hominis. Vel sie: descriptio est oratio constans ex genere et proprio, ut 'animal risibile'. (Ebd., S. 61, Z. 26-28). Causa est ad cuius esse sequitur aliud secundum naturam. Et dividitur in causam effecientem, materialem, formalem et finalem. Causa effeciens est a qua prineipium est motus, ut domificator est prineipium movens et operans ut domus sit [...] Locus α causa effenciente est habitudo ipsius ad suum effectum. Et est constructivus et destruetivus. Ut 'domificator est bonus; ergo domus est bona.' [...] Econverso vero est locus ab effectu eius efficientis. (Ebd., S. 67, Z. 6-9,11-13,20).

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über eine Handlung auf den oder das Handelnde überträgt.101 Aus dem Bereich der loci extrinseci erwähnt Hainricus lediglich die loci ab oppositis, die den Status und die Eigenschaften der Dinge aus ihrer Relation zu dem jeweils ihnen Entgegengesetzten beschreiben.102 Wenn sich also Hainricus auf die loci dyaletici als strukturbildendes Prinzip seiner Imaginationslehre beruft, so bleibt seine Vorstellung schon von den apprehensiven Tätigkeiten der memoria an die Aristotelische Substanzenontologie und Prädikationslogik gebunden. Das Gesamtinstrumentarium der logischen Örter dient demnach dem Generieren bzw. Finden (inventio) von Wahrheit in der Aussage über einen Gegenstand oder ein Problem und steht somit in einem ausgewiesenen erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Ihre Nutzung im Rahmen der apprehensiven Tätigkeiten der memoria favorisiert mithin deren epistemische Leistungspotenzen. Bei Nikolaus von Kues heißt es: Dico memoriam intellectualem principium esse notionum, sed non apparet nisi cognoscatur, sicut non apparet te memoriam habere primi principii, quodlibet est vel non est, nisi in lumine rationis manifestetur.m Nicht die Wiedergabe einer Erfahrungswelt ist hier anvisiert, es gilt vielmehr, „intellektuelle Einsicht zu aktivieren und dadurch den Anspruch der göttlichen Prädikate, der Kategorialbegriffe aus Metaphysik und Moral, der Zahlen und der Logik zu aktualisieren, damit Anteil am Reiche der göttlichen Wahrheit zu haben."104

V. Ausblick: Humanistische Inthronisation des Kontingenten Die zuerst bei Matthaeus de Verona, in der Folge aber vor allem in den Traktaten der 'Pariser Gruppe' beobachtete logische Ausformung der ars memorativa verbindet sich gleichwohl mit einer Auffassung von Sprache als Widerspiegelung der auf dem Wege der intellektiven Erkenntnis gewonnenen Einsichten in die Qualitäten und Seinsmodalitäten der Dinge. Diese Sprachauffassung mußte von huma101

Usus, ut hic sumitur, est operatio rei sive exercitium ipsius, ut securis secare et equi equitare. Locus ab usibus est habitudo ipsius operationis ad illud cuius est operatio sive usus. Ut 'equitare sive scindere est bonum; ergo equus est bonus sive securis est bona.' Unde locus? Ab usibus. Maxima: cuius usus bonus est, ipsum quoque bonum est. (Ebd., S. 70, Z. 5-10). 102 Oppositionis quatuor sunt species, scilicet oppositio relativa, contrarietas, oppositio privativa, contradictio. Relative opposita sunt quorum alterum non potest stare sine altero, ut pater et filius. Contrarietas est contrariorum oppositio, ut albi et nigri. Privative opposita sunt que circa idem habent fieri, ut visus et cecitas circa oculum. Contradictio est oppositio cuius secundum se non est medium; inter esse enim et non esse non est medium. (Ebd., S. l n , 71, Z. 9-16). Nikolaus von Kues, De aequalitate, in: ders., Philosophisch-Theologische Schriften, hg. und eingef. von L. GABRIEL, übers, von D. u. W. DUPRE, Bd. III, Wien 1989, S. 357-417, hier S. 386. 104

SCHMIDT-BIGGEMANN [ANM. 8 1 ] , S . 1 6 6 .

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nistischer Seite her Kritik auf den Plan rufen und hat dies bekanntlich auch getan. Kein Geringerer als Erasmus hatte die modi significandi pueris statim ac liberaliter instituendis' als quaestiunculi

in seiner Abhandlung 'De verurteilt, durch welche

der Schüler nichts weiter lerne als sich schlecht auszudrücken (perperam

loqui).105

Dieses etwas geschmäcklerisch anmutende Statement hatte jedoch einen substantiellen Hintergrund in einer alternativen Konzeption von der Sprache, ihrem Gebrauch und ihrer Erlernung. Die Tatsache, daß derselbe Humanist auch die Mnemotechnik als unbrauchbar verdammt hatte, läßt zumindest die Vermutung zu, daß es hierbei nicht um die generelle Ablehnung der ars memorativa

ging, sondern

vielmehr um deren beschriebene sprachlogische Ausformung mit ihrer Hinwendung von der gesprochenen zur mentalen Sprache, wodurch sie sich jenem kulturellen Gedächtnis subsumierte, welches sich durch rationalen Nachvollzug der göttlich prästabilierten Seinsordnung konstituierte. Die Mnemotechnik, die es nicht zuletzt ausweislich der Rhetorik des Jacobus Publicius 106 auch im humanistischen Konzept gab, ordnet sich systematisch anders ein. Während dies in der Formulierung des Erasmus relativ dunkel bleibt, 107 werden bei Johannes Aventi105 106

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De pueris statim ac liberaliter instituendis, ed. par J . - C . M A R G O L I N , in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, I, 2, Amsterdam 1971, S. 77. Inc.: Haud ab re fore arbitror, si preter maiorem consuetudinem, que plurimis seculis e mortalium vsu recessere, in medium nunc lucemque referam [...]. (= Jacobus Publicius: Ars memorativa; vor 1460); Biogr.: Spanischer 'Wanderhumanist', Verfasser rhetorischer Werke; wirkte u.a. in Valencia, Salamanca; las 1458 in Tolosa (Der Codex Brno, UB, Cod. A 100, 105r berichtet von einer rhetorischen Disputation zwischen Johannes Serrae und Jacobus Publicius aus dem Jahre 1458 in Tolosa.), 1464 in Leuven, 1466/67 in Erfurt, 1467 in Leipzig, 1468 in Wien und Köln, 1469 in Krakau, 1470/71 in Basel; 1473/74 Aufenthalt in Reims. Wie der kodikologische Befund ausweist, hat Jacobus Publicius an deutschen Universitäten in erster Linie die Studia humanitatis vertreten. Er las u.a. Terenz, Cicero, Sallust, Hieronymus und Petrarca. Drucke: H A I N 13545-13549; H A I N - C O P I N G E R , Appendices, 1824. Hss.: Aschaffenburg, Stiftsb., Ms. pap. 33, 192r-207r; Augsburg, SB, 4° Cod. 21, Ilr-XIIv, 70r-73r (1473); Augsburg, UB, Cod. II. 1. 2° 94, 154r-173v (ca. 1475-1477; Prov.: Artistenfakultät Basel, danach St. Magnus Füssen); Bamberg, SB, Cod. class. 48, 93r-98r; Basel, UB, Cod. F IV 54, 148v168r (1478); Berlin, SB, Ms. lat. oct. 387, 3v-4v (Fragment, nur med. Teil; 1482); Bergamo, Delta IV 51 (Einzelfaszikel); Donaueschingen, Hofbibliothek, Cod. 10, 37r-49v (nach den Wasserzeichen 1475); London, BL, 15th cent. ms. v. 5, 287; London, BL, Add. ms. 28805, 133r-179v; London, Wellcome Hist. Lib., Ms. 332; Madrid, Bibl. Nacional, Ms. 9309, 97r-100r; Mainz, StB, Cod. I 562 (nicht foliiert); München, BSB, Clm 3603, 97r106v; München, BSB, Clm 4394, 150v-153r (Fragment, nur med. Teil; vor 1477); München, BSB, Clm 16231, 180r-203r (nach den Wasserzeichen um 1469); Ottobeuren, Ms. O. 45, 137r-173v (um 1488); Regensburg, Fürstl. Thum u.Taxissche Hofbibl. 161 (nicht foliiert); Rom, Bibl. ap. Vat., Cod. J IV 112; Schaffhausen, StB, Cod. min. 113, 302r-342v; Trier, StB, Cod. 155, 309r-334v (1478); Venedig, Bibl. naz. marc., Cod. XIV 29 (4700, nicht foliiert); Weimar, Thür. Landesbibl., Q 108, 252r-273r (ca. 1470-1480); Wien, ÖNB, Cod. 3202, 37r-54r; Winchester, Winchester College, Ms. 50D, 32v-48v; Wroclaw, Biblioteka Zakladu Narodowego im. Ossolinskich, Ms. 734/1,174r-200r; Würzburg, UB, Cod. M. ch. q. 2, 273r-387r. Earn tametsi locis et imaginibus adiuuari non inflcior, tarnen tribus rebus potissimum constat optima memoria: intellectu, ordine, cura. (De ratione studii, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, 1,2, S. 79-151, hier S. 149).

Konzeptualisierungen von Mnemotechnik im Mittelalter

nus und Rudolf Agricola Konturen dieses Konzepts erkennbar: Die Grundlagen der Sprache seien weder von himmlischen Prinzipien noch von solchen der Natur herleitbar, sie seien vielmehr zu formulieren in Übereinkunft mit dem usus der Sprachgemeinschaft, welcher durch Beobachtung und Beschreibung der besten Autoren zu ermitteln und der Nachahmung zu empfehlen sei (melius auctoritate ac imitatione quam preceptis discuntm). Damit wird die Sprache ihres Status als Erkenntnisinstrument einer außerhalb des Menschen liegenden, höheren Wahrheit enthoben und zum alleinigen Eigentum menschlichen Handelns erklärt. Mnemotechnik, die als artifizielle Unterstützung des natürlichen Gedächtnisses ausdrücklich zugelassen wird und die in erster Linie im Prinzip der Ordnung begriffen wird, besteht hier im Anlegen thematisch geordneter loci-communes-Sammlungen auf der literarischen Basis klassischer Latinität.109 Redestücke klassischer Autoren werden als Muster stilistisch vorbildlicher Formulierung eines Sachverhalts in thematischer Ordnung selbst zum loci-System. Seine Elemente gewann dieses somit aus der Anschauung sprachlich vergegenständlichter kommunikativer Erfahrung. Sein Gebrauchszweck bestand sowohl in der memorativen Anlagerung von Aktuellem wie seiner produktiven Nutzung im Rahmen der inventio. So wie sich im Kampf besonders der Magister der höheren Universitäten gegen die humanistische Grammatik und jenes rationalistische Intellektual-Gedächtnis gegen eine Sprachauffassung zur Wehr setzte, welche seinen Erkenntniszielen keine angemessene Propädeutik sein konnte,110 so richtete sich mit der humanistischen Kritik an der logisch ausgerichteten ars memorativa ein empirisch gewonnenes historisches Gedächtnis gegen die „transzendentale Geringschätzung" seiner zentralen Domäne, jenes Wissensbereichs, welcher nicht more geometrico per rationalem Schluß erreichbar war und daher als nicht wahrheitsfahig betrachtet wurde: des Wissens vom innerweltlichen menschlichen Handeln.

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Grammatica omnium utilissima et brevissima ... Johannes Aventinus. [Erfurt] 1513. 44 Bll. Ich habe das Exemplar Handschr. Mag. Coli Erh. 444 der Münsteraner UB eingesehen, hier fol. A iv. Rodolphi Agricolae Phrysii Epistola de formando studii, hg. von J. HAUSER, in: Quintilian und Rudolf Agricola. Eine pädagogische Studie. Programm Günzburg 1910, S. 54 Z. 13 - S. 57 Z. 17. Über die Schwierigkeiten, auf die die Durchsetzung der neuen Grammatik auf Grund der Tatsache stieß, daß sie nicht wie die grammatica speculativa geeignet war, als Propädeutikum der philosopischen Diskussion zu dienen, berichtet am Beispiel der Universitäten Tübingen, Freiburg und Ingolstadt ausfuhrlich T. HEATH, Logical Grammar, Grammatical Logic, and Humanism in Three German Universities, in: Studies in the Renaissance XVII (New York 1970) S. 9-64, hier S. 31-41.

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Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische Antikenroman v o n U D O SCHÖNING

Seit einigen Jahren, so wurde jüngst festgestellt, werde Erinnerung und Gedächtnis „in fast allen Kulturwissenschaften ein geradezu stürmisches Interesse" entgegengebracht; ja, es wurde überdies sogar vermutet, daß „sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut".1 Wer den nomenklatorischen Eifer innerhalb der einschlägigen Fächer während der jüngeren Vergangenheit verfolgt hat, kann diese Äußerungen - zumal in eigener Sache vorgebracht - im Hinblick auf Beobachtung und Intention durchaus nachvollziehen. Andererseits aber verweisen sie auf Probleme, etwa in bezug auf die kausalen Gründe und finalen Begründungen des der Aufmerksamkeit empfohlenen Prozesses sowie auf deren Zusammenhang, und sie räumen den möglichen Verdacht nicht aus, daß der memoria-Begriff gerade deshalb so viele Antworten hervorbringt, weil er ebenso viele Fragen aufwirft. Hielte man dem die vertretbare Annahme entgegen, daß Kultur ohne Erinnerung nicht vorstellbar sei und kulturwissenschaftliche Erkenntnis folglich ohne einen Begriff von Erinnerung nicht auskommen könne, so wäre einzuwenden, daß dieses Argument gerade nicht das Aufkommen der speziellen Forschung erklären kann. Das leistet hingegen der Vorschlag, die momentane wissenschaftliche Konjunktur der Vokabeln Gedächtnis und Erinnerung mit einem Verlust von Gedächtnis und Erinnerung in der gegenwärtigen Lebenspraxis in Zusammenhang zu bringen. Akzeptiert man dies, dann ist es darüber hinaus naheliegend, in der einschlägigen kulturwissenschaftlichen Terminologie eine Anthropomorphisierung des Kollektivs zu erkennen, die die Kehrseite der tatsächlichen Entmenschlichung und Computerisierung kollektiver Abläufe bildet; denn der Bezug historischer Fragen zur Gegenwart ist nicht nur erklärlich, sondern auch wünschenswert. 1

O. G. OEXLE, Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von J. HEINZLE, Frankfurt a.M. 1999, S. 297-323, hier S. 298; J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, S. 11. In diesem Zusammenhang sei auf zwei für unser Thema relevante Beiträge zur Erinnerungsforschung verwiesen: K. STIERLE, Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift - Über den Ursprung des Romans bei Chritien de Troyes, in: Memoria - vergessen und erinnern, hg. von A. HAVERKAMP / R. LACHMANN unter Mitw. von R. HERZOG, München 1993, S. 11 Τ-

Ι 59; Β. HAUPT, Literarische Memoria im Hochmittelalter, Chrestien de Troyes und der Discours de la Methode, in: LiLi 105, Memoria in der Literatur (1997) 39-61.

Udo Schöning

Wenn aber die historische Forschung auf eine aktuelle Situation reagiert, indem sie ihrerseits daran erinnert, wie andere sich unter anderen Umständen erinnerten, dann ist zumindest evident, daß als Erinnerung nicht nur vieles, sondern auch Verschiedenartiges bezeichnet wird. Indessen scheint dies eine Möglichkeit zu sein, die allgemein der Verbreitung eines Vokabulars nicht unbedingt schadet und auch dem Erkenntnisgewinn nicht abträglich sein muß, dann nämlich nicht, wenn eine Begriffsbildung oder Begriffspräzisierung durch praktische Anwendung erfolgt. Trotzdem aber, und selbst wenn die historische Wandelbarkeit eines jeden Geschichtsbegriffs konzediert wird, steht von vornherein fest, daß der Historiker notwendigerweise eine wissenschaftlich zu nennende Art der Beschäftigung mit der Vergangenheit hat, die sich typologisch von anderen Arten - etwa der literarisch-künstlerischen - ebenso notwendig unterscheidet; so wie generell davon auszugehen ist, daß es im Verlauf der Geschichte und Kulturen unterschiedliche, möglicherweise epochal oder kulturspezifisch zu unterscheidende Arten der Beschäftigung mit Vergangenheit gibt. Eines dürfte dennoch nicht zu bestreiten sein, nämlich daß für jede kulturelle Gegenwart sowie für die soziale Stabilität die Auffassung von der Vergangenheit, insbesondere auch von der eigenen Vergangenheit, eminent wichtig ist, was vor allem die Problematik von Identität und Identifikation betrifft. 2 Wenn ich mich im folgenden dem altfranzösischen Antikenroman unter dem Gesichtspunkt der Erinnerung zuwende, ist es trotz des bisher Vorgebrachten aus zwei Gründen nicht nötig, den - im übrigen wohl untauglichen - Versuch zu unternehmen, den metaphorischen oder begrifflichen Status von 'Erinnerung' a priori zu entscheiden oder die bisherigen Anwendungen des Erinnerungsbegriffs zum Zweck einer solchen Entscheidung zu reflektieren. Denn erstens ist mit Blick auf die französische Literatur in ihren mittelalterlichen Anfängen zu bemerken, daß sie sich durchweg mit der Vergangenheit befaßt, oder besser gesagt, mit jeweiligen Vergangenheiten: derjenigen der Legende, derjenigen der Chansons de geste, der des Artusromans oder der des Antikenromans. Sie ist insofern Erinnerungsliteratur.3 Zweitens kann ich mich philologisch auf mein Textcorpus beziehen,4 die 2

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Meine einleitenden Überlegungen orientieren sich an den in Anm. 1 genannten Titeln sowie vor allem an J. L E GOFF, Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französ. von E. HARTFELDER, Frankfurt a.M. 1992, insbes. S. 86-137. Der erste integral überlieferte Text der französischen Literatur sagt es explizit: Aiuns, seignors, eel saint home en memorie, Sankt Alexius, hg. von G. ROHLFS, Tübingen 41963, (Sri) 15), V. 621. Das Corpus besteht aus folgenden, vermutlich in dieser Reihenfolge, wahrscheinlich zwischen 1150 und 1170 wohl im westfranzösischen Sprachgebiet entstandenen, intrikat überlieferten Romanen, die wir nur in der Form späterer Bearbeitungen kennen: Thebenroman ('Roman de Thfebes'), Eneasroman ('Roman d'Eneas'), Trojaroman ('Roman de Troie'), wobei nur im letzten Fall der Verfasser bekannt ist, weil er sich selbst nennt. Zur Bestimmung des Corpus (unter Ausschluß der Alexanderepik) s. U. SCHÖNING, Thebenroman -

Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische Antikenroman dort intentional verwendete einschlägige Vokabel aufgreifen und a u f der B a s i s eines kommunikativen Erkenntnismodells von Literatur in eine historisch angemessene literaturwissenschaftliche Fragestellung integrieren. Diese Frage lautet: W e r erinnert, wann, wen, in welcher Weise, warum, woran? In der Tat ist an hervorgehobenem Ort, nämlich im Prolog des wahrscheinlich ersten, wohl um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßten Gattungsrepräsentanten, gleich zweimal von Erinnern die Rede, und es finden sich darüber hinaus in diesem Zusammenhang Antworten zu dem genannten Fragenkomplex, Antworten, die verdienen, historisch einschneidend genannt zu werden: Qui sages est nel doit celer, ainz doit por ce son senz moutrer que quant il ert du siecle alez touz jors en soit mes ramenbrez. Se danz Omers et danz Piatons et Virgiles et Quicerons leur sapience celissant, ja η 'en fust mes parle avant. Pour ce η 'en veul mon senz tesir, ma sapience retenir,

ainz me delite a raconter chose digne por ramenbrer. Or s 'en tesent de cest mestier, se ne sont clerc ou chevalier, car ausipueent escouter conme Ii asnes a harper. Ne parlerai de peletiers ne de vilains ne de bouchiers, mes des deus freres pariere et leur geste racontere. (Roman de Thdbes, Vv. 1-20)

Der auffällig kompakte, konzise formulierte und streng strukturierte Prolog von insgesamt 3 2 Versen ist nach Sinneinheiten in acht Abschnitte gleicher Verszahl gegliedert und zerfällt in zwei gleichlange Teile, in denen zunächst die allgemeinen Voraussetzungen des Erzählens und danach das spezielle Thema behandelt werden. Im ersten Teil werden die Größen des Grundmodells der literarischen Kommunikation - Autor, Werk, Publikum - literarisch-sozial differenzierend auf der Grundlage wechselseitiger Dignität und unter Rückgriff auf drei gezielt eingesetzte Topoi aus dem gelehrten Fundus bestimmt. 1. Der Wissen-verpflichtetTopos: Der Prolog schickt die These voraus, daß Verstehen einen j e d e n zur Weitergabe verpflichte, damit eine Erinnerung daran auch nach seinem Tode stattfinden könne. 5 2. Der digna-memoria-Topos:

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Zum Beweis der These wird a u f j e zwei

Eneasroman - Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen 1991, S. 37-57. Die vorliegende Studie führt diese Untersuchung weiter. Die antiken Romane werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Le Roman de Thebes, 2 Bde., hg. von G. R. DE LAGE, Paris 1968 u. 1971, (CFMA), [Roman de Thebes, hg. von L. CONSTANS, 2 Bde., Paris 1890, (SATF)], Eneas, Roman du XIP siecle, 2 Bde., hg. von J.-J. SALVERDA DE GRAVE, Paris 1973 u. 1968, (CFMA); Benoit de Sainte-Maure, Le Roman de Troie, 6 Bde., hg. von L. CONSTANS, Paris 1904-1912, (SATF). Das en in V. 4 und V. 8 kann sich sowohl auf das Vermittelte als auch auf den Vermittler beziehen, anders gesehen, faßt es beides zusammen, was als Hinweis darauf gesehen werden kann, daß der mittelalterliche Autorbegriff zunächst mehr durch die Sache als durch die Person bestimmt ist, was auch den Verzicht auf die Nennung der Namen sowohl des Verfassers der 'Thebais' als auch des 'Roman de Thebes' erklären mag. Der Topos, daß Wissen

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eminente Vertreter der griechischen und der lateinischen Literatur verwiesen, die sich der mittelalterliche Verfasser zum Vorbild nimmt, wenn er Erinnernswertes erzählen will. 3. Der onos-lyras-Topos: Alle, die nicht Kleriker oder Ritter sind, mögen dabei schweigen, da ihr Vermögen zuzuhören dem des Esels beim Harfenspiel gleicht.6 Der mittelalterliche Autor stellt sich also in eine antike Tradition, die ihn in der Annahme bestärkt, daß Wissen zu Weitergabe verpflichte, um Erinnerung daran zu ermöglichen, und an die er sich in besonderer Weise anschließt, indem er, zwischen der Weisheit der antiqui und seiner Weisheit unterscheidend und den sen (als das auf der Anwendung des eigenen Verstandes beruhende Verständnis des gelehrten Wissens) fur sich reservierend, erzählt, was als Geschehen aus der Vergangenheit des Erinnerns würdig ist.7 Dieses Erinnern aber ist ausschließlich eine Angelegenheit von Klerikern und Rittern. Das heißt, der Verfasser des Prologs postuliert eine Deutungskompetenz und eine literarische Exklusivität, die einer ständischen entsprechen, oder, anders formuliert, die kollektive literarische Erinnerung dient der Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses, das der Bildung eines auf dem Zusammentreffen von zwei Klassen beruhenden sozialen Kollektivs Rechnung trägt. Wie die Rollenverteilung dabei aussah, macht der Bearbeiter der Fassung y deutlich, wenn er schreibt:

verpflichte, geht laut W. A. NITZE, 'Sans' et 'matiere' dans les ceuvres de Chritien de Troyes, in: Romania 44 (1915-17) 14-36, hier, S. 20, auf Sap 7.13 zurück. Vgl. auch E. R. 8 CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1973, S. 97-99, und mit Verweis auf die provenzalische Literatur: E. KÖHLER, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung, Tübingen 21970, S. 4953. Sen bezeichnet sowohl den individuellen Verstand als auch das Verständnis als Verstandesleistung. Zur Semantik von sen s. auch E. KÖHLER, Zur Selbstauffassung des höfischen Dichters, in: Der altfranzösische Roman, hg. von E. KÖHLER, Darmstadt 1978, S. 1738. Es ist klar und wird auch zuweilen betont, daß nach mittelalterlich-christlicher Auffassung individuelle Fähigkeiten von Gott verliehen sind. Vgl. etwa Alexandre de Paris oder Marie de France (Französische Literaturästhetik des 12. und 13. Jahrhunderts. Prologe Exkurse - Epiloge, ausgew. von U. MÖLK, Tübingen 1969, S. 21 u. 66). Marie verbindet das Wort sen mit einem beachtenswerten Hinweis auf die Bereicherung des rezipierten Textes, die auf einem Fortschrittsgedanken beruht:

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Li philesophe le saveient Custume fu as anciens, Ceo testimoine Preciens, Ε par eus memes entendeient, Es livres ke jadis feseient Cum plus trespasserunt le tens, Assez oscurement diseient Plus serreient sutil de sens Pur ceus ki a venir esteient Ε plus se savreient garder Ε ki aprendre les deveient, De ceo k'i ert, a trespasser. K'ipeüssent gloser la lettre (Les Lais, Vv. 9-22) Ε de lur sen le surplus mettre. Mestier bezeichnet den einschlägigen Dienst und weist ihn als gelehrten Dienst aus. Der Wahrheitsanspruch kommt des öfteren und in typischer Weise als Distanzierung von der fable zum Ausdruck (vgl. 'Roman de Thebes', Vv. 931, 2982,4049, 8630).

Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische

Antikenroman

Conter vous voel d'antive estore Que Ii clerc tiennent en memore, Et conter d'une flere geste : Leu on le list estuet grant feste. (Roman de Thfcbes, Appendice III, Vv. 17-20)

Der zweite Teil des Prologs schließt explizit stiltrennend peletiers, vilains und bouchiers als Handlungsträger aus und kündigt an, daß es um die geste, also um die Familiengeschichte zweier Brüder, Ethiocles und Pollinices, gehen soll, die der König Edyppus, nachdem er seinen Vater erschlagen hatte, mit der Königin Jocaste zeugte, die seine Mutter war. Der Inzest wird als Sünde bezeichnet, die ursächlich für den Untergang Thebens, des Reiches, der Nachbarn und der Brüder ist. Mit dem Begriff der Sünde kündigt sich bereits an, was ebensowenig überraschend wie wichtig ist, daß nämlich die Deutung des antiken Geschehens als interpretatio Christiana erfolgt. Weder einen Prolog noch einen Epilog hat der mutmaßlich nächste Roman in der Reihe der antiken Romane, der 'Roman d'Eneas'. Anders verhält es sich dagegen mit dem wahrscheinlich als letztem begonnenen Gattungsrepräsentanten, dem 'Roman de Troie'. Ihm ist wieder ein Prolog vorangestellt, der wie derjenige des 'Roman de Thebes' mit dem hier jedoch als Salomon-Zitat ausgewiesenen Topos beginnt, daß Wissen zu Weitergabe verpflichte. Dieser Gedanke wird in Variationen vorgeführt. Dabei wird - ebenfalls wie im 'Roman de Thebes' - auf das Beispiel der antiken Autoren verwiesen, die hier allerdings kollektiv Ii ancessor (V. 6) genannt werden. Wenn jetzt aber die antiken Autoren als antecessores bezeichnet werden, liegt ein kulturhistorischer Entwurf zugrunde, demzufolge die Antike als Vorgeschichte in die eigene Geschichte integriert ist,8 und es zeichnet sich eine Kontinuität (toi Ii monz, Ii siegles) ab, die auf der einen Seite durch Hinterlassen des Wissens und auf der anderen Seite durch Erinnerung daran realisiert wird:

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Walter Map, De nugis curialium. Courtiers' Trifles. Dist. V, Prologus, edited and translated by Μ. R. JAMES, revised by C.N.L. BROOKE / R.A.B. MYNORS, Oxford 1983, S. 404, protestiert als Zeitgenosse gegen die Überschätzung der Alten und greift dabei auf den memoriaBegriff zurück: Antiquorum industria nobis pre manibus est; gesta suis eciam preterita temporibus nostris reddunt presencia, et nos obmutescimus, unde in nobis eorum uiuit memoria, et nos nostri sumus immemores. Miraculum illustre! Mortui uiuunt, uiui pro eis sepeliuntur! 37

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Se eil qui troverent les parz Ε les granz livres des set arz, Des philosophes les traitiez, Dont toz li monz est enseigniez, Se fussent teii, veirement Vesquist li siegles folement: Come bestes eüssons vie ; Que fust saveirs ne que folie

Ne seüssons sol esguarder, Ne l 'un de I 'autre desevrer. Remembre seront a toz tens Ε coneü par lor granz sens, Quar science que est teiie Est tost obliee e perdue. (Roman de Troie, Vv. 7- 20)

In dem Zitat ist der stützende Tiervergleich (V. 13) beachtenswert, weil er sich auch in der lateinischen Historiographie findet9 und der Autor, der sich bald als Beneeiz de Sainte More (V. 132) vorstellt, von einer estoire spricht, die er zu Belehrung und Unterhaltung eines lateinunkundigen Publikums übersetzt habe (V. 34-41). Der historische Anspruch wird verdeutlicht, indem der Autor, dem es um Wahrheit (V. 44) geht, die Überlieferung vom Trojanischen Krieg einer Kritik unterzieht, die sich an das anschließt, was bei Dares und Diktys in den vorangestellten fiktiven Briefen zu lesen ist. Homer wird hier wie dort aus zwei Gründen für unglaubwürdig erklärt: erstens, weil er kein Augenzeuge des Geschehens war, und zweitens wegen seines Rückgriffs auf die Mythologie. Anschließend wird die komplizierte Überlieferungsgeschichte der Hauptquelle des Romans, des Dares-Berichts, geschildert. An deren Beginn stehen die Aufzeichnungen eines gebildeten trojanischen Kämpfers, nämlich Daires. Dieser habe in der Erinnerung bewahren wollen, was er selbst erlebt und mit eigenen Augen gesehen habe: Si voust les faiz metre en memoire: En grezeis en escrist Vestoire (V. 103/04). Seine Tagebuchaufzeichnungen seien jedoch zunächst verlorengegangen und erst viel später von Sallusts Neffen Cornelius (ein Mißverständnis fur Cornelius Nepos) in einem Bücherschrank, der sozusagen als Ort des kulturellen Gedächtnisses fungiert, wiedergefunden und ins Lateinische übersetzt worden. Für das Geschehen im Lager der Griechen wird später Diktys als Garant eingeführt, von dem es jedoch etwas einschränkend heißt: Riehes chevaliers fu Ditis Ε clers sages e bien apris Ε scientos de grant memoire: Contre Daire rescrist l 'Estoire. Cil fu defors en l'ost Grezeis, Chevaliers sages e corteis; Les uevres, si come les sot, Mist en escrit come il mieuz pot. (Roman de Troie, Vv. 24397-404)

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V g l . SCHÖNING [ A n m . 4 ] , S . 8 0 , A n m . 6 8 .

Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische

Antikenroman

Die Einschränkung ergibt sich offensichtlich daraus, daß Diktys nicht immer und überall Augenzeuge des von ihm Berichteten war. Denn zwei Gründe rechtfertigen den Wahrheitsanspruch der memorialen Tradition, in die Benoit sich stellt: die Augenzeugenschaft am Anfang sowie die Schriftlichkeit von Anfang an. Benoit selbst sieht sich lediglich als Übersetzer, ein Selbstverständnis, das schon in Anbetracht des Umfangs seiner Quellen im Vergleich mit den über 30000 Versen seines Romans heute nur noch verblüffen kann. Offenbar liegt ein von heutigen Konventionen sehr verschiedener Übersetzungsbegriff zugrunde, der indes Benoits Leistung, die er keineswegs unbetont läßt, abdeckt. Eine eher beiläufig von ihm vorgebrachte Voraussetzung des Übersetzens ist der sen (V. 3 6),10 und in diesem Zusammenhang kann aufschlußreich sein, daß auch Marie de France sen für die mühsame Anfertigung einer Übersetzung voraussetzt und sie darüber hinaus mit diesem Hinweis auf ihren Verstand und ihr Verständnis das von ihr Hinzugefügte als le surplus erklärt (vgl. Anm. 5). Es scheint da viel Freiheit für mittelalterliche Übersetzer gegeben zu haben - eine Freiheit, die letztlich aus der seinerzeit geltenden Differenz zur Antike resultiert, das heißt aus dem höheren Standpunkt in der Welt- und Heilsgeschichte, den Bernhard von Chartres mit dem berühmten Bild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen beschrieben hat. Mit der neuen Gattung des Antikenromans - so deklarieren es die Autoren, denen sich spätere Bearbeiter anschließen, programmatisch - wird antikes Wissen, das lateinisch überliefert ist, volkssprachlich, und zwar schriftlich-volkssprachlich. Es wird damit auch Teil des volkssprachigen Gedächtnisses, das dem 'Roman de Thebes' zufolge ein sozial strikt begrenztes Gedächtnis sein soll.11 Für den zugrundeliegenden interkulturellen Transfer - denn darum handelt es sich - sind die aufgrund ihrer schulisch-kirchlichen Bildung zweisprachigen Kleriker zuständig, die die gottgegebene Fähigkeit haben, den sen des Überlieferten zu erfassen und französisch wiederzugeben. Damit werden sie Glied in einer Überlieferungskette, die durch Erinnerung realisiert wird. Höchst beachtenswert ist, daß der Begriff des Erinnerns, der im 'Alexiuslied' im religiösen Kontext erscheint und in der Chanson de geste keine Rolle spielt,12 erstmals im Antikenroman in bezug auf weltliches Geschehen aus der antiken Vergangenheit auftaucht. Die literarhistorische Bedeutung der durch den 'Roman 10

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Benoit setzt allerdings den Begriff sen nicht in gleicher Weise differenzierend ein wie der Verfasser des 'Roman de Thebes'. Zum Zusammenhang von Schriftlichkeit und kulturellem Gedächtnis s. Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, hg. von A. u. J. A S S M A N N / C . HARDMEIER, M ü n c h e n 1 9 8 3 .

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Dies trifft zu, obschon es auch den Helden der Chanson de geste um ihren Ruhm zu tun ist. Zu los im Rolandslied und der formalen Homologie zwischen Rolands Gesinnung und Alexius' Gesinnung s. U. MÖLK, Rolands Schuld, in: Das Epos in der Romania (FS für Dieter Kremers zum 65. Geburtstag), hg. v. S. KNALLER / E. M A R A , Tübingen 1986. S. 299-308.

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de Thebes'-Prolog programmatisch eingeleiteten Erneuerung erkennt man unschwer an seiner Rezeption, die von dem Wiederaufgreifen einzelner Begriffe bis hin zur Paraphrase reicht. Im Zentrum des Prozesses aber steht der vom Autor des 'Roman de Thebes'-Prologs lancierte Begriff der Erinnerung, der in einem Maß verwendet wird, daß man von einer memorialen Erneuerung der Kultur zu sprechen berechtigt ist. Von nun an reimt sich in den Texten estoire auf memoire.13 Berol reklamiert die bessere memoire für sich; Chretien setzt bezeichnenderweise für sich als Autor darauf, daß die im 'Erec' erzählte Geschichte in der Erinnerung bleiben wird; Alexandre de Bernai sagt im Prolog zu 'Athis et Prophilias', daß er als Autor nicht vergessen werden will, und rühmt sich seines Erinnerns; Huon de Rotelande, der Verfasser des 'Ipomedon', fragt sich, was nach dem Tode von denjenigen bleibe, die geschwiegen haben, und verwendet die Formel metre en memorie in der Bedeutung von 'schriftlich in der Volkssprache überliefern'; so geschieht es auch bei Jehan Renart im Prolog zu 'Escoufle', und im Prolog zum 'Guillaume de Dole' erwähnt er, daß im Roman Chansons Por remenbrance aufgenommen worden seien. Adenet le Roi bittet Gott um Beistand für sein Tun: Que je puisse venir a chief De recorder de chief en chief La tres plus merveilieuse estoire Qui onques fust mise en memoire. (Cleomades, Vv. 87-90)

Marie de France geht vom Wissen-verpflichtet-Topos aus und davon, daß die ersten Verfasser der Lais diese überliefern wollten (Ke pur remambrance les firent)\ im Prolog zum 'Esope' verwendet sie das auf die philosophe bezogene Verb remembrer im Sinne von 'überliefern', und dort nennt sie sich selbst dann auch namentlich im Epilog pur remembrance·, Gautier de Coinci übersetzt En ramembrance et en memoire einer königlichen Dame; und im 'Evangile de l'Enfance' ist ebenfalls von Erinnerung die Rede.14 Den neuen Zusammenhang von Erinnerung, Schriftlichkeit und Sprachenproblem, Vortrag und Fest, Autor und Publikum erläutert in wünschenswerter Klarheit Wace, und zwar unter Verweis auf die antike Vergangenheit, speziell das Geschehen in Troja und Theben:

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Das ist im 'Roman de Thebes' (V. 9225/26) nicht nur in einer Interpolation der Fall, sondern auch zweimal in besonders aufschlußreicher Weise, wenn nämlich Geschichte, Erinnerung und courtoisie symbolisch zusammengeführt werden, indem es von höfisch-luxuriösen Gegenständen heißt: Bien i sont peintes les estoires,/les vielles gestes, les memoires ('Roman de ThÄbes', V. 3179/80); Des rois de Gresce i fist l 'estoire,/ceus qui sont digne de memoire ('Roman de Thebes', V. 4281/82). Alle Nachweise finden sich in: M Ö L K [Anm. 5], S. 29, 30, 47, 49/50, 54, 55, 63/64, 67, 70/71,73,97.

Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische Antikenroman

Pur remembrer des ancesurs les feiz e les diz e les murs, les felunies des feluns e les barnages des baruns, deit l 'um les livres e les gestes e les estoires lire α festes. Si escripture ne fust feite e puis par clers litte e retraite, mult fussent choses ubliees ki de viez tens sunt trespassees. Par lungs tens e par lungs eages e par muement de languages unt perdu lur premereins nuns viles plusurs e regiuns. [...] Des tresturnees de ces nuns, e des gestes dunt nus parluns, poi u ni'ent seiissum dire si l 'um nes eüst feit escrire. Meinte cite adja este e meinte riche poeste, dunt nus or(e) rien ne seiissum si en escriz rien ne eiissum. De Thebes est grant reparlance, e Babiloine out grant puissance, e Troie fud de grant podnee, e Ninive fud lunge e lee; ki ore irreit querant les places a peine i truvereit les traces.

[...]

meis par les bons clers ki escristrent e les gestes as livres mistrent, savum nus del viez tens parier e des oevres plusurs cunter. I··] Mult soleient estre onure e mult preise e mult ami cil ki les gestes escriveient e ki les estoires treiteient; suvent aveient des baruns e des nobles dames beaus duns, pur mettre lur nuns en estoire, que tuz tens mais fust de eus memoire. Mais or(e) puis jeo lunges penser, livres escrire e translater, faire rumanz e serventeis, tart truverai tant seit curteis ki tant me duinst e mette en mein dunt jeo aie un meis un escrivein, ne ki nul autre bien me face fors tant: „ Mult dit bien Maistre Wace; vus devr'iez tuz tens escrire, ki tant savez bei e bien dire." A ceo me tienc e a ceo mus; ja de plusurs ne en avraiplus. Jeo parouc a la riche gent, ki unt les rentes e le argent, kar pur eus sunt Ii livre fait e bon dit fait e bien re trait.15

Besonders beachtenswert aber ist schließlich, wie Richard de Fournival, der Verfasser des 'Bestiaire d'Amour', über den Begriff memoire reflektiert und welche Schlußfolgerung er für sich daraus zieht: Nach seiner Auffassung handelt es sich um eine notwendige und von Gott gegebene seelische Fähigkeit des Menschen, die auf ihre Weise eine Art kollektiven Gedächtnisses stiftet und schriftliche Kommunikation ermöglicht.16 15 16

Le Roman de Rou de Wace, hg. v. A. J. HOLDEN, 3 Bde., Paris 1970-73, (SATF), Troisieme partie, Vv. 1-166, Bd I, S. 161-167. Toutes gens desirent par nature a savoir. Et pour chu ke nus ne puet tout savoir, ja soit che ke cascune cose puist estre seüe, si covient il ke sacuns sache aucune cose, et che ke Ii uns ne set mie, ke Ii autres le sache; si ke tout est seü en tel moniere qu 'il η 'est seü de nullui a par lui, ains est seü de tous ensamble. Mais il est ensi ke toutes gens ne vivent mie ensamble, ains sont Ii un mort avant ke Ii autre naissent, et eil ki ont este cha en ariere ont seü tel cose ke nus ki ore endroit vive ne le conquerroit de son sens, ne ne seroit seü, s 'on ne le savoit par les anchiiens. Et pour chu Diex, ki tant aime l 'omme qu 'il le velt porveoir de quant ke mestiers lui est, a donne a homme une vertu de force d'ame ki a non memoire. Ceste memoire si a deus portes, vei'r et o'ir, et α cascune de ces deus portes si α un cemin par ou

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Wir können also festhalten, daß der epochale Einschnitt, den der Antikenroman des 12. Jahrhunderts in der Geschichte der französischen Literatur bildet, von einer literarästhetischen Reflexion begleitet wird, in der der Gedanke des Erinnerns im Zusammenhang mit den Begriffen sapience, science und sen zum Programm wird. Erinnern ist Überliefern von Wissen, aufgefaßt als immer wieder erneuerbarer, schriftlich vollzogener Rezeptionsvorgang, der ein kollektives Gedächtnis begründet und sozial begrenzt. Während aber der 'Roman de Thebes'-Autor ebenso wie der 'Roman d'Eneas'-Autor offenbar willentlich namenlose Glieder in der Überlieferungskette bleiben, bildet sich im weiteren literaturgeschichtlichen Verlauf ein Begriff von Autorschaft heraus: Wir kennen Benoit de Sainte-Maure wie Chretien de Troyes oder Marie de France mit Namen, weil sie nicht nur erinnern wollten, sondern auch wollten, daß man sich ihrer erinnerte.17 Nachdem die literaturtheoretische Bedeutung des Erinnerungsbegriffs fur das französische Mittelalter klarer geworden ist, können wir uns nunmehr den Fragen zuwenden, wie die Erinnerung an die Antike im Antikenroman vollzogen wird und warum sie so vollzogen wurde. Es sind dies Fragen nach der altfranzösischliteratursprachigen Interpretation der tradierten lateinischen Vorlagen18 und ihrer sprachlichen, literarischen und epistemologischen Voraussetzungen.19 In mittelalterlicher Diktion ist es die Frage nach dem sen der Texte. Der vermittelnden Rolle, die die französisch schreibenden Kleriker zwischen den tradierten lateinischen Stoffen und ihrem Publikum spielen wollen, korrespondiert die Funktion des Erzählers in den Texten. In allen drei antiken Romanen gibt es einen Ich-Erzähler, der sich in mehr oder weniger zahlreichen Interventionen an das Publikum wendet und allein auf den mittelalterlichen Autor oder die ihm folgenden Bearbeiter verweist. Stets läßt dieser Erzähler erkennen, daß ein vorgegebenes Geschehen vermittelt wird, wobei im 'Roman de Thebes', besonders aber im 'Roman de Troie' seine Präsenz viel stärker ist als im 'Roman

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on i puet aler, che sont painture et parole [...] memoire, ki est la garde des tresors ke sens d'omme conquiert par bonte d'engien, fait chu ki est trespassi ausi comme present. Et a che mei'sme vient on per painture et per parole. Car quant on voit painte une estoire, ou de Troies ou d'autre, on voit les fais des preudommes ki cha en ariere furent, ausi com s 'il fussent present. Et tout ensi est il de parole. Car quant on ot un romans lire, on entent les aventures, ausi com on les vei'st en present. [...] Car je vous envoie en cest escrit et painture et parole, pour che ke, quant je ne serai presens, ke cis escris par sa painture et par sa parole me rende a vostre memoire comme present. (Zit. n. MÖLK [Anm. 5], S. 85). Das dazugehörende Selbstbewußtsein zeigt Benoit im Epilog des 'Roman de Troie' (Vv. 30301-316). Das sind im Einzelfall unbekannte Texte, Kommentare, Scholien, Glossen sowie als Handbücher benutzte lateinische Werke. Unter historischem Gesichtspunkt leidet die ältere Forschung zum Antikenroman darunter, daß sie diese Frage nicht stellte, sondern überprüfte, ob diese Romane den modernen Begriffen von Übersetzung oder sprachlicher, literarischer und faktischer Angemessenheit gerecht werden.

Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische

Antikenroman

d'Eneas' und die Tatsächlichkeit des Geschehens sowie die Abhängigkeit von der Überlieferung immer wieder mit Verweisen auf Dares oder Diktys, bzw. / 'Autor, l 'Estoire, YEscriz, l 'Escriture, Ii Livre, la Letre und einmal sogar auf Ii Traitie Ε Ii grant Livre Historial (V. 23302/03) betont wird. Das 'Ich' erzählt, perspektiviert und kommentiert autonom. Dabei verfugt es nicht nur über den Stoff der unmittelbaren lateinischen Vorlage, sondern dank anderer Quellen auch über einen stofflichen Kontext. Im Vergleich mit der jeweiligen unmittelbaren Vorlage - soviel läßt sich trotz der diesbezüglichen Unsicherheit immerhin feststellen - gibt es demzufolge nicht nur zahlreiche Streichungen und Umstellungen, sondern auch Weiterfuhrungen oder Hinzufugungen, wovon einige erkennbar späteren Bearbeitern zuzurechnen sind.20 Die historische Distanz der Autoren zu dem vergangenen Geschehen, ihre Auffassung von der historischen Differenz und von Geschichtlichkeit überhaupt sowie ihr Verständnis der Quellen, die das vergangene Geschehen in einer Geschichte überliefern, und ihr durch die faktische Erzählsituation bestimmtes Rollenverständnis bedingen den Standort des Erzählers, die Erzählperspektive, die epische Distanz und die je spezifische Erzählerpräsenz in der aufs neue gestalteten Geschichte. So wie das 'Ich' im 'Roman de Thebes' und im 'Roman de Troie' mit dem Publikum in Verbindung tritt, ist durchweg deutlich, daß die Geschichte von einem mittelalterlichen Standort aus erzählt wird. Weil umgekehrt im 'Roman d'Eneas' die explizite Kommunikation mit dem Publikum praktisch nicht vorhanden ist, wird folglich der mittelalterliche Standort des Erzählers nicht in gleicher Weise hervorgehoben. Der Erzähler des 'Roman d'Eneas' erzählt nicht wie im 'Roman de Thebes' seine oder die Geschichte wie im 'Roman de Troie', sondern eine Geschichte, die, wie wir von Heinrich von Veldeke wissen, als Vergils Geschichte verstanden wurde. Wo immer ein Erzähler in Erscheinung tritt, gehört er grundsätzlich und stets erkennbar derselben Zeitstufe wie sein Publikum an. Diese bildet den Berichtshorizont, den man auch als Horizont des Erinnerns bezeichnen könnte. Davon deutlich unterschieden ist der Geschehenshorizont, in dem sich die handelnden Personen bewegen, und den man Horizont des Erinnerten nennen könnte, und Erinnerung besteht folglich in den Möglichkeiten, eine Beziehung zwischen beiden Horizonten zu stiften. Das Geschehen, von dem die Romane unseres Corpus berichten, wird als Geschehen präsentiert, das in einer antiken Vergangenheit spielte und aus dieser überliefert wurde. Dementsprechend herrscht in allen Romanen ein Gebrauch der

20

Vgl. die Angaben bei SCHÖNING [Anm. 4], S. 87-97.

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Tempora, 21 der Temporaladverbien, temporalen Konjunktionen und Zeitangaben vor, der das Geschehen als vergangenes charakterisiert und strukturiert, und mit deiktischen Mitteln sowie mit Elementen des sprachlich, sozial, moralisch oder sachlich Fremden, wenn nicht spezifisch anderen, wird die dargestellte Vergangenheit von der mittelalterlichen Gegenwart auf ebenso markante wie vielfältige Weise immer wieder unterschieden. Man kann in der Tat von einer Inszenierung der Vergangenheit sprechen, in der die Namen der Handlungsorte, der wichtigen und auch einiger weniger wichtigen Personen, ebenso die Namen antiker Götter und die gelegentliche Erwähnung antiker Bräuche und Gegebenheiten aus den Vorlagen oder aus anderen Quellen übernommen sind. Gelegentlich scheinen sie aber auch nichtantiker, fremder Provenienz oder verfremdend phantasiert zu sein, was auch auf weitere Elemente der Erzählung zutrifft. Eine solche mittelalterliche Zutat stellen die wunderbare Pracht und die prächtigen Wunder dar, die zuweilen zur Charakterisierung der anderen, antiken Welt eingesetzt sind und die von besonderer Attraktivität gewesen zu sein scheinen. Wenn jedoch trotz der dargestellten Differenzierung zwischen Geschehensund Berichtshorizont dem Antikenroman im besonderen wie dem Mittelalter im allgemeinen immer wieder vorgeworfen wurde, keinen Geschichtsbegriff und keine Vorstellung von der historischen Differenz der Antike gehabt zu haben, so basierte dieser Vorwurf selbst auf drei Anachronismen. Der erste steht hinter der Annahme der allgemeinen Gültigkeit eines einzigen, nämlich des eigenen Geschichtsbegriffs. Spätestens aber seitdem auch von Historikern anerkannt ist, daß es eine Geschichte der Geschichte gibt, 22 was wiederum voraussetzt, daß sich der Geschichtsbegriff wandelt, spätestens seit diesem Augenblick ist die Frage akut, welcher Begriff von Geschichte vorlag, als das Mittelalter sich geschichtlich orientierte, wovon die Literatur Zeugnis ablegt. Der zweite und dritte Anachronismus bestehen darin zu übersehen, welche sprachlichen und literarischen Möglichkeiten den mittelalterlichen Autoren faktisch zur Verfugung standen. Indessen ist grundsätzlich zu berücksichtigen, daß, wenn Erinnerung eine literarische Beziehung zwischen Einst und Jetzt stiftet, sich dann die Sprache des Jetzt notwendigerweise auf das Einst bezieht 2 3 Der mit dem Antikenroman vollzogene interkulturelle Transfer bedeutet folglich in sprachlicher Hinsicht ein lexikalisch-semantisches Ausgreifen des Französischen auf die Antike, so wie sie durch die lateinische Überlieferung in der Vorstellung der mittellateinisch ge21

Die Tempora der Vergangenheit bilden jeweils das Gerüst der Erzählung und legen die Zeitstufe des Geschehens fundamental fest. Das Präsens dient der Vergegenwärtigung und der Verlebendigung des Erzählens.

22

Vgl. dazu LE GOFF [ANM. 2].

23

Im Antikenroman betrifft das gelegentlich auch die Gebärdensprache.

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schulten litterati existierte. Als lexikalisch-semantisches Ausgreifen auf eine Vergangenheit führt diese literarische Erinnerung zu einer Erweiterung der Semantik der ausgreifenden Sprache, die man als kulturelle Erweiterung sehen kann. Es ist daher angebracht, Begriffe wie etwa nonne ('Roman de Thebes', V. 6169), arcevesque (Roman de Thebes, V. 2300) oder covent ('Roman de Troie', V. 16851) ebenso wie französische Standes- oder Rangbezeichnungen nicht von vornherein ausschließlich in ihrer französisch-mitteltalterlichen Bedeutung zu verstehen, sondern als mögliches sprachliches Äquivalent zur Bezeichnung antiker Gegebenheiten.24 Es sei in diesem Zusammenhang nur daran erinnert, daß ein Übersetzer wie Amyot fur Vestalinnen religieuses wählte.25 Im Hinblick auf die in den Texten vorhandene Unterscheidung zwischen dem Berichts- und dem Geschehenshorizont ist es daher wichtig zu bemerken, daß sie zwar erzählerisch immer wieder als zugrundegelegte Voraussetzung sowohl aus dem Bewußtsein des Publikums abgerufen als auch punktuell belegt wird, erzähltechnisch jedoch nicht mit jener Stringenz durchgeführt ist, oder besser: durchgeführt werden konnte und mußte, die die sprachlichen und literarischen Möglichkeiten eines modernen historischen Romans zulassen. Außerdem gilt nicht nur für den Antikenroman, sondern für die mittelalterliche Literatur überhaupt, daß das, was als Heterogenität oder Antagonismus von Details erscheint, einerseits sowohl ästhetisch möglich als auch andererseits logisch aufgehoben ist in der Voraussetzung eines festgefügten Universums, in dem alle Evokationen oder Assoziationen ihren Fluchtpunkt haben. Bestes Beispiel sind die Götter. Wenn bei durchgehender Entmythologisierung 26 die antiken Götter dennoch häufig auftauchen, und zwar auch in der Erzählerrede - im 'Roman d'Eneas' ist sogar die Mars-Venus-Episode hinzugefügt - , dann nicht, weil Unklarheit über die tatsächliche Existenz der antiken Götter herrschte oder verbreitet werden sollte, sondern im Gegenteil, weil einerseits beim Autor wie beim Publikum Klarheit über die Allmacht des einen Gottes vorhanden ist und insofern auch klar ist, daß die Personen oder der Erzähler sich in der Perspektive des Geschehenshorizontes äußern, so wie andererseits ein Erzählerkommentar wie Damedens trestoz les confonde! ('Roman de Troie', V. 24460) nur aus dem Berichtshorizont heraus verständlich ist. 24

25 26

Zur Problematik: A. PETIT, L'Anachronisme dans les romans antiques du XIP siecle, these de 3e cycle, Universite de Lille, III, 1985; ders., L'Anachronisme dans les romans antiques, et plus particulierement dans le Roman d'Eneas, in: Relire le „Roman d'En6as". Etudes recueillies par J. Dufoumet, Paris 1985, S. 105-148; ders., Amphiaraüs?, in: LR 33 (1979) 163-171. Vgl. J. VON STACKELBERG, Französische Literatur, Renaissance und Barock, München 1984, S . 43. Benoit kann in diesem Punkt schon auf seinen Vorlagen aufbauen.

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Gemäß der herrschenden Wirklichkeitsvorstellung unterscheidet sich die dargestellte Welt grundlegend und unvermeidlich als heidnische von der christlichen Welt der Autoren und des Publikums. Für diese ist es die Welt vor der Erlösung, worauf im 'Roman de Troie' explizit hingewiesen wird (vgl. etwa V. 8359). Das bedingt allerdings einerseits die Erwähnung der antiken Götter wie andererseits die Reduzierung des Mythologischen, die wiederum neue Begründungszusammenhänge nötig macht. Offensichtlich ist dies, wenn im 'Roman de Thebes' und im 'Roman d'Eneas' an die Stelle der Mythologie - oder, sofern diese noch rudimentär vorhanden ist, auch neben diese - andere Motivierungen unterschiedlicher Art treten, 27 auf die aber auch im 'Roman de Troie' zurückgegriffen wird, um den dürren Fakten, die Dares und Diktys mitteilen, einen geschichtlichen Sinn zu geben. Das können neue Handlungs- oder Geschehenselemente, vor allem solche aus dem innermenschlichen und zwischenmenschlichen Bereich sein, die die mittelalterliche Erzählung plausibel machen. Die epische Distanz ist demzufolge durch den Umstand bestimmt, daß das faktische Geschehen bereits als überlieferte Geschichte vorlag, die in mittelalterlicher Sicht zu deuten war, was in der neuerzählten Geschichte Vorausweisungen, Nachholungen oder Rückverweise ebenso möglich macht wie Übernahmen und Abänderungen und dem Erzähler eine Innen- wie eine Außenperspektive einräumt. Die Außenperspektive dient in zuvor unbekannter Weise der Vergegenwärtigung des Geschehens, wie sie sich auch in Appellen an die sinnliche Vorstellungskraft des Publikums äußert, und die sich allgemein als fingierte Augenzeugenschaft verstehen läßt, wodurch dem waltenden Geschichtsbegriff Rechnung getragen wird. Die Personen werden nicht nur in ihrem Handeln vorgeführt, sie werden auch beschrieben, und ihr natürliches Aussehen wie auch ihre Kleider oder ihr Gebaren werden geschildert. Darüber hinaus gibt es in allen antiken Romanen Personenporträts, die funktional in die Erzählung eingefugt sind. Ähnliches läßt sich zum szenischen Erzählen bemerken: Die Personen kommen in zahlreichen Dialogen oder Monologen aber nicht nur selbst zu Wort, der Stil ihrer Rede kann zudem auf ihren seelischen Zustand verweisen. 28 Über diesen kann dank seiner Innenperspektive auch der Erzähler direkt oder in Form des wiedergegebenen Selbstgesprächs mit der Steigerung bis hin zum inneren Zwiegespräch Auskunft geben. Dabei wird die interessante Möglichkeit genutzt, daß Innen und Außen für den Rezipienten erkennbar auseinandertreten. All das geschieht in einem Maße, daß

27

28

Vgl. dazu D. BLUME, Motivierungstechnik im Roman de Thebes und im Roman d'Eneas. Eine Studie vor dem Hintergrund ihrer antiken Vorlagen, Frankfurt a.M., Berlin 1994. Diese Möglichkeit ist erzähltechnisch am weitesten im 'Roman d'Eneas' entwickelt; vgl. SCHÖNING [Anm. 4 ] S. 107-114.

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wir von der literarischen Entdeckung der menschlichen Psyche und einer angewandten Psychologie sprechen dürfen. Während die fingierte Augenzeugenschaft eine Vergegenwärtigung des Geschehenshorizontes und damit eine Objektivierung der Darstellung bewirkt, erfolgen die Erzählerkommentare aus dem Berichtshorizont heraus. Sie dienen zum einen der Strukturierung der Erzählung und damit der Orientierung eines Publikums. Sie können weiterhin das Geschehen oder dessen Wiedergabe erläutern sowie Besonderheiten der dargestellten Welt betreffen und, der vermittelnden Funktion der Autoren entsprechend, instruktiven Charakters sein. Bei Benoit nehmen sie mit der Beschreibung der Welt und des Amazonenreiches die Gestalt von Exkursen an. Erzählerkommentare der erläuternden und instruierenden Art sind Bestandteil der Inszenierung der Vergangenheit und der deutenden Ordnung des Geschehens. Daneben aber gibt es Erzählerkommentare, die zur Handlung und zu den Personen explizit wertend Stellung nehmen und es daher erlauben, den Erzählerstandort genauer zu fassen. Im Zentrum des angewandten Normen- und Wertesystems29 steht im 'Roman de Thebes', in dem überdies die joven eine auffallende Rolle einnehmen, und im 'Roman de Troie' der Begriff des Höfischen (courtoisie), der allerdings in den beiden Romanen nicht völlige Kongruenz aufweist.30 Courtoisie mit dem Gegenbegriff vilanie kann als ideologischer Schlüsselbegriff bezeichnet werden. Soziologisch gesehen, handelt es sich um leitbildstiftende Leerformeln, das heißt, der Begriff ist nicht essentiell, sondern funktional zu definieren. Die literarische Funktion von courtoisie ist die eines exklusiv ständisch normierenden Begriffs, der je nach situativer Notwendigkeit Gegebenheiten oder Verhalten - sei es sozialer, moralischer, kultureller oder sprachlicher Art - qualifizieren kann. Courtoisie hat ihr Fundament in der chevalerie und der clergie, womit nicht nur die Ideale von Rittertum und Bildung, sondern auch deren Träger, Ritter und Kleriker, gemeint sind. Nach all dem ist klar: Die Differenz zwischen Geschehenshorizont und Berichtshorizont, die durch Erinnerung überbrückt wird, bildet die Basis, auf der die Deutung des Geschehens erfolgt. Die damit im Antikenroman praktizierte Disposition über den tradierten Stoff, die wegen ihrer mittelalterlichen Eigenart immer wieder Befremden bei modernen Betrachtern hervorgerufen hat, läßt erkennen, daß die Modifikationen in den französischen Romanen bestimmten Ebenen zuzuordnen sind: Sie betreffen zum einen den Erzähler, zum anderen die Inszenierung 29 30

Ebd., S. 162-180. Im 'Roman d'Eneas', der sich darin abermals durch das Bemühen unterscheidet, die Erzählung mehr aus dem Geschehenshorizont heraus zu entwickeln, ist der Begriff nicht von vergleichbarem Interesse.

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und Motivierung, und die Art der Modifikation auf den verschiedenen Ebenen läßt erkennen, daß sie bestimmten Konzepten folgt, die durch die Auffassung vom literarisch tradierten Geschehen und vom eigenen Erzählen sowie durch eine Vorstellung von der Vergangenheit, vom Individuum und der Gesellschaft bedingt sind und in den Themen Liebe, Schuld und Transzendenz konkret werden. In bezug auf das Thema Liebe findet sich in allen Romanen mehr als in den Quellen und mehr als jemals zuvor in der auf uns gekommenen französischen Literatur. Es sei hier nur an die für das jeweilige Geschehen der Romane wichtigsten Liebesbeziehungen erinnert. So steht am Anfang des 'Roman de Thebes' die Ehe von Jocaste und Layus, und die Eheschließung von Jocaste und Edyppus bildet den Ausgangspunkt für das Geschehen. Im 'Roman d'Eneas' sind die einander gegenübergestellten Liebesbeziehungen des Eneas zu Dido und zu Lavine das zentrale bedeutungsstiftende Strukturmerkmal. Und der 'Roman de Troie' enthält fünf große Liebesgeschichten: Jason und Medea, Paris und Heleine, Troi'lus und Brisei'da, Achiles und Prolixena, Circes und Ulixes. Immer wieder wird die Liebe als eine - zumeist von der Frau ausgehende - Gefahr dargestellt, und das ist besonders dort der Fall, wo die sexuelle Komponente in den Vordergrund rückt. Außer der Liebesthematik wird in allen Romanen die Frage von Recht und Unrecht aufgeworfen. So enthalten alle Romane Ratsszenen, die rechtlichen Charakter haben und wo rechtliche Fragen behandelt werden. Und immer wieder sind es Erbschaftsprobleme, die eine wichtige Rolle spielen. Im 'Roman de Thebes' ist es der Erbstreit der aus dem Inzest hervorgegangenen Söhne, im 'Roman d'Eneas' ist es der Streit zwischen Eneas und Turnus um die Erbtochter Lavine. Im 'Roman de Troie' dagegen sind Recht und Unrecht nicht eindeutig auf die kriegführenden Parteien zu verteilen, vielmehr wird, beginnend mit einem geringfügigen Vorgang - der unerlaubten Rast der Argonauten auf trojanischem Gebiet und ihrer Vertreibung - Unrecht auf Unrecht gehäuft. Das Geschehen eskaliert infolgedessen, und die Eskalation wird als fortschreitende Rechtlosigkeit verständlich. Neben den juristischen Kategorien gibt es die ethischen von Schuld und Sühne. Die Verletzung einer ethischen Norm wird häufig von den Erzählern selbst mit Begriffen wie felonie, folie, desmesure, cruelte, covoitise oder pechie verurteilt, und in der Regel wird sie sanktioniert. In allen antiken Romanen wird die verblaßte Metapher lo comparer für den Zusammenhang zwischen Schuld und Sühne benutzt, sie taucht auch im Zusammenhang mit zwei Schuld-Motiven auf, die immer wieder eine Rolle spielen: das Hybris-Motiv und das covoitise-Motiv. Im 'Roman de Thebes' kommt dem Begriff der Sünde eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang ist aber auch das Resultat der erzählten Geschichte von

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Erinnerte Vergangenheil: Der altfranzösische Antikenroman

Bedeutung: Troja und Theben gehen unter, ohne daß es einen eigentlichen Gewinner gibt. Als solcher steht nur Eneas im 'Roman d'Eneas' da. Wenn wir jetzt sagen können, alle Romane deuten die antiken Stoffe neu, und alle lassen den mittelalterlichen sen der Erinnerung in der jeweiligen schriftstellerischen Durchführung erkennen, dann muß dem noch hinzugefugt werden, daß sich dennoch dabei unterschiedliche Verfahren und Strategien abzeichnen. So deutet der 'Roman de Thebes' das Geschehen im wesentlichen dämonologisch und gibt der Geschichte einen typologischen Sinn. Der 'Roman d'Eneas' ist zum Teil allegorisch erzählt. Die Allegorie, die in der Aeneis gesehen wurde, wird nicht in konsequent aufgelöster Form wiedergegeben, sondern in einer Vielschichtigkeit belassen, die nach mittelalterlichem Verständnis der Vielschichtigkeit der Aeneis entsprach. Der Roman leistet auf diese Weise mehr als die beiden anderen eine Hinführung zur Latinität. Benolts 'Roman de Troie' ist in erster Linie eine historische Erzählung, in der es darum geht vorzuführen, wie Troja unterging. Die expliziten Bewertungen der Erzähler und das implizit wertende Arrangement der Erzählung lassen erkennen, warum es so kommen mußte, wie es kam. Hier aber verweist der jeweilige historische Fall letztlich auf etwas dem zeitgenössischen Denken nach Allgemeingültiges: auf Gott in der Geschichte. Wenn wir aber in unseren Romanen eine - in dieser Weise erstmalige - literarische Anwendung der religiösen Kategorien in Verbindung mit psychologischen und gesellschaftlichen Kategorien beobachten können, so ist darüber hinaus von höchster Bedeutung, daß das Unheil, von dem sie erzählen, als fehlende Übereinstimmung dieser Kategorien auf der Ebene des Geschehens verständlich gemacht wird. Denn positiv gewendet bedeutet dies: Es wird in allen Romanen klar, daß sub specie christianitatis immer und überall ein harmonischer Ausgleich zwischen dem individuellen Begehren und den sozialen Notwendigkeiten anzustreben ist. Unsere Leitfrage beantwortend, können wir jetzt festhalten: Im altfranzösischen Antikenroman erinnern Kleriker ein höfisches Publikum an ein aus der antiken Vergangenheit überliefertes Geschehen in ihrer schriftlich fixierten, literatursprachigen Deutung, wodurch der Hof als neue vom Zusammengehen von Kleriker und Adeligen geprägte Lebensform der Sitz im Leben einer neuen Gattung wird. Und dieser Vorgang läßt sich fürwahr beschreiben als Herausbildung einer neuen höfischen Erinnerungskultur, die antikes Wissen integrieren kann, weil die Antike als zur Verfügung stehende Vergangenheit aufgefaßt wird. Im Rahmen der in ihrer Besonderheit dargestellten Vergangenheit hat das erinnerte Geschehen eine individuelle, eine kollektive und eine transzendentale Ebene. Die Erinnerung befriedigt insofern ein menschliches, soziales und ontologisches Interesse. Sie vermittelt ein erweitertes Geschichtsbild und ein erweitertes Men-

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schenbild und fundiert so einen neuen, mittelalterlich-universalen Bildungsbegriff. Was bis dahin den litterati vorbehalten war, wird nun auch volkssprachlich zugänglich. Damit stellt die Erinnerung dem neuen Publikum wirklichkeitsstrukturierende, sinn- und identitätsstiftende Begriffe zur Verfugung, und man kann annehmen, daß die Romane, indem sie auf diese Weise das erweiterte Menschenund Weltbild 'zur Sprache bringen', das Sprechen, das Denken und das Empfinden sowie letztlich auch das Handeln ihrer Rezipienten beeinflussen. Denn Historie hat immer etwas mit einem Selbstverständnis zu tun, insofern die Hinwendung zur Vergangenheit eine eigene Position voraussetzt, ja diese definiert und festigt. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit erfolgt auf die analysierte Weise mit Hilfe der gegenwärtig gültigen Vorstellungen von der Welt und zur Bestätigung dieser Vorstellungen. Aber, so muß betont werden, das ist keineswegs eine ausschließlich mittelalterliche Erscheinung. Wann immer Geschehen als Geschichte erinnert wird und auch wenn eine erzählte Geschichte aufs neue erzählend gedeutet wird, liegen stets Konzepte zugrunde. Sie funktionieren sowohl als Konzepte der Deutung als auch als Konzepte der Darstellung, und, insofern es sich um historisches Erzählen handelt, werden in ihnen historische Faktoren erkannt. Das heißt, die Plausibilität der Konzepte wird durch ihre Anwendung bestätigt. Solche Konzepte sind indes immer Teil eines zusammenhängenden Ganzen, das man als Menschen- und Weltbild oder als episteme bezeichnen könnte. Daher sind sie, wie das Menschen- und Weltbild oder die episteme, zu der sie gehören, historisch wandelbar. Geschichte und Geschichten werden auch neu erzählt, weil die alten Konzepte nicht mehr überzeugen. Das aber nimmt dem Geschehen nichts von seiner Besonderheit oder Einmaligkeit, die im 'Roman de Troie' sogar mit Formeln wie Puis que Ii monz fu comenciez (V. 17124) immer wieder betont wird (vgl. Vv. 21636, 24188, 25275), jedoch interessiert das Geschehen vornehmlich als Exemplum fur das allgemein Gültige; denn diese Erinnerung zielt nicht auf neue Erkenntnis, weil das zu Erkennende a priori theologisch feststeht, sondern auf Veranschaulichung des zu Erkennenden. In Umkehrung des Vico-Axioms könnte man formulieren, daß im Mittelalter Geschichte nicht erkennbar ist, weil sie nicht machbar ist. Wenn wir abschließend auf den eingangs geäußerten Gedanken zurückkommen, daß sich Epochen auch durch die Art des Erinnerns zu unterscheiden scheinen und Erinnerung als kulturgeschichtliches Phänomen insofern offensichtlich mit der individuellen Erinnerung zumindest gemeinsam hat, daß sie vom Erinnernden abhängig ist, so können wir nach der Analyse unseres Textcorpus die für das Mittelalter unter dem Aspekt der Epochenschwellen interessante Feststellung treffen, daß einerseits mit dem Antikenroman und seiner Erinnerung an die antike

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Erinnerte Vergangenheit: Der altfranzösische Antikenroman

Vergangenheit als etwas zur Verfügung Stehendes im französischen Hochmittelalter ein literarischer Neubeginn stattfindet, den andererseits die Renaissance, indem sie sich der Antike als etwas Verlorenen erinnert, unter anderem Vorzeichen sowie mit anderen Konsequenzen fortsetzt. Und wenn wir seit einer neuerlichen Epochenschwelle um 1800 von einem historisch-wissenschaftlichen Geschichtsbegriff ausgehen, so gibt uns das zwar die Möglichkeit, die Vergangenheit mit anderen, wohl auch besseren Augen zu sehen, aber nicht das Recht, unsere Sicht zum Maßstab der Beurteilung von Erinnerungsleistungen früherer Epochen zu machen; vielmehr ist die Voraussetzung geschaffen, diese Leistungen historisch als epochenspezifische zu verstehen.

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Altiu mcere aus alten ziten Historische Erinnerung im Spannungsfeld von Oralität und Literalität Zu Lamprechts 'Alexander' v o n BARBARA HAUPT

Diz lit, daz wir hi wurchen, daz suit ir rehte merchen. sin gevüge ist vil reht. iz tihte der phaffe Lambret. er täte uns gerne ze märe, wer Alexander wäre. Alexander was ein wise man, vil manec riche er gewan, er zestörte vil manec lant. Philippus was sin vater genant. diz muget ir wol hören in libro Machabeorum. Alberich von Bisinzo der brähte uns diz lit zu. er hetez in walhisken getihtet. nü sol ich es iuh in dütisken berihten. niman enschulde sin mich: louc er, sö liuge ich. (Alexanderlied Vv. 1-18)1 („Das Lied, das wir hier verfassen, sollt Ihr aufmerksam verfolgen. Es ist in eine gute Form gebracht. Gedichtet hat es Lamprecht, ein Kleriker. Er wollte uns kundtun, wer Alexander war. Alexander war ein kluger Mann. Viele Reiche hat er erobert, er zerstörte viele Länder. Philippus hieß sein Vater. Das könnt Ihr aus dem Buch der Makkabäer erfahren. Alberic von Bisinzo hat uns die Erzählung überliefert. Er hat sie in romanischer Sprache verfaßt. Nun will ich sie fur Euch auf Deutsch gestalten. Niemand soll mir das zum Vorwurf machen: Wenn er [sc. Alberic] gelogen hat, dann lüge auch ich.")2

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Dieser Beitrag berührt sich in Teilen mit B. HAUPT, Die vorgezeichnete Zukunft: Vom Ende der Geschichte. Zum Linzer Antichrist. In: Endzeitvorstellungen, hg. von Β. H., Düsseldorf 2001, (Studia humaniora 33), S. 147-178. Lamprechts Text nach der Vorauer Hs. (=Alexander V). Ausgabe: Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besannen und den lateinischen Quellen, hg. u. erkl. von K. KINZEL, Halle a. S. 1884, (Germanistische Handbibliothek VI). Ubersetzung: B. HAUPT [in V. 3 folge ich der Übertragung von W. HAUG, Literaturtheorie

Barbara Haupt

Bekanntlich ist der Pfaffe Lamprecht (um 1150), wenn unser chronologisches Raster halbwegs greift, der erste deutschsprachige Autor, der nach einer französischen Vorlage gearbeitet hat, nach dem 'Alexanderroman' des Alberic von Pisan9on.3 Insofern ist Lamprecht ein Neuerer, denn der Rezeption des französischen Romans, genauer: einer Großepik in der romanischen Volkssprache (von lat. pop. romanice) sollte die Zukunft gehören. Und Lamprecht steht mit seinem 'Alexanderlied' am Beginn einer bis in die frühe Neuzeit reichenden Tradition deutschsprachiger Alexanderdichtungen. 4 Die kulturelle Bedeutung von Lamprechts 'Alexanderlied' ist damit allerdings noch nicht hinreichend erfaßt. Sie erweist sich, wie ich im folgenden darlegen möchte, im Modus der Repräsentation des Stoffes, im spezifischen historiographischen Zugriff und vor dem Hintergrund der Traditionen, in die Lamprecht sich stellt.

I Gleich eingangs legt Lamprecht sein historiographisches Interesse dar: Er will einen Helden der Vergangenheit und dessen Taten (res gestae) in Erinnerung rufen. Die Identität des Helden, seine Taten sowie seine legitime Geburt werden mit dem Hinweis auf das Buch der Makkabäer (Makk. 1,1 u. 2) beglaubigt. Außerdem nennt Lamprecht seinen Namen und seinen Stand, und er legt Rechenschaft ab über seine volkssprachige Vorlage, deren Verfasser er namentlich nennt (V. 13). Darüber hinaus betont er das gevüge, die Form seiner Erzählung, was auf jeden Fall einen ästhetischen Anspruch zur Geltung bringt. Die Berufung auf das Makkabäerbuch ist m.E. nicht als Ausdruck eines „Mißtrauens" gegenüber der romanischen Vorlage zu werten - warum hätte Lamprecht die volkssprachige Quelle überhaupt explizite nennen sollen, wo doch ein allgemeiner Hinweis auf ein buoch oder diu buoche womöglich ausreichend gewesen wäre? vielmehr ist sie eher im Sinne eines kritischen Quellenvergleichs zu verstehen, wobei der Bibel zweifellos eine hohe Autorität zukam: Die Richtigkeit dessen, was Alberics lit darbietet, wird durch die voraufgegangene Beglaubigung durch die Bibel bestätigt. Und zu dieser Deutung im Sinne eines gewissenhaften

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im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einfuhrung (Germanistische Einführungen)], Darmstadt 1985, S. 86. Vgl. H. BUNTZ, Die deutsche Alexanderdichtung des Mittelalters, Stuttgart 1973, S. 16. Siehe K. RUH, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Erster Teil: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 1967, (Grundlagen der Germanistik 7), S. 33f.; T. EHLERT, Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, Frankfurt a.M. 1989, passim, (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, 1174).

Al tili maere aus alten ziten

Quellenvergleichs paßt auch V. 61: Diser rede wil ich mich irvaren („Über diese Erzählung will ich mich erkundigen").5 Hervorzuheben bleibt auf jeden Fall die bewußte und fur die Zeit ungewöhnliche Dokumentation von volkssprachigliterarischer Traditionsbildung. 6 Die vielbeachtete Formulierung louc er, so liuge ich (V. 18) versteht man gern als „Abschieben der Wahrheitsverantwortung"7 auf die Vorlage, als ein - mehr oder weniger ernst gemeintes - Abschieben der Verantwortung für alles, „was an Fragwürdigem mit eingeflossen sein könnte."8 Ich kann mich solcher Interpretation der Prologstelle nicht anschließen. Warum sollte Lamprecht unterstellen, sein Gewährsmann könnte ein Lügner sein? Das jedenfalls wäre keine Empfehlung der Geschichte fur Lamprechts Adressaten und widerspräche auch der klassischen Anforderung an einen Prolog, derzufolge das Publikum wohlwollend gestimmt werden sollte. Zu dem benevolum facere gehört aber u. a. der Hinweis des Redners, daß er „als Zeuge der Wahrheit" auftritt.9 Lamprecht wird also für sich selbst wie für seinen Gewährsmann zweifellos in Anspruch genommen haben, die Wahrheit zu berichten, die Wahrheitsbeteuerung präsentiert sich hier nur in ironischer Formulierung, wie sie generell im Mittelhochdeutschen häufig zu finden ist. 10 Aber auf diese Formulierung Lamprechts wird noch zurückzukommen sein. Im Prolog Vv. 5ff. stellt Lamprecht zunächst seinen Helden Alexander vor: Er charakterisiert ihn als klug und als einen großen Eroberer. Im Blick auf ein feudaladliges Publikum wird der Held darüber hinaus genealogisch ausgewiesen 5

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Zum Mißtrauensverdacht siehe EHLERT [Anm. 4], S. 31. Zu den Buchberufungen der frühmittelhochdeutschen Epik siehe K. GRUBMÜLLER, Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: bickelwort und wildiu maere (FS E. Neilmann), Göppingen 1995, (GAG 618), S. 37-50. Zu V. 61 vgl. gleichfalls EHLERT [Anm. 4], allerdings mit anderer Wertung. Siehe B. HAUPT, Schriftlichkeit der Volkssprache und Inszenierung von Literalität. Zwei rheinische Antikenromane des 12. Jahrhunderts, in: Anknüpfungen. Kulturgeschichte Landesgeschichte - Zeitgeschichte. Gedenkschrift für Peter Hüttenberger, hg. von V. ACKERMANN u.a., Essen 1995, (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 39), S. 81-96, hier S. 83, unter Berufung auf P. K. STEIN, Ein Weltherrscher als vaw'/or-Exempel in imperial-ideologisch orientierter Zeit? Fragen und Beobachtungen zum 'Straßburger Alexander', in: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst, hg. von R. KROHN u.a., Stuttgart 1979, S. 144-180, hier S. 163. S i e h e STEIN [ A n m . 6 ] , S . 1 6 3 ; v g l . EHLERT [ A n m . 4 ] , S . 2 9 . HAUG [ A n m . 2], S. 8 6

H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik: eine Grundlegung der Literaturwissenschaft 1, Stuttgart 3 1990, § 275. Vgl. H. BRINKMANN, Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau und Aussage, in: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur II: Literatur, hg. von H. BRINKMANN, Düsseldorf 1966, S. 79-105, hier S. 84: „Schließlich kann man den Hörer dadurch für sich einnehmen, daß man den Wert der eigenen Sache steigert [...]." Zu den Prologtopoi bei Alberic siehe W. FISCHER, Die Alexanderliedkonzeption des Pfaffen Lamprecht, München 1964, (Medium Aevum. Philologische Studien 2), S. 34ff. Siehe A. HÜBNER, Die „mhd. Ironie" oder die Litotes im Altdeutschen, Leipzig 1930, (Palaestra 170).

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(V. 10, vgl. Vv. 71ff.). u Alexander der Eroberer, der überdies noch Klugheit besitzt, ist für ein feudaladliges Publikum, das sich in einer historischen Phase intensiver Territorialisierung befindet, eine hervorragende Identifikationsfigur.12 Alexander kann aufgrund der ,,identifikatorische[n] Besetztheit im positiven [...] Sinne" zugleich als eine „Erinnerungsfigur" des kulturellen Gedächtnisses fungieren. 13 Lamprecht erläutert auch seine eigene Motivation für die Abfassung seines Werkes. Er übernimmt dabei Motive Alberics und deutet sie, wie ich meine, auf interessante Weise um. Bei Alberic heißt es: Dit Salomon alprimier pas, quant de son libre mot lo clas, „ est vanitatum vanitas, et universa vanitas." poyst lou me fay m 'enfirmitas, toylle s 'en otiositas, solaz nos faz' antiquitas, que tot non sie vanitas. (Vv. 1-8) („Salomon sagt im Eingang, als er die Stimme seines Buches ertönen läßt: est vanitatum vanitas et universa vanitas. Ferner wird mir meine Schwäche Veranlassung [zum Dichten] geben; infolgedessen hebe sich hinweg der Müßiggang: Trost möge uns das Altertum schenken, dafl nicht alles vanitas ist.") 14

Das vieldiskutierte vawto-Motiv aus Eccl. 1,2 und 1,14 hatte Alberic in seinem Prolog eingeführt, um gerade diesen vawz'tos-Gedanken zu verwerfen: Trost spendet die Antike, daß nicht alles eitel sei. Zugleich aber fuhrt er als seine eigene Motivation an, daß er der otiositas, dem Müßiggang, entgegenwirken wolle. Vor der otiositas warnt wiederum Ies. Sir. 33,29, doch Alberic beruft sich nicht direkt auf Ies. Sir., sondern begründet die Gefahr der otiositas mit seiner persönlichen Erfahrung von enfirmitas. Diese persönlich gefärbte Argumentation kann Lamprecht allerdings nicht für sich übernehmen, vielmehr setzt er mit Bezug auf Eccl. 2,17 an die Stelle von Alberics enfirmitas Salomons Schwermut oder Be11

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Vgl. H. KOKOTT, Literatur und Herrschaftsbewußtsein. Wertstrukturen der vor- und frühhöfischen Literatur. Vorstudien zur Interpretation mittelhochdeutscher Texte, Frankfurt a.M., Bern, Las Vegas 1978, (Europäische Hochschulschriften Reihe 1,232), S. 120. Siehe KOKOTT [Anm. 11], S. 119-126 u. S. 221ff. Zur Komplementarität von Kommunikationsgemeinschaft und Identifikationsanreizen seitens des Textes siehe G. KAISER, Zum hochmittelalterlichen Literaturbegriff, in: Zum mittelalterlichen Literaturbegriff, hg. von B. HAUPT, Darmstadt 1985, (Wege der Forschung 557), S. 374-424, hier S. 406ff. J. ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hg. von J. ASSMANN / T. HÖLSCHER, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-19 (Zitate von S. 13 u. 12).

Text und Übersetzung hier nach FISCHER [Anm. 9], S. 32f.

Altiu maere aus alten ziten

drückung (swar in sin müt V. 26), und Lamprecht läßt dann Salomon, den biblischen Garanten der Weisheit (er screip von grözen witzen V. 28), in Abwehr von otiositas schreiben (Vv. 29f.). Dabei konnte sich Lamprecht auf Eccl. 3,22 beziehen, wo der Prediger seine frühere pessimistische Haltung (Eccl. 2,17ff.) revidiert, indem er erklärt, nichts sei besser, als daß der Mensch sich mit seinem Werk erfreue. 15 Lamprecht setzt dann Alberic in Salomons Nachfolge und schließt sich selbst mit seinem Schaffen (wurchen V. 1; vgl. Eccl. 3,22: in opere suo) hier an. Die Argumentation scheint mir nicht so unintelligent, wie man Lamprecht unterstellt hat,16 vielmehr kennt sich Lamprecht im 'Liber Ecclesiastes' offenbar hervorragend aus. Und Lamprechts Fazit impliziert nun den Gedanken, den später auch Hartmann von Aue im 'Armen Heinrich' V. 10 formulieren wird, daß nämlich das Tun des Dichters bzw. dessen Werk Trost zu geben vermag17 - auch dies ein sicheres Zeichen bewußter Literarisierung. Was bei Lamprechts Argumentation freilich auf der Strecke bleibt, ist das Motiv: 'Trost spendet die Antike'. Dafür aber, denke ich, hat Lamprecht einen guten Grund, denn Lamprecht geht es offenbar, anders als Alberic, nicht so sehr um eine Hinwendung zur griechischen Antike aus christlich-gelehrtem, humanistischem Interesse.18 Lamprechts eigene Intention wird m.E. dort erkennbar, wo er im Zusammenhang mit der ausfuhrlichen Präsentation seines Helden Alberics antiquitas (V. 7) bzw. tems ... antic (V. 11) mit der Formulierung in alten ziten (V. 39) wiedergibt. Diese Formulierung aber ist, wie zu zeigen sein wird, semantisch ganz anders besetzt als antiquitas:

15

Eccl. 3,22: Et deprehendi nihil esse melius, quam laetari hominem in opere suo, et hanc esse partem illius. - Zum Bezug Lamprechts auf Eccl. 2,17 und Ies. Sir. 33,29 siehe auch EHLERT [ A n m . 4 ] , S . 3 5 .

16

17 18

H. SZKLENAR, Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen, Göttingen 1966, (Palaestra 243), S. 33: „Sehr klar sind dem Dichter die Zusammenhänge nicht, mag das nun an der falschen Beziehung von 'otiositas' (Alberich V. 6) auf Salomon liegen oder an der Unfähigkeit, die kunstvollen Verhältnisse zwischen Salomo, Alberich und Alexander, die er notwendig ändern muß, in eine neue sinnvolle Ordnung zu bringen." Zum Topos 'Dichten als Trost' siehe FISCHER [Anm. 9 ] , S . 3 7 . Zur Beurteilung des „an der antiken Rhetorik geschulten Gelehrten" Alberic siehe FISCHER [Anm. 9], S. 42ff. (Zitat von S. 42). Vgl. L. SPITZER, Des guillemets qui changent le climat poitique. (Correction et commentaire ä la premiere strophe du Fragment d'Alexandre d'Albiric), in: PLMA 59 (1944) 335-348, hier S. 347. 57

Barbara Haupt Richer chunege was genüc: daz ne saget uns nehein püch noh neheiner slahte märe, daz deheiner so riche wäre, der in alten ziten mit stürme oder mit strite i so manec lant gewunne oder so manegin kunic bedwunge, herzogen irslüge unde andere vursten genüge, so der wunderliche Alexander: im ne gelichet nehein ander. (Alexanderlied Vv. 35-46) („Mächtige Könige gab es viele: Das aber sagt uns kein Buch noch irgendeine [mündliche] Geschichte, daß jemals einer so mächtig gewesen sei, der in alten Zeiten mit Kriegssturm oder Kampf so viele Länder erobert oder so viele Könige bezwungen, Herzöge und andere Fürsten erschlagen habe wie der erstaunliche Alexander. Ihm kommt kein anderer gleich.")

Bei püch und märe handelt es sich offensichtlich um eine Opposition, denn mhd. maere (stf.) meint in erster Linie eine mündliche Äußerung, als Neutrum ist es mit der Grundbedeutung 'Kunde, Nachricht, Bericht, Erzählung' gleichfalls nicht an Schriftlichkeit gebunden. S C H W I E T E R I N G hat herausgearbeitet, daß maere zunächst „kein eigentlicher Terminus der Poetik [sei], denn es geht n i r g e n d s auf die Dichtung als darstellende Form, s o n d e r n nur auf ihren I n h a l t."19 Als Gattungsbezeichnung konkurriert maere in der höfischen Zeit mit rede und äventiure, aber: „N u r maere, d.h. weder rede noch äventiure, heißen vor allem die Epen aus dem Kreis der H e l d e n s a g e"20, die aus mündlicher Tradition erwächst. Definiert sind die Heldenepen offenbar in erster Linie durch ihren Inhalt, wie uns die sog. Programmstrophe des 'Nibelungenliedes' in der Fassung C21 mitteilt:

19 20 21

58

J. SCHWIETERING, Singen und Sagen, in: J. SCHWIETERING, Philologische Schriften, hg. von und M . WEHRLI, München 1 9 6 9 , S. 7 - 5 8 , hier S. 5 1 . Ebd., S. 54. Siehe dazu W. HAUBRICHS, 'Labor sanctorum' und 'labor heroum'. Zur konsolatorischen Funktion von Legende und Heldenlied, in: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von C. BAUFELD, Göppingen 1994, (GAG 603), S. 27-49, hier S. 44ff. Benutzte Ausgabe: Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von K. BARTSCH hg. von H. DE BOOR, Mannheim 1988. F . OHLY

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Uns ist in alten maeren wunders vi! geseit von helden lobebaeren, von grözer arebeit, von fröuden, höchgeziten, von weinen und von klagen, von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen. (Nibelungenlied 1,1-4) („Uns ist in Geschichten aus alter Zeit viel Erstaunliches erzählt: von ruhmwürdigen Helden, von großer kriegerischer Mühsal, von Freuden, Festen, von Weinen und Klagen. Von den Kämpfen kühner Helden werdet Ihr nun Erstaunliches erzählen hören.")

Die alten maere berichten von Heldentaten, von Erstaunlichem (wunder 1,4), und der wunderliche Alexander paßt durchaus in dieses Bild. Der erstaunliche, alles menschliche Maß überschreitende Held Alexander entspricht dem „überdimensionierte[n] Typus" solcher Heroen wie Dietrich von Bern, Hildebrand oder Hagen.22 In Kindlers Literatur-Lexikon, das eine gängige Forschungsmeinung repräsentiert, findet sich die Bemerkung, daß Lamprecht - im Gegensatz zu Alberic - seinem Helden das Attribut magnus verweigere, um ihm stattdessen das Epitheton wunderlich (V. 45, 932) beizumessen, womit er deutlich eine Distanz zu seinem Helden habe ausdrücken wollen.23 Eine solche Distanz vermag ich nicht zu erkennen, es sei denn jene Distanz, die jedwede Bewunderung oder jedes Erstaunen zum jeweiligen Objekt impliziert. Daß Lamprecht seinen Helden als wunderlich im Sinne von 'erstaunlich' bezeichnet, liegt wohl eher daran, daß das Wort wunder traditionell mit Alexander verknüpft ist: Man vergleiche im 'Annolied' V. 219, 228, 235 und in der 'Kaiserchronik' V. 547 sowie V. 549 (der wunderliche man). Eine negative oder distanzierende Haltung Lamprechts seinem Helden gegenüber ist nicht auszumachen, denn auch eine Unterordnung Alexanders unter Salomon, wie das renommierte Literatur-Lexikon behauptet,24 wird für mich nicht erkennbar. Warum auch sollte der Autor seinen Helden gleich eingangs diskreditieren? Der christlich vereinnahmte Salomon ist in der geistlichen Literatur der paradigmatische Herrschertypus,25 und es ist deshalb kaum verwunderlich, wenn auch der Geistliche Lamprecht Salomon in Erinnerung ruft, freilich hier nicht etwa mit Bezug auf Salomons Gottesfurchtigkeit, sondern auf dessen ganz weltliche, 22

23

24 25

K. HAUCK, Heldendichtung und Heldensage als Geschichtsbewußtsein, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft (FS O. Brunner), Göttingen 1963, S. 118-169, hier S. 134; HAUCK weist u.a. darauf hin, daß in einer chronistischen Notiz des späten Mittelalters die Helden als gygantes bezeichnet werden (S. 136). Siehe Kindlers Neues Literatur Lexikon 18, München 1992, S. 91f., hier S. 92; vgl. ähnlich: Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht (Straßburger Alexander). Text, Nacherzählung, Worterklärungen, hg. von I. RUTTMANN, Darmstadt 1974, S. 204, Anm. 10. Ebd. Vgl. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mhd./nhd., hg., übers, u. komm, von D. KARTSCHOKE, Stuttgart 1993, wo sich an exponierter Stelle, in der Hoflagerszene, ein Vergleich Karls mit Salomon findet (V. 671ff.).

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von der regina austri bewunderte Hofhaltung (Alexanderlied Vv. 64ff.). Alexander wird nicht dem König Salomon untergeordnet, vielmehr wird die Unvergleichbarkeit der beiden Herrscher herausgestellt: Salemon der was üzgetän (V. 62), man müste in [sc. Salomon] wol uz sceiden, / wände Alexander was ein heiden (V. 69f.). Es handelt sich hier nicht um eine Hierarchie von 'Christ' und Heide, und entgegen meiner früheren Einschätzung verstehe ich den Hinweis auf Salomon auch nicht als Einschränkung in bezug auf Alexander, vielmehr als Verdeutlichung dessen, worum es in der Erzählung gehen soll: Mit dem Hinweis nämlich auf Alexanders Heidentum wird zugleich ganz bewußt eine heilsgeschichtliche Dimension der Erzählung ausgeklammert und der profan-weltgeschichtliche Charakter betont, auch wenn der Held biblisch bezeugt ist (V. 12).26 Alexander ist nicht Funktionsträger der Heilsgeschichte, er ist nicht „instrumentum Dei". 27 Zwar fällt er auch nicht aus der Heilsgeschichte heraus, denn alle Geschichte, auch die weltliche Geschichte, ist nach der christlichen Auffassung des Mittelalters final ausgerichtet, nämlich auf das Wiedererscheinen Christi und auf das Jüngste Gericht, womit alle Geschichte der Menschheit nach Daniel 2,44 ihr Ende findet. Doch auch in der christlichen Translationsvorstellung, die an das Buch Daniel anknüpft und in der das Reich Alexanders immer seinen Platz hatte, geht es zunächst nur um die Abfolge von Weltreichen.28 Eine heilsgeschichtliche Ausrichtung von Weltgeschichte wird in Lamprechts Text gar nicht in den Blick genommen, sein Text bietet ganz dezidiert Profangeschichte, wie schon SCHERER erkannt hatte: „Ein Heide ist der Held und christliche Interessen werden nirgends ausdrücklich gefördert."29 Lamprechts Präsentation seines heidnischen Helden (V. 35-46) sei noch mit dem Eingang des 'Annoliedes' verglichen:

26

Siehe auch STEIN [Anm. 6], S. 161f. Vgl. B. HAUPT, Alexander, die Blumenmädchen und Eneas, in: ZfdPh 112 (1993) 1-36, hier S. 27; die Argumentation ebd. wird durch die Aussage oben im Text nur wenig modifiziert, und im Ergebnis ändert sich nichts: Veldeke läßt gar keine Differenzierung von kristen und heiden mehr zu, Eneas ist allen Helden überlegen.

27

EHLERT [ A n m . 4 ] , S . 4 3 .

28

Zur mittelalterlichen, christlichen Geschichtsauffassung vgl. F. J. SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einfuhrung, Darmstadt 1985, S. 40. Zum Translationsgedanken siehe W. GOEZ, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958. - Zur Entstehung der Lehre von den vier Weltreichen siehe M. N O T H , Das Geschichtsverständnis der alttestamentlichen Apokalyptik, in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter, hg. von W. LAMMERS, Darmstadt 1965, (Wege der Forschung XXI), S. 30-54. W. SCHERER, Geistliche Poeten der deutschen Kaiserzeit. Studien, Straßburg 1875, S. 60.

29

60

Altiu maere aus alten ziten Wir hörten ie dikke singen von alten dingen: m snelle helide vuhten, wi si veste bürge brechen, wi sich liebin vuiniscefte schieden, wi riche kunige al zegiengen. (Annolied Vv. 1 -6) („Wir hörten immer wieder singen von alten Begebenheiten: wie starke Helden kämpften, wie sie feste Städte zerstörten, wie liebe Freundschaften zerbrachen, wie mächtige Könige ganz zugrunde gingen.") 30

Auch hier ist von kriegerischen Taten und vom Untergang mächtiger Könige die Rede. „Beide, Annolied wie Nibelungenlied, umschreiben einleitend," so hat schon G E R H A H E R erkannt, „nicht nur die horazische Definition des carmen heroicum: res gestae regumque [ducumque] et tristia bella - , sondern auch den Inhalt tragisch-heroischer Volks- und Geschichtsdichtung - die das Vergängliche um seiner selbst willen preist, und beklagt."31 Nimmt man nun beides, den Eingang des 'Annoliedes' und die 1. Strophe des 'Nibelungenliedes' nach der Fassung C, zusammen und vergleicht dies mit Lamprechts Vorstellung seines Helden, so wird Lamprechts Programm deutlich: Er beschreibt nichts anderes als den Inhalt eines Heldenliedes, eines 'Heldenliedes' aus alten ziten über Alexander. Die literarische Erinnerung an Alexander wird aufbereitet nach dem Muster mündlicher Überlieferung. Indem Lamprecht sich an dem Muster der bis dahin einzigen profanen Geschichtsüberlieferung in der Volkssprache orientiert, wendet er sich unmißverständlich von einem heilsgeschichtlich orientierten Erzählkonzept ab. Die Berechtigung dazu konnte er interessanterweise von der biblischen Autorität herleiten, nämlich von Makk. I, 2, wo sich eine knappe Mitteilung über die Eroberungstaten Alexanders findet; für einen Geistlichen übrigens bemerkenswert, greift Lamprecht dabei nicht den Hinweis von Makk. I, 4 auf Alexanders Hochmut auf. Daß Lamprechts 'Alexanderlied' mit dem Heldenlied etwas zu tun habe, ist eine alte Einsicht.32 Als Begründung dafür wurde freilich nicht der Prolog, sondern in erster Linie die berühmte Hilde-Stelle (Vv. 132Iff.) ins Feld gefuhrt:33

30 31

32 33

Das Annolied. Mhd./nhd., hg., übers, u. komm, von E. NELLMANN, Stuttgart 1975. NELLMANNS Übersetzung habe ich leicht modifiziert. S. GERHAHER, Der Prolog des Annoliedes als Typus in der frühmittelhochdeutschen Literatur, Diss., München 1965, S. 3 (Interpunktion: S.G.). Vgl. Quintus Horatius Flaccus, Sämtliche Werke. Lat. / dt. (Sammlung Tusculum), T.l, hg. von H. FÄRBER, T. 2 übers, u. zus. mit FÄRBER bearb. von W. SCHÖNE, München "1993, De arte poetica, S. 538-575, V. 73. Siehe SCHERER [Anm. 29], S. 63. Siehe ebd., S. 63; FISCHER [Anm. 9], S. 50.

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man saget von dem stürm der üf Wolfenwerde gescach, dä Hilten vater tot gelach, zewisken Hagenen unde Waten: so ne mohter herzö nieth katen. iedoch ne mohte nechain sin, noch Herewich noch Wolfivin, der der ie gevaht volcwich dem chunige Alexander gelich. (Alexanderlied Vv. 132Iff.) („Man erzählt von der Schlacht auf dem Wülpenwerde, wo Hagen gegen Wate kämpfte und Hildes Vater umkam: Dem konnte diese Schlacht nicht gleichkommen. Es konnte sich doch keiner von denen, die je in einer Völkerschlacht gekämpft haben, weder Herwig noch Wolfwin, Alexander vergleichen.")

Die vielberufene Hilde-Stelle wurde freilich ganz unterschiedlich bewertet. FISCHER Z.B. urteilt: „Solche volkstümlich-germanischen Dichtungen dürften es wohl gewesen sein, die der Pfaffe mit seinem Alexanderlied aus dem Felde hat schlagen wollen." 34 BERTAU hingegen versteht den Vergleich mit der Heldenepik als eine Anpassung an den Publikumsgeschmack. 35 BERTAUS Urteil zufolge, dem ich zustimme, hat der Pfaffe Lamprecht sein 'Alexanderlied' in einer „noch unliterarischen, altfeodalen Erzählweise" dargeboten. 36 In der Tat stehen, wie BERTAU ausweist, die Schlacht- und Kampfszenen im Vordergrund. 37 Daß die Gestaltung „ganz weltliche[r] Spannung" jedoch nur aus eher naiver, ,,helle[r] Freude an Schlacht und Ritterkampf' resultiert, wie BERTAU zu unterstellen scheint 38 , trifft m. E. nicht zu, denn Lamprechts Prolog zeugt mit seiner zweifachen Quellenberufung, auf das Buch der Makkabäer und auf Alberic, sowie mit dem unmißverständlichen Hinweis auf die Geformtheit seines Werks (gevüge V. 3) doch von einem sehr distinkten Literaturverständnis. Vor allem aber: Während BERTAU Lamprechts Text mit dem Terminus „altfeodal" als rückwärtsgewandt charakterisiert, möchte ich dagegen die Züge, die in die Zukunft weisen, hervorheben.

3 4

FISCHER [ A n m . 9 ] , S . 5 1 .

35

Siehe K. BERTAU, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter 1: 800-1197, München 1972, S. 33lf. Ebd., S. 332. Siehe ebd., S. 332, Κοκοττ [Anm. 11], S. 119ff. zeigt auf, daß in Lamprechts Text insbesondere die kämpferisch-militärische Komponente des Herrscherbildes ausgeprägt ist. Siehe B E R T A U [Anm. 35], S. 332 (Zitate von ebd.).

36 37

38

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II Die Assimilation seines antiken Stoffes an die Heldenepik hat Lamprecht offenbar ganz bewußt vollzogen, und dies läßt sich u.a. auch an solchen Zusätzen erkennen, die nicht genuin dem Alexanderstoff zugehören. Abgesehen von dem WolfenwertVergleich (s.o.) ist hier eine Beschreibung von Alexanders Kampfausrüstung zu nennen: gebeizet was sin brunne in eines wurmes blute, er stunt ime stolzes mütes. hurnen was sin veste. ez chom vone grözen listen. (Alexanderlied Vv. 934ff.) („Sein Brustharnisch 39 war gebeizt in dem Blut eines Drachen. Er stand ihm [sc. Alexander] in seinem stolzen Gemüt gut. Eine unverwundbar machende Hornhaut war sein Schutz. Grund dafür war große Klugheit.")

Hier klingt zweifellos die „Sage vom hörnenen Siegfried" an, aber wohl kaum, um diese zu verdrängen,40 denn die Motivübertragung auf Alexander ist durchaus positiv besetzt durch den Hinweis auf die grözen liste, was man vielleicht mit Erfindungsgabe und handwerklicher Kunstfertigkeit umschreiben kann: Dem besten Helden gebührt die beste Ausrüstung. Lamprecht hatte offenbar ein gutes Gespür für die Affinität des aus lateinisch/volkssprachiger Schrifttradition vermittelten Alexanderstoffes41 zur mündlichen Heldenepik: Alexanders Schlachtenglück erinnert an eine Herrschernorm aus germanischer Zeit, an das Kriegsheil, das sich im Sieg offenbart, und in der „im Kampf erfolgreich erprobten Kraft." 42 Alexanders Eroberung und Verheerung von Städten und Ländereien beim Palästinafeldzug, insbesondere die Einnahme und Zerstörung der Stadt Tyrus (siehe bes. Vv. 721 f.), der Sturz des Königs Nycolaus (v: 384ff.) und vor allem der Sieg über den mächtigen Darius stimmen zu den Angaben des 'Annoliedes': wi si veste bürge brechen und wi riche kunige al zegiengen (Vv. 4 u. 6). Allerdings ist nicht zu übersehen, daß Lamprecht auch die negativen Aspekte von Kampf und Krieg ganz schonungslos hervorhebt, denn bei der Eroberung von Tyrus lautet der Erzählerkommentar: 39 40 41

brunne ist hier offenbar stm. Siehe FISCHER [Anm. 9], S. 51 (Zitat von S. 50). Alberic hat als Hauptquelle die lateinische Übertragung des Pseudo-Kallisthenes durch Julius Valerius benutzt, daneben die zweite lateinische Übertragung durch Leo von Neapel. S i e h e FISCHER [ A n m . 9], S . 15.

42

K. BOSL, „Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt" (Tacitus, Germania c.7), in: K. BOSL, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, München, Wien 1964, S.62-73, hier S. 63.

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des siges, des er da nam, werez ein wole bedäht man, er ne wurdes niemer ze frö; (Alexanderlied Vv. 1001-1003) („Wäre er ein besonnener Mann gewesen, hätter er dieses Sieges niemals allzu froh werden können.")

Das Kampfesethos des Heldenepos wird also durchaus auch kritisch beleuchtet und relativiert bzw. modifiziert durch die besondere Akzentuierung von Besonnenheit (V. 1002), welche zügellosem zorn (vgl. z.B. V. 953) und Rachedenken (V. 993) entgegengesetzt wird. - Alexanders Überlegenheit gründet auf maht und auf list.43 Die Qualität der list, im Sinne von 'Klugheit', die als strategische Fähigkeit, als Urteilsvermögen oder auch Erfindungsgabe spezifiziert sein kann, ist, wie sich z.B. dem 'König Rother' entnehmen läßt, eine Personenauszeichnung der einheimischen Überlieferung, und sie geht, wie M O H R gezeigt hat, zurück bis zu den Skaldensagas. „Im Charakterbild des listigen marines, dem Leitbild der Spielmannsdichtung, mag zu allertiefst noch etwas von dem mythischen listigen Kulturbringer - dem Prometheus- und Loki-Typus - 'entmythologisiert' nachleben." 44 Auch hier wird die Affinität des Alexanderstoffes zur heldenepischen Überlieferung deutlich. Gleichwohl wird der heldenepische Typus nicht einfach affirmiert, sondern transformiert, denn Alexander ist kein Held, der in oraler Kultur wurzelt, seine Vorbildlichkeit gründet nicht zuletzt in einer hervorragenden Erziehung, welche sowohl die wesentlichen Disziplinen oraler Feudalkultur Rechtssprechung und Waffenausbildung - berücksichtigt als auch ein gelehrtliterates Bildungsprogramm. 45 Die vergleichende Epenforschung hat es ermöglicht, im Bereich der Motivik Elemente herauszuarbeiten, die man auch mündlicher Überlieferung zuerkennen darf, selbst wenn diese per definitionem nicht greifbar ist. Weitaus schwieriger liegen die Dinge im Bereich des Formelschatzes, den ich deshalb hier ausklammern möchte 4 6 Im schriftlich fixierten Text allerdings lassen sich Indizien finden,

43 44

45 46

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Siehe auch KOKOTT [ANM. 11], S. 120. Siehe W. MOHR, 'Tristan und Isold' als Künstlerroman, in: Gottfried von Straßburg, hg. von A. WOLF, Darmstadt 1973, (Wege der Forschung CCCXX), S. 248-279, hier S. 260, vgl. auch S. 258 (Zitat von S. 260). Siehe dazu Κ ο κ ο τ τ [Anm. 11], S. 120f. FISCHER [Anm. 9], S. 50, vertritt die These, Lamprecht habe „auf den Formelschatz der altdeutschen Heldendichtung" zurückgegriffen. Er beruft sich dabei auf G. EHRISMANN, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters II, 1, S. 240. Siehe auch BERTAU [Anm. 35], S. 332. Zur vergleichenden Epenforschung siehe M. CURSCHMANN, „Spielmannsepik". Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907-1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967 (Überlieferung und mündliche Kompositionsform), (Referate aus der DVjs.), Stuttgart 1968, S. 46ff. passim, zur Problematik der Formel S. 106. Zur Proble-

Altiu maere aus alten ziten

die dafür sprechen, daß Lamprecht sich an mündlichen Erzählungen orientiert. Die 'Quellenberufungen' nämlich beziehen sich überwiegend nicht auf ein Buch oder mehrere Bücher, in denen man lesen kann, wie man vielleicht bei einem Geistlichen erwarten dürfte,47 sondern in aller Regel auf mündliches sagen bzw. auf ein hörte sagen, auch in Kombination mit einem Buch vom Typus: daz buoch saget. Das steht in auffälligem Gegensatz zum 'Straßburger Alexander', wo die Buchberufungen in Kombination mit lesen sehr viel häufiger zu finden sind.48 Von den wenigen deutlichen Buchberufungen beziehen sich vier auf die Bibel: Vv. 11 f.:

diz mugit ir wol hören in libro Machabeorum V. 20: do heter ein Salemones puch V. 473: diz was Darios ter in Danigel stet Vv. 1395f.: diu selbe burch Sardix, von ir saget uns das buch Apocalipsis

Zweimal ist dabei von hörender Rezeption aus einem Buch bzw. vom Sprechen eines Buches die Rede (vgl. auch Vv. 36f.), in Analogie zum Vorlesen im Rahmen der Liturgie oder zur lectio im klösterlichen Bereich. Vom Lesen in einem Buch ist expressis verbis insgesamt nur zweimal die Rede: Vv. 1329, 1437f. Auffällig ist dabei, daß Lamprecht seine volkssprachige Buchquelle nirgendwo ausdrücklich als buch bezeichnet, sondern - ebenso wie sein eigenes Werk - als lit (Vv. 1,14, 19, 34), d.h. als eine narrative Form, deren Medium - Schriftlichkeit oder Mündlichkeit - nicht definiert ist, wobei die Semantik von liet dennoch vielleicht eher in Richtung Heldensage tendiert 49 Da, wo Lamprecht sich auf Alberic beruft, läßt er entweder die Art der Konzipierung und Übermittlung des Textes offen, wie in V. 14/15, oder er spricht von mündlicher Weitergabe der Erzählung: alsus hört ich maister Alberichen sagen (V. 1220).50 Die epische Formel vom Typ 'Jk gihorta dat seggen', die sich stets in den ,,Überreste[n] germanischer Volksdichtung" findet51 und bei der die Gewährsleute immer unbenannt bleiben, wird hier bemerkenswerterweise mit dem Namen eines Buchautors verknüpft. Sogar die erwiesenermaßen schriftliche Überlieferung, die von Alexanders zweifelhafter Herkunft,

47 48 49 50

51

matik der Formel als Indiz der Mündlichkeit siehe E. R. HAYMES, Das mündliche Epos. Eine Einführung in die 'Oral Poetry' Forschung, Stuttgart 1977, S. 14ff. Siehe C. LOFMARK, The Authority of the Source in Middle High German Narrative Poetry, London 1981, (Bithell Series 5), S. 19ff. Vgl. die Belege bei Α. BLUMENRÖDER, Die Quellenberufungen in der mittelhochdeutschen Dichtung, Diss, (masch.), Marburg 1922, S. 8f. Siehe auch GRUBMÜLLER [Anm. 5], S. 45f. Siehe SCHWIETERING [Anm. 19], S. 44-46. Entsprechend auch V. 1529, der zwar Lamprechts Formulierung aufnimmt, aber mit einiger Sicherheit nicht von Lamprecht selbst stammt. Siehe F. URBANEK, Umfang und Intention von Lamprechts Alexanderlied, in: ZfdA 99 (1970) 96-120, hier S. 101. BLUMENRÖDER [ A n m . 4 8 ] , S . 1 3 0 .

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von seiner Abstammung vom ägyptischen Nectanabus, berichtet, gibt Lamprecht als mündliche Kunde aus: Nü sprechent böse lugenäre [...] (V. 71, vgl. V. 233).52 Nur mündliche Quellenangaben enthalten Vv. 71, 73, 140, 233, 921, 1220, 1321. Wenn Lamprecht bzw. sein Erzähler darüber hinaus auch in seinen Publikumsanreden überwiegend Termini mündlicher Kommunikation gebraucht und nicht die bookishness eines Schriftgebildeten herausstellt,53 so stellt er sich offenkundig auf ein Publikum ein, das noch in starkem Maße einer Kultur der Mündlichkeit verhaftet war.54 Nicht nur, daß er, wie bei den Publikumsanreden und bei solchen Quellenangaben, die hörende Rezeption implizieren, die Situation des mündlichen Vortrags berücksichtigt, vielmehr weist eine Reihe von Indizien darauf hin, daß Lamprecht seinen Stoff, den er aus schriftlicher Tradition bezog, einer oral poetry (besser: history) anzunähern sucht; vgl. z.B.: alsus sagent die in ie gesähen V. 140 und vor allem: dä ich noch ie abe hörte gesagen V. 921. Interessant sind solche Belegstellen, wo jeweils einmal von schriftlicher, einmal von mündlicher Überlieferung die Rede ist, und zwar beides in unmittelbarem Zusammenhang. Zum einen: Vv. 36f.:

daz ne saget uns neheinpüch noh neheiner slahte märe,

wobei märe sich offenbar nicht auf schriftliche Tradierung bezieht (s.o.). Dazu die beiden Vergleiche Alexanders mit den Helden der einheimischen Gudrun- und der antiken Trojasage: V. 1321:

man saget

von dem stürm der üf Wolfenwerde gescach [...]

und Vv. 1329f.: man list

['liest'] von guten chnehten [...] in Troiäre liede.55

Die Textstellen deuten darauf hin, daß Lamprecht gleichermaßen über mündliche und schriftliche Überlieferung verfugt und beides in Parallele setzt, womit er sein Werk bewußt in einer kulturellen Übergangszone ansiedelt. „Sehr charakteristischerweise werden geistliche Akzente nicht gesetzt", bzw. es wird kein „besonderer theologischer Sinn beschworen".56 Das gilt auch, wie BERTAU darlegt und wie schon BRUMMACK erkannt hat, fur die Kommentierung

52 53 54 55 56

66

Zur Nectanabus-Überlieferung siehe EHLERT [Anm. 4], S. 19f. Vgl. Vv. 91, 103, 117, 151, 467, 484, 565, 942. Siehe LOFMARK [Anm. 47], S. 10 u. 19ff.; BLUMENRÖDER [ A n m . 4 8 ] , S. 130.

Zur Charakterisierung der Oralität siehe W. J. ONG, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 37ff. u. 138ff. Hervorhebung: die Verf. BERTAU [ A n m . 3 5 ] , S . 3 3 3 .

Altiu maere aus alten ziten

von Namen durch Hinweise auf biblische Ereignisse. 57 Soweit es sich um geographische Namen handelt, knüpft Lamprecht dabei an den Stil von Pilgerberichten an: 58 z.B. er zestörte ouch Bethuliam, dä Judith Holofern sin houbet nam. (Vv. 695f.)

Ganz entsprechend nämlich heißt es im Pilgerbericht des Archidiakons Theodosius (518-530): „Betulia, wo Holofernus starb." 59 Derartige Kommentierungen können nicht für eine heilsgeschichtliche Deutung des Textes herangezogen werden, zumal sie keineswegs nur der Bibel, sondern auch profanen Quellen entstammen. 60 Alexanders Eroberung des Mitteimeeraumes und des Vorderen Orients wird so dargestellt, daß Namen von Ländern und Städten genannt werden, die zur Zeit der Pilgerreisen und Kreuzzüge ins Heilige Land von einiger Aktualität waren, und daß diese Namen darüber hinaus mit „Ereignissen, die zur allgemeinen Bildung gehörten" 61 , assoziiert werden konnten, welche man weitgehend aus der Bibel beziehen konnte. Die Kommentierungen hatten die Funktion, die Namen besser im Gedächtnis der Zuhörer zu verankern, und dienten gleichzeitig einer besseren Orientierung im historischen Raum. Dabei konnten die biblischen Ereignisse und Personen auch einem laikalen, illiteraten Publikum aus Predigt und volkssprachig-geistlicher Literatur geläufig sein. Daß es Lamprecht vor allem auf den Bekanntheitsgrad ankam, zeigt anläßlich der Nennung von Nicomedia (Vv. 601 f.) der Hinweis auf das Martyrium des im Rheinland bekannten Sankt Pantaleon. 62 In die gleiche Richtung weist der Befund, daß bei der Stadt Tyrus direkt im Anschluß an den Hinweis auf den bei einem laikalen Publikum sicher nicht so bekannten 'Apolloniusroman' (Vv. 1009-1014) zusätzlich eine biblische Kommentierung angefügt wird (Vv. 1015-1018). Historische Personennamen werden durch die Glossierung dem Publikum nahegebracht, und der historische Raum wird als bekannt und erfahrbar dargestellt, d.h. aktualisiert: 63 Die Kommentierung wird also nicht genutzt im Sinne heilsgeschichtlicher Belehrung.

57

58

59

Siehe ebd.; J. BRUMMACK, Die Darstellung des Orients in den deutschen Alexandergeschichten des Mittelalters, Berlin 1966, (Philologische Studien und Quellen H. 29), S. 42f. Siehe H. DONNER, Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.-7. Jahrhundert), Stuttgart 1979passim; vgl. BERTAU [Anm. 3 5 ] , S. 3 3 3 . DONNER [ A n m . 5 8 ] , S. 2 0 3 . B R U M M A C K [Anm. 5 7 ] , S . 4 3

6 0

gegen D. H A A C K , Geschichtsauffassungen in deutschen Epen des 12. Jahrhunderts, Diss, (masch.), Heidelberg 1953, S. 26-28.

61

BRUMMACK [ A n m . 5 7 ] , S. 4 2 . Siehe B E R T A U [Anm. 35], S. 333.

62 63

Zur Aktualisierung bzw. Assimilation der volkssprachig-literarischen Texte im Hochmittelalter siehe KAISER [Anm. 1 2 ] , S . 397FF.

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Trotz mancher Zusätze, die Lamprechts Buchgelehrsamkeit nicht verleugnen wollen, sucht Lamprecht den Alexanderstoff dennoch weitgehend 'heldenepisch' aufzubereiten. Um die Bedeutung solcher Angleichung abschätzen zu können, sei im folgenden ein Überblick über den Umgang der litterati mit einer oral poetry erlaubt, auch wenn hier zum Teil Bekanntes in Erinnerung gerufen wird. Vor dem Hintergrund der Tradition soll Lamprechts Text noch einmal genauer in den Blick genommen werden, wobei sich ein Vergleich mit der noch dem 12. Jahrhundert angehörenden Bearbeitung, mit dem 'Straßburger Alexander', anbietet.

III Die alten maere, die das 'Nibelungenlied' meint und auf die sich auch das 'Annolied' bezieht, sind mündlich tradierte Helden- und Ereignislieder, die Geschehnisse aus der Vorzeit, insbesondere aus der Zeit der germanischen Völkerwanderung, erinnern. Die Abwehr solcher alten maere bzw. die Abgrenzung gegen sie von Seiten der Geistlichen reicht weit zurück. Otfrid von Weißenburg wollte mit seiner 'Evangelienharmonie' in frenkisgon (I, 34) den cantus obscenus laicorum verdrängen, 64 jene Heldenlieder, die Karl der Große, Einhards Bericht zufolge, so geschätzt hatte, daß er immerhin den Plan faßte, sie schriftlich fur die Erinnerung festzuhalten. 65 Der 'Heliand'-Dichter bietet, anders als Otfrid, eine missionstaktisch motivierte formale und stilistische Akkomodation an die Interessen seiner Adressaten, 66 die einer Tradition der oral poetry anhingen. Dies ist als ein eher leiser Akt der Verdrängung mündlicher, nicht christlicher Traditionen zu werten. Demgegenüber finden sich später immer wieder Abwehrhaltungen, gar Polemiken von Klerikern gegen die mündlichen Heldenlieder. Berühmt-berüchtigt ist die Klage des Bamberger Domscholasters Meinhard über die allzu weltlichen Interessen seines Bischofs Gunther (1057-1065), der sich mehr für König Etzel (Attila) und Dietrich von Bern (Theoderich d. Gr.) interessiert habe als für die Schriften der Kirchenväter: Numquam ille Augustinum, numquam ille Gregorium recolit, semper ille Attalam, semper Amalungum et cetera id genus portare tractat" („Nie denkt er an Augustinus und Gregor, immer nur an Etzel, Amalung und derglei-

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Ausgabe: Otfrids Evangelienbuch, hg. von O. ERDMANN, Tübingen 1962, (ATB 49), S. 4: laicorum cantus [...] obscenus. Einhard, Vita Karoli Magni - Das Leben Karls des Großen. Lat./dt., Übers., Nachw. u. Anm. von E. S. FIRCHOW, Stuttgart 1977, cap. 29, S. 58: Item barbara et antiquissima carmina, quibus veterum regum actus et bella canebantur, scripsit memoriaeque mandavit. Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV., hg. von C. ERDMANN / N. FICKERMANN, Weimar 1950, Nr. 73, (MGH V), S. 121. Zum Wortlaut vgl. D. KARTSCHOKE, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, München 1990, S. 54 (Übersetzung ebd.).

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chen").67 Meinhard wendet sich auch mit direktem Vorwurf an seinen Bischof, der zu viel Zeit auf das Anhören höfischer Geschichten (fabulisque curialibus) verwende; hierbei muß freilich offenbleiben, ob es sich bei den inkriminierten fabulae curiales ausschließlich um Heldensagen gehandelt hat.68 Immerhin verhält es sich so, daß den fabulae, den mündlich tradierten Geschichtserzählungen, seitens der litteraten Kleriker der Geschichtscharakter abgesprochen wird.69 Wenn im ausgehenden 11. Jahrhundert der 'Annolied'-Dichter den Inhalt der Heldenlieder zitiert, so einzig aus dem Grund, um diese Heldenlieder mit seinem christlich-heilsgeschichtlich orientierten Werk zu überbieten,70 und zwar mit einer Intention, die wegfuhren will von einer heroischen Vergangenheit, die unter dem Aspekt eines Endes und von Vernichtung gesehen wird, und die auf eine Zukunft hinfuhrt. Es geht um das zukünftige Ziel des Lebensweges eines jeden Christen. Die Vita Annos, in der, dem Aufbau des 'Annoliedes' zufolge, Heilsgeschichte und Weltgeschichte zusammentreffen, zeigt - setzt ceichen (V. 10) - , daß eine Versöhnung zwischen den Ansprüchen der Welt, des Diesseits, und der Transzendenz möglich ist.71 Eine christlich-heilsgeschichtliche Orientierung will auch die 'Kaiserchronik' aus der Mitte des 12. Jahrhunderts bieten, denn der Prolog stellt das Werk von vornherein unter ein christliches Vorzeichen: In des almähtigen gotes minnen sö wil ich des liedes beginnen. (Kaiserchronik Vv. lf.) 72 („In der Liebe des allmächtigen Gottes will ich mit dieser Erzählung beginnen.")

Dieses gottgefällige Werk, als buoch (V. 15) deklariert und crönica genannt (V. 17), wird als eine schriftliche Geschichtserinnerung präsentiert, die wistuom unt ere (V. 13), Weisheit und Ansehen, garantiert und darüber hinaus frum der sele (V. 14), dem Seelenheil förderlich, sein will. Dieses christlich akzentuierte Geschichtswerk setzt der Autor nun dezidiert gegen profan-heroische Konkurrenzerzählungen ab:73 67

68 69 70

ERDMANN / FICKERMANN [Anm. 66], Nr. 62, S. 110 (Anm. die Hgg. ebd.: „Mit den 'höfischen Mären' sind offenbar die Heldensagen gemeint."). Siehe dazu KARTSCHOKE [Anm. 66], S. 54. Siehe KARTSCHOKE [Anm. 66], S. 54. Siehe HAUCK [Anm. 22], S. 124f. Siehe GERHAHER [Anm. 31], S. 5.

71

V g l . HAUG [ A n m . 2 ] , S . 6 1 .

72

Ausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von E. SCHRÖDER, Hannover 1892, (MGH, Deutsche Chroniken 1).

73

V g l . HAUG [ A n m . 2], S. 6 9 .

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Nu ist leider in disen ziten ein gewoneheit witen: manege erdechent in lugene unt vuogent si zesamene mit scophelichen Worten. nü vurht ich vil harte daz diu sele dar umbe brinne: iz ist än gotes minne. sö leret man die luge diu chint: die nach uns chunftich sint, die wellent si also behoben unt wellent si iemer fur war sagen. lugene unde ubermuot ist niemen guot. die wisen hörent ungerne der von sagen, nü grife wir daz guote liet an. (Kaiserchronik Vv. 27ff.) („Nun ist leider in unserer Gegenwart eine Gewohnheit weit verbreitet: Manche denken sich Lügengeschichten aus und fugen sie mit gleisnerischen Worten zusammen. Nun furchte ich sehr, daß die Seele dafür brennen wird, denn es fehlt da an Gottesliebe. So lehrt man die Kinder solche Lügen: Und so werden die, die nach uns kommen, sie im Gedächtnis behalten und als Wahrheit ausgeben. Lügen und Übermut sind für niemanden gut. Die Einsichtigen hören ungern dergleichen. Nun beginnen wir diese gute und wahre Dichtung.")

Das Adjektiv scophelich (V. 31), eine Ableitung von scoph, benutzt der Verfasser hier in durchaus abfälliger Weise. Das westgermanische Wort skop für den Dichter mündlicher Epen und den vortragenden Sänger hat „in der programmatischen Opposition der christlichen Autoren gegen die traditionelle mündliche Dichtung negative Konnotationen" angenommen, so daß das abgeleitete Adjektiv scophelich im 12. Jahrhundert nicht mehr 'dichterisch', sondern faktisch 'lügnerisch, gleisnerisch' meint.74 Die Verdammung der als Lügengeschichten gebrandmarkten Heldenlieder bekräftigt der Verfasser des 'Kaiserchronik'-Prologs mit dem Hinweis auf Höllenstrafen, in erster Linie natürlich fur die Sänger solcher Epen, aber das gilt entsprechend auch für deren Zuhörer. Ähnlich radikal wendet sich der Autor des 'Himmlischen Jerusalem' (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts) gegen den törichten Hörer,

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KARTSCHOKE [ A n m . 6 6 ] , S. 3 4 .

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der haizet ime singen von werblichen dingen unl von der degenhaite. (Himmlisches Jerusalem Vv. 449-451), 75 („der sich vortragen läßt von weltlichen Dingen und von Heldentum"),

und gemeint sind damit „offensichtlich Helden- oder historische Ereignislieder [...], über deren Existenz kein Zweifel besteht, auch wenn aus der Zeit noch nichts überliefert ist."76 Solchen Hörern droht auch dieser Autor unmißverständlich mit der Hölle (helle Vv. 457, 467). In diese Reihe geistlicher Abwehr gegen die Heldenlieder fugt sich auch der Anonymus des 'Linzer Antichrist' 77 : Er beginnt mit der Paraphrase eines Pauluszitats (2. Tim. 4,3f.) und richtet sich dann gegen solche Leute, die ir orin kerint [...] von der warheit (V. 3), denen eine nutzbringende Rede mißfällt und die stattdessen nur spellir unt niwe maere (V. 5), 'Fabeleien und aktuelle Geschichten', anhören wollen. Wer auf derartige Geschichten nicht verzichten will, fugt der Dichter hinzu, dem ermangele es an wirklich ernstem Streben zu Gott (Vv. 8-10). Er selbst wendet sich mit seinem Werk nun an solche Zuhörer, die etwas von zukünftigen Dingen erfahren möchten. - Der Autor benutzt hier das Wort spei in der gleichen abfälligen Weise wie der Verfasser des 'Kaiserchronik'-Prologs das Wort scophelich. Die Geschichte des Wortes spei, der S C H R Ö D E R nachgegangen ist, gibt Auskunft darüber, daß die ursprünglich im Germanischen positive Bedeutung eines „'sagen und singen' von Zaubersprüchen" allmählich „mit der öffentlichen Verdrängung des germanischen heidentums durch die christliche missionstätigkeit und politik" entwertet wurde78, bis es in mhd. Zeit den „verächtlichen sinn 'märchen, lügengeschichte, unnütze rede, klatsch'" angenommen hatte.79 Und die niuwen maere, die der Autor mit Lügengeschichten (spellir) gleichsetzt, sind nur eine andere, aber ebenso zutreffende Bezeichnung der gleichen Sache, die der Nibelungendichter mit alten maeren bezeichnet: Die Begebenheiten aus alter Zeit, von denen die Heldenlieder berichten, werden, wie die Oralitätsforschung dargelegt hat, jeweils neu im mündlichen Vortrag aktualisiert, „das 'mündliche Epos', also eine breit erzählte Versdichtung, die weder zu ihrer Verfertigung noch für ihr Weiterleben der Schrift bedarf, entsteht immer wieder neu im Augenblick ihres 75

Ausgabe: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts 1, hg. von W. SCHRÖDER, Tübingen 1972, (ATB 71), S. 96-111.

7 6

KARTSCHOKE [ A n m . 6 6 ] , S . 3 1 2 .

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Ausgabe: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts III, hg. von F . M A U R E R , Tübingen 1970, S. 361-427. KARTSCHOKE [Anm. 66], S. 312 hatte bereits den Prolog des 'Linzer Antichristen' in eine Tradition eingereiht, die er vom Prolog des 'Annoliedes' über die 'Kaiserchronik' bis zum Epilog des 'Himmlischen Jerusalem' nachzeichnet. E. SCHRÖDER, Über das Spell, in: ZfdA 37 (1893) 241-268, hier S. 267. Ebd., S. 244.

78 79

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Vortrags."80 Insofern sind die mündlichen Heldenepen neu im Sinne von Aktualisierung und Aktualität (niwe maere), sie sind alt {altiu maere), weil sie aus alten Zeiten überliefert sind und von diesen alten Zeiten berichten. Wenn Lamprecht, der ja gleichfalls von einem Helden aus alten ziten (V. 39) berichtet, die Wahrheitsbeteuerung im Prolog (V. 18) negativ formuliert, so nimmt er in seiner Wortwahl den Vorwurf jener geistlichen Kritiker an der mündlichen Heldendichtung wieder auf, die - wie der Autor des 'Kaiserchronik'-Prologs - so vehement gegen Erzählungen än gotes minne angegangen sind. Mit seiner ironischen Wahrheitsbeteuerung verfährt Lamprecht ähnlich wie der Verfasser des 'König Rother', der auch die negative Formulierung der Kritiker verwendet. Der 'Rother'-Dichter allerdings bindet auf der Erzählerebene seinen profanheldenepischen Stoff explizite heilsgeschichtlich an, denn Rother hat mit der Braut die zukünftige Mutter Pippins gewonnen, des späteren Vaters des allseits als Muster eines christlichen Herrschers bekannten Kaisers Karl und der heiligen Gertrud von Nivelles, die den Sündern zu Hilfe kommt (König Rother Vv. 34723482). Und in diesem Zusammenhang heißt es: Von du nis daz liet. Von lugenen gedithet niet. (König Rother Vv. 3483f.)81 („Von daher ist dieses Lied keine Lügengeschichte, ist es wahr.")

Im Zusammenhang mit einer Verknüpfung der 'Rother'-Erzählung mit der Karlsgenealogie Vv. 4781-4784 und vielleicht mit Blick auf Karls Heiligsprechung im Jahre 1165 erklärt der geistliche Verfasser des 'König Rother' noch einmal ganz deutlich: Von du ne sulit ir dit lit. Den andren gelichin nit. (König Rother Vv. 4785f.) („Von daher sollt Ihr dieses Lied nicht den anderen gleichstellen.")

Und jene anderen Erzählungen sind zweifellos wieder die lugene, die heidnischen Heldenlieder. Der Vergleich mit dem 'König Rother' läßt aber auch den Unterschied erkennen: Anders als der Dichter des 'König Rother' päsentiert Lamprecht keinen christlichen Helden, vielmehr legt er von vornherein offen, daß sein Held ein Hei-

1° KARTSCHOKE [ A n m . 6 6 ] , S. 3 8 . 81

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Ausgabe: König Rother, hg. von T. FRINGS / J. KUHNT, Bonn 1922, (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 3).

Altiu maere aus alten ziten de ist (V. 70). Im Vergleich zeigt sich, daß Lamprechts Text einen bedeutenden Schritt weitergeht in die Richtung einer Säkularisierung der Literatur. Die Abwehr weltlicher Erzählungen, nicht nur solcher, die aus germanischer Vorzeit stammen, gehört von der 'Martinsvita' des Sulpicius Severus an zur geistlichen Prologtopik.82 Der eifrige Gebrauch des Kontrastierungstopos bei den geistlichen Autoren des 11. und 12. Jahrhunderts ist ein sicheres Indiz dafür, daß die mündlich tradierte Heldenepik bis zum Ende des 12. Jahrhunderts noch außerordentlich aktuell war, bis sie dann kurz nach 1200 im 'Nibelungenlied' in schriftlicher Form, in veränderter Gestalt also, für uns in Erscheinung tritt. Offenkundig hat es ein ungebrochenes Interesse an diesen Heldenepen gegeben. Bemerkenswerterweise erscheint der Topos vornehmlich in solchen geistlichen Dichtungen, die Geschichte als christliche Heilsgeschichte präsentieren: 'Annolied' und 'Kaiserchronik' sind großangelegte Geschichtsdichtungen, in denen Weltgeschichte, Heilsgeschichte und Heiligenvita eine jeweils spezifische Verbindung eingehen, wobei die Heiligenvita oder Legende nach mittelalterlichem Verständnis durchaus eine Form der Geschichtsschreibung darstellt.83 Die Versdichtung vom 'Himmlischen Jerusalem', eine allegorisch ausgedeutete Beschreibung der Himmelsstadt, berichtet vom Ziel der Heilsgeschichte, und der 'Linzer Antichrist' informiert über jenen letzten Abschnitt der Geschichte sub specie aeternitatis, bevor mit dem Ende der Welt das Jüngste Gericht eintritt. HAUBRICHS hat fur die Spätantike zeigen können, daß der weltliche heros und der christliche sanctus immer wieder einander angenähert wurden. Das gilt auch für Sulpicius Severus, der zwar im Prolog zu seiner einflußreichen Vita des hl. Martin von Tours von profaner Erzählung Abstand nimmt, der aber gleichwohl die letzten Worte Martins nach kriegerischer Terminologie und heroischem Geist stilisiert.84 Einen Einschnitt sieht HAUBRICHS dann im 11. Jahrhundert: „Die Koexistenz von Held und Heiligem endet abrupt in dem programmatischen Prolog des 'Annoliedes', und zwar gerade, indem der labor heroum, die Taten der Helden, noch einmal exemplarisch beschworen werden".85 Dieser Befund stützt meine eigenen Überlegungen, denn der 'Annolied'-Prolog ist ein Beleg dafür, daß sich ein distinktes Verständnis dafür entwickelt, daß es zwei unterschiedliche Einstellungen zur Vergangenheit gibt. Zum einen handelt es sich um die Geschichtsanschauung, wie sie sich im Laufe vieler Jahrhunderte an Schriftkultur und Buchreligion entwickelt und ausgeprägt hat, d.i. die Geschichtsauffassung der Geistli-

82

83 84 85

Siehe H A U G [Anm. 2 ] , S. 6 0 . Siehe Sulpicii Severi De Vita Beati Martini, P L 2 0 , Neudruck der Ausgabe von 1845, Tumhout (Belgium) 1975, Sp. 159f. Siehe S C H M A L E [Anm. 28], S. 113. Siehe H A U B R I C H S [Anm. 21], bes. S. 27-32. Siehe auch H A U C K [Anm. 22], S. 134ff. HAUBRICHS [ A n m . 2 1 ] , S . 3 4 .

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chen, die Geschichte letztlich als Heilsgeschichte verstehen, zum anderen geht es um eine Erinnerung an Vergangenes, wie sie in den mündlich tradierten alten maeren bewahrt wird, die Erinnerung an die Leitvorstellungen einer Krieger- und Adelsgesellschaft.86 Im Interesse der Geistlichen lag es nun offenbar, mit ihren christlich-heilsgeschichtlich orientierten Erzählungen die mündlich-profanen Geschichtsbilder in Vergessenheit geraten zu lassen. Eine Kluft zwischen volkssprachig-mündlicher Tradition und der lateinisch-geistlichen Schriftkultur bestand zwar von Anfang an, aber seit der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts häufen sich die kritischen Stimmen gegen die mündlich tradierten Heldensagen. Den Grund für einen tiefgreifenden Bruch zwischen Heiligem und Profanem im 11. Jahrhundert wird man mit dem Historiker BOSL und - für die Literaturgeschichtsschreibung mit VOLLMANN-PROFE in jenem einschneidenden Ereignis erkennen, das eine außerordentliche Reichweite haben sollte: „Im Investiturstreit, dem Kampf zwischen Kaiser und Papst um den Führungsanspruch in der christlichen Welt, zerbricht das bislang unerschütterte Vertrauen in die [...] Vorstellung eines 'Heiligen Reiches' [...], das einträchtig vom Papst als dem kirchlich-religiösen und vom Kaiser als dem weltlich-religiösen Vertreter Gottes/Christi zu leiten, d.h. seinem Heil zuzuführen sei."87 Indem das Vertrauen in eine Einheit zerbricht, setzt zugleich, das hat 88 VOLLMANN-PROFE in schöner Klarheit gezeigt, ein Prozeß der Differenzierung ein, und das betrifft m.E. auch die Art und Weise, wie das Verhältnis zur Geschichte nun beleuchtet wird. Die Kritik, wie sie Frutolf von Michelsberg (Wende 11./12. Jh.) in seiner Weltchronik, Otto von Freising in seiner Chronik (l.H. 12. Jh.) oder der (die) Verfasser der 'Kaiserchronik' (Mitte 12. Jh.) an den Geschichtsbildern der Heldensage üben, erwächst aus dem christlichen Verständnis vom linearen Fortlauf der Geschichte: Indem die genannten Autoren aufzeigen, daß die in der Heldenepik agierenden Personen Ermanerich (f 375), Etzel/Attila ( | 453) und Dietrich von Bern/Theoderich (f 526) keineswegs Zeitgenossen sein konnten,89 gehen sie aus 86

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Vgl. ebd. Zum Geschichtsverständnis oraler Gesellschaften siehe H. VOLLRATH, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: Historische Zeitschrift 233 (1981) 571-594. G. VOLLMANN-PROFE, Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60-1160/70). Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I, 2, hg. v. J. HEINZLE, Tübingen 1994, S. 4 (Zitat von ebd.); vgl. K. BOSL, Elitebildung gestern und heute. Charisma, Dienst, Leistung, in: K. BOSL [Anm. 42], S. 458471, S. 460: „Mit dem Investiturstreit, den ich für die tiefste Zäsur in der europäischen Geschichte vor dem 20. Jahrhundert halte, beginnen die großen Säkularisierungsbewegungen der abendländischen Geschichte [...]." Siehe VOLLMANN-PROFE [Anm. 87], S. 3-9 und passim. Siehe Ekkehard! Chronicon Universale, hg. von G. H. PERTZ, Hannover 1844, (MGH. SS. 6), S. 130, Z. 33-45, Ottonis Episcopi Frisingensis Chronica sive Historia de duabus civitatibus (MGH, Scriptores rerum Germanicarum in us. schol.), hg. von A. HOFMEISTER, Hannover, Leipzig 1912, Lib. V, S. 232, Z. 20F- S. 233, Z. 5, 'Kaiserchronik' [Anm. 72], V. 14176-14187.

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von einer christlichen und aus der Schriftlichkeit entwickelten Zeitvorstellung, nach der alle Ereignisse im Ablauf der Geschichte einen unverwechselbaren Stellenwert haben und in einem meßbarenVerhältnis zueinander stehen.90 Damit ist zugleich bereits ein Charakteristikum der Heldensage herausgearbeitet, das CURSCHMANN mit Recht als ein primäres Gattungsmerkmal des Heldenepos bezeichnet hat, daß nämlich „u.U. verschiedene Epochen in für unsere Begriffe ahistorischer Weise" ineinandergeschoben werden.91 In den Sagen und „Mythen [...] der Germanen fehlt jede genauere Datierung im mittelalterlichen oder modernen Sinn; an Menschen wie Heroen scheint die Zeit oft spurlos vorüberzugehen,"92 so daß z.B. noch im 'Nibelungenlied' Etzel und Dietrich als Zeitgenossen auftreten können. Das Problem des Mediums macht zudem der Verfasser der 'Kaiserchronik' deutlich: Er brandmarkt die Behauptung von der Zeitgenossenschaft Etzels und Dietrichs gar als Lüge (V. 14187), und er fordert im Zweifelsfall den Wahrheitsbeweis durch ein buoch (V. 14178), durch eine schriftliche Quelle - ungeachtet der Tatsache, daß auch in der 'Kaiserchronik' heldenepische „Motive und Erzählschemata" mündlicher Provenienz verarbeitet wurden.93 Der geistliche Verfasser vertritt also eine Position, die wohl für die meisten geistlichen Autoren bis zu Lamprecht gilt: „Schriftlichkeit verbürgt die Wahrheit, Mündlichkeit steht auf der Seite der Lüge [,..]."94 Auch Frutolf von Michelsberg schreibt die Zeitgenossenschaft Ermanerichs, Etzels und Dietrichs mündlicher Tradition zu.95 Man darf die Bedeutung und das ideelle Gewicht dieser mündlich tradierten Geschichtsbilder, so möchte ich mit VOLLMANN-PROFE formulieren und zugleich gegen sie argumentieren, nicht zu gering ansetzen,96 denn es handelt sich keineswegs um eine mündliche „Dichtung", die „schlüpfrige Abendunterhaltung" bieten will, und auch nicht um „Schundliteratur", wie BERTAU meint,97 denn sonst hätte sich wohl die gelehrte Kritik nicht so nachhaltig damit beschäftigt. Vielmehr deutet die beständig erneuerte Kritik darauf hin, daß der „Vorzeitgeschichte [...] als 90

V g l . SCHMALE [ A n m . 2 8 ] , S. 3 2 .

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M. CURSCHMANN, Dichter alter maere. Zur Prologstrophe des 'Nibelungenliedes' im Spannungsfeld von mündlicher Erzähltradition und laikaler Schriftkultur, in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von G. HAHN / H. RAGOTZKY, Stuttgart 1992, S. 55-71, hier S. 57.

92

SCHMALE [ A n m . 2 8 ] , S. 2 8 .

93

Siehe E. HELLGARDT, Dietrich von Bern in der deutschen 'Kaiserchronik'. Zur Begegnung mündlicher und schriftlicher Traditionen, in: Deutsche Literatur und Sprache von 10501200 (FS U. Hennig), Berlin 1995, S. 93-110, hier S. 94ff. (Zitat von S. 110). Vgl. W. MOHR, Lucretia in der Kaiserchronik, in: DVjs 26 (1952) 433-445.

94

HELLGARDT [ A n m . 9 3 ] , S. 94.

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Siehe oben Ekkehardi Chronicon Universale [Anm. 89],

96

V g l . VOLLMANN-PROFE [ A n m . 87], S. 14. E b d . ; BERTAU [ A n m . 3 5 ] , S. 3 3 2 .

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besonderefr] Ausprägung historischer Tradition" bis weit ins 12. Jahrhundert hinein eine sehr „lebendige [...] Teilhabe an den Inhalten ebendieser Tradition in Gestalt von Erinnerungen, Normen, Leit- und Warnbildern" 98 gegolten hat. So konnte HAUCK gerade an der Theoderich/Dietrich-Tradition und speziell an dem Dietrich-adventus von 1197 verdeutlichen, in welchem Maße noch im Hochmittelalter das als Vorzeitkunde überlieferte historische Wissen immer wieder aktualisiert und auch für die jeweiligen aktuellen politischen Zusammenhänge instrumentalisiert wurde." Die politisch-rechtlichen Aspekte des altgermanischen Heldenliedes, die MOHR herausgearbeitet hat, 100 boten offenbar die Motivation für beständige Weitertradierung und Aktualisierung. Gerade weil es in den Heldenliedern weniger um „Familienzwist" als um „Staatsakt[e]" ging, 101 konnten die Gestalten der Heldenlieder für die jeweilig gegenwärtige politische Wirklichkeit von Interesse sein. Sogar Otto von St. Blasien, der Fortsetzer der Weltchronik Ottos von Freising, welcher selbst ja gerade das geistlich-orthodoxe Negativbild von der Tyrannis Dietrichs festgeschrieben hatte, mißt die „Herrscherleistung Barbarossas an den hegemonialen Erfolgen Theoderichs-Dietrichs von Bern." 102 Lamprecht greift die Aktualität der mündlichen Vorzeitkunde auf, indem er sie mit der schriftliterarisch überlieferten und biblisch verbürgten Weltgeschichte, und d.h. Profangeschichte, vermittelt. Genauer: Er vermittelt zwei verschiedene Konzepte von Geschichtsüberlieferung. Ein Anstoß dazu mag nicht zuletzt auch von dem Faktum ausgegangen sein, daß der lateinische Alexanderroman durch Alberic in eine Volkssprache übertragen wurde, so daß er der Mündlichkeit bereits schon nähergerückt war, denn jeder volkssprachige „Schrifttext des Mittelalters" ist ja zunächst „ein Vermittlungsprodukt zwischen mündlich volkssprachlicher Laien- und schriftlich lateinischer Klerikerkultur." 103 Indem Lamprecht einen zwar biblisch bezeugten, aber gleichwohl ganz diesseitig-weltlichen Heros seinem feudaladligen Publikum als Erinnerungsfigur präsentiert, eröffnet er zugleich einem literarischen, profan-historiographischen Erzählkonzept die Zukunft. Von 98 99

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H. SZKLENAR, Die literarische Gattung der Nibelungenklage und das Ende „ALTER MAERE", in: Poetica 9 (1977) 41-61, hier S. 56. Vgl. HAUCK [Anm. 22], S. 126. HAUCK [Anm. 22], bes. S. 136ff. Zum Geschichtscharakter der mündlichen Heldenüberlieferung siehe zuletzt D. H. GREEN, Medieval Listening and Reading. The primary reception of German Literature 800-1300, Cambridge 1994, S. 239ff. W. MOHR, Geschichtserlebnis im altgermanischen Heldenlied, in: Zur germanischdeutschen Heldensage, hg. von K. HAUCK, Darmstadt 1965, (Wege der Forschung XIV), S. 82-101, passim. Ebd., Zitate von S. 90 u. 91; vgl. S. 87. HAUCK [Anm. 22], S. 138, vgl. dazu Ottonis de Sancto Blasio Chronica (MGH. Scriptores Rer. germ in us. schol.), hg. von A. HOFMEISTER, Hannover 1912, cap. 28, S. 40, Z. 10-14. Vgl. Otto von Freising [Anm. 89], cap. V, S. 229, Z. 28-31. H. KUHN, Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur, in: Zum mittelalterlichen Literaturbegriff [Anm. 11], S. 247-268, hier S. 251.

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daher kommt Lamprechts 'Alexanderlied' ein exponierter Stellenwert in der Literaturgeschichte zu, denn unter den synchronisch vergleichbaren Großepen war dem 'König Rother' mit seiner bunten Welthaltigkeit keine direkte Nachfolge beschieden, die außerordentlich erfolgreiche 'Kaiserchronik' hingegen bleibt weitgehend einem heilsgeschichtlichen Konzept verhaftet, indem sie immer wieder vom Eingreifen der Transzendenz in die Profangeschichte berichtet, und das 'Rolandslied' des Pfaffen Konrad wird, trotz der „weltlich-profanen Ausprägung" des dargestellten Herrscherbildes, in starkem Maße religiös-christlich überwölbt.104 Lamprechts 'Alexanderlied' aber sollte bald im 'Straßburger Alexander' eine Neubearbeitung finden. Um einige Spezifika dieser produktiven literarischen Rezeption herausarbeiten zu können, sei hier kurz auf Lamprechts Gesamtentwurf eingegangen: Aller Wahrscheinlichkeit nach sollte Lamprechts 'Alexander' mit dem Tod des Darius enden,' 05 was einer heldenepischen Konzeption entspräche: wi riche kunige al zegiengen (Alexanderlied V. 6) - [der] so manegin kunic bedwunge (Alexanderlied V. 42). Mehrere Argumente, die zusammen doch einiges Gewicht ausmachen, sprechen für einen derartigen Abschluß von Lamprechts Text: 1. Vv. 473ff., der Verweis auf den Kampf zwischen Widder und Ziegenbock im Buch des Daniel (Dan. 8,Iff.), womit allein die Auseinandersetzung zwischen der Königsmacht von Medien-Persien und der des Königs von Griechenland in den Blick genommen wird (vgl. Dan. 8,20f.). „Für den [...] Alexander im Orient war da noch kein Platz."106 - Das Argument läßt sich insofern bekräftigen, als der Hinweis von Makk. I, 3, daß nämlich Alexander usque ad fines terrae gekommen sei, von Lamprecht nicht übernommen wird. 2. Das Zins-Motiv: Darius wart umbe den selben zins erslagen (Alexanderlied V. 483), was durch eine Wahrheitsbeteuerung noch bekräftigt wird (V. 484). Dieses Zins-Motiv „kehrt in V ständig wieder, vgl. Vv. 471, 479, 483, 492, 499, 576, 579, 1059 [1126. 1141, 1154]".107 3. Der Vergleich mit der französischen Zehnsilberfassung ergibt, da auch diese, wie Alberics Text, Fragment geblieben ist, keinen zwingenden Beweis, doch sprechen gute Argumente für ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit, daß diese, wie auch Alberics Text und folglich der Lamprechts, nur bis zum Tode des Darius gereicht habe.108 104 105 106

107 108

Siehe Κοκοττ [Anm. 11], S. 149 (Zitat von ebd.). Siehe URBANEK [Anm. 50], S. 118f. C. MINIS, Über die ersten volkssprachigen Alexander-Dichtungen, in: ZdfA 88 (1957/58) 20-39, hier S. 38. URBANEK [ A n m . 5 0 ] , S. 112. MINIS [Anm. 106], passim.

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4. Die Beteuerung des V-Schluß-Kompilators, daß maister Altrich / unde der gute phaffe Lampret (Vv. 1529f.) mit der Entscheidungsschlacht zwischen Alexander und Darius ihre Dichtung abgeschlossen hätten, denn: hie dühte si beide diu maze (V. 1532). „Es liegt jedenfalls kein Grund vor", so konstatiert U R B A N E K zu Recht, „den Kompilator als falsch informiert oder gar als kühnen Lügner zu betrachten."109 Der anonyme Autor des Textes, der uns als 'Straßburger Alexander' überliefert ist, setzt Lamprechts Text weit über den Tod des Darius hinaus fort und ergänzt ihn insbesondere durch die Orientfahrt Alexanders und das 'Iter ad Paradisum'. KOKOTT hat herausgearbeitet, daß auch in der Straßburger Fassung ,,[a]n erster Stelle auf dem weltlich-profanen Sektor" des Herrscherbildes „deutlich das militärische Moment" steht, „in der gleichen Ausprägung wie bereits in V." 110 Gleichwohl verfolgt der Straßburger Anonymus, wie ich den Bearbeiter Lamprechts im folgenden der Kürze halber nennen werde, eine durchaus andere Intention als Lamprecht, denn mit der Orientfahrt setzt er gegen Alexanders Eroberungs- und Zerstörungstaten Muster friedlicher Interaktion, und mit der Paradiesfahrt wird eine Wandlung Alexanders zu einem Friedensherrscher eingeleitet.111 Die Orientfahrt ist zudem von ganz anderen Inhalten bestimmt als der Persienfeldzug, denn wo der erste Teil von militärischen Taten handelt, finden sich im zweiten Teil, in der Orientfahrt, in erster Linie erstaunliche Naturphänomene und kulturelle Leistungen. Nichtsdestoweniger bleibt auch der Straßburger Anonymus dem historiographischen Konzept Lamprechts verpflichtet. Die Orientfahrt wird einerseits in weiten Partien als Augenzeugenbericht des durch die Bibel als historisch bezeugten Alexander dargeboten, was seit Isidor der gelehrt-lateinischen Anforderung an die Historiographie entspricht.112 Der Straßburger Anonymus greift andererseits zur Einleitung des Augenzeugenberichts auch die Terminologie heldenepischer Geschichtserzählung von arbeit (Straßburger Alexander Vv. 4892, 4897; vgl. Nibelungenlied 1, 2) und von des Helden not (Straßburger Alexander V. 4903; vgl. Nibelungenlied 2379,4) auf. Auf dem Boden von historia, im Sinne vom sensus historicus, bleibt der Straßburger Anonymus auch insofern, als er angesichts der nach mittelalterlicher Naturkunde für existent gehaltenen exotischen Tiere, wie 109

URBANEK [ A n m . 50], S. 118f.

110

KOKOTT [ A n m . 1 1 ] , S . 1 3 5 .

111

Siehe B. HAUPT, Alexanders Orientfahrt (Straßburger Alexander). Das Fremde als Spielraum fur ein neues Kulturmuster, hg. von E. IWASAKI, (Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990, 7), S. 2 8 5 - 2 9 5 und dies. [Anm. 26], hier bes. S.12ff. Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri X X , hg. v o n W.M. LINDSAY, 2 vol., Oxford 4 1966, I, 41, 1: Apud veteres enim nemo conscribebat historiam, nisi is qui interfuisset, et ea quae conscribenda essent vidisset. Melius enim oculis quae fluni deprehendimus, quam quae auditione colligimus.

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Phoenix (Straßburger Alexander Vv. 5146ff.) oder Einhorn (Vv. 5579ff.), auf eine spirituelle Deutung verzichtet, obgleich dies von der Physiologus-Tradition her nahegelegen hätte. 113 Von Anfang an wies der Alexanderroman „Berührungen mit der antiken G e o g r a p h i e auf' 1 1 4 , und gerade die Alexanderzüge hatten ein „realistisches Bild von Indien" geprägt. 115 Daß in die geographischen Vorstellungen vom Orient auch phantastische Züge eingingen, lag an den mangelnden konkreten Kenntnissen. Die mittelalterliche Geographie ist eher ein „Weltbild im Kopf' 1 1 6 , ein mentales Konstrukt, das allenfalls hinsichtlich der engeren bekannten Regionen auf empirischem Wissen beruhte, hinsichtlich der weniger bekannten, entfernten Regionen aber aus heutiger Sicht fiir Spekulation offenblieb, was aber noch nicht impliziert, daß nach mittelalterlichem Verständnis die weiter entfernten Gebiete und ihre phantastische Ausgestaltung als minder real erachtet wurden. 117 Im Hinblick auf die Phantastik des Orients hält sich der Straßburger Anonymus sogar sehr zurück, denn er bietet „nur eine Auswahl von dem [...], was die Quellen enthalten." 118 Auch die Paradiesfahrt Alexanders bleibt zunächst im Rahmen von diesseitiger Weltgeschichte, handelt es sich doch um das irdische Paradies, das nach mittelalterlicher Vorstellung konkret im östlichsten Asien situiert war. 119 Hier erfolgt nun aber in der Tat ein Einbruch der Transzendenz, indem nämlich Alexander den Paradiesstein empfängt, 120 doch wird damit keine religiöse Umkehr, vielmehr, in der Art eines säkularisierten Legendenschemas, 121 eine Wandlung (Straßburger Alexander V. 7260) zum besseren, aber ganz irdischdiesseitigen Herrscher eingeleitet. 122 Die religiöse Ermahnung (Straßburger Alexander Vv. 7207-7234) hingegen formuliert der geistliche Verfasser zweifellos in Richtung auf sein zeitgenössisches Publikum. Der geistliche Epilog schließlich, der zur Buße und zum Streben nach dem ewigen Leben aufruft, ist nicht mehr Teil der historiographischen Erzählung. Der 'Straßburger Alexander' bleibt nicht nur auf der von Lamprecht vorgegebenen historiographischen Basis, er übernimmt auch Lamprechts Prolog, aller113 114 115

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Siehe auch SZKLENAR [Anm. 16], S. 111. Ebd., S . 61 (Hervorhebung: SZKLENAR). R. SlMEK, Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus, München 1992, S. 80. H. KUGLER: Die Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter, in: ZfdA 116 (1987) 1-29 (Zitat von S. 16). J.K. WRIGHT, The Geographical Lore of the Time of the Crusades. A Study in the History of Medieval Science and Tradition in Western Europe, New York 1965, S. 256f. u. 357ff.

118

SZKLENAR [ A n m . 1 6 ] , S . 1 1 0 .

119

Vgl. SlMEK [Anm. 115], S. 59. Siehe J. QUINT, Die Bedeutung des Paradiessteins im 'Alexanderlied' (FS P. Böckmann), Hamburg 1964, S. 9-26. Vgl. EHLERT [Anm.4], S. 76f.

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S i e h e HAUPT [Anm. 26], S. 13f.

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dings mit einer für unseren Zusammenhang bemerkenswerten Variation: Lamprechts ironisch formulierte Wahrheitsbeteuerung (Alexanderlied V. 18: louc er, so liuge ich) gibt der Straßburger Anonymus mit einer Berufung auf die Buchvorlage wieder: alse daz büch saget, so sagen ouh ich (Straßburger Alexander V. 18). Damit wird gleich eingangs, an exponierter Stelle also, der Charakter mündlich-heldenepischer Überlieferung zurückgenommen und statt dessen die Literarizität der Geschichtserzählung stärker ins Bewußtsein gehoben123 - ungeachtet der Tatsache, daß der Straßburger Anonymus an späterer Stelle partiell heldenepisches Vokabular einfließen läßt (s.o.). Die Rezeption von Lamprechts Prolog in den 'Straßburger Alexander' ist fur die Beurteilung der volkssprachig-literarischen Entwicklung der Zeit von einigem Interesse: Lamprecht verantwortet seine Erzählung mit seinem eigenen Namen und mit dem Namen des Autors seiner romanischen Vorlage, und wenn nun der Straßburger Anonymus beide Namen, zusammen mit dem ganzen Prolog, in seinen Text übernimmt, so bezeugt er damit zunächst seinen Respekt vor der neuen volkssprachig-literarischen Tradition und vor der literarischen Leistung seiner Vorgänger. Darüber hinaus aber ist auch ein anderer Aspekt zu beachten: Wenn Lamprecht die Autornamen in seinen schriftlich fixierten Text integriert, stehen sie - als Teil des Textes - für einen weiteren Bearbeiter zur Disposition. Während Lamprecht noch im Begriff ist, eine volkssprachig-literarische Tradition erst herauszubilden, kann der Straßburger Anonymus bereits über eine solche verfügen.124 Gleichwohl ist die Übernahme von Lamprechts Prolog in den Straßburger Text nicht schon als eine freie „Verfügbarkeit der Fiktion" zu werten, denn hier wird noch nicht, wie später in Strickers 'Daniel', ein „als Quelle fehlende[s] Werk durch Zitate aus der Literatur ersetzt", da Lamprechts volkssprachiges Werk ja unbedingt Quelle ist.125 Schon Piaton hatte die Schrift dahingehend kritisiert, daß „in einer geschriebenen Rede über jeden Gegenstand vieles notwendig nur Spiel" sei, weil ihr Autor nicht anwesend sei und er deshalb nicht mit dem Ernst seiner ganzen Person für

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S i e h e HAUPT [ A n m . 6], S. 8 3 .

Zur Verfügbarkeit des Automamens, allerdings im Hinblick auf das 13. Jahrhundert, siehe J. BUMKE: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G5), in: ZfdPh 116 (1997) (Sonderheft) 87-114, hier S. 97. Zum kreativen „Umgang mit der literarischen Tradition" siehe K. RIDDER, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: 'Reinfried von Braunschweig', 'Wilhelm von Österreich', 'Friedrich von Schwaben', Berlin 1998, (Quellen und Forschungen zur Literatur· und Kulturgeschichte 12), S. 144 (Zitat von ebd.). M. MEYER, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994, (GRM-Beiheft 12), S. 22.

Alt tu maere aus alten ziten die vorgebrachte Rede einstehen könne. 1 2 6 Solcher Gefahr, die zugleich aber auch die Chance für Kreativität und Fiktion in sich birgt,' 27 war die frühmittelhochdeutsche Literatur in ihrer ersten Phase entgangen, weil sie noch die Verpflichtung auf die Heilsgeschichte, auf „die vorgegebene Ordnung des göttlichen Heilsgeschichtsplans", bewahrt hatte. 128 Die mündlichen Heldenlieder waren solcher Gefahr von vornherein nicht ausgesetzt: Der Sänger steht mit seiner körperlichen Gegenwart vor den Zuhörern für die 'richtige' Geschichte ein, und „obwohl der Sänger sein Lied vor dem Publikum improvisiert, glaubt er selber, daß er sein Lied wortgetreu wiederholt. Für ihn ist die getreue Wiedergabe des Stoffes gleichbedeutend mit der (vermeintlichen) wörtlichen Wiederholung des Liedes." 1 2 9 Erst indem Geschichte schriftlich erzählt wird, wird sie veränderbar und damit auch verfugbar, und das hat, wie VOLLMANN-PROFE dargelegt hat, auch erzähltechnische Konsequenzen: Der Stoff mußte „vom Autor selbst begrenzt und geordnet werden." 130 Indem ein Autor, auch ein Autor mit historiographischem Interesse, seinem in den Quellen vorgefundenen Stoff „formale Kohärenz" verleiht, haben wir es schon mit einer „Form von Fiktionsbildung" zu tun 131 - unabhängig davon, ob und in welchem Maße dies einem Autor oder seinem Publikum bewußt war. Während Lamprecht noch seiner romanisch-volkssprachigen Vorlage und deren Erzählordnung, d.h. der Darstellung bis zum Tode des Darius, 132 gefolgt ist, erweitert der Straßburger Anonymus über Lamprecht hinaus die stoffliche Grundlage, 1 3 3 er fuhrt Alexander über den Mittelmeerraum nach Persien und weiter in den fernen Orient bis zum Paradies und wieder zurück nach Griechenland, und er ordnet den Alexanderstoff neu, indem er das Muster des Weges mit der geschlossenen Form einer Vita verbindet.

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Phaidros 277e. Ausgabe: Piaton, Sämtliche Werke 4. Nach der Übers, von F. SCHLEIERMACHER mit der Stephanus-Numerierung, hg. von W. F. OTTO u.a, Reinbek 1962. Siehe J. GOODY u.a., Entstehung und Folgen der Schriftkultur, übers, von F. HERBORTH, mit einer Einl. von H. SCHLAFFER, Frankfurt a.M. 1986, S. 11. VOLLMANN-PROFE [ A n m . 87], S. 154. HAYMES [ A n m . 4 6 ] , S. 5.

VOLLMANN-PROFE [Anm. 87], S. 154. Zur additiven Struktur des Alexanderromans siehe W. HAUG, Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten, in: GRM 54, NF 23 (1973) 129-152, bes. 135ff. 131 H. WHITE, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, (Sprache und Geschichte 10), S. 121 u. 146. 132 vgl. oben im Text und [Anm. 105] sowie MINIS [Anm. \06],passim. 133 Der 'Straßburger Alexander' folgt in dem von Lamprecht nicht vorgegebenen Teil im wesentlichen dem 'Alexanderroman' Leos von Neapel (Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo, hg. von F. PFISTER, Heidelberg 1913) sowie 'Alexandri Magni Iter ad Paradisum' (hg. von J. ZACHER, Königsberg 1859). 81

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IV Am Beginn der deutschsprachigen Alexander-Tradition steht, wie wir gesehen haben, nicht so sehr eine dezidierte Hinwendung zur Antike wie in der Romania,134 sondern das Interesse, eine heroische Vergangenheit zu erinnern - um die in solcher Vergangenheit erkennbaren kriegerischen und herrscherlichen Normen als vorbildlich für die Gegenwart zu nehmen.135 Das erste deutschsprachige 'Alexanderlied' verdankt seine Entstehung nicht zuletzt einer besonderen Affinität der antiken Geschichte zur mündlich tradierten Geschichte aus germanischer Vorzeit. Insofern wäre auch das Urteil von V O L L M A N N - P R O F E , die die Bedeutung der mündlichen Geschichtsüberlieferung bagatellisiert, zu modifizieren: „In der Begegnung mit der [sc. der schriftlich fixierten] Geschichte, insbesondere mit der Antike, beginnen weltlich-autonome Anschauungen sich zaghaft zu regen und darstellbar zu werden."136 Für den deutschsprachigen Bereich darf der Anteil mündlich-heroischer Geschichtsüberlieferung nicht ausgeblendet werden. Etwa ein Jahrhundert lang, mindestens seit dem 'Annolied', existierten zwei Ausprägungen von kulturellem Gedächtnis weitgehend unvermittelt nebeneinander: 1. das volkssprachige Heldenlied, das ein Wissen aus der Vergangenheit mündlich in einer narrativen Form weitergibt und jeweils für die Gegenwart aktualisiert, und 2. die schriftlich fixierte Geschichtserzählung aus klerikal-lateinischer Tradition. Lamprecht kombiniert beides in einer schriftliterarischen Form, er schafft ein literarisches Heldenepos, das mit den ihm eingeschriebenen, ganz spezifischen Normen dem Selbstbild des Feudaladels, der weitgehend noch in oraler Kultur wurzelte,137 einerseits entsprechen konnte, andererseits ein solches Selbstbild aber auch modifizieren konnte. D.h. der schriftliterarisch geformteText als eine 'Erinnerungsfigur' im Sinne A S S M A N N S konnte das Selbstbild dieses Feudaladels reflektieren, es weiterentwickeln und damit auch stabilisieren.138 Lamprechts Orientierung an mündlich-heroischer Tradition ist somit mehr als nur eine Anpassung an den Publikumsgeschmack. Darüber hinaus bedeutet Lamprechts Text in gewisser Weise auch eine Aufwertung der von den litterati in Mißkredit gebrachten Heldenlieder. Literarhistorisch gesehen, weist Lamprecht einerseits mit seinem neuen volkssprachig-profanen historiographischen Konzept in die Zukunft, ande134

135

Siehe dazu F. P. KNAPP, Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter, in: DVjs 54 (1980) 581 628, hier S. 585-588. Zur Exemplarität siehe KAISER [Anm. 12], S. 396, zum Vorbildcharakter des Herrscherbildes von V siehe Κοκοττ [Anm. 11], S. 126.

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VOLLMANN-PROFE [Anm. 87], S. 14; vgl. passim

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Das kulturelle Gedächtnis, das den Wissensvorrat einer Gruppe bewahrt, ist nicht per se an Schriftlichkeit gebunden. Siehe dazu ASSMANN [Anm. 13], S. 14. Ebd., S. 12 u. 15.

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ebd.

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rerseits stellt sein Werk eine interessante Zwischenstufe dar, die die Richtung auf die Literarisierung des Heldenliedes vorgibt. Im Hinblick auf die spätere Literarisierung des Heldenliedes ist eine Textstelle des 'Straßburger Alexander' bemerkenswert: Im Verlauf des Heerzuges gegen Darius zerstört Alexander die Holzbrücke über den Euphrat, über die er sein Heer nach Mesopotamien gefuhrt hatte (Straßburger Alexander Vv. 2642ff.). Diese Handlung hat eine deutliche Parallele, worauf bereits STROHSCHNEIDER und VÖGEL aufmerksam gemacht haben, in Hagens Zerstörung des Fährbootes nach dem Übersetzen der Burgunden über die Donau (Nibelungenlied 1581), und „ebenso offensichtlich [...] sind die Parallelen zwischen seiner [sc. Hagens] Rechtfertigung [Nibelungenlied 1583] und jenen Worten, in denen Alexander sein Tun begründet [Straßburger Alexander Vv. 2669-2674]."139 Da das Motiv der Zerstörung der Brücke sowie deren Begründung aus der lateinischen Quelle des 'Straßburger Alexander' stammen,140 liegt die Vermutung nahe, daß das 'heroische' Motiv vom 'Alexanderlied' in das 'Nibelungenlied' übernommen wurde. Von Lamprechts 'Alexanderlied', „the first work in German literature wholly devoted to a secular hero,"141 fuhrt, dem historiographischen Entwurf zufolge, kein direkter Weg zum Artusroman Chrestien-Hartmannscher Prägung. Das gilt m.E. in gleicher Weise für den 'Straßburger Alexander', auch wenn sich hier bereits ein höfisches Kulturmuster erkennen läßt,142 denn der prominente Autor des höfischen 'Eneasromans', Heinrich von Veldeke, bleibt - in der Nachfolge des 'Straßburger Alexander' 143 - gleichfalls einem historiographischen Konzept verpflichtet. 144 Und wenn der Orient mit seinen wundern auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der keltischen Märchenwelt des Artusromans aufweist,145 so bedurfte es dennoch - wie zuvor in der Romania durch die Erfindung Chrestiens - eines entscheidenden Schritts vom merveilleux der Antike zum merveilleux im Rahmen der

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Siehe P . STROHSCHNEIDER / H . VÖGEL, Flußübergänge. Zur Konzeption des 'Straßburger Alexander', in: ZfdA 118 (1989) 85-108, hier S. 99 (Zitat von ebenda). Vgl. Leos Text bei KLNZEL [Anm. 2], S. 200f., sowie bei PFISTER [Anm. 133], S. 85. D. H. GREEN, The Alexanderlied and the Emergence ofthe Romance, in: GLL 28 (1974/75) 246-262, hier S. 26. Anders STROHSCHNEIDER / VÖGEL [Anm. 1 3 9 ] , S . 9 8 : „Und es will uns scheinen, als ob unter anderem mit dieser Bearbeitung von Lamprechts Lied einer Aneignung der noch komplexeren Symbolstruktur des arthurischen Epos im deutschen Sprachraum der Weg gebahnt worden wäre." Zum höfischen Kulturmuster siehe HAUPT [Anm. 1 1 1 ] , zum Problem der Chronologie siehe HAUPT [Anm. 26], bes. S. 16. Zur Chronologie siehe W. SCHRÖDER, Art. Der Pfaffe Lamprecht, in: 2VL 5, Sp. 494-510, hier Sp. 5 0 8 ; siehe dazu H A U P T [Anm. 2 6 ] , bes. S. 2 5 . Siehe K. OPITZ, Geschichte im höfischen Roman. Historiographisches Erzählen im 'Eneas' Heinrichs von Veldeke, Heidelberg 1998, (GRM-Beiheflt 14). Siehe GREEN [Anm. 141], S. 2 5 8 . Siehe auch SZKLENAR [Anm. 16], S . 112.

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Barbara Haupt sinntragenden Doppelwegstruktur. 1 4 6 Von Lamprechts Werk über den 'Straßburger Alexander' aber fuhrt ein klarer Weg, wie ich an anderer Stelle darzulegen versucht habe, zum 'Herzog Ernst', d.h. wiederum zu einem Text mit historiographisch-heldenepischem Charakter. 147

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Zum merveilleux im französischen antikisierenden Roman und im Artusroman siehe E. FARAL, Recherches sur les sources latines des contes et romans courtois du moyen äge, Genf, Paris 1983 (Repr. Paris 1967), S. 305-383. Zum historiographischen Charakter des 'Herzog Ernst' siehe demnächst B. HAUPT, Von der bewaffneten Pilgerfahrt zur Entdeckungsreise. Die mittelhochdeutsche Dichtung von Herzog Ernst, in: Pilger und Pilgerreisen in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora), hg. von H. HECKER, Düsseldorf (in Druckvorbereitung). Anklänge im 'Herzog Ernst'Prolog an das 'Nibelungenlied', die ich inzwischen besser einschätze, hat U. MEVES, Studien zu König Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock (Orendel) (Europäische Hochschulschriften Reihe 1, 181), Frankfurt a.M., Bern 1976, S. 150, herausgestellt. Erst nach Fertigstellung des Manuskripts war mir die Dissertation von MACKERT zugänglich. C. MACKERT, Die Alexandergeschichte in der Version des 'Pfaffen' Lambrecht. Die frühmittelhochdeutsche Bearbeitung der Alexanderdichtung des Alberich von Bisinzo und die Anfange weltlicher Schriftepik in deutscher Sprache, München 1999, (Beihefte zu Poetica H. 23). Eine Auseinandersetzung mit dieser offenkundig sehr gehaltvollen Arbeit war nicht mehr möglich; ich hoffe, dies an anderer Stelle leisten zu können.

Das Gedächtnis des Sängers Zur Entstehung der Fassung *C des 'Nibelungenliedes'* v o n HARALD HAFERLAND

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Die Forschung und der Textbefund (S. 87) Die Entstehungssituation von *C (S. 95) Textüberlieferung und Fassungsbildung (S. 101) Das Vertauschen und Umstellen von Text (S. 107) Das Gedächtnis des Sängers (S. 114) Das fehlerhafte Neufassen von vergessenem Text (S. 122) Der oder die Sänger des 'Nibelungenliedes'? (S. 126) Erzählsituationen (S. 130)

I. Die Forschung und der Textbefund Es ist unbestreitbar, daß die Fassung *C des 'Nibelungenliedes' (anstelle von 'Fassung' werden auch 'Bearbeitung', 'Redaktion', 'Rezension' oder 'Version' gebraucht) eine deutliche konzeptionelle Bearbeitungstendenz aufweist und in diesem Sinn eine Neufassung durch den Dichter von *C darstellt. Hagen, der den meinrät zur Ermordung Siegfrieds initiiert hatte, kommt im zweiten Handlungsteil der Fassungen *A und *B mit seinem heldenhaften Trotz bemerkenswert gut davon, während Kriemhild, der doch Leid zugefügt wurde, mit ihrer Rache in einem überraschend negativen Licht erscheint. Dies rückt der Dichter von *C - soweit es denn durch kleinere Tilgungen und zusätzlichen Text noch möglich ist - zurecht. Wie konzeptionell er dabei vorgeht, wird dadurch deutlich, daß er weniger Bewertungen des Handelns häuft, als Hagen und Kriemhild zusätzliche Handlungsmotive gibt, die ihr Handeln in einem anderen Licht erscheinen lassen. Kriemhild wird z.B. entschuldigt, indem sie ausdrücklich darauf bedacht ist, ihre Rache nur auf Hagen zu beschränken (Str. C 1756, 1757, 1882, 1947, 2143), während diesem im Gegenteil daran liegt, u.a. durch sein provozierendes Verhalten die Burgunden und zuletzt noch Gunther in den Untergang hineinzuziehen (Str. C 1972, 2427).1 * Der Aufsatz wurde im Jahr 2000 abgechlossen. 1 Vgl. ausführlich W. HOFFMANN, Die Fassung *C des Nibelungenliedes und die 'Klage' (FS G. Weber), Bad Homburg 1967, S. 109-143, hier S. 121-131.

Harald Haferland

Kriemhild betrachtet der Dichter von *C überhaupt durch eine Weichzeichnerlinse. Den Streit mit Brünhild, den sie doch vom Zaum bricht, leitet er durch zwei Strophen ein, die die böswilligen Absichten Brünhilds herausstellen, so daß er als von Brünhild gewollt erscheinen muß (Str. C 821-822), und im folgenden wird plan- und verständnisvoll Kriemhilds Leid nuanciert. Nur um den Hort in seinen Besitz zu bringen, will Gunther die Versöhnung mit ihr (Str. C 1127), Hagen sucht den Hort für sich allein zu reservieren (Str. C 1153), und Kriemhild, für die Besitz nur noch zur 'Verausgabung' für Siegfrieds Seelenheil dient (Str. C 1159), trifft durch den Hortraub doppeltes Leid (Str. C 1160). Es gehört zum Wiedererzählen germanischer Heldensage um 1200, die Schuldfrage zu stellen, die die alte Heldensage noch nicht kannte,2 und deshalb setzt *C nur eine Tendenz fort, die bereits in *A und *B zu beobachten ist und die durchaus zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Umso deutlicher macht sich die unvermeidliche Einseitigkeit der Konzeption - und gerade darin auch die Konzeption - bemerkbar. Gemessen an ihr bleiben viele weitere Eingriffe des Dichters von *C in den Text mit Hilfe von Zusatzstrophen in ihrer Reichweite beschränkt oder gar deutlich punktuell.3 Es ist verständlich, wenn der Vergleich der Fassungen *B und *C gelegentlich auf die Zusatzstrophen von *C beschränkt wird, da man hier am ehesten von einer Fassung sprechen kann, die einer Absicht zur Veränderung des Textes unterliegt.4 Dabei fallen allerdings nicht nur die ca. 25 Fehlstrophen von *C gegenüber *B unter den Tisch,5 für die sich keine übergreifende Absicht mehr veranschlagen läßt, sondern auch eine erhebliche Anzahl neu formulierter Strophen wie Stellen. Wenn man für diese einen jeweils im engeren Kontext gebundenen neuen Aussageinhalt fordert oder auch eine Änderung der Formulierung, die über den Austausch oder das Hinzufügen oder Weglassen von Wörtern hinausgeht, dann handelt es sich neben den über 90 Zusatzstrophen - eine genaue Zahl anzugeben ist 2

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Der Heldensage ging es darum, die 'Logik' des Geschehens aus der unerbittlichen Folgerichtigkeit des Handelns abzuleiten. Dagegen ist Schuldzuweisung im 'Nibelungenlied' eine Form, der Beunruhigung durch das vorwärtsgerichtete Geschehen rückläufig Erklärungen anzubieten. Dies zeigt an einer Reihe von Fällen J.-D. MÜLLER, Spielregeln fur den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, vgl. S. 70f., 128f. und das Register auf S. 493. Vgl. F. G. GENTRY, Mort oder Untriuwel, Nibelungenliet und Nibelungennöt, in: Ergebnisse und Aufgaben der Germanistik am Ende des 20. Jahrhunderts (FS L. E. Schmidt), Hildesheim 1989, S. 302-316; J. FOURQUET, Zur Hs C des 'Nibelungenlieds': Der Bearbeiter am Werk, in: Sammlung - Deutung -Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit (FS W. Spiewok), hg. von D. BUSCHINGER, Amiens 1988, S. 119-134. Es handelt sich um die Strophen Β 24, 95, 513-518, 600, 698-699, 768, 825, 887, 10531054, 1060, 1140, 1252-1253, 1523, 1564, 1654, 1888, 2200, 2321. Weitere ausgefallene Strophen werden durch neu formulierte Strophen ersetzt, so daß es schwer ist, sich auf eine genaue Zahl festzulegen.

Das Gedächtnis des Sängers

schwierig, weil die Grenze zwischen Zusatzstrophe und neu formulierter Strophe in einigen Fällen schwer zu ziehen ist - um ungefähr 50 neu formulierte Strophen, 6 um mehr als 90 neu formulierte Verspaare 7 und um mehr als 100 neu formulierte Verse 8 - v o n den buchstäblich Tausenden von um- und neu formulierten Halbversen (da nahezu jede Strophe mehrfach betroffen ist) nicht zu sprechen. Die Eingriffe in den Text haben also einen ganz erheblichen Umfang, und so ist es verständlich, daß die Forschung immer schon bemüht war, eine Regelhaftigkeit hinter ihnen zu erkennen. Wer einen Text bearbeitet oder neu faßt, kann allerdings v o n Stelle zu Stelle einen neuen Anlaß sehen zu ändern, so daß eine solche Regelhaftigkeit für die Unterstellung absichtsvollen Änderns nicht zwingend erforderlich ist. Aber da man bei einigen Zusatzstrophen auf eine übergreifende Konzeption trifft, würde es dem Bild eines planenden Bearbeiters besser entsprechen, wenn sich hinter der einen oder anderen Gruppe von Änderungen jeweils auch eine übergreifende Regelhaftigkeit zu erkennen gäbe. Ich möchte im folgenden freilich bestreiten, daß es irgendeine Regelhaftigkeit oder gar einen übergeordneten Plan hinter den Änderungen gibt, aber nicht etwa, weil ich in einer Aleatorik der Variantenbildung ein Konstituens mittelalterlicher volkssprachlicher Textualität sähe, 9 sondern weil ich die in diesem Fall in der Tat zu beobachtende Aleatorik an einer nicht unbedingt zu erwartenden Stelle - im 6

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9

Neu formuliert werden Β 352; 390; 469; 530; 531-532; 534-535; 539; 541; 547; 661-662; 684; 690; 731; 743; 745; 755; 757-758; 776; 814; 1043; 1108; 1114; 1164; 1186; 1215; 1251; 1295; 1315; 1394; 1409; 1412; 1422; 1450; 1468; 1519; 1636; 1644; 1649; 1690; 1716; 1717; 1724; 1751; 1869; 1874-75; 1879; 1905; 1907; 1912; 2027; 2081; 2299; 2342. Neu formuliert werden Β 100,3-4; 193,3-4; 211,3-4; 248,1-2; 289,1-2; 311,3-4; 337,3-4; 379,3-4; 380,3-4; 421,1-2; 423,3-4; 425,3-4; 426,3-4; 459,3-4; 462,3-4; 484,3-4; 489,3-4; 492,1-2; 554,1-2; 559,3-4; 560,1-2; 571,1-2; 587,3-4; 592,3-4; 626,3-4; 679,3-4; 694,1-2; 700,1-2; 730,3-4; 735,1-2; 742,3-4; 748,3-4; 786,3-4; 824,3-4; 903,2-3; 911,3-4; 926,3-4; 979,3-4; 1015,3-4; 1059,3-4; 1091,3-4; 1118,1-2; 1142,3-4; 1191,3-4; 1194,3-4; 1221,1-2; 1223,3-4; 1227,3-4; 1251,3-4; 1262,3-4; 1288,3-4; 1290,3-4; 1291,1-2; 1301,3-4; 1396,1-2; 1429,3-4; 1454,3-4; 1484,1-2; 1486,1-2; 1500,3-4; 1517,1-2; 1532,1-2; 1559,1-2; 1619,1-2; 1641,3-4; 1643,3-4; 1708,3-4; 1725,3-4; 1736,3-4; 1865,3-4; 1872,1-2; 1873,1-2; 1889,1-2; 1896,1-2; 1935,1-2; 1943,3-4; 1973,3-4; 1980,3-4; 1990,3-4; 2029,3-4; 2031,1-2; 2077,1-2; 2083,3-4; 2101,3-4; 2103,3-4; 2123,3-4; 2180,3-4; 2201,1-2; 2292,3-4; 2361,3-4; 2366,3-4; 2372,3-4· 2379 3-4. Neu formuliert werden Β 23,2; 35,4; 48,2; 51,3; 54,4; 57,4; 67,2; 77,1; 105,4; 118,4; 140,4; 149,4; 159,4; 180,4; 186,4; 196,2; 207,4; 213,4; 247,3; 271,4; 285,4; 341,3; 346,4; 347,4; 353,4; 358,4; 374,4; 382,4; 386,4; 389,4; 436,4; 454,4; 457,3; 446,3; 476,3; 536,2; 545,4; 546,4; 568,4; 576,4; 588,4; 629,4; 636,4; 637,3; 717,4; 724,4; 744,4; 771,4; 779,4; 823,4; 824,4; 846,4; 875,4; 886,4; 932,4; 966,4; 973,4; 978,4; 986,4; 1111,4; 1138,4; 1149,4; 1162,4; 1170,4; 1172,4; 1196,4; 1232,4; 1283,4; 1357,4; 1362,3; 1393,1; 1418,4; 1484,1;1452,4; 1465,4; 1518,1; 1565,1; 1667,4; 1682,4; 1711,4; 1721,4; 1810,4; 1873,4; 1909,4; 1922,4; 1930,4; 1985,4; 2026,4; 2030,4; 2048,2; 2060,4; 2090,4; 2096,4; 2097,4; 2113,2; 2114,4; 2120,4; 2129,4; 2160,3; 2230,1; 2253,4; 2293,4; 2305,4; 2319,4; 2325,4; 2338,4. So im Anschluß an die neuere Diskussion J. BUMKE, Die vier Fassungen der 'Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Oberlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 42-60. Vgl. auch unten Kap. 8. 89

Harald Haferland

Kopf des Dichters von *C - verorten möchte. In diesem hat die Forschung immer schon jenen Plan zum Ändern entdeckt, aber auch - und dann vielleicht doch nicht nur im Kopf - eine eher planlose „lust am andersgestalten"10. Diese Komplementarität von Lust und Planmäßigkeit erweckt - als Erklärungsstrategie (sonst nicht) - Verdacht, und so wird sich herausstellen, daß beides gar nicht vorliegen dürfte. Der 'Kopf des Dichters' ist in einer anderen Weise gefragt. Man kann die Änderungen, je nachdem, wo sie sich ergeben, nach bestimmten Feldern systematisieren. B A R T S C H hat geglaubt, der Dichter von *C beseitige wie übrigens auch schon der von *B - Reimassonanzen, wie sie nach älterem Reimgebrauch des 12. Jahrhunderts zulässig waren." Abgesehen vom Reimgebrauch könnte man metrische, lexikalische, syntaktische, stilistische und sachlichinhaltliche Änderungen auseinanderhalten.12 H O F F M A N N hat von einer „metrischen Glättung der Vorlage" gesprochen, indem der Dichter nämlich besonders im letzten vierhebigen Abvers einer Strophe eine fehlende Senkung einfügte und so beschwerte Hebungen beseitigte. Demnach fugte er z.B. in Β 1358,4b (den er vil schiere gewän) ein Flickwort ein (C 1799,4b: den er vil schiere do gewän).13 Aber H O F F M A N N hat fast im gleichen Atemzug zugeben müssen, daß der Dichter die beschwerte Hebung trotz umgestalteter Halbverse oft auch beibehält, ja daß er sie öfter gegen die Vorlage überhaupt erst in den Text bringt.14 Auch in bezug auf Änderungen auf anderen Feldern könne deshalb „von einer kompromißlosen Tendenz der Umarbeitung keine Rede sein"15, und so dürfe man „die Konsequenz des mittelalterlichen Dichters nicht zu hoch veranschlagen"16 - eine angesichts der unterstellten Änderungsregel recht beunruhigende Auskunft. Nach P A N Z E R , der ältere Beobachtungen zum Wortschatz von *C resümiert, hat der Dichter „etwa das Wort helt 88 Mal durch andere Bezeichnungen {recke, degen, riter, herre) ersetzt, es selbst aber in sechs Fällen neu in den Text gebracht, er hat das Beiwort edele in etwa 60 Fällen beseitigt und selber ein dutzendmal statt anderer Adj. eingeführt. Er teilt darin aber nur die Haltung seines Zeitalters, dem 10

11 12

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Vgl. W. BRAUNE, Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes, in: Beiträge 25 (1900) 1-222, hier S. 128. Nach F. PANZER „ist manche Änderung, die er brachte, der bloßen Lust am Ändern überhaupt entsprungen, der Lust eines Mannes, der nicht mit Unrecht die Fähigkeit in sich fühlte, daß er auch etwas hervorzubringen vermöchte, das sich sehen lassen dürfte." Vgl. ders., Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt, Stuttgart 1955, S. 97.

K. BARTSCH, Untersuchungen über das Nibelungenlied, Wien 1865. Mit V. MICHELS, Zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes, Abh. d. Phil.-Hist. Kl. d. Sächs. Akad. d. Wiss. 39, Nr. 4, Leipzig 1928, S. 27ff„ 85ff. Ich werde im folgenden sehr summarisch verfahren und nur wenige Beispiele geben. HOFFMANN [ A n m . 1], S. 11 l f .

Ebd., S. 112f. Ebd., S. 113. Ebd.

Das Gedächtnis des Sängers

Folgerichtigkeit in solchen Dingen ein unbekannter Begriff ist."17 Möglich, daß eine Regel, gerade das Wort helt zu ersetzen, gar nicht bestand und daß der metrische Kontext öfter ein zweisilbiges (oder in bestimmten Kasus: dreisilbiges) Wort erforderte, wobei auch die Metrik nicht die letzte Ursache sein mußte, die die Änderung in Bewegung setzte. Dann bestünde kein Grund, dem Dichter Folgerichtigkeit abzuverlangen. Anhand von Beispielen syntaktischer und sachlich-inhaltlicher Änderungen hat 18 BRACKERT gezeigt, daß es Änderungen des Dichters von *C gibt, die „seinen gewohnten Tendenzen widersprechen"19 und die belegen, daß er - setzt man solche Bearbeitungstendenzen voraus - „seinen Bestrebungen zuwidergehandelt" hätte.20 Solchen Eingeständnissen und Einschränkungen entgeht man nur, wenn man die Erwartung preisgibt, auf übergreifende Bearbeitungstendenzen zu treffen. DROEGE etwa hat - wie vor ihm schon sehr viel ausfuhrlicher VON LlLlENCRON21 eine Anzahl von Änderungen relativ eng am Text besprochen und nur einmal keinen erkennbaren Grund für eine Änderung gesehen.22 Aber er kommt auch öfter der Tautologie, daß Änderungen sich daraus erklären, daß sie ändern, wie sie ändern, sehr nahe. Dies bedeutet beinahe so viel, wie zu der Feststellung zurückzukehren, daß *C Änderungen aufweist, ohne daß man weiß warum.23 Um einen ungefähren Eindruck vom Charakter der Änderungen zu geben, möchte ich einige Beispiele vorstellen, ohne sie gleich schon nach Bearbeitungstendenzen zu sortieren und mich an die genannten Felder zu halten. Sinnvoller ist es, sich an ihrem Umfang zu orientieren und sie als Änderungen von Halbversen, Versen, Verspaaren und Strophen zu beschreiben. Im Fall von Β 527,4 sifuoren von dem lande mit vil grözen vreuden sint24 ändert C 535,4 den Abvers zu v/7 harte vrcelichen sint.25 Dies ist ein Fall, wo die beschwerte Hebung wieder eingeführt wird, eine relevante inhaltliche Differenz ist nicht festzustellen. 17

PANZER [ A n m . 10], S. 97.

18

H. BRACKERT, Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes, Berlin 1963, S. 137145. Ebd., S. 139. Ebd., S. 140. R. VON LlLlENCRON, Lieber die Nibelungenhandschrift C. Sendschreiben an Herrn Geh. Hofrath Prof. Dr. Goettling in Jena, Weimar 1856. K. DROEGE, Die Fassung C des Nibelungenliedes, in: ZfdA 75 (1938) 89-103, hier S. 91. Für in der Forschung immer wieder angeführte Bearbeitungstendenzen - metrische Besserung, Vermehrung von Zäsurreimen, 'Verhöfischung' - sind die Belege so wenig signifikant, daß diese 'Tendenzen' nicht bestehen dürften. Vgl. hierzu auch BUMKE [Anm. 9], S. 538-540, der das Material noch einmal geprüft hat. Ich zitiere Β im folgenden nach: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von K. BARTSCH, hg. von H. DE BOOR. 21. revid. und von R. WISNIEWSKI erg. Aufl., Wiesbaden 1979. Ich zitiere C im folgenden nach: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. von U.

19 20 21

22 23

24 25

HENNIG, T ü b i n g e n 1977.

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Harald Haferland

In Β 382,1 An dem zwelften morgen, so wir hceren sagen formuliert C 390,1 den Anvers zu Inre tage zwelven um. Einige Umformulierungen mit Austausch des Reimworts fuhren zu einer anderen Aussage, ohne daß dies von weiterreichendem Interesse wäre: So wird Β 396,2 Sifrit der küene ein ros zöch uf den sant zu C 405,2 Sifrit der starke ein ros zöch an der hant. Einige Umformulierungen eines Halbverses greifen auf den folgenden Halbvers über: Β 405,1 Diu burc was entslozzen, vil wite uf getan wird zu C 414,1 Diu porte stuont entslozzen, diu burc uf getan und Β 381,3 [sifuoren...] mit eime guoten winde nider gegen dem se zu C 389,3 mit freuden si do körnen vol nider an den se. Änderungen dieses Umfangs gibt es zu Tausenden, und es scheint hoffnungslos, sie klassifizieren und sortieren zu wollen.26 Überschaubarer ist die Zahl (oben in Anm. 8 angeführter) neu formulierter oder ersetzter Verse. Kommt es hierbei zu einem anderen Reimwort, so muß dies noch keine veränderte Aussage nach sich ziehen. So wird Β 536,2 ich wil iz werben gerne durch die vil schcenen maget zu C 542,2 durch die vil minneclichen so wirt ez gar gesaget. Hagen empfiehlt, den durch den Saalbrand verursachten Durst mit dem Blut der Erschlagenen zu stillen - Β 2114,4 ez enmac an disen ziten et nu niht bezzer gesin. In C 2171,4 sagt er: für trinken und für spise kan niht anders nu gesin. Bei der Ankunft in Worms sagt Siegfried zu den ihm entgegenkommenden Leuten Gunthers: Β 77,1 Swem sin kunt diu mcere, der sol mich niht verdagen, / wä ich den künec vinde daz sol man mir sagen. In C 77,1 sagt er: Man sol ouch unser schilde ninder von uns tragen. / wä ich den künic vinde, kan mir daz iemen sagen? Diese Änderung ist inhaltlich relevant, denn Gunther hört alsbald von den guoten scilden (B 80,2; schcenen Schilden C 80,2), und sie unterstreichen von Beginn an Siegfrieds aggressiven Auftritt. Auch bei der Neuformulierung oder Ersetzung von Verspaaren (vgl. oben Anm. 7) werden manchmal im wesentlichen nur die Reimwörter ohne weitere Folgen ausgetauscht. Als Siegfried in seinem Tarnmantel zum Kampf gegen Brünhild antritt, hat er nach Β 337,3-4 zwelf manne Sterke zuo sin selbes lip. / er warp mit grözen listen daz vil herliche wip. In C 345,3-4 hat er zwelf ander manne sterke, als uns ist geseit. / er gewan mit grözen listen die viel herlichen meit. Oft aber wird durch die veränderten Reimwörter auch eine andere Aussage erzwungen. So heißt es in Β 679,3-4, als Siegfried Brünhild überwunden hat: er zöch ir ab der hende ein guldin vingerlin, / daz si des nie wart innen, diu vil edel künegin. In C 688,3-4 aber heißt es: er nam ir e ein vingerlin von golde wol getan. / daz wolde 26

Um einen Überblick über sie zu gewinnen, hält man sich am besten an die ursprüngliche Ausgabe von K. BARTSCH: Der Nibelunge not. Mit den Abweichungen von Der Nibelunge liet, den Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuche, Erster Teil, Leipzig

1870. 92

Das Gedächtnis des Sängers

got von himele, daz er daz hete verlän! Die Änderung im zweiten Vers des Verspaares ist mit der Einmischung des Dichters inhaltlich signifikant, aber es könnte ein Fehler sein, sie vom veränderten Inhalt her erklären zu wollen. Es scheint doch so, daß durch die vielleicht unwillkürliche Umformulierung des ersten Verses das Reimwort verloren gegangen ist, während der Inhalt hier noch getroffen wird. So entsteht aber ein Zwang, für den zweiten Vers ein neues Reimwort zu finden, was leichter gelingt, wenn man sich vom bisherigen Text ganz löst. Dabei geht die Information, daß Siegfried Brünhild den Ring unbemerkt vom Finger zieht, verloren - kein allzu großer Verlust, da auch der Kontext eine entsprechende Vermutung nahelegt. Eine solche Erklärung der Änderung führt zu gravierenden Konsequenzen, die ich noch ziehen werde. Denn wie sollte ein Reimwort verloren gehen, wenn der Dichter von *C sich doch sogleich in der Vorlage, die er zur Bearbeitung herangezogen hatte, Gewißheit über den Wortlaut verschaffen konnte? Während bei Verspaaren oft das zweite Verspaar einer Strophe von einer Änderung betroffen ist - bei Einzelversen besonders oft der letzte Vers einer Strophe, was B R A U N E S Annahme bestätigen könnte, daß es sich hier um Flickverse handelt, die „mit irgend welchem flickstoff ausgefüllt" sind27 - gerät gelegentlich auch das erste Verspaar aus den Fugen. So in Β 1889,1-2 Volker der vil snelle den bühurt wider reit, / daz wart sit maniger vrouwen vil groezliche leit, wo es in C 1933, 1-2 heißt: 'Ine mag es niht geläzen', sprach do Volker. / den buhurt reit er widere: mit volleclicher ger / [...]. Diese Änderung tritt nach dem Ausfall einer Strophe (B 1888) ein, in der Hagen nach der Aufforderung Gunthers (in Β 1887 = C 1932), die Hunnen mit dem Angriff beginnen zu lassen, sich zum Buhurt gesellt, um zu zeigen, daß auch die Burgunden zu reiten verstehen. Angesichts des Ausfalls dieser Strophe widerspricht Volker in C nun sehr unvermittelt Gunther, um sogleich mit volleclicher ger einen Hunnen niederzustechen. Die Stelle zeigt, daß Änderungen - hier zunächst der Ausfall einer Strophe - andere Änderungen - hier die direkte Rede Volkers, der sein eigenmächtiges Handeln begründen muß - nach sich ziehen. Es ist aber nicht zu erkennen, daß auf diese Weise eine stringentere Erzählfolge erreicht wird, eher erscheint die Eigenmächtigkeit Volkers, dessen Handeln hier von Hagen nicht gedeckt wird, irritierend und ungewöhnlich. Das könnte darauf deuten, daß die Strophe nicht ausgelassen, sondern vergessen worden oder verloren gegangen ist, so daß die folgende Strophe mit der nun angrenzenden vorhergehenden neu vernäht werden mußte. Bei neu formulierten Strophen, bei denen der neue Text über ein Verspaar hinausgreift, scheint es öfter so, als seien die Formulierungen eingeschmolzen und über demselben Inhalt unter Wahrung der einen oder anderen Wendung neu gebil27

BRAUNE [ A n m . 10], S. 146.

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Harald Haferland

det worden. Nach der Einladung der Burgunden durch Wärbel und Swemmel an Etzels Hof erbittet Gunther sich eine siebentägige Bedenkzeit zur Beratung mit seinen Leuten, in der die Boten in ihrer Herberge warten sollen. Dö sprach der künec Gunther: „über dise siben naht so künd' ich iu diu nuere, wes ich mich hän bedäht mit den minenjriunden die wile suit ir gän in iuwer herberge und suit vil guote ruowe hän" (B1450)

Dö sprach der künic Gunther: „nulät die rede stän undvartzeherbergen. ich wil iuch haeren län in disen siben nahten, wil ich in sin lant. swes ich mich berate, diu mcere tuon ich iu bekant." (C1478)

Durch die Umformulierung in C geht nichts verloren, es ist aber auch nichts gewonnen. Es sind zweifellos solche Stellen, die den Gedanken an eine bloße Lust am Ändern aufdrängen könnten. Wozu aber ein solcher Formulierungsaufwand, wenn er ohne jeden weitergehenden Gewinn abgeht? Zu erwarten wäre, daß die Lust, immer aufs neue Gleiches anders zu sagen, irgendwann auch einmal erlahmt, was aber nicht geschieht. So scheint es eher, daß die Prämissen der Erklärung hier falsch sind. Ein weiteres Beispiel: Rüdiger versucht, die Burgunden auf ihrer Fahrt zu Etzel für zwei Wochen in Bechelaren zu halten, um sie zu bewirten. Dabei muß er die Zweifel Dankwarts an seinen Vorräten ausräumen. Mine vil lieben herren, ir suit mir niht versagen. ja gäbe ich iuch die spise ze vierzehen tagen, mit allem dem gesinde, daz mit iu her ist kamen: mir hat der künec Etzel nochvitwenic iht genomen. (B1690)

Dö sprach der marcgräve: „diu rede ist äne not. ze vierzehen nehten win unde bröt gcebe ich iu volleclichen mit den, die ir hie hat. ir müezet hie beliben: des ist deheiner slahle rät." (C1729)

In C wird die Inquit-Formel benötigt, weil Rüdiger im Abvers von C 1728,4 - anders als im Abvers von Β 1689,4 - noch nicht zu sprechen begonnen hat. Dadurch und indem der Redebeginn aus Β 1689,4b (er sprach „ir suit die rede län") leicht verändert nachgetragen wird, gerät der Wortlaut ins Rutschen. Abgesehen davon, daß der letzte Vers mit 'Flickstoff ausgefüllt wird, weil ein neuer Reim bedient werden muß, ist das Wesentliche bewahrt geblieben. Ein letztes Beispiel: Zur Einleitung der 14. Aventiure wird die Szenerie bei einem kleinen Vesperturnier beschrieben. Vor einer vesperzite huop sich gröz ungemach. daz von manigen recken uf dem hove geschach. si pflügen ritterschefie durch kurzewile wan. dä Hefen dar durch schouwen vil manic wip unde man (Β 814)

Vor einer vesperzite man üfem hove sach ze rossen manigen recken, hiusir unde dach was allez vol durch schouwen von liuten überal. dö wären auch die frouwen zenvenstern kamen in den sal. (C 823)

Kleine Stücke des Texts von Β sind in C erhalten {üfem hove, durch schouwen), drumherum ist ein neuer Text gebaut. C ist anschaulicher, da man erfährt, wo die 94

Das Gedächtnis des Sängers

Leute sich zum Zuschauen versammeln. Dafür erfahrt man in Β genauer, was die Kämpfer zu Pferde tun und warum. Ob der eine oder der andere Informationsgehalt von größerer Bedeutung ist, ist nicht zu ermessen. Bei dem bis jetzt erkennbar gewordenen Charakter vieler Änderungen dürfte der Versuch, sie übergreifenden Bearbeitungstendenzen zu unterwerfen, als aussichtslos erscheinen, selbst wenn die Änderungen hier und da einmal Bedeutung fur den weiteren Erzählverlauf gewinnen. Ausgenommen sind die oben angesprochenen konzeptionell ausgerichteten Zusatzstrophen. Was dagegen an den zuletzt beobachteten Änderungen durchgängig auffällt, ist der Umstand, daß alle abgeänderten Formulierungen metrisch wieder 'ein-' oder 'aufgefangen' werden. Dies ist der Grund, weshalb man wohl von einem Dichter von *C sprechen muß, und es ist der Grund, weshalb man die Änderungen am besten unter Berücksichtigung des metrischen Korsetts vorstellt. Wie der Dichter gearbeitet haben könnte, bedarf ungeachtet des Umstands, daß es hierfür keine weiteren Zeugnisse gibt, der Überlegung und Veranschaulichung.

II. Die Entstehungssituation von *C Die Überlegungen zum Zustandekommen und zur Entstehungssituation der Fassung *C des 'Nibelungenliedes' sind weithin bei LACHMANNS Vorstellung von Schreibereingriffen und redaktionellen Umarbeitungen stehengeblieben 2 8 Schon LACHMANN kannte allerdings die Vermutung, daß vielleicht ein Teil der Änderungen „aus dem volksgesang [...] geflossen sei" 29 . Wie aber war das vorzustellen: Sollte jemand beim Vortrag mitstenographiert haben, oder erinnerte sich der Vortragende später und notierte seine eigene Vortragsfassung? Oder hielt er sie vor dem Vortrag fest, um sich dann an ihr zu orientieren? Angesichts des spekulativen Charakters solcher Fragen und möglicher Antworten scheint man bei der Annahme von Schreibereingriffen näher an den Fakten, denn daß es beim Abschreiben zu Eingriffen, ja zur Überarbeitung kommen kann, ist vielfach zu beobachten. Deshalb ist die Forschung eingeschwenkt auf die Vorstellung eines Redaktors, eines „glättenden Schreibers" oder „schreibenden Bearbeiters" 30 auch der Fassung *C des 'Nibelungenliedes', obwohl es zweifelhaft ist, ob man den Textbefund damit zureichend erklärt. Letztlich muß es sich aber 28

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Vgl. Der Nibelunge Noth und Die Klage. Nach der ältesten Überlieferung. Mit Bezeichnung des Unechten und mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, hg. von K. LACHMANN, Berlin'I960, S. X. Ebd. A. HEUSLER, Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos, Dortmund 61965, S. 51 und 110.

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bei allen Erklärungsversuchen „darum handeln, welche hypothese die abweichungen beider recensionen [von *B und *C, H.H.] am besten erklärt"31. Der Textbefund weist abgesehen von den gezielt gedichteten Zusatzstrophen angesichts der meisten um- und neu formulierten Strophen, Verspaare und Verse in Richtung einer charakteristischen Aleatorik der Textproduktion. Dies stimmt schlecht zu einem neueren Forschungsresümee, nach dem ,,[a]lle Bearbeitungen des 'Nibelungenliedes' [...] im Medium der Schrift auf der Basis von schriftlichen Vorlagen entstanden [sind]"32. Diese Unterstellung hängt andererseits systematisch mit der Annahme zusammen, der 'schreibende Bearbeiter' müsse mit mehr oder weniger klaren Vorsätzen an seine Arbeit herangegangen sein, und diese Annahme fuhrt - um es zu wiederholen - in Erklärungsnot. So wäre zu erwägen, ob die 'Bearbeitungen' des 'Nibelungenliedes' möglicherweise doch nicht im Medium der Schrift und auf der Basis von schriftlichen Vorlagen entstanden sind. Denn wie sollte solch ein schreibender Bearbeiter vorgegangen sein? Angesichts der frühen Handschriften A, B, C und Ζ und ihrer zu erschließenden Vorlagen33 ist davon auszugehen, daß seine Vorlage keine abgesetzten Verse, ja nicht einmal abgesetzte Strophen enthielt, und angesichts der Anlage der Handschrift C ist es wahrscheinlich, daß er selbst die Verse und Strophen auch nicht absetzte. Er schrieb also einen Text ab, dessen Metrik nicht visuell markiert oder hervorgehoben war, und er schrieb ihn auch ebenso unmarkiert wieder auf. Im Durchgang durch sein Kurzzeitgedächtnis mußte die Schriftgestalt in eine Lautgestalt transformiert werden, denn die Metrik ist kaum an einer Stelle zer- oder auch nur gestört. Las er sich also einzelne Verse vor, hörte sich in ihren Rhythmus ein und nahm dieses Hörmuster als Basis, um sich in der abzulesenden Wortfolge, deren Zeilenenden das Erkennen der Versgrenzen zusätzlich irritierten, zu orientieren? Es ist nicht ganz einfach, im durchgeschriebenen Text die Verse zu identifizieren, wenn man nicht schon mit einem Hörmuster liest, und es ist dann auch erklärungsbedürftig, warum der Bearbeiter sie nicht auch in ein Schriftbild mit abgesetzten Versen oder zumindest abgesetzten Strophen überführte, wie es zum größeren Teil in den späteren Handschriften geschah.

31 32

33

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H. PAUL, Zur Nibelungenfrage, in: Beiträge 3 (1876) 375-490, hier S. 391. J. HAUSTEIN, Siegfrieds Schuld, in: ZfdA 122 (1993) 373-387, hier S. 377. Vgl. zur besonderen Betonung der Schriftlichkeit des 'Nibelungenliedes' auch W. HAUG, Montage und Individualität im Nibelungenlied, in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 326-338, hier S. 337. Zu Α und Β vgl. BARTSCHS Hinweise in der Einleitung zu seiner Ausgabe [Anm. 26], bes. S. XVf. Zu Ζ vgl. H. MENHARDT, Nibelungenhandschrift Z, in: ZfdA 64 (1927) 211-235, hier bes. S. 217-219.

Das Gedächtnis des Sängers

Wenn nach H E U S L E R ein mittelalterlicher „Schreiber [...] ganze Zeilengruppen der Vorlage zu überlesen und aus der Erinnerung wiederzugeben [pflegte]"34, dann mußte der 'schreibende Bearbeiter' von *C ein Hörmuster parat haben, um eine Mehrzahl von Versen metrisch korrekt niederzuschreiben. H E U S L E R S Vermutung wird gestützt durch die u.a. aus dieser Praxis mittelalterlichen Abschreibens erklärbaren zahllosen klein- und kleinstformatigen, iterierenden Varianten in der Überlieferung mittelalterlicher Texte. Auch das Kurzzeitgedächtnis ist anfällig für das Vergessen, wenn die Wortmenge eine bestimmte Größe übersteigt, insbesondere wird es dann anfällig fur interferierendes Wortmaterial, das einem Schreiber aus welchen Gründen auch immer in den Kopf kommen konnte. So wären viele Ersetzungen von Wörtern und kleinen Wortgruppen zu erklären. Aber dies erklärt nicht den Zustand der Fassung *C. Wenn der schreibende Bearbeiter also ein Hörmuster haben mußte, so wird er zunächst und immer wieder laut gelesen haben, wie überhaupt das Lesen wie auch das Abschreiben im Mittelalter sich keineswegs immer schon ganz unhörbar vollzogen hat. 35 Anstelle eines inneren Wiederholens zur Speicherung im Kurzzeitgedächtnis wird er sein (halb)lautes Lesen als (halb)lautes Selbstdiktat wiederholt haben. Sein Hörmuster wurde dann durch eine konkrete Lautgestalt gefüllt, und nun war es nicht mehr ganz leicht, einmal hörbar und metrisch gebunden ausgesprochene Wörter wieder zu verlieren und durch interferierendes Wortmaterial zu ersetzen. Es ist der Effekt der Rhythmik und Metrik, daß sich einmal entsprechend ausgesprochene Wörter dem Gedächtnis stärker einprägen als eine unrhythmische und nicht metrische Wortfolge. Schon deshalb wäre es ungewöhnlich, etwa aus Β 78,3a bi den sinen helden einfach C 78,3a bi den sinen degenen zu machen, so daß man hier nach einer absichtsvollen Ersetzungsregel zu suchen beginnt, die es aber nicht gibt. Gibt man die Modellvorstellung eines schreibenden Bearbeiters preis, so bietet sich als konträre Alternative ein „Diktat aus der Mündlichkeit" an.36 B R A C K E R T hat im Anschluß an Überlegungen von A B E L I N G zusammensinterndes Sondergut für die Fassungsunterschiede des 'Nibelungenliedes' verantwortlich zu machen 34

35

36

A . HEUSLER, R e z e n s i o n v o n V . MICHELS: Z u r H a n d s c h r i f t e n k r i t i k d e s N i b e l u n g e n l i e d e s , in:

Deutsche Literaturzeitung 50 (1929) Sp. 16-20, hier Sp. 18. Nach Μ. M. TISCHLER, Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur, in: Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Use, hg. von H. GÜNTHER und O. LUDWIG, Berlin 1994 (HSK 10), 1. Halbbd., S. 536-554, hier S. 543, wird „zunächst laut [geschrieben], nach Diktat bzw. Selbstdiktat, später aber immer häufiger leise, wie es uns noch heute vertraut ist." So die Formulierung von H. FROMM, Der oder die Dichter des Nibelungenliedes? in: ders., Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 275-288, hier S. 278, wohl im Anschluß an M. CURSCHMANN, 'Spielmannsepik'. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907-1967, Stuttgart 1968, S. 104.

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versucht. 37 Nach ABELING ist das 'Nibelungenlied' „kein Leseepos wie die Werke Hartmanns und Wolframs, sondern eine Rhapsodie, die nicht gelesen, sondern vorgetragen sein will, natürlich auf Grund eines Textbuchs." 38 „Solch ein Textbuch läßt sich natürlich nicht vorlesen, es verlangt, daß es der Rhapsode auswendig kann, und dient seinem Vortrag lediglich als Stütze." 39 In vielen Vorträgen wurde der Text zersungen und neu formiert, 40 in jedem Vortrag mochte sich bereits die eine oder andere besondere Formulierung einstellen. Auf welche Weise hieraus eine Fassung entstanden sein soll, läßt ABELING dann offen. Sollten die neuen Formulierungen nicht mit den verschiedenen Vortragssituationen ein für alle Mal verklungen sein? Der oder die Sänger konnten ja immer wieder zu ihrer Gedächtnisstütze zurückkehren, wozu also einen geänderten Text niederschreiben? Und wie sollten verschiedene Sänger sich miteinander arrangieren, um ihr jeweiliges Sondergut zusammenzutragen? BRACKERTS Begriff des 'Zusammensinterns' gibt hier noch zusätzliche Rätsel auf: Wenn die Sänger sich nicht zu einem gemeinsamen Treffen zusammenfanden, um eine neue Sängervulgata zu vereinbaren - eine wohl abwegige Vorstellung - , in welchen vielstufigen Abschreibprozessen sollte dann ihr Sondergut zu einer Fassung zusammensintern? Oder hatte ein Redaktor vielleicht einige 'durchschossene' und korrigierte Textbücher zur Hand, um aus ihnen das Sondergut zu kompilieren? Ungeachtet solcher offenen Fragen scheint mir ABELINGS und BRACKERTS Modellvorstellung im Ansatz doch nicht ganz so abwegig. Denn sie haben nahezu als einzige den möglicherweise mündlichen Ursprung der Fassungen konsequent in Betracht gezogen. Und ABELINGS Ausgangspunkt - die Auswendigkeit des 'Nibelungenliedes' - möchte auch ich zum Ausgangspunkt für alle folgenden Überlegungen nehmen. 41 Nach der Auswertung einer ganzen Reihe von Textzeugnissen ist HEINZLE für den Vortrag mittelhochdeutscher Dietrichepik zu einer Schlußfolgerung gelangt, 37 38

39 40 41

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BRACKERT [Anm. 1 8 ] , S . 167ff. T . ABELING, Zu den Nibelungen.

Beiträge und Materialien, hg. von M . ORTNER / T H . ABELING, Leipzig 1920, (Teutonia 17. Heft), S. 160. Ebd. Ebd., S. 161. Nach ABELING hat u.a. MASSER einen „fallweisen Vortrag aus dem Gedächtnis" in Betracht gezogen, dessen Spielraum in der Produktion von Abweichungen er aber auf das Hinzufugen von Alternativstrophen und das Weglassen von Strophen beschränkt. Vgl. ders., Von Alternativstrophen und Vortragsvarianten im Nibelungenlied, in: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied, unter Mitarbeit von I. ALBRECHT hg. von A. MASSER, Dornbirn 1981, S. 299-311. Zu einer weitergehenden Auseinandersetzung mit der Forschung zum mündlichen Vortrag vgl. auch H. HAFERLAND, Der auswendige Vortrag. Überlegungen zur Mündlichkeit des 'Nibelungenliedes', in: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von L . LIEB / S. MÜLLER, Berlin 2002, S. 245-282.

Das Gedächtnis des Sängers

die A B E L I N G S Vorstellung auswendig vortragender Sänger als durchaus nicht unwahrscheinlich einzustufen erlaubt: Die Zeugnisse erlauben also - mit aller Vorsicht - den Schluß, daß unsere Texte (auch) durch (ambulante) Berufsrezitatoren verbreitet wurden und daß diese sich nicht in jedem Fall schriftlicher Aufzeichnungen beim Vortrag bedienen konnten. Auf dieser Erkenntnis läßt sich eine Reihe von Überlegungen aufbauen, die die extreme Fluktuation der Überlieferung unserer Texte - von der Häufung 'analoger' Einzellesarten bis zu tiefergreifenden Unterschieden in den Erzählinhalten - besser zu verstehen helfen. 42

Schon S C H R Ö D E R hatte den Überlieferungsbefund der freilich anders gearteten Märendichtung bereits einmal als „niederschrift aus dem gedächtnis" zu erklären versucht43, und M I H M hat dieses Vorgehen aus dem freien Sprechvortrag der Verbreiter von Märendichtung abgeleitet 44 Folgende Modellvorstellung fur die Entstehungssituation der Fassung *C scheint mir deshalb als Hypothese vertretbar: Ein wiederholt vortragender Sänger, der das 'Nibelungenlied' in der Fassung *B weitgehend auswendig beherrschte, diktierte sich oder - wahrscheinlicher - einem Schreiber den Text aus dem Gedächtnis 45 Natürlich liegt die Frage auf der Hand, warum er das tat. Die konzeptionell ausgerichteten Zusatzstrophen hätte er auch einbringen können, wenn er sich sonst an (s)ein 'Textbuch' hielt. Nun ist aber solch ein Vorgehen nicht unbedingt einfacher und selbstverständlicher, wenn man den Text doch auswendig beherrscht und schon oft genug auswendig vorgetragen hat. Das Ablesen bedeutet dann im Gegenteil keineswegs eine Erleichterung, sondern es stört und hindert, da man den geschriebenen Text beim Diktat zu rhythmischem Leben erwecken muß, während man einen rhythmisch lebenden Text doch bereits im Kopf hat. Der Sänger hätte also die Entstehungssituation von *C einer Vortragssituation, wie sie ihm vertraut war, gleichgestellt. Freilich wird er mehr Zeit für die Textproduktion gehabt haben, so daß ein verstärktes monitoring zum Zuge kommen konnte. Wenn er zu der 42 43

44 45

J. HEINZLE, Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, München 1978, S. 90. Vgl. Konrad von Würzburg, Kleinere Dichtungen. I. Der Welt Lohn - Das Herzmaere Heinrich von Kempten, hg. von E. SCHRÖDER, Dublin l01970, S. X. A. MIHM, Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter, Heidelberg 1967, (Germ. Bibl. 3. Reihe), S. 87. Vgl. auch HEINZLE [Anm. 42], S. 79-82. Daß Autoren, auch Dichter, ihre Werke diktieren, anstatt sie selbst niederzuschreiben, dürfte im Mittelalter nicht wie heute die Ausnahme, sondern den Normalfall darstellen. Eine entsprechende Diktatsituation bemüht auch der Dichter der 'Nibelungenklage', V. 17-24, für die erste Aufzeichnung des Nibelungenstoffs, möglicherweise sogar - der Wortlaut ist hier nicht eindeutig - fur die Aufzeichnung des 'Nibelungenliedes' selbst. Zum diktierenden Autor im Mittelalter vgl. auch die Hinweise bei 0 . LUDWIG, Vom diktierenden zum schreibenden Autor. Die Transformation der Schreibpraxis im Übergang zur Neuzeit, in: Schreiben im Umbruch. Schreibforschung und schulisches Schreiben, hg. von H. FEILKE / P. R. PORTMANN, Stuttgart 1996, S. 16-28.

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besonderen Gelegenheit auch die Zusatzstrophen zum ersten Mal dichtete, so wurde dies zweifellos durch die ihm zur Verfugung stehende Zeit ermöglicht. Auch wird er sich auf die für ihn umständliche, weil ein immer wieder neues Einhalten erfordernde, Aufzeichnung vorbereitet haben. Natürlich kann Zeit auch zu einem Hinderungsfaktor werden, wenn sie den Sprechfluß so sehr verlangsamen läßt, daß er stockt. Aber durch Konzentration auf eine Strophe läßt sich dieser Effekt minimieren. So werden denn auch fast alle Änderungen von vorhandenem Text am Strophenende aufgehalten und abgefangen, und das erste Verspaar unterliegt sehr viel seltener einer Änderung als das zweite. Dies wird auch damit zusammenhängen, daß bei allen Liedern der Strophenbeginn leichter behalten wird als das Strophenende. Im 'Nibelungenlied' wird durch den Strophenbeginn die Handlung fortgetragen, das Strophenende ist öfter mit ersetzbarem Füllmaterial ausgestopft. So stellen z.B. die Vorausdeutungen nicht nur einen charakteristischen, eher Mündlichkeit als Schriftlichkeit kennzeichnenden Erzählstil dar, 46 sondern verdanken sich wohl von vornherein auch einer Vortragstechnik, die bei Textlücken nach Belieben zu diesem mnemonisch wohlfeilen Mittel greifen konnte, vergessenen Text zu ersetzen. Auch wenn das Reimwort und die konkrete Formulierung jeweils noch gefunden werden mußten, stellen Vorausdeutungen doch ein stereotypes Modul dar, das leicht wiederholt werden konnte. Änderungen vorhandenen Wortlauts, die über die Halbversgrenze hinausreichen und zur deutlichen Um- oder Neuformulierung eines oder mehrerer Verse führen, sind ungeachtet ihrer Häufigkeit doch wiederum nicht so häufig, daß sie den Charakter des Gesamtwerks wesentlich beeinflussen würden. Sie scheinen sämtlich beiläufig zustandezukommen, als würde der Sänger seinen Text einfach neu sprechen oder singen und dabei alten, in seiner Erinnerung verblaßten Wortlaut unwillkürlich überdecken. So scheinen es weniger Änderungen als einfach Abweichungen zu sein, die sich auf der Ebene von metrisch kontrollierten oder eingepaßten Formulierungen im Zuge des Sprech- oder Gesangsvortrags ergeben. Die Forschung spricht für solche Fälle von analogen (HEINZLE) oder gleichwertigen Varianten, weil man fast nie entscheiden kann, ob sie den Erzählinhalt und -verlauf besser vermitteln oder ob sie in irgendeinem anderen Sinne 'besser' sind als der ersetzte Text. Teilt man BRACKERTS Einschätzung, daß sie den gleichen Anspruch auf Originalität erheben können, 47 so könnte man sie auch 'gleichur46

Vgl. U. WYSS, Zum letzten Mal: Die Teutsche Ilias, in: Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum, hg. von K. ZATLOUKAL, Wien 1990, S. 157-179, hier S. 172: „Gerade weil der epische Prozeß nicht in der Schrift vergegenständlicht vorliegt, wird er von Zeit zu Zeit in Erinnerung gerufen. Wer hin- und herblättern kann, bedarf der Vorausdeutungen nicht."

47

V g l . z . B . BRACKERT [ A n m . 18], S. 144; BUMKE [ A n m . 9], S. 4 2 - 5 3 u.ö.

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Das Gedächtnis des Sängers

sprünglich' nennen. Und angesichts der Tatsache, daß ein Motiv für eine Änderung kaum je zu entdecken ist, so daß allein anhand des Wortlauts nicht einmal zu entscheiden ist, in welchem Text die Abweichung welchem Text gegenüber eingetreten ist, kann man von aleatorischen Abweichungen sprechen. Der aleatorische Charakter der Abweichungen stellt das stärkste Argument gegen die Annahme eines schreibenden Bearbeiters und Redaktors der Fassung *C dar. Denn andernfalls müßte diesem aus Verlegenheit wie schon z.B. bei BRAUNE und PANZER eine bloße Lust an der Produktion von Abweichungen unterstellt werden. Tatsächlich dürfte die Entstehungssituation aber anders ausgesehen haben, als die Forschung sie sich immer vorgestellt hat. Im übernächsten Kapitel möchte ich anhand einiger Beispiele auf zwei verwandte Typen aleatorischer Abweichungen zu sprechen kommen, die m.E. das stärkste Indiz für die hier vorgeschlagene hypothetische Entstehungssituation darstellen.

III. Textüberlieferung und Fassungsbildung Ich habe bisher suggeriert, die Änderungen von C seien Änderungen (besser: Abweichungen) der Fassung *C, die gegenüber dem Text von Β als getreuer Wiedergabe der Fassung *B eingetreten seien. Und zwar so, daß *B die Ausgangsfassung für *C dargestellt hätte. Davon werde ich auch weiterhin ausgehen, aber es ist eine etwas waghalsige Konstruktion über einigen Unbekannten. Denn zwischen *C und C kann im Zuge der Textüberlieferung einiges passiert sein, ebenso zwischen *B und B, und der Dichter von *C wird die Fassung *B nicht aus der Luft aufgesogen, sondern könnte sie von einer Handschrift abgelesen (besser: abgelernt) haben, so daß er sie möglicherweise nicht im Reinzustand aufnahm. Außerdem ist nicht ausgemacht, ob es überhaupt die Fassung *B war, von der er ausging. Zu viele Probleme, um hier mit Akribie behoben werden zu können, aber einige Positionen lassen sich doch skizzieren und einige Klärungsversuche vornehmen. Es gehört zum Sündenregister der 'LACHMANN-Philologie', daß sie zwischen einer handschriftenstemmatologischen und in diesem Kontext textkritischen Argumentation und einer fassungsgenealogischen Argumentation nicht klar unterschieden hat, obwohl doch schon LACHMANN die Fassungen des 'Nibelungenliedes' klar auseinanderzuhalten wußte. So hat sie ein und dieselbe Terminologie (z.B. 'Lesart', 'Fehler' usw.) auf in Handschriften überlieferte Texte und auf Fassungen (die leider auch immer nur in Handschriften begegnen) angewendet - ein Fehler, der selbst bei BRACKERT noch durchweg zu beobachten ist, wobei dieser am meisten zu der Einsicht beigetragen hat, daß man textkritisch nicht an Fassun101

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gen heran-, noch gar über sie hinauskommt. Diese Einsicht war gegen BRAUNE gerichtet, der davon ausging, daß „es für die entstehung mittelalterlicher hss. als die regel betrachtet werden darf, dass die eine aus der anderen einfach abgeschrieben worden ist"48, und der deshalb glaubte, die Überlieferung unter hypothetischer Substituierung nötiger Zwischenglieder rekonstruieren zu können, wobei er die Fassungen tendenziell als Abschriften behandelte. Was zunächst für BRAUNE spricht, ist der Tatbestand, daß Α, Β und C Handschriften sind, die tatsächlich aus anderen Handschriften abgeschrieben wurden. Dasselbe gilt aber vergleichbar nicht für Fassungen. Es läßt sich nun nicht immer klar entwirren, was dem Prozeß eines vielleicht durchaus selbständig agierenden Abschreibens angehört und was als Neudichten mit Abschreiben nichts mehr zu tun hat. Wo aber hört das produktive Abschreiben auf und wo beginnt die Fassung? Verwirrend wird die Sache noch dadurch, daß ein und dieselbe Form graphischer Darstellung für Handschriftenstammbäume und für die Herleitung von Fassungen verwendet werden kann. Zwar ist für das Herstellen von Fassungen ein anderer Aufwand erforderlich als für das Abschreiben von Texten, beide Arten von 'Arbeitsgängen' setzen aber Texte und Textvorlagen voraus, von denen sie sich abhängig machen, und werden deshalb auch - hat man nur genügend Anhaltspunkte - von demselben Typ von Deszendenzgraphiken erfaßt. Im Fall des 'Nibelungenliedes' geht beides durcheinander. Fassungen sind möglicherweise von geschriebenen Vorlagen abhängig und werden selbst wieder abgeschrieben, Textüberlieferung und Fassungsbildung scheinen sich zu durchdringen, und so ist es verständlich, daß Handschriftenfiliation und Fassungsgenealogie nicht immer klar auseinandergehalten wurden. Dies ist auch ein Sachproblem und nicht nur eine Konfusion in der philologischen Methode. Oft heißt es, die Fassung *C, vertreten durch die Handschrift C, habe gegenüber den Fassungen *A und *B oder *AB, vertreten durch die Handschriften A und B, den 'ursprünglichen' 49 oder 'guten und alten' 50 Text, wobei nicht immer ganz klar ist, was solche Qualifikationen genau bedeuten. Insbesondere was die Genealogie der Fassungen anbetrifft, sind sie nicht immer gleich beweiskräftig.51 Ein kleines Beispiel: Man kann mit guten Gründen vermuten, daß die Lesart - um eine solche handelt es sich hier wohl - mit lachendem munde (C 1189,4; vgl. A 1106,4 und Β 1166,4: mit lachendem muote) sog. ursprünglichen Text bietet. 48

BRAUNE [ A n m . 1 0 ] , S . 3 .

49

Vgl. z.B. J. HEINZLE, Das Nibelungenlied. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 1994, S. 59. Vgl. z.B. U. HENNIG in der Einleitung zu ihrer Ausgabe [Anm. 25], S. IX. Sie bezieht die Formulierung auf die Lesarten der Handschrift C. Dies nimmt z.B. HEINZLE an.

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51

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Das Gedächtnis des Sängers

Denn es wäre ungewöhnlich, mit dem muot zu lachen, und es ist insbesondere angesichts des Vorkommens der Formulierung mit lachendem munde auch in Β (z.B. Β 1646,1) wahrscheinlicher, daß munde zu muote verlesen worden ist. Eben deshalb gehört aber muote sicherlich nur den Handschriften Α und Β an und nicht den Fassungen *A und *B, deren Dichter(n) man keine so ausgefallene Formulierungsabsicht unterstellen wird. Deshalb ist auch durch diese Art von ursprünglichem Text - zu der die vieldiskutierte Stelle in den peyen (C 270,1; vgl. A 268,1 und Β 269,1: in den betten)52 gehören dürfte - nichts über die Fassungen und ihre Stellung zueinander ausgesagt.53 Dies ist möglicherweise anders an einigen Stellen, an denen der Text von *C sich deutlich von einem sachlich falschen oder nicht haltbaren Text abhebt. Als Hagen den Mord an Siegfried in die Wege leiten will, schlägt er vor, zu einer Jagd auszureiten: C 919,2-3 so wil ich jagen riten von Wormez über den Rin, / und wil kurzewile zem Otenwalde hän (vgl. Β 911,2-3: so wil ich jagen riten bern unde swin / hin zem Waskenwalde, als ich v/7 dicke hän getän; A 854,3 hat gleichfalls Waskem walde). Hier ist Otenwalde im Vergleich zu Waskenwalde geographisch 'richtig': Vom Hof Gunthers in die Vogesen ist es ca. fünfmal so weit wie über den Rhein in den Odenwald - viel zu weit für einen Jagdausflug. Also wird - so hat man immer geschlossen - das sachlich Richtige im Urtext gestanden haben, und wenn die Fassung *C nicht den anderen vorausgeht, so hat sie hier 'ursprünglichen' oder 'echten' Wortlaut bewahrt.54 Das ist offenkundig ein Fehlschluß. Es wäre zwar in der Tat höchst merkwürdig, wenn der Dichter von *C hier aus eigener Machtvollkommenheit und mit ganz erstaunlichen geographischen Kenntnissen in die schiefen Angaben zu den Örtlichkeiten eingegriffen hätte, aber genauso scheint es sich zu verhalten. Denn das Richtige ist nur dann das Ursprüngliche, wenn man an Textüberlieferung durch Abschreiben denkt. Dabei kann es immer nur zur Verschlechterung des Textes kommen, wenn das Abschreiben mechanisch

52

53

54

Vgl. z.B. F. ZARNCKE, Beiträge zur Erklärung und Geschichte des Nibelungenliedes, in: Verh. der K. S. Gesellsch. d. Wiss. zu Leipzig, phil.-hist. Classe 8, Leipzig 1857, S. 153266, hier S. 153-155; W. KROGMANN, Der Dichter des Nibelungenliedes, Berlin 1962, S. 15-20. Weitere Fälle könnten C 2034,1 (der voget von Berne, statt Β 1981,1 der vogt von Rine, das sich nach dem Vorgang von z.B. Β 1431,1 wohl versehentlich in den Text gedrängt hat, da an der Stelle nicht Gunther, sondern Dietrich gemeint ist) und vielleicht auch C 1637,3 [vil ungefüegiu ser, statt Β 1597.3 v/7 ungefüegiu her (in BARTSCHS Ausgabe emendiert!)] darstellen. Vgl. dazu auch KROGMANN [Anm. 52], S. 13-15, der weitere Beispiele bringt, ohne dabei die Differenz von Fassungsbildung und Handschriftenüberlieferung in Erwägung zu ziehen. Immerhin ist es sehr auffallig, daß Α und Β hier die Fehler teilen, so daß C in der Tat eine richtige Lesart bieten dürfte - was aber nicht gleich etwas für die Fassung *C besagt. Vgl. z.B. W. KROGMANN, Zur Textkritik des Nibelungenliedes, in: ZfdA 87 (1956/57) 275294, hier S. 278f.

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erfolgt. Erfolgt es nicht mechanisch, so mögen beliebige Assoziationen der Schreiber hereinspielen, die aber schwerlich zufällig das Richtige treffen werden. Hier liegt allerdings ein anderer Fall vor: Zunächst indizieren die abweichenden Formulierungen von *B und *C, daß man sich auf der Ebene der Fassungen befindet. Dann sind aber Otenwalde oder Waskenwalde nicht einfach nur Lesarten, sondern sie sind eingebunden in neuen Text. Wäre *C oder der Text an dieser Stelle in C ursprünglich, so hätte nicht nur ein Schreiber Otenwalde zu Waskenwalde verschlechtert, sondern der Dichter von *B hätte sich die Mühe gemacht, einen neuen Satz mit dem neuen Reimwort swin zu bilden. Eine solche Mühe mag man sich gewiß eher zur Verbesserung des Textes vorstellen als zu seiner Verschlechterung. So ist denn gerade dies - das Gegenteil der gängigen Forschungsmeinung 55 - wahrscheinlich: Ursprünglich war der sachlich nicht haltbare Text von *B, während der verbesserte Text von *C eine Korrektur an diesem bereits vorhandenen Text darstellt. Der Grund, daß man dies nicht erkannt hat, war die voreilige und allzu selbstverständliche Identifizierung von Fassungsbildung mit Textüberlieferung. Wenn man die skizzierte Argumentation auf andere Fälle von vermeintlich 'ursprünglichem' Text in *C überträgt,56 muß es solchen Text nicht gegeben haben, jedenfalls nicht unbedingt in *C. Sachlich richtiger Text ist nicht ursprünglicher Text, und als richtig vermutete Lesarten sind ursprünglich nur relativ zu einzelnen Fassungen, ohne daß sie erlauben, die Fassungen ihrerseits noch in Relation zueinander zu setzen.57 Die Unterscheidung aber zwischen einer Lesart, wie sie im Zuge von Textüberlieferung zustande kommt, und neuem Text bzw. einer Neuformulierung, wie er/sie eine Fassung kennzeichnet - eine Unterscheidung, die den Unterschied zwischen Abschrift und Fassung im jeweiligen Fall eines Gesamtwerks schon voraussetzen kann - wird am einzelnen Beispiel nicht oft strittig sein. Ist sie es aber, so hilft keine Definition, den Streit zu schlichten, da hier jede Definition in die Zirkularität fuhrt. Für die Fassungen *B und *C des 'Nibelungenliedes' sind alle theoretisch möglichen Abhängigkeiten tatsächlich auch vertreten worden:

55

Vgl. z.B. auch BUMKE [Anm. 9], S. 567.

56

Auf Β 1332,3 und 1336,1 (Zeizenmüre statt Treisenmüre in C 1359,3 und 1363,1). Vgl. die umsichtige Diskussion bei BUMKE [Anm. 9], S. 568-572, der beide Namen für 'richtig' bzw. ursprünglich möglich hält. Richtig bleibt aber wohl, daß C dort, wo in Α und Β Abschreibfehler eingetreten sind, in der Tat 'ursprünglichen' und 'guten und alten' Text bieten kann, der dann allerdings ursprünglich auch der Text der Fassungen *A und *B gewesen sein muß.

57

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Das Gedächtnis des Sängers

*B

*C

*C

*B

*X



*C

Daß *C z.B. mehr Strophen als *B besitzt, muß nicht heißen, daß *B *C vorausgeht. Denn *B könnte ja gekürzt haben. 58 Interessanter sind da schon die Strophen, die in *C gegenüber *B fehlen. Hier ist zu beobachten, daß der Text der in *C dadurch aneinander angrenzenden Strophen an der Nahtstelle öfter geändert ist, und zwar entweder in der Anschlußstrophe 59 oder auch in der vorangehenden Strophe. 60 Das ist, wenn man in der gleichen Richtung auf *B schaut, dort, wo *B gegenüber *C Fehlstrophen hat, nicht vergleichbar der Fall. Dies spricht aber dafür, daß die Änderungen Nähte sind, die den Ausfall reparieren, während die zunächst versuchsweise als von *B gekürzte 'Fehlstrophen in *B' gedachten Strophen naturgemäß keine Reparaturen herbeifuhren, da es einfach Zusatzstrophen von *C sind, die oft ohne die Notwendigkeit von Reparaturen im umgebenden Text hinzugefugt wurden. Es gibt allerdings bekannte, gewichtigere Gründe, *C nicht *B vorzuschalten die eindeutigere Verteilung der Schuld 61 - , auf die ich in Kap. 7 noch einmal zurückkomme. Noch nicht entschieden ist damit aber die Frage, ob nicht vielleicht *B und *C unabhängig voneinander auf eine verlorene Fassung *X zurückgehen. Diese Ansicht hat neuerdings wieder BUMKE vertreten: Die *C-Bearbeitung des 'Nibelungenliedes' trägt alle Merkmale einer Fassung. Es ist nicht gelungen, mit den Methoden der Textkritik den sekundären Charakter dieser Version nachzuweisen. Wilhelm Braune hat das versucht (wie schon vor ihm Müllenhoff und Bartsch); aber seine These, daß die *C-Bearbeitung nach einer *BVorlage gearbeitet sei, findet heute kaum noch Zustimmung. 62

Ich denke nicht, daß 'BRAUNES These', die ja keine These ist, die mit seiner philologischen Methode steht und fällt, heute kaum noch Zustimmung findet.63 BRACKERTS BRAUNE-Kritik hat zwar zeigen können, daß man unter Voraussetzung 58

59

60 61

Nach F. ZARNCKE, Zur Nibelungenfrage. Ein Vortrag, Leipzig 1854, und A. HOLTZMANN, Untersuchungen über das Nibelungenlied, Stuttgart 1854, enthält die Handschrift C die ursprünglichere Fassung. Ein solcher Fall (C 1933,1-2) ist oben bereits angesprochen worden. Vgl. sonst C 668,1; 707,1-2; 1065,1; 1276,1; 1600,1-2. Zu überschauen ist dies am besten anhand der Ausgabe von M. BATTS, Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften Α, Β und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften, Tübingen 1971 (hier liegt allerdings eine veränderte Strophenzählung vor!). Vgl. C 528.1; 594,4; 833,4; 894,4; 1275; 1918,4. Vgl. BUMKE [Anm. 9], S. 531-535.

62

BUMKE [ A n m . 9 ] , S . 4 6 .

63

Vgl. z.B. W. HOFFMANN, Das Nibelungenlied, Stuttgart 1992, S. 86.

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eines textkritisch erstellten Handschriftenstemmas nicht über die Uneigenständigkeit von Fassungen entscheiden kann, nicht aber, daß die Eigenständigkeit von *C bedeutet, *C sei unabhängig von *B. 64 Der Fehler in BUMKES Äußerung steckt im Detail: Was heißt 'sekundär'? *C kann ja ungeachtet einer Abhängigkeit von *B durchaus einen eigenständigen Text bieten und bieten wollen. Dieser wäre dann zugleich sekundär und originär, wie denn eine Fassung immer zugleich sekundär und originär ist. Daß *C nun eine Fassung ist, bedeutet in keiner Weise eine Vorentscheidung über deren (Un)abhängigkeit von *B. Auch der von BUMKE verwendete und bei BRACKERT schon angelegte Begriff einer 'gleichwertigen Parallelfassung' könnte bei einem bestimmten Verständnis der Teilbegriffe 'gleichwertig' und 'parallel' zu dem Fehlschluß anleiten oder zu dem Mißverständnis verführen, solche Fassungen könnten oder dürften nicht abhängig voneinander sein. Versteht man den Begriff so, dann ist er auf die Fassungen des 'Nibelungenliedes' nicht anwendbar, implizierte er doch eine rein begriffliche Vorentscheidung über das Verhältnis der Fassungen zueinander. Es ist nun gewiß nicht zu beweisen, daß *C von *B abhängig ist, aber wer dies nicht annimmt, müßte darlegen, welchen Sinn es hat, eine von *B unabhängige Vorlagenfassung anzusetzen, wenn doch *C mit Ausnahme von Strophe Β 518 alle 61 Zusatzstrophen, die *B gegenüber *A hat, sowie weiteren Text mit *B gegen *A teilt. BARTSCH hat dies dargelegt und diese Fassung über seine Assonanzentheorie auf etwas abenteuerliche Weise zu rekonstruieren versucht. Wer dies nicht mitmachen will, müßte einen anderen Weg finden. Mir erscheint es als recht unwahrscheinlich, daß dieser über sog. ursprünglichen Text von *C fuhren kann. Natürlich kann er auch nicht über gleichwertigen Text fuhren, denn dies bedeutet nur, daß ein Dichter - wie schon gesagt - noch einmal mit eigenem Anspruch gedichtet hat, welche Ausgangsfassung er auch immer kannte. Niemand kann ausschließen, daß der Dichter von *C tatsächlich eine andere Ausgangsfassung kannte als *B, aber diese wird - gemessen an *A - *B doch recht ähnlich gewesen sein, wie immer sie sich von *B unterschied. So dürfte es bis auf weiteres tragfähig bleiben, *B als Ausgangsfassung für *C anzusetzen, wobei allerdings die theoretisch möglichen Abhängigkeiten, so wie sie oben graphisch dargestellt wurden und dementsprechend üblicherweise verstanden werden, überdacht werden müssen. Wenn nämlich nach der von mir unterstellten Entstehungssituation *B 'im Kopf des Dichters von *C war und er *C aus der nicht ganz vollständigen Verfugung über *B sowie aus dem Wunsch zu ergänzen, zu 64

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Zu einer solchen Schlußfolgerung erscheinen mir die Stellen und Überlegungen, die BRACKERT [Anm. 18], S. 139-145, aufbietet und anstellt, als unzureichend und nicht zwingend. Zeigen will er letztlich auch nur, daß *C ebenso wie *B „etwas Originales" zu enthalten scheint (S. 144).

Das Gedächtnis des Sängers

detaillieren, zu erklären und zu bessern schuf, dann reicht der oben verwendete Typ von Graphik nicht aus, dies darzustellen. Denn er ist für Entstehungssituationen gedacht, in denen entweder die Augen eines Schreibers die Ausgangsfassung Wort fur Wort und Satz für Satz zur Abschrift abtasten oder in denen die Augen eines Verfassers sie Stelle fur Stelle zur Neufassung überfliegen. Dies ist bei der von mir unterstellten Entstehungssituation jedenfalls über längere Strecken des Textes nicht der Fall, da ein materieller Schriftträger mit dem Text der Ausgangsfassung ausfällt und es somit keine vergleichbar direkte Verbindung zwischen den Fassungen mehr gibt. Das Gedächtnis des Dichters ist zwischengeschaltet, und es macht sich in seiner Autonomie gegenüber dem festgefugten Text bemerkbar, indem es ihn unwillkürlich-willkürlich ändert. Auf solche Änderungen komme ich nun zu sprechen.

IV. Das Vertauschen und Umstellen von Text Einen Text von einiger Länge behält man besonders leicht, wenn er Ereignisse erzählt, die aufeinander folgen. Diese Ereignisfolge kann man sich unabhängig vom Wortlaut deshalb so gut einprägen, weil das menschliche Gedächtnis von vornherein auf die Aufnahme von Ereignisfolgen trainiert ist, könnte sich der Mensch doch in seiner Umwelt sonst schwer behaupten. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob man die Ereignisfolgen selbst beobachtet hat oder ob sie einem in einer Erzählung präsentiert wurden. Natürlich kennt man Schemata für Ereignisfolgen, 65 und wo diese flagrant gegen ein Schema verstoßen, wird das Gedächtnis dazu tendieren, sich selbständig zu machen und den Verstoß anhand des Schemas zu korrigieren. 66 Hier mag es eine Rolle spielen, wenn man die Ereignisfolge nicht selbst beobachtet hat. Für den Wortlaut von Texten ist ein anderes Gedächtnissystem zuständig als für Ereignisfolgen. Es wird offenkundig gestützt, wenn der Wortlaut gebunden ist. Werden Ereignisse in gebundenem Wortlaut erzählt, so dürfte die Erinnerbarkeit für beides gegenseitig verstärkt werden. Was ist aber, wenn die Erzählung einer Ereignisfolge zu einer Beschreibung oder Aufzählung übergeht? Auch Beschrei65

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Die Forschung hierzu ist sehr umfangreich. Vgl. R. SCHÄNK / R. ABELSON, Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures, Hillsdale, New Jersey 1977, bes. S. 36-68 und 150-174. Zu Schemata von Geschichten vgl. J. M. MANDLER/ N . S. JOHNSON, Remembrance of Things Parsed: Story Structure and Recall, in: Cognitive Psychology 9 (1977) 111-151. Als Überblick vgl. J. W. ALBA / L. HASHER, IS Memory Schematic? in: The Psychology of Memory III. New Directions, hg. von P. E. MORRIS / Μ . A . CONWAY, Cambridge 1993, S. 91-119. Dies zu zeigen war u.a. der Sinn eines klassischen Experiments von F. C. BARTLETT, Remembering: Α Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge 21950, Kap. 5.

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bungen können noch einem Schema folgen und lassen sich dann leicht erzählten Ereignisfolgen unverrückbar einordnen. Bei reinen Aufzählungen fällt dies schwerer. Das Gedächtnis findet hier kaum einen Halt, 'x und y und z' von 'y und χ und z' zu unterscheiden. So wäre bei Aufzählungen im 'Nibelungenlied' angesichts der veranschlagten Entstehungssituation der Fassung *C zu erwarten, daß Glieder schon einmal durcheinandergeraten. Besonders schwer zu behalten war hier z.B. der Vers Β 2281,1 Ritschart unde Gerbart, Helpfrich unde Wichart, der in C 2340,1 denn auch lautet: Gerbart unde Wichart, Helpfrich und Rischart. In der Regel haben Aufzählungen - besonders oft von Namen - nur zwei Glieder und sind, insbesondere wenn ein Name als Reimwort dient, sehr stabil. Im Anvers gibt es dagegen öfter Dreher wie C 1400,1 Swemmel unde Werbel, die Ezelen spileman, wo es in Β 1374,1 heißt: Wärbel unde Swemmelin, des küniges spileman. Oder C 1922,1 Häwart unt ouch Irnfrit gesellecliche riten, wo es in Β 1878,1 heißt: Irnfrit unde Häwart in den bühurt riten. Auch über einen Vers kann sich ein Dreher erstrecken wie in C 1845,4 do sach man Giselheren ze hove mit sinem sweher gän, wo es in Β 1804,4 heißt: dö sach man Rüedegeren ze hove mit Giselheren gän. Der Wortlaut in *C legt nahe, daß der Dichter an die Personen denkt und nicht nur die Namen - und damit den Wortlaut - gespeichert hat, sonst hätte Rüedegeren ebensogut anstelle von sinem sweher stehen können. Entsprechend sind Stellen, an denen Namen durch Beschreibungen und Kennzeichnungen ersetzt sind (seltener auch umgekehrt), häufig. Dies spricht dafür, daß nicht allein die Ereignisse, sondern z.B. auch die beteiligten Personen erinnert werden, ohne daß auf dieser Ebene eine Kodierung über den Wortlaut schon zum Zuge kommt. Aber dies ist nicht das Phänomen, das ich ansprechen möchte. Ich möchte einige Fälle anfuhren, die Drehern bei Aufzählungen darin ähnlich sind, daß sie Textbestandteile, die aber keine Glieder von Aufzählungen sind, vertauschen. An sich ist es erstaunlich, daß dies bei vollständigen Strophen mit einer Ausnahme nie geschieht. Andererseits wird an dieser Ausnahme (Strophe Β 871 und 870 = C 878 und 879) schnell ersichtlich, daß eine solche Vertauschung den Erzählzusammenhang empfindlich stört (sin in Β 870,1 verliert in C 879,1 sein Bezugwort), so daß man geneigt ist, sie an dieser Stelle anders zu erklären denn als Gedächtnisfehler: nämlich als bloßen Abschreibfehler in C oder in einer Vorlage. Sehr häufig werden Satzglieder vertauscht. Um Vertauschungen sinnfälliger darzustellen, hebe ich sie im folgenden hervor. Vor dem Sachsenkrieg lassen Gunther und seine Brüder nach ihren Lehnsleuten schicken, die si wolden füeren durch urliuge dan (Β 171,2). Dagegen formuliert C 172,2: die si durch urliuge

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füeren wolden dan. Vertauscht sind hier durch urliuge und fixeren wellen. Auf der Fahrt zu den Sachsen trägt Volker die Fahne: den vanen muose leiten Volker der küene man (B 172,2). C 173,2 wählt ein neues Verb und vertauscht dabei ohne Not die Satzbestandteile: Volker dem küenen bevolhen wart der vane (möglich gewesen wäre durchaus auch: bevolhen wart der vane Volker dem küenen man). Weitere Beispiele: Der gesellen bin ich einer, daz ander soltu wesen (B 342,1)

Der gesellen sitir einer, der ander sol ich wesen (C 350,1)

bidem z'allen ztten singewcefen lac (B 487,2)

bi dem stn gewcefen zallen ziten lac (C 498,2)

ich hän mit tränen handelt im sin houbet abe gestagen (Β 1953,4)

ich hän im sin houbet mit Minen handen abe gestagen (C 2006,4)

/tu sihe ich r6t von bluote Hagenen sin gewant (B 2055,3)

nu sihe ich Hagene rßtez von bluote sin gewant (C2111.3)

Für solche Vertauschungen67 ist keine Absicht, vorhandenen Text umzuformulieren, absehbar, geschweige denn eine Bearbeitungsabsicht. Gleichwohl bedeutet es an einigen Stellen Formulierungsaufwand, wenn Wörter neu flektiert werden müssen oder Sätze neu arrangiert. Für einen Schreiber und selbst fur einen Dichter, der eine schriftliche Vorlage vor Augen hat, muß eine solche Anstrengung rätselhaft bleiben, und die Rede von einer Lust am Umformulieren verdeckt hier geradezu den zu erklärenden Sachverhalt einschließlich der Erklärungsnot, die er hervorruft. Tatsächlich scheint das Gedächtnis des Dichters sich selbständig zu machen, wenn sich vertauschbare Satz- und Textbestandteile der Bindung und Kodierung entziehen und sich unterhalb dieser Ebene der Fixierung des Textes zu bewegen beginnen. Wo das Gedächtnis keinen Anhaltspunkt fur serielle Positionen mehr findet, läuft es aber vermutlich auf eine Zufallsverteilung hinaus, ob die ursprüngliche Reihenfolge vertauschbarer Bestandteile erhalten bleibt oder nicht. Deshalb wird man nicht von einer aktiven Selbständigkeit des Gedächtnisses sprechen können. Wenn aber in einer Folge w - χ - y - ζ z.B. die mittleren Bestandteile χ und y ohne weitere Beeinträchtigung der Folge i n w - y - x - z vertauscht werden können, so erhält das Gedächtnis einen Spielraum, der gewissermaßen passiv genutzt werden kann. Im psychologischen Experiment mit dem Kurzzeitgedächtnis sind Umstellungen in der Reihenfolge gelernter Serien von bedeutungslosen Items (Buchstaben, 67

Vgl. als weitere Stellen, die in »C vertauscht werden, z.B. Β 76,3; 304,3-4; 799,4; 947,3; 1024,4; 1173,1; 1198,4; 1866,1; 1961,2; 1971,1; 2036,4.

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Zahlen, Silben usw.) ein bekanntes Phänomen.68 Bruchlos übertragen läßt sich dies auf einen im Langzeitgedächtnis gespeicherten Text nicht. Aber vermutlich tritt ein ähnlicher Effekt ein, wenn sich beim Verblassen oder Zerfallen der Gedächtnisspuren Bestandteile des Gelernten aus ihrer Position lösen und beweglich werden.69 Auch bei größeren Texteinheiten ist dies zu beobachten. So finden sich gelegentlich Halbverse vertauscht, wie es leicht geschehen kann, wenn Abverse nur Flickmaterial enthalten: Dö sich von in geschieden die helde vil gemeit

Do sich die von in schieden, als uns ist geseil,

dö körnen die von Düringen, als uns daz ist geseit,

dö kämen dä von Düringen helde vil gemeit,

[...]

[...]

(B 1877,1-2)

(C 1921,1-2)

In *B sind es Rüdigers Lehnsleute aus Bechelaren, die als helde vil gemeit bezeichnet werden, in *C dagegen die thüringischen Ritter Etzels. Das wird möglich, weil die Abverse hier locker an den Anversen sitzen und in beiden Positionen Sinn ergeben. Ähnlich auch bei der folgenden Stelle, wo Gunther Wärbel nach dem Befinden Etzels und Kriemhilds fragt: dö sprach der videliere: „ diu mare luon ich iu bekam,

dö sprach der videlcere:,, diu mcere tuon ich iu bekant.

Daz sich noch nie gehabten deheine liute baz,

Sich gehabten künige, ir suit wol wizzen daz,

danne sisich gehabent beide, ir suit wol wizzen daz, [...]."

in deheinem lande vrcelicher noch baz, [...]."

(B 1441,4-1442,2)

(C 1469,4-1470,2)

Der Halbvers deheine Hute baz wechselt hier ohne große Umstände seine Position und wird infolge der anders begonnenen Formulierung gegen den Flickvers ir suit wol wizzen daz ausgetauscht. Eine etwas aufwendigere Vertauschung von Abversen unter Inkaufnahme des Ausfallens von Text unterläuft dem Dichter an einer anderen Stelle: „Jane ist min vrouwe Prünhilt nu niht so wol gemuot daz ir si mügei schouwen ", sprach der ritter guot. (B 1486,1-2)

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„jän ist", sö sprach Volker, ein edel ritter guot „Prünhilt minfrouwe nu niht wol gemuot". (C 1519,1-2)

Vgl. R. CONRAD, Errors of Immediate Memory, in: British Journal of Psychology 50 (1959) 349-359; R. CONRAD, Order Error in Immediate Recall of Sequences, in: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 4 (1965) 161-169. Vgl. A. D. BADDELEY, Die Psychologie des Gedächtnisses, Stuttgart 1979, Reg. unter 'Spurenzerfallshypothese' .

Das Gedächtnis des Sängers

Auch ganze Verse können verrutschen (vgl. z.B. Β 674,2 = C 679,1), und es wird dann schwierig, den zugehörigen Reimvers zu halten. So z.B. als Gere seine Einladung vor Siegfried und Kriemhild vorbringen will und (in B) sagt: Erloubet uns die botschaft, e daz wir sitzen gen. uns wegemüede geste, lät uns die wile sten. (B 746,1-2)

Si bat in zuozir sitzen, er sprach: „wir suln sten. erloubet uns die boteschaft, e daz wir sitzen gen." (C 753,1-2)

Hier dürfte die Umstellung allerdings motiviert sein, denn in *C fuhrt Kriemhild Gere anders als in *B zu seinem Sitz, so daß es unglücklich wäre, ihn gleich unvermittelt sprechen zu lassen. Zu einer nicht motivierten Vertauschung kommt es aber in den Strophen Β 1711-1712, wo der Vers Β 1711,4 in *C auf die Position von Vers 2 der Folgestrophe rutscht, während Vers 2 der Folgestrophe auf die Position von Vers 4 der vorhergehenden Strophe vorrückt. Es geht um den Schmerz, den die Leute Rüdigers beim Abschied von den Burgunden empfinden. ich wan'ir herz insagete diu kreftecltchen leit. dä weinte manic vrouwe und manic waetlichiu meit.

in wcen, ['.] ir herzen sageten diukrefieclichen ser, daz si der lieben friunde dar nach gestehen nimmer met.

Nach ir lieben friunden genuoge heten sir, die si ze Bechelären gesahen nimmer mir. (B 1711,3-1712,2)

Nach ir liebenfriunden heten genuoge leit. dö weinten äne mäze vil frouwen und manic meit. (C 1750,3-1751,2)

Die Vertauschung scheint von einer Verwechslung des Reimworts ausgegangen zu sein. Statt diu krefieclichen leit hatte der Dichter diu kreftecltchen ser im Kopf, und das führte zu einer schnellen Assoziation des nächstgelegenen passenden Verses, so daß das Vorziehen von Β 1712,2 systematisch verknüpft ist mit dem falsch eingedrungenen Reimwort. Dann aber war das ursprüngliche Reimwort leit mit dem zugehörigen folgenden Reimvers frei und konnte ohne großen Aufwand nachgeholt werden. Das Beispiel zeigt recht deutlich den unwillkürlichen Charakter der kombinierten Umstellung. Nicht so einfach kommt der Dichter von *C für die Strophe Β 1872 davon. Volker rät, die Burgunden sollten, so wie es bei ihnen zu Hause Brauch sei, turnieren: Der heit het in geraten, des si doch niht verdröz. der bühurt unt daz schallen diu wurden beide gröz. üf den hof vil witen kom vil manic man. Etzel unde Kriemhilt daz selbe schouwen began. (B 1872)

Üf den hof vil witen kom dö manic man. Ezete unde Kriemhilt ez sähen allez an. der buhurt unde schallen, diu beidiu wurden gröz vonkristenundvonheiden wielütziliemendä verdröz.' (C1917)

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Möglicherweise hat der Dichter den Anfangsvers und damit den Einstieg in die Strophe vergessen. Das ist ungewöhnlich und passiert sehr selten. Er formuliert nicht um, sondern scheint die Verse 3 und 4 fur die Eingangsverse zu halten, was von der Ereignisfolge her kein Problem darstellt. Gut anschließen läßt sich auch Vers 2, aber der Anvers von Vers 1 läßt sich nun nicht mehr halten, und der Dichter muß neu formulieren. Es ist aber erstaunlich, wie gering er den Aufwand halten kann. Aufwendiger fallt eine Reparatur fur Strophe Β 2300 aus, in der *C eine Formulierung des letzten Verses der vorhergehenden Strophe, die zur Gänze neu formuliert worden ist, nachschiebt und das Strophengefuge aus den Fugen gerät. Hildebrand will den niedergestürzten, totwunden Wolfhart aus dem Saal tragen: er beslöz mit armen den recken küen' wideguot.

Hildebrant harte balde hin über sinen neven gie

Er wolde π üiem hüse mit im tragen dan: er was ein teil ze swaere, er muose in ligen län dd blihte auch ια dem bluote der rewende man. er sach wol, daz im gerne sin nevehet geholfen dan. (Β 2299,4-2300,4)

Er beslöz in mit den armen und wolde in tragen (km mit im üzemhüse. er muose in ligen tön: er was ein teil ze swaere. wider in daz bluot enpfiel er im üz handen. dd blicht üfder degen guot. (C 2359,4-2360,4)

Dadurch, daß der Anvers von Β 2299,4 nach C 2360,1 verschoben wird, muß der Dichter das Aus-dem-Haus-Tragen von Β 2300,1a in den Anvers von C 2360,2 rücken und den Hinweis auf das Gewicht Wolfharts von Β 2300,2a in den Anvers von C 2360,3. Mit dem folgenden Wortlaut ist nun nicht mehr zurechtzukommen, und es ist bemerkenswert, daß gleichwohl das Aufblicken Wolfharts nicht preisgegeben wird (vgl. C 2360,4b). Mit dem kurzen neuen Text mit neuem Reim gibt der Dichter auf engstem Raum - in zwei Halbversen - eine andere Information: Statt daß Wolfhart die Hilfsbereitschaft Hildebrands noch wahrnimmt, entfällt er seinen Händen. An diesem Beispiel wird deutlich, daß der Dichter sprachliches Material, über das er noch verfügt, zu retten sucht und solange mit ihm weiter operiert, wie es sich noch halten und aufs neue einbinden läßt. So wird der Text gleichsam wie eine Wanderdüne beweglich. Die zuletzt diskutierten Beispiele entfernen sich von den anfangs vorgestellten. Im Gegensatz zu diesen kommt es zu einer komplexen Verschränkung von Unwillkürlichkeit der Erinnerung und Willkür des Neudichtens. Eine nicht ganz vergleichbare Verschränkung von Willkür des Sprechens und der Unwillkürlichkeit von Versprechern und sprachlichen Fehlleistungen hat FREUD an der Alltagsrede untersucht. Hier drängt sich in die intendierte Rede häufig ein störender, unbewußt gebliebener Gedanke, ein Wunsch oder ein allgemeineres psychisches Motiv, und hinter einem Erinnerungsfehler steckt die Verdrängung und hat den Abruf des zu Erinnernden blockiert, so daß es zu charakteristischen Fehlern an der sprachlichen 112

Das Gedächtnis des Sängers

Oberfläche kommt. 70 F R E U D hat Wert darauf gelegt, daß dabei nichts zufällig ist, und nur am Rande zugegeben, daß es natürlich auch 'unschuldiges' bzw. einfaches Vergessen gibt. 71 Zentral ist aber sein Hinweis, daß das subjektive Bewußtsein der Sprecher, ohne Absicht gesprochen und sich zufällig versprochen zu haben, nicht ausschließt, daß sich eine zurückgehaltene und unterdrückte 'Absicht' geltend macht. Demnach wäre die Unwillkürlichkeit sprachlicher Fehlleistungen deutlich von einer Zufälligkeit, wie sie bei Folgen einfachen Vergessens oder auch bei den oben genannten Vertauschungen von Reihenpositionen vorkommt, zu unterscheiden, denn solche Unwillkürlichkeit ist motiviert. Nun wird man nicht erwarten, daß sich in der Fassung *C das Unbewußte des Dichters zu Wort meldet. Denn er macht ja keine intendierte Äußerung, sondern reproduziert auswendig gelernten Text, in den auch, wo er neu gefaßt wird, kein textfremdes Material eindringt. Dennoch ist es richtig, daß Fehler bei der Reproduktion nicht nur zufällig erfolgen, sondern zugleich motiviert sind und sich doch unwillkürlich Ausdruck verschaffen. Die Unwillkürlichkeit bemißt sich daran, daß der Dichter einerseits bewußt reproduziert, ohne daß ihm dies vollständig gelingt, und daß er andererseits bewußt neu formuliert, wobei sich ihm Brocken des alten Materials in den neuen Text drängen. Das Hereindrängen alten Materials ist nun zugleich motiviert und weist Parallelen zu sprachlichen Fehlleistungen auf. Denn es lauert gleichsam im Gedächtnis wie psychische Motive oder unterdrückte Gedanken im Unbewußten. Dabei ist es wie bei Halbversen und Versen, die ihre Position wechseln, aus seiner Bindung gelöst und kann sich - was den ursprünglichen, heilen Text anbetrifft - störend einschalten. So hat sich in C 1750,3 dem Dichter ein Reimwort zu früh aufgedrängt, in C 1917 ein Verspaar, und aus C 2359,4 ist als Folge der Neuformulierung der Strophe ein Halbvers verdrängt worden, der sich in der nächsten Strophe einschaltet, wo er weiteren Text verdrängt. Dies sind 'unschuldige' Fehler des Gedächtnisses, die durch das Vergessen bedingt sind. Es sind Fehler, die sich in und mit dem sprachlichen Material vollziehen, das der Dichter zu erinnern hat und die in der Folge Reparaturen nach sich ziehen, die weiterhin mit diesem Material arbeiten. Insofern gilt mit Abstrichen auch hier F R E U D S Feststellung: „Das Entgegenkommen des sprachlichen Materials ermöglicht erst die Determinierung des Fehlers und setzt derselben auch die Grenze." 72 Anders als bei Fehlleistungen tut kein unbewußter Gedanke des Dichters von *C etwas hinzu, sondern das Gedächtnis rührt in ein und demselben Material, von 70 71 72

S. FREUD, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum, Frankfurt a.M. 1989 (zuerst 1901 erschienen). Vgl. z.B. ebd., S. 18. Ebd., S. 176.

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dem einiges halbvergessen ist und bei Störungen wie beim Neufassen des Textes in ungebundenen Brocken auftaucht, die dann neu arrangiert werden.

V. Das Gedächtnis des Sängers Das Gedächtnis des Dichters von *C dürfte das Gedächtnis eines Sängers sein, der es gewohnt war, den Text frei vorzutragen. Er wird das mehrfach oder oft getan haben, so daß sich ihm die Entstehungssituation von *C nicht grundsätzlich von einer ihm vertrauten Vortragssituation unterschied. Im Vergleich zu dem oben umrissenen Szenario für die Entstehung von *C wäre es für ihn sehr viel umständlicher gewesen, sich vor eine Buchseite zu setzen, die eine Partie des Textes bereitgehalten hätte, um am gelesenen Text zu arbeiten. Jeder, der sich schon einmal an gelesenen Text erinnert hat, weiß, daß hier auch das visuelle Gedächtnis hereinspielt und daß das mise en page eine beträchtliche Rolle für das Behalten spielen kann. Die Gestaltung von Buchseiten ist wohl nicht erst seit Petrus Ramus mit der Organisation von Wissen verknüpft worden73 — was die Rolle des visuellen Gedächtnisses voraussetzt. Die frühesten Handschriften des 'Nibelungenliedes' und damit wohl auch die verlorene Handschrift, die die Fassung *C zum ersten Mal aufnahm, zeigen sich aber darum ganz unbekümmert: Da sie für Vers und Strophe keine Trennung nach Zeilen einführen, machen sie es nahezu unmöglich, den Text vom Blatt abzulernen. An einem so präsentierten Text läßt sich wegen der visuellen 'Verzeichnung' der Metrik auch schlecht arbeiten. Das visuelle Gedächtnis war also für den Dichter von *C bedeutungslos, und er achtete deshalb auch nicht auf eine einprägsame Seitengestaltung für seinen Text, dessen Aufzeichnung entweder ihm selbst oder - wahrscheinlicher - interessierten Dritten als bloßer Textspeicher diente. Woher aber kannte er den Text, und hatte er ihn etwa aus einer so ungeeigneten und schlecht eingerichteten Vorlage, wie sie auch fur die ursprüngliche Aufzeichnung der Fassung *B anzunehmen ist, auswendig gelernt? Was, wenn der Dichter von *C auch schon der Dichter von *B (und von *A) war, der sich im Zeitraum von höchstens zehn oder - bei ungewöhnlicher Spätdatierung von *C - zwanzig Jahren wiederholt zur Verfugung stellte oder es selbst betrieb, seinen Text von seinem Mund abnehmen und aufzeichnen zu lassen? Bevor unter so viel Hypothesen das 'Nibelungenlied' als Buchdichtung ganz zu verschwinden droht, möchte

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Vgl. W. ONG, Ramus, Method, and the Decay of Dialogue, Cambridge (Mass.) 1958. Zur Bedeutung des Schriftbildes als Gedächtnisstütze im Mittelalter vgl. M. J. CARRUTHERS, The Book of Memory. Α Study of Memory in Medieval Culturey, Cambridge 1990.

Das Gedächtnis des Sängers

ich zunächst nur die größte Unwahrscheinlichkeit, daß ein Dichter eine solch umfangreiche Textmenge überhaupt auswendig beherrschen kann, angehen. Während das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr als ungefähr sieben unverbundene Lerneinheiten {chunks) aufnehmen kann,74 sind für das Langzeitgedächtnis Kapazitätsgrenzen nicht bekannt.75 Angesichts der Tatsache, daß es z.B. immer schon Muslime gab, die den 'Koran', Rabbinen, die den 'Talmud', Gurus, die den 'Veda' und Kleriker, die den 'Psalter' auswendig beherrschten, kann es nicht zweifelhaft sein, daß das menschliche Gedächtnis Texte von erheblichem Umfang aufzunehmen in der Lage ist, ohne daß es sich dabei gleich um Gedächtniskünstler handeln muß.76 Bestimmte Eigenschaften des Lernstoffs, die dem Kurzzeitgedächtnis nachhelfen, dürften dabei auch das Langzeitgedächtnis noch stärken. Zu unterscheiden sind zunächst einmal solche Eigenschaften des Lernstoffs von Techniken des Auswendiglernens, wobei es sich offenbar so verhält, daß Techniken des Lernens in den Lernstoff übertragen und zu Eigenschaften von ihm werden können. Die älteste bekannte Technik des Lernens ist die angeblich von Simonides von Keos entdeckte Methode der Orte.77 Wer etwa zum Joggen immer eine bestimmte Laufstrecke benutzt, kann sich z.B. 50 Orte der Strecke gesondert merken und vergegenwärtigen und dann 50 zu lernende Items der Reihe nach mit diesen Orten verbinden bzw. an diese Orte 'stellen', und er wird die zusammenhanglose Reihe schneller und vollständiger behalten als jemand, der nur diese Reihe selbst zu lernen versucht. Das erfordert allerdings eine nicht unerhebliche Vorbereitung, denn man muß die Laufstrecke sehr gut kennen, mit deren Orten dann der Lernstoff kodiert wird. Jede Technik des Auswendiglernens setzt irgendein Kodierungssystem voraus, das zusätzlich zum Lernstoff erworben werden muß - bei einer erst zu erlernenden Technik in aufwendiger Vorarbeit78 - , und jeder Gedächtniskünstler benutzt irgendein von ihm nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten entwikkeltes Kodierungssystem.79 Deshalb ist nichts überraschend daran, daß das von 74

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G. A. MILLER, The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits in our Capacity for Processing Information, in: Psychological Review 63 (1956) 81-97. BADDELEY [ A n m . 6 9 ] , S . 1 3 7 f .

Zu Gedächtniskünstlern vgl. BADDELEY [Anm. 69], S. 400-413. Historische Informationen bei U. ERNST, Die Bibliothek im Kopf: Gedächtniskünstler in der europäischen und amerikanischen Literatur, in: LiLi 27 (1997), Heft 105, S. 86-123. Vgl. hierzu das bahnbrechende Werk von F. A. YATES, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990. Eine erhellende Analyse der Kodierungstätigkeit vgl. bei D. A. NORMAN, Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Eine Einfuhrung in die menschliche Informationsverarbeitung, Weinheim 1973, S. 131-163. So nutzt der amtierende deutsche Meister der Gedächtniskünstler seine Urlaubsreisen, um sich „Routenpunkte" einzuprägen, die er später zum Kodieren zu lernender Zahlenkolonnen einsetzt. Vgl. P . BETHGE, Artikel: 'Tanne in der Hängematte', in: Der Spiegel 3 5 ( 2 0 0 0 ) 2 3 3 - 2 3 5 , hier S. 2 3 4 . 115

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Simonides angeblich aufgebrachte System unabhängig von Gedächtniskünstlern des 20. Jahrhunderts 'wiederentdeckt' worden ist.80 Dies fuhrt nur eine Arbeitsweise des menschlichen Gedächtnisses vor Augen, nicht zusammenhängenden Lernstoff zu kodieren. Nun ist schnell deutlich, daß der Sänger und Dichter von *C mit der Methode der Orte überhaupt nichts anfangen konnte, denn sein Problem waren nicht 50 zusammenhangslose Punkte, über die er nacheinander reden wollte, sondern mehr als 2000 Strophen Text mit mehr als 70.000 Wörtern, die er möglichst genau behalten mußte. Er mußte sie nicht absolut wortgetreu behalten, denn er hatte es nicht mit einem heiligen Text wie dem 'Koran', dem 'Talmud', dem 'Veda' oder dem 'Psalter' zu tun, der öffentlich zugänglich war. Er mußte nur in einer Vortragssituation in der Lage sein, den Text in einem kontinuierlichen Sprechfluß vorzutragen. Dafür war es nötig, sich nach anderen Kodierungssystemen umzusehen. Auf Anhieb ist auch klar, daß eine visuelle Kodierung mit sogenannten imagines agentes - wie sie gleichfalls in der Antike bereits für das Behalten eines Wortlauts gelehrt wurde81 - keine große Hilfe dargestellt hätte, im Gegenteil. Sich für zehntausende von Wörtern oder auch nur Verben und Substantiven Bilder einzuprägen, konnte die Lernaufgabe nicht erleichtern. Ebensowenig half, sich - wie z.B. Johannes von Garlandia vorschlägt - die Situation in Erinnerung zu rufen, in der der Lernstoff gelernt worden war.82 Dies knüpft an das episodische Gedächtnis an und läßt isolierte Lerninhalte leichter abrufen,83 stellt aber kein Hilfsmittel dar, umfangreichen Text zu erinnern. Die Abspeicherung eines so umfangreichen Textes wie des 'Nibelungenlieds' erfolgt offenbar auf zwei getrennte Weisen. Um sicherzustellen, daß eine Ereignisfolge im Gedächtnis behalten wird, bedarf es keiner Kodierung. Hier ist das Gedächtnis in seinem ureigensten Element. Der Dichter des ursprünglichen Textes mußte den Ereignisverlauf entwerfen und durchmotivieren, und war es ein anderer 80

Überraschend erscheint dies R. LACHMANN, Die Unlöschbarkeit der Zeichen. Das semiotische Unglück des Mnemonisten, in: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur M n e m o t e c h n i k , h g . v o n A . HAVERKAMP / R . LACHMANN, Frankfurt a . M . 1 9 9 1 , S . 1 1 1 - 1 4 1 ,

81 82

83

hier S. 121. Zum Einsatz von Kodierungssystemen als natürlichem Verfahren eines skilled memory vgl. Κ. A. ERICSSON, Analysis of Memory Performance in Terms of Memory Skill, in: Advances in the Psychology of Human Intelligence 4, hg. von R. J. STERNBERG, Hillsdale, New Jersey 1988, S. 137-179. Vgl. Η. BLUM, Die antike Mnemotechnik, Hildesheim 1969. Vgl. The 'Parisiana Poetria' of John of Garland, hg. von T. LAWLER, New Haven 1974, S. 36, Z. lOOff. Johannes schlägt auch vor, sich an die konkreten Seiten zu erinnern, auf denen man etwas gelesen habe, an die Position des Gelesenen auf der Seite und an die Beschaffenheit der Schrift (ebd.) - auch dies wäre dem Sänger bei der Anlage der Handschriften wohl keine große Hilfe gewesen. Vgl. E. TULVING, Episodic and Semantic Memory, in: Organization of Memory, hg. von E. T U L V I N G / W . DONALDSON, L o n d o n 1 9 7 2 , S. 3 8 1 - 4 0 3 .

116

Das Gedächtnis des Sängers

Dichter, der den Verlauf - bevor er irgendwann *C hersagte - erlernte, so mußte er die Motivationen nachvollziehen, und der Ereignisverlauf haftete von selbst im Gedächtnis. Natürlich kann - um es sehr banal zuzuspitzen - Kriemhild sich erst rächen, nachdem Siegfried tot ist, so daß hier schwerlich etwas durcheinander gerät. Dies gilt aber auch im Detail. Siegfried traut seiner eigenen auftrumpfenden Kraft: So reicht es, zu zwölft oder mit zwölf Leuten zum Wormser Hof aufzubrechen (B 59,1-2 = C 59,1-2). Das Gedächtnis prägt sich das Wort 'zwölf ein und achtet nicht mehr darauf, daß 'mit zwölf Begleitern' (mit zwelf gesellen, C 59,2, vgl. C 64,3) eine andere Zahl als 'zu zwölft' (selbe zweifle, Β 59,2, vgl. im Widerspruch dazu Β 64,3) ergibt. Beim Wortlaut treten deshalb Fehler auf, nicht aber beim Ablauf der Ereignisse. Tatsächlich sind allerdings nirgendwo gravierende Fehler zu konstatieren. Der Dichter von *C hat den Ereignis- und Erzählverlauf sehr genau und, von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen, vollständig erinnert. Aufgrund der Beschaffenheit des Erzählten ist dies keine allzu überraschende Gedächtnisleistung - hinzuweisen ist dabei darauf, daß das 'Nibelungenlied' signifikant anders als die zeitgenössische Buchdichtung nicht mit Prolog, Epilog, Exkursen, Kommentaren und anderem Beiwerk ausgeprägter Schriftlichkeit aufwartet und das Gedächtnis also auch nicht mit solchen ungleich schwerer zu behaltenden Partien belastet. Wird der Erzählverlauf erinnert, so gelingt doch der Abruf des Wortlauts nicht immer. Hierfür ist ein anderer Speicher und eine andere Technik des Speicherns notwendig. Man kann das u.a. daraus schließen, daß öfter einmal ein Name gegen eine Kennzeichnung ausgewechselt wird (seltener übrigens umgekehrt, vgl. z.B. Β 1429,4 = C 1457,4), kaum je aber wird die Person verwechselt. So heißt es in Β 417,1: Prünhilt diu schoene wart schiere wol gekleit, während es in C 426,1 heißt: Do wart diu küneginne schiere wol gekleit. Oder Β 1697,1-2a Gotelint bot Hagenen, als ir vil wol gezam, / ir minneclichen gäbe und C 1736,1 Do bot diu marcgrävinne Hagen ir gäbe alsam. Der Wortlaut wechselt, nicht aber der Erzählverlauf mit den an ihm beteiligten Personen. Ist also für den Wortlaut ein anderer Speicher erforderlich, so fur sein Erlernen auch eine andere Technik und damit allererst eine Kodierung. Daß das Gedächtnis hier unterschiedlich 'programmiert' ist, zeigt bereits die Alltagserfahrung: Während der Inhalt einer Äußerung leicht behalten wird, gilt das doch nicht annähernd für den Wortlaut.84 Um anschaulich zu machen, was für das Behalten von Wortlaut getan werden kann, möchte ich etwas ausholen.

84

Vgl. J. S. SACHS, Memory in Reading and Listening to Discourse, in: Memory and Cognition 2 (1974) 95-100.

117

Harald Haferland

In der experimentellen Psychologie ist es seit den frühen Versuchen von üblich, zur Untersuchung des Gedächtnisses Listen sinnloser Silben oder Zahlenreihen auswendig lernen zu lassen, um Assoziationen mit vorhandenem Wissen oder gesammelten Erfahrungen, die das Behalten positiv beeinflussen könnten, auszuschließen. So läßt sich zumindest für das Kurzzeitgedächtnis die reine Gedächtniskapazität ermitteln, die nicht mehr als etwa 5 bis 9 Lerneinheiten (in Form von Silben oder Zahlen) umfaßt. Werden mehr Items behalten oder werden sie für längere Zeit behalten, so tritt sofort eine Kodierung hinzu, die die Items mit vorhandenen Wissens- und Erfahrungsinhalten verknüpft. So kann man z.B. versuchen, eine Zahlenreihe als eine Folge von Datumsangaben (mit Tages·, Monats- und Jahresdatum) aufzufassen oder in einer Liste von Silben diese zu Wörtern fortzusetzen usw. Lernen und Behalten ist dabei eine Sache des Trainings unter Anwendung einer geeigneten Kodierungstechnik, wobei man tendenziell alles mit allem kodieren kann. Unterscheiden lassen sich etwa gegenständlich-anschauliche vs. abstrakte und - nicht ganz deckungsgleich - visuelle vs. akustische Kodierungen. EBBINGHAUS85

Da gegenständlich-anschauliche oder visuelle Kodierungstechniken für einen längeren auswendig zu lernenden Text keine Erleichterung des Lernens und Behaltens versprechen, ist nach einer anderen Technik Ausschau zu halten. Sie zeichnet sich bereits beim effizienten Lernen von Serien zusammenhangloser Items ab und ist gleich effektiv für das Kurzzeit- wie auch für das Langzeitgedächtnis. So werden z.B. siebenstellige Telefonnummern niemals nur als sieben Einzelziffern gelernt und behalten. Sie werden eher akustisch als visuell kodiert. Das merkt man, wenn man sie abruft. Man intoniert sie immer rhythmisch, und das heißt, man bildet kleinere Gruppen wie z.B. eine Dreiergruppe und zwei Zweiergruppen. Daß rhythmische Gruppierung dem Lernmaterial aufgeprägt wird, um es leichter und dauerhafter abspeichern zu können, ist noch an einst gelerntem Material zu beobachten, das solche Technik längst entbehren könnte: Wer das Alphabet im Selbstversuch in einer unvertrauten Rhythmisierung hersagt - etwa bestehend aus lauter Dreiergruppen (ABC DEF GHI usw.) - wird dazu tendieren, Buchstaben zu verlieren. Rhythmische Gruppierung sorgt also auch für einen geregelten, stokkungsfreien Abruf. 86

85 86

118

H. EBBINGHAUS, Über das Gedächtnis, Leipzig 1885. Vgl. zu entsprechenden Techniken der Speicherung und des Abrufs z.B. M. GLANZER, Storage Mechanisms in Recall, in: Human Memory. Basic Processes, hg. von G. BOWER, New York 1977, S. 125-189, hier S. 180-184 u.ö. Eine anschauliche Darstellung der mnemonischen Vorteile rhythmischer Gruppierung vgl. in: G. MILLER u.a., Strategien des Handelns. Pläne und Strukturen des Verhaltens, Stuttgart 1973, Kap. 10.

Das Gedächtnis des Sängers

Trainiert man rhythmische Gruppierung von Items und ist man in der Lage, auf der nächsten Hierarchieebene auch die so gebildeten Gruppen von Items zu gruppieren, so daß man etwa mehrere Vierergruppen in der richtigen Reihenfolge von etwa zweimal vier Vierergruppen halten kann, so könnte es gelingen, in derselben Zeit pro Item, in der man sich ca. 5 bis 9 Items merken konnte, nun 32 Items zu speichern. 87 Das Behalten von bedeutungsvollen Sätzen ist grundsätzlich leichter als das von nicht zusammenhängenden Items. Gemessen an jener Obergrenze des Kurzzeitgedächtnisses behält man ein Mehrfaches an Wörtern, wenn sie in Sätzen gebunden sind. 88 Wie aber wäre mit einem mehrseitigen Prosatext - wenn man die Menge des Lernstoffs auch hier zu erhöhen versucht - zu verfahren? Man wird ihn gliedern, und je regelmäßiger die Gliederung ausfällt, desto leichter wird sich der Text behalten lassen. Gilt von der einzelnen Lerneinheit aus gesehen die Gruppierung als Lerntechnik, so von der Gesamtheit des Lernstoffs aus gesehen die Partialisierung. Dies ist dasselbe aus einer jeweils anderen Perspektive. Ein in (am besten gleichmäßige) Teile zerlegbarer Text ist - besonders bei einer größeren Zahl von Teilen - leichter erinnerbar als ein gar nicht oder ungleichmäßig zerlegter. Fügt man diese einfachen Regeln zusammen, so vollzieht man nach, wie es zur wohl ersten mnemotechnischen Entdeckung der Menschheit kam: der rhythmischen Gliederung eines Verses in eine bestimmte Zahl hervorgehobener Laute und der Einbindung zweier oder mehrerer Verse in eine regelmäßig wiederkehrende größere Einheit, die Strophe. 89 Was hierbei aber geschieht, ist die Übertragung einer Kodierung in das Lernmaterial. Ist die Kodierung dem Lernmaterial einverleibt und zu einer Beschaffenheit des Materials geworden, so ist dieses perfekt vorbereitet, effizient erlernt werden zu können. Die Geburt der Strophe und des Verses erfolgt im Gedächtnis, und sie ist kein Geschöpf einer poetischen Funktion der Sprache. So wie Simonides nicht der Erfinder, sondern allenfalls ein Finder der visuellen Kodierung war, so ist die akustische Kodierung von Sprache und die Abspeicherung gleichmäßiger Teile sprachlichen Materials keine Entdeckung, die nur an einem Ort der Erde vorzustellen wäre. Überall und zu jeder Zeit dürfte sie in oralen Kulturen zu erwarten sein.

87

Zu entsprechenden Techniken vgl. ERICSSON [Anm. 80]; ders. / W. L. OLIVER, A Methodology for Assessing the Detailed Structure of Memory Skills, in: A. M. COLLEY / J. R . BEECH, Acquisition and Performance of Cognitive Skills, Chichester 1989, S. 193-215; ders., Memory Skill, in: Canadian Journal ofPsychology 39 (1985) 188-231.

88

V g l . ERICSSON [ A n m . 8 0 ] , S . 1 6 9 - 1 7 3 .

89

Vgl. einige Materialien hierzu bei Η. WENZEL, Hören und Sehen. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 89-94.

119

Harald Haferland

Stellt die Strophe gegenüber dem Vers eine höhere Hierarchieebene zur Speicherung sprachlichen Materials dar, so wird es für längere Texte noch einmal eine weitere Ebene geben müssen. Mit seiner Gliederung in Aventiuren bestätigt das 'Nibelungenlied' eine solche Erwartung. Späterer buchmäßiger Kapitelgliederung, wie sie sich beim frühneuzeitlichen Prosaroman hieraus entwickelt haben dürfte, sieht diese Aventiurengliederung zum Verwechseln ähnlich. Die Partialisierung ist auf dieser Ebene nicht mehr an der erinnerbaren Form, sondern am Erzählinhalt orientiert. So ist sie besonders verträglich mit buchmäßiger Aufmachung, aber sie dürfte einen ganz anderen Ursprung haben: Aventiuren sind ursprünglich Merkeinheiten, keine Vortragseinheiten, wie man gelegentlich geglaubt hat, und schon gar keine Buchkapitel. 90 Daß das 'Nibelungenlied' wesentlichen Erfordernissen von Merkdichtung genügt, muß natürlich nicht heißen, daß es tatsächlich zum auswendigen Vortrag bestimmt war. Hierfür müssen schon noch andere Indizien sprechen, wie sie ans Licht kommen, wenn man etwa die Abweichungen der Fassung *C untersucht. Ist das 'Nibelungenlied' aber auswendig vorgetragen worden, so wäre es wichtig zu wissen, was der Sänger unternahm, wenn er beim Vortrag steckenblieb. Bleibt ein Schulkind beim Aufsagen eines Gedichts stecken, so ist ihm durch Vorsagen des nächsten Wortes oder Verses weiterzuhelfen. Wenn dies beim Schauspieler nicht der Souffleur besorgt, so wird sich der Schauspieler an Eigenschaften der gespielten Szene, an seiner Position auf der Bühne oder am Bühnenbild zu orientieren suchen und mit seinem Sprechpartner die Erinnerungslücke improvisierend überbrücken. Alle diese Möglichkeiten standen dem Sänger nicht zu Gebote. Er mußte selbständig und anders über die Lücke hinwegkommen, da niemand seinen Text kannte und sein Vortrag keiner inszenierten Aufführung glich. Sein Vortrag war reine Gedächtniskunst, und er mußte Vorkehrungen zur Konzentration treffen, um nicht stecken zu bleiben. Wenn es im 'Jüngeren Titurel' einmal heißt So singent uns die blinden / daz Sifrid hürnin were (Str. 3364,1) was belegt, daß Heldendichtung aus dem Gedächtnis vorgetragen werden konnte 91 - so lagen bei blinden Sängern naturgegebene Umstände für konzentrierten Vortrag vor. Man kann allerdings auch die Augen schließen, und es ist durchaus möglich, daß der eine oder andere 'blinde' Sänger einen Fall von funktioneller Blindheit darstellte. Trotzdem konnte das Gedächtnis einmal versagen und der Vortrag stocken. Dann mußte die Strophe durch Flickverse zu Ende gebracht und Strophenverlust 90

Vgl. anders U.

SCHULZE,

Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997,

S.

94-96. Zu diviso und comCARRUTHERS [Anm. 73],

positio als im Mittelalter weithin vertraute Mnemotechniken vgl. 91

120

s. Reg. Vgl. auch

HEINZLE

[Anm. 42], S. 89f.

Das Gedächtnis des Sängers

durch Ersatz- oder Zusatzstrophen überbrückt werden. Für einen kleinen Augenblick war der Sänger einem Sänger vergleichbar, wie ihn die Theorie der oralformulaic composition idealtypisch modelliert hat. Über ein bis zwei Verse und eine bis zwei Strophen konnte er sich vielleicht zum nächsten erinnerten Strophenbeginn hinüberretten. Bei der Komplexität der Nibelungenstrophe wäre es allerdings zweifellos zu viel verlangt, würde man erwarten, er hätte den Vortrag zur Gänze in spontaner Improvisation bewältigen können. So war die Anwendung der oral-formulaic theory auf die Gegebenheiten des 'Nibelungenliedes' mit der nachfolgenden endgültigen Bekehrung der Forschung zu einer Theorie der buchepischen Komposition mit fingierter Mündlichkeit eine unglückliche Weichenstellung der Forschung, weil sie eine falsche Alternative aufmachte und in der Konsequenz in die falsche Richtung wies. In der Fassung *C zeigt die zweite Strophenhälfte eine besondere Anfälligkeit, verlorenzugehen und neu formuliert zu werden - Indiz vielleicht auch für eine Genese des 'Nibelungenliedes' aus einer älteren Dichtung mit einer Strophe aus zwei Langzeilen, für die sich im Zuge ihrer Erweiterung nicht immer unverzichtbarer Text fand. Hier ist (deshalb) eher mit austauschbarer Information zu rechnen als in der ersten Strophenhälfte, und hier scheinen die Partien zu liegen, die der Sänger zur Not auch einmal frei improvisieren mußte. Aus dem Vorliegen einiger recht beiläufiger Zusatzstrophen in *C darf man vielleicht schließen, daß der Sänger - auch wenn er in der Entstehungssituation von *C sicher mehr Zeit hatte mit der spontanen Komposition einzelner Zusatzstrophen nicht ganz unvertraut war. Dutzende bruchlos ersetzter Verse, Verspaare und Strophen sowie geschmeidig eingefügter Zusatzstrophen lassen vermuten, daß hier eine Routine zugrundelag, die vielleicht auf eine Reihe gemeisterter Vortragssituationen zurückblicken konnte und die für solche Situationen - wenn das Gedächtnis versagte - auch mit kurzfristig spontaner Improvisation aufwarten konnte. Dies erklärt auch den mnemonischen Charakter des von C U R S C H M A N N so genannten 'Nibelungischen', 92 dessen Stereotypie und Redundanz keineswegs der Mündlichkeit nur nachempfunden und darin fingiert worden sein muß, sondern das sich als vorzüglich geeignet erweisen mußte, beim Aussetzen des Gedächtnisses zu kurzfristiger Improvisation zu verhelfen. 92

M. CURSCHMANN, Nibelungenlied und Nibelungenklage. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven, hg. von C. CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 85-119, hier besonders S. 89-95. Die auf der Basis der gängigen Forschungsmeinung konsequente Annahme, daß die für die Fassungen des 'Nibelungenliedes' verantwortlichen „Schreiber das 'Nibelungische' beherrschten" (vgl. B. WACHINGER, Die 'Klage' und das Nibelungenlied, in: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied [Anm. 41], S. 264-275, hier S. 267), erscheint mir für die Erklärung der Entstehung der Fassungen als besonders unwahrscheinlich.

121

Harald Haferland

VI. Das fehlerhafte Neufassen von vergessenem Text Man könnte sämtliche Stellen aus *B, die in *C abweichend formuliert oder ersetzt worden sind, zu Stellen erklären, die dem Vergessen anheimgefallen und deshalb neugefaßt worden sind. Wer aber an Bearbeitungsabsichten eines schreibenden Redaktors festhält, wird sich davon wenig überzeugt zeigen. Deshalb wäre es sicher sinnvoll, nach Stellen zu suchen, die erlauben, eine Art Differentialdiagnose zu stellen. Dies ist allerdings nicht ganz einfach, denn eindeutige Verschlechterungen des Textes sind sehr selten, und fast immer sind die Abweichungen 'gleichwertig'. Nur in wenigen Ausnahmefällen glaubt man eine nicht ganz gelungene Einpassung zu beobachten, wie vielleicht vor Siegfrieds Abreise nach Worms, wo es heißt: Dö nähet'in ir reise zen Burgonden dan. um si begunde sorgen wibundeman, ob si immer kamen solden heim wider in daz lant. (B 67,1-3)

Dö nähet in ir reise zen Burgonden dan. si heten umbe in sorge, wiez im solde ergän, ob si immer wider solden kamen in daz lant. (C 67,1-3)

In *B gilt die Sorge der Daheimbleibenden allen abreisenden Recken, in *C dagegen nur Siegfried. In *B geht die Pronominalisierung konsistent durch die drei Verse hindurch, in *C durchbricht der Vers 67,2 diese Konsistenz und liefert außerdem einen unreinen Reim. Sollte der Dichter ob konditional aufgefaßt haben, so ergibt sich ein inhaltlich unsinniger Satz. Vielleicht lag eine leichte Fehlerinnerung vor, die das si aus Β 67,2 nicht als Objekt, sondern als Subjekt des Satzes erinnerte. Dies könnte zutreffen, wenn die Erinnerung nur von der Wortoberfläche ausginge. In jedem Fall aber hat der Dichter den Satz (unwillkürlich?) uminterpretiert und deshalb im unmittelbaren Kontext einige Risse verursacht. Beim Sprechen mögen einem diese Risse entgehen, und ein Vortrag würde über sie hinweggehen. Beim Lesen und Schreiben aber dürften sie auffallen und hätten leicht beseitigt werden können. Es sind gelegentlich nur kleinste, unwillkürliche Abweichungen, die einen Vers aber aus dem metrischen Gleichgewicht bringen und bei der Reparatur eine kleine Kettenreaktion auslösen. So, als Kriemhild Gunther und Siegfried vor ihrer Abreise nach Isenstein empfängt. Dö gie si mit in beiden, däsiedäsaz, ufmatraze diu vil riehen, ich wil wol wizzen daz, geworht von guoten bilden, mit golde wol erhaben simohtenbidenfrouwen guotekurzewile haben. (B352)

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Do gie si mit den degenen dä si selbe saz: matraz diu riehen, ir suit gelouben daz, lägen allenthalben an dem vletze nider. si heten bi denjrouwen guote kurzwile sider. (C 360)

Das Gedächtnis des Sängers

Von allen Wörtern werden Partikel naturgemäß am leichtesten vergessen. Hier sind dem Dichter womöglich e dä und üf entfallen, so daß er den Satz mit den Polstern neu beginnen und durchformulieren mußte. Dadurch zieht dieser sich aber in den nächsten Vers, und die Information über die Ausstattung der Polster muß aus Platzgründen ausgelassen werden. Im letzten Vers der Strophe ist der Dichter wieder im Tritt und hat das Kunststück fertiggebracht, bei nahezu identischem Wortlaut ein neues Reimwort einzufügen. Nach dem erfolgreichen Abschluß des Unternehmens in Isenstein wird Siegfried als Bote vorausgeschickt, um sich insbesondere Ute und Kriemhild mit der guten Botschaft vorstellen zu können. Hier verwechselt der Dichter ausnahmsweise einmal eine Person: Do sprach derjunge Giselher: „ dä suit ir zuo ζ 'ir gän dä habt ir miner swester vil liebe an getan. si treit ouch michel sorge umbdenbruoderm'm. diu maget siht iuch gerne: des wil ich iuwer bürge sin." (B 547)

Dö sprach derjunge Giselher: „ dä suit ir dar gan: dä habt ir miner muoter vil liebe an getän; diu hat doch michel sorge umbe den bruoder min. si sehent itich beide gerne, des suit ir gar äneangest sin" (C 553)

Es hat seine Logik, daß Ute sich besonders große Sorgen um ihren Sohn macht, aber so wird auch die besondere Zuordnung von Siegfried und Kriemhild aufeinander verpaßt. Daß beide, d.h. neben Ute auch Kriemhild, Siegfried gern begrüßen werden, steht nun zudem etwas unvermittelt im Kontext. Am Ende der achten und am Beginn der neunten Aventiure ist einiger Text verlorengegangen. Brünhild sucht jemanden, der anläßlich ihres letzten Empfangs auf Isenstein standesgemäß ihr Silber und Gold unter die Gäste zu bringen versteht. Daraufhin verschleudert Dankwart ihr Gut, so daß Brünhild Angst wird, ihr bleibe gar nichts mehr (B 513-518). Den Sinn solchen Handelns klärt gleich darauf Hagen: Man habe so großen Besitz in Worms, daß man dessen, was Brünhild mitzubringen gedenke, nicht bedürfe (B 519). Dies erklärt Hagen auch in *C, nachdem Brünhild befohlen hat, Gold, Silber, Pferde und Gewänder zu verschenken, und zwar auch an die burgundischen Gäste (C 526-528). Die DankwartEpisode aber ist ausgefallen - der einzige Textverlust von diesem Umfang allerdings gibt es ein Indiz, daß dieser Ausfall geplante Überarbeitung zugunsten ökonomischeren Erzählens sein könnte: In *B will Brünhild die zwanzig tragbaren Kisten, die sie mit ihrem Besitz füllen läßt (B 520), nicht noch einmal Dankwart anvertrauen, worüber Hagen und Gunther lachen (B 521). Diese Strophe Β 521 ist in *C auch ausgefallen, so daß die Dankwart-Episode an zwei Stellen genau herausgeschnitten ist. Textverlust wäre also keineswegs immer Folge eines Vergessens.

123

Harald Haferland

Immerhin ist aber auch noch denkbar, daß der Dichter den Wortlaut der Episode unzureichend erinnerte und sie als entbehrlich lieber ganz herausschnitt, als sie zu reparieren. In der Folge kommt es zu weiteren Ausfällen, die man zunächst auf die eine oder andere Weise erklären kann. Als Hagen Gunther daran erinnert, einen Boten von Isenstein nach Worms zu schicken, benennt Gunther ihn selbst (B 530 = C 538, neu formuliert). Hagen hält sich nicht für einen guten Boten und will lieber für die sichere Reise Brünhilds und ihrer Zofen nach Worms garantieren (B 531). Stattdessen schlägt er Siegfried als Boten vor, der diese Aufgabe wegen seiner Liebe zu Kriemhild gern übernehmen werde (B 532). Bis auf den ersten Vers fällt die Strophe Β 531 in *C aus, Strophe Β 532 wird neu formuliert (= C 539). Gunther läßt Siegfried holen, informiert ihn (B 533 = C 541) und teilt ihm seinen Wunsch mit. Siegfried lehnt rundweg ab, und Gunther muß noch einmal mit Nachdruck bitten (B 534): Nicht nur seinetwegen, sondern auch wegen Kriemhild solle Siegfried Bote sein. Daraufhin ist dieser bereit (B 535). Die Strophe Β 534 fällt in *C wiederum aus, Strophe Β 535 wird unter Übernahme einiger Formulierungen neu gefaßt (= C 541). Siegfrieds erste Ablehnung ist signifikant, sie ist typischer Ausdruck seines auch sonst dargestellten Verhaltens, und daß er die Ablehnung Kriemhilds wegen revidiert und sich zum Boten machen läßt, ist ebenso charakteristisch für ihn. Diese Doppelseitigkeit in Siegfrieds Verhalten gibt der Dichter von *C preis, und es ist kein wirklich überzeugender Grund absehbar, warum er dies tut. Daß auch in der Folge ein klar konturierter Text von *B aufgelöst wird, legt die Antwort nahe. Gunther teilt Siegfried mit, was er seiner Mutter Ute und seinen Brüdern ausrichten (B 537) und was er Kriemhild, seinem Gesinde und seinen Lehnsleuten ausrichten solle (B 538). Dies ist bis hierher weniger eine geteilte Botschaft - wie sie in den folgenden Strophen noch aufgetragen wird - als eine deutliche Reihung der Adressaten bei ihrer Aufzählung, die in *C aufgelöst wird: Zweimal werden hier Ute und Kriemhild als Adressaten genannt. Zu Beginn von C 543 heißt es: So sagt miner muoter und ouch der swester min [...] und zu Beginn von C 544: Kriemhild und mine muoter suit ir niht verdagen [...]. Dies ist eine minimale Unaufmerksamkeit für den vorhandenen Text, und es sind letztlich solche minimalen Abweichungen in der Mikrostruktur des Textes, die auswendiges Neufassen des Textes indizieren - der Dichter weiß: Jetzt kommt die aufzutragende Botschaft, er denkt aber nicht voraus an die über mehrere Strophen verteilte Aufzählung der Adressaten, sondern nennt die wichtigsten sofort, um sie dann in der Folgestrophe überflüssigerweise beide noch einmal nennen zu müssen. Hat der Dichter die Makrostruktur des Textes vollständig unter Kontrolle, so ist es neben kleinsten Unaufmerksamkeiten die unwillkürliche Willkür der vielen

124

Das Gedächtnis des Sängers

Abweichungen, die dafür spricht, daß Vergessen und Neufassen zumeist einhergehen. Erwartet man merkbare Vergeßlichkeit des Dichters nur am Detail, so wäre auch zu erwarten, daß er hier und da einmal Namen an der Handlung beteiligter Personen und Zahlen vergißt oder verwechselt. Zunächst ist aber bemerkenswert, wie viele er behält, an Zahlen darunter so belanglose und ungewöhnliche wie die Zahl der Hofdamen und Mädchen, die das weibliche Empfangskomitee für Brünhild in Worms darstellen: 86 Hofdamen und 54 Mädchen (B 572,1 = C 578,1; Β 573,1 = C 579,1). Immerhin gibt es aber ca. dreißig Zahlen, die meist ohne jeden absehbaren Grund abweichen.93 Für einen Schreiber, der sein Auge immer wieder einmal auf der Vorlage hat, sind solche Abweichungen eigentlich nicht zu erklären. Nur selten werden Namen vergessen, kaum je Personen verwechselt. Während des Feldzuges gegen die Sachsen wird Dankwart neben anderen wiederholt genannt, aber in einer Strophe, in der die burgundischen Vorstreiter einmal zusammen aufgeführt werden (B 211), wird er übergangen (C 212): Statt Dancwart und Volker heißt es Ortwin unde Volker, während im nächsten Vers, aus dem Ortwin vorgezogen wird, die Lücke mit Flickmaterial zugezogen wird. Dies bereitet Aufwand, da das Reimwort fallt und der letzte Vers neu gebildet werden muß - ein Aufwand, der in keinem Verhältnis stünde zu einer unerfindlichen Bearbeitungsabsicht, Dankwart an dieser Stelle auszulassen. Auch in C 782,1 wird Ortwin vorgezogen, und Hunolt aus Β 776,1 fällt ihm zum Opfer - auch hier ist davon auszugehen, daß der Name vergessen wurde. Daß so etwas in Aufzählungen geschieht, ist deshalb nicht überraschend, da dem Dichter hier zweifellos weniger an den Personen als an ihren Namen als metrischem Füllmaterial gelegen ist. Eine interessante Verwechslung liegt in C 980,4 vor. Statt daß Hagene sine triuwe vil sere an Sifriden brach (B 971,4), als man den Mord arrangiert, ist es Gunther, der dies tut, obwohl doch die Bearbeitungsabsicht, wie sie für die Zusatzstrophen unzweifelhaft besteht, darauf geht, Hagen möglichst viel Schuld zuzuschieben. Interessant ist auch folgende wenig sinnvolle Hinzufügung von Namen. Als Hagen das abgeschlagene Haupt Gunthers in Kriemhilds Händen sieht, triumphiert er über sie, da nun alle Mitwisser des Hortverstecks tot sind, d.h. außer Gunther noch Giselher der junge, und ouch her Gernot (B 2371,2). Dieser Vers lautet aber in *C Giselher und Volker, Dancwart und Gernöt (C 2431,2) - die Auffüllung des vergessenen Textes mit Namen ergibt keinen Sinn, da Volker und Dank93

Vgl. HOFFMANN [Anm. 1], S. 114, Anm. 14. Vgl. außerdem Β 381,2; 715, 2; 907,1; 941,4; 1122,4; 1142,2; 1200,3; 1226,3; 1270,1; 1271,3; 1390,4; 1682,3; 1769,2; 2124,3.

125

Harald Haferland

wart gar nicht Mitwisser des Hortverstecks sind. Solche kleinen Verschlechterungen erklären sich aus der Not, neuen Text zu finden, und aus einer einhergehenden temporären Unaufmerksamkeit.

VII. Der oder die Sänger des 'Nibelungenliedes'? SCHRÖDER ist in seinen 'Beiträgen zur Textform des Nibelungenliedes' zu der Überzeugung gelangt, daß es „keine Differenz gibt, welche die Verfasserschaft des Dichters für die Redaktion C auszuschließen zwänge. Auf jeden Fall ist die Fassung C in allerengster örtlicher, zeitlicher und literarischer Nachbarschaft mit der Vulgata entstanden." 94 Dies ist in ihrem ersten Teil eine vorsichtige Formulierung, denn „man kann in dieser Frage [...] nicht viel beweisen" 95 . So mag es überraschend und überflüssig erscheinen, wenn ich nach der vollzogenen Wiederannäherung an die Mündlichkeit des 'Nibelungenliedes' die Fassungen nicht auf verschiedene Sänger aufteile, sondern einem Dichter und Autor zuzusprechen suchen werde. Und es ist gewiß paradox, wenn ich mich hierfür auf ein Argument von FROMM stützen werde, der g e g e n Β RACKERT, BÄUML und CURSCHMANN zu e i n e m

schriftlich fixierten Original, „vielleicht in der Form einer spielmännischen Vortragshandschrift," 96 zurückkehren zu müssen glaubte. Die Mündlichkeit, von der ich ausgegangen bin, schließt allerdings ein solches Original gar nicht aus. Vielleicht hat der Dichter es als Gedächtnisstütze verwendet und sich des einmal niedergelegten Wortlauts dann und wann vergewissert, bis sich die Erinnerung festigte. Vielleicht hat er es auch zur Abfassung benötigt, um die weitgespannte Konstruktion in Ruhe entwerfen und dann auswendig lernen zu können. Ich möchte auch nicht ausschließen, daß er beim Diktat der Fassung *C nicht doch noch einmal hier und da in eine Handschrift geschaut hat. Dies alles ist gleichfalls nicht zu beweisen und bedürfte noch einmal weitergehender Überlegungen. Es ist für meine Überlegungen schließlich nicht ausschlaggebend, der Persönlichkeit, „welche den Text des 'Originals' fixierte" 97 , nun auch noch die Fassung *C zuzuschlagen. 98 Aber es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine solche Annahme: „Vergleicht man [...] die Fassungen des Nibelungenliedes, so ist der Grundbestand gemeinsamen Textes so groß, wie er bei Varianten der Münd94 95

E. SCHRÖDER, Beiträge zur Textform des Nibelungenliedes I, in: ZfdPh 70 (1933) 145-160, hierS. 158, Anm. 1. S. GUTENBRUNNER, Votum fur Α. Zur Handschriftenfrage beim Nibelungenlied, in: ZfdPh 78(1959) 39-49, hierS. 46.

96

FROMM [ A n m . 3 6 1 , S . 2 8 4 .

97

Ebd. Für das Verhältnis von *A und *B ließe sich allerdings eine ähnliche Argumentation durchführen wie die hier vorgenommene.

98

126

Das Gedächtnis des Sängers

lichkeit nicht zu erwarten ist."99 Dieses Argument FROMMS scheint mir schlagend, nur überspringt FROMM eine Möglichkeit, die hier vorliegen dürfte. Tatsächlich wäre fur unterschiedliche mündliche Sänger - einen bestimmten Typ von Mündlichkeit, nämlich spontan improvisierenden Vortrag, vorausgesetzt - ein bei allen Abweichungen doch noch so stabiler Grundbestand gemeinsamen Textes ganz undenkbar. Aber zunächst ist es nicht selbstverständlich, daß es nur diesen Typ von Mündlichkeit gibt. Es gehört zum blinden Fleck der Forschung zur oral poetry, daß von Sängern auswendig vorgetragene Dichtung, die es nahezu in allen Kulturen und in oralen ohne, in literalen mit Schriftstütze gibt, keine Berücksichtigung findet. Allein die Existenz von Liedern, auch wenn sie nicht immer gleich Erzähllieder sein müssen, hätte auf eine vielleicht etwas voreilige Verleihung des Titels oral poetry für eine recht spezielle Form mündlicher Dichtung (mit einer composition in performance) aufmerksam machen müssen, und zumindest LORD hat den Fehler zuletzt - wenn auch nur halbherzig - wiedergutzumachen versucht, wenn er zwei Typen mündlicher Dichtung, einen improvisierenden und einen memorierenden, zumindest diskutiert.100 Es ist denkbar, daß sich die äußere Vortragsform germanischer Heldendichtung - ob diese nun improvisierend oder memorierend war101 - in die mittelhochdeutsche Zeit hinübergerettet hat und die Texte immer noch frei, d.h. ohne Schriftstütze beim Vortrag, vorgetragen wurden, freilich indem ein vorher fixierter Text erinnert wurde, gleichviel ob er schriftlich oder mündlich fixiert wurde. Mündliche Fixierung wird grundsätzlich durch die mnemonischen Eigenschaften der Strophenform ermöglicht. Aber ein das neue Medium nutzender Dichter konnte dieses als zusätzliche Gedächtnisstütze einsetzen und so wohl eine enorme Erweiterung seiner Fähigkeiten verzeichnen. Ob das Resultat dann mündliche oder schriftliche Dichtung war, ist ein Definitionsproblem, zu dessen Lösung sicher auch die Situation und der Charakter der Abfassung in Betracht gezogen werden müssen. Angenommen, der Vortrag des 'Nibelungenliedes' erfolgte in nichtimprovisierender Mündlichkeit aus dem Gedächtnis, so ist die Textvarianz grundsätzlich geringer anzusetzen als bei improvisierter mündlicher Dichtung. Außerdem gibt es einen Referenztext, der bereits vorliegt, wenn der Sänger vorzutragen beginnt, ob er nun nur in seinem Kopf oder auch auf einem materiellen Schriftträ9 9

FROMM [ A n m . 3 6 ] , S . 2 8 3 .

100 Vgl. Α. B. LORD, Central Asiatic and Central Balcan Epic, in: ders., Epic Singers and Oral Tradtion, Ithaca, London 1991, S. 211-244, hier S. 234-238. Entscheidende Einwände gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der oral-formulaic theory sowie wesentliche Differenzierungen hatte z.B. R. FINNEGAN, Oral Poetry. Its Nature, Significance and Social Context, Bloomington, Indianapolis 1977, Kap. 3, vorgebracht. LORDS Gegendifferenzierungen in dem angeführten Aufsatz wird man als ein 'Rückzugsgefecht' betrachten müssen. 101 Vgl. einige Hinweise hierzu in HAFERLAND [Anm. 41].

127

Harald Haferland

ger gespeichert ist. Der Sänger kann sich die Möglichkeit temporärer Improvisation offenhalten, er muß es sogar, wenn er seinem Gedächtnis nicht immer ganz vertrauen kann. Wie auf der anderen Seite der durchweg improvisierende Sänger die Möglichkeit nutzen wird, ganz in das Gedächtnis übergegangene Partien auch zur Gänze abzurufen. Es ist recht unwahrscheinlich, daß sich verschiedene Sänger eine Handschrift des 'Nibelungenliedes' besorgten, es aus der Handschrift auswendig lernten und vortrugen, wobei sie es sich langsam 'zurechtsangen' und ihre eigene Fassung bildeten. Dies ist sicher kein Szenario, das zum Befund der Fassung *C paßt. Denn auch dann würde man weitergehende selbständige Eingriffe in den Textbestand bzw. in die Erzählfolge erwarten. Tatsächlich sind alle neugefaßten Partien nach Sprache, Stil, Metrik und Reimgebrauch nicht wesentlich von der Fassung *B zu unterscheiden, so daß man von einer weithin bruchlosen Neufassung sprechen muß. Daß sich ein fremder Sänger, der den Text nicht selbst verfaßt hatte, so bruchlos - und dies gar noch in freier Mündlichkeit - in seine Sprache einsprechen konnte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dem Dichter des Originals' wird man allerdings eine solche Fähigkeit nicht absprechen können. So ist das, was man nicht beweisen kann, bei der auch zeitlichen und räumlichen Nähe der Fassungen zueinander letztlich das entschieden Wahrscheinlichste. Der umfangreiche gemeinsame Textbestand der Fassungen weist nun - so meine These - nicht auf ein von zwei oder mehr Redaktoren bearbeitetes schriftliches Original, sondern auf das Gedächtnis eines einzigen Sängers und Dichters aller Fassungen als Ort der Aufbewahrung des Textes. Die konstitutive Mündlichkeit des Vortrage - nicht: der Abfassung des Textes! - zwang den Sänger dazu und gewöhnte ihn daran, mit seinem Gedächtnis zu arbeiten und dort, wo es vorübergehend versagte, Reparaturmaßnahmen zu ergreifen, was ihm angesichts der mnemonischen Sprache des 'Nibelungenliedes' nicht übermäßig schwer fallen durfte. Das Gedächtnis des Sängers also erklärt zusammen mit seinen Lücken und mit dem Versuch des Sängers, sie abzudecken oder zu überbrücken, den Textbefiind der Fassung *C des 'Nibelungenliedes'. Nun ist dies nicht die ganze Wahrheit, da es konzeptionell ausgerichtete Zusatzstrophen gibt, die dem Geschehen eine Interpretation geben, wie sie die Fassung * B noch nicht kennt. Nach HOFFMANN weichen aber die Fassungen „in Geisteshaltung und Zielsetzung" soweit voneinander ab, „daß kaum ein und derselbe Dichter als Autor beider Fassungen in Frage kommt." 102 Zunächst ist es wichtig zu betonen, daß die Art, wie die Fassung *C über weite Strecken entstanden sein dürfte, eine zusätzliche konzeptionelle Neufassung ja 102

128

HOFFMANN [Anm. 63], S. 87. Vgl. z.B. auch DROEGE [Anm. 22], S. 102f.

Das Gedächtnis des Sängers

nicht ausschließt. War es ein Fehler, aufgrund dieser Konzeption auf durchgängige Bearbeitungsabsichten für alle Abweichungen zu schließen, so muß man - wenn man solche Bearbeitungsabsichten bestreitet - diesen Fehler in umgekehrter Richtung nicht wiederholen. Es erscheint mir nicht ungewöhnlich, wenn sich dem Dichter die Bewertung des erzählten Geschehens im Verlauf von einigen Jahren, die gewiß mit wiederholtem Vortrag und Publikumsreaktionen - vielleicht auch solchen, die die Verteilung der Schuld problematisierten - hingingen, verschob. H O F F M A N N , der dem Dichter in anderen Fragen der Arbeit an einer Fassung nicht allzuviel Konsequenz abverlangt sehen will, mutet ihm für Jahre auseinanderliegende Fassungen eine ein für alle Mal konstante Geisteshaltung und Zielsetzung zu, wie sie unter Bedingungen der Entfaltung des Buchdrucks zu erwarten wäre. Man mag sich größere Konsequenz auferlegen, wenn man etwas drucken läßt, trägt man hingegen über Jahre hinweg einen selbstverfaßten Text vor, so darf sich die Einstellung zu seinem Inhalt ändern. Es ist richtig, daß sie sich einschneidend ändert, aber sie ändert sich auch in Richtung einer gewissen Stimmigkeit und Konsistenz, da die Darstellung und Bewertung von Kriemhilds und Hagens Handeln nicht vom ersten zum zweiten Teil wechselt, sondern über den ganzen Text hin einheitlich erfolgt. Da sich an der berühmten Strophe Β 1912 durch Vergleich mit der 'Thidrekssaga' und der 'Heldenbuchprosa' ablesen läßt, daß die Fassung *B einen alten Zug der Darstellung des Geschehens aus einer älteren Vorlage bewahrt, ohne daß er noch eine Funktion besäße, 103 kann man aus der Beseitigung dieses Zuges und des Wortlauts der Strophe Β 1912 in C 1963 schließen, daß der Dichter sich auch in Richtung einer größeren Eigenständigkeit von seiner stofflichen, ja vermutlich von (s)einer schriftlichen Vorlage entfernt. 104 In dieser Vorlage verfiel Kriemhild einem äußerst negativen Verdikt des Dichters, weil sie bereit ist, zur Durchführung ihrer Rache ihren eigenen Sohn zu opfern. Sie läßt ihn Hagen provozieren, so daß dieser - dadurch entschuldigt - ihm den Kopf abschlägt. Das aber war Kriemhilds grausiges Kalkül, um auf diese Weise Etzel in ihre Rache einzubinden. Schon in *B ist dieses Kalkül überflüssig, da Kriemhild einen anderen Weg gefunden hat, Etzels Leute in den Kampf gegen die Burgunden hineinzuziehen - sie gewinnt Bloedelin (B 1904-1911) - , so daß die Vermutung naheliegt, die Strophe sei versehentlich stehen geblieben. Da Hagen Kriemhilds und Etzels Sohn später

103 104

Vgl. dazu z.B. HEINZLE [Anm. 49], S. 38-42. Ungeachtet des Aperfus von FROMM, HEUSLERS Postulat einer 'Älteren Not' sei so sehr fur bare Münze genommen worden, daß Studenten sie in den Seminarbibliotheken vermißt hätten, spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine solche Dichtung tatsächlich existiert hat.

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Harald Haferland

erschlägt, muß dieser herbeigebracht werden, aber das kann auch geschehen, ohne daß die schreckliche Folge in Kriemhilds Kalkül liegt. Mit ihrem Kalkül fällt in *C auch die Entschuldigung für Hagen, und so läßt sich die Schuldverteilung zwischen Kriemhild und Hagen geradewegs umkehren. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß der Dichter mit seiner neuen Konzeption weniger gegen seine eigene Fassung *B antritt, sondern gegen deren Vorlage als Zeuge einer vorgängigen Sagentradition, soweit diese Vorlage in *B noch - z.T. unter Inkaufnahme von Inkonsistenzen - erhalten geblieben war. Dies spricht nun nicht mehr gegen, sondern im Gegenteil geradezu für ein und denselben Autor als Dichter beider Fassungen. Denn er hat das 'Nibelungenlied' am Ende zu einem einheitlichen und eigenständigen Text geformt, der bald - gemessen an *A und *B - weiteste Verbreitung erfuhr. 105 Möglich wäre auch eine andere Formung gewesen: Warum nicht darstellen, wie Kriemhild vom lieblichen Mädchen zur jedes Maß verletzenden grausamen Rächerin wird und Hagen im Angesicht des Todes zum Held? So war es in der Vorlage des Dichters angelegt, und diese archaische Version neu zu motivieren, hätte die größere Herausforderung sein können. Des Dichters Version mochte besser zu den milderen Lebensformen des 13. Jahrhunderts passen - was mit Modernität und Subjektivität einer späteren Zeit nichts zu tun hat.

VIII. Erzählsituationen Bei der mündlichen Tradierung von Erzählgut produziert das kulturelle Gedächtnis — das in diesem Fall eine Summation individueller Gedächtnisse darstellt 'selbsttätig' Abweichungen. Niemand erzählt eine Geschichte wortwörtlich so wieder, wie er sie gehört hat. Die Abweichungen rotieren um einen Erzählkern, der gleichwohl konstant bleiben kann, so daß man dieselbe Geschichte identifiziert. Aber da das Wieder- und Weitererzählen in voneinander abgekapselten Erzählsituationen erfolgt und es keine kollektive Steuerung wie bei Ritualen, Zere-

105

130

Vgl. J. H E I N Z L E , Mißerfolg oder Vulgata? Zur Bedeutung der *C-Version in der Überlieferung des 'Nibelungenlieds', in: Blütezeit (FS L. P. Johnson), hg. von M . C H I N C A u.a., Tübingen 2000, S. 207-220, hier S. 208f.: „Der *C-Bearbeiter [...] korrigierte den Text [der Not-Version, Η. H.] selbst: beseitigte Motivationsdefizite, glättete Widersprüche, schuf Klarheit über Schuld und Unschuld, nahm Distanz zur Tradition, markierte und problematisierte die Historizität des Überlieferten. Auf dem Weg, den der Dichter des 'Nibelungenlieds' eingeschlagen hatte, voranschreitend, hat er damit den Prozeß der Verschriftlichung der mündlichen Nibelungen-Sage zum Nibelungen-Buch entscheidend weitergetrieben." M. E. korrigierte der *C-Bearbeiter sich selbst, vielleicht aber durchaus in der Absicht, eine verbindliche Fassung und damit eine buchmäßig festzuhaltende Fassung, herzustellen.

Das Gedächtnis des Sängers

monien und Festen gibt, gibt es auch Fälle, die dem Sophisma vom Schiff des Theseus alle Ehre machen würden. 106 Im 'Alten Atlilied' begibt sich Gunnar - von Gudrun vor tödlicher Gefahr gewarnt - eben deshalb in exorbitanter Mißachtung des drohenden Todes zu Atli, und als dieser ihn in der Schlangengrube umkommen läßt, rächt Gudrun ihn, indem sie Atli die Herzen ihrer gemeinsamen Kinder verspeisen läßt. Dies ist nicht der Gunther, der Etzel, die Kriemhild des 'Nibelungenliedes', und doch sind sie es. Es ist nicht dieselbe Geschichte, und doch ist sie es. Die vielen Erzähl lieder, die den Nibelungenstoff tradierten, schufen gemeinsam eine amorphe Erzählmasse, während jeder Sänger sich doch bemühen mochte, eine klar konturierte Form aus ihr herauszuschälen. Bereits die nordischen Kompilatoren germanischer Heldensage hat beschäftigt, daß die Erzähllieder und sagenmäßigen Nacherzählungen voneinander abwichen, daß sie aber auch übereinstimmten, obwohl die Sänger und Erzähler einander gar nicht kannten. 107 Diese Erhaltung des Erzählstoffs in ungelenkter Streuung rechtfertigt es, vom kulturellen Gedächtnis zu sprechen, das über die Einzelgedächtnisse neben der Erhaltung der Erzählmasse zugleich auch Umformungen erzeugt. Mündliche Erzählsituationen bieten keine Gelegenheit, die Erzählmasse in eine fur alle Zukunft fixierte und stabile Form zu bringen. Wenn überhaupt, dann wird eine solche Form von einem einzelnen Sänger fur bestimmte Erzählsituationen im Gedächtnis fixiert. So ist das Gedächtnis der einzige Träger einer konkreten Erzählfolge und bei Erzählliedern des Wortlauts. Wenn einzelne Sänger oder Nacherzähler sich bei der Bildung der Erzählung ihren Weg durch Abweichungen bahnen müssen, dann handelt es sich um Abweichungen in der Stoffdarbietung und Erzählfolge und nicht um solche des Wortlauts. 108 Legen Sänger einen Wortlaut fiir Lieder fest, so ist natürlich auch dieser anfällig fur Abweichungen, wenn Teile vergessen werden. Aber das ist nur ein Problem fur die Sänger in einer Erzähl- bzw. Vortragssituation, da sie in der Lage 106

107

108

Eine Fassung des Sophismas könnte lauten: Das Schiff des Theseus besteht aus hundert Planken, von denen jeden Monat eine aus Altersschwäche ausgewechselt werden muß. Ist das Schiff nach knapp zehn Jahren noch dasselbe Schiff? Vgl. Jjiöriks Saga af Bern, hg. von H. BERTELSEN, Kopenhagen 1905-1911, Bd. I, Formäli (Vorwort), S. 1-7, hier S. 2; Bd. II, Fra Hogna oc hans syni Aldrian (Von Högni und seinem Sohn Aldrian), S. 323-328, hier S. 327f. (als Übersetzung vgl. Die Geschichte Dietrichs von Bern, übertr. von F. ERICHSEN, Weimar 1942, S. 61, 414); Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, hg. von G. NECKEL, 4., umgearb. Aufl. von H. KUHN, Heidelberg 1962, Bd. I. Text, Frä dauöa Siguröar (Vom Tod Siegfrieds), S. 201 (als Übersetzung vgl. Die Edda. I, Heldendichtung, übertr. von F. GENZMER, Düsseldorf 1963, S. 43). Zum Vorwort der 'Thidrekssaga' vgl. M. CURSCHMANN, The Prologue of Thidreks Saga. Thirteenth Century Reflections on Oral Traditional Literature, in: Scandinavian Studies 56 (1984) 140-151. Das abweichende Erzählen beschäftigt auch den Dichter der 'Klage'. Vgl. *B, V. 4323-4348. Diesen Typ von Abweichungen hat u.a. HEUSLER [Anm. 30] verfolgt.

131

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sein müssen, die Lücken sofort zu schließen. Ansonsten scheint der Wortlaut kein Gegenstand der Wahrnehmung. Noch an den Abweichungen der Fassung *C des 'Nibelungenliedes' ist - obwohl dieses nicht vergleichbar ist mit stabreimenden Liedern vergangener Jahrhunderte - abzulesen, daß Abweichungen im Wortlaut am Verlauf der Erzählung nichts oder kaum etwas ändern müssen. Zu relevanten Abweichungen kommt es hier erst zwischen verschiedenen Sängern/Erzählern, die ihre Version aus der Erzählmasse je anders herausschälen. Der Beginn von Literatur im Wortsinn liegt dort, wo nicht mehr Sänger und Erzähler weithin unabhängig voneinander einen Stoff in freier Mündlichkeit rotieren lassen, sondern wo es einen schriftlich verfaßten Referenztext gibt, von dem sie sich weithin gemeinsam abhängig machen, um ihrerseits einen Schrifttext zu verfassen. Dies geschieht leicht, wenn die Vortragssituationen grundlegend umgestellt werden. Zwischen der Mündlichkeit des improvisierenden und/oder memorierenden Sängers bzw. Erzählers und der Mündlichkeit des beim Vortrag ablesenden Autors und/oder Vorlesers besteht ein gravierender Unterschied, der einschneidende Folgen für die Konstitution der Texte hat. Vorzulesende Texte haben eine grundsätzlich andere Form, und sie werden auf andere Weise verfaßt. Denn in jeden Text geht die projektierte Vortrags- oder Rezeptionssituation bereits bei seiner Abfassung ein. 109 Im Blick auf charakteristische Differenzen von Erzählsituationen scheinen mir Unterscheidungen von größerem Gewicht möglich als im Blick auf die nachfolgende Überlieferung der Texte in einer Handschriftenkultur. Daß hier der Blick durch eine Fixierung auf die Handschriftenkultur und ihre Überlieferungsformen, die zweifellos eine eigene Beobachtung wert sind, getrübt werden kann, möchte ich abschließend an einem Beispiel kurz diskutieren. B U M K E hat von einem „frühen Zustand volkssprachlicher Schriftlichkeit, als die Texte noch prinzipiell variabel waren" 110 , gesprochen. Daß er nicht überall ganz konsequent auf Variabilität umgestellt, sondern an die Stelle eines nicht rekonstruierbaren Originaltextes nun nur die Fassung gestellt hat, die „Merkmale der Originalität" aufweise 111 , könnte ihm angesichts des z.B. in dem zitierten Satz angemeldeten Anspruchs zum Vorwurf gemacht werden. 112 Ich möchte allerdings in die entgegengesetzte Richtung argumentieren. 109

Gewiß wird es aber auch einen Unterschied machen, ob ein memorierender Sänger sich allein auf sein Gedächtnis stützen muß oder ob er den Prozeß der ursprünglichen Abfassung seines Textes durch Niederschrift und vielleicht durch Übernahme einer schriftlichen Vorlage erleichtern kann. Beides ist für das 'Nibelungenlied' anzunehmen.

110

BUMKE [ A n m . 9 ] , S . 3 8 9 .

' 1 1 Ebd., S. 46. Vgl. S. 48: „In gewissem Sinn nehmen die Fassungen [...] den Platz ein, den in der alten Textkritik das Original innehatte." 112 So verstehe ich die Rezension von P. STROHSCHNEIDER, in: ZfdA 127 (1998) 102-117.

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Das Gedächtnis des Sängers

Die Betonung einer prinzipiellen Variabilität klingt nach den 'ersten drei Minuten' nach dem Urknall, als sich noch keine Atomkerne bilden konnten. „Unfeste Texte sind nicht zuerst fixiert und nachträglich variiert worden, sondern die Veränderbarkeit war ihnen von Anfang an mitgegeben."113 An den von mir grob schematisierten Erzählsituationen gemessen gilt diese Beschreibung für die Mündlichkeit improvisierender Sänger, sie gilt auch für das Weitererzählen gehörter Mythen, Sagen und überhaupt für rein mündlich tradiertes Erzählgut. Dieses ist prinzipiell variabel, und Veränderbarkeit des Inhalts wie des Wortlauts ist ihm von Anfang an mitgegeben. Es bedeutet aber eine Verunklarung des Gesamtbildes, den „frühen Zustand volkssprachlicher Schriftlichkeit" mit denselben Worten zu beschreiben. Die relevante Opposition zur Beschreibung hochmittelalterlicher Literatur wird nun nicht 'Mündlichkeit - Schriftlichkeit' lauten, sondern im Bereich schriftgebundener Mündlichkeit werden weitere Differenzierungen zu treffen sein." 4 In welcher Weise Texte in diesem Bereich prinzipiell variabel sein sollen, ist nicht recht einzusehen. Natürlich ist ein aufgeschriebener Text 'prinzipiell' variabel, wenn man ihn mit verändertem Wortlaut ein weiteres Mal aufschreibt oder vorträgt. Als Text ist er aber per definitionem fest, und man kann immer nur einen Text aufschreiben. Natürlich sind Texte in dem von B U M K E untersuchten frühen Zustand volkssprachlicher Schriftlichkeit zuerst fixiert und nachträglich variiert worden. Die Bildung von Fassungen beruht geradezu auf der Festigkeit von Texten, sonst ergäbe sich nicht der Impetus zur Fassungsbildung, der wiederum zu einem festen Text fuhrt - Varianz der Überlieferung ist ein anderes, hier fernzuhaltendes Phänomen.115 Daß die Methode der Textkritik eine beschränkte Reichweite hat, ist weder gleich eine Eigenschaft der Texte selbst, die somit in unentscheidbarer Variabilität konzipiert worden wären, noch eine Mahnung, überall dort, wo mit ihr nichts mehr zu erreichen ist, alle Überlegungen einzustellen. Ob und warum ein Dichter eine zweite (oder dritte, usw.) Fassung gedichtet hat, ob und warum es vielleicht nicht der Dichter selbst war, ob und in welchen Fällen - und hier liegt der Übergang zur Überlieferung - Schreibern unmittelbar vorgeschaltete Redaktoren in Texte hineinredigierten oder ganze Texte emendierten, ob und in welchem Umfang Schrei113

BUMKE [ A n m . 9 ] , S. 5 4 .

114

Hinweise zur Sekundärliteratur vgl. bei M. G. SCHOLZ, Die Entstehung volkssprachlicher

115

Selbst wenn man konzediert, daß sich Freiheiten des Abschreibens von Texten - wie sie zur Varianz der Überlieferung führen - aus einer relativen Unverbindlichkeit des ersten Aufschreibens dieser Texte erklären lassen, daß also so etwas wie ein autorisierter Wortlaut noch keine Geltung besitzt, schafft man die Eigenschaft der Schrift, einen Wortlaut zu fixieren, nicht hinweg. Vertretbarer als die Rede von 'unfesten Texten' erschiene mir dagegen die von 'unfesten Werken'.

Schriftkultur in Europa, in: GÜNTHER und LUDWIG [Anm. 35], S. 555-572, hier S. 561.

133

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ber sich hier und da zu Redaktoren aufschwangen - solche und weitere Fragen sind nicht obsolet, nur weil man textkritisch nicht mehr zwischen Echtheit und Unechtheit zu unterscheiden vermag, und solchen Fragen entzieht sich BUMKE letztlich auch nicht. 116 Von der theoretischen Vorentscheidung für prinzipielle Variabilität ist bei BUMKE aber ein 'Theoriemythos' abhängig, der wohl ebenso problematisch ist wie die Versessenheit auf ein - und nur ein Original - in der LACHMANN-Philologie. BUMKE versteht den Begriff der gleichwertigen Parallelfassung dahingehend, solche Fassungen seien unabhängig voneinander entstanden." 7 Sein Hauptargument dafür besteht in der Feststellung, daß man oft nicht - und mit den Methoden der klassischen Textkritik schon gar nicht - entscheiden kann, welche Fassung vorgängig ist. Methodische Vorsicht, wie BUMKE sie sich mit durchaus überzeugenden Gründen auch terminologisch auferlegt, 118 wird hier unmerklich zu einer Eigenschaft der Sache selbst umgemünzt. Am Anfang steht kein Original, sondern eine Zahl variabler Fassungen, die erst später zu einer gültigen Gestalt eines Werks selektiert werden. Die variablen Fassungen müssen aber deshalb unabhängig voneinander sein, damit sich nicht doch wieder ein Original hereinschleicht. Wenn nun Versionen desselben Erzählstoffs ('Fassungen' des Stoffs) unabhängig voneinander sein können, so wird dies für Fassungen eines Textes oder Werks schwierig, ob es sich nun um Entwurfsfassungen oder Überarbeitungen eines oder mehrerer Verfasser handelt. Denn wenn es einen gemeinsamen Textbestand gibt, dann stehen die Fassungen wohl in irgendeiner Abhängigkeit, sei es zu diesem oder zueinander. Und wenn es schon kein 'Original' gibt, dann taucht doch der gemeinsame Textbestand irgendwo zum ersten Mal auf. Daß die 'Klage'-Fassungen *B und *C wie der 'Iwein' Α und der 'Iwein' Β „gleich ursprünglich zu sein scheinen" 119 und deshalb unabhängig voneinander sein sollen, erschiene mir nur dann nicht als eine Absurdität, wenn man eine verlorene Ausgangsfassung ansetzte, auf deren Textbestand sie jeweils unabhängig voneinander zurückgingen. Überlegungen in dieser Richtung bleiben bei BUMKE aber vage, 120 und so bekommt er es mit dem sonderbaren Phänomen zu tun, daß z.B. bei der 'Klage' derselbe Textbestand (mit Abweichungen) zweimal an ver-

116 117 118

119 120

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Vgl. seine Überlegungen zur „Nibelungenwerkstatt": BUMKE [Anm. 9], S. 590-594. Ebd., S. 32 u.ö. So beschreibt er die Unterschiede der 'Klage'-Fassungen *B und *C mit Begriffen, die keine Vorentscheidung darüber enthalten sollen, welche Fassung von welcher abhängig sei. Ebd., S. 390-455. Ebd., S. 591. Im Fall des 'Nibelungenliedes' scheint er ein 'Passauer Nibelungenlied' von *B und *C zu unterscheiden: ebd., S. 561-567. Dabei soll aber *B „mehr oder weniger identisch" mit dem 'Passauer Lied' sein (S. 567).

Das Gedächtnis des Sängers

schiedenen Orten erscheint, als handelte es sich um ein literarisches Quantenphänomen.121 Es besteht kein Grund, die Entstehungsumstände von Fassungen unter dem Stichwort der Variabilität - oder vergleichbaren Begriffen wie mouvance122 - zusätzlich zu dem Dunkel, in dem sie liegen, zu vernebeln. Hier müssen vielmehr Hypothesen weiterhelfen, die besondere Umstände berücksichtigen. Schwerlich wird sich dabei der Fall der Fassung *C des 'Nibelungenliedes', der dem Theoriemythos BUMKES noch am ehesten entgegenkommt, da hier in der Tat Abweichungen auf autonome Weise und geradezu aleatorisch entstehen, auf andere Fälle von Fassungsbildung übertragen lassen, in denen wie z.B. beim 'Iwein' ein anderer Typ von Erzählsituation vorauszusetzen ist. Die Fassung *C dürfte als ein Relikt der untergehenden Kultur der Mündlichkeit entstanden sein - allenfalls im Zuge der ursprünglichen Abfassung des 'Nibelungenliedes' wird ihr ein Schrifttext vorausgegangen sein, der anfangs als Textspeicher und Gedächtnisstütze gedient haben mag. Vor den Augen der Zuhörer aber fand sich wohl nie ein ablesender Dichter, sondern immer nur ein frei vortragender Sänger, der seinen Text zur erneuten Aufzeichnung denn auch aus dem Gedächtnis diktieren konnte.

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Die einzige Überlegung, die B U M K E diesem sonderbaren Phänomen widmet, ist die Vermutung, „daß die Redaktoren bereits während der Ausarbeitung ihrer Texte in Kontakten miteinander gestanden haben" und „daß die beiden Fassungen in zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft entstanden sind". Ebd., S. 389. Vgl. auch S. 591f. Unklar bleibt, was die Redaktoren redigierten - redigierten sie gegenseitig ihre Texte, so hätte man es immer noch mit zwei Texten und nicht mit zwei Fassungen eines Textes zu tun - und was bei ihren Kontakten oder bei den „Textkontakten" (S. 591) eigentlich geschah. Natürlich besitzen solche Begriffe ihren deskriptiven Wert für bestimmte vorliterarische Erzählsituationen.

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Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung Sein und Nicht-Sein in der Dichtung des Mittelalters v o n KATHARINA PHILIPOWSKI

Nihil potest homo intelligere sine phantasma.1

Es ist in der Forschung zur Mentalität und zur Kultur des Mittelalters in den letzten Jahre des öfteren darauf hingewiesen worden, daß Kommunikation in der Dichtung des Mittelalters dinglich ist,2 daß höfische Heroen sich also weniger im Medium der Dialogizität verständigen als durch Rüstungen, Speere, Becher, Blut und Schmuck.3 Eine derart körperliche Form des Austausches fuhrt jedoch unweigerlich spätestens dann zu Problemen, wenn im Rahmen einer Interaktionssituation der Körper als Träger von Wissen, von Information ausfällt. Diese Situation ist gegeben im Fall der Erinnerung: Denn erinnert werden muß nur das, was nicht gegenwärtig ist. Erinnert werden kann aber auch nur das, was nicht schon dem Vergessen anheimgefallen ist. Vormals Präsentes muß im Akt der Erinnerung deshalb einen Spezialstatus einnehmen - einen Zwischen-Körper, der sich dem zu Erinnernden für die Zeit seiner Ungegenwärtigkeit leiht, sich gleichsam zum Träger oder zur Materie der abstrakten zu memorierenden Information macht. Erinnerung ist in den Texten, die hier untersucht werden sollen, also alles andere als 'psychische Energie' 4 , sondern gar nicht dinglich genug zu denken. Dennoch 1 2

Thomas Aquinas, In Aristoteles libros. De sensu et sensato, De memoria et reminiscentia commentarium, hg. von R.M. SPIAZZI, Turin 1949, S. 92. Vgl. aus der Fülle der in den letzten Jahren erschienen Literatur vor allem: Materialität der K o m m u n i k a t i o n , h g . v o n H . U . GUMBRECHT / K . L. PFEIFFER, F r a n k f u r t a . M . 1 9 8 8 ; H .

WENZEL, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995; P. CZERWINSKI, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I, München 1989; Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von K. SCHREINER / N. SCHNITZLER, München 1992; J. BUMKE, Höfische 3

4

Körper - höfische Kultur, in: Modernes Mittelater. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von J. HEINZLE, Frankfurt a.M. 1994, S. 67-103. Vgl. hierzu CZERWINSKI [Anm. 2] und ders., Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II, München 1993; WENZEL [Anm. 2]; J. BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1994. K. STIERLE, Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift. Über den Ursprung des Romans bei Chrötien de Troyes, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hg.

Katharina Philipowski

oder vielleicht gerade deshalb - ist der Zwischenkörper der Erinnerung eine äußerst fragile Einrichtung: Er darf nicht so verletzlich sein, daß er die Auslöschung des zu Erinnernden zuläßt wie im 'Iwein' Hartmanns von Aue, wo die Präsenz des Artushofes das seiner Frau gegebene Versprechen auslöscht. Doch der Zwischenkörper der Erinnerung darf auch nicht so stark sein, daß er vergessen macht, daß die Erinnerung nicht gegenwärtig ist wie es Lancelot mit den Haaren Ginovers geschieht5 oder Parzival mit den Blutstropfen im Schnee: Als die ihm das Gesicht Condwiramurs ins Gedächtnis rufen, verfallt er der Erinnerung, kann sie mit der Gegenwart nicht vermitteln und bedarf der Hilfe Gawans, um die Gegenwärtigkeit des Abwesenden wieder dorthin zu schaffen, wohin sie gehört: Ins herze, also den Ort für all jenes, was zwar zum Heroen gehört, aber nicht (oder noch nicht) Teil öffentlicher Repräsentation ist.6 Die mittelalterliche Dichtung ist voll von Beschreibungen dieses komplizierten Verfahrens von Einspeisung des zu Erinnernden in ein Medium, dem Umgang mit diesem Medium und der Reaktivierung der Erinnerung. Besonders schwierig wird die Sache, wenn es sich bei dem Medium der Memoration um einen Körper, womöglich sogar um den eigenen Körper handelt. Hier ist man am Zentrum von Identitäts- und Identifikationsstrategien angelangt - und bei der Erkenntnis, daß die Körperhaftigkeit mittelalterlicher Selbst-Erfahrung nur nachvollzogen werden kann, wenn die Rede von der 'Leib-Seele Einheit' in bezug auf die höfischen Körper ent-metaphorisiert wird:

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6

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von A. HAVERKAMP / R. LACHMANN, München 1993, (Poetik und Hermeneutik XV), S. 117-160, Zitat auf S. 126. Auf seiner Verfolgung der entführten Königin Ginover findet Lancelot ihren Kamm mit Haaren darin: Der zum steyn kam und den kamp nehmen solt, er bleib schon halten und hett so vielmacht nit das ern von dem stein genomen hett, so was er verdort. Des wart die Jungfrau [Lancelots Reisebegleiterin] geware; die reit bi im und hielt yn, da er yczunt von dem roß gevallen solt syn. Lancelot und Ginover. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 147, übers., kom. und hg. von H.-H. STEINHOFF, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1995, Bd. II, S. 350f. Im folgenden als 'Lancelot und Ginover' abgekürzt. Interessanterweise divergiert die Auflösung des Erinnerungs-Bannes durch Gawan in den Versionen von Chrestien und Wolfram: Während im 'Perceval' die Blutstropfen sich im Schnee aufzulösen beginnen und der Ritter dadurch gleichsam von selbst aus seinem Bann erwacht, trägt Wolfram der magischen Wirkung des Gesichtes im Schnee dadurch Rechnung, daß er Gawan seinen gelbseidenen Mantel über die Tropfen werfen läßt, so daß er sie damit unschädlich macht: Do diu faile wart der zäher dach, so daz ir Parziväl niht sach, im gab her wider witze sin von Palrapeir diu künegin: diu behielt iedoch sin herze dort. (Vv. 302-302,5) Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. von A. LEITZMANN, 7 . Aufl., rev. von W. DEINERT, Tübingen 1995, (ATB 13-15).

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung Nur weil Leib und Seele eine Einheit bilden, besteht nach Auffassung mittelalterlicher Theologen und Literaten die Möglichkeit, an Bewegungen des Körpers (motus corporis) Bewegungen der Seele (motus animae) abzulesen, aus dem Gesicht (fades) einen Spiegel des Herzens (speculum cordis) zu machen und die Haltung des Körpers (gestus corporis) als Zeichen innerer Gesinnung (signum mentis) zu betrachten.7

Selten wurde jedoch bisher darüber nachgedacht, daß eine tatsächliche Einheit von Leib und Seele Kategorien wie 'Spiegel', 'Zeichen' oder 'Ablesbarkeit' ausschließt, denn „wo die Dinge gegenwärtig sind, gibt es keine Zeichen."8 Gegenwärtigkeit ist aber genau jener Zustand der unvermittelten Simultanpräsenz von Leib und Seele, also einer tatsächlichen verweislosen Durchdringung beider, die wenn sie eine Einheit ist, nicht Teile ihrer selbst re-präsentieren kann: „Damit stellt sich die Frage, ob der leibliche Gefühlsausdruck als sekundäres Zeichen zu begreifen ist für etwas, was sich immateriell im Inneren abspielt, oder ob nicht die körperlichen Äußerungen selbst - und zwar primär - diese Gefühle sind."9 Es wäre also zu überlegen, ob in der mittelalterliche Zeichentheorie mit Zeichen/Repräsentation10 das gleiche gemeint ist wie das, was wir darunter zu verstehen pflegen. Doch hier soll es nicht um mittelalterliche Semiotik gehen, sondern um Erinnern und Vergessen. Beginnen wir deren Veranschaulichung mit dem GAU höfisch-adliger Identität: mit dem Vergessen.

I. Vergessen Daß Vergessen ein unverzeihliches Vergehen sein kann, wird in der höfischen Dichtung des Mittelalters immer wieder unmißverständlich deutlich. So wird im 'Prosa-Lancelot' das gesamte Scheitern des Artusreiches auf einen Akt des Vergessens zurückgeführt: Lancelots Vater, König Ban, wurde, als Lancelot noch ein kleines Kind war, aus seinem Königreich vertrieben und starb auf der Flucht, während Lancelot von der Frau vom See entführt wurde und seine Mutter, die Köni7

K. SCHREINER, Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes. (Osculetur me osculo oris sui, Cant. 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. von H. RAGOTZKY / H . WENZEL, T ü b i n g e n 1990, S. 8 9 - 1 3 2 , Z i t a t a u f S . 8 9 .

8 9

10

A. ASSMANN, Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose, in: GUMBRECHT / PFEIFFER [ A n m . 2], S. 2 3 7 - 2 5 1 , Z i t a t a u f S. 2 3 9 .

Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hg. von C. BENTHIEN u.a., Köln 2000, Einleitung S. 7-21, Zitat auf S. 11, Hervorhebung im Original. Eine erstmals eingehende Untersuchung zu diesem Problem läßt sich von dem Forschungsprojekt,Emotionalität in der Literatur des Mittelalters' erwarten, das derzeit im Rahmen des Sonderforschungsbereiches , Kulturen des Performativen' an der Freien Universität Berlin realisiert wird und auf das die Autorinnen in der Einführung verweisen. Vgl. hierzu: Der Begriff der repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung - Symbol - Zeichen - Bild, hg. von A. ZIMMERMANN, Berlin 1971, (Miscellanea mediaevalia VIII); RAGOTZKY / WENZEL [ A n m . 7],

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gin, sich von der Welt in ein Kloster zurückzog. Artus läßt diesen Mißstand über Jahre hin ungerächt. Als der 'schwarze Mönch' deswegen Klage vor ihm erhebt und ihn an seine Herrscherpflichten gemahnt, prophezeit er: Das ist uch ein lesterlich ding, und duncket mich wunder, wie ir ummer vor schand geturret komen da uch keyn byderbe man gesiecht. Ich wene auch wol furware, geschieht uch ummer keyn laster, das es von denselben sunden kum.11

Doch diese 'Initial-Verfehlung' des Königs setzt sich im Laufe der Handlung immer weiter fort und motiviert das unheilvolle Geschehen des Epos'. Sogar die verhängnisvolle Bindung zwischen Lancelot und Ginover, die eigentlich zwischen Artus und Lancelot als seinem besten Ritter herrschen sollte, ist auf die Vergeßlichkeit des Königs zurückzufuhren. Denn durch sie bleibt Lancelots Schwertleite unvollständig und wird erst später durch Ginover abgeschlossen: Da mit vergaß der konig und alle die da waren das im [Lancelot] das schwert nicht umb gegurt wart.12 Wie gravierend dieses Versäumnis die Ehre Artus beschädigt, erschließt sich in Lancelots Bewertung. Er möchte nun gar nicht mehr vom König zum Ritter gemacht werden, sondern von Ginover, denn: er gedacht von eyner andern hant ritter zu werden, da er sich me mit beßsertP Daß die Vergeßlichkeit tatsächlich ein Topos in der Beschreibung König Artus' ist, läßt sich u. a. mit den Lais der Marie de France belegen. Dort wird von einem Ritter 'Lanval' erzählt - es ist die „Geschichte eines Ritters am Hofe Arthurs, der am königlichen Feldzug gegen die Pikten und Skoten teilnimmt, aber vergessen wird, als die Zeit kommt, in der die Kriegsbeute verteilt werden soll."14 Vergessen ist in der höfischen Epik eine nahezu allgegenwärtige Bedrohung und fuhrt zu den größten Irritationen. Als Iwein heiratet, gibt Gawein ihm den Rat, sich nicht bei Laudine zu iverligen\ Damit referiert er auf das Negativbeispiel Erecs, der nach seiner Hochzeit mit Enite seine Pflichten als Herrscher vernachlässigte. Erecs Problem besteht allerdings nicht in einer anzüglichen Erotomanie oder sexuellen Unersättlichkeit; er ist das Exempel eines Heroen, dem das ausgewogene Haushalten mit Affekten und Reizen nicht gelingt - er „lebt den Traum einer absoluten Unmittelbarkeit".15 Der Reiz, den die Schönheit seiner Frau auf ihn ausübt, ist so stark, daß er alles andere vergißt, weil es ihm nicht gelingt, seine Rolle als Herrscher auch in der Präsenz von Enites Adel (denn nichts anderes ist Schönheit als Adel - weshalb es auch nicht die „verwirrende unhöfische Schön11 12 13 14

15

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Lancelot und Ginover [Anm. 5], Bd. I, S. 142. Ebd., S. 374. Ebd., S. 384. R. H. BLOCH, Das Paradox der Jungfräulichkeit und die Poetik höfischer Liebe, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von H. U. GUMBRECHT/ K. L. PFEIFFER, Frankfurt a. M. 1991, S. 238-259, Zitat auf S. 252. STIERLE [ A n m . 4 ] , S. 122.

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung

heit" 16 ist, die die Katastrophe heraufbeschwört, sondern der die Unmittelbarkeit nicht bewältigende Umgang mit ihr) aufrecht zu erhalten. Erecs Problem besteht also gerade nicht in der „Obsession der zur unauslöschlichen Erinnerung gewordenen ersten Begegnung" 17 mit Enite, sondern in der Obsession ihrer Präsenz, die sich mit der Präsenz des Hofes nicht vermitteln läßt, sondern sie in Erecs Wahrnehmung auslöscht. Aus diesem Grund muß er Enite auf der langen Reise, die das Paar antritt, um sich aus der Verstrickung in seine eigenen Affekte zu befreien, erniedrigen - nicht aus Grausamkeit fuhrt er die Trennung von Tisch und Bett durch und verschließt ihr den Mund mit einem Schweigegelübde - , er muß sich die Distanz zu ihrem Körper hart erkämpfen, um Frau und Herrschaft in ein kohärentes Verhältnis miteinander zu bringen. So erklärt sich auch, warum Heroen oft vor weiblicher Schönheit erschrecken: Da Hestor die frauwen so schöne sah, da erschrack er ußermaßen sere und erkam, das er sin färb verlose überall Erschrocken reagieren die Ritter der Tafelrunde, als sie Enite sehen: dö diu maget in gie, von ir schoene erschräken die zer tavelrunde säzen so daz si ir selber vergäzen und kapheten die maget an. (Erec Vv. 1736ff.) 1 9

Der Selbstverlust, den die Vermittlungslosigkeit übermächtiger Schönheit zur Folge hat, kann versprachlicht werden als 'selbst-vergessen': Der ritter begund sie zu besehenn und vergaß

sinselbs,20

Er sah das sie so gar schön was vor den anderen allen und der glichen in der ganczen welt nit was, und erschrack von stund also sere das er nit wust ob er schlief/ oder wacht oder ob er zu pferd oder zu fuß was. Sin blut was im erwalt und sin hercz erweicht also sere das im das schwert uß syner hant vil, und verlor alle syn macht, das er kum im sattel bliben mocht, und begreif/den Sattelbogen sich daran zu halten. Er sah sie ummer mere an ser fast und lang. [...] Da ging im das hercz ye mer ab, er was also sere verwunt das er wol fulte das er zur erden fallen must, ob er nymands funde deryn hielt.21

Auch im Minnesang begegnet das Motiv des Selbstverlustes durch minne:

16 17 18 19

E b d , S. 124. Ebd., S. 122. Lancelot und Ginover [Anm. 5], Bd. I, S. 1174. Hartmann von Aue, Erec, hg. von Albert Leitzmann, 6. Aufl. besorgt von C. CORMEAU / K. GÄRTNER, T ü b i n g e n 1 9 8 5 , ( A T B 3 9 ) .

20 21

Lancelot und Ginover [Anm. 5], Bd. I, S. 610, lOf. Lancelot. Nach der Kölner Papierhandschrift W . f 46* Blankenheim und der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147, hg. von R. KLUGE, 3 Bde., Berlin 1963, Bd. II, S. 412.

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Ich weiz vil wol, daz si lachet, swenne ich vor ir stän und enweiz, wer ich bin. Sä zehant bin ich geswachet, swenne ir schoene nimt mir so gar minen sin. (MF XVI, 2) 2 2

Weil sie existenzbedrohend sein kann, wird die minne als 'vil süeziu senftiu toeterinne' oder als 'gewaltaerinne' 23 bezeichnet24: Vil süeziu senftiu toeterinne, war umbe weit ir toeten mir den lip, und ich iuch so herzeclichen minne, zwäre vröuwe, vür elliu wip? (MF XXXIV, 1)

Dieser Selbstverlust durch minne ist durchaus nicht Teil einer 'Dienstminne' und schadet dem Ansehen des Helden. Beim entscheidenden Kampf zur Rettung der Königin Ginover verliert Lancelot all seine kämpferischen Qualitäten, als die Königin ihr Antlitz entschleiert: Das sah Lancelot, dem alleweg das aug darwert stunde, und verlose den sien so sere das im das schwert nahe uß der hant enpfallen was. Er bleib stehen und sah sie ane und verlose sin vehten so sere darmit, das allen den wunder hett die es sahen, wie im geschehen were das er also gebaret,25

Zwar wird die Königin selbst ihn noch oft genug zwingen, seinen Kampfesmut im Turnier zu verleugnen und sich wie ein Feigling zu gebärden, doch ist die oben beschriebene Unfähigkeit zu kämpfen eine unwillentliche, unkontrollierte und damit inakzeptable, minne muß zum Handeln, zur Herrschaftsausübung anreizen und die beginnt mit der Unterwerfung des eigenen Körpers: Was bedeutet höfisches Dasein? Auf ein Moment haben wir schon hingewiesen, nämlich die Monopolisierung der Macht und den damit zusammenhängenden Zwang zum Selbstzwang. Angstfreiheit, das heißt Freiheit vor äußerer Bedrohung, wird gerade dadurch möglich, daß Selbstbeherrschung generell wird. 26

Die Heroen haben also allen Grund, adlige Schönheit zu furchten. Denn die minne, die sie auslöst und die die genealogische Energie zweier Adliger zu einem einzigen unübertrefflich mächtigen Adel, zu einer Herrschaft verschmilzt, kann so groß und unwiderstehlich werden, daß dem Heroen dabei seine eigene Identität völlig 22 23 24

25 26

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Des Minnesangs Frühling, bearb. von H. MOSER / H. TERVOOREN, Stuttgart "1988. Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von K. MAROLD, 4. Abdr., Berlin 1977, V. 964. Vgl. hierzu auch: Η. E. KELLER, Diu Gewaltaerinne minne. Von einer weiblichen Großmacht und der Semantik von Gewalt, in: ZfdPh 117 (1998) 17-37. Lancelot und Ginover [Anm. 5], Bd. II, S. 406. H. BÖHME / G. BÖHME, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. Μ. 1985, S. 55.

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung

entgleitet, minne ist zwar Ziel aller Unternehmungen im höfischen Epos, denn sie konstituiert Frieden und Stabilität: minne ist die höfische Behauptung der Möglichkeit einer berechenbaren, dauerhaften, nicht gewaltförmigen Anerkennung adliger Körper [...], ist die intendierte Aufhebung ihrer umstandslosen Aneignung, ist der Versuch einer Eindämmung von haz und leit27

Doch in den seltensten Fällen ist der Umgang mit ihr, ihre Institutionalisierung am Hofe reibungslos oder ungefährlich: Im 'Erec' resultiert aus dem falschen Umgang mit minne das Erlöschen aller vröide in Kardiol und die enorme Brutalität, mit der den Artusrittern auf der Burg Brandigan mitgespielt wird. Iwein treibt die minne zu Laudine in den bekannten 'Wahnsinn', obwohl er sich auf Gaweins Rat hin ihrer Destruktivität zu entziehen versucht. Willehalm handelt sich mit seiner minne zu Gyburc sogar die geballt Kraft der Heideninvasion ein. Und Tristan verrät Sippe und Herrn, er betrügt den gesamten Hofstaat, seine engsten Vertrauten und sogar Gott, um sich ungestört der minne zu Isolde hingeben zu können. Offenbar gefährdet minne also nicht nur die physische, sondern auch die soziale Identität aufs äußerste - und damit nicht genug, bedroht sie sogar die Identität der ganzen eigenen Sippe, der Gemeinschaft, des Hofes oder sogar des gesamten eigenen Kulturkreises bzw. der eigenen Glaubensgemeinschaft wie im Falle Willehalms. Wenn Lavinia und Kriemhild sich wünschen, von ihr verschont zu werden, ist das also nicht nur ein Topos der Minnekasuistik, sondern ebenso Reflex der ungemeinen Gefahr, die sie immer aufs neue für diejenigen darstellt, die sie nicht souverän zu handhaben verstehen. Doch nur wer die Bedrohung meistert, erwirbt einen legitimen Herrschaftsanspruch, einer Logik folgend, „wonach nur der zur Herrschaft berechtigt und befähigt sei, der nicht selbst der Herrschaft der Triebe unterworfen sei."28 Iwein bildet das Gegenstück zum Vergessen durch minne, denn was er vergißt, ist nicht seine Rolle in der Öffentlichkeit, sondern seine Pflichten am eigenen Hof, seine Frau - was dennoch dem ähnlich ist, was Erec widerfährt, weil es sich beim Vergessenen wiederum um das Abwesende handelt; während Erec in den Armen Enites den Hof vergißt, vergißt Iwein auf den Turnieren am Artushof Laudine. Beidesmal kommt es zur Katastrophe und das ganze Epos erzählt davon, wie diese Katastrophe des Vergessens gebüßt wird, wie der Umgang mit Ungegenwärtigem, Abstraktem erworben wird. Auch Tristan gelingt die souveräne Vermittlung von Präsenz und Ungegenwärtigkeit nicht: Indem er sich vorbehaltlos auf das Erinnerungs-Auslöschungs2 7

CZERWINSKI [ A n m . 2 ] , S . 2 5 6 .

28

R. SCHNELL, Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter, in: HEINZLE [Anm. 2], S . 103-133, Zitat auf S . 118.

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Programm 'Petitcrü' einläßt, gibt er mit seiner Erinnerung an die schmerzhafte minne zu Isolde: do ez sich rüeren began, der truraere Tristan daz er siner aventiure an sorge unde an triure ledic und ane gesaz unde des leides gar vergaz, daz in durch Isote twanc. (Tristan Vv.15849-15855)

auch seine Identität preis. Denn am Ende des Epos' wird ihm zum Verhängnis werden, daß er die Ebenen von Gegenwärtigkeit und Ungegenwärtigkeit nicht mehr auseinanderhalten und damit auch nicht mehr über sie verfugen kann: α de benie, wie bin ich von disem namen verirret! er irret unde wirret die warheit und daz lougen miner sinne und miner ougen. er birt mir wunderliche not: mir lachet unde spilt Isot in minen oren alle vrist und enweiz iedoch, wa Isot ist: min ouge, daz Isote sieht, daz selbe ensiht Isote niht: mirst Isot verre und ist mir bi [...] (Tristan Vv. 18994-19005)

Tristan wird in der Folge nicht Opfer seiner übermäßigen Liebe zu Isolde, sondern Opfer seines mißlungenen 'Erinnerungs-Managements' - denn die Folge seiner erinnerungslosen Verwirrung ist die Heirat mit Isolde Weißhand und damit die Heirat mit der Falschen. Umgekehrt dokumentiert die Erinnerung an die Frau seines Onkels ihre destruktive Macht, indem sie sich in Tristans Eheleben einmischt und den Vollzug der Ehe verhindert. Tristan macht falsch, was falsch gemacht werden kann: Wo es gilt, 'triuwe' zu sein, also das Andenken der Geliebten zu wahren, versagt er angesichts der gegenwärtigen Schönheit in Arundel. Doch nachdem er sich dieser Präsenz durch Heirat verbunden hat, stört die Erinnerung das heilsame und notwendige Vergessen - Tristan kann also weder 'richtig' erinnern, noch 'richtig' vergessen. Aus dieser Perspektive gewinnt auch der Abschied Tristans von der blonden Isolde eine besondere Bedeutung: Die Formeln, mit denen Nähe und Erinnerung beschworen werden: daz mir vremede unde verre / iemer hin ziu gewerre! vergezzet min durch keine not (Vv. 18281-18283) haben

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Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung

zum Ziel, die Unverbrüchlichkeit der minne auch in der Trennung zu gewährleisten. Ringe, Schwüre und Herzen, die getauscht werden, dienen der undinglichen Erinnerung, der sie einen gegenständlichen Körper geben sollen. Hier wird deutlich, was mit der thomasischen (bzw. der aristotelischen, auf die Thomas sich bezieht) Bestimmung von „nihil potest homo intelligere sine phantasmate"29 gemeint ist30 - die beständige Bedrohung durch das Vergessen: [...] undnemet hie diz vingerlin: daz lat ein urkünde sin der triuwen unde der minne: ob ir dekeine sinne iemer da zuo gewinnet, daz ir ane mich iht minnet, daz ir gedenket derbi, wie minem herzen iezuo si. (Tristan Vv. 18307-18314)

II. Nicht-Vergessen Das Ende des 'Tristan' zeigt, daß nicht weniger problematisch als das Vergessen auch die falsche Erinnerung sein kann, also die Erinnerung an das, was besser vergessen werden sollte. So findet im Nibelungenlied gleich zweimal ein fatales Nicht-Vergessen statt: Brünhild vergißt die 'Standeslüge' nicht, die Gunther und Siegfried ihr auf Isenstein auftischen, um ihr die Brautwerbung Gunthers plausibel zu machen. Nach vielen Jahren, die sie mit ihm in Worms und die Kriemhild mit Siegfried in Xanten verbringt, hält sie immer noch an ihrem auf dem SteigbügelDienst gründenden Recht fest, Dienste von ihrem vermeintlichen Lehnsmann Siegfried zu beanspruchen. Und so verschwinden auch die Insignien der unrechtmäßigen Unterwerfung Brünhilds, Ring und Gürtel, nicht in der Versenkung, wohin sie eigentlich gehörten, sondern tauchen an ungünstigster Stelle, in der höfischen Öffentlichkeit vor dem Münster wieder auf, wo sie im Streit der Königinnen ihre destruktive Kraft entbinden.31 Doch die tatsächliche Katastrophe der Nibelungen wird dadurch ausgelöst, daß erst Brünhild und später Kriemhild die ihr an29 30

31

Thomas Aquinas [Anm.l], „In dieses Sätzen [...] steckt die thomistische Rechtfertigung fur die Verwendung von Bildern im künstlichen Gedächtnis. Es ist gleichsam ein Zugeständnis an die menschliche Schwäche, an das Wesen der Seele, die Bilder von groben und sinnlich erfahrbaren Dingen leicht aufnimmt und erinnert, 'subtile und geistige Dinge' aber ohne Bild nicht in Erinnerung behalten kann." F. A. YATES, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990, S. 70. Vgl. hierzu: H. NAUMANN, Brünhilds Gürtel, in: ZfdA 70 (1933) 46-48.

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getane Kränkung nicht vergessen können, daß sie 'mäzelos' erinnern. Überhaupt scheint es, daß Erinnern geschlechtsspezifisch funktioniert: Während Männer sich Probleme eher damit einhandeln, daß sie wie Iwein, Erec und Tristan vergessen, besteht das Problem der Frauen eher in zu starker Erinnerung. Meistens firmiert diese Fähigkeit, sich dem Vergessen standhaft zu widersetzen, als weibliche triuwe: So bei Enite, die sich trotz des (vermeintlichen) Todes von Erec nicht neu vermählen will, bei Sigune, die Schionatulander auch nach seinem Tod die Treue hält oder Gyburc, die in Willehalms Abwesenheit seine Burg gegen ihre Verwandten verteidigt.

III. Der Körper der Erinnerung Als der Markgraf Willehalm sich von seiner Frau Gyburc trennen muß, um am französischen Königshof um Hilfe für die Schlacht zu werben, die er gegen die übermächtige Heidenschar austrägt, legt er ihr ein eigenartiges Versprechen ab. Er will bis zu seiner Rückkehr von Wasser und Brot leben: er gap des fianze, daz diu jämers lanze sin herze immer twunge, unz im so wol gelunge, daz er si da erlöste mit manlichem tröste, und lobt ir dennoch vürbaz daz er durh liebe noch durh haz nimmer niht verzerte von spise, diu in nerte, niht wan wazzer und bröt, e daz er ir bekanten nöt mit swertes strife erwante. (Willehalm Vv. 105-105,13) 32

Der Sinn dieses Versprechens erschließt sich erst viele Seiten später, als er von einem Kaufmann gedrängt wird, die reichlich aufgetragenen Speisen zu verzehren und sich auf den eigens für ihn hergerichteten weichen Kissen niederzulassen. Doch der Gast lehnt ab:

32

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Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, hg. von J. Heinzle, Tübingen 1994.

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung pflümite und kulter riche üf einen teppich hiez der wirt legen - daz doch der gast verbirt, daz er so sanfte iht saeze: er vorhte, daz er vergaeze *Giburgen noete da si inne was. (Willehalm Vv. 132,16-21)

Willehalm fürchtet, daß durch die unmittelbare Gegenwärtigkeit von Bequemlichkeit und Frieden die gewaltsame und entbehrungsreiche Realität in Orange an Authentizität verlieren könnte. Für Willehalm scheint es nur eine Realität zu geben, und das ist die der Gegenwart: Offensichtlich stellt es auf dieser Stufe der Organisation menschlichen Denkens noch ein Problem dar, sinnlich nicht mehr unmittelbar Gegenwärtiges angesichts der übermächtigen Präsenz neuer tableaux in der Erinnerung festhalten zu können, läßt die Wahrnehmung feudaler Figuren sie in jeder Situation körperlich noch sich auflösen. 33

Wenn eine 'andere' Gegenwärtigkeit erinnert werden soll und nicht dem Vergessen anheimfallen, dann darf die Erinnerung an sie nicht abstrakt und unkörperlich bleiben, sondern muß einen Leib verliehen bekommen - Willehalms Leib. Er ist auf seiner Reise zum König nicht Bürge personaler Individualität, sondern Träger einer kollektiven Topographie des Krieges und des Elends. Würde Willehalm diesen Träger löschen, indem er die Rüstung abnähme, sich dem Genuß höfischer Speise hingäbe oder sich durch höfische Konversation zerstreute, wäre die Information, die er zum König trägt, unwiederbringlich verloren. Die Differenzierung in 'Leib' und 'Rüstung' (oder 'Innen' und 'Außen') wird hier zu einer überaus problematischen: Nur im Schutz eines solchen Vor-Körpers, nur im Sich-Stützen auf einen solchen Zweit-Körper kann nämlich der Erstkörper sich halten und in der Distanz seines Hinterhaltens den Spielraum zum Aushalten der anprallenden Dinge bewahren. Und nur einem solchen ebenbürtigen Körper kann zugemutet werden, daß er kundgibt, was fur ein Körper dahintersteckt. [...] Wenn wir uns aber dazu entschließen zu sehen, was zu sehen ist, dann können wir nicht ganz übersehen, daß Schilde und Zeichen in vieler Hinsicht stärker sind als die Körper aus Fleisch und Blut: im Grenzfall sind sie unsterblich und vermögen als Grabmal oder Reliquienschrein oder Urkunde sterblichen Überresten eine Fassung, sterblichen Leben eine Dauer zu geben - von der ansonsten nur zu träumen, d.h. zu glauben ist. 34

Willehalms Körper macht, als er zum Träger der Botschaft vom Krieg wird, eine eigentümliche Metamorphose durch: Er hört auf, Willehalms Körper zu sein und 33

CZERWINSKI [ A n m . 2 ] , S . 2 1 .

34

W. SEITTER, Das Wappen als Zweitkörper und Körperzeichen, in: Die Wiederkehr des Körpers, hg. von D. KAMPER / C. WULF, Frankfurt a. M. 1982, S. 299-312, Zitat auf S . 304, Hervorhebung im Original.

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wird zum Ding, zur Materie, in der sich die zu memorierende Nachricht fest eingeschrieben hat. Körper, Person, Botschaft und Rüstung sind in eins verschmolzen. Diese Dinglichkeit oder Materialität des Faktischen wird im 'Perceval' des Chretien de Troyes sogar explizit gemacht: Wenn ein Ritter zum Gefangenen eines anderen wird und Sieg bzw. Niederlage verkünden muß, dann ist es ihm verboten, an seinem Körper auch nur eine Kleinigkeit zu ändern. So, wie er den Kampfplatz verläßt, muß er an den Artushof reiten, damit er als Zeugnis des Kampfes kein Indiz verfälscht: Costume estoit a eel termine, Sei Irovon escril en la lelre, Que chevaliers se devoit metre En prison atot son atour, Si come il partoit de l 'estour, Come il avoit conquis este, Qu 'il η 7 eilst ja rien oste Ne rien nule η'/ eüste mise. (Perceval Vv. 2721-2729) 35 („Zu jener Zeit war es meiner schriftlichen Quelle zufolge Sitte, daß sich ein Ritter in voller Montur, ohne (auch nur) ein einzelnes Teil ab- oder neu anzulegen, in Gefangenschaft begeben mußte, genau so, wie er den Kampf verlassen hatte [und] besiegt worden war.") 36

Ähnlich ist es mit den Boten, die aus den Schlachten an den Königshof gesandt werden und denen die Nachricht vom Körper abgelesen werden kann. Diese Formulierung ist wiederum irreführend: Nicht die Nachricht vom Ausgang der Schlacht kann an ihren verbeulten, glanzlosen, blutigen oder strahlenden, makellosen und unbeschädigten Rüstungen abgelesen werden, sondern die Boten sind die Nachricht selbst. Wenn der Bote erscheint, erscheint die Wahrheit über Sieg oder Niederlage - jede weitere Frage, jeder Bericht erübrigt sich. Belohnt wird deshalb auch nicht der Bote (der schließlich nichts zum Glück des Herrschers beigetragen hat), sondern der beglückende Umstand, der Sieg, die Wiederkunft eines vermißten Ritters, die wiedererlangte Gesundheit eines Todgeglaubten. Das gleiche gilt fur die Mißhandlung des Boten. Sie ist keine jähzornige spontane Reaktion auf die Neuigkeit, sondern eine Meinungsäußerung - wer dem Boten Gewalt antut, schreibt seine Antwort zwischen die Zeilen des Briefes, den der Körper des Boten darstellt:

35

36

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Chretien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder: Die Erzählung vom Gral. Afrz./dt., übers, und hg. von F. OLEF-KRAFFT, Stuttgart 1991. Vgl. hierzu: H . WENZEL (Hg.), Gespräche, Boten, Briefe. Körpergdächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997.

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung

Der konig sprach zu dem druchsaß balde, das man den botden slan soll. Der druchsaß die hant uff hub, vor den mund er ine slug, das ime nase und leffz brach, das er uff der erden lag gestrach, und mit den fußen er ine stieß und zöge ine durch das fuer heiß. (Heymonskinder Vv. 2310-2317) 37

Der Begriff der 'Vertretung' wird in diesem Zusammenhang problematisch: Der Rolle des königlichen Gesandten entspricht es, als Person den Herrschaftsträger zu vertreten. Die Neigung, daraufhin das Medium mit der Botschaft gleichzusetzen, zeigt sich in der folgenreichen Praxis, den Boten je nach der Art der Botschaft, entweder fürstlich zu belohnen oder ihn grausam zu strafen [...], 38

denn hier ist die Durchdringung von Medium der Botschaft und der Botschaft selbst schon so stark, daß das Verhältnis zwischen beiden eher mit 'Identität' denn mit 'Repräsentation' zu beschreiben ist. Die Verschmelzung zwischen Nachricht und Botschaft kann so weit gehen, daß beide ununterscheidbar eins werden - so ergeht es Lancelot, der in seinem Vetter Lionel, den ihm die Königin als Boten schickt, die Königin selbst erkennt: Lancelot sah yn komen [...] und ducht yn das die konigin zuhant fur im stünde umb das er synen neven sah der von ir kam}9 Im 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg erhält jedoch nicht die Erinnerung einen Körper, sondern das Vergessen. Dieser Körper ist ein Zauberhund aus dem Feenreich,40 den Tristan durch den Kampf mit Urgan erstreitet. In diesem Kampf ist paradigmatisch vorbereitet, was Petitcrü später ver-körpern wird: Jene Sinnlichkeit und Präsenz, die (wie im 'Iwein') die Erinnerung bedroht und die die Erinnerung selbst haben muß, um sich am Leben zu halten - Tristan tötet den Riesen deshalb nicht einfach, sondern beraubt ihn stückweise seiner Sinne, um seinen Körper schließlich vollständig zu amorphotisieren und auszulöschen: Er beginnt seinen Kampf gegen die Sinnlichkeit, indem er Urgan die Hand abschlägt und an sich bringt. Urgan wehrt sich mit einer Stange. Gottfried betont, daß nu half aber ime, daz er genas, / daz sin Urgan so girec was (Vv. 16147f.), daß Urgan also so versessen darauf ist, Tristan zu erwischen, daß er die Kontrolle über seine Bewegungen verliert und unvorsichtig wird. Schließlich gelingt es Tristan, Urgan erst 37

Reinolt von Montelban oder Die Heimonskinder, hg. von F. PF ÄFF, Tübingen 1885. Im folgenden als 'Heimonskinder' abgekürzt.

3 8

WENZEL [ A n m . 2], S. 2 5 8 .

39

Lancelot und Ginover [Anm. 5], Bd. I, S. 1214. Vgl. hierzu: S. PHILIPOWSKI, Mittelbare und unmittelbare Gegenwärtigkeit oder: Erinnern und Vergessen in der Petitcriu-Episode des 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, in: PBB 120 (1998) 29-35.

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das eine und dann das andere Auge auszustechen. Nachdem der Riese nichts mehr sehen kann, treibt Tristan ihn auf eine Brücke zu und stieß in obene hin ze tal, / daz der ungehiure last / an dem velse aller zebrast. (Vv. 16172ff.). Der Heroe scheint also eine negativ besetzte sinnliche Gegenwärtigkeit (Hand, Augen, Orientierung, körperliche Unversehrtheit) erst auf eine rituelle Art zerstören zu müssen, damit sie sich auf magische und artifizielle Weise in Petitcrü verdichten kann - somit läßt sich der Zauberhund als eine domestizierte, gebändigte Wiedergeburt dessen verstehen, was Urgan verkörpert hatte und was in Tristan die Erinnerung an seine minne zu Isolde bewirkt: Die geballte, in einem Punkt zentrierte Kraft der sinnlich aufgeladenen Gegenwärtigkeit. Doch im Gegensatz zu Tristan funktioniert diese Gegenwärtigkeit bei Isolde nicht, weil sie ihr Leid gar nicht vergessen will: Der Klang von Petitcrüs Glocke erinnert sie an die triure Tristans, löst also an Stelle des Vergessens einen Erinnerungs- und Reflexionsprozeß aus, der ihr leit vergrößert und nicht versüßt: Sin haete kein gemach dervan; ir senfte dem lac niht dar an. Wan diu getriuwe künigin da mite daz ir daz hundelin zem allerersten kam und si die schellen vernam, von ders ir triure vergaz, iesa betrahtete sie daz, daz ir vriunt Tristan waere durch si beladen mit swaere, und gedahte ouch iesa wider sich. (Tristan Vv. 16357-16367)

IV. Vergessene Identität, identifikatorisches Vergessen Wie sehr der Körper als Träger von Identität fungiert, wird gerade dort ersichtlich, wo der Ritter in eine Krise gerät, so daß sich am Körper der Zustand des Heroen zwischen 'Sein' und 'Nichtsein' abzeichnet; der Körper ist dann unkenntlich, verschmutzt oder verletzt, aber dennoch an einem winzigen Indiz zu identifizieren. Nachdem bsw. Iwein, der im Wald wie ein Tier lebt, durch eine Zaubersalbe wieder zu Bewußtsein kommt, kann er angesichts seines viehischen Zustande nicht glauben, daß er ein Ritter ist, und hält sich selbst für einen Bauern. Er ist, wie Hartmann es ausdrückt, sin selbes gast (V. 3563).41 Iwein kann sich an seine tat41

Hartmann von Aue, Iwein, hg. von G. F. WOLFF, Berlin 1968.

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BENECKE

/ K.

LACHMANN,

neu bearb. von

L.

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung

sächliche Identität nicht mehr erinnern, denn ihm ist widerfahren, was eigentlich unmöglich ist und jede höfische Logik übersteigt: min herze ist minem libe unglich (V. 3576.). Auch hier ist 'Erinnerung' eine immens körperliche Angelegenheit - fehlen nämlich die körperlichen Informationen über die Figur, also Schmuck, Kleidung und Rüstung, so ist die Erinnerung, die Orientierung des Heroen über sich selbst mit ausgelöscht - denn Schmuck, Kleidung und Rüstung sind externe Speicher, sind das Bewußtsein des Heroen. igedechtnißy ist deshalb nicht nur Bezeichnung fur alles, was vergangen ist und memoriert wird, sondern gleichermaßen für das Wissen über sich selbst, über den anderen, über die Welt: In unmacht fiel der konig fyn, und da er wider kam in daz gedechniß sin, er sprach[...].42 In der gleichen Misere wie Iwein ist Wigalois - auch er findet sich nach dem Kampf mit einem Drachen, der ihn fast das Leben gekostet hätte, nackt im See wieder und kann sich nicht mehr auf seine tatsächliche Identität besinnen - denn ein Ritter kann nicht nackt im See liegen. Wer sich in einer so jämmerlichen Lage befindet, muß unzweifelhaft ein Bauer sein: ich bin et sus ein arm man und sol büwen tan als min vater hät getän. (Wigalois Vv. 5834-36)43

Wigalois fehlen zur Identifikation seiner selbst unerläßliche Informationen; dabei ist der Begriff 'Information' alles andere als metaphorisch gemeint - Information ist die Einschreibung von Bedeutung, die wie eine Markierung den Körper sozialen Zuordnungen erschließt: „Jede Materie, jeder Körper ist - manifest - nur durch Form." 44 Form aber heißt Lesbarmachung durch Gestaltung. So ist ein Körper, der vergessen hat, wie Iwein oder Wigalois, nicht nur ein identitätsloser Körper, sondern gleichermaßen auch einer, der für seine Umgebung unleserlich geworden ist. Diese Unleserlichkeit bekundet sich in der Informationslosigkeit des Körpers, in seiner Nacktheit - keinen anderen Grund gibt es dafür, nach einem Drachenkampf nackt zu sein als den, daß in dieser Nacktheit die nahezu vollständige Auslöschung des Heroen annonciert ist. Hier wird ein weiteres Mal erkennbar, wie sinnlos eine Distinktion in 'Innen' und 'Außen' für höfische Körper ist: Ist der Ritter nackt, weil er vergessen hat? Oder hat er vergessen, weil er nackt ist? Höfische Heroen müssen erinnern, müssen (in)formiert sein, nicht nur, um nicht

42 43 44

Heimonskinder [Anm. 37], Vv. 3903f. Wirnt von Gravenberc, Wigalois. Der Ritter mit dem Rade, hg. von Μ. N. KAPTEYN, Bonn 1926. G. BÖHME, Leib - Natur - Sprache. Antrittsvorlesung Rotterdam, Rotterdam 1986, S. 5.

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Katharina Philipowski

zu vergessen, sondern vor allem, um für den anderen erkennbar zu sein und zu bleiben. So wirft auch im 'Willehalm' die zweifelsfreie Identifizierung des Markgrafen, der in einer heidnischen Rüstung vor der Türe steht, diverse Probleme auf.45 Obwohl sie sich mit ihm unterhält, scheint Gyburc ihren Mann nicht an seiner Stimme erkennen zu können, so sehr ist sie von seiner Maskerade irritiert. Schließlich identifiziert sie ihn anhand der Narbe auf seiner Nase: do ir durh äventiure bi Karlen, dem lampriure nach hohem prise runget und Römaere betwunget eine mäsen, die ir enpfienget dö durh den bäbest Leo, die lät mich ob der nasen sehen: sö kan ich schiere daz gespehen, ob ir ζ der marcräve sit. (Willehalm Vv. 91,27-92,5)

Auch Iwein wird durch eine Narbe wiedererkannt, als alle anderen Spuren von höfescheit an ihm ausgelöscht sind. So ist sein Körper nach wie vor Zeuge seiner unzerstörbaren Zugehörigkeit zum Hof. Dies ist der seidene Faden, an dem Iweins ganze menschliche Existenz noch hängt, und auf ihm sind die Male eingezeichnet, die zu seiner Vergangenheit und seiner Identität fuhren: si nam an im war einer der wunden diu ze manegen stunden an im was wol erkant, unde nande in zehant. (Iwein Vv. 3378-3382)

So ist der Ritter für die Gemeinschaft, der er angehört, noch identifizierbar, wo er sich selbst fremd geworden ist. Wenn Iwein beklagt, daß sein herze ist seinem libe unglich (V. 3576.) sei, so läßt sich aus der Art seiner Identifikation durch die drei adligen Damen nur schließen, daß der Körper als Instanz der Zuordnung einschlägiger ist als das 'herze' - Identität ist das, was die anderen über den Ritter wissen, nicht das, was er selbst über sich weiß. Was vergessen wird und warum etwas vergessen wird, ist deshalb immer auch eine Aussage über den Zustand der betreffenden Figur - so auch im Fall des Heiden Rennewart. Von den heidnischen Göttern 45

154

Vgl. I. HAHN, Zur Theorie der Personenerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts, in: PBB 99 (1977) 395-444 und J.-D. MÜLLER: Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs 'Willehalm', dem 'Nibelungenlied', dem 'Wormser Rosengarten A' und dem 'Eckenlied', in: Symbole des Alltags - Alltag der Symbole (FS H. Kühnel), hg. von G. BLASCHNITZ u.a., Graz 1992, S. 87-111.

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung

und seiner Verwandtschaft enttäuscht, schließt er sich dem Christenfürsten Willehalm an, um in seinem Heer gegen die Heiden zu kämpfen. Als er von Willehalm ausgestattet wird, verlangt er keine höfischen Waffen, sondern nur eine grobschlächtige Stange: „ iuweriu kleider, diu gebet ir swem ir gebietet an minen haz. Swie arm ich si, doch bedarf ir baz vil maneger under disem her. tat mir die Stangen min ze wer. " (Willehalm Vv. 290,8-12)

Doch diese speziell nach seinen Wünschen angefertigte Stange vergißt Rennewart nicht nur einmal: [...] „ wa ist diuz Stange din? " Rennewart sprach „ herre min, der han ich vergezzen dort [...]" (Willehalm Vv. 201,5-7)

...und nicht nur zweimal... der vraget in nach siner Stangen: „ wes sol mich din helfe troesten? " [...] Rennewart sich schämte sere: ez duhte in groz unere, daz der Stangen was vergezzen. (Willehalm Vv. 314,20-27)

...sondern dreimal: er wilte prüeven diese und die, schilde und ir baniere baz, undz er der Stangen aber vergaz. (Willehalm Vv. 316,22-24)

Im Kampf gegen die Heiden und damit gegen seine eigene genealogische Vergangenheit macht er von diesem martialischen Totschläger jedoch so eifrigen Gebrauch, daß dieser an einem der stärksten und mächtigsten Heidenkönige, an König Purrel, zerspringt: [...] mit einem also starkem swanc, daz diu Stange gar zerspranc. (Willehalm Vv. 429,21 f.)

Dies ist die Art, wie im höfischen Epos 'Entwicklung' prozessiert wird; offenkundig springt Rennewart durch die Summe der unzähligen Gegner, die er erschlagen 155

Katharina Philipowski

hat, fur uns scheinbar unvermittelt in eine neue Identitätsstufe. Denn statt mit der Stange kämpft er von nun an mit einem Schwert weiter und assimiliert sich damit dem höfisch-ritterlichen Kampfstil: zuo zim hurte Gibelin uf dem orse daz Essere ime stürme was genomen e. der bat in zucken daz swert. Der bet er schiere was gewert. (Willehalm Vv. 430,18-22)

Es ist eine komplizierte Sache mit Erziehung und genealogischer Prädestination. Der Heroe kann nicht anders, als sich intuitiv wie ein Ritter zu verhalten, wie ein Ritter zu kämpfen. Dennoch ist der 'Unerzogene' noch kein Ritter, solange er nicht eine zumindest rituelle Initiation durchlaufen hat, und wenn sie auch so kurz sein mag wie in Chretiens 'Perceval' - dort erstreckt sie sich nur über einen einzigen Tag. Und so ist der Ritter edler Abstammung ohne Erziehung ein merkwürdiges Zwischenwesen. Rennewart z.B. ist schön wie eine Rosenknospe, frißt aber wie ein Schwein. Er errötet wie ein Mädchen, erschlägt aber skrupellos Knappen und wirft Köche ins Herdfeuer. Er ist dazu bestimmt, wie seine Schwester Gyburc eine Verbindung mit dem Christenadel einzugehen, obwohl er als Heide geboren wurde. Es ist erst kürzlich darauf hingewiesen worden, wie heterogen die Figur 'Rennewart' angelegt ist: The characterization of Rennewart shows him to be, like Parzival, a representative of the angelstern varwe, that peculiarly Wolframian concept of 'mixed' character, where positive and negative traits are combined in an individual, providing a much more complex and lifelike picture than was normal in medieval characterization.46

Und eben diese Ambivalenz spiegelt sich in Rennewarts Umgang mit der Stange; zwar stellt sie seine ungebändigte, ungezogene Animalität dar, doch ist er durch die Begegnung mit Willehalm und dadurch, daß er auf der richtigen Seite kämpft, schon soweit höfesch, daß eine unmerkliche mentale Distanz zwischen ihm und seiner Ungezügeltheit besteht; deshalb läßt Rennewart die Stange ständig liegen, bis sie irgendwann von selbst zerspringt und damit anzeigt, daß sie Rennewart nicht mehr angemessen ist:

46

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D. N. YEANDLE, Rennewart's 'Shame': An Aspect of the Characterization of Wolfram's Ambivalent Hero in Willehalm, demnächst in: Wolfram's 'Willehalm': Fifteen Essays, ed. by Μ. H. JONES / T. MCFARLAND. Columbia 2000. Ich danke David Ν. Yeandle, der mir freundlicherweise das Manuskript vor der Drucklegung zur Verfügung gestellt hat.

Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung

Die Stange zerbricht, als sich die ihr zugewiesene Funktion, die Überwindung des 'etat de degradation', erfüllt hat. Daß dies mehr oder minder unmittelbar mit der Begegnung der Verwandten verknüpft ist, zeigt zudem den endgültigen Bruch mit der heidnischen Vergangenheit an. 47

So ist Rennewarts Vergeßlichkeit in vielem der Vergeßlichkeit anderer höfischer Heroen vergleichbar - ähnlich ist z.B. die Struktur dessen, was das Vergessen der Stange bewirkt: Eine Unmittelbarkeit, die so stark ist, daß sie nicht vermittelt, nicht kontrolliert werden kann. Als Rennewart die Stange zum ersten Mal vergißt, ist er vom slaf verirret (V. 200,30), also nicht in der Lage, elementare physische Bedürfnisse mit den Erfordernissen höfischen Handelns in Ausgleich zu bringen, bzw. seine Triebe zu beherrschen. Beim zweiten Mal ist es schon nichts unmittelbar Physisches mehr, doch etwas Sinnliches, das seine Aufmerksamkeit von der Stange ablenkt - es ist die farbenfrohe, vielstimmige Aufregung, die im Heer herrscht: er was halt von dem ezzen geloufen durh busine krach; und do er uf den helmen sach so spaehiu wunder manecvalt - [...] Vil manec gefloriertiu schar Rennewarten dar zuo brahte daz er gar überdachte ob er ie Stangen herr wart: so gach was im uf die vart. (Willehalm Vv. 314,28-315,10)

Daß er die Stange vergißt, weist darauf hin, daß seine adlige Identität noch nicht ausgereift ist, daß sie sich erst entwickeln und festigen muß, bevor er seinen Platz unter den höfischen Christen einnehmen kann. Sein Vergessen verweist damit auf das, was alles Vergessen in der höfischen Dichtung miteinander verbindet: Der fehlende legitime Herrschaftsanspruch. 'Vergeßlichkeit' scheint das paradigmatische Merkmal aller beschädigten oder unvollständigen Identitäten der mittelalterlichen Epik zu sein. Das richtige Maß an Erinnerung ist existentiell für denjenigen, der Herrschaft ausüben muß - Herrschaft über andere, aber eben auch über sich selbst. Er darf dem Sog der Gegenwärtigkeit nicht erliegen, sondern muß in der Lage sein, Realität abstrakt zu vermitteln, zu relativieren, zu vergegenständlichen, sich also dem, was als konkret erfahren wird, nicht auszuliefern, sondern es zu unterwerfen und zu bändigen. Nur wo diese Bändigung gelingt, kann gesicherte Identität entstehen, wo sie mißlingt, ist sie stets gefährdet oder schon verloren. Der

47

I. KASTEN: Rennewarts Stange, in: ZfdPh 96 (1977) 394-410, Zitat auf S. 407.

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Katharina Phi lipowski

Bezug zwischen gelingender Erinnerung und höfischer Identität ist also nicht eng genug zu denken.

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Multiple Memorialisierung in Gottfrieds von Straßburg 'Tristan' v o n W A L T R A U D FRITSCH-RÖBLER

Daß Gottfrieds Tristanroman, durchaus noch traditionell, mit einem Memoria-Topos eröffnet, ist in der Mediävistik Konsens. Strittig ist bereits die Frage, um welche Form von Memoria es sich dabei handelt, mit welcher Intention der Topos eingesetzt wird und wie hoch sein innovatives Potential zu veranschlagen ist. Vollends disparat wird die Gottfried-Forschung, sobald es darum geht, den 'Tristan' vor dem Hintergrund des im Prolog formulierten Programms zu deuten. Das Verweilen bei diesem Romananfang belegt das Dilemma aller GottfriedInterpretation zwischen rhetorischem Formalismus und gedanklicher Belastung, womöglich Überfrachtung und Verzerrung. Die mehrsinnige literarische Form, in der die Aussage daherkommt, läßt verschiedene Lesungen zu und entrückt sie eindeutiger Festlegung. Die Vielfalt möglicher Bezüge quer durch den Roman ist fast erdrückend reich.1

Eingedenk der hier aufgezeigten Gefahr versuche ich auf der Fährte des Memoria-Topos im Prolog eine Deutung des 'Tristan' (II) und entwickle einige Thesen zur Memorialisierung als literarischem Modell (III). Zuvor jedoch (I) müssen, da der Begriff 'Memoria' semantisch mehrfach besetzt ist - was die Verständigung über das Wesen des Gedächtnisses und über Formen der Erinnerung2 oft erschwert - , einige grundsätzliche Probleme benannt werden. Dabei wird zugleich der Fragehorizont für die Interpretation des Romans abgesteckt. Überschneidungen mit anderen Beiträgen dieses Bandes lassen sich wohl nicht vermeiden.

Ι C. HUBER, Gottfried von Straßburg: Tristan, Berlin 2000 (Klassiker-Lektüren 3), S. 40. 2 Zur Unterscheidung der deutschen Ausdrücke 'Gedächtnis' und 'Erinnerung' vgl. O. G. OEXLE, Memoria und Memorialbild, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von K. SCHMID/J. WOLLASCH, München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48), S. 384-440. MÜLLER FARGUELL konstatiert, daß

innerhalb der geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten zum Gedächtnis, die einen „veritablen Memoria-Boom" ausgelöst haben, sich inzwischen eine Verschiebung vom Erinnerungs-Diskurs zum Gedächtnis-Diskurs bemerkbar mache, wobei sich 'Gedächtnis' allerdings „zur historischen und sozialen Universal-Metapher" und zu einem „überdeterminierten" Begriff entwickelt habe. [R· W. MÜLLER FARGUELL, Einleitung: Gedächtnis für ein Thema, in: Colloquium Helveticum 27 (1998: Memoria) 9-23, hier S. 12].

Waltraud Fritsch-Rößler

I. Memoria - Rhetorik - Literatur (1) Der Begriff 'Memoria' bezeichnet seit der Antike und auch im Mittelalter das menschliche (individuelle oder kollektive) Gedächtnis als Vermögen (vis) und die Fähigkeit zur (bewußten) Erinnerung. Abhängig davon, ob die Memoria eher als Verstandes-, Urteils-, Vorstellungs- oder Wahrnehmungs-Vermögen akzentuiert ist, gibt es unterschiedliche Theorien über das Gedächtnis. Wissenschaftssystematischer Ort dieser Theorien ist die Philosophie (Metaphysik/Erkenntnistheorie), die Theologie und die Psychologie. Das Denken, Sprechen oder Schreiben über Gedächtnis gelingt nicht ohne Metaphern.3 Theorien über das Gedächtnis bedienen sich von Beginn an bildhafter Ausdrücke, bevorzugt aus dem Bereich 'Raum' (Gefäß, Kiste, Archiv, Speicher, Haus, Tempel, Denkmal) und 'Schrift' (Buch, Palimpsest, Spur).4 (2) Der Begriff 'Memoria' bezeichnet nicht nur ein als vis verstandenes natürliches Gedächtnis (memoria naturalis), über das sich Theorien formulieren lassen, sondern gleichermaßen ein künstliches Gedächtnis (memoria artißciosa), zu welchem man mittels Schulung und praktischer Übungen gelangt. Gedächtnis ist hier weniger als Vermögen denn als Kunst (ars) akzentuiert (eine semantische Differenzierung, die freilich gerade im Mhd. schwerlich auseinanderzuhalten ist und auch nicht durch die beiden Begriffe list und kunst geleistet wird). Der Gegenstandsbereich dieser Memoria ist nicht spezifiziert. Den Übergang zwischen natürlichem und artifiziellem Gedächtnis schafft die ars memoriae (ars memorativa, Mnemonik, die Mnemotechnik). Ihr traditioneller wissenschaftssystematischer Ort ist die Rhetorik und Topik, was bei ihrem über die Kunst der Rede hinausgehenden Gegenstandsbereich zu Problemen fuhrt. Unter dem von der Antike übernommenen Primat des Visuellen gehören zu den grundlegenden Hilfsmitteln der Mnemotechnik die räumliche Ordnung, die 3 Vgl. H. WEINRICH, Typen der Gedächtnismetaphorik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964)23-26. 4 Jetzt en detail nachzulesen bei A. ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Von der Schwierigkeit adäquater Bezeichnung zeugt D. KRELL: Da sowohl das Einprägen wie das Verbildlichen wie das Verschriftlichen bereits in der Antike (und in jeder anderen Epoche) simultane Bestandteile von Gedächtnistheorien sind, führen die von KRELL gewällten Begriffe leicht in die Irre, weil sie die G e s c h i c h t e der Gedächtnistheorien zu skalieren drohen, typography zielt auf die Antike (Piaton, Aristoteles), iconography auf das Mittelalter und die Neuzeit (Augustinus, Descartes, Empiristen, bis Merleau-Ponty), engrammatology auf die Moderne (Freud, Heidegger, Derrida). Vgl. D. FARRELL KRELL, Of Memory, Reminiscence and Writing. On the Verge, Bloomington 1990; klärende Erläuterungen zu KRELLS Begriffen bei N. PETHES, Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen 1999 (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 21), S. 36f.

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Multiple Memorialisierung

Gliederung in Gedächtnisorte {loci), in denen Bilder (imagines) aufbewahrt werden.5 Doch bedient sich das Mittelalter neben optischen (und akustischen) Merkzeichen bevorzugt einer körperorientierten Mnemotechnik, in der die Synästhesie des Gedächtnisses zum Ausdruck kommt (Gesten, Gebärden, sog. mnemonische Hand, Schläge zum „hinter die Ohren schreiben" usf.). 6 Die Mnemotechnik funktioniert (seit Piaton und Aristoteles) über Assoziationen. Materielle Merkzeichen werden mit einem zu memorierenden Inhalt assoziiert, die mediale Koppelung „wird gesichert durch rituelle Wiederholung."7 (3) Insofern sich die Rhetorik als ars dictaminis versteht, bezeichnet 'Memoria' innerhalb eines Teilbereichs der Rhetorik den vorletzten Arbeitsschritt des Redners (nach inventio, dispositio, elocutio) vor der actio. Die Aufgabe dieser zweckspezifischea Memoria liegt im Auswendiglernen, und zwar nicht von Wissen jeglicher Art, sondern von zuvor schriftlich konzipierter, nun frei zu haltender Rede. Die ars memoriae von der Memoria als menschlichem Vermögen (und Speicher) zu unterscheiden, bereitet keine Probleme. Schwieriger ist es indes, die ars memoriae gegen die Memoria im Rahmen der Rhetorik (als Arbeitsschritt) abzugrenzen. Der Memoria innerhalb der Rhetorik eignet nämlich ontologisch ein doppelter Modus: Einerseits ist sie selber (viertes) officium, andererseits ist sie „Hüterin" aller anderen partes rhetoricae.8 Weder inventio, dispositio und elocutio noch actio gelingen ohne Memoria, und das meint: ohne eine in der loci-imagines-Lehre geschulte, nach den Regeln der ars memoriae ausgebildete Memoria. Eine strikte Trennung erschwerend, kommt hinzu, daß weite Teile der elocutio (wie Synekdoche, Metonymie, Metapher, Allegorie, colores rhetorici) - in der Dichtkunst noch mehr als in der Redekunst - als 5 Diese loci und imagines sind als mimetische Zeichen nicht identisch mit den (Raum)Metaphern fur das Sprechen über das Gedächtnis. 6 Näheres und Anschauliches dazu bei H. WENZEL, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1 9 9 5 , S. 6 3 - 8 2 . Es ist mithin keine Erfindung der Neuzeit, „den Memoria-Diskurs auf der Schwelle von Leib und Seele [zu] situieren", nicht erst seit FREUD und WARBURG dient „der Körper als tertium comparationis, um Memoria auf ganz unterschiedliche Bereiche zu übertragen" (MÜLLER FARGUELL [Anm. 2 ] , S. 16). Vgl. etwa R. VALENTI, Körpermetaphern in der römischen Rhetorik-Tradition, in: Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposion, hg. von T. SCHIRREN/G. UEDING, Tübingen 2 0 0 0 (Rhetorik-Forschungen 13), S . 8 1 - 8 9 . 7 WENZEL [ A n m . 6 ] , S . 6 7 . 8

'Rhetorica ad Herennium' III, 28, zit. nach J. KNAPE, Die Stellung der memoria in der frühneuzeitlichen Rhetoriktheorie, in: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750, hg. von J. J. B E R N S / W . NEUBER, Tübingen 1993, S. 274-285, hier S. 274. Am leichtesten vergleichbar dürfte diese doppelte Memoria der doppelten mäze sein, die einerseits eine eigenständige (die oberste) Tugend, andererseits aber und gleichzeitig Hauptmerkmal jeder anderen Tugend (z.B. der milte) ist. Vgl. W. FRITSCH-RößLER, Art. 'maze: die höfische Mitte', in: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, hg. von O . EHRISMANN, München 1995, S. 128-136.

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Waltraud Fritsch-Rößler Memorialzeichen aufgefaßt werden können. Ein rein vortragsbezogenes Verständnis der Memoria im Rahmen der Rhetorik greift, zumindest fur das Hochmittelalter, das in der Rhetorik noch nicht einen argumentations- und texttheoretischen Teil separierte von einem performanztheoretischen Teil, 9 sehr kurz und führt unter Umständen zu mißverständlichen Aussagen. 1 0 (4) Da die Rhetorik zugleich Anleitung für die Dichter ist und eine eigenständige Disziplin 'Poetik' im Hochmittelalter nicht existiert (was gleichwohl nicht heißt, daß es keine poetologischen Überlegungen gegeben hätte, nur werden diese nicht in Poetik-Lehrbüchern dargeboten, sondern in re)n,

steht mit

dem Stellenwert der Memoria innerhalb der Rhetorik auch der Stellenwert der Memoria innerhalb der Dichtung zur Diskussion. Umso mehr, als die Arbeitsschritte des Dichters mit denen des Redners identisch sind und fiktionale Literatur gleiche Ziele verfolgt wie die Rede, insbesondere sich mit der Gerichtsrede die persuasiven Strategien teilt. Zu Recht hat

ERNST

daher vor einigen Jahren

den Anstoß gegeben, „die Bedeutung der Ars memorativa

für die Dichtkunst

des Mittelalters und der frühen Neuzeit aufzuzeigen" und eine „mnemonistische Dichtungstheorie" nachzuweisen. 1 2 Den von ihm angeführten Beispielen aus der Literatur des 9. bis 17. Jahrhunderts sind zwei Prämissen implizit. Es handelt sich jeweils um schriftlich fixierte, ja bereits auf Schriftlichkeit hin konzi9 Vgl. dazu KNAPE [Anm. 8], S. 282-284. Ό Der lakonische Befund: „MEMORIA: Entfällt für das Mittelalter" (R. BRANDT, Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft. Eine Einfuhrung, München 1999, S. 111) mag auf das Auswendiglernen frei vorzutragender öffentlicher Reden, für die es „im Mittelalter sehr viel seltener Gelegenheiten" (S. 108) gab, ebenso zutreffen wie die Tatsache, daß das, was die mittelalterlichen (lateinischen) Rhetoriklehrbücher dennoch über die Memoria zu sagen haben, nicht über die entsprechenden Erläuterungen in antiken Rhetoriken (Cicero, 'Rhetorica ad Herennium', Quintilian) hinausgeht. Gleichwohl erscheint es mir, da Memorieren stets auch Teil der ars memoriae ist, unangemessen, den weiterhin, und zwar schriftlich tradierten Arbeitsgang des Memorierens als praktisch nicht mehr verwertbares Wissen (besser wäre von 'Fertigkeit' zu sprechen) abzutun, welches sein Weiterleben einzig der Schriftlichkeit verdanke, wohingegen es in einem mündlichen System der „sog. 'strukturellen Amnesie'" (ebd.) anheimgefallen wäre. 11 Was an (lateinischen) 'Poetiken' des 12. und 13. Jahrhunderts existiert, sind vorwiegend auf Beispielsammlungen und Figurenkataloge beschränkte Unterweisungen in der Rhetorik, sind Anleitungen zum Machen, keine Theorie des Machens: Matthaeus von Vendöme, 'Ars versificatoria' (um 1170/75), Gottfried von Vinsauf/Galfredus de Vino salvo, 'Poetria nova' (um 1210), Gervasius von Melkley/Gervasius de Saltu lacteo, 'Ars poetica' (um 1215), Eberhardus Alemannus, 'Laborintus' (nach 1212/1213), Johannes de Garlandia, 'Poetria de arte prosaica, metrica et rithmica' (Mitte 13. Jh.). Die Dichtkunst als Rubrik der Rhetorik, die ars poetica als Magd der ars rhetorica, bereitet offenbar nicht nur den Mediävisten Unbehagen. C. OTTMERS (Rhetorik, Stuttgart 1996) überschreibt mit Grund den entsprechenden Abschnitt in seiner Einfuhrung mit: „Ein besonderes Kapitel: Rhetorik und Dichtung" (S. 46). 12 U. ERNST, Ars memorativa und Ars poetica in Mittelalter und Früher Neuzeit. Prolegomena zu einer mnemonistischen Dichtungstheorie, in: BERNS/NEUBER [Anm. 8], S. 73100, hier S. 75. 162

Multiple Memorialisierung

pierte Dichtung, und um von vornherein rezipientenbezogene Dichtung. Der Nutzen der (vom Produzenten angewendeten) Mnemotechnik (in Form von Metrum, Vers, Reim, Akrostichon, Emblem, Figurengedicht u.a.m.) liegt auf Seiten des Hörers resp. Lesers. Das Verhältnis von Dichtung zu Gedächtnis ist diffizil, weil der Dichtung die Aufgabe zukommt, Wissens- und Behaltenswertes (überwiegend, jedoch nicht ausschließlich: aus der Vergangenheit) ins kulturelle Gedächtnis 'einzuschreiben' und dessen Erinnerung zu ermöglichen (also einen chronometrisch dreiphasigen historischen Horizont von Einst-Jetzt-Dann zu eröffnen). E R N S T spricht von der „mnemonischen Zweckorientierung der Dichtung"13. Das Zusammenspiel von Dichtung und ars memoriae einerseits wie das Zusammenspiel von Dichtung und kulturellem Gedächtnis andererseits fuhrt in der (notwendigen) Zusammenschau zu Ambivalenz. Dichtung nämlich schreibt Wissen ins kulturelle Gedächtnis ein mittels ästhetischer Strukturierung, diese ästhetische Medialisierung basiert aber auf memorialen Techniken. Damit ist Dichtung einerseits Instrument und (ein) Medium der Memoria (als Vermögen),14 macht andererseits jedoch Memoria (als Kunst) zu einem/ihrem Medium und Instrument. Viele der meist griffigen Formulierungen, mit denen dieser komplexe Zusammenhang ins Wort gefaßt wird, ignorieren die hier zweifache Semantik von 'Memoria' (oder ihrem deutschen Äquivalent).15 Mnemonische Zweckorientierung von Dichtung und mnemonische Technik von Dichtung sind fuglich auseinanderzuhalten, gleichwohl beide Aspekte zu berücksichtigen - bei einer Lektüre, die nicht allein die Mach- und ggf. die Wirkart des Textes untersucht, sondern diesen ausdrücklich interpretiert. Auf diesem Weg gelangt man nicht nur zur historischen Rekonstruktion einer mnemonistischen Dichtungstheorie ( E R N S T ) , sondern zugleich zum systematischen Entwurf einer mnemonischen Interpretationsmethode ( L A C H M A N N ) , die ggf. eher der Literaturwissenschaft als der Literaturtheorie zuzurechnen ist: Die Literatur, so scheint es, schreibt die Bilder, die die ursprüngliche Mnemotechnik als Merkbilder erfunden und gefunden hat, nicht nur um, ihre Rolle ist nicht nur die einer Partizipation an der mnemonischen Praxis, die die Bilder verbürgen, sondern sie kommentiert sie auch. Die Mnemotechnik als eine Grammatik, die Verfahren der Kodierung und der Bildfindung formuliert, ist dabei unter doppeltem Aspekt zu sehen: einmal läßt sie sich für ein Textproduktionsmodell heranziehen, zum anderen erscheint sie als neues Lektüremodell. Dessen Konturen werden sichtbar bei der Interpretation solcher Texte, die in ihrer narrativen oder semantischen Struktur eben jene mnemonischen Spuren verdecken, die in die mne13 Ebd., S. 73. Wobei zu erwägen wäre, ob Dichtung nicht gerade durch den Einsatz von Bildern sich von der Ikonographie als Medium der Memoria mehr unterscheidet als sich ihr annähert. 15 Zum Beispiel PETHES [Anm. 4], S. 33: „Der Text ist [...] Modell wie Zugang zur Erinnerung."

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Waltraud Fritsch-Rößler motechnische Tradition verweisen. Hier erscheint die Mnemotechnik als Subtext, den es mitzulesen gilt - eine Lektüre, die den Raum des Textes mnemonisch ausund unterschreitet. [...] Ein mnemotechnisches Lektüremodell sieht den Text als Produkt eines komplexen Transformations-, Kodierungs- und Imaginationsvorganges. [...] Zum Aspekt der Schrift tritt derjenige einer Lektüre, die sich dem mnemonischen Erbe des literarischen Textes zuwendet. Und das heißt: Interpretation der von den Texten entfalteten Gedächtniskonzepte und Analyse solcher Texte, deren strukturelle und semantische Referenz das Gedächtnis ist. ' 6

(5) Gedächtnis und Erinnerung sind implizite Faktoren von Literatur, deshalb jedoch noch lange nicht deren Gegenstand. Mnemonisch strukturierte und konnotierte Texte handeln nicht auch zwangsläufig vom Gedächtnis, Memoria ist nicht notwendig ein Thema in der Dichtung. Sie ist es aber in den neu entstehenden, volkssprachlichen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts. Der Wechsel vom Epos zum Roman fördert nicht nur eine stoffliche Umorientierung der mittelalterlichen Autoren und definiert das neue Genus inhaltlich basal als Liebesroman, sondern lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Problemkomplex von Erinnern und Vergessen - in der Liebe. Ihre unmittelbare Verbindung finden Minne und Memoria in der literarischen Konstruktion eines 'Liebesgedächtnisses', welches den Protagonisten hilft, ihre womöglich, vorzugsweise in Zeiten der äventiure, gefährdete Liebe zu restituieren. Medial markiert der Wechsel vom Epos zum Roman den Weg von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Dabei passiert etwas auf den ersten Blick Befremdliches: In dem Moment, in dem volkssprachliche Dichtung sich erstmals als rein schriftlich konzipierte zeigt, weist sich der Autor dezidiert als Erzählender aus. SCHAEFER hat die Unterschiede gekennzeichnet.17 Der mündliche Erzähler, physisch anwesend, sichtbar und mit seinem Publikum raumzeitlich kopräsent, verankert die von ihm vorgetragene Dichtung im Faktischen. Der Erzähler der schriftlichen Erzählung hingegen ist ein (variables) Rollenkonstrukt des Autors, hörbar zwar, aber nicht mehr sichtbar; mit Stimme, aber ohne Physis; er ist eine fiktionale Figur, die keine historische Wahrheit und R. LACHMANN, Text als Mnemotechnik - Panorama einer Diskussion, in: Gedächtniskunst: Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hg. von A. H A VERKAMP/R. LACHMANN, Frankfurt a.M. 1991, S. 7-21, hier S. 19f. 17 U. SCHAEFER, Individualität und Fiktionalität. Zu einem mediengeschichtlichen und mentalitätsgeschichtlichen Wandel im 12. Jahrhundert, in: Mündlichkeit - Schriftlichkeit - Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von W. R Ö C K E / U . SCHAEFER, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 50-70. - Aus der Fülle von Sekundärliteratur zum Thema Mündlichkeit/Schriftlichkeit verweise ich auf drei Titel: G. BUTZER, Das Gedächtnis des epischen Textes. Mündliches und schriftliches Erzählen im höfischen Roman des Mittelalters, in: Euph. 89 (1995) 151-188; J.-D. MÜLLER (Hg.), 'Auffuhrung' und 'Schrift' in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 17); H. KELLER u.a., Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern, München 1999 (Münstersche Mittelalterschriften 76).

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feststehenden Sinn mehr bezeugt, sondern dem Leser/Hörer Sinnangebote macht. Die Nähe von SCHAEFERs Ansatz, wonach Schriftlichkeit Bedingung fur Fiktionalität mit der Konsequenz offener Interpretierbarkeit ist, zu LACHMANNS Lektüremodell für schriftlich fixierte Literatur in Form der Interpretation ist deutlich. Konträr argumentieren beide, wenn es um den Stellenwert der Memoria geht. Während LACHMANNS Interpretationstheorie notwendig auf der mnemonischen Struktur von Texten basiert und das Gedächtnis ins Zentrum der Lektüre stellt, reduziert SCHAEFER den Stellenwert der Erinnerung auf das Bewahren von zuvor schon Vorhandenem18, also auf die mnemonische Zweckorientierung von Dichtung, ja negiert sogar den Stellenwert der Erinnerung, weil die Schriftlichkeit Dichtung davon entlaste, die memoire collective zu bewahren 19 . Meiner Ansicht nach lassen sich beide Auffassungen miteinander in Einklang bringen, wenn man den medialen Aspekt (Wechsel von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit) koppelt mit dem inhaltlichen Aspekt (Wandel zum Liebesthema): Die nicht mehr statthabende physische Kopräsenz zweier Kommunikationspartner, des mündlichen Erzählers und des Hörers, wird substituiert durch die (materielle) Schrift. Zwischen mündlichen Erzähler und Hörer schiebt sich der schriftliche Erzähler. Die nicht mehr statthabende physische Kopräsenz zweier Liebender wird substituiert durch die (materielle) bildliche, plastische oder (in Form von Stellvertreterinnen) leibhaftige Repräsentation des abwesenden Liebespartners. Zwischen Mann und Frau schiebt sich das Bild, die Statue, der/die Dritte. Die Funktionsstellen von Schrift und Repräsentation, von schriftlichem Erzähler und (Ab-)Bild sind in beiden Systemen analog. Medial wie thematisch leistet die neue Gattung des volkssprachlichen Versromans mithin das Gleiche, nämlich der Abwesenheit Gestalt zu geben und dem Vergessen durch Memorialzeichen entgegenzuwirken. Die semantische Referenz auf das Gedächtnis ist auf der inhaltlichen Ebene zumeist expliziert und daher für den Rezipienten leichter erkennbar als auf der medialen, deren implizite Referenz auf das Gedächtnis sich allerdings durch Analogieschluß freilegen läßt. Das entbindet den Autor von der Notwendigkeit, Schrift ausdrücklich als geronnenes Gedächtnis zu definieren. Er braucht sich nicht, wie etwa noch Otfrid von Weißenburg eingangs seiner Evangelienharmonie, grundsätzlich über das (neue) Medium der Schriftlichkeit zu äußern, sondern er transportiert die Bedingungen, Funktionen und Wirkweisen der Schriftlichkeit in die Erzählhandlung.

18 Vgl. SCHAEFER [Anm. 17], S. 62. Vgl. ebd., S. 52.

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Das Geschehen wird infolgedessen zu einem „Ort" der angewandten poetologischen Reflexion und hat einen literaturtheoretischen Subtext, der bei der Lektüre, spätestens aber bei der literaturwissenschaftlichen Interpretation - im Sinne LACHMANNs - mitzulesen ist. Existiert darüber hinaus noch ein Prolog, ergibt sich das Recht, ja die Pflicht, die Erzählhandlung dem Prolog zu korrelieren. Mein Versuch der methodischen Legitimierung der Handlungsebene als einer, die auf Literaturtheorie verweist, geschieht aus einer auf die Memoria beschränkten Perspektive. Er ist, ungeachtet dieser Begrenzung und trotz seiner prinzipiellen Ausweitbarkeit, nicht identisch mit HAUGs methodischer Begründung des Zusammenspiels von Prolog und Werk,20 denn HAUG ging es um die Legitimierung des Prologs als einem Ort literaturtheoretischer Reflexion (gegen die zunächst von BRINKMANN, aber auch von anderen, ihn kritisierenden Mediävisten vertretene Position, zumindest der prologus praeter rem gestatte noch keinen inhaltlichen Bezug auf das folgende Werk). Indem HAUG den Prolog aus den „Fesseln der Rhetorik"21 befreit - unbeschadet rhetorischer Schmuck und Topoi weiterhin in mittelalterlichen Prologen verwendet werden - und ihn vor dem Hintergrund christlicher Sprach- und Literaturauffassung sieht, legitimiert er den Prolog als rezeptionslenkende Passage mit der vorrangigen Funktion, Möglichkeiten und Grenzen literarischer Sinnvermittlung zu erörtern. Dieser hermeneutische Vermittlungsprozeß finde ebenso in den literaturkritischen Exkursen statt, die vereinzelt in die Erzählhandlungen eingeschoben sind. Ich plädiere ergänzend dafür, nicht nur Prologe, Epiloge und Exkurse (Reflexionsräume) auf ihr literaturtheoretisches Potential hin zu befragen, sondern auch der Handlung (Erzählraum) literaturtheoretische Tauglichkeit zuzugestehen, insofern sie nicht nur auf die in vorgängigen Werkteilen formulierte Literaturtheorie verweist, sondern der Möglichkeit nach sogar selber Literaturtheoretisches zum Ausdruck bringt. Das hat zur Konsequenz, einzelne Episoden nicht nur als Anwendung zu verstehen, sondern womöglich einen Theoriezuwachs gegenüber dem Prolog und den Exkursen zuzulassen. Wieder mit Blick auf die Memoria: Da Handlung Träger braucht, besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem (ana)mnestischen Vermögen der Figuren, den rhetorischen-memorialen Mitteln des Erzählers und der gedächtnissichernden Aufgabe des Dichters. (6) SCHAEFER hat die Entstehung der Fiktionalität und die Entdeckung der Individualität parallelisiert.22 Mittelalterliche Individualität sei stets in Relation zur sozialen Gruppe zu sehen, in die sich der Einzelne einpaßt oder von der er 20 Vgl. W. HAUG, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfangen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt, 2. Aufl. 1992, S. 7-24. 21 Ebd., S. 14. 22

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V g l . SCHAEFER [ A n m . 1 7 ] , S . 5 2 - 6 0 .

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sich (seltener) abgrenzt. Die Modelle fur soziale Gruppen und deren normatives Verhalten aber sind in schriftlichen Texten niedergelegt, so daß Individuation im konditionalen Rahmen der Schriftlichkeit erfolgt.23 Vor allem verlangt Individuation Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, also Selbst-Identifizierung 24 Auch hier läßt sich meines Erachtens eine literaturtheoretisch ergiebige Verbindung herstellen zum Gedächtnis, das bei S C H A E F E R wenigstens indirekt angesprochen ist durch die Rolle der Schriftlichkeit (verstanden als Speichermedium). Daß Memoria, wie oben dargelegt, einerseits ein Mittel der Dichtung, diese wiederum Instrument der Memoria ist, könnte - bei fehlender semantischer Differenzierung - zu der Annahme verführen, die Memoria sei ihr eigenes Mittel und repräsentiere stets nur sich selbst. Das ist zwar ein logisch falscher Schluß, der jedoch deutlich macht, daß der Memoria ein sich selbst vergewissender Zug innewohnt,25 daß nämlich ein sich erinnerndes Subjekt (oder ein Kollektiv von sich erinnernden Subjekten), sobald es sein Gedächtnis nutzt (oder das eines anderen instrumentalisiert), identitätsbildend handelt. Dieser identifikatorische Aspekt der Memoria kommt bereits im ' Gründungsmythos' der Mnemotechnik zum Ausdruck, in der bei Cicero26 erstmals schriftlich überlieferten Geschichte des Simonides von Keos: Weil er über eine außergewöhnliche Merkfähigkeit verfügte, konnte Simonides sich die Sitz- resp. Liegeordnung sämtlicher Teilnehmer eines Gastmahls (die ihm alle namentlich bekannt waren) einprägen. Nachdem der Saal zusammenstürzte und alle Gäste getötet wurden außer Simonides, oblag ihm die Identifizierung der voneinander nicht unterscheidbaren Toten (possent internoscere ullo modo) 'anhand' ihrer Lage im Raum. Abgesehen davon, daß schon Cicero den Nutzen gesteigerter Merkfahigkeit, der mit dieser Geschichte hatte legitimiert werden sollen, kritisch hinterfragte, ja sogar eine Art Gegengeschichte gab über Themistokles, der für eine Kunst des Vergessens (ars oblivionis) plädiert haben soll,27 hat er daraus vor allem den Primat des Gesichtssinns und die räumliche Bezogenheit des Gedächtnisses abgeleitet, die Forschung dagegen den nekrologischen Vergangenheitsbezug antiker und

23 Ohnehin verlangt, umgekehrt argumentiert, der fiktionale Erzählmodus, wenn man ihn wie SCHAEFER kennzeichnet, durch die Freiheit des Autors, sich in diversen schriftlichen Erzählerrollen zu konstruieren, Selbstwahrnehmung und egologisches Bewußtsein. 24 Zur deflatorischen Abgrenzung zwischen 'Individualität' und 'Selbst' vgl. SCHAEFER [Anm. 17], S. 53f. und S. 57. 25 M. WEINBERG spricht in einer Rezension über T. WAGENBAUER (Hg.), The Poetics of Memory (Tübingen 1998) von der „Selbstreflexivität des Gedächtnisses", in: Colloquium Helveticum 27 (1998) 249. 26 CICERO, De oratore II, 352f. 27 Vgl. H. WEINRICH, Lethe - Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 21-26.

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noch mittelalterlicher Gedächtniskultur hervorgehoben.28 Mir kommt es auf die Feststellung an, daß (jede, auch die nicht schriftgebundene) Erinnerung zur Identifizierung beiträgt, also funktional mit Identität zu tun hat.29 Daß es sich bei Simonides von Keos um einen Dichter handelte, und nicht etwa, wie bei anderen Gedächtniskünstlern der Antike, um einen Historiographen, Politiker oder Feldherrn, dient dazu, die Kompetenz zur ars memoriae in der Rhetorik zu verankern. Es zeigt dieser Umstand aber auch den besonderen Stellenwert nicht nur der (künftig nach Simonides' Regeln) zu schulenden, sondern der poetischen Memoria an. Folgerichtig tritt im Mittelalter das identifikatorische Potential der Memoria gerade in der Dichtung, wiederum speziell im volkssprachlichen Versroman zutage. Er ist d e r Ort poetologischer Reflexion, die zugleich Selbstreflexion des Autors ist, der sich selbstbewußt als Erzähler verortet. Die Transformation mittelalterlicher Gedächtnistheorien und Erinnerungstechniken in literarisch-ästhetische Formen wird begleitet von dem Versuch, die neue Gattung 'Roman' ausgerechnet nach Maßgabe der Memoria sofort poetologisch zu fixieren. Gottfried nun wendet im 'Tristan' ein so komplexes Verfahren an, einen Text unter dem Signum der Memoria zu strukturieren und zu semantisieren, daß es die schwergewichtige Bezeichnung 'Memorialisierung' rechtfertigt. Dieses Verfahren läßt sich literaturwissenschaftlich nach unterschiedlichen Nomenklaturen beschreiben, beispielsweise als Figuren bezogene, Publikum bezogene und Autor bezogene Memorialisierung, oder als handlungslogisch, erzähllogisch und poetologisch präsentierter Umgang mit der Memoria, oder als Konzeptualisierung von Subtext, Text und Hypertext. Doch es erfolge zunächst ein interpretierender Gang durch den Roman.

28

Bezogen auf Simonides: S. GOLDMANN, Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos, in: Poetica 21 (1989) 43-66. Ohne die Nähe der Memoria zu Grabkult und Totenklage in Abrede zu stellen, gehen neuere Akzentuierungen dahin, 'Tod' als Chiffre für Umbruch, Traditionsbruch, Katastrophe und Verges-

29

Dazu noch einmal WEINBERG [Anm. 25]: „Das Subjekt [läßt] sich sehr wohl als Effekt des Erinnerns beschreiben" (S. 250).

s e n z u n e h m e n ; v g l . z . B . WEINRICH [ A n m . 2 7 ] , S . 2 2 u n d PETHES [ A n m . 4 ] , S . 4 9 .

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II. Memoria im 'Tristan' Will man das, was die Gottfried-Forschung bislang zu dem Komplex „Memoria und gedenken" aufbereitet hat, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, kommt man zu dem Ergebnis: Der 'Tristan' wird im Prolog mit einer Sentenz zur Memoria eröffnet. Gedaehte mans ze guote niht, von dem der werlde guot geschiht, sö waere ez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht. (Vv. 1-4) 30

Diese Verse dienen als rhetorisches Mittel, nämlich als Exordial-Topos, der aus der antiken Historiographie stammt.31 Noch innerhalb des Prologs durchläuft der Memoria-Topos eine Metamorphose zur liturgisch-eucharistischen Memoria.32 Ir leben, ir tot sint unser bröt. Sus lebet ir leben, sus lebet ir tot. Sus lebent si noch und sint doch töt Und ist ir töt der lebenden bröt. (Vv. 237-240)

Zwischen der historiographischen Memoria zu Beginn des Prologs und der liturgischen Memoria an dessen Ende steht notwendig das Publikum. Es kritisiert (mit Sympathie) das vom Autor dargebrachte Werk und es rezipiert (mit Empathie) die Geschichte der Liebenden im tröstlich-verstehenden Nachvollzug. Da die rezeptionslenkende Strategie des 'Tristan'-Prologs und die wirkästhetische Intention des Autors spätestens seit E I F L E R S Untersuchung33 erwiesen ist, kann die Memoria als eine literarische, ja literaturtheoretische verstan-

30

Gottfried von Straßburg, 'Tristan'. Nach dem Text von F. RANKE neu hg., ins Nhd. übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort vers. v. R. KROHN, 3 Bde., zit. nach der 2. Aufl. Stuttgart 1981. 31 A. WOLF versteht die Memoria vordringlich als historiographische und erwägt daraufhin eine betont geschichtliche Perspektive des gesamten Romans (A.W., Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde, Darmstadt 1989, S. 94). 32 Seit A. SCHÖNE [ZU Gottfrieds 'Tristan'-Prolog, in: DVjs 29 (1955) 447-474], konzediert bereits bei WOLF [Anm. 31], in den Vordergrund gerückt bei G. GRÜNKORN, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994, vgl. S. 138; vehement bestritten bislang nur von E. WILLMS, der lebenden bröt. Zu Gottfried von Straßburg 'Tristan' 238 (240), in: ZfdA 123 (1994) 19-44 - gegen diese HUBER [Anm. 1], S. 46. 33 G. EIFLER, Publikumsbeeinflussung im strophischen Prolog zum 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, in: Fs. für Karl Bischoff, hg. von G. BELLMANN u.a., Köln/Wien 1975, S. 357-389.

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den werden.34 ERNST hat die Verbindung zwischen Autor, Gönner und Protagonisten, wie sie im Prolog-Akrostichon (G DIETERICH TI [IT]) zum Ausdruck kommt, unter explizit mnemotechnischer Perspektive gelesen, nämlich das Akrostichon als visuelles Hilfsmittel der ars memorativa zur Gedächtnisstütze verstanden, und damit mehr als nur die Memoria-Sentenz unter die Federführung der Rhetorik gestellt: Wenn in Gottfrieds Prolog das Akrostichon als mnemonisches Mittel eingesetzt wird, es zudem in konziser Form die Personen nennt, die der Dichter ehrenden Andenkens für würdig erachtet, und der fortlaufende Verstext zudem die Memorialthematik gedanklich facettenreich durchspielt, so ist eine solche Konvergenz von Form, Inhalt und Funktion in der Dichtung des Mittelalters wohl einzigartig. 3 5

Da sich mittlerweile die Position durchgesetzt hat, den ersten Exkurs im 'Tristan', die sog. Dichterschau, als eine Art zweiten Prolog, als Zwischenproömium zu sehen, 36 steht auch für diese Textpartie - die zuvor dominant auf die Verwendung rhetorischer Schmuckmittel und auf den Umgang mit antiker Rhetoriktradition hin untersucht worden ist - eine literarhistorische wie eine kunst- und literaturtheoretische Relevanz zur Diskussion. Indem Gottfried hier antike Dichtung in ein typologisches Verhältnis zur mittelalterlichen Dichtung setzt, übersteigt die zeitgenössische Literatur die der Vorfahren, und mit ihr steigt der Stellenwert dessen, der diese Zusammenschau gibt. Der Anteil der Memoria erscheint bei diesem konstatierten literarhistorischen (Selbst-)Bewußtsein freilich nicht mehr.37 Daß das im Exkurs zentrale poetologische Implantat der Sagbarkeit, Darstellbarkeit und der adäquaten Ausdrucksform, das Verhältnis von vox und res, in Gestalt einer historischen Übersicht, also pointiert als Erinnerungsarbeit, daherkommt, wird in der Gottfried-Forschung 34

Vgl. vor allem M. CHINCA, History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the Poetics of Gottfried's 'Tristan', London 1993, S. 53-57, der die poetologische Implikation der Prolog-Memoria in den Vordergrund stellt. 35 ERNST [Anm. 12], S. 82f. 36 Vgl. HUBER [Anm. 1], S. 64 (mit Verweis auf Alanus ab Insulis und Dante). 37 Symptomatisch dafür WOLF [Anm. 31], Er sieht bereits im Prolog eine literaturtheoretisch relevante Konnotation der Memoria (von der her und auf die hin ein Kunstwerk entstehe, vgl. S. 94, bei auffälliger Präsentation des Dichter-Ichs und dessen Fähigkeit, Memoria-Würdiges zu schaffen, vgl. S. 95); aber der gerade aufgrund seines Umgangs mit der Memoria so fähige Dichter beanspruche erst im Literaturexkurs den Platz des poeta laureatus. Damit behält WOLF den selbst-bewußten Impetus des Dichters zwischen Prolog und Dichterschau zwar bei, interessanterweise jedoch unter Verzicht auf eine Argumentation mit der Memoria, die in WOLFS Äußerungen zum Literaturexkurs (S. 100111) keine Rolle mehr spielt. HAUG [Anm. 20] meint, daß im Prolog (vgl. S. 200-219) „die Konstitution von Sinn im fiktionalen Medium [...] so gut wie keine Rolle" (S. 219) spiele, und sie erst im Literaturexkurs (vgl. S. 219-224) thematisiert werde. Ich denke, zu dieser (zweifelhaften) Diagnose kommt es, weil HAUG die Exordial-Sequenz überhaupt nicht als Memoria-Topos wahrnimmt, sondern die ersten Prologstrophen als Forderung lediglich nach Würdigung und Anerkennung (ere und lop) liest (S. 202f.).

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gerade eben erst beachtet. Unter dem Aspekt von Kanonbildung und Zensur fällt die Memoria wieder in den Blick, vorzugsweise ex negativo, als Vergessen (Aus-Löschen). KELLNER gelingt eine plausible Interpretation des Prologs und des Literaturexkurses aus Sicht der Memoria.38 Es sei eines der zentralen Anliegen Gottfrieds, „die Ausbildung eines Gedächtnisses der Literatur"39 zu erreichen, das kulturelle Gedächtnis zu füllen, dem Vergessen von Literatur entgegenzuwirken und durch die reflexive Selbstbeschreibung von Literatur eine eigene Traditionsbildung zwecks Legitimierung zu erreichen. Nicht erst durch die Kanonisierung einiger weniger Dichterkollegen, sondern bereits im Prolog erörtere Gottfried die Gefahr des Vergessens. Gedächtnislose Rezipienten oder mißgünstige Kritiker leschen Kunst. „Der Prolog reflektiert damit auf den Funktionszusammenhang von Vergessen und Erinnern."40 Die Metamorphose der Prolog-Memoria zur eucharistischen versteht KELLNER als Begründung durch ein Ritual. Im Literaturexkurs sei das rituelle Moment vorhanden durch den Anschluß der Dichterschau an das Initiationsritual der Schwertleite. Da Gottfried allerdings einen beträchtlichen Aufwand betreibe, den Exkurs von der Schwertleite-Descriptio zu entbinden, werde „die Referenzialisierung der poetischen Rede auf das höfische Ritual [...] verweigert"41. Statt dessen legitimiere sich Gottfried unter Ausnutzen der jedem rite de passage inhärenten 'produktiven Unordnung' als Neuerer. Nur am Rande geht BRINKER-VON DER HEYDE auf die Bedeutung der Memoria im Literaturexkurs ein 42 Die Frage des Erzählers: Wen mag ich nü mer uz gelesen?/ ir ist und ist genuoc gewesen (Vv. 4723f.) nimmt sie als Indiz fur Gottfrieds Selbstbewußtsein, die nicht weiter namentlich Erwähnten würden auf diese Weise „dem Vergessen preisgegeben"43. Wer keinen Namen hat, dessen kann nicht gedacht werden. Soweit (auch im Verweis auf Hartmanns 'Iwein'Prolog) stimme ich BRINKER-VON DER HEYDE ZU, möchte diese Verse aber doch anders akzentuieren. Der Erzähler im Literaturexkurs selektiert nicht nur selbstbewußt, sondern expressis verbis. Er bezeichnet den Vorgang der Selektion, und die nicht namentlich Genannten werden wenigstens summarisch aufgeführt: 38 B. KELLNER, Autorität und Gedächtnis. Strategien der Legitimierung volkssprachlichen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg 'Tristan', in: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997, 2 Bde., hg. von J. FOHRMANN u.a., Bielefeld 1999, Bd. 2, S. 484-508. 3 9 KELLNER [ A n m . 3 8 ] , S . 4 8 7 .

40 Ebd., S. 491. 41 Ebd., S. 503. 42 C. BRINKER-VON DER HEYDE, Autorität dank Autoritäten. Literaturexkurse und Dichterkataloge als Mittel der Selbststilisierung, in: ebd., Bd. 2, S. 442-464 (zu Gottfried vgl. S. 446-455). 43 Ebd., S. 503.

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Der nahetgalen der ist vil, / von den ich nü niht sprechen wil (Vv. 4751 f.). An exponierter Stelle, dem Übergang vom Epiker- zum Lyriker-Teil, bringt der Erzähler die zu Vergessenden ins Wort und also in Erinnerung. Er kleidet das, sprachlich bestechend adäquat, in die rhetorische Figur der Paralipse. Der enge und kehrseitige Zusammenhang von Erinnern und Vergessen, wie KELLNER ihn im Prolog erkannte, wird jetzt zu einem paradoxen Zusammenhang von Vergessen durch Erinnern, erinnern um zu vergessen - ein Paradoxon, das sich durch den gesamten Roman zieht. Literaturtheoretisch betrachtet gelingt dem Erzähler damit die Quadratur des Kreises: „Das ist die katastrophische Kehrseite der Dialektik von Vergessen und Erinnern, die das Projekt einer Erinnerungspoetik vor die Herausforderung stellt, noch das Getilgte zu bewahren, ohne es selbst wieder zu kanonisieren."44 Nun spielt die Memoria aber über die Form des literarhistorischen Katalogs hinaus eine Rolle im Rahmen des Literaturexkurses (Vv. 4554-5012), sie bildet tatsächlich den Rahmen des Exkurses. Der zweigliedrige Bau der Dichterschau und die Komposition des Gesamtexkurses sind bekannt. Ich fasse diese Disposition in einem Schema unter einem anderen Aspekt, dem der Erzähl- und Sprachebenen, zusammen: Handlung (Schwertleite) Allegorie (Kleidung) Unfähigkeits-Topos Erzählen/Epiker Erzählen/Lyriker Unfähigkeits-Topos (und Gebet) Allegorie (Kleidung) Handlung (Schwertleite)

Die wenn auch nicht numerische Symmetrie des Exkurses hat eine noch größere Reichweite, sie strahlt aus bis in die Ebene des Geschehens. Die Dichterschau wird nämlich nach vorne wie nach hinten eingefaßt von einer Identifizierung und einem Totengedenken. Durch Rual, der Tristan schon einmal Namen und damit Identität gab, und die Geschichte, die er nach seiner Ankunft an Markes Hof erzählt, wird Tristan (abermals) identifiziert, jetzt biographisch als Sohn des Riwalin und mehr noch als Sohn der Blanscheflur, d.h. als erbfähiger Neffe Markes. Die handlungsnotwendige Konsequenz aus diesem Wissen ist der Ritterschlag. Erzähllogisch 4 4 PETHES [ A n m . 4 ] , S . 3 3 f .

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verbindet Rual die Vor- mit der Hauptgeschichte. Er erweist sich aber, indem er erzählt, vor allem als personifiziertes Gedächtnis. Seine Erzählung wird mehrfach unterbrochen durch die trauernde Emphase sowohl seiner selbst wie des lauschenden Publikums. Memoria hat emotionalisierende Wirkung. Besonders die Schilderung von Blanscheflurs Tod greift den Zuhörern ans Herz (vgl. Vv. 4221-4226). Nachdem Rual geendet hat, verlangt Marke einen Wahrheitsbeweis. Rual zeigt ihm daraufhin einen Ring mit den Erinnerung heischenden Worten: sit gemant / miner rede und miner maere (Vv. 4288f.). Tatsächlich identifiziert Marke den Ring nicht nur als den, den er einst seiner (jetzt toten) Schwester Blanscheflur gab, sondern sogar als den, den er zuvor von seinem Vater (auf dessen Sterbebett) erhalten hat. Die Rede Ruals, des verkörperten Gedächtnisses, evoziert also wie gefordert Erinnerung bei Marke, und sie steht erkennbar in engem Zusammenhang zu Tod und Totengedenken. Mit seiner memorablen Erzählung rekonstruiert und konstruiert Rual die genealogische Abfolge, die nichts anderes ist als eine Variante des Katalogs. Bezogen auf die Dichterschau: Bevor der Autor/Gottfried sich im Literaturexkurs historiographisch erzählend als wahrer, nämlich epischer Erzähler entwirft, etabliert er mit dem biographisch-genealogisch erzählenden Rual einen figuralen BinnenErzähler, sein Analogon auf der Handlungsebene. Gleichzeitig legt Gottfried motivisch und sprachlich eine Fährte, die zu Isolde leitet. Denn sie, die später Tristan beim Abschied einen Ring als Memorialzeichen überreichen und ihn danach auffordern wird: nu gät her und küsset mich (V. 18351), hat ihre exakte Entsprechung in Marke, der nach der Ringübergabe und seiner erneuerten Erinnerung zu Tristan sagt: gä her und küsse mich! (V. 4299). Die positive Totenmemoria, die Blanscheflur zuteil wird, steht konträr zur negativen Totenmemoria in der dem Exkurs nachfolgenden Szene. Morgan schändet in seiner Rede das Ansehen Blanscheflurs. Die Genealogie greift in dieser Episode wiederum in Form der Erbfähigkeit, die jetzt in Abrede gestellt wird. Während in Cornwall die Identifizierung vorzugsweise über die Mutter glücklich gelang, scheitert sie in Britannien. Tristans durch die Erinnerung Ruals und Markes wieder und neu gewonnene Identität, die er hier zum ersten Mal in einer wahrheitsgemäßen egologischen Aussage faßt: ich selbe heize Tristan (V. 5385), wird abgetan als unnütze maere (V. 5387). Die dynastische Folge gelingt nur mit Gewalt. Die Crux liegt im disparaten Gedächtnis der Kontrahenten. Morgans Erinnerungen an Tristans Eltern sind nicht nur inhaltlich, sondern existentiell andere als die Tristans, der für die Geschichte seiner Eltern vor seiner Geburt, ja für seine eigene Kindheitsgeschichte zwangsläufig kein authentischer, sich selbst erinnern könnender Zeuge ist. So verläßt sich Tristan auf

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die Erinnerungen anderer, Ruals und Markes. Morgan dagegen stellt sich keineswegs als vereinzelter, sich authentisch Erinnernder dar, sondern legitimiert seine Sicht der Dinge mit seinem Anteil an einem kollektiven Gedächtnis: wir wizzen aber alle wol,/ (diu lant sint dirre maere vol) (Vv. 5397f.), wan diser rede der ist also (V. 5405), dä vür hän ichz und manic man (V. 5413). Daraufhin argumentiert auch Tristan mit seinen Vasallen, so mane edele man (V. 5431) hätten aus seiner Hand Lehen angenommen. Damit steht nicht nur Gerücht und Gerede gegen Wahrheit und Tatsache, sondern zwei gleichermaßen Glaubwürdigkeit und Zeitzeugenschaft beanspruchende Gedächtnisse kollidieren. Die Erinnerungen Ruals und Markes werden durch Morgans Perspektive relativiert als subjektive, bzw. die Rekonstruktion einer Tat (Heirat) bewegt sich zwischen einer erinnernden Innensicht (Rual) und einer erinnernden Außensicht {man). Für letztere ist bezeichnenderweise kein Beleg erforderlich. Zwar bietet Tristan an, seine Identität zu beweisen (bewaeren und bereden, V. 5443), aber Morgan bricht an dieser Stelle - die strukturell der Forderung Markes an Rual, sich auszuweisen, was diesem mit dem Ring gelingt, entspricht - den verbalen Austausch ab. Statt eines Ritterschlags erfolgt ein Totschlag, ein Ritter wird erschlagen.45 KELLNERS Auffassung (die poetische Rede verweigert die Referenz auf das höfische Ritual) ist zu präzisieren: Die poetische Rede zeigt statt dessen eine Referenz auf die Memoria. Die Referenz auf das höfische Ritual wird aus der Kommentar- in die Handlungsebene verlagert. Weil gerade dort (in der figurativen Rede) die Referenz auf die Memoria evident ist, wird das höfische Ritual im Literaturexkurs metaphorisiert. Das Ganze im Überblick:

45 Hier wäre, mit gebührender Vorsicht, zu erwägen, was WENZEL [Anm. 6], ebenso vorsichtig, zu bedenken gab: „Der Schlag als mnemotechnisches Hilfsmittel wirkt möglicherweise auch noch in der Ritterweihe nach. Nach Maßmann bildet der Ritter-Schlag 'seinem Sinn nach mehr oder weniger ein Denkzeichen'" (S. 63).

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Erzählhandlung

Kommentar-Exkurs

Erzählhandlung

Rede

figurativ (Rual)

Erzähler

figurativ (Morgan)

Referenz

genealogisches Ged.

literarisches Gedächtnis

kollektives Ged.

Inhalt

Totengedenken

Totengedenken

(Blanschefl., M.s Vater) positiv

Ergebnis

Totengedenken (Blanscheflur)

pos./neg. (Lob und Tadel)

negativ

einzelner (Tristan)

einzelner (Gottfried)

einzelner gliedert

gliedert sich in Erbfolge

gliedert sich in Dichter-

sich in soziale Grup-

ein

gruppe ein

pe ein (Lehnswesen)

Zweck

Legitimation/Identität

Legitimation/Identität

Legitimat./Identität

Mittel

durch Dynastie

durch Tradition

durch rede (maere)

Ritterschlag

'Ritterschlag' (poeta laureat.)

Totschlag (?)

handhaftes Ritual

metaphorisiertes Ritual

handhaftes 'Ritual'

Konsequenz

Tektonik

Symmetrie - Rahmen -'Umarmung'

Rhetorik

Antithese, Paradoxie, Paralipse

Der Zeitraum zwischen Tristans Schwertleite und der Hochzeit Isoldes mit Marke steht innerhalb der Forschung nicht im Verdacht, irgendetwas mit Memoria zu tun zu haben, wie denn überhaupt die gesamte Handlungsebene bislang nur sehr punktuell auf ihre möglichen Gedächtnisreferenzen hin untersucht worden ist. Ausnahmen bilden lediglich der Mordanschlag auf Brangaene und die Petitcriu-Episode. Ich schiebe eine Beobachtung zum Liebesbeginn nach dem Minnetrank ein. Isolde bereitet ihr Liebesgeständnis vor mit Erzählungen, die keineswegs erwartungsgemäß um ihren

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augenblicklichen emotionalen Zustand, sondern ausschließlich um Erinnerung kreisen. Sie gemahnt Tristan an seine Verwundung, seine Heilung, besonders an die Badszene, in der ihm der Tod durch sie drohte: von ende mante s 'in her dan (V. 11940; ein 'potentielles' Totengedenken). Das Geständnis (Rede) eröffnet primär zwar die gemeinsame Minne-Biographie, einleitend schließt Isolde aber beide bereits vorhandenen Gedächtnisse auf und überfuhrt sie in ein gemeinsames. Indem sie gemeinsame Erinnerungen nicht nur abruft, sondern sie in ihrer Rede erst als gemeinsame b e w u ß t macht, gliedert Isolde Tristans Einzelgedächtnis in das ihre ein. Die Gruppe geriert sich als Dyade, der Vorgang ist diskret als Inkorporierung in Szene gesetzt. Mit Erfolg, denn die Gegenwärtigung der Vergangenheit als gemeinsamer Vorgeschichte wird von Tristan aufgegriffen, vom Erzähler rhetorisch adäquat ins Wort gesetzt: diu rede was under in gerade, / si seite im und er seite ir (Vv. 11956f.). Der vom Autor im Prolog zwischen die Initialen T-I-I-T piazierte Chiasmus: ein man ein wip, ein wip ein man,/ Tristan Isolt, Isolt Tristan (Vv. 129f.) erscheint wieder im Redeverhalten der Figuren. Noch bevor die beiden die Übereinstimmung in ihrem Wünschen und Wollen entdecken, noch bevor sie ein herze und einen willen (V. 12031) haben, also noch vor Konstituierung einer liebenden TatGemeinschaft, konstituiert sich eine Übereinstimmung in der Memoria und eine biographische Gemeinschaft (Identität) durch die Memoria. Hier wird ein Gedächtnis als Liebesgedächtnis encodiert, und zwar nach den gleichen Regeln wie das genealogische, literarische und kollektive Gedächtnis aus der Schwertleite-Dichterschau-Partie. Und abermals fuhrt von hier aus die Spur zu Isoldes Abschiedsrede. Weiträumig gefaßt ergibt sich aus diesem Liebesgedächtnis der sexuelle Vollzug, der Betrug in der Hochzeitsnacht und der Mordversuch ('Totschlag') an Brangaene. WENZEL46 geht der Frage nach, was Gottfried bewogen haben könnte, statt einer Hundeleber, die in anderen Tristan-Bearbeitungen als Zeichen des vollzogenen Mordes Isolde überbracht wird, eine (Hunde-)Zunge zu wählen. WENZEL interpretiert die Zunge in einem mehrfachen Sinn und schlüsselt die unterschiedlichen Ebenen auf, auf denen dieses Motiv angesiedelt ist und auf die es verweist. Brangaenes Zunge ist leibliche Zunge {res), zugleich metonym für Brangaenes Rede (verbum). Die Hundezunge dagegen ist als herausgeschnittenes Zeugnis des Verstummens Wortzeichen und Memorialzeichen für Isolde. Die junge Königin decodiert zwar die Rede der Nichte, kann die Zunge Brangaenes als signum naturalis also richtig interpretieren, das wirkliche Geschehen jedoch nicht rekonstruieren, weil die Hundezunge als signum veri46 WENZEL [Anm. 6], Kap. „Die Zunge (lingua) der Brangäne", S. 388-394.

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similis sie täuscht. Als (falsches) Memorialzeichen für Brangaene (d.i. fur deren Identität) erfüllt die Hundezunge mithin ihren Zweck (Isolde glaubt eine Person tot, keinen Hund), doch als Memorialzeichen für einen Mord erfüllt sie ihn nicht (Isolde glaubt, ein Mord sei geschehen, wo gar keiner geschehen ist). Gegenständlichkeit, Zeichenhafitigkeit, Rede, Interpretation und Geschehen werden zusammengeführt im Motiv der Zunge, besser gesagt: der verwechselten Zunge. Allerdings evoziert die richtige Interpretation des falschen Zeichens in Isolde Reue. Es führt, wie WENZEL schreibt, „Isolde die Gemeinsamkeit wieder vor Augen", wird dadurch „zum wirksamen Agens der Katharsis, zum Medium der Erinnerung und der Vergegenwärtigung"47. Obgleich, ja weil das Memorialzeichen der Zunge täuscht, zielt es, mit Erinnerung verbunden, „auf die Korrektur (Heilung) von fehlerhaftem (sündhaftem) Handeln".48 Da WENZEL zuvor Brangaene, die Mitwisserin der heimlichen Liebe zwischen Isolde und Tristan, als „Gefäß gemeinsamer Erfahrung" und als „Gedächtnis" bezeichnet49, läßt sich, was WENZEL nicht mehr ausführt, Isoldes Gedächtnis näher charakterisieren. Es spannt sich nämlich ein Bogen zwischen Isoldes Gedächtnis, wie es sich in 'Form' Brangaenes präsentiert, und Isoldes Gedächtnis, wie es durch die vermeintliche Tötung Brangaenes50 evoziert wird. Bemerkenswert daran ist die zweifache Verschiebung des Gedächtnisses. Brangaene stellt das extern verkörperte Gedächtnis Isoldes dar, das dadurch wie ausgelagert erscheint, und Brangaenes Gedächtnis wird seinerseits nochmals verkörpert in ihrer Stimme. Außerdem meldet sich just in dem Moment, in dem Brangaene getötet, das Gedächtnis also gelöscht und das erwünschte Vergessen gewährleistet zu sein scheint, Isoldes Erinnerung. Vergleichbares passiert in der Petitcriu-Episode, der zweiten Gefährdung des Liebesgedächtnisses. so süeze was der schellen clanc, daz si nieman gehörte, sine benaeme im und zestörte sine sorge und al sin ungemach. (Vv. 15856-15859)

Der Zusammenhang des 'Dinges' Hund mit Vergessen und Erinnern ist also im Text expliziert. Mit Hilfe des Glöckchens kann Erinnerung an Leid potentiell ausgesetzt, d.h. das Gedächtnis zumindest partiell gelöscht werden. Das vermeintlich Faktische aus der Brangaene-Episode verschiebt sich ins Mögliche (subtextuell: ins Fiktive, Fiktionale). In genauem Gegenteil zur Brangaene47 48 49 50

Ebd., S. 392. Ebd., S. 394. Ebd., S. 390. Der ursprüngliche Charakter der Memoria als Totengedenken ist hier noch ersichtlich.

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Waltraud Fritsch-Rößler Partie wird jetzt Vergessen aber nicht als wünschenswert erachtet und folglich verhindert. 51 Handlungslogisch hat die Memoria hier die Funktion, die voneinander getrennten Liebenden je unabhängig voneinander auf die Leid ersparende Wirkung des Glöckchens verzichten und damit übereinstimmend agieren zu lassen. Erzähllogisch wird die im Prolog gegebene Definition wahrer Liebe als Leid akzeptierende, dieses nicht vergessende Liebe bestätigt. 52 Schon seit längerem steht in der Auseinandersetzung mit der Petitcriu-Episode aber auch eine poetologische Deutung zur Verfugung, die zunehmend Platz greift. An Petitcriu lasse sich nicht nur wahre Liebe erkennen, sondern zeige sich gleichermaßen wahre Kunst, insbesondere Literatur.53 Das Glück, das mit dem Glöckchen erkauft wird, kann nur ein illusionäres sein, so wie Kunst, die nur auf Unterhaltung und Zerstreuung zielt, illusionär und scheinhaftig ist. Vor allem WRIGHT kommt zu einer betont literaturtheoretischen Deutung des Hündchens, das er als allegorisierten Text versteht: „Petitcreiu, daz vremede poem."

54

were von Avalun,

is a

Die merkwürdigen Farben bzw. Nicht-Farben des Hundes entsprächen

dem „merely verbal aspect o f a literary work", versinnbildlichten „rhetorical and literary tricks and techniques that merge, in the hand o f a skillful poet, into an effective simulacrum of wholeness". Das Glöckchen „represents the sounds and meanings carried on this textual 'skin', which must be understood both in the everyday sense of customary writing material and as a terminus for the mystic integument of allegory".

technicus

55

51

Von Isolde, die nicht wie Tristan den Vorzug des Vergessens sieht, sondern dessen Gefahr. 52 Die ältere Forschung zu Petitcriu repräsentieren: L. GNADINGER, Huidan und Petitcreiu. Gestalt und Figur des Hundes in der mittelalterlichen Tristandichtung, Zürich 1971, sowie W. SCHRÖDER, Das Hündchen Petitcreiu im 'Tristan' Gotfrids von Straßburg, in: Dialog. Fs. für Josef Kunz, hg. von R. SCHÖNHAAR, Berlin 1973, S. 32-42. 53 Bei K. BERTAU (Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. 2, München 1973) noch mit Fragezeichen versehen: „Petitcriu (eine Allegorie der Poesie?)", S. 950. Vgl. P. STEIN, Die Musik in Gotfrids von Straßburg 'Tristan' - ihre Bedeutung im epischen Gefuge. Vorstudien zu einem Verständnishorizont des Textes, in: Sprache - Text - Ges c h i c h t e , h g . v. P . STEIN/R. HAUSNER, G ö p p i n g e n 1980 ( G A G 3 0 4 ) , S. 5 6 9 - 6 9 4 ; Α . E.

WRIGHT, Petitcreiu. A Text-Critical Note to the 'Tristan' of Gottfried von Straßburg, in: Coli. Germ. 25 (1992) 112-121; unter dem Aspekt der 'Abstraktion' interpretiert S. PHILIPOWSKI, Mittelbare und unmittelbare Gegenwärtigkeit oder: Erinnern und Vergessen in der Petitcriu-Episode des 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, in: PBB 120 (1998) 29-35. 54 WRIGHT [ A n m . 5 3 ] , S. 116.

55 Ebd. WRIGHT deutet einerseits die Hundehaut als ein Symbol für Allegorie, andererseits den ganzen Hund als Allegorie auf einen literarischen Text. Das allein stiftet bereits Verwirrung. Vollends unübersichtlich wird seine Argumentation jedoch spätestens dann, wenn er plötzlich zum Lyrik-Teil des Literaturexkurses schwenkt. Zweifellos verfolgen Petitcriu bzw. das Glöckchen und die Nachtigallen das gleiche, rein ästhetische Ziel, „pouring out their happiness in tones" (S. 117) statt ein senelichez maere (V. 97) zu kreieren. Wenn aber „both coat and bell exist only to distract unhappy lovers from their yearning" (S. 117), drohen Fell und Glöckchen zur Allegorie auf Lyrik, die Haut aber zu

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W R I G H T S Grundthese, Petitcriu sei der allegorisierte literarische Text ('Hund-Text'), leuchtet mir ein, umso mehr als sie sich unter W E N Z E L S Ansatz produktiv weiterfuhren läßt. Die mnemonische Referenz Brangaenes wechselt nämlich über auf den Hund Petitcriu, die Referenz wandert weiter von der Hunde-Zunge auf die Hunde-Schelle. Die Parallelen: So wie Brangaene Isoldes (Liebes-)Gedächtnis verkörpert, verkörpert das Hündchen (literarisches) Gedächtnis. So wie die Zunge Brangaenes einerseits leiblich-materiell (res), andererseits Metonym für (natürliche) Sprache/Rede (verbum) ist, ist das Glöckchen einerseits gegenständlich-materiell (res), andererseits Metonym für (literarische) Sprache/Rede (verbum).56 So wie die menschliche Stimme Brangaenes Zunge/Rede hörbar macht, so macht der Klang das Glöckchen/Wort hörbar. Wo Brangaenes Zunge als Wortzeichen steht, steht das Glöckchen als 'Lautzeichen' für das Wort. So wie die „Erzählung von der Zunge der Brangaene [...] eine Erzählung von den Möglichkeiten und der Wirkung ihrer rede"57 ist, so ist die Erzählung von dem Glöckchen eine von den Möglichkeiten und der Wirkung literarischer Rede. Hier entsteht ein Gegensatz: Die (von Isolde unterstellte) Wirkung von Brangaenes (für wahrscheinlich gehaltener) Rede wäre Aufdecken und Entdeckung, wäre gefährliche Offenlegung des geheimen Gedächtnisses. Die (vom Erzähler unterstellte und von Tristan wie von Isolde entdeckte) Wirkung des Glöckchens/literarischen Textes ist Verdecken und Verhüllen (von Leid) in Form von Zerstreuung und kurzewile, illusionärem Trost, also gefährliches Vergessen. Doch erweisen sich, wiederum parallel, beide bloß möglichen Wirkungen als falsch, weil sie nicht realisiert werden. Isolde irrt sich, denn Brangaene verrät selbst angesichts des Todes das Geheimnis nicht, sie macht keinen Isolde schadenden Gebrauch von ihrem Wissen. Tristan irrt sich, denn Isolde macht keinen (ihm und der Liebe schadenden) Gebrauch vom Glöckchen. Ein weiterer Gegensatz wird deutlich: Statt zu enthüllen, verhüllt Brangaene (in der Hemden-Allegorie). D.h. sie verschüttet mit Worten den eigentlichen Sinn. Statt ihr Leid mit dem Glöckchen zuzudecken, reißt Isolde die Schelle ab. D.h., übertragen auf den 'Hund-Text': Statt ihn von Klang und Wortlaut verschütten zu lassen, legt Isolde den eigentlichen Sinn frei. 58 Sie

einer auf Epik zu werden, obgleich doch auch und gerade die Epiker rhetorische Farben verwenden, also Anteil am Fell haben. 56 Gottfried gebraucht hier den Begriff zunge sogar zweifelsfrei metonymisch für 'Rede': daz zunge nie sö redehafi/ noch herze nie so wise wart,/daz sine [Petitcrius] schoene und sin art/künde beschriben oder gesogen (Vv. 15814-15817). WENZEL [Aran. 6], S. 390.

58 Vgl. dazu erneut BERTAU [Anm. 53], der ohne Bezug auf Petitcriu über die „Allegorisierung des Wortes im Klang" (S. 929-933) schreibt. Die Klangstruktur entkleide den erzählenden Reimpaarvers seines epischen Charakters (S. 930) und es sei deutlich, „daß das Hin- und Widerwandern der Klänge sich zeigt und Aufmerksamkeit fur ein abstrak-

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agiert damit genau konträr zu Brangaene. Wieder entsteht daraus aber eine Parallele: Isolde leistet das Gleiche wie schon einmal, hat sie doch auch in Brangaenes Rede den gemeinten Sinn unter dem integumentum erkannt. 59 So erstaunt es nicht, daß am Ende das gleiche Resultat steht. Der 'Mord' an Brangaene evoziert Isoldes (heilsame) Erinnerung, die Zerstörung des Glöckchens (auch ein 'Mord' und zum Verstummen-Bringen) hat perpetuierte Erinnerung zur Folge. Petitcriu, der ein Oblivions-Mittel hätte sein können, wird zum das Gedächtnis stützenden Mittel, zum Memorial-Zeichen. 60 Mit dem Unterschied jedoch, daß es sich nunmehr um eine bewußte Entscheidung handelt. Isoldes ehedem spontan evozierte Erinnerung tritt in ihr reflexives Stadium. Die Memoria wird selbstbewußt. Übertragen auf den Stellenwert von Literatur heißt das, der Leser, mehr noch der Hörer (Isolde) erkennt den Wert der Literatur als Medium des Gedächtnisses, wie im Prolog vom Rezipienten gefordert und wie im Literaturexkurs vom selbstbewußten Produzenten demonstriert. 61 Nicht nur Brangaenes Zunge, sondern der ganze bisherige Roman bestätigt WENZELS Einschätzung: „Mit dem 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, der sich durch ein hohes Sprachbewußtsein auszeichnet, wird die Literatur als Medium der Memoria und Repräsentation selbstreferentiell und erreicht damit eine Stufe artistischer Komplexität, die für die Poetik mittelalterlicher Texte grundlegend erscheint." 62 In der Petitcriu-Passage werden (allegorisiertes) literarisches Gedächtnis und Liebesgedächtnis erstmals episodisch zusammengeführt. Wenn sie tatsächlich „eine bildhaft vergegenständlichte Vorwegnahme dessen [ist], was in der Minnegrotte vorübergehend im Liebespaar selbst Wirklichkeit wird" 63 , müßte auch die nachstehende Partie deutlich memorial geprägt sein. Das ist bislang in der tes Klanggewebe fordert, unter dessen Netz der konkrete Sinn der Wörter zu verschatten droht" (S. 932). Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß sich allegorisches Reden motivisch wie metaphorisch an Kleid und Einkleidung bindet: Tristans Rüstung und Gewand in der Schwertleite, Brangaenes und Isoldes Hemden, Petitcrius Fell. 60 Von WRIGHT [Anm. 51] durchaus konzediert („reminder of love and loss", S. 118). Trotz der Schmerzlichkeit dieses Memorials („painful reminder") verträgt sich das mit dem nach WENZEL kathartischen Moment der Erinnerung. Die heilsame Wirkung, die er dem in der Zunge versinnbildlichten Wort zugesteht, wäre hier greifbar als wahrer Trost durch epische Dichtung. 61 Zwar weist die Petitcriu-Partie nicht exakt den gleichen symmetrischen Bau auf wie der Literaturexkurs, aber alle dort vorhandenen Sprach- und Erzählebenen werden geboten: Handlung - (Aufbau einer) Allegorie (unterbrochen durch den Unsagbarkeitstopos) Wirkung des Hundes auf Tristan - Handlung (Kampf gegen Urgan) - Wirkung des Hundes auf Isolde - (Demontage der) Allegorie - Handlung. Dazwischen liegt ein MiniExkurs über nein unde jä, ere äne ere (Vv. 16310-16332). 6 2 WENZEL [ A n m . 6 ] , S. 3 8 8 f . 63

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WOLF [Aiun. 31], S. 206. Mit „Wegemarke zur Minnegrotte" überschreibt U. DRECOLL das Petitcriu-Kapitel. U.D., Tod in der Liebe - Liebe im Tod. Untersuchungen zu Wolframs 'Titurel' und Gottfrieds 'Tristan' in Wort und Bild, Frankfurt a.M. 2000, vgl. S. 215-226.

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Gottfried-Forschung nicht herausgearbeitet worden, weil das Erkenntnisinteresse sich auf die Idealität der Minne, ihren Utopie-Charakter und ihren inneren Zusammenhang mit der Grotten-Allegorie focussiert. Ich interpretiere im Folgenden das Wunschleben sub specie memoriae, wobei sich vier Felder als fruchtbar erweisen: (1) Natur, (2) Architektur, (3) Literatur, (4) Musik. (1) Gemäß der Zwei-Bücher-Lehre spricht Gott durch die Bibel, das Buch der Bücher, und durch seine Schöpfung, das Buch der Natur. Die Heilige Schrift, das Wort Gottes, bedarf der Exegese; die Natur, die 'Schrift' Gottes, kann auch vom Laien 'gelesen' werden. Die Gleichsetzung von Natur mit Buch/Schrift impliziert Gedächtnis. Die Natur ist nicht nur Emanation Gottes (Ausdruck), sondern Memorialzeichen (Eindruck) für den Menschen. Natur hat eine Memorialfunktion. In der Minnegrotten-Partie von Gottfrieds 'Tristan' hat sie keine. Statt dessen wird die memoriale Funktion der gottgeschaffenen Natur übertragen auf das nicht von Menschenhand gemachte {cave: Allegorie-Signal!) Artefakt: auf die von mythischen Riesen in heidnischer Vorzeit geschaffene fossiure. (2) Diese Grotte ist ein Zwischending zwischen Natur und Artefakt. Sie ist umgeben von Natur (wilde und einem locus amoenus), ist Teil der Natur (unterirdisch in einem Felsen, in Naturstein gehauen), aber nicht selber Natur. Die Grotte ist ein Zwischending zwischen heidnischem und christlichem Bau. Sie ist nicht von Gott geschaffen, aber einer Göttin zugedacht. Sie ist ein Zwischending zwischen Liebesnest und Liebe-Metapher. Als heidnische Grotte dient sie den Riesen zur Praxis 'normaler', sinnlicher Liebe (so s'ir heinliche wolten hän/ und mit minnen umbe gän, Vv. 16695f.). Als christliche Grotte steht sie für die Theorie einer idealen, die Sinnlichkeit transzendierenden Liebe. Die heidnisch-praxisorientierte Grotte wird beschrieben, bzw. ihre Beschreibung aus zweiter Hand (ouch saget uns diz maere, V. 16703) wiedergegeben. Die Wort-Ding-Entsprechung (vox-res) ist dabei betont unproblematisch (der name gehal dem dinge ouch wol, V. 16702). Die christlich-theoriebehaftete Grotte wird exegetisch erklärt. Ihre Bedeutung (significatio) entbirgt sich durch Bewußtmachen (entsliezen, V. 16924) ihres allegorischen Charakters, durch Enthüllen ihres allegorischen Kleides. Der Vorgang des Entschlüsseins wird mit der Weg-Metapher bezeichnet. Zu der historischen Grotte fuhrt kein Weg und kein Steg (vgl. V. 16765f.), zu der allegorischen Grotte führt ein, wenn auch mühseliger und steiler Weg (vgl. V. 17080). Dem Erzähler obliegt die exegetische Aufgabe des Weg- und Unter-Weisens. Bisherige Interpretationen deuten die Grotte nach erfolgter Exegese als sakralen Liebes-Raum und als Allegorie

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der Kirche. Ich füge den bisherigen Vorschlägen eine mnemonische Lesart hinzu. Die heidnische Grotte ist einer Göttin gewidmet. Die Dedikation - ein Memorialtopos - allein schon machte die Grotte zum Denkmal. Sie trägt aber zusätzlich das Signum der Schrift, denn das in der fossiure befindliche Bett ist alumbe ergraben mit buochstaben und Seiten ouch diu maere, daz ez bemeinet waere der gotinne Minne. (Vv.16720-16723). 64

Die christliche Grotte erhält, da der Exegese bedürftig, den Status der Heiligen Schrift.65 Insofern Schrift und Buch jedoch Gedächtnis symbolisieren, steht die Grotte als Allegorie für das Gedächtnis. Die heidnische (memoriale) Dedikationsinschrift erfahrt durch den Erzähler eine subtile Umdeutung. Eingekleidet ist die Allegorie des Gedächtnisses in eine Architektur-Metapher (Grotte). Der Minnen hus fugt sich hervorragend in die überkommenen (antiken) RaumMetaphern für die Memoria (Tempel, Denkmal, Haus).66 Die Interpretation der Grotte als Gedächtnis kollidiert auch nicht mit der Interpretation der Grotte als christlich-sakralem Raum (Kirche), sondern stützt sie ergänzend. Im Spannungsbogen zwischen Alt und Neu, heidnischer und christlicher Zeit evoziert die halb natürliche, halb artifizielle unterirdische Grotte die Assoziation an den Kirchenraum und Versammlungsort der frühen christlichen Gemeinde, die Katakomben, die zugleich Begräbnisstätte waren.67 Die Grotte zu betreten heißt, in die Katakomben des Gedächtnisses hinabzusteigen - und dort Totem zu begegnen. Toten Personen, totem Wissen, toten Gedächtnisinhalten, die man tot sein lassen, nämlich vergessen, oder zum Leben erwecken, nämlich erinnern kann. 64 Daß nicht nur das Bett, sondern die ganze Grotte der Göttin Minne geweiht ist, erweist sich spätestens mit V. 17229 (diu wäre wirtinne) und vollends mit V. 17470, als Markes Jägermeister die schlafende Isolde für eine gotinne hält. 65 Zur Interpretation der Prolog-Verse 233-240, zu der Diskussion um brät als panis vitae und der daraus erwachsenden Konsequenz, die Lektüre des Tristanromans werde mit der Bibel-Lektüre gleichgesetzt, vgl. KROHNS Stellenkommentar [Anm. 30], S. 36. 66 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang WRIGHTS Beobachtung [Anm. 53], daß Petitcriu nicht in einem Hundekörbchen liegt, sondern „in a reliquary" (S. 114). Zwar überfordert die insinuierte religiöse Konnotation hier wohl (noch) den mhd. Wortlaut (Isolde läßt dem Hündchen ein wunneclichez hüselin anfertigen, V. 16341), aber das allegorisierte literarische und symbolisierte Liebes-Gedächtnis hat immerhin bereits ein Haus, eine Art Miniatur des Minnen hus. Als „Vor-Bau" zur Minnegrotte bezeichnet von DRECOLL [Anm. 63], S . 2 2 2 - ohne Bezug auf das Gedächtnis. 67 Zur vierfachen Benennung der Grotte durch Gottfried (hol, fossiure, clüse, hüs) vgl. DRECOLL [Anm. 6 3 ] , S . 227-242; hol sei mit 'Grab' konnotiert und indem daraus ein hus wird, mache Gottfried die Grotte vom „Raum des Todes" zum „Haus des Lebens" (S. 240f.).

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Die Assoziation an die antike Unterwelt, den Hades, an Styx und Lethe mag mitschwingen. Jedoch ist die liminale Grenze im Wunschleben kein Fluß, sondern eine (wiederum hochallegorisierte) Tür markiert die Raumschwelle (und den Vorgang des Erschließens). Dem Weg-Motiv auf der historisch-literalen Sinnebene entspricht das Motiv der Fußabdrücke. Auf der allegorischen Sinnebene entspricht die Weg-Metapher der reichhaltig verwendeten Metapher 'Fährte'. Auf der mnemonischen Deutungsebene sind Fußabdruck und Fährte Variationen der Gedächtnis-Metapher 'Spur'. 68 Von einer Ausnahme abgesehen, auf die ich weiter unten eingehe, liegen alle Spuren außerhalb der Grotte. Sie sind in naturwüchsigen Boden eingedrückt, also der Natur eingeprägt. Meine Behauptung, in der Minnegrotten-Episode habe die Natur keine Memorialfunktion, kann nunmehr präzisiert werden: Der urwüchsigen Natur {wilde) ohne Memorialbezug steht eine geformte Natur (locus amoenus) gegenüber, die selbst Ordnungsinstanz ist. Diese (zweite) Natur ist das Trägermaterial des (leeren) Gedächtnisses ('Wachs'), die Spur ist die Schrift und zeigt den Vorgang des Einschreibens, die Grotte ist nicht Allegorie irgendeines Gedächtnisses, sondern des mit Inhalten gefüllten Gedächtnisses (beschriftetes Wachstäfelchen, 'Buch'). Hier wird also eine Differenzierung vorgenommen zwischen Gedächtnis als Vermögen (vis, memoria naturalis) und Gedächtnis als Kunst (ars, memoria artißciosa).69 Die Inhalte des artifiziellen Gedächtnisses werden, soweit es sich dabei um ein religiöses und christliches Gedächtnis handelt, abgerufen durch rituellen Vollzug, innerhalb von Liturgie und Eucharistie. Das öffnet der Interpretation der Grotte die dritte, die tropologische Sinnebene. Allegorisch erscheint sie als Sakralraum, tropologisch als Gedächtnisraum. Die Lehre lautet: Gedenket! Sie zielt auf die praktische Unterweisung im Umgang mit christlicher Memoria und weist den Weg, auf dem Andacht sich realisieren läßt: durch Teilnahme an der Eucharistie, einem kommemorierenden, erneuerndem Nachvollzug, der Identität, nämlich Gemeinschaft stiftet. Die vierte, anagogische Sinnebene, die meines Erachtens hier schon am Texthorizont erscheint, läßt episodisch noch auf sich warten, und Gottfried selbst hat sie nicht mehr ausarbeiten können. Die 68 Zum weißen Hirsch und seiner Fährte vgl. immer noch J. RATHOFER, Der 'wunderbare Hirsch' der Minnegrotte, in: ZfdA 95 (1966) 27-42. Daß vom Weg in der Grotte „als einem aktiven Prinzip die Rede ist" (vgl. V. 16688), bemerkt WOLF [Anm. 31], S. 212. Die vielfaltigen, im locus amoenus und der Grottenumgebung sich verlierenden oder einander überlagernden Spuren müßten vor dem mnemonischen Hintergrund aber noch einmal neu gelesen werden. Womöglich ergäbe sich dann auch ein klärendes Verständnis der umstrittenen Metapher vom erbepfluoc (V. 16842). 69 Diese Unterscheidung liegt latent schon in der Petitcriu-Episode bereit. Das Hündchen ist kein reines Naturtier, sondern zusammengemischtes Artefakt, vremedez were. Es ist Produkt einer durch die Rhetorik und ars memorativa geschulten memoria arlificiosa.

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dyadische Liebesgemeinschaft, die unio mystica,70 wie sie auch dem Abendmahl und dem Verzehr der Hostie, der Inkorporation des symbolischen Leibes Christi eignet, müßte sich ausweiten zur societas. Die christliche Memorialgemeinschaft als Sozietät aber erscheint in monastischer Lebensform, ihre Architektur-Metapher ist das (Stiftungs-)Kloster und der Weg des Abrufens geht über das Gebet. In diesen Kontext bettet sich die Antwort auf die berühmte Frage ein: Warum verlassen Tristan und Isolde die Minnegrotte? Weil sie des gesellschaftlichen Ansehens, der ere, bedürfen. Mnemonisch gesprochen, weil das Einzelgedächtnis, und sei es auch als symbiotische unio zweier liebender Gedächtnisse konzipiert, nicht denkbar ist ohne soziale Einbindung in die memoire collective71 (3) Wer in einer Grotte, verstanden als in der Schrift verkörpertem Gedächtnis, lebt, der ißt nicht, sondern liest. Dabei kann es sich, der Semantik von mhd. lesen entsprechend, auch um mündlich vorgetragene, erzählte Literatur handeln. Die im Prolog durch die Rede vom bröt liturgisch gewordene Memoria integriert sich unter dem Aspekt der Literatur problemlos in die memorial gedeutete Minnegrotte. Existieren doch reichhaltige Belege fur das alimentäre Einverleiben des Buches, das Einspeisen der Schrift, für das Reden über Buch und Literatur in Speisemetaphern.72 „Der Metapher der aufnehmenden Wahrnehmung entspricht die Metaphorik der Erinnerung."73 Ihr korrespondiert das liebende Gedächtnis, wie Tristan und Isolde es im emphatischen Erzählen der Liebesgeschichten pflegen. Der Erinnerungsauftrag der christlichen Religion, ins Wort gefaßt durch Jesu Aufforderung, „tut dies zu meinem Gedächtnis", überträgt sich subtextuell auf das literarische Gedächtnis, das abrufbar und einsetzbar wird nicht in der Kommunion, sondern durch Erzählen. Dichtung partizipiert dadurch an der Memoria und enthüllt sich als Medium der Erinnerung. Ob die Geschichten, die Tristan und Isolde sich erzählen, präludierenden Charakter und identifikatorisches Potential haben im Hinblick auf ihr eigenes Schicksal, wird kontrovers diskutiert. Sie drehen sich jedenfalls um tote Liebende, die betrauert und beklagt werden, was erneut den Ursprung der Memoria an das Totengedenken durchschimmern läßt. Statt einiger zeitgenössischer Produzenten im Nekrolog des Literaturexkurses werden nunmehr einige literarische Produkte der Vgl. zu diesem Terminus die Ausführungen von Α. M. H A A S , Unio mystica. Hinweise zur Geschichte eines Begriffs, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, hg. von D. PEIL u.a., Tübingen 1998, S. 1-17. Trotz des Schlußsatzes („Der Begriff 'unio mystica' erweist sich in dieser Perspektive als wichtiges Vehikel der morgen- und abendländischen Memoria", S. 17) will mir allerdings der Zusammenhang der unio mystica mit Erinnerung und Gedächtnis nicht deutlich werden. 71 Vgl. W E N Z E L [Anm. 6 ] , S . 3 7 , unter Verweis auf M . H A L B W A C H S . 72 Vgl. ebd., S. 226-240. 73 Ebd., S. 236.

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(typologisch überwundenen) Antike durch Tradierung unsterblich.74 Die literarische Wiederauferstehung durch (mündliches!) Erzählen braucht freilich einen Erzähler. Tristan und Isolde fungieren als figurale Binnen-Erzähler, als Varianten des Autor-Erzählers.75 Die Liebenden treten allerdings noch nicht als Eigenproduzenten dichterischer Werke auf, sondern reproduzieren nur, sind die Stimmen des Dichters. Das Moment der Innovation und Kreativität scheint dem anderen Medium der Memoria, der Musik, der Stimme des Sängers vorbehalten. 76 Ein weiteres Defizit wird deutlich. Die Liebenden stellen zwar das literarisierte Sterben der unglücklich liebenden Frauen dar - und es ist allein ihr in der Mnemonik geschultes, artifizielles Gedächtnis, das diese Darstellung ermöglicht, denn sie tragen offensichtlich auswendig vor - , aber trotz des Abrufens der Vergangenheit und des Einsatzes von Gedächtnis wird daraus kein ewiclichez sterben (wie Tristan nach dem Minnetrank seine Liebe zu Isolde genannt hatte). Das Paar erzählt sich wechselseitig ohne Zuhörer, fungiert als sein eigenes Publikum. 'Chiastisches' Erzählen, das bei der Encodierung eines Liebesgedächtnisses keine Probleme bereitete, führt nun in die Sackgasse. Das Paar schreibt nichts ins kulturelle Gedächtnis ein, weil es dazu eines Kollektivs bedürfte, eines externen Publikums. Die Stimme des Autors verstummt und der Weg der Tradition versandet ohne Gedächtnis'erben'. Auch hier scheint die Musik über das größere Potential zu verfügen, denn der Leich, den Tristan in Arundele (nicht nur vor der Weißhändigen, sondern vor dem versammelten Hof) singt, wird nach seinem Tod von anderen gesungen. Auch in Literatur und Musik ist folglich die anagogische Deutung der Memoria als Sozietät enthalten. (4) Während die Literatur dem bereits aus vorhergehenden Episoden (Brangaene, Petitcriu) bekannten Prinzip verpflichtet bleibt, daß in dem Augenblick, in dem Vergessen von Leid möglich erscheint, im Gegenteil erinnert wird, dient 7 4

H U B E R [Anm. 1 ] versteht, ohne daß er dies ausdrücklich macht, die Geschichten, die das Paar sich erzählt, offenbar als Brückenschlag zu den Geschichten, die der Erzähler von den Riesen erzählt. Die Minnegrotte als zeit- und geographieüberhobener „Entrückungsraum der Seele" (S. 107) kollidiert mit der (historischen) Wirklichkeit. Das Liebesideal ist aber in der Geschichte einzulösen, die wenigstens in den Erzählungen über die gescheiterten Versuche vergangener Paare berücksichtigt wird. Durch solche - abermals historiographische, literarhistorische - Memoria wird Geschichte „in der Erinnerung aufbewahrt, insofern ist dieses Heraustreten [der und aller Liebenden, W.F.-R.] aus der Geschichte nicht gedächtnislos." (S. 108) Vgl. auch S. 102: Das Paar wird „in den Scheitelpunkt eines weitgespannten Geschichtszusammenhangs versetzt." Das spräche für eine weiterhin virulente historiographische Memoria. Auf jeden Fall stehen Tristan und Isolde ganz im Zeichen des erniuwen, wie im Prolog-Programm gefordert. 75 Wie zuvor Rual. Wendete man hier SCHAEFERS [Anm. 17] Thesen an, nähmen Tristan und Isolde die Rolle des fiktionalen Erzählers im System der Schriftlichkeit und des schriftlich konzipierten Romans ein. 76 Es wäre dies eine Sicht im Sinne A. WOLFS, denn im Grottenleben zeigt sich ihm zufolge die Entfaltung des Künstlerischen aus der Natur, einer Kunst, die in der Musik ihre höchste Stufe finde [Anm. 31], vgl. S. 219f.

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die Musik — nach Petitcrius Schelle kaum mehr befremdlich - dem Vergessen. (So s 'aber der maere denne/ vergezzen wolten under in,/sö slichen s'in ir clüse hin, Vv. 17200-17202.) Genauer: Musik dient dem Vergessen des Leids der Liebeserzählungen, also dem Vergessen der zuvor zielgerichtet und bewußt herbeigeführten Erinnerungen. Das bedeutet, Vergessen leidvoller Gedächtnisinhalte gelingt durch neue Engramme, durch Über'Schreibung' (Palimpsest). Cicero überliefert in 'De oratore' als Ausspruch des Themistokles: Nam memini etiam quae nolo, oblivisci non possum quae volo?Ί Gottfried versucht die Lösung dieses Problems. Willentliches Vergessen ist möglich. Wenn die Grotte das Haus des Gedächtnisses ist, dann liegt in seinem Innern, denn zum Musizieren begeben sich die Liebenden in die Grotte hinein, die Möglichkeit des willentlichen Vergessens, das paradoxerweise offenbar nur dann gelingt, wenn der zu vergessende Gedächtnisinhalt vorher bewußt gemacht wurde. Gottfried interpretiert also die Grotte um zur Gedächtnis-Metapher, unterwirft sie einer vierfachen Ausdeutung, und entwirft mitlaufend eine Theorie des Vergessens. Eine ars oblivionis kann es nur geben, wenn sie sich als Kehrseite der Erinnerung geriert. Das im Literaturexkurs (Kanon) erstmals erscheinende, vom Erzähler angewendete Paradoxon, etwas erinnernd zu benennen, um es zu vergessen, wird hier von der Literatur auf die Musik übertragen, von Figuren angewendet und umgekehrt akzentuiert: etwas vergessen durch bewußtes Erinnern. Genau so wird sich Tristan in Arundele verhalten. Thomas' Statuensaal, materieller Aufbewahrungsort fur steingewordene Bilder der Erinnerung eines einzelnen Liebenden,78 wird bei Gottfried vorgezogen und transformiert zur Grotte, dem metaphorischen Speicher des Stein und Schrift gewordenen Gedächtnisses. Und wo bei Thomas die lebendige Isolde petrifiziert wird, wird bei Gottfried die Felsenhöhle mit Leben gefüllt, sozusagen gisötet. An Thomas entsprechender Stelle erscheint bei Gottfried dann kein Statuensaal, sondern Musik (Tristans Leich). In meiner mnemonischen Interpretation von Natur und Kunst (Architektur, Literatur und Musik, mithin der drei medialen Erscheinungsformen des Erinnerns resp. Vergessens) fehlt noch die Liebe. Zu deren Positionierung verhilft das zwischen historischer und allegorischer Ebene angesiedelte Nahrungswun77 „Auch was ich nicht in der Erinnerung behalten will, das behalte ich: was ich jedoch vergessen will, das kann ich nicht vergessen", vgl. dazu WEINRICH [Anm. 27], S. 25. Vgl. dazu V. MERTENS, Bildersaal - Minnegrotte - Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im Tristanroman, in: PBB 117 (1995) 40-64; U. RUBERG, 'Lancelot malt sein Gefängnis aus'. Bildkunstwerke als kollektive und individuelle Memorialzeichen in den Aeneas-, Lancelot- und Tristan-Romanen, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, hg. von D. PEIL u.a., Tübingen 1998, S. 181-194.

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der und dessen motivliche Vorwegnähme in der Petitcriu-Episode. Tristan und Isolde brauchen bekanntlich in der fossiure a la gent amant keinerlei materielle Speisung außer der Ernte ihrer Augen: si sähen beide ein ander an, de} generten si sich van. der wuocher, den daz ouge bar, daz was ir zweier lipnar. si enäzen niht dar inne wan muot unde minne. (Vv. 16815-16820)

Von dem wundersamen Hündchen wird berichtet: ouch enaz ez noch entranc niht (V. 15889). Wenn Petitcriu artifizielles Werk, allegorisiertes Kunstwerk ist (nämlich Text/Literatur) und deshalb verständlicherweise keine leibliche Nahrung braucht, dann sind auch die Liebenden, die materieller Nahrung nicht bedürfen, lesbar als Kunstwerk. Sie sind die Verkörperung der Liebe und, da Protagonisten eines literarischen Werks, die Verkörperung des (Liebes-)Romans. Liebe ist Literatur.79 So wenig die Grotte als idealer Liebesraum allen Liebenden offen steht, so wenig steht sie als Allegorie der heiligen Schrift und deren vierfachem Sinn den Laien offen. Insofern Tristan und Isolde die Grotte finden und die Tür erschließen können, also die Schrift zu lesen und ihren Sinn zu entziffern vermögen, sind sie edele herzen und Exegeten in einem. Liebe ist nicht sinnlich-triebhafte Natur, sondern wie die exegetische Deutung eine artifizielle Fertigkeit. Liebe ist Kunst. Das gemeinsame (liebende) Gedächtnis, das Tristan und Isolde nach Genuß des Minnetranks encodierten und in der PetiticriuEpisode beide retenierten, wird in der Minnegrotte durch die wechselseitig erzählten Geschichten Teil des literarischen Gedächtnisses. Liebe ist Gedächtnis. In einer faszinierenden Metamorphose treffen sich hier - wie im Prolog - religiöses, literarisches, liebendes, einzelnes und kollektives Gedächtnis. Die eucharistisch konnotierte Memoria schiebt sich behutsam in den Vordergrund und bereitet Isoldes Abschiedsrede vor. Es treffen sich in der Minnegrotten-Partie zugleich ars poetica, ars amatoria (Ovid!) und ars memorativa.

Ich bedenke einen möglichen Einwand, der sich auf der Ebene metaphorischen Sprechens komisch anhören mag, mir gleichwohl keineswegs lächerlich erscheint: Wenn Petitcriu Allegorie der Literatur ist und die Liebenden in der Minnegrotte Literatur lesen/zu sich nehmen, müßten sie eigentlich den Hund essen, vertilgen. Petitcriu kann und darf in der Minnegrotte nicht dabei sein. Tatsächlich ist er aus der Grotten-Partie verbannt und für den gesamten Rest aus dem Roman getilgt. Als Hund wird er ersetzt durch Huidan, als Allegorie auf Literatur und Exegese, ohne daß ich dies hier näher ausführen kann, durch den weißen Hirsch (vgl. auch WOLF [Anm. 31], S. 205 und S. 329, Anm. 106).

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Das Nahrungswunder wird vom Erzähler autobiographisch bestätigt (Vv. 16909-16922). Das ist mehr als nur der Versuch des Autors, durch Berufung auf eigene Erfahrung „aller Unwahrscheinlichkeitserwägung die Spitze abzubrechen]." 80 Es ist (angesiedelt zwischen Handlung und Allegorie) das dispositorische Pendant zum autobiographischen Unfahigkeits-Topos im Literaturexkurs, jetzt mit gegenläufigem Impetus (Fähigkeit in Form von Kenntnis). Vor allem markiert es die dritte Rollenzuweisung. Im Prolog inszeniert sich der Autor als Dichter, im Literaturexkurs inszeniert sich der Dichter als (epischer) Erzähler, in der Minnegrotte inszeniert sich der Romanerzähler als Liebender. Die Fortführung des autobiographischen Exkurses (Vv. 17100-17138) entbirgt dann das memoriale Potential des in der Liebe erfahrenen, mit dem Gegenstand seines Werks vertrauten und daher zur Identifikation (Empathie) mit seinen Figuren fähigen Autor-Erzählers. Denn der Exkurs ist auf 'Spur' focussiert. Der Erzähler folgte (der Spur von) Vogel und Hirsch und fand die Grotte. Er ging hinein und zertanzte den Estrich, hinterließ Spuren. Die sind verschwunden. Der Estrich ist kein Naturboden, hat aber die gleiche naturwüchsige Fähigkeit, sich von selber zu regenerieren, mittels der ihn bedeckenden Farbe. Andernfalls spurte [man] wol dar inne/ diu wären spor der minne (Vv. 17123f.). So aber sind die Spuren des Liebenden nicht mehr sichtbar, nur noch als glaubhaft versicherte Behauptung hörbar. Was einst Realität und sinnlich wahrnehmbarer Ein-Druck war, läßt sich nicht mehr materiell rekonstruieren, nur noch mit Hilfe der Erinnerung erzählen - eine Auffassung, die sich ohne weiteres als Problematisierung von Memoria und Anamnesis und als Definition von Narrativität anbietet. Die Spuren, die der Liebende ehedem in der Grotte zog, sind mit einiger Plausibilität den sich verwischenden oder gar absichtlich verwischten Spuren vergleichbar, die der Autor in seinem Werk hinterläßt, in das er sich sowohl auf Sprach- wie Handlungs- wie Kommentar-Ebene einschreibt mit den mnemonischen Mitteln der Rhetorik. Doch hat umgekehrt die Grotte auch ihn gezeichnet, hat nämlich der Blick auf den Schlußstein seine Augen abgenutzt (verslizzen, V. 17130). Das Verhältnis zwischen Liebendem und Grotte, Exeget und Schrift, Autor und Werk, Mensch und Gedächtnis ist ein reziprokes, interaktives, dynamisches.81 Sein sprachliches Ausdrucksmittel findet es im Chias8 0 BERTAU [ A n m . 5 3 ] , S . 9 2 1 .

81 Das Verhältnis zwischen den Spuren des Erzählers (Autors), der Fährte des Hirsches (Text, Roman) und den Fußspuren Tristans und Isoldes (Protagonisten) ist ein artifiziell vemetztes, symbiotisches, sich miteinander identifizierendes (vgl. WOLF [Anm. 31], S. 225, die Spur des Hirsches und die Spuren des Paares werden eins). Eine RUckbindung der mnemonisch verstandenen 'Spur' an die Weg-Metapher des Prologs (Vv. 37-40) ergäbe dann auch dort eine sinnstiftende Beziehung zwischen der zunächst als ExordialTopos gebrauchten Memoria und ihrem Weg, ihrer Spur, ihrer Ein- und Überschreibbarkeit in Literatur. Die begründete Argumentation brauchte dazu aber zum einen die Ana-

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mus, der auch in der Minnegrotte (am Ende des Gesellschaftswunders) nicht fehlt: da was doch man bi wibe,/ so was ouch wip bi manne (Vv. 16904f.). Da ein Chiasmus im 'Tristan' stets verwendet wird, wenn Memoria im Spiel ist, hat er unter der rhetorisch-artifiziellen Schicht einen mnemonischen Subtext: Literatur als Memoria - Memoria als Literatur. Der umgreifendste Chiasmus findet sich freilich in Isoldes Abschiedsrede (Vv. 18286-18358), die um gedenken kreist.82 Er entwickelt sich in drei Schritten in einem artistischen Wechsel von egologisch und in dritter Person formulierten Aussagen, die jeweils in ein Wir zusammengeführt werden, und er entwickelt sich in engster Umarmung mit der Memoria-Thematik: (1) Die einleitende Einheit ihrer Herzen und Gesinnungen [unser herze und unser sin,/ diu sint (...) an ein ander vervlizzen] wird künstlich aufgespalten in ein ich und ein ir, leichtes Befremden wird erzeugt durch die Rede über den Geliebten in dritter Person (Tristan), damit aber bereits der erste Teil des Chiasmus dargebracht: Tristan, min lip und min leben. Sie mündet in ein Wir (ensin iemer beide/ der liebe unde der triuwe/ staete unde niuwe). Dann erfolgt die Übergabe des Ringes, des ersten Memorialzeichens (urkünde) für die Gemeinsamkeit. (2) Das so bezeugte Wir wird abermals aufgespalten in ein ir und ich, zusammengeführt im Schmerz über die Trennung (wie nähen ez uns beiden/ ze herzen und ze libe lit), erneut gespalten in ich und iuch\ die Verfremdung nimmt zu, da Isolde jetzt von sich als Isolde spricht, aber dabei den zweiten Teil des Chiasmus bietet: Isolde, iuwer vriundin. Dann folgt ein doppeltes Wir: wir zwei wir haben liep unde leit/ mit solher gesellschaft/ her unz an diese stunde bräht;/ wir suln die selben andäht,/ billiche leiten uf den tot. Wieder steht am Ende dieses Passus ein Memorial (andäht). Eingewoben zwischen das im ersten Anlauf erreichte Wir und das jetzt wieder erreichte doppelte Wir ist die dreimalige Aufforderung an Tristan: gedenket. (3) Ein letztes Mal wird das nun bereits fest in der Memoria verankerte Wir gespalten in ich und iuch, in Isöt und Tristan, dann verbunden in ein herze unde ein triuwe. Jetzt ist die Basis bereitet für den Chiasmus:

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logie von Jagd und Exegese, zum andern müßte die öasf-Episode interpretierend berücksichtigt werden. Vgl. zu letzterer B. KRAUSE, Das Eine und die Teile. Der Bast in Gottfrieds 'Tristan'. Variae lectiones, in: Literaturgeschichte als Profession. Fs. für Dietrich Jöns, hg. von H. LAUFHÜTTE, Tübingen 1993, S. 18-40. KRAUSE nähert sich der poetologischen Deutung des zerlegten Hirsches, vollzieht sie aber nicht. Aus Platzgründen nur andeuten kann ich, daß - wie die Rual/Morgan-Handlung um den Literaturexkurs gruppiert ist - die Minnegrotte und Isoldes Abschiedsrede den huoteExkurs umschließen, der dringend unter dem Aspekt der Memoria gelesen werden sollte. (Stichwörter müssen hier genügen: Zusammenhang zwischen Paradies, Erkenntnis und Gedächtnis, Trugbild des schönen Scheins als Folge des Sündenfalls, allegorisiert in Petitcriu).

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doch will ich einer bete gern: swelch enden landes ir gevart, daz ir iuch, minen lip, bewart, wan swenn ich des verweiset bin, sö bin ich, iuwer Up, da hin. (Vv. 18334-18338)

Das endlich erzielte Wir (ein Up, ein leben daz sin wir) verdankt sich nicht wie die vorigen einer Unio, sondern einem Tausch. Es wird wieder memorial eingefordert (bedenket) und wieder durch ein Memorialzeichen, den Kuß, bezeugt. Dabei benutzt der Erzähler die bekannteste Einpräg-Metapher der Antike und des christlichen Mittelalters, die Metapher für das Gedächtnis-Engramm schlechthin: insigel. Wie im vorhergehenden Teil von Isoldes Rede hat auch diese Memoria eine Reichweite bis an den Tod. Rhetorisch und kompositorisch korrespondiert dieser Chiasmus mit dem des Prologs (Vv. 129f.). Doch wo jener eingerahmt und umarmt war von den Initialen T-I-I-T, wird dieser umarmt und durchflochten von dezidiert memorialen Zeugnissen und Forderungen. Mit Ring, Wort {gedenket) und Kuß wendet Isolde sämtliche mnemotechnischen Mittel an, optische, auditive, taktile. An die Oberfläche des Textes gebracht wird nunmehr jedoch nicht nur die Memoria, sondern auch das identifikatorische Potential der Memoria. Bis zu Isoldes Abschiedsrede hat im Roman eine Person mit Gedächtnis sich entweder m i t jemandem identifiziert (im Prolog der Autor sich mit seinem Werk, mit seinem Publikum, das Publikum sich der Intention nach mit dem Werk; in der Grotte der Erzähler sich mit den Liebenden) oder sich selbst a 1 s jemanden identifiziert (Rollenzuweisung: der Autor sich als Erzähler) oder hat eine andere Person a 1 s jemanden identifiziert (Rual Tristan als Blanscheflurs Sohn). In Isoldes Rede identifiziert sich eine Person unter ausdrücklicher Berufung auf das Gedächtnis sowohl mit jemandem wie auch als jemand. Isolde gewinnt ihre Identität, derer sie sich in hohem Maße bewußt ist, durch Identifizierung. In moderner Sicht konstruiert sich Identität durch Abgleich der Erinnerungen an das vergangene Ich mit der Wahrnehmung des gegenwärtigen Ichs. Identität hat nur, wer ein Gedächtnis hat. Ein solcher Akt der Subjektwerdung scheint mir hier vor sich zu gehen, zumal sich Isoldes Rede um das Verhältnis von Einst und Jetzt dreht. Indem sie Tristan einerseits die Vergangenheit ins Gedächtnis ruft, zugleich aber die Gegenwart als künftige Erinnerung in Tristans Gedächtnis einprägt, konstituiert sie seine Identität und gibt ihm das Mittel an die Hand, auch künftig Identität zu konstituieren. Es ist ein Heilmittel gegen künftige Versuchung, Isoldes Rede zielt also prophylaktisch auf die Korrektur von fehler-

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haftem Handeln (WENZEL).83 Ihr und sein Subjektstatus hängen damit von der Erinnerung ab. Von Tristans Erinnerung. Wenn er mit seiner Erinnerung nicht richtig wird umgehen können, wird er und wird sie Identität und Subjektstatus verlieren. Isoldes so eindrücklich memorable, Erinnerung ausdrücklich bewußt machende Rede zum befürchteten Ende, wenn nicht der Liebe, dann der leiblichen Gemeinsamkeit, entspricht ihrer encodierenden Rede zum Liebesbeginn. Sie entspricht auch der Theorie des Vergessens, wie sie in der Minnegrotte anhand der Musik vom Erzähler entworfen worden ist: Um etwas durch Überschreibung vergessen zu können, muß man sich das zu vergessende Engramm bewußt machen. Beide Entsprechungen fuhren nach Arundele, wo Tristan in eigene Identitätskonfusion fallen, den Subjekt-Objekt-Status von 'Isolde' und 'Isolde' verwechseln und mehrere Heilmittel - u.a. sich zu erinnern, um zu vergessen - anwenden wird. Während Gottfried in der Minnegrotten-Episode als Intertext Ovids 'Ars amatoria' nutzt, orientiert er sich in der Weißhand-Episode an Ovids 'Remedia amoris' als Intertext. A m Fragment-Schluß, insbesondere an der Figur der Weißhändigen und an der Funktion von Tristans Liedern im Rahmen von Erinnern und Vergessen arbeitet die Gottfried-Forschung zur Zeit intensiv. 84 Vor allem RIDDER unterstellt, deutlicher als DRAESNER, Tristans Lieder der Memoria. RlDDERs Ausführungen

sind zu modifizieren: Mit seinen Liedern will Tristan seine Erinnerung an die Blonde „auslöschen" 85 . Ich meine, er will vergessen durch Überschreiben. An dieser Stelle erweist sich wohl am besten die tropologische Dimension der Abschiedsrede. Isolde unterweist Tristan in Andacht und Gedenken, spricht rituellrhetorisch und verbalisiert die Inkorporation, wie sie bereits bei der Eingliederung von Tristans Gedächtnis in ihr Gedächtnis zu Beginn der Liebe dezent aufschien. Versteht man die Eucharistie als Sich-Entäußern im anderen, den man symbolisch-symbolisierend in sich aufnimmt, vollzieht Isolde mit Tristan eine chiastische Kommunion. Vgl. dazu auch HUBER [Anm. 1], S. 100, unter Verweis auf Bernhard von Clairvaux. Noch nicht einmal BERTAUS [Anm. 53] vernichtende Paraphrase dieser Rede („theatralisch" insistiere Isolde auf ihrer „Rolle", „gespreizt" sei ihr Appell an Tristans Treue, „merkwürdig und irritierend" der „lehrhafte Ton" [sic!], S. 927) verkennt den eucharistisch konnotierten Gehalt der andäht, die er als „ewige Kommunikation der getrennten Liebenden im Eingedenken" (S. 929) versteht. „Dieses Reden und diese Liebe sind Ritual nicht fur eine Gesellschaft, sondern nur für eine Gemeinde." (S. 928f.) Zum korpusorientierten Abendmahl vgl. auch S. FRITSCH, Körper - Korpus - Korporale. Zur Eucharistie bei Frauenlob, in: ZfdPh 119 (2000) 222-236 (Sonderheft: Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung). 84 Vgl. U. DRAESNER, Zeichen - Körper - Gesang. Das Lied in der Isolde-WeißhandEpisode des 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, in: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. von M. SCHILLING/P. STROHSCHNEIDER, Heidelberg 1996, S. 77-101; K. RIDDER, Ästhetisierte Erinnerung erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde, in: LiLi 27 (1997) H. 105: Memoria in der Literatur, S. 62-85; D. ROCHER, Monumenta amoris zwischen Unterhaltung und Kult. Die Funktion von Leichs und senemaeren in Gottfrieds 'Tristan', in: PEIL [Anm. 70], S. 169-180. 85 V g l . RIDDER [ A n m . 8 4 ] , S . 6 8 .

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„Liebe ausschließlich als Erinnerung" sei „narzißtische Form der permanenten Selbstbegegnung" (ebd.)· Ich meine, sie ist ein von der blonden Isolde bereit gestelltes Mittel fortgesetzter Identitätsfindung, dem durch den lip-lebenChiasmus der Intention nach jeglicher narzißtischer Ruch genommen ist. Wenn man die in der Minnegrotte subtextuell entworfene Theorie des Vergessens, die eine paradoxe ist, anwendet und dabei die chiastische Identität berücksichtigt, sieht man, wie Tristans Scheitern in Arundele von langer Hand vorbereitet wurde. Er erinnert sich bewußt, nicht spontan, an die Blonde und will sie mit voller Absicht vergessen. Er greift auf seine Erfahrung zurück und bedient sich der Musik, des bewährten Mediums des Vergessens (unauffällig angedeutet in der Gandin-Episode,86 symbolisch verdichtet in Petitcrius Schelle, ausgedrückt in der Minnegrotte). Weil Tristan aber die Identität der Blonden übernommen hat, er Isolde i s t, wirft ihn alle Reflexivität und Selbstreflexivität immer wieder nicht auf sich selbst, sondern auf die Blonde zurück. Je mehr er sich erinnert, um vergessen zu können, desto zwangsläufiger erinnert er sich. Deshalb holt ihn, je mehr er die Weißhändige zu lieben droht, immer wieder die Liebe zur Blonden ein. Die Liebe zur blonden Isolde regeneriert sich scheinbar wie von selbst, wie der Estrich der Minnegrotte! RIDDER ist der Auffassung, Tristans „als Realitätsbewältigung gedachtes Kunst-Konzept versagt"87. Ich meine, sein Gedächtnis als Liebender und Individuum, wie es sich hier auch in seiner Autorenschaft formiert, versagt, und es muß versagen. Weniger aus „der Ambivalenz von Erinnern und Vergessen [...] erwächst in der Isolde-Weißhand-Episode durch Tristans Minnelieder [...] ein Dilemma, das nicht auflösbar ist und schließlich in den Tod fuhrt", sondern aus der Paradoxie zwischen Erinnern und Vergessen. „Memoria [...] erhält als Movens der Handlung zentrale Bedeutung", freilich nicht erst jetzt (das wäre reichlich spät) und nicht in Form des „falsch oder gar nicht verstandene[n] Inhaltfs] des inszenierten Gedenkens"88, sondern im Gegenteil gerade in Form 'richtigen' Gedenkens. Zweifellos hat das Konsequenzen, die auf den Prolog zurückweisen. Zu Recht sieht RIDDER Tristans Leich in seiner Gedächtnisfunktion in Zusammenhang mit den dort angesprochenen senemaeren. Die Eingangsverse des Prologs, also der Memoria-Topos, „postulieren die Perspektive der subjektiven Erinnerung von Erfahrung als allgemeine Voraussetzung der Entstehung auch von Dichtung [...] und als Spezifikum der Produktion und Rezeption von LiebesROCHER [Anm. 84] gibt zu beachten, daß Tristans Leich dort tröstend im Sinne von erinnernd wirkt: Isolde läßt ihr Weinen und denkt an ir amis Tristan (vgl. S. 174). Natürlich impliziert der Trost aber zugleich auch Vergessen (der gegenwärtigen Situation und des ihr leibhaftig präsenten Mannes Gandin). 87 RJDDER [ A n m . 84], S. 69.

88 Ebd., S. 70.

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dichtung"89. Die Binnen-Rezeption von Liebesdichtung erfolgt im bemaeren während des Wunschlebens, die Binnen-Produktion in Tristans Leich. Die subjektive Erinnerung des Publikums wird in die Texterzählung getragen durch Tristan und Isolde, die einander in der Minnegrotte Publikum sind, die subjektive Erinnerung des Autor-Dichters wird in eben diese Handlungspartie eingeschoben im autobiographischen Exkurs und den dort zentralen (Erinnerungs-)Spuren. Gottfrieds 'Tristan' wird dadurch zu einem - stets mit den Mitteln der Rhetorik und Mnemotechnik - memorial durchwirkten umbehanc. Der Roman selbst wird, wie ROCHER treffend formuliert, mittels vieler kleiner schattenhafter (sie!) monumenta (vgl. S. 170), den Liedern und Geschichten, zum großen monumentum amoris (S. 169) - einem Gesamtkunstwerk, das sich integumental zur Sprache bringt und sich selbst bespiegelt im allegorisierten Denkmal für die Liebe, der Gedächtnis-Grotte.

III. Memorialisierung als literarisches Modell Gottfried rekurriert im 'Tristan' auf eine geläufige Theorie des Gedächtnisses und auf die zweifache Semantik von 'Memoria', einerseits als vis, andererseits als ars, die er freilich nicht explizit reflektiert, z.B. in einem Exkurs, sondern die er 'stillschweigend' sowohl ins „Kommentargewebe" wie ins „Handlungsgefüge" 90 einmontiert. Dadurch partizipieren der Autor-Erzähler in der poetischen Rede und die Binnen-Erzähler in der figurativen Rede an der Gedächtnis-Thematik. 'Gedächtnis' ist im Romantext nicht realpräsent, sondern was keine Tautologie ist, sondern adäquates Procedere - memorialpräsent. Man muß den 'Tristan' quasi aufschneiden, wobei man den Querschnitt nahezu beliebig an jeder Stelle setzen kann, und hat dann Memoria in mehreren Schichtungen vor sich, in einer einzigen Textpartie repräsentiert z.B. als genealogisches, literarhistoriographisches und kollektives oder als historisches, literarisches, liturgisch-eucharistisches und liebendes Gedächtnis. Memoria erscheint aber auch im Längsschnitt: im Subtext, sozusagen in den Katakomben des Romans, irti Text (z.B. in Isoldes Abschiedsrede) sowie im Hypertext, wo sie gleichsam oberirdisch sichtbar wird. Was ist damit gemeint? Im Subtext vergräbt, verschattet und verhüllt Gottfried die (sich vermutlich Piaton verdankenden) Memoria-Bezüge, bevorzugt im Motiv der Höhle (Grotte), des Schattens (der Lauscher im Ölbaum, der Linde im locus amoenus), des 89 Ebd. 90 BERTAU [Anm. 53], S. 936.

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Kleides (Tristans Rüstung, Brangaenes Hemd, Petitcrius Fell). Episodisch werden diese verdeckenden Motive mindestens einmal zusammengeführt und 'entblößt': Der Abschied der Liebenden vollzieht sich im offenen Baumgarten, vor dem Bett, am taghellen Mittag, zur Zeit der kürzesten Schatten, Isolde ist nackt, ihre Rede ebenso unverhüllt ein Memorandum. Den Deck-Motiven entspricht der integumentale Vorgang der Metaphorisierung und Allegorisierung, der in der Minnegrotte seinen Höhepunkt erreicht - gerade auch unter dem Aspekt der Memoria. Gottfried beschreibt die Grotte (literal), erklärt sie (allegorisch), wobei er sie ihres verrätselten Status entkleidet und die Allegorisierung rückgängig macht, deutet sie tropologisch (legt diskret verhüllt eine Spur) und eröffnet ihren anagogischen Horizont. In allen vier exegetischen Schritten ist Memoria konnotiert. Die heidnische Dedikationsstätte wird zum christlichen Sakralraum, wird zum Gedenkraum für Andacht und Kommemoratio. Im Text erscheint 'Gedächtnis' bevorzugt in den Reden der Figuren, und es erscheint als ihnen sehr bewußte Erinnerung. Von Tristan und Isolde wird Erinnerung maßgeblich eingesetzt, um eine Minnegemeinschaft zu konstituieren, zu etablieren und zu garantieren, die sich durch Leid definiert und die exklusiv ist. Exklusiv aber wird diese Liebesgemeinschaft gerade dadurch, daß sie sich als Memorialgemeinschaft zeigt. Tristan und Isolde beziehen ihre personale Identität aus dem und versichern sich ihrer Liebe jeweils durch den erinnernden Rückgriff auf intime Zweier-Situationen (Bad, zweite Baumgartenszene), die unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfanden und an denen Dritte nicht teilhatten. Sie erinnern sich nicht an Listen, Heimlichkeiten oder an Wissen, das zwar nur ihnen allein als Wahrheit bekannt ist, andere dagegen täuscht, das von Dritten jedoch immerhin scheinbar geteilt wird (beispielsweise nicht an die erste Baumgartenszene oder an das Gottesgericht). Auch die Täuschungsszenen laufen nach diesem Muster ab. Das Liebespaar - Isolde vor allem - ruft in diesen bedrohlichen Situationen rhetorisch ad hoc gemeinsame, intime Erinnerungen ab (ζ. B. an die Defloration). Unter dem Zwang höchster Persuasion instrumentalisieren und manipulieren diese Reden das Gedächtnis anderer, machen perspicuitas und obscuritas zu einer Frage der Perspektive und subjektiven persönlichen Erinnerung. Der Memoria-Bezug spiegelt sich in diesen Episoden motivisch wider, z.B. in den in Holzspäne geschnitzten Initialen Tristans und Isoldes - einem Reflex auf das Medium der Schrift. Wann immer Isolde an Tristan appelliert, sich zu erinnern, ist Gefahr im Verzug; und wann immer die Ekphorie gelingt, rettet das die Liebe - zumindest solange die Bedrohung extern, durch Marke oder den Hof, erfolgt.

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Während sich der Subtext der Mittel des Integumentums bedient, konstituiert sich mit den Mitteln der Rhetorik und Mnemotechnik ein Hypertext. In Gottfrieds Vokabular: Der Text wird übermalt mit den colores rhetorici (durchverwet und durchzieret), er erhält (wie der Estrich der Minnegrotte) einen Farbauftrag (grünen Anstrich). Als sinnfällige Stilfigur erscheint der Chiasmus, der die dual-ambivalente Stellung der Memoria und ihre symbiotische Beziehung zu Thema, Werk (Roman), Kritik und Kunst (Dichtung) zum Ausdruck bringt. Chiastisch i.w.S. ist auch die mitlaufende Theorie des willentlichen Vergessens, das bewußtes Erinnern zur Voraussetzung hat. Das Akrostichon des Prologs eine Art visueller Metatext - enthält diesen Chiasmus bereits (T-I-I-T), der sich in Folge immer wieder als mnemonisch semantisierter zeigt; es birgt aber auch schon die memorial interpretierbare Inkludierung und Inkorporierung. Denn so wie 'Gedächtnis' in den Roman eingelagert wird, so schachteln die Initialen „G" und der Initialen-Chiasmus T-I-I-T den (vermuteten) Auftraggeber ein: DIETERICH. Damit verdichtet sich auf engstmöglichem Raum ein mehrfacher Erinnerungsauftrag. Das horizontal zu lesende Gedaehte (wieder aufgenommen und verdreifacht in Isoldes gedenket) expliziert die Forderung ebenso wie es den Adressaten impliziert: Tut dies (hört und lest und erinnert euch in emphatischem Nachvollzug) zu meinem, des Autors Gedächtnis. Tut dies auch zu des Gönners Gedächtnis. Sowohl der ominöse Dieterich wie vor allem der Autor „G" erhalten dadurch den Rang von Stiftern (dieses Romans, des Romans, der neuen volkssprachlichen Dichtung). Wir wissen aus der bildenden Kunst des späten Mittelalters, insbesondere der Malerei, wie eng Stifterbild, Name und Memoria zusammenhängen. Der Maler bringt sich durch diskret verhüllte Selbstdarstellung ins Bild ein, das der Memoria eines anderen dient. Dabei verschränken sich Religion und profane Motive (Ruhm) im Appell an die Memoria der Betrachter: „Es ist also das Individuum, das sich hier, im Kontext nicht nur von Fama, sondern auch von Memoria, ausspricht. Dies bedeutet aber, daß Memoria und Individualität in einem unlösbaren und wechselseitigen Begründungszusammenhang stehen."91 Gottfrieds Prolog-Forderung nach ere und lop, sein Selbstbewußtsein im Literaturexkurs, die Selbstbewußtwerdung der Liebenden als sich willentlich und bewußt Erinnernde werden so, vor dem Hintergrund der Memoria gesehen, zu einem literarischen Vorläufer-Modell des Stifterbildes und des malerischen

O. G. OEXLE, Memoria als Kultur, in: Memoria als Kultur, hg. von O.G. O., Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), S. 9-78, hier S. 49.

195

Waltraud Fritsch-Rößler

Modells des 14./15. Jahrhunderts.92 Und zu einer mittelalterlichen Realisation der Horazschen, ursprünglich dem 'Erfinder' der Mnemotechnik Simonides von Keos zugeschriebenen, Forderung ut pictura poesis. Memoria, die 'Adel' konstituiert, erscheint im 'Tristan' als Bedingung der edelen herzen und als genealogisches Gedächtnis; auch Memoria als soziales Handeln, ein wesentliches Moment der Memorialbilder in der Kunst, fehlt im 'Tristan' nicht - es scheint auf als Defizit der dyadischen, sich selbst spiegelnden und genügenden Memoria in der Minnegrotte. Sogar noch der Zusammenhang von Stiftung und 'Gedächtnisorten' (Innenraum, Garten, Landschaft)93 läßt sich im 'Tristan' festmachen, wiederum enggefuhrt in der Minnegrotte mit ihrer Topographie mnemonischer Raum-Metaphern. So macht Gottfried genau das, was L A C H M A N N mnemonisch strukturierter Literatur zuspricht. Er benutzt ursprünglich zu mnemotechnischen Zwecken gebrauchte Bilder, schreibt sie um durch Kommentierung, interpretiert sie in neuer semantischer Kodierung - mit den 'alten' Mitteln des Integumentums und vor allem der Allegorie. Doch hat diese ästhetische Figuration des Gedächtnisses zugleich einen ethischen Gehalt. Innenraum bei Gottfried heißt eben nicht nur Grotteninneres, sondern heißt herze. Angesiedelt, so wage ich zu behaupten, ist Gedächtnis nicht in Kopf oder Seele, sondern im Herzen. Das Herz ist nicht nur Zentrum der Empfindungen, sondern Sitz des Gedächtnisses.94 Beides, Empfindung und Gedächtnis, kreuzen sich im Liebesgedächtnis, was die seit der Antike der Memoria und der Mnemonik zugeschriebene Qualität, affektgesteuert zu sein, gebührend, ja adäquat berücksichtigt.95 Die libidinöse Ausrichtung der Memoria (Erinnern als Begehren), wie vor allem Aristoteles sie konzipiert, und ihre mögliche Anwendung in der Isolde· Weißhand-Episode, muß einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Durch die im Text immer wieder sich ergebende Gegenläufigkeit von einzelnem und kollektivem Gedächtnis, durch den Erweis der Erinnerung als subjektiv und veränderbar, manipulierbar, sowie durch die Akzentuierung von Er92 Auch ohne anagogische Deutung im Hinblick auf die kommemorierende Gemeinschaft zum Zwecke des Seelenheils fuhrt der Weg zum Stiftungskloster, den Heinrich von Freiberg in seiner Fortsetzung von Gottfrieds 'Tristan' kongenial zu Ende gegangen ist. Vgl. dazu W. FRITSCH-ROBLER, Finis Amoris. Ende, Gefährdung und Wandel von Liebe im hochmittelalterlichen deutschen Roman (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 42), Tübingen 1999, S. 384-403: „Langzeitgedächtnis und Memorialarchitektur". 9 3 V g l . OEXLE [ A n m . 9 1 ] , S . 4 7

94 Vgl. Heinrich von Freiberg, der in Vv. 2441-2443 einen Chiasmus verwendet (ir herzen sehen hin und her/gienc spilnd under in entwer/ von im gein ir und von ir gein im) und in V. 5018 eine Gedächtnis-Metapher: Marke birgt Isolde in sins herzen arken. 95 Zur affektiven Wirkung von (Memorial-)Bildern vgl. F. BÜTTNER, Vergegenwärtigung und Affekte in der Bildauffassung des späten 13. Jahrhunderts, in: PEIL [Anm. 70], S. 195-213.

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Multiple Memorialisierung

innerung als bewußtem, nicht spontanem Erinnern zeigt Gottfried die Dynamik des Gedächtnisses. Memoria ist nicht statisch, Erinnerung lähmt nicht, und die erinnerte Vergangenheit determiniert nicht bis in alle Zukunft. Das Gegenteil scheint der Fall. Erinnerung schafft Freiraum zur Reflexion, Selbstbestimmung und Wahl. Gedächtnis im Dienste der Bewußtwerdung fuhrt zu Emanzipation, auch und gerade der Kunst. Auch hier antizipiert Gottfried literarisch, was sich in der Malerei des 14. Jahrhunderts vollziehen wird: die Autonomie der Kunst von der Natur.96 Die Krone der Schöpfung, der Schlußstein, ist das vom mit Gedächtnis begabten Menschen geschaffene were.

96 Μ. MODERSOHN hat in einem Vortrag über „Natura als Göttin - eine Personifikation zwischen Mythos und Aufklärung" (März 2001 in Marburg) ausgeführt, wie die Personifikation in den Miniaturen der Handschriften zum Rosenroman aus dem späten 14. Jahrhundert allmählich einer enzyklopädisch-naturalistischen Beschreibung weicht. MODERSOHN versteht die Personifikation als Initialfigur eines Prozesses, an dessen Ende die Emanzipation der Philosophie von der Theologie steht, Natura vor der Kunst kniet.

197

Die Selbstvergessenheit des Kriegers Rennewart in Wolframs 'Willehalm'* v o n M A R T I N PRZYBILSKI

„Zu allem Handeln gehört Vergessen."1

Rennewart ist die bestimmende Figur in der zweiten Schlacht zwischen christlichen Verteidigern und muslimischen Invasoren auf dem Feld Alischanz, die im letzten Teil des 'Willehalm'2 Wolframs von Eschenbach in aller Ausführlichkeit beschrieben wird.3 Er ist ein Sohn des orientalischen Großkönigs Terramer und einer namenlosen Mutter, und somit ein Bruder Giburcs, deren Religionswechsel und Ehe mit dem Markgrafen Willehalm Auslöser für den muslimischen Rachefeldzug ist, von dem der 'Willehalm' handelt. Von Geburt ein muslimischer Prinz, ist er durch Entführung ins Reich der Christen und schließlich an den französischen Königshof gelangt, wo er aufgrund seiner Weigerung, sich taufen zu lassen, niedrigste Küchenarbeiten erledigen muß. Dort hat er sich in Alise verliebt, die Tochter des Königspaars und Willehalms niftel, die aufgrund seiner eigenen königlichen Abstammung durchaus die passende Braut wäre, aber, trotz der heimlichen Erwiderung seiner Liebe, für ihn mindestens solange unerreichbar bleibt, wie er seine Taufweigerung aufrecht erhält. Von Willehalm in Munleün entdeckt und als Knappe angenommen, wird Rennewart zur kampfentscheidenden Hauptstütze

* Für Prof. Dr. Hans-Hugo Steinhoff, Paderborn, aus Anlaß der nahenden Emeritierung. 1 F. NIETZSCHE, Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fur 2 3

das Leben, hg. von G. COLLI / M. MONTINARI, München 1988, (KSA 1), S. 250.

Im folgenden zitiert nach Wolfram von Eschenbach, Willehalm, mhd. Text, Übers, und Kom., hg. von J. HEINZLE, Frankfort a.M. 1991, (BdM 9). Vgl. zu Wolframs Rennewart-Figur grundsätzlich J. GREENFIELD / L. MIKLAUTSCH, Der 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung, Berlin 1998, (de Gruyter Studienbuch), S. 204-210; S. STEVENS, Family in Wolfram von Eschenbach's 'Willehalm'. miner möge triwe ist mir wol kuont, New York 1997, (Studies on Themes and Motifs in Literature 18), S. 85-103; A. KIELPINSKI, Der Heide Rennewart als Heilswerkzeug Gottes. Die laientheologischen Implikationen im 'Willehalm' des Wolfram von Eschenbach, Berlin 1990; B. WALDMANN, Natur und Kultur im höfischen Roman um 1200. Überlegungen zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters, Erlangen 1983, (Erlanger Studien 38), S. 186-199; V. MOESSNER, Rennewart. Wolfram von Eschenbach's most controversial Character, in: Studies in Medieval Culture 8/9 (1976) 7584; C. LOFMARK, Rennewart in Wolfram's 'Willehalm'. A Study of Wolfram von Eschenbach and his Sources, Cambridge 1972, (Anglica Germanica 2); F.P. KNAPP, Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach, Wien 1970.

Martin Przybilski

des Markgrafen in der Entscheidungsschlacht. Nach dem Kampf ist er jedoch unauffindbar und Willehalm klagt wortreich um seinen Verlust. Erzählmöglichkeiten und -problematik der Rennewart-Figur werden vor allem durch ihr seitenverkehrtes Eintreten für das christliche Heer und ihre verwandtschaftlichen Verbindungen zur Seite der morgenländischen Feinde bestimmt. An der Figur Rennewarts kann Wolfram zeigen, „welche Verbindung der beiden Sippen, welche Lösung des epischen Konflikts denkbar"4 ist und in welchem Maß er eine Brücke zwischen Christen und Muslimen bilden könnte.

I. Wolframs (Um)Gestaltung der Rennewart-Figur Wolfram hat seinen Rennewart nach Rainouart, einer Figur seiner altfranzösischen Vorlage, der chanson de geste 'La Bataille d'Aliscans'5, geformt. Das historische Vorbild der Figur ist nicht eindeutig oder endgültig bestimmbar.6 Vielmehr haben sich in ihr Wandermotive aus unterschiedlichsten sagengeschichtlichen Bereichen vermischt, die Figur trägt sowohl Attribute anderer Figuren des Sagenkreises um Guillaume d'Orange als auch aus Märchenstoffen entlehnte Züge. Neben 'Aliscans' kennen noch drei weitere der insgesamt 24 Branchen des Garin de Monglane-Zyklus die Rainouart-Figur: 'Chanson de Guillaume'7, 'Bataille Loquifer' 8 und 'Moniage Rainouart'9. Da Rainouart im altfranzösischen Zyklus nur zeitweilig verschwindet und schließlich wieder zu Guillaume zurückfindet, konnten die chansons-D'ichier fur die Figur eine weitere Lebensgeschichte einschließlich Heirat mit der französischen Königstochter, Geburt eines Sohnes namens Malefer und letztendlichem Rückzug ins Kloster entwerfen, deren älteste Stufe in der 'Bataille Loquifer' vorhanden ist. Denn trotz seines Auftritts in der vermutlich ältesten, zwischen 1120 und 1130 entstandenen Chanson des Zyklus, der 'Chanson de Guillaume', gehört Rainouart nicht zum ursprünglichen Ensemble der Figuren, da er erst im zweiten, später entstandenen Teil erscheint, der jedoch von einem Teil der Forschung als Relikt einer verlorenen älteren 'Chanson de Rainouart' angese-

4

5

C. KIENING, Wolfram von Eschenbach 'Willehalm', in: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Interpretationen, hg. von H. BRUNNER, Stuttgart 1 9 9 3 , S . 2 1 2 - 2 3 2 , hier S . 2 2 5 . Aliscans, hg. von E. WIENBECK u.a., Halle 1903.

6

V g l . LOFMARK [ A n m . 3 ] , S . 3 4 .

7

Chanson de Guillaume, übers., eingel. und HASSELMANN, München 1983, (Klassische Texte chigen Ausgaben 22). Die Prosafassung der Bataille Loquifer und CASTEDELLO, Halle 1 9 1 2 , S . 5 8 - 9 6 . Le Moniage Rainouart I, hg. von G.A. BERTIN, Francais).

8

9

202

mit Anm. vers, von B. SCHMOLKEdes romanischen Mittelalters in zweisprades Moniage Rainouart, hg. von W. Paris 1973, (Societe des Anciens Textes

Die Selbstvergessenheit des Kriegers

hen wird. 1 0 Im deutschen Sprachraum hat dann Ulrich von Türheim, die ihm zugänglichen chansons wart'

11

de geste

breit ausschreibend, um 1250 in seinem 'Renne-

den 'Willehalm' fortgesetzt und die weitere Lebensgeschichte der Figur

erzählt, 12 wobei im Gegensatz zu seinen altfranzösischen Quellen die „Umgestaltung zur Heiligenlegende [...] gegen Ende zum beherrschenden Konzept" 13 des Epos wird. Wolfram hat die Züge

Rainouarts entsprechend

seiner Konzeption

des

'Aliscans'-Stoffs verändert bzw. anders gewichtet. Entstanden ist vielleicht Wolframs „most controversial character"14. Rennewarts Handlungsanteil wird im Vergleich zur Quelle von Wolfram zurückgedrängt, die Willehalm-Figur wird also auf Kosten Rennewarts im zweiten Teil des Epos stärker betont. Grundlegende Merkmale Rennewarts sind seine äußerliche Schönheit, zugleich Ausdruck seiner königlichen Abstammung, seine übermenschliche Kraft, sein unberechenbarer Jähzorn, sein gewaltiger Appetit, seine Kriegs- und Ruhmlust und seine unhöfische tumpheit.15

Zusätzlich hat Wolfram zwei Motive, die konstitutive Züge seiner

Rennewart-Figur ausmachen, im Gegensatz zum Rainouart der Quelle verstärkt: Rennewarts Verwandtenhaß 16 und das Motiv des Vergessens, das sich sowohl in Rennewarts eigener Vergeßlichkeit als auch in seinem Verlorengehen und Vergessenwerden ausdrückt.

10 11 12

13

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15

16

Vgl. J. FRAPPIER, Les chansons de geste du cycle de Guillaume d'Orange 1, Paris 1955, S. 141-148 u. 203-207; dagegen LOFMARK [Anm. 3], S. 37. Ulrich von Türheim, Rennewart, hg. von A. HÜBNER, Berlin 1964, (DTM 39). Vgl. H. BRUNNER, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick, Stuttgart 1997, S. 264; J. HEINZLE, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert, Tübingen 1994, (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II/2), S. 120. J. BUMKE, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990, (Deutsche Literatur im Mittelalter 2), S. 258. MOESSNER [Anm. 3 ] , S. 75; P. CZERWINSKI, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a.M. 1989, S. 70, stellt Rennewart in eine Reihe mit Parziväl, und auch Wolfram selbst vergleicht Rennewart mit dem Helden seines ersten Epos (Vv. 217,15-24); vgl. bereits A. GEERING, Die Figur des Kindes in der mittelhochdeutschen Dichtung, Zürich 1899, (Abhandlungen der Gesellschaft für deutsche Sprache in Zürich 4), S. 28. Diese z.T. äußerst kritischen Eigenschaften der Rennewart-Figur scheinen einer positiven Rezeption, ja Identifikation im Mittelalter nicht hinderlich gewesen zu sein, worauf z.B. ein Spruch Heinrich Frauenlobs deutet, in dem er seinen Mäzen folgendermaßen anspricht: du Rennewart / in strites vart, / dich, helt, von der Hoye Gerhart, / meine ich (Frauenlob, Leichs, Sangsprüche, Streitgedichte und Lieder 1, hg. von K. STACKMANN / K. BERTAU, Göttingen 1981, [Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse III/l 19], S. 393f.,V, 9, Vv. 15-18). V g l . STEVENS [ A n m . 3 ] , S . 9 9 .

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Martin Przybilski

II. Der Charakter des schönen Kriegers Schon in der Szene, in der Rennewart in den 'Willehalm' eingeführt wird, prägen einige seiner grundlegenden Züge sein Erscheinungsbild:17 Der französische König Löis, dessen Tochter Ahse und Willehalm beobachten eines abends (187,1) von den Fenstern des Palas in Munleün aus die Kampfspiele der Edelknappen. Die Szene erscheint durch die Repräsentation höfischer Unterhaltung - in einem Kriegsepos üben sich junge Adlige in der pazifizierten Form des höfischen Kriegs - und durch die Unbestimmtheit der einleitenden Zeitbestimmung gleichsam der eigentlichen epischen Handlung entrückt. Selbst Willehalm, der in den vorhergehenden Hofszenen den Krieg aus Provenze leibhaftig an den friedlichen Hof getragen hatte,18 muß im Angesicht dieses höfischen Spektakels zugeben, daß er niht bezzer kurzewile sehen könnte (Vv. 187,4-6). Der blutige Krieg und die anhaltende Belagerung Oransches scheinen entrückt, ja vergessen zu sein, doch noch im ersten Dreißiger dieser Szene schlägt die Stimmung um: dö nam der marcgräve war, daz ein knappe kom gegangen, der wart mit spote enpfangen. (Vv. 187,30-188,2)

Die Plötzlichkeit dieses Umschwungs, verdeutlicht durch die Konjunktion dö, signalisiert dem Publikum die hohe Bedeutung der nachfolgenden Szenen. Zudem ist es Willehalm selbst, der als erster den Neuankömmling bemerkt, der im weiteren Verlauf des Epos so überaus wichtig für ihn werden wird und der jetzt zunächst einmal vom Erzähler näher vorgestellt wird: Er ist sehr kräftig (Vv. 188,6f., 12-15), er arbeitet in der königlichen Küche (Vv. 188,8-11), er ist verdreckt und schäbig gekleidet (Vv. 188,16f.), so daß seine eigentliche Schönheit, die auch auf seinen art hinweist, nicht wahrgenommen wird (Vv. 188,18f.). Diese Verkennung durch seine Umwelt führt den Erzähler zu Vergleichen mit dem Gold, das doch nicht rostet, wenn es in den Schmutz fällt, und mit einem Edelstein, der seine leuchtende Röte nicht einbüßt, sollte er auch in den Ruß geworfen werden (Vv. 188,20-29), und gipfelt schließlich in der Namensoffenbarung der neuen Figur: verdahter tugent in noete / pflac Rennewart, der küchenvar (Vv. 188,30189,l)19. Rennewarts episches Schicksal wird in dem Beinamen der küchenvar20 17

Vgl. dazu auch G.M. HUMPHREYS, Wolfram von Eschenbach's 'Willehalm'. Kinship and Terramer. A Comparison with the Μ Version of 'Aliscans', Göppingen 1999, (GAG 657), S. 92f.

18

V g l . CZERWINSKI [ A N M . 14], S . 5 3 .

19

So lautet der Text aller bisherigen Herausgeber des 'Willehalm' nach der überwiegenden Mehrzahl der Handschriften. Einzig die älteste vollständige Handschrift (K/G) hat dagegen: verdahter iugent in noete / phalch Rennewart der chuene var.

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Die Selbstvergessenheit des Kriegers

eingefangen, das bereits das Grundproblem der Figur andeutet, ihre, im Gegensatz zu 'Aliscans', 21 gewaltsame verwandtschaftliche, topographische und soziale Dislozierung, von der in dem Gespräch zwischen Willehalm und Löis gehandelt wird, das auf Rennewarts Wutausbruch und die Tötung eines Knappen (Vv. 190,11-17) jetzt folgt: Rennewart wurde von Kaufleuten aus seiner Heimat entführt und an den französischen Hof gebracht (Vv. 191,11-13) - er befindet sich also nicht mehr in seinem angestammten Verwandtenverband, sondern im falschen geographischen Rahmen. Seine hochadlige Abstammung ist an seiner körperlichen Schönheit ersichtlich (Vv. 188,18f.),22 doch um seiner Taufweigerung willen hat Löis ihn zu einem Küchendiener degradiert (Vv. 191,2-7) - innerhalb des falschen geographischen Raums verbringt Rennewart sein Leben also zudem noch an dem Ort, der den krassesten Gegensatz zu der sozialen Rolle darstellt, für die er durch seine Geburt prädestiniert ist 2 3 Man kann wohl nicht nachdrücklich genug betonen, daß Rennewart „am falschen Orte, nicht in der Aura des zentralen Hofes seines Geschlechts, aufgewachsen [ist], und folglich mangeln ihm Teile seiner Identität, seiner adligen Existenz."24 Rennewarts sprechendes epitheton ornans weist also implizit bereits den epischen Weg der Figur. Daß körperliche Schönheit auch ein Indiz für adlige Geburt darstellt, hängt mit der weit verbreiteten mittelalterlichen Vorstellung zusammen, die Anlagen eines Menschen seien durch das Blut oder die Blutsverwandtschaft von den Eltern oder nahen Verwandten ererbt.25 Charaktereigenschaften wie Freigebigkeit oder Friedfertigkeit, aber auch Eigenschaften wie Würde oder Hoheit sind zudem nicht allein erbbar, sondern werden auch durch eine vollkommene körperliche Erscheinung

20 21 22

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Dieses Adjektiv, das nur auf Rennewart bezogen wird, findet sich auch noch in V. 201,24. In Wolframs Quelle ist Rainouart nicht etwa das Opfer einer Entfuhrung, sondern vielmehr aus seinem Elternhaus entflohen; vgl. KNAPP [Anm. 3], S. 73f. Vermutlich haben auch die Kaufleute Informationen über Rennewarts Herkunft an Löis weitergegeben, denn er selbst sagt gegenüber Willehalm eindeutig: ich weiz wol, daz er edel ist (191,1). Vgl. z.B. Vv. 289,20f., wo es von Giburc heißt, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben Uberhaupt die Küche ihres eigenen Herrschaftssitzes betritt. Daher richtet sich Rennewarts Zerstörungswut im Friedensraum des Hofs - sowohl in Munle&n als auch im zeitweilig pazifizierten Oransche - auch vorrangig gegen die Küche und ihre Gerätschaften (Vv. 198,2426) bzw. gegen deren oberste Repräsentanten: Weder der küchertmeister des französischen Königs noch Willehalms Chefkoch entgehen Rennewarts für sie tödlichem Jähzorn (Vv. 202,1 und 286,11-16). Das andere bevorzugte Ziel seiner Gewalttätigkeit bilden die Knappen (Vv. 190,12-20 und 276,20-30), also diejenigen, die sich auf der Ausbildungsstufe des adligen Nachwuchses befinden, auf der Rennewart aufgrund seiner Herkunft und seines Alters sich ebenfalls verortet, die ihm aber aufgrund seiner Dislozierung verwehrt bleibt. CZERWINSKI [ A n m . 14], S . 5 9 .

Vgl. C. BRINKER-VON DER HEYDE, Geliebte Mütter, mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen, Bonn 1996, (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 123), S. 40; G. DUBY, Ritter, Frau und Priester. Die Ehe im feudalen Frankreich, Frankfurt a.M. 1985, S. 45.

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Martin Przybilski

augenfällig und offenbar. 26 Daher ist es fur mittelalterliche Dichter möglich, „aus dem Gesicht einen Spiegel des Herzens zu machen und die Haltung des Körpers als Zeichen innerer Gesinnung zu betrachten und auf diese Weise körperliche Gebärden zu Repräsentationsformen sozialer Beziehungen und geistiger Werte zu machen." 27 Das Schönheitsideal des Mittelalters blieb dabei weiterhin das der klassischen Antike, allerdings wird die im Altertum als eigenständiger Wert verstandene Schönheit des Körpers nurmehr zu einer „Manifestation innerer Schönheit, auf die sie verweist."28 Daher macht die schwarze Hautfarbe mancher heiden schon bei der Betrachtung augenfällig, daß den auf solche Weise Unterschiedenen der Glanz des rechten Glaubens fehlt 29 Auch Rennewarts Haut ist bei seinem späteren Auftritt in Oransche vom Staub geschwärzt, erst seine Schweißtropfen lassen seine helle Haut erkennen (Vv. 270,12-17), was den Erzähler zu einem doppeldeutigen Wortspiel mit der heide und diu heide reizt: wirt er vor roste immer vri, / der heide glänz wont im ouch bi (Vv. 270,23f.). An Rennewarts Einführung in das Epos schließt sich das erste Gespräch zwischen ihm und Willehalm an. Der Markgraf hatte den König umbe den knappen gebeten (V. 191,20), ihm ze stiure (V. 191,21) und dem jungen Muslim zur Verbesserung seines Verhaltens (Vv. 191,22f.), und Lois hatte, auf dringliches Bitten seiner Tochter hin, schließlich eingewilligt (Vv. 191,25-28), so daß Rennewart nunmehr auf Befehl Willehalms in den Palas kommt und vor seinen neuen Herrn tritt. Dieser gewinnt durch einen psychologischen Schachzug sein Vertrauen - er spricht Rennewart in seiner Muttersprache kaldeis und heidensch an (Vv. 192,22f.) und hebt damit punktuell und zeitweise seine geographische Dislozierung auf und befragt ihn zuerst nach seiner Abstammung und seinem Herkunftsort (Vv. 192,29f.), also nach den wichtigsten Parametern zur Einschätzung und Verortung des einzelnen innerhalb der Feudalgesellschaft. Dabei scheint Willehalm schon beim ersten Anblick des jungen Muslim geradezu instinktiv die Seelenverwandtschaft mit seinem zukünftigen vriunt zu spüren:

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Vgl. BRINKER-VON DER HEYDE [Anm. 2 5 ] , S. 69 u. 89; K. SCHREINER, Si homo non pecasset... Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des Menschen, in: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von K. SCHREINER / N . SCHNITZLER, München 1992, S. 41-84, hier S. 47f. K. SCHREINER / N. SCHNITZLER, Historisierung des Körpers. Vorbemerkungen zur Thematik, in: dies. [Anm. 26], S. 5-22, hier S. 11. P . MICHEL, Formosa deformitas. Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur, Bonn 1976, (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57), S. 90. V g l . BRINKER-VON DER HEYDE [ A n m . 2 5 ] , S . 8 5 .

Die Selbstvergessenheit

des Kriegers

Ungewohnte Menschlichkeit, die sich aus tiefem Verständnis für seine seelische Lage seiner annimmt und es nicht verschmäht, ihn in seiner heidnischen Muttersprache nach seinem Schicksal zu befragen, beginnt, den Trotz, mit dem sich das Herz Rennewarts umkleidet hatte, abzuschmelzen. 30

Willehalms Sympathie resultiert vor allem daraus, daß der Markgraf und Rennewart wesentliche Charakterzüge teilen, vor allem den gewalttätigen Jähzorn,31 den Rennewart in seiner Einfuhrungsszene an den Tag legt und den auch Willehalm kurz zuvor am Hofe demonstriert hatte.32 Beide Figuren produzieren „nichts als Tod und Zerstörung"33, beide repräsentieren letzten Endes Krieger par excellence, und damit eine gemeinsame Haltung, die sich auch darin ausdrückt, daß Rennewart und Willehalm als einzige Figuren des Epos sowohl Muslime als auch Christen töten. Rennewart weicht in seiner Antwort dem ersten Teil von Willehalms Frage aus, sowohl den Akteuren der Erzählung als auch dem Publikum bleibt Rennewarts genauere Abstammung somit zunächst verborgen. Nichtsdestoweniger rekurriert er auf seine Abstammung, sie dient ihm als Begründung seiner Taufweigerung: nü ist mir der touf niht geslaht (V. 193,19). Die Bedeutung des Adjektivs geslaht an dieser Stelle kann auf zweierlei Art verstanden werden: entweder in einem allgemeinen Sinn von „gemäß" - so übersetzt HEINZLE - , oder in der spezifischeren, genealogischen Bedeutung „entsprechend der dynastischen Abstammung". Im letzteren Fall wäre Rennewarts Aussage sehr genau: Keiner aus seinem geslehte ist getauft, seine getaufte Schwester Giburc gehört als verheiratete Frau nicht mehr zum geslehte, sondern zur weiterausgreifenden sippe, daher widerspräche es seiner Abstammung, sich taufen zu lassen. Die Frage der Religion wird hier zu einer Frage der Genealogie, Gretchens Frage wäre für Rennewart nur verwandtschaftlich beantwortbar.34 Der weitere Gang des ersten Gesprächs zwischen dem Markgrafen und dessen zukünftigem Knappen deutet noch ein zweites Konstitutivum der Rennewart-Figur an, das ihrem positiven Rekurs auf die eigene Abstammung zu widersprechen scheint: ihren Verwandtenhaß, angedeutet in der Bereitschaft, die toten Christen der ersten Schlacht an denen zu rächen, die über mer ins Reich eingefallen sind (Vv. 194,12-18). Daß sich unter den muslimischen Angreifern auch Verwandte 30

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L. WOLFF, Der 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach, in: DVjs 12 (1934) 504-539, hier S. 515. Vgl. W. HAUG, Parzivals zwivel und Willehalms zorn. Zu Wolframs Wende vom höfischen Roman zur Chanson de geste, in: Wolfram-Studien 3 (1975) 217-231, hier S. 227. Auf Rennewarts Neigung zu haz und zorn wird des öfteren hingewiesen (Vv. 198,8; 273,23; 276,13; 282,3; 285,1-5; 289,17; 290,22; 292,21 f.; 316,27; 317,19; 324,9; 388,19). B. EHRENREICH, Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg, München 1997, S. 181. Vgl. auch HUMPHREYS [Anm. 1 7 ] , S . 9 2 ; STEVENS [Anm. 3 ] , S . 8 6 .

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Rennewarts befinden dürften, sollte dem Publikum schon an dieser Stelle bewußt sein. Wie eng Willehalms Knappe jedoch mit den zentralen Figuren der gegnerischen Seite verwandt ist und wie grundlegend diese Verwandtschaft seinen Kampfeswillen motiviert, erfährt das Publikum erst später, nachdem sich das neuformierte christliche Heer nach Oransche begeben hat. Auf dem Weg hin zu dieser Enthüllung hat Wolfram jedoch zahlreiche Andeutungen der genealogischen Besonderheit des jungen Muslims eingefugt. So deutet der Erzähler eine Verwandtschaft zwischen Rennewart und Arofei (Vv. 232,6-12) wie zwischen Rennewart und Giburc (Vv. 274,18-26) an. Letzteres vermutet auch Giburc selbst: ich muoz im antlützes jehen, / als eteslich min geslehte hat (Vv. 272,26f.). Die schließliche Offenbarung seiner Abstammung erfolgt wiederum durch den Erzähler (Vv. 282,19-285,22) und wird durch Rennewarts anschließende eigene Klage noch einmal bekräftigt (Vv. 287,1-288,30), die in dem verzweifelten Ausruf gipfelt: ich bin doch Terrameres barn (V. 288,30). Die Vorgeschichte der Rennewart-Figur stellt sich nach dem, was Löis bereits angedeutet hatte und der Erzähler und Rennewart nun ausführen, folgendermaßen dar: Terramers Sohn, von ammen brüst verstolen (V. 282,30), wurde von Kaufleuten, die sich aufgrund der königlichen Abstammung ihrer Beute großen Gewinn ausrechneten (Vv. 283,5-7), an den Hof des französischen Königs gebracht. Von ebendiesen Kaufleuten wurde der Entführte selbst - allerdings unter Todesdrohungen zum Schweigen verpflichtet (Vv. 284,1-5) - in seine eigenen Familienverhältnisse eingeweiht (Vv. 283,8-20). Lois hatte den freigekauften Muslimprinzen zunächst entsprechend seines Geburtsadels, ablesbar wiederum an seiner körperlichen Schönheit (Vv. 284,10), zuvorkommend behandelt und ihn sogar seiner Tochter ζ 'einem gespilen (V. 284,13) gegeben - Grund und Auslöser fiir die Kinder-minne, die Rennewart und Alise verbindet (Vv. 284,14f.).35 Nachdem sich Rennewart jedoch standhaft der Taufe verweigert hatte, wurde ihm der Umgang mit der Königstochter, der er zuvor als einziger Figur des 'Willehalm' die volle Wahrheit über seine Herkunft offenbart hatte (Vv. 284,23-26), untersagt und er wurde in die Küche verbannt (Vv. 284,20-22; 27-30). Die ausfuhrliche Schilderung von Rennewarts Geschichte dient Wolfram vorrangig dazu, einen Charakterzug seiner Figur zu entwickeln, der zum tragenden Moment der weiteren Handlung wird - Rennewarts Verwandtenhaß,36 der mit den Worten des Erzählers folgendermaßen begründet wird:

35

36

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Vgl. dazu GEERING [Anm. 1 4 ] , S. 6 7 . Eine kritische Einschätzung dieser Spielart der minne findet sich in Wolframs Werk schon im 'Titurel' 49,1: Owe, minne, waz touc din kraft under kinder? Vgl. dazu auch H U M P H R E Y S [Anm. 17], S. 102f.

Die Selbstvergessenheit des Kriegers der knappe stnem vater haz und sinen mögen umbe daz truoc, daz si in dä niht lösten: in dühte, daz si verbösten ir triuwe. (Vv. 285,1-5)

Auch Rennewart selbst verflucht in seiner sich anschließenden Klagerede die Tatenlosigkeit seines Vaters und seiner Brüder (Vv. 288,3-29): 37 In hohen Flammen lodert hier sein Haß gegen seine Verwandten. Es ist ein Haß, der aus Liebe umgeschlagen ist: Die, die er lieben wollte, sollte und könnte, haben, wie er meint, seine Liebe verraten, die triuwe gebrochen, sich damit eines ungeheuren Vergehens gegen die geheiligten Bande der Sippe schuldig gemacht. 38

Die starke Betonung, die Wolfram auf Rennewarts Haß als Handlungsmotiv legt, ist eine Zutat des mittelhochdeutschen Dichters, in 'Aliscans' betritt Rainouart nicht das Schlachtfeld, um möglichst viele seiner Verwandten zu bestrafen, 39 im 'Willehalm' ist dies dagegen sein vorrangiges Ziel (Vv. 293,3-5; 18-20; 318,6-11). Allerdings vermeidet Wolfram es in der zweiten Schlacht auf Alischanz - mit Ausnahme der Kämpfe gegen Kanliün und Dedalün - , Rennewart in direkte Konflikte mit engen Verwandten zu verwickeln. 40 Die besondere Problematik von Rennewarts Haß- und Rachegeiuhlen ergibt sich daher weniger aus seinem aktiven Handeln als aus der Bemerkung, mit der der Erzähler seine soeben zitierte Interpolation weiterfuhrt: sin haz unrehte giht, wände sine wisten sin dä niht. waere kein sin bote an si komen, wolt iemen hört haben genomen, sölher gäbe waere näch im gepflegen: Franzoiser mähten golt noch wegen. (Vv. 285,5-10)

Daher wird in der Forschung Rennewarts Verwandtenhaß auch des öfteren im Zusammenhang der Frage nach einer Schuldhaftigkeit der Figur diskutiert: K N A P P 37

Vgl. auch noch Rennewarts Aussage in Vv. 292,21-30: dem selbem und minem geslehte, / trag ich grözen haz mit rehte, / sit si mich scheident von ir goten / und mir noch deheinen boten / durh mine not gesanden / und ir pris an mir geschanden.

38

KNAPP [ A n m . 3], S. 108; v g l . a u c h STEVENS [ A n m . 3], S. 8 6 ; LOFMARK [ A n m . 3], S. 120. V g l . STEVENS [ A n m . 3], S. 9 9 .

39

40

Vgl. LOFMARK [Anm. 3], S. 93; W. SCHRÖDER, Der Markgraf und die gefallenen Heidenkönige in Wolframs 'Willehalm', in: FS K. Reichardt, hg. von C. GELLINEK, Bern 1969, S. 135-167, hier S. 162. Diese Beobachtung stimmt zwar für die direkt beschriebenen Einzelkämpfe der zweiten Schlacht, die Worte des Erzählers: siner höhen mäge vi! verlos / den Up durh smaehe, die er kos (Vv. 285,11 f.) legen aber zumindest nahe, daß Rennewart eine gan^e Reihe seiner entfernteren Verwandten tötet, ohne daß davon ausfuhrlich berichtet wird.

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versteht Rennewarts irrtümlichen Haß als ignorantia und damit als schuldhaftes Vergehen,41 während sich KLELPLNSKJ ausfuhrlich gegen eine Schuld Rennewarts ausspricht.42 Auch LOFMARK kann in seiner Untersuchung keine Verschuldung der Figur feststellen, für ihn agiert Rennewart vielmehr als Werkzeug Gottes,43 was z.B. in den Worten des Erzählers deutlich werde, der die Einschätzung der französischen Ritter wiedergibt, die von Rennewart am Pitit Punt mit Waffengewalt aufgehalten werden: genuoge under in begunde jehen, in waere al rehte geschehen: si sltiege aldä diu gotes hanl, von der si vlühtic waeren gewant (Vv. 325,1-4).

Gegen LOFMARKs Interpretation haben GREENFIELD und MLKLAUTSCH eingewandt, es sei „in jedem Fall ungewöhnlich, daß ausgerechnet ein Heide zum Instrument höherer Fügung"44 werden könne. Vor dem Hintergrund zahlreicher biblischer Erzählungen, in denen Heiden als Werkzeug Gottes die Strafe an dessen auserwähltem Volk vollziehen (z.B. Jes 47,6; 13,5.17; 44,24-28; Jer 51,7.20-23; Ez 30,25; 31,8-13), und des mittelalterlichen Grundsatzes, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist, erscheint dies jedoch keinesfalls als so ungewöhnlich und im christlichen Kontext undenkbar, wie GREENFIELD und MIKLAUTSCH annehmen. Jenseits der Frage nach Rennewarts Schuld oder Unschuld ergibt sich aus Wolframs Charakterzeichnung folgendes interessante Bild der Rennewart-Figur. Für Rennewart stellt die Verwandtschaft den höchsten Wert dar, daher motiviert sie auch seine Taufweigerung, die ihm den einfachsten Weg versperrt, in der Fremde seinen angeborenen Status wiederzuerlangen, und daher nimmt er es seinen Verwandten so übel, daß sie ihn nicht befreit, sondern ihn augenscheinlich vergessen haben. Um also sein Abstammungsrecht anders als auf dem Weg durch das Taufbecken zu erweisen und einzuklagen, muß er sich in der Disziplin besonders hervortun, die Existenzberechtigung und Definitionspunkt des mittelalterlichen Adels ist: im Krieg.45 Rennewart will deshalb so unbedingt ein Krieger sein, weil er nur 41

V g l . KNAPP [ A n m . 3 ] , S . 1 1 5 f .

42

V g l . KIELPINSKI [Anm. 3], S. 6 0 - 8 0 .

43

V g l . LOFMARK [ A n m . 3 ] , S . 1 2 0 u . 1 9 7 . GREENFIELD / MIKLAUTSCH [ A n m . 3 ] , S . 2 0 8 .

4 4

45

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Vgl. dazu R. BARTLETT, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1998, S. llf., 115 u. 491; B. KRAUSE, Imaginierte Gewalt in der mittelalterlichen Literatur. Der fragmentierte Leib: Teile und Ganzes, in: Verstehen durch Vernunft (FS W. Hoffmann), hg. von B. KRAUSE, Wien 1997, S. 201-226, hier S. 202; G. DUBY, Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, Frankfurt a.M. 2 1987, S. 171; R. SABLONIER, Rittertum, Adel und Kriegswesen im Spätmittelalter, in: Das ritterliche Turnier

Die Selbstvergessenheit des Kriegers

auf dem Schlachtfeld seine adlige Herkunft, seine Abstammung von der Gruppe der bellatores, beweisen kann: Der heldische Leib ist dort - und wie es scheint: nur dort - ganz bei sich selbst (mit sich identisch), ganz und gar Leib in vollkommener Ausschöpfung seiner Kräfte, wo er kämpft, reitet, ficht, wirft und schlägt, wo er nicht auf eine Körperkontrolle verpflichtet wird, wie sie ihm der Hof durch seine Verhaltensregeln abverlangt. 46

Die konstitutive Verbindung der Rennewart-Figur mit der Sphäre des Kriegs läßt sich noch an einigen weiteren Hinweisen des Textes aufzeigen. So erwacht sein jähzorniger Kampfeswille genau in dem Moment, in dem er Zeuge und Opfer der Kampfspiele der Knappen in Munleün wird, während er sich nach Aussage des Königs zuvor nie so benommen hatte (Vv. 190,26-30). Er selbst berichtet von seinen zahlreichen gescheiterten Versuchen, durch den Anblick von Kämpfen und Turnieren etwas über riterllche arebeit zu erfahren (Vv. 287,23-28). Außerdem steht Rennewart im Reim oft mit hervart oder vart zusammen (Vv. 197,1; 199,14; 213,4; 225,10; 329,21; 330,27; 336,15; 452,17). Rennewart und hervart fallen nicht nur reimend, sondern auch sinntragend zusammen: In der Figur des muslimischen Prinzen inkarniert sich der Kriegszug. Im Gegensatz zu Vivianz, der beherrschenden Figur der ersten Schlacht, der für die „Apotheose des christianisierten Militarismus' [...] und des militarisierten Christentums"47, für den christlichen Krieg gestanden hatte 48 steht Rennewart letztlich fur eine Haltung des la guerre pour la guerre,49 fur ihn ist der Krieg das Leben selbst, „das wahre Leben, an dem im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums, hg. von J. FLECKENSTEIN, Göttingen 1985, S. 532-567, hier S. 556. 46 47

48

49

KRAUSE [ A n m . 4 5 ] , S . 2 0 2 A n m . 1. EHRENREICH [ A n m . 3 3 ] , S . 2 0 7 .

Zum Verhältnis Vivianz - Rennewart vgl. auch STEVENS [Anm. 3], S. 98, die Rennewart als „Vivanz' replacement, in a sense" bezeichnet, und MOESSNER [Anm. 3], S. 80. Die Parallelen zwischen der Rennewart- und der Vivianz-Figur sind jedoch stets ein wenig ungleich, stets etwas verschoben, was sich z.B. schon beim Alter der beiden jugendlichen Helden zeigt. Wie Vivianz in Oransche (V. 23,7) ist Rennewart von kinde am französischen Königshof aufgewachsen (V. 190,28), er bezeichnet sich selbst als zur jugent gehörig (V. 193,22) und wird vom Erzähler, ebenso wie Vivianz, der junge genannt (V. 286,29): Rennewart und Vivianz müssen also als nahezu gleichaltrig vorgestellt werden. Diese Erzähl- und Motivierungstechnik könnte man auch als „ungleiche Parallelität" bezeichnen. Die Entsprechungen zwischen beiden Figuren sind zunächst geradezu augenfällig, in V. 191,30 heißt es von Rennewart eindeutig: der was noch äne hart, und dieser Umstand berechtigt uns dazu, die frisch in die Handlung eingeführte Figur „noch unter die Kinderfiguren einzureihen" (GEERING [Anm. 14], S. 28) und im selben rechtlichen Stadium der Unmündigkeit anzusiedeln wie Vivianz. Der weitere Verlauf von Rennewarts epischem Schicksal gestaltet sich jedoch in grundsätzlichen Punkten dem von Willehalms swestersun diametral entgegengesetzt: Sein Bart beginnt durch den Abschiedskuß Alises zu sprießen (Vv. 271,1-5), er erreicht also die /w'wje-Fähigkeit, die Vivianz verwehrt geblieben war und die nach den Worten Terramers ursächlich mit dem gransprunc zusammenhängt: dö mir erste die granen Sprüngen, / mich nam diu minne in ir gebot (Vv. 338,12f.). Zugleich erreicht Rennewart damit in rechtlicher Hinsicht die Mündigkeit und bedarf fortan keines Vormunds mehr ('Sachsenspiegel' Landrecht I, 42, §2). Vgl. dazu auch H. FEILZER, Jugend in

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Frauen und Bauern nie wirklich teilhaben können"50: Seine Gewalttätigkeit kann sich gegen jeden richten, das zeigen die Toten und Verwundeten, die er auf christlicher und muslimischer Seite zurückläßt, und Willehalm sagt es ausdrücklich: er kan wol vriunt und vient sin (V. 273,30). Rennewart sucht das Töten, und nur das immer neue Aufspüren von Opfern und das Vermeiden zu langer Friedenszeiten hindert ihn daran, Opfer seiner eigenen Gewalt zu werden. Ursache und Auslöser für das Verhalten von Wolframs Rennewart-Figur ist wiederum ihre geographische und soziale Dislozierung: „Nicht-standesgemäße Erziehung drückt sich hier vor allem als Fehlen höfischer Affektkontrolle, reflektierender Durchorganisiertheit aus" 51 , das macht sie „zuchtlos, unberechenbar, ihr Verhalten am Hofe, in dessen Friedlichkeit, kann nicht garantiert werden."52 Rennewart bewegt sich also in einem circulus vitiosus: Er verweigert die Taufe, weil sie ihm nicht geslaht ist; dadurch ist er zu einem unstandesgemäßen Leben verdammt; um sich aus diesem Zustand zu befreien, muß er seinen Geburtsadel auf dem Schlachtfeld beweisen; dort trifft er als Gegner auf seine Verwandten, die er zielgerichtet umbringt, weil sie ihn seiner - falschen - Meinung nach nicht aus seinem deklassierten Zustand befreit hatten: „Treue zum Herrn um der Sippenehre willen, Mord an der Sippe aus Treue zum Herrn: Auf solchen Wahnsinn spitzt sich der Konflikt zwischen fiktiver und realer Verwandtschaft zu."53 All diese tragischen Verwicklungen erwachsen aus Rennewarts Grundproblem, seiner tumpheit, die ihn die falschen Waffen und das falsche Verhalten wählen läßt und die ihn mit einer weiteren Figur Wolframs, mit Parziväl, verbindet, dessen tumpheit allerdings im Gegensatz zu Rennewart eine epische Auf- und Erlösung erfährt: Wolframs große Figuren, Parzival und Rennewart, sind beide von einer extremen Spannung zwischen archaischen und modernen Elementen adliger Herrschaft, zwischen härtester Vereinzelung und weit getriebener Allgemeinheit bestimmt, von einer Widersprüchlichkeit, die nie aufgelöst wird, immer in aggregativen Mischungen verharrt, und die auch an Rennewart bis zum Ende bleibt.54

der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Ein Beitrag zum Problem der Generationen, Wien 1971, (Wiener Beiträge zur Theologie 36), S. 126. Nichtsdestoweniger übernimmt Willehalm diese Rolle gegenüber Rennewart, der zwar äußerlich zu sinen tagen gekommen ist, dem aber durch die langen Jahre seiner vernachlässigten, unstandesgemäßen Erziehung „Teile seiner Identität, seiner adligen Existenz" (CZERWINSKI [Anm. 14], S. 59) fehlen. Willehalm wird für Rennewart daher zu einem: „uncle, friend, father - to which can be added educator" (STEVENS [Anm. 3], S. 85). 50

EHRENREICH [ A n m . 33], S. 182.

51

CZERWINSKI [Anm.14], S. 64.

52 53 54

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Ebd., S. 65. WALDMANN [ A n m . 3], S. 197. CZERWINSKI [ A n m . 14], S. 70.

Die Selbstvergessenheit des Kriegers

Augenfällig wird Rennewarts archaische tumpheit wie bei Parziväl zunächst durch seine Bewaffnung und seine Kampfweise, denn daß er zu Fuß kämpft (196,17), ordnet ihn, wie auch seine Stange (Vv. 196,20-30), der Welt der Riesen zu.55 Auch seine Körpergröße verbindet ihn mit den Riesen, die vom Erzähler z.B. anläßlich des Festmahls in Oransche durch einen Vergleich mit Giburc hervorgehoben wird: swie diu küneginne ob im saz, / sin houbet was vil hoeher baz: / daz muose von siner groeze sin (Vv. 274,15-17). Doch Rennewart trägt nicht nur riesenhafte, sondern auch tierhafte Züge: der starke, niht der swache truoc ougen als ein trache vor 'em houbte, gröz, lüter, lieht. (Vv. 270,25-27)

Rennewarts blitzende Augen, die so wiltlichen dreinblicken (V. 270,7), sind die Augen eines furchterregenden Monstrums,56 und so verwundert es nicht, daß der Erzähler den jungen Muslim bereits zuvor mit einem wilden Tier verglichen hatte, das von einer Meute Hunde gehetzt wird (Vv. 202,14f.). Es ist daher auch vor allem Rennewarts Fähigkeit, neben einem Berittenen herlaufen zu können (Vv. 226,12-15; 227,3-5; 272,6f.), die den eindeutigsten Hinweis auf seine Herkunft aus dem Reich des naturhaften Chaos liefert. So erklärt sich auch die instinktive Furcht vor Rennewart, die Giburc (Vv. 230,12-18), Heimrich (Vv. 273,21-24) und einige namenlos bleibende Gäste des Fests in Oransche (Vv. 270,8f.) bei seinem ersten Anblick empfinden.

III. Vergessen als Weg zur Selbstfindung In ursächlichem, einander konstituierendem und bedingendem Verhältnis zu Rennewarts tumpheit steht das Motiv des Vergessens.57 Es gibt insgesamt 27 Belege für Verb-, Adjektiv- oder Substantivformen des Lexems vergezzen im 'Willehalm', 58 von denen sechs, und damit die meisten für eine einzelne Figur, im Zusammenhang mit Rennewart stehen (Vv. 201,7; 314,27; 316,24; 317,23; 430,14). Während bei anderen Figuren zumeist betont wird, daß diese etwas gerade nicht vergessen, kennzeichnet Rennewart das wiederholte Vergessen besonders wichti55 56 57

58

Vgl. HEINZLE [Anm. 2], S. 970f.; LOFMARK [Anm. 3], S. 156-163. Vgl. HEINZLE [Anm. 2 ] , S . 1003; S . SINGER, Wolframs 'Willehalm', Bern 1918, S . 87f. Zur Funktion des Motivs des Vergessens im 'Parzival' vgl. M. REMSCHEID, Zwischen Erinnern und Vergessen. Ein Versuch über das Gedächtnis in Leben und Dichtung, Bochum 1999, S. 146-188. Vgl. Collected Indexes to the Works of Wolfram von Eschenbach, hg. von R.-M. S. HEFFNER, Madison 1961, S. 208.

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ger Utensilien. So heißt es zum Beispiel von Vivianz, daß er trotz seiner tödlichen Verletzung seinen ihm zuvor entfallenen Schild mühsam wieder aufhebt und mit sich nimmt (V. 48,2), oder von Willehalm, daß er sein Giburc gegebenes Versprechen, den Annehmlichkeiten der höfischen Kultur solange zu entsagen, bis Oransche von der feindlichen Belagerung entsetzt ist, trotz der Verlockungen der Hofküche (Vv. 177,1-7) und obwohl er es selbst zuvor befürchtet hatte (Vv. 132,20f.), nicht vergißt. Nur einmal vergißt der Markgraf etwas, nämlich siner zuht (V. 163,6) gegenüber seiner Schwester, der französischen Königin. Objekte des Vergessens bei Rennewart sind dagegen keine Aspekte sozialer Kompetenz, sondern bezeichnenderweise seine Waffen. Dreimal hintereinander vergißt er die selbstgewählte, archaische Stange im zuvor verlassenen Heerlager (Vv. 201,6f.; 314,25-27; 316,24): Einmal hat ihn der släf verirret (V. 200,30), sodann hat zweimal der Aufbruch des Heers und der Anblick der geschmückten Ritter seine Aufmerksamkeit vollständig mit Beschlag belegt (Vv. 314,28-315,10; 316,16-24). Sein Schwert vergißt er schließlich mitten im heißesten Schlachtengetümmel (Vv. 430,13-15), nachdem er seine Stange an Schild und Helm Purreis von Nübiant zertrümmert hat (Vv. 429,16-22), und erst der Hinweis Gibelms bringt ihm die an seinem Gürtel hängende Waffe ins Bewußtsein (Vv. 430,18-22). In diesem Fall vergißt Rennewart seine Waffe also nicht, weil er so sehr in die Betrachtung anderer Krieger versunken ist, sondern weil ihn der Kampf und das Kämpfen in einen Zustand völligen Einsseins mit dem Krieg versetzt haben. Für das dreimalige Vergessen seiner Stange macht Rennewart seine tumpheit verantwortlich (Vv. 317,3-5), die Wut über seine gröz unere (V. 314,26) entlädt sich in einer erneuten Strafandrohung gegen seine Verwandten, die Feinde seines neuen Herrn: ich hän mich des versunnen: wirt min herre dort bestanden, miner grözen houbetschanden sulen mine möge pflihte hän: daz hoenet manegen edelen man, die erboren sint von miner art. (Vv. 318,6-11)

Auf die von Rennewart selbst formulierte Frage, welche tiefere Bedeutung sich hinter seiner an spezielle Objekte geknüpften Vergeßlichkeit verbirgt (Vv. 317,2123), liefern weder die Figuren einschließlich des Erzählers, noch die weitere Handlung eine eindeutige Antwort. Allerdings geschieht noch etwas mit Rennewarts Stange, was vielleicht eine Lösung des Rätsels andeutet: Sie verbrennt und wird dadurch gehärtet (Vv. 318,27-319,2).

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Die Selbstvergessenheit des Kriegers

Indem Rennewart seine Waffen vergißt, vergißt er letzten Endes sich selbst: Der Krieger wird zum Krieger durch die Waffen. Oberstes Ziel seines Kriegszugs ist die Rache an seinen Verwandten,59 die ihn seiner Einschätzung nach bewußt in der sozialen Degradierung und topographischen Dislozierung belassen haben.60 Zugleich ist sein selbsterklärter höchster Wert die triuwe des Verwandtenverbands. Um diesen divergierenden Ansprüchen gerecht werden zu können, ist Rennewart also gezwungen, sich selbst zu vergessen, um gegen sich selbst in Form seiner nächsten Verwandten kämpfen zu können, denn daß Blutsverwandte letztlich ein und dieselbe Person sind, hatte der Erzähler bereits in Wolframs erstem Epos eindeutig formuliert: min bruodr und ich daz ist ein lip ('ParzivaP, V. 740,29). Dieser Prozeß des Sich-selbst-Vergessens erfordert eine Transformation auf zwei Ebenen: Rennewart muß ein anderer werden, und er muß seinen höchsten persönlichen Wert durch einen anderen ersetzen. Augenfällig wird diese Umformung im Bild der verbrannten und zugleich gehärteten Stange: Erst nachdem Rennewart in der Form seiner Waffe im Feuer transformiert wurde, kann er gegen seine Verwandten antreten.61 Das, was der Erzähler über die Stange sagt, gilt damit auch fur ihren Träger: nü neruochet, was si e waeher - / si ist nü vester und zaeher (Vv. 319,1 f.). Rennewart hat den Krieg als höchstes Lebensziel gegen verwandtschaftliche Bindung getauscht, von hier an gilt von ihm nur noch: gein prise truoc er staeten muot (V. 296,5). Möglich wird diese Selbstverwandlung durch Vergessen vor allem durch Rennewarts konsequentes Verschweigen seiner Herkunft: Was über einen längeren Zeitraum verschwiegen wird, kann schließlich auch vergessen werden.62 Rennewarts Selbstvergessenheit resultiert letzten Endes aus seiner Kommunikationslosigkeit, denn „es ist die Sprache und das ganze System der damit verbundenen gesellschaftlichen Konventionen, die uns jederzeit die Rekonstruktion unserer Vergangenheit gestattet"63. Doch der Verstoß gegen seinen ursprünglichen höchsten Wert zeitigt nichtsdestoweniger so katastrophale Folgen und wiegt schließlich so schwer, daß er nach vollbrachter Rettung des christlichen Hegemonialbereichs aus dem Epos verschwindet.

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Vgl. auch K. BERTAU, Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 98. Durch seine Dislozierung fehlen Rennewart die wesentlichen Bedingungen des Erinnems, die nach M. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 9-11, in der zeitlichen lind räumlichen Kontinuität einer Gruppe bestehen. Rennewarts Vergessensleistung repräsentiert sozusagen den Nukleus einer ars oblivionalis, deren Existenzmöglichkeit U. Eco, An Ars Oblivionalis? Forget it!, in: PMLA 103 (1988) 254-261, vehement bestreitet. Vgl. zum ursächlichen Zusammenhang von Schweigen und Vergessen M. HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Neuwied 1966, (Soziologische Texte 34), S. 368f. Ebd., S. 368.

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IV. Selbstverwirklichung durch Brudermord Die fatalen Folgen, die aus Rennewarts tumpheit fur die Handlung entstehen, werden im Kampf gegen seine Blutsverwandten in der zweiten Schlacht deutlich, vor allem in der Tötung seines Bruders Kanltün (Vv. 442,19-21). Wiederum wie Parziväl wird auch Rennewart im Zweikampf auf Leben und Tod mit dem eigenen Halbbruder konfrontiert, doch anders als fur Wolframs ersten epischen Helden findet sich im Kriegsepos 'Willehalm' keine Zeit für ein schicksalhaftes Erkennen und Schonen.64 Zwar weist der Erzähler in diesem Zusammenhang explizit darauf hin, daß die beiden Kontrahenten sich nicht kennen (Vv. 442,22f.), doch dem Publikum wird der Brudermord enthüllt, und zwar noch bevor Rennewart den tödlichen Schlag ausfuhrt.65 Rennewart verübt damit eine Tat, die im 'Parzival'66 von Trevrizent als Ursünde gebrandmarkt worden war, als das Verbrechen, das die erbliche Versündigung des ganzen menschlichen Geschlechts verursacht hat ('Parzival', Vv. 464,11-22; 465,1-6). Der erste Brudermord der biblischen Menschheitsgeschichte wird von Trevrizent in Bildern eines Verwandtenkonflikts dargestellt, die so sehr konkretisiert werden, daß die Tötung Abels schließlich als Kains „inzestuöse Vergewaltigung der Großmutter"67 Erde erscheint. Durch jeden neuen Mord, den ein Bruder am anderen verübt, wird die frevelhafte Ursprungstat wiederholt und die Sündhaftigkeit des menschlichen Geschlechts zementiert. Doch nicht nur der einsidel mißt der Vermeidung des Brudermords eine solch bedeutende Rolle für die Geschicke und die Geschichte des menschlichen Kollektivs und jedes einzelnen Menschen bei, auch Wolframs 'Parzival'-Erzählerfigur verleiht ihrem Entsetzen über den Zweikampf zwischen Parzival und Feirefiz nachdrücklichen Ausdruck ('Parzival', Vv. 740,1-4; 27-30). Schließlich bringt Parziväls muslimischer Halbbruder die ganze Problematik und Tragweite eines tödlichen Kampfs zwischen Brüdern auf den Punkt: mit dir selben hästu hie gestritn. gein mir selbn ich kom üf strit geritn, mich selben het ich gern erslagn (Parzival Vv. 752,15-17)

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Nur der zum Greifen nahe tragische Ausgang des Kampfs zwischen Willehalm und Arnalt wird in letzter Sekunde durch das Erkennen der beiden Brüder abgewendet (Vv. 118,1426). V g l . SCHRÖDER [ A n m . 4 0 ] , S . 161.

Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, Mhd. Text nach der 6. Ausg. von K. LACHMANN, Einf. zum Text von B. SCHIROK, Berlin 1999. D. PESCHEL-RENTSCH, Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur, Erlangen 1998, (Erlanger Studien 117), S. 84.

Die Selbstvergessenheit des Kriegers

Diese Erkenntnis wird im 'Willehalm' nach einem ebenfalls abgebrochenen Bruderkampf wiederholt, sowohl der Markgraf als auch dessen Bruder Arnalt sprechen sie kurz nacheinander aus: hie muos ich mich min selbes wem: dö ich zer tjoste gein dir reit, mit mir selbem ich da streit. [...] min lip min selbes übe vär hat umbekant erzeiget. (Vv. 119,16-18; 20f.)

Die Tragik des Kampfs der muslimischen Brüder wird zusätzlich dadurch gesteigert, daß sich Rennewart und Kanliün nicht wie Parziväl und Feirefiz oder Willehalm und Arnalt allein auf weiter Flur begegnen, sondern im Getümmel einer Schlacht, in der ein Verwandter auf den anderen einschlägt. Rennewarts und Kanltüns Gefecht verhindert sogar eine - vielleicht noch tragischere - andere Auseinandersetzung zwischen engsten Blutsverwandten: den Kampf zwischen Rennewart und Terramer. Der admirät war kurz zuvor von Willehalm schwer verwundet worden (Vv. 442,6-13), woraufhin ihm sein Sohn Kanliün zur Hilfe eilt (Vv. 442,1418), auf den nun Rennewart trifft (V. 442,19), der sonst zwangsläufig gegen den eigenen Vater angetreten wäre. So wird Rennewart aber, nachdem er Kanliün besiegt hat, in Kämpfe mit Gibue, Malokin, Kädor und Tampaste verwickelt (Vv. 442,24-30), während Terramer sere wunt auf sein Schiff gebracht wird (Vv. 443,13-15). Doch im Grunde stellt diese Umlenkung von Rennewarts Destruktionskraft vom Vater auf den Bruder keine wirkliche Lösung dar: Es bleibt Rennewarts Mord an einem nahen Verwandten, der zwar ohne Wissen des Täters stattfindet, von diesem aber vor der Schlacht bewußt angestrebt worden war und durch die Nähe des Verwandtschaftsgrads in (un)heilsgeschichtliche Zusammenhänge rückt. Wenn man zudem die folgenden Worte des Feirefiz mitbedenkt, ist es letztlich sogar gleichgültig, ob Rennewart nun seinen Vater direkt, oder in Form von dessen Stellvertreter, des eigenen Bruders, tötet: wil ich der wärheit gri/en zuo, beidiu min vater unde ouch duo und ich, wir wären gar al ein, doch ez an drien stücken schein, swä man siht den wisen man, dern zeit decheine sippe dan, zwischen vater unt des kinden. (Paizival Vv. 752.7-13) 68

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Von rechtshistorischer Seite könnte man einwenden, daß Rennewart ja gar keinen „echten" Brudermord begehe, da er und Kanliün nur Halbbrüder sind. Im 1283 durch Philipp von

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Damit ist die Bedeutungstiefe von Rennewarts Brudermord im Verwandtschaftsmosaik des 'Willehalm' jedoch noch nicht vollständig ausgeleuchtet, die letzte Steigerung des tragischen Moments erfährt Rennewarts Tat durch ihre näheren Umstände. Rennewart tötet Kanliün nämlich nicht mit seiner Stange - die war ihm zuvor im Kampf gegen Purrel zerbrochen (Vv. 429,19-22) - , sondern mit dem Schwert, das er von der gemeinsamen Schwester Giburc erhalten (Vv. 293,21-23) und das vormals dem swestersun des Terramer-neven Halzebier, Smagün, gehört hatte (Vv. 295,18f.), also einem gemeinsamen Verwandten von Opfer, Täter und Mäzenatin: Es liegt eine tiefe Ironie darin, daß Rennewart mit der Handhabung des edlen Schwerts (Wh. 430,14) dem erstrebten Ziel, der ritterlich-höfischen Vollkommenheit, in dem Augenblick näher kommt, als er sich innerlich in schwere Schuld verstrickt. 69

Die Annahme der ritterlichen Waffen und Rüstung Sinagüns gliedern Rennewart also - nun auch äußerlich erkennbar - in gerade jene Sippe ein, „die er anschließend in großem Stile und hochgerühmt damit abschlachtet [...]. Während Gyburg ihre königliche Sippe verläßt und sich der ärgern Hand, der armuot eines fürstlichen Hauses zuwendet, kehrt sich Rennewart aus der armuot einer Erniedrigung zum königlichen Küchenjungen rächend gegen seine kaiserliche Familie."70 Durch seinen Brudermord wird Rennewarts Rolle als negative Komplementärfigur zu Parziväl vollends deutlich: Beide stehen unter dem Vorzeichen der tumpheit und beide töten ihre Verwandten, um sich der Aufnahme in die Krieger-

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Beaumanoir kodifizierten Recht des Beauvaisis galt z.B., daß zwei Halbbrüder, die Söhne verschiedener Mütter waren, zwei verschiedenen Geschlechtern angehörten und die Möglichkeit hatten, einander zu bekriegen, wobei die gemeinsamen Verwandten dann zur Neutralität verpflichtet waren. Vgl. D. BARTHELEMY, Verwandtschaftsverhältnisse und Großfamilie, in: Geschichte des privaten Lebens 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance, hg. von G. DUBY, Frankfurt a.M. 2 1990, S. 95-159, hier S. 121. Dagegen läßt sich aber einwenden, daß Wolfram in all seinen Werken kaum Stief- oder Halbverhältnisse kennt, Parziväl und Feirefiz heißen immer einfach brüeder (PESCHEL-RENTSCH [Anm. 67], S. 98 Anm. 32), und das einzige Stiefverhältnis im 'Willehalm' besteht zwischen dem Markgrafen und Giburcs Sohn Ehmereiz (Vv. 75,3; 206,29). Mit dieser Haltung steht Wolfram im Hochmittelalter außerdem nicht allein da, denn Kaiser Friedrich I. nennt Otto von Freising in dem Brief, der Ottos 'Gesta Friderici' vorangestellt ist, patruus (Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris, hg. von G. WAITZ/ Β. VON SIMSON, Hannover 3 1912, [MGH SRG 46], S. 1), obwohl der Vater des Kaisers und der Freisinger Bischof nur Halbbrüder waren: Agnes, die Tochter Kaiser Heinrichs IV., heiratete in erster Ehe Friedrich von Staufen - den nachmaligen Herzog Friedrich I. von Schwaben - und nach dessen Tod (1105) in zweiter Ehe Markgraf Leopold III. von Österreich. Aus der ersten Verbindung entstand Friedrich II., der Vater Barbarossas, aus der zweiten Otto. Nach modernem Verständnis wäre Otto nur ein semipatruus des Kaisers. .Ganze' und ,halbe' Verwandtschaftsbindungen, sowohl patri- als auch matrilinearen Ursprungs, konnten im 12. und 13. Jahrhundert also durchaus noch als gleichwertig verstanden werden. I. KASTEN, Rennewarts Stange, in: ZfdPh 96 (1977) 394-410, hier S. 408. CZERWINSKI [ A n m . 1 4 ] , S. 6 5 f . , A n m . 4 1 .

Die Selbstvergessenheit des Kriegers

gesellschaft als würdig zu erweisen. Doch bei Herzeloydes Sohn hatte die fatale Tötung Ithers am Beginn seines Wegs gestanden und wurde gerade mit unritterlichen Waffen vollbracht ('Parzival', Vv. 155,4-11), während Rennewarts Weg im Brudermord mit den Waffen eines Ritters sein Ende findet. Rennewarts Kreisbewegung im Handlungsgeflige des 'Willehalm' wird durch die Tötung Kanliüns vollendet, er hat sozusagen seinen circulus vitiosus einmal rundherum abgeschritten und gelangt schließlich zu dem Punkt seines Wegs, der fur ihn gleichzeitig Anfangs· und Endpunkt seiner Bewegung darstellt: Von dort, aus dem Zusammenhang seiner Familie, ist er - genealogisch und topographisch gesehen - aufgebrochen, und nun endet dort seine hervart. Der selbstvergessene, ganz dem Rausch des tödlichen Kampfs hingegebene Krieger trifft auf sich selbst in der Form seines Bruders, er zerstört diese Form und verschwindet bald darauf selbst aus dem Epos. Als aktiv Handelnder kehrt Rennewart nach seinem Brudermord nur noch einmal kurz zurück: Im Chaos der Flucht erschlägt er Dedalün (Vv. 444,22-27), einen weiteren seiner Brüder, 71 er wiederholt also die sündenbelastete Tat und häuft gleichsam doppelte Schuld auf sich - was jedoch wieder nur dem Publikum klar wird. Danach wird er kurz als passiver „Beobachter der Situation der Christen" 72 erwähnt (Vv. 445,1-5) und dann vergessen. Auch hier zeigt sich wieder eine ungleiche Parallele zwischen Vivianz und Rennewart: Beide „verschwinden" aus dem Epos, der erste stirbt den christlichen Märtyrertod, der zweite geht im Kampfgetümmel verloren. Und doch ist Vivianz' Verschwinden weitaus weniger endgültig als dasjenige Rennewarts: Vivianz verläßt die epische Handlung unter Wundern an einem topographisch genau bezeichneten Ort und wird auf dem Wege der memoria73 immer wieder in das Gedächtnis von Heimrtchs Geschlecht zurückgeholt

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Die enge verwandtschaftliche Beziehung zwischen Rennewart und Dedalün wird zumeist übersehen (vgl. zuletzt HUMPHREYS [Anm. 17], S. 1 3 2 ) : Dedalün ist der Fahnenträger des Terramer-Enkels Poidjus (Vv. 375,22f.) und zugleich dessen Onkel mütterlicherseits, wie der Erzähler in seiner Todesszene verrät: Tedalünen er resluoc, / der ime stürme manttche truoc / sines swestersunes vanen (Vv. 444,25-27). Als Bruder einer Terramer-Tochter ist er - einfacher ausgedrückt - ein Sohn Terramers und damit Rennewarts Bruder. E.-J. SCHMIDT, Stellenkommentar zum IX. Buch des 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach, Bayreuth 1979, (Bayreuther Beiträge zur Sprachwissenschaft 3), S. 398. Zur Diskussion um diesen Begriff vgl. z.B. die folgenden Sammelbände und Monographien: Memoria als Kultur, hg. von O.G. OEXLE, Göttingen 1995, (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte 121); H. WENZEL, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995; Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von D. GEUENICH / O . G . OEXLE, Göttingen 1 9 9 4 ; Memoria. Vergessen und Erinnern, hg. von A . H A VERKAMP / R . LACHMANN, München 1 9 9 3 , (Poetik und Hermeneutik 15); Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hg. von A. ASSMANN / D. HARTH, Frankfurt a.M. 1 9 9 1 ; Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, hg. von S.J. SCHMIDT, Frankfurt a.M. 1991; M.J. CARRUTHERS, The Book of Memory. Α Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990; Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von K. SCHMID / J. WOLLASCH, München 1 9 8 4 , (Münstersche Mittelalter-Schriften 4 8 ) .

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(Vv. 165,12f.; 171,8-13; 183,12-15; 206,15-18); Rennewarts Spur dagegen verliert sich in einem Sandsturm irgendwo auf dem Schlachtfeld von Alischanz, und es ist einzig und allein Willehalm, der sich seiner erinnert und um ihn klagt (Vv. 452,1517) und der deswegen auch noch abgemahnt wird (Vv. 457,3-11). Ob sich in dem Sandsturm, der das Schlachtfeld verdunkelt und so das präzise Erzählen unmöglich macht (Vv. 443,3-12), tatsächlich hinterszenisch ein Kampf zwischen Terramer und seinem verlorenen Sohn abspielt, der mit Rennewarts Tod endet, 74 scheint mir letztlich unerheblich - und zudem durch die sehr allgemeinen Andeutungen in Vv. 443,4f. kaum gestützt zu sein. 75 Auffallig bleibt dagegen, „wie knapp Wolfram über den Kampf der Brüder berichtet: kein auch noch so kurzer weiterer Erzählerkommentar bespricht die schicksalsträchtige Tat; der Erzähler übergeht sie - ebenso wie vorher den Kampf Willehalms mit dem Vater Gyburcs - mit Schweigen." 76 Aus dieser Zurückhaltung des Erzählers hat K N A P P geschlossen, Wolfram wolle „die Tötung gerade dieses Bruders als zufällig erscheinen lassen" 77 . Doch kann sie auch der erzählerischen Konzentration der Schlachtschilderung geschuldet sein, die in diesem spannungsgeladenen Moment keine Retardierung in Form einer Erzählerinterpolation duldet. Die Schwere von Rennewarts Tat wird dem Publikum auch ohne eine ausfuhrliche Darstellung des Schuldbewußtseins oder der Verweigerung eines Schuldgefühls der Figuren hinreichend deutlich, und sei es nur durch sein Verschwinden aus dem Text. Die erzählerischen Möglichkeiten und Angebote der Rennewart-Figur sind ausgeschöpft, die Frage, ob Wolfram ihn später ins Epos zurückholen wollte 78 oder ob er seine Figur hier ein für alle Mal aus dem Werk nimmt, weil diese ihre Aufgabe als Werkzeug Gottes erfüllt hat, 79 kann aufgrund

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Vgl. W. HARMS, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300, München 1963, (Medium Aevum 1), S. 105. Wenn der Erzähler sagt: wie diu vluht dd geriet? / wie daz kint von sime vater schief? / wie schiel der vater von 'me kint? / seht, wie den stoup der starke wint / her und dar zetribe (Vv. 443,3-7), dann bedient er sich hier wie auch in Vv. 438,14f. und 446,12-15 des Bilds von engen Verwandten, die einander verlieren, um die chaotische Flucht der besiegten Muslime zu illustrieren, die in ihrem ungeordneten Rückzug noch nicht einmal auf ihre nächsten Verwandten achten können; vgl. dazu auch H.-H. PÜTZ, Die Darstellung der Schlacht in mittelhochdeutschen Erzähldichtungen von 1150 bis um 1250, Hamburg 1971, S. 147; H.H. STEINHOFF, Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse im mittelhochdeutschen Epos. Studien zur Entfaltung der poetischen Technik vom 'Rolandslied' bis zum 'Willehalm', München 1964, (Medium Aevum 4), S. 33. SCHMIDT [ A n m . 7 2 ] , S. 3 7 3 . KNAPP [ A n m . 3], S . 114.

Vgl. LOFMARK [Anm. 3], S. 243. Dafür sprechen z.B. uneingelöste Ankündigungen zukünftiger Geschehnisse in Vv. 291,2f. und 420,22. Vgl. HARMS [Anm. 74], S. 105f.; J. BUMKE, Wolframs 'Willehalm'. Studien zur Epenstruktur und zum HeiligkeitsbegrifF der ausgehenden Blütezeit, Heidelberg 1959, S. 48f.

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der ungeklärten Frage nach dem Gesamtcharakter des 'Willehalm' nur in Form der Hypothese beantwortet werden. 80

V. Die Selbstvergessenheit des Kriegers Es läßt sich festhalten, daß in der Figur Rennewarts die Verwandtschaftsproblematik kulminiert. Ähnlich wie Giburc könnte der muslimische Prinz eine Brücke zwischen den beiden großen Gentilverbänden des 'Willehalm' bilden, doch diese wird nicht beschritten, Rennewart wird zum „Anti-Feirefiz" 81 : Sozial und geographisch disloziert, lehnt er den Weg durch das Taufbecken zur Wiederherstellung seiner sozialen Stellung aus genealogischen Gründen ab und ist daher gezwungen, seine Abkunft durch den - willentlich eingegangenen - tödlichen Kampf gegen die eigenen Blutsverwandten zu erweisen. Die Figur, für die die triuwe der Sippe nach eigener Aussage den höchsten Wert darstellt - noch höher als die Frage nach der „wahren" Religion - , verstrickt sich durch ihren zweifachen Brudermord am tiefsten von allen Figuren in die Tragik des Verwandtenkampfs. Rennewart wird zu einer tragischen Figur, weil er das Kriegerische der mittelalterlichen Adelsgesellschaft zum einzigen, ja zum Wert an sich erhebt und dadurch gezwungen ist, andere Bedingungen seiner und der Existenz derer, in dessen Mitte er sich etablieren will, zu mißachten, zu vergessen. Rennewarts „negative Mnemonik" 82 , die geprägt ist durch gewaltsame Einschnitte, Selektionsprozesse, Zensur und Uminterpretation, ermöglicht es ihm, ritterliches Leben auf ein Leben des beständigen Kampfs zu verengen - in dem Moment, wo der Kampf zumindest zeitweise ein Ende hat, verschwindet er, da seine inhärente Sprengkraft durch die pazifizierte Adelsgesell80

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Zu ausfuhrlichen Diskussionen über die mögliche Schlußgestaltung vgl. HUMPHREYS [Anm. 17], S. 166-183; SCHMIDT [Anm. 72], S . 385-387, 396f. u. 574-587; U . PÖRKSEN / B. SCHIROK, Der Bauplan von Wolframs 'Willehalm', Berlin 1976, (Philologische Studien und Quellen 83), S. 46-64; LOFMARK [Anm. 3], S. 210-243. Zu jüngeren Ansätzen, die im 'Willehalm' ein vollendetes Fragment sehen, dessen dissonantes Ende seinen Rezipienten bewußt Raum für eigene Schlußfolgerungen lasse, vgl. U. LIEBERTZ-GRÜN, Das trauernde Geschlecht. Kriegerische Männlichkeit und Weiblichkeit im 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach, in: GRM N.F. 46 (1996) 383-405, hier S. 405; C. ORTMANN, Der utopische Gehalt der Minne. Strukturelle Bedingungen der Gattungsreflexion in Wolframs 'Willehalm', in: PBB 115(1993) 86-117, hierS. 116. F.P. KNAPP, Heilsgewißheit oder Resignation. Rennewarts Schicksal und der Schluß des 'Willehalm', in: DVjs 5 7 ( 1 9 8 3 ) 5 9 3 - 6 1 2 , hier S. 6 1 1 . R. LACHMANN, Die Unlöschbarkeit der Zeichen. Das semiotische Unglück des Mnemonisten, in: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hg. von A. HAVERKAMP / R. LACHMANN, Frankfurt a.M. 1 9 9 1 , S. 1 1 1 - 1 4 0 , hier S. 1 3 5 . An Wolframs Rennewart-Figur zeigt sich einmal mehr, „daß das Gedächtnis sowohl Erinnern als auch Vergessen umfaßt und es gerade diese gegenläufigen Kräfte sind, die es in seiner Wirkweise bestimmen. Diese wiederum beschränkt sich [...] nicht auf eine Sicherung von Kontinuität; sie erstreckt sich gleichermaßen auf die Herstellung und Koordinierung von Gegenwärtigkeit" (REMSCHEID [Anm. 57], S. 190).

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schafit nicht aufgefangen oder umgelenkt werden kann.83 Nur der andere „ewige Krieger" des 'Willehalm' betrauert sein Verschwinden - dem übrigen Personal fällt sein Vergessen leicht.84 Doch Rennewart ist nicht nur zu gefährlich für die Hofgesellschaft in der Erzählung, sondern auch für die Erzählung selbst, die beständig die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen verwandtschaftlicher Verbundenheit und triuwe umkreist. Eine Figur, die ein Verbindungspunkt zweier Gentilverbände sein könnte und zugleich diese Verbindung durch ihr Handeln ad absurdum führt, ist eine zu belastende Option, als daß sie letztlich nicht aus der Erzählung verschwinden müßte.

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Dagegen sieht T. EHLEN, Kampf der Ritter und Krieg der Sterne - zum poinder, der sippe und der hant Gottes in Wolframs 'Willehalm', in: Als das wissend die meister wol. Beiträge zur Darstellung und Vermittlung von Wissen in Fachliteratur und Dichtung des Mittelalters und der frühen Neuzeit (FS W. Blank), hg. von M. EHRENFEUCHTER / T. EHLEN, Frankfurt a.M. 2000, S. 169-194, hier S. 178, Anm. 26 u. 193, in der Rennewart-Figur die Utopie eines universalen Christentums angedeutet. Es ist zumindest erwägenswert, das Fehlen einer expliziten Erwähnung Rennewarts in Willehalms Worten an Matribleiz als Hinweis darauf zu deuten, daß hier auch der Markgraf selbst bereits beginnt, seinen vriunt durch Verschweigen dem Vergessen anheimfallen zu lassen.

Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur v o n JÜRGEN WOLF

Kurz nach der 'höfischen' Modernisierung der 'Kaiserchronik' (B-Fassung) und kurz vor der Neufassung von Konrads 'Rolandslied' 1 , der ersten deutschen Chanson de geste-Adaption, durch den Stricker, entsteht mit Wolframs von Eschenbach 'Willehalm' (um 1210/20) eine zweite deutsche Chanson de geste-Bearbeitung. Durchaus in Analogie zur vorausgehenden 'Kaiserchronik B' und dem bald folgenden 'Karl' zeigt sich der 'Willehalm' neuen stilistischen und darstellungstechnischen Erfordernissen verpflichtet bzw. setzt seinerseits neue Maßstäbe, was Sprachkunst, Aufbau und Stil betrifft. KIENING macht in der Nachfolge HAUGS2 auf ein weiteres Moment aufmerksam, das im vorliegenden Zusammenhang besonders interessiert: „Die auch ansonsten in der Zeit beobachtbare Tendenz zur Historisierung brauchte Wolframs Werk, das man vor dem Hintergrund der vorausgehenden Artus- und Gralsromane selbst als 'Wende zur Geschichte' einstufen kann, keine Gewalt anzutun, brauchte keine kühnen Klitterungen vorzunehmen, nur die verstreuten und meist vage belassenen historischen Anknüpfungspunkte des Textes zu konkretisieren und leicht zu modifizieren." 3 Diese Beobachtung ist von zentraler Bedeutung, erfordert aber doch einige klärende Anmerkungen: KIENING und HAUG unterschätzen bei der Bewertung der literarischen Situation während der ersten zwei Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts, daß beispielsweise schon Lamprechts 'Alexander', Heinrichs von Veldecke 'Eneas'-Roman 4 und Herborts von Fritzlar 'Liet von Troye', ja sogar Wolframs 'Parzival' unzweifelhaft

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Zur Präsenz des 'Rolandslieds' im 'Willehalm' vgl. zusammenfassend C. KIENING, Reflexion - Narration. Wege zum 'Willehalm' Wolfram von Eschenbachs [!], Tübingen 1991, (Hermaea NF 63), S. 86-94; J. BUMKE, Wolfram von Eschenbach, in: 2VL 10 (1999) Sp. 1376-1418, hier Sp. 1400f. W. HAUG, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, Darmstadt 2 1992, S. 179-196; vgl. dazu C. KIENING, Der 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach in karolingischem Kontext. Formen narrativ-historischer Aneignung eines 'Klassikers', in: Studien zur 'Weltchronik' Heinrichs von München 1: Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte, hg. v o n H . BRUNNER, W i e s b a d e n 1 9 9 8 , ( W i s s e n s l i t e r a t u r i m M i t t e l a l t e r 2 9 , 1 ) , S. 5 2 2 - 5 6 8 , hier S. 5 2 8 , Anm. 2 7 . KIENING [ A n m . 1], S. 5 2 8 .

Vgl. K. OPITZ, Geschichte im höfischen Roman. Historiographisches Erzählen im 'Eneas' Heinrichs von Veldeke, Heidelberg 1998, (GRM-Beiheft 14).

Jürgen Wolf historiographische Züge tragen; 5 auch sind die alte 'Kaiserchronik' (A) und Konrads 'Rolandslied' - zwei direkt der Historiographie verpflichtete Werke - noch vor den Artusepen oder Antikenromanen die 'Bestseller' selbst der vermeintlich neuen Zeit. Tab. 1 Höfische 'Bestseller' (Überlieferung bis 1240 zusammengestellt nach den Erträgen des 'Marburger Repertoriums')

Kaiserchronik A + B Parzival R o l a n d s lied Eneas-Roman Iwein

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N e u ist die Tendenz zur Historisierung also keinesfalls, nur scheint sich Wolfram mit seiner Entscheidung für die 'Chanson d'Aliscans' vielleicht mehr als bisher der Geschichtsschreibung zugewandt zu haben. Im folgenden wird zu klären sein, inwieweit sich Wolfram auf die 'Geschichte' einläßt, was bei ihm HeiligenMemoria, was Legende, was Geschichtsschreibung und was höfische Literatur, was Fürstenspiegel, was Repräsentationskunst ist. 5

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Vgl. zur Diskussion um Historizität vs. Fiktionalität in der höfischen Literatur zuletzt B.G. GRÜNKORN, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994, (Philologische Studien und Quellen 129); B. BURRICHTER, Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jahrhunderts, München 1996, (Beihefte zu Poetica 21); F.P. KNAPP, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997; K. RIDDER: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion und Geschichte im späthöfischen Roman, Berlin 1998, (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12 [246]), S. 147-154 (mit einem Ausblick auf das späte 13. und 14. Jahrhundert) sowie kritisch zusammenfassend F.P. KNAPP, Historiographisches und fiktionales Erzählen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von F. WOLFZETTEL, Tübingen 1999, S. 3-22. Mit den zeitgenössischen theoretischen Überlegungen zu diesem Grundproblem von Literatur/Geschichtsschreibung setzt sich P. VON Moos intensiv auseinander; vgl. ders., Poeta und Historicus im Mittelalter, in: PBB 98 (1976) 93130.

Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur

I. Die Vorlage: 'Chanson d'Aliscans' Wie der Pfaffe Konrad ein halbes Jahrhundert zuvor greift Wolfram auf eine alte französische Chanson de geste als Vorlage zurück: die 'Chanson d'Aliscans'. Und wieder handelt es sich bei dem adaptierten Stoff um ein Karlsepos mit Heidenkriegsthematik und einem heiligen Protagonisten. Historischer Hintergrund sind die Kämpfe des von Karl dem Großen zum Grafen von Toulouse und Herzog von Aquitanien ernannten Wilhelm Guillaume gegen die Heiden in der Provence (793) und in Spanien (803). Nach dem erfolgreichen Feldzug gegen Barcelona wird Wilhelm Mönch in der Abtei Aniane. 806 wechselt er in das von ihm selbst gestiftete Benediktinerkloster Gellone. In Schriftstücken zur Stiftung werden Wilhelms zwei Ehen erwähnt: Seine erste Frau hieß Witburgh - Vorbild für den Namen Gyburc in den Epen? Unmittelbar nach seinem Tod (813) setzte in Südfrankreich seine Verehrung ein. Im 11. Jahrhundert erhielt die bereits weit über den lokalen Wirkungskreis des Herzogs von Aquitanien etablierte Memorialkultur um den idealen und letztendlich heiligen Ritter ihre institutionelle Beglaubigung von höchster Stelle: Wilhelm wurde 1066 von Papst Alexander II. kanonisiert.6 Die Grundlage für eine breite, auch schriftliterarische, Rezeption des Stoffes war gelegt. Das Interesse an einer umfassenden schriftlichen Ausformung der Geschichte scheint dabei nahezu zeitgleich auf geistlicher und weltlicher Seite zu größeren lateinischen und volkssprachlichen Texten/Textensembles gefuhrt zu haben. Im Zusammenhang mit der Entstehung der ersten volkssprachlichen Wilhelms-Epen spielt beispielsweise die um 1125/1130 im Kloster Gellone verfaßte lateinische 'Vita sancti Guillelmi ducis' 7 eine gewisse Rolle, bietet sie doch einige ahistorische Berichte (z.B. zu Wilhelm in Orange), die die späteren Chansons de geste prägen. Wahrscheinlich wurden lateinische Vita und französisches Chanson etwa gleichzeitig, vielleicht sogar in wechselseitiger Abhängigkeit, auf den Weg gebracht: Aus weltlich-ritterlicher Perspektive erschien die Konturierung eines idealen, heiligen Ritters überaus attraktiv; aus geistlich-klösterlicher die eines miles christianus, eines (Ritter)heiligen und Klostergründers. In der Durchdringung 6

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Zum Leben Wilhelms vgl. The Song of Aliscans, transl. by Μ. A. NEWTH, New York 1992, (GLML 85, B), S. XI-XIV; L.C. BROOK, Guillaume d'Orange: an Overview, Wodan 63 (1996) 11-20, hier S. 1 If. u. 20, Anm. 1 (mit bibliographischen Hinweisen) sowie zu den Quellen bzw. Vorlagen der gesamten Geschichte um die Monglaner Sippe M. HEINTZE, König, Held und Sippe. Untersuchungen zur Chanson de geste des 13. und 14. Jahrhunderts und ihrer Zyklenbildung, Heidelberg 1991, (Studia Romanica 76), S. 255-293, sowie ebd. die Stammtafeln I-III, XXXII (Monglaner Sippe). E. KLEINSCHMIDT, Literarische Rezeption und Geschichte. Zur Wirkungsgeschichte von Wolframs 'Willehalm' im Spätmittelalter, in: DVjs 48 (1974) 585-649, hier S. 634f. (ebd. Anm. 225 Nachweis der Ausgaben).

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beider Aspekte gepaart mit der seit langem etablierten oralen Memorialkultur erklärt sich der überragende Erfolg. 8 Insgesamt entstanden im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts mindestens 35 Chansons de geste, in denen besagter Graf Wilhelm von Toulouse zumindest eine Rolle spielt. Um den Kern der Geschehnisse gruppiert sich bald ein Zyklus von vielleicht neun oder zehn Epen. 9 Die Vorgeschichte wird in 'Couronnement de Louis' (um 1131/1137), 'Charroi de Nimes' (um 1130/1140) und 'Prise d'Orange' (4. Viertel 12. Jahrhundert) berichtet. 10 Im Zentrum steht die .Chanson d'Aliscans' (um 1190). Von einer weiteren großen Schlacht erzählt die 'Bataille Loquifer'. Wilhelms Eintritt in das Kloster ist Gegenstand der 'Moniage de Guillaume' (um 1170/90). In der 'Moniage Rainouart' vollzieht Guiborcs Bruder Rainouart den gleichen Schritt. Zwei weitere Epen rücken Vivien in den Mittelpunkt: 'Enfances Vivien' und 'Chevalerie Vivien'. Später tritt noch die 'Enfances Guillaume' (nach 1200) mit den Jugendtaten Wilhelms hinzu. Ebenfalls in diesen Kontext gehört die singulär, außerhalb des Zyklus überlieferte 'Chanson de Guillaume' (um 1140)." Charakteristisch ist, daß Einzelüberlieferung der Epen praktisch nicht vorkommt. Stets um die 'Chanson d'Aliscans' als Handlungszentrum gruppieren sich schon in den ältesten Textzeugen mehr oder weniger viele weitere Epen. 12 Einzig eine jüngere Venezianische Handschrift (Venedig, Codex Marcianus, fr. VIII) fallt aus dem Rahmen. Sie enthält nur die 'Chanson d'Aliscans'. Auf diese franko-italienische Handschrift wird unten (S. 230) noch näher einzugehen sein, steht sie doch Wolframs 'Willehalm' auffällig nahe. 13

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13

226

Zur problematischen Beziehung der beiden Sphären Kloster und Welt des Rittertums zueinander vgl. HEINTZE [Anm. 6 ] , bes. S. 6 9 - 7 3 . Eine Zusammenstellung entsprechender Epen bietet M. TYSSENS, La Geste de Guillaume d'Orange dans les Manuscrits Cycliques, Paris 1967, (Bibl. de la Faculte de Philosophie et Lettres d l'Universite de Liege 1 7 7 ) , S. 3 9 Tab. 1; vgl. dazu den Überblick von D . BOUTET, Wilhelmsepen, in: LMA 9 ( 1 9 9 9 ) Sp. 1 9 8 - 2 0 0 . Zur Datierung vgl. Wilhelmsepen, eingel. von M. HEINTZE, übers, von B. HESSE, München 1993, (Klass. Texte des rom. Mittelalters 22), S. 25f. Vgl. Chanson de Guillaume, übers., eingel. und mit Anm. vers, von B. SCHMOLKEHASSELMANN, München 1983, (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 20), S. 14f. Überlieferung: 13 Handschriften (11 aus dem 13. und 2 aus dem 14. Jahrhundert) und 3 Fragmente. Ein Schwergewicht der Überlieferung mit 7 Textzeugen liegt im frühen 13. Jahrhundert - genau in der Zeit, als Wolfram den Text für seine Adaption nutzte. Zur Überlieferung vgl. Aliscans, publie par C. REGNIER, Tome 1, Paris 1990, S. 7f.; HEINTZE / HESSE [Anm. 10], S. 26f., sowie detailliert TYSSENS [Anm. 9], S. 327-458, und speziell zu den frühen Handschriften: Inventaire systematique des premiers documents des langues romanes (Script Oralia 100, I-V), ed. par Β. FRANK / J. HARTMANN, avec la collab. de Η. KÜRSCHNER, Tübingen 1997, N° 4004,4010,4013,4017,4023. Vgl. Wolfram von Eschenbach 'Willehalm', Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, hg. von J. HEINZLE, Frankfurt a.M. 1991, (Bibliothek des Mittelalters 9), S. 797, sowie detailliert zum Codex: La versione franco-italiana della 'Bataille d'Aliscans': Codex Marcianus fr. VIII [= 252], hg. von G. HOLTHUS, Tübingen 1985, (Beihefte zur Zs. für romanische Philologie 205).

Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und

Memorialkultur

Der Stoff wird in den 1130er Jahren mit der schriftlichen Fixierung in der lateinischen Vita und den ersten volkssprachlichen Wilhelms-Epen endgültig aus seinem mündlichen Tradierungsumfeld herausgelöst und für die lateinische Hagiographie wie die volkssprachliche (französische) Geschichtsdichtung fruchtbar gemacht. Der ambivalent historiographisch-hagiographische Charakter findet auch in der bald einsetzenden Zyklusbildung seinen Ausdruck. Dort wird das Leben des Protagonisten von der Kindheit bis zum Tod im Kloster im Stil einer Heiligenvita nachgezeichnet und zugleich in einem gesamthistorischen Rahmen, in der Karolingerzeit, verankert. Im Typus von Heiligenverehrung und Darstellung zeigen sich die Wilhelms-Epen dabei den etwa gleichzeitigen volkssprachlichen Heiligenleben und Heiligenlegenden wie 'Vie de saint Alexis', 'Vie de sainte Catherine', 'Vie de saint Thomas Becket', Waces 'Vie de sainte Marguerite' und 'Vie de saint Nicolas' verwandt 14 und typologisch den vorausgehenden lateinischen Heiligenviten wie der 'Vita S. Geraldi' oder der schon mit epischen Momenten durchsetzten 'Conversio Othgeri militis' und eben jener 'Vita sancti Guillelmi ducis' verpflichtet. Auch Gestaltung und Ausstattung gerade der frühen 'Aliscans'Handschriften (F, S, Ars, Cambridger Fragment; St. Petersburger Fragment 15 ) erinnern auffallig an entsprechende Textzeugen der Heiligenlegenden und -viten: Kleinformate, einspaltig, sparsame Ausstattung. 16 Exkurs: Der historiographische Charakter der französischen Chansons de geste Kennzeichen aller französischen Chanson de geste 17 ist ihre Bindung an mündliche, heroische oder legendarische Erzähltraditionen gepaart mit einem unmittelbaren Bezug zur Geschichte. Sie sind gleichsam verschriftlichte mündliche Geschichtsdichtung. Die Chansons de geste stehen damit in direkter Nähe zu den etwa gleichzeitig populär werdenden volkssprachlichen französischen Reimchroniken. Die Überschneidungen spiegeln sich deutlich in der zeitgenössischen

14

Vgl. durchaus exemplarisch T. PETERS, Elements of the Chanson de geste in an Old French Life of Becket: Garnier's Vie de Saint Thomas le Martyr, in: Olifant 18 (1993/1994) 278288.

15

B e s c h r e i b u n g in Inventaire [Anm. 12], N ° 4 0 0 4 , 4010, 4013, 4017, 4023.

16

Die enge Verbindung beider Genres kommt auch darin zum Ausdruck, daß sich das Kloster Gellone Mitte des 13. Jahrhunderts intensiv für den Guillaume-Zyklus interessiert; vgl. unten zur aus dem Kloster stammenden 'Aliscans'-Handschrift A1 (Paris, BN, fr. 774). Zum Bedeutungsspektrum des altfranzösischen Begriffs geste vgl. Altfranzösisches Wörterbuch 4 (1960) Sp. 288-295, sowie P. DAMIAN-GRINT, Estoire as Word and Genre: Meaning and Literary Usage in the twelfth century, in: Medium /Evum 66 (1997) 189-206. Für den hier skizzierten Zusammenhang bedeutungsvoll ist die bei Wace ('Roman de Brut' und 'Roman de Rou') belegte Nutzung des Begriffs im historiographischen Sinn als 'Quelle', 'Geschichtsaufzeichnung' bzw. 'Aufzeichnung der Taten des ...'. Vgl. allg. zum mittelalterlichen Gattungsverständnis B. FRANK, 'Innensicht' und 'Außensicht'. Zur Analyse mittelalterlicher Gattungsbezeichnungen, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von P. DAMIAN-GRINT u.a., Tübingen 1997, (ScriptOralia 99), S. 117-135, hier bes. S. 127 mit einer Übersetzung der Gattungsbezeichnungen, die Waces Verständnis recht nahe kommt: livre = „Text in Buchform"; estoire = „Text über (reale) Ereignisse"; geste = „Text über die Taten eines (historischen) Helden/einer Sippe".

17

227

Jürgen Wolf Terminologie wider: Wace charakterisiert im Prolog seines 'Roman de Rou' beispielsweise die Begriffe livre, gesle und estoire gleichermaßen als historiographische Termini und erklärt im 'Roman de Brut' auch explizit die Bedeutung. „Wace makes clearer the distinction between the two terms: his '90 dit l'estoire de la geste' (line 10,360) can be translated 'thus says the (historical) narrative out of the gesta', gesta having its usual sense of 'Latin source', while estoire indicates the narrative extracted from that source. [...] Wace suggests in his prologue to the Roman de Rou III that any literary work of the twelfth century which refers to itself as an estoire, a geste or a livre may be claiming for itself the status of historiography".18 Insgesamt wird man beide Formen - Chanson de geste wie Reimchronik - als zwei Spielarten volkssprachlicher Geschichtsaufzeichnung verstehen dürfen. 19 Ganz in diesem Sinne umschreibt Wolframs Zeitgenosse Jean Bodel (f 1210) im Prolog seiner 'Chanson des Saisnes' den Charakter von Chanson de geste in Abgrenzung zur 'leeren' und 'unterhaltenden' Artusepik als 'wahr' (vraie) und 'gelehrt' bzw. 'nützlich' (sage). 20 Zum Verständnis der Chansons de geste ist der Umstand von elementarer Bedeutung, daß die französisch-anglonormannische Geschichtsschreibung bzw. Geschichtsdichtung des 12. Jahrhunderts generell nur im Einflußbereich dynastisch-politischer Interessen zu verstehen ist. Die Werke Gaimars, Waces und Benoits sind ebenso wie die frühen Chansons de geste massiven äußeren Einflüssen (dem Wollen der Auftraggeber bzw. intendierten Rezipienten) unterworfen. Sie sind - und das wird von den Verfassern in Widmungen und Gönnerpassagen genau so artikuliert - Teil eines vielschichtigen Interessengeflechts. Auch in unserem Fall ist die Memoria um den heiligen Ritterhelden Wilhelm von Toulouse nur ein Beweggrund fur Aufzeichnung und Tradierung. Verkleidet in die Heiligen-Memoria wird auch, vielleicht sogar primär, politisch-dynastische Propaganda transportiert. In der Chanson d'Aliscans spielt neben der mit dem Karlsmythos verknüpften

französischen

'Nationalidee' ('douce

France') beispielsweise die in der exponierten Stilisierung des rois loys faßbare Kritik am aktuellen französischen Königtum und die in der Guillaume-Figur angelegte Idealisierung der Fürsten eine zentrale Rolle. 2 1 Man wird bei der Bewertung der 'Chanson d'Aliscans' (wie prinzipiell bei allen Werken) eine so herauspräparierte Intentionalität jedoch vorsichtig zu beurteilen haben, denn die Interessen v o n Auftraggebern) und Autor(en) bilden sich in der Werktradierung eher selten in einem 1:1-Verhältnis ab. Uberlieferung und Rezeption gehen eigene Wege. Nur zu oft wirken sich ändernde Geschmäcker oder ein Wandel der politischen

18

19

20

21

228

DAMIAN-GRINT [Anm. 17], S. 191,195,198 (Zitat). Vgl. zustimmend O. ROTH, Die Geschichtsschreibung in Frankreich. Der Beginn der ProsaHistoriographie, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 8: Europäisches Spätmittelalter, hg. von W. ERZGRÄBER, Wiesbaden 1978, S. 607-621, hier S. 608. Jean Bodel, La Chanson des Saisnes, hg. A. BRASSEUR, Genf 1989, (Textes Litteraires Francis 369). Vgl. P. FRANCE, The new Oxford Companion to Literature in French, Oxford 1995, S. 148. Vgl. M.W. HELLMANN, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politische Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Annolied - Kaiserchronik - Rolandslied - Herzog Ernst - Wolframs 'Willehalm', Bonn 1969, S. 148-151, sowie insb. zur Zeichnung des schwachen französischen Königs loys ebd. S. 210-212, und K.-H. BENDER, König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de Geste des XII. Jahrhunderts, Heidelberg 1967, (Studia Romanica 13); HEINTZE [Anm. 6], S. 87-92, 126f., 203-205.

Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur

Verhältnisse, Ideen der Schreiber/Auftraggeber sowie Überlieferungsbesonderheiten massiv auf die Texte bzw. Textensembles aus. Ein ursprünglich vielleicht austariertes Zusammenspiel von Heiligen-/Helden-Memoria, Geschichtsaufzeichnung und zeitgenössischer Propaganda kann so in einzelnen Handschriften mitunter ganz in die eine oder andere Richtung verschoben sein. Auch bei der 'Chanson d'Aliscans' lassen sich graduelle Unterschiede in der mehr memorialen, mehr legendarischen, mehr historiographischen oder mehr politisch-propagandistischen Ausrichtung einzelner Manuskripte erkennen. Neben der typischen Situierung im Guillaume-Zyklus, wie sie durchweg in allen jüngeren Handschriften begegnet (A1, A2, A 3 , A4, B1, B2, C, D, E), bieten insbesondere die Textzeugen aus der Zeit Wolframs von Eschenbach durchaus unterschiedliche Inhaltskonzepte: Der Pariser Codex Arsenal 6562 22 (Ars) scheint mit seiner Zusammenstellung von 'Aliscans', 'Bataille Loquifer', 'Moniage Rainouart' und 'Moniage Guillaume' vielleicht am ehesten auf den Gedanken der ritterlichen Idealität gepaart mit der Idee der Ritterheiligkeit ausgerichtet. Im Pariser Codex fr. 2494 (F) 23 mit 'Chanson d'Aliscans' und 'Bataille Loquifer' dreht sich alles um die Schlachten, und im Oxforder Codex 24 (S) erscheint in der Verbindung von 'Chevalerie Vivien' und 'Chanson d'Aliscans' die Vivien-Figur bzw. der ideale Ritter herausgehoben. In der Mehrzahl der Handschriften dominiert jedoch das - eventuell mit schwer festzumachenden zeitgeschichtlichen Ambitionen durchsetzte - höfisch-ritterliche Element. 25 Am Schluß der Entwicklung stehen großformatige, jeweils mehrere hundert Blätter umfassende, bisweilen kostbar illuminierte Zyklushandschriften, die in letzter Konsequenz bereits Züge von Repräsentationsobjekten, von Fürstenspiegeln tragen. Doch selbst bei diesen sog. 'court-manuscripts' wird man den hagiographischen Aspekt, die Heiligenmemoria, nicht außer acht lassen dürfen: Eine der ältesten und kostbarsten Handschriften dieses Typs wurde Mitte des 13. Jahrhunderts beispielsweise im Wilhelm-Kloster Gellone angefertigt bzw. dort in Auftrag gegeben. Das Buch sollte die WilhelmGeschichte in all ihren Facetten dokumentieren und in seiner glanzvollen Ausstattung dem Heiligengedenken zugleich einen würdigen Rahmen geben. 26 Höfische Repräsentationskunst fließt mit klösterlichem Heiligen- bzw. Stifterkult in eins.

22

Inventaire [Anm. 12], N° 4017 ; Inventaire [Anm. 12], N° 4023.

2 3

TYSSENS [ A n m . 9], S. 4 1 7 .

24

Inventaire [Anm. 12], N° 4013. Zu den Textsynthesen in den Handschriften vgl. TYSSENS [Anm. 9], S. 41-45 (Tab. 2-4) sowie S. 327-458. Nach H. SUCHIER, Le Manuscrit de Guillaume d'Orange, in: Romania 2 (1873) 335f. stammt die prachtvoll illustrierte Zyklushandschrift A1 (Paris, BN, fr. 774) aus dem Kloster Gellone und wurde dort eventuell sogar angefertigt.

25

26

229

Jürgen Wolf

II. Wolfram von Eschenbach: 'Willehalm' W a s für eine Variante der 'Aliscans'-Handschriften Wolfram v o n Eschenbach vorlag, läßt sich bisher nicht erschließen. Er nutzte aus d e m Guillaume-Zyklus für sein ' W i l l e h a l m ' - E p o s jedenfalls nur den Mittelteil mit den Schlachten

auf

Alischanz. Ob W o l f r a m weitere Teile des Zyklus kannte, o b er bewußt auswählte oder s e i n e Quelle eventuell nur einen Torso enthielt, ist unklar. 2 7 Es spricht allerdings einiges dafür, daß ihm tatsächlich gerade kein umfänglicher Zyklus vorlag, denn die großen Zyklushandschriften tauchen in Frankreich frühestens Mitte des 13. Jahrhunderts - also lange nach Fertigstellung des 'Willehalm' - auf. Vorher dominieren Handschriften mit höchstens z w e i oder drei Werken und j e w e i l s der 'Chanson d ' A l i s c a n s ' als Haupttext. D i e Wolframs 'Willehalm' am nächsten steh e n d e Handschrift, der V e n e z i a n i s c h e C o d e x Μ aus d e m späteren 13. Jahrhundert, überliefert nur die 'Chanson d ' A l i s c a n s ' . 2 8

Tab. 2 Anfange der Überlieferung des französischen Guillaume-Zyklus

27

28

230

Sigle

Datierung

Inhalt

-

um 1200

Fragment: 'Chanson d'Aliscans'

-

um 1200

Fragment: 'Chanson d'Aliscans'

Ars

1. Viertel 13. Jh.

'Chanson d'Aliscans' + 'Bataille Loquifer' + 'Moniage Rainouart' + 'Moniage Guillaume'

S

1. Hälfte 13. Jh.

'Chevalerie Vivien' + 'Chanson d'Aliscans'

F

2. Viertel 13. Jh.

'Chanson d'Aliscans' + 'Bataille Loquifer'

Μ

2. Hälfte 13. Jh.

'Chanson d'Aliscans'

V g l . zur Q u e l l e n f r a g e z u s a m m e n f a s s e n d HEINZLE [Anm. 13], S. 797; BUMKE [Anm. 1], Sp.

1406f., und zu den 'Aliscans'-Handschriften aus der Zeit Wolframs oben Tab. 2. Nach HEINZLE gibt es „eine Reihe von Indizien, die es nahe legen, mit weitergehender Kenntnis der französischen Tradition beim Dichter und seinem Publikum zu rechnen." Insbesondere die Andeutungen am Schluß des 'Willehalm' lassen an die 'Moniage de Guillaume' und die 'Montage de Rainouart' denken (eine Zusammenstellung, wie sie in der Handschrift Ars vorliegt, siehe Tab. 2). Hinweise auf weitergehende Kenntnis des großen Zyklus, wie er in den späten Zyklus-Handschriften A„ A2, A3, A4, B,, B2 und Ε begegnet, finden sich nicht. Ausfuhrliche Beschreibung des Codex samt Abdruck bei HOLTHUS [Anm. 13]. Eine Abbildung findet sich ebd. S. LXXV. Aufmerksamkeit verlangt eine Beobachtung von P. LORENZ, Das Handschriftenverhältnis der Chanson de geste 'Aliscans', in: Zs. für romanische Philologie 31 (1907) 385-431, hier S. 392-407, daß Μ einen zwar stark italianisierten, aber sehr guten Text bietet: „[...] aber immerhin liegt die Vermutung nahe, daß eine dem Original nicht zu fern stehende, nur 'Aliscans' und vielleicht noch 'Convenant Vivien' enthaltende Abschrift verhältnismäßig früh (um 1200) nach Italien gebracht, hier einmal, wahrscheinlich mehrmals wörtlich abgeschrieben und dabei italianisiert und stark entstellt worden ist." (S. 406); vgl. dazu die TYSSENS [Anm. 9], S. 247-264.

Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur

Wolfram nahm auf seine Vorlage massiven Einfluß: Neue Szenen werden eingefügt, die Darstellung der Heiden umakzentuiert. Die Protagonisten Willehalm und Gyburc erhalten ein größeres Gewicht, Gyburc in Analogie zu ihrem Ehemann sogar Heiligenstatus. Neu sind die höfische Gesellschaftsdarstellung, kritische Töne zur Hofgesellschaft und die Problematisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der im französischen Epos noch ganz traditionell gutgeheißene Kreuzzugsgedanke wird wie die Kriegsnotwendigkeit und die Heidenfrage auf hoher (laien-)theologischer Abstraktionsebene kritisch hinterfragt. Die politische Ausrichtung des Epos verändert Wolfram zumindest graduell. Der Rolle des in der französischen Chanson überaus negativ gezeichneten Königs loys - Ludwig der Fromme - erscheint entschärft, die Reichsidee deutlicher konturiert.29 Auch stilistisch greift Wolfram massiv in die Vorlage ein. Sein Epos ist entgegen der in Ansätzen noch mündlichen Darstellungsweisen verpflichteten Chanson ausgesprochen schriftliterarisch geprägt. Abstraktionsgrad wie sprachliche Kunstfertigkeit stehen auf einem bis dahin unerreichten Niveau.30 Wie die frühe, breite Überlieferung zeigt, wird Wolframs Geschichte vom herre sanct Willehalm ('Willehalm' V. 4,13) bereits unmittelbar nach ihrer Entstehung hoch geschätzt. Die Gründe für den schnellen Erfolg sind vielfältig. Wolfram selbst hebt im Prolog die christliche Exemplarität, ja heilikeit ('Willehalm' Vv. 4,1-15) des Helden31 ebenso wie dessen höfisch-ritterliche Idealität (Vv. 3,1024) und Abstammung (Vv. 3,25-29) hervor. Auch der Hinweis auf seine, Wolframs, poetisch-literarische Kunstfertigkeit (Vv. 4,19-5,6), die er mit seinem allerdings nicht unumstrittenen 'Parzival' (Vv. 4,19-24) eindrücklich unter Beweis gestellt hat, wäre zu beachten. Und natürlich spielen Liebe, Leid und Christentum (Vv. 4,25-29) eine große Rolle. Für den hier skizzierten Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist die Schlußsequenz des Prologs, mit dem Hinweis auf die besondere Ausprägung der Guillaume-Memorialkultur in Frankreich: Franzoiser die besten hänt ir des die volge län, daz siiezer rede wart nie getan mit wirde ''noch mit wärheit. underswanc noch underreit valschete diese rede nie: des jehent si dort - nü hoert se ouch hie! (Willehalm Vv. 5,8-14)

29

V g l . z . B . HELLMANN [ A n m . 2 1 ] , S. 2 0 8 - 2 4 3 u n d HEINZLE [ A n m . 1 3 ] , S. 7 9 7 - 8 0 1 .

30

Vgl. zur Charakterisierung der poetischen Leistung Wolframs z.B. L.P. JOHNSON, Die höfische Literatur der Blütezeit, Tübingen 1999, (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zum Beginn der Neuzeit II/l), S. 353f.

31

V g l . HAUG [ A n m . 2 ] , S . 1 8 4 - 1 9 2 .

231

Jürgen Wolf

Wolfram macht deutlich, daß er eine Geschichte - Wolframs Terminus rede wird man hier wohl mit estoire32

übersetzen können - adaptiert, die in Frankreich

längst als besonders 'erinnerungswürdig' oder 'heilig' (süez) 3 3 verstanden und dementsprechend adäquat, d.h. mit wärheit

und wirde aufgezeichnet worden war.

Wenn Wolfram darauf insistiert, daß Underswanc

noch underreit

/ valschete

diese

rede nie, fühlt man sich unwillkürlich an die Worte der 'Kaiserchronik' erinnert 34 : Nu ist leider in diesen ziten ein gewoneheit witen: manege erdenchent in lugene unt vuogent si zesamene mit scophelichen Worten. (Kaiserchronik Vv. 27-31) oder vielleicht eher noch an Waces heftige Kritik an denen, die durch unzählige Zutaten (underswanc?) und Nebenhandlungen (underreit?) die Artusgeschichte so übel entstellt haben: Que pur amur de sa largesce, Que pur poür de sa prüesce, En cele grant pais ke jo di, Ne sai si vus l 'avez οϊ, Furent les merveilles pruvees Ε les aventures truvees Ki d'Artur sunt tant recuntees Ke α fable sunt aturnees. Ne tut mengunge, ne tut veir, Tut folie ne tut saveir. Tant unt Ii cunteür cunti Ε lifableür tant flable Pur lur cuntes enbeleter, Que tut unt fait fable sembler. (Roman de Brut Vv. 9785-9798)

Entweder aus Liebe zu seiner Freigebigkeit oder aus Furcht vor seiner Tapferkeit in der Zeit des großen Friedens, von der ich sprach, wenn Du davon gehört hast, hat man wunderbare Ereignisse glaubhaft gemacht und Aventüren gefunden, die über Artur so lange erzählt wurden, daß sie sich zur >fabula< gewandelt haben: nicht alles Lüge, nicht alles wahr, nicht alles Torheit, nicht alles Wahrheit. Solange haben die Erzähler erzählt und die Fabulierer fabuliert, um ihre Geschichten zu verschönern, bis sie alles als 'fabula' erscheinen ließen 3 5

Wolframs Verse klingen wie eine Antwort auf die Vorwürfe Waces und des Kaiserchronisten - die sich freilich gegen den Umgang mit den mündlich tradierten 32 33 34

35

232

Vgl. DAMIAN-GRINT [Anm. 17], S. 197: estoire gebraucht im Sinn von „vernacular historical narrative" mit höchstem Wahrheitsanspruch („[...] always a 'true narrative'"). Vgl. dazu den Kommentar von HEINZLE [Anm. 13], S. 828: „Der Terminus bestimmt das Werk als geistliche Dichtung: als heilige, heilbringende, erbauliche Geschichte." HEINZLE [Anm. 13], S. 828, der keine rechte Erklärung für diese Passage beibringen kann, und sie mit „kein Zwischen-Hieb, kein Zwischen-Ritt verfälschte die Geschichte je" wörtlich wiedergibt. Gemeint sein könnte damit genau das vom Kaiserchronisten bzw. von Wace getadelte Verfahren, eine wahre Geschichte mit fabulösen Zutaten (Zwischen-Hieb?) und Nebengeschichten (Zwischen-Ritt?) geradezu zuzuschütten; vgl. KIENING [Anm. 1], S. 209 bes. Anm. 1 5 4 . Übersetzung nach KNAPP [Anm. 5], S. 13, und Wace and Lawman, The Life of King Arthur, transl. and introd. by J. WEISS / R. ALLEN, London 1997, S. 51.

Wolframs Willehalm' zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur

heldenepischen Stoffen um Artus bzw. Dietrich von Bern richten: M e i n e , W o l f r a m s v o n E s c h e n b a c h , G e s c h i c h t s au f z e i c h η u η g i s t g e n a u s o u n v e r f ä l s c h t , w i e ihr C h r o n i s t e n es f o r d e r t ! Natürlich sind derartige Sentenzen übliche Topoi der Wahrheitsbekundung36, aber der Hinweis auf Wace und den Kaiserchronisten gibt zu denken. Schließlich dürfte Wolfram die zu seinen Lebzeiten überaus populäre 'Kaiserchronik'37 ebenso gekannt haben wie Waces nicht weniger erfolgreichen 'Roman de Brut'.38 Der Erfolg der zweiten deutschen Chanson de geste-Adaption war durchschlagend. Ein Fragment aus dem späten ersten Viertel (München, SB, Cgm 193/1) sowie vier weitere wohl ebenfalls noch der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zugehörige Textzeugen (St. Galler Codex 857; Dillingen, Studienbibl., Hss.-Frgm 23; München, SB, Cgm 5249/4c; Straßburg, NUB, Ms. 2002) lassen auf eine ungewöhnlich breite Rezeption unmittelbar nach der Werkentstehung schließen. Buchtechnisch scheint im ältesten, dem Münchner Fragment Cgm 193/1, zunächst eine Verbindung zur alten 'Kaiserchronik'- und 'Rolandslied'-Tradition bzw. zur frühen französischen Chansons de geste-Überlieferung greifbar. Der kleinformatige Textzeuge ist, wie für die gleichzeitigen Handschriften der genannten Texte charakteristisch, noch ganz archaisch einspaltig, schmucklos mit fortlaufenden Versen eingerichtet. In der 'Willehalm'-Überlieferung bleibt diese Einrichtungsvariante allerdings singulär. Schon die wenig jüngeren Kodizes sind allesamt 36

37

38

Waces Kritik deckt sich beispielsweise fast wörtlich mit den Ausführungen Williams of Malmesbury in seiner 'Gesta Regum Anglorum' ( 1 1 2 5 ) , wo es heißt, daß im Zuge der mündlichen Tradierung die Artusgeschichte verfälscht (Williams Termini sind delirare, somniare, fabulare) wurde; vgl. BURRICHTER [Anm. 5], S. 2 6 - 2 8 (mit Stellennachweisen). Ähnliche Sentenzen sind in der lateinischen Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts weit verbreitet. Die Überlieferung der 'Kaiserchronik' erreicht im frühen 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Insgesamt sind 10 Textzeugen aus der Zeit um 1200 bzw. der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erhalten oder zu erschließen: Basel, UB, Cod. Ν I 3 Nr. 89; Graz, UB, Cod. 1703/133 + Innsbruck, LM Ferdinandeuni, Cod. FB 1519/V; Hamburg, SUB, Frgm. aus Cod. Theol. 1546 (das nach dem 2. Weltkrieg verschollene Fragment befindet sich wieder in Hamburg); Kremsier, Fürsterzbischöfl. Bibl., Bruchst. 1 (verschollen); Nürnberg, GNM, Hs. 22067; Prag, SUB, Cod. XXIII G 43; St. Florian, Stiftsbibliothek, Frgm. 29 + Schwaz, Stiftsbibliothek, ohne Sign, (verschollen); Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276; Wien, ÖNB, Cod. 13006; Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 215. Die 'Kaiserchronik' gehört damit zu den am breitesten überlieferten volkssprachlichen Werken der e r s t e n Jahrhunderthälfte - noch vor Wolframs Bestsellern; vgl. C. BERTELSMEIER-KIERST / J. WOLF, 'Man schreibt Deutsch'. Volkssprachliche Schriftlichkeit im 13. Jahrhundert. Erträge des 'Marburger Repertoriums deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts', in: Oswald-Jb 12 (2001) (im Druck). Mit alaibischer Beweisführung E . NELLMANN, ZU Wolframs Bildung und zum Literaturkonzept des Parzival, in: Poetica 28 (1996) 327-344, hier S. 338-344. Die Reihe der Chretien-Texte in Verbindung mit Waces 'Roman de Brut' ist eines der Standardmuster für umfassende Sammelhandschriften in der Chritien-Überlieferung. Sie hat sich z.B. in zwei besonders prachtvollen Handschriften aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts erhalten; vgl. Les Manuscripts de Chretien de Troyes (Faux Titre 71), hg. von K. BUSBY u.a., Amsterdam 1993, Nr. 8 ( = Guiot-Manuskript) und Nr. 9.

233

Jürgen Wolf

zweispaltig mit abgesetzten und z.T. ausgerückten Versen ausgestattet. Sogar dreispaltige und aufwendig illustrierte Handschriften in Großformaten sind nach der Jahrhundertmitte bald keine Seltenheit mehr. Können wir hier eine Statusänderung, eine besondere, hohe Wertschätzung des Stoffes, der Wilhelm-Memoria greifen? Zahlreiche Aspekte der Überlieferungsgeschichte sprechen dafür: „Repräsentativ für die 'Wh'-Überl. (im späten 13. und 14. Jahrhundert, JW) sind die reich ausgestatteten, großformatigen, öfter dreispaltig angelegten, bebilderten Hss., die im Auftrag fürstlicher Besteller geschrieben wurden: Ka (Kassel, LB, u. Murhardsche Bibl., 2° Ms. poet, et roman. 1): 1334 im Auftrag Landgraf Heinrichs II. von Hessen geschrieben; W (Wien, cod. 2643): 1387 im Auftrag König Wenzels geschrieben. Auch die Hs. V (Wien, cod. 2670), um 1320, ist wahrscheinlich in fürstlichem Auftrag geschrieben worden." 39 Insbesondere im Manuskript fur die Landgrafen von Hessen präsentiert sich - freilich nicht der 'Willehalm' alleine, sondern erst - die Trilogie gleichsam als landgräfliche Hausüberlieferung. 40 An sich bedürften diese buchtechnischen Beobachtungen hier keines besonderen Hinweises, doch weisen sie auf eine wichtige Spur zum Verständnis der zeitgenössischen 'Willehalm'-Begeisterung. Auffällig sind nämlich die signifikanten Parallelen zur Tradierung der großen, bebilderten Reimchroniken - einer Gattung, die ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die höfische Literaturszene (mit)dominiert. 41 Sowohl die monumentale 'Weltchronik' Rudolfs von Ems wie die wenig später im Auftrag eines Landgrafen Heinrich von Thüringen (Heinrich III., der Erlauchte oder Heinrich ohne Land) verfaßte 'Christherre-Chronik' 42 liegen bereits unmittelbar nach der Entstehung in zahlreichen, oft ganz ähnlich wie die geschilderten 'Willehalm'-Prachtkodizes ausgestatteten Textzeugen vor. 43 Auch 39

BUMKE [Anm. 1], Sp. 1397f. Zu den Kodizes vgl. die einschlägigen Handschriftenverzeichnisse (Nachweise s.u. Anm. 61).

40

KLEINSCHMIDT [ A n m . 7], S . 6 4 1 - 6 4 6 .

41

Wenn BRUNNER [Anm. 2], S. VII, dazu feststellt, „daß die Weltchroniken eine ernsthafte Bedrohung fiir die Geltung des im letzten Drittel des 12. Jhs. aufgekommenen Höfischen Romans darstellen", markiert dies angesichts der Erfolge von 'Parzival', 'Wigalois', 'Tristan' und 'Jüngerem Titurel' vielleicht etwas überpointiert, aber doch durchaus zutreffend, einen neuen Trend. Vgl. D. KLEIN, Heinrich von München und die Tradition der gereimten deutschen Weltchronik, in: BRUNNER [Anm. 2], S. 1-112, hier S. 2-9. Vgl. zu den illustrierten Weltchroniken J.-U. GÜNTHER, Die illustrierten mittelhochdeutschen Weltchronikhandschriften in Versen. Katalog der Handschriften und Einordnung der Illustrationen in die Bildüberlieferung, München 1993, (tuduv-Studien 48), sowie dezidiert zum Zusammenhang von Chronik- und Chanson de geste-Illustration N.H. OTT, Pictura docet. Zu Gebrauchssituation, Deutungsangebot und Appellcharakter ikonographischer Zeugnisse mittelalterlicher Literatur am Beispiel der Chanson de geste, in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von G. HAHN / H. RAGOTZKY, Stuttgart 1992, (Kroner Studienbibl. 663), S. 187-

42

43

212.

234

Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur

die Auftraggeber für derartige Weltchroniken rekrutieren sich aus genau den hochadligen Kreisen, die sich für die prachtvollen 'Willehalm'-Kodizes namhaft machen lassen. Daß der 'Willehalm' samt seinen Fortsetzungen dann im ausgehenden 14. Jahrhundert als fester Bestandteil der 'Weltchronik' Heinrichs von München explizit zu höfischer Geschichtsschreibung wird, erscheint nur konsequent als Endpunkt dieser Entwicklung, zumal wenn man sich Funktion und Intention dieser Weltchroniken betrachtet. Sie sind nämlich keineswegs nur nüchterne Geschichtsaufzeichnung, sondern zugleich Repräsentationsobjekt, Exempelbuch, Fürstenspiegel. Mehr noch, sie bieten über die auf die Auftraggeberinteressen zugeschnittenen Inhalte vielfaltige Andockpunkte etwa für die dynastischgenealogische Anbindung an große Geschlechter, Königshäuser oder sogar an die antiken Gründungsväter der abendländischen Herrscherdynastien. Und genau hier wird die Verbindung zum 'Willehalm' interessant, denn „im Zuge der Überlieferung wird die Trilogie vom heiligen Grafen Wilhelm zu einem merkwürdigen Zwitter aus 'Staatsroman', Heiligenlegende und Fürstenspiegel und bietet sich damit als Identifikationsobjekt adeligen Selbstverständnisses geradezu an." 44 Reimchronik und Chanson de geste nähern sich in Funktion und Intention fast bis zur Deckungsgleichheit an. Am offensichtlichsten treten diese Parallelen in den großen, prachtvollen Bilderhandschriften zutage. Sie sind von ihrer äußeren Gestalt (Einrichtung, Ausstattung, Illustrationstypen) kaum noch voneinander zu unterscheiden und erfüllen ungeachtet der Gattungsunterschiede auch identische Funktionen: Es geht hier wie da um statusrelevante, an einzelne Protagonisten - in den Reimchroniken an die lange Reihe der biblischen Figuren (Abb. 1: Hagar und Ismael) bis hin zu den Kaisern und Königen der vier Weltreiche; in den Chansons de geste an einzelne Heldenfiguren (Abb. 3: Karl der Große, Willehalm; Ludwig der Fromme) - und deren Taten (Abb. 1: Rettung durch den Engel; Abb. 2: Erste Schlacht auf Alischanz; Abb. 3: Karls Kampf gegen die Heiden, Karls Tod, Willehalm gibt seine Schwester Karls Sohn Ludwig zur Frau) gebundene Memoria. Für beide Genres gleichermaßen typisch ist dabei, daß die Erinnerung in nahezu dekkungsgleichen Bildprogrammen mit eben diesen Exempelfiguren und deren herausragenden Taten im Zentrum visualisiert wird. Letztlich können deshalb beide Genres nicht nur textuell, sondern auch ikonographisch mühelos ineinander fließen (vgl. Abb. 4: Willehalm und Tybalt in der 'Weltchronik' des Heinrich von München).

44

OTT

[Anm. 43], S. 2 0 0 .

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Jürgen Wolf

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Abb. 3: Kassel, M u L B , 2° Ms. poet, et roman. 1: 'Willehalm'-Trilogie, 1334, Bl. 25 r b : 'Arabel'-Teil, (Abbildungsnachweis: H. Broszinski, Kasseler Handschriftenschätze, Kassel 1985, S. 153)

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Wolframs 'Willehalm' zwischen höfischer Literatur und

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Imitatio als Funktion der Memoria

rückgetreten ist,15 im Modus einer Zeichenhaftigkeit, die ihrerseits das zeichenhafte Weltverständnis der christlichen Hermeneutik widerspiegelt. Diese Zeichenhaftigkeit erhält gerade durch das spannungsvolle Verhältnis zur geglaubten Realpräsenz der göttlichen Gnade und Kraft ihr eigenes Profil: Was für menschliche Wahrnehmung unmittelbar sinnfällig ist - und auch entsprechend intensiv sinnlich vergegenwärtigt werden kann 16 sind nur signa, sind imagines des Erinnerungsgegenstandes.17 Diese Vermitteltheit der Erinnerung war ganz grundsätzlich, also ebenfalls im Blick auf weitaus profanere Memoriervorgänge, durchaus nicht nur Augustinus bewußt.18 Die im Fall der Eucharistie über die zeichenhafte Vermittlung hinausgehende direkte Realpräsenz des Erinnerten selbst kann jedoch nur als Mysterium geglaubt, nicht gesehen oder auf eine andere Weise sinnlich wahrgenommen werden.19 Nach dem primären mediator Jesus Christus, Gott und Mensch zugleich, kommt den Heiligen als menschlichen Nachfolgern Christi die Funktion einer sekundären Mediation zu. Durch diese sekundäre Mediation wird die über die Erinnerung an Jesus Christus vermittelte Erinnerung an Gott noch um eine weitere Vermittlungsstufe erhöht, das religiöse Gedächtnis aber auch fester in der Geschichte der Menschheit verankert. Die Verortung des Heiligengedenkens in der liturgischen memoria läßt dessen Rolle in der Dynamik des Erinnerungsvorgangs sehr anschaulich zu Tage treten: Das Heiligengedenken begegnet hier zweimal, nämlich vor und nach dem Komplex von Opferung und Wandlung samt Anamnesebefehl und -gebet. Es rahmt das Zentrum der eucharistischen Anamnese also gleichsam ein. Dabei steht das erste Heiligengedenken im Zusammenhang mit der commemoratio pro vivis, die die je versammelte Gemeinde ausdrücklich mit einbezieht und deren Bitte zum Gegenstand hat, daß Gott ihr und allen Gläubigen durch die Fürsprache der Heiligen sein Gedächtnis schenken möge.20 Das zweite, 15 16 17 18 19

20

Vgl. dazu den Überblick von R. WENTZ, Liturgisches Gedenken in Typologie und Allegorese, in: Heiliger Dienst 53 (1999/4) 214-235 (zu Ambrosius hier S. 229-233). Vgl. dazu H. WENZEL, Hören und Sehen, Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 97-127. Vgl. Confessiones X 8,13-15; 14,21-5, 23. Zur mittelalterlichen Gedächtnistheorie, allerdings ohne einläßlichen Rekurs auf Augustinus, vgl. WENZEL [Anm. 16], S. 321-337. So besagt die im Anschluß an die Auseinandersetzung mit dem 'Rationalisten' Berengar von Tours (f 1088) konturierte Transsubstantiationslehre: Brot und Wein werden in ihrer äußeren Erscheinungsweise nicht verändert. ,Allein die Substanz des Brotes und Weines werden in die Substanz des Fleisches und Blutes Christi verwandelt", wobei 'Substanz' „nicht [...] das sinnlich wahrnehmbare und umschreibbare Naturding, sondern das unanschauliche Wirklichkeitsprinzip" meint (MÜLLER [Anm. 10], S. 695). Dabei wurde, wie MEIER [Anm. 11], S. 149-152, dokumentiert hat, schon seit der Spätantike sehr genau reflektiert, daß im Gegensatz zum Menschen Gott selbst über das Gedächtnis erhaben ist, da er über der Zeitlichkeit steht, daß also die Rede vom Erinnern (oder Vergessen) Gottes, dann, wenn Gott Subjekt ist, keinen Literalsinn hat.

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Edith Feistner

den Rahmen schließende Heiligengedenken, bei dem auch des Tagesheiligen besonders gedacht wird, steht im Zusammenhang mit der commemoratio pro defunctis und lenkt den Blick der feiernden Gemeinde im Ausdruck der Hoffnung auf eine künftige Gemeinschaft der Toten und der Lebenden mit den Heiligen 'nach oben' zurück. Liturgische memoria vollzieht sich insgesamt also im Bild des Austausches einer Gedächtnisgabe, die von Gottes Gnade ausgeht (katabatische Anamnese) und, von den Menschen ergriffen, wieder zu Gott aufsteigt (anabatische Anamnese),21 wobei die Heiligen als wegweisende Durchgangsstationen in die eine wie in die andere Richtung verstanden werden. Wie präsent diese Vorstellung im Mittelalter war, zeigt der reich belegte Brauch des Zelebrierens in Gewändern, die man Heiligen zuschreiben konnte. Daß dazu vor Gräbern nicht halt gemacht worden ist,22 erweist sich zumindest aus konservatorischen Gründen im nachhinein als glückliche Fügung. Ähnliches gilt für den Brauch, den Segen mit Armreliquiaren zu erteilen 23

II Die im Prozeß der liturgischen memoria abgebildete Vorstellung, daß Heilige als Durchgangsstationen beim Austausch der Gedächtnisgabe zwischen Gott und Mensch fungieren, gründet auf der memorialen Virtuosität, die sie in ihrem eigenen Leben bewiesen haben. Die Überzeugung von der memorialen Virtuosität der Heiligen schlägt sich in der mittelalterlichen Hagiographie, zumal der lateinischen, auf der Ebene der diskursiven Vermittlung in den Vulgata-Zitaten nieder, mit der der Text der jeweiligen Lebensbeschreibung, sei es nach dem Prinzip der Konkordanz, sei es zum Zweck der 'Exegese' oder auch nur in freier Assoziation, auf das memoriale Bezugssystem der Heiligen Schrift projiziert wird,24 so daß sich die Legendenkommunikation ihrerseits wiederum als Vollzug des religiösen Gedächtnisses darstellt. Motivation für die Heiligen selbst, ihr Leben Gott zu weihen, - und damit ein von der Vermittlungsebene oft auch unabhängiger Bestandteil der erzählten Geschichte - , ist die Erinnerung an Schlüsselstellen wie an das Christuswort in Lc 14,33 sie ergo omnis ex vobis qui non renuntiat omnibus quae possidet, non potest 21

22 23 24

264

Zu den Begriffen der katabatischen und der anabatischen Anamnese vgl. L . LIES SJ, Der dreifaltige Gott: tragender Grund und bergende Zielgemeinschaft der Eucharistie, in: Heiliger Dienst [Anm. 15], S. 247. Vgl. R. KROOS, Vom Umgang mit Reliquien, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik 3, hg. von A. LEGNER, Köln 1985, S. 38. Ebd. Vgl. FEISTNER [Anm. 2], S. 77-79, wo am Beispiel der Remigiuslegende Hincmars von Reims die verschiedenen Formen und Funktionen der Bibelzitation erläutert werden.

Imitatio als Funktion der Memoria

meus esse discipulus25 oder Mt 19,29 omnis qui reliquit domum aut patrem aut matrem aut uxorem aut filios aut agros propter nomen meum centuplum accipiet et vitam aeternam possidebit.26 Diese Schlüsselstellen begegnen, wörtlich oder sinngemäß zitiert, in unzähligen Heiligenlegenden, gleichgültig, ob es sich um die Gruppe der frühchristlichen Märtyrer handelt,27 um Einsiedlerheilige28 oder um einen apostolisch tätigen sanctus novus wie Franziskus von Assisi. Wenngleich dessen buchstäbliche ChristusfÖrmigkeit im Signum der Stigmata noch ein besonderes Intensivierungsmerkmal erhält,29 so sind doch die genannten Schlüsselstellen aus den Evangelien ein allgemeiner Ausgangspunkt, von dem aus historisch variable und je nach Status bzw. Wirkungskreis des jeweiligen Heiligen auch durchaus unterschiedliche Realisationsformen der imitatio sich allererst ausdifferenzieren. Der Tenor dieser Christusworte, denen die Heiligen nachzufolgen streben, nämlich die Lösung von innerweltlichen Bindungen und Karrieren - eingeschlossen sind hier ebenfalls jene (laikalen) Heiligen, die wie Kaiser Heinrich II. und seine Gemahlin Kunigunde oder Elisabeth von Thüringen ihr Verbleiben im weltlich-gesellschaftlichen Kontext nach Ausweis der Legende als Opfer ansahen - , indiziert ja ganz grundsätzlich die Abwehr eines an menschlichen Setzungen orientierten, 'eigen-sinnigen' Lebens- und Weltverständnisses. Verbunden ist damit der Appell zu einem mit religiöser memoria gesättigten Leben: Stets eingedenk der eigenen Geschöpflichkeit die Welt als zeichenhaftes Sinnsystem im Blick auf den Schöpfergott zu betrachten und in ihr auf den Spuren Jesu Christi zu 'lesen', anstatt im Schöpfervergessen die Zeichen zur Eigentlichkeit selbst zu erheben,30 ist die Lebensaufgabe, die die Heiligen in Perfektion erfüllen. Super petras reverenter ambulabat intuitu ejus, qui dicitur petra, berichtet die 'Legenda aurea' 31 im Anschluß an Thomas von Celano32 über Franziskus von Assisi: Beim Anblick von Felssteinen erinnert sich der Heilige wie selbstverständlich an die

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28 29 30

Vgl. dazu auch Lc 12,33 und 18,22 sowie Mt 19,21 und Mc 10,21. Vgl. dazu auch Lc 19,29. Die schwere Prüfung der Blutzeugenschaft kann auch die ausdrückliche Erinnerung an die Christusworte durch andere nötig machen. So stärkt der Hl. Sebastian die Zwillingsbrüder Marcellianus und Marcus, die, in Erwartung des Martyriums, durch die flehentlichen Bitten von Mutter und Vater, doch am Leben und bei ihnen zu bleiben, einen Moment lang schwach werden (vgl. Jacobi a Voragine, Legenda aurea vulgo Historia lombardica dicta, hg. von T. GRAESSE, Breslau 31890, Cap. XXIII, S. 109f.). Die Ausgabe von GRAESSE bildet auch in der Folge die Zitiergrundlage. Zum exemplarischen Fall des Antonius Eremita vgl. FEISTNER [Anm. 2], S. 36. Bonaventuras 'Legenda maior S. Francisci' hebt schon im Prolog (Prol. 2) auf das signaculum similitudinis ab (vgl. Analecta Franciscana X, Quaracchi 1926-1941, S. 558). Ausgehend vom Beispiel Hildegards von Bingen vgl. dazu auch MEIER [Anm. 1 1 ] , S . 1 5 8 , 169.

31 32

Cap. CXLIX, S. 669. Vgl. Thomas von Celano, Vita prima Sancti Francisci, in: Analecta Franciscana [Anm. 29], S. 226.

265

Edith Feistner

Aussage in 1 Cor 10,14 -petra autem erat Christus. In diesem Sinn kam es schon Augustinus am Ende seiner Überlegungen zur memoria darauf an, Jesus Christus, den wahren memorialen Mediator zwischen Mensch und Gott, von Luzifer, dem Herrn des Schöpfervergessens, abzuheben, der dem Menschen die Illusion einzugeben suche, sich im stolzgeblähten Vertrauen auf die eigene geistige Potenz die Welt selbst erschließen zu können (Confessiones X 42, 67). Die habitualisierte Wachheit des religiösen Gedächtnisses der Heiligen bewirkt nicht nur deren Nähe zu Gott; das ständig aktive Gedächtnis ist zugleich das Medium, das umgekehrt auch Gott der Welt nahebringt. So verwundert es nicht, daß Heilige aufgrund dieser besonderen Ausstrahlungskraft andere 'Begabte' in ihren Bann ziehen und ihnen dazu verhelfen, das eigene Heiligkeitspotential zu entfalten. Diese Art der zyklisch fortgesetzten Reproduktion von Heiligkeit geschieht wiederum auf dem Weg über das Gedächtnis: Lucia wird von der Erinnerung an das Blutzeugnis der Hl. Agatha nicht losgelassen, bis auch sie den Märtyrertod stirbt - und in der ihr gewidmeten Legende selbst in die Erinnerung eingeht.33 Emerentiana wacht unablässig über das von heidnischer Zerstörung bedrohte Grab der Hl. Agnes und erhält so die Kraft zum Märtyrertod, obwohl sie nicht getauft ist.34 Amandus verbringt fünfzehn Jahre am Grab des Hl. Martin von Tours, bevor er, erfüllt von der Kraft der Erinnerung an diesen Heiligen, König Dagobert I. zu bekehren vermag und als Apostel Galliens selbst in die Erinnerung eingeht.35 Wie sehr es tatsächlich als Gnade aufgefaßt worden ist, sich an einen anderen Heiligen als Vorbild erinnern und so die eigene imitatio Christi in der imitatio des anderen spiegeln zu können, illustriert schließlich das Beispiel des Hl. Antonius Eremita. Dieser harrt in dem Glauben, er sei der erste Einsiedler, lange Jahre in der Wüste aus und kämpft dort gegen die Versuchungen des Teufels, bis ihm schließlich im Schlaf von Gott der Weg zu dem noch weitaus älteren und 'heiligeren' Paulus Eremita gewiesen wird.36 Dankbar und glücklich darüber, sein eigenes Vorbild gefunden zu haben, nimmt Antonius nach dem Tod des Paulus dessen Gewand mit, um es von nun an bei Hochfesten selbst zu tragen und so die Erinnerung an Paulus buchstäblich zu 'zelebrieren'. (Der oben erwähnte Brauch des Zelebrierens in Heiligengewändern schlägt sich also seinerseits in der Heiligenlegende nieder.) Hält man sich das für die memoriale Virtuosität der Heiligen bezeichnende Leben in einem Spiegelraum der Erinnerung vor Augen, in dem sich Gott auf vielfach gebrochene Weise niederschlägt, allgegenwärtig und doch nirgends direkt sichtbar, und bedenkt man ferner die mit diesem Leben in einem Spiegelraum der 33 34 35 36

266

Cap. Cap. Cap. Cap.

IV, S. 29-32. XXIV, S. 115f. XLI, S. 174f. XV, S. 94f.

Imitatio als Funktion der

Memoria

Erinnerung verbundene Konzentrationsleistung, dann liegt es auf der Hand, daß den weniger 'begabten' Figuren, die die Legenden den Heiligen zur Seite stellen, eine derart schwere Aufgabe oft nur phasenweise oder punktuell - unter dem Eindruck des großen Wunderzeichens - gelingt, wenn ihnen im selbstbefangenen Getriebe der Welt die Spiegel nicht überhaupt gänzlich blind geworden sind. Fast alle Legenden zeugen ja davon, daß sogar die Heiligen, um dem zu entgehen, immer wieder Phasen des Rückzugs in die Abgeschiedenheit als 'Pausen' einlegen müssen oder zumindest das Bedürfnis danach artikulieren. Schon die Tatsache als solche, daß die Welt von der Existenz eines Heiligen weiß - daß memoria mithin überhaupt erst möglich wird - , stellt sich deshalb keineswegs in allen Legenden als Selbstverständlichkeit dar. Die Stiftung des Heiligengedächtnisses kann ihrerseits sogar bereits als Werk Gottes betrachtet werden. Ich nenne nur einige Beispiele: In der Legende von der Hl. Maria Aegyptiaca bedient sich Gott des greisen Abtes Zosimas, um, ähnlich wie im Fall des Paulus Eremita, die seit Jahrzehnten aus der Welt 'verschwundene' Heilige noch kurz vor ihrem Tod entdecken und sie die Geschichte ihres Lebens an die Erinnerung eines anderen weitergeben zu lassen.37 In der Alexiuslegende wirken Gott und der bis zu seinem Tod unerkannte Heilige selbst zusammen, um die Erinnerung zu stiften: Eine Himmelsstimme führt die Römer zum Leichnam des Heiligen, der die Geschichte seines Lebens aufgeschrieben und das Pergament in der Hand verschlossen hat.38 In der Aegidiuslegende läßt Gott Jäger den im Dickicht des Waldes verborgenen Heiligen ganz ohne dessen oder eines anderen Heiligen Zutun auffinden, so daß er danach zum Beichtvater Karls d. Gr. werden kann.39 In der Benediktlegende schließlich sendet Gott, nachdem die Glocke an dem Seil, das die einzige Verbindung zwischen dem in einer unzugänglichen Felsenhöhle abgeschirmten Heiligen und der Welt darstellt, vom Teufel zerstört worden ist, einen Priester dorthin, um Benedikt mit einem Osterfestmahl zu stärken, so daß der teuflische Plan durchkreuzt wird, den Heiligen in Vergessenheit geraten und dem Hungertod anheimfallen zu lassen, noch ehe dieser seine Aufgabe als Ordensgründer in Angriff nehmen kann.40 Aber auch dort, wo die Möglichkeit, des Heiligen zu gedenken, sicher festzustehen scheint, kann angesichts der komplexen Aufgabe, die das Erinnern als zeichenhafte Vergegenwärtigung eines selbst nicht mehr corporaliter anwesenden Objekts bedeutet, memoria sich oft eher wie ein endloser Kampf gegen das Vergessen präsentieren, kann memoria oft eher wie das Produkt ihrer permanenten 37 38 39 40

Cap. LVI, S. 247-249. Vgl. auch Cap. XCVI (Maria Magdalena), S. 413-415. Cap. XCIV, S. 405f. Cap. CXXX, S. 583f. Cap. XLIX, S. 204f.

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Edith Feistner

Infragestellung wirken denn als selbstverständlich abrufbare kulturelle bzw. individuelle Kompentenz. Gerade die bislang in der Forschung meist nur als Dokumente eines hemmungslos naiven Wunderglaubens wahrgenommenen posthumen Mirakelepisoden belegen dies. Dabei spielt - das Beispiel aus der Benediktlegende hat es bereits angedeutet - der Teufel eine wichtige Rolle, der schon von Augustin als solcher reflektierte Herr des Vergessens, der, wo er nicht selbst zur Tat schreitet, sich der Ungläubigen, der durch ihre Sünden für ihn anfalligen Menschen überhaupt bedient, um memoria zu unterbinden. Das, woran nach dem physischen Tod des Heiligen die anderen ihre Erinnerung an ihn 'festzumachen' suchen, liegt auf einer Skala, die bei den direkten Überresten wie dem Leichnam, den Gebeinen bzw. einzelnen Körperteilen beginnt und neben der Kleidung ggf. auch Bücher, die der Verstorbene verfaßt hat, oder andere von ihm hinterlassene Gegenstände mit einschließt. Die Skala setzt sich auf einer weiteren Vermittlungsstufe fort über die im Medium von Schrift und Bild fixierte Darstellung des Heiligen(lebens) - hier kann sich die Legende als Gegenstand der Erzählung in der Legende selbst spiegeln - und reicht bis hin zu symbolischen Memorialzeichen wie Grab- und Gedenksteinen, dem Heiligen geweihten Kirchen und Klöstern oder Kerzen, die zu seinem Gedächtnis angezündet werden. Trotz der naheliegenden Vermutung, daß die Gefahrdung der memoria erst in dem Maß signifikant zunimmt, wie sich der unmittelbare Bezug der Gedächtnisstützen zum jeweiligen Heiligenleben lockert, zeigt sich beim näherem Zusehen, daß sogar die körperlichen Überreste des Verstorbenen in den Legenden keine unumstößlichen Garanten der memoria bilden, sondern ihrerseits bereits als nicht mehr mit dem Heiligen selbst völlig identische - und damit potentiell flüchtige - Zeichen memorialer Repräsentation aufgefaßt worden sind. Die radikalste Form, memoria in alle Zukunft auszulöschen, ist nach Ausweis der Legenden die Zerstörung der Leiche. Daß man dabei die Hände des Teufels im Spiel sah, braucht nicht betont zu werden. So etwa zerteilen seine Handlanger, die Heiden, die Leiche des Hl. Johannes Baptista zunächst in kleine Stücke, um die memoria zu dezentrieren und ihre Wirksamkeit durch eine zweite 'Tötung' des Toten zu schwächen, bevor ihnen der Teufel eine noch gründlichere Methode eingibt: Sie sammeln die Gebeine wieder ein, um sie zu verbrennen und die Asche in der Luft zu zerstreuen. Nur der Tatsache, daß einige mutige Gläubige sich heimlich unter die Gebeinesammler mischen und Teile davon wegschmuggeln, ist es zu verdanken, daß dem Heiligen überhaupt der Gedächtnisort einer Grabeskirche zuteil wird, der die Generation der Augenzeugen überdauern kann.41 Andernorts greift Gott auch selbst ein, um dem Teufel das gedächtnisstörende Handwerk zu 41

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Cap. C X X V , S. 569f.

Imitatio als Funktion der Memoria

legen, etwa, indem er gewaltigen Regen über die zum Scheiterhaufen aufgeschichteten heiligen Gebeinen herabkommen läßt.42 Das Beispiel der Legende des Hl. Marcus Evangelista zeigt jedoch, daß nicht erst die drohende Zerstörung der körperlichen Überreste zu memorialen Verwirrungen führen kann. Anläßlich der translatio nach Venedig stellt sich hier den Beteiligten die Frage, ob die Gebeine, denen man ihre Identität ja nicht mehr ansehe, tatsächlich die des Heiligen oder nicht irgendeines anderen seien.43 Und obwohl Marcus höchstselbst durch ein Wunder diese Frage klärt, hören die Fragen nicht auf: Schon eine Generation später ist der Bestattungsort zum Opfer des Vergessens geworden, so daß erneut nur ein Wunder den heiligen Gedächtnisschatz der Nachwelt bewahren kann.44 In der Legende von Gervasius und Prothasius greift denn auch ein gewisser Philippus in weiser Voraussicht zu einer zusätzlichen gedächtnissichernden Maßnahme, nachdem er die Leichname der Heiligen vor heidnischem Zugriff gerettet hat: Er hält die Geschichte vom Leben der beiden schriftlich fest und legt das Dokument gleichsam als 'Ausweis' zu den sterblichen Überresten 45 Ähnlich dient u.a. in der Legende von den Siebenschläfern ein in einer Mauerritze verstecktes schriftliches Dokument dazu, daß die Heiligen Jahrhunderte nach ihrer Einmauerung erkannt werden und man, da sie selbst zu Staub zerfallen, ihr Grab zu einem unübersehbar prächtigen Gedächtnisort umbauen kann. 46 Für sich genommen, d.h. ohne zusätzliche Konkretisierungshilfe, wird jedoch im Rahmen der Legende selbst - das sprachlich vermittelte, in Schriftzeichen übersetzte Heiligenleben auch seinerseits als durchaus brüchiges Medium der Gedächtnissicherung reflektiert. Eine besonders anschauliche, medial gestufte Suche nach Gedächtnissicherung begegnet in der Legende der Hl. Katharina von Alexandrien. Sie erzählt u.a. von einem Mönch aus Rouen, der durch die Lektüre des Heiligenlebens angetrieben wird, auf den Berg Sinai zu reisen, um Katharinas Grab auch direkt in Augenschein nehmen zu können. Dort wiederum verspürt er jedoch aus Sorge, die konkrete Anschauung bei seiner Rückkehr aus dem Gedächtnis verloren zu haben, den Wunsch nach einem noch wirksameren, bleibenden Erinnerungszeichen - und er wird erhört: Ein Fingerglied löst sich für ihn vom Leichnam der Heiligen ab, das er mit nach Hause nehmen kann 47 So bleibt er 42 43

44 45 46 47

Vgl. Cap. CXXXIV, S. 600. Die unausrottbare Skepsis des Menschen wird u.a. auf einen vom Teufel besessenen nauta omnino incredulus wegprojiziert, der auch nach dem Wunder zunächst noch weiter darauf besteht, daß es sich bloß um die Gebeine irgendeines Ägypters handle (Cap. LIX, S. 267f.). Cap. LIX, S. 268. Cap. LXXXV, S. 355. Cap. CI, S. 438. Cap. CLXXII, S. 795.

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Edith Feistner

durch ein Wunder vor dem bewahrt, was seinem 'Kollegen' in der folgenden Episode geschieht: Diesem entgleitet die Erinnerung an Katharina, weil sein Gebet, menschlicher Defizienz entsprechend, im Lauf der Zeit an Andacht verliert, bis ihm schließlich die Heilige als unkenntlich gewordene Figur mit verhülltem Gesicht, als Bild des Vergessens, erscheint. Nur der Gnade, daß in seiner Vision eine Begleiterin Katharinas zu ihm spricht, verdankt er es zu erfahren, wer sich hinter dem Schleier des Vergessens verbirgt. 48 Was für die in Schriftzeichen vermittelte Sprache des Heiligenlebens gilt, gilt aber auch für die bildlichen Darstellungen, mit denen die Erinnerung an Heilige eingefangen werden soll: 49 Auch die Sprache der Bilder wird trotz des größeren Anschaulichkeitspotentials, das sie gegenüber dem Medium der Schrift bzw. der Stimme auszeichnet, 50 als eine vermittelte wahrgenommen. Sie zeugt demnach zwar - ähnlich wie die Heiligenlegende selbst - von der Intention, sich zu erinnern, erinnert gleichsam an die Aufgabe der Erinnerung, garantiert aber keineswegs, daß das Objekt der Erinnerung in der Erinnerung auch tatsächlich authentisch abrufbar wäre. Das 'Als-ob' ist bei aller memorialen Stimulierungskraft der bildlichen Heiligenrepräsentation in den posthumen Mirakeln stets gegenwärtig. Das 'Als-ob' bildet ja die Ausgangshypothese, von der sich die Wahrnehmung der im Wunder unvermutet einbrechenden Realpräsenz des Abgebildeten abhebt. Es stellt den - als solchen keineswegs naiven - Erwartungshorizont dar, den das Wunder des 'lebendigen' Bildes ebenso durchkreuzt 51 wie das in den Legenden

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Ebd. Auch die Heiligen Gervasius und Prothasius erscheinen als stumme, 'gesichtslose' Figuren, bis der Apostel Paulus dem Bischof Ambrosius ihre Identität offenbart, die Leichname aufgefunden werden und die beiliegende Lebensbeschreibung der Erinnerung eine Sprache verleiht (vgl. 'Legenda aurea', Cap. LXXXV, S. 355). Bonaventura etwa begründet denn auch in seinem Sentenzenkommentar die imaginum introductio in Ecclesia ausdrücklich mit der Schwäche des menschlichen Erinnerungsvermögens (propter memoriae labilitatem): Commentaria in quatuor libros Sententiarum Magistri Petri Lombardi, in: Bonaventura, Opera omnia. Quaracchi 1882-1902, Bd. 3, S. 203. Vgl. dazu den perspektivenreichen Beitrag von F. BÜTTNER, Vergegenwärtigung und Affekte in der Bildauffassung des späten 13. Jahrhunderts, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996, in Verb, mit W. FRÜHWALD hg. von D. PEIL, Tübingen 1998, S. 195-213, hier S. 200-209. Vgl. in diesem Zusammenhang den Hinweis von BÜTTNER [Anm. 49], S. 199f., auf die Feststellung des Wilhelm (d.Ä.) Durandus von Mende: Per picturam quidem res gesta ante oculos ponitur [...], per scripturam res gesta quasi per auditum, qui minus animum mouet, ad memoriam reuocantur [Guillelmus Durantis, Rationale diuinorum officiorum I-IV, hg. von A. DAVRIL / Τ. M. THIBODEAU, Turnhout 1995, (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 140), S. 34f.]. Insofern geben sich, bedingt natürlich auch durch die klerikale Filterung, die Legenden in der Regel theologisch 'korrekt' und verwechseln nicht - was man als negative Kehrseite der seit Gregor d.Gr. propagierten Belehrung durch Bilder befürchtete - das Bild mit dem Prototypus (vgl. zu diesem Problem, mit weiteren Literaturhinweisen, BÜTTNER [Anm. 49], S. 201,207f., 212f.).

Imitatio als Funktion der Memoria

gleichfalls nicht selten begegnende Wunder der 'lebendigen' Gebeine.52 Der Fall, daß das Bild nicht bloß an einen (zumindest physisch) Toten erinnert, sondern daß die Erinnerung diesen sogar physisch wieder wirklich gegenwärtig werden läßt, kann nur deshalb, weil man ihm auch im vermeintlich 'leichtgläubigen' Mittelalter den Status absoluter Exzeptionalität zugeschrieben hat, so erschütternd wirken, daß selbst eingefleischte Verbrecher und 'rationalistische' Zweifler sich bekehren. Zwei Beispiele von vielen seien herausgegriffen: Nikolaus von Myra zeigt sich, nachdem ein ausgeraubter Jude voller Wut auf den ihm einzig noch verbliebenen Besitz, ein Bild des Heiligen, eingeprügelt hat, den Räubern mit seinem von den Schlägen zerschundenen Körper, woraufhin diese das Diebesgut reumütig zurückgeben, fortan ehrbar leben und der Jude Christ wird.53 Ein wesentlich elaborierteres Beispiel bietet - angesichts der im 13. Jahrhundert aufbrechenden „Wirklichkeitsorientierung"54 der bildenden Kunst nicht zufällig - die Franziskuslegende. Hier wird von einem Apulier namens Rogerius berichtet, der, nachdenklich vor einem Bild des Heiligen stehend, die Frage aufwirft, ob das Abgebildete den 'wahren' Franziskus, so, wie er tatsächlich ausgesehen habe, repräsentiere und also eine verläßliche Gedächtnisstütze sei oder ob es sich womöglich nur um eine pia [...] illusio handle, wenn nicht sogar um einen absichtlichen Betrug, d.h. um eine aus allzu menschlichen Interessen resultierende Manipulation der memoria.55 Der Heilige klärt diese Frage, indem er die Authentizität auf eine das Medium des Bildes verlassende, spektakulär direkte Weise 'signiert': Er schreibt eine tiefe Wunde in die linke Hand des Rogerius ein, ähnlich wie er in einem anderen Mirakel mit jenem signum Thau, mit dem er zu seinen Lebzeiten Schriftstücke zu unterzeichnen pflegte, seine Präsenz in den Körper eines Mannes einbrennt.56 Solche Bekräftigungen waren, wie interessengeleitet auch immer, jedenfalls nötig, und es will scheinen, als hätte zum Wohl der Nachfahren so mancher Heilige um seine memoria regelrecht zu kämpfen gehabt. Die Vorstellung, daß angesichts der Schwierigkeiten im Umgang mit der zeichenhaft vermittelten memoria nicht nur die Nachfahren mit dem (Heiligen-)Gedenken zu kämpfen haben, sondern infolgedessen die Heiligen selbst zu einem 52

53

Vgl. dazu KROOS [Anm. 22], S. 38f„ und WENZEL [Anm. 16], S. 101. Unter Vernachlässigung des Aspekts, daß die 'lebendigen' Gebeine ja ausdrücklich als Wunder interpretiert worden sind, die Menschen von den Gebeinen der Heiligen also gerade nicht „menschliche Reaktionen und Verhaltensweisen e r w a r t e t e n " (WENZEL, S. 101; meine Hervorhebung), sehen KROOS und WENZEL hierin allerdings wie selbstverständlich nur Beispiele für die 'naive' Glaubenskonkretheit des Mittelalters. Diese 'naive' Glaubenskonkretheit ist, wie mir scheint, durchaus zumindest der Differenzierung bedürftig. Cap. III, S. 27f.

54

V g l . BÜTTNER [ A n m . 4 9 ] , S. 2 0 9 - 2 1 2 .

55

Cap. CXLIX, S. 667. Cap. CXLIX, S. 673.

56

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Edith Feistner

keineswegs geringen Teil nach ihrem Tod damit beschäftigt sind, sich einen Platz in der memoria zu erhalten, wird noch zusätzlich untermauert durch die antimemoriale Triebkraft des Teufels, der es darauf anlegt, über die für ihn leichte Beute der Heiden hinaus auch den Christen - bis hin zu den höchsten kirchlichen Amtsträgern - das Vergessen schmackhaft zu machen. Als Angriffsfläche bietet sich ihm dabei die Sünde an: So hat er leichtes Spiel, den von der invidia, einer der Sieben Hauptsünden,57 beherrschten päpstlichen Nachfolger Gregors d.Gr. und weitere neiderfüllte Kleriker dazu zu bewegen, die Bücher des Heiligen zu verbrennen, um nicht mehr an dessen Leistung erinnert zu werden - was nur der von der Sünde des Neides freie Petrus Diaconus abzuwehren vermag.58 Getrieben durch die avaritia, eine andere Hauptsünde, will ein Priester eine Kerze löschen, die man zum Gedächtnis des Hl. Petrus Martyr angezündet hat.59 Als trotz allen verzweifelten Bemühens das Licht immer wieder erscheint, verläßt er, die avaritia nun auch noch um die Hauptsünde des taedium verdoppelnd, den Ort, geht zum Chorraum und findet dort auf dem Hochaltar erneut eine dem Heiligen geweihte Kerze, die er unverzüglich mit gleicher Verbissenheit zu löschen sucht, bis ihm ein anderer, durch Fasten und Beten gestärkter Priester den Teufel austreibt. Ungekehrt gelingt es dem Bischof Eusebius auf keine Weise, eine Kerze anzuzünden, als er die dem Hl. Germanus vorbehaltene Kirchweihe, ohne des Heiligen entsprechend zu gedenken, nach dessen Tod einfach selber vollziehen will.60 Wo der eine also durch die Sünde des Geizes dazu verfuhrt wird, die Kerze anstatt als Memorialzeichen bloß materialiter als Objekt zu sehen, das sein Licht verschwendet, meint der andere, über den Zeichenträger eigenmächtig verfügen zu können und läuft damit seinerseits Gefahr, die memoria zu relativieren. Insgesamt läßt sich demnach festhalten, daß die absichtliche Destruktion der memoria in gleicher Weise wie das unabsichtliche, menschlicher labilitas entspringende Vergessen dort ansetzt, wo die für die memoria konstutitive Schwierigkeit liegt: bei der zeichenhaften Vermittlung. Mit der Prämisse von der zeichenhaften 'Re-Präsentation' physisch nicht (mehr) gegenwärtiger Objekte spiegelt und potenziert die memoria jenes Moment der Zeichenhaftigkeit, das im Rahmen des mittelalterlichen Konzepts göttlich garantierter Wirklichkeit61 bereits für die Wahrnehmung des je Gegenwärtigen in Rechnung gestellt wird. Während 57 58 59 60 61

272

Vgl. dazu M. W. BLOOMFIELD, The Seven Deadly Sins. An Introduction to the History of a Religious Concept, with Special Reference to Medieval English Literature, Michigan 1952. Cap. XL VI, S. 199f. Cap. LXIII, S. 289. Cap. CVII, S. 451. Vgl. Η. BLUMENBERG, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, hg. von H. R. JAUB, 2., durchges. Aufl., München 1969, (Poetik und Hermeneutik I), S. 1 lf., 20f.

Imitatio als Funktion der Memoria

es innerhalb der liturgischen memoria dementsprechend als Glaubensgeheimnis gilt, daß Gott, vermittelt über die Erinnerung an seinen auferstandenen Sohn Jesus Christus, die Ebene der Zeichenhaftigkeit durchstößt und eine ritualisierte, aber gleichwohl für den Menschen unsichtbare Realpräsenz gewinnt, erfüllen die Heiligen als ganz und gar menschliche Spiegelbilder göttlichen Wirkens die Zeichen der memoria durch das Wunder unvermittelter posthumer Präsenz immer wieder sehr konkret mit Leben. Oft genug handelt es sich dabei freilich auch um Strafwunder, die dazu dienen, die Verharmlosung oder gar Zerstörung der memoria zu unterbinden. Derart stabilisiert die Legende in gattungsspezifischer Form das religiöse Gedächtnis. Was davon aber stets unberührt bleibt, ist das Bewußtsein, daß der Mensch allenfalls mit Hilfe in sich gestufter Spiegelungsinstanzen die Dichte der memorialen Verweisungszusammenhänge erhöhen, nicht aber aus eigener Kraft die Zeichenhaftigkeit der memoria hintergehen kann, ja daß er ohne den Beistand 'von oben' mitunter selbst bei bester Absicht nicht einmal die Zeichen der memoria als solche zu erkennen vermag.62 Die Legende hat offenbar gerade deshalb, weil ihr die im Zweifelsfall 'von oben' regulierte memoria als gattungsspezifischer Schutzrahmen zugewiesen ist, Raum dafür bereit gestellt, die Brüchigkeit der menschlichen Erinnerung zu thematisieren.

III Religiöse memoria, wie sie parallel zum Liturgieverständnis in der Hagiographie des lateinischen Mittelalters thematisiert wird, ist keine Frage einer vom Menschen technisch steuerbaren Speicherungsfähigkeit und auch keine Frage der intellektuellen Kapazität, sondern zuallererst eine Frage der Einstellung. Memoria wird hier, wie die vorausgehende Untersuchung zu zeigen versucht hat, im grundsätzlichen Sinn als eine durch göttliche Gnade verliehene Kompetenz betrachtet, die der Mensch im Akt der Erinnerung vollzieht. Aus der Perspektive Gottes stellt die Verleihung dieser Kompetenz das Zeichen seiner ungebrochenen Zuwendung zur Schöpfung dar. Aus der Perspektive des Menschen, der durch den Sündenfall die bruchlose Identität mit der Schöpfung verloren und sich damit von seiner selbstverständlichen Nähe zum Schöpfer entfernt hat, setzt die Realisierung dieser Kompetenz den Verzicht darauf voraus, der Welt irgendeine Form von immanentem, auf menschliche Beherrschbarkeit zielenden Eigenwert zuzuschreiben. Dabei 62

Vgl. dazu etwa den in den Legenden der Apostel Andreas, Bartholomäus und Johannes Evangelista begegnenden Fall, daß der Heilige in Pilgergestalt einem Gläubigen, der seiner gedenkt, erscheint, von diesem aber zunächst gar nicht erkannt wird (Cap. II, S. 19-21, Cap. CXXIII, S. 545, Cap. IX, S. 62). 273

Edith Feistner

kann der Mensch die Schöpfung zwar nur mehr als Zeichensystem 'lesen', in dem alles, nicht zuletzt er selbst, an den Schöpfer erinnert, dieser jedoch eo ipso der direkten Anschauung entzogen bleibt. Wodurch der Mensch als Teil der Schöpfung aber besonders ausgezeichnet ist, ist eben die Fähigkeit, sich an seine eigene Geschöpflichkeit - und das heißt auch an seine eigene Zeichenhafitigkeit irrt Blick auf den Schöpfer - zu erinnern, obgleich er sich nicht an den Schöpfer selbst erinnern kann. Memoria bildet in diesem Sinn also geradezu das Produkt der Unverfügbarkeit ihres Inhalts. Wie schwierig sich aufgrund dessen die Realisierung der memoria gestaltet, schlägt sich in der labilitas memoriae nieder, die in den Legenden auf der Ebene der Nebenfiguren thematisiert wird, während auf der Ebene der Hauptfiguren die Virtuosität im Umgang mit der memoria als Merkmal heiligmäßiger Exzeptionalität vor Augen tritt. Die Heiligen gelten wegen ihrer memorialen Virtuosität auch nach ihrem physischen Tod als Stützpfeiler gegen das im wahrsten Sinn des Wortes 'teuflische' Vergessen, das aus der Instabilität der Zeichen hervorgeht. Darüber hinaus artikulieren Legenden mitunter auch bereits eine durchaus modern wirkende, signifikanterweise aber noch der Verführungskraft des Teufels zugeschriebene Tendenz, die Dimension je gegenwärtiger 'Eigentlichkeit' vom Rekurs auf eine memorialsymbolisch fundierte Interpretation des Gegenwärtigen abzukoppeln.63 Man sollte sich deshalb zumindest fragen, ob die vielbeschworene, beklagte oder belächelte „chaotische Überfüllung des Kirchenjahrs" mit Heiligenfesten64 samt Reliquienverehrung und 'Sucht' nach Wundern historisch tatsächlich nur als Phänomen einer naivreligiösen Trivialisierung zu erklären ist und nicht mit mindestens ebenso großer Berechtigung als Kompensationsphänomen angesichts einer zunehmend wahrgenommenen Gefährdung des religiösen Gedächtnisses, die sich im langfristigen Prozeß der Verschiebung von Wirklichkeitskonzepten abzeichnet. Gerade im Blick auf das Mittelalter würde dann S C H M I D T S These historisches Profil gewinnen, wonach die mit der metaphorischen Umschreibung des Gedächtnis-

63

64

Noch Martin Luther sah - nun freilich aus der Perspektive einer substantiellen Kritik an der mittelalterlichen Hagiographie - den Teufel als Störer des rechten Heiligengedenkens am Werk: Es ist ein eigene plag von dem Teuffell, das wir kein legendam sanctorum rein haben [...]. Und ist ein schwere arbeit, legendas sanctorum zu corrigirn (WA, Tischreden, Bd. 5, S. 314) bzw. Tantum est odium Serpentis contra semen mulieris et Ecclesiam Christi, ut etiam post mortem persequatur memoriam Sanctorum, ne vel eorum egregia dicta et facta viventibus salutari exemplo vel consolationi esse possent (WA, Bd. 54, S. 109). Vgl. dazu insgesamt H.-J. ZIEGELER, Wahrheit, Lügen, Fiktionen. Zu Martin Luthers 'Lügend von S. Johanne Chrysostomo' und zum Status literarischer Gattungen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von W. HAUG, Tübingen 1999, (Fortuna Vitrea 16), S. 237-262. Vgl. den Art. 'Feste', in: Theologische Realenzyklopädie XI, hg. von G. KRAUSE / G. MÜLLER, B e r l i n 1 9 8 3 , S. 1 2 1 - 1 2 3 .

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Imitatio als Funktion der Memoria

ses als 'Bibliothek' noch heute verbundene Speichervorstellung zuallererst als Ausdruck einer kulturellen Wunschprojektion zu interpretieren sei.65 Man hat aus dem Befund, daß das dem modernen Historizitätsbewußtsein eigene Gefühl fiir geschichtliche Alterität und Diskontinuität im Mittelalter weitgehend fehlt, wohl allzu rasch auf eine noch völlig „selbstverständliche Zuversicht des Bewahrens durch Weitergeben" geschlossen.66 Tatsächlich bewirkt die zeichenhafte Wirklichkeitswahrnehmung des Mittelalters, daß Geschichte geradezu als 'Buch' begriffen, 67 d.h. auf der qualitativ konstant bleibenden Ebene eines Textsystems angesiedelt wird. In diesem Textsystem spiegelt die memoria die Befangenheit des Menschen im Zirkel der Zeichen nochmals wider, erhält aber gleichzeitig als einzig zugängliches (bzw. als einzig 'erlaubtes') Instrument der Wirklichkeitsversicherung einen derart absoluten Stellenwert, daß hinter dem Impetus des Bewahrens die Angst vor Wirklichkeitsverlust nicht übersehen werden darf. Während in fiktionalen Wirklichkeitsentwürfen höfischer Dichtung die Unverfügbarkeit der Erinnerung auf der Ebene der Figuren von außen aus der sicheren Warte des eigenen ästhetisierten Verfügens über das Gedächtnis „in der Kontinuität der Narration und der Arretierung der Schrift"68 beobachtet werden und der allwissende Erzähler das Publikum von jenem Dickicht der Zeichen erlösen kann, in das die Figuren verstrickt sind,69 muß sich im 'Buch' der Geschichte der Mensch selbst wie eine Textfigur wahrnehmen. Die große 'Buchbewertung' wird denn auch bis zum Jüngsten Tag aufgeschoben,70 und zwar keineswegs nur deshalb, weil erst dann das 'Buch' der Geschichte abgeschlossen ist, sondern weil der Mensch grundsätzlich auf die über diesem 'Buch' stehende Instanz Gottes warten muß, um, wie Bonaventura schreibt, aus dem Vergleich mit dem göttlichen Uber vitae, wo von Anbeginn an die zum Leben Vorbestimmten mit all ihren Potentialen verzeichnet gewesen sind, rückblickend zu erfahren, inwieweit er seinen Platz

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66 67 68

S. J. SCHMIDT, Gedächtnis - Erzählen - Identität, in: Mnemosyne [Anm. 9], S. 390f. Zur konstruktivistisch bzw. neurophysiologisch fundierten Kritik am Begriff der Bedeutungsspeicherung im Gedächtnis vgl. insgesamt: Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, hg. von S. J. SCHMIDT, Frankfurt a.M. 1991. A. ASSMANN, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Mnemosyne [Anm. 9], S. 27. Auf die Bedeutung der mittelalterlichen Buchmetaphorik hat schon E. R. CURTIUS hingewiesen: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern "1993, S. 315-335. Vgl. K. STIERLE, Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift. Über den Ursprung des Romans bei Chretien de Troyes, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hg. von A. HAVERKAMP / R. LACHMANN, München 1993, (Poetik und Hermeneutik XV), S. 117-159, hier S. 119.

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Vgl. H.-J. ZIEGELER, Schrift und Wahrheit im deutschen 'Lancelot', in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, hg. von I. KASTEN, Sigmaringen 1998, (Beihefte der Francia 43), S. 201-213. Vgl. dazu das von CURTIUS [Anm. 67], S. 322, zitierte Beispiel aus dem 'Dies irae'Hymnus des Thomas von Celano.

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Edith Feistner

in der Geschichte auch verwirklicht hat.71 Religiöse memoria und menschliches Weltwissen treten erst auseinander, nachdem der empirische Blick dem Reservat des Teufels entrissen worden ist.

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Vgl. A. ANGENENDT, Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten-Memoria, in: Memoria [Anm. 3], S. 195.

Selbsterkenntnis und Selbstvergessen im Spiegel des Gotteswortes Bernhard von Clairvaux v o n WENDELIN K N O C H

I. Zur Einfuhrung

1. Zum geistigen und geistlichen Profil der Epoche der Frühscholastik Die Präsenz christlich geprägter, kirchlich-institutionell eingebundener Religiosität im Hochmittelalter läßt sich als gewichtiger Impuls wahrnehmen, der nicht nur das Alltagsleben mitbestimmt1, sondern auch - weit über den Bereich der Institution 'Kirche' hinausreichend - das politische und ökonomische Leben geprägt hat.2 Signifikant ist hier das im 12. Jahrhundert aufbrechende Ringen um die Zuordnung von fides und ratio, welches in der Auseinandersetzung zwischen Bernhard von Clairvaux und Petrus Abälard seine exemplarische Ausformung erfahrt.3 Diese Auseinandersetzung - auch in ihrem geistesgeschichtlichen Gewicht wie ihrer aktuellen Brisanz erkannt und gewürdigt4 - , rückt die Ratio gerade dort in den Blick, wo diese die theologische Reflexion zur kritischen Selbstwahrnehmung 1

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Siehe H.-W. GOETZ, Weltliches Leben in frommer Gesinnung? Lebensformen und Vorstellungswelten im frühen und hohen Mittelalter, in: G. ALTHOFF u.a., Neuigkeiten aus dem Mittelalter. Menschen im Schatten der Kathedrale, Darmstadt 1998, 113-228. Vgl. J. KÖHLER, Politik und Spiritualität. Das Kloster Hirsau im Zentrum mittelalterlicher Reformbewegungen, München 1991. Siehe O. LANGER, Affekt und Ratio in der Mystik Bernhards von Clairvaux, in: Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, hg. v. D. R. BAUER/G. FUCHS, Innsbruck 1996, S. 136-150, hier S. 137, 140ff.; W. KNOCH, Der Streit zwischen Bernhard von Clairvaux und Petrus Abälard - Ein exemplarisches Ringen um verantworteten Glauben, in: FZPhTh 38 (1991) 299-315; F. COURTH, Die Logik der Gottesliebe. Zum Theologieverständnis des heiligen Bernhard von Clairvaux, in: FKTh 9 (1993) 11-22, bes. 14fT. Siehe H. FICHTENAU, Ketzer und Professoren, München 1992, bes. S. 258ff. (Frühscholastik und Häresie); ferner J. LECLERCQ, Bernhard von Clairvaux, München 1990, bes. S. 7588. Immer noch anregend: H. REUTER, Geschichte der religiösen Aufklärung im ΜΑ 1, Berlin 1875, Neudruck Aalen 1963, bes. S. 240-259. Zu historischen Fehlurteilen über Bernhard von Clairvaux z.B.: E. FRISCHMUTH, Die politische Konzeption in der Frömmigkeit Bernhards von Clairvaux, Gütersloh 1932.

Wendelin Rnoch

herausfordert, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen nämlich sind die Mysteria fldei selbstkritisch zu befragen, als Schatz dem magisterium cathedrae pastoralis und dem magisterium cathedrae magistralis (Thomas von Aquin)5 überkommen und als Glaubenserbe zur Bewahrung anvertraut. Zum anderen hat die theologische Sicht des Menschen gerade dort, wo mit der neu gewonnenen Gewichtung des Humanum das menschliche Ich als komplexe Wirklichkeit begriffen wird, mit Nachdruck zur Geltung zu bringen, daß der Mensch von Wahrnehmungen und Gefühlen geleitet wird, die nicht auf animalisch-vegetative Willkür reduziert werden können. Der Mensch ist der von Gott Berührte und im Wort Angeredete, er ist der Empfänger von Offenbarung. Und indem er im Ernstnehmen seiner affectiones diese von ihrer Herkünftigkeit her gewichtet, verifiziert er zugleich deren theologische Dimension. Hier nämlich kommt Gott als der Schöpfer und liebende Partner des Menschen in den Blick. Deshalb ist die sapientia die den Menschen adelnde Tugend, welche die bloße scientia weit hinter sich läßt.6 Damit ist hinsichtlich der menschlichen Selbsterkenntnis sichergestellt, daß diese nicht der Beliebigkeit eines Zugriffs mit dem von dieser Erkenntnis gesetzten Maß anheim gestellt ist. Vielmehr erfahrt sie der Mensch in ihrer lastenden Begrenztheit, und er weist damit zugleich den als Hybris interpretierten Anspruch der Ratio zurück, 'grenzenlos offen' zu sein. Andererseits führt die Selbsterkenntnis dort, wo sie sich Gott und seinem Wort öffnet, korrigierend in eine entgrenzte Offenheit hinein, in der das Sich-vergessen ein neues, tieferes Sich-selbst-finden empfängt und dieses zugleich als einzig angemessenes Ziel menschlicher Selbstwahrnehmung entbirgt. Der Zugriff auf das Ich, den die Ratio einfordert, geschieht also stets 'im Glauben', aber nicht in gesuchter Weltferne, sondern im Licht der 'die Welt erschließenden Selbstkundgabe Gottes'. Anthropologie wird nicht aus der Theologie entlassen. Diese Grundperspektive zeitgenössischer Philosophie und Theologie nimmt Bernhard von Clairvaux als gefährliche Bedrohung des christlichen Glaubens wahr, wird hier doch die Mensch-, Lebens- und Weltdeutung nicht mehr unmittelbar aus der in Schriftlesung und Meditation des Gotteswortes eröffneten und in der Kontemplation zutiefst erfahrenen Gottbegegnung heraus gesucht. Gerade hierin

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6

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Siehe W. KNOCH, Gott sucht den Menschen. Offenbarung, Schrift, Tradition, AMATECA 4, Paderborn 1997, 251 f. In aktueller, säkularer Perspektive wird wahrgenommen, daß der scientia der Wille zur Macht und damit zur instrumentellen Übermächtigung innewohnt. Siehe LANGER [Anm. 3], 5. 150.

Selbsterkenntnis und Selbstvergessen im Spiegel des Gotteswortes

erweist sich dieser einflußreiche Zisterzienserabt im Geiste Benedikts als herausragender Vertreter der Mönchstheologie. 7

2. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) - biographische Akzente „Am 21. März 1098, dem Festtag des heiligen Benedikts, begann das klösterliche Leben in Citeaux nahe Dijon, der Hauptstadt des Herzogtums Burgund" 8 , und von Citeaux wurden dann die vier Primarabteien La Ferte 1113, Pontigny 1114, Clairvaux 1115 und Morimond 1115 besiedelt. „1118 gründet Bernhard von Clairvaux das erste Tochterkloster aller vier Primarabteien: Trois Fontaine - und eröffnet damit die Staunen erregende Expansion des Zisterzienserordens, die weitgehend ihm zu verdanken ist [...] Bernhard hat 68 direkte Gründungen vorgenommen, die ihm als Vaterabt unterstellt waren" 9 . - Hinter den damit verbundenen vielschichtigen, für den Zisterzienserorden materiell, geistlich und geistig fordernden Aktivitäten tritt die Einflußnahme Bernhards von Clairvaux auf das politische, kirchliche und wissenschaftliche Leben keineswegs zurück. Als gelehrter Briefschreiber, Theologe und kirchlicher Berater ist er auch hier eine prägende Persönlichkeit. Bernhard, „der geborene Dichter und Schriftsteller" 10 , war sich seiner literarischen Fähigkeiten wohl bewußt. Dennoch beginnt seine literarische Tätigkeit erst etwa 1124/1125, dann aber nicht mehr unterbrochen bis zu seinem Tode 1153. „1124/25 war genau die Zeit, da der Heilige immer mehr an die Öffentlichkeit trat, Verbindung mit anderen Orden aufnahm, sich an Synoden beteiligte und schließlich im Zusammenhang mit dem Schisma von 1130 in die große Kirchenpolitik einstieg. [...] Bernhard hinterließ über 500 Briefe privaten, freundschaftlichen, pastoralen, kanonistischen, politischen, kirchenpolitischen und dogmatischen Inhalts." 11 Sind die „vielschichtigen" Interessen Bernhards nicht zu übersehen, so ist und bleibt ihm freilich - von der Praxis der Klostererfahrung ausgehend - die Klärung der Fragen besonders wichtig, die um „Glaube, Hoffnung und Liebe, Rechtfertigung und Erlösung" 12 kreisen. Bernhard legt dazu in seiner Schrift 'Stufen zur Demut' (1124) - von seinen Mönchen erbeten - die anthropologischen Vorausset7

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Siehe U. KÖPF, Monastische und scholastische Theologie, in: Bernhard von Clairvaux, s. Anm. 3, S. 96-135, bes. S. 116ff; ferner J. LECLERCQ, Art. Bernhard von Clairvaux, 3 LThK, 2, Sp. 268-270. J. HOTZ, Zisterzienserklöster in Oberfranken, München 1982, S. 3. Α. M. ALDERMATT O. CIST., Zurück zu den Quellen: Geschichte und Spiritualität der Zisterzienserklöster, in: Klosterführer aller Zisterzienserklöster im deutschsprachigen Raum, hg. P. PFISTER, Straßburg 1997, S. 15-26, hier S. 18. Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke, lat./dt., hg. von G. B. WINKLER Innsbruck 19901999, Bd. I, Einleitung, S. 15-37, hier S. 34. Ebd. Ebd., S. 35.

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zungen dar, aus denen heraus die notwendige Verschränkung von Gnade und Aszese einsichtig werden. Gott nämlich wünscht, „sich mit der gläubigen Seele zu vereinen. Das ist die 'Hochzeit des Herzens', die den spirituellen Weg strengster Aszese beschließt".13 Wörtlich schreibt Bernhard: Selig der Geist, der sich mit diesem Schmuck der Zucht wie mit einem weißen Gewand himmlischer Unschuld bekleidet hat. Durch ihn verdient er sich die glorreiche Gleichgestaltung, nicht mit der Welt, sondern mit dem Wort. Davon lesen wir in dem Buch der Weisheit: Sie ist der Widerschein des ewigen Lebens, Glanz und Abbild von Gottes Vollkommenheit (Weish 7,26). Auf dieser Stufe wagt es die Seele, die dahin gelangt ist, an die Hochzeit zu denken. Sollte sie es nicht wagen, da sie doch beobachtet, daß sie durch ihre Ähnlichkeit heiratsfähig geworden ist? [...] Wenn du also eine Seele siehst, die alles zurückgelassen hat (Lk 5,11), die mit all ihrer Sehnsucht am Wort hängt, die vom Wort lebt, vom Wort sich führen läßt, die vom Wort empfängt, um dem Wort zu gebären, die sagen kann: „ Für mich ist Christus das Leben - und Sterben Gewinn " (Phil 1,21), dann erkenne, daß es die dem Wort vermählte Gattin ist.14

Hier legt Bernhard zugleich „die Grundlage für seine mystische Theologie, die er ab 1135 in seinen Predigten zum Hohenlied darzustellen begann"15. Hierin profiliert sich der begnadigte Prediger Bernhard in eigener Weise. Das Gesamtwerk Bernhards von Clairvaux weist 350 Predigten und 4 Marienhomilien auf, und es bezeugt damit diesen einflußreichen Abt als „Mann des Wortes".16 Daß seinen Hoheliedauslegungen besondere Bedeutung zukommt, bezeugt Bernhard selbst; denn er hat sie erst nach eigener Überarbeitung abschnittsweise zur Weiterverbreitung aus der Hand gegeben.17 Die Predigten sind somit ein sorgfältig ausgefeiltes literarisches Werk, zeitgenössisch auch als „Buch", „Auslegung" oder „Abhandlung" bezeichnet.18 Bernhards Sermones 'super cantica canticorum', zwischen 1135 und 1153, dem Todesjahr, entstanden, die Summe dessen, was er erkannte und schaute, was ihn bewegte und erfüllte, gehören zu den bedeutendsten und in der Wirkung nachhaltigsten Schöpfungen der theologischen Latinität des Mittelalters. Wie ein mächtiger Strom haben sie die aszetischmystische Literatur seines Jahrhunderts und der folgenden, sehr früh auch das volkssprachliche Schrifttum befruchtet und genährt. Alle, die in Wort und Schrift

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G. BINDING, Art. Bernhard von Clairvaux, LdM I, Sp. 1992-1998, hier Sp. 1995. Sämtliche Werke [Anm. 10],VI, Predigten über das Hohe Lied, 85. Predigt, S. 629-647, hier S. 645-647. Sämtliche Werke [Anm. 10], I, Einleitung, S. 35. Siehe W. K.NOCH, Der Abt Bernhard von Clairvaux, Vater der zisterziensischen Predigtkultur - geistlicher Ursprung einer literarischen Gattung und ihrer Rezeptionsgeschichte, in: Zisterzienserakademie, Berichtsheft des zweiten Symposions vom 10.-17.04.1999, Grevenbroich 2000, S. 49-59 Es geht z.B. auf Bernhard von Clairvaux selbst zurück, daß die ursprünglich unter den Nummern 24 und 25 gezählten Sermones in einer Predigt (Ziffer 24) zusammengefaßt sind. Siehe U. KÖPF, Einleitung, in: Sämtliche Werke [Anm. 10], V, S. 27-47, hier S. 28f.

Selbsterkenntnis und Selbstvergessen im Spiegel des Gotteswortes

von Gottesliebe und Gottesschau sprachen, beriefen sich auf sie.19 Richten wir im folgenden unseren Blick auf die anthropologischen Konsequenzen des theologischen Grundansatzes von Bernhard von Clairvaux.20

II.

Selbsterkenntnis und Wort Gottes

Selbsterkenntnis bedeutet für Bernhard nüchterne Wahrnehmung seines eigenen Temperamentes.21 Bernhard weiß auch darum, daß er seine eigene geistliche Berufung zum Mönchtum gegen starke Widerstände bewähren mußte.22 Und schließlich kennt Bernhard auch die menschlichen Schwächen. So charakterisiert er einmal mit hintergründigem Humor im Blick auf die Verlockungen des fleischlichen Lebens und die Tröstungen der irdischen Leichtfertigkeit die Folgen der Gaumenlust fur den Leib: Die Gaumenlust, die heute in so hohen Ehren steht, erreicht kaum eine Breite von zwei Fingern. Doch - mit welcher Sorgfalt wird dieses so winzige Vergnügen eines so kleinen Körperteils vorbereitet und wie große Mühsal bereitet es selbst danach? Seinetwegen gehen Rücken und Schultern immer mehr in die Breite, seinetwegen werden die wachsenden Fettbäuche nicht so sehr mächtig, als geradezu Untergang trächtig, und da die Knochen die Last des Fleisches nicht tragen können, kommen sogar verschiedene Krankheiten zum Ausbruch,23

Vor allem jedoch geht es Bernhard darum, die menschlichen Stärken wie Schwächen als geistlicher Lehrer zu gewichten. Nur in Rückbindung an Gott nämlich vermag der Mensch selbst Stand zu finden, und deshalb muß er sein Tun und Lassen gleichsam auch von Gott her in den Blick nehmen. Denn es ist Gott selbst, der uns zum Guten a«[regt]. Er bewahrt uns im Guten. Er kommt zuvor, er hält aufrecht, er erfüllt24 Bernhard versteht sich hier ganz als Ausleger der Heiligen Schrift. Dabei greift er zu einem 'traditionell' auf die Erhellung der Schriftaussagen durch die 'Schriftsinne' zurück, ohne andererseits die Aktualität der Bibel aus

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22

23 24

K. RUH, Geschichte der abendländischen Mystik 1, München 1990, Bernhard von Clairvaux, S. 226-275, hier S. 249. Die Sermones und Homilien Bernhards sind in ihrer lat. Fassung (krit. Ed. J. LECLERCQ u.a., Rom 1957-77) mit dt. Übers, abgedr. in: Sämtliche Werke [Anm. 10], Bde. 4-9. Vgl. Epistel 70 (Sämtliche Werke II, 584-587, hier: 587): „Als mein Bruder Bartelemy noch lebte, brachte er mich eines Tages in Rage. Bebend vor Wut, und unter Drohgebärden und mit lauter Stimme befahl ich ihm das Kloster zu verlassen [...]". Siehe Epistel 2 (Sämtliche Werke [Anm. 10], II, S. 264-285, hier S. 269): „Ohne Zweifel hat (der Dekan) meinen Eifer als Novize auszulöschen gedacht; doch hat er es - Gott sei Dank - nicht zustande gebracht." An die Kleriker über die Bekehrung/zum Fest Allerheiligen, Sämtliche Werke [Anm. 10], IV, Text 148-243(5), hier 185. Sämtliche Werke [Anm. 10], I, Über die Gottesliebe, Text 74-145/151, hier 1 lOf.

281

Wendelin Knoch

dem Auge zu verlieren.25 Für Bernhard gilt, daß er das Wort Gottes nicht „als historische Quelle"26 zitiert, sondern es in seiner existentiellen Tiefenschicht begreift. Damit fallt er nicht unter das Verdikt, die scholastische Schriftauslegung greife ins Leere, da sie in Verkennung der Bedeutung des Literalsinns, der in historisch-kritischer Analyse erschlossen wird, nicht nur den authentischen israelitisch-jüdischen Verständnishorizont ausblende, sondern zudem in plumper Verchristlichung bzw. Verkirchlichung aus der ursprünglichen Weite der Gottbegegnung bzw. -erfahrung herausführe. Für Bernhard steht demgegenüber fest: Menschliche Selbsterkenntnis schöpft in ihrer Tiefe aus Gotterfahrung 27 In dieser Hinsicht ist für Bernhard die Heilige Schrift kein willfahriges Werkzeug, sondern unerschöpfliche Quelle göttlicher Belehrung „im Geist". Denn „die Beziehungen zwischen den in der Schrift aufbewahrten Erfahrungen und den Erfahrungen des Subjekts sind vielfältig".28 Im Gegenüber zu Gott ist dem Menschen jede Selbstentschuldigung versagt. Er ist unentrinnbar Sünder, ist von der Sünde bezeichnet. Und diese Einsicht führt dazu, daß der Mensch nicht mehr meint - dies als eigene Leistung begreifend - in der Wahrnehmung seiner Gottesferne sich selbst ohne Gott bestimmen zu können; vielmehr erkennt er „in der Selbsterkenntnis [...] seinen Elendszustand als Zustand der Ichbezogenheit der voluntas propria".29 Bereits diese Selbsterkenntnis fußt nämlich auf dem liebenden Handeln Gottes, der auf diese Weise den Akt der Umkehr einleitet. Da Gott bewirkt, daß du dich sehnst, und er selbst das [ist], was du ersehnst30, ist er selbst der Grund der Gottesliebe - um aber dorthin zu gelangen, muß sich der Mensch als erstes seiner selbst bewußt werden. Da aber die Natur zu gebrechlich und zu schwach ist, wird sie von einem inneren Zwang getrieben, zunächst sich selbst zu dienen, und dies f...] ist in der Natur des Menschen angelegt. Denn wer haßt sein eigenes Fleisch?31 Mit Verweis auf das Gebot Jesu Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst (Mt 22,39) weist Bernhard auf den unlösbaren Zusammenhang von Selbst- und Nächstenliebe hin. Linderung von Not und Hilfeleistung, durch welche die Selbstliebe gesprengt und die Nächstenliebe geläutert wird, sind Frucht des Mitleides.32 In differenzierter Analyse des aristotelischen Ansatzes hinsichtlich der Affekte schreibt Bernhard: Dann wird Deine Liebe sowohl maßvoll als auch gerecht sein, wenn Du das, was Du den eigenen Ver25

Siehe U. KÖPF, Schriftauslegung als Ort der Kreuzestheologie Bernhards von Clairvaux, in: BAUER/FUCHS [Aran. 3], S. 194-213, hier S. 201f.

26

KÖPF, I.e. 2 0 3 . V g l . KÖPF [ A n m . 7], S. 134. KÖPF [ A n m . 2 5 ] , S . 2 0 5 . LANGER [ A n m . 3 ] , S . 143.

27 28 29

30 31 32

282

Sämtliche Werke [Aran. 10], I, Über die Gottesliebe, S. 111. Ebd. S. 113. Siehe LANGER [Anm. 3], S. 143f.

Selbsterkenntnis und Selbstvergessen im Spiegel des Gotteswortes

gnügungen

entziehst,

der Not des Bruders nicht versagst.

ge Liebe zur Nächstenliebe,

So wird die

wenn sie sich auf die Allgemeinheit

selbstsüchti-

ausdehnt.33

Dabei

ist Bernhard bewußt, daß die Liebe zum Nächsten an Gott rückgebunden ist, der die Liebe ist. Die Selbsterkenntnis des Menschen fuhrt somit unmittelbar zur Schau Gottes, der sich als Liebesmacht erfahren läßt. Wie sonst könnte der Nächsten

in reiner Weise lieben, der ihn nicht in Gott liebt? In Gott lieben

den kann

aber der nicht, der Gott nicht liebt. Man muß also zuerst Gott lieben, um dann in Gott den Nächsten

lieben zu können. Gott, der auch alles übrige 34

bewirkt also auch, daß er geliebt wird.

Gute

bewirkt,

- Für Bernhard hat sich die wirkmächtige

Gegenwart der Liebesmacht Gottes unüberbietbar in der Menschwerdung Jesu Christi konkretisiert. In seiner Jesus-Minne

fugen sich deshalb dessen Geburt,

Leiden und Tod um unseres Heiles willen zur Einheit zusammen. Bernhard mahnt: „ Tu Buße, denn durch sie ist Dir das Reich nahe" (Mt 3,2). Das predigt Dir jener Stall, das ruft die Krippe, das künden unüberhörbar jene zarten Glieder des Kindes, davon sprechen die Tränen und das Wimmern. Ja, Christus weint, nicht wie die anderen Kinder oder sicher nicht aus dem gleichen Grund, aus dem die anderen gewöhnlich weinen. Bei den anderen ist die Empfindung der Sinne der Anlaß, bei Christus wurde die Regung des Herzens übermächtig; jene leiden, doch sie vermögen nichts; denn sie haben ja noch nicht einmal Macht über ihren Willen; jene trauern aus Leid, Christus aus Mitleid; jene beweinen das schwere Joch, das auf allen Kindern Adams lastet, Christus beweint die Sünden der Söhne Adams. Gewiß, für die er jetzt Tränen vergießt, wird er einst sein Blut vergießen. Ο Härte meines Herzens! Würde mir doch, oh Herr, ein Herz aus Fleisch zuteil werden, wie das Wort Fleisch geworden ist! Du hast es doch durch den Propheten versprochen: „ Ich werde das Herz von Stein von Euch nehmen und Euch ein Herz von Fleisch geben" (Ez 36,26).35 Bernhard bezieht beispielhaft diesen höchsten Erweis der Liebe in Leiden und Tod Jesu Christi auf sich und seinen geistlichen Weg. In die Christusnachfolge gerufen, legt er, als Myrrhenbüschel

zusammengefugt, auf die eigene Brust, was ihm

im Blick auf das Leben des Erlösers entgegentritt: Ich sammelte es aus allen Ängsten und Bitternissen meines Herrn, angefangen von den Nöten der Kinderjahre, dann den Mühen, die er beim Predigen ertrug, der Müdigkeit beim Wandern, der Nachtwachen beim Gebet, den Versuchungen beim Fasten, den Tränen des Mitleids, den Hinterhältigkeiten bei den Gesprächen und schließlich den Gefahren durch falsche Brüder, den Schmähungen, den Bespeihungen, den Schlägen, den Verhöhnungen, den Vorwürfen, den Nägeln und Ähnlichem, die der Wald des Evangeliums bekanntlich zum Heil unseres Geschlechtes in großer Zahl hervorgebracht hat. Dabei glaubte ich unter so vielen Zweigen duftender Myrrhe auch jene Myrrhe nicht übersehen zu dürfen, die er am Kreuz zu trinken bekam, noch jene, mit der er beim Begräbnis gesalbt wurde. Bei der ersten von ihnen nahm er die Bitterkeit der Sünden auf sich, bei der zweiten wies er auf die künftige Unsterblichkeit seines Leibes hin. Die Erinnerung an diese große Güte werde ich prei33 34 35

Sämtliche Werke [Anm. 10], I, Über die Gottesliebe, S. 115. Ebd. Sämtliche Werke [Anm. 10], VII, Zum Fest der Geburt des Herrn, 3. Predigt, S. 251-261, hier S. 255,257. Vgl. dazu K Ö P F [Anm. 25], S. 209. 283

Wendelin Knoch sen (Ps 144,7), solange ich lebe; in Ewigkeit werde ich diese Beweise seines Erbarmens nicht vergessen, denn durch sie wurde ich zum Leben erweckt,36

Halten wir fest: Wenn durch Bernhard die Selbsterkenntnis des Menschen im Blick auf die Heilige Schrift thematisiert wird, bringt er in einem ersten Zugriff auf die Wirklichkeit des Menschen die Grundperspektive christlicher Anthropologie zur Geltung. Ohne Gottes ansichtig zu werden, bleibt menschliche Selbsterkenntnis vordergründig, beruft und bewahrt sie das den Menschen zutiefst Prägende nicht in dessen Bewußtsein. Größe und Würde des Menschen werden nämlich - unbeschadet der Wahrnehmung allen Elends - gerade darin offenbar, daß Gott sich im Menschen erfahrbar werden läßt. Und diese Erfahrung enthüllt: Gott erhebt in seiner Liebesmacht den Menschen ohne jedes Verdienst aus den Abgründen von Schuld. Im Leiden und Tod des Gottessohnes, der der unsrige geworden ist, wird die Abgründigkeit menschlicher Gottesferne als Ort des alles übermächtigenden Wirkens der göttlichen Liebe in der Welt-Geschichte unumkehrbar fixiert. Deshalb fuhrt Selbsterkenntnis zur Gotterkenntnis. Der Mystiker Bernhard 'erdet' in der Jesus-Minne, was er im Blick auf den Menschen geistlich durchdringt. Die menschlichen Affekte sind hier von tragender Bedeutung. Hinter ihnen tritt der bloße Intellekt zurück. Demut und Furcht öffnen die Seele für diese Erkenntnis der Nähe Gottes; die compassio fuhrt über den Nächsten hin zu dem sich in Jesus Christus selbst entäußernden leidenden Gott.37 Auf der Basis von lectio divina, meditatio und ratio erkennt Bernhard, daß die Reinigung der Seele, die er in augustinischem Sinne als Einheit von Verstand, Wille und Gedächtnis interpretiert, gemäß dem Gotteswort selig die Armen (Mt 5,3) über den Weg der Bekehrung als der endgültigen Befreiung des geknechteten Willens38 zu Gott führt. Die Einsicht in die eigene Erlösungsbedürftigkeit geht nämlich mit der Erleuchtung der Seele (via illuminativä) einher, da der Geist Gottes im Innersten der Seele ruht (s. 1 Kor 2,11). Im Lichte der Heiligen Schrift erkennt Bernhard überdies, daß Gott selbst die Seele eines jeden füllt, der - auf dem Weg der Selbsterkenntnis voranschreitend sich je tiefer in Gott hineinbegibt. Die Seele brennt deshalb darauf, mehr von diesem Gott zu berühren, drängt schließlich dahin, sich mit ihm zu einen, ganz in ihm zu sein.

36 37

38

284

Sämtliche Werke [Anm. 10], VI, Predigten über das Hohe Lied, 43. Predigt, S. 97-103, hier S. 99/101. LANGER [Anm. 3], S. 147 schreibt dazu: „Mitleidend mit Gott, erkennt die Seele seine tiefsten Geheimnisse und liebt ihn mit einem amor affectuosus cordis. Der Mitleidsschmerz öffnet der Seele die Augen. Wie die Furcht den Richtergott erschließt und uns Gott schmecken läßt, so kostet die Seele in der compassio die suavitas Christi am Kreuze". Siehe Sämtliche Werke [Anm. 10], IV, An die Kleriker über die Bekehrung, S. 141.

Selbsterkenntnis und Selbstvergessen im Spiegel des Gotteswortes

III.

Selbstvergessen und Wort Gottes

Bernhard hat Gotteserfahrung unmittelbar menschlicher Selbsterkenntnis zugeordnet; und gerade deshalb weitet er den Blick hin auf innere, religiöse Erfahrung. Er weiß darum, „daß diese innere Erfahrung zunächst einmal sprachlos sein kann."39 Der Mystiker Bernhard erschließt in seinen Predigten, vor allem in der Auslegung des alttestamentlichen Hohen Liedes, diese intensivste, innigste Dimension von Gottbegegnung. Die Vereinigung der Seele mit dem Gekreuzigten, in der compassio erreicht, wird nunmehr erfahren als die Vereinigung von Bräutigam und Braut, in der die Seele, in bräutlicher Liebe mit Jesus Christus verbunden, vollkommene Erfüllung all ihrer Sehnsucht erfährt. Doch welch ungleiches Paar! Das vollendende, selige Ziel selbstvergessender Hingabe kann erst in dreifachem Kuß erreicht werden. Dem Kuß der Füße, - „es sind Barmherzigkeit und Wahrheit, die der Sünder umfaßt"40 - , dankbarer Ausdruck der mit der Reue gewährten Vergebung der Sünden, folgt der Kuß auf die Hand, die Halt gewährt. Bernhard schreibt: Wenn du das Geschenk annimmst, dann küsse die Hand, das heißt, gib nicht dir die Ehre, sondern dem Namen Gottes. Gib sie einmal, gib sie immer wieder, sowohl für die Vergebung deiner Schuld als auch für die verliehenen Tugenden. [...] Nun endlich, wenn du mit den zwei Küssen zweimal die göttliche Gnade erfahren hast, wirst du vielleicht nicht beschämt werden, wenn du Heiligeres wagst. Denn gewiß: in dem Grade, in dem du an Gnade wächst, wirst du auch stärker an Zuversicht. So kommt es, daß du glühender liebst, daß du vertrauensvoller um das anklopfst, dessen Mangel du spürst. Und „dem, der anklopft, wird geöffnet werden" (Lk 11,10). Wenn du diesen Punkt erreicht hast, wird dir, glaube ich, jenes Höchste nicht mehr verweigert werden, was immer es sei: der Kuß der höchsten Gunst voll wunderbarer Süße. Das ist der Weg, das ist die rechte Abfolge. Zuerst werfen wir uns zu Füßen und bitten vor dem Herrn, der uns geschaffen hat, um Vergebung für das, was wir getan haben. Auf der zweiten Stufe suchen wir die Hand dessen, der uns aufrichtet und die wankenden Knie kräftigt. Und wenn wir endlich unter vielen Bitten und Tränen dies erlangt haben, dann erst wagen wir vielleicht unser Haupt zum Mund der Herrlichkeit selbst empor zu heben, nicht nur, um ihn zu schauen, sondern auch, um ihn zu küssen. Ich sage es unter Zittern und Beben, denn „ der Hauch vor seinem Antlitz ist der Herr, der Gesalbte". (Klagelieder 4,20). Wenn wir uns im heiligen Kuß an ihn binden, werden wir ein Geist durch seine Huld (1 Kor 6,17). Den geistlichen Tagesablauf im Kloster vor Augen fährt Bernhard fort: Als ich zuerst im Staube lag und deine verehrungswürdigen Füße küßte, hast du mir vergeben, was ich im Leben Übles getan hatte; dann im Laufe des Tages hast du die Seele deines Dieners erfreut, indem du hierauf im Kuß der Hand auch die Gnade gewährt hast, recht zu leben. Und nun, ο guter Herr, was bleibt noch übrig, als daß du

39

KÖPF [Anm. 25], S. 207.

40

P. DINZELBACHER, Bernhards Mystik, in: BAUER/FUCHS [Anm. 3], S. 180-193, hier S. 191.

285

Wendelin Knoch mir endlich in der Fülle des Lichtes, in der Glut des Geistes, voll Gnade auch den Kuß deines Mundes gewährst und mich durch dein Antlitz mit Freude erfüllst?41 Dieser Kuß, der das Einströmen

des Heiligen

Geistes

bezeichnet, 4 2 wird zum

M o m e n t der Erfahrung Gottes in seiner dreifaltigen Liebesfulle. Deshalb hebt er, obgleich er in die Selbstvergessenheit der Ekstase hineinführt, die kreatürliche Distanz nicht auf. Bernhard schreibt: [Es] genügt der Braut, wenn sie vom Kuß des Bräutigams geküßt wird, auch wenn sie nicht vom Mund geküßt wird; denn sie hält es nicht für etwas Geringes oder Verächtliches, vom Kuß geküßt zu werden, ist es doch nichts Anderes, als vom Heiligen Geist überströmt zu werden. Wenn nämlich der Vater zurecht als der Küssende, der Sohn als der Geküßte aufgefaßt wird, ist es gewiß nicht unangebracht, den Kuß als den Heiligen Geist zu erkennen. [Er] ist ja der ungetrübte Friede des Vaters und des Sohnes, das feste Band, die untrennbare Liebe, die ungeteilte Einheit. (II. 3.) Was ihn anlangt, ist die Braut also voll Kühnheit und begehrt vertrauensvoll, daß er unter dem Namen des Kusses in sie einströme,43 Wenn die Seele den Geliebten genießt, schließt dies ein Erkennen ein; denn in der Selbsterkenntnis der Seele erkennt diese Gott in sich, dessen Ebenbild Schauend

sie

trägt.

schaut sie ihn,44 Damit wird Vergöttlichung begründet. Das heißt:

(Die Seele) ruht süß in der ersehnten Umarmung und schläft, ihr Herz aber wacht. Mit ihm sc. (dem König) erforscht sie inzwischen die Geheimnisse der Wahrheit, um sich hinterher, gleich wenn sie wieder zu sich gekommen ist, an ihrer Erinnerung zu weiden. Dort sieht sie, was nicht geschaut werden kann, und hört, was unaussprechlich ist, wovon der Mensch nicht sprechen darf. Denn es übersteigt jedes Wissen, das eine Nacht der anderen kundtut (Ps 18,3). Aber der Tag kündet es dem Tag, und unter Weisen darf man von Weisheit reden und den Geisterfüllten das Wirken des Geistes deuten (1 Kor 2,13).45 Die Selbstgabe Gottes wird zum Moment menschlicher Selbstaufgabe in liebender Hingabe. Die Communio

verliert nichts, sie setzt das Tiefste frei, macht Glück als

Beglückung (durch Gott) erfahrbar.

41

4 2

43 44

45

286

Sämtliche Werke [Anm. 10], V, Predigten über das Hohe Lied, 3. Predigt, S. 77-83, hier S. 81-83. DINZELBACHER ([Anm. 40], S. 191), der diese Predigt Bernhards auf den Dreiklang von Versöhnung, Beschenkung und Kontemplation hin interpretiert, meint an dieser Stelle von einer „ganz schematischen Mystagogie" Bernhards sprechen zu müssen. Tatsächlich aber ist es Bernhard darum zu tun, den Klosteralltag auf jene Stufen hin transparent zu machen, auf deren Besteigen jeder Christ seine Gotterfahrung machen und vertiefen kann. DINZELBACHER [Anm. 4 0 ] 1 8 4 mit Verweis auf SC 8 , 2 . Sämtliche Werke V, Predigten über das Hohe Lied, 8. Predigt, 121-133, hier 123. DINZELBACHER [Anm. 4 0 ] , S . 1 8 4 mit Verweis auf E . GILSON. Sämtliche Werke [Anm. 10], II, Über die Stufen der Demut und des Stolzes, Text 39131/135, hier S. 79.

Selbsterkenntnis und Selbstvergessen im Spiegel des Gotteswortes

Summarium Für Bernhard von Clairvaux stehen Jesus-Minne und Gott-Einigung nicht bloß „nebeneinander". Mag der Historiker darin „die Einheit der Naturen in der einen Person Christi" und „den gemeinsamen Erfahrungsbezug im selben religiösen Subjekt" 46 erkennen - Bernhard selbst fuhrt weit tiefer. Er erschließt vom Worte Gottes her als Mystagoge jene geistliche Lebenswirklichkeiten, in denen

wechsel-

seitig Gotterfahrung als Grundlage menschlicher Selbstdeutung eingeholt, bewahrt und ausgelotet werden kann. Noch einmal sei ihm das Wort gegeben: Denn wenn der Sohn, das ist das Wort und die Weisheit des Vaters, zuerst jene Kraft unserer Seele, die Vernunft genannt wird, vom Fleisch niedergedrückt, von der Sünde gefesselt, durch Unwissenheit blind und den äußeren Dingen hingegeben findet, nimmt er sich ihrer milde an, richtet sie kraftvoll auf, unterweist sie klug und führt sie nach innen. Und indem er sich auf wunderbare Weise ihrer so bedient, als wäre sie seine Stellvertreterin, stellt er sie selbst zu ihrer eigenen Richterin auf, so daß sie in Ehrfurcht vor dem Wort, dem sie sich verbindet, als ihre eigene Anklägerin, Zeugin und Richterin das Amt der Wahrheit gegen sich selbst versieht. Aus dieser ersten Vereinigung des Wortes mit der Vernunft ersteht die Demut. Dann macht der Heilige Geist den anderen Bereich der Seele, Wille genannt, barmherzig. Das geschieht, obgleich dieser zwar vom Gift des Fleisches angesteckt ist, aber doch schon von der Vernunft geprüft ist. Er sucht ihn mit seiner Gnade heim und reinigt ihn durch seine Sanftmut und erfüllt ihn mit Feuer [...] Und so geht aus dieser zweiten Verbindung des göttlichen Geistes und des menschlichen Willens die Liebe hervor. Beide Teile aber, die Vernunft und der Wille, sind Gegenstand der väterlichen Erwählung: Die eine wird durch das Wort der Wahrheit unterwiesen, der andere vom Geist der Wahrheit angeweht. [...] Diese nun schon vollkommene Seele ist wegen der Demut ohne Makel, wegen der Liebe ohne Runzel, wo weder der Wille der Vernunft widerstreitet noch die Vernunft die Wahrheit verhehlt. Diese erwählt sich nun der Vater zur strahlenden Braut und verbindet sich mit ihr, so daß weder die Vernunft an sich, noch der Wille an den Nächsten denken kann, sondern jene glückliche Seele nur das Eine voll Freude sagt: „ Der König hat mich in sein Gemach geführt." (Hoheslied 1,3). Sie ist also würdig, nachdem sie in jener Schule des Sohnes gelernt hat, „bei sich selbst Einkehr zu halten ", aus dieser Schule der Demut „ unter der Leitung des Heiligen Geistes durch die Hinneigung zu den Herzen der Mitmenschen [...] in das Gemach der Liebe geführt (zu werden). Dann soll sie, auf Blumen gebettet und mit Äpfeln erquickt (Hoheslied 2,5), das heißt mit den Sitten und edlen und heiligen Tugenden ausgestattet, endlich in das Gemach des Königs zugelassen werden. Denn nach dem verzehrt sie sich in Liebe. Da tritt im Himmel für kurze Zeit, etwa eine halbe Stunde, Stille ein 47 Gottes Offenbarung findet ihr Ziel nicht in der bloßen Mitteilung göttlicher Wahrheiten. Das Ziel ist erst dann erreicht, wenn es dem Glaubenden möglich wird, die eigentlich lautlose Selbstmitteilung Gottes zu genießen. Mag die umfassende Enthüllung der Offenbarung der jenseitigen Gottesschau vorbehalten bleiben, so fuhrt, wie Bernhard verdeutlicht, das Eindringen in das Geheimnis der Inkarnation zu der Einsicht, daß Gott selbst als der Gegenwärtige sich mit der gläubigen Seele 46 47

KÖPF [Anm. 25], S. 213. Sämtliche Werke [Anm. 10], II, über die Stufen der Demut und des Stolzes, S. 77. 287

Wendelin Knoch

zu vereinigen wünscht. Diese Hochzeit des Herzens nötigt zum Beschreiten eines geistlichen Weges, der Kontemplation und strenge Askese miteinander vereint. Denn diese Hochzeit fordert je größere Liebe. Und um dieser Liebe willen lohnt jeder Einsatz; denn sie ist der Ersatz fur die auf Erden fehlende Gottesschau. Wenn Anselm von Canterbury schreiben konnte: Fides quaerens intellectum, - es ist der Glaube, der nach der Vernunft fragt48 - , so verinnerlicht Bernhard diese Einsicht hin zur Feststellung: „Die Seele ist es, die nach dem Wort fragt". 49 Das letztgültige Wort, die alles erfüllende Selbstmitteilung Gottes, kann einzig in der mystischen Kontemplation gefunden werden. Für den Mönch Bernhard ist die aszetisch-radikale Praxis mönchischen Lebens als „vorläufige Antizipation des Lebens" im „Himmlischen Jerusalem"50 exemplarisch für jenen Weg, auf dem der Christ im Beschreiten der in geistlicher Predigt erschlossenen Stufen zu vollkommener Vereinigung der Seele mit Gott zu gelangen vermag. Gerade so verweist uns der begnadete Prediger Bernhard, indem er als „doctor mellifluus" die Heilige Schrift auslegt, auf deren letztgültige Autorität. Es ist das Wort Gottes, das die Memoria des Menschen auf Weite hin offen hält: - Selbsterkenntnis und Selbstvergessen sind - im Spiegel des Gotteswortes untrüglicher Weg zum Ziel, dem Sich-Finden, - in Gott.

48 49 50

288

Anselm von Canterbury formuliert das als „wissenschaftliches Programm" in: H. MEINHARD, Art. Anselm von Canterbury, 3LThK 1, Sp. 71 lf., hier Sp. 711. R. GR£GOIRE, Art. Bernhard von Clairvaux, LdM I, Sp. 1992-1995, hier Sp. 1995. M. GERWING, Rezension zu: M. DIERS, Bernhard von Clairvaux, in: ThRv 89 (1993) 229231, hier S. 230.

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung v o n FRIEDRICH WOLFZETTEL

I

Daß das Mittelalter eine Kindheit im eigentlichen Sinn nicht gekannt habe, wird heute wohl auch eine dezidiert mentalitätsgeschichtliche Forschung nicht mehr behaupten, deren Ausgangspunkt und raison d'etre ja die Alterität der Vormoderne ist.1 Zu vielfältig sind die Zeugnisse eines auch literarischen Interesses an der Kindheit, wobei man allerdings den Begriff enfance in der breiten mittelalterlichen Bedeutung nehmen muß, die auch die Adoleszenz und die Idee der 'Lehrjahre' mit einschließt. Wie wäre auch der etwa von Philippe Aries konstatierte, „mangelnde Sinn für die Kindheit im Mittelalter"2 mit der großen Zahl von Epen, Erzählungen und Romanen in Einklang zu bringen, die im Zuge der Biographisierung des Erzählens spätestens seit dem Ende des 12. Jahrhunderts einen eigenen Erzähltypus begründet haben und die keineswegs immer die eigentliche Kindheit des Helden ausschließen?3 Natürlich bleibt weiterhin unbestritten, daß das Mittelalter den modernen Mythos der Kindheit auch nicht ansatzweise kennt und letztere immer nur als inferiore Vorstufe des Erwachsenseins begreifen kann. So haben biblische Gleichnisse der Gotteskindschaft und der kindhaften Gläubigkeit offensichtlich keine Rückwirkung auf die Mentalität, und bestimmend ist der berühmte Satz des Paulus aus dem 1. Korintherbrief: cum essem parvulus / loquebar ut parvulus / cogitabam ut parvulus / quando factus sum vir / evacuavi quae erant parvuli. (1. Kor. 13,11) Als zwei verschiedene Stufen des Bewußtseins schließen sich Kindheit und Erwachsensein hier wechselseitig aus. Der reife Mensch streift das Kindhafte ab, stößt das Kind in sich buchstäblich aus (evacuare).

1

2 3

Vgl. The History of Childhood, hg. von L. DE MÄUSE, London 1974, hier bes. Μ. M. MCLAUGHEIN, Survivors and Surrogates: Children and Parents from the 9th to the 13th Century, S. 101-181. P. ARlfes, Geschichte der Kindheit, dt. Ausg. mit einem Vorwort von H. VON HENTIG, München 1978, (franz. Original: L'Enfant et la vie familiale sous l'Ancien Regime), S. 51. Vgl. hierzu F. WOLFZETTEL, Zur Stellung und Bedeutung der Enfances in der altfranzösischen Epik I, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 83 (1973) 317-348, II, in: ebd. 84 (1974) 1-32.

Friedrich Wolfzettel

Und doch scheint ein solches Bild zumindest einseitig. Die in der Literatur entworfenen Porträts ritterlicher Knaben, etwa die ausfuhrliche und bewundernde Beschreibung des jungen Lancelot im Lancelot en prose oder die gerührte Darstellung der Kinderliebe seit Flore et Blancheflor oder generell die durch die mariale Ikonographie verstärkte Thematisierung der Mutter-Kind-Beziehung4 verweisen vielleicht auf eine andere Seite mittelalterlicher Sensibilität. „La litterature nous donne l'image d'une societe jeune et courtoise, certes, mais surtout d'une societe Ä caractere familial", schreibt daher D O R I S D E S C L A I S B E R K V A M in ihrer Überprüfung gängiger mentalitätsgeschichtlicher Thesen im 'Spiegel' der Literatur: „Les heros et les heroines de romans sont des enfants voulus la plupart du temps, souvent meme attendus de longue date."5 Vor allem die zentrale Rolle der Erziehung im mittelalterlichen Schrifttum zeigt die Bedeutung, die der Kindheit beigemessen wurde.6 Die tumb naive nicete des jungen Perceval dient nicht nur dazu, den Unwert kindlicher Sehweise zu zeigen, sondern dürfte auch auf die edle 'Einfalt' des späteren Gralsritters vorausdeuten. Als gegenläufiges Muster zu der genannten paulinischen Stelle kann nämlich insbesondere die (hagiographische) Vita begriffen werden, insofern das Motiv der frühen bzw. früh erkennbaren Berufung die beiden Stufen der Kindheit und des Erwachsenseins aneinander anschließt und erstere so zur wertvollen Vorstufe des entfalteten Paradigmas macht.7 Letzteres impliziert freilich zum Teil auch wieder die Zurücknahme des Kindhaften, das im Rekurs auf die Modalitäten des puer/puella-senex-Topos die Weisheit des Erwachsenen in die Kindheit vorverlegt. Entscheidend ist dennoch, daß die Kindheit als Zeit der Berufung für die spätere 'Laufbahn' des Helden/der Heldin eine neue Wertigkeit erhält und zur unabdingbaren Voraussetzung eines ganzheitlich verstandenen Lebensentwurfs wird.

4 5 6 7

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Vgl. Y. CARRE, Le baiser sur la bouche au Moyen Age. Rites, symboles, mentalitis, ä travers les textes et les images, XI' - XV e siäcles, Paris 1992, S. 118ff. D. DESCLAIS BERKVAM, Enfance et maternite dans la litterature fran?aise des XIP et ΧΙΙΓ siecles, Paris 1981 (Coli. Essais, 8), S. 22. Ebd. S. 57fF. (Kap. IV). Ein schönes Beispiel wäre die Aegidius-Vita von Guillaume de Bemeville, La vie de saint Gilles (SATF), hg. von G. PARIS / A. Bos, Paris 1881. Das nämliche Muster des früh Erwählten ist etwa in dem hagiographischen Roman 'Eracle' von Gautier d'Arras zu erkennen. Vgl. S. A. VAUCHEZ, Beata Stirps: saintetö et lignage en Occident aux XHIe et XlVe siöcles, in: Familie et parenti dans L'Occident midiöval, hg. von G. DUBY / J. LE GOFF, Ecole Fran9aise de Rome 1977, S. 397-411. Zur Gattungsgeschichte vgl. D. ROBERTSON, The Medieval Saints' Lives - Spiritual Renewal and Old French Literature, Lexington 1995, (The Edward C. Armstrong Monographs on Medieval Literature 8), ch. 3 (Latin Sacred Biography in France) und ch. 4 (Martinian Lives in Old French), wo freilich diesem Aspekt geringe Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

All dies zeigt in exemplarischer Weise die große, allerdings gattungsgeschichtlich einsam gebliebene Autobiographie De vita sua des Guibert de Nogent8, die umso aussagekräftiger erscheint, als die zwischen 1114 und 1117 abgefaßte Schrift des Theologen und Dichters weit vor dem 'Subjektivitätsschub' der Literatur um 1200 liegt und tatsächlich als autotherapeutisches Unternehmen9 interpretiert werden konnte. Ohne Zweifel stellt dieses späte Werk des Benediktinermönchs und Abtes von Saint-Germer ein zentrales Zeugnis mittelalterlicher Psychohistorie und Bewußtseinsgeschichte dar.10 Hier wird Kindheit erstmals auch im Modus der Erinnerung als wesentlicher Teil des eigenen Lebens gesehen. Es ist darum merkwürdig, daß Richard N. Coe in seinem breiten thematischen Rundblick A utobiography and the Experience of Childhood11 Guibert mit keinem Wort erwähnt und - wie leider fur viele neuphilologische komparatistische Arbeiten typisch - den direkten Sprung von der Spätantike zur Neuzeit, hier von Augustinus zu Rousseau, wagt. Nun ist die Guibertsche Autobiographie ohne das Vorbild Augustinus sicherlich undenkbar - vor allem insofern als hier erstmals die Erinnerung als zentrale temporale und subjektiv-psychische Instanz menschlicher Entwicklung begriffen wird und confessio als die der sündhaften conditio humana adäquate Form der Erinnerung erscheint. Über das frühkindliche Erlernen der Sprache ζ. B. schreibt Augustinus12: Prensabam memoria, cum ipsi appellabant rem aliquam et cum secundum earn vocem corpus ad aliquid movebant videbam et tenebam hoc ab eis vocari rem illam, quod sonabant, cum earn vellent ostendere. (I, S. 30) („Da kam ich zu Urteil durch Erinnerung: Wenn die Menschen eine Sache nannten, und wenn sie entsprechend diesem Wort ihren Körper auf etwas hin bewegten, so sah ich und behielt ich, daß durch dieses ihre Laute jene Sache von ihnen bezeichnet werde, auf die sie mich hinweisen wollten.") Die Entwicklung des Ich als Kontinuum liegt der Vorstellung der durch die Erbsünde geprägten menschlichen Existenz zugrunde, die zwar keinen Raum für die Idealisierung des Kindhaften bietet - Ita imbellicitas membrorum infantilium innocens est, non 8

Guibert de Nogent, Autobiographie, ed. et trad, par E.-R. LABANDE, Paris 1981, (Les Classiques de l'Histoire de France au Moyen Age 34). Zitate (zweisprachig) nach dieser Ausgabe. 9 So bei C. DE FERGUSSON, Autobiography as Therapy: Guibert of Nogent, Peter Abelard and the Making of Medieval Autobiography, in: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 13 (1983) 187-212. 10 J. KANTOR, A Psychohistorical Source: the Memoirs of Abbot Guibert of Nogent, in: Journal of Medieval History 2 (1976) 281-303. " R. N. COE, Autobiography and the Experience of Childhood, New Haven 1985. 12 Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse, übers, von J. BERNHART, München 1955, 3 1966, Zitate nach dieser Ausgabe. Zu der Thematik der Erinnerung vgl. G. O'DALY, Remembering and Forgetting in Augustine, Confessions X, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hg. von A. HAVERKAMP / R. LACHMANN, München 1993, (Poetik und Hermeneutik XV), S. 3146.

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animus infantium. (I, S. 28) („Nun sind ja Kinderglieder harmlos in ihrer Schwäche, aber nicht so das Kinderherz.") aber gerade darum wird die Kindheit seit ihren unbewußten bzw. vorbewußten Anfängen zum existentiellen Problem: Hanc ergo aetatem, domine, qua me vixisse non memini, de qua aliis credidi et quam me egisse ex aliis infantibus conieci, quamquam ita multum fida coniectura sit, piget me adnumerare huic vitae meae, quam vivo in hoc saeculo. (I, S. 28f.) („Diese Frühzeit also, Herr, in der gelebt zu haben ich mich nicht erinnere, worüber ich nur fremdem Zeugnis glaube und von anderen Kindern auf mich schließe, daß auch ich sie verlebt habe: ich mag sie, so zwingend der Schluß auch ist, nicht zu diesem meinem Leben rechnen, das ich in dieser Zeitlichkeit lebe.") Erst IchIdentität und reflektierte Zeitlichkeit gehören zu dem eigentlichen autobiographischen Projekt, dessen Akzent auf dem Wandel und später auf der Bekehrung liegt: Nonne ab infantia hue pergens veni in pueritiam? Vel potius ipsa in me venit et successit infantiae? (I, S. 30) („Bin ich nicht von der Kindheit her anhebend in die Knabenzeit gekommen, vielmehr diese in mich, auf meine Kindheit folgend?") Hier liegt nun freilich ein entscheidender Unterschied zu Guibert de Nogent. Er erfindet mit seinen monodiae — monodiarum libri tres lautet der Untertitel — eine Gattung neu, die erst viel später - wenn überhaupt - ein Echo finden sollte; der Terminus meint, wie M L C H E L ZINK im Rahmen seiner Geschichte mittelalterlicher Subjektivität betont, „'chanter soi seul', sans definir soi comme sujet ou comme objet" 13 . Vor allem aber entwickelt Guibert in seiner vor der Subjektivierungstendenz in der volkssprachlichen Literatur und selbst vor der Historia calamitatum Abaelards entstandenen Autobiographie nur zum Teil das augustinische Modell der conversio weiter. Obwohl es auch darum gehen wird, ist das eigentliche Modell wohl vielmehr dasjenige der Heiligenvita, natürlich nicht im Sinne eines Selbstlobs, sondern um das Motiv der frühen Berufung in der Übertragung auf die eigene klerikale Laufbahn gleichsam in lebensweltliche Wirklichkeit zu übertragen. Ähnlich wie kindliche Formen der Frömmigkeit in einen bestimmten Typus der hagiographischen Vita die Voraussetzung oder besser: Präfiguration der späteren Entfaltung heiligmäßiger Begabung bilden, hat die erstaunlich ausführlich geschilderte Phase der Kindheit und frühen Adoleszenz bei Guibert die Aufgabe, die spätere Laufbahn als clericus und litteratus vorzubereiten. Das augustinische Grundmotiv der Sündhaftigkeit ist zwar zum selbstverständlichen Bestandteil des eigenen Rückblicks des Autors geworden, begründet aber keine eigene strukturelle Modellfunktion mehr. Die Autobiographie ist zunächst weniger confessio als Danksagung für die gelungene Berufung zum Dienst an Gott: Oder genauer: Sie 13

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M. ZINK, La subjectivite litteraire. Autour du siecle de saint Louis (PUF ecriture), Paris 1985, S. 198, und zu den „ecritures monodiques" generell S. 171-264.

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Berufung

ist auch und zugleich confessio, insofern die eigentliche Sünde der spätere Undank und die zeitweilige Verirrung des Ich ist: Est itaque primum confiteri tibi, quae mihi contuleris beneficia, ut perpendant qui haec lecturi sint famuli tui, Deus, quam sit crudelis ingratitudo mea. (II, S. 8) (II convient done tout d'abord que je reconnaisse devant toi, mon Dieu, les bienfaits que tu m'as accordes, afln que ceux de tes fideles qui seraient appeles a lire ceci, soupesent toute la cruaute de mon ingratitude.) Der Autor gesteht also pueritiae ac juventutis meae mala (I, S. 2) - freilich eher die mala der letzteren - , aber er tut dies im Blick auf eine dornenreiche Geschichte der Berufung; er ergeht sich - aus heutiger Sicht - geradezu lustvoll in Selbstanklagen und schwelgt in Sündigkeitsrhetorik, um vor dem Hintergrund der quotidianas aegritudines (I, S. 6) und der Anfechtungen des affectum cordis (I, S. 4) die jeweilige Erhebung aus der Sünde und - ratione reeepta (I, S. 4) - die resurrectio a lapsu (I, S. 6) zu feiern. Die Autobiographie wird so im Zeichen der Sünde zur Geschichte des Selbstbewußtseins, der cognitio mei (I, S. 6). Selbstbewußtsein und Bewußtsein von Gott sind nicht zu trennen; der autobiographische Diskurs rechtfertigt sich durch den Bezug zu Gott: Quia igitur utrumque constat, ut per mei notitiam tuam petam et, fruens tua, ilico mea non caream, dignum ac singulariter salutare est, ut obscuritas rationis meae, per hujusmodi confessiones, crebra tui luminis inquisitione tergatur, quo stabiliter illustrata numquam dehineeps a se nesciatur. (I, S. 7f.) („Deux choses sont bien evidentes: dans la mesure ού je me connais moi-meme, je cherche ä te connattre; mais quand je jouis de te connattre, je ne perds pas pour autant la connaissance que j'ai de moi. II est done vraiment juste et salutaire que, ä travers une telle confession, la recherche assidue de ta lumiere dissipe l'obscurite de mon entendement: ainsi, durablement illumine, celui-ci ne perdra plus dorenavant sa propre connaissance.") Der Kindheit kommt offensichtlich im Rahmen dieses Modells der Selbstbewußtwerdung als Form göttlicher Berufung eine zentrale Bedeutung zu, da hier die Weichen für die Zukunft gestellt werden. In ihr werden die von Gott geschenkten Gaben (dotes naturae a Deo, II, S. 12) entwickelt und ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt - ähnlich wie der Leib des Menschen dereinst - claritati Christi configuranda (II, S. 12) - verklärt werden soll. Vorbild dieser Läuterung und Verklärung ist die Mutter, die trotz ihrer Schönheit seit ihrer Jugend auf alle Eitelkeit verzichtet hat und deren scheinbar nur 'privates' Beispiel damit zugleich zu Recht öffentlich gemacht wird: Verax Deus, tu nosti quod non me cogit ad haec referenda privatus, utpote matris amor, sed rem haberi plus quam meorum verborum efficientia possit, [...]. (III, S. 14) („O Dieu de verite, tu sais que, si je relate cela, je n'y suis point contraint par un amour particulier, celui d'une mere, mais ce sont lä des faits dont la portee depasse celle de mes paroles.") Daher

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beginnt die Phase der Verirrung auch mit dem Rückzug der Mutter ins Kloster, als der Autor gerade 12 Jahre alt ist. Das im Hinblick auf die Mutter Gesagte gilt aber auch für das Problem der Legitimität des autobiographischen Diskurses allgemein. Die gelungene Überwindung der Hindernisse auf dem Weg zum Heil rechtfertigt das Sprechen vom Ich, das an seinem Beispiel die Geschichte einer Erwählung erzählt. Je größer die Hindernisse, desto größer auch das Verdienst. In diesem Fall geht es zunächst um die adlige Sippe, deren Mitglieder Guibert nicht zögert, als animales et Dei ignaros (II, S. 14) zu bezeichnen. Die Mutter wird hier fast zur Schutzheiligen des jungen Ich, das während der schwierigen Geburt dem Stand des clericatus (III, S. 18) versprochen wird und dessen Überleben angesichts der schwächlichen Konstitution allein als Wunder angesehen werden kann. Der Tag der Geburt enthält die Verheißung der kommenden Erfüllung: Tunc plane nostrum natale ex festiva temporis qualitate claresceret, si Studium nostrae actionis suspirata ad integrum virtute se regeret [...]. (III, S. 20) („Le jour de notre naissance refleterait pleinement la solennite de sa date, si le zele de nos actes realisait en nous integralement la vertu apres laquelle nous soupirons.") Allen späteren Anfechtungen zum Trotz stellt das Gelöbnis der Eltern also die Leitlinie der eigenen Lebensplanung des Autors dar. Dieser begrüßt daher den frühen Tod des Vaters, der diesen Weg des Heils wahrscheinlich aus adligen Vorurteilen heraus gestört hätte: Das Ich wurde Waise, um nur noch Gott als Vater zu haben: [...] cum tu, pie Domine, qui pater mihifuturus eras, orphanum me fecisti. (IV, S. 24) („[...] que toi, mon saint Seigneur, qui allais me servir de pere, tu me rendis orphelin.") Das Ideal der Klerikatur - Vorbild ist die inflnita sapientia des heiligen Gregor (IV, S. 26) - begründet das ungewöhnlich ausführlich geschilderte Erziehungsprogramm, dessen Härte im Nachhinein nicht nur getadelt zu werden scheint. Dabei nimmt auch der zu diesem Zweck berufene Lehrer die Stelle des Vaters ein. Guibert bezeichnet seinen Lehrer, der den Schüler nicht weniger liebe als sich selbst, einmal als eine Art Vaterersatz, ut non paedagogi, sed parentis partem, non corporis mei tutelam, sed animae meae curam agere putaretur (VI, S. 38) („il apparaissait tel un pere, et non un pedagogue, exerfant, non la garde de mon corps, mais bien la surveillance de mon äme."). Dennoch ist das Gesamturteil ambivalent: Der Autor wirft dem Erzieher nicht nur seine intellektuelle Unzulänglichkeit vor, durch die die Erreichung des Zieles klerikaler Bildung behindert wird; er beklagt auch die ständigen und übermäßigen körperlichen Züchtigungen. Besonders eine Szene ist in psychologischer und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht interessant: Der Junge kommt, nachdem er grausam geschlagen worden war, zu seiner Mutter, will aber seinen Lehrer nicht denunzieren. Jene lüpft sein Hemd und erkennt die Spuren der Rutenhiebe auf Armen und Rücken. Als sie aber entrü-

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stet ausruft, daß ihr Kind unter solchen Umständen lieber nicht Kleriker werden solle, reagiert dieses mit unerwarteter Festigkeit: „Si", inquam, „proinde mori contingeret, non desistam, quin literas discam et clericus fiam." (VI, S. 40) („Dusse-je en mourir, je n'aurai de cesse que je n'apprenne les lettres pour devenir clerc.")14 Die Vorstellung der Berufung schon in jungen Jahren bleibt unangetastet, und auch die in der Folge geschilderten Verirrungen ändern nichts an dieser fundamentalen Ausrichtung der Kindheit auf das spätere Werk hin. Freilich könnte man aus heutiger Sicht auch von einer gestohlenen Kindheit sprechen, in deren Beschreibung alles Altersgemäße tabuisiert wird. Der Erzieher erscheint als das ständig präsente Auge Gottes: tanta puritate me docuit, ab insolentiis, quae innasci primaevitati illi solent, tanta sinceritate prohibuit, ut me penitus a comunibus ludis arceret. (V, S. 30) („il m'eleva dans une teile purete, il m'ecarta avec tant de conscience des sottises qui sont comme naturelles en ce jeune äge, qu'il m'eloigna completement des jeux habituels.") Guibert entwickelt hier eine erstaunliche Einsicht in Kinderpsychologie. Der saevus amor (V, S. 34) wird als injustus empfunden; er geht nicht nur fehl durch exzessive und unbegründete Strenge, sondern richtet sich auch gegen das von Gott gewollte Gesetz des Maßes und der notwendigen Abwechslung. Das Kindgemäße und die Eigenart des Kindes, wenn nicht der Eigenwert des Kindesalters, werden in den Überlegungen zur recreatio und zur heilsamen Vielfalt der Beschäftigungen angedeutet, denn schließlich recordemur Deum non uniformiter instituisse saeculum (V, S. 34) („souvenons-nous que Dieu n'a pas donne ä l'univers un aspect uniforme [...]")· Natura als zentraler Begriff für die menschliche Natur zeigt ebenso wie das Bild der Jahreszeiten und ihrer mutationes (V, S. 34), daß der unterdrückte Spieltrieb und das nicht geduldete Bedürfnis nach Zerstreuung nicht gebilligt werden. Nicht das Verhalten eines zukünftigen Klerikers, sondern das eines Mönches - non clericatum, quin potius monachatum (V, S. 30) — habe der Lehrer angestrebt. In den spielenden Kindern sieht der als Kleriker verkleidete Junge quasi peritum animal (V, S. 30) die ihm entzogene und entgangene Kindheit, die so ex negatione eine neue Verbindlichkeit beanspruchen kann.

14

Vgl. B. MONOD, Le moine Guibert et son temps (1053-1124), Paris 1903, S. 25.

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II Offensichtlich spielt die subjektive Erinnerung auch für den mittelalterlichen Menschen eine bestimmende Rolle. Was in der erzählenden Literatur freilich nur indirekt angedeutet ist - etwa in dem penser Percevals, in dem die eingangs geschilderte enfance Gegenstand der reflexiven 'memoire' wird15 - , erscheint in der Liebeslyrik buchstäblich als konstitutiv. Hier entfaltet der Begriffsbereich der ramembrance die eigentliche Spannung des höfischen Liedes zwischen Sehnsucht und Erinnerung als einer gleichsam absoluten Temporalität des lyrischen Subjekts, während das Vergessen (oubli, oubliance) die Vernichtung dieser Spannung bedeutet. Die später im 'dolce stil novo' obsessiv gewordene Thematik der Erneuerung durch die immer wieder beschworene Erinnerung ist schon im lyrischen Diskurs des Mittelalters eines der großen Themen der „paradigmi della soggettivitä" 16 . Deren wachsende Autobiographisierung im adlig/bürgerlich/klerikalen Minnesang des 13. Jahrhunderts entspricht der generellen, von Michel Zink untersuchten Ausprägung einer „subjectivite litteraire", die den Übergang von einer „poesie formelle" (im Sinne eines Robert Guiette oder Roger Dragonetti) zu narrativistischen Formen lyrischer Selbstaussage belegt.17 Das Thema der Kindheit mag in diesem Kontext noch keine eigene Funktion haben; die skizzierte Entwicklung ist aber die Voraussetzung für einen möglichen Nexus zwischen Erinnerung, Kindheit und Jugend. Dies zeigt exemplarisch Gace Brule, gerade weil er noch zu der frühen Generation nordfranzösischer Trouveres gehört, die mit dem okzitanischen Vorbild eng verbunden sind. Bei keinem anderen Lyriker der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist die autobiographische Dimension des Dichters hinter der obligatorischen Rhetorik des 'amour courtois' so unmittelbar erkennbar wie bei ihm. Die Vergangenheit besitzt eine ganz konkrete zeitlich-historische Funktion, und es obliegt der Erinnerung, diese immer wieder entgleitende Dimension gleichsam zurückzuholen und die bedrohte Einheit des Ich in der Erinnerung wiederherzustellen.18 Angst vor dem Vergessen und Vergessen-Werden bestimmt einen Diskurs, in dem der jeweils gegenwärtige Augenblick 15

16

17 18

Diesen Aspekt entwickelt K. STIERLE, Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift. Über den Ursprung des Romans bei Chretien de Troyes, in: Memoria [Anm. 12], S. 117-159. G. ZAGANELLI, Aimer - sofrir - joi'r. I paradigmi della soggettivitä nella lirica francese dei secoli XII e XIII, Firenze 1982, (Pubblicazioni della Facoltä di Magistero dell'Universitä di Bologna, nuova serie 9). Als autobiographisierenden Diskurs - „definir le moi ä partir des circonstances et des contingences de la vie" - bestimmt ZINK [Anm. 13], S. 50, diese Tendenz. Vgl. F. WOLFZETTEL, Le theme du souvenir et la structure temporelle dans le grand chant courtois: Thibaut de Champagne et Gace Βπιΐέ, in: „Por le soie amiste". Essays in Honor of Norris J. Lacy, hg. von K. BUSBY / C. M. JONES, Amsterdam 2000, S. 539-552, hier S.

548f.

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eine Erinnerung der Vergangenheit aufruft und so einen totalisierenden Bogen zwischen Damals und Jetzt schlägt. So definiert sich der Dichter selbst als eil qui ne puis ob tier: / Toz jors ai remembrance (XL VIII, Str. I)' 9 („einen, der nicht vergessen kann: Alle Zeit trage ich die Erinnerung in mir."). Endlich wird auch die enfance einbezogen. Und dabei ist offensichtlich, daß es - wie auch in den übrigen Beispielen des Erinnerungsmotivs - nicht allein um personale Identität geht, sondern daß der angedeutete autobiographische Duktus darüber hinaus auch und besonders die Funktion des Dichtens und der trouveure angeht. In der berühmten Chanson Nr. I: 'Les oiseillons de mon pais / Ai ois en Bretagne' („Die Vögelchen meiner Heimat habe ich in der Bretagne gehört") wird dieser Duktus nun explizit auf eine Jugenderinnerung ausgeweitet; die einstige Champagne, mon pais, wird über das Motiv des Vogelsangs mit der gegenwärtigen Bretagne vermittelt; jadis („Einst") (V. 5) und Gegenwart schließen sich in dem Erinnerungsraum eines dolz panser (V. 7) („süßen Angedenkens") zusammen und verleihen dem gedanklichen Erlebnis sinnliche Konkretheit: Qu 'a mes levres nel sente (Str. 4) („den ich auf meinen Lippen spüre"). Lied Nr. XXIX geht noch weiter zurück, denn hier versichert das Ich, daß seine unglückliche Liebesveranlagung auf die Kindheit/Jugend zurückgeht: Maiz j 'ai apris des m 'enfance / Une fole acoustumance / D 'amer la ou je ne dui (Str. 4). („Doch ich habe mir in der Jugend die närrische Sitte angewöhnt, gerade da zu lieben, wo ich nicht soll"). Das Liebesgefühl als eigentliche Ermöglichung des Singens ist mithin in den frühen Jahren der Biographie verankert; Dichten ist ohne den impliziten oder expliziten Rekurs auf die enfance nicht möglich. Die ganze Biographie des Ich steht hinter dem gegenwärtigen lyrischen Vollzug und schafft eine neue Dimension schicksalhafter Disposition: ma destinee (Nr. VIII, Str. 2). In einem anderen Lied, der Nr. XXXIX, 'Desconfortez, plains d'ire et de pesance', heißt es dann in bezug auf die Herrin: des l'eure que j'estoie en enfance, / Li donaije mon euer (Str. 4). („Seit jenem Augenblick, da ich noch jung war, schenkte ich ihr mein Herz"). Der autobiographische Nexus unterstreicht die Schicksalhaftigkeit und Geradlinigkeit der angesprochenen Bindung, ohne die kein Dichten möglich ist. Im Jetzt erst vollendet sich der im jadis angelegte Keim; das frühe Jugenderlebnis prägt und präfiguriert das gegenwärtige Erlebnis. Nicht anders wird im Prinzip Dante in seiner autobiographischen 'Vita Nova' argumentieren, freilich mit dem Unterschied, daß er das Gewicht nicht auf die eigene Subjektivität, sondern auf das Objekt der Liebe legen wird.

19

Zitate nach der Ausgabe von Η. P. DYGGVE (Hg.), Gace Brule trouvSre champenois, Helsinki 1951.

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Die bei Gace Brule und anderen Vertretern der Trouvere-Poesie angelegte autobiographisch-temporale Dimension des höfischen Liedes wird allerdings erst mit der Wende zur sog. Seconde Rhetorique am Anfang des 14. Jahrhunderts konstitutiv. Erst jetzt spielt auch die höfische Lyrik eine latent autobiographische Tendenz aus, die bis dahin in nicht-höfische Bereiche wie die Pastourelle, den Dit und andere Formen abgedrängt war. Charakteristisch scheint in dieser Perspektive eines „lyrisme de Γ existence"20 die Entstehung einer neuen Form der narrativischen und zugleich lyrischen Ich-Erzählung und vor allem die Eigenart, lyrische Gedichte in diesen narrativen Rahmen21 einzupassen. Die scheinbar traditionelle, oft epigonale Form des lyrischen Gedichts bzw. Liedes wird durch den Rahmen lokalisiert und datiert und verliert seine früher selbstverständliche Autonomie einer weitgehend selbstreflexiven, zeitlosen Apostrophe an das geliebte Du. Die Lyrik wird so Teil einer narrativ-subjektiven Poetik der Erinnerung, die gewöhnlich fern jeder Romaneske ein individuelles Erlebnis - Traum, Begegnung, Liebeswerben usw. - mit dem Schimmer subjektiver Bedeutsamkeit umgibt. Das Werk definiert sich nicht selten als formgewordene Erinnerung, die umgekehrt aus der Form ihre Bedeutsamkeit bezieht. Mit einem beliebig gewählten Zitat aus 'Le Temple d'Honneur' von Jean Froissart: Et fis de moi si bonne enqueste Que mon songe ne plus ne mains Escripsi a mes propres mains En le fourme que vous vees. (Vv. 48-51)22 („Und ich ging mit mir dergestalt zu Rate, daß ich meinen Traum mit eigenen Händen - nicht mehr und nicht weniger - niederschrieb - in eben der Form, die Ihr vor euch habt.")

Tatsächlich erhält die Erinnerung auf diese Weise einen völlig neuen, zugleich referentiell authentifizierenden und poetologischen Stellenwert. Nicht mehr ein allgemein gültiger, gnomischer Wissens- und Weisheitsdiskurs beglaubigt allein das Gesagte und sorgt für die Wahl der Gleichnisse, Bilder und Vergleiche; mindestens ebenso wichtig ist die beglaubigende Funktion der je eigenen Lebenserfahrung. Diese Subjektivierungstendenz, deren mentalitätsgeschichtliche Bedeu20 21

22

300

D. POIRION, Le Poete et le Prince. Involution du lyrisme courtois de Guillaume de Machaut ä Charles d'Orldans, Paris 1965, S. 121. Hierzu J. CERQUIGLINI, Quand la voix s'est tue: la mise en receuil de la poösie lyrique aux XIV' et XV' sifecles, in: La Präsentation du livre. Actes du colloque de Paris X - Nanterre 1985, hg. von E. BAUMGARTNER / N. BOULESTREAU, Nanterre 1988 = litterales 2, S. 313327. Die Stelle wird auch zitiert von M. ZINK, Froissart et le temps (Moyen Age), Paris 1998, S. 43.

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

tung im Zusammenhang mit einer Neupositionierung des angeblich epigonalen französischen Spätmittelalters erst von der neueren Forschung ansatzweise gesehen und bewertet wurde,23 beruht auf einer intensiven Erfahrung der Verzeitlichung des Ich, das sich erst in der Erinnerung und im Zusammenkommen von Jetzt und Einst als Subjekt begreift. „Le creuset du temps" hat Michel Zink24 diese Dimension genannt, die die Einheit des Werkes erst begründet: Die „ecriture du souvenir"25 versteht sich als explizite Reflexion dieses Vorgangs der Vereinigung des Getrennten. Mit einem Zitat aus 'Le Joli Buisson de Jeunesse': Des aventures me souvient Dou temps passe. Or me couvient, Entroes que j 'ai sens et memore Encre et papier et escriptore26

[...]. (Vv. 3 m . ) („Der Abenteuer der vergangenen Zeit erinnere ich mich. Nun brauche ich auch, solange ich Verstand und Erinnerung habe, Tinte, Papier und ein Schreibpult [...].")

Weitergehend könnte man von einer neuartigen Temporalisierung des Werkes oder genauer: einer Verzeitlichung der ecriture sprechen, denn die Erinnerung verträgt keinen Aufschub, wenn die authentische Frische nicht verfälscht werden soll: Je ne poroie revenir De legier a mon souvenir. Por ce le vorrai avant mettre Et moi liement entremettre De quanq que en memore sent Dou temps passi et dou present. (Vv. 47-51)

23

Hierzu vgl. POIRION [Anm. 20]; A. CLASSEN, Die autobiographische Lyrik des europäischen Spätmittelalters: Studien zu Hugo von Montfort, Oswald von Wolkenstein, Antonio Pucci, Charles d'Orldans, Thomas Hoccleve, Michel Beheim, Hans Rosenplüt, Alfonso Alvarez de Villasandino, Amsterdam 1951; B. KIMMELMAN, The Poetics of Authorship in the Later Middle Ages. The Emergence of the Modern Literary Persona, Frankfurt a.M. 1996; W. HÜLK, Schrift-Spuren von Subjektivität. Lektüren literarischer Texte des französischen Mittelalters, Tübingen 1999, (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 297), Kap. III, S. 149ff.

24

ZINK [ A n m . 2 2 ] , S . 3 7 - 4 8 .

25

Ebd., S. 42. J. FROISSART, Le Joli Buisson de Jonece, hg. von A. FOURRIER, Genöve 1975, (Textes litteraires franiais 222).

26

301

Friedrich Wolfzettel („Ich könnte nicht einfach so leicht auf meine Erinnerung zurückkommen. Deshalb will ich sie hier vorstellen und mich fröhlich daran machen, alles, was mein Gedächtnis noch von der Vergangenheit und Gegenwart fühlt, zu verbinden.")

Souvenir / Souvenance wird so zum poetologischen Leitbegriff eines dichterischen Kampfes gegen das Vergessen. Gutes Dichten, ließe sich ein Gedankengang bei Machaut zusammenfassen, hat Eile, nicht Weile. Mais Trop Pour (Vv.

qui vuet bonne ouevre avancier, tost ne puet encommancier, ce que temps ades s 'en court27 33-35)

(„Aber wer ein gutes Werk voranbringen will, kann gar nicht früh genug beginnen, weil ihm die Zeit nämlich davonläuft.")

Als „machine a tuer le temps" hat Zink z.B. das kuriose Gedicht Froissarts, 'L'Horloge amoureus' 28 bezeichnet, das in dem programmatischen Satz gipfelt: Souvenirs doit estre le orlogiers.29 („Die Erinnerung muß der Uhrmacher sein.") Nur so kann die Fülle des subjektiven Erlebens in der - bei Froissart zentralen belle ordenance gebändigt werden. Was der Dichter par souvenance30 (V. 69) (aus Erinnerung) weiß, was aus der wahrhaftigen Erinnerung quillt -Jem 'en sqai bien a quoi tenir, / Tant aije voir de souvenir (Vv. 219-220)31 („Wohl weiß ich, woran ich mich halten muß, habe ich doch wahrhaftig so viele Erinnerungen") wird so zur Bedingung der Möglichkeit des Dichtens überhaupt: Li souvenirs m 'est grans mestiers. (V. 371)32 („Der Erinnerung bedarf ich ganz besonders.") Es überrascht nicht, daß von daher auch der Kindheit und Jugend eine neue Rolle zukommt, die nicht selten über das bloß motivisch Inhaltliche hinaus auch poetologische Relevanz annimmt. Auch in diesem Bereich erscheint die herkömmliche mentalitätsgeschichtliche These der „emotionalen Kahlheit einer mittelalterlichen Kindheit"33 korrekturbedürftig. Wegweisend ist diesbezüglich Guillaume de Machaut, der erstmals die neue Poetik der individuellen Erfahrung vertritt, auf die dann sein Schüler und Verehrer Froissart rekurrieren wird. Gegenwärtiges Wissen, das auf Erfahrung und Lernen beruht, schließt naturgemäß die 27 28 29 30 31 32 33

302

CEuvres de Guillaume de Machaut II, hg. von E. HOEPFFNER, Paris 1908, (Societe des anciens textes franfais), S. 240 ('Le Dit de l'Alerion'). ZINK (Anm. 22), S. 169ff. J. FROISSART, Le Paradis d'Amour / L'Orloge amoureus, hg. von P. F. DEMBOWSKI, Geneve 1986, (Textes litteraires franfais), S. 105. Ebd. 'Le Paradis d'Amour'. Ebd. Ebd. B. W. TUCHMANN, Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, Düsseldorf 1987, S. 58f. (engl. Original, A Distant Mirror. The Calamitous 14,h Century, New York 1978).

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

Anfänge in der Kindheit ein. Im 'Dit de l'Alerion' 34 , wohl vor 1349 entstanden, geht es um das richtige Lernen, das schon bei Guibert de Nogent thematisiert worden war und in der Folge eine wesentliche Rolle spielen wird. Der Ich-Erzähler wählt das Beispiel eines Kindes zwischen zehn und zwölf Jahren, uns enfes de petis aage / Qui a le euer gay et volage. / Si comme de .X. ans ou douse (Vv. 31 f f ) , das im Begriff ist, die Kindheit hinter sich zu lassen (en ouevre de getter s 'enfanse, V. 55) An diesem Kind will der Autor seine Vorstellungen einer richtigen Erziehung konkretisieren: Kindheit ist hier die Vorstufe einer Zeit der Lenkung und Erziehung, um einer Fehlentwicklung entgegenzuwirken. Höfisches Wesen ist in einem klerikal-bürgerlichen Kontext essentiell gezähmte 'Natur', aber auch Überwindung von Unwissenheit und falscher Naivität: il n'a encor point de science / en Ii, raison, ne conscience (Vv. 69-70) („Ihm fehlt noch Wissen, Vernunft und Gewissen.") Doch eben deshalb fehlt dem vernunftlosen Kind zunächst auch die Bosheit: Et η 'α encor point de malice / Qui soit cause de malefice. (Vv. 73-74) („Und es hat auch noch keine Bosheit, die der Grund fur böses Handeln wäre.") Freilich - hier ist Machaut nicht ganz konsequent - gibt es ganz verschiedene Charaktere: Es gibt aggressive Kinder, fols, desdaigneus etpo piteus (V. 84) („töricht, überheblich und unbarmherzig"); es gibt die enfans esbatans, / gais, gern, jolis et embatans, / Amoureus, dous et amiables (Vv. 97ff.) („aufgeweckt, fröhlich, nett, entgegenkommend, liebevoll, sanft und freundlich"), und es gibt friedfertige Kinder aisans, / Tres paisibles et appaisans (Vv. 107-108). Grundsätzlich geht es aber darum, conscience zu gewinnen; conscience, Gewissen, auch Bewußtsein, aber eignet dem gereiften Dichter, der die einstige ignorance überwunden hat. Isabelle Betemps hat im Rahmen ihrer umfangreichen Bestandsaufnahme des Machautschen „imaginaire" betont, wie sehr der Autor gerade den „passage de la jeunesse ä l'äge adulte, qui est un passage de l'ignorance ä la connaissance"35 in seinem Werk privilegiert hat. Die zum Teil nostalgische Sicht der früheren spielerischen Veranlagung verweist daher unmittelbar auf die Notwendigkeit des Lernens: J'amay les menus oiseles, Gens, gais, jolis, nouveles, Hui./., puis un autre demain. Quant j 'en tenoie un en ma main, Bien cuidoie valoir un roy. (Vv. 121-125)

34 35

Ausgabe siehe Anm. 27. I. BETEMPS, L'Imaginaire dans l'oeuvre de Guillaume de Machaut, (Bibliotheque du XV'siecle LIX), S. 271.

Paris

1998,

303

Friedrich Wolfzettel („Ich liebte die kleinen Vögelchen, hübsch, fröhlich, lustig und jung, heute eines und morgen ein anderes. Und wenn ich einen in der Hand hielt, kam ich mir so reich wie ein König vor.")

Mit einem schönen Bild beschreibt der Dichter dann das Erwachsenwerden: Aus den kleinen Vögelchen wird ein großer Sperber; der hochmittelalterlich allegorische Duktus wird gnomisch neu instrumentalisiert: Einsi trespassay ignorance, Tant que je vins a congnoissance, Mon euer de bien entalente. Lors muay je ma volenti Des menuz oiseles aus grans, Sifui desirans et engrans Et pensans comment j 'aprendroie Α garder un oisel de proie, L 'espriviers especiaument. (Vv. 127-135) („So überwand ich die Unwissenheit und wurde wissend, und mein Herz war auf das Gute bedacht. Da verlegte ich mein Begehren von den kleinen Vögelchen auf die großen und dachte darüber nach, wie ich lernen könnte, einen Raubvogel zu halten und besonders einen Sperber.")

Die erotischen Konnotationen des Sperbermotivs sind kein Zufall, eine wesentliche Rolle im Übergang von kindlicher Unwissenheit zum gereiften Verstehen kommt bei Machaut und anderen der Initiation durch die Liebe zu. Die Grundkonstellation des Rosenromans von Guillaume de Lorris wird in der spätmittelalterlichen französischen Literatur zu einem Leitmotiv individueller Entwicklung. Machaut thematisiert dieses Motiv ζ. B. in dem autobiographischen Remede de Fortune, einem wohl um 1340 am Hof der Bonne von Luxemburg entstandenen Gedicht, das die erste Liebeserfahrung und Liebesenttäuschung in die Form lehrhafter Traumvisionen kleidet. Das Heraustreten aus dem unklaren und wankelmütigen Zustand der Jugend heißt hier in die Schule der Fortuna gehen und in dieser Schule die notwendigen Tugenden einzuüben, die das spätere dichterische Werk begründen. Das Erlebnis einer großen musikalischen Harmonie unterstreicht am Ende des Gedichts diese neue Dimension des Werkes, das an die Überwindung des kindhaften Status gebunden ist, diesen aber gerade deshalb auch in die dichterische Darstellung einbeziehen muß.36 Wenn das Erwachsensein aber mit dem geschriebenen Werk verbunden ist, gleichsam mit den in eine Tafel geritzten Zeichen, dann erscheint die Kindheit als 'unbeschriebenes Blatt'. Machaut 36

304

Vgl. hierzu auch F. WOLFZETTEL, Spätmittelalterliches Selbstverständnis des Dichters im Zeichen von Fortuna: Guillaume de Machaut und Christine de Pizan, in: Das Mittelalter 1 (1996) 111-128.

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

rekurriert hier auf den seit der Antike (Aristoteles) überlieferten Vergleich der Erinnerung mit einer in Wachs eingeritzten Prägung, einem ,Ein-Druck'. 37 Car le droit estat d 'innocence Ressamble proprement la table Blanche, polie, qui est able A recevoir, sans nul contraire, Ce qu 'on y vuelt peindre etpourtraire; Et est aussi comme la cire Qui sueffre dedens Ii escrire, Ou qui retient fourme ou empreinte, Si comme on I 'a en Ii empreinte. (Vv. 26ff.) („Denn der eigentliche Zustand der Unschuld ähnelt der weißen, glänzenden Wachstafel, die ohne Widerstand aufnehmen kann, was man darauf malt und einritzt; sie ist so wie das Wachs, auf das man schreiben kann und das die entsprechende Form und den Eindruck bewahrt, genauso wie diese eingeritzt worden sind.") 38

Das heißt, die Kindheit ist die weiße Seite, auf der das Leben, aber auch das spätere Werk eingeschrieben sind. Die Kindheit muß durch die spätere Entwicklung und die erotische Initiation überholt werden, sie bleibt aber ein Konstituens des Erwachsenseins, das die frühere Lust am Spiel in den spielerischen Ernst der Dichtung überträgt. Froissart übernimmt wesentliche Elemente dieses Gedankengangs. In dem schon erwähnten Gedicht 'Le Joli Buisson de Jonece' 39 geht es zwar nicht um die Kindheit, aber doch um die in Gedanken zurückgeholte Jugend und die in einer Traumallegorie gelungene Begegnung des Dichters mit seinem einstigen jungen Ich. Wahrscheinlich ist der nostalgische Blick zurück, der zugleich als Thema das Werk begründet, nie zuvor so eindringlich beschworen worden. Beim Blick auf das Jugendporträt der früheren Geliebten fühlt sich das Ich daher gleichsam neu geboren, fresc et nouviel (V. 559) und ressuscite (V. 563). Das Gedicht ist nichts anderes als eine recherche du temps perdu im 'Anschreiben' gegen das Vergehen der Zeit und das Erlebnis des Alterns. Zugleich stellt das nach 1373 verfaßte Gedicht auch eine Art Rechenschaftsbericht und Rückblick auf das frühere Werk, besonders die zwischen 1365 und 1371 entstandene 'Espinette amoureuse'40 dar, ein Hymnus auf die erste, junge Liebe - freilich mit bitterem Ende, und es ist so 37

38

39 40

L'Espinette amoureuse, hg. von A . FOURRIER, Paris 1 9 6 3 , (Biblioth&jue franfaise et romane, B: Textes et documents 2). Zu dem Vergleich der Erinnerung mit einer Wachstafel siehe G. AGAMBEN, Stanze. La parola e il fantasma nella culture occidentale, Roma 2 1992, frz. Ausg. Paris 1994, S. 118. Guillaume de Machaut, Remede de Fortune, CEuvres II, S. 2. J. FROISSART,

S i e h e FROISSART [Anm. 26],

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Friedrich Wolfzettel

vor allem auch ein Rückblick auf die eigene Kindheit und Jugend. Ähnlich wie Machaut schilderte der Dichter dort die eigene Entwicklung zugleich als exemplarischen Fall der enfant de jone eage, welche desirent forment le peage / D'amours päier (Vv. 1-2) („die Maut der Liebe zu entrichten"), aber nicht wissen, daß dieser Übergang in die Erwachsenenwelt auch mit Bitterkeit verbunden ist. Liebe und Desillusion schaffen zusammen die fehlende congnisance (V. 4). Auch in der 'Espinette amoureuse' ist der Bruch zwischen Kindheit und dem wissenden Erwachsenen freilich nicht radikal: En mon jouvent tous tels estoie / Que trop volentiers m'esbatoie, /Et, tels que fui, encor le suis (Vv. 23-25) („In meinen jungen Jahren war ich so veranlagt, daß ich mich nur allzu gern vergnügte. Und so wie ich damals war, bin ich noch heute."). Wie Machaut die kindliche Freude an den Vögelchen in dem späteren Griff nach dem Sperber aufgehen läßt und im Kind den späteren Dichter andeutet, sieht sich auch Froissart als Ganzes; die frühe Freude am heiteren Spiel nimmt die spätere Rolle der Liebe vorweg, und die Gier nach Tanz und Spielmannsdichtung präfiguriert den späteren Dichter: Estoie forment goulousans / De veoir danses et caroles, / D 'oir menestrels et paroles (Vv. 28ff.) („Ich war sehr begierig darauf, Tänze und Reigen zu sehen und Spielleute zu hören.") Anders freilich als der gelehrte Machaut geht der Autor hier so weit, eine Schule der Natur anzudeuten, in die er noch ganz unwissend gegangen sei. Verliebtes Spiel mit jungen Mädchen, denen er Äpfel oder Birnen schenkte, zeigt bereits, wohin ma nature encline (V. 51) („mein Charakter sich neigte"). Es ist letztlich eine Schule der Liebe zum Leben und der Lebenslust, an die sich zu erinnern noch den alternden Dichter erfreut. Mais Ii recors et la plaisance Li parlers et la souvenance, Que pluiseurs foisy ai eü, M'ont de trop grant bien pourveü. (Vv. 69ff.) („Aber die Erinnerung und die Freude, die Erinnerung an die Gespräche, die ich damals oft führte, haben mir größtes Vergnügen bereitet.")

Zwischen der Liebe des Kindes zu Hunden und Vögeln (V. 34), der Verliebtheit des Halbwüchsigen und der vraie congnissance des erwachsenen Dichters, für den amours est sens et vie (V. 103), besteht so nur ein gradueller Unterschied. Und so scheint es nur folgerichtig, daß das Ich schon in jungen Jahren - gleichsam noch wehrlos - von der Liebe erfaßt wurde; fast noch als Kind, das nicht müde wurde, kindlichen Spielen nachzugehen, die auch die noch nicht Zwölfj ährigen mögen: Schleusen in einem Bach anlegen und Schiffchen schwimmen lassen, Mühlen bauen, im Sand spielen und danach die Kleider im Bach auswaschen,

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Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

Bälle aus Erde formen, Schalmeien basteln und Schmetterlinge jagen, Fangen spielen, um die Wette laufen, usw. Die Fülle der genauen Schilderungen kindlicher Spiele und Zeitvertreibe kann hier gar nicht erschöpft werden; es handelt sich um die erste Darstellung dieser Art in der französischen Literatur und wahrscheinlich in der mittelalterlichen Literatur überhaupt. Über hundert Verse widmet Froissart diesem Thema, dessen genaue Lektüre vielleicht auch die Thesen von Philippe Aries etwas modifiziert hätte. Die atemlose Aneinanderreihung zahlloser kindlicher Spiele evoziert eine zeitlose Atmosphäre nicht nur des Kindseins an sich, sondern auch einer individuellen glückhaften Erfahrung, die wohl erstmals literarisiert wird. Auf die Phase der Sorglosigkeit folgt die Schulzeit: Si se cangierent moult mi meur. (V. 256) („Da veränderte sich mein Verhalten sehr.") Freilich nicht so weit, daß sich der Junge nicht weiter gegen jede Disziplin auflehnt, sich prügelt und geprügelt wird und mit zerrissenen Kleidern nach Hause kommt, aber: J'avoie le coer liet et gent. (V. 294) („Ich war fröhlich und gut gelaunt.") Ein fast euphorisches Lebensgefuhl kennzeichnet diese Verse, die der Pubertät gewidmet sind: En ceste douce noureture Me nourris Amours et Nature: Nature me donnoit croissance Et Amours, par sa grantpoissance, Me faisoit a tous deduis tendre. (Vv. 297ff.) („So angenehm wurde ich von der Liebe und der Natur erzogen: die Natur verlieh mir Wachstum, und die Liebe ließ mich in ihrer Macht zu allem streben, was Freude machte.")

Letzteres mögen Veilchenmuster im Frühling sein, aber auch die Lektüre von Romanen und Liebesgedichten, wenn es kalt und regnerisch ist. Die Leselust formt Herz und Charakter und bildet die Voraussetzung für die frühlingshafte Vision einer Begegnung mit Merkur, Juno, Venus und Minerva. Das Ich bewährt sich hier als reifer Jüngling und wird prompt von Venus, die die Rolle einer antiken Gabenfee spielt, mit einem coer gai, joli et amoureus (V. 547) für das ganze Leben belohnt. Nach dieser Initiation steht der ersten Liebesbegegnung nichts mehr im Wege. Machaut und Froissart stellen nur bedingt Einzelfälle dar; sie verweisen seit Anfang und Mitte des 14. Jahrhunderts auf den Umbruch des Ich-Diskurses und die „invasion du discours par les circonstances", die Paul Zumthor41 seinerzeit als Charakteristikum erst des 15. Jahrhunderts ansah. Aber es geht nicht nur, wie wir 41

P. ZUMTHOR, Autobiographie au Moyen Age?, in: ders., Langue, texte, enigme, Paris 1975, S. 167.

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an den Beispielen gesehen haben, um die Fundierung der poetischen Sprache im Erlebnis; mindestens ebenso bezeichnend ist jetzt die bewußt ausgespielte Professionalität des Dichters, der immer zugleich als erlebendes Ich und gleichsam 'kraft seines Amtes' als „Sachwalter des Allgemeinen"42 auftritt und mittels der dichterischen Sprache über die Welt verfugt. Kevin Brownlee hat dieses neue Selbstverständnis als „Moi poetique 'moderne'" 43 charakterisiert. Die Rückblende auf die Kindheit und Jugend, die Betonung des Reifens und Lernens dienen deshalb vorrangig dazu, die Entwicklung zu dieser Professionalität vor Augen zu fuhren und so den erreichten sozialen Status in exemplarisch individualhistorischer Perspektive zu dokumentieren. Der Übergang von einem Stand der Unschuld, der Unwissenheit, aber auch Anonymität zu der - im Gedicht selbst vorgeführten - Könnerschaft oder maistrie soll implizit auch die Aufstiegschancen des 'begabten Kindes' zunächst im Zeichen der clericature, dann - wie etwa bei Gaston Deschamps - auch einer neuen bürgerlichen Verwaltungselite und Intelligenz veranschaulichen. Die neue „poetic identity"44 ist daher notwendig autobiographisch unterlegt, weil sie die Werde-Perspektive immer mit einschließt. Dabei spielt die Frage, wie weit man von authentischem Material ausgehen kann oder von einer „pseudoautobiography"45 sprechen muß, nur eine zweitrangige Rolle. In jedem Fall spiegelt die neue, explizit thematisierte Rolle des Ich die bereits frühmodern anmutende Spannung zwischen sozialen Zwängen und dichterischem Anspruch.46 Sowohl Machaut als auch Froissart begründen ihre 'orphische' Mission unabhängig von ihrem realen sozialen Eingebundensein in das späthöfische Mäzenatentum.47 War die Symbolfigur des hochmittelalterlichen Dichters der machtlose Narziß, so kann als der eigentliche mythologische Repräsentant der Seconde Rhetorique nach Jacqueline Cerquiglini Pygmalion gelten: Er ist der schöpferische 'Macher', der tote Form im Sinne eines aktiven 'poiesis'-Begriffs zum Leben erweckt und damit auch die Selbsterschaffung des Dichters anzeigt. Dessen Werden spiegelt sich gleichsam in der Werdegeschichte des in seiner neuen Rolle auftrumpfenden Dichter-Ichs. 42

43

44 45 46 47

308

F. WOLFZETTEL, Abundante Rhetorik. Selbstverständnis und historische Funktion der lyrischen Sprache von Machaut zu den Grands Rhetoriqueurs, in: Musique naturele. Interpretationen zur französischen Lyrik des Spätmittelalters, hg. von W.-D. STEMPEL, München 1995, (Romanistisches Kolloquium 7), S. 75-104, hier S. 97. K. BROWNLEE, Ovide et le Moi poetique 'moderne' ä la fin du Moyen Age: Jean Froissart et Christine de Pizan, in: Modernitö au moyen äge. Le defi du passe, hg. von B. GAZELLES und C. MELA, Gendve 1990, S. 153-173. K. BROWNLEE, Poetic Identity in Guillaume de Machaut, Madison/Wisc. 1984. So L. DE LOOZE, 'Pseudo-autobiography' and the Body of Poetry in Guillaume de Machaut's Remede de Fortune, in: L'Esprit Createur XXXIII, 4 (1993) 73-86. Vgl. hierzu J. CERQUIGLINI, „Un engin si soutil": Guillaume de Machaut et l'icriture au XlV'siecle, Paris 1985, (Bibliotheque du 15e siecle 47), S. 105ff. Ebd., S. 147.

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

Letzteres gilt natürlich gerade da, wo diese neuen Ideale der dichterischen Selbstfindung in doppelter Weise sowohl gegen gesellschaftliche Zwänge als auch gegen die Natur selbst, das heißt: die Zwänge des Geschlechts durchgesetzt werden müssen. Die intensive autobiographische Grundierung des Gesamtwerkes von Christine de Pizan, die - 1365 in Venedig geboren und mit der italienischen Renaissanceliteratur vertraut — als Tochter des angesehenen Hofastrologen Karls V. 1368 nach Frankreich kam, geht auf diese doppelte Rollenproblematik zurück. Autobiographischer Rückblick und „literarische Selbstdarstellung" 48 sind daher in gebrochener Weise aufeinander bezogen, wo das Dichten einer Frau und die Rolle der 'femme clerc' gegen männliche Prärogativen auf dem Prüfstand stehen. Aus diesem Grund gestaltet Christine de Pizan nicht so sehr die Kontinuität der eigenen Entwicklung als die notwendige Überwindung der in Kindheit und Jugend angelegten und bis zur frühen Verwitwung 1389 durchgehaltenen Rolle der höfisch gebildeten Frau. Der heiter entspannte, ja nostalgische Blick eines Machaut oder Froissart auf die eigene Kindheit kann unter diesen Umständen nur schwer gelingen. Autobiographisches Sprechen ist vielmehr immer instrumentalisiert und in einen Rechtfertigungsdiskurs eingebunden, der den Aufstieg der Frau zu politischer Bewußtheit sinnfällig macht. 49 Das Machautsche Leitthema des 'einseignement' geht unter veränderten Bedingungen in das vorwiegend moralistischdidaktische Werk ein, insofern das eigene Lernen die Legitimation für die Weitergabe von Wissen abgibt. 50 Der 'Livre du chemin de long estude' (1403) gestaltet die Selbstinitiation unter dem Einfluß von Boethius und der Danteschen 'Divina Commedia' nicht als primär religiöses, sondern als Bildungserlebnis, in dem das weibliche Ich sich herkömmlicher Verfahren der Selbstlegitimation bemächtigt und dabei mit den höchsten Vorbildern wetteifert. Anders auch als Machaut oder Froissart ist Christine de Pizan trotz ihrer guten und vorteilhaften Beziehungen zum französischen Hof keine genuin höfische Dichterin mehr. Ihr Kampf um ein humanistisch feministisches Ideal des Dichtens richtet sich daher vorwiegend gegen den Zufall ihres Geschlechts, das zu überwinden der eigentliche Sinn des 'Chemin de long estude' ist. Nirgends ist dies deutlicher als in dem 'Livre de la mutation de Fortune', das dem 'Chemin de long estude' unmittelbar vorausgeht und in gewisser Weise dessen Vorgeschichte und 48 49

50

Vgl. B. ZÜHLKE, Christine de Pizan in Text und Bild. Zur Selbstdarstellung einer frühhumanistischen Intellektuellen, Stuttgart 1994, (Ergebnisse der Frauenforschung 36), Kap. III. Hierzu R. BROWN-GRANT, L 'Avision Christine: Autobiographical Narration or Mirror for the Prince, in: Politics, Gender, and Genre. The Political Thought of Christine de Pizan, hg. von M. BRABANT, Boulder, San Francisco 1992, S. 95-111. A. TARNOWSKI, Autobiography and Advice in Le Livre des trois vertus, in: Une femme de lettres au Moyen Age. Etudes autour de Christine de Pizan, hg. von L. DULAC / B. RIBGMONT, O r l e a n s 1 9 9 5 , S. 1 5 1 - 1 6 0 .

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Bedingung darstellt, während die Autorin in der anschließenden, autobiographischen 'Avision Christine' (1405) mit Blick auf ihre neu gewonnene Rolle als Ratgeberin der Herrschenden Bilanz ziehen kann.51 Von der ersten, noch subjektiv privaten Stufe weiblicher Bewußtwerdung, die nicht zufällig in einem universalhistorischen Abriß der Menschheitsgeschichte gipfelt, fuhrt der 'chemin de long estude' so über die notwendige Initiation in eine höhere kosmische Weisheit zu der Stufe, auf der das Erreichte die Voraussetzung für das 'Lehramt' der Dichterin auch im politischen und sozialen Bereich bildet. Und erst das eigene Lernen befähigt die Autorin des 'Livre des Trois Vertus' (1405), selbst erzieherisch einzuwirken und in 'La Cite des Dames' die historische Bedeutung der Frau (nach dem Vorbild von Boccaccios 'De claris mulieribus') zu thematisieren.52 Sie qualifiziert sich damit „as the 'first professional writer'" und als erster „polyscribator" 53 weiblichen Geschlechts im Mittelalter: weiblicher Autobiographismus im Dienste der Suche nach einem neuen weiblichen Selbstverständnis. Die Kindheit selbst ist in dem 'Livre de la Mutacion de Fortune' nur angedeutet Auch hier schildert Christine eine Initiation. Nach dem Tod des geliebten Mannes wird sie, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, von Fortuna in einen Mann verwandelt und darauf in die höheren Bereiche des Wissens vom Leben eingeführt. Die Geschlechtsumwandlung entreißt sie dem bisherigen Bereich, dem 'Reich der Mutter', und bringt sie dem verstorbenen Vater nahe; ihm, dem Philosophen und Astronomen fühlte sich die Tochter ja von jeher nahe. Vater und Mutter bezeichnen in insistenter Weise die beiden rollenspezifischen Optionen, mit denen sich die Autorin immer wieder konfrontiert sieht. Weniger die Kindheit als solche als diese Problematik klingt daher in den autobiographischen Passagen der 'Mutation de Fortune' an. Wenn die Autorin schreibt: Car je desir ce que n'ay pasiA, so meint die Suche nach dem Vaterbild das Begehren des anderen Geschlechts in einer genderspezifischen Perspektive. Ihre Neigung richtet sich auf den 'Schatz' des Wissens, pour mon pere ressembler (V. 451) („um meinem Vater ähnlich zu werden"). Die klassische Polarität zwischen Natur und Kultur wird so neu instrumentiert: Das weibliche Ich, von der Natur als pucelle geschaffen, verweigert sich der Rollenerwartung, nach der die Mutter sie erzog. Die Natur und die Mutter sind in dieser Hinsicht austauschbar, insofern sie für eine umwandelbare 'naturhafte' Ordnung stehen, während die mutation der Dame Fortune gerade die mögliche 51 52 53 54

310

Vgl. C. M. RENO, Self and Society in „L'Avision-Christine" of Christine de Pizan, Phil. Diss. Yale University 1972. Vgl. Μ. LAIGLE, „Le Livre des trois vertus" de Christine de Pizan et son milieu historique et litteraire, Paris 1912, S. 153-194 („Education et instruction de la jeunesse"). E. J. RICHARDS, 'Introduction' zu The Book of the City of Ladies, New York 1982, S. XXI. Edition on S. SOLENTE, Paris 1959 (SATF), 2 Bde. Vgl. hierzu auch WOLFZETTEL [ANM. 36], S. 119ff.

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

Selbstbestimmung, ja Selbsterschaffung des Ich in symbolisch männlichen Kategorien repräsentiert. Der allegorische Jungfernkranz und Reif aus Edelsteinen, den ihr die Mutter schickt, bezeichnet nicht nur das Ende der Kindheit {D'enfence estoie sepparee, V. 763); er erweist mit seinen natürlichen Wirkkräften auch auf die 'natürlichen' weiblichen Tugenden, während Fortuna das Ich später zur übergeschlechtlich Wissenden machen wird. Dem mütterlich-natürlichen Bereich ist der Leib zugeordnet (Mais Nature le corps ordonne [...], V. 670); die Botschaft von ma dame Fortune dagegen bezieht sich auf Wissen und Verstehen: Que ja commenqoie a apprendre / Le ffait de raison et comprendre (Vv. 773f.) („daß ich anfing, die Vernunft zu gebrauchen und zu verstehen"). Nur dies Wenige von Kindheit und Jugend ist erwähnenswert. Fortuna fuhrt die pucelle in einer allegorischen Seereise zum dieu de grant savoir (V. 860) in der Stadt Ymeneüs, aber die glückliche Lebenszeit mit dem 'wissenden' Mann bildet nur die Vorstufe für die endgültige Emanzipation nach dem Tod des Gatten: Wiederum bildet das Bild der Seefahrt den Rahmen für eine entscheidende Etappe. Während sich der Ehering von selbst von ihrem Finger löst, ist die Protagonistin zum Mann geworden, und fort et hardi euer me trouvay (V. 1359) („ich hatte plötzlich ein starkes und tapferes Herz"). Die Berufung zur gelernten Autorin ist an das Mannsein gebunden und setzt das Mädchendasein nur insofern voraus, als dieser Prozeß in der frühen Jugend begonnen hatte und die symbolische Geschlechtsumwandlung nur diesen stetigen Vorgang der Selbstbewußtwerdung allegorisch ratifiziert. Wir wollen den knappen und sicher lückenhaften Rundgang durch den Bereich der autobiographisch motivierten und perspektivierten Kindheit im Mittelalter an dieser Stelle beenden. Frühen, z.T. schwer zu verortenden Ansätzen im Hochmittelalter steht im Spätmittelalter ein relativ breites und kompaktes Korpus einschlägiger Texte gegenüber, die das Interesse der Kindheit für das Selbstverständnis des späteren Autors und/oder Dichters auf die eine oder andere Weise veranschaulichen. Je nach dem eingenommenen Blickpunkt steht dabei die Kontinuität oder die Diskontinuität der Lebensalter im Vordergrund. Grundsätzlich greift das Christinesche Motiv der mutacion immer da, wo es um das gegenwärtige Ich des Dichters geht. Deshalb sei abschließend an ein singuläres Beispiel erinnert, in dem dieses Motiv zugunsten einer initiatischen Teleologie möglichst gering gehalten wird: die 'Vita Nova' Dantes. Die zwischen 1292 und 1295 in Florenz55 entstandene autobiographische Dichtung, die durch den systematischen Rückgriff auf das bisher verfaßte lyrische Werk auch autoexegetischen Charakter hat, also „Dich55

Zum mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Hintergrund vgl. jetzt D. HOOF, Opfer- EngelMenschenkind. Studien zum Kindheitsverständnis in Altertum und früher Neuzeit, Bochum 1999, Teil IV: Eine Stadt und ihre Kinder - Florenz in der Frührenaissance.

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Friedrich Wolfzettel

tung über Dichtung" 56 ist, kündigt bekanntlich im 31. Schlußkapitel bereits die spätere 'Divina Commedia' und die dort geschilderte Jenseitsvision di quella benedecta Beatrice (S. 222)57 an, die der himmlischen Herrlichkeit teilhaftig geworden ist. Frühe Lyrik, Vita Nova und Jenseitswanderung bilden so eine auf das große Ziel ausgerichtete, natürliche Kontinuität des vollendeten Werkes, das im Zeichen der Begegnung mit Beatrice steht. Diese Begegnung aber hat selbst repetitiv sich steigernden Charakter; sie bezieht die Kindheit nicht nur mit ein, sondern weist ihr darüber hinaus die Funktion einer unerlässlichen Basis der geschilderten epiphantischen Bewegung zu. Die Erinnerung an die eigene Kindheit ist einmal mehr für die nachfolgende Berufung zum Dichter konstitutiv. Man möchte bezeichnenderweise wieder von einem hagiographischen Modell der Epiphanie sprechen - nur mit dem Unterschied, daß nicht das Ich, sondern Beatrice im Mittelpunkt steht. Denn das 'neue Leben', das an die Stelle der augustinischen conversio tritt und dazu bestimmt ist, das Ich in immer weitere Kreise der Bewußtwerdung wachsen zu lassen, beginnt bereits in der Kindheit. Die entscheidende Begegnung oder Epiphanie findet im neunten Lebensjahr des Ich statt - Beatrice steht am Anfang, das Ich am Ende des neunten Jahres, und in diesem Augenblick, in quel puncto (S. 9) des eingangs genannten libro della mia memoria (S. 5), verkündet lo spirito della vita, lo quale dimora nella secretissima camera del cuore (S. 9) („den Geist des Lebens, der in der geheimsten Kammer des Herzens wohnet") den Anbruch einer neuen Zeit, die Dante mit einem messianischen Echo - der Begegnung von Johannes dem Täufer mit Jesus in Matth. 3, 11 - als vorweggenommene Glückseligkeit beschreibt. Die spirituelle Neugeburt unter der Herrschaft von Amore - Beatrice trägt ein blutrotes Kleid (sanguineo) - erfüllt die immaginazione des Jungen, ist aber di si nobilissima virtü, che nulla volta sofferse che Amore ni regesse sanza lo fidele consiglio della Ragione (S. 12) („von so edler Natur, daß sie es niemals zuließ, daß die Liebe mich leitete ohne den treuen Rat der Vernunft in allen Dingen"): onde io nella miapueritia molte volte l'andai cercando, e vedeala di si nobili e laudabili portamenti, che certo di lei si potea dire quella parola del poeta Homero: „Ella non parea figliuola d'uomo mortale, ma di Dio, " (S. 12) („und daher ging ich in meiner Knabenzeit gar oftmals aus, um sie zu suchen; und ich sah sie auch und sah an ihr ein so edles und preiswürdiges Betragen, daß von ihr sicherlich jenes Wort des Poeten Homeros gesagt werden

56

57

312

W. WEHLE, Dichtung über Dichtung. Dantes „Vita Nuova": die Aufhebung des Minnesangs im Epos, München 1986. Zitate nach der Edition von L. C. Rossi, Milano 1999, (Oscar Classici, 468). Übersetzungen nach K. FEDEN (Berlin 1921), abgedruckt in der Ausgabe der Fischer-Bibliothek der hundert Bücher, Exempla Classica, 90, Frankfurt a.M. 1964.

Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung

konnte: 'Sie scheinet nicht die Tochter eines sterblichen Menschen, sondern die eines Gottes zu sein.'"). Das Erwachsenenalter ratifiziert dann nur noch das beseligende Kindheitserlebnis in einem neuen Sublimierungsschub, der durch den frühen Tod Beatrices gekrönt werden soll. Wie sehr es dem Autor auf die Verschränkung der beiden puncti der Begegnung und der Wiederbegegnung ankam, zeigt die obsessive Symbolik der heiligen Zahl Neun, die die gesamte 'Vita Nova' durchzieht und vom Autor selbst gedeutet - im Augenblick des Todes der geliebten Beatrice auf diese bezogen wird58: uno miracolo, la cui radice, cid del miracolo, e solamente la mirabile Trinitate. (S. 156) („Ein Wunder, dessen Wurzel lediglich die wundertätige Dreieinigkeit sein kann"). Ist aber Beatrice selbst 'eine Neun', dann sind Kindheit, Erwachsensein und Tod unauflöslich ineinander verwoben, und die Kindheit präfiguriert das Spätere. Tatsächlich hebt die erneute Begegnung das Kindheitserlebnis in gleichsam dialektischer Weise auf. Genau neun Jahre sind seit dem ersten apparimento (S. 14) verflossen, als der Dichter der Kindergeliebten - jetzt in der Symbolfarbe Weiß des verklärten Christus - erneut ansichtig wird; die verhaltene Erotik des blutroten Kleides aber ist in den anschließenden visionären Traum hineingenommen: In einem feuerfarbenen Nebel sieht das Ich die Geliebte nackt, in ein blutrotes Tuch gehüllt, schlafend in den Armen ihres 'Gebieters' Amor; als sie erwacht, reicht ihr dieser das glühende Herz des liebenden Ich als Speise. Die Vision mündet beim Erwachen in ein Sonett, also das dichterische Werk, das später im Durchschreiten der neun Himmelssphären unter der Leitung der seligen Beatrice gipfeln wird. Kindheit und Erlösung bilden Anfang und Ende eines stetigen Wegs des spirituellen Aufstiegs und der zugleich individuellen, religiösen und dichterischen Bewußtwerdung und Berufung.

58

Hierzu jetzt M. HARDT, Beatrice und die Vita Nuova, in: Italienisch 44 (2000) 2-14.

313

Quellenregister Abaelard (Petrus Abaelardus) 277f., 294 Adenet leRoi 40 Agricola, Rudolf 29 Alanus ab Insulis 170 Alböric de Pisanfon 53-57, 59, 62f„ 65, 76-78, 84 Albertus Magnus XII, 8-12 Albrecht (von Scharfenberg ?) 120,249 Alexandre de Bernai 40 Alexandre de Paris 36 Alexiuslied (anon.) 39 Alkuin 6 Altes Atlilied (anon.) 131 Ambrosius 262f., 270 Amyot 25,45 Annolied (anon.) 59-61, 63,68f., 71,73, 82 Anselm von Canterbury 288 Apolloniusroman (anon.) 67 Aristoteles XII, 3, 7-12,18-25,27,161, 196, 304f. Aristoteles summus (anon.) 19 Artiflciosa memoria secundum parisienses (anon.) XII, 18,24f„ 27 Attendentes nonnulli (anon.) 19,21, 24f. Augustinus XII, 5,12f., 18,22,68,262f., 266,268, 293f., 312 Avicenna 18 Averroes 19,22

La Bataille d 'Aliscans (anon.) 202 La Bataille Loquifer (anon.) 202,226, 229f. Benoit de Sainte-Maure 34, 37-39,42f., 45-50,228 Benedikt von Nursia 279 Berengar von Tours 263 Bernhard von Chartres 39 Bernhard von Clairvaux XII, XVI, 12-14, 191,277-288 B£ro(u)l 40 Boccaccio, Giovanni 310 Bodel, Jean 228,253 Boethius 309 Bonaventura 265,270,275f.

Cassiodor 6 Chanson d 'Aliscans (anon.) XV, 204f., 209,224-226,228-230, 241,252 Chanson de Guillaume (anon.) 202, 226 Chanson de Roland (anon.) 253 Charmadas 5 Charroi de Nimes (anon.) 226 Chevalerie Vivien (anon.) 226,229f. Chretien de Troyes 40,42, 83,139f. 150, 156,292,298 Christherre-Chronik (anon.) 234 Christine de Pizan XVI, 304, 309-311 Cicero XII, 5-7, 9,11,15, 21,28,162, 167,186 Convenant Vivien (anon.) 230 Conversio Othgeri militis (anon.), 227 Couronnement de Louis (anon.) 226

Dante Alighieri XVI, 170,299, 309, 311313 Dares 38,43,46 Deschamps, Gaston 308 Diktys 38f., 43,46 Durandus de S. Porciano 19

Eberhardus Alemannus 162 Eike von Repgow 211 Eilhart von Oberge 224 Einhard 68 Ekkehard von Aura 74 Enfances Guillaume (anon.) 226 Enfances Vivien 226 Erasmus von Rotterdam 28

Flo(i)re et Blancheflor (anon.) 292 Fludd, Robert 23 Fortunatianus 5f. Frauenlob s. Heinrich von Meißen Froissart, Jean XVI, 300-302,305-309 Frutolf von Michelsberg 74f.

Gace Βηιΐέ XVI, 298-300 Gaimar, Geffrey 228 Galenos 21

315

Quellenregister Gautier d'Arras 292 Gautier de Coinci 40 Gervasius von Melkley 162 Girart de Roussillion (anon.) 253 Gloriosus deus (anon.) 19-21 Gottfried von Straßburg XIV, 64,144147,151f., 159, 168-197,224 Gottfried von Vinsauf 162 Gottfried von Viterbo 250 Gregor der Große (I.) 68,270,272 Guibert de Nogent XII, XVI, 293-297, 302f. Guillaume de Berneville 292 Guillaume de Lorris 304 Guillaume de Machaut 302-309

Haimonskinder {anon.) 151,153 Hertmann von Aue XIV, 57, 83,98, 134f„ 140,142-145,148,152-154,171,224 Heinrich von Freiberg 196 Heinrich von Hesler 241 Heinrich von Meißen (gen. Frauenlob) 203 Heinrich von München XV, 235,239, 241,246-252,254, 256 Heinrich von Veldeke 43,60, 83,145, 223f. Heliand(anon.) 68 Herbort von Fritzlar 223 Herzog Ernst (anon.) 84 Hildebrandslied (anon.) 65 Hildegard von Bingen 262,265 Himmlisches Jerusalem (anon.) 70f., 73 Hincmar von Reims, 264 Hirzelin 242 Homer 38,312 Horaz 61,196 Hugo von St. Viktor 21 f. Huon de Rotelande 40 Hieronymus 28

Johann von Baconthurp 19 Johann von Würzburg 249 Johannes Aventinus 28f. Johannes de Garlandia 116,162 Johannes de Prussia 19f. Johannes de Rupella 18f. Johannes Duns Scotus 19 Johannes Serrae 28 Julius Valerius 63 Julius Victor 5f.

Kaiserchronik (anon.) 59, 69-75, 77, 223f„ 232f., 240-242 Karl und Elegast (anon.) 253 Karlmeinet (anon) 253 König Rother (anon.) 64,72, 77, 84 Konrad von Stoffeln 249 Konrad von Würzburg 99 Konrad (Pfaffe) 59,77,223-225,233,253

Lamprecht (Pfaffe) XIII, 53-68,72f., 7584,223 Lancelot (Prosa-, anon.) 140-144,151, Lancelot en prose (anon.) 292 Leo von Neapel 63,81 Linzer Antichrist (anon.) 71,73 Luther, Martin 274

Isidor von Sevilla 6, 78 Iter ad Paradisum (zum Alexander, anon.) 78,81

Magister Hainricus 20, 25-27 Marie de France 36,39f„ 42,142,260 Martianus Capella 6 Matthaeus de Verona 23f., 27 Matthaeus von Vendöme 162 Mechthild von Ha(c)keborn XVII Meinhard (Bamberger Domscholaster) 68f. Metrodorus von Skepsis 5 Montage (de) Guillaume (anon.) 226, 229f. Montage Rainouart (anon.) 202, 226, 229f. Morant und Galie (anon.) 253 Maugis (anon.) 253

Jacobi de Voragine 261,265-273, Jacobus Publicius 28 Jehan Renart 40

Cornelius Nepos 38 Nibelungenlied {anon) Xlllf., 58f„ 61,68, 71, 73, 75, 83f„ 87-117,120-135,145,147f.

316

Quellenregister Nietzsche, Friedrich 201 Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus) 23, 27 Notker der Deutsche 6 Nunc igilur (anon.) XII, 15-17

Oberrheinische Chronik (anon.) 242 Ogier le danois (anon.) 253 Otfrid von Weißenburg 68, 165 Otto von Freising 74,76,218 Otto von St. Blasien 76 Ottokar von Steiermark 242f. Ovid 187, 191

Partonopier-Roman (anon.) 260 Passauer Nibelungenlied (anon.) 134 Petrarca 28 Petrus Aureolus 19 Petrus Hispanus 26f. Petrus Lombardus 23 Physiologus (anon.) 79 Piramus, Denis 260 Piaton 22, 80f., 161, 193 Pleier (Der) 249 Prise d Orange (anon) 226 Proust, Marcel 305 Pseudo-Kallisthenes 63

Quintilian 5f., 162

Ramus, Petrus 114 Raoul de Cambrai (anon.) 253 Renaut de Montauban (anon.) 253 Reinfried von Braunschweig (anon.) 249 Rhetorica ad Herennium (Pseudo-Cicero) XII, 5, 7-10, 12,15,17 Richard de Fournival 41 Roman d'Eneas (anon.) 34f., 37, 42f., 4549,224 Roman de Thebes (anon.) 34-37, 39f., 42f., 45-49 Rousseau, Jean-Jacques 293 Rudolf von Ems 234,236

Sallust 28,38 Sciendum quod (anon.) 19f. Simonides von Keos 5f., 115f., 119,167f., 196

Straßburger Alexander (anon.) 68, 77-81, 83f. Stricker 80, 223f., 240f., 245,247 Sulpicius Severus 73

Tacitus 63 Terenz (Publius Terentius) 28 Themistokles 186 Theodosius 67 Thidrekssaga (anon.) 129 Thierry von Chartres 7 Thomas d'Angleterre 186 Thomas von Aquin 7-9,18, 23,139, 147, 261,278 Thomas von Celano 265f., 275 Tullius s. Cicero

Ulrich von Etzenbach (Eschenbach) 242f., 249 Ulrich von dem Türlin 244f„ 247, 249-251, 254,256 Ulrich von Türheim 203,243-245,247, 249f„ 254-256

Vergil 43,49 Vie de saint Alexis (anon.) 227 Vie de sainte Chaterine (anon.) 227 Vie de saint Thomas Becket (anon.) 227 Vie de saint Nicolas (anon.) 227 Vita S. Geraldi (anon.) 227 Vita sancti Guillelmi due is (anon.) 225,227

Wace 40,227f., 232f. Walter Map 37 Wartburgkrieg (anon.) 249 Wilhelm Durandus (Bischof von Mende) 270 Wilhelm von Malmesbury 233 Wilhelm von Ockham 19 Wilhelm von Rang 254f. Wirnt von Grävenberc (Grafenberg) 153, 224, 249 Wolfdietrich (anon.) 249 Wolfram von Eschenbach XIVf., 98,140, 145, 148-150, 154-157, 201-226,229-235, 237f„ 240-256 Zilies von Seine (Pseudo-Zilies) 242

317

Forscherregister Abeling, Τ. 97-99 Abelson, R. 107 Ackermann, V. 55 Aertsen, J. A. 262 Agamben, G. 305 Alba, J. W. 107 Albrecht, I. 98 Aldermatt, A. M. 279 Allen, R. 232 Althoff, G. 277 Angenendt, A. 276 Aries, P. XVI, 291,307 Assmann, A. IXf, 39,141, 160,219,261, 275 Assmann, J. IX, 33, 39,56, 82

Bach, A. 242 Baddeley, A. D. 110,115 Barthelemy, D. 218 Bartlett, F. C. 107 Bartlett, R. 210 Bartsch, Κ. 58,90-92,96,103,105f. Batts, M. 105 Bauer, D. R. 277 Baufeld, C. 58 Baumgartner, Ε. 300 Bäuml 126 Becker, P. J. 239 Beech, J. R. 119 Bellmann, G. 169 Bender, K.-H. 228 Benecke, G.F. 152 Benthien, C. 141 Bemhart, J. 262,293 Berns, J. J. IXf., 3, 161f. Bertau, K. 62,64,66f„ 75,178f., 188, 191,193,203,215 Bertelsen, H. 131 Bertelsmeier-Kierst, C. 233 Bertin, G. A. 202 B6temps, I. 303 Bethge, P. 115 Binding, G. 280 Blaschnitz, G. 154 Bloch, R.H. 142 Bloomfield, M. W. 272 Blum, H. 5,7,21,116

Blume, D. 46 Blumenberg, Η. 272 Blumenröden, A. 65f. Böhme, G. 144,153 Böhme, Η. 144 de Boor, Η. 58,91 Bos, Α. 292 Bosl, Κ. 63, 74 Bower, G. 118 Brackert, Η. 91,97f., 100f„ 105f., 126 Brandis, T. 239 Brandt, R. 162 Brasseur, A. 228 Braune, W. 90, 93,101f„ 105 Brinker-von der Heyde, C. 171,205f. Brinkmann, Η. 55,166 Brook, L. C. 225 Brooke, C. N. L. 37 Broszinski, H. 238,246 Brown-Grant, R. 309 Brownlee, K. 308 Brummack, J. 67 Brunner, Η. 202f„ 223,234,247 Bumke, J. 80, 89, 91,100,104-106,132135,139,203,220,223,230,234,245 Buntz, H. 54 Burmeister, Η. Α. 241 Burrichter, Β. 224, 232f. Busby, Κ. 233 Buschinger, D. 88,240,253 Bushey,B.C. 245,247,251,256 Büttner, F. 196,270f. Butzer, G. 164

Carre, Y. 292 Carruthers, M. J. IX, 5, 9, 114, 120, 219 Castedello, W. 202 Cerquiglini, J. 300,308 Chinca, M. 130,170 Clarke, E. 21 Classen, A. 301 Coe, R. N. 293 Coleman, J. 14,18f. Colley, Α. M. 119 Colli, G. 201 Conrad, R. 110 Constans, L. 35

319

Forscherregister Conway, Μ. Α. 107 Cormeau, C. 143 Courth, F. 277 Curschmann, Μ. 64, 75, 97,121,126,131 Curtius, Ε. R. 36,275 Czerwinski, P. 139,145,149,204f., 212, 218

Damain-Grint, P. 227f., 232 Deinert, W. 140 Delagneau, J. M. 240 Dembowski, P. F. 302 Desclais Berkvam, D. 292 Dewhurst, K. 21 Diers, M. 288 Dinzelbacher, P. 285f. Donaldson, W. 116 Donner, H. 67 Draesner, U. 191 Dragonetti, R. 298 Drecoll, U. 180,182 Droege, K. 91,128 Duby, G. 205,210,292 Dulac, L. 309 Dyggve, H. P. 299

Ebbinghaus, H. 118 Eco, U. 215 Ehlen, T. 222 Ehlert, T. 54f„ 57, 60, 66, 79 Ehrenfeuchter, Μ. 222 Ehrenreich, Β. 207, 21 If. Ehrismann, G. 64 Ehrismann, O. 161 Eifler, G. 169 Erdmann, C. 68f. Erichsen, F. 131 Ericsson, Κ. A. 116,119 Ernst, U. X, 115,162f„ 170 Erzgräber, W. 228

Faral, E. 84 Feden, K. 312 Feilke, H. 99 Feilzer, H. 21 lf. Feistner, E. XVf., 259,264f. (Beitrag: 259-276) de Fergusson, C. 293

320

Fichtenau, H. 277 Fickermann, N. 68f. Finnegan, R. 127 Fischer, W. 55-57,61-64 Fleckenstein, J. 211 Fourquet, J. 88 Fourrier, A. 301,304 France, P. 228 Frank, B. 226f. Frappier, J. 203 Freud, S. 112f., 161 Frischmuth, E. 277 Fritsch, S. 191 Fritsch-Rößler, W. XIV, 161,196 (Beitrag 159-197) Fromm, Η. XII, 97,126f„ 129,240,262 Frühwald, W. XI, 270 Fuchs, G. 277

Gabriel, L. 27 Gärtner, K. 143,255 Gazelles, B. 308 Geering, A. 203,208,211 Geith, K.-E. 240 Gellinek, C. 209 Gentry, F. G. 88 Genzmer, F. 131 Gerhaher, S. 61,69 Gerwing, M. 288 Geuenich, D. IX, 219 Gilson, E. 286 Glanzer, M. 118 Gnädinger, L. 178 Goetz, H.-W. 277 Goez, W. 60 Goldmann, S. 168 Goody, J. 81 Graf, Κ. XVII Graesse, T. 265 Green,D.H. 76,83 Greenfield, J. 201,210 Grigoire, R. 288 Grell, C. XVII Grubmüller, K. 55,65 Guiette, Robert 298 Grünkorn, G. 169,224 Günther, H. 97,133 Günther, J.-U. 234,247 Gumbrecht, H. U. 139,141f. Gutenbrunner, S. 126

Forscherregister Haack, D. 67 Haas, A.M. 184 Haferland, H. Xlllf., 98, 127 (Beitrag 87135) Hahn, G. 234 Hahn, I. 154 Hajdu, H. 3,5,7-9 Halbwachs, M. 184,215 Halm, K. 5 Hardmeier, C. 39 Hardt, M. 313 Harms, W. 220 Hartfelder, E. 34 Harth, D. X, 219,261 Hartmann, J. 226 Hasher, L. 107 Haubrichs, W. XI, 5, 58, 73 Hauck, K. 59,69,73,76 Haug, W. 53, 55,69,73, 81,96,166, 170, 207,223,231,274 Haupt, Β. XIII, 33, 53,55f., 60, 78- 80, 83f. (Beitrag 53-84) Hauser, J. 29 Hausner, R. 178 Haustein, J. 96 Haverkamp, Α. XI, 33,116,140,164, 219,221,275, 293 Haymes, E. R. 65,81 Heath, T. 29 Heffner, R.-M. S. 213 Heimann-Seelbach, S. Χ, XII, 4 (Beitrag 3-29) Heinimann, F. 21 Heintze, M. 225f., 228,252 Heinzle, J. 33, 98-100,102,120,129f., 139,145,148,201,203,207,213,230232,245,259 Hellgardt, E. 75 Hellmann, M. W. 228,231 Hennig, U. 91, 102 Hentig, H. von 291 Herborth, F. 81 Herzog, R. XI Hesse, B. 226 Heusler, A. 95,97,129,131 Hoffmann, W. 87,90,105,125,128f. Holden, A. J. 41 Hölscher, Τ. IX, 56 Holthus, G. 226,230 Holtzmann, A. 105 Hoof, D. 311

Horvath, E. 245 Hotz, J. 279 Huber, C. 159, 169f„ 185, 191 Hübner, A. 55,256 Hubrath, Μ. XVII Hülk, W. 301 Humphreys, G. M. 204,207f„ 219, 221

James, M. R. 37 Jauß, H. R. 272 Johnson, L. P. 231,241 Johnson, N. S. 107 Jones, M.H. 156

Kaiser, G. 56,67,82 Kamper, D. 149 Kantor, J. 293 Kapteyn, Μ. N. 153 Kartschoke, D. 59,68-72 Kasten, I. 157,218,275 Keller-Dall'Asta, Β. X Keller, H. G. 144,164 Kellermann, K. 242 Kellner, Β. X, 171f, 174 Kielpinski, A. 201,210 Kienhorst, H. 253 Kiening, C. 202,223,232,241-243,245, 247,249 Kimmelmann, Β. 301 Kinzel, K. 53, 83 Kjellmann, H. 260 Klein, D. 234 Klein, K. 245,256 Kleinschmidt, E. 225,234,240,242, 244, 246,253f. Kluge, R. 143 Knaller, S. 39 Knape, J. 4-6,161 f. Knapp, F. P. 82,201,205,209f„ 220f„ 224,232 Knoch, W. XVI, 277f„ 280 (Beitrag 277288) Köhler, E. 36 Köhler, J. 277 Kokott, H. 56,62, 64, 77f., 82 Köpf, U. 279f„ 282f„ 285, 287 Krause, B. 189,210f. Krause, G. 274 Krell, D. Farrell 160

321

Forscherregister Krogmann, W. 103 Krohn, R. 169,182 Kroos, R. 264,270f. Kugler, H. 79 Kühle, H. 8 Kuhn, H. 76,131 Kürschner, H. 226

Labande, E.-R. 293 Lachmann, K. 95,101,152,216 Lachmann, R. XI, 33,116,140,163-166, 196,219,221,275, 293 De Lage, G. R. 35 Laigle.M. 310 Langer, O. 277f„ 282,284 Laufhütte, H. 189 Lausberg, H. 55 Lawler, T. 116 LeGoff.J. 34,44,292 Leclercq, J. 14,277,281 Legner, A. 264 Leitzmann, A. 140 Lieb, L. 98 Liebertz-Grün, U. 221 Lies, L. 264 Liliencron, R. von 91,242 Lofmark, C. 65f, 201f., 209f., 213,220f. deLooze, L. 308 Lord, A . B . 127 Lorenz, P. 230 Ludwig, O. 97,99,133

Mackert, C. 84 Mandler, J. M. 107 Mara, Ε. 39 Margolin, J.-C. 28 Marold, Κ. 144 Maschek, Η. 242 Masser, Α. 98 de Mäuse, L. 291 McFarland, T. 156 McLaughein, Μ. M. 291 Meier, C. XII, 262f„ 265 Meinhard, H. 288 Mela, C. 308 Menhardt, H. 96 Mentens, V. 186 Meves, U. 84 Meyer, M. 80

322

Michaud-Quantin, P. 18 Michel, P. 206 Michels, V. 90,97 Mihm, A. 99 Miklautsch, L. 201,210 Miller, G.A. 115,118 Minis, C. 77,81 Modersohn, M. 197 Moessner, V. 201,203,211 Mohr, W. 64,76 Mölk, U. 36,39f. Monod, B. 297 Montinari, M. 201 von Moos, P. 224 Morris, P.E. 107 Moser, H. 144 Müllenhoff, K. 105 Müller, G. 274 Müller, G. L. 261,263 Müller, J.-D. XVII, 88,154,164 Müller Farguell, R. W. 159,161 Mynors, R. Α. B. 37

Naumann, H. 147 Neckel, G. 131 Nellmann, E. 233 Neuber, W. IXf.,3,161f. News, Μ. A. 225 Nitze, W. A. 36 Nora, P. IX Norman, D. A. 115 Noth, M. 60

O'Daly, G. 293 Oehlschläger, C. XVII Oexle, O. G. IX, 33, 159,195f., 219,259 Ohly, F. 58,260 Olef-Krafft, F. 150 Oliver, W.L. 119 Ong, W. J. 66,114 Opitz, K. 83,223 Ortmann, C. 221 Ott, Ν. H. 234f., 247 Ottmers, C. 162

Palmer, N. 240 Panzer, F. 90f., 101 Paris, G. 292

Forscherregister Paul, Η. 96 Peil, D. 184,186,191,196,270 Peschel-Rentsch, D. 216,218 Peters, T. 227 Pethes, N. 160,163,168,172 Petit, A. 45 Pfeiffer, K. L. 139,141f. Pfister, F. 81,83 Pfister, P. 279 Philipowski, Κ. XIV, 151,178 (Beitrag 139-158) Piper, P. 6 Poirion, D. 300f. Pörksen, U. 221 Portmann, P. R. 99 Przybilski, M. XIVf. (Beitrag 201-222) Pütz, H.-H. 220

Quint, J. 79

Ragotzky, H. 141,234 Ranke, F. 169 Rathofer, J. 183 Regnier, C. 226 Remscheid, M. 213,221 Reno, C. M. 310 Reuter, H. 277 Richards, E. J. 310 Richiment, B. 309 Ridder, Κ. XI, 80,191-193,224 de Rijk, L. M. 26 Robertson, D. 292 Rocher, D. 191-193 Röcke, W. 164 Rohlfs, G. 34 Rossi, L. C. 312 Roth, O. 228 Rousso, Η. IX Ruberg, U. 186 Ruh, K. 54,281 Ruttmann, I. 59 Sablonier, R. 210f. Sachs, J. S. 117 Salverda de Grave, J.-J. 35 Schaefer, U. 164-167,185 Schänk, R. 107 Schanze, H. 245,256 Scherer, W. 60f.

Schilling, M. 191 Schirok, B. 216,221,240 Schirren, T. 161 Schlaffer, H. 81 Schleiermacher, F. 81 Schmale, F. J. 60,73,75 Schmid, K. 159,219,260 Schmidt, E.-J. 219-221 Schmidt, S. J. X, 219,274f. Schmidt-Biggemann, W. 23,27 Schmolke-Hasselmann, B. 202,226 Schneider, K. 240 Schnell, R. 145 Schnitzler, N. 139,206 Schnyder, A. 240 Scholz, M. G. 133 Schönberger, R. 262 Schöne, A. 161,169 Schöne, W. 61 Schönhaar, R. 178 Schöning, U. XIII, 34,38,43,46,256 (Beitrag 33-51) Schreiner, K. 139,141,206 Schröder, E. 71, 99,126 Schröder, W. 71, 83,178,209,216,237, 242,244f„ 246-249,256 Schulze, U. 120 Schwietering, J. 58,65 Seemüller, I., 242 Seitter, W. 149 Simek, R. 79 vonSimson, B. 218 Singer, S. 213,256 Solente, S. 310 Speer, A. 262 Spiazzi, R. M. 139 Spielberger, A. 247,251,256 Spiewok, W. 241 Spitzer, L. 57 von Stackelberg, J. 45 Stackmann, K. 203 Stein, P. K. 55, 60,178 Steinhoff, H.-H. 140,201,220 Sternberg, R. J. 116 Stevens, S. 201,203,207,209,211 Stierle, K. 33,139,142,, 275,298 Straschill, M. 21 Strohschneider, P. 83, 132,191 Suchier, H. 229 Szklenar, H. 57, 76, 79, 83

323

Forscherregister Tarnowski, Α. 309 Tervooren, Η. 144 Thibodeau, Τ. Μ. 270 Tischler, Μ. Μ. 97 Tuchmann, Β. W. 302 Tulving, Ε. 116 Tyssens, Μ. 226,229f.

Ueding, G. 4,161 Urbanek, F. 65,77,78

Valenti, R. 161 Vauchez, S. A. 292 Vögel, H. 83 Vollmann-Profe, G. 74f.,81f. Vollrath, H. 74

Wachinger, B. 121 Wägenbauer, T. 167 Waitz, G. 218 Waldmann, B. 201,212 Warburg, A. 161 Wehle, W. 312 Wehrli, M. 58 Weinberg, M. 167f. Weinrich, Η. IX, 160,167f„ 186 Weiss, J. 232 Wentz, R. 263 Wenzel, Η. X, 119, 139,141,150f„ 161, 174,176f, 179f„ 184,191,219,263,270f. Werner, K. 19 Westphal-Schmidt, C. 244 White, H. 81 Wienbeck, E. 202 Wiens, Β. XVII Wisniewski, R. 91 Willms, E. 169 Winkler, G. B. 279 Wolf, A. 169f, 180, 183,185, 187f. Wolf, J. XV, 233 (Beitrag 223-256) Wolff, L. 152,207 Wolfzettel, F. XVI, 224,291,298, 304, 308, 310 (Beitrag 291-313) Wollasch, J. 159,219,260 Wright, Α. Ε. 178-180,182 Wright,J.K. 79 Wulf, C. 149 Wyss, U. 100

324

Yates, F. Α. IX, 3, 5f„ 8f„ 11,14,115, 147 Yeandle, D. N. 156

Zaganelli, G. 298 Zamcke, F. 103,105 Zatloukal, K. 100 Ziegeler, H.-J. 274f. Zimmermann, A. 141 Zink, M. 294,298, 300-302 ZUhlke, B. 309 Zumthor, P. 307

Adressen der Beiträger und Herausgeber Prof. Dr. Ulrich Ernst, Allgemeine Literaturwissenschaft und Germanistik: Mediävistik, Fachbereich 4, Bergische Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42097 Wuppertal. Prof. Dr. Edith Feistner, Institut für Germanistik, Philosophische Fakultät IV, Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, 93040 Regensburg. HD Dr. Waltraud Fritsch-Rößler, Marstallstraße 32,68723 Schwetzingen. PD Dr. Harald Haferland, Richnowstraße 1,12103 Berlin. Prof. Dr. Barbara Haupt, Ältere Germanistik, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitätsstraße 1,40225 Düsseldorf. PD Dr. Sabine Heimann-Seelbach, Gemenweg 57,48149 Münster. Prof. Dr. Wendelin Knoch, Katholisch-Theologische Fakultät, Gebäude GA 7/2933, Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum. Dr. Silke Katharina Philipowski, Graduiertenkolleg 'Kulturtransfer im europäischen Mittelalter', Universität Erlangen, Krankenhausstraße 2-4, 91054 Erlangen. Dr. Martin Przybilski, Institut für deutsche Philologie, Universität Würzburg, Am Hubland, 97074 Würzburg. Prof. Dr. Klaus Ridder, Ältere deutsche Sprache und Literatur, Neuphilologische Fakultät, Universität Tübingen, Willhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Prof. Dr. Udo Schöning, Institut für Lateinische und Romanische Literatur des Mittelalters, Universität Göttingen, Humboldtallee 19, 37027 Göttingen. Dr. Jürgen Wolf, Sudetenstraße 12, 34454 Arolsen. Prof. Dr. Friedrich Wolfzettel, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen Johann Wolfgang Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt am Main.

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Udo Kindermann

Kunstdenkmäler zwischen Antwerpen und Trient

Erstedition -

Beschreibungen und

Übersetzung -

Bewertungen des Jesuiten Daniel Papebroch aus dem Jahre 1660

Kommentar 2002. VII, 527 Seiten. Gebunden. € 6 4 , - / s F r 103,I S B N 3-412-16701-0

Im Jahre 1660 unternimmt der Jesuit Daniel Papebroch eine Bibliotheksreise quer durch Europa. Er sucht Handschriften, wertet sie aus, schreibt sie ab oder läßt sie abschreiben. Nebenbei fertigt er eine große Anzahl zum Teil umfangreicher lateinischer Notizen über den Reisealltag und über das an, was ihn künstlerisch beeindruckt. >Für den Kunsthistoriker und für den Historiker durch seine für die damalige Zeit große Ausführlichkeit eine unschätzbare Quelles urteilte ein Generaldirektor der Bayerischen Bibliotheken. Diese Notizen werden hier zugänglich gemacht, übersetzt und kurz kommentiert. Es finden sich Nachrichten aus u. a. Antwerpen, Roermond, Jülich, Bergheim, Köln, Bonn, Breisig, Andernach, Koblenz, Ehrenbreitstein, Boppard, St. Goar, Burg Rheinfels, Oberwesel, Heimbach, Bingen, Budenheim, Mainz, Rüdesheim, Eltville, Mariental, Ingelheim, Mainz, Worms, Speyer, Heidelberg, Weinheim, Darmstadt, Frankfurt, Seligenstadt, Aschaffenburg, Homburg, Würzburg, Bamberg, Nürnberg, Weißenburg, Eichstätt, Ingolstadt, Augsburg, München, Kufstein Innsbruck, Brixen, Bozen, Trient, Sacco, Rovereto und der Berner Klause. Udo Kindermann ist ordendicher Professor der Lateinischen Philologie des Mittelalters an der Universität zu Köln. URSULAPLATZ I, D - 5 0 6 6 8 KÖLN, T E L E F O N ( 0 2 2 1 ) 9 1 3 9 0 0 , FAX 9 1 3 9 0 1 1

Literatur u n d L e b e n - Eine Auswahl Bd. 43 Justus Fetscher Verzeichnungen. Kleists »Amphitryon« und seine Umschrift bei G o e t h e und Hofmannsthal. 1998. 512 S. 5 s/w Abb. ISBN 3-412-03290-5 Bd. 57 Eva Lezzi Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah. 2001. VII. 382 S. Gb. ISBN 3-412-16400-3 Bd. 59 Cornelia Niedermeier / Karl W a g n e r (Hg.) Literatur u m 1900. Texte der Jahrhundertwende neu g e l e s e n . 2001. XII, 197 S. Gb. ISBN 3-412-09201 -0

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B a n d 7: Ulrich Ernst: D e r >Gregorius< Hartmanns von Aue. Theologische Grundlagen legendarische Strukturen Überlieferung im geistlichen Schrifttum. 2002. Ca. 304 S. Br. ISBN 3-412-09302-5 B a n d 8; Kunst u n d Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur d e s Mittelalters. Hrsg. v. Ulrich Ernst/Klaus Ridder. 2002. 284 Ξ. Br. ISBN 3-412-09902-3

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