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German Pages 315 [316] Year 2002
Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters
Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters Religiöse Konzepte - Feindbilder - Rechtfertigungen
Herausgegeben von Ursula Schulze
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufhahme Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters : religiöse Konzepte - Feindbilder Rechtfertigungen / hrsg. von Ursula Schulze. - Tübingen : Niemeyer, 2002 ISBN 3-484-10846-0
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
URSULA SCHULZE Einleitung
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I. Religionsgespräche
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VERA MILDE si entrunnen alle scentlichen dannen
Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der >Kaiserchronik
Das Jüdel< -Judenfiguren in christlichen Legenden
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MATTHIAS SCHÖNLEBER der juden schont wart offenbar
Antijüdische Motive in Schwanken und Fastnachtsspielen von Hans Folz
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Inhaltsverzeichnis
FLORIAN ROMMEL ob mannjm vnrehtt thutt, so wollenn wir doch habenn sein blutt
Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters
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IV, Rechtfertigung von Pogromen
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NICOLE SPENGLER das er in sijm leiden gheglicht ist der marter vnsers Heren
Legendenbildung um Simon von Trient Ein Ritualmordkonstrukt
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BJÖRN BERGHAUSEN von Tegkendorff das geschieht waz den schalckhaffiigen Juden ist worden zu Ion
Das Lied von DeggendorfFiktion eines Hostienfrevels
233
V. Der Ewige Jude
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STEFAN NIED ich will stehen und ruhen, du aber soll gehen
Das Volksbuch von Ahasver
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Abkürzungsverzeichnis
279
Namen- und Werkregister
281
Sachregister
285
Abbildungsverzeichnis
289
URSULA SCHULZE Einleitung
In der breiten, zunehmend schwieriger überschaubaren Forschung, die sich mit den »Juden im mittelalterlichen Reich« beschäftigt, nimmt die Analyse einschlägiger deutscher Literatur sehr begrenzten Raum ein.1 Lediglich das vielfaltige Interesse an Schriften Martin Luthers zur Judenfrage bildet eine Ausnahme. Insgesamt existieren nur wenige eingehende Untersuchungen und summarische Überblicke,2 an deren Pionierleistungen der vorliegende Band anknüpft. Die Betrachtung volkssprachiger literarischer Texte stellt den Versuch dar, das große kulturelle Feld christlich-jüdischer Beziehungen von einem Teilbereich her genauer zu erfassen. Die untersuchten Texte bieten wichtige Zeugnisse über die Vorstellungen von den Juden im Bewusstsein der mittelalterlichen Gesellschaft sowie über die Formierung und Verbreitung bestimmter Muster, die zur Wahrnehmung der Juden bereit standen und weiterentwickelt wurden. Auch in diesem Bereich existieren verschiedene Diskursstränge nebeneinander; erst gebündelt mit weiteren Äußerungsformen, vor allem in lateinischen Texten des christlichen Gottesdienstes, kirchlicher Verlautbarungen, theologischer Erörterungen und kaiserlicher Rechtssetzungen ergibt sich der Gesamtdiskurs über die Juden auf christlicher Seite im Mittelalter. Selbstverständlich können die Untersuchungen des vorliegenden Bandes nicht alle deutschen Texte berücksichtigen, die Judenthematik ansprechen und Judenbilder entwerfen. Abgesehen von einigen Schriften Luthers handelt es sich kaum um Werke, die als ganzes diesem Themenkomplex gewidmet sind, fast überall wird er in einem größeren Rahmen neben anderem angesprochen. Das verdienstvolle dreibändige Repertorium von Heinz Schreckenberg, »Die christliMichael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 44). Natascha Bremer, Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters, Frankfurt a.M./Bem/New York 1986. - Edith Wenzel, »Do worden die Judden alle geschant«. Rolle und Funktion der Juden in spätniittelalterlichen Spielen, München 1992 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 14). - Winfried Frey, Gottesmörder und Menschenfeinde. Zum Judenbild in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, hg. von Alfred Ebenbauer/Klaus Zatloukal, Wien/Köln/Weimar 1991, S. 35-51. - Helmut Birkhan, Die Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Protokolle einer Ring-Vorlesung gehalten im Sommersemester 1989 an der Universität Wien, hg. von Helmut Birkhan, Bern/Berlin 1992 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 33), S. 143-178. - Siehe außerdem die Literaturangaben zu den einzelnen Beiträgen.
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eben Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld«,3 nennt in Band 2 und 3 eine große Zahl deutscher Schriften, in denen - außer bei einigen Sangsprüchen - oft nur kurze Passagen, wenige Verse oder Zeilen die Judenthematik behandeln. Den großen lateinischen Adversus-Judaeos^raktaten, die der Sammlung den Namen gegeben haben, sind sie nicht zu vergleichen. Überhaupt gibt es vor Luther in deutscher Sprache keine einzige Schrift, die ihnen an die Seite zu stellen wäre. Auch die Betitelung »AdversusJudaeos-Texte« ist im Blick auf die überlieferten Schriften generalisierend nur unter dem Gesichtspunkt vertretbar, dass man in keinem Fall umgekehrt von Pro^JudaeisTexten reden kann. Ausgesprochen judenfreundliche Schriften christlicher Provenienz sind nicht vorhanden; positive Aussagen werden im weiteren Kontext relativiert. Die den elf Untersuchungen des Bandes zu Grunde liegenden Quellen sind unter mehreren Gesichtspunkten ausgewählt: Sie sollen den Zeitraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis ins 16. Jahrhundert abdecken, das heißt vom Beginn zunehmender deutschsprachiger Literatmproduktion unter Beteiligung von Laienautoren bis in die Epoche der Reformation mit veränderter religiöser und kirchenpolitischer Orientierung sowie mit der Wirkung des neuen Verbreitungsmediums, des Buchdrucks. In einem Fall, bei dem Volksbuch über den >Ewigen JudenSilvesterlegendeKaiserchronik< inseriert ist, steht mit einem christlich-jüdischen Religionsdisput am Anfang, wobei für Verfasser und Rezipienten mit dem Gesamtwerk und dem Ausschnitt der Anspruch verbunden war, historische Wahrheit zu vermitteln. Das gilt in modifizierter Weise auch für weitere, in anderen Kapiteln untersuchte Legenden: >Das Jüdeh, >Die Jüdin und der PriesterDas Lied von Deggendorft, >Simon von TrientDer ewige JudeSilvesterlegende< enthält bestimmte Grundkonstellationen der Argumentation, die sich im fortdauernden imaginierten Streit der allegorischen Figuren Ecclesia und Synagoge verschärfen und im Geistlichen Spiel in Verbindung mit Szenen, in denen Juden als böse Akteure der Passion Christi auftreten, eindringliche Breitenwirkung erlangen. Auch Hans Folz benutzt auf einer anderen Darstellungsebene das Disputationsmodell in sarkastischer Verzerrung. II. Die kulturelle Integration von Juden in die christliche Gesellschaft wird an der Einordnung eines jüdischen Autors in die Manessische Liederhandschrift erörtert und an Eidformeltexten, die für den Gebrauch im Rechtsstreit zwischen Christen und Juden verfasst und vielfach variiert wurden. III. Die Untersuchung der Judenbilder in Predigten, in der Legende >Das JüdelVolksbuch vom Ewigen Juden< erweist, dass die Aufbereitung einer auf alter Tradition beruhenden Geschichte über einen Juden, der zur Symbolfigur für die Juden bis zum Ende der Zeiten gemacht wird, am Anfang des 17. Jahrhunderts eine andere Stufe der Literarisierung erreicht hat: Die Darstellung zielt in einem eher Autonomie beanspruchenden Kommunikationsbereich nicht mehr primär darauf, eine Handlungsorientierung zu bieten. Die Verfasser der untersuchten Texte sind Geistliche und Laien; nur bei einigen besitzen wir genauere Informationen über ihren Ordensstatus und ihre gesellschaftliche Stellung. Sie bewegen sich nicht auf der Ebene theologischer Auseinandersetzung, obwohl sie z.T. im theologischen Diskurs entwickelte Argumente verwenden. Die Adressaten der Texte sind - soweit Aussagen möglich erscheinen - Laien: die christlichen Gemeinden verschiedener Städte und größerer Orte. Das gilt auch dort, wo geistliche und weltliche Fürsten besonders apoVgl. Toch [Anm. 1], S. 11.
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strophiert werden, sie sind imaginierte Hörer wie die angeredeten Juden. Dass diese ihrerseits auch christliche Literatur wahrnahmen, lässt sich belegen. Christliche Predigten zu hören war für Juden möglich, wenn außerhalb der Kirche gepredigt wurde. Ausdrücklich an die Juden gerichtete Predigten im Rahmen von Bekehrungsaktionen sind nicht in deutscher Sprache erhalten. Die Aufführung von Spielen in den Städten konnten Juden besuchen, und sie taten dies wohl auch, wie Vorschriften zu entnehmen ist, die sie ausschließen. Derartige Verbote reagieren offenbar auf Ausschreitungen von christlicher Seite, die durch denunziatorische Darstellungen der Juden insbesondere in Passionsspielen hervorgerufen wurden. Der von Michael Toch zusammengestellte Forschungsbericht über die »Juden im mittelalterlichen Reich«5 verzeichnet zu einer Reihe von wichtigen Gesichtspunkten kontroverse Positionen, z.B. (1) zum Zusammenleben von Christen und Juden, (2) zur zeitlichen und kausalen Bestimmung der verschärften Judenfeindschaft, (3) zur schichtenspezifischen personalen Verantwortlichkeit für antijüdische Propaganda, und (4) zu der Diskussion, ob eine Kontinuität der Judenfeindschaft vom Mittelalter zur Neuzeit bestünde oder ob zwischen mittelalterlichem AntiJudaismus und neuzeitlichem Antisemitismus unterschieden werden müsse. Es stellt sich die Frage, inwieweit die hier untersuchten deutschen Texte etwas zur Klärung der Kontroversen beitragen oder wie sich die gemachten Beobachtungen den verschiedenen Standpunkten zuordnen lassen. Zunächst scheint mir die Feststellung wichtig, dass ein Teil der Divergenzen nicht aus unterschiedlichen Sichtweisen oder aus der konfessionellen Herkunft der Forscher resultieren, sondern aus der Uneinheitlichkeit, ja Widersprüchlichkeit der Quellen und der historischen Befunde, auch aus der Schwierigkeit, literarische Texte mit der historischen Praxis zu referenzialisieren. Im Blick auf das Zusammenleben von Christen und Juden haben sich in der Forschungsdiskussion zwei konträre Standpunkte herausgebildet: Auf der einen Seite wird die zwangsläufige gesellschaftliche Segregation beider Religionsgruppen betont,6 auf der anderen Seite wird auf die übergewichtige Koexistenz hingewiesen, welche lange Zeit anhielt, wenn auch Gewaltausbrüche Zäsuren setzten.7 Beide Positionen sollten nicht alternativ gesehen werden. Es gab Abgrenzungen in religiöser, kultischer Hinsicht - und zwar verschärft unter dem Druck von Anfeindung und Verfolgung -, und es gab Begegnungen im städtischen Leben. Frantiäek Graus hat zu Recht festgestellt, dass die vorhandenen Quellen das Zusammenleben von Christen und Juden verzerrt erscheinen lassen. Toch (Anm. 1]. Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, Oxford 1961. - Ders., The »Shabbes Goy«. A Study in Halakhic Flexibility, Philadelphia 1989. Friedrich Letter, Zu den Anfangen deutsch-jüdischer Symbiose in frOhottonischer Zeit, AKG 55 (1973), S. 1-34. - Ders., Geltungsbereich und Wirksamkeit des Rechts der kaiserlichen Judenprivilegien im Hochmittelalter, Aschkenas l (1991), S. 23-64. FrantiSek Graus, Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt [Anm. 2], S. 53-65.
Einleitung
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In den untersuchten Texten dominieren zwar Abgrenzungspostulate, aber auf ihrer Grundlage ist etwas von einer andersartigen Realität, von Formen der Kommunikation rekonstruierbar. Distanzierungsforderungen und Vertreibungsappelle können durchaus als Indizien für existierende Kontakte in verschiedenen Bereichen gewertet werden, wenn man sie nicht als literarische Motivrepetition ohne Realitätsbezug relativieren will. Voraussetzung und Garant aller Kommunikation war selbstverständlich die sprachliche Verständigung. Die Juden sprachen in der christlichen Umwelt die jeweiligen deutschen Regionaldialekte, keineswegs alle beherrschten außerdem das im Kultus verwendete Hebräisch. Auch das im Spätmittelalter (15./16. Jahrhundert) als eigene Verkehrssprache herausgebildete Jiddisch beruht auf deutscher Grundlage. Am deutlichsten zeichnet sich der Kontakt im Rechtsbereich ab, wo die Judeneidformeln für Streitfalle zwischen Christen und Juden entwickelt wurden.9 Die Einbindung in die gemeinsame Rechtspraxis bezeugt außerdem das älteste deutschsprachige Rechtsbuch, der >Sachsenspiegel< aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts. Er zeigt u.a., dass Juden wie Geistliche, Frauen und Mädchen gleichermaßen unter dem Sonderrecht des königlichen Friedens stehen und dass ein tödlicher Gewaltakt gegen einen Juden die Todesstrafe für den christlichen Täter nach sich zieht.10 Für Kontakte im Bereich der literarischen Kultur bietet die Integration Süßkinds von Trimberg in das Ensemble der Liederdichter der Manessischen Handschrift einen sicheren Beleg." Offenbar war der Jvde von Trimperg in der auf patrizische Initiative hin angelegten, repräsentativen Sammlung ohne Anstoß platzierbar. Auch wenn im Einzelnen Fragen offen bleiben, wird eine kulturelle Szene entworfen, in die ein jüdischer Sänger einbezogen ist. Allerdings sind derartige Zeugnisse selten. Die umgekehrte Partizipation von Juden an >christlicher< Erzählliteratur ergibt sich aus der um 1300 in hebräischer Schrift aufgezeichneten fragmentarischen Fassung der deutschen Hildedichtung >Dukus HorantWigalois< aus dem 13. Jahrhundert enthalten.13 Diese jüdischen Quellen werden in dem Band nicht untersucht. Der christlich-jüdische Kulturkontakt, den die Manessische Handschrift für Zürich belegt, erhält weitere Dimensionen durch die Freskenausstattung des Hauses der Brüder Moses und Mordechai ben Menachem.14 Höfische Szenen (Jagd, Musik, Tanz) und Wappen mit deutscher und hebräischer Beschriftung zeigen die Partizipation einer jüdischen Familie an der Stadtkultur. Die Tatsache, 9
Vgl. Annette Schmidt, Die Judeneide, in diesem Band. Sachsenspiegel, I Landrecht. II Lehnrecht, hg. von Karl August Eckhardt, nach der Ausgabe von 1955/56, Aalen 1973; hier Ldr. II 66 § l und Ldr. III7 § 3. 1 ' Vgl. Riearda Bauschke, Süßkind von Trimberg - Ein jüdischer Autor in der Manessischen Handschrift, in diesem Band. 12 Manfred Caliebe, >Dukus HoranU, 2VL II, Sp. 239-243. 11 Wulf-Otto Dreesen, >WiduwiltHandschrift< von Meistern der Dombauhütte erkennbar ist. Die Reflexe dieser Kontakte sind im literarischen Gedächtnis mittelbar bewahrt, sie müssen als Entstehungskontext und als Assoziationshintergrund für die Rezipienten angenommen werden: Es gab während des ganzen Mittelalters christlich-jüdische Religionsdispute, es gab ökonomische Interaktionen, Konsultation jüdischer Ärzte, Anstellung jüdischen Dienstpersonals in christlichen Häusern und umgekehrt. Die imaginierten Szenen in den Legenden >Die Jüdin und der Priester< und >Das Jüdek, selbst die der Schwanke und Fastnachtsspiele von Hans Folz setzen Formen gesellschaftlicher Koexistenz voraus,16 da ohne sie eine sinnvolle Funktionalisierung der erzählten Wundergeschichten und ein wirkungsvoller Einsatz bestimmter Motive kaum möglich gewesen wäre. Das Ausmaß der Beziehungen war im Laufe der Zeit unterschiedlich, und durch Vertreibung wurden sie - allerdings oft nur zeitweise - abgebrochen.17 Wie man die Kontakte terminologisch bezeichnet, ob als »Zusammenleben«,18 »Symbiose«,19 »Koexistenz«20 u.a., scheint weniger wichtig als die grundsätzliche Feststellung, dass Interaktion im kulturellen Bereich in weiterem Sinne vorhanden war und dass sie an der Bewahrung der religiösen Identität ihre Grenze fand. Bedeutungsvoll ist für das christlich-jüdische Verhältnis noch eine andere Art geistlicher Kontakte, die ein feindseliges Bewusstsein entscheidend mit prägten: Das Judentum war während des ganzen Kirchenjahres im christlichen Ritus durch Lesung und Auslegung des Alten Testaments und des Neuen Testaments sowie durch die Kommemoration der Lebensgeschichte Jesu präsent. Im Zuge dieser Erinnerung verlängerten die Christen die Schuldzuweisung für das Leiden und den Tod Christi als Rache fordernde Gottesmörderanklage gegen ihre jüdi15
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Otto Böttcher, Die alte Synagoge in Worms am Rhein, München/Berlin 1991 (Große Baudenkmäler 181), S. 3E Vgl. Cordula Hennig von Lange, >Das Jüdel< - Judenfiguren in christlichen Legenden, und Matthias Schönleber, Antijüdische Motive in Schwanken und Fastnachtsspielen von Hans Folz, beide in diesem Band. In Wien wurden 1421 unter Albrecht V. Ober 100 Juden verbrannt und das Judenviertel beseitigt. 1463 unter Friedrich III. begann eine Neuansiedlung, Birkhan [Anm. 2], S. 163. Graus [Anm. 9]. Letter [Anm. 8]. Toch [Anm. 1], S. 33, spricht von »tagtäglicher Koexistenz«, die zunächst einzelne Ausbrüche der Gewalt störten und die seit 1300 zum Konflikt wurde.
Einleitung
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sehen Zeitgenossen, die sie mit den biblischen Juden - zumindest mit denen des Neuen Testaments - in eins sahen. Das bezeugen insbesondere die Passionsspiele.21 Die Diskussion über die zeitliche und kausale Bestimmung der verschärften Judenfeindschaft ist einerseits für das Verständnis der untersuchten deutschen Texte wichtig, andererseits ergeben sich aufschlussreiche, z.T. korrigierende Hinweise aus der Literaturbetrachtung für die kontroverse Erörterung des Problemfeldes. Die deutsche Literatur reagiert, wie in viel größerem Umfang die lateinische, auf die Herausforderungen, die in der christlichen Religion von Anfang an bestanden. Es musste bewältigt werden, dass das Judentum, aus dem die christliche Religion hervorgegangen war, fortexistierte. Abgrenzung und Relationierung waren permanent zu leisten. Das Pauluswort (Rom 11,26), das die endzeitliche Rettung der Juden und die Unaufhebbarkeit ihrer Erwählung verkündet, stellt ein frühes Ergebnis der Auseinandersetzung mit der christlich-jüdischen Koexistenz dar. Diese Prognose wurde über die Jahrhunderte viel zitiert, aber auch ignoriert, wo nach Rache und Austilgung der Juden gerufen wurde. Dass >Judenfeindschaft< als gesamteuropäisches, zeitübergreifendes Phänomen im Kem auf den absoluten Wahrheitsanspruch beider Religionen zurückzuführen ist, erscheint unbestreitbar; doch für die gedanklichen, verbalen und handlungspraktischen Konsequenzen, die sich im Laufe der Zeit ergeben, reicht diese Erklärung nicht aus. Zwar werden theologisch-dogmatische Differenzen während des ganzen Mittelalters immer wieder an den gleichen Streitpunkten erörtert (Menschwerdung Gottes, Jungfrauengeburt, Dreifaltigkeit Gottes und Prophetie aller dieser Punkte im Alten Testament). Sie tauchen in der >Kaiserchronik< genauso auf22 wie in einem Gespräch, das der Spruchdichter Regenbogen um 1300 mit einem Juden inszeniert,23 und bei Martin Luther, aber die Unbeweglichkeit der Standpunkte fuhrt auf christlicher Seite zu Vorwürfen, die sich auf das >Wesen< der Juden, ihre angestammte Natur beziehen: Uneinsichtigkeit, Hartherzigkeit, Treulosigkeit u.a. Die zunehmende Aggression und Gewaltanwendung sind nicht allein religiös bedingt, sondern sie ergeben sich aus einem komplexen historischen Prozess.24 Das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung im deutschsprachigen Raum, erfolglose christliche Missionsaktivitäten, Umstrukturierungen im wirtschaftlichen Bereich, neue Frömmigkeitsbewegungen und Dogmenkonzepte, politische Rivalitäten, Herrscherwechsel, Epidemien und
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Vgl. Florian Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters, in diesem Band. Vgl. Vera Milde, Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der >KaiserchronikDe pace fidei< (1453) die verschiedenen Religionen als Einheit in der Vielfalt begreift: uno religio in rituum varietate, ein Gedanke, der auf dem philosophischen Konzept der coincidentia oppositorum basiert.29 Aber auch bei diesem fortschrittlichen Denker, der unter dem Einfluss der herannahenden Türken schreibt, geht der philosophische Entwurf nicht konform mit der kirchenrechtlichen Praxis seines Judendekrets, das er gegen den Einspruch von christlicher und jüdischer Seite durchzusetzen versucht.30 Neben der positiv einsetzbaren krislen-juden-heiden-Jnade taucht z.B. bei dem Prediger Berthold von Regensburg (Mitte 13. Jahrhundert) und ebenso bei Hugo von Trimberg in dem Lehrgedicht >Der Rennen (um 1300) eine Abwandlung der Dreierformel auf: Die Juden werden mit Ketzern und Heiden in eine Reihe gestellt, um die Verworfenen zu exponieren und die Christen zur Distanzierung aufzufordern (Renner, v. 247f.).31 Zur selben Zeit, um 1300, ist das ganze Spektrum judenfeindlicher Motive und daraus abgeleiteter Handlungsanweisungen oder -erwägungen, mit dem im 16. Jahrhundert Martin Luther operiert, bereits in der deutschen Literatur zu fin2
* Vgl. Toch [Anm. 1], S. 110-120, 2.3 Judenfeindschaft. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14. völlig neubearb. Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996. 28 Fridankes Bescheidenheit, hg. von H. E. Bezzenberger, Neudruck der Ausgabe von 1872, Aalen 1962. 29 Hans Gerhard Senger, Nikolaus von Kues,2VL VI, Sp. 1093-1113, bes. Sp. 1105. 30 Vgl. Schreckenberg [Anm. 3], Bd. 3, S. 524ff., und Christoph Cluse, in: Horizonte. Nikolaus von Kues in seiner Welt. Eine Ausstellung zur 600. Wiederkehr seines Geburtstages, Trier 2001, S. 74ff. 31 Hugo von Trimberg, Der Renner, hg. von Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Bd. l, Berlin 1970. 27
Einleitung
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den: Heinrich von Hesler und der Verfasser des >Seifried Helbling< widmen der Polemik gegen die Juden lange Textpartien.32 Mit Sicherheit waren beide keine Bettelordensprediger, und sie wandten sich auch nicht speziell an die Unterschichten, so dass diese Beispiele Jeremy Cohens These, die Bettelorden und die von ihnen mobilisierten Unterschichten der Bevölkerung seien für den antijüdischen Schub im 13./14. Jahrhundert wesentlich verantwortlich, relativieren.33 Die scharfe Agitation ist Teil eines breiten Diskurses, und dieser lässt sich bereits vor der intensiven Predigttätigkeit der Franziskaner und Dominikaner und auch vor den großen Pestausbrüchen fassen. Wichtig erscheint im Blick auf beide Autoren die Beobachtung, dass sie in ihren gereimten Predigten deutlich den Übergang zu einer verallgemeinernden anthropologischen Argumentation vollziehen: Heinrich von Hesler bezeichnet das Wesen der Juden als eine ansteckende Krankheit und kriminalisiert sie als Diebe und Räuber; und daraus resultiert sein Maßnahmenkatalog, den die Fürsten realisieren sollen: Isolierung, Bestrafung, Zwangsarbeit, gewaltsame Bekehrung. Im >Seifried Helbling< kommt die Aufforderung zur Zerstörung der Synagogen und zur gänzlichen Vernichtung der Juden hinzu. Der Autor bezieht sich (um 1300 oder sogar schon vor der Jahrhundertwende) bereits auf den Ritualmordvorwurf. Dieser Vorwurf zeigt m.E. besonders deutlich den Übergang von religiöser Argumentation zur Konstruktion einer jüdischen Mentalität, die u.a. Gewalt- und Mordbereitschaft einschließen soll und letztlich auf die Vernichtung aller Christen ziele. Evident ist außerdem die antithetische Relation dieser Konstruktion zu der Forderung totaler Judenvernichtung, die sich im >Seifried Helbling< findet. Die Tendenz, mit einer angestammten minderwertigen Natur der Juden zu argumentieren, hat einen langen Vorlauf, wie es beispielsweise das berüchtigte Wort von Petrus Venerabilis (1. Hälfte 12. Jahrhundert) belegt, der den Juden das Menschsein abspricht, weil ihnen die Vernunft, das entscheidende Merkmal des animal rationale, fehle, sonst müssten sie die vernünftige christliche Wahrheit erkennen.34 Die Denkweise, die von einem theologischen Anliegen ausgeht und sich in einem religiösen Kontext bewegt, konstruiert jüdische Wesensmerkmale: Vemunftlosigkeit und Verstocktheit. Das gleiche Verfahren erzeugt auch andere Mutationsketten: Nicht-Anerkennen der Messianität Christi —» Abfall von Gott —> Treulosigkeit und Unzuverlässigkeit; Verantwortung für den Tod Christi —* Gottesmord —» Ritualmord —» Hostienfrevel —>· Brunnenvergiftung —> Mordlust. Bereits im Mittelalter greifen religiöse, anthropologische und abstammungsbezogene Argumentation ineinander. Veränderte Akzente der ideologischen Begründungen für den Umgang zwischen Christen und Juden ergeben sich im historischen Prozess durch die Abnahme religiöser Orientierung. Eine grundsätzliche Unterscheidung von möglichem religiös bedingten AntiJudaismus und neu2 33
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Vgl. Ursula Schulze, Predigten zur Judenfrage vom 12. bis 16. Jahrhundert, in diesem Band. Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. Evolution of Medieval Anti-Judaism, Ithaca/London 1982. Petrus Venerabilis, Adversus ludeorum inveteratam duritiem, CCCM 58, S. 57f.
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zeitlichem ethnisch definierten Antisemitismus ist auf Grund der hier analysierten Texte fragwürdig. Allemal verbietet sich eine Grenzziehung zwischen Mittelalter und Neuzeit, wenn man das Handeln der Judenfeinde und die Auswirkungen auf die Juden betrachtet: Erniedrigung, Raub, Brand, Tötung, Vertreibung. Dieses Handeln insinuieren, begleiten und rechtfertigen die untersuchten mittelalterlichen Texte. Wie der kritischen Auseinandersetzung von Rainer Walz zu entnehmen ist, tendiert auch die heutige Forschung eher zur stärkeren Beachtung einer Kontinuität der Judenfeindschaft vom Mittelalter zur Neuzeit.35 Die in dem vorliegenden Band analysierten Beispieltexte deutscher Literatur vom 12. bis 17. Jahrhundert zeigen die Beschaffenheit und den Gebrauch antijüdischer Stereotypen. Sie stellen ein >weltanschauliches< Motivreservoir dar, aus dem sich im Laufe der Jahrhunderte viele Generationen zur Bewusstseinsbildung, Handlungsanweisung und Handlungsbegründung kontinuierlich bedienten. Der Band ist aus einem von mir geleiteten Forschungscolloquium an der Freien Universität Berlin hervorgegangen, an dem Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Studierende der Deutschen Philologie mit mediävistischem Schwerpunkt beteiligt waren. Die Entstehung und Abfassung der Beiträge wurde von der engagierten Diskussion aller Teilnehmer und Teilnehmerinnen begleitet. Die Druckvorlage hat Lothar Schulze erstellt.
Rainer Walz, Der vormodeme Antisemitismus. Religiöser Fanatismus oder Rassenwahn?, HZ 260 (1995), S. 719-748. - Vgl. auch Edith Wenzel, Martin Luther und der mittelalterliche Antisemitismus, in: Juden in der mittelalterlichen Umwelt [Anm. 2], S. 301-319.
I. Religionsgespräche
VERA MILDE si entrannen alle scentltehen dannen
Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der >Kaiserchronik< Das älteste überlieferte christlich-jüdische Religionsgespräch in deutscher Sprache steht in der ersten umfangreichen mittelhochdeutschen Geschichtsdichtung. Die so genannte >Kaiserchronik< wurde in Regensburg Mitte des 12. Jahrhunderts von einem oder mehreren geistlichen Autoren verfasst. In diesem Werk wird die Geschichte des Römischen Reiches orientiert an der Reihe regierender Herrscher strukturiert - von den römischen Imperatoren der Antike bis zu den deutschen Kaisern des Mittelalters.1 Die Disputation des Papstes Silvester mit einer Anzahl von jüdischen Gelehrten ist Bestandteil des Abschnitts zu Konstantin dem Großen und steht damit im Zentrum der unvollendeten Chronik. Dieses Streitgespräch, das auf eine alte legendarische Tradition zurückgeht, wird hier zum Spiegelbild der tief greifenden Wandlung des christlichen Judenbildes im hohen Mittelalter.2 Über die traditionelle einseitige Darstellung der Kontroverse Christen - Juden in christlichen Texten geht die Chronik weit hinaus. Einem möglichen Verständnis der jüdischen Position wird hier mit bemerkenswerten Mitteln entgegengewirkt; Misstrauen und dämonische Assoziationen werden geschürt.
Die christlich-jüdische Kontroverse Seit der Entstehung ihrer Religion mussten sich die Christen ständig mit Kritik von jüdischer Seite auseinandersetzen. Der im Neuen Testament begründete Anspruch der Christen, die wahren Erben der jüdischen Tradition und des jüdischen Gottesbundes zu sein, bot jüdischen Kritikern dabei eine besondere AngriffsfläWeitere Informationen zur >Kaiserchronik< bei Ernst Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster i.W. 1940; Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300, München 1979, S. 78-85; Eberhard Nellmann, >KaiserchronikKaiserchronikx, Frankfurt a.M. 1993. In der bisher ausführlichsten Analyse des christlich-jüdischen Religionsgesprächs der >Kaiserchronik< bleibt der zeitgenössische AntiJudaismus nahezu unberücksichtigt und auch die Besonderheiten gegenüber der alten legendarischen Tradition werden nicht als solche herausgearbeitet. Vgl. Elisabeth Schenkheld, Die Religionsgespräche der deutschen erzählenden Dichtung bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Diss. Marburg 1930.
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Vera Milde
ehe. Die Christen sahen die messianischen Prophezeiungen der alttestamentlichen Propheten in Jesus erfüllt und behaupteten gleichzeitig, dass Gott in Jesus Mensch geworden sei, um die durch den Sündenfall verlorene Menschheit zu erlösen. Von Juden wurden diese zentralen christlichen Vorstellungen als blasphemisch oder vernunftwidrig empfunden: Gott soll sich in den unreinen Leib einer menschlichen Frau gezwängt haben, weil er die Menschheit nicht anders erlösen konnte? Jesus von Nazareth soll der Messias sein, obwohl sich auf der Welt durch ihn gar nichts verändert hat, obwohl es statt eines messianischen Friedens nach wie vor Kriege gibt? Wie kann man außerdem von ihm behaupten, dass er gleichzeitig der im Alten Testament prophezeite Messias und der Mensch gewordene Gott sei? Für die frühen Christen stellten die jüdischen Einwände gegen die Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit des christlichen Glaubens ein großes Problem dar.3 Sie konnten das christliche Missionsbestreben den Heiden gegenüber behindern, aber vor allem auch Christen, deren Glauben noch nicht gefestigt war, verunsichern oder gar zur Konversion zum Judentum bewegen.4 Daher wurden von christlicher Seite frühzeitig Möglichkeiten entwickelt, solchen Fragestellungen entgegenzutreten. Es entstand ein Arsenal von alttestamentlichen Schriftbeweisen, mit dem Kirchenväter und spätere Theologen nicht nur die Messianität Christi belegten, sondern die Wahrheit sämtlicher christlicher Dogmen, beispielsweise der Trinität, der Jungfräulichkeit Marias und der Gott-Mensch-Natur Christi. Dabei erhielt die allegorische Auslegung von Bibelstellen eine besondere Bedeutung. So konnte etwa die Tatsache verteidigt werden, dass die Christen das alttestamentliche Gebot der Beschneidung nicht mehr befolgten: Nicht die körperliche, sondern die geistige Beschneidung sei das Entscheidende. Diese Art der Bibelexegese ging zum Teil so weit, dass die alttestamentlichen Schriften nur noch nach christologischen Beweisen durchsucht wurden und der inhaltliche Kontext der Zitate oft gar keine Rolle mehr spielte.5 Von jüdischer Seite wurde den Christen daher häufig ein willkürlicher Umgang mit dem Wortlaut des Alten Testaments vorgeworfen. Neben der Glaubenssicherung mit Hilfe von Schriftbelegen sahen die Christen in der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. Zur christlich-jüdischen Kontroverse vgl. Kurt Schubert, Möglichkeiten und Grenzen des christlich-jüdischen und des jüdisch-christlichen Gesprächs, Kairos 29 (1987), S. 129-146, wiederabgedr. in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, hg. von Helmut Birkhan, Bern/Berlin 1992 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 33), S. 3-23. Ober die gleichzeitig - in weit geringerem Ausmaß als bei den Christen - noch vorhandene Missionstätigkeit der Juden berichtet Bernhard Blumenkranz, Die christlich-jüdische Missionskonkurrenz (3. bis 6. Jahrhundert), Klio 39 (1961), S. 227-233, wiederabgedr. in: ders., Juifs et Chretiens, Patristique et Moyen Age, London 1977, Nr. X. Zum Alten Testament im Verständnis des Neuen Testaments und der Kirchenväter vgl. bes. Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld, Bd. 1: l.-ll. Jh., 3. erw. Auflage, Frankfurt a.M./Bem 1995 (Europ. Hochschulschr. R. 23,175), S. 58-75; Bd. 2: 11.-13. Jh. Mit einer Ikonographie des Judentums bis zum 4. Laterankonzil, 3. erw. Auflage, ebd. 1997 (Europ. Hochschulschr. R. 23,335); Bd. 3: 13.-20. Jh., ebd. 1994 (Europ. Hochschulschr. R. 23,497).
Christlich-jüdischer Disput
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einen historischen Beweis für den Bruch des alten jüdischen Gottesbundes infolge der Erlösung durch Christus. Außerdem nutzten sie zur Veranschaulichung der christlichen Dogmen Analogien aus der menschlichen Alltagserfahrung: z.B. die Erläuterung des trinitarischen Gottesbegriffs anhand der drei Falten einer Kutte. Als besondere Form des christlichen antijüdischen oder apologetischen Schrifttums entstanden seit den ersten Jahrhunderten - wohl in Anlehnung an eine in der Antike entwickelte Dialogtradition - lateinische Streitgespräche, in denen jüdische Einwände gegen den christlichen Glauben meist systematisch widerlegt werden.6 Zwar greifen diese Texte vorwiegend Themen auf, die nicht nur Hauptangriffspunkt jüdischer Kritik, sondern auch Hauptgegenstand christlicher Glaubensunsicherheiten sind, aber der Verlauf und der Ausgang der in den meisten Fällen fiktiven Gespräche erscheinen deutlich vom Standpunkt der christlichen Verfasser geprägt, so dass kaum eine echte Auseinandersetzung stattfindet. Dies zeigt, dass die Texte eher der innerchristlichen Belehrung oder auch der Vermittlung von Überlegenheitsgefuhlen dienten, als dass sie Bekehrungsabsichten verfolgten. Eine fiktive Disputation dieser Art, die aber mit einer besonders interessanten Wendung verknüpft ist, enthält auch die im 5. Jahrhundert entstandene Silvesterlegende.
Silvester - der disputierende Heilige Von Papst Silvester L, der sein Pontifikat im Jahre 314 antrat und am 31. Dezember 335 starb, berichtet die Legende, er habe den zu dieser Zeit regierenden römischen Kaiser Konstantin (306-337) getauft und damit die für die Christen entscheidende Wende in der Geschichte des Römischen Reiches herbeigeführt.7 Die Taufe Konstantins wurde von den Christen als Grundstein für die Christianisierung des Römischen Reiches und für den Aufbau der weltlichen Macht des Christentums in Europa betrachtet. Dass Konstantin eigentlich erst am Ende seines Lebens von einem arianischen Bischof getauft wurde und daher einer Richtung des Christentums angehörte, die später als Ketzerei verdammt wurde, hatte in der christlichen Geschichtsschreibung des Mittelalters keinen Platz. Stattdessen setzte sich die Darstellung der ein Jahrhundert nach Konstantin verfassten lateinischen Silvesterlegende durch.8 Zu den christlich-lateinischen Disputationen vgl. Bernhard Blumenkranz, Die jüdischen Beweisgründe im Religionsgespräch mit den Christen in den christlich-lateinischen Sonderschriften des 5. bis 11. Jahrhunderts, ThZ 4 (1948), S. 119-147, wiederabgedr. in: ders., Juifs et Chretiens, Patristique et Moyen Age, London 1977, Nr. XIX; außerdem Schreckenberg [Anm. 5], Bd. l und Bd. 2. Weiteres zu Silvester I. und zur Silvesterlegende bei Wilhelm Levison, Konstantinische Schenkung und Silvesterlegende, in: Miscellanea Francesco Ehrle, Bd. 2, Rom 1924 (Studi e testi 38), S. 159-247; Wilhelm Pohlkamp, Silvester L, LexMA VII. Sp. 1905-1908. Vgl. Levison [Anm. 7], S. 166f.
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Die anderen Leistungen, die dem Papst Silvester in dieser Legende zugeschrieben werden, dienen ebenfalls der Stärkung der christlichen Religion nicht nur gegenüber dem alten heidnischen Götterglauben der Römer, sondern auch gegenüber dem konkurrierenden Gottes- und Schriftverständnis der Juden, das der Missionierung von Heiden im Wege stehen konnte. Silvester bannt einerseits mit Gottes Hilfe einen Drachen, dem die Heiden zuvor geopfert hatten; er muss andererseits aber auch dafür sorgen, dass Konstantins Mutter Helena, die dem Judentum zuneigt, keine Gelegenheit erhält, den getauften Kaiser von seiner Hinwendung zum Christentum abzubringen. Der Papst stellt sich daher in Gegenwart des Herrschers und seiner Mutter den Einwänden, die von den zwölf weisesten jüdischen Gelehrten gegen das Christentum vorgebracht werden. Craton und Zenophilus, zwei heidnische und deshalb angeblich neutrale Richter, sollen über Sieg oder Niederlage in der Argumentation entscheiden. Thematisiert werden traditionelle Streitpunkte wie die Trinitätslehre, die Göttlichkeit Christi, die jungfräuliche Geburt, das irdische Leben, Leiden und Sterben Gottes sowie die Abschaffung der Beschneidung. Nachdem Silvester die ersten elf Gegner vorwiegend unter Anwendung von Schriftbeweisen überwunden hat, greift der zwölfte Jude, Zambri, ein, der die Wahrheit des jüdischen Glaubens nicht mit Worten, sondern mit einem göttlichen Wunder beweisen will. Er tötet einen Stier, indem er ihm den jüdischen Gottesnamen zuflüstert. Silvester lässt sich von diesem Ereignis nicht beeindrucken: Der geheimnisvolle Name sei ein Teufelsname; allein Gott könne dem Stier aber das Leben zurückgeben. Zambri hält es für unmöglich, dass dies geschehen kann; doch nach der Anrufung der christlichen Trinität erweckt Silvester den Stier tatsächlich wieder zum Leben. Daraufhin lassen sich nicht nur Helena und die zwölf Redegegner taufen, sondern auch die heidnischen Richter und mehr als 3000 weitere Juden.9 Abgesehen von der in christlichen Texten üblichen einseitigen Darstellung der christlich-jüdischen Kontroverse findet sich in dieser Legende das schon in der Antike häufig verwendete Motiv von der Verbindung der Juden mit dem Teufel. Dies wird ganz konkret mit Besonderheiten der jüdischen Religion in Verbindung gebracht, denn der von Zambri gebrauchte geheimnisvolle Name meint den hebräischen Gottesnamen »Jahwe«. Das jüdische Verbot, diesen Namen auszusprechen, bot wohl in besonderer Weise die Gelegenheit, jüdische Traditionen mit schwarzer Magie zu assoziieren. Außerdem können der Tod und die Auferweckung des Stiers als Allegorien der Kreuzigung und Auferstehung Christi verstanden werden; wie Zambri den Stier tötet, haben dieser Vorstellung zufolge die Juden Christus getötet. Die große Zahl der Konversionen nach dem Wunder zeigt aber trotz der zweifelhaften Rolle des Zauberers Zambri, dass den Juden die >Teufelsverbundenheit< ihres falschen Glaubens und die Wahrheit der Göttlichkeit Christi erst durch dieses Ereignis bewusst geworden ist. Mit dieser Darstellung einer Unwissenheit oder Blindheit der Juden, die es zu überwinden
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Die Darstellung entspricht der frühesten Legendenfassung (A). Vgl. Levison [Anm. 7], S. 172ff.
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gilt, gibt der Text eine Sichtweise zu erkennen, die im Laufe der Geschichte des christlichen AntiJudaismus nicht immer selbstverständlich bleiben wird.
Die deutsche >Kaiserchronik< und der christlich-jüdische Gegensatz im 12. Jahrhundert Die lateinische Legende war im Mittelalter in ganz Europa verbreitet, und es existierte eine Fülle verschiedener Fassungen. Da die Taufe Konstantins durch Silvester im Geschichtsbild des europäischen Mittelalters eine so bedeutende Rolle spielt,10 ist es nicht verwunderlich, dass die Legende, zu deren festen Bestandteilen auch das Religionsgespräch gehört, in eine christlich-mittelalterliche Chronik des Römischen Reiches aufgenommen wurde. Besonders interessant ist die Legendenfassung der >Kaiserchronik< nicht allein deshalb, weil hier erstmals ein christlich-jüdischer Dialog einem deutschsprachigen Hörerpublikum zugänglich gemacht wird, sondern vor allem, weil sie in einer Zeit verfasst wurde, in der die christlich-jüdische Kontroverse im Vergleich zu vorangegangenen Jahrhunderten in Europa wieder eine größere Rolle spielte. Die kirchlichen Reformbewegungen des 11. Jahrhunderts hatten zu einer Intensivierung der christlichen Religiosität geführt, die den religiösen Gegensatz von Christen und Juden verstärkte. Die Judenmorde, die 1096 in Deutschland von den Teilnehmern des ersten Kreuzzugs verübt wurden, stellten einen markanten Einschnitt im Verhältnis der beiden Glaubensgemeinschaften dar. Es kam außerdem zum Wiederaufleben des Adversus^/udaeos-SchnRüims und zu einem neuen Interesse an der christlich-jüdischen Auseinandersetzung, das sich in der Vielzahl der schriftlichen lateinischen Disputationen ausdrückt, die aus dieser Zeit erhalten sind. Die Betrachtung des Judentums in diesen Texten scheint noch weit entfernt von den Ritualmordbeschuldigungen und Hostienfrevel vorwürfen, die seit dem 12. und 13. Jahrhundert in Europa gegen Juden vorgebracht wurden und anschließend zu verheerenden Judenpogromen führten,11 doch das lateinische antijüdische Schrifttum des 12. Jahrhunderts schuf wesentliche Voraussetzungen für das Aufkommen einer ganz neuen Dimension der Judenfeindschaft. Den ideologischen Hintergrund für die Nichtbeachtung des von der Kirche gegenüber den Juden vertretenen paulinisch-augustinischen Schutzprinzips, der endzeitlichen Bekehrungshoffhung und der Funktion der Juden als Zeugen für die Wahrheit des Christentums, bildete u.a. die Entdeckung des Talmuds: Dass die Juden neben dem Alten Testament auch über ein nachbiblisches Gesetzeswerk verfügten, setzte sie dem christlichen Verdacht aus, Ketzer des eigenen Glaubens zu sein, und damit schien auch die Hoffnung auf die endzeitliche BeVgl. Levison [Anm. 7], S. 167. Vgl. Nicole Spengler, Legendenbildung um Simon von Trient - Ein Ritualmordkonstrukt, und Björn Berghausen, Das Lied von Deggendorf - Fiktion eines Hostienfrevels, beide in diesem Band.
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kehrung aller Juden ihre Gültigkeit verloren zu haben.12 Den Höhepunkt der christlichen Auseinandersetzung mit dem Talmud stellen die beiden großen Zwangsdisputationen von Paris (1240) und Barcelona (1263) dar, bei denen der Wandel des christlich-jüdischen Gesprächs von der Verteidigung christlicher Glaubensinhalte zu einem direkten Angriff gegen den jüdischen Glauben besonders deutlich zum Ausdruck kommt.13 Zu dem Gedanken der grundsätzlichen Unbekehrbarkeit der Juden führt allerdings auch eine zweite Entwicklung, die vor allem von Anna Sapir Abulafia herausgearbeitet wurde:14 Dass sich die lateinischen Autoren des 12. Jahrhunderts in ihren antijüdischen Schriften nicht nur auf Bibelstellen berufen, sondern auch ausdrücklich betonen, dass sich die Wahrheit des Christentums mit Hilfe von Vernunftbeweisen belegen lasse, geht auf die Lehren Anselms von Canterbury (f 1109) zurück. Ratio und scriptura sind die Begründungsinstanzen der Scholastik. Zu Problemen führte die Vorstellung der christlichen Rationalisten, dass der menschliche Verstand nur eine Wahrheit zulasse und dass sich einem Vernunftbeweis kein Mensch entziehen könne. Da die weiterhin fehlende >Einsicht< der Juden nun im Gegensatz zu einem christlich definierten Rationalitätsbegriff stand, lag es nahe, den zeitgenössischen Juden das Menschsein abzusprechen. Diese Schlussfolgerung wurde vor allem von Petrus Venerabilis (f 1158) mit drastischer Schärfe formuliert, der Juden mit unvernünftigen Tieren gleichsetzte.15 Andererseits bot es sich durch den Kontrast von christlicher Rationalität und fehlender Bekehrung aber auch an, den Juden eine Verweigerungshaltung im vollen Bewusstsein der christlichen Wahrheit zu unterstellen. Beide Ansichten rückten die Juden in einen Bereich des Irrationalen, Animalischen und Dämonischen, auf den unbestimmte Ängste projiziert werden konnten - genau wie dies auch mit der Talmudverwerfung erreicht wurde. Sofern diese Sichtweisen über Literatur und Predigten verbreitet wurden, haben sie sicher einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass man Juden bald widernatürliche Verbrechen zutraute und sie als unbekehrbar und ewig verdammt ansah, statt auf die von Paulus formulierte Bekehrungshoffhung zu vertrauen. Die Frage, ob sich die aktuelle Veränderung des christlichen Judenbildes auch in der Silvesterlegende der >Kaiserchronik< ausdrückt, ist auf den ersten Blick nicht einfach zu beantworten, da sich die Quelle für den mittelhochdeutVgl. Amos Funkenstein, Juden, Christen und Muslime. Religiöse Polemik im Mittelalter, in: Die Juden in der europäischen Geschichte. Sieben Vorlesungen, hg. von Wolfgang Beck, München 1992, S. 33^48, hier S. 36-38. Zum christlich-jüdischen Dialog des 13. Jahrhunderts vgl. Kurt Schubert, Das christlichjüdische Religionsgespräch im 12. und 13. Jahrhundert, Kairos 19 (1977), S. 161-186, wiederabgedr. in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, hg. von Alfred Ebenbauer/Klaus Zatloukal, Wien/Köln/Weimar 1991, S. 223-250; zu den öffentlichen Zwangsdisputationen z. B. auch Hyam Maccoby, Judaism on Trial. Jewish-Christian Disputations in the Middle Ages, London/Toronto 1982. Anna Sapir Abulafia, Christians and Jews in the Twelfth-Century Renaissance, London/ New York 1995; vgl. auch Schreckenberg [Anm. 5], Bd. 2, S. 5 If. Petrus Venerabilis, Adversus ludeorum inveteratam duritiem, CCCM 58, bes. S. 57f, S. 125ff., vgl. auch S. 42f; dazu Schreckenberg [Anm. 5], Bd. 2, S. 52 und S. 180-193.
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sehen Text nicht genau bestimmen lässt und von der lateinischen Legende eine Vielzahl ungedruckter Fassungen existiert. Die größte Ähnlichkeit mit dem Chroniktext besitzt eine im 15. Jahrhundert von Boninus Mombritius gedruckte Fassung, die wohl ältere Versionen repräsentiert.16 Wenn man Wilhelm Levisons Übersicht über die wesentlichen Merkmale der verschiedenen lateinischen Fassungen17 hinzuzieht, bietet der Mombritiustext eine relativ gute Grundlage für die Feststellung wichtiger Neuerungen der >KaiserchronikKaiserchronik< zu betrachten. in
Juden als Wortführer von Heiden Nach der älteren legendarischen Tradition versucht Konstantins Mutter Helena, ihren Sohn zum Judentum zu bekehren, und löst damit einen Redewettstreit zwischen Silvester und jüdischen Gelehrten aus. In der Legendenfassung der >Kaiserchronik< formuliert Helena ein ganz anderes Anliegen: Konstantin soll zu seinen alten Göttern, d.h. zum Heidentum, zurückkehren (w. 8212-8240)." Der traditionelle Disput Silvesters mit den Juden, über den zwei heidnische Richter entscheiden, ist jedoch auch in dieser Version beibehalten worden, so dass sich für die Handlung eine ganze Reihe von Inkonsequenzen, aber auch von verhängnisvollen Zusammenhängen ergibt. Obwohl nicht nur aus Helenas anfanglicher Aufforderung an Konstantin, sondern auch aus Silvesters späterer Bemerkung über silberine gote und guldtn (v. 8563), d.h. silberne und goldene Götter, hervorgeht, dass die Kaisermutter eindeutig das Heidentum vertritt, setzen alle Beteiligten des Konflikts es als selbstverständlich voraus, dass nicht nur Heiden, 16
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Boninus Mombritius, Sanctuarium seu Vitae Sanctorum, Bd. 2, [Mailand ca. 1475|. 2. Auflage, Paris 1910, Nachdruck Hildesheim/New York 1978, S. 508-531. Einen detaillierten Vergleich von Mombritiustext und Chroniktext führt Carl Kraus in der Einleitung zu seiner Ausgabe des >Trierer SilvesterKaiserchronik( nach der Ausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1892 (MGH Dt. Chron. 1,1), Nachdruck Berlin 1964.
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sondern auch Juden auf Helenas Seite stehen und dass die Juden daher für die Heiden Partei ergreifen. Helena lässt die weisesten Juden und Heiden zusammenrufen, und als Disputationsgegner werden vor der Synode die zwölf besten Gelehrten ausgewählt, di under Juden und under haiden wären (w. 8574-8579). Dies ist jedoch eine irreführende Angabe, denn unter den Disputationsgegnem Silvesters, deren meist alttestamentliche Namen mit denen der Legendentradition im Wesentlichen übereinstimmen, findet sich kein einziger Heide: Jeder Sprecher wird mindestens einmal entweder als der ebreisce man (z.B. v. 8688), d.h. als Hebräer, oder als der Jude (z.B. v. 8960) bezeichnet. Ein solcher Hinweis fehlt allein bei Zeleon. Dieser macht aber bei seiner späteren Bekehrungszusage deutlich, dass auch er einen monotheistischen Gottesbegriff hat (w. 1022210226) und daher nicht dem altrömischen Götterglauben anhängt, zu dem Helena Konstantin zurückfuhren will. Bei der Darstellung der Disputation übernimmt die >Kaiserchronik< eindeutig den rein christlich-jüdischen Konflikt der legendarischen Tradition. Das Problem ist, dass alle Einwände, die von den Juden gegen die Christen vorgebracht werden, im Grunde auf dem Vorwurf beruhen, der Christenglaube stünde in der Nähe des Heidentums. Silvester muss sich dagegen verteidigen, indem er beispielsweise den Unterschied zwischen Polytheismus und Trinitätsdenken oder die Ablösung des mosaischen Gesetzes durch ein neues erläutert (w. 8650-8659 und w. 9362-9399). Die jüdische Kritik am Christentum steht daher in offenem Widerspruch zu der Tatsache, dass die Juden hier die Heidin Helena vertreten sollen. Das heidnische Gefolge Helenas, das im Gegensatz zur traditionellen Handlung an der Synode teilnimmt, ist dagegen nur Publikum. Warum Helena in der Chronik eine andere Religion vertritt und Heiden zumindest äußerlich in den Konflikt einbezogen werden, lässt sich erklären, wenn man eine weitere gravierende Neuerung des Textes mit berücksichtigt: Helena versucht in der >Kaiserchronik< nicht nur, ihren Sohn zur Rücknahme der Konversion zu überreden; sie droht, das ganze in der Christianisierung begriffene Römische Reich und damit nach mittelalterlichem Verständnis die ganze Welt zu zerstören (w. 8296-8305 und w. 8379-8383). Sowohl von christlicher als auch von heidnisch-jüdischer Seite werden hier nicht nur geistliche Gelehrte zusammengerufen, sondern auch gewaltige Heere für einen drohenden Glaubenskrieg. Besondere Signalwirkung muss die folgende Schilderung der Vorbereitungen für die mittelalterlichen Rezipienten gehabt haben: Der chaiser gebot gemainliche über elliu siniu rfche, swer daz swert laite er chome ze helfe der christenhaite. er verbot umbe chint und umbe wip, daz diu niene chomen an den strit, und die in grözem alter seinen, daz die alle haime beliben; iz enwsere ain so statehaß man, der spise und gewsefen wol mähte hän und des Kbes also \vaere, daz er in des chaisers scar zieme.
Der Kaiser ließ im ganzen Reich den Befehl verkünden, dass alle Ritter den Christen zu Hilfe eilen sollten. Er untersagte es Kindern und Frauen, zum Kampf zu kommen; auch Menschen hohen Alters sollten zu Hause bleiben. Mitkommen sollte nur, wer ein wohlhabender Mann sei, der sich mit Lebensmitteln und Waffen versorgen könnte, und wer körperlich geeignet sei, sich in das Gefolge des Kaisers einzureihen. Der Papst befahl seinerseits allen geistlichen Würdenträgern, das
Christlich-jüdischer Disput Der babes gebot sinhalp über allen gastlichen gewalt, 5; maneten daz liut verre durh willen unsers herren, man gab ez in ze buoze. [...] duo Ute man vur man, duo nam aller menniclich ain rotez crüce vur sich, (w. 8410-8431)
21 Volk nachdrücklich aufzurufen, sich im Namen Gottes auf den Weg zu machen, und es ihnen als Buße aufzuerlegen. (...) Da beeilte sich Mann für Mann. Da heftete sich jedermann ein rotes Kreuz an.
Nicht nur das Anheften des Kreuzes als Zeichen des Kreuzfahrergelübdes und die Tatsache, dass der Kampf im Namen Christi zur heilsbringenden Bußübung erklärt wird, sind Motive, die auf den seit 1095 von Papst Urban II. ausgerufenen ersten Kreuzzug zurückgehen und von da an untrennbar mit Kriegszügen zur >Befreiung< Jerusalems verbunden werden, sondern auch die Vorgaben Konstantins bei der Einberufung des Heeres. Weil die Möglichkeit, allein durch die Teilnahme an einem Heereszug von allen Sünden befreit zu werden, auf alle Bevölkerungsgruppen eine große Anziehungskraft ausübte, musste die Kirche bei einem Kreuzzugsaufruf gleichzeitig einer unkontrollierbaren Massenbewegung entgegenwirken. Auch wenn die große nichtritterliche Bewegung 1096 nicht mehr aufzuhalten war, versuchte Papst Urban II. zumindest, sie einzudämmen, indem er sich bemühte, Alte und Kranke sowie Frauen vom Kreuzzug zurückzuhalten.20 Bernhard von Clairvaux richtete seine Aufrufe zum zweiten Kreuzzug 1146 ausschließlich an das Rittertum, und beim dritten Kreuzzug wurde in Deutschland »jeder Teilnehmer verpflichtet, Geldmittel für zwei Jahre bei sich zu haben«.22 Dass der Kreuzzugsgedanke aber dennoch eine fortwährende Faszination auf alle Gruppen der Gesellschaft ausübte, zeigt besonders der Kinderkreuzzug von 1212.23 Die Einberufung eines christlichen Heeres zur Verteidigung des spätantiken Roms wird in der >Kaiserchronik< also zu einem mittelalterlichen Kreuzzug stilisiert, wodurch sich das Geschehen der Lebenswirklichkeit der Rezipienten nähert. Die in dem Begriff »Heiden« enthaltene Zusammenfassung von Nichtjuden und Nichtchristen ermöglicht dabei die Gleichsetzung des altrömischen Götterglaubens mit dem Islam. Dass die Religion der Mohammedaner genau wie die der Juden und Christen monotheistisch ist, stellt dafür kein Hindernis dar, denn die Vorstellung, der Islam sei Vielgötterei, war in der christlichen Welt des 12. Jahrhunderts durchaus verbreitet. Das lässt sich besonders deutlich am >Rolandslied< ablesen, das etwa zwei Jahrzehnte nach der >Kaiserchronik< möglicherweise ebenfalls in Regensburg entstand.24
Vgl. Jonathan Riley-Smith, The First Crusade and the Idea of Crusading, London 1986, S. 24 und S. 35; Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, 8. verb, und erw. Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln 1995, S. 41. Vgl. Mayer [Anm. 20], S. 91. Mayer [Anm. 20], S. 128. Vgl. Mayer [Anm. 20], S. 189ff. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers, und komm, von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993, z. B. w. 308f. und S. 645.
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Die oben zitierte Textstelle verweist außerdem auf eines der wichtigsten Leitmotive der gesamten >KaiserchronikUngläubigenUnglaubens< unter Christen geduldet werden sollten. Diese Sonderrolle wird jedoch in der Chronikfassung der Silvesterlegende durch die Inszenierung einer kriegerischen Konfrontation der Christen mit allen >Ungläubigen< aufgehoben. Gerade weil der Verfasser das Geschehen zu einem zeitgenössischen Kreuzzug stilisiert, muss die Darstellung einer Verbindung von Juden und Heiden, falls judenfeindliche Interessen dabei nicht im Vordergrund standen, mindestens als unreflektiert angesehen werden. Bei der Betrachtung des Gesamtwerks zeigt sich, dass der kirchlichen Position gegenüber den Juden zwar keineswegs eine deutliche Absage erteilt wird, dass hier aber auch kein Bedürfnis zu finden ist, ähnlich wie Bernhard von Clairvaux auf das Publikum einzuwirken, um Zwangstaufen und Morde an Juden für spätere Kreuzzüge auszuschließen: An keiner Stelle des Werks wird auf das paulinisch-augustinische Schutzkonzept hingewiesen - auch nicht in Zusammenhang mit dem am Ende der Chronik wiedergegebenen Kreuzzugsaufruf Bernhards von Clairvaux (w. 17275-17282). Bei der relativ ausführlichen Schilderung des ersten Kreuzzugs bleiben die Judenmorde dieser Zeit unerwähnt (w. 1661816789). Der Gottesmordvorwurf, der bei den Pogromen von 1096 eine zentrale Rolle spielte, wird in der Konstantin-Silvester-Episode zwar nicht ausdrücklich erhoben, aber er ist Gegenstand der am Anfang der Chronik stehenden Tiberiusepisode (w. 671-1114), in der die historische Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. dadurch motiviert wird, dass der römische Kaiser Tiberius den Tod Christi an den Juden rächen will.29
Juden als Betrüger an Heiden Aus der verhängnisvollen Gleichsetzung der Juden mit allen anderen Ungläubigem, die durch die heidnisch-jüdische Unterstützung Helenas ermöglicht wird, ergibt sich aber gerade auch die Möglichkeit eines Vergleichs. Dieser führt paradoxerweise dazu, dass die Juden wieder gegen andere nichtchristliche Glaubensgemeinschaften abgegrenzt werden - allerdings nicht aufgrund eines Schutzprinzips, sondern als eine besonders hartnäckige und gefährliche Gruppe unter den Ungläubigen. Sowohl Juden als auch Heiden sind Feinde der Christenheit, die in der >Kaiserchronik< als des tieveles geverte (v. 8109), d.h. als Gefolge des Teufels, bezeichnet werden. Aber während des zweiten Disputationsteils verschärfen sich die antijüdischen Implikationen, die sich aus der Verbindung von Juden und Heiden ergeben. Durch die Tatsache, dass die Juden nicht davor zurückschrecken, im Glaubensstreit betrügerische Mittel anzuwenden, werden Helena und alle anderen Heiden als Opfer jüdischen Betrugs umgekehrt sogar aufgewertet. 29
Zum Ursprung des Rachestoffs (>Vindicta SalvatorisKaiserchronik< vgl. Schreckenberg [Anm. 5], Bd. l, S. 463ff. sowie Bd. 2, S. 165ff.
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Die Disputation Silvesters aus der lateinischen Legende, die mit dem Stierwunder und der Bekehrungsszene endet, findet in der >Kaiserchronik< nicht an einem, sondern im Laufe von fünf Tagen statt. Auch hier antwortet Silvester am ersten Tag auf die Fragen von zwölf jüdischen Gelehrten, aber der jüdische Zauberer Zambri ist noch nicht beteiligt; stattdessen tritt ein neu eingeführter jüdischer Redegegner hinzu. Der letzte Sprecher dieses Tages behauptet, es gebe Zeugen, die mit angesehen hätten, wie die Jünger Jesu dessen Leiche aus seinem Grab entfernt hätten, um dann behaupten zu können, er sei auferstanden (w. 9808-9831). Von einem derartigen jüdischen Einwand gegen die Auferstehung Christi wird schon im Matthäusevangelium berichtet (Mt 28,12-15); als Bestandteil der Silvesterdisputation scheint er neu zu sein, besonders in Verbindung mit der sich am zweiten Tag der Synode anschließenden Zeugenszene, die möglicherweise einer anderen Erzähltradition entstammt.30 Die signifikante Wende in der Judendarstellung, die an dieser Stelle eintritt, wird noch am Abend des ersten Tages deutlich, als Silvester den Kaiser mit den folgenden Worten beschwichtigt: mit dem geziuge sint si betrogen: si habent der chunigin gelogen, si verliesent der mit alle ir ere. (w. 9866-9868)
Mit den Zeugen sind sie [= die Juden] betrogen: Sie haben die Königin belegen, dadurch werden sie all ihre Ehre verlieren,
Zunächst geht es bei dem Betrug der Juden an Helena nur um die sechzig jüdischen Zeugen, die am nächsten Morgen auftreten und behaupten, sie hätten den Grabdiebstahl der Jünger Jesu mit angesehen. Silvester fragt die Zeugen nach ihrem Alter und lässt sie dann auf ihre Aussagen einen Eid schwören, der an die Formeln der Judeneide der mittelalterlichen Rechtspraxis erinnert (w. 98969919).31 Die Juden gehen darauf bedenkenlos ein, so dass Silvester triumphierend ausrufen kann: »we iu allen dises aides! nü suln die rihtaere urtailes fragen: nu iz dise guoten cnehte alle hörten und sähen, \vie daz ain diuve mege sin?« an dem worte verstuont sich aller erist diu chunigin, daz si mit dem geziuge betrogen was, wie trürig allez israhelischez volc sazl (w. 9939-9945)
»Wehe euch allen dieses Eides wegen! Nun sollen die Richter zu einem Urteil kommen: Wenn es diese ehrbaren Herren alle hörten und sahen, wie kann es dann einen Dieb gegeben haben?« Da erst erkannte die Königin, dass sie von den Zeugen betrogen worden war. Wie betrübt alle Israeliten dasaßen!
Nachdem der Papst in dieser Form auf die Unwahrscheinlichkeit hingewiesen hat, dass ein Dieb es wagen würde, ein Grab auszurauben, wenn sich sechzig Eine solche Szene wird bei Levisons [Anm. 7] Darstellung der verschiedenen Fassungen nicht erwähnt. Eine Stellungnahme zu dieser Szene in der Chronik ist außerdem in keiner der bisherigen Quellenuntersuchungen zu finden. Vgl. z.B. Georg Prochnow, Mittelhochdeutsche Silvesterlegenden und ihre Quellen, Diss. Marburg 1901 und ZfdPh 33 (1901), S. 145-212; Only [Anm. 1],S. 165-171. Vgl. Annette Schmidt, Die Judeneide, in diesem Band.
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Personen in unmittelbarer Nähe aufhalten, nennt er noch ein weiteres Argument, das die angeblichen Zeugen des Meineids überfuhrt: Die Himmelfahrt Christi habe mehr als hundert Jahre vor der Geburt jedes anwesenden Zeugen stattgefunden (w. 9946-9957). An dieser Stelle greift nun Zambri ein, der Silvester mit der Wunderkraft seines Gottes überwinden will (w. 9958-9981). Damit wird zwar prinzipiell die Handlung der lateinischen Silvesterlegende wieder aufgenommen, aber die folgende Wunderkonkurrenz mit der anschließenden Bekehrungsszene hat deutliche Veränderungen erfahren: Das Geschehen ist auf drei Tage verteilt, und die Heiden, die während der ersten beiden Synodentage fast vollständig in den Hintergrund traten, spielen hier wieder eine größere Rolle. Vor allem aber wird nach der Auferstehung des Stiers, dessen Tötung Silvester zuvor als Teufelszauber entlarvt hat, plötzlich der Betrug aller jüdischen Redner an den Heiden offenbar: Der babes gebot über allen den sent aine stille, er sprach: »frowe, waz ist nü din wille? wil du gote werden gehorsam? oder waz mäht du nü ze worte hän?« Do sprah diu chunigin here: »Zambri, chanst aver du noch iht mere?« Der Jude sprach da: »frowe, wi redest du nü so? nü hast du selbe wol resehen, waz Wunders hie ist gescehen. frowe, sam mir din hulde, vilgröz sint unser schulde, wir mähten dich länger triegen; zeware ich newil niemer liegen, so wir alle unz her hän getan!« (w. 10337-10351)
Der Papst gebot der ganzen Synode zu schweigen. Er sprach: »Herrin, was ist nun dein Wunsch? Willst du dich Gott ergeben? Oder was kannst du nun sagen?« Da sprach die vornehme Königin: »Zambri, kannst du denn nicht noch mehr vollbringen?« Der Jude sagte daraufhin: »Herrin, wie kannst du so etwas sagen? Du hast doch selbst klar gesehen, was für ein Wunder hier geschehen ist. Herrin, deine Gunst sei mit mir. Unsere Schuld ist groß, wenn wir dich weiterhin betrügen. Wahrlich, ich will nie mehr lügen, wie wir es alle bis jetzt getan haben!«
Zambri und die zwölf jüdischen Redner vom ersten Tag lassen sich im Anschluss an diese Aussage taufen. Man könnte also folgern, dass der konversionswillige Zambri seinen früheren Glauben im Nachhinein für einen unbewussten Betrug an den Heiden hält. Die christlichen Rezipienten des Mittelalters sind jedoch sicher der näher liegenden Implikation dieses merkwürdigen Geständnisses gefolgt: Offenbar lag hier ein absichtlicher Betrug vor, von dem die dreizehn Juden nun abrücken wollen, da sie keine anderen Möglichkeiten mehr sehen, ihn aufrechtzuerhalten. Dass die Taufe Zambris und der anderen zwölf Juden im Grunde nur noch ein minimales Zugeständnis an die legendarische Tradition darstellt, wird deutlich, wenn man die gesamte Wunder- und Bekehrungsszene im Vergleich zur lateinischen Silvesterlegende betrachtet.
Juden als bewusste Verweigerer der Konversion Nachdem Zambri den Stier am dritten Tag der Synode mittels Einflüsterung des jüdischen Gottesnamens getötet hat, freuen sich Juden und Heiden und rüsten
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sich zum Glaubenskampf gegen die Christen. Dabei eint sie nicht mehr allein der gemeinsame Feind: 5i sprachen, dem gote newurde nie nehain genoz; der diu zaichen durch si hete getan, den wollen si iemer ze gote han. (w. 10055-10057)
Sie [= Juden und Heiden] sprachen, dem Gott sei nichts ebenbürtig, der um ihretwillen die Wunderzeichen bewirkt hätte. Ihn wollten sie für immer als Gott anbeten,
Diese Stelle macht besonders deutlich, dass der heidnische Glaube - im Gegensatz zu Helenas anfänglichem Protest gegen die Christianisierung des Reiches seit Beginn der Disputation keine Rolle mehr spielt und es nur noch darum geht, zu welcher der beiden großen monotheistischen Religionen die Heiden sich am Ende bekehren werden. Aus der Sicht eines Christen, dem das folgende Geschehen der Legende schon bekannt ist, kann man die Stelle allerdings auch mit Silvesters späterer Aufdeckung des >Teufelswunders< assoziieren: Alle Ungläubigen sind schließlich, bewusst oder unbewusst, des tieveles geverte (v. 8109), und genau das verbindet Juden und Heiden hier, indem sie sich zu dem Gott bekennen, der den Stier getötet hat. Obwohl in diesem Abschnitt beide Gruppen zunächst in gleicher Weise agieren, wird anschließend besonders die Kriegslust der Heiden hervorgehoben (w. 10058-10073 und w. 10086-10095). Da diese jedoch auf den Teufelszauber eines Juden zurückzuführen ist, ergibt sich daraus keineswegs eine Aufwertung der Juden. Die folgende Darstellung zeigt dann genau das Gegenteil: Am fünften Tag der Synode lachen Zambri und andere Juden über Silvesters Gebet vor dem Auferstehungswunder, obwohl ihnen das Gebet unangenehm ist (w. 10281f.). Als Silvester das Wunder mit Hilfe des trinitarischen Gottes vollbracht hat, sind die Juden enttäuscht und niedergeschlagen, während die Heiden schon den Gott loben, der so große Wunder bewirken kann (w. 10322-10332). Zwar lassen sich Zambri und die zwölf jüdischen Redner als Erste taufen, aber von weiteren Judenbekehrungen wird nicht berichtet. In der alten lateinischen Legende bekehren sich nach dem Stierwunder mehr als 3000 Juden zu Christus; abgesehen von den beiden Richtern und der zuvor schon dem Judentum zuneigenden Helena werden keine weiteren Heiden genannt, die sich taufen lassen.32 Im Gegensatz dazu stehen in der >Kaiserchronik< nach der Taufe der Richter und vor der Taufe Helenas die folgenden beiden Hinweise: der haiden wart getauft an der stunt vierdehalp und ahtzec tüsunt. die aver dar zuo niht geordenet waren, daz si die taufe sotten enphähen, von manne ze manne, si entrunnen alle scentKchen dannen. (w. 10367-10372)
Von den Heiden wurden sogleich 83500 getauft. Diejenigen, die aber nicht dazu bereit waren, die Taufe jeder einzeln zu empfangen, liefen alle in Schande davon.
Ein totes Tier wird zum Leben erweckt - und dennoch gibt es Augenzeugen, die nicht bereit sind, sich zu dem Gott zu bekehren, der dieses Wunder bewirkt hat? Eine solche Ungeheuerlichkeit passt ebenso wenig zu dem Grundcharakter der lateinischen Silvesterlegende wie das gemeinsame Vorgehen von Juden und Vgl. Levison (Anm. 7], S. 173; Mombritius [Anm. 16], S. 528.
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Heiden gegen Christen. Das bezeugen auch die beiden mittelhochdeutschen Silvesterdichtungen des 13. Jahrhunderts, die es nicht wagen, die Tradition in einer solch radikalen Weise zu verändern.33 Das Verhalten der zahllosen anwesenden Juden, vor allem aber der sechzig jüdischen Zeugen wird in der Chronik nicht weiter angesprochen. Dadurch wird suggeriert, dass es sich bei den Bekehrungsverweigerem ausschließlich um Juden handelt. Die vorangehende Darstellung der Juden als Betrüger und Meineidige unterstützt diese Annahme, aber auch die Tatsache, dass sich vor dem Eingreifen Zambris, anders als in der lateinischen Fassung des Mombritius und den deutschen Silvesterdichtungen des 13. Jahrhunderts, keine Bekehrungsbereitschaft der Juden andeutet.34 Erst nach Silvesters Aufdeckung des Teufelszaubers versichern die zwölf Redner der >KaiserchronikSilvester< Konrads von Würzburg, Die Legenden, Bd. 1: Silvester, hg. von Paul Gereke, Halle a.d.S. 1925 (ATB 19), und die Legendenfassung im Passional. Eine Legenden-Sammlung des 13. Jahrhunderts, hg. von Fr. Karl Köpke, Quedlinburg/ Leipzig 1852 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 32), Nachdruck, Amsterdam 1966, S. 62-93. Vgl. Mombritius [Anm. 16], S. 524f; Konrad von Würzburg, Silvester [Anm. 33], bes. w. 4530-4546; Passional [Anm. 33], S. 85, w. 58-85.
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Bei dem Wunder der lateinischen Legende hätte man vielleicht noch argumentieren können, der Stier sei nur scheintot gewesen. Hier aber ist das übernatürliche Ereignis so offensichtlich, dass ein Verständnis der Rezipienten für die spätere Bekehrungsverweigerung einer bestimmten Gruppe von Augenzeugen völlig unmöglich gemacht wird. Während das Wunder in der spätantiken Legende also noch den Charakter des endgültigen Glaubensbeweises gegenüber Juden wie Heiden hat, fühlt man sich bei der Darstellung der >Kaiserchronik< schon an spätere Hostienfrevellegenden erinnert, bei denen nicht mehr erklärt werden muss, warum die fiktiven Juden ein Hostienwunder nach dem anderen erleben können und dennoch nie auf die Idee kommen zu konvertieren.35 Die Ansicht, dass Juden auch durch ein Wunder nicht mehr zu bekehren seien, entspricht durchaus den Auffassungen einiger christlicher Theologen der Zeit. Sie findet sich z.B. in den Schriften des Guibertus von Nogent (f um 1124) und des Petrus Venerabilis (f 1158).36 Letzterer verbindet Wunder sogar mit dem rationalistischen Gedankengut der Frühscholastik, da sie seiner Ansicht nach dem menschlichen Verstand die Wahrheit des christlichen Glaubens untrüglich vor Augen führen.37 Wenn sich Juden trotz eines Wundererlebnisses nicht bekehren, drängen sich den Christen genau die Erklärungsmuster auf, die sich auch aus dem Kontrast von christlich definierter Rationalitat und fehlender Bekehrung ergeben: Entweder den Juden wird unterstellt, sie würden die >Wahrheit< erkennen, seien also keineswegs mehr im paulinisehen Sinne blind, würden sich aber dem >wahren< Glauben ganz bewusst widersetzen und seien damit unrettbar verdammt, oder man spricht ihnen - wie Petrus Venerabilis es tut - die Fähigkeit des rationalen Denkens ab.38 Das Betrugsmotiv in der Silvesterlegende der >Kaiserchronik< deutet darauf hin, dass den Juden hier eine absichtliche Bekehrungsverweigerung und damit eine absichtliche Hinwendung zum Teufel unterstellt wird.
Die konstruierte Unumstößlichkeit der christlichen Schriftbeweise Der für einen Christen unbegreifliche Widerspruch zwischen Wundererlebnis und Bekehrungsverweigerung wird in der >Kaiserchronik< nicht nur durch die besondere Anschaulichkeit des Wunders verstärkt, sondern auch indem die 35
Vgl. Björn Berghausen, Das Lied von Deggendorf - Fiktion eines Hostienfrevels, in diesem Band. 36 Vgl. Guibertus von Nogent, Tractatus de incarnatione contra Judaeos, PL 156, Sp. 489-528, hier Sp. 528; Petrus Venerabilis [Anm. 15], S. 124C; dazu Abulafia [Anm. 14], S. 87f.; Schreckenberg [Anm. 5], Bd. 2, S. 94. " Vgl. Petrus Venerabilis [Anm. 15], S. 106, S. 110 und S. 124; dazu Abulafia [Anm. 14], S. 87f. 38 Vgl. Petrus Venerabilis [Anm. 15], z.B. S. 57f. und S. 125ff; dazu Schreckenberg [Anm. 5], Bd. 2, S. 52 und S. 180-193.
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Schriftbeweise, die Silvester am ersten Tag der Synode gegen die Einwände der zwölf jüdischen Redner vorbringt, in signifikanter Weise abgesichert werden, so dass den christlichen Rezipienten jede Möglichkeit genommen wird, Verständnis für diejenigen zu entwickeln, die sich davon nicht überzeugen lassen. Es wird geradezu unvorstellbar gemacht, dass sich ein vernünftig denkender Mensch der >unumstößlichen Wahrheit< des christlichen Glaubens entziehen kann. Zu bedenken ist, dass die Rezipienten bei den meisten dieser Schriftbelege nicht durchschauen können, inwieweit die christologische Interpretation über den Wortlaut der zitierten Textstelle hinausgeht. Die Übertragung der Legende ins Deutsche bringt es mit sich, dass Silvester Schriftbelege aus dem Alten Testament häufig auf Lateinisch zitiert und anschließend in der Volkssprache erläutert. Der überwiegende Teil des mittelalterlichen Hörerpublikums wird die lateinischen Zitate nicht verstanden und genauso wenig den biblischen Kontext der Zitate gekannt haben. Diesen Rezipienten dienten die lateinischen Laute per se als Beweis dafür, dass sich in der Bibel lateinische Entsprechungen zu Silvesters volkssprachlichen Erläuterungen finden lassen. Ein Beispiel ist Silvesters Beleg für das Leiden des Mensch gewordenen Gottes: Sancte Silvester der hailige man hiez Jeremiam dar vur tragen. an der selben stete da man daz buoch üftete, da zaiget er im gescriben gewis: »sicut ovis ad occisionem ducetur.« er hiez ez in allen tragen vur, v/7 bescaidenliche sprach er zu in allen geliche von zungen ze zungen hiez er disiu wort chunden: »der uns allen verlihet daz leben, der wirt ze dem tode gegeben als ain ungemailtez lembelin: ez entuot niht üfden munt sin.« (w. 8884-8899)
Sankt Silvester, der heilige Mann, ließ das Buch Jeremia vor die Synode bringen. An der Stelle, an der man das Buch aufschlug, zeigte er ihm ohne Zweifel geschrieben: »wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.« Er ließ es innen allen vorlegen, auf verständige Weise sprach er zu ihnen allen gleichermaßen. Von Mund zu Mund ließ er diese Worte verbreiten: »Der, der uns allen das Leben verleiht, wird zum Tode gegeben wie ein unschuldiges Lammchen. Es tut seinen Mund nicht auf.«
Eine inhaltlich analoge Stelle zu dem lateinischen Zitat findet sich in Jeremia 11,19. Der genaue Wortlaut steht in der Vulgata aber bei Jesaja (Jes 53,7). Weder aus der einen noch aus der anderen Bibelstelle geht hervor, dass es sich bei dem, der wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt werden soll, um den Schöpfergott handelt, wie es die christliche Deutung behauptet. Das bleibt dem christlichen Publikum jedoch verborgen. Obwohl Silvesters lateinische Zitate im Wesentlichen dem Wortlaut der Vulgata entsprechen, erhält der Zuhörer, der nur die interpretierenden Übersetzungen verstehen kann, von der Aussagekraft der verwendeten Schriftbeweise also einen Eindruck, der sich mit einer genauen deutschsprachigen Wiedergabe der Bibelstellen nicht im gleichen Maße verbinden ließe. Nicht nur der Klang des Lateinischen sichert Silvesters Schriftbeweis hier in besonderer Weise ab. Einen wichtigen Beitrag leistet auch die eindrucksvolle
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Zeremonie, mit der in der >Kaiserchronik< fast jeder Schriftbeleg Silvesters verbunden wird: Das Nennen der Bibelzitate reicht nicht aus. Das jeweilige Buch muss herbeigeholt und aufgeschlagen werden, damit der Beleg für alle sichtbar wird. Die Autorität der Schrift ist im christlichen Mittelalter von so großer Bedeutung, dass es aus der Sicht der zeitgenössischen Rezipienten völlig absurd wäre, einen in dieser Form vor Augen geführten Beleg anfechten zu wollen. Dass Silvester die Bücher, aus denen er zitiert, jeweils als konkrete Beweismittel vorlegen kann, unterscheidet ihn von den jüdischen Gelehrten dieses Textes: Diese werden nicht nur als inkompetent bezüglich ihrer eigenen Schriften vorgeführt, sondern sie erweisen sich auch als unfähig, Silvester mit >gleichen< Mitteln zu schlagen, ihn also mit neutestamentlichen Schriften zu überwinden. Das wird im Dialog mit Aunan gezeigt, in dem der Jude behauptet, er könne Silvester eine Stelle im Neuen Testament zeigen, aus der hervorgehe, dass Maria nach Jesus noch andere Kinder bekommen habe. Das sei ein Beweis gegen ihre ewige Jungfräulichkeit (w. 9123-9133). Von den Geschwistern Jesu wird beispielsweise im Matthäusevangelium berichtet (Mt 12,46 und Mt 13,55f); ein Beleg existiert also durchaus. Der Rezipient erfährt davon jedoch nichts, denn als Aunan aufgefordert wird, seine Aussage mit konkreten Schriftbelegen zu untermauern, weicht er aus: Do sprach Aunan: »wie mähte man diu buoch elliu vur getragen? swes ich bewxrte Hute hörejehen, da mit mag man der rede wohl ain ende geben.« Duo sprach der rihtxre Cräton: »dirre sent ist so zesamene chomen, daz man deheiner rede hie sol beginnen, man nemege si mit bewerten dingen bringen.« Duo zurnde der Jude Aunan: siniu sceltwort huob er an, mit houbte unt mit handen vuor er alse man in brande, er huob michel ungebäre. do rafsten in die rihtäre. (w. 9152-9165)
Da sprach Aunan: »Wie sollte man die Bücher alle herbeiholen? Was ich zuverlässige Leute habe sagen hören, damit lassen sich die Aussagen ausreichend belegen.« Da sprach der Richter Craton: »Diese Synode ist unter der Bedingung einberufen worden, dass man nichts sagen soll, was man nicht wahrheitsgemäß beweisen kann.« Da erzürnte der Jude Aunan: Er stieß Schimpfworte aus. Mit seinem Kopf und seinen Händen fuchtelte er herum, als ob man ihn verbrennen würde. Er führte sich äußerst ungebärdig auf. Da wiesen ihn die Richter zurecht.
Diese polemische Stelle, die ebenfalls als Neuerung der Chronikfassung betrachtet werden kann, macht besonders deutlich, welche Autorität den schriftlich vorgelegten Belegen in diesem Text zukommt. Einen deutlichen Kontrast dazu, dass hier ein vorhandener Schriftbeweis übergangen wird, weil er nicht vorliegt, stellt Silvesters anschließend allein auf Deutsch verlesener Gegenbeleg aus dem Alten Testament dar, bei dem es sich um die am freizügigsten zitierte Bibelstelle dieser Legendenfassung handelt. Ein derartig im christologischen Interesse vereindeutigtes Bibelzitat, mit dem Silvester in der Chronik die ewige Jungfräulichkeit Marias belegen will, hat zumindest in der Mombritiusfassung der lateinischen Legende keine Parallele. Die Grundlage bildet Hesekiel 44,2:
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Und der Herr sprach zu mir: Dies Tor soll zugeschlossen bleiben und nicht aufgetan werden, und niemand soll dort hineingehen. Denn der Herr, der Gott Israels, ist dort eingezogen; darum soll es zugeschlossen bleiben.
An die Stelle dieses alttestamentlichen Berichts, der von Christen häufig zum Beweis der Jungfräulichkeit Marias herangezogen wurde, tritt in der >Kaiserchronikx gleich ein ausfuhrliches Lob der Mutter Gottes: »chunigin der himele, magetuomes insigele, du bist kiusche und raine, marines gedshte du nie nehaines, mit dem gates warte besigelet sint dine porte. du bist ursprinch aller bmnnen, den gates sun hästu maget gewunnen. nach der geburte bistü maget. des hailigen gaistes bistü sät, maget wonestü iemer ewecliche.« (w. 9182-9192)
»Königin der Himmel, Siegel der Jungfräulichkeit, du bist keusch und rein, an einen Mann hast du nie gedacht. Mit dem Wort Gottes sind deine Pforten versiegelt. Du bist Quell aller Brunnen, den Sohn Gottes hast du jungfräulich empfangen. Nach der Geburt bliebst du Jungfrau, vom Heiligen Geist bist du erfüllt, als Jungfrau bist du in die Ewigkeit eingegangen.«
Auch dieser Beleg wird schriftlich vorgelegt. Für christliche Rezipienten ist also genau wie für die Figuren der Legendenfassung kein Zweifel daran möglich, dass er in dieser Form im Alten Testament zu finden ist. Obwohl die Juden während der Disputation des ersten Tages an keiner Stelle Bekehrungsbereitschaft signalisieren, wird mehrfach deutlich gemacht, dass sie die Entscheidungen der beiden heidnischen Richter nicht nur hinnehmen, sondern auch selbst die Unumstößlichkeit von Silvesters Argumenten anerkennen. Nachdem zu Beginn des ersten Synodentages noch zwischen christlichen und jüdisch-heidnischen Publikumsreaktionen differenziert wird, ist bis zum Ende des ersten Tages nur noch von Beifallsäußerungen aller Anwesenden für Silvester die Rede: die sentherren im alle jähen, daz si nie horten gesogen von dehainem werltlichem man, dem got so getane rede gaebe. si sprachen, daz got selbe mit im wsre. (w. 9433-9437)
Alle Teilnehmer der Synode gestanden ihm zu, dass sie nie von einem lebenden Mann gehört hatten, dem Gott eine solche Rednergäbe verliehen hatte. Sie sagten, Gott selbst müsse mit ihm sein,
Schon hier ist offenbar allen Anwesenden klar, dass Gott auf Silvesters Seite steht. Auch ohne das Wunder muss die spätere Bekehrungsvenveigerung einer bestimmten Gruppe von Teilnehmern also als bewusste Zurückweisung des >wahren< Glaubens betrachtet werden. Das verdeutlicht auch Silvesters Dialog mit dem jüdischen Sprecher Jubal, der die Beweisbarkeit der Höllenfahrt Christi in Frage stellt: Der Jude wart vilfro, ze dem babes sprach er do: »von dinen niwen buochen nehän wir Juden nehain ruoche. wil du mirz in den alten zaigen,
Der Jude war hocherfreut. Er sprach daraufhin zum Papst: »Von deinen neuen Büchern [= NT] halten wir Juden nichts. Wenn du mir das in den alten zeigen
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Vera Milde die rede wil ich so bescaiden, daz ich min houbet niemer hinnen von disem sende wil bringen, vindest duz in dehainem wissagen.« do sprach der hailige man: »du biutest ain groz phant. dir ennimet niemen den vuoz noch die hont.« er hiez im Daviden pringen, do zaict er im dar inne »tollite portas principes vestras«. der Jude reblaichet undgesaz. (w. 9732-9747)
kannst, soll es so sein, dass ich mein Haupt niemals von dieser Versammlung wegbringen werde, falls du das bei irgendeinem Propheten findest.« Da sprach der heilige Mann: »Du setzt ein bedeutendes Pfand ein. Niemand wird dir weder Fuß noch Hand nehmen.« Er ließ ihm das Buch David bringen. Da zeigte er ihm darin: »Machet eure Tore auf, ihr Fürsten«. Der Jude wurde bleich und setzte sich hin.
Die Beweiskraft der zitierten Bibelstelle (Ps 24,7) beruht allein auf christologischer Interpretation. Jubais Reaktion zeigt jedoch, dass er die Bedeutung dieses Belegs sofort erkennt, ohne dafür der folgenden Erläuterung Silvesters zu bedürfen. Der Vorwurf der Willkürlichkeit, den Juden in realen christlich-jüdischen Gesprächen häufig gegen die christologische Bibelexegese äußerten, wird hier ganz ausgeblendet. Die lateinische Legende enthält immerhin noch einzelne Einwände der Juden gegen die christliche Beweisführung: Nach Silvesters Auflistung einer ganzen Reihe von Hinweisen auf Christus aus den prophetischen Büchern des Alten Testaments protestiert Godolias in der Mombritiusfassung gegen diese Art der Auslegung. Ein anderer Jude möchte bewiesen sehen, dass sich diese Prophezeiungen auf Jesus Christus beziehen und auf keinen anderen. An späterer Stelle will dem Juden Thara ein Gleichnis nicht einleuchten, mit d.em Silvester das Dogma von den zwei Naturen Christi erläutert. Vom Ansatz her ist der Einwand des Godolias auch in der mittelalterlichen Chronik zu finden: Hier will er sich Silvesters Belege aber gar nicht erst anhören (w. 8960-8969). Zwar werden die jüdischen Einwände auch in der lateinischen Legende nur dazu genutzt, jüdische Kritik dieser Art lächerlich zu machen, aber die Chronik geht auch mit diesem traditionellen Bestandteil der christlich-jüdischen Kontroverse in viel verhängnisvollerer Weise um: Die Kritik des Godolias wird vom heidnischen Richter Zenophilus so interpretiert, als wolle er verhindern, dass Silvester die Beweise bringen kann, die die Wahrheit für alle sichtbar machen (w. 89708989).
Die Silvesterlegende der >Kaiserchronik< und das Judenbild des 12. Jahrhunderts Das christliche Publikum der >Kaiserchronik< erhält anhand des Religionsgesprächs der Silvesterlegende zwar einen oberflächlichen Eindruck davon, welche Vgl. Mombritius [Anm. 16], S. 520 und S. 524.
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Themen in der christlich-jüdischen Kontroverse vorherrschen und welche Art der Beweisführung traditionell bei der Widerlegung jüdischer Einwände gegen den christlichen Glauben angewendet wird, aber durch die vereindeutigende Darstellung der christlichen Beweismittel und die Implikation einer jüdischen unkritischen Anerkennung dieser Belege entsteht ein Bild, das noch weiter von den realen Voraussetzungen der christlich-jüdischen Auseinandersetzung entfernt liegt, als dies schon in der lateinischen Legendentradition der Fall ist. Dass eine andere Vorgehens weise christlicher Autoren im Mittelalter durchaus möglich war, zeigt besonders die Ende des 11. Jahrhunderts verfasste lateinische Disputation des Gilbertus Crispinus, die um eine aufrichtige Auseinandersetzung mit jüdischer Kritik nicht nur an christlichen Dogmen, sondern auch an der christlichen Exegese des Alten Testaments bemüht ist.40 Im Gegensatz zur Darstellung der christlich-jüdischen Kontroverse liegt in der >Kaiserchronik< in anderer Hinsicht gerade eine Annäherung an die historische Realität vor: Die ausgesprochene Glaubenstreue der Juden hat der Verfasser der Konstantin-Silvester-Episode stärker berücksichtigt als der Autor der spätantiken Legende, indem er die vorzeitige Bekehrungsbereitschaft der Juden gestrichen und das Motiv der Bekehrungsverweigerung eines Teils der Anwesenden nach dem Wunder eingefügt hat. Dem mittelalterlichen Rezipienten fällt es dadurch leichter, die zeitgenössischen Juden mit den Juden der Legende zu identifizieren. Auf die mittelalterlichen Juden werden dann allerdings auch die Umstände der Bekehrungsverweigerung projiziert: Dass diese solche >eindeutigen< Beweise in ihren eigenen Schriften lesen können und dennoch - wie die fiktiven Juden sogar nach dem Wunder - weiter an ihrem Glauben festhalten, lässt sich aus christlicher Sicht nicht mehr anders erklären, als dass sie sich bewusst weigern, dem wahren Glauben zu folgen, wie es auch in der Chronik angedeutet wird. Diese verhängnisvolle Schlussfolgerung ist eine der wichtigsten Grundlagen für den radikalen Wandel des christlichen Judenbildes seit dem 12. Jahrhundert: Die Verbindung der Juden mit dem Teufel, die mit Zambris Zauber schon in der spätantiken Legende gegeben ist, erhält eine neue Dimension, da sie nicht mehr als unbewusste Verfehlung gesehen wird, sondern als absichtliche Hinwendung zum Teufel. Die christliche Vorstellung vom menschenunmöglichen und daher unmenschlichen Verhalten der Juden bot den Nährboden für schlimmste Unterstellungen: Wer sich der Konversion zum >wahren< Glauben bewusst widersetzte, dem konnte man auch die rituelle Tötung kleiner Christenkinder zutrauen. Obwohl sich nur geringe Anzeichen dafür feststellen lassen, dass die frühscholastische Argumentation mit der Vernunft Eingang in die Silvesterlegende der >Kaiserchronik< gefunden hat, da nicht ausdrücklich daraufhingewiesen wird und die Beweisstrategien zumindest formal überwiegend mit der Legendentradition übereinstimmen, konstruiert der Text jedoch eine ähnliche Diskrepanz zwischen angeblich unumstößlichen Beweismitteln und fehlender Konversionsbereitschaft wie die, mit der sich die Autoren der Frühscholastik beim Versuch Gilbertus Crispinus, Disputatio Judei cum Christiane de fide Christiana, PL 159, Sp. 10051036; dazu Schreckenberg [Anm. 5], Bd. 2, S. 58-65.
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konfrontiert sahen, die Juden mit Hilfe von Verstandesbeweisen zu missionieren. Außerdem wurde den Juden der Vorwurf des vernunftwidrigen Verhaltens in dieser Zeit nicht nur dann gemacht, wenn sie christliche Vemunftbelege ignorierten, sondern auch, wenn sie >offenkundige< Schriftbelege oder Wunder nicht als Grund dafür ansahen, zum christlichen Glauben zu konvertieren.41 Die antijüdischen Texte des Petrus Venerabilis weisen zwar eine weitaus aggressivere Polemik auf als die Silvesterdichtung des mittelhochdeutschen Geschichtsbuchs, aber die Ähnlichkeiten des Judenbildes bei den nahezu zeitgleich verfassten Texten sind unübersehbar. Die Darstellung einer Bedrohung der Christen durch eine Allianz von Juden und Heiden lässt sich zwar noch mit einem reichspolitischen Interesse des Verfassers erklären, der damit möglicherweise für ein Zusammenwirken von Kaiser und Papst im Vorfeld des zweiten Kreuzzugs werben wollte, ohne wesentliche Elemente der Legende zu tilgen. Aber bei der Gegenüberstellung von >eindeutigen< christlichen Beweisen und dem Motiv der Bekehrungsverweigerung stehen judenfeindliche Motive zweifellos im Vordergrund; es gibt keinen übergeordneten Zweck, auf den dieser Teil der Neugestaltung funktionalisiert sein könnte. Wie groß der Einfluss der Chronik auf das christliche Judenbild Mitteleuropas war, ist kaum zu ermessen. Die deutschen Silvesterdichtungen des 13. Jahrhunderts, aber auch schon der Versuch einer Umarbeitung kurz nach der Fertigstellung der >KaiserchronikTrierer SilvesterKaiserchronikx. Vgl. Nellmann [Anm. 1], Sp. 949. Nach der Aussage Dinses geht aus dem >Sefer chassidim< des Jehuda ben Samuel (f 1217) sogar hervor, dass »eine um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte deutsche >Kaiserchronikx« auch bei der jüdischen Bevölkerung »als Unterhaltungslektüre [...] sehr beliebt« war. Vgl. Helmut Dinse, Die Entwicklung des jiddischen Schrifttums im deutschen Sprachgebiet, Stuttgart 1974, S. 21. Sollte sich die Erwähnung in dem hebräischen Text wirklich auf das in diesem Aufsatz besprochene Werk beziehen, scheint es allerdings zumindest im Hinblick auf die Silvesterlegende der umfangreichen Chronik kaum vorstellbar, dass sie einem jüdischen Publikum zur Unterhaltung dienen konnte.
MONIKA WOLF so tünd ich dir verbinden din ougen vnd brich dir din baner ouch en zwey
Ecclesia und Synagoge in fortwährendem Streit
Ihre Lanze als Symbol der Herrschaft ist zerbrochen, ihre Augen zum Zeichen der Blindheit verbunden, ihre Gestalt scheint zu wanken und die Tafeln des mosaischen Gesetzes entgleiten ihrer Hand - die Synagoge am Südportal des Straßburger Münsters muss sich der Ecclesia geschlagen geben, die mit Krone, Kelch und dem siegreichen Kreuzesstab unangefochtene Herrscherin ist (vgl. Abb. 1). Und doch ist sie schön: Ihr Haar fallt wie das der Ecclesia frei auf die Schultern, und das edle Gewand zeichnet sie als ritterliche Dame aus, die in ihrer Würde der christlichen Gegnerin in nichts nachsteht. Ihre jugendlichen Gesichtszüge und die schlanke, zerbrechliche Gestalt zeigen sie ohne jede Polemik; die Gesetzestafeln als Zeichen des Alten Bundes entgleiten ihr, doch noch sind sie unversehrt in ihrer Hand, die Lanze ist zerbrochen, doch zeugt sie von vergangener Macht. Als würdige, gleichberechtigte Gegenspielerin der Kirche und doch mit den untrüglichen Zeichen der Niederlage, der Schwäche und Blindheit hat der Bildhauer die Straßburger Synagoge, die Allegorie des Judentums, gestaltet und damit jenen Zwiespalt sichtbar gemacht, der im Verhältnis der Christen zu den Juden und ihrer Religion von Beginn an angelegt war. Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen; (...) sie sollen mein Volk sein, so will ich ihr Gott sein. (Jer 31,31-33)
Da das Christentum seine Wurzeln in der jüdischen Tradition des Alten Testaments hatte, war es notwendig bestrebt, diese für die eigene, neue Lehre zu adaptieren. Die Erwartung des Neuen Bundes, der mit der Ankunft des Messias anbrechen wird, ist im Alten Testament vielfach bezeugt und bildet jenen zentralen Glaubensinhalt, in dem jüdische und christliche Lehre zugleich übereinstimmen und sich widersprechen. Denn eben diesen Neuen Bund, den die Propheten dem >Hause Israel < verheißen hatten und den die Juden weiterhin erwarteten, sahen die Christen in Tod und Auferstehung Jesu geschlossen. Für sie begründet Christus das Neue Testament, ohne jedoch das Alte zu annullieren. Sein Wort aus der Bergpredigt - »Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen« (Mt 5,17) - war eine stete Mahnung, dass die Grundpfeiler des christlichen Glaubensgebäudes fest in der jüdischen Tradition verankert waren. So konstruierte man in dem Gedanken der Concordia Veteris et Novi Testamenti eine Möglichkeit der Harmonisierung von alttestamentlichem Judentum und dem Christentum des Neuen Bundes: Beide stehen auf verschiedenen Stufen der Of-
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fenbarung, sie sind nicht Konkurrenten, sondern zwei Glieder einer höheren Einheit. Diese Einheit zu erfassen war Ziel der Typologie, jener hermeneutischen Methode, die im christlichen Mittelalter sowohl der Schriftdeutung als auch der Deutung der gesamten Heilsgeschichte zugrunde lag. Während die alttestamentliche Person oder Begebenheit, der >TypusAntitypus< ans Licht. Insofern war die jüdische Religion positiv in das christliche Weltbild integriert und erfüllte dort eine wichtige Funktion: Sie repräsentierte die Ära sub lege im Zeichen des mosaischen Gesetzes, die durch das komplexe typologische Bezugssystem aus Hunderten von Typen und Antitypen als geschichtliche Epoche für die christliche Lehre fruchtbar gemacht werden konnte. »Unentbehrlich« für die Konstruktion einer versöhnlichen Einheit zwischen Altem und Neuem Bund war jedoch »das Moment der Zeit, einer geteilten Zeit mit einer Wende in der Zeitenmitte: vor Christus, in Christus, nach Christus«;1 immer setzte Typologie »in der Zeit Getrenntes in den Sinnbezug der Steigerung«.2 Judentum und Christentum folgten aus- und aufeinander, die jüngere Religion ging aus der älteren hervor und hob diese - wie das Neue das Alte Testament - in sich auf zu einer höheren Existenz. So musste jedoch die Integrationsfähigkeit der typologischen (Heils-)Geschichtsbetrachtung dort an ihre Grenzen stoßen, wo die Auseinandersetzung mit dem Judentum nicht auf die apologetische Betrachtung des Alten Testaments beschränkt blieb, denn ein Judentum sub lege war in einem linearen, christozentrischen Weltlauf lediglich vor der Geburt des Messias und Gottessohnes zeitgemäß. Im Mittelalter aber - nach der Erlösungstat - erschien ein gläubiger Jude als ein Anachronismus, der im christlichen Weltbild nur schwer zu akzeptieren war: Wo das Judentum als zeitgenössische Religion gelebt wurde, bildete es eine Opposition zur christlichen Autorität und dem wachsenden Absolutheitsanspruch der Kirche und bedeutete so eine stete Provokation, denn indem die Juden die Messianität Jesu von Nazareth bestritten, negierten sie die Grundfeste des Christentums. Die Juden erschienen >blind< für die christliche Wahrheit, eine Blindheit, für die man - kaum erstaunlich - schon im Alten Testament Anknüpfungspunkte fand: Als Moses, nachdem er von Gott die Gesetzestafeln empfangen hat, vom Berg Sinai wieder herabsteigt, muss er sein Haupt verhüllen, da das Volk Israel die Verklärung auf seinem Gesicht nicht ertragen kann (Ex 34). Die so durch Moses verhüllte göttliche Wahrheit enthüllt Christus durch seine Ankunft im Neuen Testament, so dass sie für christliche Augen sichtbar wird, während die
Friedrich Ohly, Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung, in: Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch, hg. von Paul Wilpert/Willehad Paul Eckert, Berlin 1966 (Miscellanea Mediaevalia 4), S. 350-369, wiederabgedr. in: ders., Schritten zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 312-327, hier S. 315. Ohly[Anm. 1], S. 321.
Ecclesia und Synagoge
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Juden in ihrer Blindheit, im Dunkel des Unglaubens, verharren müssen. Im Sinne der Concordia hatte die Blindheit insofern eine versöhnliche Note, als sie überwindbar blieb: Der Jüngste Tag würde auch für jüdische Augen den Schleier lüften, damit sie in Jesus den Messias erkennen. Im Diesseits jedoch sah sich die christliche Theologie - getragen von dem ihr eigenen Missionierungswillen - vorerst der Aufgabe gegenüber, in zahlreichen so genannten Adversus-Judaeos-Schnfren die jüdischen Einwände gegen die christliche Lehre zu widerlegen und so für wankelmütige Christen wie für bekehrungswillige Juden unschädlich zu machen. Zunehmend geschah dies jedoch durch eine Propaganda contra Judaeos, die weniger auf Bekehrung zielte, sondern vielmehr mit religiösen >Argumenten< in der Tradition der Kirchenväter die jüdische Minderheit als verstockte Teufelskinder, Mörder der Propheten und >Gottesmörder< verdammte, sie unglaubwürdig machte und ausgrenzte. Dabei boten - bei allem theologischen Engagement - nicht selten auch wirtschaftliche, soziale und politische Beweggründe den Anlass für solche Angriffe, die Rachegefühle unter den Christen zu wecken und so die Motivation für Pogrome von katastrophalem Ausmaß zu liefern vermochten. Von Erniedrigung und Teufelskindschaft ist im Bild der Straßburger Synagoge freilich nichts zu spüren. Doch Synagoge und Ecclesia als zwei Allegorien, die sowohl das harmonische Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament, als auch jenes zwischen Juden und Christen in biblischer und gegenwärtiger Zeit verkörperten, die in theologischer Literatur, Bildkunst und schließlich im Geistlichen Spiel das gesamte Mittelalter über präsent waren, mussten notwendig Reflexe all dieser Faktoren in sich tragen und sowohl an dem Gedanken der heilsgeschichtlichen Eintracht, als auch an der erbitterten theologischen Gegnerschaft und den sozialen Konflikten Anteil haben.3
Die Geburt der Allegorien aus Bibel und theologischer Literatur Wie die typologische Exegese den einzelnen Personen und Begebenheiten des Neuen Testaments alttestamentliche Präfigurationen an die Seite stellte, um ihre heilsgeschichtliche Bedeutung zu unterstreichen und dem Alten Testament eine Funktion innerhalb des göttlichen Heilsplanes zu geben, so wird in der Zeit der Kirchenväter »auch die Kirche - als Idee, Institution oder Architektur - mit Typen bedacht«.4 Der Ecclesia, als Personifikation der christlichen Gemeinde im Neuen Testament, wird eine Allegorie an die Seite gestellt, die den Alten Bund, Zur Geschichte des Motivs in theologischer Literatur, Liturgie, Bildkunst und Geistlichem Spiel - auch im Zusammenhang mit dem Thema mittelalterlicher Judenfeindschaft - vgl. Paul Weber, Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst in ihrem Verhältnis erläutert an einer Ikonographie der Kirche und Synagoge, Stuttgart 1894; sowie mit umfassendem Bildmaterial Wolfgang Seiferth, Synagoge und Kirche im Mittelalter, München 1964. Peter Bloch, Typologische Kunst, in: Lex et sacramentum im Mittelalter, hg. von Paul Wilpert, Berlin 1969 (Miscellanea Mediaevalia 6), S. 127-142, hier S. 130.
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die heilsgeschichtliche Größe des Judentums und auch seine einzelnen - biblischen wie zeitgenössischen - Vertreter verkörpern konnte. Ansatzpunkte zur Ausformung einer solchen Figur boten die Prophezeiungen und Klagelieder des Jeremia mit der >Königin Jerusalem^ die nach langer Herrschaft über ein glanzvolles Reich nun ihre Macht verloren hat. Unter dem Namen Synagoge ist sie im Mittelalter als Schwester und Gegenspielerin der Ecclesia in den christlichen Motivbestand eingegangen. Der theologische Zwiespalt, in dem sich die mittelalterliche Christenheit in ihrem Verhältnis zum Judentum befand, spiegelt sich auch in dieser Figur: Einerseits ist die Synagoge die Erwählte Gottes, welcher der Prophet Sacharja die verheißungsvollen Worte zuruft: »Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir [...]!« (Sach 9,9), andererseits bezichtigen dieselben heiligen Schriften sie der Sünde, der Unkeuschheit und des Unglaubens: Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war! Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Heiden; und die eine Königin in den Landern war, muss nun dienen. (...) Jerusalem hat sich versündigt; darum muss sie sein wie ein unrein Weib. Alle, die sie ehrten, verschmähen sie jetzt, weil sie ihre Blöße sehen; sie aber seufzet und hat sich abgewendet. (Klgl l,l-2 und 8)
Ihr Machtverlust wird interpretiert als Folge ihrer Gottesferne, und die Finsternis der Augen - christlich gedeutet als die jüdische Blindheit - ist Strafe für begangene Sünden: Die Krone unsere Hauptes ist abgefallen. O weh, dass wir so gesündigt haben! Darum ist auch unser Herz betrübt, und unsre Augen sind finster geworden [...]. (Klgl 5,16-18)
In ihrer Verblendung erkennt sie den göttlichen Heilsplan nicht, so dass im Neuen Testament schließlich Christus selbst sie bezichtigt, Schuld an der Ermordung der Propheten und des Erlösers auf sich geladen zu haben (Mt 23,37), und der in der Offenbarung noch bildhaft verwendete Terminus der >Synagoge des Satans< (Offb 2,9f. und 3,8f.) wird im Mittelalter folgenschwer zur wörtlich verstandenen, biblisch autorisierten Kennzeichnung der dem Teufel geweihten Juden und der Synagoge. Somit war die >Königin Jerusalem< zugleich Typus und Rivalin der Ecclesia, die als >Braut Christk allegorisch die Christenheit vertrat. Die aus dem Epheserbrief hergeleitete Idee der liebenden Vereinigung Jesu mit seiner Kirche (Eph 5,25) wurde typologisch bekräftigt durch die Deutung des Hohenliedes, das bereits die jüdische Exegese als Sinnbild der Liebe Gottes zum Volk Israel interpretiert hatte.5 Als Symbol des Neuen Bundes, durch den Gott die Menschen von der Erbsünde befreit, findet die Ecclesia ihre Präfiguration zudem in Eva, der Mutter der Erbschuld: Wie Eva aus der Rippe Adams >geboren< wird, bringt die Seitenwunde Christi, des meuen Adarm, die christliche Kirche hervor: Durch sein Blut legitimiert der Gekreuzigte ihre Herrschaft, und sie ist es, zu deren Seiferth [Anm. 3], S. 52.
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Gunsten er die Synagoge - als seine Mutter oder als die erste, ungeliebte Braut verlässt oder gar verstößt. Zwar bilden sich die Allegorien Synagoge und Ecclesia in den Schriften der Kirchenväter als zwei gleichermaßen königliche Frauengestalten aus, doch werden sie charakterisiert durch die wertend polarisierenden Gegensatzpaare von Licht und Dunkel, Liebe und Verstoßenheit, glorreicher Herrschaft und schmachvollem Machtverlust, Keuschheit und Verdorbenheit, Erkenntnis und Verblendung, Schönheit und Hässlichkeit. Obschon also die frühe christliche Theologie die grundsätzliche Beteiligung des Judentums am Heilsgeschehen nicht in Frage stellte, so rückt doch die Darstellung der Synagoge als eine nicht nur historisch, sondern auch zeitgenössisch konkurrierende »Negation der Ekklesia«6 die ausschließlich versöhnlichen Aspekte zugunsten des Antagonismus schon früh in den Hintergrund. Während Ecclesia das gesamte Mittelalter hindurch die allegorische Königin des Christentums blieb und an Macht und Glanz hinzugewann, unterlag die Darstellung der Synagoge in den folgenden Jahrhunderten einem stärkeren Wandel, der weitgehend dem sich stetig verschlechternden Verhältnis der christlichen Gemeinschaft zur jüdischen Minderheit entsprach. Beispielhaft sollen hier die polemischen Worte des Erzbischofs Agobard von Lyon stehen, der bereits im 9. Jahrhundert - wenn auch für seine Zeit noch nicht repräsentativ - ein feindseliges Bild der Synagoge zeichnet, das für typologische Versöhnlichkeit keinen Raum lässt: Es erscheint unseres Glaubens unwürdig und ist diesem sogar von Schaden, daß [...] die Kirche, die sich fleckenlos und ohne Fehl für die Umarmung des göttlichen Geliebten vorbereiten soll, sich durch Gemeinschaft mit der schändlichen, häßlichen und verworfenen Synagoge selbst schändet. Und es ist sinnwidrig, daß die keusche Jungfrau, die Verlobte Christi, jene Hure um Brot bitten soll [...].
Synagoge und Ecclesia in der mittelalterlichen Bildkunst Als die allegorischen Figuren Synagoge und Ecclesia im 9. Jahrhundert zum ersten Mal als Personifikationen von Altem und Neuem Bund, von Judentum und Christentum, in der Bildkunst Gestalt annehmen, sind sowohl der versöhnliche Gedanke der Concordia Veteris et Novi Testament! als auch die Stereotypen religiöser Judenfeindschaft in der theologischen Literatur bereits ausgeformt. Das widerspruchsvolle Bild der Synagoge als die geliebte Tochter Zion und gleichzeitig als die verworfene, ungläubige >Synagoge des Satans< zieht eine ent* Bloch [Anm. 4], S. 131. Zitiert nach Seiferth [Anm. 3], S. 94. Agobard wendet sich gegen die judenfreundliche Haltung des karolingischen Hofes. Dass diese Feindseligkeit zu jener Zeit die Ausnahme war, zeigt seine Angst vor den >Gefahren< des engen Kontakts zwischen Juden und Christen. Gerade sie belegt, dass ein solcher Austausch in seiner Umgebung existierte; vgl. Willehad Paul Eckert, Agobard von Lyon, LexMA l, Sp. 216-217.
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sprechend vielschichtige Ikonographie der Figur nach sich, und so ist jede bildliche Darstellung, die sie an die Seite der Ecclesia stellt, daraufhin zu befragen, wie der Künstler das Verhältnis zwischen beiden durch die gezielte Auswahl von Attributen und Darstellungskontext akzentuiert hat.8 Die ältesten Darstellungen des Motivs, karolingische Elfenbeintafeln aus dem 9. Jahrhundert, fuhren die allegorischen Königinnen unter dem Kreuz zusammen und etablieren damit den Bildkontext, in dem Synagoge und Ecclesia unter stets sich wandernden Vorzeichen immer wieder aufeinandertreffen werden. In diesen frühen Bildwerken unterscheiden sich beide äußerlich kaum. In antik geschnittene, den Kopf bedeckende Gewänder gehüllt, treten sie von beiden Seiten unter das Kreuz. Ecclesia, zur Rechten des Gekreuzigten, empfängt mit dem Kelch das Blut der Seitenwunde Christi und schöpft daraus ihre Herrschaftslegitimation, Synagoge zu seiner Linken trägt den Erdkreis oder eine kurze Fahne als Zeichen ihrer Macht; Kirchenmodell und ein Mauemimbus als Sinnbild der Stadt Jerusalem können zur unparteiischen Unterscheidung von Ecclesia und der >Königm Jerusalerm dienen. Die Rollenverteilung beider deutet sich lediglich gestisch an: Auf einer Elfenbeintafel des Bamberger Domschatzes, entstanden um 870 in einer Metzer Werkstatt, tritt Ecclesia an die thronende Synagoge heran und greift nach dem Erdenrund in der Hand der königlichen Vorgängerin, die der christlichen Kirche die Herrschaft abtreten muss. Auf einer zweiten Tafel aus Metz (um 900) weist sie auf die Stirn der Synagoge zum Zeichen, dass das Kreuzeszeichen der Taufe das jüdische Ritual der körperlichen Beschneidung abgelöst hat (vgl. Abb. 2). Diese frühen Darstellungen sind - obschon der Streit bereits anklingt frei von Polemik gegen die Synagoge: Der Herrschaftswechsel vollzieht sich »ohne Triumph und Demütigung« und verbildlicht eine »rein geistige Auseinandersetzung der christlichen Theologen mit dem Judentum«.9 Mit der Verbreitung des Motivs, die seit dem Beginn der Kreuzzüge von einer zunehmend aggressiven, polemischen Propaganda gegen die Juden begleitet war, weitete sich der Attributbestand aus und differenzierte beide Gestalten stärker voneinander. Öfter erscheint nun allein Ecclesia als gekrönte Königin, gekleidet in einen Herrschermantel, mit Kreuzstab, Kelch und Nimbus, während Synagoge ihre Hoheitszeichen verliert. Ihr Kleid ist im Gegensatz zum majestätischen Erscheinungsbild ihrer Gegnerin schlichter, zuweilen »bis zur teilweisen Nacktheit dürftig«.10 Die Synagoge ist nun die Besiegte, ihr Banner ist zerbrochen und die Krone fällt von ihrem Kopf. Als Zeichen des Alten Bundes trägt sie die Gesetzestafeln, die ihr jedoch aus der Hand gleiten, und den Bockskopf, der - ursprünglich Sinnbild des alttestamentlichen Brandopfers - zunehmend auch für das Laster der Unkeuschheit steht. 8
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Zur Darstellung von Synagoge und Ecclesia in der Bildkunst vgl. Weber [Anm. 3]; Seiferth [Anm. 3]; Alexander Sand/Dirk Kocks/Klaus Wessel, Ecclesia und Synagoge, LexMA III, Sp. 1536-1538; Wolfgang Greisenegger, Ecclesia und Synagoge, LCII, Sp. 562-578. Natascha Bremer, Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters, Frankfurt a.M. 1986, S. 172. Greisenegger [Anm. 8], Sp. 571.
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Seit dem 12. Jahrhundert wird die Blindheit wichtigstes Attribut der Synagoge, doch mit sehr verschieden gesetzten Akzenten. Wo ihre Augen lediglich verdeckt sind, entweder von ihrem eigenen Kopfputz, dem Bildrand, einer ThoraRolle oder aber von einem Augenschleier, ist die Möglichkeit einer späteren Offenbarung grundsätzlich eingeschlossen - zuweilen angedeutet mit einer durchsichtigen Augenbinde oder gar durch Christus, der den Schleier hebt (vgl. Abb. 3). Die Blendung durch den Teufel dagegen, welcher der Synagoge einen Pfeil ins Auge schießt, ist endgültig: Hier ist sie die Unbekehrbare, die der ewigen Verdammnis anheimfallen muss (vgl. Abb. 4). So steht die Synagoge der Ecclesia seit dem Hochmittelalter vor allem als Feindin gegenüber, gekennzeichnet als Ungläubige, Teufelsverbündete und - durch Beigabe der Marterwerkzeuge, wie Lanze, Essigschwamm und Dornenkrone - auch als Mörderin Christi. Gestisch spitzt sich in einigen Darstellungen der Konflikt zu ihrem Nachteil zu, indem Engel und Teufel in den Streit eingreifen oder gar Christus selbst die Synagoge verstößt, die gegen ihre Entmachtung und damit - ihren eigenen Unglauben entlarvend - gegen den göttlichen Heilsplan aufbegehrt. Während der Wandel von der ehrwürdigen Vorgängerin der Ecclesia zur Verworfenen, zur Feindin Christi, typisch für die Synagoge-Darstellungen seit dem 12. und 13. Jahrhundert ist und der wachsenden Feindseligkeit der christlichen Gesellschaft gegenüber den Juden entspricht, repräsentieren die großen Portalplastiken des Figurenpaares in Straßburg (vgl. Abb. 1) und Bamberg (vgl. Abb. 5) - beide entstanden um 1230/40 - den Gegenentwurf. Die gotischen Figurenportale waren eingebunden in die Gesamtkonzeption des Sakralbaus als Himmlisches Jerusalem, die dem Gebäude der Heilsgeschichte architektonisch Ausdruck verlieh;" ihre Figurenkonstellationen setzen das typologische Beziehungsgeflecht zwischen Altem und Neuem Testament - und damit den Concordia-Gedanken - ins Bild. Zwar zeigt auch die gotische Kathedralplastik die Synagoge klar als Unterlegene: Ihre zerbrochene Lanze und die verbundenen Augen deuten darauf hin, dass sie an der göttlichen Offenbarung (noch) keinen Anteil hat. Doch ist die Bamberger wie auch die Straßburger Figur in ihrem Gewand, ihrer Gestalt und in ihrer Schönheit der Ecclesia ebenbürtig. Beide sind frei »von der Häßlichkeit und Gehässigkeit anderer Synagoge-Darstellungen dieser Zeit«12 und verkörpern neben der heilsgeschichtlich aufgehobenen Größe des Alten Bundes zugleich die irdische Schwäche der verblendeten Menschheit, die nur durch den Sieg Jesu Christi - repräsentiert in der Ecclesia triumphans das Geheimnis Gottes zu erkennen und dadurch die Erlösung zu erlangen vermag. »Die mittelalterliche Bauplastik ist mehr als nur künstlerischer Schmuck [...]. Die Gesamtheit der Bilder eines mittelalterlichen Sakralbaus unterstreicht dessen Symbolik als [...] Gottesstadt und bietet zugleich eine mehr oder weniger ausführliche Darstellung des christlichen Lehrgebäudes.« Adolf Reinle, Bauplastik, I. Westen, LexMA I, Sp. 1671-1677. Vgl. auch Günther Binding/Klaus Wessel, Architektursymbolik, ebd., Sp. 902-905; Friedrich Ohly, Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena, in: Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung des Universität Münster, Berlin 1972 (Frühmittelalterstudien 6), S. 94-158, wiederabgedr. in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 171-273. Bremer [Anm. 9], S. 175.
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Entscheidend für die positive oder negative Zeichnung der Synagoge kann demnach auch der Darstellungskontext sein, in dem sich das Allegorienpaar gegenübersteht. Wo die Bildkunst die beiden Gestalten in einem typologischen Gesamtkonzept als Stufen der Heilsgeschichte begreift, muss die positive Bedeutung der Synagoge als Repräsentantin des Alten Bundes berücksichtigt werden. Am Straßburger Münster etwa erscheinen Synagoge und Ecclesia als die streitenden Frauen vor dem Thron Salomonis, der das Gericht Gottes am Jüngsten Tag präfiguriert, am Fürstenportal des Bamberger Doms standen sie zu beiden Seiten von dessen antitypischer Erfüllung, dem Weltgericht. In beiden Fällen sind die Figuren also in einen Rahmen gestellt, der die Abfolge und Untrennbarkeit von Altem und Neuem Bund, von Typus und Antitypus hervorhebt; der Antagonismus zwischen Judentum und Christentum tritt hinter allgemeinere Aspekte wie Glauben und Unglauben, Erleuchtung und Verblendung, Erlösung und Verdammnis zurück. Auch dort, wo Ecclesia und Synagoge - wie am Triangelportal des Erfurter Doms oder in der Vorhalle des Freiburger Münsters - als Anführerinnen der Klugen und Törichten Jungfrauen auftreten, stehen sie durch den Hinweis auf die Wiederkehr des Bräutigams Christus am Jüngsten Tag letztlich in einem heilsgeschichtlichen Kontext. Wo aber die Allegorien aus dem typologischen Bezugsrahmen herausgelöst werden, verdrängt der historische Konflikt zwischen Christen und Juden die Synagoge nur allzu oft »auf das Niveau zeitgenössischer Geschichte, wo ihr das Schicksal des mittelalterlichen Judentums auferlegt wird«,13 wie am Beispiel zweier Fenstermedaillons des Freiburger Münsters deutlich wird: Hier reitet die Synagoge im gelben Kleid der mittelalterlichen Jüdinnen mit gebrochener Lanze auf einem Esel der Ecclesia entgegen, deren triumphierendem Kelch sie den Bockskopf als Zeichen ihrer Verworfenheit entgegenstreckt (vgl. Abb. 6). An anderer Stelle trägt sie den blaubesetzten Schleier, der den Jüdinnen vorgeschrieben war, oder den >JudenfleckBeweis< anhand eines Prophetenzitates und eine erneute Bekehrungsaufforderung bzw. die Klage über die jüdische Verstocktheit und die drohende Verdammnis.30 Beinahe all diese Lehrsätze und Zitate lassen sich jedoch auf die Grundaussage zurückführen, dass der im Alten Testament angekündigte Retter aus dem Geschlechte Davids in Jesus Christus in die Welt gekommen ist, um sie zu erlösen, und dass sein Volk Israel - nicht bereit, ihn zu empfangen - ihm den Tod bereitet hat. Dieser immer neu variierte Aussagekem wird ergänzt durch die Lehren von der menschlich-göttlichen Natur Christi, der Jungfrauengeburt und der Trinität Gottes, die jedoch nicht streng nacheinander, sondern stückweise und ineinander verflochten vorgetragen werden. Nur wenige der von Ecclesia scheinbar zitierten Prophetenstellen sind in der Bibel nachweisbar, ein noch kleinerer Teil ist in genauer Übersetzung wiedergegeben. Andere sind lediglich als »Bruchstücke übernommen und ausgedeutet worden« oder entstammen überhaupt nicht dem Alten Testament,31 sie scheinen dem jeweiligen Prophetennamen mehr oder weniger willkürlich zugeordnet worden zu sein. In einigen dieser vorgeblich alttestamentlichen Textstellen vermischt Ecclesia großzügig Typus und Antitypus, biblische und außerbiblische christliche Vorstellungen, so etwa im Falle des vorgeblich von Habakuk geweissagten Umstandes, der Erlöser solle zusehen zweyn tyern geborn werden, das eyn eyn esel, das ander eyn rynt [...] (AP, w. 4860ff), oder in der angeblichen Prophezeiung Daniels, dass beyde Heyden, Cristen undJudden dem Heiland zu dienen hätten (AP, w. 4775f.). Eine explizite Verbindung von Ochs und Esel mit der Geburt des Messias besteht in der Bibel nicht, sie ist vielmehr Ergebnis der typologischen Auslegung von Jesaja l ,3: »Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn [...]«. Die hier genannte Krippe identifizierte man mit jener im Stall von Bethlehem (Lk 2,7).32 Dass im zweiten Falle die Formel 30
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Wenzel [Anm. 27], S. 164, spricht von einem »festen Muster, das an die Regeln scholastischer Streitgespräche erinnert«. Diese Redestruktur scheint mir jedoch allenfalls ansatzweise eingehalten worden zu sein, die Argumentation der Ecclesia unterliegt keiner strengen Systematik. Wenzel [Anm. 27], S. 165f; hier sind auch entsprechende Belege zusammengetragen. Dass der Vers Hab 3,2 (in der lat. Vulgata mit dem Wortlaut: Domine opus tuum in media annorum vivifica illud in media annorum notum fades) im Mittelalter als Hinweis auf die Anwesenheit von Ochs und Esel bei der Geburt Jesu gelten konnte, liegt an einem Überset-
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Heyden, Cristen undJudden im Alten Testament anachronistisch wäre und daher dort nicht auftauchen kann, bedarf keiner Erläuterung. Ecclesias Beweise erscheinen also nicht als präzise, nachprüfbare Bausteine einer objektiv unanfechtbaren Argumentation, sondern werden wie Mosaiksteinchen aus dem Bilderreichtum typologischer Exegese zu einem Kaleidoskop vertrauter christlicher Tatsachen zusammengesetzt. Dieses Vorgehen mag allein dem nachlässigen Umgang des Bearbeiters in der Zuordnung von >Zitat< und Urheber zuzuschreiben sein, entspricht aber auch Ecclesias Zielsetzung: Nicht die Richtigkeit einzelner Dogmen, sondern die Wahrheit des Christentums in seiner Gesamtheit soll an dieser strategischen Stelle von der Passionsspielbühne leuchten. Ist es Ecclesias Anliegen, die Messianität Jesu Christi als wahr zu bestätigen, so bemüht sich Sinagoga vornehmlich um die Negierung der nuwen lere. Dazu sind ihm - wie der Donaueschinger Judea - Argumente in den Mund gelegt, die deutlich an die bekannten jüdischen Einwände gegen die christliche Lehre erinnern: Er beruft sich auf den einen Schöpfergott, der laupp und graß geschaffen hot (AP, w. 4759f.), wiederholt auf den Messias, den die Juden weiterhin erwarten wollen (AP, w. 4956/5099) und - als mittelalterlicher Jude - auch auf den talmuth (AP, v. 4918). Die Jungfrauengeburt lehnt er mit der ironischen Frage nu wie macht er gelingen, sie enwere des gewisße eyn \vypp? (AP, w. 4753ff.) als schlechthin unmöglich ab, die Trinitätslehre weist er mit dem Vorwurf des Polytheismus zurück und beruft sich auf den alleinigen Gott, wobei der zitierte Vers (Deut 6,4) tatsächlich den Büchern Mose entstammt und zu jenen Belegstellen gehört, die von jüdischer Seite zur Bekräftigung des reinen Monotheismus angeführt wurden: Moyses in unßern buchern beschribben hot: »Höre, Israhel, mynen raid: dyn gott ist eyn gott!« das duncket uns groisßen spot, das eyner mögen dry synl [...] (du} nymmest dich nu an und wylt dry godde han! (AP, w. 5126-5135)
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Moses hat in unseren heiligen Büchern geschrieben: »Höre, Israel, was ich dir sage: dein Gott ist ein Gott!« das scheint uns ein großer Hohn, dass drei dieser eine sein könnten! [...] (du) schickst dich nun an und willst drei Götter haben!
zungsfehler. Die griechische Septuaginta-Übersetzung formuliert hier »zwischen zwei Tieren wirst du erkannt«. Von diesen »zwei Tieren« zog man die Verbindung zu Ochs und Esel in Jes 1,3 und damit zum Typus der Geburt Christi; entsprechend bezieht sich das apokryphe Evangelium des Pseudo-Matthäus bei der Schilderung der Geburt auf diesen Habakuk-Vers in der griech. Fassung. Vgl. Pia Wilhelm, Geburt Christi, LCI II, Sp. 86-120, hier Sp. 89. - Ecclesias >Zitat< geht jedoch in jedem Fall über den Wortlaut der Bibel-Obersetzungen hinaus: Ihre angebliche Habakuk-Stelle identifiziert die beiden »Tiere« explizit mit Ochs und Esel und lässt sie zu beiden Seiten des neugeborenen Messias (Lk 2,7) stehen. So verwischt sie die Grenze zwischen alttestamentlichem Vers und typologischer Exegese und weicht damit klar von der für Juden und Christen gemeinsam akzeptierten Grundlage des Alten Testaments ab. Vgl. Blumenkranz [Anm. 25].
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Dabei zeugt seine Polemik gegen das Konstrukt der Dreifaltigkeit durchaus von pointiertem Witz: eyn schoppe, eyn wamsch und eyn tröge ist auch dryerley, auch wenn man versuche, die drei Kleidungsstücke als e i n Gewand auszugeben (AP, w. 5138ff). Sinagoga streitet ab, dass Gott selbst Mensch werden könne und kommen uffdisße erden und Davidis stule besiczen (AP, w. 4906ff.) - wiederum konform mit der jüdischen Theologie, in deren Verständnis der Gesalbte kein Gott, sondern ein Mensch von natürlicher Geburt sein sollte. Ecclesias so genannter Gottessohn Jesus ist für Sinagoga daher ein trogenere (AP, v. 5051): •were der man got gewest, ßo mocht er wol blibben syn yn syme nest und hätte sich nicht solcher Demütigung ausgeliefert (AP, w. 5049f.) - ein Hinweis darauf, dass die Marter, Erniedrigung und schließlich der Kreuzestod des Messias oder gar des allmächtigen Gottes selbst für die Juden unvorstellbar war. Da der Bearbeiter des Spiels offenbar versucht hat, Sinagogas Position mit wenn auch stereotypen - Spuren authentisch jüdischer Einwände auszustatten, liegt es nicht allzu fern, den Vorwurf, Ecclesia werfe eyn blat her, das ander hen [...}: uß eym wort machet sie nun (AP, w. 5261ff.), als die jüdische Kritik an der typologischen Exegese zu interpretieren, die »überall Christuszeugnisse wittere und dabei den Sinn der Bibeltexte vergewaltige«34 und auch so weit ging, dass sie »in der Bibel Unausgesagtes aussagte]«.35 Auch könnte dann Sinagogas Empfehlung, Ecclesia müsse ihre bucher baß uberleßen, um ihren Sinn zu verstehen (AP, v. 4749), Reflex der konkurrierenden exegetischen Ansätze, oder spezieller - der jüdischen Zweifel an der Authentizität christlich-lateinischer Bibelübersetzungen sein. Bei aller Aufmerksamkeit für den theologischen Schlagabtausch ist besonders der rauhe Umgangston charakteristisch für die Alsfelder Disputation: Sinagoga nennt Ecclesia polemisch eine alle zarge (»alte Schachtel«, AP, v. 4725), verhöhnt ihre Rede als unnützes weschen (AP, v. 4531), snippen, snappen (AP, v. 4536) und plippenplappen (AP, v. 4909) und droht sogar mit Handgreiflichkeiten, während Ecclesia, gerüstet mit den etablierten judenfeindlichen Stereotypen der Blindheit, Taubheit und Teufelskindschaft, ihren Gegner in »kirchlich sanktioniertem] Sprachgebrauch« mit Hunden vergleicht, die vor Unglauben stinken,36 und Sinagogas Drohungen mit dem Hinweis auf die Höllenstrafe theologisch verbürgt zu parieren weiß. Verunglimpfungen als boßewicht (AP, w. 4664/4682), als Rechtsfalscher (AP, w. 4741/5244), Vorwürfe des Hochmuts (AP, w. 4789/4902) und der Falschheit (AP, w. 4617/4991), wie auch sinngemäß die Forderung, der jeweilige Gegenspieler solle im Rauchfang aufgehängt werden (AP, w. 4845/4694), tauchen hingegen in der Argumentation beider Seiten auf. Und mit der Titulierung Ecclesias als aide geuckelern (AP, v. 4577), korrespondierend mit dem Vorwurf, Jesus sei ein trogenere und ein Zauberer, greift auch Sinagoga eine jüdische antichristliche Tradition auf, die schon frühe Quellen im Rahmen von parodistischen Jesus-Viten überliefern.37 34 33 36 37
Blumenkranz [Anm. 25], S. 136. Ohly [Anm. 1], S. 323. Wenzel [Anm. 27], S. 158ff. »Seit dem Frühmittelalter existierten in Gestalt der Toledot-Jeschu-Literatur, die in zahlreichen hebräischen Versionen auf uns gekommen ist, satirisch-polemische Erzählungen vom
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Dass der Bearbeiter des >Alsfelder Passionsspiels< den Sinagoga zum Teil mit tatsächlichen jüdischen Argumenten streiten lässt, bedeutet jedoch nicht, dass diese Figur der Ecclesia ein ebenbürtiger Gegner wäre. Ecclesia bleibt mit ihren durchweg längeren Redebeiträgen in der gesamten Disputation bestimmend, während Sinagogas Rolle vornehmlich in der Demonstration von Ablehnung gegen den christlichen Standpunkt besteht. Neben zweifellos vorhandenen sinnvollen Einwänden spöttelt er stellenweise wortklauberisch und ohne anti-christliche Schlagkraft, etwa wenn er bemängelt, dass Daniel wohl kaum bei Nacht ein Gesicht gesehen haben könne, da die Nacht doch jynster ubber alle sei (AP v. 4805), und wenn er die Präfiguration der verschlossenen Pforte, durch die allein der Messias hindurchgehen kann, mit der Begründung verwirft, dass, sal hie aber erfore gan, ßo muß die thore uffstan (AP w. 4997f). Hier richtet sich sein Hohn gegen den Wortlaut des Alten Testaments, seiner eigenen heiligen Schrift, wodurch er nicht Ecclesias Argument entschärft, sondern lediglich selbst als inkompetenter Teilnehmer einer theologischen Disputation vorgeführt wird. Nichtsdestotrotz ist deutlich geworden, dass sich Sinagogas Herabwürdigung nicht primär in der Absurdität seiner Argumentationsweise zeigt.38 Nicht die Überzeugungskraft einzelner Beweisgründe entscheidet über Wahr und Falsch, vielmehr ist es - wie im >Donaueschinger Spiel< - auch hier die Perspektive der Rezipienten, die als parteiisch für die Ecclesia vorausgesetzt werden konnte. Schon das ungleiche Maß an Würde und damit an Glaubwürdigkeit, mit dem Sinagoga und Ecclesia auftreten, konnte keine Disputation ebenbürtiger Gegner mit offenem Ausgang erwarten lassen. Da Ecclesia mit den allseits als Wahrheit >gewussten< Heilstatsachen argumentiert, könnten vor einem solcherart voreingenommenen Publikum auch die plausibelsten Gegenbeweise eines Sinagoga keinesfalls dazu dienen, Verständnis für die jüdische Argumentationsstruktur zu wecken, sondern allenfalls dazu, die vorgefertigten Stereotypen der Halsstarrigkeit und Blindheit zu bestätigen. Entsprechend wirkt dort, wo Verunglimpfungen und Polemik den theologischen Streit überlagern und Ecclesia ebenso aggressiv vorgeht wie ihr Kontrahent, ausschließlich Sinagoga beleidigend und respektlos, denn allein Ecclesia hat ob ihres Ranges überhaupt ein Anrecht darauf, Respekt einzufordern. Dass sie dagegen ihren Gegner scharf angreift und - sei es auch nach theologisch sanktioniertem Muster - beleidigt, musste einem judenfeindlich gesinnten Publikum im Sinne der kirchlichen Polemik gegen die Juden als vollauf gerechtfertigt erscheinen. Auch wo ihre Rhetorik objektiv mangelhaft ist und ihre Belege sogar deutlich vom biblischen Wortlaut abweichen, ist Ecclesia glaubwürdiger als ihr Gegenüber; und allein indem sie Sinagoga immer aufs Neue mit der Behauptung konfrontiert, Jesus Christus sei der Messias, kann sie
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Leben Jesu, die als ausgesprochene Unterhaltungsliteratur konzipiert waren. Die JesusGestalt dieser Texte vollbringt mit Hilfe magischer Künste viele Wunder und Zaubereien, indem er etwa durch die Luft fliegt oder auf einem Mühlstein übers Wasser schwimmt.« Hans-Georg von Mutius, Jesus Christus, IV. Judentum, LexMA V, Sp. 364. Vgl. auch Blumenkranz [Anm. 25], S. 142f. Insofern ist die Einschätzung von Wenzel [Anm. 27], S. 163f, dass »allein Synagoga die Rolle eines unfähigen, beleidigenden Gesprächsteilnehmers zugewiesen wird« und dass nur Ecclesia »eine theologische Auseinandersetzung fuhren will, der sich aber Synagoga in ohnmächtigem Zorn und offensichtlicher Hilflosigkeit verweigert«, zu relativieren.
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in seinem zwangsläufigen Widerspruch die jüdische > Verstocktheit sinnfällig machen. Konsequent endet die Szene damit, dass die Juden umb das kalp eyn dancz haben (AP, v. 5259) und damit ihr willentliches Verharren im Unglauben unwiderruflich beweisen. Sinagoga hat gezeigt, dass er den eigenen Propheten - deren Autorität Ecclesia für sich vereinnahmt hat - keinen Glauben schenkt, und so hat er jeden Anspruch verwirkt, am erwarteten Heil beteiligt zu werden. Wo immer die Frage nach dem Verhältnis der Christen zum Judentum in der christlichen Geschichte von den Kirchenvätern bis zum ausgehenden Mittelalter auftauchte, standen stets Synagoge und Ecclesia als Symbolfiguren bereit, um in theologischer Literatur, in der Bildkunst und schließlich auch im Geistlichen Spiel in zahllosen Variationen die sich wandelnden Facetten dieser widerspruchsvollen Beziehung personifizierend einzufangen. Sie verkörperten den »Kampf des Christentums um das Judentum, das heißt: Kampf des Christentums, um sein jüdisches Erbe zu meistern«, zugleich aber veranschaulichten sie auch den »Kampf der Christenheit um und gegen die gegenwärtigen Juden«,39 die man im Sinne des christlichen Absolutheitsanspruches zu bekehren suchte oder dort, wo man sie als unbekehrbar und der Hölle geweiht verurteilte, aus der Gesellschaft und aus ihrer Teilhabe an der gemeinsamen Tradition ausstieß. Während das Motiv in der Bildkunst in seiner Bedeutungsnuancierung notwendig auf die Ebene der Attribute und des Darstellungskontexts beschränkt bleiben muss, kommt im Geistlichen Spiel mit der Argumentationsebene eine zusätzliche Variationsmöglichkeit hinzu. Sowohl Judea im >Donaueschinger Passionsspiek, als auch Sinagoga im >Alsfelder Passionsspiel< stimmen in ihren Beweisgründen mit wirklichen jüdischen Einwänden gegen christliche Dogmen überein. Was die Synagogefigur in beiden Fällen abwertet, ist demnach weniger die Stichhaltigkeit ihrer Argumentation, als eher die beim Publikum vorausgesetzte Rezeptionsperspektive. Indem sie optisch und argumentativ mit den Mördern Christi< auf der Bühne, im >Alsfelder Passionsspiel< gar mit den grotesk agierenden Teufeln, und durch ihr Kostüm zugleich mit den angefeindeten Juden des Mittelalters gleichgesetzt werden, vereinigen Judea und Sinagoga vielschichtige Negativassoziationen auf sich, die ihre persönliche Glaubwürdigkeit stark herabsetzen. Dagegen erscheint die Ecclesia stets mit vertrauten christlichen Symbolen und Farben als Inbegriff von Macht und sakraler Würde, ihre Argumente sind allseits bekannte Heilstatsachen, deren Wahrheitsgehalt vor christlichen Zuschauem in keinem Fall einer logischen Abwägung von Beweis und Gegenbeweis unterliegen konnte. Auf der Passionsspielbühne stehen >die Juden< dem ersehnten Messias gegenüber, und doch können sie, mehr noch wollen sie ihn nicht erkennen - anschaulicher konnte man dem christlichen Publikum ihre angebliche Verstocktheit nicht machen. Während das >Donaueschinger Passionsspiel< mit dem Streit der Königinnen Cristiana und Judea dem in der Bildkunst etablierten Schema des Motivs als Disput zweier Frauengestalten entspricht, ist der Kontrahent der Ecclesia im AisBlumenkranz [Anm. 25], S. 32.
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felder Spiel ein mittelalterlicher Rabbi - der Verfasser scheint hier also das Begriffspaar Synagoge und Ecclesia variabler aufgefasst zu haben. Der freiere Umgang in der Auswahl der dramatis personae, wie ihn übrigens auch das >Künzelsauer Fronleichnamsspiel< mit einem männlichen rector processionis in der Rolle der Ecclesia zeigt, ° macht deutlich, dass die szenische Einheit Synagoge und Ecclesia sich im Geistlichen Spiel offenbar weniger über die Anlehnung an die Ikonographie definiert als vielmehr über ihre Funktion: die Widerlegung des jüdischen Glaubens zum gleichzeitigen Beweis christlicher Heilslehre, die auf der Bühne - anders als in der Bildkunst - vornehmlich argumentativ geleistet werden konnte. Obschon das Verhältnis der mittelalterlichen Christen zum Judentum seine Ambivalenz nie völlig verliert, rückt doch die heilsgeschichtlich gebotene Achtung gegenüber der jüdischen Religion nur allzu oft in den Hintergrund zugunsten von Ressentiments gegen die zeitgenössischen Juden, und die Synagoge wird jeder Möglichkeit beraubt, ihren Standpunkt als eine legitime Position zu verteidigen. Die eingangs beschriebene Synagoge am Doppelportal des Straßburger Münsters, die als die vielleicht berühmteste Darstellung des Motivs gelten kann, repräsentiert dagegen in ihrer edlen Schönheit jene Stimmen, die trotz der Bejahung christlicher Überlegenheit die Eintracht zwischen der Königin Jerusalem und der siegreichen Kirche im Sinne der Concordia nicht vergessen hatten. Doch selbst über das Straßburger Figurenpaar hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein Schatten gelegt - in Gestalt zweier nachträglich hinzugefügter Inschriften, die den Streit der Königinnen verbalisieren sollten. »Mit Christi Blut überwind ich dich«, sagt die Ecclesia, und die besiegte Synagoge antwortet: »Dasselbig Blut verblendet mich«.41 Damit verliert die Ankunft Christi im Neuen Bund für die ihn erwartende Tochter Zion ihre heilsbringende Kraft - als >Synagoge des Satans< wird sie von der Erlösungshoffhung auf ewig ausgeschlossen.
Das Künzelsauer Fronleichnamspiel, hg. von Peter Klaus Liebenow, Berlin 1969 (Ausgaben deutscher Literatur des XV.-XVIII. Jahrhunderts, Drama II). Vgl. Seiferth [Anm. 3], S. 164f. - Diese Inschriften waren auf einem Stich aus dem Jahr 1617 noch lesbar, vgl. Willibald Sauerländer, Ecclesia und Synagoge vom Südquerhaus des Straßburger Münsters (Art. 444), in: Die Zeit der Staufer. Geschichte-Kunst-Kultur. Katalog der Ausstellung, Bd. l, hg. von Reiner Haussherr, Stuttgart 1977, S. 321-323.
II. Anschein kultureller Integration der Juden
RICARDA BAUSCHKE ich w/7 in alter Juden leben mich hinnan fürwert ziehen
Süßkind von Trimberg - Ein jüdischer Autor in der Manessischen Handschrift In die Große Heidelberger (Manessische) Liederhandschrift aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts, die umfangreichste Anthologie mittelhochdeutscher Lyrik, hat eine Reihe von Autoren Aufnahme gefunden, deren Lieder und Sprüche allein in diesem Codex überliefert sind.1 Der Ehrgeiz der Sammler zielte auf vollständige Wiedergabe deutscher Lyrik von ihren Anfangen bis zum unmittelbaren Entstehungszeitpunkt der Handschrift. In ihr bekommen die Liederdichter selbst eine zentrale Rolle zugewiesen: durch das Gestaltungsprinzip, die Texte als Autorcorpora zusammenzustellen und mit einer Miniatur des Dichters einzuleiten, rücken auch die unbekannteren Verfasser in den Blickpunkt und werden, da die Dichteroeuvres in ständischer Hierarchisierung aufeinanderfolgen, zugleich in ihrer sozialen Position angesprochen. Selbst die vielen kleineren Sangspruchdichter, die in der Handschrift versammelt sind, erscheinen aufgrund dieses Verfahrens als Autorpersönlichkeiten. Zugleich markiert die autorbezogene Anordnung der Texte eine biographische Perspektive der Sammler bzw. Hersteller des Codex. Ein schmales Textcorpus von zwölf Strophen verdient dabei besondere Aufmerksamkeit; denn der zugeordnete Autor fällt ganz aus dem Rahmen der sonst aufgenommenen Dichter: er wird angekündigt mit den Worten Sufkint der Jvde von Trimperg? Süßkind ist nicht nur der einzige jüdische Lyriker in der Manessischen Handschrift, er ist der einzige jüdische Autor des deutschen Mittelalters überhaupt, von dem wir Zeugnis besitzen.
Ober Handschrift C grundlegend Gisela Komrumpf, Heidelberger Liederhandschrift Cheiligen< Namen »Alexander«. Die Belege reichen von der Mitte des 12. bis in das 16. Jahrhundert hinein; es existiert also eine ganze Reihe von Trägem dieses Namens.8 Als Spruchdichter ist keiner der Genannten apostrophiert, doch das entspräche nicht den Gepflogenheiten; an derart eindeutigen Indizien mangelt es auch in den meisten Fällen bei den anderen mittelhochdeutschen Dichtern. - Die verschiedenen Juden namens Süßkind sind urkundlich belegt, weil sie in Rechtssituationen auftreten, also z.B. bei einem Hauskauf, einer Schenkung o.a. Sie erscheinen alle als in ihre städtischen Gesellschaften integriert; der spezifische urkundliche Kontext weist sie als besitzend, über größere Geldmittel verfügend aus. Daher kann die Identifizierung einer dieser Personen namens Süßkind mit dem Dichter nur spekulativ anhand von Indizien erfolgen. Aufgrund literarhistorischer Erwägungen lässt sich die Suche nach dem Autor Süßkind von Trimberg indes auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts konzentrieren. Mit Argumenten, die die Stilistik und Motivik der Sprüche betreffen, muss das tradierte Textcorpus in den Zeitraum zwischen 1200 und 1250 datiert werden.9 Zudem weist die Sprache einige mitteldeutsche Eigenarten auf, so dass auch der geographische Raum eingegrenzt werden kann.10 Für die Identifizierung des Autors ist in der Forschung daher an erster Stelle ein Süßkind aus Würzburg ins Gespräch gebracht worden." Urkundliche Belege dieser Person existieren für die Jahre 1218 und 1225 (Judaeo Suzkint nomine bzw. Judaeum Suzkint). Diese Autorspekulation besitzt große Plausibilität. Noch ein anderer Träger gleichen Namens, der urkundlich 1238 in Konstanz vermerkt ist (Verkauf eines Hauses durch den Erzbischof von Trier contra Suzekindum ludeum an das St. Floriansstift) käme als Dichterperson theoretisch in Frage.12 Dass eine weitere Identifizierungshypothese, die eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besitzt, sich auf den Süßkind der Manessischen Handschrift zu beziehen, in der Forschung kaum Berücksichtigung gefunden hat, hängt mit der jüdischen Identität des Dichters zusammen, konkreter mit dem Schicksal jüdischer Gebrauchstexte
Abdruck und Bewertung der Belege samt umfassendem Forschungsbericht bzw. Forschungskritik bei Gerhardt [Anm. S], S. 38-67. Meine nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die von Gerhardt zusammengestellten Informationen. Burghart Wachinger, SQßkind von Trimberg, 2VL IX, Sp. 548-552, mit weiterfuhrenden Literaturangaben; ergänzend Gerhardt [Anm. 5], S. 67-69. Wachinger [Anm. 9], Sp. 550. Dialektale Eigenarten des Mitteldeutschen weist von Kraus an den Reimen der Süßkind-Texte nach: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus, 2 Bde, Tübingen 1952, 2. Auflage, durchgesehen von Gisela Komrumpf, Tübingen 1978, S. 513-516. So zuerst Friedrich Heinrich von der Hagen, Minnesinger, Bd. IV, Leipzig 1851, Nachdruck Aalen 1963, S. 537. Relativierende Überlegungen durch Gerhardt [Anm. 5], hier S. 51. Vgl. Gerhardt [Anm. 5], S. 43.
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im >Dritten Reiche13 Nur durch Viktor Reis, der nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten die Geschichte der Israelitischen Gemeinde in Schlüchtern schriftlich fixierte, erhalten wir Kenntnis von Existenz und Inhalt eines Memorialbuches, in dem von 1235 an Todesdaten und Namen der verstorbenen Gemeindemitglieder festgehalten wurden. Das älteste Memorialbuch ging bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts verloren, die Fortsetzungsbücher jedoch, die alle Namen von 1235 an kopieren und dann im Verzeichnen fortfahren, sind in der >Reichspogromnacht< vernichtet worden. In jenen Büchern soll es einen Eintrag R. Isaac hamchunah Süßkind me Trimberg gegeben haben: »Rabbi Isaac, genannt Süßkind, stammend aus Trimberg«. Seine Erwähnung folgt auf den Eintrag der 34 Opfer des Ritualmordprozesses von Fulda 1235. Da das Judenregal für das Dorf Trimberg und den Raum Schlüchtern die Herzöge von Franken innehatten und diese auch Bischöfe von Würzburg waren, scheint eine Gleichsetzung dieses Süßkind mit dem oben erwähnten Würzburger Süßkind durchaus möglich. Der Dichter wäre allerdings etwas früher literaturhistorisch einzuordnen als bisher geschehen, also noch mehr an den Beginn des 13. Jahrhunderts zu stellen, so dass er in die Nähe zum großen Spruchdichter Walther von der Vogelweide gerückt werden könnte und als Zeitgenosse Reinmars von Zweter erschiene. Aufgrund der besonderen Quellenlage sind konkretere Aussagen jedoch nicht möglich. Die Versuche, Süßkinds jüdische Identität grundsätzlich als reines Konstrukt der Rezeption zu begreifen und damit abzustreiten, resultieren aus dem Bedürfnis, auf den besonderen Umstand zu reagieren, dass ein Jude Aufnahme in das »Königliche Liederbuch« finden konnte.14 Es stellt sich dabei grundsätzlich die Frage, inwiefern Juden an der literarischen Kommunikation partizipierten. Edith Wenzel hat eine Reihe von Hinweisen zusammengetragen, die für ein jüdisches Interesse an mittelhochdeutscher Literatur sprechen:15 aus dem Sefer chassidim des R. Jehuda ben Samuel ergibt sich die Beliebtheit von >Ritterromanzen< bei einem jüdischen Publikum sowie die Rezeption einer in der Mitte des 12. Jahrhunderts verfassten deutschen >Kaiserchronik< als Unterhaltungslektüre für Juden;16 und das mittelhochdeutsche Brautwerbungsepos >Dukus HorantLiteraturbetrieb< sind von dort übernommen, ebd. auch weiterführende Literaturangaben. Helmut Dinse, Die Entwicklung des jiddischen Schrifttums im deutschen Sprachgebiet, Stuttgart 1974, S. 21. Daß ein jüdisches Publikum gerade die >Kaiserchronik< rezipiert haben soll, verwundert aufgrund der judenfeindlichen Perspektive, wie sie vor allem in der Silvester-Legende zum Ausdruck kommt; vgl. hierzu Vera Milde, Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der >Kaiserchronikdolce stil nuovo< zuzurechnen sind; da er in Anlehnung an Dantes >Divina Comedia< zudem eine Jenseitsreise in Hebräisch dichtete, ist er auch eine sprachliche Verbindungsfigur. Mathieu >le juifc, ein jüdischer Trouvere aus Gent (13. Jahrhundert), gibt in seinen Liebesliedem vor, wegen seiner Dame zum Christentum konvertiert zu sein. Der Provenzale Isaac Gorni, ein fahrender Sänger jüdischen Glaubens, verfasst hebräische Texte, die Parallelen zur mittelhochdeutschen Spruchdichtung aufweisen, also auch zu den Lebensbeschreibungen, die Süßkind in seinen Texten liefert. Die jüdische Bevölkerung partizipierte im 13. Jahrhundert damit aktiv an der christlichen Dichtkultur, und zwar als Rezipienten und als Produzenten. Vor diesem Horizont verliert die Aufnahme eines jüdischen Lyrikers in die Heidelberger Liederhandschrift ihren außergewöhnlichen Charakter. Indes handelt es sich hier um einen Variationsfall: ein christliches Publikum rezipiert die Texte eines jüdischen Autors. Dass es sich dabei jedoch nicht um christliches Interesse an jüdischer Literatur handelt, sondern sich vielmehr ein jüdischer Autor auf die literarischen Vorlieben eines christlichen Publikums einlässt, sollen die Textinterpretationen zeigen.
Die zwölf Sangspruchstrophen Das in der Manessischen Handschrift unter Süßkinds Namen überlieferte Textcorpus besteht aus zwölf Spruchstrophen, die inhaltlich und formal mit den Gattungskonventionen der Sangspruchlyrik im Zeitraum von 1200 bis 1250 korrespondieren: In einzelnen Spruchstrophen, die jeweils Sinneinheiten bilden und deren metrischer Bau indiziert, dass die Texte mit einer sangbaren Melodie und instrumentaler Begleitung dem Publikum vorgetragen worden sind, werden traditionelle Themen der Gnomik wie Lebensführung und Didaxe verhandelt.17 Zwar bietet die Manessische Handschrift selbst keine Melodieüberlieferung, doch müssen zu den zwölf Sprüchen Süßkinds - so viel lässt sich aus den metrischen Gegebenheiten ablesen - insgesamt sechs verschiedene Melodien existiert haben. Einzelne Strophen folgen einem >TonHeischemotivikassimiliert< und in der Funktion eines >SprachrohrsWürzburger< Süß-
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Spekulation und verwechseln die Interpretation der Textbedeutung mit der potentiellen Textgenese. Medizinisches Fachwissen ist darüber hinaus nicht notwendig, um eine derartige Strophe zu gestalten. Die jenseitsbezogenen Konsequenzen weltlicher Lebensführung werden in der dritten und letzten Strophe, die dieser ersten Melodie folgt, angesprochen, welche damit gedanklich über die beiden ersten hinausgeht (1,3): Wenne ich gedenke, waz ich was aid waz ich bin aid waz ich werden muoz, so ist alle minfröide da hin, unde wie die tage mins lebendes louffen von mir swinde. unde ist daz nicht einjämer siujzen bernde not, daz ich von tag ze tage muoz furchten den tot, wie er mich bringe in der unreinen wurmen gesinde? wie solt ich da bi vrögesin? so ich daz als betrachte, so hon ich an dem herzen min michel grozzer achte, wie daz min sei dort kumber dol: mit Sünden was mir - e - so wol. almechtig herre, du bist aller gnaden vol: hilf mir, daz min sei dort vor dir gnade vinde. Wenn ich bedenke, was ich war oder was ich bin oder was aus mir wird und wie die Tage meines Lebens mir enteilen, so ist all meine Freude dahin. Und ist das nicht eine traurige Aussicht, die zu Stoßseufzern berechtigt, dass ich jeden Tag den Tod furchten muss, der mich in die Gesellschaft der unreinen Leichenwürmer bringt. Wie soll ich dabei fröhlich sein? Wenn ich das alles bedenke, so ist mein Herz ganz von der Sorge erfüllt, dass meine Seele im Jenseits Schmerzen leidet: sündig, wie ich war, habe ich mich früher so wohl gefühlt. Allmächtiger Gott, du bist voller Gnade: hilf mir, dass meine Seele dort vor dir Erbarmen findet.
Die sangspruchtypische Vergänglichkeitsklage und Erinnerung an das Sterben als Konsequenz jeden Lebens, memento mori, bringt Süßkind in einer besonders drastischen Spielart, für die er zwei Ebenen kombiniert. Die Vorstellung vom Zerfall des Leichnams wird durch das Motiv der Würmer, die den Körper zerfressen, noch verschärft, so dass ein furchterregendes Schreckensbild entsteht; eine christliche Zuversicht ob der im Jenseits zu erwartenden paradiesischen Freuden fehlt gänzlich, damit die Umkehrdidaxe nicht untergraben wird. Zudem erscheint auch die Todesvision hier als persönliche Betroffenheit präsentiert, um dem Publikum eine stärkere Identifizierungsmöglichkeit zu bieten und
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kind zu ziehen, vgl. Isak Münz, Die jüdischen Ärzte im Mittelalter, Frankfurt a.M. 1922, und Samuel Krauss, Geschichte der jüdischen Ärzte vom frühesten Mittelalter bis zur Gleichberechtigung, Wien 1930. Seine plastische Ausgestaltung findet das Vergänglichkeitsmotiv in der mittelalterlichen Allegorie der >Frau Weltmemento moriFrau Welt< weit verbreitet, so z.B. bei Bruder Wernher, vgl. Anm. 32.
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den appellativ-mahnenden Charakter der Aussage zu erhöhen. Eine biographische Implikation setzt dies nicht voraus; auch Walther von der Vogelweide hat in seinem Lied Frö Welt, ir suit dem wirte sagen eine Abkehr von irdischen Freuden als persönliche Konversion formuliert, ohne dass sich biographische Anhaltspunkte ablesen ließen.29 Für die rollenhafte Sangspruchdichtung wäre ein biographisierender Interpretationsansatz ohnehin völlig verfehlt. Dennoch ist in der Forschung vor allem an diese Strophe Süßkinds die Diskussion seiner jüdischen Identität herangetragen worden: Süßkind äußere seine persönliche Angst, was aus ihm, dem Nichtchristen, im christlichen Jenseits werden solle. Die Absurdität der Überlegungen liegt - auch losgelöst von den methodischen Vorbehalten - auf der Hand; denn Süßkind müsste dann eine Perspektive auf seine eigene Religionszugehörigkeit als >falscheverstockterweise< an seinem jüdischen Glauben festhalten.30 Auch als Rede eines Konvertiten, auf die das e (einst) anspielen könnte, ergibt keinen Sinn; denn als Christ dürfte Süßkind ja keinen Zweifel an seiner Errettung aussprechen. Damit erweist sich diese Diskussion als obsolet. Zwar sind für die Eingangsformulierung der ersten drei Verse Parallelen im Talmud gefunden worden,31 doch abgesehen von der Frage, wie ein christliches Publikum solch ein Talmudzitat erkennen sollte, existieren Belege ähnlicher Gedanken bei christlichen Spruchdichtem, an welche die Überlegung, sie verarbeiteten jüdisches Gedankengut, nie herangetragen worden ist. So findet sich bei einem Zeitgenossen Süßkinds, dem Bruder Wemher, der vergleichbare Ausruf: So we myr armen, we, daz ich so rechte weiz, I wan ich quam unde wer ich byn vnde waz ich werden mvze (Weh, ich Armer, dass ich so genau weiß, woher ich kam und was ich bin und was aus mir wird!).32 Dass die Formulierung in Bezug auf Süßkind problematisiert worden ist, in Bezug auf Bruder Wemher aber nicht, zeugt von einer Voreingenommenheit, die das Jüdische als Sonderphänomen exponieren will. Auch wenn dies wertfrei geschieht, handelt es sich um eine Ausgrenzungstendenz. Ein ähnliches Schicksal hat die von ihrer Melodie her isoliert stehende Strophe zur Gedankenfreiheit ereilt (II):
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Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14. völlig neubearb. Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996. Zu Walthers >Frö Welt, ir suit dem wirte sagen< (L 100,24ff) neuerdings Dieter Kartschoke, in: Walther lesen. Festschrift Ursula Schulze, hg. von Volker Mertens und Ulrich Müller, Göppingen 2001 (GAG), S. 147-166. Damit hätte der gängige Topos vom >verstockten Judem, eine Stereotype christlicher Judenfeindschaft, Eingang in die philologische Textbeschreibung gefunden. Vgl. zur Vorstellung jüdischer >Verstocktheit Florian Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters, in diesem Band. Wapnewski [Anm. 14J 1986, S. 122; Wenzel [Anm. 5], S. 290f. Die Sprüche des Bruder Wemher, hg. von Anton Emanuel Schönbach, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Bd. 148 (1904), Nr. 7, Bd. 150 (1905), Nr. 1. Zur Einführung Horst Brunner, Bruder Wemher, 2VL X, Sp. 897-903.
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Ricardo Bauschke Gedenke nieman kan envern den torn noch den wisen. dar um be sint gedenke vri uf aller hande sache. herz unde sin dur gemach dem menschen sini gegeben. gedenke an schleffe dur den stein, dur stahel und durch hen. gedank kein achte wie die hant diz und daz gemache. wie man gedenke nie gesach, si doch hört streben. gedank ist sneller über velt denn der blik eines ougen. gedank glust bringet nach der minne gelt, nach der gesichte tougen. gedank kan wol ob allen arn hoch in dien lüften sweben. Weder den Narren noch den Weisen kann irgendjemand die Gedanken verbieten. Darum sind alle Gedanken frei. Sinn und Verstand sind dem Menschen zum Wohlgefallen gegeben. Gedanken durchdringen Stein, Stahl und Eisen. Den Gedanken kümmert es nicht, wie die Hand dieses oder jenes vollführt. Wenn man auch die Gedanken niemals sehen konnte, so hörte man sie sich doch eifrig regen. Der Gedanke fliegt schneller über das Feld als ein Augenblick. In Gedanken entsteht das Verlangen nach Minnelohn, der Wunsch, Verborgenes zu sehen. Der Gedanke kann höher als die Adler in den Himmel fliegen.
Irrtümlich als Parole zur Religionsfreiheit interpretiert," bringt der Spruch ganz allgemeine Überlegungen zum persönlichen Freiraum jedes Menschen, den ihm seine geheimen Gedanken eröffnen. Durch die pauschalen Bilder wird der Spruch vor den unterschiedlichsten Publikumsgruppen nahezu universell verwendbar; die iw/wie-Thematik und das tougen-Motiv (heimlich, verborgen) indizieren jedoch einen höfischen Rahmen, in dem auch Liebeslyrik zum Vortrag gebracht worden ist. Indem die Strophe mit dem literarischen >minne und FederviehLobpreis der rechten Ordnung< verbinden lassen, zu den vorangegangenen Strophen aber kaum Parallelen aufweisen. I.Lob Gottes (III, l): Küng herre, hoch gelopter got, waz du vermacht! du liuchtest mit dem tage unde finster st mit der nacht. da von diu weit vilfröide unde ruowe hat. küng, aller eren dir noch nie gebrast, wie den tag du zierest mit der sunnen glast und auch diu nacht dins mänen Hecht wol stät. du bernst himel mit den stern. din Schönheit iemer mag gewern. du hast ze geben gäbe vil der nicht zer gät. Referat bei Gerhardt [Anm. 5], S. 151f.
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Höchster König, hoch gepriesener Gott, was Du alles vermagst! Mit dem Tag schenkst Du uns Licht und mit der Nacht die Dunkelheit. Dadurch hat die Welt Freude und Ruhe. Höchster, Du bist ohne Fehl, wie Du den Tag schmückst mit dem Glanz der Sonne, und auch in der Nacht strahlt Dein Mondlicht angenehm. Du hast den Himmel mit den Sternen erschaffen. Deine Schönheit dauert ewig. Du kannst verschenken, was immer währt. 2. Lob der Ehefrau (111,2): IRs man krone ist daz vil reine wtp: iemer in vol eret ir wol werder lip. er sslig man dem diu guote si beschert; der mag sunder zwivel mit ir sin jar willeklich vertriben stille und offenbar, er sich mit ir Sünden unde schänden wert, mit hoher stste ist si bedacht; ir Hecht fiur löschet nicht in nacht, ir hohez lop mit der meiste menge vert. Die Krone ihres Mannes ist die makellose Ehefrau: ihre Tugendhaftigkeit wird stets sein Ansehen begründen. Der ist ein glücklicher Mann, dem solch eine Frau zuteil wurde. Er kann zweifellos mit ihr sein Leben ohne Bedenken ruhig und ohne Heimlichkeiten verbringen. Durch sie ist er vor Sünde und Laster gefeit. Sie ist von großer Zuverlässigkeit und Treue; ihr helles Feuer erlischt in der Nacht nicht. Alle Welt spricht ihr höchstes Lob aus.
Im Lob Gottes wird in erster Linie der Schöpfergott angesprochen. Die preisende Diktion, die Anredeformeln und der abschließende Hinweis auf die ewige Dauer göttlichen Wirkens aktualisieren Darstellungsmomente, die an das Gebet erinnern, so dass Peter Wapnewski von einem »Gebetshymnus« spricht.34 - Sehr allgemein perspektiviert ist auch das Lob der tugendhaften Ehefrau. Ihre Qualitäten werden kaum konkretisiert. Alles kreist um die staste (in diesem Kontext und wegen reine als eheliche Treue zu deuten) und um die Spiegelung durch die Umwelt. Sie ist die urteilende Instanz, welche über die ere (gesellschaftliches Ansehen), als Signalwort bereits im zweiten Vers erwähnt, entscheidet. Da in dem von Süßkind entworfenen Bild das Ansehen des Mannes ursächlich an das Verhalten seiner Ehefrau geknüpft ist, weist der Dichter der Frau eine zentrale Position im Spannungsfeld von Gesellschaft und Ehe zu, unterwirft die Frau aber zugleich einer besonderen Verantwortung, da ihre ere auf beide Ehepartner zurückfällt. Eine Diskussion über Ehefrauen, Ehe und die Verantwortung der Eheleute - in diesem Fall besonders des Mannes - führt auch Reinmar von Zweter, dessen umfangreiches spruchlyrisches Corpus einer Reihe von Dichtern als Vorbild gedient hat. Eine speziell jüdische Perspektive auf die Bedeutung der Ehe-
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Wapnewski [Anm. 14] 1986, S. 128f. Die Gedichte Reinmars von Zweter, hg. von Gustav Roethe, Leipzig 1887, Nachdruck Amsterdam 1966; zur Einführung Horst Brunner, Reinmar von Zweter, 2VL VII, Sp. 11981207.
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frau, welche Süßkind unterstellt worden ist,36 hat keine textliche Grundlage in dem mittelhochdeutschen Spruch. Die drei Strophen in Ton IV behandeln eine Reihe unterschiedlicher Gesichtspunkte, die insgesamt jedoch alle die Rolle des Einzelmenschen in der irdischen Gesellschaft und der göttlichen Ordnung diskutieren. So hat der erste Spruch die Sterblichkeit zum Thema (IV,1): Swie v/7 daz mensche zuo der weite guotes habe und ez gedenket wie ez scheiden muoz dar abe ze teste mit dem tode, so mag ez trüren sere. da vor nicht frumt rlchtuom, gehurt von hoher art, wisheit, gewalt — daz müeze an des tödes vart. ez darf dafür nicht suochen weder rät noch lere. kein meister in nigromanzl wart nie so wiser raste, daz er ie wurde des tödes vri, noch heilig wis prophete. dur den grozen ungewin ich dicke gar betriebet bin, so nieman wetz nü wä diu sele kumet hin, so der tot den lip ermant, daz er von leben kere. Wie viel auch immer der Mensch auf Erden besitzt: wenn er bedenkt, wie er am Ende mit dem Tod scheiden muss, dann kann ihn das sehr traurig stimmen. Denn dann nützen ihm Reichtum, adlige Abstammung, Klugheit, Macht nichts - all das verliert er mit dem Tod. Er braucht auch nicht nach einem Gegenmittel zu suchen. Kein Zaubermeister hat jemals so viel Weisheit besessen, dass er Unsterblichkeit erlangt hätte, selbst die heiligen Propheten in ihrer Weisheit nicht. Angesichts dieses großen Unglücks bin ich oft sehr betrübt; denn niemand weiß hier, wohin die Seele gelangt, wenn der Tod den Körper ereilt, damit er aus dem Leben scheidet.
Die Ausgestaltung des memento -Gedankens erinnert an Strophe 1,3. Es wird die Sinnlosigkeit weltlicher Orientierung beschrieben, da irdische Werte wie Macht und Reichtum im Jenseits nicht zählen. Auf eine tröstende Perspektivierung, dass im Paradies ganz andere Freuden auf denjenigen warten, der in der Welt gottgefällig gelebt hat, wird - wie in dem anderen Spruch - verzichtet, stattdessen bleibt der Blick ganz der weltlichen Position verhaftet, die den Verlust der vergänglichen Güter betrauert. Eine solche Position kann an einem weltadligen Hof wohl größere Wirkung entfalten als predigthaft formulierte Jenseitsversprechungen, weil sie auf die konkreten Sorgen der Besitzenden anspielt. Auch die persönlich formulierte Pointe stützt die didaktische Aussage. Die zum Ausdruck gebrachte Unsicherheit über das Schicksal der Seele stellt dabei nicht die christliche Heilsgewissheit an sich in Frage, sondern soll den Einzelmenschen ermähnen, all sein Handeln stets zu kontrollieren, um am Ende das Seelenheil zu erlangen. Die universelle Gültigkeit dieses Modells signalisiert Süßkind durch zwei Pole: nigromanzl und heilig wis prophete. Weder der Schwarzmagier mit seinen machtvollen Verbindungen zum Teufel noch die in göttliche 36
Literaturangaben und jüdische Belegstellen bei Gerhardt [Anm. 5], S. 155f, siehe dort auch Anm. 392f.
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Nähe zu rückenden Propheten können dem Tod entkommen. - Bereits im Alten Testament wird die Nekromantie verworfen (Ex 22,17) und am Beispiel Sauls problematisiert (l.Sam 28); so gelingt es Saul zwar, mit Hilfe einer Totenbeschwörerin Samuel aus dem Totenreich heraufsteigen zu lassen, um sich Rat einzuholen, doch kann er sein eigenes schreckliches Ende sowie den Tod seiner Söhne dadurch nicht verhindern (l.Sam 31). Obwohl nigromanziim Mittelhochdeutschen auch die volksetymologisierte Bedeutung >schwarze Kunst< angenommen hat,37 forcieren die von Süßkind gestaltete Opposition mit heilig wis prophete und der Gesamtkontext des Spruches hier die konkrete Lesart >Totenbeschwörungversteckt< der Dichter seinen Anspruch in der ironischen Formulierung, die Fahrenden, gernde diet (Leute, die um Lohn bitten), verzichteten allein deshalb auf angemessene Bezahlung, weil sie selbst einen ausreichenden finanziellen Hintergrund besäßen. Vor dem Horizont der schwierigen materiellen Situation umherziehender und nach Engagements suchender Lyriker erscheint diese Brechung nicht einmal mehr als komisch, sondern wirkt sarkastisch. Der Lohnforderung selbst wird dadurch umso mehr Nachdruck verliehen. Den Spruch wie in der Forschung geschehen - als konkrete Apologie der zu Wuchergeschäften genötigten Juden zu lesen,38 geht am allgemein sprichwörtlichen Charakter der Gesamtstrophe vorbei. Anknüpfungspunkte für entsprechende Deutungen sind die Begriffe gesuoch, was unter anderem Zins bedeuten kann, und houbet guoles für Kapital, doch macht dagegen die Verknüpfung mit gernde (nach Lohn verlangender Sänger, Spielmann) den Kontext des >Literaturbetriebs< evident. In diesem Sinne kann houbet guotes auch metaphorisch verstanden werden: Süßkind spielt auf die kluge Urteilskompetenz des Spruchlyrikers an sowie seine Fähigkeit, kunstvolle Dichtung zu verfassen. Mit dem komisch-ironischen Gesamttenor harmoniert gerade diese übertragene Bedeutung des Verses. Im dritten und letzten Spruch der Melodie werden in einer generelleren Perspektivierung Reichtum und Armut in das Gefüge der Weltordnung gestellt Hatte richer mel, der arme da bl eschen hat; dar an gedenke ein wiser man, daz ist min rat. und lach dir nit den armen sin ze smehe zeinem friunde: vil lichte kumet diu stunde, daz er sin bedarf. da von si richer gen dem armen nicht ze scharf. kuo sunder hagen den sumer nicht wol getuon künde. wie man den esel hat unwert, doch was er ie gereite, wa man ie sines dienstes gen, daz er in nie verseile. hetti nieman zuo armuoten pflicht, der riehen richtuon wxr ein wicht: wer solt dann dienen, ob der arme wxre nicht. guot was ie daz baste, daz man den sah da mit verbünde. Besitzt der Reiche Mehl, so hat der Arme Asche. Das bedenke ein kluger Mensch, das ist mein Rat. Tue nicht bloß zum Spaß so, als ob du der Freund eines Armen wärst: sehr schnell kommt der Zeitpunkt, wo er der Hilfe bedarf. Deshalb sei ein Reicher gegenüber dem Armen nicht zu schroff. Eine Kuh ohne Zuchtstier wäre schlecht für den Sommer. Hält man den Esel auch für minderwertig, so war er doch stets zur Stelle, wo immer man seinen Dienst brauchte - den versagte er nie. Hätte niemand eine Verpflichtung gegenüber der Armut, so wäre das Geld der Reichen nichts wert: wer sollte denn dann den Referat und Kritik durch Gerhardt [Anm. 5], S. 158-160. Vorstellungen vom jüdischen Wucheren finden ihre literarische Gestaltung unter anderem bei Hans Folz. Zu diesem Nürnberger Autor und seinen judenfeindlichen Äußerungen vgl. Matthias Schönleber, Antijüdische Motive in Schwanken und Fastnachtsspielen von Hans Folz, in diesem Band.
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anderen dienen, wenn es den Armen nicht gäbe? Der Bast war stets gut genug, um einen Sack damit zuzubinden.
Die Armut hat ihren sozialen Sinn, weil sie es den Reichen allererst ermöglicht, mildtätig zu wirken und durch Almosen für das eigene Seelenheil zu sorgen; daraus entsteht andererseits auch die Verpflichtung der Besitzenden, ftlr die Armen Verantwortung zu übernehmen und sie materiell zu unterstützen. Hiermit wird ein gedanklicher Bogen zur ersten Strophe des Tons geschlagen. Da der Heischegestus sehr diskret bleibt, lässt sich Strophe IV,3 zudem als abgeschwächte Version von IV,2 begreifen. Etwas dunkel bleiben die Bilder, die Süßkind zur Ausgestaltung der Ideen verwendet. Der in seiner Aussage noch leicht zu entschlüsselnde Mehlvergleich, mit dem die Diskrepanz von Sattheit der Reichen und Hunger der Armen visualisiert werden soll, erinnert an die Mehlmotivik in Spruch 1,1 . Auch die Bilder vom gutmütigen Esel und vom Bast, der den Sack verschließt und damit die sichere Aufbewahrung des Inhaltes garantiert, sind klar. Schwieriger wird es bei der Vorstellung einer Kuh, die ohne Stier nicht auskommt; denn in der entworfenen Gedankenreihe muss der Bulle als gegenüber der Kuh minderwertig klassifiziert werden. So haben Carl von Kraus und andere das mittelhochdeutsche hagen nicht als »Stier«, sondern als »Dom« gedeutet, um damit auf die notwendige Weidebegrenzung anzuspielen.39 Dabei ist die Bedeutung des Bildes mit hagen als »Stier« evident. Die Kuh gibt die Milch und ist damit das Nutztier, dessen Fütterung sichtlichen Gewinn abwirft. Der Stier dagegen erfüllt allein als Zuchtbulle seine Funktion; denn für die Feldarbeit ist er nicht geeignet - für sie wird der Ochse herangezogen. Dennoch ist der Stier nur scheinbar ein zusätzlicher Esser: ohne ihn könnte die Kuh nicht kalben und auch keine Milch mehr geben. Auf den Menschen übertragen ergibt sich die Botschaft, dass der Reiche auch den Armen ernähren muss; seine Mildtätigkeit fällt positiv auf ihn selbst zurück. Die Armut ist ein dominantes Thema in Süßkinds Sprüchen; biographisierende Deutungen haben dies immer wieder zum Anlass für ihre spekulativen Überlegungen zur historischen Autorperson genommen. Besonders davon betroffen sind zwei Strophen gleicher Melodie, die auch in inhaltlichem Zusammenhang gedeutet werden. Der erste Spruch behandelt die Armutsthematik nicht abstrakt, sondern präsentiert sie in der Form eines persönlichen Bekenntnisses; dies hat die Hypothesenbildung zum Leben des >realen< Süßkind sehr befördert Wähebufunde Nichtenvind tuot mir v/7 dicke leide. her Bigenot von Darbion der ist mir vil gevxre. des weinent dicke mlniu kint, baes ist ir snabel weide: 39
Wohemehmen und Nichtstehlen fügen mir sehr oft Leid zu. Herr Dünnwanst aus dem Darbenland stellt mir hinterlistig nach. Deshalb weinen meine Kinder oft, denn sie haben nur wenig zu essen. Selten hat er sie so satt gemacht, dass es eine
Von Kraus (Anm. 10], S. 515. Hier hat das Bild einer von Bremsen verfolgten und zu Tode kommenden Kuh, das Wolfram von Eschenbach in seinem >Parzival< gestaltet, offenbar den Blick der älteren Philologie in die falsche Richtung gelenkt.
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Ricardo Bauschke er hat si selten sät getan, biz üf die fröidenbaere. in minem hus her Dünnehabe schqffet mir ungersete, er ist zer weit ein müelich knabe: ir muten, helfent mir des bcesemhtes abe, er swechet mich an spise und auch an wzete.
Freude war. In meinem Haus sorgt Herr Schmalhans für Mangel. Er ist auf Erden ein lästiger Geselle. Ihr Freigebigen, erlöst mich von diesem Bösewicht. Er stiehlt meine Speise und meine Kleidung.
Schon an der Verwendung metaphorischer Namen offenbart sich die rhetorische Durchgestaltung des Spruches, der damit als rein literarischer Entwurf erscheint. Für die sprechenden Namen gibt es eine Reihe von Parallelen in der mittelhochdeutschen Spruchlyrik, auf die Edith Wenzel hinweist, etwa beim Tannhäuser die Hausbauhelfer Schaffeniht (Schaffenichts) und Unbereit (Niefertig) oder bei Meister Boppe die verunglimpften Dichterkollegen.4° Die Heischetopik gehört zum gnomischen Reservoir und wird durch die bei Süßkind stattfindende Verzerrung selbst parodiert. Das Namensspiel füngiert daher als Komiksignal, so dass die Lohnforderung auf spielerische Weise eingebracht werden kann, ohne an drastischem Nachdruck zu verlieren. Mit der Schlusspointe, die Lebensmittel und vor allem Kleidung - eine typische Form der Bezahlung für fahrende Dichter - erwähnt, wird überdeutlich, dass der biographische Tenor nur ein bewusst eingesetztes Mittel ist, um die Textaussage zu erhöhen, und nicht ein Selbstbekenntnis Süßkinds, der Mitleid suchend Einblick in seine tatsächliche private Situation gewährte. Die biographische Lesart resultiert damit aus einem Missverständnis der rhetorischen Struktur. In solch einer irregeleiteten Rezeption liegt auch die Ursache für das vermeintliche Bedürfnis, den vorliegenden Spruch, so wie ihn die Manessische Handschrift überliefert, noch zu >verbessemhussorge tuot so weSchreckensbild< entwirft: er erpresst die Zuhörer damit, dass er sich bei mangelndem Lohn von der christlich-höfischen Lebensgemeinschaft absondern und stattdessen ganz in der - hier stilisiert skizzierten - jüdischen Lebensform aufgehen werde. Dass im Kontext von Süßkinds jüdischer Identität gerade dieser Spruch das Interesse der Interpreten auf sich gezogen hat, liegt auf der Hand; die Identifizierung selbst ist immer wieder mit den in Strophe V,2 getroffenen Aussagen verquickt worden. Es ergeben sich dabei drei Möglichkeiten. Erstens: Der Sprecher ist Christ und droht den Übertritt zum Judentum an. Im christlichen Mittelalter handelte es sich bei derartigen Konversionsplänen indes um ein Tabu, für das es selbst als literarische Fiktion keinen Platz gibt. Zwar sind Konversionen historisch bezeugt, etwa Anfang des 9. Jahrhunderts der spektakuläre Kasus des Hofkaplans Bodo,44 und das gesamte Mittelalter hindurch hat es christliche Frauen gegeben, die, wenn sie die Ehe mit einem Juden eingingen, zum Judentum überLeo Sievers, Juden in Deutschland. Die Geschichte einer 2000jährigen Tragödie, Hamburg 1977, S. 31; Ludwig Rosenthal, Süßkind von Trimberg. Der jüdische Spruchdichter aus der Gruppe der deutschen Minnesänger des Mittelalters (13. Jahrhundert), Hanauer Geschichtsblätter 24 (1969), S. 69-99, bes. S. 85. Selbst Stackmann hat in diesem Sinne biographisch spekuliert: »Da spürt man durch die Schablone der Armutsklage hindurch die Stimme echter menschlicher Not und unmittelbarer Sorge.« - Karl Stackmann, Süßkind von Trimberg, 1 VLIV, Sp. 349f., hier Sp. 350. Kurt Schubert, Jüdische Geschichte, München 1999, S. 39.
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getreten sind,45 doch handelt es sich um Einzelfiille. Die vielfach formulierte Angst, >einfältige Christen< könnten sich von Juden in Religionsgespräche verwickeln und zur Konversion überreden lassen, ist vielmehr Teil antijüdischer Propaganda von kirchlicher Seite, die mit solchen Begründungen christlich-jüdische Kontakte grundsätzlich einschränken wollte.46 Süßkinds Spruch ist wohl kaum als Anspielung auf diesen komplexen und zudem tabuisierten Problemzusammenhang deutbar. - Zweitens: Auch die Drohung eines jüdischen Sprechers, Jude zu werden, erscheint sinnlos, da er bereits Jude ist. Darum hat Gustav Roethe, der Süßkind als Juden identifiziert und sogar seiner Miniatur sowie seiner Dichtkunst orientalisierende Züge zugesprochen hat, Süßkind die Autorschaft an dem Spruch aberkannt.47 Freilich hat er es sich damit etwas zu leicht gemacht. - Eine Auflösung der vermeintlichen Widersprüche bietet allein die dritte Variante: Ein assimilierter Jude bringt Biographisches stilisierend in seine Dichtung ein, um seiner - gleichwohl literarischen! - Drohung besonderes Gewicht zu verleihen und einen Scherz mit der eigenen Person zu treiben. Er droht also, die Assimilation aufzugeben und wieder nach jüdischem Brauch zu leben. Dabei bleibt der >Erpressungsversuch< immer eine literarische Fiktion, denn als assimilierter Dichter hat Süßkind bessere Chancen, an den Höfen engagiert zu werden. Derartig grundsätzlich geäußerte Drohungen, das Singen aufzugeben, haben ihrerseits eine literarische Tradition. In der Minnelyrik gibt es Parallelfälle bei Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide.48 Auch für die persönliche Stilisierung einer literarischen Aussage existieren Vorbilder in der mittelhochdeutschen Lyrik. So wird in einem Lied Kaiser Heinrichs VI. die unauflösliche emotionale Bindung des Sprechers an seine Minnedame mit dem Ausspruch untermauert: e ich mich ir verzige, ich verzige mich e der kröne (Bevor ich sie verlasse, verzichte ich eher auf meine Krone.);49 und Walther von der Vogelweide gestaltet ein Gespräch der Frau Welt mit einem reuigen Sünder, der ihre Eitelkeit durchschaut hat und sich von den irdischen Freuden abwendet, wobei er die personifizierte Welt den Menschen mit Walther anreden lässt.50 In all diesen Fällen soll die Identität von Rollen-Ich und historischem Sprecher suggeriert werden, um eine besondere Authentizität herzustellen und der Textaussage besonderes Gewicht zu verleihen. Indem Text-Ich und Autorperson scheinbar übereinstimmen, wird auch für den Rezipienten die Identifikationsmöglichkeit erhöht: der Dichter übernimmt qua Sprecherrolle eine Stellvertreter45
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Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 44), S. 42f. Arao Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 36. Gustav Roethe, Süßkind von Trimberg, in: Allgemeine Deutsche Biographie 37, Stuttgart 1894, S. 334-336. Kritik durch Gerhardt [Anm. 5], S. 167-179. Vgl. z.B. Morungens Lied >Ez ist site der nahtegalLange swtgen, des hat ich gedahtWucherjudenJudenfragen< den Eigenarten des unter Süßkinds Namen überlieferten Textcorpus in keiner Weise gerecht werden. Sie entspringen oftmals einer antisemitischen oder zumindest judenskeptischen Perspektive, sind von biographisierendem Interesse geleitet und enden häufig in argumentativen Zirkelschlüssen.57 Dagegen lässt sich nunmehr die Feststellung machen, dass die Strophen Süßkinds ganz im Rahmen der traditionellen Sangspruchdichtung bleiben und nur wenig individuelles Profil entfalten. Die Anpassung an das Publikum und dessen literarische Vorlieben ist Süßkind damit >geglücktSüßkind von Trimberg< von Friedrich Torberg,58 ist er deshalb zur gebrochenen, tragischen Gestalt geworden, die zwischen beiden Welten pendelt. Doch handelt es sich dabei um neuzeitliche dichterische Entwürfe, die mit dem historischen Autor nur den Namen gemein haben.59 Süßkinds eigener Umgang mit der Gattung Sangspruchdichtung und seinen Adressaten, wie er sich aus seinen Sprüchen ablesen lässt, entbehrt nämlich jeder Spur von Fremdheit. In dieser Hinsicht ist Süßkind damit nicht als Außenseiter zu betrachten. Wie auf die anderen mittelhochdeutschen Spruchlyriker trifft auch auf Süßkind zu, dass er als Sprachrohr des jeweiligen Gönners Auftragskunst herstellt und die vom Publikum gewünschten Themen literarisch bearbeitet, um sie am Hof vorzutragen. Die Diskrepanz von Textinhalt und Autorperson wird bei einem jüdischen Dichter, der christliches 57 38
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Diskussion und Detailkritik bei Gerhardt [Anm. 5], s. Register ebd. Edith Wenzel, Friedrich Torberg, >Süßkind von TrimbergDie Rezeption des Mittelalters in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. JahrhundertsLiteraturbetriebsLiteraturbetrieb< und zum jüdischen Glauben nicht bzw. legt darauf zumindest nicht den Hauptakzent. So wie das von Süßkind verfasste Textcorpus im Rahmen geläufiger Spruchlyrik bleibt, so hat auch der Buchmaler alles unternommen, die Miniatur harmonisch in die Reihe der anderen Autorenbilder zu integrieren (vgl. Abb. 7).60 Zwar ist der Dichter explizit durch Hut und Bart als Jude ausgewiesen, doch es fehlen diskriminierende Attribute, wie etwa der mit dem IV. Laterankonzil verbindlich gemachte gelbe Fleck oder ein auf das Stereotyp vom >Wucherjuden< anspielender Geldsack oder etwa ein Schächtmesser - diffamierende Einzelattribute, welche die zeitgenössische Ikonographie bereitstellte.61 Die »typisch jüdische Hakennase«, die in Profildarstellungen seit dem Hochmittelalter auftritt und Gustav Roethe auch auf der Miniatur erkennen wollte, lässt sich in keiner Weise wiederentdecken. Stattdessen wird der jüdische Dichter Süßkind in einer selbstbewußten Position gezeigt, mit voller Pracht in christlicher Gewandung ausgestattet und dem ebenfalls auf dem Bild befindlichen Bischof, den allein seine sitzende Position ein wenig optisch hervorhebt, geradezu gleichgestellt; denn sein Judenhut ist wie der Krummstab des Bischofs mit Gold ausgemalt. Auch der Pelzbesatz auf der Kleidung sowohl des Bischofs als auch Süßkinds unterstreicht die ikonographisch forcierte Gleichrangigkeit. Ob die Szene ein Religionsgespräch wiedergeben oder auf eine reale Rechtssituation anspielen soll, wo der historische Süßkind Kunstgeschichtliche Beobachtungen zur Miniatur Süßkinds in der Manessischen Handschrift unter Berücksichtigung der entsprechenden Forschung bei Jahrmärker [Anm. 3]. Bernhard Blumenkranz, Juden und Judentum in der mittelalterlichen Kunst. Franz-DelitschVorlesungen 1963, Stuttgart 1965; Raddatz [Anm. 51]. Roethe [Anm. 47]; Blumenkranz [Anm. 61]; Raddatz [Anm. 51].
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mit einem Bischof verhandelt oder selbst vor Gericht steht - so die Vermutung von Manuela Jahrmärker, die Parallelen zu den Handgesten in Sachsenspiegelabbildungen zieht -,63 kann mit dem zeitlichen Abstand nicht mehr geklärt werden. Eindeutig aber ist, dass Süßkind in keinem Fall negativierend ausgegrenzt oder als einer diskriminierten Minderheit zugehörig abqualifiziert werden soll. Der Darstellungsimpetus zielt auch nicht darauf, Süßkind als Semiten vorzustellen, sondern der Illustrator spricht Süßkind als Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Dies gelingt ihm, obwohl er auch hier auf die zur Verfügung stehenden polemischen Attribuierungsmöglichkeiten religiöser Darstellungsvarianten für Juden (Essigschwamm, Augenbinde)64 verzichtet. Er wählt wiederum die positive Variante: der golden gemalte Judenhut als differenzierendes Kleidungsstück korrespondiert in seiner ungewöhnlichen Farbgebung mit dem traditionell goldenen Krummstab des Bischofs, der auf das politische Amt und die religiöse Funktion in der kirchlichen Organisation verweist. Mit den attribuierten gleichfarbigen Insignien markiert der Buchmaler das, was der Rezipient als verschieden begreifen soll - die Religion. Eine physiognomische Unterschiedlichkeit wird nicht forciert. Auf orientalisierende Kleidung verzichtet der Maler ebenso wie auf die Schläfenlocken, welche die Juden seit dem 11. Jahrhundert infolge der Talmudrezeption tragen. Die Darstellung Süßkinds korrespondiert gänzlich mit dem idealisierenden Tenor der Manessischen Handschrift. Damit fügen sich der Jude Süßkind aus Trimberg und sein kleines Spruchcorpus von zwölf Strophen organisch in die Dichterreihe des Codex ein. Doch die vermeintliche Toleranz, welche die Hersteller der Manessischen Handschrift demonstrieren, hat ihre Grenzen. Die eigentliche Diskriminierung findet im Verborgenen statt. An die Autorenbilder schließen sich im Heidelberger Codex die Textabschriften an, und alle diese Aufzeichnungen werden von einer Schmuckinitiale eröffnet; sie ist in der Mehrzahl der Fälle ornamental gestaltet, bei Johannes Hadloub sticht die besondere Größe hervor. Weitere Ausnahmen bilden Initialen gegen Ende der Dichterreihe, die zusätzlich noch figürliche Darstellungen bieten. So befinden sich bei Frauenlob im ersten Buchstaben der Textaurzeichnung Weinlaubranken und oberhalb der Majuskel eine Madonna mit dem nimbustragenden Christuskind, unterhalb davon ein betender Mann. Beim Kol von Nüssen und Rubin von Rüdiger erscheinen Köpfe im Buchstaben bzw. an dessen linkem Balken; die Gesichter sind nicht als menschliche Antlitze stilisiert, sondern bewegen sich vom Darstellungstyp her an der Grenze vom Menschenkopf zum Phantasiebild. Bei Süßkind schließlich erhält das Schmuckelement der Initiale diffamierenden Charakter: In den AnfangsJahimärker [Anm. 3], bes. S. 338-344. Blumenkranz [Anm. 61]; Raddatz [Anm. 51]. Zur Verbildlichung jüdischer Blindheit im Kontext der Synagoge-Darstellung vgl. Monika Wolf, Ecclesia und Synagoge in fortwährendem Streit, in diesem Band; zur Ausstattung von Juden mit den Marterwerkzeugen Christi im Passionsspiel Florian Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters, in diesem Band. Untersuchung der Schmuckinitialen mit Hilfe des Bandes Die Große Heidelberger »Manessische« Liederhandschrift [Anm. 2].
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buchstaben ist eine Drolerie integriert, die ein ganz anderes Judenbild entwirft (vgl. Abb. 8): ein geflügeltes Monster mit Menschenkopf, dessen Gesicht verzerrte Züge aufweist, trägt einen Judenhut und bündelt damit in konzentrierter Form christliche Vorurteile und Ängste. Sie sollen durch das Bild gebannt werden, was eine typische Funktion apotropäischer Drolerien ist: Abwehr von Unheil.60 Für christliche Judenfeindschaft, wie sie im gesamten Mittelalter existierte, war im Rahmen der auf repraesentatio zielenden Miniatur kein Platz; doch im Kleinen hat sich die antijüdische Einstellung auch in der Manessischen Handschrift ihre Bahn gebrochen.
Dinzelbacher [Anm. 37], S. 189f.
ANNETTE SCHMIDT so dir got helfe
Die Judeneide
In einer Zeit, bevor Vereinbarungen und Verträge schriftlich fixiert wurden, besaß der Eid als mündlich gegebene Wahrheits- oder Absichtsbeteuerung große rechtliche und gesellschaftliche Bedeutung. Dabei sind zwei Formen des Rechtseides zu unterscheiden: zum einen der Gelöbniseid (promissorischer Eid), bei dem der Schwörende ein bestimmtes künftiges Verhalten zusichert, etwa wenn sich Gefolgsmann und Herrscher gegenseitige Treue und Unterstützung versprechen, zum anderen werden in Gerichtsverfahren assertorische Eide abgelegt, um die Wahrheit einer Aussage zu manifestieren, dabei schwören nicht nur die Zeugen, es werden auch Überführungseide der Kläger und Unschuldseide von Angeklagten gefordert.1 Diese bei Rechtsstreitigkeiten von Kläger und Angeklagtem geschworenen Entscheidungseide führten entweder zur endgültigen Feststellung der Beschuldigung oder negierten die Klagebehauptung rechtskräftig. Damit führte die Ableistung des Eids meistens unmittelbar zur Beendigung des Verfahrens. Man ging dabei unweigerlich davon aus, dass die angedrohten Strafen für einen Meineid ausreichende Abschreckungsmaßnahmen dafür waren, diesen zu verhindern, so dass Angeklagter und Kläger nicht gleichzeitig Unterschiedliches beschwören konnten. Demzufolge dienten die Eidleistungen vor Gericht der Wahrheitsfindung in sehr viel entscheidenderem Maße, als wir das von modernen Prozessen kennen,2 zumal der Nachweis von Schuld und Unschuld, von Recht und Unrecht in vielen Fällen ohnehin kaum anders zu erbringen war, da sich die Möglichkeit schriftliche Belege oder Indizien auszuwerten als äußerst beschränkt darstellte. Eidesfahig waren prinzipiell alle Bürger, einschließlich solcher Bevölkerungsgruppen, deren Rechte in anderen Bereichen zum Teil stark eingeschränkt waren, wie Frauen und Juden. Lediglich Unfreie und Rechtlose waren eidunfähig. Der Schwörende beteuert wahrheitsgemäß auszusagen unter Anrufung Gottes, der im Falle einer Falschaussage am Meineidigen und in einigen Fällen auch an dessen Familie Rache nehmen wird. In dem stark religiös geprägten Weltbild des christlichen Mittelalters konnte die Androhung göttlicher Strafe wohl wesentlich nachhaltiger abschrecken als die Aussicht auf eine Gefängnisstrafe. Die bedingte Selbstverfluchung des Eidleistenden ist als religiöser Kern für jeden Eid konstitutiv und wird oft auch in die rituelle Durchführung des Eides einge1 2
Adalbert Erler/Udo Komblum/Gerhard Dilcher, Eid, HRG I, Sp. 861 -870. Auch heute ist die Mindeststrafe für Meineid ein Jahr Freiheitsstrafe, STGB § 154.
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bunden, die neben dem Erheben der Hand oder einzelner Finger auch das Berühren bzw. Vorhalten von Gegenständen wie Eidstäben, Eidringen oder heiligen Schriften kennt. Somit wird deutlich, dass der Eid im »Spannungsfeld zwischen weltlichem und kirchlichem Recht«3 angesiedelt ist. Der christliche Eidleistende setzte im Falle eines Eidbruchs sein Seelenheil aufs Spiel, und man kann davon ausgehen, dass der mittelalterliche Mensch den Verzicht auf das ewige Leben als gravierender angesehen hat als den zuweilen angedrohten Verlust der Schwurhand. Das Landrecht des >Schwabenspiegels< überliefert einige Anweisungen zum Ableisten eines Eides und über die Strafen im Falle eines Meineides: 170. wie man eide swern sol.
Wie man Eide schwören soll
a Got erlaubet rehte eide. vnd verbivtet vnrehte eide. die eide die reht sint ze swerenne vnde reht sint. die erlovbet man ze swern. Wir vinden in dem heiligen ewangelio daz got selbe hat gesworn. Wir vinden in Apocalipsis. daz sante Johannes ewangelista einen engel sach sweren. der staunt vfdem mer. vnde vfdem ertriche. der swor bi dem lebenden gote. [...] b -wan (sol) alle eide sweren bi gölte, bi sinen heiligen, vnd bi sinen heiligen ewangelien. vnde vf einen gewihten alter, vnd vf einem gewihten criuce wen mag auch die hant vf haben gegen den himele. vnd bi gotte vnd bi den heiligen sweren. vnd swer bi ivte anders sweret. der tvot wider cristenem gelovben. Swer dez vber zivget wirt. selbe drite. den sol geistlich gerihte verbannen, vnd weltlich gerihte mit siegen bvezzen. daz sint vierzeg siege, oder ein phvnt der lant phenninge. wirt er aber dristunt vber redet der schulde, wen sol im die hant abe slahen. wen mag mit rehte sweren. dez daz geschehen ist. vnd daz ie mitten stat. vnde daz ein man noch tvon wil.
a Gott erlaubt rechte Eide und verbietet unrechte Eide. Die Eide, die man schwören muss und die wahr sind, die erlaubt man zu schwören. Im heiligen Evangelium lesen wir, dass Gott selber geschworen hat. In der Apokalypse lesen wir, dass der heilige Evangelist Johannes einen Engel schwören sah. Der stand auf dem Meer und auf dem Erdreich und schwor bei dem lebendigen Gott, b Alle Eide sollen auf Gott geschworen werden, auf seine Heiligen und auf seine heiligen Evangelien, auf einem geweihten Altar und auf ein geweihtes Kreuz. Man kann auch die Hand zum Himmel strecken und auf Gott und die Heiligen schwören. Und wer auf irgendetwas anderes schwört, der tut das gegen den christlichen Glauben. Wer dessen mit zwei Zeugen überfuhrt wird, den soll das geistliche Gericht bannen und weltliches Gericht mit Schlägen bestrafen. Das sind vierzig Schläge oder ein Pfund der Pfennige des Landes. Wird er aber dreimal der Schuld überführt, dann soll ihm die Hand abgeschlagen werden. Man soll in rechtmäßiger Weise beschwören, was bereits geschehen ist, und was mittlerweile vorliegt, und was ein Mann noch tun wird.
Die Garantie für die Richtigkeit der erbrachten Eidleistung beruhte also vor allem auf christlichen Vorstellungsvoraussetzungen, der Schwörende verpflichtete sich Gott und den Heiligen, und vor ihnen würde er sich für einen eventuellen Meineid verantworten müssen. Das Zusammenleben von Christen und Juden vornehmlich in den mittelalterlichen Städten zog rechtliche Auseinandersetzun3 4
Erler/Komblum/Dilcher [Anm. 1], Sp. 868. Schwabenspiegel oder Schwäbisches Land- und Lehen-Rechtbuch nach einer Handschrift vom Jahr 1287, hg. von Friedrich L. A. von Laßberg, Tübingen 1840, Neudruck Aalen 1961, S. 81f.
Die Judeneide
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gen nach sich, zu deren Schlichtung neue Regelungen erforderlich wurden. Wenn Mitglieder der jüdischen Minderheit als Kläger, Beklagte oder Zeugen an einem Gerichtsverfahren beteiligt waren und folglich Eide zu leisten hatten, reichte die Verpflichtung allein der christlichen Religion gegenüber nicht aus, und es mussten Eidformeln entwickelt werden, die für Juden eine vergleichbare Verbindlichkeit besaßen, wie die von Christen geleisteten Eide. Eine solche Funktion erfüllten die so genannten >JudeneideVolksprediger< langfristig die Judenfeindschaft schürten und deren Umsetzung in die Lebenspraxis besonders nahe standen. Dass die zunehmende Predigttätigkeit, die die Ausbreitung der antijüdischen Stereotype förderte, mit der Verschlechterung des christlich-jüdischen Verhältnisses in Deutschland synchron verläuft, ist auffällig. Daraus ergibt sich jedoch kein monokausaler Zusammenhang,19 denn die Distanznahme von Christen und Juden durch die Ghettoisierung und die Pogrome des 14. Jahrhunderts stehen in einem komplexen Prozess;20 darin spielen allerdings die Predigten für die Bewusstseinsbildung des Kirchenvolkes eine wichtige Rolle. Diese soll an Fallbeispielen erläutert werden.
Predigten im 12. und 13. Jahrhundert Der Unglaube der Juden erscheint als wiederkehrender Aspekt in den Predigten, die die Perikopen des Kirchenjahres auslegen. In einem großen Teil der Texte richten sich die Vorwürfe auf die Situation zur Zeit Jesu und paraphrasieren im Neuen Testament vorgegebene Aussagen, dass die Juden den von Gott gesandten Christus nicht erkannt und die Erfüllung der Weissagungen ihrer Propheten nicht begriffen hätten. Belege dafür enthält die Leipziger Musterpredigtsammlung des 12. Jahrhundert.21 Bereits im >Predigtbuch< des Priesters Konrad (12./13. Jahrhundert) wird allerdings von den Juden des Neuen Testaments der Bogen zur Gegenwart geschlagen:22 Der Unglaube von damals entspricht der zeitgenössischen jüdischen Haltung, er dient dem Prediger als Kontrastfolie zur Konsolidierung der Christengemeinde und gibt ihm Anlass für den Appell zum Glauben. Diese Ausweitung des zeitlichen Horizonts, die der Exegese des mehrfachen Schriftsinns entspricht, ist charakteristisch für Konrads Predigten. So spricht z.B. der Prediger bei der Auslegung des Evangelienabschnitts, der über die Versuchung Jesu durch die Pharisäer und über Gottes- und Nächstenliebe als höchstes Gebot handelt, den Juden das Himmelreich ab, da sie das Gebot nicht erfüllen. nu, min vil lieben, durch ir untriwe unde durch ir ungelouben so sint die posenjuden, also ir wol vernomen habt, des himilriches verstozen unde ist iu da widere durch iwer triwe unde durch iwern guoten glauben enslozen unde uf getan. (III, S. 158,23ff.) 19
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Nun, meine Lieben, wegen ihrer Treulosigkeit und wegen ihres Unglaubens ist den bösen Juden, wie ihr gehört habt, das Himmelreich verschlossen, euch dagegen steht es wegen eurer Treue und wegen cures rechten Glaubens offen.
Anders urteilt Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval AntiJudaism, Ithaca/London 1982. Vgl. Graus [Anm. 17]. Benutzt in der Ausgabe von Anton E. Schönbach, Altdeutsche Predigten I, Graz 1886. Vgl. Volker Mertens, >Leipziger Predigten, 2VL V, Sp. 695-701. Zitiert nach Anton Schönbach, Altdeutsche Predigten III, Graz 1891, Neudruck Darmstadt 1964. - Vgl. Mertens [Anm. 3J.
Predigten zur Judenfrage
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Der Ausschluss der Juden und die Aufnahme der Christen in das Himmelreich sind hier allgemeingültig formuliert und mit der Qualifizierung der Juden als böse und treulos begründet. Im Vergleich dazu überrascht es, wenn im selben Predigtbuch anlässlich der Exegese eines Heilungs- und eines Auferstehungswunders, bezogen auf den Knecht des Hauptmanns von Kapemaum (Nr. 70) und die Tochter des Jairus (Nr. 73), für das Ende der Zeiten die Taufe und Bekehrung aller Juden prognostiziert werden. Die Boten, die dem Hauptmann (König) die Genesung seines Knechtes (Sohnes) melden, werden als Enoch und Elias gedeutet: Wenn der Antichrist erschlagen ist, bekehren sie die Juden, und sie lassen sich taufen, daz in got denne git den ewigen segen unde lip. (Ill, S. 168, 19f.)
Diese paulinische Zukunftssicht, die in den Predigten bisweilen ausgeblendet scheint, schließt die Juden nicht endgültig vom Heil aus. Die bei Konrad genannten Voraussetzungen, Bekehrung und Taufe, und d.h. Einordnung in das System der christlichen Kirche, haben im Römerbrief l l,25f., auf dem die Prognose beruht, allerdings keine genaue Entsprechung. Dort ist lediglich davon die Rede, dass »ganz Israel gerettet werden« wird, nachdem »die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist«, weil Gott den einmal mit Israel geschlossenen Bund nicht breche. Die Auslegung der Geschichte von der Auferweckung der Jairus-Tochter begründet die endzeitliche Heilszuwendung an die Juden mit drei Argumenten: mit ihrem Glauben an Gott (sie beten weder den Teufel noch Götzen an), mit ihrer Gottesebenbildlichkeit, die sie mit allen Geschöpfen gemeinsam haben, und mit Gottes Gnade. wan swie die Juden tuon oder leben, idoch so sint sie des unschuldic unde mait daz si den tievel unde diu apgot iht ane betent. dar umbe so enphaet ouch noch her nach unser herre got ir riwe unde irpuze, wan alsam er paidiu Juden unde haiden alle geliche nach im selbem hat gebildet unde gescafen, alsam lat er ouch si noch her nach alle gemaine mit dem heiligen gelouben unde mit der heiligen toufe alle ze sinen genaden chomen. alsam müz er iuch tuon, unser herre, der ware gots sun, durch siner gnaden willen. (III, S. 176, 4ff.)
Was die Juden auch tun und wie sie leben, in einem Punkt sind sie unschuldig und unberührt, nämlich den Teufel und Götzen anzubeten. Deshalb wird unser Herr Gott auch einst ihre Reue und Buße annehmen; denn wie er Juden und Heiden alle gleichermaßen nach seinem Bild geschaffen hat, so lässt er sie auch später alle gemeinsam mit dem heiligen Glauben und mit der heiligen Taufe zu seiner Gnade gelangen. Ebenso wird unser Herr, der wahre Gottessohn, euch aus seiner Gnade heraus behandeln.
Das Verfahren, wie die Rettung erfolgen werde, war offenbar auf christlicher Seite im Mittelalter nur mit Hilfe der kirchlich sanktionierten Heilsmittel (Reue, Buße, Taufe) denkbar. Indem die Konversion als Heilsbedingung postuliert wurde, konnten die gegenwärtige Verweigerung und das Festhalten der Juden an ihrem Glauben zum ständigen Anlass antijüdischer Polemik und Aggressivität werden, insbesondere wenn man die Endzeit nahe glaubte. Die in Konrads Predigtbuch öfter vorkommende Wendung:
116 wan ir unhail unde ir verlornusse daz ist iwer hail unde iwer behaltnusse, (III, S. 174, 20; 175,41 f.)
Ursula Schulze Denn ihr Unheil und ihr Verderben sind unser Heil und unsere Rettung,
stellt eine Möglichkeit dar, die biblisch vorgegebene Paradoxie zu bewältigen, dass der Heiland aus dem Volk gekommen ist, das seinen Kreuzestod veranlasst hat. Die endgültige Bewertung der Juden hängt - wie gesagt - an der Berücksichtigung der Endzeithoffhung. Sie bezieht sich auf alle Juden. Daneben steht in dem >Predigtbuch< des Priesters Konrad jedoch ein Gerichtskonzept (III, Nr. 77, S. 184), das abgesehen von dem bösen Teil der Christen Juden und Heiden ohne Einschränkung dem bedrängenden Urteil unterwirft: wan sin gerihte unde sin angestlichiu urtaile diu enreget über ander niemen niwan über Juden unde über haiden unde auch über böse cristen. (III, S. 184,23f.)
denn sein Gericht und sein schreckliches Urteil ergehen nur Ober die Juden, über die Heiden und Ober böse Christen.
In den unter dem Namen Berthold von Regensburg überlieferten Texten23 erfolgt in bestimmten Themenpredigten der Schritt zur gehässigen antijüdischen Propaganda auf zeitgenössischer Ebene. Wiederholt operiert der Prediger mit einer Dreierformel, welche die Christen unter dem Gesichtspunkt der Rechtgläubigkeit zusammenschließt und von Heiden, Juden und Ketzern abgrenzt. Dabei wird die pauschale Verwerfung weder dem christlichen noch dem jüdischen Glauben gerecht. Das ist besonders evident in einer Predigt über die zehn Gebote: Du solt one valsch und äne hinderliste mit Du sollst ohne Betrug und Hinterlist mit aufguoten thuwen an got gelouben, swaz du richtiger Treue an Gott glauben, und zwar ze rehte von gote gelouben solt: niht maalles, was du zu Recht von Gott glauben nigen gelouben haben, als Juden, heiden, sollst: d.h. nicht an verschiedene Götter ketzer. Credo in unum deum: also singet glauben wie Juden, Heiden und Ketzer. man alle suntage und ouch eteKche ander Credo in unum deum [Ich glaube an einen tage in der heiligen messen. Dar umbe Gott], so singt man jeden Sonntag und an wirt v/7 Hute verdampf, daz sie disen heivielen anderen Tagen in der Heiligen Messe. belinc niht mügen geleisten. Deshalb werden viele Menschen verdammt, (Bd. l, Nr. XIX S. 265,3 Iff.) wenn sie diese kleine Münze nicht zu zahlen vermögen (d.h. dieses Opfer nicht aufbringen).
Die Gemeinsamkeit von Christen und Juden, die sich gerade im Blick auf das erste Gebot ergibt, wenn es nicht ausdrücklich auf die Trinität bezogen wird, rückt Berthold nirgends ins Bewusstsein. Er entwirft ein diffamierendes Zerrbild des jüdischen Glaubens, das seine Zuhörer, die sich vornehmlich aus der Mittelund Unterschicht der städtischen Bevölkerung rekrutierten, kaum korrigierend durchschauen konnten. Das zeigt ein Beispiel aus einer Predigt über die Seligpreisung »Saelig sint die armen, wan daz himelriche ist ir« (Mt 5,8). Wiederum 23
Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer, Bd. 1-3, Wien 1862/1880, Neudruck mit einem Vorwort von Kurt Ruh, Berlin 1965.
Predigten zur Judenfrage
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bildet der Unglaube den Anknüpfungspunkt. Neben gitikeit und hdhvart störe der ungeloube am stärksten die Beziehung der Menschen zu Gott. Das verdeutlicht der Prediger zunächst an den außerhalb der christlichen Gemeinde stehenden Heiden, Juden und Ketzern. Den Juden unterstellt er Uneinheitlichkeit im Glauben, eine schwache unausgeprägte Vorstellung von Gott, daraus resultierende Unsicherheit, den Glauben an ihre Kinder weiterzugeben, und den Bruch ihres Gesetzes. Juden und Ketzer setzt er ausdrücklich gleich, und den Talmud bezeichnet er - korrespondierend mit Talmud-Verbrennungen im 13. Jahrhundert - als Ausdruck verfluchter Ketzerei. Als Konsequenz aus diesen Unterstellungen wird den Juden quasi die Lebensberechtigung abgesprochen: daz übel ist daz sie lebent. (Bd. 1,8.401,37)
Das Übel ist, dass sie Oberhaupt leben.
Nach diesem stärksten antijüdischen Affekt schlägt die Redehaltung um. Mit einem modifizierten Unsagbarkeitstopos verrätselt Bertold weitere Vorwürfe: Ez seit unde seit so boesiu dinc, diu ich ungerne reden walte; (Bd. l, Nr. XXV, S. 401, 37f.)
Er (der Talmud) enthält so böse Sachen, dass ich darüber lieber nicht rede;
und er schließt dann die Charakterisierung - wohl zur Erheiterung seiner Zuhörer - mit einer Verhöhnung der jüdischen Gottesvorstellung, die jeder Grundlage entbehrt. Fraget mir einen Juden, wd got si unde waz er tuo, so sprichet er: »er sitzet ufdem himel unde gent im diu bein her abe ufdie erden.« Owe, lieber got, so mäestest du zwo lange hosen han nach der rede. (Bd. l, Nr. XXV, S. 401, 38ff.)
Fragt einen Juden, wo sich Gott aufhält und was er tut, dann sagt er: »Er sitzt auf dem Himmel, und seine Beine baumeln auf die Erde herab.« O weh, lieber Gott, nach dieser Rede musstest Du zwei arg lange Hosen haben.
Berthold von Regensburg verbreitet zwar in seinen Predigten keine Pogromstimmung, aber mit der Zerstörung jeglicher Würde der Juden und ihrer Religiosität bereitet er diese mit vor. Ausdrücklich wahrt er die rechtlichen Grenzen, indem er von dem kaiserlichen Schutz spricht, der die Juden einschließt und Gewaltanwendung gegen sie verbietet, aber seine Darstellung macht sie verächtlich und verteufelt sie. In der Predigt von den drei Mauern, mit denen der Hendie Christenheit umschließt, führt Berthold über das dem Kaiser verliehene Schwert (d.i. die eiserne Schutzmauer) aus: Diu erste, isenin, daz ist daz swert, daz der almehtige got dem keiser bevolhen hat, daz er witewen und weisen beschirme vor dieben, vor mordern und vor allen ungelaubigen liuten, Juden, Heiden, ketzern. (Bd. 2, Nr. LXII, S. 238, 2Iff.)
Die erste eiserne Mauer bedeutet das Schwert, das der allmächtige Gott dem Kaiser anvertraut hat, damit er Witwen und Waisen vor Dieben, Mördern und vor allen Ungläubigen, Juden, Heiden und Ketzern beschirme.
Der Kaiser hat also den Auftrag, Hilfsbedürftige vor Verbrechern zu schützen, und als solche werden im Verbund mit Dieben und Mördern alle Ungläubigen (präzise Juden, Heiden, ketzer) genannt. Den Unglauben als Straftat aufzufassen,
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entspricht spätmittelalterlichen Rechtsbüchem, und so können die Juden per se zu Übeltätern deklariert werden. Rechtskonform ftigt der Prediger zwar hinzu: ledoch die Juden sol man schirmen, beidiu ir lip undjr guot, als die kristen.
Doch den Juden soll man Leben und Besitz beschützen wie den Christen.
(Bd. 2, Nr. LX1I, S. 238,24f.)
Dieser Schutzfeststellung folgt aber die Aufforderung zu totaler Abgrenzung der Christen von den Juden: kein Gespräch über den Glauben, keine Wohn- und Speisegemeinschaft soll es geben. Dadurch wird die Gefährlichkeit der Juden genau wie mit dem anfänglichen Übeltäterstereotyp wiederum unterstellt, auch wenn der Prediger korrespondierend zum kaiserlichen Schutz für die Juden die Christen mahnt, keine Gewalt zu üben. Der Predigtabschnitt enthält eine doppelte Aussage: Er weist dem Kaiser das Gewaltmonopol zu und bestätigt diesen auch als Schutzherm der Juden, aber zugleich setzt er eine allgemeine Gewaltbereitschaft gegen eine unterstellte, von Juden ausgehende Gefahr voraus und liefert Argumente für diese. In den historischen Ereignissen seit dem 13. Jahrhundert sind beide Aussagen durchaus unverbunden zur Geltung gekommen. Berthold hat sich auch nicht gescheut, das Stereotyp vom >stinkenden Juden< zu verwenden, eine der bis heute verbreitetsten sinnlichen Konkretisierungen zur Ausgrenzung von Fremden. Allerdings war der Gestank im Mittelalter nicht nur ein abstoßendes Geruchsmerkmal, sondern Signum der Verbindung mit dem Teufel, das vom Höllengestank herkam und allein durch die Taufe abgewaschen werden konnte.24 Der Gestank entspricht den fratzenhaften, verzerrten Gesichtern und Körpern in bildlichen Darstellungen von Juden insbesondere der Passionsgeschichte, wo die Hässlichkeit innere Bosheit veranschaulichen soll. Gleichsam selbstverständlich verwendet der Prediger das verteufelnde Geruchsattribut zweimal hintereinander in einem Negatiwergleich. Er soll Christen, die das dritte Gebot missachten, zur Heiligung des Feiertages stimulieren: Se! nü sihst du wol, daz ein stinkender Jude, der die liute an bokezet, sinen vigertac baz eret danne du. Pfl! des möhtest du kristener dich wol schämen, daz du got niht also wol getrüwest als der stinkende Jude, ob du den vigertac in sinem lobe vertribest, als er dir geboten hat, daz er dich des ergetzete. (Bd. l, Nr. XIX, S. 270, 24ff.)
Sieh, nun siehst du wohl, dass ein stinkender Jude, der die Menschen wie ein Bock stößt, seinen Feiertag besser ehrt als du. Pfui! Dafür solltest du als Christ dich schämen, dass du Gott nicht so viel Treue erweist wie der stinkende Jude, wenn du den Feiertag mit dem ihm zukommenden Lob missachtest, obwohl er dir dazu gegeben ist, dass er dich erfreue.
Die Tendenz der Judendarstellung Bertholds von Regensburg steht in traurigem Einklang mit der zunehmenden Verschlechterung der Rechtslage und den Verfolgungen der Juden seit dem 13. Jahrhundert. Ben-Zion Degani, Die Formulierung und Propagierung des jüdischen Stereotyps in der Zeit vor der Reformation und sein Einfluß auf den jungen Luther, in: Die Juden und Martin Luther - Martin Luther und die Juden. Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung, hg. von Heinz Kremers, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 3^4, hier S. 17.
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Eine Reimpredigt Heinrichs von Hesler Neben den Kanzelpredigten im engeren Sinne, die ihrerseits nur in literarisierter Form fassbar sind, soll hier eine von Anfang an als >Literatur< konzipierte Reimpredigt in die Betrachtung mit einbezogen werden, die als Exkurs von 678 Versen den Abschluss des um 1300 zu datierenden >Evangelium Nicodemi< Heinrichs von Hesler bildet und ausschließlich der Judenthematik gewidmet ist.25 Die erzählenden Teile des Werkes enden nach der Pilatus-Veronika-Legende mit einem Bericht über die Zerstörung Jerusalems unter Kaiser Vespasian (70 n. Chr.): Die überlebenden Juden werden in die Knechtschaft der Christen verkauft (30 Juden für einen Pfennig) und müssen niedrige Arbeiten zur Existenzfristung übernehmen. An diese Ereignisse knüpft Heinrich von Hesler einen appellativen Text an, der sich zunächst an die Fürsten (z.T. in weltliche und geistliche Herren untergliedert)26 und dann an die Juden wendet. Für welches Publikum das Werk primär gedacht war, ob Heinrich überhaupt bestimmte Personen ansprechen oder lediglich seinem Anliegen durch den predigthaften Redegestus aktualisierend Nachdruck verleihen wollte, bleibt offen, da keine Informationen zu Heinrichs Person und seiner Schreibsituation existieren. Durch den Umfang, die Auswahl der Argumente und ihre Kontextualisierung sowie durch die besondere Akzentsetzung gibt die Reimpredigt einen wichtigen Einblick in das in deutscher Sprache fassbare Meinungsspektrum um 1300.27 Heinrich von Hesler perspektiviert seine Belehrung an beide Adressatengruppen auf ein geistliches Anliegen, die Bewahrung bzw. Erlangung des Seelenheils: Die Fürsten werden ermahnt, es nicht durch falsches Verhalten gegenüber den Juden zu verspielen; den Juden wird das Heil verheißen, wenn sie das wahre Wesen ihres Gottes erkennen und den christlichen Glauben annehmen. Die wiederholt angeprangerte Besitzgier veranlasse die Herrschenden dazu, mit den Juden Geldgeschäfte zu machen, wo Bestrafung notwendig wäre; darin liege ihre Heilsgefahrdung. Zur Begründung der von den Fürsten geforderten Distanzierung dient vor allem die Behauptung der Gottesfeindschaft der Juden. Diese wird im weltlichen und geistlichen Bereich, in Vergangenheit und Gegenwart, im Handeln und im Schicksal der Juden aufgewiesen. Sie erkennten die Gottessohnschaft Christi nicht an, sie seien für sein Leiden und Sterben verantwortlich, sie betrieben unrechte Wuchergeschäfte statt den ihnen zugewiesenen dienenden Status zu akzeptieren. Gott habe auf die Feindschaft mit der Zerstörung Jerusalems und dem Verkauf der Juden in die Knechtschaft reagiert. Die gottgewollte Bestrafung und das vorbildliche Handeln früherer Herrscher sollten für das Vorgehen der weltlichen Herren richtungweisend wirken. Doch statt gegen die 25
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Heinrich von Hesler, Das Evangelium Nicodemi, hg. von Karl Helm, Tübingen 1902 (StLV 224). Vgl. dazu Achim Masser, Heinrich von Hesler, 2 VLIII, Sp. 749-755. ir Herren (w. 4768; 4920), ir leien und ir pfaffen (v. 4859), ir edelen dutschen vorsten (v. 5189). Dass die Judenschelte lediglich die üblichen Argumente reproduziere und deshalb wenig Interesse verdiene, wie Masser [Anm. 25], Sp. 753, meint, verfehlt die Besonderheit dieses Zeugnisses.
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Feinde Gottes vorzugehen, gewährten sie ihnen Handlungsfreiheit und pflegten Gemeinschaft mit ihnen. Dadurch machten sie - so lautet der Vorwurf - die historischen Vorgaben rückgängig, missachteten das Erlösungswerk Christi, gefährdeten ihr eigenes Seelenheil und vernachlässigten die von Gott an sie übertragene Herrscheraufgabe, die u.a. im Schutz der Untergebenen bestehe. Die ihnen Anvertrauten würden geistlich und ökonomisch durch die Handlungsfreiheit der Juden gefährdet, weil deren Wesen wie Aussatz ansteckend wirke. Heinrich von Hesler instrumentalisiert antijüdische Stereotype zu einem Verhaltensappell an die weltlichen und geistlichen Herren. Er fügt die Argumente assoziativ aneinander und rückt das Handeln der Juden in der Zeit Christi und in der Gegenwart zusammen, um mit der anhaltenden Racheforderung für den Tod Christi die Motivierung zur Beseitigung der gegenwärtigen Gefahren zu verstärken und die Fürsten zu der Erkenntnis zu führen, dass ihr Verhalten gegen Gott gerichtet sei. Die Anwürfe fallen drastisch aus: Sie sollen sich nicht wie die Schweine verhalten, die sich in einem Dreckpfuhl wälzen und verunreinigen (w. 4772ff.). Wenn die Herrschenden ihre Aufgaben vernachlässigen, gleichen sie fauler, unfruchtbarer Erde und von Würmern zerfressenen Kadavern (w. 4882ff.). Die Maßnahmen, die sie durchführen sollen, zielen zunächst auf die Ghettoisierung der Juden (sie sollen wie Aussätzige isoliert werden), dann auf Bestrafung, entsprechend dem Vorgehen gegen Diebe und Räuber. Mit den letzteren werden die Juden auf eine Stufe gestellt, da sie das Geld, das sie den Herren leihen, zuvor dem Volk gestohlen hätten: e sie u geben tusent marc, so han sie zwenzic tusint uwern luten, die u sint ufuwer sele bevoln mit irem Wucher abe gestoln (w. 5124ff.)
Ehe sie euch tausend Mark leihen haben sie zwanzigtausend von euren Untertanen, die eurer Seele anbefohlen sind, durch ihren Wucher gestohlen,
Und die Herrschenden merkten nicht einmal, dass eigentlich der Gewinn der Juden ihnen gehörte. Formen von Zwangsarbeit (roden unde graben, v. 5089) sollen die Geldgeschäfte beseitigen. Gefordert wird außerdem - entgegen den offiziellen kirchlichen Anweisungen - die gewaltsame Bekehrung der Juden, wobei geistliche und weltliche Gewalt zusammenwirken sollten. In der geistlichen Kompetenz liege die Lehre; die Aufgabe des weltlichen, gesegneten Schwertes erfülle sich im Einsatz für die Bekehrung und Bewahrung des Glaubens: Di pfaffen suln sie leren, die leien suln sie triben, daz sie stete dar an bliben. (w. 5140ff.)
Die Geistlichen sollen unterrichten, die Laien sollen sie zwingen, dass sie bei der christlichen Lehre bleiben,
Ein vorangestellter Rekurs auf ein Bibelwort dient dazu, die Gewaltforderung zu legitimieren, die dem offiziellen kirchlichen Verbot von Zwangsbekehrungen widerspricht. Der Prediger zitiert aus dem Gleichnis vom Großen Abendmahl (Luk 14,15-24), wo die Knechte des Herrn die Menschen von der Landstraße »nötigen hineinzukommen«:
Predigten zur Judenfrage Ja stet geschriben zware: »Compelle intrare!« »Trib daz sie dar in gen, die dem gelouben wider sten!« (w. 5133ff.)
\ 2l Wahrhaftig, es steht geschrieben: »Compelle intrare.« »Treibe die, die den Glauben zurückweisen, hineinzugehen!«
Diese Gewaltbefürwortung antizipiert fürstliche Praxis des 14. Jahrhunderts. Die propagierten Zwangsakte werden aber explizit durch den Appell eingegrenzt: Ouch nemet einer rede war: man sal sie nicht vortilgen gar in der wis, daz ir niht si. (w. 5239ff.)
Nehmt auch den Zusatz auf: Man soll sie nicht vollständig vernichten, so dass sie nicht mehr existieren,
Ächtung, aber keine Vernichtung. In der gleichzeitig anerkannten Notwendigkeit, die Juden zu ertragen, klingt das augustinische Argument nach, dass das Alte Testament jüdischen Ursprungs sei und zum Zeugnis für die Christen überliefert werde. Die Fortexistenz der Juden bildet dann auch die Voraussetzung für den letzten Teil der Reimpredigt (128 Verse), der an die Juden adressiert ist und auf ihre Bekehrung zielt. Der Verfasser beginnt mit einer Judenschelte. Er spricht sie als ungetruwe an, weil sie weder das alte noch das neue Gesetz anerkennen. Die Wuchergeschäfte verstießen gegen ihre eigenen überkommenen Gebote. Es wird folgende Alternative entworfen: Die Heilschance der Juden bestünde darin, entweder wucher und besuch (Geldverleih gegen Zinsen) aufzugeben und sich durch der eigenen Hände Arbeit (und zwar durch Ackerbau, v. 5287) zu ernähren und in einem solchen Status bis ans Ende der Welt zu verharren oder sich zum christlichen Glauben zu bekehren und sofort für das Heil zu entscheiden. Indem Heinrich von Hesler diesen Predigtteil mit einem emphatischen Anruf einleitet: O Israel tu rehte Und merke gates tougen; (w. 5294f.)
O Israel, handele recht und erkenne Gottes Geheimnisse;
verwendet er den biblischen Namen Israel (Paulus spricht in der viel zitierten Römerbriefstelle von omnis Israhel, 11,26). Dadurch gibt er den Ausführungen einen besonderen Tenor in einer Zeit, da Jude längst ein Schimpfwort geworden war. Der werbende Verweis auf die göttliche Wunderkraft setzt bei Gottes Schöpfungswerk an, das für Juden wie für Christen unstrittig ist und deshalb auch in den Judeneidformeln als gemeinsame Ebene angesprochen wird. Aus der Alknacht Gottes soll dann für die Angesprochenen das Wunder begreifbar werden, dass Christus die Menschheit erlöst und vom Teufel losgekauft hat. Zweifel an der Erlösung wird zum Zweifel an Gottes vornunfttkeit (v. 5353) erklärt, die von den Menschen nicht auslotbar sei. Der Aufruf, dem christlich definierten Gott zu folgen, schließt den Appell an die Juden ab. 8
Vgl. Annette Schmidt, Die Judeneide, in diesem Band.
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Formal steht der letzte Passus immer noch unter der Anrede an die Juden, aber er ist auch für christliche Rezipienten relevant, denn es geht um das Streben nach dem ewigen Leben: Nu kus, ob du wis bist, und kus daz ewige leben, wen daz ist allen den gegeben, die is herzelichen gern. (w. 5360ff.)
Nun entscheide dich, wenn du klug bist, entscheide dich für das ewige Leben, denn das wird allen gegeben, die es von Herzen ersehnen,
Derjenige, der Gott alles zutraut, der sich ihm anvertraut, der wird das Ziel erreichen: undgetruwe gote envollen, so blibes du unbewollen (w. 5391 f.)
und vertraue Gott vollständig, dann bleibst du unbefleckt,
Damit postuliert der Prediger schließlich eine gemeinsame Basis für Juden und Christen. Der Tenor des an die Juden gerichteten Predigtteils unterscheidet sich deutlich von anderen Tendenzen um 1300. Trotz der Vorwürfe von Gottesfeindschaft und Gesetzesbruch und trotz der Erwägung, dass Verunglimpfungen der Gottessohnschaft Christi mit Abschneiden der Zunge und Durchbohren des Herzens beantwortet werden sollten (w. 4808ff), ist deutlich, dass Heinrich von Hesler nicht mit dem Konzept des »Talmudjuden«29 operiert, jenem >MonsterSeifried Helbling< vergleicht, einer Sammlung von zeitkritischen Reimpaargedichten eines unbekannten, literarisch hoch gebildeten Verfassers.30 Beide Autoren üben Kritik am Verhalten der Fürsten und werfen ihnen Geldgier vor; aber abweichend von Heinrichs Reimpredigt läuft im > Seifried Helbling< das geforderte Vorgehen auf die Vernichtung der Juden hinaus: 29
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Alexander Patschovsky, Der »Talmudjude«. Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas, in: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, hg. von Alfred Haverkamp/Franz-Josef Ziwes, ZfhF, Beih. 13 (1992), S. 13-27. Seifried Helbling, hg. und erklärt von Joseph Seemaller, Halle a.d.S. 1886. - Vgl. dazu Ingeborg Glier, Helbling, Seifried, 2VL III, Sp. 943-947, mit Datierung von Gedicht II 1292-94 (das wäre vor Heslers >NicodemusevangeliumTalmudjuden< im Hintergrund. Indem der Verfasser fordert, es sollte für das Verbot des ketzerischen Talmud gesorgt werden, deuten sich ein Informationsdefizit oder Spielräume in der Lebenspraxis an, denn bereits 1239 hatte Papst Gregor II. die Konfiszierung des Talmuds in Frankreich, England und Spanien angeordnet,31 und aus der Pariser Diskussion und den Massenverbrennungen 1240 resultierte die endgültige Verurteilung des Buches.32 Die Ausführung zog sich in Europa über Jahrhunderte hin, während die Kenntnisnahme in Gelehrtenkreisen durch lateinische Übersetzungen weiterhin möglich war. Auf das kirchliche Anathema nimmt der Verfasser des > Seifried Helbling< keinerlei Bezug. Auch die in umgekehrte Richtung gehende päpstliche Unantastbarkeitsverordnung der Synagogen wird ignoriert oder ist unbekannt: dießirsten tuont ze träge umb iuwer Synagoge, die ir üfrihtet und den ungelouben tichtet. (II, w. 1181)
Die Fürsten halten sich gegenüber eurer Synagoge zurück, die ihr errichtet und wo ihr den Unglauben ersinnt.
Der >Seifried HelblingBelgische Chronikx, zum Jahr 1452, Ruh [Anm. 34], Sp. 564. Johannes Hofer, Johannes Kapistran. Ein Leben im Kampf um die Reform der Kirche, Innsbruck/Wien 1936, neubearb. Ausgabe, Bd. l u. 2, Heidelberg 1964/65, hier Bd. 2, S. 206228.
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sierten Predigtüberlieferung zusammengetragen hat, deutlich, dass der Franziskaner in seiner religiös motivierten Judenfeindschaft alle stigmatisierenden Motive aufgenommen hat bis zu der Unterstellung, der Talmud erlaube, sämtliche Christen zu ermorden.37 Sein demagogischer Predigteifer führte Capestrano zu scharfen Wendungen gegen alle Ungläubigen, von denen er die Juden für die verwerflichsten hält: »Juden, die heute die Wahrheit nicht glauben wollen, sind schlimmer als Heiden.«38 Er verbietet den Christen jede Art von Kontakt mit Juden, auch im geschäftlichen Bereich (sie dürften keinesfalls Fleisch oder Wein von ihnen kaufen), und damit geht er ausdrücklich über Thomas von Aquin hinaus.39 Der als Predigertyp ähnliche, in Italien umherziehende Bernardino da Feltre war für den Ritualmordprozess gegen die Juden in Trient im Jahr 1475 mit verantwortlich.40 Durch seine judenfeindlichen Fastenpredigten hatte er eine aggressionsgeladene Atmosphäre für die Verdächtigungen gegen die Juden geschaffen, wobei die Bluttat als kultische Notwendigkeit deklariert wurde (Wiederholung der Tötung Jesu als Kontrasthandlung zum christlichen Osterfest), so dass die Hinrichtung von 14 Tridentiner Juden als unausweichliche Reaktion erscheinen musste. In diesem Sinne hat auch der Straßburger Prediger Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510) den Fall Simon von Trient rezipiert und predigend publiziert. Er erklärt den vermeintlichen Mord als Beispiel für den ständigen Bedarf an Christenblut, den die Juden durch die Tötung von Kindern zu decken suchten.41 Da Johannes Geiler die perfide Behauptung aus historischen Voraussetzungen entwickelt, verleiht er den Aussagen quasi absolute Authentizität: Seit der Ermordung Christi folge den Juden eine Blutspur. Mit ihrem Ruf »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt 27,25) hatten sie selbst den Rachefluch auf sich gezogen. Das schon im Blut Abels präfigurierte Blut Christi fordere Rache bis zur Bekehrung der Juden. Konkretisiert habe sich der Fluch in der Zerstörung Jerusalems und in der Zerstreuung der Juden über die ganze Welt, er wirke weiter in der Verachtung und Furcht, in welcher sie ständig leben. Hinzu komme als weitere Last eine die Männer betreffende Blutflusskrankheit, die nur durch Christenblut heilbar sei (das berichtet Geiler mit Berufung auf Augustin). Bei dieser Einbindung des Ritualmordmotivs in die Konsequenzen des Fluchs wird sogar in Kauf genommen, dass die Auswirkungen auch Christen betreffen. Geiler steigert seine Beglaubigungsstrategie noch weiter, indem er von einem 37 38
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Z.B. in den Wiener Predigten, vgl. Hofer [Anm. 36], Bd. 2, S. 222. Pejores sunt hodie judei nolentes credere veritatem, quam gentiles, zitiert nach Hofer [Anm. 36], S. 225, Anm. 240, aus einer Wiener Predigt. Hofer [Anm. 36], S. 224f. Franz Joseph Worstbrock, >Simon von TrientDas Schiff der Penitenz und Bußwürckung: in Teutsch gewendt von Latin / gepredigt von Johannes Gayler von KayserspergBosheit< der Juden Christen infizierte (ein auch sonst auftauchendes Motiv); vor allem aber wird Geilers Glaubwürdigkeit >unanfechtban, wenn er einen eigenen Glaubensgenossen in das Geschehen negativ verwickelt zeigt. Die emotionsbetonte Passionsbetrachtung einer Reihe von Predigten ist auf die Bosheit der Juden fokussiert. Indem der Prediger die Juden von damals anspricht (z.B. O ir vermaledeiten Juden, bl. 85*"), hebt die Suggestionskraft des Redegestus die Distanz von einst und der eigenen Gegenwart auf; die Juden aller Zeiten erscheinen verdammt. Viele gegenwärtige Ausdrucksformen ihrer boßheyt bestätigen das. Auch Geiler klagt die Fürsten an, sie privilegierten die Juden und versündigten sich. Angesichts der wechselnden Positionen der Herrschenden im Laufe der Zeit, die allerdings ftlr die Hörer immer nur ausschnitthaft bekannt waren, ist auch dieser Vorwurf stereotyp, aber seine Wiederholung dürfte zu der Vorstellung einer schichtenspezifischen Verhaltensdifferenz gegenüber den Juden beigetragen und sie verfestigt haben. Mit der Vertiefung des Bildes vom verdammten Juden im Kontext von Passionsbetrachtungen und Ritualmordreminiszenzen hat Geiler gleichsam von höchster Warte aus jede Art Judenverfolgung verbal sanktioniert, vielleicht ohne sie direkt zu intendieren. Hervorzuheben ist, dass die Invektiven in einer Predigtreihe erfolgen, die den christlichen Gläubigen ins himmlische Jerusalem leiten sollte: >Das Schiff der Penitenz und Bußwürckung< lautet der Titel des 1514 in Augsburg gedruckten Predigtzyklus. Er ist - wie Geiler selbst hervorhebt - als Pendant zum >Narrenschiif< gedacht,42 das die Gemeinde verlassen sollte, um in das Schiff der Weisen umzusteigen. Das Ansinnen kritischer Selbstbetrachtung führte allerdings nicht zu einer Problematisierung der festgefügten Judenstereotype, diese bildeten offenbar eine unabdingbare Folie zur Profilierung christlicher Glaubens- und Lebenshaltung.
Juden als Mithörer und Adressaten christlicher Prediger Dass Juden christliche Predigten hörten, lag im Interesse der Bekehrungsabsichten. Selbstverständlich konnte das nicht im gottesdienstlichen Rahmen geschehen, sondern bei den zahlreichen Ansprachen im Freien. Kanzeln waren auch außerhalb von Kirchen angebracht oder wurden zu bestimmten Gelegenheiten an besonderen Orten, etwa auf dem Marktplatz, aufgestellt. Historiographisch ist das für die Bettelordensprediger bezeugt. Bei diesen Veranstaltungen konnten Juden mithören, was z.B. aus bildlichen Darstellungen hervorgeht:
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PredigtzykJus Geilers von 1498 über Sebastian Brants >NarrenschiffVita Johannis Capestranozum Baden< bereitgestellt.23 Und im Anschluss daran dominiert die heitere, innere Bewegung geläuterter Seelen: der bischofdancte do got mit fradichem gesange. da wart manic wange von wseinunden ougen naz: die iuden wxinten auch, daz si ez so lange heten gespart unt so lange wider den gart tumplichen heten gestrebet unt nach dem tuvel gelebet, ir rive si wol beschseinten. die christen alle vor vreiuden waeinten. (w. 410-420)
Da dankte der Bischof Gott mit frohem Gesang. Da wurde so manche Wange naß durch weinende Augen: Auch die Juden weinten, weil sie es so lange aufgeschoben und so lange einfältig Widerstand geleistet hatten und nach dem Gebot des Teufels gelebt hatten. Sie bezeugten völlig ihre Reue. Alle Christen weinten vor Freude.
Fortan zergeht den getauften Juden das Wort Gottes, das Neue Testament, »wie Honig auf der Zunge« (w. 450f.) und »schenkt ihnen mehr Glückseligkeit als Gold und Edelsteine« (w. 448f.). Mit dieser abschließenden Feststellung ist nicht nur - unter Anspielung auf den Wuchervonvurf- eine weitere antijüdische Spitze lanciert, sondern vor allem der Prozessionszug des Triumphes perfekt. Wenn Milch und Honig fließen, scheint der Paradieseszustand fast reetabliert. Und mit der Annahme der Taufe wird der zentrale Inhalt aller christlichen Dogmen, die Heilsrelevanz, akzeptiert: »Die Taufe vergegenwärtigt die passio Christi, sofern der Mensch mit Christus stirbt, um durch die Kraft der passio zu einem Neuen Leben wiedergeboren zu werden.«24 Offenkundig haben Tod und Auferstehung Jesu Christi ihre heilsgeschichtliche Relevanz zur Erlösung der Menschheit, noch dazu auf der Grundlage marianischer Vermittlung, beweisen können. Das von jüdischer Seite kritisch beurteilte Trinitätsdogma hat sich, ebenso wie die Figur der Heiligen Jungfrau, im Glauben etablieren können. Das Bild einer Massentaufe jüdischer Gemeindemitglieder ist als reines Wunschbild zu bewerten. Im Gegensatz aber zur Polemik vermittelt diese Projektion nicht Kritik, sondern versucht vielmehr die gerade in gesellschaftlicher Hinsicht belastenden Kontroversen und Gegensätze in einer für alle befriedigenden Heilsutopie aufzulösen. In der Realität werden derart harmonische Situationen kaum ihren Rückhalt gefunden haben. Vielmehr sind gerade für das 13. Jahrhundert ganz andere Nachrichten verzeichnet. So kommt es etwa in Frankfurt im Jahre 1241 zu einem heftigen Streit zwischen Juden und Christen, als der Vgl. Polykarpus Wegenaer, Heilsgegenwart. Das Heilswerk Christi und die Virtus divina in den Sakramenten unter besonderer Berücksichtigung von Eucharistie und Taufe, Münster 1958, S. 76f: »Der ursprüngliche Ritus der Taufspendung in Form des Untertauchens, die Taufzeiten der alten Kirche (Oster- und Pfingstvigil), der Ort der Taufe wie auch das Baptisterium selbst, alles dies weist hin auf den Zentralgedanken des Todes und der Auferstehung Christi in der Taufe. [...] Aufgrund der Einsetzung durch Christus bewirkt die äußere Abwaschung eine innere Abwaschung und Reinigung von Sünden. Das äußere Zeichen der Taufe hat also eine Beziehung zur >Reinigung< und >WiedergeburtDasJüdel
VolksmundVie des anciens Peres< erweist sich als ein die Wirklichkeit ausgesprochen genau bezeichnendes Wortspiel: Juden und Christen lebten miteinander wie Hund und Katze. Einerseits fand die mangelnde Macht der Argumente ihren Ausgleich in der Ausübung von Gewalt oder im Entwurf utopischer Harmonie, andererseits gab es Bestrebungen - vor allem auf der Grundlage von Privilegien und Schutzversprechen -, dieser Irrationalität Herr zu werden und religiösem Überzeugungseifer das Handwerk zu legen. Nicht nur Friedrich II. erklärte nach einer höchst aufwendigen Untersuchung (1236) die Ritualmordbeschuldigungen für nicht stichhaltig, sondern 23
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Dieses Ereignis ging als so genannte >Judenschlacht< in die Geschichtsschreibung ein. Außer in den >AnnaIes Erphordienses< wird der Fall auch im >Mainz-NQmberger Memorbuchx wiedergegeben bzw. spiegelt sich in einem hebräischen Klagelied, vgl. Regesten zur Geschichte der Juden im Fränkischen und Deutschen Reiche bis zum Jahre 1273, hg. im Auftrage der historischen Commission für Geschichte der Juden in Deutschland, bearbeitet unter Mitwirkung von Albert Dresdner und Ludwig Lewinski von Julius Aronius, Berlin 1902, S. 226f. (Nr. 529). Dass dieser pogromartige Konflikt große historische Wahrscheinlichkeit besitzt, belegen die dort angeführten Quellen. Die als historische Tatsache festgehaltene Erzählung von der zu Ostern auf einem Kirchhof vergrabenen Hostie gehört ebenso in das Repertoire wenig glaubwürdiger Beschuldigungen wie die der Mißhandlung eines Christusbildes mit anschließender wundersamer Bekehrung, der Brunnensturz einer christlichen Frau, oder eben die Nachrichten von angeblichen Ritualmorden. Vgl. Regesten zur Geschichte der Juden [Anm. 25], S. 148f, Nr. 330, aber auch S. 315, Nr. 748 (!)und S. 146, Nr. 323b.
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Cordula Hennig von Lange
auch Papst Innocenz IV. forderte in einem Schreiben (1252) Bischöfe und Erzbischöfe dazu auf, die Verbreitung derartiger Lügen zu unterbinden.27 Entsprechend stellte auch Erzbischof Konrad von Köln im Jahre 1252 die in Köln ansässigen bzw. zuziehenden Juden mit der Begründung unter seinen Schutz, dass es für ihn recht nützlich und ehrenvoll sei, wenn er den Juden, die in der Hoffnung auf Schutz und Gunst sich seiner Herrschaft unterwerfen, diese Wolthat erweise [ . . . ] [Sie sollten] allerorten bei allen ihren Geschäften sich seiner Gerichtsbarkeit erfreuen.
Um so größere Aufmerksamkeit musste es erregen, wenn vor allem junge Frauen und Kinder jüdischen Glaubens sich der gegnerischen, der christlichen Seite zuwandten. Die in Glaubensdingen gemeinhin Unmündigen verweisen mit ihrer so unvermutet getroffenen und zudem unabschätzbar weitreichenden Entscheidung auf eine Sphäre rational nicht zu fassender Rechtgläubigkeit. Nicht nur Mirakelerzählungen, auch die zeitgenössische Historiographie bezog ihre Wirkung aus diesem Charakter des Außerordentlichen, ja Wunderbaren. Welch nachhaltigen Eindruck derartige Nachrichten, auch unabhängig vom Eingreifen der Gottesmutter, bei mittelalterlichen Rezipienten hinterlassen haben müssen, zeigen parallele Überlieferungen in den chronikalen Werken des 12. und 13. Jahrhunderts. So weiß etwa der Chronist Caesarius von Heisterbach (um 1180-1240) gleich an mehreren Stellen von verführten und/oder getauften Jüdinnen zu berichten.29 Die List um den falschen Messias30 muss sich seinen Angaben zufolge in Worms zugetragen haben. In Löwen wiederum soll im zarten Alter von fünf Jahren die Tochter eines Juden zum Christentum bekehrt worden sein und nach aufreibendem Entführungsgerangel, sogar der Papst wird eingeschaltet, ihr Leben in einem Kloster verbracht haben. In Linz bei Köln verhält sich Ritter Konrad nobel und bietet einer jungen, sehr reichen und getauften Jüdin Schutz vor der Mutter, die in einer sehr unsauberen Prozedur die Taufe abzuwaschen droht. Auch von einer Mesalliance zwischen einer Jüdin und einem Priester31 weiß Caesarius zu berichten. Ein anderes, in den >Annales Egmundienses< verzeichnetes Ereignis verdient ebenfalls Beachtung,32 fallt doch gerade hier eine mehr als nur strukturelle Parallele zum >Jüdel< auf, wenngleich hinsichtlich einzelner Motive Differenzen bestehen; insbesondere spielt der Vertreter der Kirche eine zweifelhaftere Rolle: In Regensburg habe sich der Sohn eines reichen (wuchernden) Juden - von klein 27
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Bernhard Diestelkamp, Der Vorwurf des Ritualmordes gegen Juden vor dem Hofgericht Kaiser Friedrichs II. im Jahr 1236, in: Religiöse Devianz [Anm. 19], S. 19-39. Zitiert nach Regesten zur Geschichte der Juden [Anm. 25], S. 250, Nr. 588. (Privileg vom 27. April 1252). Vgl. die in den Regesten zur Geschichte der Juden [Anm. 25] zitierten Abschnitte aus dem >Dialogue miracutorutru, S. 186 , Nr. 417fF. Vgl. Matthias Schönleber, Antijüdische Motive in Schwanken und Fastnachtsspielen von Hans Folz, in diesem Band. Von der unkeusch verbrachten Karfreitagsnacht sowie der scheiternden öffentlichen Beschämung des Priesters in der Ostermesse berichten auch die >Annales Egmundienses«, vgl. Regesten zur Geschichte der Juden [Anm. 25], S. 115f, Nr. 254. Vgl. Regesten zur Geschichte der Juden [Anm. 25], S. 105, Nr. 226.
>DasJildel
JüdelJüdel< wird das sich ereignende Wunder nicht im Zusammenhang mit dem hilfreichen Eingreifen der Muttergottes thematisiert. Ein entsprechender Impetus zur Marienverehrung wird mit dem Bericht nicht intendiert, und so unterbleibt eine weitere Stilisierung im Tenor eines höfisch-festlichen Bekehrungsaktes. Allerdings wird das Wunder, das Auftauchen der Leiche, als ein Zeichen für den Wahrheitsanspruch der christlichen Religion gedeutet; auch hier ist das Wunder Auslöser für einen kollektiven Akt der religiösen Bekehrung im christlichen Sinne, nimmt das zu Unrecht bestrafte Kind als Märtyrer den Rang einer verehrungswürdigen Persönlichkeit an. Weitere Parallelen zum >Jüdel< sind schließlich auf der Ebene der antijüdischen Darstellungsweise zu suchen.
Antijüdische Äußerungen in den Mirakeldichtungen des Hohen Mittelalters Auf den Archidiakon der in Regensburg angesiedelten Erzählung ließe sich eine Äußerung beziehen, die in den >Carmina BuranaAlte PassionalJüdel< ist einer der reichen iuden, die in dergrozzen s tat wohnen. Weil der Unwille der Mitschüler befürchtet werden muss, werden diese bestochen, so dass von da an gilt: umbe so getanen soll l -waren si dem chinde holt, l alle die schulaere, l unt ob ez ein christen wsere, l sine moechten im nicht holder wesen. Decleinen [deklinieren], singen unt lesen l lerten siz wider streit. (w. 49-55). Dem Stoff der ursprünglichen Erzählung (vgl. Gregor) sind diese inhaltlichen Erweiterungen des >Jüdel< sowie die sich daran knüpfenden Assoziationen durchaus fremd. Zeitgenössische französische Fassungen sind in ihrer Darstellung noch drastischer.35 Weitere, als typisch jüdische Eigenschaften verstandene Epitheta werden hier in negativer Wertung beigefügt - so z.B. auch der Vorwurf der Blindheit. Die französische Bearbeitung Walthers von Coincy36 schließt mit der Bemerkung ab: Et madame sainte Marie [...] bien lor mostra qu 'avugle estoient tuit U Jwf, quant il ne croient que ele est la verge florie, dont diexparla par Isale. [...] En lor error ont trap dure, si durement sont adure que plus sont dur que pierre dure. (w. 118ff.)
Und die heilige Jungfrau Maria zeigte ihnen sehr gut, wie blind alle Juden sind, weil sie nämlich nicht glauben, dass sie die (blühende) Jungfrau ist, von der Gott durch Jesaia hat berichten lassen. (...) Und ihr Irrtum dauert nun schon so lange, dass sie so stark gefestigt sind, dass sie nun härter sind als harte Steine.
Die Unmöglichkeit eines Zusammenlebens beider Gemeinschaften wird in der >Vie des anciens Peres Vie des anciens PeresDasJüdel< Entre Jul's et Cresli&ns s 'enlreinment come chas et chiens. Bien est droiz que nos les aions, quantJhesucrist crucefi&rent [... ] et livrerent a mart par leur grant felonie, et encore de leurfolie ne se laschent ne ne recroient, [...] La sont dampne et la sont vill, car il sont del deableßll. (w. 85ff.)
151 Zwischen Juden und Christen herrscht ein Verhältnis wie zwischen Katzen und Hunden. Es ist ganz richtig, dass wir sie hassen, weil sie Jesus Christus gekreuzigt haben und wegen ihrer großen Sündhaftigkeit dem Tod überantwortet haben, und weil sie außerdem weder von ihrer Dummheit absehen noch sich bekehren lassen wollen. Sie sind verdammt und schlecht, weil sie vom Teufel besessen sind.
Diese Liste der Epitheta und Beschimpfungen ließe sich leicht erweitem. Doch nicht der Bestand antijüdischer Äußerungen - betrachtet man ihn isoliert - ist von Belang. Vielmehr fallt schon bei diesem, auf sehr reduziertes Material zurückgreifenden Vergleich auf, dass die Polemik ausschließlich in der Volkssprache geäußert wird. Der volkssprachig verarbeitete Stoff unterscheidet sich von seiner lateinischen Vorlage damit nicht nur häufig in formaler Hinsicht, sondern vor allem durch seine inhaltlichen Erweiterungen, d.h. Ausschmückungen und Ansätze zur Steigerung der Plausibilität einerseits sowie lehrhafte Bemerkungen und theologische Anspielungen andererseits. Dazu gehören schließlich auch die antijüdischen Akzente. Vor diesem Hintergrund mussten vor allem der Anspruch des Judenknaben auf Rettung und sein Zusammensein mit christlichen Kindern oder seine Teilnahme an der Kommunion erklärt werden. Das >Jüdel< liefert einen umfassenden Überblick über die neue Tendenz. So wird der Judenknabe als besonders wissbegierig und lerneifrig beschrieben: daz chint guten willen true dar zu, l daz im bevolhen was: / ez lichte, schrasib unt los (w. 36ff). Oder: daz chint -wider ze schule quam unt lernet ie baz unt baz (w. 102f.). Unablässig fragt das Kind und erhält seine Belehrungen im christlichen Glauben. Von der eigenen Glaubensgemeinschaft angegriffen, erweist es sich als standhaft, gestärkt durch seine neu gewonnene Zuversicht: ir gesahet von einem chinde l nie so gar unverzagten muol. (w. 176f.).39 Gerade innerhalb der Gemeinschaft der jüdischen Minderheit musste - dies zeigen historische Untersuchungen - zum >Verrat der mosaischen Gesetze< und zu der damit verbundenen Ehrverletzung scharf Stellung bezogen werden. Das Thema >Juden und Ehre< besaß nicht nur im Rahmen der äußeren, gesellschaftli38
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Bei Walther von Coincy und im >Alten Passionak ist der Judenknabe statt dessen besonders schön, wird von seinem Vater sehr geliebt und soll es zu hohem Ansehen bringen: do der was wol umb achte jar, I do was er schone genuc. I sin voter holdez herze im true l und dachte harte witen, l wi er bi sinen ziten l den sun brechte uferen. [...] waz schadet, ob er vumfjar l oder umb di maze laufet dar l mit chstenlichen kinden? (w. 12-23). Vgl. diesbezüglich Wemfried Hofmeister, Das Jüdel im Kontext mittelhochdeutscher literarischer Kindesdarstellungen, in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, hg. von Alfred Ebenbauer/Klaus Zatloukal, Wien/Köln/Weimar 1991, S. 91-103. Zur Bedeutung der frühzeitigen schulischen Ausbildung im jüdischen Glauben vgl. Magdalena Schultz, Fest- und Alltagsbräuche der Juden im Mittelalter. Ursache von AntiJudaismus?, in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, hg. von Helmut Birkhan, Bern/Berlin 1992 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 33), S. 73-93.
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Cordula Hennig von Lange
eben Beziehungen seine Relevanz, sondern insbesondere auch aufgrund innerjüdischer Aspekte. Die Rechte des Einzelnen hatten sich der Gerichtsbarkeit der Gemeinschaft und ihrem Rechtsverständnis unterzuordnen. In einer Regensburger Satzung heißt es z.B.: Der do verrait ainen Juden oder Judin, dass man drauf kunt, so sollen alle recht darauf gesetz seien als auf ainen, der ainen schlecht on abgang.
Derjenige, der einen Juden oder eine Jüdin verrät, so dass dies offenbar wird, der soll rechtlich so gestellt werden, so bestraft werden wie einer, der einen anderen grundlos schlägt.
Mit seinem ungewöhnlichen erzieherischen Entschluss, den Sohn in eine christliche Schule zu geben, vernachlässigt der Vater sein Wissen um dieses Konfliktpotential innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Der Begriff des Ansehens bestimmt sich für den Vater zunächst über den Aspekt der Gelehrsamkeit, über die Möglichkeit also, gegebenenfalls im Religionsgespräch argumentierend hervortreten zu können: swanne er gewechset zeinem man und mit den pfaffen reden kan von den buchen zu latin, daz wirt im groz ein vrume sin an der eren stule.
Wenn er zu einem Mann herangewachsen ist und mit den Pfaffen Ober lateinische Büeher reden kann, wird ihm das sehr nützlich sein, um zu Ansehen zu kommen.
(w. 25-29)
Im Gegenzug mündet dann - folgerichtig auf der Grundlage des Begriffspaares meintat [Untat] und ere [Ansehen] - das Erschrecken des Vaters in der Erkenntnis seines Versäumnisses. Im >Alten Passional· klagt der Vater: »ja, bin ich schuldec dar an. ich bin, der dise meintat und den mort begangen hat an mir und an uch allen. ey, wi bin ich gevallen uz der grozen ere, di ich nimmer mere verwinden sal von rehte, bi der Juden gesiechte.« (w. 268-276)
»Ja, ich bin schuld daran. Ich bin es, der diese schreckliche Untat begangen hat an mir und an euch allen. Oh, wie bin ich von dem großen Ansehen abgefallen, was ich zu Recht niemals mehr verwinden werde, bei dem Volk der Juden.«
Das Erschrecken auch der herbeigerufenen Juden über die Teilnahme des Jungen an der Kommunion bleibt für die gesamte Erzählung signifikant. Denn das ursprüngliche Ansinnen, den Knaben im Sinne der Gemeinschaft mit nützlichem Wissen ausstatten zu lassen, hat sich im Ergebnis in sein Gegenteil verkehrt. Das Kind ist zur Gefahr geworden. Nicht allein >Taufjuden< galten als Verräter, sondern insbesondere auch jene, die dem Mysterium der Wandlung zu folgen vermochten. Denn in der Eucharistie kulminieren die Inhalte des christlichen GlauZitiert nach Robert Jütte, Ehre und Ehrverlust im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentum, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Schreiner und Gerd Schwerhoff, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 144165, hier S. 150.
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>DasJüdel
Jüdel< Lerneifer und Standhaftigkeit des >Jüdel< sind als Zeugnis seiner Auserwähltheit bereits thematisiert worden. Die eigenwillige Ausschmückung des Stoffes durch die Szene am Marienbild, in der der Knabe mit der Spinne als der Verursacherin der Verschmutzung spricht, dient dazu, das Besondere dieses Knaben - trotz seiner Kindlichkeit - weiter zu unterstreichen. Im >Alten Passional< schimpft der Knabe: »ey, her wurm! ey, her wurm/ muste ich mit uch einen stürm began nach minen willen! ich \volde uch also stillen, weste ich ot, wa ir weret, daz ir me wol verberet dit bilde miner vrowen. 4l 42
»He, Herr wurml He, Herr wurml Absichtsvoll muss ich mit Euch streiten. Ich würde Euch gern zur Ruhe bringen, wenn ich wüßte, wo Ihr seid, damit Ihr das Bildnis meiner Herrin verschont!
Burmeister [Anm. 2], S. 24ff. Vgl. Burmeister [Anm. 2], S. 24ff.; Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau - Mutter - Herrscherin, Wien 1994; Heinrich Loewe, Die Juden in der katholischen Legende, Berlin 1912; Hedwig Röckelein, Marienverehrung und Judenfeindlichkeit im Mittelalter, in: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.-18. Jahrhundert, hg. von Claudia Opitz, Hedwig Röckelein u.a., Zürich 1993, S. 279-308.
154 ich wolde uch lazen schowen. daz ir übel habt getan und soldet uwer were ufslan wol anderswo dann hie.« (w. 145-155)
Cordula Hennig von Lange Ich würde Euch gern das Übel, das Ihr angerichtet habt, zeigen, und Ihr solltet Euer Netzwerk woanders bauen als hier.«
Sowohl die Anrede her als auch die mit Wurm, Insekt, Schlange, Drache oder auch Teufel zu übersetzende mittelhochdeutsche Bezeichnung wurm legen es nahe, in der Spinne nicht nur das kleine Tier zu erblicken, sondern ebenso den Teufel. Die geistliche Ausdeutung nutzt die Tierwelt als Quelle von Symbolen, um Rechtgläubigkeit als Qualität sinnfällig zu illustrieren und zu belegen. Wenn es etwa heißt: »Da der Mistkäfer gepanzert ist, kann er ein Spinnengewebe durchbrechen«, so kann dies etwa folgende Bedeutung haben: »Derjenige, der wahrhafte Buße tut, entgeht, gepanzert mit der Gnade Gottes, dem Teufel und seinen Versuchungen.«43 Auch das >Jüdel< weist die Spinne auf ihre wenig ehrerbietige Haltung hin: »wurm, unt waerstu weise, du richtest dein werch anders wa. ez enchumt dir nicht ze mazzen da, unt west ich, wa ich dichfunde, du musest an dirre stunde arnen dise missetat. dune waeist nicht, wie ez um diefrouwen stat.« (w. 94-100)
»wurm, wenn Du klug wärst, würdest Du Dein Netz woanders bauen. Dort ist es unangemessen, und wenn ich wüßte, wo ich Dich finde, müsstest Du sofort Deine Missetat büßen. Du weißt nicht, was es mit meiner Herrin auf sich hat.«
Neben dem kindlichen Eifer spricht aus dieser Äußerung die spöttische Arroganz des Menschen, dem die Tiere Untertan, verstandesmäßig unterlegen sind. Die mangelnde Ehrerbietung des Tieres dem Abbild der Jungfrau Maria gegenüber ist tumpheil, mangelnde wisheit, eine missetat. Doch nicht über das Tier spricht das Kind hier in erster Linie sein Urteil, sondern vielmehr über seine Glaubensgenossen. Über die gedankliche Verbindungslinie einer Teufelsbuhlschaft der Juden steht die tumpheit des Spinnentieres in direkter Verbindung zur Charakterisierung der ihrem >Irrglauben< verhafteten Juden. Anläßlich der Kollektivtaufe bezeichnen auch die Konversionswilligen ihre frühere Haltung als tump. Für den Verständnishorizont der Tiersymbolik im >Jüdel< vermag nun eine Strophe Heinrichs von Mügeln44 weiteren Aufschluss zu bringen: Dich wundert, sal das brot der argen sterben sin, und sal die guten spisenjur des todes pin, süß unde sur wirf sines wandels zeren? Sich, wie die blume wirket in der spinnen gift,
Erstaunst du darüber, das das Brot zugleich todbringend den Sündern, lebensspendend, nicht marternd, aber den Guten sein kann süß und bitter im Verzehr also ganz dem Lebenswandel entsprechend? [So erinnere dich:] Die gleiche Blume, die einer Spinne
Dietrich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (l 100-1500), Diss. Berlin 1968, Bd. l, S. 251. Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, hg. von Karl Stackmann, Berlin 1959.
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>Das Jüdel· honig schephet in der bine der naturen trift, me sie sich beide einer spise neren.
giftig sein kann, ist einer Biene Ort des Honigsammelns - beide nähren sich von einer Speise.
(Nr. 16, w.
Nur implizit ist hier eine Gleichsetzung von Teufel und Spinne ablesbar. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das unterschiedliche Wirken der beiden Tiere Spinne und Biene. Doch indem die Blume gleichgesetzt wird mit dem Leib Christi, tritt die geistliche Deutungsebene klar hervor: Das Brot in der Eucharistie gerät den Bösen zum Schaden, den Guten allerdings zum Segen. Ob sich die Teilnahme an der eucharistischen Feier positiv oder negativ auswirkt, darüber entscheidet der rechte Glaube des Einzelnen. Im >Jüdel< ist diese spezifische Teilnahme in besonderem Maße als Wunder gestaltet. Indem es integriert ist in das Fest der Ostermesse, ist es in seiner Bedeutung ganz entscheidend festgelegt: Am Tage der Auferstehung wird das Wunder der Wandlung Anlaß für ein Wunder der Bekehrung. Und so wird die Feier der Auferstehung ein gemeinsames Fest der Wiedergeburt. Die christliche Dimension des Osterfestes überlagert vollständig die ursprüngliche Bedeutung des jüdischen Pessahfestes. Das Blutopfer des Lammes tritt hinter der Erlösungsfunktion des in der Hostie gegenwärtigen Leib Christi zurück. Das ausgesprochen bildlich geschilderte Hostienwunder vergegenwärtigt eindrücklich, welch starkem Reiz der Judenknabe während der Ostermesse ausgesetzt ist. do man daz ampt begie, diu ougen ez nie dar abe verlie, untz im ufdem alter erschsein der aller schonist chinde sein, daz dehsein ouge ie ubersach. der briester vlseisch dar abe brach unt gab ez den Hüten in den munt. do doucht ez ie wol tousentstunt schöner unt starcer danne e, unt entet nicht, als im wsere \ve, unt ob ez inder wsere wunt. ez erschsein ie ganz unt wolgesunt. (w. 115-126)
Als man die Messe beging, wandte es die Augen niemals ab, bis ihm auf dem Altar eines der schönsten Kinder erschien, auf das je ein Auge geblickt hatte. Der Priester brach Fleisch davon ab und legte es den Leuten in den Mund. Dabei erschien es jedesmal wohl tausendmal schöner und stärker als vorher, und es verhielt sich nicht so, als ob es Schmerzen empfände und als ob es irgendwo verwundet wäre. Es erschien jedes Mal unversehrt und völlig gesund.
Eucharistische Wundererscheinungen gehören seit der Frühscholastik zu den Topoi theologischer Erörterung und Auseinandersetzung;45 das bezeugen zwei Sammelbände des 19. Jahrhunderts, in die Eucharistiewunder aus dem Mittelalter ebenso Eingang gefunden haben wie zeitgenössische. Je nach spezifischer Zweckbestimmung kann die dogmatische Beurteilung sehr unterschiedlich ausfallen.46 Allen scheint jedoch wenigstens eines gemeinsam zu sein: Vgl. Peter Browe, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München 1933. Vgl. hierzu Franz Schmid, Die eucharistischen Wundererscheinungen im Lichte der Dogmatik, ZkTh 26 (1902), S. 492-517. Er kategorisiert folgendermaßen: »Wie die fraglichen Wundererscheinungen in sich recht manigfaltig und vielgestaltig sind, so haben dieselben auch, wie leicht ersichtlich wird, verschiedene Zwecke. Manche dieser wunderbaren Vorgänge haben offensichtlich die Bestimmung, gewisse Frevel, die am hochheiligen Sakra-
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Cordula Hennig von Lange
Derartige Wundererscheinungen verfolgen offensichtlich den Zweck, in den betheiligten Personen den Glauben an die Wesensverwandlung des Messweines und an die wirkliche Gegenwart des Blutes Christi nach geschehener Wandlung wachzurufen oder zu bekräftigen.
Neben der eucharistischen Erscheinung im >Jüdel< existiert in der mittelhochdeutschen Mirakelliteratur noch ein weiteres, bekannteres Beispiel eines derartigen Wunders. Die Verserzählung >Die Jüdin und der Priesten48 kann zwar aufgrund ihrer ganz anderen Überlieferungsbedingungen sowie der unterschiedlichen Gattungszugehörigkeit nur bedingt mit dem >Jüdel< verglichen werden, doch haben beide Texte inhaltlich mehreres gemeinsam. Zunächst gehören beide Protagonisten dem jüdischen Glauben an und begeben sich durch ihre Kontakte zum Christentum in eine Außenseiterrolle. In der handschriftlich erst aus dem 15. Jahrhundert überlieferten Erzählung hat ein Priester ein heimliches Verhältnis mit einem jüdischen Mädchen. Die auf echter und gegenseitiger Neigung beruhende Beziehung schenkt nun nicht nur erotische Freuden, sondern ist vor allem auch Quelle bzw. Symbol beiderseitiger Verunreinigung: Während der Geistliche das Mädchen am Sabbat erfolgreich zur Hingabe drängt, verlangt das Mädchen an einem Samstagabend vor dem feierlichen Hochamt ihrerseits von ihrem Geliebten die körperliche Vereinigung, also eine entsprechende Zuwiderhandlung nicht nur gegen sein Gelübde, sondern zudem gegen die Gebote seines Glaubens. Die eucharistische Wundererscheinung ereignet sich auch in dieser Erzählung im Kontext einer Messfeier. Nur so können die intendierten Bezüge zwischen Amt und Würde des Sakraments sowie zwischen Glaubensfremdheit und Heilsgegenwart im Sakrament hergestellt werden. Unerkannt begibt sich das jüdische Mädchen in die christliche Messe und wird nun folgender Szene ansichtig: Da sich der priester an geleit In daz engelisch kleyt, Daz eynem priester zymt wol, Wan er die messe singen sol, Da sach die arm judein Drey engel klar undfeyn Mit dem priester vmb gan, Da er über elter wolt stan. „ . · · « . . D e r e y n trug in seiner nant _ . . , Eyn hantzweheln genant,
Nachdem der Priester sich in das engelsgleiche Gewand gekleidet hatte, das einem Priester wohl ansteht, wenn er die Messe lesen soll, erblickte die erbarmungswürdige Jüdin anA allerliebste Engel, wie sie um den Priester «Bebten, «l» dieser sich anschickte zu stehen · ·" ' Der eine trug in seiner Hand ein Tuch, , , . . , _ . . der andere trug eine Karaffe - niemals vor, , ,. ° . ,, , her hatte die Jüdin eine schönere gesehen -,
ment verübt wurden, zu bestrafen oder dieselben in ihrer wahren Gestalt erscheinen zu lassen. [...] In anderen Fällen soll zunächst ein schwachgläubiger Christ oder Priester im Glauben bestärkt und über gewisse einschlägige Lehrpunkte des nähern unterrichtet werden; oder es sollen Nichtchristen und Nichtkatholiken zum Glauben an dieses Geheimnis bewogen werden.«, S. 494. Schmid [Anm. 46], S. 497. >Von der Judin und dem Priesten, in: Der münch mit dem genßlein. Spätmittelalterliche Verserzählungen. Aus dem Codex Karlsruhe 408, hg. und erl. von Rolf Max Kully und Heinz Rupp, Stuttgart 1972. Zur Ergänzung Rolf Max Kully, Die Jüdin und der Priester, WW 22 (1972), S. 133-142.
>DasJüdel< Der ander trug eyn gyeßfaß - Sye sach nye keins geziert baß -, Der dritte ein reylich pecken trug. Der eyner goß, der ander zwug, Dempriester allen seinen leip; [...] Der dritte hübe daz pecken dar: Waz von ym ran, daz viel gar Indazgutpeckein, _ . _. . Daz ein eymges tropffelein r i Dar von wicw en Arwam; [...] Daz aller mynnecliches kynt Sähe sie in dez priester s hende. (w. 119-139/150f.)
157 der dritte endlich trug ein großes Becken. Und während der eine goß, reinigte der andere des Priesters ganzen Leib. Der dritte aber hob das Becken darunter, so aass alles was von ihm rann · in Verworfenheit< der Juden und ihrer Religion unmittelbar vor Augen führen sollte. Die besondere und vielfach irritierende Drastik der entworfenen Bilder lässt sich hierbei weder soziologisch als sittlicher Verfall10 noch psychoanalytisch als Wiedererschließung verdrängter Lustquellen und Triebe" abtun, sondern muss auf die religiöse antijüdische Diskussion ebenso bezogen werden wie auf Gattungsvorgaben und Rezeptionserwartungen. Um Genese und Funktion der Topoi zu bestimmen, soll das von Folz mehrfach bearbeitete Motiv des >falschen Messias< in einer Verserzählung und einem Fastnachtsspiel untersucht werden.
>Von Der luden Messias< Dem Motiv des falschen Messias liegt die aus christlich-zeitgenössischer Perspektive vergebliche Heilserwartung der Juden zugrunde und somit der geläufige Vorwurf der jüdischen Verstocktheit. Die Juden erhoffen auch nach Jesu Geburt die Ankunft des Erlösers, da sie die Messianität Christi nicht anerkennen und zeigen sich >blind< gegenüber den Offenbarungen des Evangeliums. Dieser Vorwurf ist zentraler Topos des theologisch begründeten AntiJudaismus. Anders als der vermeintliche Christusmord oder die postulierte Teufelskindschaft der Juden ist deren Messiashoßhung im christlich-jüdischen Alltag unmittelbar wahrnehmbar. Demgemäß sind die Dichtungen des Hans Folz, die das Motiv des falschen Messias aufnehmen, auch nicht in femer Historic, sondern in der städtischen Alltagswelt der zeitgenössischen Rezipienten angesiedelt. Die Reimpaardichtung >Von Der luden Messias< druckt Folz zwischen 1483 und 1488 und reiht den Stoff der Erzählung in eine lange Rezeptionsgeschichte, die von Cäsarius von Heisterbach über Boccaccio und Grimmelshausen bis Jakob Wassermann reicht, in deren Verlauf aber nur die Details variieren. In Folz' Fassung verfuhrt ein christlicher Student in einer schlesischen Stadt ein jüdisches Mädchen, das daraufhin schwanger wird. Um von seiner Verantwortung abzulenken, lässt sich der Student bei einem Schreiner ein Rohr anfertigen und schleicht sich in die Kammer der Eltern des Mädchens. Durch das Rohr flüstert er dem Vater folgende Botschaft ein: Abraham, trauter voter zart, Und du, Sara, die haussfrau sein, Merckt eben auffdie rede mein! Got lest euch peiden sagen das: Den warhaffiigen Messias Dein dochter heint enpfangen hot Und ist darmit gottes gepot, Das euer keins nytfrag darpey, Von wan dis hoch gepurt vort sey. Siehe Anm. 2. Vgl. Merkel [Anm. 6], S. 70 ff.
Abraham, treu sorgender Vater, und du Sara, seine Frau, hört gut zu, was ich euch sage! Gott lässt euch sagen, dass den wahrhaftigen Messias deine Tochter heute empfangen hat. Auch das befiehlt euch Gott, dass keiner von euch frage, wie dies geschehen konnte.
Antijüdische Motive Sunder, ob ir des nit wert glauben, Wirt euch got ern und seid berauben Und alls euer geschlecht verdamen. (w. 32-43)
167 Andernfalls, wenn ihr all das nicht glaubt, wird euch Gott euer Ansehen und Glück nehmen und euer ganzes Geschlecht verfluchen.
Die Szene verweist persiflierend auf Gen 17,1-27. In der betreffenden Schilderung des Alten Testaments offenbart sich Gott dem neunundneunzigj ährigen Abraham, kündigt ihm und seiner Frau Sara die Geburt eines Sohnes an und bestimmt die Beschneidung als Zeichen des Bundes mit dem Volk Israel. Indem Folz solcherart präfigurierte Namen der Eltern (Sara/Abraham) benutzt und auf die Offenbarungssituation der Genesis verweist, disponiert er seinen Schwank auf der Folie eines Zentraltextes jüdischen Selbstverständnisses und signalisiert jedem Leser, wie er verstanden werden will: Mit den polemischen Mitteln des Schwankes sollen die Heilsgewissheit der Juden dementiert und die Messiashoffnung lächerlich gemacht werden. Nachdem der Student dem Ehepaar die Geburt des Messias durch ihre Tochter verkündet hat, eröffnet er ihnen die Aussicht auf heilsgeschichtliche Dimensionen der Niederkunft: Auffdas euch hie und dort geling Und euch auch nucz darvon entspring Und allem judischem geschlecht, Das lang gewesen ist verschmecht. Secht, das wird alles herschen gar Heidnischer und der cristen schar. (w. 49-54)
Auf dass es euch gelinge und dass ihr und alle Juden Nutzen davon habt, die lange unterdrückt wurden. Seht, ihr werdet herrschen über Heiden und Christen,
Indem der Student vorgibt, die inferiore Lage der Juden nachzuvollziehen, und eine bessere Perspektive aufzeigt, wirkt die Botschaft besonders glaubwürdig auf die Eltern. Gleichzeitig musste den christlichen Rezipienten der formulierte Herrschaftsanspruch der Juden über die Christen als eine Bedrohung erscheinen, die allerdings durch die Aussichtslosigkeit des Unterfangens gleichzeitig konterkariert wird. Am folgenden Tag wird bei einer Versammlung der jüdischen Gemeinde in der Synagoge die Nachricht verbreitet und beschlossen, das schwangere Mädchen in hohen Ehren zu halten und ihre Gemächer kostbar auszustatten. Die Wände werden mit Blumen und goldenen Sternen geschmückt, die Bänke werden mit Polstern aus grünem Samt bezogen und Bett und Stuhle mit Goldstücken verziert. Wie eine Fürstin wird das Mädchen behandelt, drei Jungfrauen und ein Knecht dienen ihr. Dies geschieht wegen ihrer zucht und zuvorauß der hoen frucht, Die got in iren leib det sencken (w. 151/152) (wegen ihrer Sittsamkeit und vor allem aufgrund der göttlichen Frucht, die Gott in ihren Leib senkte). Die Geburt des vermeintlichen jüdischen Messias wird vor dem Horizont der Geburt Jesu, wie sie im Neuen Testament beschrieben ist, gestaltet. Parallelität und Gegenbildlichkeit stehen in kunstvoller Spannung zueinander. So treffen einerseits analog zu den Gaben der Heiligen Drei Könige in der schlesi sehen Stadt Geschenke der jüdischeit ein; andererseits umgibt die werdende Mutter verschwenderischer Luxus, was einen deutlichen Gegensatz zu den ärmlichen und
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Matthias Schönleber
kargen Umständen im Stall zu Bethlehem markiert. Hans Folz evoziert durch dieses Verfahren den Vergleich beider Geburten und kann dabei durch den Kontrast zugleich das jüdische Verhalten als anmaßend diskreditieren. Neben der Demonstration jüdischen Unglaubens in bezug auf das Erlösungswerk Christi zielt die Reimpaardichtung damit stark darauf, die Juden lächerlich zu machen. Ähnlich geht Hans Folz vor, wenn er das jüdische Mädchen vor dem Bezugshorizont der Gottesmutter Maria mit ganz gegensätzlichen Eigenschaften ausstattet. Selbst angesichts der wertvollen Geschenke kann das Mädchen nur an den Studenten denken: Ach, das die halp het der student Und ich dafür in meiner hent Noch heint seins stolczen leibs ein trum, Und schaczt man mich gleich noch so frum.
Ach, dass die Hälfte davon der Student hätte und ich dafür in meiner Hand noch heute einen Teil seines edlen Körpers, auch wenn man so anständig von mir denkt.
(w. 179-182)
Hier wird das Bild einer Anti-Maria entworfen, dessen Bezug zum Vorbild gerade durch den größtmöglichen Abstand markiert ist. Das schwankhafte Motiv des weiblichen Liebeshungers ist dabei gattungstypisch und auch die verhüllende Umschreibung des Penis (seins stolczen leibs ein trum) stellt ein beliebtes Element komischer Verserzählungen und Fastnachtsspiele dar. Bildspender für Penis-Metaphem sind häufig Waffen (Speer, Degen etc.), Werkzeuge (Dreschflegel, Deichselstange etc.), Nahrungsmittel (Wurst, Fleisch) und Tiere (Esel, Pferd).12 Die Komik liegt in der für alle durchschaubaren Verschleierungsbemühung, die genau das Gegenteil, nämlich Eindeutigkeit, erreicht. Bezieht sich diese Eindeutigkeit auch noch auf eine vermeintliche genetrix dei, wird diese Wirkung verstärkt. Drastische Darstellung aus dem körperlich-sexuellen Bereich bestimmt auch den Fortgang der Handlung. Die Geburt, die dem Mädchen große Schmerzen bereitet (Mit grossem we als ändern frawen; v. 185), muss wiederum auf Marias schmerzlose und leichte Geburt Jesu bezogen werden und ist bereits ein deutliches Indiz gegen die Messianität des Neugeborenen. Konsequent der Ästhetik der komischen Gegenbildlichkeit verpflichtet, wird nun auch anstelle eines Knaben ein Mädchen geboren. Und man das kindlein an wart schawen. Do het es eins gelidlins nicht, Alls man gemein an kneblin sieht. (w. 186-188)
12
Und als man das Kind anschaute, da fehlte ihm das Glied, das man gemeinhin an Knaben findet,
Johannes Müller, Schwert und Scheide. Der sexuelle und skatologische Wortschatz im Nürnberger Fastnachtsspiel des 15. Jahrhunderts, Bern, Frankfurt a.M./New York/Paris 1988, S. 79 ff.
Antijüdische Motive
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Es handelt sich hierbei keinesfalls (wie Edith Wenzel13 meint) um einen verstümmelten Jungen. Vielmehr macht sich der Erzähler, der während der gesamten Erzählung mehrfach aus der Sicht der Juden berichtet, auch hier die jüdische Perspektive zu eigen: deren >Verstocktheit< geht offensichtlich so weit, dass selbst unumstößliche Fakten die Heilserwartung nicht überwinden können. So wird nach einer anderen Erklärung gesucht, die allerdings die vermeintlich jüdische Perspektive der Erzählhaltung als zynische und boshafte Verstellung letztlich entlarvt: Ob es ein sau im ab het pissen mit wurcz und und all heraus gerissen, Oder wie ym sunst wer gescheen, Das weiß ich nit [...] (w. 189-192)
Ob es eine Sau abgebissen hat, mit Stumpf und Stiel herausgerissen, oder wie das Glied sonst verschwunden ist, das weiß ich nicht [...]
Die pervertierende Anspielung auf das jüdische Beschneidungsritual in Verbindung mit der für Juden unkoscheren Sau ist der Kulminationspunkt des Schwankes. Das Beschneidungsritual und das Schweinefleischverbot sind wahrnehmbare Zeichen für die Zugehörigkeit zum Judentum, weswegen sie von Folz an dieser Stelle montiert werden. Die Maske, die sich der Erzähler aufgesetzt hat, wird zu einer verzerrten Fratze, die den Heilsanspruch der Juden verhöhnend demontiert. Das Ende des Schwankes ist schnell erzählt. Der Rat der Stadt gebietet den Juden, das Mädchen in christliche Obhut zu geben, um es vor Übergriffen von jüdischer Seite zu schützen. Der Student heiratet das Mädchen, Mutter und Kind werden getauft, während die jüdischen Eltern sich vor dem Zorn der übrigen Juden verbergen müssen. Hans Folz' Reimpaardichtung Von Der luden Messias bietet vordergründig alles, was eine gelungene Schwankerzählung ausmacht. Die Handlung ist in der Regel einsträngig und wird getragen von einem Konflikt, der durch törichtes oder lasterhaftes Verhalten motiviert und mit einer Pointe aufgelöst wird. DerbErotisches und Zotig-Obszönes gehören zu Motivreservoir und Stilebene der Versschwänke ebenso wie eine moralische Belehrung durch den auktorialen Erzähler. Welche Funktion das moralisierende Epimythion tatsächlich gehabt hat, lässt sich nicht immer genau sagen; oftmals bleibt die abschließende Didaxe auch bloßes Alibi, welches die in der komischen Handlung verletzte Ordnung vordergründig wiederherstellt. So liegt wohl auch weniger konkrete Morallehre in der Absicht der Schwankdichter als Unterhaltung, die zum befreienden und entlastenden Lachen reizt. Verlacht werden Gefährdungen durch Triebhaftigkeit und Körperlichkeit und Bedrohungen durch List und Fremdheit. Bei Folz resultiert die Komik aus der extremen Fallhöhe, die zwischen seinen Figuren und deren Vorbildern besteht. So ist die liebeshungrige Frau schon durch die Gattungs13
»Während bei Cäsarius von Heisterbach die Geburt eines Mädchens den Betrug offenbart, schärft Hans Folz die Geschichte auf eine noch bösartigere Pointe zu: Zwar wird ein Knabe geboren, aber ihm fehlt das männliche Glied (womit Folz sicherlich auf das jüdische Beschneidungsritual anspielt).« Wenzel [Anm. 5] 1982, S. 84.
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vorgäbe eine lächerliche Figur. Steht sie jedoch in direkter Konkurrenz zur Mutter Gottes, so wird ihr Status vollends absurd. Die Komik des Schwanke entsteht durch das Spannungsverhältnis des Textes zu entscheidenden Stellen im Alten und Neuen Testament. Wer mit dem Verfahren der Exegese vertraut war, war gewohnt, die Geschehnisse im Alten Testament typologisch auf das Heilsgeschehen des neuen Testaments zu beziehen. Die Typologie als ein Auslegungsverfahren, das Personen und Ereignisse des alten Testaments als Präfigurationen von Personen und Geschehnissen des neuen Testaments deutet, stellt auf diese Weise Verweisungszusammenhänge zwischen Altem und Neuem Testament her. Zeitlich getrennte Ereignisse werden nach dem Prinzip der Analogie und der vergleichenden Unterscheidung in einen konkreten Sinnbezug gesetzt. Auch in der christlichen Bildkunst ist das Verhältnis beider Testamente durch typologische Schriftauslegung bestimmt. So ist beispielsweise die Verkündigung der Geburt des Isaak als Typus für die Verkündigung an Maria bildlich dargestellt am Klosterneuburger Altar von 118l. 14 Der berühmte Verduner Altar des babenbergischen Residenzklosters bietet eine gewaltige Überschau über den göttlichen Heilsplan. Die Bildtafeln des Flügelaltars sind in drei Zonen (ANTE LEGEM, vor dem Gesetz - SUB LEGE, unter dem Gesetz - SUB GRATIA, unter der Gnade) eingeteilt. Je drei übereinander liegende Bilder schließen sich zu einer vertikalen Reihe zusammen und stellen die Vorbilder des Alten Testaments mit den Realtypen des Zeitalters der Erfüllung in einen Sinnzusammenhang. Besonders interessant ist die Tatsache, dass auch dort die Verkündigungsszenen mit der Beschneidungsthematik in Bezug gesetzt werden. Das Christuskind erkennt in dieser Darstellung die Bedeutung des Beschneidungsmessers und zeigt eine Geste der Ablehnung.15 Die im Neuen Testament überlieferte Beschneidung Christi wurde ikonographisch oft antijüdisch-polemisch dargestellt, wie insgesamt auch die typologische Lektüre der Bibel immer antijüdischer geworden ist.16 Die typologischen Beziehungen wurden »oft so missverstanden, dass nach der Realisierung des Heils in Gestalt Jesu Christi die einschlägigen >Typen< und >Schattenbilder der jüdischen Bibel im Grunde überflüssig und mitsamt den Schriften der Juden entbehrlich geworden seien«. Aus mittelalterlich-christlicher Perspektive ist der alte Bund durch die Geburt Christi erfüllt und abgelöst worden. Mitsamt dem alttestamentlichen Gesetz wurde die Beschneidung verworfen und durch die >spirituelle Beschneidung< der Taufe ersetzt,18 wobei das Festhalten am alten Bund, etwa durch das Zeichen der Beschneidung, für die christliche Seite bedeutet, dass Grundfesten des Glaubens Vgl. E. Lucchesi Palli, Abraham, LCII, S. 23. Vgl. Bernhard Blumenkranz, Juden und Judentum in der mittelalterlichen Kunst, Stuttgart 1965, S. 70. Auch Masako Shikida, Das Bilddenken am Verduner Altar - ein Beitrag zum >Nikolaus-ProblemFalschen Messias< erhält nur Sinn, wenn man sie auf die Bundeszusage Gottes in der Genesis bezieht. Da die göttliche Heilszusage, die die Juden durch die bevorstehende Geburt des >Messias< eingelöst sehen, durch die Geburt Christi bereits erfüllt ist, hat die entsprechende Textstelle der Genesis ihren unmittelbaren Sinn verloren und wird in der Reimpaardichtung zur komischen und verzerrenden Verarbeitung freigegeben. Dieses Verfahren der verzerrenden Verarbeitung zeigt die Raffinesse von Folz' Konstruktion. Hans Folz macht zwei Bibeltexte, die jeweils das jüdische bzw. christliche religiöse Selbstverständnis zentral mitbestimmen (Gen 17,1-27; Geburt Christi im Evangelium), zur Verständnisgrundlage seines Schwankes, ohne diese kanonisierten Texte unmittelbar zu zitieren. Beide Texte stehen im Hintergrund wobei der eine (Genesis) direkt persifliert wird, während der andere (Evangelium) als Vorlage zur Karikatur von (jüdischen) Personen dient. In beiden Fällen wird Komik erzeugt, nur dass sowohl die handelnden christlichen Personen, als auch deren konstitutiver Bibeltext Integrität und Dignität behalten, während mit den handelnden Juden auch die alttestamentarisch verbürgte Heilszusicherung demontiert wird. Im Kem trifft diese Demontage die in christlicher Sichtweise falsche Rezeption des Alten Testamentes durch die Juden: Sie verstehen ihre eigenen Schriften nicht, weil sie die Bibel »fleischlich-literal«19 statt bildlich und spirituell lesen. Folz scheint jedoch der souveränen Konstruktion seiner Verserzählung oder aber der Bibelkenntnis seiner Rezipienten nicht recht zu vertrauen, denn nicht nur die implizite Kontrastierung christlicher und jüdischer Heilsversicherung sichert die antijüdische Stoßrichtung seines Schwankes ab. Mehrfach werden die Juden auch explizit angegriffen, etwa als sie ein Loblied singen: Secht, do hub sich ein sulches hewln, Darein die hunt begunden pewln Mit sulchem scheuczlichem gepern, Als ob sie all vol teufet wem. (w. 83-86)
Seht, da begann ein solches Heulen, dass die Hunde bellend einstimmten, mit solchem scheußlichen Verhalten, als ob in alle der Teufel gefahren wäre,
Die Freude über die bevorstehende Ankunft des Messias wird vom Erzähler als teuflisch freid (v. 127) bezeichnet, und in direkter Rede wird die Heilserwartung der Juden banalisiert und verzerrt. Die messianische Hoffnung wird desavouiert, in dem sie in der Figurenrede auf die Gier nach fressen und sauffen reduziert wird (v. 113ff). Die Nähe zu Sau, Hunden, Leviathan und Teufel sind darüber hinaus eindeutige Versuche, die handelnden Juden zu dämonisieren. Der Idee der Teufelskindschaft der Juden liegt im Wesentlichen die Darstellung des Johannesevangeliums (Joh 8,44) zu Grunde, in der Jesus seinen Widersachern vorwirft, Söhne des Teufels zu sein. Sie wird in den Schriften des Augustinus theologisch ausdifferenziert und findet in christlichen Bildprogrammen oder in
" Schreckenberg [Anm. 17], S. 16.
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geistlichen Spielen ihre sinnfällige Verbildlichung.20 Auch die Tier-Motivik als solche ist durch theologisches Schrifttum vorbereitet. So bezeichnet Petrus Venerabilis die Juden als vemunftlose, schamlose Hunde und unflätige Schweine,21 und Hieronymus behauptet, das Beten und Psalmodieren von Juden seien vor Gott wie des Grunzen von Schweinen und das Wiehern von Eseln.22 Tierisches und dämonisches Verhalten zeigen die Juden in der Reimpaardichtung nach der Offenlegung ihrer schont: Ausraufflens peide part und har Swurn, fluchten, liffen stetigs umen, Vater und muter anzukumen. Die hetens gern in stück zurissen Und mit den zenden gar zubissen. (w. 220-224)
Sie rissen sich Bart und Haare aus, schrien, fluchten und rannten wild umher, um die Eltern des Mädchens anzugreifen. Die hätten sie gerne in Stücke gerissen und zerfleischt,
Die >Selbstzerfleischung< der Juden lenkt die Aggression weg von der christlichen Gemeinschaft und entschärft die Bedrohung. So löst sich der evozierte Angriff auf die bestehende Ordnung im Bild des machtlos und vergeblich wütenden Juden in Schadenfreude auf. Die Juden, die für kurze Zeit hoffen durften, von pein, goym räch und aller heiden smach (v. 104f.) erlöst zu werden und über Heidnischer und der christen schar herrschen zu können, finden sich zurückgestoßen in den Bereich des Tierischen und Dämonischen.23 Sie entblößen sich durch die hemmungslose Entladung ihrer Affekte selbst und demonstrieren so ihre Verworfenheit. Auf diese Weise verkörpern sie jedoch ein lächerliches Zerrbild, das auf ein positives Gegenbild verweist. Die liebeshungrige Jüdin zeigt (und bezeugt) die keusche Maria, der dämonische Jude den gottgefälligen Christen und der falsche Messias den richtigen. Festzuhalten bleibt noch, dass in der kleinen Welt der schlesischen Stadt die Ordnung keineswegs wiederhergestellt wird. Die Verserzählung beginnt mit der Schilderung des friedlichen Zusammenlebens der Anhänger beider Religionen in enger Nachbarschaft. Selbst die sexuelle Beziehung zwischen einer Jüdin und einem Christen, in der historischen Realität vielerorts zwar scharf sanktioniert aber durchaus zum Alltag gehörend,24 ist in keiner Weise negativ konnotiert. Da es bei den entsprechenden Verboten in erster Linie um die Ehre der Frauen ging und Seitenspünge der Männer eher dilatorisch behandelt wurden, wird das fragwürdige Verhalten des Studenten (Unzucht, Verführung) in der Erzählung nicht weiter problematisiert. Als sich aber die Juden als >heilsunfähig< erweisen, werden nur die junge Mutter und das neugeborene Mädchen durch Taufe in die 20
21 22 23
24
Vgl. Florian Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters, in diesem Band. Petrus Venerabilis, Adversus ludeorum inveteratam duritiem, CCCM 58, S. 57f. Hieronymus, Opera, CCSL 76,1, 6, S. 295. »Die physisch gesehenen Affektgebärden« sind »geradezu Attribute des Teufels und des Teuflischen.« Werner Habicht, Die Gebärde in den englischen Dichtungen des Mittelalters, München 1959, S. 40. Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 44), S. 42.
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städtische Ordnung zurückgeführt. Die übrigen Juden machen durch ihr dämonisches Gebaren ihre Verworfenheit für alle offensichtlich: Der Juden schont wart offenbar (v. 219). Die Möglichkeit der Integration der Juden (als Juden) in den göttlichen Heilsplan und in die christliche Stadtgesellschaft ist vor diesem Hintergrund nicht mehr gegeben.
Ein spil von dem herzogen von Burgund Die Ankunft eines jüdischen Messias bildet auch in diesem Text des Hans Folz den Ansatzpunkt für antijüdische Diskreditierung. Das Fastnachtsspiel,25 das Folz, dessen Autorschaft mittlerweile als gesichert gelten darf, zwischen 1486 und 1493 verfertigte, behandelt jedoch nicht wie im Reimpaarspruch die Geburt eines Erlösers, sondern die Ankunft eines jüdischen Scharlatans in der Welt der Fastnacht. Dessen >Falschheit< muss anders als in der Schwankerzählung, wo die Aussichtslosigkeit des Unterfangens schon zu Beginn ersichtlich ist, erst erwiesen werden. Diese Aufgabe der Beweisführung übernimmt eine christliche Sibylle, die, mit prophetischer Gabe, theologischem Sachverstand und göttlich inspirierter Wunderkraft ausgerüstet, dem angeblichen Messias entgegentritt. Das Spiel beginnt mit der Ankunft vom Herzog von Burgund, dem Sohn von Kaiser Maximilian. Herzog Philipp der Schöne, so berichtet ein Herold, hat beschlossen, der Fastnacht in Nürnberg beizuwohnen. Gleichzeitig mit dem Herzog trifft die Sibylle ein, die ihr Kommen folgendermaßen begründet: Genediger herr, ich han vernumen, Wie das etlich judisch rabi Durch all gegent verkünden, wi Ir messias vorhanden sei, Und melden auch vorauß dabei, Wie er alle konigkreich nem ein, Darzu alle furstenthum gemein, Laß auch nicht hin all geistlich stent. (S. 171, w. 10-17)
Gnädiger Herr, ich habe gehört, dass viele jüdische Rabbiner überall verkünden, dass ihr Messias gekommen sei, und sie behaupten auch, dass er alle Königreiche erobere, dazu noch die Fürstentümer und alle geistlichen Institutionen.
Das christliche Personal des Spiels sieht sich also mit einer ganz realen Bedrohung konfrontiert. Neben der Tatsache, dass ein jüdischer Messias zentrale Glaubensinhalte der Christenheit in Frage stellt, liegt der Akzent der Darstellung auf der Umkehrung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse: (christliche) Königreiche und Fürstentümer werden von den Juden usurpiert. Die Sibylle erkennt jedoch die Rechtmäßigkeit des Herrschaftsanspruches des neuen Messias nicht an und will den Betrug aufdecken.
23
Zum Fastnachtsspiel allgemein vgl. die grundlegende Untersuchung von Eckehard Catholy, Das Fastnachtsspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion, Tübingen 1961 (Hermea NF. 8).
174 Darumb so keren die rabi zu uns herein. So mach ich ir lug offenlich schein. (S. 171, w. 23/24)
Matthias Schönleber Wenn die Rabbiner ankommen, werde ich ihren Betrug sichtbar machen.
Anschließend tritt der Messias mit drei Rabbinern und einem weiteren Juden (schallal jud) im Gefolge auf. Letzterer macht mit deutlichen Worten den Herrschaftsanspruch der Juden klar. Weicht auß, tret umbe und ruckt von der stat! Ir habt lang genug innen gahabt Gewalt, herschaft und regiment, Das nu alles wurd sein end. [...] (S. 171, w. 28-31)
Zur Seite, aus dem Weg! Ihr habt lange genug Herrschaft und Regierung innegehabt, damit ist jetzt Schluss. [...]
EINRABBI: Ir Cristen, do tret an ein ort. Weicht in die Winkel da und dort Und laßt uns auch herschen ein weil (S. 172, w. 2-4)
Ein Rabbi: Ihr Christen, geht beiseite, weicht in die Ecken, da und dort und lasst uns auch eine Weile herrschen.
Der Auftritt der Juden im Fastnachtsspiel ist gattungsgemäß als Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse gestaltet. Die Welt der Fastnacht repräsentiert eine Verkehrung der Ordnungsprinzipien, die die Welt >normalerweise< strukturieren. Auf diese Weise werden in der mittelalterlichen »Lachkultur«26 Ordnungen aufgehoben und etablierte Sinnsysteme in Frage gestellt. Der Einbruch der karnevalistischen >Gegenwelt< in die herkömmliche Ordnung kann durch Personalisierung (Auftritt der Fastnacht oder der Narren) zu Beginn des Spiels szenisch realisiert werden, oder aber durch die Darstellung des Obszönen und Grotesken signalisiert werden. Ähnlich wie im Reimpaarspruch >Von Der luden Messias< wird die Ankunft des vermeintlichen Messias mit der Überwindung der gegenwärtigen Ordnung in Verbindung gebracht. Das bedrohliche Szenario einer Gegenwelt, in der die Juden die Christen marginalisieren und somit die bestehenden Herrschaftsverhältnisse umkehren, wird am Eingang des Spiels mit wenigen Worten heraufbeschworen. Auf diese Weise wird die karnevalistische Gegenwelt mit eschatologischen Bezügen aufgeladen, die die Struktur eines augustinischen Dualismus27 evozieren: Civitas dei und civitas diaboli stehen sich unvermittelt gegenüber. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass die Aufrührungssituation des Spiels verschiedene Möglichkeiten bietet, die Bedrohung zu entschärfen. Der Auftritt der Juden lässt sich mimisch und gestisch überzeichnen, und 26
27
Michail Bachtin sieht die mittelalterliche und frühneuzeitliche Lachkultur als Teil einer Gegenkultur, die zumindest vorübergehend eine verkehrte Welt schafft, und baut dieses Konstrukt zu einer literaturwissenschaftlichen Kategorie aus. >Kamevalesk< ist ein Text, wenn er durch die ästhetischen Verfahren der Verkehrung konstituiert ist; vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur, hg. von Renate Lachrnann, Frankfurt a.M. 1987, und ders., Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt a.M. 1979. Zu civitas dei und Fastnacht vgl. Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht - Fasching - Karneval. Das Fest der verkehrten Welt, Graz/Wien/Köln 1986.
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insbesondere der schallal jud (schalantzen = müßig gehen) könnte, wie Edith Wenzel mutmaßt, in besonders heruntergekommener Kleidung den Machtanspruch der Juden vorgebracht haben. Nach der inszenierten Lächerlichkeit des Judenauftrittes wird den Zuschauem klar gewesen sein, dass ihr Vergnügen fortan darin bestehen soll, den Juden beim Scheitern zuzusehen. Entsprechend drastisch tritt der Narr den Ansprüchen der Juden gegenüber: Ei hat dich der teufel herein getragen? Wolst du uns all in die Winkel jagen? Ich wolt dich ee selber arspossen, Ein har nit in deiner schwarten laßen. (S. 172. w. 11-14)
Ei, hat dich der Teufel geschickt? Du willst uns in die Ecken jagen? Ich werde dir deinen Arsch versohlen und kein Haar an deiner Schwarte lassen.
Die Antwort des Narren steht in auffälligem Kontrast zum souveränen Auftreten der Sibylle, deren Jungfrauen und den wohlgesetzten Worten des Herolds. Während die Sibylle den Juden und ihrem Messias zunächst argumentativ begegnet und sich auch an den Strafen am Ende des Spiels nicht beteiligt, verhalten sich Narr und Närrin von vornherein ausfallend und sind auch beim Strafvollzug28 in ihrem Element. Drastische Wortwahl und aggressiv-obszöne Sanktionsandrohung des Narren signalisieren hier die Zugehörigkeit zur Fastnachtssphäre. Narren und Juden begegnen sich somit auf gleicher Höhe. Die Juden, durch die aggressive Reaktion des Narren verunsichert, bitten ihren Messias um ein Wunder. Ein Feuer speiender Drache erscheint, wird jedoch von der Sibylle bei Jesus craft (S. 175, v. 16) beseitigt, damit eine Disputation mit dem Messias beginnen kann. Im Verlauf des Gesprächs wird der Messias mit dem Antichrist, dem Entcrist identifiziert. Er selbst definiert sich als ent der Cristen (S. 173, v. 27), eine etymologische Erklärung, die sich also eindeutig auf die gegenwärtige Christenheit und nicht auf die klassische Opposition zu Christus bezieht. Für eine solche Identifizierung des jüdischen Messias mit dem Antichristen gibt es Vergleichsfalle. Im Spiel >Des Entkrist VasnachU29 bezeichnet sich der Entkrist als Messias, und auch die Juden erkennen in ihm ihren Erlöser; eine Überzeugung, die auch christliche Theologen wie Hrabanus Maurus und Thomas von Aquin teilen. Die Juden der Fastnachtsspiele werden auf diese Weise eindeutig aus der Alltagswelt expediert und der civitas Diaboli zugeordnet. Der Typus des Religionsgesprächs war Folz vertraut.30 Er verfasste 1479 eine geistliche Rede mit dem Titel >Christ und JudeEin vastnachtspil, die alt und neu ee, die synagog, von der uber-
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Das Spiel bietet die Besonderheit, dass die erörterten Strafen anders als in den meisten Gerichtsspielen nicht nur diskutiert, sondern auch auf der Bühne nach vollzogen werden. Fastnachtsspiele [Anm. 1], Bd. 2, Nr. 68, S. 592. Vgl. Helmut Lomnitzer, Das Verhältnis des Fastnachtsspiels vom >Kaiser Constantinus< zum Reimpaarspruch >Christ und Jude< von Hans Folz, ZfdA 92 (1963), S. 227-291. Die Reimpaarsprüche [Anm. 1], Nr. 27, S. 227.
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windung der Juden in ir Talmut etc.Der Juden und Christen streit vor kaiser Constantinus, ein fastnachtsspih34 behandelt die Silvesterlegende, dort mündet eine mit vielen genauen Bibelbelegen geführte Disputation in ein >Ochsenwunderherzog von Burgund< so knapp gestaltet. Der Schwerpunkt des Stückes scheint demnach mehr auf dem zweiten Teil des Spieles zu liegen, der nach der Art eines Gerichtsspiels gestaltet ist. Gerichtsspiele bieten in der Tradition der Fastnachtsspiele die Gelegenheit, verfehltes Verhalten öffentlich zu machen und mögliche Bestrafung zu diskutieren. Die Verfehlungen sind hierbei oftmals sexueller Natur und entsprechen den Forderungen und Möglichkeiten der Gattung Fastnachtsspiel; dabei gleiten die vorgeschlagenen Strafen oft genug in den Bereich des Obszönen ab. Die Juden in Folz' Spiel verkünden, sich unter das Gericht des Herzogs zu stellen, wenn sich der Messias als falsch herausstellen sollte. Der Messias schlägt seinerseits vor, das Glücksrad zu befragen. Die rotafortunae, die als antikes Motiv die Wandelbarkeit des Weltenlaufes symbolisiert, wird in der Fastnacht häufig verwendet, um die Herrschaft der närrischen Gegenwelt zu illustrieren. Vielleicht ist dies der Grund, warum der falsche Messias diese Entscheidungsinstanz wählt. Das Glücksrad zeigt jedoch die Figur des Fürsten oben und die des Messias unten, worauf die Juden ihre >Schande< eingestehen:
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Wie tust du heut auf uns verpurgen Alle schand und smach der ganzen weit! [...] Ei das dich nit auf weitem feit Die wolf und wilde pern habn zurissen! Wie leckerlich hast du uns beschissen!
Du lädst auf uns alle Schande und Schmach der Welt [...] Ach hätten dich in der Wildnis Wolf und wilde Bären zerrissen! Wie hast du uns lächerlich gemacht und beschissen!
Sibilla, du hast recht geseit Und was pein uns der fürst anleit, Da sprich ich, das er recht daran thu. (S. 176, w. 14 ff.)
Sibylle, du hast richtig geweissagt. Welche Strafe auch immer der Fürst für uns vorsieht, die will ich akzeptieren.
Fastnachtsspiele [Anm. 1], Bd. l, Nr. l, S. l Zum Streitgespräch von Ecclesia und Synagoge im Allgemeinen vgl. Monika Wolf, Ecclesia und Synagoge in fortwährendem Streit, in diesem Band. Fastnachtsspiele [Anm. 1], Bd. 2, Nr. 106, S. 796. Zur Silvesterlegende der >Kaiserchronik< vgl. Vera Milde, Christlich-jüdischer Disput in der Silversterlegende der >KaiserchronikGeständnisses< fallen die diskutierten Strafen entsprechend drastisch aus. Sie reichen vom Zunge Herausreißen, Verbrennen, Ertränken bis zu obszön-skatologisehen Phantasien: DER NARR DIGIT: So \volt ich in allen in die meider scheißen (S. 181, v. 22)
Der Narr spricht: Ich wollte ihnen allen in die Mäuler scheißen.
DER RITTER DIGIT: Ich urtail, das man sie allejar ganz ploß und nackt ziehe auß, Setz jeden unter ein scheißhaus Und ließ ein tag auf sie schmaliern Und darnach gar rein überfriren. (S. 183, w. 20-25)
Der Ritter sagt: Ich bestimme, dass man sie nackt ausziehe, setze jeden unter ein Scheißhaus und ließe einen Tag auf sie scheißen und alles danach überfrieren.
Ein anderer Ritter schlägt vor, die Juden zunächst auszuhungern und ihnen nach acht Tagen in einem Schweinstrog Exkremente vorzusetzen und sie davon nit lasse frei l Die weil ein griblein dinnen sei. Um solcherart obszöne Darstellungen in den Fastnachtsspielen zu erklären, konkurrierten und korrespondierten lange Zeit psychologische und sozialhistorische Deutungsmodelle. Dabei geht es zunächst um die Frage, ob die obszöne Bildhaftigkeit der Spiele für das zeitgenössische Publikum komische oder abschreckende Wirkung gehabt hat. Johannes Merkel erscheint es »undenkbar, daß in diese Spiele Elemente eingearbeitet wurden, die dem Publikum Ekel verursachen sollten. Infolgedessen müssen diese Elemente, die Triebhaftes ansprechen, [...] als komisch empfunden worden sein«.36 Er führt im Rückgriff auf Siegmund Freuds Theorien über das Komische die Obszönität der Spiele auf die Wiedererschließung verloren gegangener oder verschütteter frühkindlicher Lustquellen zurück. Rüdiger Krohn hingegen hält es für »gar nicht so ausgeschlossen, daß die Unflätigkeiten absichtlich als schockierende Momente in die Stücke eingebaut wurden«.37 Für ihn erfüllt die Obszönität der Fastnachtsspiele vor allem für die Trägerschicht der Handwerksgesellen eine psychohygienisch entlastende Funktion. Die restriktive Nürnberger Organisation der Handwerke beschränkte insbesondere die Handwerksgesellen in ihren persönlichen Freiheiten. Als Gesellen durften sie nicht heiraten, und die Kontrolle 36
17
Merkel [Anm. 6], S. 105. Zu dieser Erkenntnis gelangt Merkel allerdings auf nicht ganz unproblematische Weise: »Wir werden bei der Einschätzung der komischen Wirkung unserer Fastnachtsspiele zunächst ausgehen von unserem eigenen Eindruck, d.h. der Wirkung, die diese Texte auf uns heute ausüben.« (S. 76) Rüdiger Krohn, Der unanständige Bürger. Untersuchungen zum Obszönen in den Nürnberger Fastnachtsspielen des 15. Jahrhunderts, Kronberg i.Ts. 1974, S. 59.
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über ihren Lebenswandel oblag dem Meister. Die Freisetzung der Triebhaftigkeit versteht Krohn als Versuch, »durch bewußt eingesetzte Schock-Elemente mit dem Moral-Empfinden der Zuschauer zugleich auch das System in Frage zu stellen, in das dieses Sittlichkeitsgefilhl eingebettet war«.38 Das Moral-Empfinden und Sittlichkeitsgefiihl der mittelalterlichen Rezipenten ist uns jedoch nicht mehr zugänglich, und auch der Versuch, dieses auf »synthetischem Wege«39zu rekonstruieren, bleibt problematisch. Da es ohne entsprechende Zeugnisse kaum gelingen wird, die Wirkung der obszönen Darstellungen der Fastnachtsspiele zu erschließen, liegt es nahe, die entsprechenden Motive auf ihre inhaltliche Aussagekraft zu überprüfen. Dies ist sicher nicht für alle Erscheinungen möglich, soll jedoch an einem besonders plakativen Motiv demonstriert werden. Die vorgestellten Perversionen münden im eingangs zitierten Bild der so genannten >JudensauSpil von dem einliften Fingen49 einen eindrucksvollen Überblick über die Strafandrohungen für einen Mann, der seinem Freund die Freundin ausgespannt hat. Das >Vastnachtsspil vom Dreckspil von dem herzogen von Burgund< war die Judengemeinde in Nürnberg auf etwa 200 Mitglieder zusammengeschmolzen und kaum noch von wirtschaftlicher Bedeutung, dennoch hatte sich in den Nürnberger Mittelschichten ein »bedrohliches Haßpotential« gegen die Juden aufgebaut. Dieses Hasspotenzial findet seinen Ausdruck im aggressiven Verlachen des anmaßenden und scheiternden Juden. Um eine reale Bedrohungssituation zu generieren, konstruiert Folz einen jüdischen Herrschaftsanspruch und verortet diesen in der teuflisch-närrischen Gegenwelt, die er überdies mit der christlich-höfischen kontrastiert. Im Bild der Judensau wird die Verworfenheit des Juden beim Rezipienten affektiv verankert, so dass die theologischen Begründungen nicht erst aufgerufen werden müssen und die Abwehr dieser Gegenwelt gleichsam im Reflex erfolgen kann. In Richard Wagners Oper >Die Meistersinger von Nümberg< wird am Ende des dritten Aufzuges der Stadtschreiber Beckmesser, nachdem er sich gründlich blamiert hat, vom Gelächter der Stadtbevölkerung (unter ihnen auch Hans Folz) von der Szene vertrieben. Es soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ob es sich bei der Figur des Beckmesser um eine »Judenkarikatur« handelt, wie Adorno55 behauptet hat und wie die völkisch-nationale Aufführungspraxis sinnfällig machen wollte. Der Schriftsteller Richard Wilhelm Stock jedenfalls war von den antisemitischen Absichten Wagners überzeugt, wie er in seinem Buch >Richard Wagner und die Stadt der Meistersingen von 1938 darlegte: 52
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Karl Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der Reformationszeit. Eine literaturhistorische Untersuchung, Leipzig 1906, S. 52f. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München, Wien 1969, S. 35f. Wenzel [Anm. 5] 1982, S. 102. Vgl. Theodor W. Adorno, Die musikalischen Monographien. Versuch über Wagner, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 13, hg. von Gretel Adomo und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1971, hier S. 21.
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So haben auch die weltanschaulichen Lebensziele Richard Wagners in der Stadt seiner Meistersinger, der Metropole des Weltkampfes gegen das Judentum, wo der Führer auf dem Reichsparteitag der Ehre die Gesetze zum Schütze des deutschen Blutes, die Nürnberger Gesetze verkündete, eine herrliche Erfüllung gefunden.
Die These Stocks von Nürnberg als Metropole des Weltkampfes gegen das Judentum führt ins Zentrum der Diskussion um Brüche und Kontinuitäten, die die Entwicklung vom religiös begründeten Antijudaismus zum >rassisch< fundierten Antisemitismus bestimmen. Folz' Standort in dieser Entwicklung ist nicht einfach zu bestimmen. Es konnte gezeigt werden, dass der Nürnberger Barbier seine Werke auf der Folie breiter Kenntnisse von Altem und Neuem Testament verfasste und dass sich vor diesem theologischen Hintergrund tieferliegende Sinnschichten erschließen lassen. Selbst das perfide Bild der Judensau lässt sich auf diese Weise dechiffrieren. Für Rezipienten aus dem Patriziat der Stadt wie Haller und Schedel, in dessen Besitz sich sogar hebräische Handschriften befanden, waren solche Sinnzusammenhänge vermutlich relativ problemlos herstellbar. Ob aber die Hauptabnehmer seiner Ware, die Gesellen und Handwerker, in gleicher Weise in der Lage waren, die religiös-theologischen Aspekte seiner Dichtung zu erfassen, muss bezweifelt werden. Folz' Anspruch, die gelehrte antijüdische Diskussion vergleichsweise subtil in seinen Werken wirksam werden zu lassen, zielte somit sicher nicht in diese Richtung. An deren Stelle tritt das durch die Gattung Schwank und Fastnachtsspiel bereits vorbereitete derb-komische und fakal-obszöne Spottbild des dämonischen Juden. Auf diese Weise werden religiös begründete antijüdische Vorwürfe in konkret fassbaren Bildern komprimiert und von der theologischen Diskussion abgekoppelt. Mit Sicht auf die mehrschichtige Lesbarkeit der Texte durch unterschiedliche Rezipientenkreise repräsentiert Hans Folz als Autor eine Schnittstelle von Antijudaismus und Antisemitismus, die in ihren Grenzbereichen das mittelhochdeutsche Spottbild der Judensau und das spätere Schimpfwort des >Saujuden< umfasst.
Zitiert nach Nike Wagner, Wagner Theater, Frankfurt a.M./Leipzig 1998, S. 168.
FLORIAN ROMMEL ob mannjm vnrehtt thittt, so wollenn wir doch habenn sein blutt
Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters
Mit den Worten »Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!«, fleht der gekreuzigte Jesus im Lukasevangelium um Gnade für die ihn ablehnende Menschheit, lieber beschirmer und votier myn, l reche an enn [ihnen] myn groisse pyn! lautet die Fürbitte des gegeißelten Christus dagegen im >Alsfelder Passionsspiel< von 1517.' Diese Worte beziehen sich nicht auf die Menschheit insgesamt, sondern auf die logenhafftige manne [, die] umb mich s tan l und [...] mich sere geslagen hon (AP, w. 4272 .) - also allein auf die Juden, die in der Aisfelder Bühnenfassung, anders als in der Bibel, sämtliche Misshandlungen an Christus selbst vornehmen. Anderthalbtausend Jahre nach Aufzeichnung der Evangelien haben sich die Juden der Bibel im Medium des Passionsspiels, einer für das 13. Jahrhundert erstmals bezeugten Form dramatischer Bearbeitung der biblischen Passionsgeschichte, zu wahren Bestien entwickelt, die mit ebenso großer Besessenheit wie Grausamkeit die Tötung Jesu betreiben. Diese Tendenz zur Erbarmungslosigkeit lässt sich jedoch auch bei der Darstellung der christlichen Seite beobachten - der aufgezeigte Wandel von der Bitte um Vergebung, wie ihn die Bibel kennt, zum Racheappell ist dafür ein sinnfälliges Beispiel. Das Aisfelder Passionsspiel, in: Das Drama des Mittelalters. Die lateinischen Osterfeiem und ihre Entwicklung in Deutschland. Die Osterspiele. Die Passionsspiele. Weihnächte- und Dreikönigsspiele. Fastnachtspiele, hg. von Richard Froning, Stuttgart 1891/92 (DNL 14), Neudruck Darmstadt 1964, S. 547-859, im folgenden abgekürzt: AP, hier w. 4276f. Weitere im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigte Passionsspiele: Ludus de Passione [= >Benediktbeurer Passionsspieh], in: The drama of the medieval church, hg. von Karl Young, 2 Bde, Oxford 1933, Bd. l, S. 518-532; Das Donaueschinger Passionsspiel. Nach der Handschrift mit Einleitung und Kommentar neu hg. von Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985 (Reclam, ÜB 8046); Die Frankfurter Dirigierrolle, in: Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck, hg. von Johannes Janota, Bd. l, Tübingen 1996, S. 1-52, abgekürzt: FD; Das Frankfurter Passionsspiel, in: Ebd., S. 53^30, abgekürzt: FP; Das Heidelberger Passionsspiel, hg. von Gustav Milchsack, Tübingen 1880, abgekürzt: HP; Mittelniederländisches Osterspiel [= >Maastrichter PassionsspielTiroler Passionsspiel < beibehalten werden.
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Das >Alsfelder Passionsspiel< stellt keinen Einzelfall dar, ganz im Gegenteil. Es ist kaum ein Passionsspiel jener Zeit überliefert, in dem Jesus nicht von den bösen judden beleidigt, gemartert und qualvoll gekreuzigt wird, kaum eines, in dem nicht ein Vertreter der christlichen Seite an Stelle von Vergebung Rache ankündigt. Die grausame Art des Umgangs zwischen Bühnen-Juden und Bühnen-Christen scheint nicht die Eigenart eines bestimmten Spiels bzw. einer Spieltradition zu sein, sondern auf die ganze Gattung des Passionsspiels im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit zuzutreffen. Was sind die Ursachen für diese - verglichen mit der Bibel sowie früheren Passionsspielen - deutliche Verschlechterung des Judenbildes? Wie lässt sich die scheinbar große Freiheit bei der Gestaltung der Judenfiguren mit dem ansonsten allenthalben spürbaren Bemühen um eine möglichst enge Anlehnung an die biblische Vorlage vereinbaren? Die Antwort, die in der Forschung bislang auf diese Fragen gegeben wurde, ist immer gleich. Ob die judenfeindlichen Tendenzen im Spätmittelalter allgemein den Hintergrund der Untersuchung bilden2 oder speziell die Geschichte der Juden im Großraum Frankfurt als Folie für die Spielanalyse dient,3 stets wird das negative Judenbild als Ergebnis bzw. Spiegel von Prozessen gesehen, die sich auf dem Gebiet der Theologie, Politik oder Wirtschaft, in jedem Fall aber außerhalb der Literatur vollzogen. An der Richtigkeit dieser These kann kaum Zweifel bestehen. Ihre Ausschließlichkeit aber irritiert, ging doch das Passionsspiel nicht von einer Tabula rasa aus, der einfach eine bestimmte Botschaft eingeschrieben werden konnte wie einem Flugblatt, sondern es stellte eine literarische Gattung dar, die durch den Stoff der Bibel ganz wesentlich vorgeprägt und durch die Erfordernisse des Theater mitgeprägt war. Inwieweit jedoch innerliterarische Faktoren am Zustandekommen des negativen Judenbildes der späten Passionsspiele beteiligt waren, wurde in der Forschung bislang kaum thematisiert. Dabei erlauben erst der Blick auf die Quellen der Passionsspiele sowie die Klärung der Frage, aufweiche Weise der ursprünglich epische Stoff in das Medium des Theaters umgesetzt wurde bzw. umgesetzt werden konnte, ein Urteil über die Eigenart dieses Bildes. Diese beiden Aspekte, die Wortund Denktraditionen, auf denen das Judenbild der mittelalterlichen Passionsspiele aufbaut, sowie die theatralische Gestaltung der epischen Vorlage(n) durch die Spielbearbeiter bilden den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Die funktionale Seite der Passionsspiele wird dabei als Interpretament der ihnen innewohnenden Judenfeindlichkeit zunächst ausgeklammert, denn zu einer eigentlichen Lösung [...] dringen wir [...] erst durch, wenn wir zunächst alles, was wir von >Wandlungen in dem religiösen Gefühl und in der Frömmigkeit des Mittelalters< zu wissen meinen, resolut beiseite schieben. Dieses Wissen ist nicht falsch. Wir dürfen es aber - wenn wir einen circulus vitiosus vermeiden wollen - nur nicht vorschnell in Anschlag bringen. Vgl. Natascha Bremer, Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters, Frankfurt a.M./Bem/New York 1986, S. 7-36. Vgl. Edith Wenzel, »Do worden die Judden alle geschont«. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992. Frederick P. Pickering, Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter, Berlin 1966 (Grundlagen der Germanistik 4), S. 147. In wesentlichen Teilen beruht diese Monographie
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Mit diesem Ansatz, der bereits Frederick Pickerings vor 50 Jahren entstandener Studie zur Ausgestaltung der Kreuzigung Christi in den theologischen Schriften des Mittelalters zu Grunde lag, scheidet die politisch-gesellschaftliche Historic als Ordnungs- und Erklärungsschema fürs erste aus. Da die Informationsvermittlung im Passionsspiel nicht allein über Figurenrede erfolgt, sondern auch anhand von Szenenregie, Mimik, Gestik und anderen theatralischen sowie dramaturgischen Mitteln, kann es jedoch nicht genügen, nur die Ebene des Wortes zu berücksichtigen, so wie Pickering es tat. Um sowohl der Gattung des Passionsspiels als auch dem unterschiedlichen Charakter seiner Quellen Rechnung zu tragen, wird daher topologisch vorgegangen, das Judenbild also in unterschiedliche Topoi zerlegt und die Geschichte dieser »Vorstellungsmodelle«5 sowie die Art ihrer Gestaltung in den Spielen untersucht. So soll am Ende ein präziseres Urteil darüber möglich sein, in welche Richtung sich das Judenbild entwickelt hat und welche Faktoren für diese Entwicklung verantwortlich waren. Gerade im Hinblick auf die Frage, inwieweit ein Zusammenhang zwischen der moderaten Gestaltung der Judenfiguren der so genannten frühen Passionsspiele des 13. und 14. Jahrhunderts und der Dämonisierung der Juden in den späten Spielen aus dem 15. und 16. Jahrhundert besteht, ist dieser Aspekt von Interesse.6
Im Anfang war das Wort - das Judenbild der Evangelien »Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun«, spricht Jesus zu den Juden, die kurz darauf versuchen, ihn mit Steinen zumindest mundtot zu machen. Diese kurze Szene stammt nicht etwa aus einem Passionsspiel, sondern aus der Bibel selbst (Joh 8,44) und zeigt, dass der drastische Tonfall, in dem Jesus mit seinen jüdischen Widersachern spricht, eine lange Tradition hat. Neben dem Vorwurf der Teufelskindschaft, der sich in der Wendung »Synagoge des Satans« in der Offenbarung des Johannes wiederholt (Offb 2,9; 3,9), finden sich in den Evangelien noch zwei weitere an die Adresse der Juden gerichtete Anschuldigungen. Einmal wird ihnen vorgeworfen, durch ihre Weigerung, die Messianität Christi anzuerkennen, vom Glauben abzufallen, also ungläubig zu sein. Der Ungläubigkeits-Topos nimmt im Neuen Testament eine zentrale Rolle ein. Er wird in jedem Evangelium entweder indirekt dadurch zum auf einem bereits zuvor veröffentlichten Aufsatz von Pickering, Das gotische Christusbild. Zu den Quellen mittelalterlicher Passionsdarstellungen, Euph. 47 (1953), S. 16-37. August Obermayer, Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft, in: Toposforschung, hg. von Max L. Baeumer, Darmstadt 1973 (WdF 395), S. 252-267, hier S. 265. Die Kriterien, nach denen die späten Spiele gemeinhin von den frühen geschieden werden, sind neben dem geringeren Alter der sie überliefernden Handschriften ihr »große[r] Umfang« und »ihre gegenseitige Abhängigkeit«. Touber [Anm. 1], S. 10. Das >BenediktbeurerMaastrichter< und >St. Galler Passionsspiel< sowie die frankfurter Dirigierrolle< gelten daher als frühe, das >AlsfelderDonaueschingen, >Frankfurten, >Heidelberger< und >Tiroler Passionsspiel< hingegen als späte Passionsspiele.
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Ausdruck gebracht, dass die Widersacher Jesu einer Wunderheilung ungläubig gegenüberstehen oder dass Jesus ganz direkt über den Unglauben und die >Blindheit< seiner Mit-Juden klagt. Der andere antijüdische Topos wird in keinem Evangelium so unmissverstandlich formuliert wie im Matthäusevangelium. Mit den Worten »Ich bin unschuldig an seinem Tode; sehet ihr zu!« (Mt 27,24), die noch durch die symbolische Handwaschung unterstrichen werden, überträgt Pilatus den Juden dort die Schuldsprechung in der Sache Jesu. Darauf antwortet ihm »das ganze Volk [...]: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!« (Mt 27,25). Tendenziell findet sich die Botschaft dieser Passage, allein die Juden seien für den Tod Jesu verantwortlich, auch im Johannesevangelium wieder, in dem Pilatus als eifriger Verteidiger Christi dargestellt wird. Doch an keiner anderen Stelle wird der Topos vom >gottesmörderischen< Juden so direkt zum Ausdruck gebracht wie in der zitierten >Selbstverfluchungblood< (= life) + >upon< (+ >headhasserfüllter Jude< und >Gottesmörder< soll gezeigt werden, welcher gestalterischen Mittel und Einfalle sie sich dabei bedienten. Mit Ausnahme der bereits erwähnten Kommentare des Augustinus im >St. Galler Passionsspiel< findet sich der Vorwurf, die Juden strebten aus Hass nach Jesu Tod, in keinem anderen Spiel; und auch dort ist bei der anschließenden Beratung der Juden, in der über Jesu Leben entschieden wird, im gesprochenen Text von Hass nichts zu spüren. Für die frankfurter Dirigierrolle< ist allerdings keine zuverlässige Aussage möglich, da in ihr nur die Redeeinsätze, d.h. die 23
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Rolf Bergmann, Studien zur Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele des 13. und 14. Jahrhunderts, München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 14), S. 258. Bernd Neumanns Sammlung von Aufluhrungsbelegen gewährt zwar einen wichtigen Einblick in die tatsächliche Auffuhrungspraxis, doch ist es nur in wenigen Fällen möglich, diese Belege einzelnen erhaltenen Spieltexten zuzuordnen. Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde, München 1987 (MTU 84/85).
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erste Zeile des Sprechtextes, sowie die Regieanweisungen eines um die Mitte des 14. Jahrhunderts aufgeführten Passionsspiels überliefert sind. Selbst wenn sich Augustinus in der Prophetenszene dieses Spiels mit antijüdischen Kommentaren zurückgehalten haben sollte, so hätte er allen Grund gehabt, ebenso wie Augustinus im >St. Galler Passionsspiel< der vbeln luden haz (GP, v. 459) zu beklagen, denn ihr Verhalten in dieser Szene den Propheten gegenüber ist wirklich >hässlichGespräch< noch mit anderen Propheten fort. Nicht nur, dass die Juden ihnen immer wieder ins Wort fallen und dadurch ihren Unglauben sogar der eigenen Religion gegenüber bekunden, sie tun es obendrein in einer Sprache, die von ihrem >hässlichen< Charakter zeugt. Das Textbeispiel verdeutlicht, dass die Spielbearbeiter ihre literarischen Vorlagen bewusst veränderten, um sie auf ein deutschsprachiges Theaterpublikum zuzuschneiden. In der pseudo-augustinischen Predigt >Sermo contra Judaeos, paganos et ArianosSt. Galler Passionsspiels< schaffen eine solch negative Judenfigur, allerdings auf andere Art. Dort werden verschiedene negative Handlungen namenloser biblischer Figuren in einer Gestalt, Rufus, zusammengefasst. Rufus führt die Ehebrecherin vor Jesus, um ihn in eine Falle zu locken, verhaftet ihn in Gethsemane, malträtiert ihn, zeugt gegen ihn und verspottet ihn schließlich am Kreuz. Durch diesen dramaturgischen Kunstgriff gelingt es den Spielbearbeitern, aus rein biblischem Stoff eine neue Figur zu kreieren, die als Wortführer der Juden (rufus nomine ludeorum fRufus im Namen der Juden], GP, v. 996a) die treibende Kraft bei der Tötung Christi darstellt. Nur an einer Stelle verlassen sie ihre biblische Vorlage, um den hässlichen Charakter dieser Figur noch einmal eindrücklich vor Augen zu führen: Als die römischen Soldaten Jesus geißeln, bietet Rufus ihnen Geld, damit sie noch kräftiger zuschlagen: Rufits: Wuzent vfmine ludesheit, ich gelonen vch wol der arbeit. Ir sollent zwenzig marg han, wollent irn bitflize vnderstan. (GP, w. 910-913)
Rufus: So wahr ich Jude bin, seid versichert, dass ich euch eure Mühe gut lohnen werde. Zwanzig Mark sollt ihr bekommen, wenn ihr ihn euch ordentlich vornehmt.
Mit dieser kurzen Episode wird nicht allein der Rufus innewohnende Hass verdeutlicht, sondern auch die Mittäterschaft der Juden bei der Marterung und Hinrichtung Christi. Bevor jedoch dieser Aspekt, die Ausgestaltung des Gottesmörder-Topos, betrachtet wird, muss noch auf eine weitere Form der Gestaltung jüdischer Hässlichkeit hingewiesen werden, die in den späten Spielen zum Teil virtuos gehandhabt wird. Es handelt sich um den gezielten Einsatz der mittelalterlichen Simultanbühne, die mehrere Bühnenhandlungen gleichzeitig möglich machte. Auf diese Weise ließen sich mit minimalen Mitteln sehr eindrucksvolle Kontraste erzielen, ohne dass der Text der Bibel dafür verändert werden musste, wie das folgende Beispiel aus der frankfurter Dirigierrolle< zeigt. Nach der Tötung Johannes des Täufers heißt es dort: Mortuo itaque Johanne discipuli sui portent eum in pheretro ad sepulchrum cantantes:Ecce quomodo moritur iustus. ludet cantabunt ebreice. (FD, Z. 76a/b)
Nach Johannes' Tod tragen ihn seine Jünger auf einer Bahre zu Grabe und singen dabei: Seht den Tod dieses Gerechten. Die Juden singen hebräisch.
Durch den Gegengesang der Juden, den man sich simultan zum Gesang der Johannesjünger zu denken hat, wird mehr zum Ausdruck gebracht als bloßer Unglaube. Im Kontext der Beerdigung wirkt er höhnisch, ja geradezu bedrohlich. Gleichgültig, ob die Judendarsteller sich wirklich bemühten, hebräisch zu sin-
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gen, oder einfach ein diese Sprache imitierendes Kauderwelsch wählten - sie wurden als »>die Anderem, die Fremden, die Bösen«27 empfunden. Es ist davon auszugehen, dass die beschriebenen Darstellungsweisen von jüdischer Hässlichkeit weit wirkungsvoller waren als die Worte des Augustinus und Worte überhaupt, da Bosheit und Hass nun eine Stimme und ein Gesicht bekamen. Dasselbe ist für die szenische Umsetzung des Topos vom Juden als Gottesmörder anzunehmen. Auch hier wird wieder das Bemühen der Spielbearbeiter deutlich, sich auf der Inhaltsebene möglichst wenig von der Bibel zu entfernen. Bis auf den zitierten Ausfall des Rufus im >St. Galler Passionsspiel< halten sich die Juden an die ihnen in den Evangelien zugedachte Rolle, Jesu Hinrichtung zwar zu initiieren bzw. mitzubeschließen (>BlutrufSt. Galler Passionsspieh, auf die Zuschauer mörderischer gewirkt haben werden als die Juden der Bibel, ist auf eine zunächst harmlos erscheinende Umstellung des Handlungsverlaufs zurückzufuhren. Im Gegensatz zum Matthäusevangelium, in dem Jesus erst nach seiner Verurteilung zum Tode ausgepeitscht wird, erfolgt die Geißelung in den genannten Spielen jeweils vor der Selbstverfluchung der Juden. Als diese nach seinem Blut rufen, steht Jesus also bereits, so hat man es sich wohl vorzustellen, blutig geschlagen auf der Bühne. Hinweise im Sprechtext sowie in den Regieanweisungen lassen darauf schließen, dass bereits in den frühen Spielen mit künstlichem Blut gearbeitet wurde. Musste es für die große Mehrheit der theologisch-ungebildeten Zuschauer ohnehin schwierig gewesen sein, diesen Ruf nicht konkret zu verstehen, so war es unter den geschilderten Umständen nahezu unmöglich. Berauscht vom Blut des Gottessohnes drängen die Juden darauf, das Tötungswerk zu vollenden - das war die Situation, die sich dem Publikum darbot. Es stellt sich nun die Frage, welche Absicht die Spielbearbeiter mit ihrer oft sehr eindrücklichen Ausgestaltung der antijüdischen Topoi verfolgten, ob es ihnen neben der Darlegung des Erlösungsgedankens auch bereits darum zu tun war, die Juden als böses, blindes und verstocktes Volk zu präsentieren. In diesem Fall wären schon die frühen Spiele dezidiert judenfeindlich. Mögen die bisherigen Textbeobachtungen eine solche Lesart auch immer wahrscheinlicher gemacht haben, so spricht ein Grund doch ganz entschieden dagegen: In den Passionsspielen des 13. und 14. Jahrhunderts gibt es nicht nur ein Judenbild, sondern zwei. Im >St. Galler Passionsspieh existiert neben dem >hässlichen< Juden Rufus, auch der >gute< Jude Malchus. Zunächst ist dieser Jesus freilich ebenso feindlich gesonnen wie Rufus und befürwortet - obwohl er bei der Auferweckung des Lazarus zugegen war - bei der anschließenden Beratung der Juden Kayphas' Vorschlag, Jesus zu töten: Herre bischof, ir haut wisen mut. Der rat dunket mich vil gut. (GP, w. 567f.) 27
Herr Bischof, Ihr seid ein weiser Mann. Euer Rat erscheint mir ausgezeichnet.
Winfried Frey, Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters, Aschkenas 2 (1992), S. 49-71, hier S. 61.
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Erst die Heilung seines Ohres, das ihm Petrus in Gethsemane abschlägt, also der körperliche Kontakt zu einem Wunder Christi, öffnet Malchus die Augen, und er erkennt: lesus ist ein v/7 guder man. Er kan wol seczen oren an. Als lebe ich, des bin ich gemeit, ich gedun ime nummer kein leit. (GP, w. 749-752)
Jesus ist ein sehr guter Mensch. Er kann Ohren wieder ansetzen. So lang ich lebe, darüber bin ich froh, werde ich ihm niemals wieder Leid zufügen.
Und tatsächlich scheidet er mit diesem Satz aus der Gruppe der Verfolger Jesu aus. Einen ähnlichen Erkenntnisprozess wie Malchus im >St. Galler Passionsspiel < durchleben auch einige der >hässlichen< Juden in der frankfurter DirigierrolleJude-Sein< ist in den frühen Spielen also keineswegs festgeschrieben, kein unveränderbarer, in der Abstammung gründender Zustand, sondern ein Ergebnis der Entscheidung für oder gegen Christus. Jeder Mensch kann und sollte sich zu Christus bekennen - das ist die Botschaft der Spiele, für die die Juden >nur< Mittel zum Zweck sind. An ihnen wird dem mittelalterlichen Zuschauer vor Augen geführt, wie verwerflich Skepsis gegenüber der durch die Kirche vertretenen Wahrheit ist. Natascha Bremers Ansicht zufolge handelt es sich bei den frühen Spielen daher nicht um antijüdische Agitation, sondern allein um eine Didaxe des schlechten Beispiels: Als die Kunst im Hochmittelalter noch primär eine didaktische Funktion ausübte und nur die Heilsbotschaft vermittelte, brauchte sie die Juden als Zeugen der Wahrheit der Lehre Jesu. Diese Darstellungen [...] dienen nur der Verbreitung und Festigung des christlichen Dogmas.
Aufgrund der bisherigen Überlegungen darf jedoch bezweifelt werden, dass dies die einzige Botschaft war, die das Publikum erreichte. Viele Zuschauer werden die Passionsspiele zudem sehr konkret als >Lehrstücke< über die böse Judennatur verstanden haben und das aus zwei Gründen. Zum einen musste bereits die >Verkörperlichung< bislang form- und gesichtsloser biblischer Judenfiguren, die eine Aufführung automatisch mit sich brachte, das konkrete Verständnis des Dargebotenen fördern; es war also in nicht unwesentlichem Maße gattungsbedingt. Auch der Umstand, dass die Juden zeitgenössisch sprachen, zum Teil mittelalterliche Judennamen und wahrscheinlich auch entsprechende Judenkleidung trugen, war primär den Erfordernissen des Großraumtheaters geschuldet, denn schließlich sollten sie vom Publikum erkannt und verstanden werden. Zum anderen führte der Respekt der geistlichen Spielbearbeiter vor dem Wort der Evangelien sowie der Kirchenväterschriften dazu, dass sie die antijüdischen Topoi nicht auf der abstrakten Ebene des gesprochenen Textes, sondern am Körper des Juden selbst, seiner Sprache, seiner Positionierung im Bühnen-Raum und si28
Bremer [Anm. 2], S. 215.
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eher auch seiner Mimik und Sprechweise gestalteten. Wie sollte unter solchen Bedingungen einem mittelalterlichen Publikum, das mit der zentralen Theaterkonvention der »ontologische[n] Differenz zwischen fiktiven Figuren und realen Charakteren«29 kaum vertraut gewesen sein konnte, diese Differenz gegenwärtig bleiben? Auch bei den Aufführungen der frühen Passionsspiele wird vielfach schon der Eindruck entstanden sein, dass >Jude-Sein< eine körperliche Eigenschaft darstellt. In den späten Spielen ist diese Lesart dann intendiert.
Das >gotische Judenbild< - die Juden in den späten Passionsspielen Vom >St. Gallen und >Maastrichter Passionsspieh, die beide im 14. Jahrhundert nicht genauer zu datieren sind, einmal abgesehen, sind für den Zeitraum zwischen 1350 und ca. 1450 keine Passionsspiele erhalten. Zwischen den frühen und den späten Spielen klafft also eine Lücke in der Überlieferung, die ein Urteil darüber unmöglich macht, welche Veränderung das Passionsspiel zu Zeiten der großen Judenpogrome, der Enteignungen und beginnenden Vertreibungen erfahren hat. Dass in der Zwischenzeit jedoch eine Veränderung stattgefunden hat, macht bereits das erste der späten Spiele, das auf ältere Vorlagen zurückgehende >Donaueschinger Passionsspiel< von ca. 1480, deutlich. Es ist auf den ersten Blick eine quantifizierbare Entwicklung: Verglichen mit dem längsten Spiel der frühen Phase, dem >St. Galler Passionsspieh, hat es etwa dreimal so viele Verse, statt 16 insgesamt 24 Bühnenorte und mit 142 zu 109 auch deutlich mehr Schauspieler.30 Aus diesen Beobachtungen darf bereits auf eine Aufwertung des visuellen Moments im späten Spiel geschlossen werden, was konkret bedeutet: mehr Bühne und mehr Bühnenhandlung. Die Lektüre des erhaltenen Spieltextes bestätigt diesen Eindruck. Die Spielbearbeiter konzentrieren sich besonders darauf, den biblischen Stoff durch die Ausarbeitung der Dialoge, die volle Ausnutzung des Bühnenraumes sowie umfangreiche und akribisch ausgearbeitete äußere Handlung (besonders im Hinblick auf die Marterung Christi) zu verlebendigen. Dass sie dabei scheinbar Szenen und Handlungen frei erfinden, führt Natascha Bremer darauf zurück, dass es sich bei ihnen nicht mehr um geistliche, sondern um weltliche Gelehrte gehandelt habe, deren Respekt vor den tradierten Worten damit geringer gewesen sei.31 Dieser Wechsel in der Regie ist Bremers Ansicht nach die zentrale Ursache für die Dämonisierung der Juden in den spä29 30
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Manfred Pfister, Das Drama, 8. Auflage, München 1994, S. 221. Vgl. Bernd Neumann, >Donaueschinger Passionsspieh, JVL II, Sp. 200-203, hier Sp. 202; Eduard Haiti, Untersuchungen zum St. Galler Passionsspiel, in: Festschrift für Wolfgang Stammler zu seinem 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, Bielefeld 1953,8. 109-129, hier S. 109. Zum Wechsel in der Trägerschaft der Passionsspiele vgl. Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel als Paradigma stadtbürgerlicher Literatur im ausgehenden Mittelalter, in: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, hg. von Georg Stötzel, Berlin/New York 1985, Teil 2, S. 123-135, hier S. 129f.
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ten Passionsspielen.32 Dass die Übernahme der Spielgestaltung durch die Bürgerschicht einen wichtigen Faktor für die Veränderung des Judenbildes darstellt, ist unbestreitbar. Aber auch andere Faktoren sind am Zustandekommen dieses Bildes beteiligt, wie zwei Beobachtungen nahe legen: Zum einen handelt es sich bei den meisten Zusätzen der Spielbearbeiter nicht um neue Erfindungen, sondern um die Versuche, zentrale biblische Passagen dramatisch auszuformulieren - so gut wie keine Szene oder Marterungstat ist ein bloßes Resultat der Fantasie ihrer Schöpfer. Zum anderen ergibt sich die aktive Teilnahme der Juden an der Kreuzigung fast zwangsläufig aus der Art ihrer Darstellung bis zum Einsetzen der eigentlichen Passionshandlung. Diese Form der Darstellung geht wiederum in nicht unerheblichem Maße auf die tradierten antijüdischen Topoi zurück. Ist es aufgrund fehlender überlieferter Spieltexte auch nicht mehr möglich zu rekonstruieren, welche Veränderungen die dramatische Bearbeitung der Passionsgeschichte zwischen 1350 und 1450 erfahren hat, so ist doch Traktatliteratur für den fraglichen Zeitraum in großem Umfang überliefert. In einigen Traktaten scheint das grausame Passionsgeschehen, das für alle späten Spiele charakteristisch ist, bereits vorweggenommen zu sein. Manche Schilderung in Prosa übertrifft diese sogar noch an Detailreichtum und Brutalität, wie beispielsweise die folgende Szene von Jesu Verhaftung, die aus einer deutschen Visionsdarstellung aus der Zeit um 1350 stammt, verdeutlichen kann. Während es in der Bibel schlicht heißt: »Die Schar aber und ihr Anführer und die Knechte der Juden nahmen Jesus und banden ihn« (Joh 18,12), ist in dem Traktat Bewegung in die Szene gekommen: Also griffen sie Xristum an mit dobinder So ergiffen sie Christus auf wütende, ungeungestummer dufelischer geberde, yme stüme, teufliche Art und Weise. Der erste viel einer in das har, der andere an die fiel ihm ins Haar, der zweite an die Kleider cleidere. der dritte yn den hart. Diese dm und der dritte in den Bart. Diese drei fielen warin an ym alsefiil hunde alse ummer an Ober ihn her, als ob es sich um stinkende yme gehangen mothen. [...]Also wartXrist Hunde handelte. So wurde Christus auf unhin gezogen mit ungestummer, wilder, do- gestüme, wilde, wütende Art zu Boden gebinder unzut, mit starcken siegin mitge- rissen, unter kräftigen Schlägen von gepanwapinden henden unde fasten uff den nack Zeiten Händen und Fäusten auf den Nacken undeyn die schuldern und über den rucke und auf die Schultern und über den Rücken und uff das haubit und an die wangin unde und auf den Kopf und auf die Wangen und für die kele unde fur die burst. [...] Sie auf die Kehle und vor die Brust. Sie rissen remftinym daz har von dem haubete, daz ihm das Haupthaar aus, dass seine Locken die locke des haris an der erdin lagin den Boden bedeckten, der eine zog ihn am gestrawet, eyner zochyn hin mit dem har, Haar hin, der andere am Bart zurück. der ander zoch en her Widder mit dem harte. [...].33
Trotz aller scheinbar frei erdichteten Handlungen, die während der Verhaftung stattfinden, entfernt sich der Verfasser dieser Beschreibung ebenso wenig von seiner biblischen Vorlage wie es die Bearbeiter der frühen Spiele getan haben. Er 32 33
Vgl. Bremer [Anm. 2], S. 212f. Christi Leiden in einer Vision geschaut, hg. von Robert Priebsch, Heidelberg 1936, S. 32f.
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bemüht sich nur (allerdings mit viel Eifer) den möglichen Handlungsverlauf der Szene zu rekonstruieren, über den die Evangelisten schweigen. Der Leidensweg Christi war für sie nicht als »Vorgang«, sondern als »Geschehnis«34 von Interesse. Christus wurde verhaftet, verurteilt, gegeißelt und gekreuzigt - wie dies jedoch geschah, spielt in der Bibel keine Rolle. In Bezug auf den konkreten Verlauf der Passion Christi sind die Evangelien voller >LeerstellenLeerstellen< mit Handlung zu füllen. Das oben angeführte Textbeispiel legt Zeugnis von jener literarischen Tradition der Bibeldichtung ab, die auf den ersten Blick von der Fantasie ihrer Schöpfer zu leben scheint. Ebenso wie die Bearbeiter der späteren Passionsspiele verwenden diese besonders viel Mühe darauf, gerade die Kreuzigungsszene möglichst lebensnah umzusetzen. Aus dem wohlgestalteten, triumphierenden Christus der Romanik (Christus Pantokrator) wird so der gemarterte, leidende Christus der Gotik (Christus patiens). Frederick Pickering hat gezeigt, dass das gotische Christusbild durchaus seine Grundlage in der Bibel besitzt bzw. die Gelehrten das Bild des leidenden Christus aus der Bibel >rekonstruiert< haben. Da die Evangelien ihnen nicht die erforderlichen Informationen lieferten, begannen sie, alttestamentarische Bilder und Symbole, die in der christlichen Exegese ihren festen Platz als Vorausdeutungen auf das Leben und den Tod Jesu hatten, als konkrete Handlungsanleitungen zu lesen. So wurde z.B. aus dem altestamentarischen Symbol der Harfe der gespannte Leib Christi am Kreuz bzw. der Vorgang des Spannens selbst.35 Aus welchen Gründen in den Frömmigkeitsvorstellungen des Hochmittelalters begonnen wurde, auf diese Weise die Passionshandlung zu >rekonstruierenAlsfelder Passionsspiel< bis hin zu den Einzelheiten der Marterung Christi im >Donaueschinger Passionsspiel< - bereits in Prosa vorgeformt waren.36 Eine >Leerstelle< indes blieb: Wer 34
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Die Unterscheidung zwischen »Vorgang« und »Geschehnis« stammt von Pickering, Literatur [Anm. 4], S. 149f. Siehe Pickering, Christusbild [Anm. 4], S. 29ff. Die zu weit auseinandergebohrten Löcher im Kreuz, der gespannte Leib Christi, der Vorschlag, das Kreuz fallen zu lassen, um Jesu Schmerzen zu erhöhen - für all diese Details nennt Pickering Beispiele aus Schriften des 13. und 14. Jahrhunderts, um am Ende hinzuzufügen: »Nach den obigen Ausführungen [zum Symbol der Harfe und der Schlange, d.V.] wird man aber die Entwicklungsmöglichkeiten leicht ahnen, die folgende Symbole geboten haben mögen - wobei man die Konsequenzen des assoziativen Denkens nicht übersehen darf: Widder, Lamm, Vließ, Pergament, Buch, Urkunde (oder Pergament, Trommel); der Weinstock, am Spalier, in der Kelter, Samenkorn, Mehl, Brot - bis zur Hostie, die auf dem Altar gebrochen wird; der Felsen, der mit einem Stab geschlagen wurde, usw.« Pickering [Anm. 4], S. 37.
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sollten die in dem Textbeispiel noch ungenannten Akteure sein? Während es in den zur Predigt oder Lektüre bestimmten Schriften möglich war, die Leiden Christi zwar zu beleuchten, seine Peiniger jedoch im Schatten zu belassen, erlaubte die mittelalterliche Bühne eine derartige Fokussierung der Perspektive nicht. Die Juden als Täter ausführlich zu präsentieren bot sich an und korrespondierte mit Schuldzuweisungen, die im städtischen Leben auch sonst erfolgten, indem die Juden als Sündenböcke herhalten mussten.37 Mit der Bibel oder den frühen Passionsspielen hatte diese Art der Judendarstellung kaum noch etwas gemeinsam. Aus dem einstmals religiösen Gegner sind die boyssenn falschenn Jüddenn (HP, v. 3854) geworden, über die selbst Pilatus nur klagen kann: Ach, ir snoden [erbärmlichen] Judenkynth, I wye gar hessigk [hasserfüllt] ir alle synth l Hiesu dem gerechten! (AP, w. 3968-3970). Sicher ist diese >Verhässlichung< der Juden ebenfalls in wesentlichem Maße auf den gestalterischen Willen der Bearbeiter zurückzuführen. Doch bot sich der ihnen zur Verfügung stehende Stoff auch dafür an, drängten sich der >Blutruf< sowie das Bild von den Teufelskindem geradezu dazu auf, mit ihnen dasselbe »gefährliche Spiel« zu treiben wie das, »das mit den Metaphern der prophetischen Bücher getrieben wurde«.38 Anhand des Topos vom Juden als Gottesmörder soll daher im Folgenden demonstriert werden, wie die Spielbearbeiter biblische und patristische Bilder und Metaphern im späten Passionsspiel zu konkreter Handlung kondensierten. Die Gestaltung des Gottesmörder-Topos hat in den Spielen des frankfurtischhessischen Spielkreises (>FrankfurterHeidelberger< und >Alsfelder PassionsspielBlutrufs< im >Heidelberger Passionsspieh. Nach den Worten Vber vnns sail sein blutt seynn l Vnnd vber vnnser kindelein (HP, w. 5159f), mit denen das biblische »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« bereits vollständig wiedergegeben ist, wird dort noch das folgende Verspaar hinzugefügt: Ob mann jm vnrechtt thutl, l So wollenn wir doch habenn sein blutt (HP, w. 5161 f.). Dieser Textzusatz drückt mehr aus als >bloß< die Schuld der Juden an Jesu Tod. Er beschreibt ein fast schon Gier zu nennendes Verlangen nach seinem Blut, das nicht mehr nach Recht oder Moral fragt; beim Anblick des kurz zuvor blutig geschlagenen Christus39 scheinen sie - durchaus nicht mehr im übertragenen Sinne - >Blut zu leckenFrankfurter PassionsspielAlsfelder< und >Tiroler Passionsspiel·), hinter denen die biblischen Wortführer Kayphas und Annas zurücktreten, im Namen aller Juden; und sie handeln aus einem Motiv, das den Evangelien fremd ist, nämlich aus einem wirtschaftlichen: Jesus ist für sie >geschäftsschädigenddem< Juden schlechthin identifizierten. Gestützt wurde diese Interpretation noch durch den massierten Einsatz von mittelalterlichen Judennamen sowie typischer Judenkleidung wie beispielsweise dem Judenhut. Ebenso wie in den frühen Spielen sollte diese Aktualisierung des Bühnengeschehens zunächst die Identifizierung der Akteure erleichtem; auch Pilatus oder Herodes wurden zu diesem Zweck in der Tracht mittelalterlicher Stadtrichter oder Bürgermeister in Szene gesetzt.40 Mochten die konkretisierenden Folgen dieser Regieeinfälle noch weitgehend unbeabsichtigt gewesen sein, so zeigt die Modellierung des Gottesmörder-Topos auf der Gestaltungsebene, dass die Spielbearbeiter eine konkrete Interpretation des Bühnengeschehens auch bewusst förderten. Im Zusammenhang mit den frühen Spielen wurde bereits daraufhingewiesen, dass schon allein die Anwesenheit des blutüberströmten Christus es dem Zuschauer nahe legen musste, den >Blutruf< sehr konkret zu verstehen. In den späten Spielen wird diese Verbindung von >Blutruf< und konkretem Blut auf der Inhaltsebene sowie der Siehe Degani [Anm. 16], S. 21.
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Darstellungsebene bewusst suggeriert. Liegen den folgenden Textstellen auch sämtlich Bibelverse zu Grunde, so ist die Intention ihrer Ausgestaltung doch vollkommen unbiblisch; denn sie alle zeigen den >Blutdurst< der Juden: Pilatus: Ir Juden, ir sält haben gedult! Herodes und ich vinden kain schuld, Dye im an das leben müg gan; Darumb suit ir ain genügen han, Wan ich in getzüchttig mit ruetten, Das ir allen seinen leib secht plüetten. (TP, w. 1682-1687)
Pilatus: Ihr Juden, habt Geduld! Herodes und ich finden keine Schuld, die seinen Tod rechtfertigen könnte; Lasst es genug damit sein, dass ich ihn mit Ruten züchtigen lasse und ihr ihn am ganzen Leib bluten seht.
Tercius flagellator: [ein Jude] ich wel die krönen drucken gern, das das blut rynnet uffsyn wangen: darnach sal uns alle vorlangen! (AP, w. 4301-4303)
Der dritte Geißler: Ich will die Dornenkrone mit Freude so fest niederdrücken, dass ihm das Blut auf seine Wangen rinnt: danach soll uns alle verlangen!
Synagogus: [zu Jesus] Weis got, du bist ein dummer man. [...] du wilt dinflise zu spise vnd din blut zu drang geben vnd werestu als der berg Septimunt, wir essen dich in kurtzer stundt. (FP,w. 1677-1684)
Synagogus: Weiß Gott, du bist ein Tor. [...] du willst dein Fleisch als Speise und dein Blut als Getränk geben. Wärst du auch so groß wie das Siebengebirge, wir äßen dich schnell auf.
Eine Form der dramaturgischen Profilierung jüdischer Blutgier findet sich im >Alsfelder Passionsspielheilen< und >rettenAlsfelder Passionsspiel< handeln die Juden im Verbund mit leibhaftigen Teufeln, im frankfurter Passionsspieh ist ihr heulender Gesang (iudei murmurant ululantes [Die Juden murmeln heulend.], FP, v. 1861 a) gleichsam der äußere Ausdruck des ihnen innewohnenden Hasses, und in allen Spielen scheint ihre Verstockung physischer Natur zu sein. Mit Ausnahme des Heidelberger PassionsspielsLegenda Aurea< (entstanden 12631273) des Jacobus de Voragine, die Legenden über die Heiligen des kirchlichen Kalenders versammelt,9 ist eine der bekanntesten frühen Hostienwundergeschichten enthalten: Der heilige Basilius zelebriert die Messe, an der auch ein Jude aus Neugier teilnimmt. Doch wo die anwesenden Christen nur die Hostie sehen, erscheint dem Juden ein kleines Kind in den Händen von Basilius. Doch als er das Brot empfangen soll, ist es wirkliches Fleisch. Er nimmt es heimlich mit, zeigt es seiner Frau und ist so überwältigt von dem Geheimnis der Christen, dass er anderntags bei Basilius um die Taufe bittet.10 Schon früh in der literarischen Tradition der Hostienwundergeschichten tritt ein Jude als handelnde Person auf, der aber innerhalb der Geschichte keine judenfeindliche Funktion besitzt, sondern vielmehr einen besonders glaubwürdigen Zeugen darstellt: Sogar einem Nichtchristen wird die Gnade Gottes zuteil, das Wunder der Eucharistie schauen zu dürfen, und er lässt sich überzeugen; um wie viel mehr sollte also der Christ, an den sich die Geschichte wendet, an die Eucharistie und die Wahrheit des Erscheinungswunders glauben! Häufiger noch als die exempelhaften Verwandlungs- oder Erscheinungswunder sind die Geschichten von Blutwundem infolge einer Hostienschändung: Ein Ungläubiger, Zweifler oder Unwürdiger bemächtigt sich der Hostie, um sie zu verletzen, zu schmähen oder in anderer Weise zu missbrauchen. Daraufhin tritt Blut aus der Hostie, oder andere Wunder geschehen: Ein Glanz leuchtet um die Hostie, sie hält ihren Peiniger am Ort gebunden, bis sein Frevel offenbar wird, oder sie beginnt zu weinen oder zu schreien. In allen Fällen wird das Mirakel als Strafwunder aufgefasst, bekehrt den meist christlichen Frevler und führt zu dessen Bestrafung. Die missbräuchliche Verwendung einer Hostie konnte dabei vielfältig sein, denn um die Fähigkeit der konsekrierten Hostie, Wunder zu wirken, bildete sich ein weit verbreiteter Aberglaube. Darin erscheint die Hostie als Alexander Patschovsky, Der »Talmudjude«. Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas, in: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, hg. von Alfred Haverkamp und Franz-Josef Ziwes, ZfhF Beiheft 13 (1992), S. 13-27, hier S. 21. Konrad Kunze, Jacobus a (de) Voragine (Varagine), 2 VLIV, Sp. 448-466. Vita Sancti Basilii, Caesareae Cappadociae archiepiscopi, PL 73, Sp. 294-320, hier Sp. 301.
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Instrument magischer Versuche: Manche glaubten, dass die Hostie für Liebeszauber oder Beschwörungen verwendet werden könne, dass sie Reichtum, Kraft oder Gesundheit bringe, ihren Träger unverwundbar mache oder einer Partei in der Schlacht helfe - die Anwesenheit Christi in der Hostie verspreche glückbringende Zauberkraft bei fast jeder Art von profaner Unternehmung. Man glaubte hingegen auch, dass der Teufel sich für das eigene Anliegen gewinnen lasse, wenn man seinen Widersacher, nämlich Christus, schände oder verletze. Die Frevler verschafften sich zu diesem Zweck unrechtmäßig eine Hostie, indem sie sie entweder selbst aus der Messe stahlen, sie von anderen Christen stehlen ließen oder solche bestachen, die Zugang zu ihnen hatten, vor allem also Priester. Zahlreiche Vorschriften wiesen den Priester deshalb an, darauf zu achten, dass die Hostie auch wirklich verschluckt und nicht etwa heimlich bei Seite geschafft werde und dass sie die geweihten Hostien stets gut verschlossen aufbewahrten. Entsprechend der Bewertung der Frau in Gesellschaft und Christentum als Gefäß der Sünde und Nachfolgerin Evas waren es meistens Christinnen, die in den Legenden die Rolle der Hostiendiebin, also der ausführenden Täterin erhielten, weshalb zeitweilig empfohlen wurde, Frauen nur einmal im Jahr die Kommunion zu gewähren." Der Glaube an Hexen, Zauberer und Teufelsdiener war bei Gebildeten, Laien und Geistlichen gleichermaßen verbreitet,12 und es ist nicht verwunderlich, dass im Kontext der Eucharistie aus der schwer begreifbaren Kommunions-Formel hoc est corpus meum (»Das ist mein Leib«, Lk 22,19) der >Hokuspokus< wurde. Im Zusammenhang der Blutwunderlegenden, der allgemeinen Wundergläubigkeit und des sich verstärkenden Judenhasses entwickelte sich am Ende des 13. Jahrhunderts der Vorwurf der jüdischen Hostienschändung. Ob andere Formen der Blutwunderlegende, namentlich die Bildfrevellegende,13 in die Konstruktion der Hostienschändungslegende eingeflossen sind, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass den Juden häufig unterstellt wurde, das Christentum zu verspotten, indem sie sich an christlichen Symbolen vergreifen, seien es Kruzifix, Heiligenbilder oder die konsekrierte Hostie. Zwar ist nicht auszuschließen, dass 11
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Vgl. Wolfgang Treue, Schlechte und gute Christen. Zur Rolle von Christen in antijüdischen Ritualmord- und Hostienschändungslegenden, Aschkenas 2 (1992), S. 95-116, v.a. lOOf. Vgl. Peter Browe, Die Eucharistie als Zaubermittel im Mittelalter, AKG 20 (1930), S. 134154. Die Bildfrevellegende geht vermutlich zurück auf ein Missverständnis des jüdischen Brauchs beim Purimfest. Zur Erinnerung der Kreuzigung des Judenverfolgers Haman wird symbolisch ein Bild (Kreuz) verbrannt. Dieses Missverständnis der Christen, die in Haman den gekreuzigten Christus zu erkennen glauben, existiert auch schon seit der Spätantike (Theodosius, 408 n. Chr.). Es entwickelte sich daraus möglicherweise die Unterstellung des judischen Bildfrevels, also der Schändung christlicher Symbole wie des Kruzifixes, Heiligenbilder etc. Die Marter der Hostie bzw. Christi in Hostiengestalt könnte eine Weiterentwicklung oder Spielart des Bildfrevelvorwurfes darstellen. Vgl. Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 271-273, und Friedrich Letter, Hostienfrevel vorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von 1298 (»Rintfleisch«) und 1336-1338 (»Armleder«), in: Fälschungen im Mittelalter V, Hannover 1988, S. 533-583, hier S. 543.
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einzelne Geschichten von jüdischen Schändungen auf historische Fakten zurückgehen. Doch bleibt die Frage, warum Juden sich an einer Hostie vergreifen sollten, die für sie nichts mehr als ungesäuertes Brot darstellt. Hostienschändungen durch >schlechte< Christen hingegen lassen sich nachweisen, und sie nehmen auch in den Wundererzählungen des 13. Jahrhunderts bei weitem den größten Raum ein. In der Exempel-Sammlung >Dialogus miraculorum< des Zisterziensermönchs Caesarius von Heisterbach (um 1225) treten in keiner Legende Juden als Täter auf, obwohl das zu seinem folgenden Urteil gepasst hätte und z.T. von den Christen selbst verschuldet wäre: cum ludaei etpagani superbiam vel signa superbiae vident in Christianis, religionem Christianam horrent, et blasphematur nomen Christi per eos.
Weil die Juden und Heiden den Hochmut oder Anzeichen des Hochmuts bei den Christen sehen, verabscheuen sie die christliehe Religion, und der Name Christi wird von ihnen geschmäht.
Die Wanderlegende vom Hostienfrevel Es zeigt sich also, dass eine Legendentradition - auch bereits mit Juden in der >Täterrolle< - bereitstand, dass den Juden nicht erst seit dem Aufkommen der Ritualmordfabeln die Schmähung christlicher Symbole und die Schädigung (oder gar Marterung) von Christen(kindem) zugetraut wurde und schließlich dass das Verhältnis von Christen und Juden sich drastisch verschlechtert hatte. Hinzu kam eine Veränderung des Christusbildes innerhalb der christlichen Frömmigkeit, wie es maßgeblich in den Bettelorden verbreitet war: Aus dem mächtigen Christus Pantokrator wurde der leidende Menschensohn. Dieses Bild erlaubte die imitatio Christi, die Nacherfahrung der Leiden Christi im Glauben, und beförderte überhaupt die Passionsbetrachtung. Die Folge war auch, dass nicht nur das erlittene Leid Christi in das religiöse Bewusstsein gerückt wurde, sondern zudem die physischen Verursacher des Leides, die jüdischen Täter. In diesem Wandel trat die Deutung der Juden als Werkzeuge des Heilsplans zurück. Die Juden wurden als Mörder und Schinder Jesu Christi präsentiert und konnten in der Stilisierung zu >Gottesmördem< und schließlich zu Menschenfeinden schlechthin erklärt werden. In welchen Etappen aus dem Typus der Blutwunder- bzw. Hostienfrevellegende - vielleicht unter Einschluss der Bildfrevellegende - einer der Hauptvorwürfe gegen die Juden des Mittelalters wurde, lässt sich nicht detailliert nachvollziehen. Der wichtigste Schritt aber kann an der Pariser Hostienfrevellegende beobachtet werden. Verschiedene zeitgenössische Berichte ergeben bei kleinen Widersprüchen im Detail folgende Kemhandlung: 1290 wurde in Paris der Vorwurf der Hostienschändung erhoben. Ein Jude habe von einer Christin (der eigeCaesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, hg. von Joseph Strange, 2 Bde, Köln 1851, hier Bd. l, S. 185.
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nen Magd) eine geweihte Hostie erworben, er habe sie allein bzw. mit seinen Glaubensgenossen mit verschiedenen Werkzeugen (Messer, Schreibgriffel, Nagel und/oder Schwert) gemartert. Sie sei jedoch unversehrt geblieben. Er habe dann die Hostie mit einem großen Messer durchstochen, woraufhin sie blutete. Anschließend habe er sie in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen, das ganz (oder teilweise) zu Blut geworden sei, und die Hostie habe sich in Fleisch verwandelt. Dem Wurf in das Feuer oder den Abort entzog sie sich, indem sie davongeflogen sei und das Bild des Gekreuzigten habe sichtbar werden lassen. Der Frevel sei offenbar geworden (angezeigt durch die Familie des Juden) und der Frevler verhaftet. Er habe seine Tat gestanden, sich aber beharrlich geweigert, Buße zu tun und die angebotene Verzeihung anzunehmen, so dass er auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, während die Familie sich taufen ließ. Am Ort des Geschehens wurde eine Kirche errichtet (die Chapelle des Billettes), in der die angeblichen Marterwerkzeuge ausgestellt wurden. Die Legende setzt das Muster der älteren Bekehrungslegenden fort, doch bringt sie eine klare Tendenzverschiebung: Der Täter lässt sich wider besseres Wissen nicht von der Wahrheit des Christentums überzeugen, sondern bleibt ungläubig. Die Perspektive der Erzählung verlagert sich: Nicht mehr die Fähigkeit der Hostie, Wunder herbeizuführen, steht im Vordergrund der Darstellung, sondern die Demonstration der Bosheit des Juden und seiner >Verstocktheit. Dahinter steht der Vorwurf gegen das Judentum insgesamt, den Messias Christus seit den biblischen Geschehnissen bis in die Gegenwart zu verleugnen, den christlichen Heilswahrheiten gegenüber >blind< zu sein und sein zu wollen. Dieser Vorwurf wurde für die Juden bald noch verhängnisvoller als die Ritualmordanklage und diente in der Zeit von 1290 bis 1340, in der die Beschuldigungen am häufigsten erhoben wurden, wiederholt zur Begründung für überregionale Pogromwellen. Die in Paris erzählte Legende wurde modellhaft für alle weiteren Legenden, die in Aufbau und Struktur dem Pariser Muster entsprachen; ihre Elemente bildeten eine allgemein anwendbare Wanderlegende vom jüdischen Hostienfrevel, in der lediglich die Namen und Orte ausgetauscht werden mussten, um sie für einen neuen Schauplatz zuzurichten. Zuerst geschah dies allerdings nur rudimentär dem Pariser Modell entsprechend - 1294 in Laa in Niederösterreich und führte sofort zu Pogromen in den Nachbarorten.15 Auf deutschem Boden wurde der Hostienfrevelvorwurf erstmalig 1298 in Rötungen an der Tauber erhoben. Kurzerhand rotteten sich Christen zusammen - zumeist aus den unteren städtischen und bäuerlichen Schichten -, um angeführt von ihrem gewählten >König< Rintfleisch die Juden entlang der Tauber zu morden. Die Pogromwelle breitete sich rasch von Juni bis Oktober aus und erfasste 146 Orte in Franken, der Oberpfalz, Schwaben, Hessen und Thüringen. Zahlreiche Chroniken berichten von dem Hostienfrevel in Rötungen, dessen Darstellung weitgehend der Wanderlegende entspricht.16 Die aufflammende Judenverfolgung in der Region führen die Chronisten auf Nachahmung durch die Bauern in den NachVgl. Lotter [Anm. 13], S. 549. Vgl. Lotter [Anm. 13], S. 552f.
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bardörfem zurück, oder sie glauben gar davon zu wissen, dass die Röttinger Juden Hostienpartikel zu anderen Judengemeinden geschickt hätten, womit der Frevel sich noch vervielfachte. Tatsächlich ist der Hostienfrevelvorwurf von den Judenschlägem in den anderen Orten erhoben worden, offenbar aber erst als nachträglich vorgebrachte Begründung. Vorbereitet wurde die Anklage als glaubhafte Anschuldigung allerdings durch Hörensagen und Predigten. Mehrere Momente machten die neue Anschuldigung gegen die Juden besonders gefährlich: Zum einen verschärfte sie die erfundenen Missetaten vom Mord an einzelnen Christen, indem sie behauptete, die Juden wollten in der Hostie den Messias selbst - >emeut< - martern und damit die ganze Christenheit treffen. »Die Beschuldigung des >Hostienfrevels< ist eigentlich nichts anderes als eine sakramentalisierte Ritualmordbeschuldigung.«17 Ihr vermeintliches Opfer ist nicht mehr ein beliebiges Christenkind, sondern das Christuskind in seiner eucharistischen Gestalt; »das >Verbrechen< der Hostienschänder [erhielt] eine mythische Dimension«.18 Es bedrohte das Leben aller Mitmenschen als größtmögliches Sakrileg, dessen Bestrafung durch ein göttliches Strafgericht alle Menschen treffen würde. Deshalb - unter anderem - war der Mobilisierungseffekt hier größer als bei der Ritualmordfabel, denn jeder Christ konnte sich aufgerufen fühlen, diese neuerliche Marterung Gottes selbst zu ahnden. Während es in Paris einen Prozess gegen den vermeintlichen jüdischen Hostienschänder gab, leiteten Christen später aus dem Gerücht der jüdischen Hostienschändung eine Handlungsanweisung zur Lynchjustiz ab. Erst seit etwa 1400 ist die Justiz wieder zu strengerem Zugriff in der Lage, so dass es fortan mehr Prozesse als Pogrome gab. Zum zweiten galten die Juden dieser Legenden dem Christentum gegenüber als derartig feindselig, dass angesichts der Größe ihres Verbrechens und der Verstocktheit der Frevler ihr Tod als einzige Möglichkeit der Bestrafung blieb. Es gab kein Entkommen, da die Bekehrung des Täters aus Legende und Vorstellung gestrichen war. Zum dritten schien der Hostienfrevel nicht das Werk eines einzelnen zu sein, sondern die ganze Gemeinde miteinzubeziehen: Die versammelten Juden marterten angeblich gemeinschaftlich die Hostie, weshalb sie auch alle dafür bestraft werden mussten. Die Hostienlegende konstruierte eine Kollektivschuld, die oft auf die ganze Gemeinde - einschließlich der Frauen und Kinder bezogen wurde. Zum vierten bedurfte es keiner Kinderleiche mehr, um die Anklage zu erheben: Es genügte, dass irgendwo eine Hostie fehlte oder ein vermeintliches Corpus Christi in der Nähe eines Judenhauses gefunden wurde, um das Programm zum Pogrom ablaufen zu lassen. Die Legende wurde oft erzählt, so dass sich ihre Glaubwürdigkeit unter anderem durch Wiederholung steigerte; sie war anscheinend eine unzweifelhafte Tatsache, so dass es im Einzelfall oft nicht einmal mehr eines Beweises bedurfte, nachdem durch die vermeintlichen Vorfälle in anderen Orten der verbrecherische Charakter der Juden entdeckt und bekannt schien. Alexander Patschovski, Judenverfolgung im Mittelalter, GWU 41 (1990), S. 6. Frantiäek Graus, Pest - Geißler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, 3. Auflage, Göttingen 1994, S. 289f.
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Auch wenn Papst Benedikt XII. sich den Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Blutwunder und der daraus folgenden Wallfahrten anschloss, bedeuteten die zeitgenössischen Zweifel an Hostienwundem nur, dass konkrete Vorfälle für unglaubwürdig gehalten wurden. Das Blutwunder als solches - und damit auch die Hostienschändung - wurden für grundsätzlich möglich gehalten. Der Zweifel nährende Verdacht der Wunderinszenierung lag deshalb nahe, weil im Anschluss an das Gerücht die Juden ermordet und beraubt wurden und in fast allen Fällen am Ort eine Kirche zu Ehren des Hostienwunders und eine Wallfahrt entstanden. Neben dem sicheren Prestigegewinn für den Ort, an dem sich Gottes Wirken manifestiert zu haben schien, bedeuteten die Wallfahrer einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Gewinn, der so manchem armen Kleriker zu großem Wohlstand verhelfen hat. Mit den Fällen von Komeuburg (1298) und Pulkau (1338) sind schon von Zeitgenossen aufgedeckte Schwindel dokumentiert, die niedere Geistliche auf Kosten von rund vierzig Judengemeinden inszenierten. Die Rolle des niederen Klerus, der ortsansässigen Priester, ist in diesem Zusammenhang und auch wegen seiner häufigen literarischen Präsenz in den Hostienfrevellegenden kaum zweifelhaft, und man wird nicht fehlgehen, bei ihm den Ursprung manches Hostienschändungsvorwurfes zu vermuten. Letztlich aber sind die Erfinder der Vorwürfe meist nicht zu fassen. Neben den religiösen Gründen, die zum traurigen Erfolg der Hostienfrevellegende führten, waren es vor allem soziale und wirtschaftliche Spannungen, die sowohl in den Städten als auch auf dem Land die Menschen hysterisierten: Missemten, Endzeiterwartung, Spannungen mit und in den aufstrebenden Städten, die Unsicherheit der Handelswege und schließlich die Schwäche der zentralen Gewalten des Kaisers und der Fürsten. Das neue Engagement der Städte im Reichsgefüge belastete die Stadthaushalte, die sich deshalb bei den Juden hoch verschuldeten. Wenn aber der Schuldendruck zu groß geworden war, wenn die Unglücksfälle einer Erklärung durch Sündenböcke bedurften und die Unzufriedenheit gegenüber dem Landesherrn einen Pegel überschritt, von dem an Handgreiflichkeiten gegen fürstliche Besitztümer - und als solche galten auch die jüdischen >KammerknechteLied von Deggendorfc gibt die Ereignisse des Pogroms als Legende vom Hostienfrevel wieder: Am Ostertag verschaffen sich die Juden durch eine ihrer christlichen Mägde eine geweihte Hostie aus der Kirche. In großer Versammlung beginnen sie, die Hostie zu martern. Zuerst durchstechen sie sie mit einer Ahle, woraufhin die Hostie zu bluten beginnt und ein Kind auf ihr erscheint. Danach wird sie mit einem Hagedorn traktiert, jedoch lässt sie sich weder zerkratzen noch das erschienene Kind herunterstreichen. Auch der Versuch, die Hostie in einem Feuerofen zu verbrennen, scheitert, ebenso wie die Marterung Christus in Hostiengestalt nichts anhaben kann. Dann erscheint Maria, begleitet von einer Engelschar, und klagt laut darüber, dass die falschen Juden blind (v. 71) ihr armes Kind martern - zum wiederholten Male, wie jeder christliche Zeitgenosse aus seinem Repertoire an Vorurteilen wird abgerufen haben können. Der Frevel wird in Deggendorf durch Wunderzeichen bekannt, und in der Kirche des benachbarten Schädling verschwören sich fünfzig Männer, die Juden zu überfallen. In die Stadt, deren Tore inzwischen geschlossen worden 23
Das Exemplar der Bamberger Ausgabe (1500) aus der Werkstatt von Johannes Pfeyl ist in der Stiftsbibliothek Metten nicht mehr auffindbar. Die Augsburger Ausgabe (1520) aus der Werkstatt des Silvan Otmar ist in vier Exemplaren in München, Frankfurt und London erhalten. Es wird stets aus der bei Steub abgedruckten Augsburger Version zitiert. Ludwig Steub, Altbayerische Culturbilder, Leipzig 1869, S. 146-149.
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sind, begehrt nun auch Landpfleger Hartmann zu Natternberg mit seinem Heer Einlass. Ob es sich bei diesem Heer um die Verschwörer von Schaching handelt bzw. handeln soll, ist nicht eindeutig zu klären. Der Kampf gegen die Juden beginnt, den diese alsbald verlieren, woraufhin der Juden hauß verbrannt (v. 115) wird. Die Hostie fliegt völlig unversehrt aus dem brennenden Haus, schwebt kurz über der versammelten Deggendorfer Bürgerschaft, um sich sodann für eine Weile auf dem Schoß eines Schmiedes on Sünde (v. 120) niederzulassen. Schließlich erscheinen Priester und Scharen von Schaulustigen, als die Hostie zu einem jungen Priester aus Niederaltaich hinüberfliegt, der noch keine dreißig Messen gelesen hat. In Deggendorf geschehen weiterhin viele andere Wunder, Blinde werden sehend, Lahme gehend und Krumme wieder aufgerichtet: Das alles vermag die gottes kraffl lob hob die wirdig priesterschaffi Das sy mit warten in ain prot bringen herab den zarten got (w. 142-145)
Das alles vermag die Macht Gottes! Gelobt seien die ehrwürdigen Priester daftr, dass sie mit ihren Worten den liebevollen Gott in einer Hostie erscheinen lassen,
Angesichts der von Manfred Eder überzeugend rekonstruierten Ereignisse ist deutlich, dass hier eine Geschichte erzählt wird, die von den historischen Ereignissen abweicht. Denn abgesehen davon, dass der Hostienfrevel durch die Juden eine christliche Erfindung ist, wurde er unmittelbar im Zusammenhang der Ereignisse von 1338 nicht zur Rechtfertigung des Pogroms bemüht. Die zeitnahen Zeugnisse informieren über weitaus weniger Details des Geschehens, als dieses Lied enthält. Die Nähe zu Struktur und Inhalt anderer Hostienfrevelgeschichten, vor allem zu der aus Paris stammenden Legendenform, ist evident: Das Deggendorfer Lied passt die Legende auf den Schauplatz in Niederbayem an und spart kein wesentliches Element aus. Das von Rainer Erb formulierte allgemeingültige Gerüst der Wanderlegende26 findet sich fast vollständig wieder: Die Geschichte vom Hostienfrevel beginnt mit der unrechtmäßigen Aneignung der konsekrierten Hostie durch Juden, meist mithilfe einer Christin (w. 27-38: ain christenliches Weib) und spielt sich zumeist zur Passionszeit ab (v. 33: noch heür gen disem Ostertag). Sodann martern die Juden gemeinschaftlich die Hostie (w. 39-67: mit hammer, zangen, vnd amboß), woraufhin verschiedene Wunder geschehen: Die Hostie beginnt zu bluten (w. 39-44: Das man das rosenfarbe bluot Sach pur hertringen also gschwind). Die gemarterte Hostie widersteht dem Feuer (w. 52-56: im Feuerofen nimmt sie keinen Schaden, denn Got [...] schadet weder haiß noch kalt, w. 116-119: Das sacrament [die Hostie] kam geflogen l auß dem feüwer gar vnbetrogen d.i. unversehrt). Es ereignen sich weitere Wunder, die in direktem Zusammenhang mit dem Eucharistiewunder stehen (w. 45-50: Erscheinung des Kindes; w. 62-68: das Kind verhindert durch ein Bannwunder, dass ein Jude - nach christlich mittelalterlichem Verständnis ein Unreiner - das Sakrament verschluckt); es werden Engel, Rainer Erb, Zur Erforschung der europäischen Ritualmordbeschuldigungen, in: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, hg. von dems., Berlin 1993, S. 9-16, hier S. 10. Das Modell ist hier geringfügig erweitert.
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Tauben oder Maria in das Geschehen einbezogen (w. 69-75: Mit einer Engelschar Maria die kam mit grossem laid). Ein wunderbares Licht leuchtet auf (v. 74: ain Hecht schön lautier vnd auch klar). Die verwandelte Hostie beginnt zu klagen (w. 76f.: ain wachter [...] hört von Maria grosse klag), woraufhin die Christen aufmerksam werden und den Frevel bestrafen (w. 90-115: Verschwörung in Schaching, das dortige Altarbild neigt zustimmend sein Haupt, Hartmann von Nattemberg und sein Heer besiegen die Juden). Anschließend wird die Hostie in die Obhut von Priestern überführt (w. 127-135: ain priester jung on alle sund), und am Ort des Frevels oder der Synagoge wird eine Kirche errichtet (indirekt w. 15-19: in die Kirch zuom hailigen grabe). Die für die Pariser Ereignisse geschaffene Struktur - Hostienbeschaffung, Marterung, Wundererscheinungen und Rache der Christen - findet sich in der Deggendorfer Hostienfrevellegende wieder. Dass das Legendenmodell stereotyp auf den konkreten Fall von 1338 angewendet worden ist, wird an markanten Abweichungen um so deutlicher. So behauptet das Lied, der Hostienfrevel habe am Ostertag stattgefunden, was im Kontext des hohen Ansehens des Passionsgeschehens topisch ist. Die einzelnen Wunderzeichen kann man grob nach Blut-, Erscheinungs- und Lichtwunder unterscheiden,27 und alle Formen finden sich auch im Lied wieder, wobei die Reihenfolge unerheblich ist. Am Anfang der Erscheinungswunder steht im Modell wie dem Deggendorfer Fall das Wunder der Wandlung der Hostie in Christus, was für die Darstellung der tatsächlichen >Wiedermarterung< notwendig ist. Der Deggendorfer Reimspruch besitzt allerdings als besonderen individuellen Zug eine Rahmengeschichte, die der Authentisierung dient und aufgrund derer das Gedicht als Auftragsarbeit beurteilt worden ist: Der Verfasser berichtet am Anfang des Liedes, dass er sich im Namen der christlichen Wahrheit auf die Reise nach Deggendorf begibt und erzählt nun, was ich mit äugen hob gesehen (v. 12).28 Ein Bürger der Stadt bittet ihn, sich die Grabkirche anzusehen, um die große Schandtat zu betrachten, die die Juden der Hostie angetan hätten. Diese Szene - vielleicht eine Andeutung der Auftragssituation - nimmt Bezug auf die Deggendorfer Grabkirche als Bauwerk und auf die in ihr ausgestellten Zeugnisse des vermeintlichen Hostienfrevels, die das Lied angeregt haben dürften. Dabei erwähnt der Text nicht die Marterwerkzeuge (Ahle und Dom), wie sie in späterer Zeit zur Schau gestellt wurden bzw. als arma Christi zum Inventar des Schmerzensmann-Kultes gehören, der als Auslöser von Hostienwallfahrten angesehen wird.29 Wohl aber berichtet der Verfasser von zaichen im Sinne von Wundem oder Bildern. Es sind dies: (1) w. 39-44: Blutwunder; (2) w. 45-50: Verwandlungswunder, Erscheinung des Kindes; (3) w. 51-56: Marter in einem Feuer77
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Vgl. Peter Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters, Breslau 1938 (Breslauer Studien zur historischen Theologie NF. 4). Ob der tatsächliche Verfasser des Liedes identisch ist mit dem Dichter, der innerhalb des Textes behauptet, Deggendorf zu besuchen, ist freilich nicht zu klären, aber wegen der genauen Kenntnis der örtlichkeit wahrscheinlich. Romuald Bauerreiss, Pie Jesu. Das Schmerzensmann-Bild und sein Einfluss auf die mittelalterliche Frömmigkeit, München 1931.
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ofen; (4) w. 57-62: Marter durch Zangen, Hammer und Amboss; (5) w. 62-68: Bannwunder gegen das Verschlucken; (6) w. 69-75: Licht- und Erscheinungswunder (Maria mit Engelsschar); (7) w. 83-89: Brunnenvergiftung; (8) w. 90115: Verschwörung in Schaching; (9) w. 116-119: Bannwunder: die Hostie entfliegt dem brennenden Haus; (10) w. 120-126: ein sündenloser Schmied birgt die Hostie und (11) w. 127-135: Obhut der Hostie bei den Priestern. Das entspricht in etwa den Szenen des Bilderzyklus'. Das Lied muss in der vorliegenden Form entstanden sein, nachdem die Fresken im Presbyterium angebracht worden sind, und referiert - wie ein mittelalterlicher Reiseführer - die Darstellungen auf den Bildern, die als besonders prägend für die Ausformung der Legende anzusehen sind. Die bildlichen Zeugnisse und das Deggendorfer Lied haben maßgeblich die Form der Deggendorfer Hostienlegende geschaffen, gefestigt und verbreitet. Dabei meint zaichen anfangs durchaus doppeldeutig Wunder und Bild. Von Aynilff stuck (v. 136) wird durch das Lied euch bekannt (v. 90) gemacht, die der Verfasser offenbar gesehen und »gelesen« (v. 135) hat, wobei letztes sich vermutlich auf die auch zu den älteren Bildern angebrachten Bildunterschriften bezieht. Auch die Pfeilerinschrift hat Eingang in die Verse gefunden, und die falsche Jahresangabe 1337 geht wahrscheinlich auf den Fehler in diesen Zeilen zurück. Sowohl die Anlehnung an den Bilderzyklus als auch das (falsche) Datum der Inschrift machen die Rahmengeschichte glaubwürdiger, als andere Augenzeugenfiktionen gemeinhin sind, und bestätigen, dass die Legende am Ort verwurzelt ist, ungeachtet dessen, wie stereotyp ihr Muster vor der Bearbeitung war. Mit einer Bekräftigung des Wunders der Eucharistie wechselt das Lied wieder in die Rahmenhandlung; ein redendes Ich in der Rolle des Verfassers tritt hervor und fordert die Rezipienten des Liedes im Sinne des Werbecharakters des Liedes auf: wer christenlichen glauben hab Mag schawen dise zaichen an als ich es gelesen han (v. 151-153)
Wer Christ ist, der kann sich diese Zeichen anschauen, wie auch ich sie gelesen habe,
Auffallig sind die regionalen Details, die referiert werden: Neben der Verschwörung im nahen Schaching fallt vor allem der Name des Landpflegers Hartman zuo Natternberg (v. 105) bzw. hortman vom degenwerg (>Carmen de hostiis Deggendorfensibus< v. 101) auf. Zwar lässt sich eine historische Person dieses Namens aus der Familie Degenberg, die auf Nattemberg residierte, nicht nachweisen,30 die Familie hat aber einen maßgeblichen Beitrag zur Entwicklung der Wallfahrt und zur Ausgestaltung der Grabkirche als Wallfahrtskirche geleistet, denn der Gruftaltar, in dem man die Wunderhostien (es wurden aus der einen des Liedes später mehrere) aufbewahrte, ist eine Stiftung der Degenberger, wie auch die verschiedenen Bilder Stiftungen sind: Zuom sibenden mal ward gestifft (v. 83). Vielleicht kommt der Familie darum die - aus heutiger Sicht zweifelhafte - Ehre zu, durch die Legende der bayerischen Zielgruppe zukünftiger Vgl. die Ausführungen von Eder [Anm. 5], S. 238-241.
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Wallfahrer bekannt gemacht zu werden. Die Nennung des Klosters Niederaltaich in der Nähe Deggendorfs verrät vermutlich denselben Sachverhalt: An der Entwicklung der Wallfahrt waren Geistliche aus diesem Kloster maßgeblich beteiligt; die Familie Degenberg war dem Kloster personell verbunden und stellte im 14. Jahrhundert zwei seiner Äbte. Zurückkehrend zu den im Deggendorfer Lied handelnden Personen soll noch einmal auf die unrechtmäßige Beschaffung der Hostie besonderes Augenmerk gelegt werden: Das redende Ich des Liedes muss den Bürger der Stadt erst fragen, wie die Juden in ihren Besitz gekommen sind, offenbar, weil die entsprechende Szene im Bilderzyklus fehlte und durch Anschauung nicht erfahren werden konnte. Von wannen ist das sacramendt kommen in der Juden hendt Der burger gab antwurt mir das wil ich warlich sagen dir Das thet ain christenliches weih die dient aim Juden vngetreüw Er kam mit ir in ainn kauff er sprach, du in die kirchen lauff Bring mir das sacrament ich sag noch heür gen disem Ostertag Darumb ich dir vil pfenning zal. (w. 23-33)
Wie ist denn die Hostie in die Hände der Juden geraten? Der Bürger antwortete mir: Das will ich dir wahrheitsgemäß erzählen. Das tat eine Christin, die bei einem treulosen Juden diente. Er kam mit ihr ins Geschäft, indem er ihr anbot: Laufe du in die Kirche und bringe mir die geweihte Hostie noch am heutigen Ostersonntag, dafür verspreche ich dir viele Pfennige,
Wichtiger Teil der Legenden ist die Mithilfe schlechten Christen, d.h. solcher, die aus niedrigen Gründen gegen ihren Glauben und gegen die christliche Gemeinschaft handeln, weshalb ihre Rolle im Deggendorfer Lied nicht fehlen durfte. Diese Rolle dürfte Rudiment der alten Bekehrungs- bzw. Reue- und Bußekomponenten der Hostienwunderlegende sein, abgesehen von der sachlich-logischen Erklärung, dass eine geweihte Hostie dem mutmaßlichen Frevler erst zugetragen werden muss, wenn nicht ein eigenhändiger Diebstahl vorliegt. In der jüdischen Frevellegende bietet sich die Szene an, um an dieser Stelle den Wuchervorwurf gegen die Juden einzusetzen und die unterstellte gewissenlose Geschäftemacherei vorzuführen.
Eine Passauer Variante Das Deggendorfer Lied ist weder anspruchsvoll noch komplex, sondern einfach und reihend verfasst, damit es das breite Publikum der Wallfahrer erreicht und von diesen erworben und verstanden wird. Dementsprechend ist es als stereotypes Konstrukt gestaltet, das allgemein bekannte Vorwürfe aufgreift und im Kem das Modell der Hostienfrevellegende erfüllt, wobei diese vor allem in der Rahmenhandlung auf den konkreten Fall zugeschnitten wurde. Indem die traditionellen Details der Hostienfrevellegende den rekonstruierbaren Fakten des Deggendorfer Geschehens widersprechen, lassen sie das Stereotyp um so schärfer
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hervortreten. Legendenablauf und Vorwurf sind so bekannt, dass auf weitere Erläuterungen und Erklärungen verzichtet werden kann - beispielsweise wird die Tat der Juden nicht motiviert, nicht einmal im Rückgriff auf die religiös-theologischen Wurzeln des Konstruktes. Die Legende betont die Greueltaten mehr als die Darstellung der Wunder. Durch Sprüche, Lieder, Chroniken oder Legendenerzahlungen wurde die historische Geschichte auch im Pariser Fall - dem >Wunder von Billettes< - um Details bereichert, wobei der Legendentyp jüdischer Hostienfrevel< in Mitteleuropa einen sehr begrenzten Variationsspielraum hatte. Obwohl es in Italien kaum zu Hostienfrevelbeschuldigungen kam, ist mit dem Altarbild >Wunder der Hostie< des Paolo Uccello (1397-1475) in der Chiesa del Corpus Domini von Urbino die künstlerisch wertvollste bildliche Darstellung der Legende überliefert,31 die ganz dem allgemeinen Modell entspricht: unrechtmäßiger Hostienkauf, Marterung, Wundererscheinungen und Verbrennung des Täters mitsamt seiner Familie.32 Legenden, Lieder und Sprüche zu einzelnen regionalen Hostienwallfahrten haben neben den von der Kanzel ostentativ gepredigten antijüdischen Anschuldigungen maßgeblich zur Prägung des Judenbildes bei der christlichen Mehrheit beigetragen. Die Erfindung des jüdischen Hostienfrevels wurde derartig glaubwürdig, dass im 14. Jahrhundert zwei Scholaren in Brunn von sich aus gestohlene Hostien an Juden verkaufen wollten. Diese verständigten heimlich den Richter, so dass bei der vereinbarten Übergabe die Scholaren verhaftet und anschließend verbrannt wurden.33 Die Zielrichtung dieses Legendentyps ist - wie gesagt - einerseits, die Juden als Christenhasser und Menschenfeinde zu dämonisieren, und andererseits, den Glauben der Christen angesichts der Wundererscheinungen zu festigen. Dabei scheint die antijüdische gegenüber der erbaulich-didaktischen Tendenz dieser Legenden so viel Gewicht gewonnen zu haben, dass die Wundertätigkeit der Hostien im Anschluss an das Geschehen im Deggendorfer Lied noch einmal bekräftigt werden muss, denn Wallfahrtwerbung wird weniger mit der Faszination der Grausamkeit als mit dem Versprechen von Sündenablass und Wunderwirkung erreicht: Sunst ist zaichen vil geschehen etlich blind die wurden gesehen Etlich lamb die wurden gerecht etlich krumbd die wurden schlecht Das alles vermag die gottes kraffl. (w. 138-142)
Auch sonst sind viele Wunder geschehen: Viele Blinde wurden sehend, viele Lahme wurden gesund und zahlreiche Krumme wieder hergestellt. Das alles vermag die Macht Gottes!
Die summarische Wunderliste im Anschluss an die eigentliche Legende erscheint in ähnlicher Gestalt auch in dem Lied über den angeblichen Passauer
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Miracolo dell'ostia profanata (1467-1468) von Paolo Uccello (1397-1475). Heute in der Galleria Nazionale della Marche, Urbino. Vgl. Anna Padoa Rizzo, Paolo Uccello. Catalogo completo die dipinti, Firenze 1991, S. 111-117. Vgl. Encyclopaedia Judaica, III, Sp. 103-106. Vgl. Peter Browe, Die Hostienschändungen der Juden im Mittelalter, Römische Quartalschrift 34 (1926), S. 167-197, hier S. 179.
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Hostienfrevel von 1478.34 Dort wurde der Christ Christoph Eisengreißhammer beim Kirchendiebstahl ertappt und gab an, er habe im Auftrag der Passauer Juden gehandelt. Noch Ende des 15. Jahrhunderts führte dieser Vorwurf zu einer Reihe von Pogromen und zur Installierung einer Wallfahrt, die aus dem Schatten der nahen Deggendorfer Wallfahrt allerdings nie heraustreten konnte. Das Passauer Lied berichtet vom Verkauf der Hostie an die Juden (für dreißig Silberlinge, womit eine Parallele zur Passionsgeschichte aufgemacht wird), von den Marterungen mit einem Messer und in einem Backofen und von den Wundererscheinungen (Blutwunder, Erscheinungen eines Kindes sowie zweier weißer Tauben und zweier Engel). Die Juden wurden verbrannt, wenn sie sich nicht zum Christentum bekehrten, sonst durch das Schwert gerichtet. Zum Gedenken an die Hostienwunder wurde ein Gotteshaus errichtet. Zum Abschluss folgt die Bekräftigung durch Wunder wie ein notwendiger Beitrag zum Werbeinventar: Nuo merkt, vilzaichen sind geschechen; ain krümper der ist worden gerechen, ist siben jar auf knicken gangen. (w. 103-105)
Paßt nun auf: Viele Wunder sind geschehen; ein Krummer ist aufgerichtet worden, der sieben Jahre auf Krücken gehen musste.
In dem eingangs zitierten Lied über die Austreibung der Juden aus Regensburg wird ebenfalls über den Bau einer Kapelle an der Stelle berichtet, an der früher die Synagoge stand und in deren Umfeld Wunder geschahen: doch blinden werden gesehen, die lamen wider gan, die stummen lob verjehen, teglich groß wunder gschehen, der ich nit singen kann. (w. 140-144)
Doch Blinde werden wieder sehend, die Lahmen gehen wieder, die Stummen sprechen ihr Lob aus. Täglich geschehen große Wunder, von denen ich gar nicht singen kann,
Auch im Falle dieses Liedes ist deutlich, wie stereotyp und zusammenhangslos Vorurteile gegen die Juden aufgeführt werden. Ihre Ausweisung aus Regensburg hatte sich über lange Jahre hingezogen: 1476 war der Ritualmordvorwurf laut geworden, doch wurde auf Intervention des Kaisers ein Prozess geführt, der 1480 zugunsten der siebzehn angeklagten Mitglieder der Judengemeinde endete, allerdings mussten sie eine hohe Geldbuße leisten. Vierzig Jahre später, 1519, wurden die Synagoge und der jüdische Friedhof abgebrochen, die Juden vertrieben und ihr Hab und Gut geplündert. Das daraufhin gedichtete Lied nennt wenige Personen, hinter denen man die maßgeblichen Verantwortlichen vermuten dürfte, die die Mehrheitsmeinung beeinflusst hatten: Herr Doktor Balthasar vom Dom und »die Prediger« (w. 39f. und 54). Ihr Auftreten im Lied macht deutlich, dass ihre Rolle bei der Vertreibung der Juden bekannt gemacht werden sollte, woran vermutlich sie selbst ein Interesse hatten. Es wäre also nicht unzutreffend, in ihnen zumindest Anstoßgeber, wenn nicht gar Auftraggeber des Liedes zu
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Der Verfasser nennt sich selbst Fritz Fellhainer (v. 129). >Von den Juden zu PassauLied von Deggendorfc genannten Hartmann von Degenberg nahe (s.o.). In dem Regensburger Lied werden alle Register des AntiJudaismus gezogen, so dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass insbesondere Balthasar an die alten Vorwürfe erinnert hat. Die Reihe eröffnet der nicht religiös begründete Wuchervorwurf, der im Verlauf des Mittelalters an Bedeutung für den anwachsenden Judenhass zugenommen hat. Es folgen: die Schmähung der Jungfrau Maria, der Ritualmord an sechs kleinen Kindern (als hätte es den Prozess vierzig Jahre vorher nicht gegeben) und der Hostienfrevel. Die Reihung wirkt allerdings recht unmotiviert und lässt darauf schließen, dass der Prozess der Vorurteilsprägung abgeschlossen war und die alten Vorurteile wahllos wiederholt wurden. Zu den zaichen des Deggendorfer Liedes tritt allerdings unvermittelt ein bösartiger Vorwurf, der eigentlich nicht in das Repertoire der jüdischen Hostienfrevellegende vom Anfang des 14. Jahrhunderts gehört, seinen Platz aber im umfassenden AntiJudaismus späterer Zeiten gefunden hat: Zuom sibenden mal wardgestiffi der Juden kätzeliche giffi Legten sy in alle die prunnen innwendig giffi ward do gefunden Vnd vil starben deß gähen tod erst huob sich da klägliche nodt In der stat vnd auffdem lanndt. (w. 83-89)
Als siebentes Zeichen wurde gestiftet: Das schädliche Gift der Juden legten sie in alle die Brunnen, in denen später nämlich Gift gefunden wurde; und viele starben da eines plötzlichen Todes. Nun begann beklagenswerte Not sowohl in der Stadt als auch auf dem Land,
Der Vorwurf der Brunnenvergiftung wird ohne Zusammenhang zum Hostienfrevel erhoben, in keiner Weise motiviert und im Anschluss auch nicht wieder aufgegriffen. Er scheint wie im Regensburger Lied >einfach< dazuzugehören, um das im 15. Jahrhundert gängige Frevelregister der Juden zu vervollständigen, und wird außerdem ungeschickt zwischen die Klage Marias und die Versammlung der fünfzig Männer in Schädling montiert. Denn die Behauptung, in der selben Stund (v. 91) hätte die Pest in Stadt und Umland gewütet, kann offenkundig nicht wahr sein. Im Falle Deggendorfs ist der Vorwurf darüber hinaus noch sinnloser und darum noch böswilliger, weil die Juden ja bereits 1338 ermordet worden waren, wie das Lied selbst dokumentiert, und sie in den Pestzeiten erst recht nicht in der Lage gewesen wären, die Brunnen zu vergiften. Es ist von den späteren Pogromwellen 1348/49 bekannt, dass viele Judengemeinden vor Ausbruch der Seuche ausgelöscht wurden, weil das Gerücht der Brunnenvergiftung schneller durchs Land eilte als die Pest und man den vermeintlichen Krankheitsverbreitem präventiv das Handwerk legen wollte. Zwar ist von einigen Zeitgenossen bemerkt worden, dass die Epidemie danach >trotzdem< ausbrach, dies aber revidierte die Vorurteile nicht,35 auch nicht in Deggendorf, das ebenfalls heftig von der Pest heimgesucht worden ist. 35
Vgl. Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde, Reinbek 1985, hier Bd. l, S. 140-199.
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Anhaltendes Interesse an der Legende Die Fortschreibung und Ausgestaltung der Deggendorfer Hostienfrevellegende hat über Jahrhunderte stattgefunden, wobei der Deggendorfer Gnadenkult verschiedene Änderungen erfahren hat. So ist beispielsweise die Zahl der Wunderhostien von einer einzigen auf elf gestiegen, wie schon die Nachdichtung des Deggendorfer Liedes durch Andreas Summer 1582 wiedergibt: Vnnd schwebet ob den Leuten vmb, l AilffPatickeljn einer summ (v. 125 )36 (Und es schwebten über den Leuten insgesamt elf Hostien umher). Eine ausführliche Bearbeitung hat der Stoff durch den Deggendorfer Pfarrer Joannes Sartorius in seiner 1604 in Ingolstadt erschienenen >Memoria mirabilium Dei, Das ist von dem hochwürdigen Sacrament ...< erfahren.37 Femer stellte eine Reihe von immer wieder neugeformten Gnadenbüchlein, die den Wallfahrern angeboten wurden, die Geschehnisse dar, die 1800 und noch 1926 zu Dramen ausgeformt wurden.38 Sie sind im Prinzip die Nachfolger des >Liedes von Deggendorft, das ebenfalls zur Unterrichtung der Wallfahrer über die »Deggendorfer Gnad« diente. Die Radikalisierung der antijüdischen Misstöne des Gnadenkultes gipfelt 1711 in den Bildunterschriften des zwölfteiligen Bilderzyklus'. Die Legende ist leicht verändert: Sie eröffnet mit der Darstellung des Hostienkaufes und weicht in der Reihenfolge der vorgeblichen jüdischen Missetaten von der mittelalterlichen Legende ab, wobei ein scharfer judenfeindlicher Ton in den Bildunterschriften angeschlagen wird: Die Hostie wird gekauft (1), mit einer Ahle von denen Gottlosen Juden traktiert (2) und bis auf das Blut mit Dörnern gekratzt (3). Ein Kind erscheint. Die Hostie wird im Backofen gemartert (4) und Die unmenschliche Judenhänd ergreiffen die Hämmer schlagen die heiligen Hostien, die Juden versuchen sie (6) in ihre verfluchten Rachen zu schlucken, umb ihre unmenschliche Ubelthaten [...] zu vertuschen, aber dieses Brodgehört nit vor die Hund. Die Hostien werden in den Brunnen geworfen (7), und dieser dadurch vergiftet. Ein Neu geweichte[r] Priester so von Nideraltach gebürtig trägt die Hostien in die Kirche (8). Die Nachtwächter werden durch einen unvergleichlich schönen glänz und eine Lamentirliche Stime herbeigerufen (9), worauf die Bürger einen theuren Eyd sich an denen Juden zu rächen schwören (10). Die Juden '* >Die alt und Warhafftig geschieht wie vor 245 Jaren die Juden zu Degckendorff mit dem hochwürdigen und heyligen Sacrament seindt vmbgangen. Gesangweyß gestellt, Jm Thon, Alß man Maria Psalter singt, oder in Herzog Ernst Melodey. Gedruckt in Straubing, durch Andre Summer. 1S82Memoria mirabilium Dei, das ist: Von dem hochwürdigen Sacrament des wahren Fronleichnams Christi, so Anno M.C.C.C.XXXVII zu Deckendorf in Bayern von den Juden hochfrevlicher Weiß tentiret, seithero daselbst aufgehalten, und sambt ändern würdigen Heiligthumb mit Andacht besuchet und verehret wirdt. Durch Johannem Sartorium Arenspergensem, H. Schlifft Licentiatum, Dechand und Pfarrheim daselbsten, Anno 1604Lied von Deggendorft hat solcherlei Indizienbeweise nicht angeführt - weil sie erst viel später hinzu erfunden worden sind. Nicht zuletzt - allerdings viel zu spät wird die Wallfahrt wegen der scharfen antijüdischen Vorwürfe eingestellt, wenn auch gegen regionalen und klerikalen Widerstand. Noch 1964 erhält Pater Günther Krotzer als Reaktion auf seine Bemühungen, die >Gnad< mit einer neuen Sinngebung auszustatten, die bischöflich Antwort: Die Grabkirche ist keine Sühnekirche für den Judenmord [= Mord an den Juden], sondern für geschichtlich nachgewiesenen Hostienfrevel und für alle Vergehen an der leibhaftigen Gegenwart des Herrn der Eucharistie. [...] So bedarf es keines >Schlußstrichs< und keines >neuen Sinnes« für die Gnad.
Es zeigt sich, dass die christliche Fiktion des Hostienfrevels bis an das Ende des 20. Jahrhunderts wirksam gewesen ist und dass es im Falle Deggendorfs mehrerer Vorstöße bedurfte, damit sie ein für allemal als falsch und erfunden anerkannt wurde.
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Bildunterschriften zitiert nach Krotzer [ Anm. 3 ], S. 31 Of. Krotzer (Anm. 3J, S. 325.
V. Der Ewige Jude
STEFAN NIED ich -will stehen und ruhen, du aber solt gehen
Das Volksbuch von Ahasver
Ahasver, die Verkörperung des Ewigen Juden, hat auf seiner jahrhundertelangen Reise durch die mitteleuropäische Literatur eindrucksvolle Spuren hinterlassen. Im Jahre 1930 wurden allein in der deutschsprachigen Literatur, wo das Motiv seine breiteste Entfaltung findet, mehr als 150 Titel - Gedichte, Novellen, Epen, Dramen und Romane - gezählt, in denen der rastlose Wanderer als Figur oder als Allegorie auftritt.1 Auch später wurde das Motiv des Ewigen Juden noch benutzt, z.B. durch Stefan Heym, der den Ruhelosen in seinem Roman >Ahasver< (1981) als kämpferischen Intellektuellen interpretierte. Die Liste der Bearbeitungen des Stoffes, in denen das Bild des Ewigen Juden missbraucht, ja pervertiert wurde, ist ähnlich lang wie die Reihe der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Ahasver-Figur. Das perfideste antisemitische Machwerk, das den Titel >Der Ewige Jude< trägt, ist der Goebbels'sehe Propagandafilm von 1940, in dem der zu trauriger Berühmtheit gelangte Vergleich zwischen Juden und Ratten gezogen wird.2 Anders als bei vielen literarischen Motiven, deren Herkunft schwer nachzuvollziehen ist, lässt sich Ahasvers Geburtsstunde genau bestimmen. Obwohl Vorstufen der Ahasver-Geschichte schon seit Jahrhunderten existierten, tritt die Verarbeitung der Figur des Ewigen Juden in ihrer sinnstiftenden Form erstmals in einem Volksbuch auf, das den Titel >Kurtze beschreibung und Erzehlung / von einem Juden / mit Namen Ahasverus: Welcher bey der Creutczigung Christi selbst Persönlich gewesen / auch das Crucifige über Christum hab helffen schreyen unnd umb Barrabam bittern trägt.3 Der Analyse und Interpretation dieses kurzen Textes mit langer Wirkmächtigkeit gilt der folgende Beitrag.
Vgl. Werner Zirus, Ahasverus. Der ewige Jude, Berlin/Leipzig 1930 (Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur 6), insbes. S. 64—73. Mit dem literarischen Motiv des Ewigen Juden hat dieser Film allerdings nur noch den Namen gemein. Zur Analyse des Films, in dem nahezu sämtliche antisemitischen Vorurteile zu einer massenpsychologisch wirksamen Propaganda verarbeitet wurden, vgl. Yizhak Ahren/Stig Hornsh0j-M011er/Christoph B. Melchers, »Der ewige Jude«. Wie Goebbels hetzte. Untersuchungen zum nationalsozialistischen Propagandafilm, Aachen 1990. Der Text der ersten Auflage des Volksbuches liegt ediert und teils kommentiert vor bei Amo Schmidt, Das Volksbuch vom Ewigen Juden. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Buches, Danzig 1927, S. 5-9. Die in Klammern angeführten Zeilenangaben beziehen sich auf diese Edition.
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Ein Volksbuch der frühen Neuzeit Die Entstehung des von einem protestantischen Anonymus verfassten Volksbuches zu Beginn des 17. Jahrhunderts fällt in die Ruhe zwischen zwei Stürmen, die unter anderem den Obergang zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit markieren: In seinem Erscheinungsjahr 1602 war die durch Martin Luther ausgelöste Reformationsbewegung schon weitgehend konsolidiert; die Katastrophe der Frühen Neuzeit, der Dreißigjährige Krieg, stand Europa aber noch bevor. Diese Übergangsperiode ist durch ein besonderes Verhältnis der Christen zu der Minderheit ihrer jüdischen Zeitgenossen gekennzeichnet, das als Bezugspunkt der Interpretation der >Kurzen Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasverus< geklärt werden muss. Nach Luthers Tod 1546 erstarrte die junge protestantische Kirche recht bald in den Dogmen der »lutherische[nj Orthodoxie«.4 Der Gegenreformation, dem Versuch der katholischen Kirche, die Protestanten für den >wahren Glaubem zurückzugewinnen, begegneten die Lutheraner vor allem mit dem systematischen Ausbau der protestantischen Theologie, die sich schnell in der kategorischen Ablehnung der Lehren der römisch-katholischen Kirche verfestigte. Einen Markstein in der Entwicklung der evangelischen Gemeinde bildete weiterhin die beginnende Zusammenarbeit mit den Häusern des landesherrschaftlichen Adels, also die Entwicklung des Landeskirchentums. Die reformierten Kirchen, sowohl Lutheraner als auch Calvinisten, versuchten von nun an gemeinsam mit den Landesfursten an die Tradition der christlichen Judenmission anzuknüpfen. Auch die Protestanten wollten den vermeintlich >blinden< Juden >die Augen offnem; um sie zum christlichen Glauben zu bekehren, wurden in Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt sogar Pfarrer nebenamtlich als Judenprediger beschäftigt.5 Obwohl die Missionsbemühungen soweit gesteigert wurden, dass Christen mancherorts in hebräischer Sprache zu ihnen predigten,6 blieben die Erfolge der Missionsbestrebungen, wie auch in den Jahrhunderten davor, mehr als gering. Die Juden im deutschsprachigen Raum blieben zu Beginn des 17. Jahrhunderts von größeren Pogromen verschont, wobei der so genannte Fettmilch-Aufstand (1612-1616) in Frankfurt am Main eine grausame Ausnahme bildete. Die jahrhundertealte Tradition der erniedrigenden Vorschriften und Erlasse setzte sich jedoch ungebrochen fort; die >alltägliche< Diskriminierung haben auch die Juden auf den Straßen der frühneuzeitlichen Städte gespürt.
Wolfgang Gerlach, Auf daß sie Christen werden. Siebzehnhundert Jahre christlicher Antijudaismus, in: Der ewige Judenhaß. Christlicher AntiJudaismus, deutschnationale Judenfeindlichkeit, rassistischer Antisemitismus, hg. von Christina von Braun/Ludger Heid, Berlin/ Wien 2000 (Studien zur Geistesgeschichte 12), S. 11-69, hier S. 56. Die junge protestantische Kirche griff damit in gewissem Sinne die Tradition der Judenpredigten wieder auf, die schon im Spätmittelalter von den Katholiken praktiziert wurde. Vgl. Ursula Schulze, Predigten zur Judenfrage vom 12. bis 16. Jahrhundert, in diesem Band. So wahrscheinlich in Gießen. Vgl. Gerlach [ Anm. 4 ], S. 57.
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In dieser Obergangsphase vor den Toleranzedikten in der Ära der Aufklärung erscheint allerdings das Stereotyp >des Juden< auf christlicher Seite vollkommen verdichtet. In alten und neuen Klischees wurde der >Typos Jude< gesucht; die aus antijudaistischen Vorurteilen geronnenen Definitionen des >typisch Jüdischem verankerten sich noch fester im kollektiven Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten.7 Langsam begannen sich auch die judenfeindlichen Vorstellungen von ihren ursprünglich religiösen Wurzeln zu lösen. Es war bald nicht mehr nötig, den Hass auf die Juden mit dem Hinweis auf deren vermeintlich falschen Glauben zu legitimieren. Eine viel >erfolgreichere< Argumentation, mit der sich die Vorwürfe und Ressentiments begründen ließen, setzte sich in der Frühen Neuzeit durch: der Verweis auf die >Art< des Juden. Die stereotypen Beschuldigungen des Wuchers, der Faulheit und Hehlerei - die Liste der Vorurteile ließe sich fortsetzten - wurden nicht mehr einem religiösen, sondern einem in Ansätzen erkennbaren rassischen Judenbild angeheftet. Der AntiJudaismus änderte sein Gesicht; in den Städten des 16. und 17. Jahrhunderts keimte der Nährboden für eine neue Art von Judenhass, den Antisemitismus.8 Als ein derartiger Versuch der Darstellung des >typischen< Juden ist auch das Volksbuch von Ahasverus interpretierbar, denn schon das Attribut des »Ewigen«, mit dem dieses literarische Motiv rezipiert und tradiert wurde, impliziert den Anspruch der zeitlosen Gültigkeit. Der Text war schon bei seiner Entstehung durchaus auf einen großen Rezipientenkreis zugeschnitten - erschien doch die Geschichte von Ahasverus in Form des gedruckten Volksbuches, das in Relation zu den handschriftlichen Unikaten vorheriger Jahrhunderte als Massenmedium des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit bezeichnet werden kann. Der Ausdruck »Volksbuch« entstammt allerdings nicht dem Vokabular der Zeitgenossen. Er wurde durch die Romantiker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts geprägt, die in den kurzen Geschichten Zeugnisse des lebendigen Volksgeistes< vergangener Jahrhunderte sahen. In der wenig später einsetzenden wissenschaftlichen Aufarbeitung der Volksbücher wich aber bald diese Aura, die die Stoffe seit ihrer Wiederentdeckung durch die begeisterten Romantiker zu umgeben schien.9 Der gesellschaftliche Umwandlungsprozess des 15. Jahrhunderts brachte Literatur hervor, die sich gegenüber den Erzähl texten des Hochmittelalters vor allem in einem markanten Punkt unterschied: Sie wurde statt in Versen in der nunmehr modernen Form der Prosa verfasst. Diese Dichtungen wurzelten aber meist nicht, wie es Johann Joseph Görres (1776-1848), der Wiederentdecker der alten Drucke, annahm, in einer urtümlichen Volkspoesie. Die billig herzustellenden Drucke waren vielmehr literarische Massenprodukte für einen sich im Zuge Vgl. zu diesem Punkt auch Florian Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters, in diesem Band. Winfried Frey, Das Bild des Judentums in der deutschen Literatur des Mittelalters, in. Judentum im deutschen Sprachraum, hg. von Karl E. Grözinger, Frankfurt a.M. 1991, S. 36-59, insb. S. 54f Vgl. Hildegard Beyer, Die deutschen Volksbücher und ihr Lesepublikum, Phil. Diss., Frankfurt a.M. 1962; außerdem Deutsche Volksbücher. Eine Auswahl, nacherzählt und hg. von Gertrud Bradatsch/Joachim Schmidt, Wiesbaden 1986, Vorwort, S. 5-24.
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der zunehmenden Alphabetisierung ständig vergrößernden Buchmarkt. Bei fliegenden Händlern waren die einfachen Drucke selbst mit einem begrenzten Budget in größerer Zahl zu erstehen. Um den Geschmack des wachsenden Publikums zu befriedigen, weiteten die Verleger der meist anonymen Drucke die Palette der literarischen Genres aus: Abenteuerliche Wundergeschichten und fantastische Reisebeschreibungen wurden ebenso verbreitet wie didaktische Erzählungen; medizinische Sachtexte existierten neben Ratgebern für unglücklich Verliebte. An der Vielzahl von Textsorten wird deutlich, dass die Romantiker nur aufgrund des angenommenen Volksgeistes, der den Drucken innewohnen sollte, all diese Schriften unter der Kategorisierung »Volksbuch« zusammenfassen konnten. Im Laufe der Zeit sind zunehmend Veränderungen bei der Herstellung und Rezeption der Volksbücher zu konstatieren. Auffallig ist, dass sich das Schwergewicht ihrer Themen von moralisierenden Texten hin zu immer fantastischeren Stoffen verlagerte. Diese Inflation des Wunderbaren und Übernatürlichen, die letzten Endes wesentlich auf die Vorlieben der Käufer zugeschnitten war, verdient vor dem Hintergrund der hier behandelten Judenthematik spezielle Beachtung. Der billige Buchdruck und die wachsende Alphabetisierung ermöglichten es, dass diese Form von Literatur in großen Stückzahlen das Lektüreangebot auch der unteren sozialen Schichten abseits des Städtebürgertums bereichem konnte. Diese Ausbreitung der Volksbücher in weniger gebildeten Milieus führte jedoch dazu, dass die darin vermittelte Fiktion von einem wohl nicht geringen Teil der Rezipienten wenig durchschaut werden konnte und dass etliche Volksbuchleser die fiktionalen Geschichten für Berichte von realen Ereignissen hielten, so auch die Erzählung von Ahasver. Für die Interpretation des Volksbuches vom Ewigen Juden ergeben sich daraus mehrere Fragestellungen. Es ist zu untersuchen, ob und wie der Verfasser der Erzählung die >Wundersucht< seines Publikums, das Verlangen nach unerhörten Geschichten, befriedigen wollte - schließlich war auch das Auflegen kleinerer Schriften ein finanziell risikoreiches Unterfangen, das auf den Erfolg beim Leser angewiesen war, um sich zu rentieren. Zunächst ist aber nach den Quellen zu fragen, die dem Verfasser des Volksbuches vorlagen. Eine Analyse seiner Bearbeitungspraxis ermöglicht den Blick auf andersartige Aussageabsichten des Volksbuchautors gegenüber seinen Vorlagen. In der Darstellung der frühneuzeitlichen Ahasver-Geschichte wurden nämlich die Motivtraditionen, die in den Quellen des Volksbuches angelegt waren, aufgegriffen und modifiziert. Daher ist zu verdeutlichen, wie der frühneuzeitliche Autor verschiedene Valenzen der traditionellen Figuren- und Ereigniskonstellation umgestaltete, so dass neue Intentionen in den alten Stoff eingebracht werden konnten. Es ist nötig, das zeitgenössische Kolorit, mit dem der Volksbuchautor die Geschichte ausstattete, einerseits zu beschreiben, andererseits aber auch davon abzutrennen, um den religiösen Kem des Mythos vom Ewigen Juden freizulegen. Schließlich muss die Frage beantwortet werden, wie dieses einfach konstruierte Buch in der Lage war, eine derartige Nachwirkung in Form der Flut von Ahasver-Verarbeitungen auszulösen.
Das Volksbuch von Ahasver
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Die Ahasver-Geschichte und ihre Quellen Es ist heute kaum noch vorstellbar, dass eine einfache Geschichte wie die >Kurze Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasverus< eine derartige Wirkung entfalten konnte, verfügt sie doch aus heutiger Sicht nur über ein äußerst knappes Handlungkonstrukt: Nach dem Titelblatt, das den Inhalt der nur vier Blätter starken, im billig herzustellenden Quartformat gedruckten Schrift überblicksartig wiedergibt, beginnt der Ich-Erzähler -weil dieser zeit bey uns alhie nichts newes [Neues] zuschreiben /[...] etwas altes l welches doch bey vielen mit Verwunderung l für etwas newes gehalten wirdt (Z. 18ff.) zu berichten, (vgl. Abb. 20) Der hoch angesehene und belesene Dr. Paul von Eitzen, Bischof von Schleswig, habe dem im Hintergrund bleibenden Erzähler-Ich und vielen anderen Studenten etlich mahl erzelet (Z. 27), wie er im Winter 1524 als junger Mann zu seinen Eltern nach Hamburg gereist sei. Dort habe er während des sonntäglichen Gottesdienstes eine höchst seltsame Erscheinung gesehen: Ein ungewöhnlich großer Mann von etwa 50 Jahren mit langen Haaren und in völlig zerrissener Kleidung habe absolut regungslos in der Kirche gestanden und andächtig die Predigt verfolgt - nur wenn der Name Jesus Christus gefallen sei, habe er sich seufzend an die Brust geschlagen. Verwundert habe Paul von Eitzen daraufhin nach diesem Mann geforscht - und sei auch fündig geworden: Ahasverus sei sein Name, berichteten ihm die Hamburger. Er gebe sich als Jerusalemer Jude aus, behaupte, bei der Kreuzigung Christi dabei gewesen zu sein und seitdem die Welt zu durchwandern. Oft würde er Geschichten von fremden Ländern und vergangenen Zeiten berichten; sogar vom Leben und Leiden der Apostel wüsste er vollkommen guten bericht zugeben (Z. 58). Neugierig geworden habe Paul von Eitzen versucht, selbst mit ihm zu sprechen und habe schließlich den Ewigen Juden auch getroffen. Ahasver hätte ihm daraufhin den Grund seines Leidens offenbart. Als gläubiger Jude habe er, zur Zeit Jesu Christi Schuster in Jerusalem, den Messias für einen Ketzer und Verfuerer gehalten (Z. 64). Weil er anders nichts gewußt l auch [...] anders nitgelehrnet (Z. 64ff), habe er die Kreuzigung des Heilands begrüßt. Als Christus sich auf seinem Leidensweg nach Golgatha erschöpft an Ahasverus' Haus anlehnte, habe ihn der jüdische Schuster, der mit seiner Familie den letzten irdischen Weg Jesu mit ansehen wollte, voll Zorn beschimpft und weitergetrieben. Darauf habe ihn der Messias der Christen starch angesehn l und ihn auffdie meinung ungefaerlich [dem Gedächtnis nach, ungefähr] angeredt ICH WILL STEHEN UND RUHEN l DU ABER SOLT GEHEN (Z. 82ff.).'° Im selben Augenblick habe der Jude eine innere Unruhe verspürt: Nachdem er der Kreuzigung zugesehen hatte, sei es ihm nicht mehr möglich gewesen, nach Jerusalem zurückzukehren. Stattdessen habe er seine ruhelose Wanderung durch Zeiten und Länder begonnen - wie Ahasver selbst nur vermuten kann vielleicht [...] biß am Jüngsten tag l als ein lebendigen zeugen Die Großschreibung der Worte Jesu findet sich bereits im Erstdruck.
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Stefan Nied
des Leyden Christi zu mehrer uberzeigung [Überzeugung] der Gottlosen und ungleubigen (Z. 94ff.). Ruhig und bescheiden führe seitdem Ahasver sein Leben: Er rede nie, wenn er nicht gefragt werde, äße und tränke wenig, wenn er eingeladen werde, und nehme Almosen nur im Wert von zwei Schillingen an, die er dann auch noch den Armen gebe. Lediglich wenn jemand Gott flucht, komme Leben in den stillen Wanderer, der im Übrigen aller Sprachen der Gegenden mächtig sei, die er durchreist hat: Überaus zornig spreche er dann: Du Elender Mensch l du Elende Creatur l soltu [sollst du] den Namen Gottes und seine Marter also mißbrauchen l Ja soltestu gesehen unnd gehoeret haben l wie sa\vr [sauer] dem Herrn Christo seine Wunden und Leyden l dein und meinet wegen worde were l wie ichs gesehen l du wuerdest dir ehe leidt thun lassen [ein Leid antun lassen] / dann daß du also seinen N amen nennest. (Z. 124ff.)
Die Geschichten, die Ahasverus von seinen Wanderungen zu erzählen wisse, und seine seltsame Erscheinung lockten vilLeut auß vielen Landen (Z. 114f.) an; nur meinen manche, er habe einen ßiegeden Geist bey sich (Z. 117), der ihm die unbekannten Dinge, die er erzähle, offenbare. Nach der Aufzählung weiterer Gewährsleute für die Ahasverus-Geschichte zwei Legaten des Herzogs Adolf von Holstein sollen den Ewigen Juden beispielsweise 1572 in Madrid gesehen haben - folgt abrupt die seltsam lapidare Schlussmoral der Geschichte: Was nun von dieser Mans Person zuhalten: davon steht jedem sein Judicium frey: Die werck Gottes seind wunderbarlich und unerforschlich / und werden je lenger je mehr ding l die bißhero verborgen gewesen l Nun mehr gegen dem zunahenden Juengsten Tag und ende der Welt offenbaret l wol dem der es in rechtem verstandt auffnimbt und erkennete unnd sich daran nicht Ergert. (Z. 147ff.)
Damit endet die >Kurze Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasver< jedoch nicht: Ohne erkennbare Motivation folgt noch die Meldung, der Jude habe ob seiner langen Wanderung Fußsohlen so dick wie zwei kleine Finger bekommen und sei auch 1599 in Danzig aufgetaucht." Auf der Titelseite des beschriebenen Buches findet sich das Impressum: Gedruckt zu Leyden l bey Christoff Creutzer. Anno 1602. Neben dieser Ausgabe sind insgesamt 20 Druckauflagen aus dem selben Jahr nachgewiesen worden, die an neun verschiedenen Orten - es werden neben Leiden u.a. noch Bautzen, Schleswig, Straßburg und Danzig genannt - ihren Erstdruck erlebt haben sollten.12 Ein Verfassemame wird hingegen nicht angegeben; alle Thesen und Karl Simrock deutet dies, genauso wie die Mitteilung, Ahasver sei in Spanien gewesen, als späteren Zusatz, der im Erstdruck nicht vorgekommen sei. Vgl. Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt, hg. von Karl Simrock, 13 Bände, hier Bd. 6, Basel 1892, Nachdruck Hildesheim/New York 1974, S. 421. Solange ein solches Zeugnis fehlt, müssen Aussagen über nicht authentische Passagen in der Ausgabe von 1602 jedoch Spekulation bleiben. Schmidt (Anm. 3], S. 13ff. versucht die Nennung von acht dieser Orte als Fiktion, die eine möglichst große Verbreitung des Buches suggerieren sollte, zu entlarven. Er plädiert für eine Entstehung des Volksbuches in Danzig in der Offizin des Druckers Jakob Rhode.
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Spekulationen, die auf der Suche nach einem historisch benennbaren Autor vor allem in der älteren Forschung aufgestellt wurden, sind nicht abschließend beweisbar.13 Wer auch immer der Verfasser des Volksbuches war, der >Erfinder< der Gestalt des rastlosen Wanderers war er nicht. Die Grundzüge der Figur des Ewigen Juden sind schon in Chroniken und Sagen voriger Jahrhunderte vorgebildet worden. Der Verfasser des Danziger Volksbuches räumt selbst ein: Von diesem Juden schreibt auch Guido Bonalus l und nennet in Johannem Buüadeum in seiner 141. Consideration de stellisßxis.1* Er erwähnt nicht, dass die Figur des Johannes Buttadeus offenbar nicht die einzige Quelle seiner >Kurzen Beschreibung und Erzählung< war. Vielmehr hat Ahasver noch einen anderen Ahnen: die Gestalt des Joseph Cartaphilus. Den Grundstein für die Figur des Ewigen Juden legte der englische Mönch Roger de Wendover (t 1236). Er fügte in die >Flores HistoriarumDe Joseph, qui ultimum Christi adventum adhuc vivus exspectat< (>Von Joseph, der die endgültige Ankunft Christi lebend erwartet