Kulturelle und sprachliche Minderheiten in Europa: Aspekte der europäischen Ethnolinguistik und Ethnopolitik ; Akten des 4. Symposions über Sprachkontakt in Europa, Mannheim 1980 3484301090, 9783484301092

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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German Pages 328 Year 1981

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Table of contents :
VORBEMERKUNGEN
VORWORT
A. ALLGEMEINE ASPEKTE DER EUROPÄISCHEN ETHNOPOLITIK
1. Unorthodoxe Betrachtungen über Volksgruppen und Volksgruppensprachen in Europa
B. DAS PROBLEM DER MEHRSPRACHIGKEIT IN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT
2. Demokratische Zweisprachigkeit in Europa. Möglichkeiten einer europäischen Sprachpolitik unter Berücksichtigung der sprachlichen Minderheiten
C. MINDERHEITEN IN SÜDITALIEN
3. Die provenzalische Minderheit in Süditalien
4. Sprachliche Minderheiten in Europa am Beispiel des Kalabro-Albanischen
D. JUGOSLAWIEN
5. Resultate des Kontakts der kroatischen Standardsprache mit der urbanen Umgangssprache Zagrebs
6. Slowenisch-deutsche Sprachkontakte
E. MINDERHEITEN IM ALPENGEBIET (SCHWEIZ UND NORD-ITALIEN)
7. Die kulturelle und politische Situation der Sellaladiner (Frühjahr 1901)
8. Zum deutschen Sprachgut im Bündnerromanischen-Sprachkontakt in diachronischer Sicht
9. Friulian
F. MINDERHEITEN IN FRANKREICH (ELSASS, PROVENCE UND BRETAGNE)
10. Zur Situation der deutschen Sprache im Elsaß
11. Zur Situation des Okzitanischen als sprachliche und kulturelle Minderheit in Frankreich
12. Die Verwendung der bretonischen Sprache unter soziolinguistischen Aspekten
G. MINDERHEITEN AN DER ROMANISCH-GERMANISCHEN SPRACHGRENZE IN BELGIEN (Berichte der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit, Brüssel)
13. Zur Problematik von Sprachzählungen
14. Altbelgien Nord
15. Central Old Belgium
16. Neubelgien Malmedy
H. MINDERHEITEN IN GROSSBRITANNIEN
17. Creolese and Sranan. Two New Ethnolinguistic Minorities in Western Europe, with Special Reference to Lexical Items
18. Zweisprachigkeit und grammatische Inter- und Transferenz im Keltischen der Britischen Inseln
I. MINDERHEITEN IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (SCHLESWIG)
19. "The Fight for Survival" - Danish as a Living Minority Language South of The Danish-German Border
MITARBEITERVERZEICHNIS
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Kulturelle und sprachliche Minderheiten in Europa: Aspekte der europäischen Ethnolinguistik und Ethnopolitik ; Akten des 4. Symposions über Sprachkontakt in Europa, Mannheim 1980
 3484301090, 9783484301092

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Linguistische Arbeiten

109

Herausgegeben von Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner

Kulturelle und sprachliche Minderheiten in Europa Aspekte der europäischen Ethnolinguistik und Ethnopolitik Akten des 4. Symposions über Sprachkontakt in Europa/ Mannheim 1980 Herausgegeben von P. Sture Ureland

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kulturelle und sprachliche Minderheiten in Europa: Aspekte d europ. Ethnolinguistik u. Ethnopolitik; Akten d 4. Symposions über Sprachkontakt in Europa, Mannheim 1980 / hrsg. von P. Sture Ureland. Tübingen : Niemeyer, 1981. (Linguistische Arbeiten ; 109) NE: Ureland, Per Sture [Hrsg.] ; Symposion über Sprachkontakt in Europa ; GT

ISBN 3-484-30109-0 / ISSN 0344-6727 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Becht-Druck, 7403 Ammerbuch 2

INHALTSVERZEICHNIS

VORBEMERKUNGEN VORWORT A.

VIII

. . . . .

IX

ALLGEMEINE ASPEKTE DER EUROPÄISCHEN ETHNOPOLITIK 1. HEINZ KLOSS: Unorthodoxe Betrachtungen über Volksgruppen und Volksgruppensprachen in Europa

B.

1

DAS PROBLEM DER MEHRSPRACHIGKEIT IN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT 2. HELMAR FRANK: Demokratische Zweisprachigkeit in Europa. Möglichkeiten einer europäischen Sprachpolitik unter Berücksichtigung der sprachlichen Minderheiten . . .

C.

MINDERHEITEN IN

17

SÜDITALIEN

3. DIETER KATTENBUSCH: Die provenzalische Minderheit in Süditalien

D.

. . .

^1

4. RUPPRECHT ROHR: Sprachliche Minderheiten in Europa am Beispiel des Kalabro-Albanischen

53

JUGOSLAWIEN 5. ANTUN SOJAT Resultate des Kontakts der kroatischen Standardsprache mit der urbanen Umgangssprache Zagrebs . .

59

6. JOZE TOPORISIC Slowenisch-deutsche Sprachkontakte

69

VI

E.

MINDERHEITEN IM ALPENGEBIET (SCHWEIZ UND NORDITALIEN) 7. LOIS CRAFFONARA:

Die kulturelle und politische Situation der Seilaladiner (Frühjahr 1901)

81

8. ALEXI DECÜRTINS:

Zum deutschen Sprachgut im BündnerromanischenSprachkontakt in diachronischer Sicht

111

9. GUISEPPE FRANCESCATO:

Friulian F.

139

MINDERHEITEN IN FRANKREICH (ELSASS, PROVENCE UND BRETAGNE) 10.

CAROLA BECKER-DOMBROWSKI:

Zur Situation der deutschen Sprache im Elsaß . . . 149 11. ERWIN DIEKMANN:

Zur Situation des Okzitanischen als sprachliche und kulturelle Minderheit in Frankreich

. . 181

12. BRIGITTE LEMARCHAND-ÜNGER: Die Verwendung der bretonischen Sprache unter soziolinguistischen Aspekten . . G.

2O1

MINDERHEITEN AN DER ROMANISCH-GERMANISCHEN SPRACHGRENZE IN BELGIEN (Berichte der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit, Brüssel) 13. PETER HANS NELDE:

Zur Problematik von Sprachzählungen 14. MARIE-PAULE

.........

219

QUIX:

Altbelgien Nord

225

15. RICHARD TRIM:

Central Old Belgium

237

16. YVES PERSOONS:

Neubelgien Malmedy

251

VII

H.

MINDERHEITEN IN GROSSBRITANNIEN 17. PETRONELLA BREINBURG:

I.

Creolese and Sranan. Two New Ethnolinguistic Minorities in Western Europe, with Special Reference to Lexical Items

265

18. ULRIKE ROIDER: Zweisprachigkeit und grammatische Inter- und Transferenz im Keltischen der Britischen Inseln

285

MINDERHEITEN IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (SCHLESWIG) 19. BENT S0NDERGAARD: "The Fight for Survival" - Danish as a Living Minority Language South of The Danish-German Border

MITARBEITERVERZEICHNIS

297

3O7

VIII VORBEMERKUNGEN

Ein viertes Symposium über Sprachkontakt in Europa wurde im Dezember 1930 vom Linguistischen Arbeitskreis in Mannheim veranstaltet. Als Mitorganisatoren des Symposiums waren folgende Organisationen beteiligt: das Institut für deutsche Sprache Mannheim, die Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit Brüssel, der Europa-Klub Paderborn und das Europa-Institut Mannheim. Dieser Band ist eine Fortsetzung der Reihe von Veröffentlichungen über Kontaktlinguistik, die ihren Anfang mit dem Band "Sprachkontakte im Nordseegebiet" ( 1 9 7 0 ) , dem Band "Standardsprache und Dialekte in mehrsprachigen Gebieten Europas" ( 1 9 7 9 ) , der Herausgabe des Sammelbandes der Brüsseler Tagung "Sprachkontakt und Sprachkonflikt" durch P. Neide 19GO sowie dem Band in unserer Symposiumsreihe vom letzten Jahr "Sprachvariation und -wandel" (1900) gefunden hat. Im März 1902 wird ein sechstes Symposium über Sprachkontakt in Europa stattfinden, das von dem Mannheimer Linguistenkreis veranstaltet wird: "Typologische Aspekte der Sprachkontakte Die Leistungen der Strataforschung und der Kreolistik". Diese Tagung ist gleichzeitig als eine Vorbereitung für den Internationalen Linguisten-Kongress in Tokyo 19G2 anzusehen, an dem der Linguistische Arbeitskreis Mannheim mit einer Arbeitsgruppe unter dem Thema "Sprachkontakt in Europa" beteiligt sein wird. Schließlich möchten wir auch auf die zweite Tagung "Contact und Conflict" in Brüssel im Juni 19G2 hinweisen, die von der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit dort veranstaltet wird. Die Beiträge werden im Anschluß an die Symposien und Tagungen veröffentlicht. Linguistischer Arbeitskreis Mannheim Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit Brüssel

VORWORT

Der vorliegende Band enthält 19 Artikel, von denen 17 als Vorträge am vierten Symposium über Sprachkontakte in Europa im Dezember 1900 vor dem linguistischen Arbeitskreis Mannheim gehalten wurden. Der letzte Artikel, der Beitrag von Bent S^ndergaard, wurde als Vortrag an der First International Conference on Minority Languages im September 190O an der Universität Glasgow gehalten. Da sein Thema sich gut in den Mannheimer Themenbereich einfügen lä£t und da die dänische Minderheit in Schleswig unsere Aufmerksamkeit verdient, wurde dieser Artikel als Komplement zu den vorliegenden Artikeln aufgenommen. Lois Craffonaras Vortrag wurde nicht am Symposium selber gehalten, sondern etwas später im Sommersemester 1901 vor der Arbeitsgruppe "Rätoromanisch" der Mannheimer Linguisten. Unser Symposium war somit eine Fortsetzung einer Reihe von drei vorausgegangenen Tagungen über Minderheitenprobleme in Europa, wo Schwerpunkt auf Aspekten der europäischen Ethnolinguistik und -politik lag: Die Minderheitenkonferenz in Glasgow im September 193O, die sprachpolitische Tagung über "Sprachenprobleme und europäische Einheit" in Heran, Italien, im Oktober, sowie die "Okzitanische Woche" in Tübingen im November. Während bei den drei hier erwähnten Tagungen die kulturellen und/oder politischen Aspekte mehr im Zentrum des Interesses standen, wurden am Mannheimer Symposium der Sprachwechsel und die sprachlichen Interferenz- und Transferenzerscheinungen in den Minderheitensprachen Europas und deren auslösende extralinguistischen Faktoren besonders hervorgehoben. Diese Reihe von Tagungen über Minderheiten, die im letzten Jahr stattfanden, kann man als den Ausdruck eines erwachenden ethnischen Bewußtseins unter Historikern, Geographen, Pädagogen, Psychologen, Soziologen und Linguisten sehen. Dabei ist zu bemerken, da£ es in Europa immer ethnische Minderheiten gegeben hat, aber daß wir erst jetzt ihren wertvollen Beitrag zu einem pluralistischen Europa entdeckt haben.

Die Gefährdung der kulturellen Umwelt durch die moderne Industriegesellschaft mit ihrer semantischen und kulturellen "Verschmutzung", die physische und psychische Enthumanisierung sowie die totale Entfremdung der Menschen voneinander in einer übertriebenen Technokratisierung und Bürokratisierung der westlichen Zivilisation, das alles hat gewisse Abwehrkräfte gegen eine Barbarisierung unserer tiefsten Lebensbedürfnisse und -bedingungen mobilisiert. Die Teilnehmer an dem Mannheimer Symposium waren sich einig, da2 die kleineren Sprachen in Europa einmalige Instrumente der Kommunikation sind. Sie besitzen wertvolle Literatur und eine besondere Art der Weltanschauung. Sie können als kostbare Geigen in einer Völkersymphonie betrachtet werden. Sprache ist ein Viert in sich. Jede Volksgruppe ist durch ihre Sprache gekennzeichnet. Heinz Kloss leitet unsere Artikelreihe über Ethnolinguistik mit einigen "unorthodoxen Betrachtungen über Volksgruppen und Volksgruppensprachen in Europa" ein. Er hebt die Wichtigkeit der Erhaltung aller Sprachen hervor, welche mehr im Zentrum der ethnischen Bewegungen in Europa zwischen 1920 und 196O stand - die sogenannte wertkonservative Einstellung. Nach dieser Auffassung ist jede Sprache ein Niederschlag einer besonderen Art von Weltbetrachtung, wobei die Muttersprache als unersetzlich betrachtet wird. In den 60er und 70er Jahren jedoch flaute das Interesse an ethnischen Fragen ab. Sprache wurde mehr als soziales Kommunikationsmittel gesehen und der Sprachwechsel von einer kleineren benachteiligten Sprache zu einer größeren überregionalen National- oder Staatssprache erschien natürlich und konsequent - die sozialemanzipatorische Einstellung gemäß Kloss. Nach dieser Auffassung ist Sprache primär ein soziales Kommunikationsmittel für Aufstiegsmöglichkeiten. Die umfassende Einwanderung von Gastarbeitern in die europäischen Industriestaaten hat mehr die soziale Problematik zum Vorschein gebracht als die ethnische. Man sieht diese Gruppen von Gastarbeitern nicht so sehr als Träger wertvoller Kulturen und Sprachen, sondern mehr als potentielle Arbeitnehmer in unserem Industrieprozeß, die ihre Sprache möglichst schnell verlernen und sich die (großen) Nationalsprachen Europas

XI

aneignen sollen. Obwohl die großen Völkerbewegungen durch Krieg und Verfolgung seit dem Zweiten Weltkrieg sowie die genannten Gastarbeiteremigrationen seit 1960 eine andere ethnische Wirklichkeit herbeigeführt haben, ist eine überregionale Zivilisation mit Mißachtung der ethnischen Minderheiten entstanden. Es ist kein Zufall, daß ethnische Bewegungen in Europa, Amerika, Afrika und Asien mit den großen Umweltfragen und Unabhängigkeitsidealen gekoppelt sind. Für multinationale Firmen und gewisse Großmächte sind die größeren Nationalsprachen in ihrer standardisierten Form ein Instrument für möglichst effektive Kommunikation in Geschäften und politischer Manipulation. Gegen eine Entwicklung zu einer effektiveren internationalen Verständigung und Zusammenarbeit technischer und ökonomischer Art hat im Grunde niemand etwas einzuwenden, wenn eine solche Entwicklung nicht auf Kosten der kleineren ethnischen Gruppen und Sprachen sowie der Varietäten der großen Nationalsprachen durchgesetzt wird. Es ist leider keineswegs so gewesen, daß nur Kommunikation und Effektivität erreicht worden sind, sondern es entwickelte sich auch linguistische Intoleranz, Sprachimperialismus mit Unterdrückung ethnischer Minderheiten, ja sogar ihre Auflösung und Vernichtung. Die Minderheitenproblematik hat auch für Linguisten und Sprachwissenschaftler eine ganz besondere Bedeutung. Sie lenkt von einer einseitigen Beschäftigung mit den Strukturen und Regeln einer standardisierten Nationalsprache ab und führt uns zu den fruchtbaren Perspektiven der Varianzlinguistk, der Interlinguistik und des Sprachenrechts. Die ökologischen, historischen und sozialen Faktoren in der Entwicklung jeder Sprache und jeder Variante einer gegebenen Sprache sind so zahlreich und unterschiedlich, daß wir noch keinen generellen Entwicklungsplan für die Nationalsprachen und ihre Varietät haben ermitteln können, geschweige denn einen Plan für die kleineren Sprachen. In drei früheren Mannheimer Symposien über Sprachkontakte in Europa von 1977, 1970 und 1979 wurde eine große Anzahl von Sprachkontakten beschrieben, deren Typologie wir noch entdecken müssen. (Für die Aufstellung eines solchen Typologiekatalogs des Sprachkontakts werden zwei weitere Symposien geplant, eines im

XII

März 1932 in Mannheim und im Schwarzwald vom Linguistischen Arbeitskreis Mannheim und ein zweites im Juni 1982 in Brüssel von der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit.) Übergreifende Perpektiven zur Sprachpolitik in Europa bietet Helmar Frank, Paderborn an: "Demokratische Zweisprachigkeit in Europa". Als Präsident der Gesellschaft für sprachübergreifende europäische Verständigung (Europa-Klub) setzt er sich in seinem anregenden Artikel für die kleineren Sprachen ein. Er skizziert die quantitative Verteilung der westeuropäischen Sprachen in den neun EG-Ländern ( 2 5 2 Millionen im Jahre 1 9 0 O ) : Deutsch 2 4 , 0 % , Englisch 2 4 , 4 % , Italienisch 2 1 , 2 % , Französisch 2 O , 5 % , Niederländisch 6 , 9 % , Dänisch 2 , 0 % und Irisch 0 , 2 % . Im Jahre 2000 werden voraussichtlich 13 Länder Mitglied der westlich-südlichen europäischen Föderation sein (heutiger Bevölkerungsstand: 330 Millionen). Die Verteilung der Sprachen in der zukünftigen europäischen Förderation im Jahre 20OO wird also wie folgt berechnet: Deutsch 1 0 , 6 % , Englisch 1 0 , 2 % , Italienisch 1 5 , 3 % , Französisch 1 5 , 2 % , Türkisch 1 O , 2 % , Spanisch 9 , 3 % , Niederländisch 5 , 1 % , Portugisisch 2 , 0 % , Griechisch 2 , 6 % , Dänisch 1 , 5 % und Irisch 0 , 2 % . Aus diesen Zahlen geht die gefährdete Situation des Irischen, Dänischen, Griechischen, Portugiesischen und Niederländischen in einem vereinten Europa klar hervor, deren Minderheitenstatus somit vorprogrammiert ist. Frank beschäftigt sich auch mit der Wahl einer intereuropäischen Sprache für internationale Kommunikation innerhalb der zukünftigen Förderation (besonders in der Politik, Kultur und Ökonomie), wobei er fünf mögliche Lösungen erörtert: 1) eine einzige Herrenvolksprache ( z . B . Latein im Römischen Imperium) Sprachimperialismus; 2) eine Ersatzsprache ( z . B . eine tote Sprache wie Latein im Mittelalter oder eine Plansprache wie Esperanto) - Sprachneutralismus; 3) die Beibehaltung der Nationalsprachen ( z . B . Bilingualismus wie in Belgien und Irland) - Sprachhelvetismus; 4) Einführung einer Vorrangsprache ( z . B . die Sprache eines über-priviligierten Partnervolkes, vgl. Hindi in Indien) - Sprachfeudalismus; und 5) Beibehaltung der Nationalsprachen durch Ubersetzungsprozesse (d.h. durch Menschen und Automaten) - Sprachkybernetismus.

XIII

Wenn man bedenkt, daC etwa 15OO Stunden Unterricht nötig sind, um z . B . Englisch zu lernen, und daß diese Anzahl von Stunden etwa einem Arbeitsjahr entspricht, so liegt der Vorteil der Englischsprechenden auf der Hand. Drei Prozent des Bruttosozialprodukts würden für jedes nicht-englischsprechende Land als Einsatz notwendig sein, um die intereuropäische Kommunikation aufrechterhalten zu können und die Sprachbarrieren in Europa zu überwinden. Sind die kleineren und die größeren nicht-englischsprechenden Völker Europas bereit, diesen Preis zu zahlen? Englisch sei aus kybernetischen Gründen kaum geeignet, diese wichtige Rolle zu übernehmen, meint Frank. Es sei für die europäischen Völker kaum optimal erlernbar und es sei akustisch als Kommunikationssprache - beispielsweise des Flugverkehrs - kaum geeignet. Eine echte intereuropäische Sprache müßte kommunikationsrelevant (zwischenmenschliche Verständigung und automatische Sprachverarbeitung), einstellungsrelevant (ästhetische Akzeptierbarkeit) sowie relevant für den politischen Standort sein (konservativ, egalitär oder liberal). Auch wenn Italienisch oder Latein diesen Katalog von Anforderungen erfüllen könnte, spricht sich Frank für Plansprachen aus (Esperanto, Ido), die neutral und leicht erlernbar seien. Die Nationalsprachen können damit beibehalten werden, nur 20O Lernstunden seien für Esperanto notwendig. Nach diesem Artikel über Intersprache für das Europa des Jahres 20OO nimmt Rupprecht Rohr, Mannheim, die leser auf einen Ausflug in Zeit und Raum mit: Zu den albanischen Sprachinseln in Süditalien, die im 15. Jahrhundert durch Einwanderung aus dem damaligen türkisch bedrohten Albanien entstanden sind. In seinem Beitrag "Sprachliche Minderheiten in Europa am Beispiel des Kalabro-Albanischen" betont Rohr die historische Rolle der Sprachinseln als integrierende Einheiten in der Sprachenvielfalt Europas. Mit Sprachinseln meint man sprachlich isolierte Gruppen, deren Sprache anderswo in Europa als Standardsprache funktioniert und die keine Grenzbevölkerung darstellen. In Kalabrien, Apulien und Sizilien gibt es heute noch albanischsprechende Dörfer (um 1930 etwa 300 000 aber 1977 nur noch ein Sechstel davon:

XIV

5O 000). Erdbebenkatastrophen, Armut und Auswanderung sind Gründe für die Abnahme der Bevölkerung. Die heutigen Albanischsprachigen haben selber keine Vorstellung von dem Ursprungsland Albanien. Etwa 50O Jahre Aufenthalt in der neuen süditalienischen Heimat haben alle Erinnerungen gelöscht. Wie die meisten Einwanderer waren sie im 19. Jahrhundert loyale italienische Mitbürger. Sie stellten die Kerntruppe in der Armee Garibaldis dar und wegen ihrer Loyalität zu Italien von der neuen italienischen Nation extra belohnt; es gab albanische Schulzentren und Priesterseminare mit albanischem Sprachunterricht. Eine ethnische Minderheit war an einem historischen Geschehen somit direkt beteiligt. Die Albaner in Süditalien waren den Italienern keineswegs kulturell unterlegen, sondern in Handel und Handwerk waren sie ihnen ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Die Zunahme der albanischen Bevölkerung von 20O 000 im Jahre 1C56 auf 3OO OOO im Jahre 1930 beruht sicherlich auch auf einer Albanisierung der umgebenden italienischen Bevölkerung. In seiner Feldforschung fand Rohr die albanische Sprache verhältnismäßig intakt und er zeigt einige Beispiele für die Anpassungsfähigkeit des Albanischen an das Italienische in der Konjugation und Deklination. Nach diesen allgemeinen Perspektiven über die Sprachen der Europäischen Gemeinschaft, über Sprachpolitik, Sprachrecht, Spraenvielfalt und kleinere Volksgruppen in Europa kommen Artikel mit spezifischeren Gesichtspunkten der Minderheitenproblematik: Ulrike Roider, Innsbruck, behandelt die heutige Situation der keltischen Sprachen auf den Britischen Inseln und Petronella Breinburg aus Keele, Staffordshire, setzt sich mit den Kreolsprachen der farbigen Immigranten in England und in den Niederlanden auseinander. In den Beiträgen zweier Arbeitsgruppen (Gruppe Neide, Brüssel und Gruppe Ureland, Mannheim) wird die Minderheitenproblematik an der germanisch-romanischen Sprachgrenze in Belgien und im Elsaß angegangen. Auch die Situation der Bretonen in der Bretagne und der südfranzösischen Bevölkerung in Okzitanien werden in diesem Zusammenhang mitbehandelt. Verfasser in der Gruppe Neide über Belgien sind Peter Neide, Marie-Paule Quix, Richard Trim und Yves Persoons, alle aus Brüssel; Referenten aus Mannheim

XV

in der Gruppe Ureland sind Carola Becker-Dombrowski über das Elsaß), Brigitte Lemarchand-Unger (über die Bretagne), Erwin Diekmann (über Okzitanien) und Dieter Kattenbusch, Regensburg, (über provenzalische Siedlungen in Süditalien). Die vorgelegten Artikel dieser beiden Arbeitsgruppen sind ein Sammelbecken für eine Anzahl von Forschungsberichten und Zulassungsarbeiten der erwähnten Studenten und Assistenten. Die jugendliche Komponente und der Enthusiasmus, die die Berichte der beiden Gruppen beseelen, ist etwas Erfrischendes und Belebendes. Am zweiten Tag des Symposiums standen die Minderheiten in den Alpen und in Jugoslawien im Zentrum des Interesses. Drei Experten auf dem Gebiet der alpinen Kontaktlinguistik bieten hier mit ihren Artikeln außerordentliche Information: Lois Craffonara (San Martin de Tor), Guiseppe Francescato (Triest) und Alexi Decurtins (Chur). Craffonara skizziert gekonnt in seinem Artikel die "Kulturelle und politische Situation der Ladiner", die in den Tälern um das Sellamassiv in Südtirol leben und heute etwa 15 000 Sprecher zählen. Francescato beschreibt mit seinem informativen Artikel "Friulian" die kulturelle und sprachliche Situation einer der am südlichsten gesprochenen rätoromanischen Sprachen in Friaul, wobei er die 6OO OOO bis 7OO OOO Friaulisch sprechenden soziolinguistisch, dialektgeographisch und historisch behandelt. Als die am südlichsten gelegene Sprachgruppe in der nordöstlichsten Ecke Italiens sind die Friuli mehr von Eroberern und Nachbarn beeinflußt worden als die Sprechern der beiden anderen rätoromanischen Sprachgruppen, die Ladiner und die Bündnerromanen. Die günstigere geographische Lage in den Ebenen brachte mehr Kontakt mit Goten, Langobarden, Venetiern, Slowenen, Deutschen und Italienern. Diese ethnische Vielfalt in der Vergangenheit sowie die stärkere Überdachung der heutigen friaulischen Mundarten durch das Italienische verursachen eine starke dialektale Zersplitterung einerseits und andererseits eine starke Diglossie, wobei die friaulischen Mundarten eine immer untergeordnete Rolle in der alltäglischen Kommunikation zu spielen haben. Es bestehen keine Akademie und kein Schulunterricht für die Standardisierung und Verbreitung der Sprache.

XVI

Die Situation des Bündnerromanischen ist dagegen viel positiver, was die Erhaltung, Standardisierung und Sprachplanung in Graubünden betrifft. Decurtins skizziert in seinem Artikel "Zum deutschen Sprachgut im Bündnerromanischen" den historischen Hintergrund der Entstehung der romanisch-germanischen Sprachgrenze in Graubünden. Danach folgt ein höchst interessanter technischer Abschnitt über die lexikalischen Germanismen in diesen alpinromanischen Sprachen. Ganze romanische Wortfelder sind durch Sprachkontakt modifiziert worden. Der Artikel wirft die Frage auf, wie weit die germanischen Etyma in die romanischen Sprachen überhaupt eingedrungen sind. Die alte Substratforschung kommt hier wieder zu ihrem Recht. Professor Joze Toporisic aus Ljubljana (Slovenien/Jugoslawien) berichtet über die slovenisch-deutschen Sprachkontakte und deren Auswirkungen auf das Slovenische, insbesondere auf die slovenische Standardsprache. Nach ersten Versuchen, eine slovenische Standardsprache zu schaffen im 16. Jh. (TRUBAR P . , DALMATIN J., v BOHORIC A . ) , die aber u.a. wegen der sehr starken Aufgliederung des slovenischen Dialektgebiets keinen weiteren Erfolg in der slovenischen Sprachwirklichkeit hatten, ist die Grundlegung der heutigen slovenischen Standardsprache ein Werk des 19. Jhs. und zwar zunächst vor allem von J. KOPITAR (178O bis 1 8 4 4 ) , der die erste wissenschaftliche Grammatik slovenischer Sprache verfaßte. Die stärksten Sprachkontaktauswirkungen finden sich jedoch nicht in den Bereichen von Phonologie und Grammatik, sondern im Bereich der Lexikologie: in sehr starkem Maß wurden einzelne Wörter entlehnt und z.T. durch slovenische Suffixe in slovenische Wortbildungsmuster eingefügt. Die Produktivität slovenischer Wortbildungsverfahren ist hierdurch unter dem Einfluß solcher deutscher Transferenzen erheblich gestiegen. Durch Lehnwörter aus dem Deutschen sind z.T. auch mit slovenischen Wörtern Äquivalentreihen entstanden. Der Ausbau des Standardslovenischen erfolgt mit Offenheit für nötige Entlehnungen aus anderen Sprachen ohne sprachpuristischen Rigorismus. Germanismen sind jedoch in Dialekten und Umgangssprachen häufiger als in der Standardsprache. Insgesamt erleichtern die Germanismen auch in der Standardsprache Übersetzungen aus dem Deutschen, so daß deutsch-slovenische Übersetzungen leichter zu bewerkstelligen sind als z.B.

XVII

Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, aber z.T. auch aus dem Russischen. Professor Antun Sojat aus Zagreb (Kroatien/Jugoslawien) berichtet über Kontaktsituation kaj- und cakavischer Dialekte mit der stokavisch begründeten kroatoserbischen Standardsprache in der Zagreber Stadtmundart. Hierbei ist u.a. die Entstehung einer neuen urbanen kajkavischen Mundart Zagreber Prägung zu beobachten. Die Zagreber Stadtmundart ist selbst in weitere sprechergruppen- und herkunftsdialektspezifische Varianten zu differnw zieren. Sojat verweist hierzu auf eine einschlägige Buchpublikation, die auch in deutscher Sprache vorliegt. Zuletzt möchte ich für die gute Zusammenarbeit mit den vier Mitorganisatoren des Symposiums danken, deren Anregungen und Ratschläge zu neuen Ideen und Formen der Tagung geführt hatten: den Herren G. Stickel und L. Auburger am Institut für deutsche Sprache in Mannheim, Herrn Neide an der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit in Brüssel, Herrn Frank vom Europa-Klub in Paderborn, Herrn Rohr am Europa-Institut in Mannheim. Herrn Diekmann vom Romanischen Seminar der Universität Mannheim wird ebenfalls für gute Ratschläge und Initiativen gedankt. Dem Dekanat der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Mannheim möchte ich auch danken. Für die Fertigstellung des Manuskripts danke ich folgenden Personen die wertvolle Hilfe leisteten: Iain Clarkson, Heidemarie Gebhardt-Cordero, Gerlinde Kammer, Stephen Kidd, Margot Meckesheimer, Christoph Rühling und Hannelore Schreiner.

Per Sture Ureland

UNORTHODOXE BETRACHTUNGEN ÜBER VOLKSGRUPPEN UND VOLKSGRUPPENSPRACHEN IN EUROPA

Heinz Kloss

Was ich versuchen werde zu sagen, wird nicht eine Ouvertüre sein zu den Themen dieses Kolloquiums, in der gewissermaßen die Hauptmotive bereits zusammengefaßt anklingen, sondern ich bitte Sie, diese Ausführungen mit einiger Nachsicht eher als ein Präludium zu betrachten, das aus tewas weiteren Zusammenhängen hinführt auf die engeren Zusammenhänge und Themen des Kolloquiums. Auch bei dem, was Professor Ureland sagte, wurde ja bereits hinausgewiesen über den Bereich Europas, und so werden auch meine Ausführungen sich nicht ganz auf Europa und auch nicht ganz auf das Thema Volksgruppen beschränken. Immerhin h o f f e ich doch, daß das was ich sagen werde, als mit dem Generalthema des Kolloquiums organisch verbunden empfunden werden wird. Wenn ich meinen Ausführungen den reichlich vagen Obertitel "unorthodoxe Gedanken über Volksgruppen und Volksgruppen sprachen" gebe, dann muß ich mir die Frage gefallen lassen:"Wenn du unorthodoxe Gedanken vortragen willst - was wären dann eigentlich orthodoxe Gedanken zu diesem Thema?" Orthodox will ich nennen solche Gedanken zu einem bestimmten Themenkreis, die in einem bestimmten Lande in einer bestimmten Epoche unreflektiert als gültig tradiert und übernommen werden. Sie sind mehr un- oder halbbewußt und wirken, auch wenn sie sich als rationale Gedanken gerieren, in Wirklichkeit weniger aus der Sphäre des bewußten Denkens als aus der Gefühls- und Willenssphäre in das bewußte Denken hinein. Nun erhebt sich die Frage: Was sind denn eigentlich die orthodoxen Gedanken unserer Zeit und dieses Landes Westdeutschland denn von dem müssen wir ja ausgehen - zu meinem Thema? Als ich mir das klarzumachen versuchte, fand ich, daß ich eigentlich verpflichtet wäre, eine sehr deutlich Unterscheidung zu machen zwischen dem, was um 192O herum und überhaupt in der

2

Weimarer Zeit in Deutschland als orthodoxe Gedanken gelten durfte und dem, was bei uns heute als orthodoxe Gedanken zu gelten hat, d . h . (um es kurz zusammenzufassen) daß ich unterscheiden muß zwischen den orthodoxen Gedanken von 1920 und von 1970. In einem halben Jahrhundert hat hier gerade in Deutschland, nicht nur in Deutschland, aber besonders ausgesprochen bei uns, eine Mutation stattgefunden. Das Bild von 192O kann man in der groben Vereinfachung, die in so einem Zusammenhang ja unvermeidlich ist, etwa so zusammenfassen: Sprache, folglich auch die Sprache von Volksgruppen, ist in erster Linie ein Selbstwert, der seinen Sinn in sich selber trägt. Ihr Wert liegt einerseits in der sprachlichen Substanz als solcher, insofern als jede Sprache als ein einmaliges Instrument empfunden wird, als Ausdruck oder Niederschlag einer besonderen Art der Weltbetrachtung, so wie eine kostbare Geige letztenendes ein einmaliges Instrument ist. Daneben - lieber sollte ich sagen: stärker noch - gilt als das, was einer Sprache den Wert verleiht, die Literatur, die in ihr hervorgebracht wird und in der besondere, nur ihr eigentümliche Werte verkörpert sind, die sie zum Teil, natürlich nicht ausschließlich, der Einmaligkeit des Instrumentes verdankt. Es gilt als fast selbstverständlich, daß Menschengruppen, die sich um die Erhaltung dieser ihrer Sprache bemühen, etwas tun, was im Menschheitsinteresse liegt. Das gilt natürlich vor allem für alle alteingesessenen Volksgruppen, die seit Generationen in ihrem jetzigen Wohnland beheimatet sind; aber darüber hinaus beobachten wir auch eine starke Neigung, selbst solchen Gruppen, die erst in jüngster Zeit in ihr heutiges Wohnland eingewandert waren, also sagen wir den deutschen Gruppen in Nordamerika oder in Australien, das Recht zuzuerkennen, sich um die Erhaltung ihrer Sprache zu bemühen und in dem Erfolg ihrer Bemühungen ein Positivum zu sehen. Ich will diese Einstellung, die in der Sprache einen Menschheitsfaktor von überragender Wichtigkeit sah, jetzt abkürzend und ohne den Ausdruck im einzelnen weiter erläutern zu wollen, die wertkonservative Einstellung nennen. Für sie ist zwar eine deutliche Grenze gegeben zwischen einem Volk, das einen eigenen souveränen Staat besitzt, das mithin eine Staatsnation ist, und einer "bloßen" Volksgruppe. Aber Volk und Volksgruppe sind beide in erster Linie gekennzeichnet durch die eigene Sprache, durch die Muttersprache, die ein eigener und unersetzlicher Viert ist.

Orthodoxe Gedanken um 1970 sind sehr anders. Vorherrschend ist eine Empfindungsweise - so sollte ich es fast eher nennen als eine Vorstellungsweise - die ich die sozialemanzipatorisch nennen möchte. Sprache ist in erster Linie ein soziales Kommunikationsmittel. Von vorrangiger Bedeutung sind gegenüber den ethnischen Belangen jetzt ganz eindeutig soziale Belange, Fragen wie etwa die Aufstiegsmöglichkeiten benachteiligter Gruppen und Individuen, nein - ich müßte es in umgekehrter Reihenfolge sagen - von Individuen und auch Gruppen. Sprachwechsel gilt nicht mehr als etwas im Grunde nicht Erfreuliches, sondern als etwas Natürliches, ganz besonders bei Einwanderergruppen, von denen man mit großer Selbstverständlichkeit erwartet, daß sie ihre Sprache ziemlich bald aufgeben, spätestens in der dritten Generation. Abgelehnt wird allenfalls der Zwang, mit dem solche Assimilationsvorgänge herbeigeführt werden. Das Interesse an ethnischen Fragen ist im allgemeinen, und zwar bis in die Fachkreise hinein, bis in die Linguistenkreise hinein, nicht besonders groß. Wenn in Westdeutschland heute die Gastarbeiterfragen hierin eine ausgesprochene Ausnahme bilden, dann deswegen, weil man das deutliche Gefühl hat, daß hier im Grunde nicht die ethnische sondern die soziale Komponente das eigentliche Problem darstellt, d.h. die Gastarbeiterprobleme werden primär nicht als ethnische, sondern als Teil des weiteren sozialen Problems empfunden. Diese überbetonung des sozialen Faktors, z . B . der beruflichen Aufstiegchancen, kann dazu führen, daß gerade betont antinationalistische, ja sprachverachtende Kreise aus ihrer Unterbewertung sprachlicher und kultureller Traditionen heraus für die Gastarbeiternachkommen bedenkenlos eine (Integrierung genannte) möglichst rasche Assimilation fordern und eine teutonisierende Sprachpolitik betreiben, die man den Wertkonservativen als chauvinistisch angekreidet haben würde. Diese beiden Einstellungen, die sich mutatis mutandis überall auf der Erde wiederfinden, kann man geographisch - das wird in meinem vielerwähnten, wenigstudierten Buch über Ethnopolitik angedeutet - auf der Erde wiederfinden etwa in der Weise, dal? man sehr grob sagen kann: das, was ich hier die konservative, genauer wertkonservative Einstellung nenne, herrscht vor in Europa und Asien, die andere, den Sprachwechsel bejahende Einstellung in den beiden Amerika und unter total anderen Voraussetzungen und aus ganz anderen Motiven heraus in Afrika. Ich erinnere mich - um es einmal zu veranschaulichen - daß ich in Amerika einmal ein Rundgespräch in einem engeren Kreise

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von Sprachsoziologen mitmachte. Da wurde erörtert das Schicksal zweier miteinander benachbarter Indianerstamme, die eine außerordentlich verwandte Sachkultur hatten, deren kulturelles Niveau fast identisch war; auch ihre quantitative Größenordnung war vergleichbar. Die eine dieser beiden Sprachgemeinschaften hatte ihre Sprache aufgegeben und sprach nur noch englisch, die andere hatte sie bis heute bewahrt. Nun wurde die Frage gestellt: Ja, wie kommt es, daß dieser Stamm B die Sprache bewahrt, wo doch der Stamm A die seine aufgegeben hat? Und da mischte ich mich ein und sagte: Das scheint mir eine typisch amerikanische Fragestellung zu sein. In Europa würde gefragt werden: Wie kommt es, daß der Stamm A seine Sprache aufgegeben hat, wo doch der andere Stamm es fertiggebracht hat, die seine zu behalten? Das heißt: irgendwie instiktiv, nicht reflektiert , wird in Europa als das Natürliche und zu Erwartende eher die Sprachbewahrung empfunden, in Amerika eher der Sprachwechsel. Aber wie im Raum, so finden sich diese beiden Einstellungen auch in der Zeit in der Form, daß bald die eine, bald die andere vorherrscht. Ich gab ja eben schon das krasse Beispiel der Mutation, die im deutschen Sprachraum oder genauer, die in unserem Westdeutschland in dem Halbjahrhundert von 192O-70 stattgefunden hat. Aber man kann ja auch andere Beispiele finden. Betrachten Sie die Zahl der Sprachen, die heute auf der Erde ge2 sprochen werden: ERDTEIL

absolut

in %

Asien

1998

36

Afrika

1741

30

Ozeanien

1O39

18

863 46

15 1

5687

100

Amerika (N + S) Europa Erde

Diese Statistik ist nicht mehr als eine sachkundige Vermutung; man darf sie nicht so genau nehmen: sie vermittelt in Wirklichkeit nur Größenordnungen, nicht exakte Ziffern. Speziell die Zahl für Europa müßte um etwa die Hälfte erhöht werden, um eine eini-

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germaßen genaue Ziffer zu erhalten, die wohl um 70 herum liegen würde. Aber darauf kommt es mir jetzt nicht an; worauf ich hinweisen wollte, ist dies: In der übrigen Welt gibt es fast 60OO Sprachen, Europa hat nur etwa 7O; was ist das in Prozent? Demnach hat früher in Europa ein Wert- und Sprachwechsel doch wohl nicht ganz so als unnatürlich gegolten wie um 192O, vielmehr ist in Europa vermutlich ein Schrumpfungsvorgang erfolgt, den ja einige Erdteile jetzt dabei sind nachzuholen. Sehr deutlich ist dies in den beiden Amerika, obwohl auch dort jetzt noch immer fast tausend einheimische Sprachen zu finden sind. Diese Statistik stammt vom Summer Institute of Linguistics, einer amerikanischen Stelle, deren Sachkenntnis gerade im Bereich der Uberseesprachen, vor allem der Naturvölkersprachen, bedeutent ist, während die Sachkenntnis für Europa, dessen Sprachwelt für diese Leute mehr eine stillschweigende Voraussetzung als ein Gegenstand ihrer Arbeit ist, nicht gerade sehr ausgeprägt ist. Deswegen ist unter all den hier genannten Zahlen die fehlerhafteste die für Europa. Aber das wesentlichste ist ja im Augenblick die Einsicht, daß Europa gerade nicht etwa, wie wir gerne so etwas leichthin sagen, der Kontinent der Sprachenvielfalt ist. Die Sprachenvielfalt ist - rein quantitativ gesehen - in allen anderen Erdteilen größer. Europa ist der Kontinent, neben Asien -und es gibt nicht nur in diesem Punkt eine euroasiatische Gemeinsamkeit - es ist der Kontinent der vielen Hochsprachen, der vielen vollausgebauten, vollausgebildeten Kultursprachen. Und nun möchte ich noch eine mögliche dritte, noch in der Zukunft liegende, keineswegs schon eingetretene Wandlung andeuten: Ich hatte gesagt, man könne zwischen Volksgruppen und Staatsvölkern, oder Staatsnationen, unterscheiden. Wir erleben seit dem 2. Weltkrieg in Europa Bemühungen, Europa politisch zu einigen. Die Erfolge sind bisher relativ gering gegenüber den Erwartungen, die gleich nach dem Krieg bestanden. Aber ich will auf diese Frage jetzt selbstverständlich nicht eingehen, sondern nur dies sagen: Sollten diese Bemühungen eines Tages doch noch zu einem vollen Erfolg führen, sodaß wir einen politischen großen Staat, in welcher Form auch immer, ein politisches Einheitsgebilde "Europa" erhalten, dann wären ja auf einmal - mit Ausnahme vielleicht von Englisch und Französisch

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oder ein paar weiteren Sprachen mit internationaler Geltung im wesentlichen die ganzen Sprachen der Staatsvölker auch zu Volksgruppensprachen geworden! Man würde sich zwar hüten, sie so zu nennen. In Wirklichkeit aber haben dann Sprachen wie die der Dänen, der Portugiesen, der Madjaren den Status von Volksgruppensprachen. Sie stehen dann ja alle in einer Relation zu der Zentralverwaltung, der Zentralregierung dieses Gebildes, wie Volksgruppensprachen heute in einem europäischen Einzelland, also einem Nationalitätenstaat wie Jugoslawien oder in einem Einheitsstaat wie Italien. Die dänische Sprache etwa würde von einem Bruchteil der Bevölkerung gesprochen werden, der nicht viel größer wäre als der Anteil der Rätoromanen an der Schweizer Gesamtbevölkerung, das heißt, er würde irgendwo in der Größenordnung von 1-2 Prozent liegen. Das sind dann ganz neue Sachverhalte, die uns zeigen, daß wir mit dem Begriff Volksgruppensprachen auch als einem relationalen Begriff arbeiten müssen, dessen Anwendungsbereich sich völlig ändern kann. Nun möchte ich zurückkommen auf das, was ich darüber sagte, daß die Sprache nach der konservativeren Auffassung als ein Höchstwert empfunden werde - als ein Höchstwert, nicht als der Höchstwert. Und ich möchte da nun einige unorthodoxe Betrachtungen anschließen, ohne mich zunächst auf sehr weitgehende grundsätzliche Folgerungen einzulassen. Schon was ich eben sagte über den vermutlich zu unterstellenden frühhistorischen oder prähistorischen Schrumpfungsvorgang in Europa, bedeutet, daß ja auch bei uns nicht immer nur relativ wenige Sprachen gesprochen wurden. Wenn nun aber in Ozeanien heute noch über tausend Sprachen gesprochen werden, davon allein 70O von den etwa 2 Mio. Einwohnern von Neu-Guinea, dürfen wir, bei aller Liebe für das Einzigartige von Sprachen, diesen Einwohnern von Neu-Guinea wünschen, und können wir es für möglich halten, daß sie alle diese Sprachen bewahren? Oder muß unvermeidlich ein Umsprachungsprozeß kommen und dann doch auch von uns im Abendland, ja von allen für die Zukunft der Menschheit mehr oder weniger mitverantwortlichen Mächten bejaht und gefördert werden? Es gibt noch viel näherliegende Beispiele, die uns veranlassen können, den Begriff Sprache nicht ohne eine gewisse Vorsicht als Höchstwert zu gebrauchen. Betrachten wir einmal einen be-

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stimmten Typ von ethnischen Gruppen in Europa, auf das ich mich bei diesem speziellen Thema jetzt im wesentlichen beschränken möchte. Wir finden da Gruppen, die zweisprachig in dem Sinne sind, daß ein Teil von ihnen

die eine Muttersprache, der Rest

aber eine andere Muttersprache hat und die sich trotzdem als eine Einheit empfinden. Die Mehrheit der Bretonen spricht schon seit langem nicht Bretonisch, sondern Französisch. Die Mehrheit der Iren spricht seit hundert Jahren Englisch und nicht Irisch. Bei Teilen der Basken liegt es ähnlich. Aber das Interessante daß als Identifikationsmerkmal für die Gesamtheit der

ist,

ethnischen

Gruppe die Sprache der Minderheit empfunden wird. Man benennt sich nach der bretonischen Sprache, nach der irischen Sprache, nach der baskischen Sprache, obwohl etwa in Navarra kaum noch ein Mensch baskisch spricht. Es gibt nun aber andere Fälle, wo wir ebenfalls zwei Sprachen finden, die die Muttersprachen der Bevölkerung sind, wo es aber die Sprache der Mehrheit ist,

die als Idendifikationsmerkmal

gilt und wo der Sprache der Minderheit nur ein wesentlich geringerer Wert beigelegt wird. Solche Beispiele finden wir in den Fällen, wo ein Teil der Bevölkerung Frankreichs Französisch, ein anderer Teil als Haussprache auch heute noch Okzitanisch oder wie man früher sagte, Provenzalisch hat,

und in Deutschland,

wenn ein Teil der Bevölkerung als Haussprache Niederdeutsch oder Niedersächsisch gebraucht, in Italien, wenn ein ganz bestimmter Teil der Bevölkerung sardischer und nicht italienischer Muttersprache ist,

in Polen, wenn ein winziger Teil der Bevölkerung

bis heute Kaschubisch und nicht Polnisch spricht, also eine besondere slawische Sprache, sich aber im wesentlichen doch als Polen empfindet. Hier kommen wir natürlich auf die Frage, ob eine etwaige, von diesen oder jenen Kreisen angestrebte Wiederbelebung solcher

dia-

lektisierter Sprachen, solcher soziologisch auf den Stand von Mundarten herabgesunkener Sprachen, ob die notwendig dazu führt, daß sich mit einer solchen sprachlichen

Wiederbelebung auch ein

neues ethnisches Zugehörigkeitsbewußtsein oder besser Nichtzugehörigkeitsbewußtsein verbindet. Führt also die Wiederbelebung und das ist

eine sehr zentrale Frage - einer Sprache notwendig

dazu, daß die Menschen, die diese Sprache wiederbelebt haben,

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sagen: Also wir sind nunmehr Okzitanier und keine Franzosen, wir sind Niedersachsen, oder wie immer man sich benennt, und keine Deutschen? Ich möchte diese Fragen nicht im einzelnen erörtern, sondern nur das Grundsätzliche sagen, daß selbst in einer Zeit wie dem 19. und 2O. Jahrhundert, in der die Sprache ein Faktor von überragender Bedeutung im Leben der Völker Europas geworden ist, daß selbst in dieser Zeit es ethnische Gemeinschaften gegeben hat und noch gibt, die zwei Sprachen gebrauchen und die, wie selbstverständlich, diejenigen Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe, die die andere Sprache als Muttersprache haben, als zu ihnen zugehörig betrachten. Das deutlichste Beispiel sind wohl die Iren, aber wir können auch auf die Norweger verweisen mit ihren, wenn auch sehr nahe verwandten, aber eben doch deutlich getrennten zwei Sprachen skandinavischen Ursprungs. Und ich erinnere daran, daß ein Wort - ich habe leider den Namen des Urhebers noch nicht wiederfinden können - , das im Frankreich des vorigen Jahrhunderts schon einmal gesprochen wurde von einem im kulturellen Sinne liberalen Manne, der angesichts der an Mistral und andere Provenzalen anknüpfenden Wiederbelebungsversuche des Okzitanischen sagte: Frankreich und mit ihm die französische Nation ist groß genug, um zwei Sprachen zu haben. Also ich glaube, wir dürfen es nicht fatalistisch so hinnehmen, daß eine erfolgreiche Sprachentfaltungsbewegung zu einer ethnischen, einer volklichen Separation führt. Ich weise nur noch ganz kurz darauf hin, daß dieses Problem, das ich hier angeschnitten habe, in Übersee eine sehr viel größere Rolle als in Europa spielt, daß speziell in China und Indien insgesamt Hunderte von Millionen Menschen mit solchen Sprachproblemen zu tun haben. Das Problem der chinesischen Sprachen, die vereinigt sind nur durch die eine Bilderschrift, und durch die zunehmende Verbreitung des Mandarin-Chinesischen, ist in Europa nicht genug im Allgemeinbewußtsein gegenwärtig. In Indien beobachten wir, wie die verhältnismäßig sehr junge Schriftsprache Hindi eine Reihe nahverwandter Sprachen, die auf eine weit ältere schriftsprachliche Tradition zurückblicken, in die Rolle von bloßen Dialekten des Hindi herunterdrückt.

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Nun will ich noch einiges darüber sagen, wie wir die Frage zu beurteilen haben, ob es denn nun wirklich so ein besonderer Wert sei, der mit den Volksgruppensprachen erhalten werde. Ich sagte ja schon: von einigen philosophischen Köpfen abgesehen denkt man dabei in erster Linie an die literarische Eigenleistung, die von diesen Volksgruppen geleistet wird. Da muß ich zunächst auf die Grundunterscheidung hinweisen, daß wir ja zwei ganz verschiedene Typen von Volksgruppen haben, nämlich die, die eine eigene Sprachgemeinschaft darstellen, also eine nur ihnen selber eigentümliche Sprache sprechen, z.B. Bretonen, Friesen, Basken, und solche, die die Außengruppen von größeren Sprachgemeinschaften darstellen und die mithin irgendwo in der Welt über ihren Nationalstaat verfügen, in dem ihre Sprache Amtssprache ist. Ich habe für diese beiden Gruppen in meiner "Ethnopolitik" die Ausdrücke Außengruppen und Eigengruppen (letzteres als Abkürzung für eigensprachliche Gruppen) vorgeschlagen. Der erste Ausdruck hat sich sogar, glaube ich, durchgesetzt - falls er nicht schon vorher bestand; ich erhebe keinen Anspruch auf die Vaterschaft. Der zweite hat weniger Verbreitung gefunden. Charakteristisch für Europa ist, daß in der Volksgruppenbewegung und in der Erörterung über Volksgruppen zwischen den beiden Weltkriegen als Folge der damaligen neuen Grenzen durchaus die Außengruppen, also etwa die der Madjaren und vor allem natürlich auch der Deutschen im Vordergrund standen. Indem was wir in Westeuropa als Volksgruppenbewegung haben, obwohl selbstverständlich auch Außengruppen beteiligt sind, dominieren heute eher die eigensprachlichen Gruppen mit ihren besonderen Problemen. Nun können wir fragen: Welches ist der Wert der Eigen-, welches der der Außengruppen? Sie können sagen: Das ist eine rein theoretische und irreale, oder besser gesagt unrealistische Frage, weil sie keinen Bezug auf die praktische Wirklichkeit hat. Sie hat einen großen Bezug auf die seelische Wirklichkeit, die hinter den Volksgruppen und in den ganzen Volksgruppenproblemen am Werke ist. Nun, der Wert der Eigengruppen ist insofern der größere, als ihre Sprachen eben eine besondere Art der Weltbetrachtung verkörpern und ihre Literaturen infolgedessen die Mög-

1O

lichkeit haben zu einer Art von Originalität, die einer Außengruppe in dieser Form naturgemäß nicht gegeben ist. Man könnte sich nun auf den Standpunkt stellen: Wenn z.B. also Südtirol entdeutscht würde oder wenn die Madjaren in Rumänien rumänisiert würden, dann wäre das Unglück für die Menschheit nicht so groß, wie wenn eine ganze Sprache, also etwa das Bardische, verschwindet, weil mit dieser besonderen Sprache ein ganz bestimmtes Instrument der Weltbetrachtung und der "Weltgestaltung im Wort" verloren geht. Das Gegenargument - wenn man das Ganze auf eine rein rationalistische Ebene projiziert, was ja eine nur bis zu einem gewissen Grad eine zulängliche Betrachtungsweise ist - ist dies, daß es Außengruppen selbstverständlich viel leichter haben, das, was in ihnen als schöpferischen Kräften liegt, zu artikulieren, weil sie ja das Instrument voll ausgebildet vorfinden, und daß außerdem ihre literarischen Produktionen, eben das, was sie gestalten mittels der Sprache, sich sehr viel rascher ausbreiten kann, sei es auch nur beim Muttervolk der Außengruppe, in ihrem Kernland, das ja doch diese Produktionen eifrig und gerne aufnehmen sollte, was allerdings in Deutschland heute gar nicht der Fall ist, aber z . B . bei den Franzosen und wohl bei den meisten Völkern Europas eine gewisse Selbstverständlichkeit ist. Und wenn es sich dabei sogar um eine Sprache handelt, die zudem noch eine sogenannte internationale Sprache ist, also als Fremdsprache eine gewisse Verbreitung bei dritten Völkern besitzt, dann kann diese Literatur sogar noch in fremde Völker unmittelbar hineinwirken. Das also ist bei den Eigengruppen so nicht möglich. Eine andere Unterscheidung, die wir da noch machen müssen, ist die, daß bei den Eigengruppen unterschieden werden muß zwischen sprachlich isolierten und sprachlich nah verwandten Volksgruppen. Ich meine hier das Wort "isoliert 1 nicht in dem eigentlichen, in dem üblichen Sinne von genetisch voll isolierten Sprachen, wie sie in Europa etwa das Baskische ist, sondern ich meine kommunikativ isolierte Sprachen. Albanisch z . B . ist zwar eine indogermanische Sprache, genetisch also nicht isoliert, aber was die Kommunikationsmöglichkeiten mit Anderssprachigen angeht, so ist der Unterschied zwischen der Isoliertheit von Albanisch und Baskisch oder auch von Baskisch und Bretonisch so entschei-

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dend nicht. Stellen wir uns nun vor, in Spanien würde heute im Zeichen eines Völker- und Sprachenföderalismus ein Jahrbuch erscheinen, in dem die Sprachen der Völker Spaniens zu Worte kommen. Sie finden also nicht nur spanische Beiträge, sondern auch katalanische, galizische und sogar vielleicht noch andere mundartliche, denn die Bestrebungen in Spanien, neue Mundarten auszubauen, sind ja erstaunlich groß. Diese Beiträge in galizischer, in katalanischer Sprache könnten von den Spaniern bis zu einem hohen Grade - natürlich je nach dem Thema - verstanden werden, mindestens soweit sie mehr allgemein-theoretische Inhalte und nicht zu sehr die Konkreta des Alltags behandeln. Diese Beiträge könnten in einem großen Maße aufgenommen werden, so wie Sie im Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft einen Beitrag in rätoromanischer Sprache durchaus abdrucken können; wenn er nicht zu speziellen Inhalts ist, kann ihn ein Franzose, kann ihn ein Italiener und kann ihn der des Französischen, wenn nicht auch des Italienischen kundige Deutschschweizer recht gut entziffern, so daß er zumindesten sieht, worum es denn da inhaltlich geht. Über das Ausmaß kann man natürlich streiten. Demgegenüber würde aber in dem fingierten spanischen Jahrbuch der baskische Beitrag in einer hoffnungslosen Isolierung stehen; das heißt, diese Barriere ist doch viel schwerer zu überspringen. Wenn Weisgerber einmal geschrieben hat , der bretonische Dichter de Villemarque habe 1839 in einem großen Dichtwerk, das ich hier nicht nenne, weil ich es falsch aussprechen würde, der Weltliteratur einen neuen Zug hinzugefügt, dann ist natürlich die ketzerische Frage möglich: "Ja, wir glauben Dir das, Du kannst ja bretonisch; aber wer außer Dir kann es denn?" Ich spreche es jetzt so dumm aus, wie man es eben nur denken muß und denken kann: Was haben eigentlich die anderen davon? Ich sage nicht, daß das meine Antwort ist auf diese Frage, aber man muß sich dieser Frage doch irgendwie auch stellen. Und dabei kommt man dann noch auf ein weiteres Problem, daß nämlich die Unzugänglichkeit steigt mit der Lyrik, also gerade mit dem Zweig der Dichtung, in dem sich das Unverwechselbare, Einmalige am allerstärksten ausdrückt, während man in der Prosa, vor allem der Sachprosa, in der man mehr oder weniger (wenn man nicht gerade über allerintimste Probleme der Dichtkunst oder Ähnliches

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schreibt , sondern nur Fragen z.B. der Wirtschaftgeographie behandelt, sich dann doch ziemlich ähnlich ausdrückt in den einzelnen Sprachen. Da ist die Zugänglichkeit dieser Texte sehr viel größer, aber der Eigenwert der Ausdrucksmöglichkeit, also der Möglichkeit, sich in eben dieser Sprache auszudrücken, ist umso geringer. Ich habe das einmal mit einer schematischen Gegenüberstellung ausgedrückt, die natürlich auch schon wieder eine schreckliche Vereinfachung bedeutet. V/er des Spanischen mächtig ist, muß bei der Übersetzung von katalanischen und baskischen Texten mindestens drei Schwierigkeitsgrade

bewältigen:

besonders leicht zu übersetzen

mittlerer Schwierigkeitsgrad

besonders schwer übersetzbar

katalanische Prosa

katalanische Lyrik baskische Prosa

baskische Lyrik

Die geringsten Ubersetzungschwierigkeiten haben wir bei katalanischer Prosa. Wesentlich größer sind sie bei katalanischer Lyrik und baskischer Prosa, und am größten bei baskischer Lyrik. - Diese Dreistufung setzt voraus, daß der Übersetzer sowohl Katalanisch wie Baskisch bereits vorher als Fremdsprachen erlernt hat. Für den Erlernungsvorgang selber aber müßten wir nicht drei sondern vier Schwierigkeitsgrade ansetzen, da es für den Spanischsprechenden natürlich wesentlich leichter ist, zum Verstehen katalanischer Lyrik vorzudringen als zum Verstehen selbst des einfachsten baskischen Prosatextes. Das sind Dinge, die man sich ruhig einmal vergegenwärtigen darf. Und jetzt kommen wir auf die Frage: Ja was ist eigentlich der Sinn all dieser Sprachemanzipationen? Ist die Pflege und Wiederbelebung von Sprache nicht überhaupt (um auf einen Lieblingsbegriff unserer Zeit zurückzugreifen) anti-emanipatorisch? Nun muß ich auf etwas verweisen - entschuldigen Sie, wenn ich da wieder auf mein Buch zurückkomme - ,was ich in der Einleitung zur "Ethnopolitik" skizzenhaft angedeutet habe . Wir haben in bezug auf die neuzeitliche Emanzipationsbewegung, der kein denkender Mensch schlechthin negativ gegenüberstehen kann, zwei Grundauffassungen: Nach der einen haben wir es letzten

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Endes nur mit einer Emanzipationsbewegung zu tun, nämlich der der Sozialschichten; wie Sie die nennen, ob Stände oder Klassen, das ist dabei sekundär. Alle anderen Emanzipationsbewegungen, etwa die der Frauen oder die der Weltanschauungsgemeinschaften und auch die der Sprachgemeinschaften sind derivater Natur und sind nur Begleiterscheinungen des sozialen Emanzipationsprozesses. Demgegenüber habe ich die Meinung vertreten in meinem Buch, daß man fünf Emanzipationsbewegungen unterscheiden darf und muß, die der Sozialschichten, die der Rassen, die der Weltanschauungsgemeinschaften, - vor allem natürlich der Kirchen, aber nicht nur der Kirchen - die der Frauen - in Wirklichkeit gibt es als Korrelativbewegung auch eine der Männer - und die der Sprachgemeinschaften. Die einseitig sozialemanzipatorische Auffassung ist verbreiteter, auch im Westen, als manche wahrhaben wollen. Ein frankokanadischer Wissenschaftler hat vor drei Jahren in Montreal auf einer Tagung die Formel gebraucht: Jede Sprachbewegung in unserer Zeit ist nur die Spitze eines Eisberg. Forscht man nach, dann findet man unter der Wasseroberfläche eine Fülle von Bewegungen, die viel komplexer sind und bei denen die sprachlichen Dinge ganz zurücktreten . Und damit werden wir natürlich auf die große Frage gestoßen: Stimmt es, daß Sprachemanzipationsbewegungen, alle Sprachverteidigungs- oder -erhaltungsberaühungen und alle Ausbaubemühungen eigentlich nur indirekter Ausdruck von sozialen Spannungen sind? Daß da sehr viel dran ist, kann man gar nicht leugnen. Mein Freund Walter Simon von der Universität Wien hat darüber sehr interessante Untersuchungen angestellt : Wann bei welchen Schichten gibt es denn überhaupt in der jüngeren Zeit so etwas wie sprachpolitische Spannungen und Erhaltungsbewegungen? Er hat auch herausgefunden, welche große Rolle die wirtschaftlichen Fragen spielen, wie etwq z.B. die Ausbreitung der Schulpflicht, aber vor allem auch die des Studiums. Eben ganz neue Aufstiegsprobleme sind entstanden, die untrennbar verknüpft sind mit der Frage: In welcher Sprache muß sich dieser Mensch, der da ausgebildet wird, später ausdrücken können, in welchem sprachlichen Milieu wird er sich später bewegen.

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Kein Zweifel also, dai? die Frage sehr ernsthaft gestellt werden kann, daß vor allem die romantische Einstellung, in der z.B. auch ich groß geworden bin - ich gehöre ja ausgesprochen der Generation an, die die Einstellung von 1920 vertritt - sicher zu einseitig ist. Aber in anderen Fällen muß man sich eben doch auch wieder fragen, ob das Ei zuerst da war oder die Henne. Es ist keineswegs immer so, daß das wirtschaftliche Problem der eigentliche treibende Faktor war. Es lassen sich auch ganz andere Beispiele denken. Man hat in den Kreisen derer, die einseitig sozialemanzipatorisch eingestellt sind, den Satz aufgestellt, daß eine Sprache vielfach ja nur deswegen verteidigt oder gar ausgebaut werde, weil sie unterdrückt werde, und der sicherste Weg, der Vielfalt der Sprachen ein Ende zu machen, sei ein allgemeines Sprachenrecht, das nicht aus der Hochschätzung, sondern aus der Geringschätzung der Sprachen geboren sei: "Laßt ihnen doch alle Freiheit und ihr werdet sehen, ihre Kinder und ihre Enkel werden die Sprache aufgeben." Solche Erwägungen spielen eine große Rolle z.B. (aber keineswegs nur) in der sowjetischen Sprachpolitik. Wenn ich nun zum Schluß noch ein Wort darüber sagen darf und ich kürze jetzt gegenüber den Stichworten, die ich mir vorgemerkt habe, erheblich ab - warum Sprachenunterdrückung verwerflich ist, dann möchte ich sagen, daß in der Sprachpolitik alle rationellen Gründe, die für oder gegen den Viert der Sprache sprechen, nicht das Ausschlaggebende sind, sondern ausschlaggebend ist zunächst einmal der Wille der Sprechergemeinschaft, ihre Sprache zu pflegen, ein Wunsch, der unbedingt zu achten ist, und zwar selbst dann, wenn man diesen Wunsch für völlig aussichtslos und überdies womöglich für rückschrittlich hält. Es ist vor kurzem in München ein Buch "Volksgruppenrecht" erschienen, das im Untertitel die Überschrift trägt "Ein Weg zur Friedenssicherung" 0 . Das ist sicher ein richtiges Wort, nicht wahr; Volksgruppenrecht ist u.a. auch deshalb nötig, weil es den äußeren Frieden gefährdet, wenn die Sprachen großer Sprachgemeinschaften unterdrückt werden, man denke nur an die sieben Millionen Katalanen oder die zwölf Millionen Kurden! Und doch möchte ich sagen, und damit möchte ich schließen, daß das eigentliche Motiv nicht der, sicher vollberechtigte, Wunsch, den äußeren Frieden zu sichern, sein sollte, sondern die

15 Achtung vor dem Schwächeren, die gerade dann bewährt und betätigt werden muß, wenn es sich um Gruppen handelt, die so klein sind, daß ihre Unterdrückung den äußeren Frieden gar nicht gefährdet 9 . Wenn wir die Bemühungen der 10OOO Nordfriesen,

die den unglaub-

lichen Versuch machen, im Rahmen eines SO-Millionen-Volkes ihre Sprache in Gestalt von fünf schriftsprachlichen Varianten zu pflegen, - wenn wir diesem Häuflein seine Bemühungen mit Gewalt unterbinden wollten, dann würde der äußere Friede in Europa dadurch nicht gefährdet. Aber auf lange Sicht würde vielleicht unser innerer Friede, der höher sein sollte als die Vernunft, langfristig gefährdet. Auf diesen Frieden, d.h. auf den Respekt vor den Rechten des Schwächeren kommt es an, und zwar gerade dann, wenn er, und das in eindeutiger Weise, sehr schwach, ist.

Anme rkungen 1 2

Kloss 1969:97-98. Grimes 1974:XII.

3

Weisgerber 1940:31 und dafzu Kloss 1 9 6 9 : 2 9 9 .

4 5 6

Kloss 1 9 6 9 : 2 9 0 Kloss 1969:21-30 Guy Piastre in: Minorites linguistiques 1 9 7 0 : 1 4 4 ; dazu Kloss an gleicher Stelle p. 184.

7 8 9

Simon 1979, s. bes. pp. 13-20. Wittmann/Bethlen (eds.) 198O. Kloss 1969:533.

Literatur GRIMES, Barbara F. Cal.

(ed.)

( 1 9 7 4 ) : Ethnologue. Huntingdon Beach,

KLOSS, Heinz ( 1 9 6 9 ) : Grundfragen der Ethnopolitik. Wien und (Bonn-)Godesberg. MINORITES LINGUISTIQUES (1978) = Minorites linguistiques et interventions. Essai de typologie. Linguistic Minorities and

16

Interventions. Towards a Typology. Quebec (= Travaux du Centre international de recherche sur le bilinguisme A-15). SIMON, Walter B. ( 1 9 7 9 ) : Kultureller Pluralismus als Ursache von Konflikten, als Herausforderung für Pädagogen, als Dilemma individueller und kollektiver Identität. Wien. WEISGERBER, Leo ( 1 9 4 0 ) : Das Bretonentum nach Raum, Zahl und Lebenskraft. Halle/Saale. WITTMANN F. / BETHLEN St., Graf (eds.) (1980): Volksgruppenrecht. Ein Beitrag zur Friedenssicherung. München und Wien.

DEMOKRATISCHE ZWEISPRACHIGKEIT IN EUROPA

(Möglichkeiten einer europäischen Sprachpolitik unter Berücksichtigung der sprachlichen Minderheiten) Helmar Frank

0.

Vorbemerkung

Der hier vorgetragene Ansatz kann sich nicht auf fundierte linguistische Kenntnisse stützen. Der Verfasser kam von kybernetisch-kommunikationswissenschaftlichen sowie von kulturpolitischen Interessen zu der hier behandelten Thematik. Der in Abschnitt 5 vertretene sprachpolitische Standpunkt ist das Ergebnis eines Diskussionsprozesses in der "Gesellschaft für sprachgrenzübergreifende europäische Verständigung (Europaklub) e . V . " , die der Verfasser 1978-198O leitete. (Vgl. insbesondere die Textbeiträge in der Vierteljahreszeitschrift "europa dokumentaro" Nr. 18/1978: 2 O f f . / Nr. 2O/1978: 1 9 f f . / Nr. 21/1979: 15ff.) 1.

Einschränkung des Begriffs "Europa"

1.1. Unter Europa wird hier nicht der geographische Begriff verstanden. Obgleich fast alle europäischen Länder die Schlußakte von Helsinki unterschrieben, ist vorläufig jeder Gedanke an eine gesamteuropäische Sprachpolitik Utopie. Denkbar ist die Entwicklung und Durchsetzung je einer gemeinsamen sprachpolitischen Konzeption einerseits für die Mitgliedsländer des Rates für wechselseitige Wirtschaftshilfe (Unterzeichner des Warschauer Paktes), andererseits für die vom Europäischen Parlament in Straßburg und Luxemburg sowie von der Hohen Kommission der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel repräsentierten 9 Länder des "Gemeinsamen Marktes" (das "Europa der N e u n " ) , oder vielleicht sogar für den erweiterten Bereich der 21 im Europarat in Straßburg vertretenen Länder. Unser im folgenden benutzter Begriff des (westlich-südlichen) Europa liegt zwischen den beiden zuletzt genannten Möglichkeiten: er umfaßt die - bis Dezember 198O - 9 EG-Länder zuzüglich der 4 sogenannten Erwartungsländer Griechenland, Portugal, Spanien und Türkei.

18 1.2.

In den bisherigen 9 EG-Ländern verteilen sich die 252

Millionen Einwohner o f f i z i e l l auf 7 Amtssprachen, während in den 4 Erwartungsländern mit zusammen 86 Millionen Einwohner je eine Sprache als Amtssprache o f f i z i a l i s i e r t wurde. Bild 1 zeigt die heutigen prozentualen Verteilungen dieser Sprachen sowie die Verteilung unter der (nicht vor dem Jahr 20OO realistischen) Hypothese einer Vereinigung aller 13 Länder zu einer west-südeuropäischen Föderation. Ersichtlich kann weder für eine t)berprivilegierung des Englischen noch des Französischen in Europa ein zahlenmäßiges Übergewicht als Argument dienen, wie es in der Schweiz zugunsten von Deutsch ( 7 O % ) , in der Sowjetunion

für

Russisch ( 5 O % ) und in der Indischen Republik für Hindi ( 4 O % ) geltend gemacht werden kann. Auch wenn man mittels der Angaben in Bild 2 die zahlenmäßige Stärke der einzelnen Sprechergemeinschaften mit deren Wirtschaftsleistung oder ihrem Lebensstandard gewichtet,

verbessert sich nur die französische Position

gegenüber der italienischen, nicht aber die englische gegenüber der deutschen. Schließlich kommt man auch zu keiner erheblichen Verschiebung der Zahlenverhältnisse ( j e d e n f a l l s nicht zugunsten

9 EG-Ländern (253 Millionen)

Sprachenverteilung in den 4 Erwartungslandern (86 Millionen)

1980: Irisch 0,2 MnHch ^

Griech, Portug.

13 Landern der westlich-südlichen europaischen Föderation

2000:

(heute : 338 Millionen)

Irisch 0.2 Dünlsch 1,5 W Grlech.

Bild 1: Sprachenverteilungen im jetzigen bzw. künftigen EG-Bereich. (Aus FRANK 1979: 1O)

19

Wirtschaftsleistung

Lebensstandard

Bruttosozialprodukt ie Einwohner 1972 in DM

Privater Verbrauch je Einwohner 1972 in DM*

inch Kaufkraft

Bild 2: Wirtschafts Leistung der jetzigen EG-Länder. (Aus THIEL 1977)

von Englisch oder Französisch), wenn man die Sprecher von Minderheitensprachen mit eigener Literatur (Baskisch, Korsisch, Bretonisch u . a . ) getrennt berücksichtigt, statt sie den Sprechern der für sie z . Z t . jeweils verbindlichen Nationalsprache zuzurechnen (vgl. KLEINZ 1 9 8 0 ) . 2.

Sprachrollen und Sprachklassen

2.1.

Ohne uns dabei auf fachlinguistische Konventionen berufen

zu können halten wir aus kommunikationswissenschaftlich-kybernetischer Sicht die folgende Unterscheidung zwischen vier Sprachrollen für naheliegend und insbesondere im Hinblick auf sprachpolitische Erwägungen für

zweckmäßig (FRANK 1 9 7 5 : 1 7 f . ) :

I . "Die b i o l o g i s c h e Rolle d e r Sprache besteht i n der durch sie ermöglichten (zunächst kognitiven und dann vielfach a f f e k t i v e n ) D i s k r i m i n i e r u n g des F r e m d l i n g s . D i e Sprache spielt also beim Menschen die gleiche Rolle wie der Nestgeruch bei vielen Tieren, was der heutige Schwabe durch das Wort " R e i ' g 1 schmeckt'r" zur Bezeichnung des Nichtstammesgenossen noch deutlicher zum Ausdruck bringt als im Altertum die Griechen durch das Wort "Barbar". Je schwerer eine Sprache zu erlernen ist, desto besser e r f ü l l t sie ihre biologische Funktion; z . B . hat schon der 10-jährige kaum mehr eine Chance, Englisch perfekt zu lernen, d . h . so, daß er nicht zumindest an seinem Akzent als Sprachausländer erkennbar bleibt. Analoges gilt (in geringerem Ausmaße!) von den schul- und firmenspezifischen Dialekten innerhalb der Fachsprachen.

20

II. "Die k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e Rolle d e r Sprache besteht in der durch sie erfolgenden B e w a h r u n g v o n geschichtlichen E r f a h r u n g e n e i n e s V o l k e s : dieses wird noch viele Probleme "deichseln" (= managen) und sich noch viele Beobachtungen "einprägen" (= ins Gedächtnis aufnehmen), wenn es schon längst nur noch mit Lastwagen transportiert und mit Papiergeld bezahlt. Daß Metaphern, Redewendungen und alle übrigen geschichtlich gewachsenen Besonderheiten unserer Sprache zusammen unser Denken ähnlich stark beeinflussen wie die verfügbare Unterprogrammbibliothek den Einsatz eines Großrechners, zeigt sich indirekt an einem Phänomen, das jedem vertraut ist, der schon zwischen verschiedenen Sprachen in beide Richtungen übersetzte. ... Das Längenverhältnis zweier "gleicher" Texte in verschiedenen Sprachen ist ... nicht gleich dem konstanten Verhältnis der jeweiligen Sprachredundanz, vielmehr führt die Bevorzugung sprachgebundener Denkmuster zu einem Zusatzaufwand bei der Übersetzung. III. "Die k o m m u n i k a t i v e Rolle d e r Sprache besteht in der sich ihrer als eines Codes bedienenden zwischenmenschlichen I n f o r m a t i o n s ü b e r m i t t l u n g über beliebige alltägliche, wissenschaftliche, politische, kommerzielle oder sonstige Sachverhalte oder Wünsche. IV. "Seit der Mitte unseres Jahrhunderts spielen rational geplante, algorithmische Sprachen eine ( k y b e r n e t i s c h e ) Rolle b e i d e r R e c h n e r p r o g r a m m i e r u n g , also d e r Codierung unserer Wünsche f ü r deren objektivierte (automatische) Erfüllung. Die automatische Sprachübersetzung ist für Sprachen mit einer n u r k y b e r n e t i s c h e n Rolle e i n bereits befriedigend gelöstes Problem, bei Einschränkung auf die k o m m u n i k a t i v e Rolle v o n Sprachen eine sinnvolle und teilweise schon bewältigte Aufgabenstellung, bei Mitberücksichtigung d e r k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e n Rolle fragwürdig u n d angesichts d e r biologischen Rolle widersinnig." 2 . 2 . Die sogenannten "maschineninternen Rechnersprachen" sind nur für die kybernetische Rolle geschaffen - kaum jemals wird durch sie Information von Mensch zu Mensch übertragen. Sie sind im Prinzip Ergebnisse voll bewußter, rationaler Entwicklungen, die nicht den Trägheitsgesetzen geschichtlichen Wachsens unterliegen und dessen Spuren als sprachliche Besonderheiten überliefern. Umgekehrt übernimmt eine Mundart (mindestens derzeit) keine kybernetische Rolle sondern überträgt Information nur von Mensch zu Mensch. Eine bewußte, rationale Entwicklung, also eine Sprachplanung, und eine Konservierung der so vereinbarten

21

Sprachnormen sind dazu desto weniger erforderlich, je enger die Lebensgemeinschaft der Sprecher dieser Mundart ist; diese kann sich im Prinzip völlig frei von sprachnormierenden Einflußnahmen (jedenfalls grundsätzlich stärker beeinflußt von der internen geschichtlichen Entwicklung und den auch sprachlichen Kontakten zu den Nachbarvölkern!) geschichtlich entwickeln. 2.3. Die anderen Arten von Sprachen bilden ein Spektrum zwischen diesen beiden polar einander entgegengesetzten Sprachklass e n (Bild 3 ) : b e i d e n (gesprochenen u n d g e s c h r i e b e n e n ) Nationalsprachen nimmt im Vergleich zu den Mundarten 5»

l i

.

» keinerlei Sprach— Planu ng; freie, geschichtliche Entwicklung

o

Mundarten

National·

/ill Zmchempnchen

Programmiersprachen

- interlinguistische

- algorithmten·

0

keinerlei Spuren geschichtlicher E ntw i c k l u n g ; freie, rationale Sprachplanung

Plamprachen

'

i * »

11 |

G ew i c h t s verteilung unter den Sprachrollen

kommunikative R.

kybernetische Rolle

biologische R.

Bild 3: Sprachspektrum und unterschiedliche Gewichtsverteilung unter den vier Sprachrollen, (Nach FRANK 1976)

die Wirkung der Sprachplanung gegenüber der freien geschichtlichen Entwicklung desto mehr zu, je jünger die Nationalsprache ist. Am anderen Ende des Spektrums, bei den algorithmischen Plansprachen, werden die Spuren geschichtlicher Entwicklung reicher, wenn man von den maschineninternen Sprachen über die

22

maschinennahen zu den problemorientierten Sprachen übergeht/ die heute in der angewandten Mathematik oft auch schon für die Publikation eines Verfahrens, also für Teile der zwischenmenschlichen, fachlichen Kommunikation verwendet werden. Zwischen dieser besonders "benutzerfreundlichen" Klasse algorithmischer Sprachen ( z . B . Algol, Fortran u . a . ) einerseits und den Nationalsprachen mit besonders auffälligen Planungseinflüssen andererseits bilden die (mindestens) hinsichtlich der grammatischen Struktur durchgeplanten "Zwischensprachen" (inter-lingvoj) eine eigene Klasse, die von manchen Philologen noch immer nicht, von vielen Kybernetikern schon nicht mehr als "missing link" im Sprachspektrum empfunden wird. Diese Klasse bildet den Gegenstand der in Deutschland bisher unterentwickelten (konstruktiven) Interlinguistik (vgl. z . B . CARLEVARO/LOBIN: 1 9 7 9 ) . Die "inter-lingvoj" werden gelegentlich als "interlinguistische Plansprachen" ausdrücklich den algorithmischen Plansprachen gegenübergestellt. Eine archaische Teilklasse der Zwischensprachen, nämlich die "a-priori-Sprachen", könnte schon als Klasse vorkybernetischer algoritnmischer Sprachen bezeichnet werden, während andererseits eine (dann als a-posteriori-Sprache bezeichnete) "inter-lingvo" im Extremfall (Occidental, Interlingua) ein vereinfachendes, gemeinsames Modell für die Sprachen einer ganzen Sprachfamilie (im Beispiel: der romanischen Sprachen) sein kann - und damit ein ideales gemeinsames Verständigungsmittel für die entsprechenden Völker. 2 . 4 . Die relativen Gewichte der vier Sprachrollen verändern sich längs des Sprachspektrums im Prinzip kontinuierlich. Während die biologische, die kulturgeschichtliche und die kommunikative Rolle bei den Mundarten, die noch keine kybernetische Rolle spielen, als gleichgewichtig eingeschätzt werden können, tritt - schon wegen ihrer jeweils breiteren Anwendungsbereiche bei den Nationalsprachen die biologische Rolle hinter der kommunikativen zurück. Je näher der Geltungsanspruch einer interlinguistischen Plansprache an den Anspruch auf Weltgeltung herankommt, desto konsequenter muß sie naturgemäß auf eine biologische Rolle verzichten. Da es aber auch weniger gemeinsame geschichtliche Erfahrungen der gesamten Menschheit als solche

23 einzelner Kulturgemeinschaften zu wahren gilt, kann auch die kulturgeschichtliche Rolle einer Zwischensprache nicht größer sein als die einer Nationalsprache. Die Hauptbedeutung einer interlinguistischen Plansprache liegt also in ihrer kommunikativen Rolle als weltweites Verständigungsmittel, dessen Optimierbarkeit im Hinblick auf dieses eingeschränkte Ziel demgemäß vergleichsweise wenig Beschränkungen unterworfen ist. Dabei wird es sogar möglich, daß eine echte Untermenge ( z . B . Progreso) einer Zwischensprache (im Beispiel: der meist "Esperanto" genannten Internacia Lingvo) auch der Rechnerprogrammierung dienen kann, also die kybernetische Rolle übernimmt. 3.

Klassifikation sprachpolitischer Standorte

Beim "Kolloquium zur europäischen Sprachpolitik", das die Europäische Akademie Otzenhausen 1979-O9-14/16 zusammen mit der Gesellschaft für sprachgrenzübergreifende europäische Verständigung (Europaklub) e . V . und dem Arbeitskreis für liberale europäische Sprachpolitik (ALEUS) e . V . durchführte, diente Bild 4 als Orientierungshilfe. Es versucht eine vollständige Klassifikation der denkmöglichen Lösungen des Sprachproblems, zunächst ohne die Frage nach der Machbarkeit innerhalb der künftigen südlich-westlichen europäischen Föderation, oder nach den jeweiligen Vor- und Nachteilen aufzuwerfen. Die nähere Erläuterung sei wörtlich dem Tagungsbändchen entnommen (FRANK 1979: 1 2 f f . ) . "Zwei a p r i o r i bestehende M ö g l i c h k e i t e n brauchen ... i m Falle d e r Europäischen Union nicht weiter bedacht zu werden, da sie an den e m p i r i s c h e n G e g e b e n h e i t e n scheitern: w e d e r kann jeder Bürger d e r Europäischen Union alle anderen in dieser Föderation bestehenden Amtssprachen, die nicht seine Muttersprachen sind, lernen (eine Lösung, die innerhalb von Irland, Belgien und Kanada mit je nur 2-3 Sprachen realistisch i s t ) , n o c h können jedem Europabürger bei Bedarf stets menschliche Übersetzerdienste zu bezahlbaren Bedingungen verfügbar gemacht werden. "Denkbar bleibt d i e s p r a c h k y b e r n e t i s c h e Lösung, daß vielleicht bis zum Jahre 20OO durch elektronische Taschendolmetscher eine ausreichende Lösung des Sprachproblems zustandekommt. "Praktiziert wird schon d i e s p r a c h h e l v e t i s t i s c h e Lösung, bei der eben mehrere Fremdsprachen

24

gelernt werden; gelernt wird zwar nicht jede Sprache durch a l l e , aber doch j e d e europäische Sprache (selbst die irische) durch einen Teil der Sprachausländer, wobei d i e T e n d e n z besteht, einige a u s g e w ä h l t e Sprachen, nämlich Englisch und Französisch, durch a l l e lernen z u lassen (sog. b i l i n g u i s t i s c h e Sprachpolitik). Dies kann auch als Anfang eines Weges zur Konzentration a u f e i n e e i n z i g e dieser beiden bevorzugten Sprachen verstanden werden, die dann Vorrangsprache oder Leitsprache genannt wird; damit wird die "sprachhegemonistische" oder "sprachfeudalistische" Lösung des Sprachproblems beabsichtigt, wie sie in Indien mit der Vorrangsprache Hindi verfassungsmäßig versucht aber bisher nur ansatzweise im Alltag realisiert wurde. Sprachgrenzprobleme werden überwunden

trotz Beibehaltung der Nationalsprachenl durch bisherigen Nationalserachen. Einheitssprache Ist

gemeinsamen ndlgungssprache. ODiese ist RRENVOLKSPRACHF sen« Imperium)

f VORRANÖSPRACHE gemeinsame ZWEITSPRACHE d.h. Sprache eines Qberprlvileglerund zwar ten Partnervolkes ^-^*~( (Indien de jure! 1 tote inter- ' National- linguistische Sprache (Plan-)Sprache

Menschen

ERSATZSPRACHE und zwar

XV^. ^-^ * ü; Negationspartikel pa; meg "medico 1 , mateysa " m e d e s i m a 1 ) . Morosi vermutet das Herkunftsgebiet des Dialektes auf Grund sprachlicher Übereinstimmungen mit den 14 dortigen Dialekten im Tal des Pellice, und zwar in Bobbio , schließt aber Einflüsse benachbarter Dialekte nicht aus. Die Zahl der kompetenten Dialektsprecher ist schwer zu schätzen, sie dürfte in Guardia selbst (einschließlich Guardia Marina, jedoch ohne Emigranten) kaum wesentlich höher sein als 600 . Bis vor wenigen Jahrzehnten wurden in Guardia noch zwei unterschiedliche Varianten des Dialektes gesprochen. Die Dialektgrenze, die auf der Wiederbesiedelung des Ortes nach der Verfolgung 1561 durch Bewohner verschiedener Orte beruhte, war identisch mit einer den Ort durchschneidenden Straße, die den Ortsteil La Manca vom übrigen Ort trennt. Heute sind Unterschiede in seltenen Fällen noch im lautlichen Bereich festzustellen. Der Dialekt hat sich 5 Jahrhunderte lang auf Grund der selbst gewählten, geschichtlich begründeten Isolation der Einwohner sehr gut erhalten, verändert sich jedoch seit einigen Jahrzehnten in zunehmendem Maße. Ein Vergleich zwischen den Ergebnissen 1

fi

17

von Morosi (vor 1888) , Rohlfs ( 1 9 2 4 ) und meinen en Aufnahmen (September 198O) macht diese Entwicklung deutlich 18

45

vor 1888

1924

198O

1. I n f . * (ca. 65 J.)

2. I n f . (ca. 30 J . )

3. I n f . (12 J . )

cavallo

kavlyl

kaväl

kaväld3

kavä w d3

kavädd

crudo

krü

krü

krce

kroe

krce

ella

ii

yiia

yiddy3

yigga

luna

lüna

Idüna

ddcenS

ddoän3

*

* · ·

occhio

eel

del *

orecchio

orela

orel

yorelt

osso

0

de

paglia

paya

pal 3

oe c pal 3

Stella

stela

Stil3

Itel3

tu

tu

uva

üy

a

üy

c

8

deddy3

cfegg3

c c ce

c c

päldy3

ce c päddyS • *

c

ste!9 c

c

tu

toe

toe

cey3

cey3

cey3



* I n f . = Informant, J. = Jahre Besonders weit fortgeschritten ist die Entwicklung im lautlichen Bereich. Auf Grund des mir bisher vorliegenden Materials scheint sich das bislang funktionierende Phonemsystem der Vokal e ( 1 ) z u vereinfachen ( 2 ) . ü

(D

e c

u

OB C

O

c

o

a

/vi/ : /ve/ *

('viti1 : 'vite');

/gu/ : /go/

('giogo 1 : ' g i o v e d i ' ) ;

/may/ : /may/ ( ' m a i 1 : ' p i u ' ) , vgl. MOROSI 189O: 392; /ü/ mit den Allophonen [ü] und [ce] (vgl. MOROSI 1890: 39O: nüna = noena 'nessuna'). •

46

In gewissem Umfang scheint in diesem archaischen Vokalsystem auch die Quantität phonologisch relevant gewesen zu sein: /a/

:

/ä/

(Präp. a : Präp. a + Artikel _il = al, vgl. MOROSI 1890: 39O, Nr. 1 8 2 ) ;

/lu/ :

/lü/

(Artikel il_ : Pronomen loro, vgl. MOROSI 189O:

39O, N r . 182 und 1 8 3 ) ; /mi/ :

/ml/

(2)

i

(miei : mie, vgl. MOROSI 189O: 39O, Nr. 1 8 5 ) . ü

ec

u

oec

o c

/ü/ mit den Allophonen [ü] und [os]; /u/ mit den Allophonen [u] und [o]. Während im Dialekt der jüngeren Generation bei den gespreizten Palatalvokalen

noch alle drei Öffnungsgrade

renzierend sind ( / s i r / : /ser/ - 'cera 'sei

1

1

bedeutungsdiffe-

: ' s e r a ' ; /se/ : /se/ -

: ' s i e t e ' ) , findet bei den gerundeten Vokalen eine Reduk-

tion statt. Es läßt sich zwar noch /o/ zu [o] oder [u] in Opposition bringen, nicht aber [o] zu [ u ] . Möglich ist,

daß hier der sich verstärkende Einfluß des Kala19 brischen erste Wirkung zeigt ; Guardia liegt in dem Bereich Süditaliens, in dem das sizilianische Vokalsystem wirksam ist (klat. i./

.» e > i:; u, ü, o > u) .

Es bleibt abzuwarten, ob diese Entwicklung sich durchsetzen wird, was möglicherweise die Aufgabe einer der jeweiligen Varianten zur Folge haben könnte. Nicht vorhersehbar ist auch, welche Entwicklung die gespreizten Palatalvokale nehmen. Möglich (und auf Grund des Einflusses süditalienischer Dialekte wahrscheinlich) ist

ein Zusammenfall der Phoneme /i/ und /£/, sofern die

funktioneile Belastung dieser Opposition nicht größer ist

als

die der Opposition /e/ : / e / . Ein mögliches zukünftiges Vokalsystem sähe folgendermaßen

aus:

47 (3)

i

ü

ec

u

oe c

oc

Aber hiermit begeben wir uns bereits in den Bereich der phonologischen Spekulation. Tatsache ist,

daß der Dialekt von Guardia trotz der (im Ver-

gleich zu anderen süditalienischen Ortschaften)

geringen Kontak-

te der Einwohner zu benachbarten Gemeinden immer stärker unter den E i n f l u ß der Hochsprache (durch Kommunikationsmittel, Schule etc.) und des Kalabrischen gerät

. Nach Ansicht von Eros Gai

hat der Dialekt "subito negli Ultimi decenni una paurosa trasformazione, ehe fa temere per la sua sopravvivenza

se non inter-

vengano fattori esterni ehe possono salvarlo". Ein erster Schritt zur "Rettung" des Dialekts ist der nach Jahrhunderten wiederbelebte Kontakt zu den Bewohnern der Waldensertäler in Piemont und der Versuch, mit ihrer Hilfe ein Graphiesystem zu erstellen. Eine Grammatik müßte erarbeitet, der Wortschatz inventarisiert werden. Dann erst könnte man, wenn auch nur auf freiwilliger Basis, den Dialekt in der Schule un21 terrichten . Fromme Wünsche? Nicht, so glaube ich, wenn den Einwohnern bewußt wird, daß sie mit ihrem Dialekt einen großen Teil - heute vielleicht den wichtigsten Teil - ihrer Identität aufgeben würden. Ein Bewußtsein für die Vergangenheit ist

vor-

handen, es könnte auch für die Gegenwart geweckt werden. Der Wille, den Dialekt zu sprechen, ist

vorhanden. Die Chancen

ste-

hen nicht schlecht!

Anmerkungen 1

Zur Grenze zwischen dem Okzitanischen und dem Italienischen vgl. BEC 1973: 1 1 - 1 2 .

2

Vgl. MOROSI 189O: 325, Anm. 2; vgl. dazu ebenfalls BERCHEM 1973: 33-35.

3

VEGEZZI-RUSCALLA 1862: 161-193.

4

LOMBARD 1881 .

48 5

MOROSI 189O: 325, Anm.

2.

6

MOROSI 1890:

2.

7

MONTANELLI / GERVASO 1975:

325, Anm.

439.

"Heute früh wurde erneut damit begonnen, diese Lutheraner (so hießen damals alle Ketzer) auf so grausame Weise hinzurichten, daß schon allein der Gedanke daran entsetzlich ist. Sie waren alle in ein Haus gesperrt, und es kam der Henker und holte einen nach dem anderen und legte ihm eine Binde vor die Augen, und dann nahm er ihn mit zu einem großen Platz, nicht weit entfernt von jenem Haus und ließ ihn niederknien, und mit einem Messer durchschnitt er ihm die Kehle und ließ ihn so liegen; dann nahm er die blutverschmierte Augenbinde, und mit dem dampfenden Messer kehrte er zurück, um den nächsten zu holen und verfuhr mit ihm ebenso .. Schon sind die angeforderten Karren herbeigebracht worden, und alle ^Personen] werden gevierteilt werden und sie werden sich Hand in Hand auf der Straße aufstellen, auf der sich der Handel bis an die Grenzen Kalabriens abspielt ... Es wurde angeordnet, heute hundert von den ältesten Frauen kommen zu lassen und sie zu foltern und anschließend auch sie hinzurichten, um das richtige Zahlenverhältnis zu erhalten ... In elf Tagen wurden zweitausend Seelen hingerichtet; und es sind noch eintausendsechshundert Verurteilte in Gefangenschaft, und auf dem Lande sind hundert und mehr ermordet worden." (Deutsche Übersetzung) 8

MOROSI 189O: 326, Anm. 1.

9

Vgl. JABERG / JUD 1928-40: Karte 1.

10

Vgl. ISTITUTO GEOGRAFICO DE AGOSTINI 1968:

11

Stand Juli 198O, nach Auskunft der Gemeindeverwaltung.

12

DE MAURO 1978: 152.

13

Gai ist Lehrer an der scuola elementare in Guardia und lebt dort seit 1951. MOROSI 189O: 327, im Gegensatz zu PERRIN 1619: 196, der Pragelato im Chisone-Tal annimmt. Vgl. auch MOROSI 189O: 393. Morosi stützt sich u.a. auf die lautlichen Entwicklun— ' ' * gen von klat. a^ e, 8], j[], -itta (> -ütt) , -li-, Kons. + \ -kt-, außerdem auf die in Guardia erhaltenen Familiennamen wie Muglia, Martilotti, Oliveri, Perrone, Funda, die ebenfalls im Pellice-Tal auftreten. SALVI 1975: 174 gibt die Zahl 2.0OO an, rechnet hier aber anscheinend die Emigranten mit. Vgl. MOROSI 189O: 3 2 9 . Vgl. JABERG / JUD 1928: 127. Die Ergebnisse sind festgehalten im AIS (= JABERG / JUD 1928-4O) unter Punkt 760.

14

15 16 17

335.

49

18

Es wird hier die im AIS gebräuchliche Transkription verwendet

(vgl. JABERG / JUD 1928: 2 4 - 3 6 ) . Morosis Transkription

wird in diesem Sinne abgewandelt. 19

Bis heute ist

die Kenntnis des Kalabrischen wesentlich ge-

ringer einzuschätzen als die der Standardsprache. 20

Hier spielen jedoch die sich verstärkenden Kontakte nach außen (besonders bei der jüngeren Generation) eine Rolle. Verkehrstechnisch wird der Kontakt durch eine vor wenigen Jahren fertiggestellte "superstrada", die Guardia berührt, wesentlich erleichtert. Theodor Berchem, der den Ort 1 9 6 5 besuchte, fand noch folgende Situation vor: Der kürzeste Weg hinauf ist ein mühsamer 4 1/2 km langer M a u l t i e r p f a d . Die normale, ständig in Serpentinen sich windende und bis heute nicht asphaltierte Straße ist 9 km lang. Sie erlaubt eine regelmäßige Busverbindung mit der Bahnstation morgens, mittags und abends. Unter diesen Umständen wird es weniger verwundern, daß die Mundart ( . . . ) vorzüglich erhalten ist und vom jüngsten bis zum ältesten Einwohner gesprochen wird. Es gibt sogar noch ältere Frauen, die des Italienischen überhaupt nicht mächtig sind, dieses zwar verstehen, aber in der Mundart antworten. (BERCHEM 1 9 7 3 : 3 3 ) .

21

All das kann natürlich die Originalität des Dialekts beeinflussen.

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51

Pragelato

orinc

Pellice

10

20

30

km

Cuneo

,Guardia Piemontese Guardia Marinst Fuscaldo^ Paola

OMontalto OS. Sisto QCosenza

10

30 km

SPRACHLICHE MINDERHEITEN IN EUROPA AM BEISPIEL DES KALABROALBANISCHEN Rupprecht Rohr

Die vielen sprachlichen Minderheiten in Europa befinden sich in sehr unterschiedlichen soziologischen und sprachsoziologischen Situationen, die sich in den unterschiedlichen

linguistischen

Strukturen der Minderheitensprachen widerspiegeln. Bei einer synchronen Betrachtungsweise ist

die kommunikative Verwendung der

Minderheitensprache gegenüber der dominanten Staatssprache das betreffende Beobachtungsfeld; bei einer diachronen Betrachtungsweise muß die zwischen den beiden Sprachen durch den Kontakt entstandene und bereits lexikalisierte und grammatikalisierte Interferenz festgestellt und interpretiert werden. In dieser Untersuchung soll demgemäß diachronisch der Interferenzstatus

des Kala-

bro-Albanischen nördlich von Cosenza in einzelnen wichtigen Zügen beschrieben und analysiert werden. Die Geschichte der albanischen Besiedlung einiger Teile Kalabriens im 15. und 16. Jahrhundert ist

bereits öfter dargestellt worden /

weswegen hier ein kurzer Abriß genügt. Dabei sind drei historische Ereignisse in den Vordergrund zu stellen: Die Verwendung albanischer Söldner durch das Haus Aragon zur Festigung der Herrschaft in Süditalien insbesondere gegen den Landadel im 15. Jahrhundert, die Flucht vieler Albaner nach Italien und insbesondere nach Kalabrien vor den türkischen Invasoren auf der Balkanhalbinsel in der Mitte des 15. Jahrhunderts und das furchtbare Erdbeben vom 5 . 1 2 . 1 4 5 6 , das weite Gebiete Süditaliens seiner Bevölkerung beraubte und wonach Albaner dort neu angesiedelt wurden. Dabei kann man die hauptsächliche Besiedlungszeit etwa in den Zeitraum zwischen 144O und 1480 legen. Es ist

dabei zu bemerken, daß die Albaner frühzeitig

in diesem

Raum administrative Aufgaben e r f ü l l t e n , wobei die Familie Kastriota eine führende Rolle einnahm, die sich auch im Kampf gegen die Türken auf der Balkanhalbinsel ausgezeichnet hat.

Ihr ge-

hörte als bedeutendste historische Persönlichkeit Georg Kastriota

54

an, der unter dem Namen Skanderbeg (etwa 'Fürst Alexander 1 ) von den Albanern verehrte Nationalheld, dessen Gedächtnis noch überall

bei den Albanern sehr lebendig ist

und um den sich zahllose

in Heldenepen besungene Legenden ranken. Dessen Vater Demetrius Kastriota hatte nun bereits im Dienste Alfons I.

in Süditalien

die Stellung eines "Governatore della Calabria Ulteriore" eingenommen. Er war schon 144O nach Italien gekommen, und in seine Zeit fallen die ersten wichtigen Besiedlungen. Die hier behandelten Siedlungsgebiete dürften demnach in der Zeit zwischen 145O und 146O besiedelt worden ein. Die Albaner haben in Italien wirklich eine neue Heimat gefunden und fühlen sich heute als Italiener. Ihre besondere Stellung in Italien haben sie sich insbesondere dadurch erworben, daß sie sich von Anfang an immer wieder in staatlichen Dingen engagiert haben, vor allem aber bei den Kämpfen zur Befreiung und Einigung Italiens unter Garibaldi . H i e r ist

z . B . der 1818 geborene Siculo-

Albaner Crispi zu nennen, der an der Revolution 1848 teilnahm, später zusammen mit Garibaldi und Cavour die Einigung Italiens erkämpfte und in seinen letzten Lebensjahren Ministerpräsident Italiens gewesen

ist.

Diese aktive Mitarbeit führte zu einem Dekret Garibaldis vom 2O. Oktober 1860, worin er "in considerazione dei segnalati servigi resi alia causa nazionale dai prodi e generosi albanesi, cessati i bisogni della guerra e costituita l'Italia con Vittorio Ema4 nuele" verspricht, mit aus staatlichen Mitteln zu zahlenden 120OO Dukaten das Collegio von San Demetrio Corone zu unterstützen, das ein Zentrum albanischer Kultur war, und woraus die führenden Persönlichkeiten der Aufstände von 1844 und 1848 hervorgegangen waren. Das Collegio italo-greco "Corsini" hat als Ausbildungsstätte vieler albanischer Dichter bis zum Anfang des 20. Jh. gedient. Es wurde in der ersten Hälfte des 18. Jh. von Felix Samuel Rodotä unter Papst Clemens X I I . in San Benedetto Ullano gegründet und später nach San Demetrio verlegt. Es wurde zum Zentrum der ethischen, geistigen und intellektuellen Erziehung der Albaner Kalabriens und diente gleichzeitig der Pflege der christlichen Tradition der Albaner. Es wurde 1 9 2 2 in eine staatliche Schule umgewandelt, was für die Albaner den Verlust eines kostba-

55

ren kulturellen Mittelpunkts bedeutete.Allerdings gibt es Bestrebungen in neuester Zeit, ein ähnliches Institut am ursprünglichen Standort in San Benedetto Ullano zu errichten. Einer der bedeutendsten Schüler dieses Instituts war Girolamo de Rada, der in seinem Gedicht Milosao im Jahre 1836 die Idee eines neuen Albaniens entwickelte und in seinem Epos, das Skanderbeg besingt, die eigentliche Nationalidee Albaniens schuf. Seine politischen und kulturpolitischen Aktivitäten sind ein Beispiel, inwiefern die Italo-Albaner an der Wiedererweckung des albanischen Staates und der albanischen Nation teilgenommen haben. Eins seiner späten Werke, die Rapsodie d'un Poema Albanese ( 1 8 6 6 ) , wurde zum "poema della nazione albanese" . Betrachtet man die Bevölkerungszahlen allein in der Provinz Cosenza, so läßt sich feststellen, daß 1971 in 24 Gemeinden ca. 420OO Albaneser gezählt wurden, allerdings 1OOOO weniger als

noch

im Jahre 1951 , was aber auch die gesamte Problematik Süditaliens widerspiegelt; denn die Verluste gehen wohl eher auf das Konto der Abwanderung der Bevölkerung aus ländlichen Gebieten. Das ist deutlich an der Bevölkerungszunahme in Spezzano Albanese von 6247 Einwohnern im Jahre 1951 auf 6 4 2 1 im Jahre 1 9 7 1 zu sehen. Hier ist

eine wichtige Eisenbahnstation, von wo aus Autobusverbin-

dungen nach allen Richtungen bestehen, und es ist rer

Standort mehre-

industrieller Unternehmen. Wenn man die Angaben mit den Bevöl-

kerungszahlen des vorigen Jahrhunderts vergleicht, ist mit einem Ansteigen ihrer Zahl bis in die erste Hälfte des 2O. Jahrhunderts zu rechnen. Seit der Mitte der siebziger Jahre sind Initiativen entwickelt worden, dem Albanischen in irgendeiner Form einen legitimen Minderheitenstatus zu gewähren. So wurde am 3. August 1978 von der "Commissione Regionale di politica sociale" ein

Entwurf für ein

Gesetz vorgelegt, durch welches das kulturelle Erbe der Minderheiten in Kalabrien im Bereich von Geschichte, Kunst, Folklore und Sprache geschützt werden soll. Dabei wird insbesondere auch das Schulproblem angesprochen und die Lehre des Albanischen ins Auge gefaßt. Daraus ergeben sich mancherlei Probleme, denn jeder Ort hat dialektale Abweichungen, und eine kalabro-albanische Gemeinsprache gibt es nicht .

56 Aufgrund der Geschlossenheit der Siedlung, der kulturellen und politischen Geschichte und der konfessionellen Tradition ist jedoch bei aller lokalen Verschiedenheit festzustellen, daß sich in diesem Raum das Albanische in seiner Struktur durch das Italienische ziemlich unbeeinflußt zeigt, wenn man von den Änderungen im Wortschatz absieht, die allerdings erheblich sind. Das zeigt sich an der folgenden Tabelle. Von insgesamt 1O89 Substantiven, die D

auf dem AIS nachgefragt wurden, ergibt sich die folgende Verteilung (nach Sachgruppen, und inwieweit albanische Wörter vorliegen oder Entlehnungen aus dem Italienischen und Griechischen; Zahlen in P r o z e n t ) :

Sachgruppe

Albanisch

Italienisch

Griechisch

82 38 54

18 58 34

0 4 12

40 32

13 7

Pflanzen Tiere übrige

46 61 65 60 61

30

5

37

3

34

5

zusammen

57

37

6

Der Mensch (Körper, Alter, Verwandtschaft) Die Siedlung Ackerbau Textilien Viehzucht

Bei den Adjektiven und Verben ist der Anteil der italienischen Wörter naturgemäß geringer. Die italienischen Wörter sind bei weitem überwiegend in ihrer mundartlichen Form übernommen worden, wobei der südkalabrische Dialekt überwiegt. So zeigen lat. 1 und Z im kal.alb. i : lat. ctsta > kal.alb. fiste (ital. aesta). Genauso bleiben lat. u und u erhalten: lat. puteus > kal.alb. puc 'Ziehbrunnen' (ital. pozzo). Außerdem werden lat. e > und ö > u wie im Kalabrischen: lat. catena > kal.alb. katine und lat. oredere > kal.alb. kirdhirni; lat. pöpulus 'Pappel* über *plöppus > qup 'Pappel 1 . In der Entwicklung von lat. e und & zeigen sich die Spuren des i-

57

und u-Umlauts in der Entwicklung zu je und üa in freier und gedeckter Stellung, was eher für das Nordkalabrische charakteristisch ist:

lat. rubaeaeus > kal.alb. ruvjee

contentus > kal.alb. kutjend kal.alb. kampanjuall

' z u f r i e d e n ' , lat. 1

' B a u e r , lat.

'Rotkehlchen 1 , lat. *campaniolus >

linteolum > kal.alb. llunxuall

'Leintuch'. Die dialektale Qualität zeigt sich ebenfalls in einer Reihe von Konsonantenentwicklungen, sowohl im Anlaut wie im Inlaut. So die Entwicklung von lat. kal.alb. krudh 'roh' und lat.

d > kal.alb. dh: lat.

de post > kal.alb. dhopu

crudus > 'nach1.

Nur sehr wenige Wörter stammen aus der Schriftsprache, insbesondere, wenn in der heutigen italienischen Mundart ebenfalls das schriftsprachliche Wort verwendet wird. In bezug auf die albanische Lautstruktur der Erbwörter kann man sagen, daß eine Abweichung vor allem bei den Vokalen 8 und y vorliegt, wobei zu bemerken ist,

daß das Kalabro-Albanische im we-

sentlichen toskische Züge trägt. Der betonte Vokal e erscheint kal.alb. als offenes o, z . B . alb. hene 'Montag': kal.alb. hon, aber auch als geschlossenes a: alb. Bei folgendem n oder m wurden o oder

tere ' g a n z ' : kal.alb. tar. leicht nasaliert:

alb.

1

mendr'e ' H e r d e : kal.alb. mdndre bzw. mändre. Hierbei gibt es von Ort zu Ort die meisten Varianten. Das unbetonte S wird kaum gesprochen, was aber auch vom Mutterland zu sagen ist.

Ähnlich

ver-

hält es sich mit dem Vokal y, der im Kalabro-Albanischen als i a u f t r i t t , wie auch in allen anderen italo-albanischen Mundarten. Aber auch diese Entwicklung ist den. Bei den Konsonanten ist I I im Kalabro-Albanischen alb.

insbesondere zu bemerken, daß alb.

seine Velarität verloren hat,

l im Kalabro-Albanischen

re Abweichung ist,

in Albanien selbst häufig zu fin-

daß alb.

dagegen

palatal gesprochen wird. Eine ande-

h in einer Reihe von Wörtern zu /

wird, wie auch im Gegischen. Insgesamt kann man aber sagen, daß die Veränderungen alle inner-albanisch erklärt werden können und kein italienischer Einfluß vorliegt. Das gleiche gilt auch für die Morphologie und für die Morphosyntax. In bezug auf die lange kulturelle und politische Tradition, die1 in den kalabro-albanischen Siedlungen lebt, und den kommunikativen und poetischen Wert ihrer sorgfältig bewahrten Sprache kann man sich mit voller Überzeugung dem Appell von Dhimiter Emmanuele

58

an das europäische Parlament anschließen: "La nostra battaglia [ f ü r kulturelle Autonomie] non e rivolta alia creazione di "riserve" o "musei mummificati", ma piuttosto intendiamo proporre la riscoperta e la valorizzazione di "culture diverse" quäle apporto culturale, linguistico, etnico e storico." Am Ende seines Appells sagt er:

"Parafrasando Leonardo Sciascia: Culturalmente dobbiamo

sentirci Europei, a Strasburgo potremo far sorgere il nostro Q essere Arbresh?" .

Anmerkungen Umfassende Darstellung bei Scaglione, Storia degli Albanesi a'Italia, New York 1 9 2 1 . Ernesto Koliqi, "Pascuale Trifilio, combattente garibaldino e poeta albanese", in: Shejzat 5 ( 1 9 6 1 ) , 75-80. Über die Rolle der Albaner siehe Domenico Licursi, "II contributo italo-albanese all 1 unitä italiana", in: Shejzat 5 ( 1 9 6 1 ) , 2 6 1 - 2 6 2 ; Serafino Groppa, Gli Italo-Albanesi nella lotto, dell' Indipendenza, Bari 1 9 1 2 ; Salvatore Petrotta, "II contribute dei Siculo-Albanesi alia indipendenza ed unitä d 1 I t a l i a " , in: Collaborazione Mediterranea 5 (Juli-Dez. 1 9 6 0 ) , Heft-Nr. 4-6. Zitiert aus Giovanni Laviola, "Attese lunghe e vane degli italo-albanesi", in: Katundi Ine 8 ( 1 9 7 7 / 1 ) , 3. Zitiert aus Elio Miracco, "Le Rapsodie d ' u n poema albanese e Gerolamo De Rada", in: Katundi Yne l (Okt. 1 9 7 6 ) , 19. Die Zahlen kommen aus einer Aufstellung in Katundi Yne 7 ( 1 9 7 6 ) , 4. Die Gemeinden sind: Acquaformosa, Castroreggio, Cerzeto, Civita, Falconara Albanese, Firmo, Frascineto, Lungro, Plataci, San Basile, San Benedetto Ullano, S. Catarina Albanese, S. Cosmo Albanese, S. Demetrio Corone, S. Giorgio Albanese, San Martino di Finita, S. Sofia d ' E p i r o , Spezzano Albanese, Vaccarizzo Albanese. Darüber wird ausführlich in Katundi Yne 9 ( 1 9 7 8 / 3 ) berichtet, wie auch in den folgenden Ausgaben. Inzwischen sind viele Initiativen angelaufen, die Unterrichtssprache Albanisch in ihrer Form festzulegen (vgl. in der gleichen Zeitschr. 1O ( 1 9 7 9 / 2 ) y 2-5). AIS, Abkürzung des italienischen Sprachatlas von K. Jaberg, J. Jud, Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südsohweiz, 8 Bde., Zofingen 1928-1940; der Punkt 751 weist albanisches Material a u f . Dhimiter Emmanuele, "Europa e minoranze. Appello al nuovo parlamento", in: Katundi Yne 1O ( 1 9 7 9 / 2 ) , 1.

RESULTATE DES KONTAKTES DER KROATISCHEN STANDARDSPRACHE MIT DER URBANEN UMGANGSSPRACHE ZAGREBS

Antun Sojat

1. Das Zagreber Kajkavisohe

ist

die Koine nicht nur der Altein-

gesessenen, sondern auch eines Teils der Neuzuwanderer in ZagräD, welche Träger der verschiedensten Dialekte sind. Neben dieser städtischen SubStandardsprache gibt es in der Zagreber Sprachwirklichkeit auch das Standard-Stokavische, welches in einer großen Zahl sozialer Beziehungen und Sprechsituationen nicht austauschbar, das einzig Mögliche

ist.

Diese beiden sozial angesehenen Idiome wirken ständig aufeinander ein und druchdringen sich gegenseitig. Einige stokavische Besonderheiten charakterisieren das Zagreber Kajkavische schon seit Jahrhunderten , andere sind neueren Datums, aber besonders stark dringen unter den jetzigen Bedingungen des alltäglichen Lebens Elemente der Standardsprache auf allen gesellschaftlichen 2 Ebenen Zagrebs durch, angefangen von dem familiären Bereich. Diese stokavischen Sprachelemente bestehen eine Zeitlang neben den kajkavischen her,

aber dann setzen sie sich durch - ohne Um-

kehrung ersetzen sie die k a j k a v i s c h e n .

Es ist

augenscheinlich,

daß sich die Zagreber SubStandardsprache immer schneller in Richtung der Stokavisierung bewegt. Dem gegenüber ist

sie,

nach ihrei

wesentlichen Strukturmerkmalen, auf den Sprachebenen, die sich am schwerwiegendsten verändern

(Betonung und Phonetik), wie auch

auf anderen Sprachebenen, in welchen die kajkavischen Merkmale entweder allein stehen, oder mit stokavischen alternieren, immer noch

kajkavisch.

Ich versuche hier etwas über die typischen Besonderheiten jenes Idioms zu sagen, in welchem die Mehrzahl der Zagreber spricht, welche aus der Notwendigkeit der Sprechsituation in verschiedenen Milieus heraus stokavisch sprechen wollen, oder es aus der Notwendigkeit unumstößlicher

Forderungen einzelner unausweich-

licher Sprechsituationen sprechen müssen. Dieses Idiom nenne ich

60

"das Zagreber Stokavisch" und es ist demnach die Sprechvariante der neustokavischen kroatischen Standard- bzw. Literaturspräche, wie sie die Angehörigen der Zagreber SubStandardsprache, des Zagreber Kajkavischen realisieren. Nach dieser Definition läßt sich der Begriff "Zagreber Stokavisch" auch durch den Begriff "Stokavisch der Zagreber Kajkavisch-Sprecher" ersetzen, welcher das Zagreber Stokavisch in den Oberbegriff "Stokavisch der Kaj'kavisah-Sprechenden " ei nre i h t. 2. Das Zagreber Stokavisch tritt in einer großen Zahl von Varie4 täten in Erscheinung - von der Möglichkeit in einem "höheren Ausdrucksstil" nur einige der augenscheinlichsten stokavischen Merkmale zu benutzen bis zum tadellosen Ausdruck in der Standardsprache. Individuelle Realisationen des Zagreber Stokavisch hängen also in erster Linie von der jeweiligen Stufe der Beherrschung der Normen der Standardsprache ab, aber auch vom Grad der Formalität der Sprechsituation, aber auch oft von der momentanen psychisch-physischen Disposition des Sprechers beim Gebrauch des Stokavischen, außerdem von einer Reihe anderer Faktoren, von welchen im weiteren Vortrag die Rede sein wird. Die riesige Menge der verschiedenen individuellen Realisationsmöglichkeiten des Zagreber Stokavisch wird noch multipli-' ziert durch die unterschiedliche geographische Herkunft einer großen Zahl Zagreber Bürger, die Zuwanderer aus verschiedenen Dialekten, aber auch anderssprachigen Gebieten sind. Es gibt große Unterschiede in der Gebrauchsfrequenz und in der Qualität der Realisation des Standard-Stokavisch bei den Angehörigen verschiedener Berufsgruppen. Diese werden hervorgerufen durch verschiedene Anforderungen der einzelnen Berufe, Standardsprache zu sprechen, was bedeutet, daß große Unterschiede auch in der Notwendigkeit bestehen, wieweit der Einzelne die Norm und die Kodifizierung der Standardsprache beherrschen muß. Ausdruck in der Standardsprache fordern z.B. Lehrberufe von der Grundschule bis zur Fakultät, oder Berufe wie Radio- und Fernsehsprecher, Schauspieler usw., auch Berufe in der Öffentlichkeitsarbeit, wo oft vor einem größeren Zuhörerkreis gesprochen

61

werden muß. Anders dagegen sind die Erfordernisse bei einer Reue von manuellen, handwerklichen, technischen und anderen Berufen, deren Vertreter sich nur ausnahmsweise in Sprechsituationen befinden, in welchen Beschäftigte im Bereich der Kultur, Wissenschaft und Politik täglich sind. Es können nicht alle sprachlichen Resultate aufgezählt werden, welche aus der Frequenz der professionell notwendigen sprachlichen Kommunikation des Einzelnen mit Einzelnen im Umkreis eines bestimmten Soziolektes und außerhalb von ihm hervorgehen, ebenso aus der sozialen Distanz des Sprechers gegenüber dem Gesprächsteilnehmer - hier muß man nur betonen, daß die unterschiedliche Frequenz des Gebrauchs des Stokavischen anstelle des Kajkavischei in slochen Situationen auch vom gesellschaftlichen Milieu des Sprechgeschehens bedingt wird, sowie auch von der sozialen Lage und dem Ansehen des Sprechers und des Gesprächspartners. Divergente Realisationen des Zagreber Stokavisch werden noch von anderen außersprachlichen Faktoren potenziert, wie z . B . Bildung, Belesenheit und allgemeines kulturelles Niveau, Generationszugehörigkeit usw. 3. Und dennoch, trotz dieser unübersichtlichen, unerfaßbaren individueller Realisationsmöglichkeiten des sprachlichen Potentials, welches wir Standardsprache nennen, existieren auch gemeinschaft·? liehe typische Kennzeichen des Stokavischen, wie es die Zagreber Kajkavisch-Sprecher sprechen. Auf Grund dialektaler Grundlagen der individuellen Realisationen der kroatischen Standardsprache läßt sich oft relativ genau die Zugehörigkeit eines Sprechers zu einem Dialektgebiet feststellen, und auch die Unterscheidung, ob er Stadtbewohner ist oder nicht. Die dialektalen Besonderheiten, die in den Standardausdruck der Einzelnen eindringen, liegen also auf der Ebene einzelner kroatischer oder serbischer Dialekte, aber nicht deren organischen sprachlichen Realisierungen. Ein wesentlicher Erkennungsfaktor des Zagreber Btokavisch ist dessen kajkavische Dialektgrundlage. Quantität und Qualität der

62 dialektalen Besonderheiten in der Standardsprache, deren sich die Zagreber Kajkaven bedienen, unterscheiden sich dennoch von der Realisierung des ätokavischen bei der Mehrzahl der anderen Kajkavisch-Sprechenden - aus dem einfachen Grund, daß sich der Zagreber kajkavische Dialekt in einer Reihe wesentlicher Elemente von der Sprache anderer kajkavischer Sprachmilieus wesentlich unterscheidet. 4. Das gesellschaftliche Ansehen der Zagreber Substandardsprache, des Zagreber Kajkavisch, f ü h r t dahin, daß Zuwanderer, sogar diejenigen, deren organische Sprechweise der Standardsprache nahe ist, teils bewußt teils unbewußt die Besonderheiten der Sprache ihrer kajkavischen Mitbürger aufnehmen oder aufzunehmen bereit sind. Bei dem überwiegenden Teil der Zuwanderer, in der größten Zahl der sozial-beruflichen Milieus und Situationen, herrscht die subjektive emotionale Haltung vor, daß die eigene heimische Sprechweise, die meist ländlich geprägt ist, den Menschen auf eine niedrigere Stufe der gesellschaftlichen Wertskala stellt, daß sie ihn als Neuankömmling ausweist,

als einen Menschen, der

nicht in die Gesellschaftsschicht der Arbeitskollegen, und z u f ä l l i g e n Gesprächspartner integriert ist.

Bekannten

Der subjektive

psychologische E i n f l u ß , seltener auch objektive Faktoren, zwingt also den Einzelnen bei der Kommunikation jene typischen Merkmale seiner organischen heimischen Sprechweise zu vermeiden, welche "ins Auge stechen", welche "im Ohr wehtun", welche spöttische Reaktionen h e r v o r r u f e n könnten. Deshalb hören zugewanderte Kajkaver, Öakaver und auch Stokaver a u f , jene dialektalen Wörter zu gebrauchen, welche von der neuen Umgebung nicht verstanden werden, deshalb passen sie ihre Sprechweise auch auf übrigen Sprachebenen der Zagreber an. Außerhalb ihres Familien- oder Freundeskreises mit der gleichen oder verwandten sprachlichen Herkunft gebrauchen sie nicht mehr ihre ursprüngliche,

sondern die Zagreber Sprechweise.

Charakter und Intensität der Anpassung der einzelnen Idiolekte an die Zagreber kajkavische Sprechweise und über sie auch an das Zagreber ätokavisch sind sehr unterschiedlich. Mit wenigen Aus-

63

nahmen gelingt es erwachsenen Zuwanderern nicht, sich vollständig in den sprachlichen Bestand des neuen Milieus einzufügen, und es gibt auch den bewußten Widerstand gegen den Einfluß der urbanen SubStandardsprache wegen bestimmter psychologisch-emotionaler Hindernisse, die der sprachlichen Integration im Wege stehen (nationale, fachlich und standesbedingte Hindernisse). Solche Sprecher, ebenso wie jene Stokaver und Cakaver, die schon mit Kenntnissen der Standardsprache nach Zagreb übersiedelt sind - wobei die Standardsprache als Oberbau von ihrer dialektalen Basis charakterisiert wird - haben gewöhnlich in ihrem Aus·?· druck keine Merkmale des Zagreber Kajkavischen. Quantität, Qualität und Verwurzelung der angenommenen Merkmale des Zagreber Kajkavisch bei den Zuwanderern bestimmen also auch Quantität und Qualität der Merkmale des Zagreber Stokavisch in ihrem Gebrauch des Standard-Stokavischen. Aus dem Gesagten geht hervor, daß Abweichungen von den typischen Merkmalen, welche die durchschnittliche Zagreber Kajkaven charakterisieren,

Sprechweise eines

entweder Resultat der per-

sönlichen Bemühung sind, die Standardsprache zu erlernen, oder Resultat eines ungenügenden Grades der Integration des Zugewanderten in die urbane SubStandardsprache. Die urbane Substandardsprache hat in einer Reihe von Sprechsituationen Vorrang nicht nur vor den organischen Dialekten, sondern auch vor der Standardsprache, und es ist

keine Ausnahme-

erscheinung, daß Zuwanderer erlernte Zagreber kajkavische Besonderheiten auch in ihren standardsprachlichen Ausdruck einbringen Eine detailliertere Betrachtung der sprachlichen Resultate der vielfältigen, sehr komplizierten Verhältnisse, der gegenseitigen Einflüsse, der sprachlichen und außersprachlichen Faktoren, eine Erforschung der Intensität der Anwesenheit und der Übermacht

ei-

nes von denen in den verschiedenen Sozio- und Idiolekten der Zuwanderer - dies alles würde den Rahmen dieses Vertrags sprengen. 5. Die Beherrschung der Besonderheiten der Standardsprache geht von den höheren, "offenen" sprachlichen Kategorien zu den niedrigeren "geschlosseneren".

Das bedeutet, daß am ehesten und

64 schnellsten neue Wörter übernommen werden, die sie ersetzen. Weiter bedeutet das, daß die Beherrschung der syntaktischen und morphologischen Besonderheiten des Standards nicht immer ganz einwandfrei ist, und daß auf der Ebene der Betonung und Phonetik kaum ohne Rückbleibsel charakteristische Merkmale der heimischen Sprechweise ausgetauscht werden, und daß ausgerechnet diese Merkmale, beim Sprechen die häufigsten, am ausdrücklichsten die dialektale Zugehörigkeit der Sprecher "verraten", ohne Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Funktion, Schulbildung,ihr Lebensalter usw. Die kajkavischen Charakteristika des Zagreber Stokavischen fehlen vollkommen nur in Ausnahmen bei hervorragenden Kennern der Standardsprache. Allerdings gibt es nur selten lange in Zagreb Ansässige, die das Stokavischeohne jede Spur von dessen kajkavischem Substrat sprechen. Selbst in der sehr wohlbedachten Rede der Intellektuellen, die große Anstrengungen darauf verwenden, die Literatursprache zu beherrschen, äußern sich - mehr oder weniger häufig - einige der Besonderheiten des Zagreber Stokavischen, besonders im Bereich des Akzents und der Phonetik. 6. Ebenso wie die substantiellen Besonderheiten des Kajkavischen den Standarddialekt der Sprecher des Zagreber Kajkavischen charakterisieren, dringen auch erlernte Besonderheiten immer stärker in den unter dem Standard liegenden Zagreber Dialekt ein. Die Sprecher des Zagreber Kajkavischen, die sehr oft auch Standard-Stokavisch sprechen müssen, sprechen stokavisch auch in manchen Sprachsituationen, die noch für die Mehrzahl der Zagreber Einheimischen ausschließlich ihrem kajkavischen Dialekt vorbehalten sind. Der größte Teil solcher Sprecher des Zagreber Stokavischen, im wesentlichen Intellektuelle, erhält sich sein Kajkavisch in den Intimsphären sprachlicher Vorgänge. Allerdings gibt es auch Einheimische, die ständig bemüht sind, Stokavisch zu sprechen, und sie sind der Ursprung eines neuen Zagreber urbanen Dialekts. Unter den Bedingungen des modernen Lebens, die ständig die Häufigkeit der Situationen verringern, in denen ausschließlich das städtische Kajkavische

65

realisiert wird, verringert sich auch die Zahl der Zagreber, die selten oder gar nicht Stokavisch sprechen müssen, entsteht daher ein neuer Typ des unter dem Standard liegenden Stadtdialekts das Zagreber Stokavische. Es hat bereits einen Teil des sozialen Prestiges des Zagreber Kajkavischen eingenommen, zum Beispiel in den zahlreichen Sprachkontakten von Kundschaft und Angestellten öffentlicher Ämter, Stadtverwaltungen, Banken, Handel bis zum Handwerk. Viele Zagreber Kleinkinder verbringen einen Teil des Tages in vorschulischen Einrichtungen, und in einer beträchtlichen Anzahl der Fälle halten sie sich den Rest des Tages in den Wohnungen a u f , spielen allein oder sehen fern und haben daher keine größeren Kontaktmöglichkeiten mit Kindern auf der Straße, in den Höfen, auf Spielplätzen. Allerdings hören die Kinder in den vorschulischen Einrichtungen, genauso wie in den Schulen, die Standardsprache, aber auf ihren Dialekt haben auch sprachliche Interaktionen mit organischen Dialekten E i n f l u ß , die ihre Freunde aus familiären Kreisen hineintragen. Sind die Eltern zu sehr mit Arbeit beschäftigt und sprechen sie wenig mit den Kindern, dann wird vollkommen klar, daß ein Teil der jüngsten Zagreber Generation nicht viel Gelegenheit hat, das Zagreber Kajkavische schon in den ersten Lebensjahren zu erlernen, sondern daß sie dessen erst später mächtig wird. Allerdings ist das Resultat aller späteren Sprachkontakte und -Interferenzen, zumindest im heutigen Stadium sozialer Wertung des urbanen Dialekts, daß auch diese Kinder Sprecher des Zagreber Kajkavischen werden. Denn bis zu einem bestimmten Entwicklungsabschnitt, etwa bis zum sechzehnten Lebensjahr, eignen sich die Kinder vollkommen die dialektalen Besonderheiten eines anderen Idioms an, gleichgültig, ob jenes Idiom einem anderen Dialekt oder einer anderen Sprache angehört, ja sogar auf den verschlossensten Sprachebenen - dem Akzent und der Phonetik. 7. Die morphologische Adaption ist viel leichter, und sie wird auch von Erwachsenen vollzogen, gleichermaßen in der Anpassung von Sprechern des Kajkavischen (und Öakavischen) an die stokavische Morphologie wie auch in der Aneignung spezifischer kaj-r kavischer Besonderheiten durch Sprecher des Stokavischen und des

66 v

Cakavischen. In der Aneignung anderer, beziehungsweise andersgearteter morphologischer Besonderheiten werden oft gänzlich und definitiv ältere Formen verdrängt, was in Phonetik und Akzentsetzung nach den geltenden Regeln nicht möglich ist.

Daher ma-

chen schon seit langem die stokavischen Charakteristika einen Großteil der Morphologie des Zagreber Kajkavischen aus. Aber in der sprachlichen Interaktion zweier angesehener Zagreber Idiome ist

auch die Basis des kajkavischen Dialekts wirksam, und des-

halb gibt es auch unter den morphologischen Besonderheiten des v

Zagreber Stokavischen kajkavische Formen, in der automatischen, unbewußten Auswahl möglicher Varianten. Auf der lexikalischen Ebene ist

die Wahlmöglichkeit unver-

gleichlich größer als auf der morphologischen. Wahl und Verwendung der Wörter sind abhängig von Kultur, Belesenheit und schöpferischer Fähigkeit des Sprechers, sie sind abhängig von auf Sprachreinheit bedachten, puristischen Einstellungen der kompetenten Sprecher einer Sprache, beziehungsweise von der unkritischen Aneignung jedes Lexems, das durch die Massenkommunikationsmittel modern wird. 8. Wie aus allem bisher Gesagten hervorgeht, werden in Zagreb zwei sozial anerkannte Idiome realisiert - das Zagreber K a j k a v i sche und das Zagreber Stokavische, neben einer Reihe von sozial weniger anerkannten organischen Sprecharten aller kroatischen und serbischen Dialekte (die im wesentlichen dem Ausdruck von Vertrautheit und Solidarität von Sprechern gleicher oder ähnlicher organischer Sprechweisen vorbehalten sind) . In der Reihe außersprachlich bedingter Sprechverhaltensweisen schließen sich Zagreber Kajkavisches und Zagreber Stokavisches gegenseitig aus, aber in der Wirkung ihrer Funktionen verhalten sie sich komplementär. In einigen seiner Besonderheiten ist

das Zagreber Sto-

kavische das Resultat der Möglichkeiten bewußter Auswahl stokavischer Dialektmerkmale, die sich von parallelen Besonderheiten des Zagreber Kajkavischen unterscheiden (vergleiche zum Beispiel Zagreber Stokavisch sto - sta, 'pas, 'htiOf

u 'ruc-i, se'^aoi, se' ,

-ima,

'posao, 'vuoica,

'rekao,

'doSao,

' ne mogu,

'po&nu,

'red, is'peoi, po'mozi und so weiter, gegenüber dem Zagreber

67 Kajkavischen kaj 3

'posel,

se'laki, se'^akima, po'mogni

'rekel,

'rukiea,

'dosel,

'ne mvem,

'stel,

'pocmeju,

'htel, u 'vuki, 'reai,

is'peai,

und so weiter.

Einige Merkmale des Zagreber Stokavischen stimmen mit Merkmalen des Zagreber Kajkavischen überein. Sie sind das Resultat von zwei Prozessen: a) das Resultat moderner oder älterer definitiver Übernahme stokavischer Besonderheiten in die kajkavische Struktur

(vergleiche zum Beispiel in beiden Idiomen: 'stavac,

'tast, 'staklo, 'snaha, 'dan, 'danas, 'smijem, 'smij'em se, ' priye, 'van, 'vani, 'sav, den Dativ, Lokativ und Instrumental Plural

'kon-Cma,

'selima,

'zenama und so weiter) oder sie sind

b) das Resultat der Besonderheiten des Zagreber Kajkavischen, die die Sprecher nicht auswechseln können oder sie nur unter riesigen Anstrengungen auswechseln, aber nicht ohne irgendwelche Überreste (vergleiche zum Beispiel die nichtphonologische Wertigkeit der vier itokavischen Akzente oder die phonetische Nichtrealisierung eines von ihnen, k u r z steigenden Akzents, die Neutralisierung des Gegensatzes von stimmhaften und stimmlosen Konsonanten im Auslaut zugunsten der stimmlosen, das Nichtunterscheiden von a und c, g und & und so weiter.

Anmerkungen 1)

Ausgehend davon, daß das Zagreber Kajkavische die Grundlage der alten kajkavischen Literatursprache war, müssen die charakteristischen stokavischen Begriffe in der alten kajkavischen Literatur zum größten Teil dem Zagreber Dialekt der vergangenen Jahrhunderte zugeschrieben werden, vergleiche A. Sojat, Kratki. navuk jezi-onioe horvatske (Jezik stave kajkavske knjizevnosti), KAJ, Zagreb 1969-1971.

2)

In dem E i n f l u ß der Standardsprache auf den Stadtdialekt unterscheidet sich die Zagreber dialektale Situation in keiner Weise von der Situation in irgendeiner anderen Stadt Kroatiens, vergleiche A. Sojat, Standardni jezik i dijalekt u urbanim sredinama SR Hrvatske, Rasprave Zavoda za jezik (=RZJ) 4-5, Zagreb 1979, S . 1 1 9 - 1 2 3 .

3)

Zum Einfluß des Stokavischen auf das moderne Zagreber Kajkavische und das immer stärkere Vorhandensein stokavischer Dialektelemente, darin siehe: A. S*ojat, 0 zagrebaSkom kajkavskom govoru, RZJ 4-5, S.125-134.

68

4)

5)

6)

7)

Der Terminus "Varietät" wird, nach J.A.Fishman in The Sociology of Language, Yeshiva University, Rowley, Mass., 1973, zur Bezeichnung jeder Sprechrealisierung innerhalb des bestehenden stokavischen Sprachrepertoires durch Sprecher des Zagreber Kajkavischen verwendet. Zu den Besonderheiten des Zagreber Kajkavischen siehe Th.F. Magner, A Zagreb Kajkavian Diäteot, Pennsylvania State University, 1966; A. Sojat, op. cit. in Anmerkung 3. Diese Tatsache wurde schon vor längerem bemerkt. Schon E. Sapir sagt in seinem Werk Language (New York 1 9 2 1 ) : "Die einfachste Art des Einflusses, den eine Sprache auf eine andere ausüben kann, ist die "Entlehnung von Wörtern 1 ." (Zitat aus: R.Filipovic, Jezioi u kontaktu i jeziano posu

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