Körper, Kannibalen, Judenräte: Ästhetiken des Grotesken bei George Tabori und Robert Schindel [1 ed.] 9783205211440, 9783205211426


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Körper, Kannibalen, Judenräte: Ästhetiken des Grotesken bei George Tabori und Robert Schindel [1 ed.]
 9783205211440, 9783205211426

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JOHANNA ÖTTL

KÖRPER, KANNIBALEN, JUDENRÄTE ÄSTHETIKEN DES GROTESKEN BEI GEORGE TABORI UND ROBERT SCHINDEL



Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 32 Herausgegeben von Werner Michler Norbert Christian Wolf



Johanna Öttl

Körper, Kannibalen, Judenräte Ästhetiken des Grotesken bei George Tabori und Robert Schindel

Böhlau Verlag Wien Köln



Gedruckt mit Unterstützung durch Interuniversitärer Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst; eine Kooperation der Paris Lodron-Universität und der Universität Mozarteum Salzburg Nationalfonds der Republik Österreich Zukunftsfonds der Republik Österreich Stadt Wien, Kultur

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Die Umschlagabbildung zeigt einen Filmstill aus Ghetto Terezín 1942, Regie: Irena Dodalová, 1942. © Národní filmový archiv, Prag.

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21144-0



Für Inge und Markus







INHALT

AUFTAKT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. VORAUSSETZUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.1 Diskursprägungen – ‚Juden‘ nach 1945 und Literatur . . . . . . . . . . . 27 1.2 Gegenstimmen und diskursive Echos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.3 „True tales from a grotesque land“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.4 ‚Juden‘ und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.5 Repräsentation und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1.6 Drama und Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1.7 Erinnerung, Gedächtnis, ‚Postmemory‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. ÄSTHETIKEN DES GROTESKEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3. KÖRPER UND KANNIBALEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .127

3.1 Anfänge in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3.2 Taboris Theaterarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 3.3 Taboris Bilder der Opfer und agency . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.4 „Und deshalb, liebe Brüder in Christo, empfehle ich euch / Das Judenherz in Aspik oder mit einer pikanten Sauce“ – Bilder von ‚Juden‘ und Anthropophagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3.5 Theater, Performativität und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3.6 Komik und Lachen in Die Kannibalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3.7 Körper und Kannibalen – eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . 207 4. MEDIATISIERUNG UND JUDENRÄTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .210

4.1 „My hologram will take over my job“ – Mediatisierung und Gedächtnis im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4.2 Saul Dunkelstein – Benjamin Murmelstein . . . . . . . . . . . . . . . . .223 4.3 Judenräte im diskursiven Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .234

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4.4 Literarisierung von Judenräten und agency . . . . . . . . . . . . . . . .240 4.5 Realismus und Verfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4.6 Komik und Generizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .269 4.7 Mediatisierung und kulturelles Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . .278 4.8 „Theresienstadt als Hollywood der SS-Opfer“ (H.G. Adler) – Die Suche nach dem Außerhalb der Simulation . . . . . . . . . . . . . .287 4.9 Mediatisierung und Judenräte – eine Zusammenfassung . . . . . . . . .301 SCHLUSSBEMERKUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .309

Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Sekundärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .311 REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .336



AUFTAKT Die australische Aktionskünstlerin Jane Korman präsentierte im Dezember 2009 in der Runt Gallery am Campus der Melbourner Monash University drei großflächige Videoinstallationen und eine Fotografie (106 x 68 cm) unter dem Titel Dancing Auschwitz. Das Herzstück, eines der drei Videos, veröffentlichte Korman einige Monate später auf YouTube,1 wo es innerhalb kurzer Zeit hunderttausende Klicks bekam: Das rund vierminütige Video zeigt fünf Angehörige dreier Generationen – einen alten Mann, eine Frau mittleren sowie zwei Frauen und einen Mann jüngeren Alters –, die vor Erinnerungsorten der Shoah zu Gloria Gaynors Dance-Hit I will survive (1978) aus der homosexuellen Subkultur tanzen. Rechts unten im Video werden die Namen der Erinnerungsorte eingeblendet, an denen der Tanz ‚in situ‘ stattfindet; sie reichen von Theresienstadt, Dachau und Auschwitz über die Prager Maisel Synagoge bis zum Denkmal am Gelände des ehemaligen Bahnhofs Radogoszcz in Łódź, von dem aus Transporte nach Chełmno und Auschwitz abfuhren. Der Tanz an den verschiedenen Erinnerungsorten wird zu einer bizarren filmischen Montage geschnitten: Der Zusammenschnitt von Ortswechseln, Tanzszenen und anderen Handlungen zitiert Darstellungskonventionen professioneller Musikvideos aus dem Bereich des Main­stream-Pop; die Bewegung der Figuren zur Musik bleibt dabei dilettantisch und familiär. Nachdem die fünf am Beginn von Kormans Video unbeweglich, teilweise mit Tüchern über den Köpfen nebeneinanderstehen, beginnen sie einen anfangs verhaltenen Tanz mit Discoschritten und einer rudimentären, nicht immer einem strengen Rhythmus folgenden Choreografie, der im Laufe der folgenden drei Minuten ausgelassener wird. Dass die Tanzenden an manchen Erinnerungsorten Judensterne tragen, ist ein erster Hinweis auf ihr Verhältnis zu diesen Orten. Dass der alte Mann einen Shoah-Überlebenden darstellt, legt spätestens eine Einstellung in der zweiten Minute nahe, in der er in einem weißen T-Shirt mit der Aufschrift „survivor“ mit dem Victory-Zeichen selbstsicher vor einem Krematorium posiert. Das Video endet mit einem kurzen Abspann, in dem man vor einem schwarzen Bildschirm eine voice-over Stimme – insinuiert wird, dass es sich beim Sprecher um den alten Mann aus dem Video handelt – in nicht-muttersprachlichem Englisch und gut gelauntem, lockerem Tonfall folgenden Text sprechen hört, der auch als Untertitel eingeblendet wird: „If someone would tell me here, then, that I would come, sixty something three years later with my grandchildren, so I’d say ‚What you talking about?‘ [lacht] ‚What you talking about?‘ This is really a histo1

Korman, Jane: I will survive Auschwitz. URL: https://www.youtube.com/watch?v=cFzNBzKTS4I [2.4.2021].

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rical moment.“2 Nicht nur dieser Nachspann, sondern auch Aussagen der Künstlerin in Epitexten (Interviews etc.) sowie ein Interview mit dem Akteur aus dem Video3 indizieren, dass er nicht nur einen Shoah-Überlebenden darstellt, sondern tatsächlich einer ist: Es handelt sich um Kormans Vater Adam Kohn, einen polnischstämmigen Juden, der mehrere Konzentrationslager überlebt hat und nach 1945 mit seiner Familie nach Australien ausgewandert ist; im Video treten neben seiner Tochter Jane Korman auch drei seiner Enkel auf. Versucht man Wirkung und Ästhetik des Videos zu beschreiben, stößt man auf eine Vielzahl an Fragen: Warum amüsiert und irritiert dieses Video gleichzeitig? Woran genau lässt sich die Irritation festmachen, die sich beim Betrachten einstellt? Wieso gewinnt man als Betrachtende*r den Eindruck, das Video verstoße gegen Regeln der ‚political correctness‘? Und weiter: Lässt sich das Video mit dem Attribut ‚grotesk‘ beschreiben? Diese Fragen lassen sich kaum eindeutig beantworten, ermöglichen jedoch einige einleitende Beobachtungen: Kormans irritierender Blick auf Überlebende, Erinnerungsorte und die Wahl des musikalischen Themas verweisen auf Problemkonstellationen aus literarischen Shoah-Diskursen, die bis in die unmittel­bare Nachkriegszeit zurückreichen. Sie betreffen konventionalisierte Darstellungen und dominante Wahrnehmungsmuster von jüdischen Personen beziehungsweise Figuren; eine Verbindung von (Autor*innen-/Künstler*innen-)Biografien und der Legitimation künstlerischer Äußerungsakte; die Rolle von Überlebenden als Akteur*innen in szenischen Darstellungen; die Möglichkeit der medialen Repräsentation von Zeitzeug*innen und Vergangenheit. Die oben formulierten Fragen, die sich nach einer ersten Betrachtung von Kormans Video stellen, lassen sich sehr ähnlich auch für die beiden Dramen formulieren, die hier im Zentrum stehen: George Taboris Die Kannibalen (1963) erzählt von einer Gruppe von KZ-Häftlingen, die einen verstorbenen Mithäftling kochen und essen. Robert Schindels Dunkelstein (2010)4 widmet sich dem kontroversen Thema von Judenräten und jüdischen Funktionären, die nach 1945 der Kollaboration mit den Nationalsozialist*innen beschuldigt wurden. Weder für Kormans Video noch für die beiden Dramen von Tabori und Schindel lassen sich die gestellten Fragen beantworten, ohne synchrone wie diachrone diskursive Konventionen mit in den Blick zu nehmen – der Versuch einer rein textimmanenten Beschreibung legt schnell methodische Schwierigkeiten offen.

2 Korman: I will survive Auschwitz, Minute 4:03. 3 Vgl. „Dancing Auschwitz – a short film“. URL: https://www.youtube.com/watch?v=esDxLw6ARyY [2.4.2021]. 4 Die Kannibalen wurde 1963 fertiggestellt, 1968 in New York uraufgeführt, die deutschsprachige Erstaufführung fand 1969 statt. Schindels Dunkelstein erschien 2010 in Buchform und wurde 2016 uraufgeführt.

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Denn Kormans Video irritiert – ebenso wie die Dramen von Tabori und Schindel – vor allem deshalb, weil es von etablierten Darstellungskonventionen abweicht. Diese Feststellung öffnet den Blick für eine zentrale Prämisse dieses Buches: Ästhetiken des Grotesken irritieren oftmals Wahrnehmungsmuster, die durch literarische Konventionen oder nicht-literarische Shoah-Diskurse geformt sind. Folglich bietet es sich an, Ästhetiken des Grotesken relational zu diskursiven Konventionen und literarischen Darstellungskonventionen zu analysieren, da sie vor allem auf der Folie von Bekanntem und Etabliertem als divergent oder irritierend wahrgenommen werden. Ein solcherart konturiertes Verständnis von Ästhetiken des Grotesken impliziert die methodische Sinnhaftigkeit, eine essentialistische Definition ‚des Grotesken‘ zugunsten einer Analyse von relationalen Beziehungen zwischen Akteur*innen (Autor*innen, Texten oder Ästhetiken) aufzugeben. Um diese relationalen Beziehungen in der detaillierten Analyse von Die Kannibalen und Dunkelstein aufgreifen zu können, skizziert das erste Kapitel literarische und diskursive Spezifika der beiden Erinnerungsepochen der 1960er Jahre und des beginnenden 21.  Jahrhunderts. Kapitel zwei nimmt theoretische Zugriffe auf Ästhetiken des Grotesken in den Blick, eine relationale Konzeption ‚des Grotesken‘ werde ich aus Bachtins Arbeiten zu Gattungstheorie sowie seinem Verständnis von Gattungsgedächtnis und literarischer Evolution (Rabelais und seine Welt, Sprechgattungen oder Probleme der Poetik Dostoevskijs) ableiten. Ausgehend davon stehen in Kapitel drei über Taboris Theaterarbeit und Kapitel vier über Schindels Drama Dunkelstein die unterschiedlichen Ästhetiken des Grotesken in der Theaterarbeit der beiden Autoren im Fokus. Eine Konzentration auf dramatische Texte setzt das Bewusstsein für die spezifische Medialität des Dramas (Kommunikationsstruktur, Verkörperung einer Figur durch eine*n Schauspieler*in etc.) voraus und ermöglicht eine Konzentration auf Problemkonstellationen, die sich von Debatten um die Darstellung der Shoah in Prosatexten unterscheidet. Die Sprengkraft von solchen künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Shoah, die von konventionalisierten Darstellungen abweichen, zeigt sich zwischen zwei prinzipiell möglichen Lesarten von Kormans Video: Einerseits der fröhliche Tanz an den Stätten der Deportation und Vernichtung als Verhöhnung der Toten. Andererseits der Tanz des Zeitzeugen als unkonventionelle Aneignung eines Gedenkortes und normabweichende Erinnerungspraktik. Der ‚Epilog‘ des Videos trägt dazu bei, mögliche Lesarten zu disambiguieren, indem er die Biografie des Akteurs als Shoah-Überlebenden an seine Rolle im künstlerischen Äußerungsakt rückbindet. Gleichermaßen ist der Tanz der jungen Akteur*innen legitimiert, da sie als Nachkommen des Überlebenden ausgewiesen werden – erstens mittels der gelben ‚Judensterne‘; zweitens trägt einer der jungen Männer ein T-Shirt mit dem Aufdruck „3rd gen“, das ihn der dritten Generation von Shoah-Überlebenden zurechnet. Der Tanz des Opfers und seiner Nachfahren ist auf eine Weise legiti-

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miert, wie ein Tanz von Täter*innen es nicht sein könnte, und die Biografien der Akteur*innen legitimieren dergestalt die Ästhetik des künstlerischen Äußerungsaktes. Diese biografische Legitimation spielt in der Rezeption des Videos von Rezipient*innen mit großem thematischem Vorwissen sowie von solchen mit wenigem eine zentrale Rolle – sowohl explizit (etwa in den vielen Kommentaren unter dem Video auf YouTube) als auch implizit durch mitunter detaillierte Informationen zu Adam Kohns Leben (etwa in einem Beitrag Henryk M. Broders im Spiegel).5 Wie die Anzahl der Klicks sowie internationale Medienberichte zeigen, wurde Kormans Video innerhalb kürzester Zeit nach Veröffentlichung große Aufmerksamkeit zuteil: Im Zentrum stand dabei nicht die künstlerische Qualität der Performance, sondern die Fragen nach der ‚Angemessenheit‘ der Darstellung. Positive wie negative Beurteilungen bezogen sich meist auf die auf den ersten Blick widersprüchliche Verbindung von freudigem Tanz zu einem leichtfüßigen Song (thematisiert wird das ‚Überleben‘ einer enttäuschten Liebe) und den Orten, an denen getanzt wird. Als Legitimierung dieser Ästhetik wurde meistens die Biografie der Tanzenden ins Feld geführt: eine Korrespondenz zwischen dargestellter figura und realer persona und damit gleichzeitig ein spezifischer ‚Wirklichkeitsbezug‘.6 Anders gesagt: Der Mann in dem Video darf an den Erinnerungsorten, den lieux de mémoire (Pierre Nora), tanzen, da er Jude ist. Für Taboris Kannibalen und Schindels Dunkelstein ließen sich bezogen auf ähnlich differierende Lesarten folgende Fragen formulieren: Unter welchen Umständen sind jüdische Menschen, die andere KZ-Häftlinge kochen und essen, unmenschliche ‚Täter‘, unter welchen sind sie ‚Opfer‘? Waren Judenräte durch Kollaboration mit den Nationalsozialist*innen Teil der Organisationsstruktur des Genozids oder haben sie versucht, ihren spärlichen Handlungsspielraum zu nutzen, um ihren Mitmenschen zu helfen? Vor allem allerdings: Wie hängen die Antworten auf solche Fragen mit der Ästhetik des jeweiligen Textes zusammen? Diese Fragen lassen sich nicht beantworten, ohne ästhetische und diskursive Konventionen zu berücksichtigen, die sich im Laufe der Jahrzehnte im Schreiben über die Shoah eingestellt haben. Sie betreffen beispielsweise Taboris neue Konzeption von Opfern, seine Auseinandersetzung mit Figurationen ‚des Kannibalen‘ oder Schindels Rekurs auf Judenrat-Diskurse sowie literarische Strategien der Verfremdung oder der Komik (vgl. Kapitel 3.4). Für vorliegende Arbeit ist es metho5 6

Vgl. Broder, Henryk M.: „Schaut her, ich lebe“. In: Spiegel, 32/2010. URL: http://www.spiegel. de/spiegel/a-710881.html [2.4.2021]. Neben der literaturtheoretisch angenommenen ‚Selbstbezüglichkeit‘ poetischer Sprache hat sich für literarisches Schreiben über die Shoah vielerorts die Konvention herausgebildet, die Frage nach referentieller Sprachverwendung im Hinblick auf ein ‚Außerhalb‘ der Literatur stärker in den Vordergrund zu rücken als im Falle vieler anderer literarischer Sub-Felder – darauf verweist der Begriff ‚Wirklichkeitsbezug‘.

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disch hilfreich, von der Existenz eines Sub-Feldes der Shoah-Literatur7 (als SubFeld des literarischen Feldes) auszugehen. Das Konzept des Feldes stellt relationale Beziehungen in einem „Raum des Möglichen“ in den Mittelpunkt, es wird von „Positionierungen strukturiert“.8 Ein Ineinander von sich ständig transformierenden „bedingten Freiheiten und objektiven Potentialitäten“9 steuert das Verhalten aller Akteur*innen, die die Logik des Feldes akzeptieren und die ihrerseits durch ihr Handeln das Feld in Bewegung halten. Ein Feld im Bourdieu’schen Sinne besteht dann, wenn Feldeffekte wirken.10 Es existiert nicht aus sich heraus, sondern wird erhalten durch konkurrierende Formen des Sprechens und Handelns, wobei jedes Feld dabei eine spezifische Logik aufweist, die es von anderen Feldern unterscheidet. So ist etwa das Sub-Feld der Shoah-Literatur thematisch abgegrenzt – d.h. jeder Text, der darin partizipiert, muss sich mit der Shoah beschäftigen – und beschreibt außerdem einen spezifischen Kommunikationszusammenhang mit impliziten Sprechregeln, zu denen etwa der hohe Stellenwert biografischer Legitimation oder spezifische ‚Wirklichkeitsbezüge‘ zu historischen Evidenzen zählen. Dass im Sub-Feld der Shoah-Literatur eigene Feldeffekte greifen, zeigt sich etwa in der besonderen Bedeutung der Biografie von Autor*innen, die über die Shoah schreiben: Debatten um den ‚Tod des Autors‘ (Barthes, Foucault) hatten dort weit weniger Einfluss (exemplarisch ablesbar am ‚Fall Wilkomirski‘, vgl. Kapitel 1.7) als auf andere literarische (Sub-)Felder. Weit wichtiger blieb außerdem lange die Frage, wer wann worüber mit welchen literarischen Mitteln sprechen kann beziehungsweise darf, und so sind Kormans, Taboris und Schindels Ästhetiken auch deshalb legitimiert, weil alle drei Jüd*innen sind. Debatten etwa 7

Der Begriff ‚Holocaust‘ – abgeleitet vom griechischen ‚holokauston‘, der Bezeichnung für ein ‚vollständiges Brandopfer für Gott‘ – fand zunächst im englischen Sprachraum Verwendung und wurde erst nach der breit rezipierten Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust (1979) konventionalisiert (vgl. Kap. 1.6, Anm. 177). Ich ziehe den hebräischen Begriff ‚Shoah‘ vor, der als ‚Katastrophe‘ übersetzt werden kann und dem die etymologische Komponente der ‚Opferung‘ fehlt. Die beiden Begriffe werden mittlerweile oftmals synonym verwendet. 8 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst [Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, 1992]. Frankfurt: Suhrkamp 1999, S. 371. 9 Ebd., S. 372. 10 Auf die bei Bourdieu nicht trennscharf ausgearbeitete Frage nach der Reichweite eines Feldes sowie auf den Bedarf nach Differenzierungen hinsichtlich raumtheoretischer Referenzbezüge verweisen etwa Markus Joch und Norbert Christian Wolf (vgl. „Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung“. In: dies. (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Forschung. Berlin, Boston: de Gruyter 2005, S. 1–24). Zur Problematik einer genaueren Definition des Feldbegriffes vgl. Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: „Feld“. In: Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2014, S. 99–103.

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bezüglich der Rolle von jüdischen Sprechenden als Autor*innen und literarische Figuren oder diskursive Konventionen zeichnen das Sub-Feld der Shoah-Literatur aus und sind für eine Bestimmung von Taboris und Schindels Ästhetiken des Grotesken zentral; sie stehen im Fokus von Kapitel eins. Hinsichtlich der biografischen Legitimation von künstlerischen Äußerungsakten muss dem zuvor Gesagten eine Ergänzung an die Seite gestellt werden: Für Kormans Video ist nicht nur die Biografie der Künstlerin, sondern auch die Identität des tanzenden Mannes relevant, der nicht nur einen Überlebenden darstellt, sondern ihn auch verkörpert. Sein Körper beglaubigt das historische Ereignis, indem er dessen Spuren in sich trägt und so indexikalisch auf die eigene Vergangenheit verweist. Im Rahmen der Analyse von Taboris Kannibalen wird sich die eminente Bedeutung besonders der Materialität des grotesken Körpers von Überlebenden zeigen und damit hängt auch folgende These zu Taboris Kannibalen zusammen: Ich gehe von der Annahme aus, dass die Bedeutung der Materialität dieses Körpers in der Dramatik der 1960er Jahre neu verhandelt wird. Anhand von Taboris Theaterarbeit lässt sich untersuchen, wie die spezifische Medialität des Dramas (z.B. Sprache als Handlung) dazu beitragen kann, dass dem grotesken Körper des ­Shoah-Opfers nicht lediglich als Motiv eine Rolle in künstlerischen Äußerungsakten zukommt, sondern dass er als bedeutungskonstituierendes Zeichen in literarische wie nicht-literarische Diskurse über die Shoah integriert wird (vgl. Kapitel 3). In Kormans Video (2009) legitimiert die Anwesenheit des Körpers des Überlebenden die Ästhetik des Videos – ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Körper als indexikalischem Zeichen und literarischer Ästhetik entsteht allerdings erst langsam. Seinen Ausgangspunkt nimmt diese Verflechtung in den 1960er Jahren, wie anhand von Taboris Theaterarbeit gezeigt wird; seine Fortsetzung findet sie in einem späteren Anstieg an Veröffentlichungen und Verkäufen von autobiografischen und autofiktionalen Texten von Überlebenden (vgl. Kapitel 1). Diese Etablierung des Körpers stellt innerhalb des Shoah-Diskurses einen nicht zu unterschätzenden Einschnitt dar und ebnet auf lange Sicht auch den Weg für den Aufschwung von Oral-History-Interviews und Zeitzeug*innengesprächen. Damit ist die Zäsur benannt, die zwischen Taboris Kannibalen und Schindels Dunkelstein liegt: Vor allem das Sterben von Zeitzeug*innen und die Globalisierung von Erinnerung läuten um die Jahrtausendwende eine neue Erinnerungsepoche ein (vgl. bes. Kapitel 1.7 und 4.1). Dieser Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis hat auch Auswirkungen auf literarische und filmische Darstellungen der Shoah, was sich etwa an Steven Spielbergs Schindlers Liste (1993), einem ‚Klassiker‘ unter den Shoah-Filmen, ablesen lässt: An dessen Ende steht das Überleben von jüdischen Zwangsarbeiter*innen und die Menschlichkeit des eingangs als opportunistisch gezeigten Deutschen Oskar Schindler im Mittelpunkt – die Shoah hat in dem Film zu einem ‚happy end‘ gefunden. Die

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stärkere Hinwendung zum Überleben im öffentlichen Gedenken infolge des immensen Erfolgs des Films konstatiert neben dem Regisseur Claude Lanzmann auch die Filmwissenschaftlerin Gertrude Koch.11 Den Untersuchungszeitraum vor dieser Zäsur bilden die 1960er Jahre, da in deren soziopolitischem Kontext einschneidende Veränderungen in gesellschaftlichen, juristischen und vor allem auch literarischen Diskursen zu beobachten sind. Das beginnende 21. Jahrhundert ist der zweite Untersuchungszeitraum; für ihn kann die Feststellung, das Gedenken an die Ereignisse der Jahre 1933–1945 sei bereits seit gut zwanzig Jahren einem tief greifenden Wandel unterworfen, mittlerweile als Gemeinplatz gelten.12 Unterschiedliche Kunstformen sowie interdisziplinäre Forschungsfelder tragen Zeichen der Konjunktur der Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlichen Konzeptionen von Gedächtnis und Erinnerung in sich.13 Ausgelöst wurde dieses Interesse auch wesentlich durch die politischen Veränderungen der Jahre 1989/90, den auch die Erinnerungskultur betreffenden Globalisierungsprozess14 sowie das Ableben der letzten Zeitzeug*in11 Vgl. Bratu Hansen, Miriam: „Schindler’s List is not Shoah: The Second Commandment, Popular Modernism, and Public Memory“. In: Critical Inquiry 22, 2 (1996), S. 292–312, hier: S. 299. 12 Einen detaillierteren Einblick in die Internationalisierung des Shoah-Gedenkens und Implikationen für nationale Erinnerungskulturen bietet etwa der von Jan Eckel und Claudia Moisel herausgegebene interdisziplinäre Sammelband Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive (Göttingen: Wallstein 2008). Aleida Assmann untersucht als konkretes Beispiel für Veränderungen im Gedenken außerdem ethische Aspekte von Erinnerungskulturen rund um die Shoah als Novum im Gedenken; diese haben, so Assmann, zur Integration eines ‚negativen Gedächtnisses‘ beigetragen und seit den 1990er Jahren eine neue Politik der Reue begründet (vgl. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: Beck 2013, S. 209 f.). 13 Die interdisziplinären Beiträge von Jan und Aleida Assmann haben die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung begründet und Diskussionen zu (kollektivem/kulturellem) Gedächtnis und Erinnerung im Deutschland der 1980er Jahre wesentlich geprägt. In ihren Arbeiten differenzieren sie etwa zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit als verschiedenen Organisationsformen von Erinnerung (und damit zwischen ‚Funktionsgedächtnis‘ und ‚Speichergedächtnis‘) und trugen so zu einer Erweiterung und neuen Standortbestimmungen deutscher Erinnerungspraktiken bei. Vgl. z.B. Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983. – Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. – Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: DVA 1992. – Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. 14 Wie bei keinem anderen Ereignis der Neueren und Neuesten Geschichte finden Forschung und Erinnerung auf supranationaler Ebene statt; neben österreichischen und deutschen Einrichtungen zählen zu renommierten Forschungszentren beispielsweise Yad Vashem, das Simon Wiesenthal Center mit Hauptsitz in Los Angeles, die Forschungseinrichtung des ‚Holocaust Memorial Museum‘ in Washington D.C. oder das Jüdisch Historische Institut Warschau. Auch

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nen. Diese Transformationen sind ein wesentliches Charakteristikum einer ‚Schwellenzeit‘,15 in der verhandelt wird, welches Wissen um die Vergangenheit erinnert werden soll und wie Erinnerungspraktiken konventionalisiert werden. Schindlers Liste wie Kormans I will survive zeigen, wie diskursive und mediale Veränderungen charakteristisch für den Übergang zwischen Erinnerungsepochen sind und wie diese mit sich wandelnden Themen, Ästhetiken und Repräsentationsweisen im Sub-Feld der Shoah-Literatur korrelieren. Sie können literaturästhetische Debatten über die ‚Darstellbarkeit‘ der Shoah ebenso betreffen wie etwa den Aufschwung neuer Medien, etwa der Graphic Novel.16 In diesen Erinnerungsepochen lassen sich jeweils unterschiedliche Ästhetiken auffinden, die folglich jeweils nicht nur motivisch oder strukturell zu untersuchen sind, sondern vor allem im Kontext ihrer Produktionsbedingungen. Eine weitere Veränderung in Erinnerungspraktiken und -diskursen betrifft die ubiquitäre Verfügbarkeit von Bildern von der Shoah. Sie nützen sich ab und es schleicht sich ein Automatismus der Wahrnehmung dieser Bilder ein. Korman sieht ihren künstlerischen Äußerungsakt als Versuch, diesen Automatismus zu durchbrechen, wenn sie auf ihrer Website ihre ‚Intention‘ hinter dem Video folGedenkstätten und ‚Holocaust Museen‘ befinden sich etwa in Buenos Aires, Belgien, Helsinki, Estland, Skopje, uvm. Vgl. hierzu auch Eckel/Moisel (Hg.): Universalisierung des Holocaust?. 15 Vgl. Preußer, Heinz-Peter: „Erinnerung, Fiktion und Geschichte. Über die Transformation des Erlebten ins kulturelle Gedächtnis: Walser – Wilkomirski – Grass“. In: German Life & Letters 57, 4 (2004), S. 488–503, hier: S. 500. 16 Für die Filmproduktion liegt eine Vielzahl interessanter Forschungsergebnisse vor: Etwa untersucht Martina Thiele Debatten um Shoah-Filme, die zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit und den 1990er Jahren entstanden sind (Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film. Berlin: Lit Verlag 2008); eine stärker film- und literaturwissenschaftliche Perspektive bieten die Beiträge in dem von Margrit Fröhlich, Hanno Loewy und Heinz Steinert herausgegebenen Sammelband Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. (München: Edition Text + Kritik, 2003); eine breit angelegte Untersuchung verschiedener Genres findet sich in Aaron Kerners Monografie Film and the Holocaust. New Perspectives on Dramas, Documentaries, and Experimental Films (London: Continuum 2011). Das wesentlich jüngere Feld der Comic Studies bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Shoah-Forschung; einen Einblick in deutsche Comics über die Shoah vermittelte die Ausstellung Holocaust im Comic (z.B. gezeigt in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt oder im Lern- und Gedenk­ ort Schloss Hartheim, beide 2017), einen kompakten ersten Einblick in die vielfältige Darstellung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics von der NS-Zeit bis in die Gegenwart ermöglicht der von Ralf Palandt herausgegebene Sammelband Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics (Berlin: Archiv der Jugendkulturen 2011). Ole Frahms Aufsatz „Gespaltene Spuren. Der Holocaust im Comic nach MAUS – A Survivor’s Tale“ verhilft anhand seiner Analyse von zwölf zwischen 2000 und 2012 entstandenen Comics zu einem Einblick in jüngste Publikationen in diesem Feld (in: Roebling-Grau, Iris/Rupnow, Dirk (Hg.): ‚Holocaust‘-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Paderborn: Fink 2015, S. 199–218). Eine Untersuchung der Die Shoah im Comic seit 2000 von Thomas Mertens erscheint 2021 (Berlin, Boston: DeGruyter).

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gendermaßen beschrieb: „My intention is to present a fresh perspective to younger generations who have often become numbed and desensitized to the horrors of the Holocaust and other genocides happening now throughout the world. I hope this will allow historical memory to live on, so that the lessons of the past will be forever remembered.“17 Die Störung konventionalisierter Wahrnehmungsmuster wird auch für die Analyse von Taboris und Schindels Ästhetiken des Grotesken eine wichtige Rolle spielen: Dabei zeigen sich Ähnlichkeiten und Verschiebungen in den literarischen Verfahren in Die Kannibalen und Dunkelstein, die mit den divergierenden Erinnerungsepochen verbunden sind. So wie der Körper des KZ-Insassen sich in den 1960er Jahren erst als bedeutungskonstituierendes Zeichen etablieren musste, unterliegt er nach der Jahrtausendwende einem weiteren Paradigmenwechsel, als infolge des Ablebens der letzten Zeitzeug*innen andere Medien an ihre Stelle treten müssen. Wenn der Überlebende selbst in Kormans Video nicht mehr tanzen kann, wer tanzt an seiner Stelle? Oder, anders gefragt, unter welchen ästhetischen Voraussetzungen darf jemand an seiner Stelle tanzen? Verschwindet der Körper von Überlebenden, muss diese Leerstelle im Zuge von Prozessen der Mediatisierung neu besetzt werden. Vor diesem Hintergrund stellt Dunkelstein die Mediatisierung von Überlebenden und Zeitzeug*innen in den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit den umstrittenen ‚Judenräten‘ (vgl. Kapitel 4). An dem Drama ist zu untersuchen, wie Schindels Rückgriff auf Ästhetiken des Grotesken nicht nur das Verhältnis zwischen der Darstellung und dem Gegenstand der Darstellung perspektiviert, sondern auch das Verhältnis zwischen dem Gegenstand der Darstellung und dessen medialer Repräsentation. Sind die Körper von Überlebenden in ihrer unmittelbaren Materialität nicht mehr verfügbar, tritt an ihre Stelle ein Simulacrum (vgl. Kapitel 4), mit dessen vielgestaltigen Mediatisierungsmöglichkeiten sich Dunkelstein befasst. Wenn sich eine tragfähige Konzeptionalisierung des ‚Grotesken‘ für die Shoah-Literatur nicht primär motivisch oder strukturell beschreiben lässt, sondern relational gedacht werden muss, ist die Verschiebung vom grotesken Körper von Überlebenden hin zu dessen Mediatisierung auch geknüpft an zeitgenössische literarische wie außerliterarische Diskurse; einigen dieser diskursiven Kontexte gilt das folgende Kapitel.

17 Korman, Jane. Homepage der Künstlerin. URL: http://www.janekormanart.com/janekormanart. com/16.Dancing_Auschwitz/Pages/I_Will_Survive_Video.html [10.7.2018].



1. VORAUSSETZUNGEN 1957 forderte Philip Friedman, ein früher jüdischer Historiker der Shoah, für die Historiografie: What we need is a history of the Jewish people during the period of the Nazi rule in which the central role is to be played by The Jewish People, not only as the victim of a tragedy, but also as the bearer of a communal existence with all the manifold and numerous aspects involved. In short: our approach must be definitely ‘Judeocentric’ as opposed to ‘Nazi-centric’, which it has been so far.1

Friedman plädiert hier für eine Historiografie, die den verfolgten und ermordeten jüdischen Menschen den Status eines souverän sprechenden Subjekts zugesteht. Jüd*innen sollen nicht wieder zum Verstummen gebracht werden – etwa indem lediglich nationalsozialistische Quellen für die Erforschung herangezogen werden. Unter den frühen Shoah-Historiografen sind einige KZ-Überlebende (z.B. Kogon, Adler2), deren Interesse vor allem historischen Evidenzen, wie der Struktur von Lagern oder organisatorischen Abläufen, galt. Ihre Arbeiten verweisen auf die erst post factum festgestellte Schwierigkeit der Vermittlung zwischen historischen Evidenzen und individuellen Erfahrungen. Die Qualität der Erzählungen von Zeitzeug*innen (auch ‚Ego-Dokumente‘), die in der sehr eingeschränkten, individuell affizierten Perspektive besteht, muss, so Friedmans Forderung, gerade deshalb berücksichtigt werden, damit die Verfolgten den Status von selbstbestimmt Sprechenden zurückerhalten und die Auslöschung ihres Subjektstatus nicht diskursiv reproduziert wird. Diese Forderung betrifft auch Aspekte der literarischen Produktion: Zwar reflektiert die Literatur(wissenschaft) die Perspektivierung von Handlung (‚point

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Friedman, Philip: „Problems of Research on the European Jewish Catastrophe“ [1957]. In: Gutman, Yisrael/Rothkirchen, Livia (Hg.): The Catastrophe of European Jewry. Jerusalem: Yad ­Vashem 1976, S. 643. Zit. nach Goldberg, Amos: „The Victim’s Voice and Melodramatic Aesthetics in History“. In: History and Theory 48, 3 (2009), S. 220–237, hier: S. 223. Kogon, Eugen: Der SS-Staat [1956]. München: Heyne 1988. – Adler, H.G.: Theresienstadt 1941– 1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen: J.C.B. Mohr 1955. Der Soziologe Kogon, der mehrere Jahre in Buchenwald inhaftiert war, fokussiert vor allem strukturelle Aspekte der Konzentrationslager. Adlers Arbeit, bestehend aus einem historischen, einem soziologischen und einem psychologischen Teil über Gründung, Alltag und Struktur bis zur Auflösung Theresienstadts sowie einem ausführlichen Glossar, gilt nach wie vor als Standardwerk. Es widmet sich auch der jüdischen Selbstverwaltung und damit unter anderem den sogenannten Judenältesten (vgl. Kapitel 4).

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1. Voraussetzungen

of view‘) schon lange Zeit mit einer größeren Selbstverständlichkeit als die Historiografie, doch ist die Frage im Kontext der Shoah-Literatur augenscheinlich besonders brisant. Gerade in diesem Zusammenhang gilt es, für die Literatur zu fragen, wer zu welchem Zeitpunkt mit welchen literarischen Mitteln über wen (z.B. über jüdische ‚Opferfiguren‘) spricht und aus welcher Perspektive Shoah-Narrative erzählt werden. Obzwar die von Raul Hilberg vorgenommene Unterscheidung zwischen Historiografien aus Opfer-, Täter*innen- oder Mitläufer*innenperspektive mit historischer Distanz schematisch und kaum mehr haltbar erscheint,3 ist die Sprecher*innenposition der Historiker*innen in der Tat oft mit dem Objekt ihrer Untersuchung gekoppelt: So haben sich die historiografischen Entwicklungen in Israel und Deutschland auf unterschiedliche Quellen gestützt, verschiedene Narrative entwickelt und andere Perspektiven favorisiert, wie die historiografische Forschung gezeigt hat.4 Der Privilegierung von Dokumenten, Perspektive und Stimme der Opfer auf israelischer Seite steht – wenig überraschend – ein stärkeres Interesse an der Untersuchung des Täter*innenverhaltens vonseiten deutscher beziehungsweise nicht-jüdischer Perspektive im weiteren Sinne5 gegenüber. In Israel herrschte die Stimme der Opfer bis in die 1980er Jahre vor – bis zum Eichmann-Prozess vor allem die Stimmen der am Widerstand Beteiligten, erst später jene der ‚einfachen‘ Opfer.6 Erst ab den 1980er Jahren setzte sich dort eine jüngere Generation von Historiker*innen mit den Verhaltensweisen und den Quellen der Täter*innen auseinander. In Deutschland hingegen stand trotz der frühen Aufzeichnungen von Erfahrungen von Überlebenden in der unmittelba3 4

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Vgl. Goldberg: „The Victim’s Voice“, S. 222. bzw. Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945. Frankfurt: Fischer 1992. Vgl. z.B. Schüler-Springorum, Stefanie: „Welche Quellen für welches Wissen?“ In: Gelhard, Dorothee/von der Lühe, Irmela (Hg.): Wer zeugt für den Zeugen? Positionen jüdischen Erinnerns im 20. Jahrhundert. Frankfurt, Wien: Lang 2012, S. 175–192, bes. S. 183 f. Es ist anzunehmen, dass für Österreich ähnliche Befunde gelten wie für Deutschland. Vgl. zu Unterschieden zwischen deutscher bzw. US-amerikanischer auf der einen sowie israelischer Historiografie auf der anderen Seite, welche jeweils den (kollektiven) Subjekt- bzw. den Objektstatus der Verfolgten fokussiert, z.B. Goldberg: „The Victim’s Voice“, bes. S. 222–226. Vgl. etwa Christopher Brownings bahnbrechende Studie zu Erschießungskommandos in Polen, die für die Mitglieder des Reserve-Polizeibataillons 101 zeigte, dass Gruppenzwang oder Gehorsam für die Beteiligung an Massenexekutionen ausschlaggebender waren als eine ‚sadistische‘ oder ‚fanatische‘ Persönlichkeit (vgl. Browning, Christopher: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland. New York: HarperCollins 1993). Dass die deutsche und angelsächsische Historiografie sowohl die Perspektive der Opfer als auch jüdische Quellen lange kaum berücksichtigte, hat etwa Amos Goldberg in seiner Analyse von Saul Friedländers The Years of Extermination festgestellt (vgl. Goldberg: „The Victim’s Voice“, bes. S. 222 f.). Zum Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen Umgang mit Shoah-Überlebenden in Israel infolge des Eichmann-Prozesses vgl. Yablonka, Hanna: The State of Israel vs. Adolf Eichmann. New York: Schocken 2004 sowie Kapitel 1.6.

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ren Nachkriegszeit in DP-Camps7 die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen lange im Vordergrund. Die Aussagen von Opfern haben Historiker*innen erst spät miteinbezogen, sodass eine kritische Auseinandersetzung der deutschsprachigen, nicht-jüdischen Historiografie mit der NS-Herrschaft erst in den späten 1960er und den 1970er Jahren begann; dabei hat man lange nach Erklärungen für den Massenmord gesucht, zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand wurde der Genozid erst ab den 1980er Jahren.8 Die Perspektivierung jeder (auch historiografischen) Erzählung wirft damit auch in der Historiografie die Frage nach Sprecher*innen auf sowie die Frage, wie Erzählstrukturen Erinnerungsinhalte präformieren – bereits bevor Hayden White seine Thesen zum narrativen ‚emplotment‘9 veröffentlichte. White analysierte 1973 erstmals historiografische Texte mithilfe von literaturwissenschaftlichen Kategorien (Metapher, Metonymie; Tragödie, Komödie etc.); seine Untersuchung mündet in die teils umstrittene konstruktivistische These, dass auch historiografisches Schreiben notwendigerweise narrativ sei und narrative Strukturmomente und diskursive Muster auspräge. Whites Untersuchung von Geschichtsschreibung mithilfe literaturtheoretischer Kategorien relativiert damit die seit dem 19. Jahrhundert geltende Episteme des Paradigmas ‚wissenschaftlicher Objektivität‘, laut derer die Historiografie ausschließlich zur Herstellung von Evidenzbeweisen diene,10 und trägt damit wesentlich zu einer stärkeren Berücksichtigung von Sprecher*innenperspektiven (und damit auch zu Plotstrukturen) auch in der Historiografie bei. Die Tragweite dieser Forschungsergebnisse zeigt die Aktualität der Debatte bis in die 1990er Jahre, wenn Saul Friedländer in seinem opus magnum Nazi Germany and the Jews: The Years of Extermination11 ein 7 8

Vgl. Schüler-Springorum: „Welche Quellen für welches Wissen?“, S. 178 f. Vgl. ebd., bes. S. 183 f. Das Verhalten von Frauen sowie ihre Rolle als KZ-Aufseherinnen wurde übrigens erst ab den 1990er Jahren systematisch untersucht. Gleichzeitig fungieren sie als Projektionsfläche für pathologisierende oder sexualisierende Frauenbilder, so etwa in den israelischen Stalags-Comics oder der US-amerikanische Naziploitation-Film Ilsa, She Wolf of the SS (1975). Die Ausstellung Im Gefolge der SS: Aufseherinnen im Frauen-KZ Ravensbrück sowie die Aufsätze im wissenschaftlichen Begleitband fragen nach Biografien und Alltagsgestaltung von Täterinnen, nach juristischer Strafverfolgung sowie der Rolle von geschlechtsspezifischen Mythologisierungen. Vgl. Erpel, Simone (Hg.): Im Gefolge der SS. Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück. Begleitband zur Ausstellung. Berlin: Metropol 2007. 9 White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa [Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, 1973]. Frankfurt: Fischer 1991. 10 Vgl. Nieraad, Jürgen: „Shoah-Literatur: Weder Fiktion noch Dokument – Alexander Kluges Liebesversuch und Heimrad Bäckers nachschrift“. In: Braese, Stephan (Hg.): In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutscher Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 135–148, hier: S. 136. 11 Friedländer, Saul: Nazi Germany and the Jews: The Years of Persecution, 1933–1939. New York: HarperCollins 1997. – ders.: The Years of Extermination: Nazi Germany and the Jews, 1939–1945. New York: HarperCollins 2007.

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alternatives Modell zu konventionalisierter Shoah-Geschichtsschreibung entwirft: eine polyphone Untersuchung, welche neben der historischen Rekonstruktion auch literarische Texte sowie Stimmen von Zeitzeug*innen in Darstellung und Untersuchung miteinbezieht. Diskursgeschichtlich relevant für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang ist, dass sich in nachträglicher Analyse Analogien zwischen diesen historiografischen und literarischen Diskursen12 ablesen lassen und Friedmans Forderung für die Historiografie aus dem Jahr 1957 gewissermaßen auch mit einem erhellenden Blick auf die Literaturproduktion verbunden werden kann: Wie die literaturwissenschaftliche Forschung gezeigt hat, bestand bis in die 1980er Jahre hinein in der BRD geringes Interesse an den Texten von Überlebenden13 sowie an mündlichen Zeitzeug*innenberichten.14 Dass die Anzahl der im deutschsprachigen Raum schreibenden jüdischen Autor*innen nach 1945 sehr gering war, liegt auf der Hand (Ermordung, Exil, Fortführung vieler institutioneller und personeller Strukturen des Nationalso12 Etwa schreiben die Herausgeber des Sammelbandes Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust im Vorwort von einem „objektiven Gegenüber jüdischer und nichtjüdischer Autoren“ in der deutschen Nachkriegsliteratur, das sich „in fundamental unterschiedlichen Erlebnissen mit der NS-Vernichtungspolitik“ zeigt. (Braese, Stephan/Gehle, Holger/Kiesel, Doron/Loewy, Hanno: „Vorwort“. In: dies. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt: Campus 1998, S. 9–16, hier: S. 10.) 13 Vgl. Jaiser, Constanze: „Die Zeugnisliteratur von Überlebenden der deutschen Konzentrationslager seit 1945“. In: Eke, Norbert Otto/Steinecke, Hartmut (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 107–134. Ähnliches dürfte für Österreich gelten, wo eine Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit bekanntlich erst zeitversetzt zur BRD stattfand. Zur Situation in der DDR vgl. etwa Eke, Norbert Otto: „Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR“. In: ders./Steinecke: Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 85–106. Eke stellt fest, dass in der DDR „die nicht allein ästhetisch intrikate Frage nach dem Verhältnis von Shoah und Kunst in der DDR im Grunde genommen von Anfang an in den ideologischen und historischen Mythenbildungen des Antifaschismus“ verschwinde (ebd., S. 85). Den breiten Bezugsrahmen des Begriffs ‚Holocaust-Literatur‘ kritisiert Jaiser in dem genannten Beitrag, da er weder zwischen dem Entstehungskontext, dem literarischen Anspruch des Textes noch der Sprecher*innenposition (KZ-Überlebende oder eine andere Person) differenziere. Auch die Begriffe ‚Autobiografie‘, ‚Memoirenliteratur‘, und die Zurechnung zu ‚Dokumentarliteratur‘ weist sie zurück und schlägt den Begriff ‚Zeugnisliteratur‘ für jene Texte vor, deren Verfasser*innen unmittelbar vom Genozid betroffen waren und diesen überlebt haben (vgl. bes. S. 107 f.). Dagmar C. Lorenz verwendet wohl in Anbetracht der mitschwingenden therapeutischen Funktion des Niederschreibens auch den Begriff ‚Bewältigungstexte‘ (vgl. Lorenz, Dagmar C.G.: Verfolgung bis zum Massenmord: Holocaust-Diskurse in deutscher Sprache aus der Sicht der Verfolgten. New York: Peter Lang 1992, S. 5). Wichtig ist bei alledem vor allem die Unterscheidung zwischen narrativen Texten von Zeitzeug*innen und ‚Dokumenten‘ als zeitgenössischen Schriftstücken. 14 Vgl. etwa Schüler-Springorum: „Welche Quellen für welches Wissen?“, S. 175–192. Vgl. auch Kapitel 1.1.

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zialismus und damit häufige Ausgrenzung von Jüd*innen von prominenten Sprecher*innenpositionen15); gleichzeitig kommen jedoch in der Literatur- und Kulturproduktion literarische jüdische Figuren vor. Deutlich besteht also ein Missverhältnis zwischen intra- und extratextueller Anwesenheit jüdischer Figuren beziehungsweise Autor*innen im literarischen Feld: Trotz der erheblichen Anzahl von Texten über die unmittelbare Vergangenheit scheint ein erster Blick zu suggerieren, dass sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit primär nicht-jüdische Autor*innen mit der NS-Vergangenheit beschäftigt hätten (Borchert, Grass [Büchner-Preis 196516], Böll [Büchner-Preis 1967], Hochhuth). Jüdischen Autor*innen, die zu diesem Thema publizierten, wurde lange Zeit weniger Beachtung geschenkt (Aichinger, Sachs; steigendes Interesse an Texten von Überlebenden in den 1980er Jahren); als Akteur*innen im literarischen Feld der BRD erhielten Anna Seghers (1947), Paul Celan (1960) und Wolfgang Hildesheimer (1966) als erste jüdische Autor*innen zwischen 1945 und 1970 den Büchner-Preis. Gleichzeitig hat die literaturwissenschaftliche Forschung mittlerweile die hohe Anzahl an frühen Texten über Shoah- und Lagererfahrung erfasst, die ebenso wenig in den Kanon eingegangen sind wie die Namen ihrer Verfasser*innen: Dagmar C. Lorenz hat bereits 1992 in ihrer umfangreichen Studie Verfolgung bis zum Massenmord eine beeindruckende Anzahl unterschiedlichster, auch wenig bekannter Texte von jüdischen Autor*innen genannt.17 Eine Bibliografie früher, oft nur schwer auffindbarer Texte versammelt die seit Ende 2020 zugängliche Datenbank Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949.18 Gründe für die ausbleibende Kanonisierung können vielseitig sein und müssen weder ausschließlich in der Herkunft der Autor*innen noch der Qualität der Texte liegen, sondern können etwa mit der Verlagslandschaft der Nachkriegsjahre zusam15 Ein prominentes Gegenbeispiel ist der Anwalt Fritz Bauer, der als Sohn jüdischer Eltern nach kurzer KZ-Inhaftierung infolge seines Engagements für die Sozialdemokratie in den frühen 1930er Jahren nach Dänemark und anschließend Schweden auswanderte. Bereits 1949 kehrte er nach Deutschland zurück und war in seiner Funktion als Generalstaatsanwalt wesentlich am Zustandekommen der Frankfurter Auschwitz-Prozesse beteiligt. 16 Die Verleihungen der Büchner-Preise spiegeln die Anerkennung schriftstellerischer Arbeit durch Konsekrationsinstanzen der 1960er Jahre. 17 Vgl. Lorenz: Verfolgung bis zum Massenmord. Lorenz stellt den Großteil der umfassend recherchierten Texte mit kurzen Inhaltsangaben vor, sodass angesichts der Materialfülle analytische Tiefe ausbleiben muss; auch eine stärkere theoretische Rahmung der Untersuchung wäre wünschenswert. Nichtsdestotrotz bleibt die Leistung der akribischen Recherchearbeit bestehen, die einen wesentlichen und frühen Beitrag dazu leistet, den vielzitierten Mythos mangelnder Textproduktion in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu widerlegen. 18 URL: http://www.fruehe-texte-holocaustliteratur.de/ [letzter Zugriff: 2.4.2021]. Die Datenbank­ inhalte entstammen dem Projekt GeoBib – Virtueller Atlas und Online-Bibliographie der frühen Holocaustliteratur (2012–2015), durchgeführt an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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menhängen (Kurzlebigkeit mancher Verlage, geringe Auflagenzahlen etc.; zu Veränderungen im Verlagswesen vgl. auch Anm. 20) – eine systematische Untersuchung dieser frühen Texte ist ein eigenes Forschungsdesiderat. Das Verhältnis zwischen nichtkanonisierten Veröffentlichungen von jüdischen Autor*innen einerseits und kanonisierten Veröffentlichungen von nicht-jüdischen Autor*innen im deutschsprachigen Raum ist also vielschichtig. Für viele stärker kanonisierte Texte gilt, dass in ihnen oftmals auch dann jüdische Figuren vorkommen, wenn die Autor*innen selbst nicht jüdisch sind. In der Nachkriegszeit veröffentlichte, nach 1945 in Europa spielende Texte über jüdische Figuren müssten in den Figurenbiografien notwendigerweise auch den Genozid einbeziehen, jedoch fehlt in vielen Texten eine explizite Auseinandersetzung damit. Ein solcherart komplexes Verhältnis von Schweigen und Erzählen und dessen vielfältige literarische Ausgestaltungen in der westdeutschen Nachkriegsliteratur stehen im Zentrum von Ernestine Schlants kanonischer Monografie Die Sprache des Schweigens. Schlants Korpus besteht dabei ausschließlich aus Texten von nichtjüdischen Autor*innen und sie nennt als Vertreter eines neuen Kanons, der zu Formen des Verschweigens und Verzerrens führe, Grass, Böll und Härtling. Ihnen stellt sie jene Autor*innen gegenüber, die Strukturen des Be- und Verschweigens aufzubrechen versuchen wie Koeppen, Gert Hofmann und Sebald.19 Mit diesen vielschichtigen Strategien des Verdeckens, Verkennens und Verzerrens der Shoah in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur korreliert nun auch ein Fortbestehen von antisemitischen Judenbildern bei gleichzeitiger Aufwertung von deutschen Figuren, das etwa Stefan Busch in seinem aufschlussreichen Aufsatz über „Juden in Nachkriegsromanen von NS-Autoren“ untersucht. Buschs statistischen Auswertungen zufolge haben 90% der NS-Autor*innen ihre schriftstellerische Tätigkeit nach 1945 fortgesetzt.20 Unter ihnen ist der heute vollständig vergessene „Auflagenmillionär[]“21 Paul Coelestin Ettighoffer (1896–1975) mit seinem ‚Tatsachen-Roman‘ Das Mädchen ohne Stern (1951). An ihm lassen sich fortwirkende antisemitische Judenbilder bei gleichzeitiger vorgeblicher Einfühlung in eine verfolgte jüdische Figur besonders eindrücklich ablesen, da das im Titel genannte Mädchen die Perspektiven19 Vgl. Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck 2001. 20 Vgl. Busch, Stefan: „Juden in Nachkriegsromanen von NS-Autoren“. In: O’Dochartaigh, Pól (Hg.): Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature?. Amsterdam und Atlanta, GA: Rodopi 2000, S. 419–433, hier: S. 419. Busch bringt diese Zahl auch in Zusammenhang mit einer Veränderung im Verlagswesen: Das Aufheben der alliierten Lizenzierungspolitik (1948/49) habe das von Angebot und Nachfrage gesteuerte Verlagswesen begünstigt, sodass innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl an Verlagen und Vertriebsorganisationen von ehemaligen NS-Autor*innen und Funktionären entstand. 21 Ebd., S. 422.

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figur des Romans ist. Das Mädchen ohne Stern sei hier exemplarisch für jene T ­ exte betrachtet, welche die Verfolgung von jüdischen Menschen zwar thematisieren, in denen gleichzeitig jedoch antisemitische Bilder von Juden fortwirken. In Ettighoffers Roman entkommt die neunzehnjährige getaufte jüdische Anima jahrelang der Inhaftierung und Deportation dank der Hilfe von vielen ‚aufrichtigen‘, nicht vom Nationalsozialismus korrumpierten Deutschen. Vor allem die Wehrmachtsoldaten seien, so wird Anima bescheinigt, „anständige Kerle“ – übrigens ganz im Gegensatz zu den „Politischen […] mit den braunen Uniformen“.22 Auch Anima bestätigt: Die „Wehrmacht, das sind die Soldaten unseres Volkes, unsere Brüder, die Söhne und Mütter von drüben […], auch die Wehrmacht ist machtlos gegen die Partei“.23 Dank vielseitiger Unterstützung, hauptsächlich von männlichen Figuren, kann Anima im Wien der frühen 1940er ­Jahre eine Sanitätsausbildung absolvieren und schließlich als Sanitätshelferin an der Front ihren Dienst an verletzten Soldaten leisten. Nicht genug, dass sie als Verfolgte sich ausgerechnet um Kriegsverletzte kümmern soll, erhält Anima gegen Kriegsende einen Heiratsantrag von einem Offizier, der „früher bei der Gestapo“ war, jedoch versichert, „dieses ganze Spitzelsystem, die Kazette, die Verschickung von Juden in die Ostgebiete und sonstige Dinge“24 nicht mehr mitmachen zu wollen (dass er gerne Max Brod liest, soll im Wertesystem des Romans wohl seine Abkehr von der NS-Ideologie zusätzlich akzentuieren). Während der Offizier also kein ‚richtiger Nazi‘ ist, da ‚bekehrt‘, zeigt Ettighoffer indessen auch Anima nicht als ‚richtige Jüdin‘: Bereits in einem der ersten Kapitel setzt Ettighoffer sie von „echte[n] Juden“25 (vermutlich gleichzusetzen mit: nicht-getauft, nicht-wohlhabend etc.) ab, die Christus gekreuzigt hätten. In dem Blick, den Ettighoffer Anima auf die ‚echten Juden‘ werfen lässt, bündeln sich biologistische, ökonomische und religiöse Rassismen, die umso nachhaltiger und unantastbarer gelten müssen, da sie doch von einer jüdischen Figur geäußert werden: Als Anima „die schweren Augenlider einer müdegewordenen alten Rasse“ beobachtet, fragt sie sich: Empfanden diese Menschen Furcht oder Schrecken? Das Mädchen [Anima] konnte es nicht erraten. Nach außen hin waren sie alle teilnahmslos, diese Menschen. Warum gönnte man ihnen nicht die letzten Jahre eines armseligen Lebens? Dies waren keine Kapitalisten, keine Ausbeuter, wahrscheinlich nur kleine Lumpenhänd-

22 Ettighoffer, Paul Coelestin: Das Mädchen ohne Stern. Essen: Verlag Dr. Wilhelm Spael 1951, S. 41. 23 Ebd., S. 71. 24 Ebd., S. 333. 25 Ebd., S. 41.

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ler oder arme Kleiderjuden aus den dumpfen Winkelgassen der Großstadt, Menschen, die pünktlich jeden Freitag nach Sonnenuntergang ihren Schabbes begannen, nur koscher aßen und unter sich eine beargwöhnte Kaste bildeten. Einer nach dem anderen ging durch jene Tür, keiner kehrte zurück. Was geschah mit ihnen? Dies also waren echte Juden – nein, zu ihnen gehöre ich nicht, dachte Anima, ich habe Mitleid mit ihnen. Wirklich mit jedem einzelnen dieser Männer und mit jeder einzelnen dieser alten Frauen habe ich Mitleid, aber sonst zieht mich nichts zu ihnen, ich weiß nichts von ihrer Religion, denn ich bete zu Christus, den sie kreuzigten, ich bin nicht mehr ihres Blutes und ihrer Rasse, ich bin Tochter aus reichem Hause und kenne nicht den Geruch der Armut.26

Damit führt Ettighoffers Roman die bisher genannten diskursiven Problemzusammenhänge der unmittelbaren Nachkriegszeit eindrücklich vor: Von einem während der NS-Zeit erfolgreichen nicht-jüdischen Autor wird einer jüdischen Figur erstens eine erfolgreiche ‚survival-story‘ auf den Leib geschrieben und zweitens ein unmissverständlich antisemitischer Blick auf ‚die anderen Juden‘ (Anima stößt im weiteren Handlungsverlauf auf fast keine jüdische Figur), den Ettighoffers Erzählstrategie affirmiert. Der Autor zeigt Anima darüber hinaus als Apologetin der deutschen Wehrmacht sowie eines Gestapomitglieds. Dass sie keine ‚echte Jüdin‘ ist, mag das Interesse des (bekehrten) Gestapobeamten in der Logik des Romans plausibilisieren und so affirmiert dieser, möglicherweise unwillentlich, die nationalsozialistische antisemitische Logik weit über 1945 hinaus. Bezeichnend für die Literaturlandschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit ist also ein komplexes Verhältnis von schreibenden Autor*innen und dargestellten Figuren, das sich einerseits in unterschiedlichen Formen des Verschweigens und Verzerrens manifestiert, andererseits auch in fortwirkendem Antisemitismus. Zeitgleich entstand jedoch – unter anderem infolge der alliierten Kulturpolitik – auch ein neues Judenbild, das sich in ein philosemitisches Paradigma einordnen lässt, das Figuren wie Lessings Nathan und Anne Frank symbolisieren und das die Darstellung von ‚Juden‘27 im Sub-Feld der Shoah-Literatur für Jahrzehnte stark prägen wird und dem das folgende Kapitel gelten soll. Für die Untersu26 Ebd., S. 41 f. 27 In Anbetracht der diskursiven Produktion von Identität, Körper oder Subjekt durch die kontinuierliche Wiederholung bestimmter Bilder oder Normen (Butler) müsste man, so Lyotard, eigentlich ‚die Juden‘ von den wirklichen Juden abgrenzen. Diskursive und performative Produktionen von Bildern von ‚Juden‘ sind wiederkehrende Bezugspunkte in den folgenden Kapiteln, in denen ich den Begriff ‚Juden‘ an jenen Stellen mit einfachen Anführungszeichen markiere, an denen die (performative) Konstruktion dieser Bilder mitzudenken ist. (Vgl. Lyotard, Jean-François: Heidegger und ‚die Juden‘. Wien: Passagen 1988, S. 11. Vgl. hierzu auch Günter, Manuela: „Identität und Identifizierung. Einige Überlegungen zur Konstruktion des ‚Juden‘ nach dem Holocaust“. In: O’Dochartaigh (Hg.): Jews in German literature since 1945, S. 435–446.)

1.1 Diskursprägungen – ‚Juden‘ nach 1945 und Literatur

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chung von Ästhetiken des Grotesken ist diese Entwicklung insofern zentral, da die betreffenden Texte darauf mittels unterschiedlicher literarischer Strategien Bezug nehmen.

1.1 Diskursprägungen – ‚Juden‘ nach 1945 und Literatur Die heterogene Literaturproduktion der unmittelbaren Nachkriegszeit kennzeichnet, so wurde gesagt, ein Nebeneinander von verschiedenen Bildern von ‚Juden‘, von vielgestaltigen narrativen Strategien des Beschweigens und ‚Be-Sprechens‘ sowie die beginnende, wenn auch spärlich rezipierte Veröffentlichung von ‚Überlebendentexten‘. Dabei haben sich philosemitische Judenbilder zum dominanten Dispositiv entwickelt, was seinerseits in enger Verbindung mit der Steuerung neuer literarischer Öffentlichkeiten durch die alliierte Kulturpolitik steht: Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur müssen Öffentlichkeiten und vielfältige Organe öffentlicher Meinungsbildung erst wieder allmählich entstehen – Stephan Braese spricht von „grundlegend veränderten Bedingungen literarischer Öffentlichkeit nach 1945“.28 Das Entstehen derartiger (literarischer) Öffentlichkeiten wurde wesentlich durch institutionalisierte Initiativen der alliierten Besatzungsmächte, etwa das ‚Reeducation-Programm‘ mitbestimmt. Manche dieser Initiativen stellten bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Weichen für die Etablierung einiger diskursiver Konventionen im literarischen Schreiben über die Shoah und spiegeln sich auch in nicht-literarischen Diskursen. Von den USA entworfen und von den britischen und französischen Besatzungsmächten in ähnlicher Form übernommen, hatte das Reeducation-Programm die ‚politische Umerziehung‘ der deutschen Bevölkerung sowie die „Beseitigung des Faschismus aus dem politischen, kulturellen und ökonomischen Leben und Bewusstsein“29 zum Ziel. Besonders die rasche Wiederaufnahme kultureller Aktivitäten wirkte sich nicht nur auf die ‚politische Umerziehung‘ aus, sondern auch auf die Prägung neuer diskursiver Konventionen: Sie hatte in weiterer Folge Auswirkungen auf Kulturen und Praktiken kollektiver Erinnerung, betrifft jedoch vorerst primär die ‚Anamnese‘30 (A. Assmann) der nationalsozialistischen Ver28 Braese, Stephan: „Versetzte Gleichzeitigkeit. Darstellungen bis 1949“. In: Eke/Steinecke: Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 21–42, hier: S. 24. Dass auch Publika erst generiert werden mussten, hat Braese am Publikum der deutschsprachigen Exilliteratur, das in der unmittelbaren Nachkriegszeit fast ausschließlich aus Exilant*innen bestand, gezeigt (vgl. ebd., S. 30). 29 Meyer, Dennis: „Reeducation“. In: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld: transcript 2007, S. 19–20, hier: S. 19. 30 In ihrer Untersuchung von räumlichen Gedächtnis-Metaphern greift Assmann auf Spensers Memoria-Metapher aus Fairie Queene (1596) zurück: Darin gelangt ein vagabundierender Rit-

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1. Voraussetzungen

brechen und die diskursive Produktion nicht-antisemitischer Bilder von ‚Juden‘. In den Katalog der Initiativen reihen sich verpflichtende Besuche von Filmvorführungen – wie des von der amerikanischen Militärregierung produzierten Films Die Todesmühlen (Death Mills, 1945) –, Informationsabenden über erste Erkenntnisse zu den nationalsozialistischen Verbrechen oder Besichtigungen der Leichenberge im KZ Buchenwald durch die Einwohner Weimars bis Ende der 1940er Jahre.31 Während derartige ‚Umerziehungsmaßnahmen‘ Fakten über die NS-Verbrechen vermittelten, kam kulturellen Aktivitäten eine ‚allgemeine Erziehungsfunktion‘ zu, die auch antisemitische Bilder von ‚Juden‘ nach 1945 regulieren sollte.32 Gepaart mit dem Faktenwissen aus ‚Umerziehungsmaßnahmen‘ sollten kulturelle Aktivitäten auch ein neues, nicht-antisemitisches Judenbild prägen. Theaterspielpläne (mancherorts Teil des Reeducation-Programms) spiegeln den Versuch, jüdische Figuren aus dem Dispositiv des Verschlagenen, Hinterhältigen (z.B. im Film Jud Süß, 1940) zu lösen und neu zu kodieren. Dabei sind die Linien der alliierten Kulturpolitik anfangs weniger einheitlich als post factum angenommen – die Administrationen für kulturelle Belange der jeweiligen Besatzungszonen hatten keine gemeinsamen Richtlinien außer „Verhinderung nationalsozialistischen Gedankenguts“,33 und so können lediglich Trends ausgemacht werden, welche etwa Theaterspielpläne über die Besatzungszonen hinaus verbanden. Gemeinsam ist ihnen, dass die geförderten NS-Autor*innen ersetzt werden sollten; das infolge von Emigration und Genozid entstandene ‚kulturelle Vakuum‘ wurde auf den Theaterspielplänen vor allem durch ‚Klassiker‘, Boulevardstücke, Musik und Kabarett34

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ter in eine Bibliothek, in der der alte Greis Eumenestes, Zeuge aller Ereignisse seit Menschengedenken, wohnt. Sein Bibliotheksgehilfe Anamnestes macht auf Zuruf in der Bibliothek verstellte Bände wieder ausfindig, da Eumenestes’ körperliche Verfassung dies nicht zulässt. Damit verkörpert Anamnestes die „Energie des Auffindens und Hervorholens, die den Daten aus ihrer latenten Präsenz zur Manifestation verhilft.“ (Assmann, Aleida: „Zur Metaphorik der Erinnerung“. In: dies./ Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt: Fischer 1991, S. 13–5, hier: S. 17.) Vgl. Meyer: „Reeducation“, S. 20. Dass im Theater eine allgemeine pädagogische Funktion stärker im Vordergrund stand als im Film, mag mit den eklatanten personellen Kontinuitäten im Theaterbetrieb in Zusammenhang stehen; demgegenüber waren viele Akteur*innen in der Filmindustrie personell enger an die Besatzungsmächte gekoppelt. (Vgl. Klaska, Frauke/Fischer, Torben: „Dramen der Nachkriegszeit“. In: Fischer/Lorenz: Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“, S. 50–52.) Rühle, Günther: Theater in Deutschland: 1945–1966. Seine Ereignisse – seine Menschen. Frankfurt: Fischer 2014, S. 32. Der meist oberflächlichen Betonung eines humanistischen Wertekanons stehen die wenigen Maßnahmen des Reeducation-Programmes gegenüber, welche tatsächlich eine Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit zur Folge hatten. Nach einer Periode der Indienstnahme für die NS-Ideologie sollte ein neues Verständnis für die ‚Klassiker‘ – vor allem für Kleist und Schiller – hergestellt werden (vgl. ebd., S. 54). Boulevardstücke wiederum – etwa von Curt Goetz, Ralph Benatzky und Hans Schweikart – sollten den

1.1 Diskursprägungen – ‚Juden‘ nach 1945 und Literatur

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sowie durch Texte ausländischer Autor*innen (Sartre, Anouilh)35 gefüllt. Abseits ideologischer Fragen bestimmten auch praktische Gründe die Spielpläne – gespielt wurde, was möglich war, „welche Texte man parat hatte, welche Stücke man besetzen und ausstatten konnte“.36 Bei aller Disparität der Repertoires zeichnen sich zwei Funktionen des Theaters ab: Erstens wurden Stücke aus ihrer ‚latenten Präsenz‘ (A. Assmann37) geholt und aktualisiert – so Hebbels Judith oder Lessings in der Nachkriegszeit sehr häufig aufgeführter Nathan der Weise38 –; zweitens sollte die Schaubühne als moralische Anstalt und Ort pädagogischer Erziehung dienen. Dabei zeigt sich eine Verschiebung zu einem Repertoire an jüdischen Figuren, die Teil des genannten philosemitischen Paradigmas sind: Zu ihren Eigenschaften zählen Menschlichkeit, Nachsichtigkeit und Verzeihen, und es zeichnet sich eine Idealisierung von jüdischen Figuren als moralisch über jeden Zweifel erhabene Opfer und Leidende ab, ebenso die Tendenz zu einer „religiöse[n] Monumentalisierung“.39 Exemplarisch für diese Indienstnahme werden in der literaturwissenschaftlichen Forschung oft Das Tagebuch der Anne Frank sowie Lessings Nathan der Weise genannt. Mit dem zwölf Jahre lang verbotenen Stück wurde das Deutsche Theater in Berlin am 7. September 1945 wiedereröffnet.40 Der Zeithistoriker Frank Stern hat das Entstehen einer philosemitischen ‚Ideologie‘ in der Nachkriegszeit untersucht und gezeigt, wie parallel zu den genannten Entwicklungen in der Kunst eine gesellschaftliche Haltung zu Jüd*innen entsteht, die ‚alles Jüdische‘ unterschiedslos als positiv wertet; damit wurde das bekannte antisemitische Dispositiv aus dem öffentlichen in den privaten Lebensraum verschoben, wo es ungehindert fortwirken konnte.41 Bedarf an Unterhaltung stillen und von den Folgen des Krieges ablenken. Aufführungen ehemals verbotener Stücke – etwa standen im Berliner Renaissance-Theater nach zwölfjährigem Verbot Schnitzlers Grüner Kakadu und Wedekinds Kammersänger auf dem Spielplan – sollten schließlich auch wiedergewonnene Freiheit signalisieren. (Vgl. ebd., S. 45 f.) 35 Vgl. Perets, Rachel: „Vom Erhabenen ins Groteske. George Taboris Die Kannibalen“. In: Braese: In der Sprache der Täter, S. 117–136, hier: S. 118. 36 Rühle: Theater in Deutschland, S. 36. 37 Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 17. 38 Vgl. Rühle: Theater in Deutschland, S. 54. 39 Stern, Frank: „Philosemitismus statt Antisemitismus: Entstehung und Funktion einer neuen Ideologie in Westdeutschland“. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus. Juden in der Bundesrepublik. Berlin: Metropol 1991, S. 47–61, hier: S. 59. 40 Vgl. Rühle: Theater in Deutschland, S. 59. Diese Entscheidung verwies auch auf den Beginn der Judenverfolgung: Am 1. Oktober 1933 war mit Lessings Nathan – damals verboten für die öffentlichen Bühnen – das Theater des Jüdischen Kulturbundes in Berlin eröffnet worden. 41 Stern hat nicht nur die Verschiebung nationalsozialistischer Überzeugungen und diskursiver antisemitischer Praktiken aus dem öffentlichen in den privaten Raum beschrieben, sondern auch die Ähnlichkeit zwischen philosemitischen und antisemitischen Stereotypen (vgl. Stern:

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1. Voraussetzungen

Um diese Streuung eines philosemitischen Paradigmas in der Kunst in seiner synchronen und diachronen Relevanz zu erfassen, ist zu berücksichtigen, dass bei all diesen Bestrebungen nicht Erinnerungsarbeit im Sinne einer Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit oder eine zukunftsorientierte Konstitution von kollektiver Erinnerung im Mittelpunkt stehen, sondern das Anknüpfen an ‚kulturelle Werte‘ der Vorkriegszeit. Dies spiegelt exemplarisch das Urteil des Theaterkritikers Paul Rilla in dessen Rezension zur ersten Nathan-Inszenierung der Nachkriegszeit: die „Aufführung im ganzen [sic]: anders als zu jeder anderen Zeit ein großes Ereignis. Denn in der Forderung, den Geist der Humanität wieder zu einer deutschen Gesinnung zu machen, ist wahrlich die Zukunftsaufgabe der deutschen Kunst, des deutschen Theaters beschlossen.“42 Sowohl der Rückgriff auf den klassischen Kanon als auch Rillas Argumentation stellen eine Verbindung zwischen der Gegenwart und einem humanistischen Bildungsbegriff und -diskurs dar und klammern eine Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Bildern von ‚Juden‘ beziehungsweise dem Genozid aus. Rilla, den die Reichsschrifttumskammer während der NS-Diktatur mit zeitweiligem Schreibverbot belegt hatte, stellt Kunst und Theater außerdem in den Dienst moralischer Um-Bildung, wie es auch ein zentrales Anliegen der alliierten Kulturpolitik war. Die nachhaltige Auswirkung dieser Kulturpolitik für ein lange Zeit dominantes ahistorisches Judenbild zeigt sich in den 1950er Jahren an dem durchschlagenden Erfolg von Das Tagebuch der Anne Frank, das ab Mitte der 1950er Jahre jene philosemitischen Projektionen fortführte, für die Lessings Nathan als literaturgeschichtliche Figur in der unmittelbaren Nachkriegszeit herhalten musste. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Nathan und Anne Frank besteht jedoch im ‚Wirklichkeitsbezug‘ der Figur: Die jugendliche Autorin des Tagebuch der Anne Frank, die nach Jahren des Versteckens in einem niederländischen Haus deportiert wurde und in Bergen-Belsen an Typhus starb,43 ist im Unterschied zu Lessings Nathan ein reales Mädchen und literarische Fiktion zugleich. Literatur- und diskursgeschichtlich relevant ist dies, da sich in der Rezeption des Tagebuchs das philosemitische Paradigma von Lessings Nathan bestätigt, wenn die real deportierte Anne Frank in der Rezeption zur Projektionsfläche für Imaginationen von Vergebung und Toleranz wird. Das von Annes Vater Otto Frank adaptierte Tagebuch44 wurde zwar bereits 1947 erstveröffentlicht, jedoch erst durch die Thea„Philosemitismus statt Antisemitismus“, bes. S. 53–60). 42 Rilla, Paul: „Das Hohelied der Humanität. Nathan der Weise im Deutschen Theater“. In: BZ, 9. 1945. Zit. nach Rühle: Theater in Deutschland, S. 61. 43 Vgl. Heimsath, Katja: „Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen“. Das Tagebuch der Anne Frank und seine Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg: Hamburg University Press 2013, S. 108. 44 Die vollständigen Tagebücher wurden erst 1986 (in den Niederlanden) beziehungsweise 1988 (in deutscher Übersetzung) veröffentlicht. Vgl. Loewy, Hanno: „Die ‚Universalisierung‘ der Anne Frank“. In: Braese/Gehle/Kiesel/Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust,

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teradaption von Frances Goodrich und Albert Hackett zum Welterfolg45 – deren deutsche Übersetzung hatte am 1. Oktober 1956 an sieben deutschen Bühnen gleichzeitig Premiere und avancierte 1957 zum meistgespielten Theaterstück Deutschlands.46 Der von Goodrich und Hackett ersonnene Schlusssatz „Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen“47 bestimmte jenen harmonisierenden und konzilianten Grundtenor des Stücks, der die Rezeption lange Zeit steuerte. Auch dass in der Rezeption Anne Franks Individualschicksal im Amsterdamer Versteck meist von einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Massenmord entkoppelt ist, weist einer Rezeptionshaltung den Weg, die zumindest bis 1989 in Deutschland einseitig, unkritisch, unpolitisch und enthistorisiert blieb.48 Diese ahistorische Rezeption des Tagebuchs wurde von jüdischer Seite bereits 1959 von Hannah Arendt in ihrer Lessingpreis-Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten kritisiert, wenn sie beanstandet, dass der Welterfolg von Anne Frank von einer nicht auf Deutschland beschränkten Tendenz zeuge, „das ‚Negative‘ zu vergessen und das Furchtbare ins Sentimentale zu verfälschen“.49 Gerade der ‚Wirklichkeitsbezug‘ des Tagebuch der Anne Frank stellt dabei insofern ein S. 19–41, hier: S. 22. Vgl. auch Anm. 48. 45 Das am 5. Oktober 1955 uraufgeführte Stück erlebte allein in den Jahren 1955/56 über 500 Aufführungen am Broadway (vgl. Heimsath: Tagebuch, S. 271). 46 Ebd., S. 16. 47 Für eine genauere Analyse des Theatertextes vgl. ebd., S. 171–179. Auch die Filmversion des Hollywood-Regisseurs George Stevens, die 1958 in den USA und ab April 1959 in Europa zu sehen war, endet mit dem versöhnlichen Gestus dieses Satzes. Ergänzend zu dem konzilianten Schlusssatz hat Hanno Loewy in seinem Vergleich der niederländischen Originalfassung des Tagebuchs der Anne Frank und der ersten deutschen Übersetzung auf Änderungen verwiesen, welche die positive Rezeption in Deutschland mitbedingt haben dürften, etwa Glättungen hinsichtlich der Rolle von Deutschen oder der deutschen Sprache im Kontext der Verfolgung. So wird aus „die Deutschen“ in einem Tagebucheintrag vom 28. Januar 1944 „die besetzende Macht“ (vgl. Loewy: „Die ‚Universalisierung‘ der Anne Frank“, S. 23–25). Laut Loewy bleibt unklar, ob diese Änderungen von Otto Frank oder der Übersetzerin vorgenommen wurden. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit textlichen Veränderungen durch Otto Frank, die Verleger sowie die Übersetzerin der ersten deutschsprachigen Ausgabe des Tagebuchs vgl. Heimsath: Tagebuch, S. 109–170. 48 Ebd., S. 270. Das Tagebuch wurde nach signifikanten Kürzungen durch Annes Vater Otto Frank, dem einzigen Überlebenden der Familie, 1947 im niederländischen Original veröffentlicht, 1950 erschienen eine deutsche und eine französische, 1952 eine englische Übersetzung. Diese gekürzte und bearbeitete Version des Tagebuchs erschien in einer zweiten Auflage 1955 bei Fischer und wurde allein im März 40.000 Mal und bis 1958 insgesamt 700.000 Mal in Deutschland verkauft. Zu den Rezeptionsphasen vgl. ebd., S. 271. 49 Arendt, Hannah: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede über Lessing. München: Piper 1960, S. 32. Berichte von der ersten Nathan-Inszenierung am 7. September 1945 erwähnen viele Zuseher*innen, die „bei Nathans Erzählung von der Ermordung seiner ganzen Familie zusammenbrachen und den Saal verlassen mußten“ (Daunicht, Richard (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 514. Zit. nach Nisbet, Hugh Barr: Lessing. Eine Biographie. München: Beck 2008, S. 809).

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1. Voraussetzungen

Problem dar, als das reale Schicksal eines Menschen mittels sentimentalisierender Textstrategien50 gezeigt wird. Daraus resultiert außerdem die Ambivalenz der Figur zwischen bemitleidetem Opfer und positiver Heldenfigur, mit der Hanno Loewy den Erfolg des Tagebuchs erklärt: Anne Frank könne „als real Verschwundene, gewaltsam Ausgelöschte ihrer fortwährenden idealisierten Wiederauferstehung nicht im Wege stehen“,51 so Loewy. Die Figur der Anne Frank ist dabei weder diachron noch synchron ein einzigartiges Phänomen: Ein vergleichbarer Publikumserfolg stellte sich in der DDR mit Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen (1958) ein, der sich innerhalb weniger ­Jahre über zwei Millionen Mal verkaufte, 1963 verfilmt wurde und ab 1970 als Pflichtlektüre auf Lehrplänen stand.52 In dem Roman retten Häftlinge in einem KZ ein dreijähriges Kind – dass es jüdisch ist, spielt eine untergeordnete Rolle – unter großen Risiken vor den Gaskammern. Im Schlusstableau des Romans laufen die völlig geschwächten Häftlinge nach der Befreiung jubelnd in Massen aus dem Lager, einer von ihnen hebt „das schreiende Bündel [das gerettete Kind, Anm. JÖ] über sich, damit es nicht erdrückt werde von der brodelnden Flut. / Einer Nußschale gleich schaukelte das Kind über den wogenden Köpfen. / Im Gestau quirlte es durch die Enge des Tores, und dann riß es der Strom auf seinen befreiten Wellen mit sich dahin, der nicht mehr zu halten war.“53 Dieses heilsgeschichtliche Ende bereitete einem ähnlich enthistorisierten Rezeptionsparadigma den Weg, wie es für Das Tagebuch der Anne Frank beschrieben wurde; vor allem vernachlässigt der Roman den erbarmungslosen KZ-Alltag 50 Unter ‚sentimentalisierenden‘ Textstrategien bzw. ‚Sentimentalisierung‘ subsumiere ich vielfältige literarische Strategien, welche u.a. die affektive Parteinahme der Rezipient*innen für jüdische Figuren fördern: Sie stellen Identifikationsangebote an Leser*innen, arbeiten mit Einfühlungsästhetiken und verharmlosen gleichzeitig die Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung. Dies betrifft etwa Texte, in denen die Thematisierung des Überlebenskampfes in Konzentrationslagern zugunsten der Darstellung einer Solidaritätsgemeinschaft unter KZ-Häftlingen stark zurückgedrängt wird. 51 Loewy: „Die ‚Universalisierung‘ der Anne Frank“, S. 20. Loewy belegt seine Analyse mit Kritiken aus den Jahren 1955 bis 1979, die das ‚Weiterleben‘ von Anne Frank in der Fiktion betonen. Exemplarisch für diese Lesart und deren Problematik gilt folgende Einschätzung von Garson Kanin – er führte bei der Bühnenadaption von 1955 Regie – im Herald Tribune vom 2. Oktober 1955: „Looking back, Anne Frank’s death doesn’t seem to be a wasteful death, because she left us a legacy that has meaning and value to us“ (zit. nach ebd., S. 21). 52 Vgl. zur Nieden, Susanne: „‚… stärker als der Tod‘. Bruno Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen und die Holocaust-Rezeption in der DDR“. In: Köppen, Manuel/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – bildende Kunst. Weimar, Wien: Böhlau 1997, S. 97–108, hier: S. 101. Der ursprünglich geplante Titel des Romans Du bist ein Mensch, beweise es hätte den idealistischen Grundtenor des Romans noch verstärkt. Zur säkularen heilsgeschichtlichen Deutung des Sozialismus im Narrativ der Rettung – oftmals eines jüdischen Kindes – in der DDR vgl. Eke: „Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR“, S. 87–90. 53 Apitz, Bruno: Nackt unter Wölfen. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1958, S. 514.

1.1 Diskursprägungen – ‚Juden‘ nach 1945 und Literatur

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ebenfalls zugunsten einer Idealisierung von konzilianter Solidarität. Diese ist bei Apitz allerdings anders gewichtet: Susanne zur Nieden beschreibt den Roman als „Kronzeugen für das moralisch-menschliche Engagement des politischen Widerstandes gegenüber den Opfern des Genozids an den europäischen Juden“,54 wie er für das antifaschistische Gründungsnarrativ der DDR repräsentativ ist. Das pathoslastige Schlussbild samt seiner biblischen Symbolik reiht sich in eine ähnliche Ästhetik wie jene, die Arendt als Verfälschung ins Sentimentale beschreibt. Zwar lässt sich Apitz’ Roman nicht in einen Katalog philosemitischer Darstellungen von Verfolgten einordnen, da er politisch Inhaftierte ins Zentrum stellt, jedoch lässt sich eine Tendenz zu Sentimentalisierung und Verharmlosung der KZ-Erfahrung damit auch in der Literaturlandschaft der DDR feststellen. Nicht zuletzt bei einer näheren Analyse von Robert Schindels Arbeiten wird außerdem auf die Heroisierung von Widerstand zurückzukommen sein. Für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang ist dabei ein punktuelles Nahverhältnis zwischen sentimentalisierenden Shoah-Darstellungen und Verharmlosungen der Shoah-Erfahrung relevant, das bis in die jüngere Vergangenheit nachwirkt: Darstellungspraktiken werden durch kontinuierliche Wiederholung standardisierter Narrationen gestützt, besonders mit wachsendem Abstand zum historischen Ereignis. Jahrzehnte nach Arendts Kritik an dem Tagebuch der Anne Frank knüpft John Boynes Roman Der Junge im gestreiften Pyjama (2006) sowie dessen Verfilmung durch Mark Herman (2008)55 an den Figurenentwurf des unschuldigen Kindes an: Darin freundet sich der neunjährige Bruno, Sohn eines diensthabenden Offiziers in Auschwitz, durch den Stacheldrahtzaun mit einem gleichaltrigen jüdischen Jungen an. Der Zaun trennt unmittelbar hinter dem Haus der Familie den Garten vom KZ-Gelände Auschwitz, also die Opfervon der Täterwelt. Kurz bevor Bruno mit seiner Mutter nach Berlin zurückzieht, besorgt Schmuel ihm einen ‚gestreiften Pyjama‘, damit sein Freund ihn auf der anderen Seite des Zaunes besuchen kann. Die wahre ‚Tragödie‘ des Films ist nicht der Genozid, sondern die am Ende des Films in Szene gesetzte Ermordung eines unschuldigen deutschen Kindes, das sich unter einem Zaun hindurch auf das Gelände von Auschwitz schleicht.56 Derartige sentimentalisierende und enthistorisierte Bilder von Shoah und ‚Juden‘ lassen sich also bis in die populärkulturelle Buch-, Theater- und Filmpro54 zur Nieden: „‚… stärker als der Tod‘. Bruno Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen“, S. 101. 55 Boyne, John: The Boy in the Striped Pyjamas. Oxford: David Fickling 2006. – Herman, Mark (Regie): The Boy in the Striped Pyjamas. DVD, 94. Min., GB/USA: 2008. 56 Zu Kindern in der Shoah-Literatur vgl. beispielsweise Öttl, Johanna: „Vom Schreiben über Kinder. Zu narrativen Herausforderungen der Shoah-Literatur anhand des Schlusskapitels von Der siebente Brunnen“. In: Grünzweig, Walter/Gerhardt, Ute/Krauss, Hannes (Hg.): Erzählen zum Überleben. Ein Fred Wander Handbuch. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2019, S. 130–141.

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1. Voraussetzungen

duktion des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nachverfolgen. Sie verbindet die Darstellung von ‚Juden‘ als hilf-, aber auch als stimmlose Opfer (Der Junge im gestreiften Pyjama; das dreijährige Kind in Nackt unter Wölfen) mit einer idealisierten, aussöhnenden ‚Botschaft‘. Diese Darstellung mag aus kulturpolitischen und ideologischen Gründen unmittelbar nach 1945 sinnvoll gewesen sein, um dem eklatanten Antisemitismus entgegenzuwirken; ihr Weiterbestehen nach über 50 Jahren wirft allerdings die Frage nach dem Verhältnis zwischen fiktiv dargestellten und historisch verbürgten Ereignissen auf. Gleichzeitig zeigt dies, wie nachhaltig sich frühe inhaltliche und ästhetische Paradigmen halten. Möchte man der facettenreichen Literaturlandschaft der Nachkriegszeit gerecht werden, gilt es, dem philosemitischen Paradigma jene zahlreichen Texte gegenüberzustellen, die unter nicht immer klar konturierten Begriffen wie ‚Zeugnisliteratur‘ oder ‚Überlebendentexte‘57 subsumiert werden. Sie unterscheiden sich von jenem Teil der Kulturproduktion, der mit philosemitischen Judenbildern operiert, zum einen darin, dass sie von jüdischen Autor*innen verfasst wurden, sie also – Friedmans Forderung gemäß – ‚Judeo-centric‘ auch in dem Sinne sind, als jüdische Autor*innen über jüdische Figuren schreiben. Zum anderen verbinden sie über das große ästhetische und formale Spektrum hinweg die Gemeinsamkeit, dass die Semantik dieser Texte meist nicht von philosemitischen Paradigmen dominiert wird. Frühe (literarische) Zeugnisse von Überlebenden entstanden bereits in Gefängnissen, Ghettos und Konzentrationslagern, einige fanden bereits unmittelbar nach Kriegsende Verlage (z.B. Robert Antelmes Die Gattung Mensch [respektive Das Menschengeschlecht], 1949; Hermann Langbeins Die Stärkeren. Ein Bericht aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, 1949). Viele von ihnen charakterisiert weder eine sentimentalisierende Mitleidsästhetik noch der genannte konziliante Grundtenor – exemplarisch hierfür ist die Literatur von Antelme, Primo Levi, David Rousset oder Elie Wiesel. In dieser Gemeinsamkeit mag einer der Gründe liegen, warum sich diese Texte in der Nachkriegszeit geringerer Beliebtheit erfreuen als etwa Das Tagebuch der Anne Frank oder Nackt unter Wölfen. Erst 57 Vgl. Anm. 13. Ich unterscheide zwischen ‚Überlebendentexten‘ und ‚Shoah-Literatur‘: Unter die erstgenannte Kategorie subsumiere ich jeden von Shoah-Überlebenden verfassten Text ungeachtet seiner literarischen Qualität, unter ‚Shoah-Literatur‘ hingegen literarische Texte, die sich im weitesten Sinne mit dem Genozid an den europäischen Jüd*innen beschäftigen und damit dem Sub-Feld der Shoah-Literatur zurechenbar sind. Bezeichnungen wie ‚Shoah-Literatur‘, ‚Holocaust-Literatur‘ oder ‚KZ-Literatur‘ beschreiben eine formal und ästhetisch vielseitige Literaturproduktion, sagen über den Grad an autobiografischen Bezügen nichts aus und sind wenig trennscharf. Der gebräuchlichste Begriff ‚Holocaust-Literatur‘ wird seit den 1980er Jahren in Anlehnung an Susan Cernyak-Spatz verwendet (vgl. Cernyak-Spatz, Susan: German Holocaust-Literature. New York (u.a.): Lang 1985).

1.1 Diskursprägungen – ‚Juden‘ nach 1945 und Literatur

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die 1980er Jahre verzeichnen ein signifikantes gesteigertes Interesse an jenen Überlebendentexten,58 die von dem oben beschriebenen Paradigma abweichen. In der Literaturproduktion stehen philosemitische und „das ‚Negative‘ […] ins Sentimentale […] verfälschen[de]“59 (Arendt) Erzählungen über jüdische Figuren also problemlos neben Zeugnissen von Überlebenden, wenngleich die Autor*innen unterschiedliche Positionen im literarischen Feld einnehmen. Nun gilt es jedoch, dem vorher Gesagten für die unmittelbare Nachkriegszeit eine Relativierung hinzuzufügen: Die Mehrzahl der Überlebendentexte, die im deutschsprachigen Raum bis 1958 erschienen, stammen hauptsächlich von politischen Häftlingen, wie Constanze Jaiser gezeigt hat – jüdische Überlebende kamen kaum zu Wort.60 Diese Erkenntnis spricht gewissermaßen auch für Anne-Kathrin Herrmanns Vermutung, das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an diesen Texten habe anfangs vor allem darauf basiert, dass sie „dokumentierten […], dass auch Deutsche zu den Opfern des Nationalsozialismus zählten“;61 zu einem ähnlichen Schluss führen Jaisers und Herrmanns Untersuchungen einer breiten westdeutschen Rezeption von Zeugnissen des „christlich geprägten Widerstands“.62 Auch die Rezeption der Texte von politischen Häftlingen stand lange Zeit unter dem Zeichen des Zeugnisses von Leidens oder Widerstand. Im Gegensatz dazu spielt die Heroisierung von Widerstand in Berichten von Autor*innen, die als ‚Juden‘ verfolgt wurden, eine untergeordnete Rolle. In den folgenden Kapiteln wird sich zeigen, dass die Arbeiten von Tabori und Schindel, grob gesagt, an verschiedene der bisher genannten diskursiven und ideologischen Aspekte anknüpfen: Während Taboris Arbeiten philosemitische Judenbilder und Sprecher*innenpositionen zum Ausgangspunkt nehmen, sind Widerstandsnarrative in Schindels Dunkelstein ein zentraler Referenzpunkt.

58 Vgl. Jaiser: „Die Zeugnisliteratur von Überlebenden“. Ein erstes gesteigertes Interesse an literarischen Texten über die Shoah, die von jüdischen Autor*innen verfasst wurden, beschreibt Lorenz für die Jahre nach 1968; dazu mögen gesellschaftspolitische und soziokulturelle Veränderungen (Eichmann-Prozess, Frankfurter Auschwitz-Prozesse, Globke-Prozess) beigetragen haben (vgl. Lorenz: Verfolgung bis zum Massenmord, S. 29). 59 Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, S. 32. 60 Vgl. Jaiser: „Die Zeugnisliteratur von Überlebenden“, S. 110. 61 Herrmann, Anne-Kathrin: „Frühe Zeugnisse Überlebender“. In: Fischer/Lorenz: Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“, S. 40–41, hier: S. 40. Als Beispiele nennt Herrmann die Gedichte aus Tegel (1946) des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer, Ernst Wiecherts Der Totenwald (1946) oder Luise Rinsers Gefängnistagebuch (1947). Auch Jaiser konstatiert für die 1950er Jahre einen Anstieg von Zeugnissen christlicher Überlebender (vgl. Jaiser: „Die Zeugnisliteratur von Überlebenden“, S. 111). 62 Ebd. S. 40.

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1. Voraussetzungen

1.2 Gegenstimmen und diskursive Echos In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten zeichnet sich also die Konsolidierung eines einflussreichen philosemitischen Paradigmas ab, das vielfach mit ästhetischen Tendenzen zur Sentimentalisierung gepaart und häufig ahistorisch ist. Wie nachhaltig sich dieses Paradigma konsolidiert hat, zeigen Bedenken angesichts der Veröffentlichung solcher Texte, die sich ihm verweigern. Beispielhaft dafür ist Edgar Hilsenraths Ghetto-Roman Nacht (1964): Die Handlung beginnt im März 1942 in dem fiktiven Ghetto Prokow in einer ukrainischen Stadt am Ufer des Dnjestr und folgt der Perspektivenfigur Ranek durch den brutalen Ghettoalltag gezeichnet von Hungersnot, Krankheit und den verzweifelten Versuchen, an Nahrung oder Schlafplätze zu kommen. Diametral entgegengesetzt zu einem philosemitischen Paradigma und bar jeder Sentimentalisierung führt Hilsenraths Roman die Verfolgungserfahrung vor, indem er den brutalen Alltag zeigt und die Figuren als rücksichtslos und zur Unmenschlichkeit gezwungen. Da nur dies ihr Überleben sichern kann, erwächst aus dem Lebensalltag zwischen hungernden, kranken, sterbenden Menschen keine Solidarität; stattdessen wird dem Protagonisten Ranek geraten: „Merken Sie sich ein für allemal: Scheren Sie sich nicht um andere Leute. Es muß Ihnen immer ganz egal sein, was andere machen, ob sie essen oder huren oder verrecken … ganz Wurscht … jeder kümmert sich hier nur um sich selbst.“63 (Nacht 77 f.) Dementsprechend legt Hilsenraths Portrait der Sozialstruktur eines Ghettos dar, wie Ranek nur dann überleben kann, wenn er sich an diesen Rat hält. Der Roman markiert damit Hilsenraths Abkehr von philosemitischer Stereotypisierung und einer konzilianten Grundhaltung der Figuren angesichts des Genozids, wie sie Das Tagebuch der Anne Frank suggeriert – etwa stiehlt Ranek einem Kind dessen einzige Mahlzeit (vgl. Nacht 505). Als er beobachtet, wie sein Schlafraum durch eine Bretterwand die Gesunden von den Kranken teilt, die dort ohne Essen, Wasser und Pflege „rasch krepieren“, greift Hilsenrath auf antisemitische Topoi von Juden als ‚Ungeziefer‘ zurück: „Für Mitleid war kein Raum. Nicht unter diesen Umständen. Wer krank war, sollte sterben. Kranke sind Ungeziefer. Wenn man sich ihrer rasch entledigte, bestand Hoffnung, daß die Gesunden davonkamen“ (Nacht 570). Sowohl die ausbleibende Solidarität mit einem hilflosen Kind als auch die Verbindung mit dem antisemitischen Bildkomplex des Ungeziefers und ‚Schädlings‘ verweist auf ein ästhetisches Paradigma, das sich von den bisher genannten Texten absetzt und damit zu zeitgenössischen literarischen Konventionen quer steht; die Ästhetik des Romans wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung mehr-

63 Hilsenrath, Edgar: Nacht [1964]. München: dtv 22009. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Nacht.

1.2 Gegenstimmen und diskursive Echos

37

fach als ‚grotesk‘ bezeichnet.64 Entsprechend ihrem Abweichen von literarischen Konventionen fanden Hilsenraths erste zwei Romane Nacht und Der Nazi & der Friseur (1968/ 1977)65 nur langsam einen Weg an die Öffentlichkeit (der zweite ist mittlerweile zu einem ‚Klassiker‘ der Shoah-Literatur avanciert).66 Internen Debatten im Kindler-Verlag im Hinblick auf eine mögliche Veröffentlichung von Nacht zeigen Bedenken angesichts der „Darstellung von zur Unmenschlichkeit gezwungenen und verkommenen Ghettoinsassen“, die „als Tabubruch […], das heißt als Verstoß gegen die philosemitische Stereotypisierung“67 empfunden wurde. Dieses Beispiel zeigt also, dass sich das philosemitische Paradigma in den frühen 1960er Jahren so weit konsolidiert hatte, dass es als grundsätzlicher Bewertungsmaßstab galt. Solch einer ersten Konsolidierung widersetzte sich Hilsenrath – dass er sich der Existenz eines philosemitischen Paradigmas bewusst war, legt auch der nur fünf Jahre später fertiggestellte Roman Der Nazi & der Friseur nahe, in dem der Autor dieses Paradigma weiter unterwandert (vgl. Kapitel 1.4). Debatten um die Publikation von Hilsenraths Arbeiten zeigen, dass weniger die literarische Qualität als die Wahl der Ästhetik verlagsinterne Befürchtungen bedingten. Damit liefern seine Arbeiten außerdem wichtige Hinweise darauf, dass Ästhetiken wie etwa jene des Grotesken relational – also in ihrem Verhältnis zu anderen dominanten Ästhetiken, die im Sub-Feld gerade aktiv sind – beschrieben und untersucht werden müssen. Für eine nähere Beschreibung von Ästhetiken des Grotesken ist dies eine wichtige Feststellung, da zu verschiedenen Zeitpunkten in einem (Sub-)Feld unter64 Vgl. etwa Dopheide, Dietrich: Das Groteske und der schwarze Humor in den Romanen Edgar Hilsenraths. Weißensee: Berlin 2000. – Vahsen, Patrizia: Lesarten – Die Rezeption des Werks von Edgar Hilsenrath. Tübingen: Niemeyer 2008. Für die Zuschreibung ‚grotesk‘ in Rezensionen vgl. z.B. n.n.: „Grauen im Ghetto“. In: Der Spiegel, 36/1978, S. 205–206. 65 Dass Nacht im Erscheinungsjahr 1964 kaum rezipiert wurde, dürfte mehreren Strategien des Kindler-Verlags geschuldet sein, die Aufmerksamkeit für den Roman angesichts der genannten Befürchtungen gering zu halten; spätere die Rezeption behindernde Maßnahmen nennt Helmut Braun (vgl. Braun, Helmut: Ich bin nicht Ranek. Annäherungen an Edgar Hilsenrath. Berlin: Dittrich 2006, bes. S. 135–157). Erst die zweite Auflage von Nacht, erschienen 1978 (also erst ein Jahr nach der deutschen Veröffentlichung von Der Nazi & der Friseur), wurde wesentlich stärker wahrgenommen (vgl. Vahsen: Lesarten, bes. S. 35–68). Zur komplizierten Publikationsgeschichte von Der Nazi & der Friseur (etwa Hilsenraths neunjähriger vergeblicher Verlagssuche) vgl. Fuchs, Anne: A space of anxiety: Dislocation and Abjection in German-Jewish literature. Amsterdam: Rodopi 1999, S. 167. – Braun, Helmut: „Nachwort“. In: Hilsenrath, Edgar: Der Nazi & der Friseur [1977]. München: dtv 42007, S. 469–477, hier: S. 472. 66 Dass Hilsenraths Werk mittlerweile kanonisiert ist, zeigt neben den Preisen, die er ab den späten 1980er Jahren regelmäßig erhielt, auch die Ausstellung „Verliebt in die deutsche Sprache“. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath in der Berliner Akademie der Künste (2005/06), die auch das Edgar-Hilsenrath-Archiv beherbergt. 67 Vahsen: Lesarten, S. 2. Lediglich der Fischer-Verlag macht die Ablehnung des Manuskripts auch an dessen sprachlicher Qualität fest (vgl. ebd., S. 49).

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1. Voraussetzungen

schiedliche Ästhetiken aktiv sind; werden solche Ästhetiken, die bisher im betreffenden (Sub)-Feld nicht wirksam waren, (re)aktiviert, kann dies zu Irritationen führen. Die dargelegte Veröffentlichungsgeschichte von Nacht zeigt, gerade auf der Folie der Reeducation-Programme und des Erfolgs von Anne Frank oder Nackt unter Wölfen, dass Hilsenraths zwei Romane nicht zuletzt auf der Referenzfolie anderer Darstellungskonventionen als ‚anders‘ (z.B. als ‚grotesk‘) wahrgenommen wurden. Die solcherart entstehende Differenz lenkt den Blick auf die Doxa (Bourdieu), die herrschende und weder hinterfragte noch als ambivalent wahrgenommene Doktrin – anders gesagt, etwa die gültigen Darstellungsparadigmen im Sub-Feld. Hilsenraths Arbeiten stellen die herrschende Doxa in Frage, woraus sich die verlegerische Skepsis hinsichtlich einer Veröffentlichung erklärt. Ästhetische Kategorien (wie etwa das Groteske) können zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegen herrschende Doktrinen verstoßen; solche Mechanismen lassen sich beschreiben, indem sie in einem größeren Zusammenhang ästhetischer Darstellungen und nicht-literarischer diskursiver Konventionen untersucht werden. Was sich für Nacht gezeigt hat, gilt auch für Tabori und Schindel, in deren Arbeiten die Auseinandersetzung mit einem philosemitischen Paradigma und mit Bildern von ‚Juden‘ einen zentralen Stellenwert einnimmt – ihre Arbeiten sind auch in diesem Sinne in einem größeren Bezugssystem diskursiver Konventionen zu betrachten. Offensichtlich wird dies etwa in ihren Bearbeitungen von Lessings Nathan-Stoff, dessen sich Tabori 1991 und Schindel 2003 annehmen, und denen die nun folgende Analyse gilt: Es wird sich zeigen, wie Tabori in seiner Bearbeitung den idealistischen Anspruch der ‚Versöhnung der Überlebenden‘, der an Lessings Nathan nach 1945 herangetragen wurde, offenlegt und diesem eine pessimistische Zeitdiagnose entgegenstellt. Schindel erweitert solch eine Zeitdiagnose rund 20 Jahre später um eine Utopiekritik. Wie sich gezeigt hat, müssen Initiativen alliierter Kulturpolitik weniger als ‚Erinnerungsarbeit‘ im Sinne einer Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit gewertet werden, als dass sie zu ‚blindem‘ Philosemitismus führten, neben dem antisemitische Ideologien problemlos weiterbestehen konnten. Frappierend ist dabei, dass sich trotz einer Vielzahl historiografischer Studien ein idealistisches Verständnis dieser kulturpolitischen Konzeptionen und kulturellen Paradigmen hartnäckig hält: Noch 2014 ist der einflussreiche Theaterkritiker und ehemalige FAZ-Feuilletonchef Günther Rühle der Ansicht, dass die Wiedereröffnung des Deutschen Theaters in Berlin mit Nathan der Weise am 7. September 1945 nicht nur das Auferstehen des Theaters inmitten der Ruinen [bedeutet], sondern seine neue Begründung aus dem Geist der Aufklärung und die Rückführung des ganzen Lessings ins deutsche Repertoire. Sie bedeutete Rückkehr der Ausgestoßenen, Versöhnung der Überlebenden, Verlangen nach Kontinuität. Und: Wiederher-

1.2 Gegenstimmen und diskursive Echos

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stellung des jüdischen Gesichts. Nathan war das Gegenbild gegen seine Verfratzung und Verhöhnung im ‚Ewigen Juden‘ des zerbrochenen Regimes.68

Ganz anders nimmt sich Taboris Bearbeitung des Nathan-Stoffes unter dem Titel Nathans Tod, uraufgeführt am 14. November 1991 im Lessingtheater in Wolfenbüttel, aus. Tabori behält sowohl die Grundstruktur der Handlung als auch die meisten Figuren aus Lessings Drama bei und montiert außerdem Zitate daraus in seine Bearbeitung (besonders in der zweiten Szene, die Saladin und Sittah beim Schachspiel zeigt). Eine vor allem für den vorliegenden Kontext relevante Umarbeitung betrifft nun die Ringparabel, das ideologische Kernstück des Lessing’schen Nathan. Bei Tabori stellt sie bis zum unmittelbaren Ende des Dramas eine Leerstelle dar, da Saladin zuvor den Akt des Erzählens im Wissen um dessen Inhalt verweigert: Auf Nathans an Saladin gerichtete Frage „Erlaubst du wohl dir / Ein Geschichtchen zu erzählen?“69 antwortet dieser: „Die Geschichte von den Ringen? / NATHAN Ja. / SALADIN Nein. / NATHAN Schade“ (Nathans Tod 229). Die ‚Geschichte von den Ringen‘ ist so bekannt, dass nicht nur die Zuseher*innen in Wolfenbüttel (vermutlich) damit vertraut sind, sondern auch Taboris Saladin sie kennt. Im Wissen um die Diskursgeschichte seiner eigenen Figur verweigert er Nathan das Erzählen, erlaubt damit aber auch keine Aktualisierung oder zeitgenössische Adaption der Parabel. Indem Taboris Saladin dem jüdischen ­Nathan das Erzählen der Ringparabel verweigert, nimmt er ihm auch die Möglichkeit, die utopisch-humanistische Versöhnung umzusetzen. Taboris in dieser Hinsicht gravierende Eingriffe in den Handlungsverlauf spiegeln sein Urteil über Lessings Drama: Er habe es immer etwas ambivalent und für einen Juden peinlich empfunden, den Juden ­Nathan so philosemitisch und heldenhaft zu beschreiben. Lessings Glaube, ein kluger, ein weiser Mann wie Nathan könne einen mohammedanischen Sultan oder einen christlichen Tempelherrn durch vernünftige Argumente verändern, trifft nicht mehr zu. Das ist geschrieben vor Auschwitz, vor Freud.70

Ein weiterer wichtiger Eingriff Taboris betrifft nun die explizitere Integration von antijüdischer und antisemitischer Gewalt: Etwa zeigt Tabori den Brand von ­Nathans Haus als Folge eines Pogroms und verschiebt ihn in die sechste und 68 Rühle: Theater in Deutschland, S. 60. 69 Tabori, George: Nathans Tod. In: ders.: Theater. Band 2. Hg. von Maria Sommer und Jan Strümpel. S. 205–242, hier: S. 229. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Nathans Tod. 70 Tabori, George. In: Frankfurter Rundschau, 16.11. 1991. Zit. nach Feinberg, Anat: George Tabori. München: dtv 2003, S. 159.

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1. Voraussetzungen

damit vorletzte Szene. Damit ist er bei Tabori nicht handlungsmotivierende Voraussetzung des Textes, sondern die Konsequenz von sozialgeschichtlichen Konfigurationen wie Judenfeindlichkeit und Intoleranz. Zwar brennt Nathans Haus auch bei Lessing infolge eines Pogroms, so legt der Dramentext nahe (die Begriffsprägung ‚Pogrom‘ erfolgte erst im ausgehenden 19. Jahrhundert71), jedoch nennt Lessing keine antisemitischen oder sozialgeschichtlichen Gründe dafür. Tabori erweitert den Nathan-Stoff somit, indem er Motive der Judenverfolgung herausstreicht. Prominent wird etwa der Begriff ‚Pogrom‘ im gleichlautenden Titel der sechsten Szene genannt; anders als Lessing zeigt Tabori auch den Vater mit seinen verbrannten Kindern. Taboris Nathan holt sie aus dem Haus, legt ihre Leichname in eine „ordentliche Reihe, bedeckt ihre Gesichter mit Herbstblättern“ (Nathans Tod 238) und erzählt nun die Ringparabel. Ihre Gleichnishaftigkeit ist nicht reaktivierbar, die allegorische Ebene wird überlagert durch die manifeste Evidenz der Kinderleichen. Die Bedeutung der aufklärerischen Ringparabel negiert Tabori, indem sie ungehört verklingt. An ihrem Ende steht nicht der von Nathans Weisheit beeindruckte Saladin, der dem ‚Juden‘ seine Freundschaft anbietet, sondern ein Vater mit seinem verbrannten Kind in den Armen. Er hofft, „[…] sie wird kommen, sie wird / Gewiss kommen, die Zeit der / Vollendung, da der Mensch – / Lass mich an dir nicht verzweifeln, –“ (Nathans Tod 241 f.). Tabori codiert Nathans Hoffnung um: Statt dass sie handlungsweisend für die anderen Figuren des Dramas wird (Lessing), stirbt Taboris Nathan nach zweifacher Aposiopese, seine Hoffnung lässt sich nur mehr als intertextuelles Versatzstück artikulieren, jedoch nicht mehr in heutiger Sprache neu formulieren. Schließlich zeigt auch die letzte, sehr kurze Szene eine Absage an den idealistischen Grundton des Nathan-Stoffes: Auf den Trinkspruch des Patriarchen: „Endlich verklingt / Sein lächerliches Lied / Das törichte Märchen / Über irgendwelchen Ring / Wir werden es nie wieder hören.“ (Nathans Tod 242) folgen statt der versöhnlichen Umarmung (Lessing) Umarmungen und Händeschütteln zwischen den Vertretern antagonistischer Machtansprüche (Patriarch, Saladin, Mönche, Mamelucken). Einen solchen Abgesang hat Claus Peymann als einer der ersten Regisseure in seiner Inszenierung von Lessings Nathan der Weise (Bochum, 1981) bereits zehn Jahre zuvor visualisiert und nimmt darin das Ende von Taboris Drama gewissermaßen visuell vorweg:72 Am Ende seines letzten Auftritts schreiVgl. „Pogrom“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. URL: https://www.dwds.de/wb/Pogrom [2.4.2021]. 72 Peymann inszenierte Lessings Nathan auch 2002 und 2015 am Berliner Ensemble – 2002 endet die Aufführung mit einem Zitat aus Heiner Müllers ‚Greuelmärchen‘ (so der Untertitel) Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei (UA 1979, Städtische Bühne Frankfurt). Ein Inszenierungsvergleich unter Einbeziehung soziopolitischer Kontexte wäre lohnend. Für eine Rezension der Inszenierung des Jahres 2002 vgl. Funke, Christoph: „Der Illusionslose“. In: NZZ, 8.1.2002. URL: https://www.nzz.ch/article7VZ7F-1.354938 [2.4.2021]. 71

1.2 Gegenstimmen und diskursive Echos

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tet Peymanns Nathan alleine über einen Laufsteg über den Köpfen der Zuseher*innen auf eine überlebensgroße, blutende Lessingfigur zu, die einander umarmende Familie hinter sich lassend.73 Der Weg, den Tabori mit seinem Nathan beschreitet, stößt auf Irritation74 auch bei jenen, die Lessings Utopie verteidigen, wie etwa dem Lessing-Biografen Hugh Barr Nisbet: Tabori tue Lessing „Gewalt an, im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn“, wobei Nisbet nicht ausführt, worin Taboris wörtliche Gewaltanwendung bestehe. Bei allem Verständnis dafür, dass Tabori, „[b]egreiflicherweise schockiert und enttäuscht vom Holocaust“, eine andere Zugangsweise zu Lessings Stoff suche, kritisiert Nisbet, dass dieser in einem „Bildersturm“ verharre, der freilich „viel simpler [sei] als alles, was Lessing je geschrieben hat“.75 Ergänzend zu Nisbets Einschätzung sei gesagt, dass Taboris Nathan-Bearbeitung nicht nur in Bezug zu dem Lessing’schen Prätext gesetzt werden muss, sondern auch zu dessen Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte nach 1945 und zu jenem Philosemitismus, für den diese Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte (z.B. Rühles oben zitierte Einschätzung) symptomatisch wurde: Tabori zieht in Nathans Tod jene prototypischen Szenarien von sakralen Opfern (Anne Frank) oder des konzilianten Weisen (Nathan der Weise) in Zweifel, die in den 1950er Jahren im Zuge von ‚Umerziehung‘ und Reeducation entstanden. Seine Skepsis gegenüber ‚blindem Philosemitismus‘, der sich in der Gestaltung sakralisierter jüdischer Figuren der Literatur zeigt, reiht sich in eine Anzahl von Auseinandersetzungen mit dem Nathan-Stoff, die diesen als Projektionsfläche solcher utopischer Ideale offenlegt, welche mit der Shoah ihre Glaubwürdigkeit verloren haben: Arendts bereits genannte Lessingpreis-Rede (1959) greift dies ebenso auf wie Robert Schindels Ringparabel (2003)76 oder Doron Rabinovicis Rede anlässlich der Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln (2015). Rabinovici erinnert darin etwa an den (zensurpolitischen) Entstehungskontext des Stücks: Lessing verfasste seinen Nathan, nachdem ihm infolge einer Debatte mit einem Pastor die Publikation zu religiösen Fragen verboten worden war.77 73 Vgl. Fischer, Barbara: Nathans Ende? Von Lessing bis Tabori. Zur deutsch-jüdischen Rezeption von „Nathan der Weise“. Göttingen: Wallstein 2000, S. 148. 74 Einige der von Barbara Fischer zitierten Rezensionen zu Taboris Nathan-Bearbeitung lassen deren teilweise verstörende Wirkung erkennen (vgl. ebd., S. 152). 75 Nisbet: Lessing. Eine Biographie, S. 808 f. 76 Overath, Angelika/Kermani, Navid/Schindel, Robert: Toleranz: Drei Lesarten zu Lessings ‚Märchen vom Ring‘ im Jahre 2003. Göttingen: Wallstein 2003, S. 47–54. Im Folgenden zitiert nach: Schindel, Robert: Ringparabel 2003. In: Janke, Pia (Hg.): Ritual.Macht.Blasphemie. Kunst und Katholizismus in Österreich seit 1945. Wien: Praesens 2010, S. 83–88. Zitation im Fließtext: RP. 77 Vgl. Rabinovici, Doron: „‚Ich respektiere tolerante Rassisten nicht‘. Rede zur Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln 2015“. In:

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1. Voraussetzungen

Schindels Ringparabel, die im Folgenden betrachtet wird, bezieht sich stärker als Taboris Nathan auf zeitgenössische politische Zusammenhänge (z.B. Irakkrieg) sowie sie ideengeschichtliche Kontexte aufruft (z.B. Toleranzpatente, Erbe der Aufklärung). Ringparabel (2003) ist Teil einer gemeinsamen Publikation mit Angelika Overath und Navid Kermani, in der die drei Autor*innen eine deutsche, eine islamische sowie eine jüdische Lesart der Ringparabel vorstellen – unter dem Eindruck der Attentate vom 11. September 2001 und des darauffolgenden Irakkriegs sowie als Reaktion auf Peymanns Nathan-Inszenierung am Berliner Ensemble (2002). Schindels Prosatext ist wesentlich kürzer als Taboris Drama, trägt essayistische Züge, ist anspielungsreich (etwa mit intertextuellen Bezügen auf Marx („der Geist geistloser Zustände“, RP 83) oder Don Quijote), gleichzeitig ist der Duktus sehr lyrisch. Dem gemeinsamen Projekt mit Overath und Kermani entsprechend beginnt er mit einer klaren zeithistorischen Verortung am Vorabend des Irakkriegs und führt anschließend mittels assoziativer Verweise auf Literatur- und Kulturgeschichte in ein anspielungsreiches Panoptikum von (religiöser) Gewalt und Verfolgung. Schindels Ringparabel führt die Lesenden, hierin Lessings Text entsprechend, nach Jerusalem, evoziert jedoch eine düstere Stimmung von Angst, Fanatismus und Gegenaufklärung (er beschreibt die Gegenwart als Zeit, in der „die Aufklärer verwittern, ihre Gedanken blass und blasser werden“, RP 83); dementsprechend trägt Schindels Jerusalem die Zeichen des schwelenden Nahostkonflikts in sich. Dabei sind die ersten zwei der fünf Teile assoziativ und geprägt von rhetorischen Fragen, kreisend um Schuld, historische Verantwortung und das Erbe der Aufklärung. Vor dieser Folie beginnt im dritten Teil der Rekurs auf die Ringparabel, wenn Schindel folgende Figuren auftreten lässt: einen „Jude[n] […], an die Panzerwand gelehnt“ und einen „Moslem […] mit seinem neumodischen Gürtel um die Hüfte“. Schließlich „unterschiedlich gewandete Tempelherren“ (RP 86), die aus einem Gebäude auf sie herabblicken. Die räumliche Anordnung der Figuren sowie die ihnen zugeteilten Gegenstände (Panzer und Gürtel, hier als Sprengstoffgürtel zu verstehen) bewirken eine spannungsgeladene Atmosphäre, die keine versöhnliche Lesart der Ringparabel signalisiert. Die drei Vertreter der monotheistischen Weltreligionen begegnen einander im Haus eines Buddhisten, der ihnen bei grünem Tee die Ringparabel erzählt – wie bei Tabori wird sie nicht wiedergegeben, sondern ihre Bekanntheit vorausgesetzt –, bis am Ende dieses Teiles Schindel seine Figuren mit der lakonischen Feststellung entlässt, nun seien alle drei „um ein Märlein reicher“ (RP 86). Der Standard, 13. November 2015. URL: https://derstandard.at/2000025663491/Doron-RabinoviciIch-respektiere-tolerante-Rassisten-nicht [2.4.2021].

1.2 Gegenstimmen und diskursive Echos

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Der verniedlichende Begriff (‚Märlein‘) leitet jenen Widerspruch zwischen behaupteter Toleranz (das ‚Märlein‘) und gelebter Intoleranz (Panzerwand, Sprengstoffgürtel, Irakkrieg) ein, der im vierten Teil zum zentralen thematischen Element von Ringparabel wird: Das „Bewusstsein unserer Gutheit, unserer Toleranz“ (RP 86) steht am Beginn dieses vierten Teils, der sich der widersprüchlichen politischen Geschichte religiöser und gesellschaftlicher Toleranz widmet und in dem Schindel die Dreißigjährigen Kriege, Friedrich II. (bei Schindel zitiert im Bonmot, man solle „[J]eden nach seiner Fasson glücklich werden lassen“, RP 86), die Französische Revolution und Auschwitz nennt. Die Verbindung zwischen Lessing, der Shoah und dem Handlungsort von Ringparabel stellt Schindel am Ende dieses Teils heraus, wenn er das Bild von Juden auf den Latrinen zeichnet, die „nicht das Schma Jisrael“ (RP 3) murmeln, sondern einen – diesmal wörtlich zitierten – sechszeiligen Auszug aus der Ringparabel. Dass die auf Lessings Nathan projizierte Erzählung religiöser Toleranz zur Utopie geworden ist, zeigt Schindel schließlich im Bild der Ringe, die „von den Fingern genommen [wurden] an der Rampe, […] eingeschmolzen wie das Zahngold ja auch“ (RP 87). Toleranz, so Schindel, mag eine deutsche Tugend sein, habe jedoch mit dem Alltag im geteilten Jerusalem nichts zu tun: „Man könnte sagen, das aschene Haar Shulamith’ liegt wie ein Schwert im Mittleren Osten, dafür ist das goldene Haar Margarethen’ eine Friedensflagge geworden, wie jedenfalls Gretchen glaubt, und ich dichte folgendes: Die Spätsonnigkeiten / Aller Toleranzen gehen / Im Gegenlicht graufingrig / Zum Erdreich.“ (RP 88) Bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Bearbeitungen des Nathan-Stoffes zeigt sich, wie Nathans Tod und Ringparabel als diskursive Echos einiger Diskurse der Nachkriegszeit gelten können: ‚Blinder‘ Philosemitismus sowie die Tendenz einer Sakralisierung78 von bereitwillig vergebenden Opferfiguren, die eine erste nachhaltige Eigenheit der Literaturproduktion der Nachkriegszeit sind, erweisen sich als literarische Paradigmen als so resistent und als so nachhaltig mit exemplarischen literarischen Figuren verbunden, dass sie Autoren wie Tabori und Schindel auch mehrere Jahrzehnte später noch beschäftigen. Zwar zeichnet sich keine der beiden Nathan-Bearbeitungen durch Rückgriffe auf Ästhetiken des Grotesken aus, jedoch wird sich das hohe diskursgeschichtliche Problembewusstsein, das beide Bearbeitungen auszeichnet, als Voraussetzung für die Konstitution von Ästhetiken des Grotesken erweisen.

78 Mit ‚Sakralisierung‘ verbinde ich literarische Strategien, die zu einer Verklärung von KZ-Opfern führen – etwa durch moralische Überhöhung der Opfer bei gleichzeitiger moralischer Abwertung der Täter; nicht selten sind derartige Darstellungen mit der Verwendung christologischer Motive, religiöser Lexik oder heilsgeschichtlicher narrativer Strukturen gepaart, so etwa in Heinrich Bölls Todesursache: Hakennase (vgl. Kap. 1.4).

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1. Voraussetzungen

Beide Autoren knüpfen in ihren Werken an frühe Diskursprägungen an – Tabori greift in seinen dramatischen Arbeiten philosemitische Bilder von ‚Juden‘ ebenso auf (Die Kannibalen) wie das Fortbestehen eines antisemitischen Dispositivs (Jubiläum, 1983; Die Ballade vom Wiener Schnitzel, 1996); Schindels Arbeit zeigt großes Interesse an kommunistischem oder zivilem Widerstand (Gebürtig, Dunkelstein) sowie an dem komplexen Diskursfeld des jüdischen Widerstandes (Dunkelstein). Um Taboris und Schindels Ästhetiken des Grotesken beschreiben zu können, müssen diese in den vielschichtigen Debatten um die Darstellbarkeit der Shoah verortet werden; diesen soll im Folgenden unter Berücksichtigung der Zuschreibungen ‚undarstellbar‘ und ‚grotesk‘ Raum gegeben werden.

1.3 „True tales from a grotesque land“ Die Forschung hat für die unmittelbare Nachkriegszeit eine große Diversität der Literaturlandschaft herausgestellt,79 deren Erscheinungsvielfalt Indiz ist für eine Suche nach Ausdrucksformen für ein Schreiben im Wissen um den ‚Zivilisationsbruch‘ (Dan Diner80) auch dann, wenn dieser nicht den thematischen Fokus der Erzählentwürfe bildet. Der Katalog an Ästhetiken, der die Existenz eines homogenen Repertoires an literarischen Strategien widerlegt, reicht von formaler und sprachlicher Orientierung an bekannten Darstellungsmustern und G ­ enres – so etwa dem Festhalten an Möglichkeiten sprachlicher Repräsentation von ‚Wirklichkeit‘ (Böll, Borchert) – bis zur Suche nach neuen, dem Gegenstand angemessenen Ausdrucksformen (Celan, Sachs) und einem grundsätzlichen Erzähl­ skeptizismus (z.B. Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung, der auf gewisse Weise die postmoderne Skepsis an der sprachlichen Vermittlung von Erfahrungen vorwegnimmt). Auch literarische Strategien der Verfremdung sind Teil dieses Repertoires (Weiss, Tabori). Sehr allgemein formuliert, lassen sich Texte, die an einer sprachlichen Repräsentationalität festhalten – also an der Möglichkeit einer rückblickenden Darstellung von etwas tatsächlich Erfahrenem durch Sprache bei gleichzeitiger Vermeidung literarischer Strategien der Verfremdung –, zumindest von repräsentationskritischen oder sprachexperimentellen Positionen abgrenzen. Fragen der Darstellung werden nicht nur implizit durch verschiedenartige literarische Antworten darauf verhandelt, sondern auch explizit diskutiert. Nicht zuletzt Theodor W. Adornos ebenso intensiv rezipiertes wie oftmals als Verbot 79 Vgl. z.B. Braese/Gehle/Kiesel/Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, bes. das Vorwort der Herausgeber. 80 Diner, Dan: „Vorwort des Herausgebers“. In: Ders. (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach ­Auschwitz. Frankfurt: Fischer 1988, S. 7–13.

1.3 „True tales from a grotesque land“

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missverstandenes ‚Auschwitz-Diktum‘, es sei barbarisch, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“,81 löste derartige Debatten aus. Adorno reiste, wie übrigens auch Arendt, 1949 erstmals nach seiner Emigration wieder nach Deutschland und kehrte 1953 dauerhaft zurück. Im Jahr seiner Rückkehr entfesselte das Diktum (formuliert in Kulturkritik und Gesellschaft) eine umfassende Debatte um ästhetische Möglichkeiten der Darstellung der Shoah beziehungsweise theoretische Diskussionen um die Dialektik von Kunst und Barbarei im Angesicht des ‚Zivilisationsbruchs‘ der Shoah. Dieser ex post in den späten 1980er Jahren für die NS-Verbrechen geprägte Begriff belegt ebenso wie Schlagwörter der unmittelbaren Nachkriegszeit (‚Kahlschlag‘, ‚Stunde Null‘) zwar das rückblickende Bedürfnis nach der Integration des Genozids in das kulturelle Gedächtnis, jedoch eignen sie sich kaum als zuverlässige Indikatoren für ein gesamtgesellschaftliches Verlangen nach einer Ausei­ nandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Burkhardt Lindner sieht Adornos Diktum gar als präzise kalkulierten ‚rhetorischen Schlag‘ gegen klare Tendenzen der Verdrängung einer Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft.82 Als Kontrast dazu nimmt sich in der mittlerweile kaum mehr überblickbaren Rezeption von Adornos Diktum83 die unhaltbare Deutung aus, Adorno habe ein Verbot für Lyrikproduktion ausgesprochen. „Bevor man sich die Zeit nahm, 81 Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft [Erstdruck 1951, verf.1949]. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1. Frankfurt: Suhrkamp 1980, S. 11–30, hier: S. 30. 82 Vgl. Lindner, Burkhardt: „Was heißt: ‚Nach Auschwitz‘?“ In: Braese/Gehle/Kiesel/Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, S. 283–300, hier: S. 284. 83 Zur Rezeption von Adornos Thesen ab den 1980er Jahren, zu Darstellungsdebatten und exemplarischen ästhetischen und literaturtheoretischen Standortbestimmungen vgl. Kiedaisch, Petra: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Reclam: Stuttgart 1995. – Köppen, Manuel (Hg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz. – Köppen, Manuel/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. – Dunker, Axel: Die anwesende Abwesenheit: Literatur im Schatten von Auschwitz. München: Fink 2003 (bes., S. 9–33). – Schlant: Die Sprache des Schweigens. – Roebling-Grau/Rupnow (Hg.): ‚Holocaust‘-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Roebling-Grau und Rupnow stecken in ihrer Einleitung auch die vieldiskutierte Kategorie der ‚Authentizität‘ im Forschungsfeld der Shoah-Literatur ab. Zur Resonanz ästhetischer Faszination am Nationalsozialismus in der Kunst nach 1945 vgl. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus [Reflets du nazisme, 1982]. München, Wien: Hanser 1984. Einen wegweisenden Beitrag für Debatten der 1990er Jahre leistete James Edward Youngs Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation [Writing and rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation, 1988]. Frankfurt: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1992. Youngs zentrale These lautet, dass „die Ereignisse des Holocaust in ihrer literarischen Darstellung nicht nur post factum gestaltet werden, sondern daß sie von Anfang an, das heißt schon während sie stattfanden, von den Schemata geprägt waren, nach denen sie begriffen und ausgedrückt wurden und die schließlich zu bestimmten Formen des Handelns geführt haben“ (ebd., S. 20).

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1. Voraussetzungen

Adornos herausgepflückte Zuspitzungen im Umfeld ihrer vor- und nachgestellten Reflexionen zu entdecken, sie also nicht als Verbot, sondern als Maßstab zu begreifen,“ so Günter Grass in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung, „stand ausgesprochen wie unausgesprochen die Abwehr festgefügt.“84 Das verkürzt wiedergegebene Diktum wurde häufig aus dem argumentativen Gesamtzusammenhang von Kulturkritik und Gesellschaft gerissen, der die „Dialektik von Gesellschafts- und Kulturkritik im Zeitpunkt ihres endgültigen Zerfalls“ zum Thema hat. Es wurde ignoriert, dass „nach Auschwitz“ nicht lediglich ‚post Auschwitz‘ bedeuten, sondern „einen konsekutiv-argumentativen Nebensinn (Auschwitz zufolge)“85 haben könne. Auch die dem Diktum post factum oft attestierte Intention Adornos, damit auf eine Vielzahl literarischer Shoah-Texte zu reagieren, ist nicht haltbar. Erst Jahre später erschließt sich mit neuen und vielgestaltigen Erinnerungsdiskursen und -praktiken (z.B. infolge der Frankfurter Auschwitz-Prozesse oder der deutschen Wiedervereinigung) die produktive Dimension des Diktums für die deutschsprachige Literatur: Vor allem ab den 1960er Jahren greift eine Vielzahl von Autor*innen (implizit oder explizit) Adornos Diktum auf und beginnt, das eigene Schreiben über und nach – im doppelten Sinne – Auschwitz zu reflektieren.86 Wenngleich Adorno der Kunst die Möglichkeit absprach, die Vergangenheit gesellschaftlich aufzuarbeiten, negiert er die ‚Berechtigung‘ künstlerischen Ausdrucks über und nach Auschwitz nicht. So spricht er Samuel Becketts Arbeiten – allen voran Endspiel –87 zu, in vollem Bewusstsein von Auschwitz verfasst zu sein, gleichwohl ohne den Genozid zu thematisieren: Becketts Texte zeigen literarische Variationen der Herr-Knecht-Dialektik ebenso wie die Interdependenzen von Erinnern und Vergessen sowie seine Reflexion der durch den National84 Grass, Günter: „Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung“. In: Kiedaisch: Lyrik nach Auschwitz, S. 139–144, hier: S. 139. 85 Lindner: „Was heißt: Nach Auschwitz? Adornos Datum“, S. 283f. 86 Vgl. z.B. den Anfang von Heinrich Bölls Frankfurter Poetikvorlesung („Zur Ästhetik des Humanen in der Literatur“, 1964; Veröffentlichung unter dem Titel „Frankfurter Vorlesungen“, 1966), Peter Weiss’ Rede anlässlich der Entgegennahme des Lessingpreises („Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache“, 1965), Stefan Heyms Rede in der Paulskirche mit dem Titel „Schreiben nach Auschwitz“ (Oktober 1988) oder Grass’ „Schreiben nach Auschwitz“ (1990) als Rekapitulation des eigenen Schreibens. Debatten fanden freilich auch außerhalb des deutschsprachigen literarischen Feldes statt, etwa durch die Diskursbeiträge von Elie Wiesel oder Jean Cayrol. Vgl.: Wiesel, Elie: Die Massenvernichtung als literarische Inspiration. In: Kogon, Eugen/Metz, Johann Baptist (Hg.): Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmords am jüdischen Volk. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1979, S. 21–50. – Cayrol, Jean: „Témoignage et littérature“. In: Ésprit April 1953, S. 575–578. 87 Vgl. Adorno, Theodor W.: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ [1961]. In: Versuch das Endspiel zu verstehen. Frankfurt: Suhrkamp 1972, S. 167–214.

1.3 „True tales from a grotesque land“

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sozialismus ‚beschädigten‘ Sprache – etwa in Warten auf Godot: Die scheinbar ahistorische Raumkonzeption des Dramas sowie der auf den ersten Blick zeitlich nicht verortbare Akt des Wartens verweisen auf die Orientierungslosigkeit der Figuren und negieren die Vorstellung von Abschluss oder Teleologie. An dieser Stelle sei an Kormans Video und die Beobachtung erinnert, wie stark die Legitimität künstlerischer Ausdrucksformen an jene Erinnerungsepochen geknüpft ist, in denen sie entstehen. Die Ästhetik des Videos ist voraussetzungsreich; so muss die körperliche Präsenz von Shoah-Überlebenden und die Legitimität ihrer subjektiven Erfahrungserzählung in literarischen Shoah-Diskursen bereits etabliert sein (vgl. Kapitel 3). Außerdem müssen Darstellungskonventionen bestehen, die Korman als abgegriffen bezeichnen kann (ihr Anliegen: „present a fresh perspective“, s. oben). Um also die Ästhetik von solchen Kunstwerken, die sich gegen konventionalisierte Darstellungspraktiken stellen, adäquat beschreiben zu können, müssen deren diskursgeschichtliche Bezugspunkte in die Analyse miteinbezogen werden, schließlich gehen der Etablierung von Darstellungskonventionen nicht nur eine „wildwüchsige[] Koexistenz“88 unterschiedlichster Ästhetiken in der Nachkriegszeit voraus, sondern auch Darstellbarkeitsdebatten, theoretische sowie in literarischen Texten ausgedrückte (z.B. Antelme, Imre Kertész). Positionen dieser Debatte wurden an anderer Stelle pointiert zusammengefasst (Vgl. Anm. 83). Solche Darstellungsdebatten lassen sich auch in Bezug setzen zu einer Verwendungsweise des Adjektivs ‚grotesk‘ in manchen literarischen Texten von Überlebenden, in denen es verwendet wird um die Alterität der Shoah-Erfahrung zu bezeichnen: Etwa betitelt die polnisch-jüdische Shoah-Überlebende Sara Nomberg-Przytyk ihre autofiktionalen Erzählungen Auschwitz. True tales from a ­grotesque land89 – das Adjektiv indiziert die Kluft zwischen den Gewalterfahrungen in den Konzentrationslagern und Nomberg-Przytyks bisheriger Lebensrealität. Diese Kluft wird auch von Antelme mittels wiederholter Verwendung des Adjektivs ‚grotesk‘ bezeichnet: Gegen Mitte des Vormittags nun, als wir uns gerade anschickten, einen Eisenträger aufzuheben, und zwar nicht langsamer, als wir es bisher getan hatten, da stürzte er 88 Braese: „Versetzte Gleichzeitigkeit. Darstellungen bis 1949“, S. 39. 89 Nomberg-Przytyk, Sara: Auschwitz. True tales from a grotesque land. Chapel Hill, London: The University of North Carolina Press 1985. Theodore J. O’Keefe beschreibt die Erzählungen folgendermaßen: „For the most part the tales she recounts are from the stock repertory of the ­Auschwitz ‚survivor‘: incredible brutality and callousness on the part of the Germans, noble en­durance or brutish self-interest among the inmates, poignant romances, miraculous escapes, mass exterminations.“ (O’Keefe, Theodore J.: „Auschwitz: True Tales From A Grotesque Land. Book Review“. In: The Journal of Historical Review 7, 3 (1986), S. 369–372, hier: S. 369.)

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1. Voraussetzungen

[der Zivilist] sich plötzlich auf den Kameraden, der ihm am nächsten war und versetzte ihm zwei Fußtritte, die den Kameraden im Kreuz trafen. Zugleich fing er an zu brüllen und lief rot an. Der Kamerad stand wieder auf und verdrückte sich. Der Zivilist verfolgte ihn nicht. Seine Brille hatte sich leicht verschoben, sein Gesicht war scharlachrot. Es war grotesk. Er war nicht gewohnt, Fußtritte auszuteilen, er war so grotesk wie es ein Zivilist sein kann, wenn er die Grenzen seiner Gebärden überschreitet, die ihm von seiner äußeren Aufmachung gesetzt werden; grotesk wie ein schwarz gekleideter Mann mit Stehkragen, der an einem Strand inmitten nackter Körper Fußball spielen würde; grotesk wie ein Zivilist, der den Athleten spielen möchte. Er hatte mit uns SS spielen wollen. Es läßt sich nicht ausmachen, ob ihm seine beiden ersten Fußtritte schwerfielen, sicher ist jedenfalls, daß er Geschmack daran fand. Wenn wir den Träger draußen abgelegt hatten und nun etwas zu langsam zurückkamen, stürzte er schwänzelnd herbei, nahm einen Anlauf und trat uns in den Arsch oder ins Kreuz, wobei er brüllte. Doch er trat so ungeschickt, daß man den Eindruck hatte, er müsse eine Angst überwinden. Sicherlich fühlte auch er sich als Held, aber nicht einfach nur, wie man das als guter Staatsbürger tut, ein Held, weil er über die von seinem Körper gesetzten Grenzen hinweggegangen war, weil er sich öffentlich zur Schau gestellt hatte, weil er persönlich seine Macht ausgeübt hatte.90

Die nicht nur stilistische Häufung des Adjektivs ‚grotesk‘ bezeichnet hier die Alterität menschlichen Verhaltens unter den Vorzeichen des Nationalsozialismus: Menschen verändern ihr bisheriges soziales Handeln (Fußtritte, Brüllen); um den Bedeutungsbereich dieses ‚grotesken‘ Verhaltens zu erklären, vergleicht Antelme es mit Grenzüberschreitungen bekannter sozialer Rollen (der schwarz gekleidete Fußballspieler unter Nackten) und eines Habitus (die Überschreitung der Grenzen seiner Gebärden, die ihm sein äußeres Erscheinungsbild auferlegt; die Überschreitung individuell empfundener Grenzen). Damit zeigt die Textstelle Antelmes Verständnis des Begriffs ‚grotesk‘; für die Shoah-Erfahrung leistet diese, dass damit die Erfahrung eines fundamentalen Bruchs beschrieben werden kann, nämlich das Gefühl der Erfahrung, dass bisherige Regeln sozialen Handelns außer Kraft gesetzt sind. Das Adjektiv ‚grotesk‘ markiert hier dergestalt eine Lücke des Unbeschreibbaren oder Unerfassbaren: Sie betrifft die überraschende Brutalität und Gewaltanwendung, die mit bisher gültigen Regeln sozialen Handelns nicht vereinbar ist. Primo Levi beschreibt diese Erfahrung als Eintritt in die „unentzifferbar[e]“ Welt des Lagers in Die Untergegangenen und die Geretteten: „Sie entsprach keinem der bekannten Modelle“.91 90 Antelme, Robert: Das Menschengeschlecht. Menschengeschlecht [L‘Espèce humaine, 1947]. München: Hanser 1987, S. 264. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Menschengeschlecht. 91 Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten [I sommersi e i salvati, 1986]. München: dtv 1993, S. 34 f. Im Folgenden Zitation im Fließtext: UG.

1.3 „True tales from a grotesque land“

49

Diese Lücke betrifft bei Antelme auch eine sprachliche Kategorie, wenn das Adjektiv ‚grotesk‘ diese erschütternde Erfahrung sprachlich bezeichnet. Aus dieser Textpassage aus Das Menschengeschlecht speist sich erstens die Erkenntnis, dass in Texten von Überlebenden das Adjektiv ‚grotesk‘ die Erfahrung der Auflösung bisheriger gesellschaftlicher Regeln benennen kann. Zweitens verweist sie auf einen Wahrnehmungsmodus, der die Alterität der unmittelbaren Gewalterfahrung und deren Widerspruch zur bisherigen Welterfahrung in eine sprachliche Kategorie zu fassen sucht. Antelmes Verwendung des Begriffs ‚grotesk‘ ist damit symptomatisch für jene Problematik, mit der sich Autor*innen angesichts sprachlicher Re-präsentation der Shoah konfrontiert sehen: In ihrem Kern steckt die Frage, wie sich die Alterität der Shoah-Erfahrung und sprachliche sowie narrative Konventionen zueinander verhalten; welche narrativen Muster, welche Gattungen und welche sprachlichen Konventionen im Schreiben über die Shoah aufgegriffen, adaptiert oder subvertiert werden, wird sowohl von Autor*innen als auch in der wissenschaftlichen Forschung gefragt.92 Die Schwierigkeit der Kommunizierbarkeit der Shoah-Erfahrung und deren sprachliche Kodierung, die Antelme in der zitierten Passage aus Das Menschengeschlecht durch das Adjektiv ‚grotesk‘ bereits 1947 markiert, weist voraus auf den Topos der ‚Undarstellbarkeit‘: In der Literaturgeschichte der Shoah sowie in deren Literaturgeschichtsschreibung bezeichnen Begriffe wie ‚undarstellbar‘, ‚unbeschreibbar‘ o.ä. sukzessive jene Darstellungsschwierigkeiten, die bei Antelme angedeutet werden. In der Auseinandersetzung mit (ästhetischen) Fragen nach der grundsätzlichen Darstellbarkeit kristallisieren sich diverse Facetten von Nicht-Darstellbarkeit, Nicht-Beschreibbarkeit und Nicht-Nennbarkeit heraus. Es steht das physische Nicht-Vermögen des Sprechens ebenso im Raum wie der Mangel an (sprachlichen, bildlichen, formalen etc.) Ausdrucksmöglichkeiten. Den ersten Aspekt spiegelt Friedmans oben zitierte Forderung an die Historiografie, Wege zu finden, wie die Verfolgten und Ermordeten als souverän sprechende Subjekte präsent sein können. Das physische Unvermögen des Sprechens ist überdies eng verbunden mit dem Bestreben der Nationalsozialist*innen, jeg-

92 Etwa untersuchen Braese, Grethlein und Saupe Spielarten der Gattungen Komödie, Tragödie und Kriminalroman in der Shoah-Literatur in folgenden Beiträgen: Braese, Stephan: „Holocaust als Komödie“. In: Roebling-Grau/Rupnow (Hg.): ‚Holocaust‘-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität, S. 103–112. – Grethlein, Jonas: „Die Tragödien der Shoah“. In: ebd., S. 113–131. – Saupe, Achim: „Holocaust als Kriminalroman“. In: ebd., S. 133–147.

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1. Voraussetzungen

liche Zeugin/jeglichen Zeugen93 sowie jegliches Zeugnis94 des Genozids zu vernichten. Der Massenmord zielte auch auf das Auslöschen von Erinnerung sowie die Tilgung dieser Erinnerungen und der Erinnerungsträger*innen (auch Dokumente etc.) aus jeglicher Geschichtsschreibung.95 Retrospektiv berichten viele Shoah-Häftlinge, ihr starker Überlebenswille habe sich gespeist aus dem Bedürfnis, Zeugnis abzulegen und stellvertretend für die Ermordeten zu sprechen.96 Der zweite Aspekt verweist indes auf (sprachliche, ästhetische) Fragen nach der grundsätzlichen Darstellbarkeit der KZ-Erfahrung, die in literarischen Texten bereits vor der Rezeption von Adornos Auschwitz-Diktum thematisiert wird: Bereits 1946/47 schreibt Antelme in seinem erst 1957 bei Gallimard veröffentlichten Menschengeschlecht über seine Inhaftierung im KZ Gandersheim97 (1944 93 In seiner Studie über das Leben in Konzentrationslagern berichtet Terrence Des Pres von einem in Dachau Inhaftierten, dem ein SS-Wächter direkt gesagt habe, es würde niemand von ihnen überleben, um nach Kriegsende von den Gräueltaten der Konzentrations- und Vernichtungslager zu berichten – „there would be rumours, speculations, but no clear evidence, and people would conclude that evil on such a scale was just not possible.“ Des Pres, Terrence: The Survivor. An Anatomy of Life in the Death Camps. New York: Oxford University Press 1976, S. 35. 94 Filip Müller, Überlebender eines Sonderkommandos des KZs Auschwitz-Birkenau und ein Gesprächspartner Claude Lanzmanns in Shoah, hat bezeugt, dass nach Einstellung der Ermordungen in den Gaskammern von Auschwitz dort Lagerdokumente (wie Totenscheine, Häftlingsdokumente etc.) in den Krematorien verbrannt wurden – neben den Werkzeugen der Vernichtung und ihren Zeug*innen wurden auch die Archive der Vernichtung eliminiert (vgl. Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. München: Fink 2007, S. 40). Didi-Huberman verweist auf das Paradoxon zwischen den nationalsozialistischen Bestrebungen, Ausmaße und Organisation des Genozids soweit wie möglich zu verheimlichen, und dem gleichzeitig aufrecht erhaltenen bürokratischen Apparat der Organisation und Deportation, der den Genozid dokumentierte (vgl. ebd., S. 43). 95 In Die Untergegangenen und die Geretteten spricht Primo Levi gar von einem Krieg gegen das Erinnern, nicht nur hinsichtlich der Ermordung der Lagerinsassen und deren Zeugenschaft, sondern auch in Anbetracht der SS-Aufseher: Sie konsumieren vor Massenerschießungen große Mengen an Alkohol und vollzogen diese teilweise im Rausch (vgl. UG, S. 28). Dass ein von der Historiografie lange unterschätzter Teil des Genozids nicht in Gaskammern, sondern in Massenerschießungen verübt wurde, häufig unter großem Alkoholeinfluss, belegen auch historiografische Forschungsergebnisse nach 1989. (Vgl. z.B. Stone, Dan: „Beyond the ‚Auschwitz syndrome‘: Holocaust historiography after the Cold War“. In: Patterns of Prejudice 44, 5 (2010), S. 454–468, hier: S. 457.) 96 Elie Wiesel formuliert dieses Bedürfnis mit den Worten „There was […] a veritable passion to testify for the future, against death and oblivion, a passion conveyed by every possible means of expression“. (Wiesel, Elie. Zit. nach Des Pres: The Survivor, S. 35.) 97 Antelme wurde 1944 als Mitglied der Résistance und nicht als Jude verhaftet. Wenngleich sich seine Arbeit damit nicht dazu eignet, das Schreiben jüdischer Autor*innen über jüdische Figuren zu untersuchen, sind seine literarischen Arbeiten angesichts ihrer großen Verbreitung auch außerhalb Frankreichs aufschlussreich für eine Untersuchung von impliziten ‚Darstellbarkeitsdebatten‘ und diskursiven Veränderungen. Nebenbei bemerkt ist es charakteristisch für das in der DDR verbreitete Interesse an politischem Widerstand, dass eine deutsche Übersetzung bereits 1949 unter dem Titel Die Gattung Mensch in der DDR erschien.

1.3 „True tales from a grotesque land“

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als Außenlager des KZs Buchenwald in einem ehemaligen Kloster errichtet), den Todesmarsch sowie die anschließende Befreiung: „Kaum begannen wir zu erzählen, verschlug es uns die Sprache. Was wir zu sagen hatten, begann uns nun selber unvorstellbar zu werden.“ (Menschengeschlecht 7) Der von Antelme kursiv hervorgehobene Begriff ist hier noch kein Topos, sondern artikuliert ein grundlegendes psychologisches Problem der retrospektiven sprachlichen Bearbeitung der KZ-Inhaftierung: Antelme beschreibt in der Begegnung der KZ-Insassen mit amerikanischen Soldaten während der Befreiung des Lagers die bewusste Entscheidung, zu schweigen über die Erfahrung von Verfolgung und KZ-Inhaftierung: Einige der Häftlinge versuchen […], ihm so manches zu erzählen. Zuerst hört der Soldat zu, aber dann hören die Kerle nicht mehr auf: sie erzählen und erzählen und bald hört der Soldat nicht mehr hin. […] Hier kommt die ungeheure Unwissenheit des Soldaten zum Vorschein. Und dem Häftling offenbart sich seine ganze Erfahrung zum ersten Mal wie losgelöst von ihm, als Ganzes. Dem Soldaten gegenüber spürt er bereits unter dieser Zurückhaltung das Gefühl hochkommen, daß er von nun an einem unendlichen Wissen ausgeliefert ist, das sich nicht mitteilen läßt. Die Geschichten, die die Kerle erzählen, sind alle wahr. Aber es bedarf großer Kunstfertigkeit, um ein kleines Teilchen Wahrheit herüberzubringen […]. Das Bewußtsein der meisten [Soldaten, J.Ö.] ist schnell zufriedengestellt, und mit einigen Worten bilden sie sich aus dem Nichtzukennenden eine endgültige Meinung. […] Unvorstellbar, das ist ein Wort, das sich nicht teilen läßt, das nicht einschränkt. Es ist das bequemste Wort. Läuft man mit diesem Wort als Schutzschild umher, diesem Wort der Leere, wird der Schritt sicherer, fester, fängt sich das Gewissen wieder. (Menschengeschlecht 404 ff.)

Das Gefühl, an das eigene Wissen ausgeliefert zu sein, koppelt Antelme an dessen Nicht-Kommunizierbarkeit. In seiner Lesart kann der Begriff ‚unvorstellbar‘ außerdem ein bequemer Ausweg sein aus dem Versuch einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Erfahrungshorizont der Opfer; bequem ist er insofern, als er bei Antelme auch als Grund dienen kann für einen nicht erfolgenden Vermittlungsversuch. Eine differenzierte Betrachtung diverser Bedeutungsaspekte von Begriffen wie ‚unsagbar‘ oder ‚unnennbar‘ betrifft, so zeigt auch dieses Zitat, sowohl ein funktionierendes Kommunikationsmodell, das auf Sprechende und Zuhörende angewiesen ist, als auch die Ausdrucksmittel, die dem Gegenstand angemessen sind. Vor allem aus letztgenanntem Punkt resultieren unterschiedliche Positionierungen sowie Ästhetiken – stark vereinfacht gesagt, stehen einander Vertreter*innen eines ‚Bilderverbots‘ und dessen Gegner*innen gegenüber. Als früher Vertreter des Bilderverbots sprach sich der bereits erwähnte Jean Cayrol in den 1950er Jahren gegen jene Darstellungen der Gräuel der national-

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1. Voraussetzungen

sozialistischen Judenverfolgung aus, die ein möglichst ‚realistisches‘ Bild vermitteln möchten. Claude Lanzmann setzte seine ästhetische Position, einem vehementen Abbildungsverbot ähnlich, künstlerisch in Shoah (1985)98 um, in dem er auf Archivfotos oder -aufnahmen verzichtet: Gezeigt werden zeitgenössische Bilder von traumatischen Orten (z.B. Chełmno) sowie Gespräche mit Zeug*innen (z.B. Filip Müller, vgl. Anm. 94; der Historiker Raul Hilberg; weitere Überlebende sowie nationalsozialistische Täter) – ein kinematografischer Gegenentwurf zu fiktionalisierenden oder sentimentalisierenden Repräsentationen, auf den der ursprüngliche Filmtitel Le lieux et la parole (Der Ort und das Wort)99 verweist. Als weiterer vehementer Vertreter eines ‚Darstellungsverbots‘ wird in der Forschung meist Elie Wiesel zitiert („Eine Geschichte über Treblinka ist entweder keine Geschichte, oder es ist keine Geschichte über Treblinka.“100), Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald; auch Viktor Klemperer, welcher der Deportation entging und in Deutschland überlebte, könnte dazugezählt werden. Im Gegensatz dazu ergriffen Autoren wie Imre Kertész oder Edgar Hilsenrath, die als Überlebende des KZ Auschwitz beziehungsweise des Ghettos Mohyliw-­ Podilskyj ebenfalls unmittelbar von der Shoah betroffen waren, Position für die Notwendigkeit von fiktionalisierten literarischen Darstellungen der Shoah. So setzt sich Kertész – ähnlich wie Antelme in Das Menschengeschlecht – in seinem Roman eines Schicksallosen (1975)101 mit der Frage nach der Kommensurabilität 98 Diese zum damaligen Zeitpunkt ungewöhnliche ästhetische Grundsatzentscheidung mag mit bewirkt haben, dass Lanzmann für Shoah zwölf Jahre lang vergeblich einen Produzenten suchte (vgl. Claude Lanzmann im Gespräch mit Renata Schmidtkunz. In: Im Gespräch. Ö1, 5. Dezember 2013, 21 Uhr). Liliane Weissberg spricht von Lanzmanns Ästhetik der Abwesenheit und führt aus, wie sein Bilderverbot mit einem Verstehensverbot korreliere (vgl. Weissberg, Liliane: „Claude Lanzmanns ‚Shoah‘ – eine Bootsfahrt auf dem Styx“. In: Gelhard/von der Lühe: Wer zeugt für den Zeugen? Positionen jüdischen Erinnerns im 20. Jahrhundert, S. 139–155, bes. S. 144). 99 Vgl. Schmoller, Andreas: „Die Darstellbarkeit der Shoah“. In: Handbuch Jüdische Kulturgeschichte. Hg. vom Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg. URL: http://hbjk.sbg. ac.at/kapitel/die-darstellbarkeit-der-shoa/ [2.4.2021]. 100 Vgl. etwa Wiesels oft zitierte Stellungnahme, es dürfe eine „literarische Imagination überhaupt nicht mehr geben, nicht mehr in Verbindung mit Auschwitz. […] Jeder Versuch seiner literarischen Darstellung wird jenes Erlebnis, das jetzt unserem Zugriff entzogen ist, nur verblassen und verarmen lassen. […] Eine Geschichte über Treblinka ist entweder keine Geschichte, oder es ist keine Geschichte über Treblinka. Eine Geschichte über Majdanek ist fast schon eine Gotteslästerung. Nein, es ist Gotteslästerung.“ (Wiesel: Die Massenvernichtung als literarische Inspiration, S. 25 f.) 101 Der Roman eines Schicksallosen erschien nach 13 Jahren Arbeit ohne besonderes Echo bei der Kritik auf Ungarisch (vgl. F. Földényi, László: „Das ‚Schlachtbeil‘ der Kunst. Über Imre Kertész“. In: Ebert, Dietmar (Hg.): Das Glück des atonalen Erzählens. Studien zu Imre Kertész. Dresden: editionAZUR 2010, S. 19–37, hier: S. 22). Die deutsche Übersetzung erschien 1990 bei Rütten & Loening, eine Neuübersetzung 1996 bei Rowohlt.

1.3 „True tales from a grotesque land“

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der Shoah auseinander. Bei Antelme sowie bei Kertész grundiert die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten des Erzählens die Texte, und es stehen Schwierigkeiten der Darstellbarkeit nochmals exponiert an deren Ende. An der Gegenüberstellung der betreffenden Textpassagen zeigt sich jedoch deren großer ästhetischer Unterschied, den beide Autoren anhand eines Modells von (literarischer) Kommunikation entwickeln: Sie zeigen Begegnungen zwischen KZ-Überlebenden mit Menschen, die selbst von der Shoah nicht betroffen waren – bei Antelme mit einem Soldaten, bei Kertész mit einem Journalisten: „Mein Junge, möchtest du denn nicht über deine Erlebnisse berichten?“ Ich staunte ein bisschen und sagte, sehr viel Interessantes könnte ich ihm nicht erzählen. Da hat er ein wenig gelächelt und gesagt: „Nicht mir: der Welt.“ Darauf staunte ich noch mehr und wollte wissen: „Aber worüber denn?“ „Über die Hölle der Lager“, antwortete er, worauf ich bemerkte, darüber könne ich schon gar nichts sagen, weil ich die Hölle nicht kenne und sie mir nicht einmal vorstellen kann. Aber er sagte, das sei bloß so ein Vergleich: „Haben wir uns denn“, fragte er, „das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?“, und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das k­ enne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht.102

Diese explizite Thematisierung des gescheiterten Kommunikationsversuches ist bemerkenswert, da sich Kertész damit früh für eine Darstellung ausspricht, die sich der Ausbildung von narrativen Konventionen bewusst ist und sie gleichzeitig problematisiert. Im Schreiben über die Shoah bilden sich Strukturmomente aus, chronotopische, sprachliche oder das Figureninventar betreffende: Spielen Szenen in Konzentrationslagern – in der Literatur sowie im Film –, ist häufig Winter oder brütend heißer Sommer, jedoch kaum ein lauer, friedlicher Frühlingstag; um die Grauen des Konzentrationslagers näherzubringen, werden oft Vergleiche und Metaphern aus dem Bildkreis von Höllenvorstellungen herangezogen; die Figurenkonzeption setzt oft auf Dichotomien wie jüdisches Opfer = gut vs. deutsche Täter*in = böse. Diese Strukturmomente können bestätigt und reproduziert oder gebrochen werden; sie stellen, so wird sich zeigen, außerdem zentrale Referenzpunkte für eine Beschreibung von Taboris und Schindels Ästhetiken des Grotesken dar. Als Kertész’ Ich-Erzähler im Roman eines Schicksallosen Fragen nach seiner KZ-Inhaftierung beantworten soll, verweigert er den Rückgriff auf Gemeinplätze: Während Kertész’ Arbeit an dem Roman zwischen 1969 und 1973 hatte sich 102 Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. Berlin: Rowohlt 1996, S. 271 f. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Schicksalloser.

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1. Voraussetzungen

als weiterer Topos in der Literatur bereits die Metapher der Hölle für die KZ-Erfahrung etabliert103 (es ist davon auszugehen, dass dieser auch Kertész unter den Bedingungen des Literatursystems im kommunistischen Ungarn geläufig war). Kertész’ Ich-Erzähler weigert sich, diese Metapher zu strapazieren, obwohl das Bild ihm vonseiten des Journalisten in den Mund gelegt wird. Damit stellt diese Szene am Ende von Kertész’ Roman, in der der Ich-Erzähler es ablehnt, die Erwartungshaltungen eines mit dem KZ-Alltag nicht vertrauten Journalisten zu bestätigen, eine der provokantesten Brechungen derartiger konventionalisierter Strukturmomente dar: Kertész’ Erzähler erkennt, „über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen […] nicht diskutieren“ (Schicksalloser 271). Er nimmt sich – anstatt angesichts der Unvermittelbarkeit der Shoah-Erfahrung in Schweigen zu verfallen – vor, er werde „vom Glück der Konzentrationslager […] erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.“ (Schicksalloser 287) In einer logischen Verknüpfung zwischen Glücksgefühlen und der Shoah-Erfahrung bricht der Ich-Erzähler in den Ausführungen nicht nur innerhalb der Diegese die Erwartungen eines Journalisten, der von der Hölle in den Lagern hören möchte, sondern vermutlich auch jene von Leser*innen. Als poeto­ logische Position zeigt sich die doppelte Verweigerung, die KZ-Erfahrung mit konventionalisierten Vergleichen (z.B. dem Topos der Hölle) und narrativen Strukturen (z.B. jener des Bildungsromans) zu fassen. Zur Erfahrung des ‚Unsagbaren‘ gesellt sich bei Kertész also auch eine poetologische Dimension. Auf das Bewusstsein verschiedener Wahrnehmungsmodi und sozialer Realitäten, welche Shoah-Überlebende und jene Menschen trennte, die den KZ-Alltag nicht aus eigener Erfahrung kennen, verweist die Verwendung des Adjektivs ‚grotesk‘ in Shoah-Texten. Solche divergenten Wahrnehmungsmodi führen oftmals zu einer Rede vom Unsagbaren, Undarstellbaren oder Unnennbaren, die sowohl ästhetische Fragestellungen betrifft (d.h. die Suche nach Ausdrucksmitteln, die dem Gegenstand angemessen sind) als auch ein funktionierendes Kommunikationsmodell innerhalb wie außerhalb der Diegese (also auch Autor*innen, die einen Verlag und danach ein Lesepublikum finden). Der Zusammenhang zwischen Wahl der Ästhetik und Distributionsmöglichkeiten hat sich exemplarisch an Hilsenraths Nacht gezeigt. Sowohl an Hilsenraths Roman als auch an Veröffentlichungen von Antelme oder Kertész lässt sich außerdem ablesen, dass neben vielen theoretischen Debatten um die Darstellbarkeit der Shoah auch Autor*innen in literarischen Texten Stellung zu ästhetischen Fragen beziehen. Ihre Position nehmen sie implizit mittels einer Ästhetik ein (Lanz103 Vgl. zum Höllentopos Taterka, Thomas: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur. Berlin: Erich Schmidt 1999. Taterka untersucht in deutschen und romanischen Texten von Zeug*innen die Verwendung des Topos der Hölle als metaphorischen Referenzrahmen von Konzentrations- und Vernichtungslagern.

1.4 ‚Juden‘ und Repräsentation

55

mann) oder artikulieren sie explizit (Wiesels kanonisches Zitat über Treblinka); schließlich kann sie sich innerhalb eines literarischen Kommunikationsmodells manifestieren: sowohl hinsichtlich der Kommunikation zwischen Figuren innerhalb eines Textes (Kertész, Antelme) als auch zwischen Autor*in und Leser*in. Begriffe wie ‚unsagbar‘ oder ‚unnennbar‘ bezeichnen schließlich eine ästhetische Problemstellung und damit eine spezifische literarische Frage nach ästhetischen Zugriffen auf die historische Realität – repräsentationskritisch, verfremdend, dokumentarisch usw. Bisher wurde dieser Problemzusammenhang vor allem an Arbeiten von jüdischen Autor*innen nachgewiesen. Zu einem der wenigen nicht-jüdischen deutschen Autor*innen, die sich sehr früh, nämlich bereits 1947, mit der Darstellbarkeit des Genozids befassen, zählt auch auch der damals rund dreißigjährige Heinrich Böll. Kurz nach Kriegsende verfasst er einen kurzen Prosatext, der moralische Solidarität mit den Opfern bekundet und eine Massenexekution darstellt; Böll, der den Zweiten Weltkrieg als deutscher Wehrmachtssoldat verbrachte (ab 1939),104 gehört damit jener Gruppe von Autor*innen an, die nicht selbst verfolgt wurden. An Todesursache: Hakennase105 lässt sich der Versuch des Autors ablesen, in der Nachkriegszeit zu dem Schicksal jüdischer Ermordeter im Genozid vorzudringen. Bölls Kurzgeschichte muss als diskurs- und literaturgeschichtlich aufschlussreiches Beispiel für einen Erzählversuch gelten, dessen problematische Passagen die eingangs zitierten repräsentationskritischen Forderung Friedmans auf den Plan rufen; sie wird im folgenden Kapitel im Detail in den Blick genommen.

1.4 ‚Juden‘ und Repräsentation Die literarische Repräsentation des Genozids spielt in vielen Texten keine Rolle, die sich in das beschriebene philosemitische Paradigma einordnen lassen oder die vordringlich unter dem Blickwinkel der Darstellung Deutscher als Opfer zu lesen sind wie etwa Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür (1946).106 In erstgenannter Gruppe steht die idealisierende Darstellung der Opfer einer wirklichkeitsnahen Auseinandersetzung mit dem Genozid im Weg und in zweiter werden jüdische Opfer sowie der Genozid überhaupt ausgespart. 104 Das letzte Kriegshalbjahr verbrachte Böll mit fadenscheinigen und von ihm selbst verlängerten Urlaubspapieren fernab des Kriegsgeschehens bei seiner schwangeren Frau (vgl. Wehdeking, Volker/Blamberger, Günter: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945–1952). München: Beck 1900, S. 94). 105 Böll, Heinrich: Todesursache: Hakennase. In: Werke. Kölner Ausgabe. Band 3. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2003, S. 145–152. Im Folgenden Zitation im Fließtext: TH. 106 Borchert wurde zwar zum Kriegsdienst in die Wehrmacht eingezogen, allerdings auch mehrfach wegen ‚Wehrkraftzersetzung‘ verurteilt.

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1. Voraussetzungen

Anders in Heinrich Bölls Kurzgeschichte107 Todesursache: Hakennase, welche sich als eine der ersten Versuche deutscher Autor*innen108 der literarischen Darstellungen des Genozids annähert: Böll beschreibt in der im August 1947 verfassten, jedoch erst 1983 publizierten109 Kurzgeschichte das aufsteigende Verantwortungsgefühl eines vermutlich in Osteuropa stationierten Wehrmachtsleutnants für die Massenexekutionen von Jüd*innen110 in einem Steinbruch; nach dem gescheiterten Versuch, seinen nichtjüdischen Quartierswirt in letzter Minute vor der Exekution zu retten, verliert der Leutnant den Verstand. Stilistische Besonderheiten finden sich bereits am Textbeginn, wenn sich expressionistische Metaphern und Bilder, Hyperbeln sowie Anthropomorphismen in den weitgehend realistischen Ton111 mischen: Wehrmachtsleutnant Hegemüller kehrt zitternd von seiner Arbeit als Funker in sein Quartier zurück, „sein schmales Gesicht von einer bleichen Nervosität; die Augen […] fast erloschen, das läng107 Die Gattungsklassifikation folgt Wehdeking/Blamberger: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit, S. 104. 108 Vgl. auch die Einschätzung von Michael Serrer („Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus im Frühwerk Heinrich Bölls“. In: Braese/Gehle/Kiesel/Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, S. 213–227, hier: S. 215). 109 Todesursache: Hakennase war für eine Veröffentlichung im Rheinischen Merkur vorgesehen, wurde Böll jedoch zusammen mit anderen Arbeiten retourniert wegen Papierknappheit, infolge derer das Blatt seinen Umfang reduzieren musste. (Vgl. Finlay, Frank/Schubert, Jochen: „Kommentar zu Todesursache: Hakennase“. In: Heinrich Böll. Werke. Kölner Ausgabe, Band 3. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2003, S. 608–613, hier: S. 608.) Laut Serrer unternahm Böll keinen weiteren Versuch, die Erzählung zu veröffentlichen (vgl. Serrer: „Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus im Frühwerk Heinrich Bölls“, S. 215). Die Kölner Böll-Ausgabe (2004) versammelt eine Vielzahl kurzer, früher Texte Bölls; dass der Papiermangel möglicherweise lediglich ein vorgeschobener Grund für die Ablehnung des Textes war, lässt sich aus Gerhard Sauders Beobachtung schließen, Böll habe die betreffenden Texte meist vergeblich Zeitungen zum Abdruck angeboten (vgl. Sauder, Gerhard: „Heinrich Bölls Léon-Bloy-Lektüre: Ursprünge eines radikalen Katholizismus“. In: Jung, Werner/Schubert, Jochen (Hg.): „Ich sammle Augenblicke“. Heinrich Böll 1917–1985. Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 31–48, hier: S. 34). 110 Der Text weist die Menschen nicht explizit als Jüd*innen aus (stattdessen als „Greise“, „Kinder“, „Männer“, mehrfach als „Todgeweihte“ etc.); Hegemüllers schockierte Reaktion auf die Nachricht, dass sein Quartierwirt exekutiert werden soll, obwohl er kein ‚Jude‘ ist, verweist auf das ‚Jude‘-sein der Erschossenen. Erschießungskommandos wurden vor allem in Osteuropa eingesetzt – das größte Massaker begingen Einsatzgruppen 1941 in Babi Jar – und auch der Name des Quartierwirtes Piotr Stepanowitsch legt einen Handlungsort in einem besetzten Gebiet in Osteuropa nahe. Die Frau des Quartierwirts bezeichnet Böll als Russin. 111 Die Böll-Forschung stellt die Ästhetik seiner Prosa häufig in die Nähe von ‚realistischem‘ Erzählen: So hegte Böll laut Sauder eine besondere Vorliebe für die „realistische Erzählkunst des 19. Jahrhunderts“ (Sauder: „Heinrich Bölls Léon-Bloy-Lektüre“, S. 31); Serrer führt als Grund für Bölls andauernde Popularität die Zugänglichkeit seiner Literatur an, da Böll „auf eine Weise schrieb, die als realistisch verstanden wurde“ (Serrer: „Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus im Frühwerk Heinrich Bölls“, S. 213).

1.4 ‚Juden‘ und Repräsentation

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liche, weißlichblond umrahmte Antlitz […] wie eine bebende, zerfleischte Scheibe“ (TH 145). Die bedrohliche Stimmung weist auf das im zweiten Teil geschilderte Exekutionsszenario voraus, wenn Böll vom „gräßlichen Geschnatter der Maschinenpistolen“ schreibt, die „in den fahlen Tag gurgelten“, und von den „wie ein Lachen aufkreischende[n] Schreien“, die die „geifernde Maschinerie des Todes“ charakterisieren (TH 145). Als Hegemüller nun von der verzweifelten Frau seines Quartierswirts Piotr Grimschenko112 erfährt, dass dieser zur Erschießung abgeführt wurde, rast er zum Steinbruch, um Grimschenko zu retten und wird Zeuge des Massenmordes. In Bölls Beschreibung der Szene zeigt sich die Solidarität des Autors mit den Opfern, die er in moralische Opposition zu den Mördern stellt: Die „Henkersknechte“ sind betrunken, in ihren Augen sieht Hegemüller „die stierige Röte des schnapserfüllten Blutes, und ihr Atem war wie heißer Mist“ (TH 148). Die Ermordeten setzt Böll als sakrale Opfer von ihnen ab; es war Hegemüller, so heißt es, „als seien die Gesichter der Absperrposten alle gleich stumpf und tierisch, die der Eingesperrten aber auf eine köstliche Weise hinausgehoben aus der Masse und hinaufgestellt in die Höhe der menschlichen Persönlichkeit.“ (TH 148) Damit stehen den betrunkenen Mördern die „Todgeweihten“ (TH 148) gegenüber, diese „Reihe erhebender Persönlichkeiten“, denen „eine Hoheit verliehen“ ist und die „ruhiger, lächelnder, von einem unaussprechlich menschlichen Gewicht“ (TH 149) scheinen. Böll zeichnet weiter ein Bild harmonischer Erhabenheit: Ein dunkles Schweigen lag über der Masse, etwas merkwürdig Schwingendes, fast Flatterndes darin wie vom Wehen schwerer Fahnen, etwas unsagbar Feierliches, und – Hegemüller spürte es mit stockendem Herzen – etwas auf eine unheimliche Weise Tröstliches, Freude, und er fühlte, wie diese Freude gleichsam auf ihn einströmte, und in diesem Augenblick beneidete er die Todgeweihten und wurde sich mit Schrecken bewußt, daß er die gleiche Uniform trug wie die Mörder. (TH 148)

Der sakrale Tonfall („Feierliches“, „Tröstliches“, „Todgeweihten“) knüpft an die biblische Präfiguration bereits der Anfangspassage an, in der von der „teufli112 Während die Frau des Quartierswirts lediglich seine beiden Vornamen ‚Piotr Stepanowitsch‘ angibt, nennt Hegemüller ihn fortan ‚Grimschenko‘ (und zwei Mal ‚Piotr Grimschenko‘). Diese variierende Benennung der Figur in einem so kurzen Text ist auffällig; eine nähere Untersuchung der Namensverwendung könnte lohnend sein, schließlich erinnert der erstgenannte Name an Pjotr Stepanowitsch (Werchowenskij) aus Dostojewskis Roman Die Dämonen, den Dostojewski ebenfalls stellenweise nur als ‚Pjotr Stepanowitsch‘ führt. Wie Wehdeking und Blamberger bezüglich Bölls Lektürepräferenzen feststellen, haben „Balzac-, Dickens- und Dostojewski-Lektüren […] die Vorstellung vom Schriftsteller als ‚Arzt und Anatom der Gesellschaft‘ genährt“ (Wehdeking/Blamberger: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit, S. 97).

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1. Voraussetzungen

sche[n] Regelmäßigkeit“ der Explosionen die Rede ist, als würde der „Himmel entzwei[geschnitten], so daß er einstürzen“ (TH 145) könnte. Die christologische Motivik in Bölls frühen Texten,113 die sich auch aus Bölls Biografie herleiten mag,114 spielt in Todesursache: Hakennase eine wesentliche Rolle bei der Konstitution der Bilder der (,jüdischen‘) Ermordeten: Die „Richtstätte“ (TH 149) für die „Todgeweihten“ (TH 148 ff.) in einem Steinbruch außerhalb der Stadt (am „Rand der Stadt“ werden die „Todgeweihten am Rand der beginnenden Steppe zusammengetrieben“, TH 148) bezieht Böll wohl auf Golgotha, laut den Evangelisten die Kreuzigungsstätte Jesu’ (vgl. Mt. 27,33; Mk. 15,22; Joh. 19,17) in einem Steinbruch außerhalb der Jerusalemer Stadtmauern. Das damit aufgegriffene Paradigma der Opferung führt Böll in der Eingangssequenz im zitierten Motiv des Schiffsbruchs ein: Bevor Hegemüller von Grimschenkos Deportation erfährt, fragt er sich unter dem akustischen Eindruck der Explosionen, „ob das riesige graue Gewölbe des Himmels nicht schon schief hing wie der Bug eines Schiffes, das kurz vor dem Untergang steht: ach, er glaubte, das Gurgeln der lauernden schwarzen Wasser schon zu hören, die das Wrack der Welt umspülen und mit grausiger Ruhe zernagen würden…“ (TH 146). Dieses Untergangsszenario ruft sowohl Szenen der Apokalypse115 auf als auch das alttestamentarische Buch Jona: Nachdem sich der Prophet Jona dem Befehl Gottes widersetzt hat, der Stadt Ninive ihren Untergang zu verkünden, begibt er sich auf die Flucht vor Gottes Zorn, der ihn auf einem Schiff einholt – Gott schickt ein Unwetter, gegen das alles Beten der Mitreisenden nichts ausrichten kann. Jona berichtet folglich von seinem Vergehen und ersucht die Seeleute, ihn von Bord zu werfen, sodass Gott das Unwetter beende und damit die übrigen Passagiere gerettet seien (vgl. Jona 1–2). Böll zitiert in Todesursache: Hakennase also sowohl ein Bild der Apokalypse als auch zwei biblische Szenarien der Opferung – erstens Jonas Selbstopferung als Widergutmachung für individuelle Schuld, die einen zornigen Gott beschwichtigen soll (Altes Testament) und zweitens die Hinrichtung Jesu’, der laut dem Propheten Jesaja wegen der Verbrechen und Sünden der Menschen ermordet wird (Jes. 53,5, Altes Testament). Nun geht die jüdische Lesart von Jesajas Prophezeiung davon aus, der Singular ‚Er‘ beziehe sich auf das jüdische Volk; im Gegensatz dazu nimmt die christologische Deutung an, es handle sich um die alttestamentarische Vorhersage der Kreuzigung Jesu’ im Neuen Testament.

113 Vgl. etwa Serrer: „Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus im Frühwerk Heinrich Bölls“ sowie Wehdeking/Blamberger: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit, S. 104–106. 114 Vgl. etwa ebd., S. 96–97. 115 Vgl. die Apokalypse der Seefahrt, in der auf den zweiten Posaunenschall die Vernichtung der Schiffe und der Untergang des Meeres folgen (Offenbarung 8, 8 f.; 13, 1; 16, 3; 21, 1).

1.4 ‚Juden‘ und Repräsentation

59

Bölls Verbindung von alt- und neutestamentarischer Motivik in der Kurzgeschichte würde einer eingehenden Untersuchung lohnen;116 hier ist sie vor allem aufschlussreich für Bölls Darstellung der Ermordeten: Die Sakralisierung der ‚Jüd*innen‘ samt der motivischen Verbindung mit testamentarischen Opferungsnarrativen unterlegt die Kurzgeschichte mit einem Narrativ, das untrennbar mit einer impliziten Behauptung von ‚Sinnhaftigkeit‘ der Ermordung und damit des Genozids verbunden ist: Im Alten Testament opfert Jona sich, um seine Mitreisenden zu retten und den zornigen Gott zu besänftigen; die Kreuzigung Jesu’ wird in der christlichen Exegese zur Erzählung des stellvertretenden Opfers – Jesus ist das Bauernopfer, schließlich erklärt der Hohepriester Kajaphas in Johannes 11,50: „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ Im Zentrum dieses vielschichtigen Bedeutungsgeflechts von Opfer- und Opferungsnarrativen besteht ein eminentes Problem bei Bölls Darstellung: Der Anblick der zum Exerzierplatz Schreitenden wird bei ihm zu einer Szene des Trostes, der Freude und der Feierlichkeit – es schien Hegemüller, so sei wiederholt, als sei „die todgeweihte Masse […] aufgelöst in eine Reihe erhebender Persönlichkeiten“ und jedes der Gesichter, die er betrachtet, „schien ihm ruhiger, lächelnder, von einem unaussprechlichen menschlichen Gewicht“ (TH 149). Sie verkennt die Realität der Exekution, wenn Hegemüller die ‚todgeweihten Opfer‘ beneidet (s. Zitat oben). In Antelmes Menschengeschlecht beschreibt der Ich-Erzähler den Kampf gegen den Tod als zentrale ‚Aktivität‘ im Konzentrationslager; der Tod entbehrt so jeglicher religiös-metaphysischen Dimension und „ist das absolut Böse geworden, er hat aufgehört, ein möglicher Ausweg zu Gott hin zu sein“ (Menschengeschlecht 56). Hegemüllers Neid auf die ‚Todgeweihten‘ findet ein spiegelbildliches Pendant in Taboris Kannibalen, als der KZ-Überlebende Klaub ruft: „Und wenn es hier nur zwei Männer gäbe, einen Mörder und ein Opfer, dann würde ich nicht das Opfer sein.“117 (vgl. Kapitel 3.3) – in einer jüdischen Literaturgeschichte der Shoah ist der Neid auf das Schicksal der Opfer, so legen diese Beispiele nahe, wenig plausibel. Die Hinrichtung im Steinbruch ohne Richter oder hohes Gericht ist ihrerseits ein literaturgeschichtliches Motiv, das als weitere Folie für Bölls Exekutionsdarstellung dienen kann: Im Schlusstableau von Franz Kafkas Prozess erblickt Josef 116 Bölls Verhältnis zum Katholizismus, die Repräsentation von Kirche und Christentum sowie seine literarische Beschäftigung mit theologischen Themen untersuchen die Beitragenden des Sammelbandes 30 Jahre Nobelpreis Heinrich Böll aus Perspektive der Theologie. (Vgl. Langenhorst, Georg (Hg.): 30 Jahre Nobelpreis Heinrich Böll. Zur literarisch-theologischen Wirkkraft Heinrich Bölls. Münster, Hamburg, London: Lit Verlag 2002.) 117 Tabori, George: Die Kannibalen. In: Tabori, George: Theater. Band 1. Hg. von Maria Sommer und Jan Strümpel. Göttingen: Steidl 2014, S. 237–299, hier: S. 285. Im Folgenden Zitation im Fließtext: K.

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1. Voraussetzungen

K. kurz vor seiner Ermordung in einem Steinbruch in der Ferne ein Haus, ein sich öffnendes Fenster und fragt sich: „Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer der teilnahm? Einer der helfen wollte? Ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? […] Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht bis zu dem er nie gekommen war?“118 Nicht nur steht Kafkas distanzierter Erzählton im Prozess Bölls sakralisierter Überhöhung der Ermordeten gegenüber; auch erscheint das Ende des Prozesses als perspektivische Gegenposition zu Bölls Kurzgeschichte. Kafka fokussiert nicht die Identifikation mit dem Opfer, sondern die Würdelosigkeit des Todes, zu dem sein Protagonist gezwungen wird: „,Wie ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“,119 so der letzte Satz von Kafkas Roman. Dieser Vergleich hilft dabei, die Problematik von Bölls Kurzgeschichte weiter zu erschließen: Während die Sakralisierung der Opfer und die Verweise auf biblische Opferungsnarrative bei Böll der Ermordung der Juden implizit Sinnhaftigkeit unterstellt,120 betont Kafkas Roman die Undurchsichtigkeit des Schuldspruches, die Absenz jeglicher Rechtsprechung und negiert damit jede Sinnhaftigkeit. „Die Schuld ist immer zweifellos“121 lautet der Grundsatz der institutionellen Macht in der Strafkolonie und diese apodiktische Behauptung fixiert Kafka mittels verfremdender oder distanzierender Strategien als Problemkomplex. Böll geht hingegen einen entgegengesetzten Weg, indem die von ihm zitierten biblischen Opferungsnarrative den dialektischen Zusammenhang von Schuld, stellvertretender Opferung und Wiedergutmachung aufrufen, jedoch nicht problematisieren. Noch ein weiterer Aspekt an Bölls Kurzgeschichte ist in diskursgeschichtlicher Rückschau problematisch, vor allem, wenn bisher wiederholt von Stellvertreterschaft im Sprechen die Rede war: Zweifellos ist Böll an einer mitfühlenden Darstellung der ermordeten Juden gelegen; allerdings stellt er diese, wie deutlich wurde, in ein christliches Opferungsnarrativ und ordnet damit die Erzählung des jüdischen Genozids einer christlichen Deutung unter. Abermals sei an Fried­mans oben zitierte Forderung aus dem Jahr 1957 erinnert, die Erzählung von „a history of the Jewish people during the period of the Nazi rule“ müsse „,Judeo-cen­ tric‘“122 erfolgen. Im Laufe der Diskursgeschichte der Shoah lösten Narrative der Aneignung, wie sie sich auch in Bölls Kurzgeschichte beobachten lassen, wiederholt Kontroversen aus und sie betreffen oft erinnerungspolitische Agenden. 118 Kafka, Franz: Der Proceß. Nach der Kritischen Ausgabe von Hans-Gerd Koch. Frankfurt: Fischer 1994, S. 241. 119 Ebd. 120 Garson Kanins Urteil, Anne Franks Tod sei nicht umsonst gewesen, lässt sich damit vergleichen; vgl. Anm. 51. 121 Kafka, Franz: In der Strafkolonie. In: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Nach der Kritischen Ausgabe von Hans-Gerd Koch. Frankfurt: Fischer 2008, S. 159–195, hier: S. 168. 122 Friedman: „Problems of Research on the European Jewish Catastrophe“, S. 643.

1.4 ‚Juden‘ und Repräsentation

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Ein Beispiel dafür zeigt sich in einer Predigt von Papst Johannes Paul II. am Gelände des KZ Auschwitz-Birkenau am 7. Juni 1979: Erstens bezeichnet Johannes Paul II. Auschwitz darin als „Golgota unserer Zeit“,123 stellt den Genozid also, wie Böll dreißig Jahre zuvor, in einen christologischen Bedeutungszusammenhang. Zweitens argumentiert er, dass der „Sieg durch Glaube und Liebe“, von dem der Apostel Johannes spräche, in Auschwitz exemplarisch durch zwei Personen verkörpert wurde, nämlich von Pater Maximilian Kolbe – 1982 durch Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen124 – und von der Ordensschwester Edith Stein, 1998 heiliggesprochen. Pater Maximilian hatte, so der Papst, „einen geistigen Sieg errungen, der dem Sieg Christi ähnlich ist, indem er freiwillig den Tod im Hungerbunker auf sich nahm – für einen Bruder. Dieser Bruder lebt noch heute in Polen und ist hier bei uns.“125 Auch damit ordnet Papst Johannes Paul II. sein Narrativ von Auschwitz, von der Ermordung von mehreren hunderttausenden jüdischen Menschen, wenig überraschend in ein katholisches Narrativ ein. Inhaftiert wurde Pater Maximilian in Polen unter der deutschen Besatzung wegen seiner Missionarstätigkeit – Papst Johannes Paul II. unterschlägt in seiner Predigt jedoch den Antisemitismus in Pater Maximilians Weltanschauung, den seine Kritiker*innen gegen ihn ins Feld führen.126 Auch das Gedenken an Edith Stein ist umstritten: Die deutsche Frauenrechtlerin und Philosophin jüdischer Herkunft war zum Christentum konvertiert, entschied sich für ein Leben als christliche Ordensschwester und wurde 1942 in Auschwitz-Birkenau ermordet. Die Einordnung ihrer Ermordung in ein Narrativ christlichen Martyriums wurde von jüdischer Seite kritisiert, unter anderem mit dem Verweis auf die jahrhundertelange Tradition des christlichen Antisemitismus sowie auf die Rolle der katholischen Kirche in der Shoah, die Rolf Hochhuth in seinem Drama Der Stellvertreter 1963 – also ausgerechnet im zweiten Jahr des Zweiten Vatikanischen Konzils, in dessen Vorfeld auch das Verhältnis von kirchlichem Antijudaismus und Shoah als Thema des Konzils debattiert wurde – in der Literatur als Thema etablierte.127 123 Papst Johannes Paul II.: Predigt in der Heiligen Messe im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, 7. Juni 1979. In: Homepage des Vatikans. URL: https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/ de/homilies/1979/documents/hf_jp-ii_hom_19790607_polonia-brzezinka.html [2.4.2021]. 124 Kolbe ist auch einer der historischen Vorbilder für die Figuren in Hochhuths oben erwähntem Stellvertreter. 125 Ebd. 126 Vgl. „14. August 1941 – Maximilian Kolbe stirbt im KZ Auschwitz“. Westdeutscher Rundfunk, 14.  August 2016. URL: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-maximilian-kolbe-100.html [2.4.2021] sowie Himmelbauer, Markus: „Edith Stein. Christlich-jüdische Reibungsflächen und Stolpersteine. Vortrag bei der Edith Stein-Tagung 2016 in Wien, 22.10.2016“. URL: http://www. jcrelations.net/Edith_Stein__Christlich-j__dische_Reibungsfl__chen_und_Stolpersteine.5487.0.html?L=2 [15.7.2020] 127 Vgl. ebd.

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1. Voraussetzungen

Im Falle Edith Steins ist die Sachlage vor allem deshalb komplex, da sie als Jüdin und nicht als Katholikin nach Auschwitz deportiert wurde: Der Beginn der Deportationen hatte in den Niederlanden vor allem vonseiten der christlichen Kirchen, die sich primär für zum Christentum konvertierte Jüd*innen einsetzten, große Proteste hervorgerufen. ‚Bestraft‘ wurden die Kirchen mit dem Beschluss, gerade diese Gruppe der katholischen Konvertit*innen zu deportieren (die protestantischen Konvertit*innen waren vorerst ausgenommen, um die christlichen Kirchen zu spalten).128 Wenngleich Edith Stein in Auschwitz also als Jüdin ermordet wurde, verehrt die katholische Kirche sie als christliche Märtyrerin.129 Die Aneignung der Shoah mittels christologischer Narrative, Motive und Symbole hat seit dem Entstehen von Bölls Kurzgeschichte also wiederholt Debatten auf den Plan gerufen, für welche die genannten Kontroversen exemplarisch stehen. Sie betreffen den Zusammenhang zwischen der Deutung historischer Ereignisse und deren ‚narrative emplotment‘ (in literarischen Texten, sowie in erinnerungspolitischen Handlungen), auf den James E. Young prominent aufmerksam gemacht hat. Nun ist Bölls Kurzgeschichte für vorliegenden Kontext ferner aufschlussreich, da Böll mit dem Erzählentwurf von Hegemüllers erwachendem Gewissen bereits 1947 die Mitschuld des passiven Zusehers in den Text einführt. Wird sie am Beginn der Kurzgeschichte im Inneren des Protagonisten ausgetragen, löst die Konfrontation mit Grimschenkos Deportation Hegemüllers Aktivität aus, da sie in der Logik des Textes als Ungerechtigkeit (Deportation eines nichtjüdischen Menschen) gilt. Ob der Text die Logik des Genozids unwillentlich dort reproduziert, wo er sie offenlegen möchte, bleibt anfangs unklar, denn die implizite Schlussfolgerung, Grimschenko sei „unschuldig“ (TH 149), da nicht jüdisch, wird von Böll weder explizit in ihrer kausalen Logik problematisiert noch subvertiert. Ganz im Gegenteil ist Hegemüllers Unrechtsempfinden positiv konnotiert, da Böll dessen Schlussfolgerung über Grimschenkos Unschuld zum Katalysator für eine metaphysische Kraft stilisiert („so als wurde er von einer überwältigenden, inneren Kraft gezwungen, macht der Leutnant kehrt“, TH 147). Sie bewegt den Leutnant dazu, sich gegen das Morden zur Wehr zu setzen – er empfindet es plötzlich als „Freude, […] um das Leben eines Menschen zu laufen“ (TH 147). Hegemüller kann Grimschenko nicht retten; zwar sieht er ihn unter einem

128 Vgl. Happe, Katja: „Die Judenverfolgung in den Niederlanden 1940–45“, Dezember 2010. In: NiederlandeNet, Zentrum für Niederlande-Studien der Universität Münster. URL: https://www. uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/vertiefung/judenverfolgung/deportationen.html [15.4.2019]. 129 Vgl. z.B. die von Markus Himmelbauer zitierten Argumente in: Himmelbauer: „Edith Stein. Christlich-jüdische Reibungsflächen und Stolpersteine“.

1.4 ‚Juden‘ und Repräsentation

63

Schuss zusammensacken und er fühlt noch seinen leisen Atem, jedoch verstirbt Grimschenko in einem Lazarett, in das Hegemüller ihn gebracht hat. Als der Lazarettarzt den Namen des Verstorbenen hört, diktiert dieser der Schwester mit „biedere[r] Stimme“: „Und dann schreiben Sie: Todesursache – – – – na, Hakennase“ (TH 152) und lacht. Der ‚Witz‘ des Arztes wird von Hegemüller unter anderen Vorzeichen wiederholt, denn Hegemüller verliert den Verstand; sein Lachen und seine Wiederholung der Diagnose „Todesursache: Hakennase“ (TH 152) wird nun umgewertet zur Kritik an der nationalsozialistischen Vernichtungslogik.130 Hegemüller wird „mit seinem Rest Leben zum Zeugen und Ankläger […], der Funktion engagierten Schreibens bei Böll nach 1945 genau entsprechend: dem Eintreten für Selbstverantwortung in der Geschichte.“131 Gleichzeitig kann das Ende der Kurzgeschichte als Ausweg aus der Problematik des Textes gelten, da sich Leutnant Hegemüller mit dem Genozid, der eigenen Schuld und der Logik der Vernichtung (kein Jude, also unschuldig) nicht mehr auseinandersetzen muss. Die konturierende Zuschreibung ‚rassischer‘ Zugehörigkeit an physiognomische Eigenschaften führt Böll zwar zu keiner poetologischen Reflexion über Repräsentationskonventionen von jüdischen Figuren; allerdings verweist sie auf die ‚jüdische Nase‘ als Symbol der Konstruktion von ‚Andersheit‘132 voraus, indem sie als handlungsmotivierender Kulminationspunkt am Ende der Kurzgeschichte steht (wäre die Hakennase nicht, wäre Grimschenko nicht abgeholt worden, wäre Hegemüller nicht zur Exekutionsstelle geeilt). Böll verfasst Todesursache: Hakennase in einer Phase der „wildwüchsigen Koexistenz“133 unterschiedlichster Ästhetiken in der unmittelbaren Nachkriegszeit; ungefähr zeitgleich entstanden Aichingers Die größere Hoffnung oder Celans Der Sand aus den Urnen (1948). Celans Sprach- und Wirklichkeitssuche, die mit dem drohenden Sprachverlust verbunden wird, und Aichingers Erzählskeptizis130 Die Psychiatrie als Abweichungsheterotopie (vgl. Foucault, Michel: „Andere Räume“. In: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Reclam: Leipzig 1992, S. 34–46, hier: S. 40) kennt die Literatur über die Shoah aus Georg Taboris Ballade vom Wiener Schnitzel ebenso wie aus Yoram Kaniuks Adam Hundesohn (in weiterem Sinne auch aus Grass’ Blechtrommel und Dürrenmatts Physikern), die in der Rezeption oftmals als ‚grotesk‘ oder ‚Groteske‘ beschrieben wurden (vgl. etwa Hans Blumenberg über Grass’ Roman in seiner Rezension zu Schlöndorffs Verfilmung: Blumenberg, Hans C.: „Das war der wilde Osten“. In: Die Zeit, 4. Mai 1979. URL: http://www. zeit.de/1979/19/das-war-der-wilde-osten [2.4.2021]). 131 Wehdeking/Blamberger: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit, S. 107. 132 Vgl. Goldblatt, Roy: „As Plain as the Nose on Your Face. The Nose as the Organ of Othering“. In: Amerikastudien/American Studies 48, 4 (2003), S. 563–576. – Gilman, Sander L.: The Jew’s Body. London: Routledge 1991. 133 Braese: „Versetzte Gleichzeitigkeit. Darstellungen bis 1949“, S. 39. Braese sieht sie bereits wenige Jahre später als beendet.

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1. Voraussetzungen

mus (sie war 1952 noch mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet worden, stand jedoch bald abseits der Gruppe) steht hier neben den problematischen Bemühungen des nicht-jüdischen Autors Böll, historische Ereignisse sprachlich zu re-präsentieren. Zwar berücksichtigt seine Kurzgeschichte die Position der Ermordeten, allerdings treten sie als homogene Masse und als statisches Patiens in Erscheinung und stehen als solche dem deutschen Wehrmachtsleutnant als Perspektivenfigur und als Agens gegenüber; ihre Perspektive wird außerdem mit christologischer Bedeutung aufgeladen. Allerdings bleibt Bölls frühes Anliegen, die jüdischen Opfer einer Hinrichtung zu beschreiben, diskursgeschichtlich bemerkenswert; Todesursache: Hakennase zeigt, wie der Autor um eine mögliche Darstellung nicht nur der Exekutionen, sondern auch der betroffenen Menschen ringt. Die Kurzgeschichte ist damit ein wichtiges literaturgeschichtliches Dokument auf dem Weg zu einer Emanzipation der Wahrnehmung und Perspektive der Opfer. Nicht zufällig bezeichnet dabei just das Dispositiv der ‚jüdischen Nase‘ als Symbol der Konstruktion von ‚Andersheit‘ den Angelpunkt des Textes, erinnert es doch an verschiedene Zuschreibungen ‚jüdischer Identität‘ durch antisemitische Propaganda (bis hin zum notorischen Ausspruch ‚Wer Jude ist, bestimme ich‘). Das Ende von Bölls Kurzgeschichte öffnet damit den Blick für die Bedeutung von Körperbildern und Körperlichkeit, die gerade für die Konstitution von Ästhetiken des Grotesken eine wichtige Rolle spielen wird und denen das folgende Kapitel gilt.

1.5 Repräsentation und Körper Das Dispositiv der ‚jüdischen Nase‘ (sie ist als (angebliche) ‚jüdische‘ physiognomische Eigenschaft am Ende von Todesursache: Hakennase Mitauslöser von Hegemüllers geistiger Umnachtung) hat Sander L. Gilman untersucht: Sie ist, so Gilman, vor allem ab 1890 entscheidendes ‚jüdisches Merkmal’134 und reiht sich in einen Katalog von Attributen ein, die Teil des Bildes vom ‚hässlichen Juden’ sind. Wie nachhaltig antisemitische Bilder sein können, hat Gilman anhand des Paradigmas des ‚hässlichen Juden’, wie es aus jüdischer sowie aus nicht-jüdischer Sicht diskursiv (re)produziert wurde, gezeigt; dabei ist auffällig, dass Teile der antisemitischen Rhetorik auch in Selbstbilder des ‚jüdischen‘ Körpers inkorporiert wurden.135 134 Vgl. z.B. Gilman, Sander L.: „‚Die Rasse ist nicht schön.‘ – ‚Nein, wir Juden sind keine hübsche Rasse!‘ Der schöne und der häßliche Jude“. In: ders./Jütte, Robert/Kohlbauer-Fritz, Gabriele (Hg.): „Der schejne Jid“. Das Bild des „jüdischen Körpers“ in Mythos und Ritual. Wien: Picus 1998, S. 57–74, bes. S. 65 f. 135 Vgl. ebd., S. 62.

1.5 Repräsentation und Körper

65

Ferner verbindet sich dieses einflussreiche Paradigma des Hässlichen mit der erneuten Formulierung des traditionsreichen Gemeinplatzes, dass physische Attraktivität mit tugendhaftem Verhalten einhergehe: Es gilt die Auffassung, moralische Tugend offenbare sich, „weil sie sichtbar in den Körper als ‚Schönheit‘ eingeschrieben ist.“136 Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen ‚dem Gesunden‘, ‚dem Schönen‘ und ‚dem Tugendhaften‘ formuliert sich am Ende des 19. Jahrhunderts am deutlichsten137 und muss in weiterer Folge auch in Zusammenhang mit sozialdarwinistischen Gesellschaftstheorien und Befürwortern der Eugenik gesehen werden. Der jüdische Körper wird also oft zum ‚Anderen‘ und zum Objekt von antisemitischen, allerdings auch von exotisierenden Blicken: Die Kunsthistorikerin Rhoda Rosen verbindet die Tatsache, dass Juden spätestens seit der Aufklärung „zum Objekt des modernen Blicks“138 wurden, beispielsweise mit der Praktik jener ethnographischen Fotografie, die jüdische Motive exotisiert. Nicht nur Gilman hat gezeigt, wie antisemitische Rhetorik in jüdische Selbstbilder inkorporiert werden, sondern auch Rhosen hat für die bildende Kunst eine komplexe Interdependenz von Fremd- und Selbstbild benannt: Sie legt offen, wie sich auch jüdische Künstler*innen die visuellen Codes der Betrachtung (Darstellung im Profil, distanzierter Blick der Dargestellten etc.) aneignen und wie ­diese dadurch Eingang in den Prozess der eigenen Identitätsstiftung gefunden haben.139 Ein ähnliches Interdependenzverhältnis zwischen Bildern von ‚Juden‘ aus innerund aus außerjüdischer Perspektive lässt sich an der Internationalen Hygiene-­ Ausstellung in Dresden (1911) ablesen, die eine eigene Abteilung ‚jüdischen ­Hygienepraktiken‘ widmete: Diese Praktiken beschreibt die Ausstellung aus ­zweifacher Perspektive – nämlich ‚von außen‘ sowie ‚von innen‘. Jüdische Stimmen verbanden mit der Ausstellung die Hoffnung, „an der rituellen Hygiene die sozial­ darwinistische Lehre vom Überleben der biologisch Tüchtigsten und der den 136 Ebd., S. 59. 137 Wolfgang Benz geht in seiner Untersuchung von „Bildern vom Juden“ weiter zurück in die Geschichte und nennt etwa ‚die Judensau‘, die seit dem 13. Jahrhundert in Deutschland Bestandteil kirchlichen Figurenschmucks und auch in schriftlichen Textzeugnissen weit verbreitet war. (Vgl. Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. München: Beck 2001, S. 7 ff.) Zu Judenbildern der ‚Zwischenkriegszeit‘ vgl. Schäfer, Julia: Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in den populären Zeitschriften 1913–1933. Frankfurt und New York: Campus 2005. 138 Rosen, Rhoda: „Die Inszenierung des jüdischen Körpers: Zwischen Identifikation und Projektion“. In: Gilman/Jütte/Kohlbauer-Fritz (Hg.): „Der schejne Jid“, S. 11–23, hier: S. 11. Dazu zählt Rosen neben der Darstellung im Profil und den distanzierten, den Blickkontakt mit dem Betrachter meidenden Augen auch die Distanzierung vom Betrachter durch bestickte Kleidung und erlesenen Schmuck (vgl. ebd., S. 13). 139 Vgl. ebd., S. 11.

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1. Voraussetzungen

sozialen Bedingungen am besten Angepassten überzeugend darstellen zu können“.140 So glaubte beispielsweise der zionistische Mediziner Felix Teilhaber an eine höhere Immunität der jüdischen Bevölkerung gegenüber ansteckenden Krankheiten; deren Überleben sei jedoch zumindest in Berlin gefährdet, weil wachsender Wohlstand zu Taufen, Ehen mit Nichtjuden und Geburtenrückgang geführt habe. Daraus leitete Teilhaber eine restriktive Sozialpolitik ab: Frauenwahlrecht sollte von Mutterschaft abhängig gemacht, die Juden zu Sexualverhalten im Sinne der ‚Rassenhygiene‘ angehalten werden.141 Damit werden jüdische Körper auch in einer zionistischen Variation des Sozialdarwinismus zum Aushandlungsort politischer und sozialer Utopien, die als „postemanzipatorische Antwort auf eine nicht gelungene Assimilation“ gelesen werden können und damit als „Zeichen für eine Krise der jüdischen Identität“.142 Sogenannte ‚wissenschaftliche‘ Erkenntnisse über jüdische Hygienepraktiken und deren gesellschaftliche Folgen wurden nicht nur von zionistischer Seite politisch instrumentalisiert, sondern auch von nicht-jüdischer. Hier galt die Mutmaßung, aus den jüdischen Hygienepraktiken ließen sich Schlüsse für eine erfolgreiche Gesundheits- und Bevölkerungspolitik und damit für eine erfolgreiche ‚Rassenhygiene‘ ziehen. Bemerkenswert ist daran die Verknüpfung des individuellen ‚jüdischen‘ Körpers und eines ‚Gemeinschaftskörpers‘ und zwar von orthodoxer, liberaler sowie antisemitischer Seite: Man hat die Einhaltung der Hygienevorschriften mit dem Grad der Assimilation enggeführt; assimilierten Juden stand also jüdisches Leben in ‚Reinkultur‘ gegenüber, das sich durch stärkeres Einhalten von Vorschriften auszeichnete. Diverse Anhänger des Zionismus sahen den ‚jüdischen Gemeinschaftskörper‘ nicht nur als Gemeinschaft von Gleichen; vielmehr sollte auch der individuelle Körper in diesem Gemeinschaftskörper aufgehen: Etwa kultiviere Sport das Ziel, „einen leistungsfähigen Körper zu erlangen, der sich an den Idealen des Gemeinschaftskörpers ausrichtet und deshalb als metonymisches Zeichen für den Volkskörper gelesen werden kann“.143 Mit diesem ideologischen Körperbild hängt auch die Vorstellung ‚des Muskeljuden‘ zusammen, die Max Nordau (bereits auf dem zweiten Zionistenkongress 1898) formuliert hat und die mit Nordaus nationaljüdischer Vision zusammenhängt.144 Der Einzelne sollte in physischer, sozialer 140 Nikolow, Sybilla: „Der soziale und der biologische Körper der Juden“. In: Gilman/Jütte/Kohlbauer-Fritz (Hg.): „Der schejne Jid“, S. 45–56, hier: S. 46. 141 Vgl. ebd. 142 Ebd., S. 45. 143 Ebd., S. 54. 144 Vgl. ebd. Auch Gilman hat gezeigt, wie sich die Beziehung zwischen „dem hässlichen und dem kranken Körper […] in der zionistischen Erneuerung des jüdischen Körpers und in der Sportkultur des frühen 20. Jahrhunderts“ spiegelt und mit Nordaus ‚Muskeljuden‘ zusammenhängt:

1.5 Repräsentation und Körper

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und sittlicher Hinsicht so erzogen werden, dass er einen „aktiven Platz in der nationalen Gemeinschaft“145 der Juden einnehmen konnte. Sowohl in jüdischen als auch nicht-jüdischen Diskursen ist der ‚jüdische‘ Körper also umkämpftes Terrain. Er ist ideologisch und politisch stark aufgeladen und an ihm werden zeitgenössische Ideologien ausgehandelt. Dabei nimmt die diskursive Praktik, den individuellen Körper einem Gemeinschaftskörper unterzuordnen, Züge antisemitischer Propaganda vorweg, die in Bildern von ‚Juden‘ die bereits genannten körperlichen Merkmale des Hässlichen mit charakterlichen Eigenschaften des ‚Schlechten‘ (verschlagen, geizig, geldgierig usw.) verknüpfte und die einen traditionsreichen Topos des Zusammenhangs von physischer Attraktivität und Tugendhaftigkeit aktualisieren. Die behauptete Existenz eines ‚jüdischen Kollektivs‘, das Bildern vom ‚jüdischen Gemeinschaftskörper‘ ähnelt, erfährt in der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis eine neue Aktualisierung. Jean Améry beschreibt dieses ‚jüdische Kollektiv‘ nach seiner Folter und KZ-Inhaftierung in dem Essay Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein als einflussreich, wenngleich höchst problematisch, für sein Selbstverständnis: Er werde kontinuierlich als Teil eines derartigen Kollektivs gesehen, wenngleich sein ‚Jude‘-Sein erst infolge der NS-Ideologie seine Identität bestimme. Améry spricht von Antisemitismus, der ihn „als einen Juden erzeugt“146 habe und führt damit die performative Kraft (Butler) antisemitischer ‚Juden‘-Bilder ins Feld. Durch ständige Wiederholung von Sprechakten werden ideologisierte Körperbilder und Identitäten konstruiert und rufen identitätsstiftende Kategorien wie ‚jüdisch‘ hervor. Charakterliche und physiognomische Bilder von ‚Juden‘ bestimmten diese Kategorie: Wir waren faul, böse, hässlich, fähig nur zur Untat, klug nur, soweit wir die anderen übers Ohr hauten. Wir waren unfähig zur Staatenbildung, aber auch keineswegs zur Angleichung an die Wirtsvölker. Unsere Körper, wohlbehaart, fett und krummbeinig, besudelten durch ihre bloße Anwesenheit öffentliche Badeanstalten, ja sogar Parkbänke. Unsere scheußlichen Gesichter, verderbt und verdorben durch abstehende Ohren und Hängenasen, waren den Mitmenschen, Mitbürgern von gestern ein Ekel.147

Dass Bilder ‚vom jüdischen Charakter‘ oder ‚von jüdischen Eigenschaften‘ oft auch mit Körperbildern korrelieren, mag nicht nur traditionsreichen GemeinNordau habe, so Gilman, die Ansicht vertreten, „daß die Erneuerung des jüdischen Körpers auch den Geist und schließlich den Diskurs über die Juden erneuern würde“ (Gilman: „Die Rasse ist nicht schön“, S. 69). 145 Nikolow: „Der soziale und der biologische Körper der Juden“, S. 54. 146 Améry, Jean: „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“ [1966]. In: Jean Améry. Werke. Band 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 149–177, hier: S. 174. 147 Ebd., S. 155.

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1. Voraussetzungen

plätzen, sondern auch ihrer leichten Darstellbarkeit (z.B. in Karikaturen) und ihrem hohen Wiedererkennungswert geschuldet sein. Nun können Kunst und Literatur, schematisch gesprochen, derartige Bilder festigen oder subvertieren: Das Repertoire reicht hier, diachron betrachtet, von expliziten Propagandafilmen wie Jud Süß (1940) über die stereotype Darstellung von armen ‚Schtetljuden‘ in Radu Mihăileanus Film Zug des Lebens (1998), die – vermutlich unwillentlich, da auch Israelis Teil des Produktionsteams waren – stellenweise antisemitische Stereotype aufruft, bis hin zu Hilsenraths Roman Der Nazi & der Friseur (1977).148 Letztgenannter verdient als frühes Beispiel für eine kontroverse Subversion von Bildern von ‚Juden‘ und ‚Ariern‘ einen eingehenderen Blick; die Figurenzeichnung weicht von zeitgenössischen literarischen Konventionen ab, indem Hilsenrath das Interdependenzverhältnis zwischen der performativen Kraft antisemitischer Bilder von ‚Juden‘ und Selbstbildern von Juden aufgreift. Der mittlerweile kanonisierte Roman über einen SS-Verbrecher, der nach Kriegsende eine jüdische Identität annimmt und so seinen Lebensabend von der Justiz unbehelligt in Palästina beziehungsweise Israel bis zu seinem Tod in den späten 1960er Jahren fristen kann, nimmt seinen Ausgangspunkt in der Subversion von Bildern von ‚Juden‘ und ‚Ariern‘: Max Schulz – „unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz“ (NF 7) – und Itzig Finkelstein haben wenig gemeinsam außer dem Tag ihrer Geburt. Sie wachsen in der gleichen Straße der fiktiven Stadt Wieshalle auf, die mit ihren Straßennamen wie Goethestraße und Schillerstraße149 exemplarisch für jede durchschnittliche deutsche Stadt steht. Die beiden Kinder – Itzig „blond und blauäugig“, mit „gerade[r] Nase, feingeschwungene[n] Lippen und gute[n] Zähne[n]“, Max mit schwarzen Haaren, „Froschaugen, eine[r] Hakennase, wulstige[n] Lippen und schlechte[n] Zähne[n]“ (NF 32) – verbindet eine Freundschaft, in der Max Itzig in allem „nachahmte, was Itzig Finkelstein tat oder machte“ (NF 36); folglich lernt Max Jiddisch, kann hebräische Schriftzeichen lesen und betet in der Synagoge. Die bewusste Verkehrung konventioneller Körperbilder von ‚Juden‘ und ‚Ariern‘ ist nicht nur Ausgangspunkt für die Romanhandlung, sondern Hilsenrath 148 Hilsenrath, Edgar: Der Nazi & der Friseur [1977]. München: dtv 42007. Im Folgenden Zitation im Fließtext: NF. 149 Die Straßennamen sind als Relikt des klassischen Ideals von Humanität und Toleranz noch präsent, symbolisieren aber kein „einvernehmliches deutsch-jüdisches Miteinander im Zeichen der zeitlosen Forderung deutscher Dichter und Denker“, so Stephan Braese. Vielmehr taugen ihre Namen nur mehr „als Vorwand in der antisemitischen Argumentation, als propagandistischer Hebel zur geplanten Arisierung“ – antijüdische Propaganda beruft sich nämlich darauf, dass ein jüdisches Geschäft absichtlich an der Ecke der beiden deutschen Dichter eröffnet wurde, was dessen Arisierung rechtfertige (Braese, Stephan: Das teure Experiment. Satire und NS-Faschismus. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 259).

1.5 Repräsentation und Körper

69

rekurriert hier auch auf die Furcht von Nationalsozialist*innen, ‚jüdisch auszusehen‘, die Gilman in seinen Untersuchungen zu jüdischen Körperbildern beschreibt. Gilman zitiert den Psychoanalytiker Wilhelm Stekel, der von einem 25-jährigen Mann berichtet, dem Größe und Hässlichkeit seiner Nase Sorge bereitet hätten: Er „äußerte den Verdacht, er könne jüdischer Abstammung sein, ein für ihn äußerst unangenehmer Gedanke, da er selbst ein Nazi war“,150 und vermutete einen jüdischen Vorfahren in seiner Genealogie. Im Handlungsgefüge des Romans bereiten die Körperbilder, die stereotype Repräsentationen verkehren, den Boden für Max Schulz’ Identitätswechsel. Zuvor schildert Hilsenrath noch dessen Beitritt zur NSDAP, seine antisemitischen Angriffe auf Finkelsteins Friseursalon und seinen Beitritt zur SS (die Motivation dazu liegt primär in der Attraktivität der schwarzen Uniformen). Eine Analepse verdeutlicht außerdem, dass Max Schulz im Zuge von Massenerschießungen ‚im Osten‘ seinen Jugendfreund Itzig und dessen Eltern ermordet hat. Der Justiz, die ihn nach 1945 als Kriegsverbrecher sucht, entkommt er einerseits dank eines Sackes voller Goldzähne, die er während seiner Arbeit im KZ Laubwalde erbeutet hat und die ihm den Aufbau einer neuen Existenz ermöglichen, und andererseits aufgrund seines Aussehens, das antisemitischen jüdischen Körperbildern entspricht. Seine Kenntnisse jüdischer Kultur kommen ihm ebenfalls dabei zugute, sich in Israel als Shoah-Überlebender legitimieren zu können. Über die genannten physiognomischen Merkmale, die den Identitätswechsel plausibilisieren, sollen weitere in den Körper eingeschriebene Zeichen Max Schulz’ jüdische Identität als Itzig Finkelstein verbürgen: Er ersetzt seine SS-Tätowierung durch eine KZ-Nummer und die Beschneidung holt ein antisemitischer Arzt nach. Dieser erfolgreiche Identitätswechsel, für den Max Schulz im Roman keinerlei Sanktionen ereilen, und seine Verknüpfung mit Körperbildern von ‚Juden‘ und ‚Ariern‘ bedingt, dass in Rezeption und Literaturwissenschaft Der Nazi & der Friseur vielfach als ‚grotesk‘ bezeichnet wurde.151 Seine Körpersemiotik verbindet Hilsenrath über weite Strecken auch mit jener Verflechtung von Fremd- und Selbstbildern, die Gilman und Rosen als symptomatisch für Bilder von ‚Juden‘ um 1900 bezeichnet haben: etwa in einer Szene, in der Max Schulz alias Itzig Finkelstein im Jahr 1947, also vor seiner Auswan150 Stekel, Wilhelm: Compulsion and Doubt. New York, 1949, S. 587 f. zit. nach Gilman: „Die Rasse ist nicht schön“, S. 64. 151 Zum Identitätswechsel vgl. z.B. McGlothlin, Erin: „Narrative Transgression in Edgar Hilsenrath’s Der Nazi und der Friseur and the Rhethoric of the Sacred in Holocaust Discourse“. In: The German Quarterly 80, 2 (2007), S. 220–239. – Zur ‚Karnevalisierung‘ (Bachtin) antisemitischer ­Stereotype vgl. etwa Lawson, Robert: „Carnivalism in Postwar Austrian- and German-Jewish Literature – Edgar Hilsenrath, Irene Dische, and Doron Rabinovici“. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 43, 1 (2007), S. 37–48. – Zur kontroversen Rezeption des Romans in Deutschland vgl. Vahsen: Lesarten, bes. S. 50–59.

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1. Voraussetzungen

derung nach Palästina, in einem Berliner Hotel den Juden Max Rosenfels trifft. Dass er und Rosenfels einander „instinktmäßig“ (NF 226) sofort erkennen, erklärt Max/Itzig mit der diffusen ontologischen Kategorie des „Seelengeruch[s]“ (NF 227), den die beiden ‚Juden‘ gemeinsam hätten und in dem auch die nationalsozialistische Vorstellung eines homogenen Judentums mitschwingt. Daran entspinnt sich folgendes Gespräch: Max Rosenfeld sagte: „Ich meine das so: Wir haben uns nicht erkannt! Vielmehr – ich habe bloß Sie erkannt. Und da blieb Ihnen nichts anderes übrig, als mich auch zu erkennen.“ Ich sagte: „Ach so.“ Und Max Rosenfeld sagte: „Ja.“ Und ich sagte: „Und wie haben Sie mich erkannt? An meinem Seelengeruch?“ Max Rosenfeld schüttelte den Kopf. „Nicht am Seelengeruch, Herr Finkelstein. Bloß an Ihrer Fresse!“ […] Konnte nicht schlafen. Stand kurz vor Mitternacht auf. Stellte mich vor den Wandspiegel hin, sagte zu mir: „Itzig Finkelstein. So sieht kein Jude aus. Das ist bloß ein Zerrbild. Aber sie glauben daran. Sogar Max Rosenfeld. Man hat ihnen das eingeredet. Was ist das nur?“ (NF 227)

Max’/Itzigs Vorstellung einer ontologischen Kategorie von ‚Jude‘-Sein steht Max Rosenfelds körperzentriertes Verständnis gegenüber, in dem Hilsenrath avant la lettre die diskursive Produktion von Identität, Körper, Subjekt usw. durch die kontinuierliche Reproduktion von Bildern und Normen vorführt, die Butlers Performativitätsbegriff zugrunde liegen.152 Der Nazi & der Friseur ist damit ein frühes literarisches Dokument für eine Auseinandersetzung mit ‚Jude‘-Sein, die bereits in den 1960er Jahren berücksichtigt, wie der Körper zum Aushandlungsort von Identitätszuschreibungen wird. Dabei bestätigt Hilsenrath in seinem Roman diachrone Bilder von ‚Juden‘ nicht, sondern unterwandert sie – etwa durch die Parallelisierung der beiden Jugendbiografien von Max und Itzig; durch den wiederholten Rückgriff auf das reiche Inventar an Sub-Texten aus der deutschen Kulturgeschichte;153 durch unterschiedlichste jüdische Figuren, die sich nicht unter ein homogenes ‚Opfer-Kollektiv‘ subsumieren lassen. Ein zweiter kanonischer Text, der sich mit Fragen performativer ‚Juden‘-Bil152 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt: Suhrkamp 1991, bes. S. 198–208. – Butler, Judith: Körper von Gewicht. Frankfurt: Suhrkamp 1997. 153 Vgl. dazu ausführlicher Öttl, Johanna: „‚Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute‘. Karnevaleske Repräsentationsformen des Holocaust bei Edgar Hilsenrath und George Tabori“. In: Germanistische Mitteilungen 37, 2 (2011), S. 23–43.

1.5 Repräsentation und Körper

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der auseinandersetzt, ist Max Frischs Parabel Andorra (UA 1961); an ästhetischen Veränderungen zwischen Frischs Parabel und Hilsenraths Der Nazi & der Friseur liest Nike Thurn in ihrer Untersuchung performativer Identität von ‚Juden‘ einen „Sprung“ ab, „den die Literatur über den Holocaust in diesen wenigen Jahren vollzogen hat.“ Er gehe einher „mit einem ausdrücklichen Rückgriff “ auf die „Wiederaufnahme des Körpers als Marker ‚des Juden‘“.154 Damit kann Hilsenraths Roman als Vorbote jener Auseinandersetzung mit ‚Jude‘-Sein und jüdischer Identität im weitesten Sinne gelten, die zum wichtigen Thema in der deutsch-jüdischen beziehungsweise österreichisch-jüdischen Literatur der Jahrtausendwende avancierte (Rabinovici, Menasse, Schindel, aber auch Maxim Biller). Gerade die erneute Thematisierung des Körpers ist zentral etwa in Robert Menasses Roman Die Vertreibung aus der Hölle (2001),155 der über dreißig Jahre nach Hilsenrath diachrone Bilder von ‚Juden‘, deren diskursive Produktion sowie die Kontinuität antijüdischer Ideologien thematisiert: Menasse verbindet darin die anekdotenreiche Biografie des österreichischen Historikers Viktor Abravanel im Wien des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit der Diaspora des 17. Jahrhunderts anhand des Lebenswegs des portugiesisch-niederländischen Manoel; von der portugiesischen Inquisition vertrieben, lebt Manoel später als Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel in Amsterdam. Im Erzählstrang des 20. Jahrhunderts spielt die Shoah zwar für Viktors Berufswahl eine tragende Rolle – die Familie väterlicherseits ist jüdisch –, sie ist im Roman jedoch eher dessen subkutanes Narrativ und wird in Analogie zum Schweigen von Viktors Familie über seine jüdische Herkunft beziehungsweise das Schicksal ermordeter Familienmitglieder kaum explizit thematisiert.156 Für Viktors Auseinandersetzung mit ‚Jude‘-Sein ist sein Onkel Erich insofern eine einflussreiche Figur, als Menasse an ihm Verkörperungen von antisemitischen Stereotypen und deren performative Kraft zeigt: Erich arbeitet als Nachtportier in einem Stundenhotel des jüdischen Direktor Grün, den er zum Amüsement seiner Zuseher*innen folgendermaßen karikierend mimt: Lachstürme, wenn Erich dann im Frühstückszimmer Getränke servierte, und dabei die Unterlippe vorstülpte, die Lesebrille am äußersten Nasenspitzenrand, und sabbernd sagte: „Noch einen Wunsch? Nein? Die Geschäfte sind gegangen besser, fri154 Thurn, Nike: „Falsche Juden“. Performative Identität in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser. Göttingen: Wallstein 2015, S. 365. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Judenbildern in Hilsenraths Roman vgl. bes. S. 365–381. 155 Menasse, Robert: Die Vertreibung aus der Hölle. Frankfurt: Suhrkamp 2001. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Vertreibung. 156 Zu Menasses ‚Poetik der Aussparung‘ in Die Vertreibung aus der Hölle vgl. Öttl, Johanna: „Die Vertreibung aus der Hölle, das Groteske und die prinzipielle Wiederholbarkeit von (der) Geschichte“. In: Sprachkunst 44, 2 (2015), S. 123–140.

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1. Voraussetzungen

her!“ In Wirklichkeit sabberte Direktor Grün natürlich nicht. Aber alle wussten, daß der Direktor Grün ein Jud war. Also war Erich als Direktor Grün in den Augen der Gäste echter als der Direktor selbst. Das Jiddeln des Direktors, in Wortwahl, Aussprache und Satzbau, war dezent, im Grunde charmant, erst durch Erichs Übertreibung wurde es authentisch: So, genau so hatte ein Jud zu jiddeln! Für Erichs Publikum war erst die Imitation vorbildlich. […] Susi und das „Frühstückszimmer“ machten Erich reich. Aber statt ruhig, entspannt, distanziert und zynisch diese Situation auszunützen, fiel Erich ihr zum Opfer. Die Nummer „Direktor Grün“ sollte sein Leben zerstören. Die Unterwelt wollte ihn nur noch als Stürmer-Karikatur eines Juden sehen, und er hatte keine Oberwelt, kein Korrektiv. Er lernte, Juden zu verachten, und gleichzeitig Erfolg zu haben, wenn er einen darstellte. Der glühende Erich wurde zum glühenden Antisemiten, ohne zu merken, daß er selbst immer mehr zu dem wurde, was er so sehr verachtete: der jiddelnde Idiot. So kam es, daß der erste Jude, den Viktor sah und dabei bewußt als Juden wahrnahm, sein antisemitischer Onkel Erich war. (Vertreibung 210 ff.)

Menasse führt hier in nuce Konstruktionsmechanismen von Bildern von ‚Juden‘ vor, wenn er die hyperbolischen antisemitischen Gemeinplätze als Voraussetzung für den Eindruck von Authentizität beschreibt. Sie betrifft jene Marker von ‚jüdischer Erkennbarkeit‘, die Thurn als tragend für die performative Identität von Juden in der deutschsprachigen Literatur nennt: ‚jüdische‘ Namen, ‚jüdische‘ Körper und ‚jüdische‘ Sprache.157 Der Direktor trägt den ‚jüdischen‘ Namen Grün; dies ist eine der den zwölf Stämmen Israels zugeordneten Fahnenfarben, die nunmehr für sich stehend und mit Erweiterungen (Grünspan, Grünzweig etc.) häufige jüdische Familiennamen bildet. Der Name gewinnt seine ‚jüdische Authentizität‘, indem der Namensträger mittels stereotyper physiognomischer Parameter (vorgeschobene Unterlippe) und mittels nonverbaler Markierung von abstoßenden Eigenschaften (das Sabbern) beschrieben wird – erst dies kennzeichnet das Bild vom jüdischen Direktor Grün klar als ‚jüdisch‘. Dazu trägt außerdem das hyperbolische Idiom bei, das ‚Jude‘-Sein markiert und als „Jiddeln“ bezeichnet wird; mit ihm wird die ‚Erkennbarkeit‘ des Körpers ebenso erweitert wie mit der (Lese-)Brille, bekannt aus antisemitischen Karikaturen. Erichs „Imitation“ (s. Zitat oben) des Direktors ist eine Imitation weniger von Direktor Grün als von antisemitischen ‚Juden‘-Bildern in einem diachronen Dispositiv. Erichs ausagierte Karikatur ist performativ, da sie Direktor Grün nicht nur auf sein ‚Jude-Sein‘ reduziert, sondern dieses ‚Jude-Sein‘ gewissermaßen erst 157 Vgl. Thurn: „Falsche Juden“, S. 124–136. Für die Markierung ‚jüdischer‘ Sprache sei die Unterscheidung zwischen einem tatsächlichen historischen jüdischen Sprachgebrauch und Sprach­ elementen in literarischen Texten, die als spezifisch jüdisch markiert sind, zentral, so Thurn.

1.5 Repräsentation und Körper

73

als seine wichtigste Eigenschaft konstruiert. „Vorbildlich“ (s. Zitat oben) ist die Karikatur im doppelten Wortsinn, wenn sie auch jenes Bild vorgibt, dem der jüdische Mensch zu entsprechen hat. Das Bild von Direktor Grün wird „echter als der Direktor selbst“ (s. Zitat oben) und Onkel Erich als Simulacrum (Baudrillard) von einem ‚Juden‘ jüdischer als ein Jude; das Simulacrum ersetzt damit die Realität, wird zu einem Imitat der Realität, das die Realität übersteigt.158 Für diachrone ‚Juden‘-Bilder hat Gilman Formen der Kennzeichnung der Unterschiedlichkeit von Jüd*innen (vom Judenhut über den Judenstern, Ghettos im Mittelalter oder den Tätowierungen in Konzentrationslagern) als Reaktion auf die Vergänglichkeit von Unterschiedlichkeiten beschrieben: „Denn während die Juden als unterschiedlich begriffen wurden, so bestand eine Facette dieser Unterschiedlichkeit in ihrer unheimlichen Fähigkeit, genau so wie alle anderen auszusehen (d.h. wie ein idealisiertes Bild jener, die sich als anders als die Juden verstehen wollten).“159 Viktors Suche nach seiner ‚jüdischen Identität‘ wird in Menasses Roman auch dadurch erschwert, dass ‚Jude-Sein‘ eine historisch wandelbare Konstruktion ist, die kontinuierlich neu diskursiv produziert wird. Viktors jüdische Wurzeln sind in seiner Familie kaum Thema, sodass der von Erich ab- und vorgebildete ‚Jude‘ Viktors Wahrnehmung von Juden stark beeinflusst: Erich ist der erste ‚Jude‘, den Viktor bewusst als solchen wahrnimmt (s. Zitat oben). Ähnlich wie Hilsenrath im oben zitierten Dialog zwischen Max/Itzig und Max Rosenfels zeigt Menasse hier, wie Bilder von ‚Juden‘ auch das Selbstbild jüdischer Menschen prägen können. Gerade da Viktor von seinem Vater und seinen Großeltern dazu erzogen wurde, ein „kleiner Gleicher unter Gleichen“ (Vertreibung 90) zu sein, wirkt das von Erich verkörperte Bild umso stärker auf ihn.160 Erichs antisemitische, hyperbolische Verkörperung von Direktor Grün entfaltet ihre Wirkungsmacht nicht nur in Viktors Wahrnehmungswelt; vielmehr werden in Die Vertreibung aus der Hölle wiederholt „Situationen, Figuren und Gespräche, die jüdische Eigenheiten oder Stereotypien aufrufen, geschildert oder

158 Baudrillard, Jean: Simulation and Simulacra [Simulacres et Simulation, 1981]. Ann Arbor: The University of Michigan Press 1994. Vgl. auch Kapitel 4.1, 4.8. 159 Gilman, Sander L.: „Der ‚jüdische Körper‘“. In: Schoeps, Julius H./Schlör, Joachim (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München: Piper 1995, S. 167–179, hier: S. 177. 160 Zu Menasses Auseinandersetzung mit Konstruktionen von ‚Jüdischem‘ vgl. Liska, Vivian: „Judenstimmen, Menschenton. Die Frage nach dem Jüdischen in Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle“. In: Schörkhuber, Eva (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Wien: Sonderzahl 2007, S. 134–147. – Visser, Anthonya: „‚Wieso hast du das so erzählt?‘ Trügerische Identitäten in Die Vertreibung aus der Hölle“. In: Ebd., S. 110–133. – Stumpp, Gabriele: „Zu einigen Aspekten jüdischer Tradition in Robert Menasses Vertreibung aus der Hölle“. In: Bartsch, Kurt/Holler, Verena (Hg.): Dossier 22. Robert Menasse. Droschl: Graz 2004, S. 59–78, hier: S. 69.

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1. Voraussetzungen

benannt“, so Vivian Liska. Diese werden jedoch „sogleich wieder zurückgenommen, kontrapunktisch widerlegt oder parodistisch untergraben.“161 Damit wird die oben zitierte Passage zu einem eindrücklichen Beispiel für Menasses Verfahren, in Die Vertreibung aus der Hölle Bilder von ‚Juden‘ zu dekonstruieren und die performative Kraft (antisemitischer) Bilder von ‚Juden‘ auch für eine jüdische Perspektive zu zeigen. Deutlich wurde außerdem, dass in diesem Bedeutungsgeflecht Körper und Sprache in Erichs „Nummer ‚Direktor Grün‘“ (s. Zitat oben) eine große Rolle zukommen und Viktors Vorstellung von ‚Juden‘ nachhaltig prägen. Erweiternd kann festgestellt werden, dass Menasses Roman den Übergang von einer Auseinandersetzung mit dem Körper als Marker von ‚Jude‘-Sein (Hilsenrath) und der Mediatisierung162 dieses Körpers (Erichs Darstellung) indiziert: Das Simulacrum tritt an die Stelle des Abgebildeten, um ‚Authentizität‘ zu verbürgen; das Bild des ‚Juden‘ wird also authentischer als der Jude selbst. Damit die Imitation der Realität die Realität übersteigen kann, sind jedoch wieder Differenzkategorien vonnöten – wenn der jüdische Körper so mediatisiert wird, dass er als ‚jüdisch‘ erkannt wird, sind klare Marker für ‚Jude‘-Sein wieder unerlässlich. Wie Thurn gezeigt hat, können sie sich am Idiom, an kulturellen Gepflogenheiten (Namensgebung) oder am Körper manifestieren: Auch Schindel misst sprachlichen und körperlichen Markern dabei eine große Rolle zu; der letztgenannte Aspekt zeigt sich in folgender Szene seines Romans Gebürtig (1992):163 Der jüdische Protagonist Danny ist Statist in einem Film über Konzentrationslager. Während des Filmdrehs wird er wiederholt „rausgefischt und ins schärfste Profil gesetzt“, da man in seine „den Stürmerkarikaturen nachempfundene Nase verliebt [sei], so daß gleichsam wie ein Gongschlag vor Judenelendsszenen [s]eine Nase die gewünschte Stimmung ankündigen sollte“ (G 350). Ähnlich wie Menasse invertiert Schindel hier das Verhältnis zwischen Bild und Ab-Bild und zeigt, wie im Zuge von Mediatisierungsprozessen der Körper eine neue Bedeutung erhält. Diese Wiederkehr des Körpers ruft bei beiden Autoren die Kategorie der ‚Authentizität‘ auf den Plan, die mitunter anhand physiognomischer und sprachlicher Merkmale (die Nase in Gebürtig, das Jiddeln in Die Vertreibung aus der Hölle) ausgehandelt wird. Nachdem die ‚Authentizität‘ autobiografischer Shoah-Erfahrung lange Zeit Sprecher*innenposition und Ästhetik legitimiert hat, kehrt im Zuge der Mediatisierung des Körpers die Bedeutung von ‚Authentizität‘ unter anderen Vorzeichen zurück: Wenn der authentische Körper des Überlebenden nicht mehr da ist, sondern durch sein Simulacrum ersetzt wird, wie kann 161 Liska: „Judenstimmen, Menschenton“, S. 141. 162 Zum Begriff ‚Mediatisierung‘ vgl. Kapitel 1.6. und 4. 163 Schindel, Robert: Gebürtig. Frankfurt: Suhrkamp 1992. Im Folgenden Zitation im Fließtext: G.

1.6 Drama und Medialität

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er als ‚jüdisch‘ markiert werden? Besonders die Konstruktionsmacht von Körperbildern wird zu einem häufigen Thema in der Literatur der ‚Postmemory‘-­ Generation. In den rund 60 Jahren zwischen Bölls Todesursache: Hakennase und den Arbeiten von Schindel und Menasse liegen auch der ‚cultural turn‘, die ‚performative Wende‘ in Sprach-, Theater- und Kulturwissenschaften sowie der Aufschwung der Oral History als Methode der Geschichtswissenschaft und damit die Aufwertung der Erzählungen von Zeitzeug*innen. Obwohl die letztgenannten Veränderungen in die Literarisierung von ‚jüdischen‘ Körpern hineinspielen, ist die ­Rolle des Körpers in der Shoah-Literatur in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher nicht gebührend thematisiert worden. Von Körperdiskursen um die Jahrhundertwende (Hygiene, Sozialdarwinismus etc.) über die performative Kraft von antijüdischen und antisemitischen Bildern von ‚Juden‘ bis zu deren Dekonstruktion in der Literatur ab den 1960er Jahren sowie der ‚Wiederkehr des Körpers‘ infolge von dessen Mediatisierung hat sich die Rolle des Körpers stetig gewandelt. Die Auseinandersetzung mit Taboris und Schindels Theaterarbeit wird zeigen, inwiefern Körper und Körperlichkeit zen­ trale Bezugsfelder in jenen Texten sind, für die sich Ästhetiken des Grotesken beschreiben lassen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass der Körper in dramatischen Texten mit einem spezifischen Modus der Zeichenverwendung ­verbunden ist, der im Folgenden im Fokus steht.

1.6 Drama und Medialität In Jorge Semprúns autofiktionalem Roman Die große Reise (franz. 1963/dt. 1964) beschreibt der Ich-Erzähler, wie er kurz nach der Befreiung von Buchenwald einige Mädchen durch das Lager führt, in dem er bis vor kurzem inhaftiert gewesen ist: Ich führe die Mädchen durch die kleine Tür des Krematoriums, die direkt in den Keller geht. Sie haben begriffen, daß es nicht die Küche ist, und verstummen plötzlich. Ich zeige ihnen die Haken, an denen die Kameraden aufgehängt wurden, denn der Keller des Krematoriums diente gleichzeitig als Folterkammer. Ich zeige ihnen die Ochsenziemer und die Keulen, die noch an der Wand hängen. […] Wir steigen in den ersten Stock, und ich zeige ihnen die Öfen. Sie sagen kein Wort mehr, die Süßen. Sie folgen mir, und ich zeige ihnen die Reihe elektrischer Öfen und die halbverkohlten Leichen, die noch in den Öfen stecken. Auch ich spreche kaum, ich sage nur „hier“, „dort“. Sie sollen selber sehen, sollen sich eine Vorstellung davon machen. Sie sagen kein Wort mehr, vielleicht können sie es sich vorstellen.164 164 Semprún, Jorge: Die große Reise [Le grand voyage, 1963]. Frankfurt: Suhrkamp 1981, S. 74 f.

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1. Voraussetzungen

Semprún entfaltet in dieser Textstelle ein komplexes Bedeutungsfeld zwischen Zeigevorgängen, welche den kommunikativen Status der Objekte und der anwesenden Figuren (die Mädchen) gleichermaßen verändern: Der Erzähler nennt konkrete Objekte, die für die Folter und Ermordung der KZ-Insassen verwendet wurden, und zeigt sie, ohne dabei jedoch deren konkrete Verwendungsweise zu beschreiben. Während der Ich-Erzähler anfangs die Funktion des Raumes („der Keller diente gleichzeitig als Folterkammer“) sowie eines Objektes („die Haken, an denen die Kameraden aufgehängt wurden“) noch nennt, entscheidet er sich anschließend für sprachliche Reduktion: Im Zentrum stehen nun einzelne Objekte sowie deren Betrachter*innen, weder Vorgänge noch Funktionen oder Verwendungsweisen von Objekten schildert er. An die Stelle der sprachlichen Beschreibung durch den Erzähler tritt das wiederholte Zeigen, auch die Mädchen verstummen. Sie erfüllen in der Textstelle primär eine narratologische Funktion; sie werden als Figuren nicht plastisch, ermöglichen es dem Erzähler jedoch, die Leser*innen des Romans durch das Lager zu führen. Der Zeigevorgang richtet sich an die Mädchen sowie an die Leser*innen, sodass sich die Distanz zwischen Leser*innen und Figuren (den Mädchen) stark verringert. Gleichzeitig werden die gezeigten Objekte mit einem Sinnüberschuss angereichert, da sie nicht mehr nur in ihrer Präsenz als Objekte gezeigt werden; vielmehr wird mittels ihrer räumlichen Verortung in Krematorium und Folterkammer ihre vielseitige Verwendung als Folter- und Mordinstrument erkennbar. Semprún reduziert unterdessen explizite Informationen über ihre Verwendung auf ein Minimum, wodurch schon allein ihre Anwesenheit auf ihre Funktion verweist und ihr selbstreferentielles Potenzial wächst. In der wiederholten Versprachlichung des Zeigevorgangs und in dessen Verbindung mit den Ortsdeiktika ‚hier‘ und ‚dort‘ nähert Semprún die Passage einer kommunikativen Situation an, in der die zeitgleiche Anwesenheit einer Beobachterin/eines Beobachters und eines konkreten Objektes zentral für die Konstitution kommunikativen Sinns ist. Neben das Verstummen des Erzählenden sowie seiner Zuhörerinnen tritt der Vorgang des Zeigens, der die Materialität der Objekte ins Zentrum setzt. Gleichzeitig verringern diese erzählerischen Mittel die Distanz zwischen Leser*innen und Figuren beziehungsweise Objekten: Die Leser*innen nähern sich den Mädchen an, die unmittelbar im Lager anwesend sind. Bei gleichzeitiger Reduktion der verbalen Kommunikation bekommt die Materialität der Objekte sowie der Betrachter*innen eine erhöhte Bedeutung zugewiesen. Im Kern verweist diese Passage auf die Medialität des jeweiligen Äußerungsaktes, den Ernestine Schlant in Die Sprache des Schweigens andeutet, jedoch nicht als Medialitätsaspekt bezeichnet.165 Die hier konturierte Unterscheidung zwischen 165 Schlant beschränkt sich in ihrer Untersuchung auf die erzählende Prosa, da sie „nicht so her-

1.6 Drama und Medialität

77

der Medialität von Drama und Prosa spielt für (ästhetische) Fragen der Darstellung der Shoah angesichts der Unterschiede zwischen literarischer Kommunikation in narrativen und dramatischen Texten eine maßgebliche Rolle. Da die kommunikative Funktion der Erzähler*in im Drama in der Regel nicht besetzt ist, werden manche ihrer Funktionen von der Kommunikation zwischen Figuren untereinander, zwischen Figuren und Zuseher*innen beziehungsweise von weiteren (non-)verbalen Codes übernommen. Dieser spezifische Modus der Zeichenverwendung betrifft in einer konkreten Aufführungssituation auch die (körperliche) Kopräsenz zwischen Figuren, Objekten und Zuseher*innen. So wie das Wegfallen der vermittelnden Instanz einer Erzählfigur (die hier als Modellfall angenommen sei, wenngleich narrative Texte auch ohne sie auskommen) im Drama das Kommunikationssystem verändert, trägt auch der plurimediale Textcharakter zu solch einer Veränderung bei. In Dramen können einzelne Objekte zentrale kommunikative Funktionen erfüllen, ohne dass diese Rolle expliziert wird. Solch einem Spezifikum dramatischer Texte nähert sich Semprún in der oben zitierten Passage aus Die große Reise an: Die Objekte werden nicht beschrieben oder von Figuren verwendet, sondern lediglich gezeigt und verweisen allein durch ihre Anwesenheit auf ihren Verwendungszweck. Diese Beobachtungen zu medialen Unterschieden werfen für literarische Auseinandersetzungen mit der Shoah Fragen der Ästhetik auf, welche die Darstellung von Gewalt und Genozid auf der Bühne betreffen. Neue literarische Verfahren und Ästhetiken entstehen im soziopolitischen Kontext der 1960er Jahre, da ab ungefähr 1960 im ‚vergangenheitspolitischen Klima‘166 der Bundesrepublik Veränderungen einsetzten, die Hannah Arendt bereits in ihrer oben erwähnten Lessingpreis-Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten (1959) eingefordert hatte. Sie kritisiert darin unter anderem den „Weltverlust“ der vielen, die sich aus der Sphäre des politischen Denkens und „von der Welt und den Verpflichtungen in ihr“167 zurückziehen. Im ‚vergangenheitspolitischen Klima‘ um die Auschwitz-Prozesse (1963–1965),168 den Eichmann-Prozess (1961) und das Ende der

metisch in sich verschlossen wie die Lyrik oder so durch die Situation eingeschränkt wie das Schauspiel“ sei. (Schlant: Die Sprache des Schweigens, S. 14.) 166 Vgl. Frei, Norbert: „Der Frankfurter Auschwitz-Prozeß und die deutsche Zeitgeschichtsforschung“. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Auschwitz – Geschichte, Rezeption und Wirkung. Frankfurt, New York: 1996, S. 123–128, hier: S. 123. Vgl. dazu auch Weiß, Christoph: Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die „Ermittlung“ im Kalten Krieg. Teil 1. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2000, S. 8. 167 Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, S. 7. 168 ‚Der Auschwitz-Prozess‘ bezieht sich in vorliegendem Kontext immer auf den ersten Auschwitz-Prozess (1963–65), bei dem auch Peter Weiss Prozessbeobachter war. Es folgten der zweite (1965/66) und dritte Auschwitz-Prozess (1967/68) sowie Nachfolgeprozesse in den 1970er Jahren.

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1. Voraussetzungen

Ära Adenauer (1963) entstanden dramatische Formen, die expliziter als das Absurde Theater, die Parabeln von Frisch und Dürrenmatt oder Dramen aus dem ‚klassischen‘ Theaterrepertoire dazu beitrugen, eine Gedächtniskultur nach Auschwitz zu modellieren: Besonders Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965) wurde zum Indikator einer Zäsur der (literarischen) Auseinandersetzung mit dem Genozid; sie zeichnet vor allem eine neue Welle an verschiedenen Theaterkonzepten aus, die auf stärkere Bezüge zwischen Literatur und nicht-literarischen Diskursen setzen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie einen wesentlichen Teil ihres Textmaterials aus nicht-literarischen Diskursen generieren, die den Abstand zwischen ‚Faktizität‘ und ‚Fiktionalität‘ beziehungsweise das Verhältnis zwischen Quellenmaterial und dessen literarischer Bearbeitung nivellieren; das Material stammte etwa aus Prozessakten (Weiss), Tonbandprotokollen von Verhören (Heinar Kipphardts Bruder Eichmann169) oder Zeitdokumenten (für Rolf Hochhuths Der Stellvertreter u.a. Reden von Papst Pius XII). Unter dem Begriff ‚Dokumentartheater‘ subsumiert, ist den Dramen bei aller konzeptuellen Verschiedenheit gemeinsam, dass sie „nicht nur aktuelle, sondern vor allem auch gesellschaftlich tabuisierte Themen“170 aufnahmen. Sie sind als repräsentational zu verstehen, da sie Dokumentenmontage zum „leitenden Formprinzip“171 erheben und damit den Bezug zu außerliterarischen Diskursen und (vermeintlichen) Evidenzen ins Bild setzen – wie die Rolle der katholischen Kirche im Nationalsozialismus (Der Stellvertreter) oder die Interdependenz zwischen Nationalsozialismus und Kapitalismus (Die Ermittlung). Sie verbindet eine hohe Rekurrenz auf faktuales Datenmaterial sowie starke Bezüge auf den historisch-politischen Entstehungskontext. Für das Sub-Feld der Shoah-Literatur der 1960er Jahre indizieren sie eine weitere Ausdifferenzierung von Poetiken, die in ihrer Heterogenität bis in die Gegenwart besteht.172 169 Grundlage dessen ersten Teils war das 3564 Seiten lange Tonbandprotokoll der fast ein Jahr andauernden Eichmann-Verhöre durch Avner Less vor dem Prozess in Jerusalem (vgl. Barton, Brian: Das Dokumentartheater. Stuttgart: Metzler 1987, S. 72 f.). Aktualisierende Szenen zu Ariel Scharon oder dem RAF-Mitglied Irmgard Möller sorgten im Vorfeld der Uraufführung für Kontroversen und können als gedankliche Vorläufer des ‚Historikerstreits‘ um die Frage nach der ‚Vergleichbarkeit‘ der Shoah gelesen werden. (Als Beispiel für die im Feuilleton zitierten Argumente vgl. Henrichs, Benjamin: „Streit um Heinar Kipphardts letztes. Stück Bruder Eichmann – Vater Eichmann?“. In: Die Zeit, 25. Februar 1983; URL: http://www.zeit.de/1983/09/ bruder-eichmann-vater-eichmann [2.4.2021]). 170 Söllner, Alfons: „Peter Weiss’ Die Ermittlung in zeitgeschichtlicher Perspektive“. In: Braese/Gehle/Kiesel/Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, S. 99–128, hier: S. 112. 171 Miller, Nikolaus: Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur. München: Fink 1982, S. 97. Miller teilt die Entwicklung ‚der Dokumentarliteratur‘ in drei Phasen (literarische Publizistik des Vormärz, Weimarer Republik, 1960er Jahre mit Runge, Kipphardt, Weiss). Erst in der letzten Phase bilde sie, so Miller, dieses Formprinzip aus, weshalb erst nun „von ‚Dokumentarliteratur‘ als einem eigenständigen literarischen Bereich“ gesprochen werden könne (ebd., S. 97). 172 Noch die 1979 erstmals im deutschen Fernsehen ausgestrahlte US-amerikanische Serie Holocaust,

1.6 Drama und Medialität

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Von den ‚dokumentarischen‘ Dramen der 1960er Jahre ist die Ermittlung am stärksten kanonisiert und wurde anlässlich der Uraufführung am intensivsten rezipiert (am 19. Oktober 1965 fanden Uraufführungen an 15 west- und ostdeutschen Bühnen gleichzeitig statt,173 im selben Monat strahlten alle westdeutschen Radiostationen eine Hörfunkfassung aus; das Drama wurde im folgenden Jahr an zahlreichen weiteren Bühnen gespielt und löste im Feuilleton Debatten über politische sowie ästhetische Fragen aus174). Die Ermittlung ist unterteilt in ‚11 Gesänge‘,175 die den Weg der Deportierten von der Ankunft in Zügen bis zur Ermordung in den Gaskammern auf 11 Stationen nachzeichnen, beginnend mit dem ‚Gesang von der Rampe‘, endend mit dem ‚Gesang von den Feueröfen‘. Die Bedeutung der Rekonstruktion historischer Evidenzen lässt sich an dieser Struktur ablesen, die Weiss nach eigener Aussage bei

die zu einer breitenwirksamen Auseinandersetzung mit der Shoah führte und damit auch zentral für die Begriffsprägung ‚Holocaust‘ war, lässt sich in ein Paradigma sentimentalisierender Darstellungen einreihen, das bis heute besteht (z.B. Der Junge im gestreiften Pyjama). Aleida Assmann sieht die Ausstrahlung als „Meilenstein in der deutschen Erinnerungsgeschichte“ (Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 63.), da sie nicht nur öffentliche Gespräche und Auseinandersetzungen anstieß, sondern auch eine „Affektblockade“ (ebd., S. 62) gelöst und eine emotionale Öffnung vieler Deutscher unterschiedlicher Generationen für die Shoah ermöglicht habe. Die Empathie für die Verfolgten, welche sentimentalisierende Ästhetiken bewirken, wird in der Forschung unterschiedlich bewertet: Assmann hält sie für eine Voraussetzung für die gegenwärtige Erinnerungskultur, während Ulrike Jureit und Christian Schneider die emphatische Identifikation mit den Opfern als Irrweg der Erinnerungskultur sehen (vgl. ebd., S. 63 ff. Assmann bezieht sich auf Jureits und Schneiders Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta 2010). 173 Vgl. Weiß, Christoph: „‚… eine gesamtdeutsche Angelegenheit im äußersten Sinne …‘. Zur Diskussion um Peter Weiss’ Ermittlung im Jahre 1965“. In: Braese/Gehle/Kiesel/Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, S. 53–70, hier: S. 58. Grund für dieses durchschlagende Interesse war möglicherweise neben der Thematik des Textes auch Weiss’ große Bekanntheit nach der vielbeachteten Uraufführung von Marat/Sade sowie der Verleihung des Lessing-Preises (beide ebenfalls 1965); Weiss stand auch infolge seines Bekenntnisses zum Sozialismus lange Zeit im Fokus der Öffentlichkeit (vgl. hierzu auch ebd.). Christoph Weiß hat die Debatten um das Stück in West- und Ostdeutschland rekonstruiert, vgl.: Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. (Der zweite Teil dieser Untersuchung versammelt eine umfassende Auswahl an zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen.) 174 Vgl. Weiß: „‚… eine gesamtdeutsche Angelegenheit im äußersten Sinne …‘“, S. 65. 175 Die Ermittlung sollte Teil von Weiss’ Welttheater-Projekt über die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts bilden, das der Göttlichen Komödie folgen und den Glauben an die drei Jenseitsvorstellungen von Inferno, Purgatorio und Paradiso in das 20. Jahrhundert transponieren wollte. Demgemäß negiert Weiss die Möglichkeit der Erlösung und wollte das Paradiso als Ort der Verzweiflung zeichnen. So ging Die Ermittlung unter dem ursprünglichen Titel Paradiso an den Verlag, auf dessen Anraten der Autor es doch aus dem dantesken Zusammenhang nahm, um es separat aufzuführen (vgl. Beise, Arnd: Peter Weiss. Stuttgart: Reclam 2002, S. 111–117).

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1. Voraussetzungen

einem Lokaltermin des Frankfurter Gerichts in Auschwitz gefunden hat176 und die ihrerseits die Anordnung des (fiktionalisierten) dokumentarischen Materials im Drama strukturiert (etwa anstelle einer thematischen Anordnung oder entlang der einzelnen Angeklagten). Aufbau und kommunikative Anlage des Dramas spiegeln das Erkenntnisinteresse des Frankfurter Auschwitz-Prozesses überdies insofern, als darin die „Wirklichkeit des Lagers mehr als der Mord an den Juden im Vordergrund“177 stand. Tatsächlich stammt Weiss’ Quellenmaterial zu einem Großteil aus Prozessberichten und Weiss’ eigener Beobachtung der Auschwitz-Prozesse. Dies reflektiert auch die Prozessstruktur, wenn Überlebende wie Angeklagte Täter als Akteur*innen auftreten und der Wechsel von Rede und Gegenrede nicht etwa psychologisch oder durch die Dramenhandlung motiviert ist, sondern durch die Kommunikationsstruktur eines Gerichtsprozesses. Eine literarische Strategie, die ab ovo auf Weiss’ Verfahren literarischer Verfremdung hinweist, ist seine Entscheidung, mittels Techniken von Reduktion und Kondensation die Anzahl der im Prozess befragten Zeug*innen auf neun namenlose Figuren (genannt Zeug*innen 1–9) zu reduzieren. Mit dieser Anonymität wird das persönlich-individuelle Erlebnis zugunsten einer typisierten, stellvertretenden Erfahrung zurückgestellt und die Zeug*innen agieren bei Weiss als stellvertretende Sprachrohre einer Gruppe; Weiss umgeht damit das Paradigma der Sentimentalisierung einzelner Überlebender (Anne Frank). In Kontrast zu den Zeug*innen behält Weiss die Namen der realhistorischen Angeklagten bei und nennt auch deutsche Unternehmen, die von der NS-Vernichtungsindustrie 176 Vgl. ebd., S. 116. 177 Chaumont, Jean-Michel: „Der Stellenwert der Ermittlung im Gedächtnis von Auschwitz“. In: Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.): Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 77–110, hier: S. 88. Dieses Erkenntnisinteresse herrschte in der BRD in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vor, ‚Auschwitz‘ war dergestalt auch lange Zeit als Metapher für den Genozid gebräuchlich; erst rund zehn Jahre später erweiterte die Ausstrahlung der TV-Serie Holocaust das gängige Begriffsrepertoire um den Terminus ‚Holocaust‘ (vgl. Auftakt, Anm. 7). Weiss’ in der älteren Forschung häufig als mangelhaft beurteilte Thematisierung des jüdischen Kontexts – auch mit dem den Kindern gegenüber lange nicht thematisierten Judentum des Vaters beschäftigte sich Weiss übrigens erst spät und wenig intensiv (vgl. Beise: Peter Weiss, S. 14) – führte zu Debatten um das Stück; umstritten war auch Weiss’ kapitalismuskritischer Faschismusbegriff. James E. Young wirft Weiss vor, Unterschiede zwischen politisch und ‚rassisch‘ Verfolgten zu nivellieren, da er jüdische Häftlinge nicht nenne. Auch Weiss’ ökonomische Erklärung für den Nationalsozialismus greife, so Young, gleichermaßen zu kurz wie eine ideologische (kommunistische) Interpretation. Problematisch an Youngs erst 1988 verfasster Kritik ist, dass er (diskursive) Veränderungen in den fast 20 Jahren historischer Distanz zum Entstehen der Ermittlung zu wenig berücksichtigt. Den Versuch, das Drama 30 Jahre später „von seinen eigenen Voraussetzungen her zu verstehen“, unternimmt Söllner (Söllner: „Peter Weiss’ Die Ermittlung in zeitgeschichtlicher Perspektive“, hier: S. 103). Zu einer Relativierung von Youngs Kritik und deren stellenweise polemischem Charakter vgl. auch Chaumont: „Der Stellenwert der Ermittlung im Gedächtnis von Auschwitz“.

1.6 Drama und Medialität

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profitiert haben (z.B. I.G. Farben, Siemens, Krupp). Auch darin setzt sich Die Ermittlung von dem genannten Paradigma sentimentalisierender Texte ab, da Weiss damit den außerliterarischen Bezug des Dramas ebenso stärkt wie dessen politische Aktualität. Damit ist die individuelle Erfahrung der Zeug*innen in Weiss’ entsubjektivierter Geschichtsphilosophie einem Erkenntnisinteresse untergeordnet, das die Rekonstruktion und Repräsentation von historischen Evidenzen ins Zentrum stellt – so bestimmt das Interesse an alltäglichen Abläufen oder faktischen Evidenzen die Befragungen der Zeug*innen, während jegliche affektive Perspektive in den Hintergrund tritt. Beispielsweise beantworten die Zeug*innen Fragen zur Ausführung der Tätowierungen (vgl. E 30), zu den Blocks (vgl. E 31), zu Ausmaß und Beschaffenheit der Nahrung für die Häftlinge in genauen Gramm- oder Stückangaben (vgl. E 38) oder zu Waffen für bestimmte Erschießungen (vgl. E 113). In den Notizen zum dokumentarischen Theater (1968) beschreibt Weiss das Dokumentartheater als Theaterform, „die sich ausschließlich mit der Dokumentation eines Stoffes befaßt“, als „Theater der Berichterstattung“ und betont dessen repräsentationalen Charakter, das textliche Nach-Bild eines außerliterarischen Vor-Bildes: „Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder.“178 Allerdings solle es im Unterschied zum „ungeordneten Charakter des Nachrichtenmaterials, das täglich von allen Seiten auf uns eindringt, […] auf der Bühne [nur] eine Auswahl“ zeigen und „aus Fragmenten der Wirklichkeit ein verwendbares Muster, ein Modell der aktuellen Vorgänge“179 zusammenstellen. Die Programmatik der Notizen benennt die Möglichkeit der Literatur, ‚authentisches Material‘ auf der Bühne ‚unverändert‘ wiederzugeben, also das Potenzial von Sprache, Evidenzen und Handlung abzubilden. Dergestalt lesen sich etwa jene Textpassagen, in denen von Zeug*innen Folterungen beschrieben, also sprachlich re-präsentiert, werden: Da wurde ich bewußtlos geschlagen / Als ich zu mir kam lag ich auf dem Korridor / Boger stand neben mir / Steh auf sagte er / Aber ich konnte nicht aufstehn / Boger trat nach mir / Da richtete ich mich an der Wand auf / Ich sah daß Blut an mir herunterfloß / Der Fußboden und meine Kleider / waren voll von Blut / Mein Kopf war zerschlagen / das Nasenbein gebrochen.180

178 Weiss, Peter: „Notizen zum dokumentarischen Theater“ [1968]. In: ders.: Rapporte 2. Frankfurt: Suhrkamp 1971, S. 91–104, hier: S. 91 f. 179 Ebd., S. 97. 180 Weiss, Peter: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt: Suhrkamp 1965, S. 58. Im Folgenden Zitation im Fließtext: E.

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1. Voraussetzungen

Andererseits legt Weiss Gewicht auf die hohe Stilisierung des dokumentarischen Materials. Ihm ist bewusst, dass das Drama sich „nicht messen [könne] mit dem Wirklichkeitsgehalt einer authentischen politischen Manifestation“, schließlich sei es ein „Kunstprodukt, und es muß zum Kunstprodukt werden, wenn es Berechtigung haben will.“181 Daraus lassen sich literarische Strategien der Verfremdung182 ableiten – etwa die Reduktion der realhistorischen Zeug*innen auf neun namenlose Figuren und die Stilisierung des dokumentarischen Materials: durch die Knappheit der Syntax; durch spärlich verwendete Satzzeichen und die dergestalt ausbleibende Markierung von Intonation; durch die versartige Satzstruktur; durch die präzise sprachliche Beschreibung von Vorgängen. In letztgenannten ist von den „emotionalen Kräften“,183 zu denen die Begegnung zwischen Angeklagten und Zeug*innen führte, nichts mehr übrig. Diese Strategien der sprachlichen Verfremdung setzen Weiss’ Ästhetik von Bölls Kurzgeschichte sowie von vielen Überlebendentexten ab. Sie wirken sich ihrerseits aus auf die Repräsentation von Emotionen, die Weiss ebenso wie die psychische Verfassung der Figuren nur an wenigen Stellen andeutet; kommt die Rede auf ihre Traumatisierung, lässt er sie meist schweigen. Als Zeugin 4 zweimal die Antwort auf eine Frage schuldig bleibt und sich der Verteidiger erkun-

181 Weiss: „Notizen zum dokumentarischen Theater“, S. 95 f. 182 Innerhalb des Weiss’schen Werks sind Strategien der Verfremdung nur ein Aspekt des vielfältigen ästhetischen Spektrums – vom frühen Sprachexperiment in Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) über Marat/Sade (1964) und die Dokumentardramen Die Ermittlung und Viet Nam Diskurs (1968), die autobiografischen Texte wie Abschied von den Eltern (1961) bis hin zur Ästhetik des Widerstandes. In diesen vielseitigen ästhetischen Gestaltungen seiner Werke oszilliert Weiss stets, so Arnd Beise, zwischen den beiden Polen, die er in seinem Roman Die Situation (1956) beschreibt als Oszillieren zwischen der Sehnsucht nach dem „Dokumentarischen“ einerseits und dem „großen geschlossenen Kunstwerk“ andererseits. (Beise: Peter Weiss, S. 7. Vgl. dazu auch: Weiss, Peter: Die Situation. Frankfurt: Suhrkamp 2000, S. 241 f.) 183 In einer der Ermittlung vorangestellten Anmerkung schreibt Weiss (Druckfassung 1965): „Bei der Aufführung des Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre. Hunderte von Zeugen traten vor dem Gericht auf. Die Gegenüberstellung von Zeugen und Angeklagten, sowie die Reden und Gegenreden, waren von emotionalen Kräften überladen. / Von all dem kann auf der Bühne nur ein Konzentrat der Aussage übrigbleiben. / Dieses Konzentrat soll nichts anderes enthalten als Fakten, wie sie bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache kamen. Die persönlichen Erlebnisse und Konfrontationen müssen einer Anonymität weichen.“ (E 7) Weiss’ Verhältnis zur Repräsentationalität ist vielschichtig und komplex: Einerseits steht in der Dialogführung und den Interessen von Anwälten und Verteidigern die ‚Rekonstruktion‘ faktualer Evidenzen und alltäglicher Abläufe im Mittelpunkt. Andererseits problematisiert er den Begriff ‚Rekonstruktion‘ und verneint die Möglichkeit einer Rekonstruktion der Prozesse und von Auschwitz gleichermaßen; und doch hält Die Ermittlung an den Möglichkeiten sprachlicher Repräsentation von außerliterarischen Evidenzen fest.

1.6 Drama und Medialität

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digt, ob sie „an Gedächtnisstörungen“ (E 81) leide, werden die psychischen Folgen ihrer KZ-Inhaftierung im Tonfall ähnlich einem Krankenbericht beschrieben: Ich bin seit dem Aufenthalt im Lager / krank / Verteidiger Wie äußert sich Ihre Krankheit / Zeugin 4 Schwindelanfälle und Übelkeit / Kürzlich in der Toilette mußte ich erbrechen / da roch es nach Chlor / Chlor wurde über die Leichen geschüttet / Ich kann mich nicht in verschlossenen / Räumen aufhalten / […] Ich möchte vergessen / aber ich sehe es immer wieder vor mir (E 81).

Indem Weiss emotionale Aspekte außen vorlässt, hebt er auch die Schwierigkeit der Erzählbarkeit hervor: Die sachliche Beschreibung von Hunger oder Folter als Surrogat der Emotionen der Zeug*innen verweist auf das oben genannte Darstellungsproblem. Obwohl die emotionale Dimension der Verfolgungs- und Vernichtungserfahrung in der Ermittlung weitgehend unbezeichnet bleibt, trägt das Drama dazu bei, die Perspektive der Opfer aufzuwerten und sie qua der Dialogstruktur des Gerichtsprozesses institutionell zu legitimieren. Eine dergestalt erfolgende Legitimation erreicht Weiss’ Drama ebenso wie die vielbeachteten Gerichtsprozesse der 1960er Jahre, aus denen Autoren wie Weiss und Kipphardt ihr Textmaterial generieren (Eichmann-Prozess, Auschwitz-Prozess). Deren Bedeutung für Veränderungen im Sub-Feld der Shoah-Literatur sowie im erinnerungspolitischen Klima der 1960er Jahre kann kaum überschätzt werden, denn sie bewirkten eine signifikante Veränderung nicht nur zu einem Sprechen über die, sondern vor allem zu einem Sprechen der Überlebenden. Im Frankfurter Auschwitz-Prozess etwa berichteten über 360 Zeug*innen184 von ihren individuellen Erfahrungen; dergestalt wurde ein institutioneller Rahmen für das Sprechen der Überlebenden geschaffen – in literarischen wie außerliterarischen Diskursen. Die veränderte Rolle von Überlebenden infolge des Eichmann-Prozesses beschreibt für die israelische Gesellschaft der jüdische Überlebende Jehuda Bacon (er war als Zeuge sowohl im Eichmann- als auch im Auschwitz-Prozess geladen) als signifikant ansteigendes Interesse an den ‚Geschichten‘ der Überlebenden;185 demgegenüber hatte das zuvor herrschende Desinteresse an deren Erfahrungen zu einem raschen Verstummen der in Israel lebenden Zeitzeug*innen außerhalb 184 Zeugenschaft in NS-Prozessen. In: Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerung und Geschichte“. URL: https://www.zwangsarbeit-archiv.de/zwangsarbeit/ereignisse/prozesse/index. html [2.4.2021]. 185 Vgl. Video-Interview mit Jehuda Bacon. In: Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerung und Geschichte“. URL: https://archiv.zwangsarbeit-archiv.de/de/interviews/za398 [2.4.2021]. Bacon überlebte die Lager Theresienstadt und Auschwitz sowie einen Todesmarsch nach Mauthausen und Gunskirchen im Jahr 1945; nach Palästina übersiedelte er 1946. Dort wurde er 1959 zum Professor für Grafik und Zeichnung berufen.

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1. Voraussetzungen

von privaten Räumen geführt.186 Den Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Zeitzeug*innen in der israelischen Gesellschaft infolge des Eichmann-Prozesses belegen die Untersuchungen der israelischen Historikerin Hanna Yablonka: Sie weist auf den Widerspruch hin zwischen der hohen Anzahl an Shoah-Überlebenden in der israelischen Gesellschaft – zum Zeitpunkt der Staatsgründung fast 600 000 Shoah-Überlebende unter den zwei Millionen Einwohnern – und der Tatsache, dass sie und ihre Geschichten in der Öffentlichkeit keine Rolle spielten. Dass das Interesse an ihren Erfahrungen mit dem Eichmann-Prozess signifikant anstieg, begründet Yablonka mit der Entscheidung des Staatsanwalts Gideon Hausner, sich auf die Aussage von jüdischen Zeug*innen zu konzentrieren. Dieser stellte bereits in seinem Eröffnungsplädoyer die Perspektive der Opfer sowie die Rolle der Überlebenden als stellvertretende Sprecher*innen ins Zentrum: When I stand before you here, Judges of Israel, to lead the Prosecution of Adolf Eichmann, I am not standing alone. With me are six million accusers. But they cannot rise to their feet and point an accusing finger towards him who sits in the dock and cry: ,I accuse‘. […] Their blood cries out, but their voice is not heard. Therefore I will be their spokesman and in their name I will unfold the awesome indictment.187

Der im Eichmann-Prozess eingeleitete Paradigmenwechsel der Rolle von Überlebenden dehnte sich auch auf nicht-juristische Diskurse aus. Dies verbindet Yablonka mit der bereits erwähnten veränderten sprachlichen Spezifizierung der Perspektive von Überlebenden: Während die ab 1944 nach Palästina ausgewan-

186 Diese Beobachtung darf nicht mit der irrigen Annahme eines grundsätzlichen Schweigens über die Shoah verwechselt werden. Vielmehr muss erstens zwischen öffentlichen und privaten Diskursräumen unterschieden werden: Die Erfahrung von Zeitzeug*innen im jungen Staat Israel, deren Berichten von Lagererfahrungen man keinen Glauben schenkte oder sie für übertrieben hielt, rekapituliert Nina Fischer. Daraus resultierte die paradoxe Gleichzeitigkeit einer Allgegenwärtigkeit der Shoah im öffentlichen Raum bei gleichzeitiger Verdrängung von Überlebendenberichten in den privaten – Überlebende sprachen oft nur in Gegenwart anderer Überlebender über ihre Erfahrungen (vgl. Fischer, Nina: „Das Schweigen und das Kind. Der Holocaust in der israelischen Gesellschaft in David Grossmanns Momik“. In: Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hg.): Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI. München: Fink 2013, S. 167– 191, hier: S. 169–171). Zweitens hatten nach der Staatsgründung Narrative des heroischen Widerstandes in der Öffentlichkeit lange Zeit Konjunktur; Biografien von ‚durchschnittlichen‘ Überlebenden passten anfangs schlichtweg nicht ins Bild (vgl. Kapitel 4). Eine institutionelle Ausnahme ist Yad Vashem, wo bald nach der Gründung der Gedenkstätte (1953) mit dem Sammeln von Überlebendenberichte begonnen worden war. 187 Hausner, Gideon: Eröffnungsplädoyer zum Eichmann-Prozess. zit. nach Yablonka, Hanna: „Der Eichmann-Prozess – ein jüdisches Nürnberg?“. In: Renz, Werner (Hg.): Interesse um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaft. Frankfurt, New York: Campus 2012, S. 79–91, hier: S. 86.

1.6 Drama und Medialität

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derten Shoah-Überlebenden ihre Zeitzeug*innenberichte in der Regel in der ersten Person Plural formuliert hatten – wohl dem Bedürfnis geschuldet, auch stellvertretend für die Ermordeten zu berichten – verschob sich das Erzählen infolge des Eichmann-Prozesses hin zur ersten Person Singular.188 Die solcherart veränderte Individualisierung des Erzählens (‚ich‘ vs. ‚wir‘) infolge der juristisch legitimierten und institutionalisierten Rolle von Überlebenden im Prozess lässt sich auch mit narrativen Mustern verbinden: Wenn die individuelle Erfahrung nicht mehr ausschließlich in der Erfahrung eines Kollektivs aufgelöst ist, verändern sich auch Erzählstrategien um die individuelle Erfahrung nicht mehr ausschließlich in Form eines kollektives Narrativs zu vertexten. Wenngleich Aussagen von Überlebenden in den Frankfurter Prozessen ein geringerer Stellenwert zukam als im Jerusalemer Prozess, zeigte sich die veränderte Rolle von Überlebenden auch dort. Dies hat Die Ermittlung nachhaltig geprägt: Bei Weiss sind Zeitzeug*innen als literarische Figuren auf der Bühne körperlich anwesend, sie sprechen für sich selbst – zumindest, wenn ihnen von einem deutschen Staatsanwalt oder Verteidiger das Wort verliehen wird –, auch wenn ihre individuelle Erfahrung zugunsten eines stellvertretenden Bezeugens zurückgestellt wird. So zeigen sich an der Ermittlung erste Bezugspunkte zwischen emanzipatorischem Sprechen in nicht-literarischen Diskursen und Veränderungen in der theatralen Ästhetik der BRD, die in weiterer Folge auch als Folie für Taboris Kannibalen zu bedenken sein werden. Dass die Zeug*innen zwar für sich selbst sprechen, doch ihre individuelle Perspektive Weiss’ entsubjektivierter Geschichtsphilosophie und der Rekonstruktion von historischen Evidenzen untergeordnet ist (s. oben), zeigt sich in der fast völligen Abwesenheit von Affekten (einem weiteren fundamentalen Unterschied zu Taboris Kannibalen, vgl. Kapitel 3). Auffällig ist dies insofern, als in schriftlichen Texten von Überlebenden Emotionen als thematisches, jedoch auch als die Narration strukturierendes Element eine wichtige Rolle spielen – der Schock beim Eintritt in das KZ, die Angst, aber anschließend auch emotionales Abstumpfen sowie die Normalisierung des KZ-Alltags. Anders in der Ermittlung, wenn die nicht namentlich genannten, nicht-individualisierten und mittels Nummern genannten Figuren stellenweise wie Kommentatoren ihrer eigenen Erlebnisse wirken. Die Distanz zur eigenen Rolle, die Brecht von Schauspieler*innen fordert, wird bei Weiss so zu einem poetologischen Prinzip, das er auch in den Notizen zum dokumentarischen Theater beschreibt: Das dokumentarische Theater solle nicht zur „emotionalen Anteilnahme und zur Illusion eines Engagements am Zeitgeschehen“ führen, sondern seine Themen „reflektierend behandel[n]“ und die „Stellung des

188 Vgl. Yablonka, Hanna: „The Eichmann Trial – A Turning Point“. Vortrag in Yad Vashem, 14. Mai 2014.

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1. Voraussetzungen

Beobachtenden und Analysierenden“189 einnehmen. Das Verhältnis zwischen Reflexion und Analyse auf der einen und Affekt und körperlicher Erfahrung auf der anderen Seite tritt in realhistorischen Zeug*innenaussagen in ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis: So beschreibt Jehuda Bacon, auf seine Aussage im Auschwitz-Prozess zurückblickend, wie er sachliche Schilderung als notwendig empfunden habe, gerade weil seine Aussage vor nicht-jüdischen Richtern und nicht-jüdischem Publikum eine neue „Konfrontation zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit“190 bewirkt habe – die Bedeutung seiner Aussage sah er wohl nicht darin, eine affektive Dimension des Überlebens zur Sprache zu bringen, sondern in der Vermittlung von Evidenzen; darin liegt auch der große Unterschied, den er für seine Aussage im Auschwitz-Prozess im Vergleich mit jener im Eichmann-Prozess formuliert. Zum Auschwitz-Prozess äußert Bacon sich folgendermaßen: Ich wusste, ich muss sehr sachlich sein, ohne Sentimenten beschreiben, ganz einfach … apropos, ich war so sachlich, dass ich bekam keine einzige Frage von denen [den Verteidigern, J.Ö.] […] und ich habe immer betont auch das Menschliche in … bei den Mördern. Ich hab gesagt, auch die konnten sich ganz anders zu uns Kindern manchmal benehmen. Das war sehr wichtig, weil niemand, ich glaube auch niemand ist vollständig böse oder jederzeit auch eine andere Seite und das muss man auch zeigen.191

Aus dieser Beschreibung lässt sich schließen, wie wichtig die erstmalige Zuweisung einer Sprecherposition vor deutschem Publikum für Bacon war – eine Zuweisung, die auch Die Ermittlung vollzieht. Bacons erklärtes Bemühen um Sachlichkeit mag im institutionellen Rahmen des Prozesses gründen. Gleichzeitig zeigt sich auch für ihn Sachlichkeit als Surrogat einer emotionsgeladenen Situation: Bacon berichtet, er sei in seiner Aussage um sachliche Relevanz bemüht gewesen, beschreibt jedoch für den Moment unmittelbar nach seiner Aussage im Auschwitz-Prozess auch seine vollkommene körperliche Entkräftung – zu zweit musste man ihm aus dem Zeugenstand helfen. Fast ikonische Signatur tragen die Videoaufnahmen des Eichmann-Prozesses, in dem sich die körperlichen Strapazen für den polnischstämmigen Yehiel de-Nur (Yehiel Feiner) – auch bekannt unter seinem Pseudonym ‚K. Tzetnik‘ beziehungsweise ‚Ka-Tzetnik 135633’192 – 189 Ebd., S. 97. 190 Video-Interview mit Jehuda Bacon, Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerung und Geschichte“, 14:40–15:30. Transkript: JÖ. 191 Ebd. Wortgetreues Transkript ohne Korrekturen grammatikalischer oder syntaktischer Unstimmigkeiten. 192 Internationale Bekanntheit erlangte sein Roman Das Haus der Puppen (House of Dolls, 1955; auf Deutsch erschien der Text auch unter anderen Titeln wie Höllenfahrt: Das kurze Leben der Daniela Preleschnik) über ein Lagerbordell in Auschwitz, das sich seit der Erstveröffentlichung

1.6 Drama und Medialität

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zeigen: Konfrontiert mit seinen Erinnerungen an die KZ-Inhaftierung, verlor er im Zeugenstand das Bewusstsein und konnte nicht aussagen. Ikonische Signatur tragen diese Bilder, weil der Körper und nicht die Sprache, ja gerade deren Verlust, die KZ-Erfahrung in ihrer Tragweite innerhalb weniger Sekunden verbildlicht. De-Nurs Körper ist in diesem Moment gewissermaßen mit einem Sinnüberschuss angereichert (den Objekten bei Semprún ähnlich), der die Materialität des Körpers ins Zentrum der Wahrnehmung von demjenigen stellt, der die Szene beobachtet. Gerade in der Dramatik kann dem Körper der Sprechenden (als Zeitzeug*innen sowie als literarische Figuren) eine größere Rolle zukommen als in der Prosa, da sich die Medialität des Dramas durch die Kopräsenz zwischen Zuseher*in und Körper der Akteur*in auszeichnet – dadurch wird der Körper als bedeutungstragendes Zeichen aufgewertet. Diese Relevanz des Körpers als bedeutungstragendes Zeichen zeigt sich an der Aussage eines weiteren Zeugen aus dem Eichmann-Prozess, der wie Yehiel de-Nur aus dem künstlerisch-literarischen Feld bekannt ist; es ist Simon Srebnik, den Lanzmann am Beginn von Shoah bei seiner Rückkehr nach Chełmno begleitet. Laut Prozessprotokoll hat Srebnik die Folter nicht nur beschrieben, sondern auch deren Spuren in seinem Körper gezeigt: Er „zeigte den Richtern die Narben der Schusswunden auf seinem Nacken und in seinem Mund“,193 heißt es im Protokoll. Srebniks Aussage steht für eine Kombination von sprachlich-diskursiver und körperlich-materieller Repräsentation der Shoah-Erfahrung, in der dem sprachlichen Beschreibungsvorgang ein Zeigevorgang an die Seite gestellt wird. Gemeinsam mit der Ermittlung betrachtet, öffnen die Beispiele von Srebnik und de-Nur auch den Blick auf die Verbindung zwischen dem Moment des individuellen Sprechens und der Körperlichkeit der KZ-Erfahrung, wie sie vor allem bei Tabori Thema ist. Weiss’ Darstellung von Emotionen und Körperlichkeit blendet diese mögliche Funktion des Körpers noch weitgehend aus, wenn er Folter und Hunger beschreibt, aber nicht mit dem Körper der Sprechenden verbindet. Er nähert sich damit in seinem Drama einem prosaischen Modus der Zeichenverwendung ebenso an wie Semprún in seinem Roman einem dramatischen Modus: Körperlichkeit wird bei Weiss nicht gezeigt, sondern beschrieben. Ein komplexes Verhältnis zwischen Weiss’ spezifischem Modus der Zeichenverwendung, seinem Anliegen der Repräsentationalität und literarischen Strategien der Verfremdung charakterisiert seine Poetik in Die Ermittlung: Das Ver-

über fünf Millionen Mal verkauft hat. Die fiktive Erzählung kann in der Nähe von Naziploitation-Filmen wie Der Nachtportier (I portiere die notte, Liana Cavani, 1974) gesehen werden. Vgl. Ka-Tzetnik 135633: Das Haus der Puppen. München, Zürich: Piper 1995. 193 Gouri, Haim: Facing the Glass Booth: The Jerusalem Trial of Adolf Eichmann. Detroit: Wayne State UP 2004, S. 127. Zit. nach Weissberg: „Claude Lanzmanns ‚Shoah‘“, S. 148. Dt. Übersetzung des Zitats von Weissberg.

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1. Voraussetzungen

hältnis zwischen Dokument und Dargestelltem ist kein ‚abbildendes‘ (dies zeigt auch die literaturwissenschaftliche Forschung insofern, als sie Weiss’ Dramatik oft unter dem Gesichtspunkt der Brecht-Nachfolge194 versteht). Anders als in Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964), wo Fotografien prominenter Persönlichkeiten auf eine Leinwand projiziert werden und damit den Dokumentarcharakter betonen,195 dominieren bei Weiss Strategien der Verfremdung. Die Ermittlung erweitert das ästhetische Spektrum der Shoah-Literatur in einem ersten Schritt um Aspekte von agency (ein institutioneller Rahmen für das Sprechen von Zeug*innen entsteht, wenn das Sprechen auch entsubjektiviert ist) sowie um ästhetische Komponenten. Die Distanz zur eigenen Erfahrung (anders als bei Bölls Hegemüller) gehört ebenso dazu wie die Abwesenheit jeglicher Emotionen und damit eine Abkehr von einer möglichen Sentimentalisierung der Opfer: Mittels der genannten literarischen Strategien der Versachlichung – Weiss beschreibt, er habe „den Text so karg gemacht wie nur irgendwie möglich“, er habe „fast alle Adjektive herausgestrichen und in den Zäsuren noch mehr auf die Kühle und Klarheit im Text hingewiesen“196 – rückt das Dargestellte vom individuellen Erfahrungshorizont der Zeitzeug*innen ab. Dies führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen agency und literarischen Strategien der Distanzierung und Verfremdung (Verdichtung; Eindruck des ‚Kommentierens‘ der eigenen Erlebnisse; analytische Distanz etc.). Agency, die Weiss den Figuren mittels der Struktur des Prozesses verleiht, wird teilweise reduziert durch die distanzierende Versprachlichung ihrer Aussagen und deren geschichtsphilosophische Reflexion. So etwa in der Historisierung der Rollen von Tätern und Opfern, wenn Zeuge 3197 zu Protokoll gibt: Viele von denen die dazu bestimmt wurden / Häftlinge darzustellen / waren aufgewachsen unter den selben Begriffen / wie diejenigen / die in die Rolle der Bewacher gerieten / Sie hatten sich eingesetzt für die gleiche Nation / und für den gleichen Aufschwung und Gewinn / und wären sie nicht zum Häftling ernannt worden / hätten sie auch einen Bewacher abgeben können (E 78).

Sprachlich kodiert Weiss hier die Zuordnung ‚Häftling‘ beziehungsweise ‚Bewacher‘ nicht als Agens, sondern als Patiens („ernannt werden“, „in die Rolle geraten“), verstärkt durch die Theater-Topik („darstellen“, „Rolle“, „abgeben können“). 194 Vgl. Miller: Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 243. Vgl. auch Weiss: „Notizen zum dokumentarischen Theater“, S. 101, bes. Abschnitt 12.b. 195 Vgl. Miller: Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 244. 196 Weiss, Peter. In: Peter-Weiss-Jahrbuch 4, S. 10. Zit. nach Beise: Peter Weiss, S. 124. 197 Beise sieht Zeuge 3 oft als „Sprachrohr des Autors“ (Beise: Peter Weiss, S. 122).

1.7 Erinnerung, Gedächtnis, ‚Postmemory‘

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Zur Erweiterung des ästhetischen Darstellungsspektrums zählt die Auseinandersetzung mit agency und die mögliche Integration von Zeitzeug*innenberichten in die Dramatik; die Erweiterung um die Repräsentation außerliterarischer Diskurse; um die Rekonstruktion von faktualen Evidenzen; um Strategien der Verfremdung, die neue Blicke auf ‚Auschwitz‘ ermöglichen; und schließlich um das Verhältnis zwischen zeigen und beschreiben für die Auseinandersetzung mit den subjektiven Erfahrungen der Zeug*innen. Besonders für eine Analyse von Taboris Kannibalen werden diese Parameter eine wichtige diskursive Folie bilden; für Schindels Dunkelstein hingegen sind diskursive Kontexte der ‚Postmemory‘-Generation relevant, denen das folgende Kapitel gilt.

1.7 Erinnerung, Gedächtnis, ‚Postmemory‘ Dass das Gedenken an die Shoah infolge des Ablebens der Zeitzeug*innen,198 der politischen Veränderungen der Jahre 1989/90 sowie von medialen Umbrüchen199 seit gut zwanzig Jahren einem fundamentalen Wandel unterliegt, ist mittlerweile ein Gemeinplatz der Forschung. Er korreliert auch mit einer Konjunktur der (kulturwissenschaftlichen) Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung,200 schließlich wird in dieser ‚Schwellenzeit‘ verhandelt, welches Wissen um die Vergangenheit erinnert und wie Erinnerungspraktiken konventionalisiert werden. Auch das Interesse für unterschiedliche (ästhetische) Zugriffe der ‚Postmemory‘201-Gene198 Den Zusammenhang zwischen der Konjunktur bestimmter Erinnerungsbestände und dem Sterben von Zeitzeug*innen beschreibt Jan Assmann in seiner Untersuchung zu kollektivem Gedächtnis und kultureller Identität, das wegweisend für den Aufschwung der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung wurde: An die Stelle der Berichte von Überlebenden treten nach deren Ableben andere Formen des Erinnerns. Vgl. Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt: Suhrkamp 1988, S. 9–19. 199 Dass mediale Verschiebungen und damit einhergehende Veränderungen von Öffentlichkeit(en) auch die medialen Rahmenbedingungen von Erinnern beeinflussen, beschreiben Fischer, Hammermeister und Kramer. So habe das Entstehen einer globalen Öffentlichkeit infolge der Erfindung von Google (1998) auch auf das Sprechen über den Nationalsozialismus eingewirkt. Vgl. Fischer, Torben/Hammermeister, Philipp/Kramer, Sven: „Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts. Zur Einführung.“ In: dies. (Hg.): Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Amsterdam: Rodopi 2014, S. 9–25, hier: S. 10. 200 Vgl. Auftakt, Anm. 13. 201 Der Begriff ‚Postmemory‘ wird hier im Anschluss an die Arbeiten von Marianne Hirsch verwendet, die diesen in den frühen 1990er Jahren in einem Artikel über Art Spiegelman’s Maus einführte und ihn seither mehrfach neu definiert und perspektiviert hat. Er bezeichnet jene Generation von Autor*innen und Künstler*innen, die als Nachgeborene keine eigenen Erinnerungen an die Shoah haben (können), sondern sie mittels Geschichten, Bildern oder sozialen

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1. Voraussetzungen

ration auf die Vergangenheit steigt. Diese Debatten um Erinnerungspraktiken bahnen sich bereits in den 1980er Jahren an, als Veröffentlichungszahlen von Überlebendentexten signifikant ansteigen: Constanze Jaiser hat gezeigt, dass sich in den 1960er Jahren die Anzahl von Veröffentlichungen jüdischer Autor*innen das erste Mal erhöhte, bevor sie in den 1970er Jahren zurückging, um in den 1980er Jahren exponentiell anzusteigen.202 Für Österreich lautet Andrea Reiters ähnlicher Befund in Zusammenhang mit der ‚Causa Waldheim‘, dass jüdische Autor*innen seit den späten 1980er Jahren wieder verstärkt auf den Plan treten.203 In dieser Schwellenzeit findet der Übergang vom ‚kommunikativen‘ ins ­‚kollektive‘ oder ins ‚kulturelle‘ (Jan und Aleida Assmann) Gedächtnis statt;204 dass damit neben Veröffentlichungszahlen auch Veränderungen in literarischen Ästhetiken einhergehen, indiziert der Skandal um Binjamin Wilkomirskis vermeintliche Memoiren Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 (1995). Zeitlich markiert er die Schwellenepoche, an der Erinnerung zu einem umkämpften Feld wird, denn er trifft im Kern das intrikate Verhältnis zwischen autobiografisch verbürgter Erinnerung und literarischem Schreiben über die Shoah.205 Nach

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Erfahrungen aus ihrem Lebensumfeld ‚erinnern‘. Sie verbindet ein spezifisches affektives Verhältnis zur Shoah, das unter anderem die vermittelten Erinnerungen der traumatischen Erfahrungen der Elterngeneration prägt. Folglich signalisiert ‚post‘ außer einer zeitlichen Nachfolge auch „an uneasy oscillation between continuity and rupture“, eine „structure of inter- and transgenerational return of traumatic knowledge and embodied experience“ (Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture after the Holocaust. New York: Columbia University Press 2012, S. 6. Vgl. außerdem: Hirsch, Marianne: „Family Pictures: Maus, Mourning and Post-Memory“. In: Discourse: Journal for Theoretical Studies in Media and Culture 15, 2 (1992–93), S. 3–29.) Vgl. Jaiser: „Die Zeugnisliteratur von Überlebenden“, S. 111. Vgl. Reiter, Andrea: Contemporary Jewish Writing. Austria after Waldheim. New York: Rout­ledge 2013. Reiter untersucht „Jews’ (re)appropriation of space in Austria […] in terms of both an actual and a virtual geography“ (ebd., S. 4); ihr relationaler Raumbegriff ist damit auch sozial konturiert. Zur Bedeutung der Waldheim-Affäre für die öffentliche Auseinandersetzung mit Schuld in Österreich vgl. Beilein, Matthias: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin: Erich Schmidt 2008, bes. S. 39–43. Beilein hat auf die tragende Rolle österreichischer Autor*innen in jener Phase der Affäre verwiesen, in der eine Lösung von personalisierten Debatten um Waldheim hin zu allgemeineren und grundsätzlicheren Fragen stattgefunden hat. Dem ‚kommunikativen Gedächtnis‘ ordnet Jan Assmann den Gegenstandsbereich der Oral History zu, sein wichtigstes Merkmal sei ein beschränkter Zeithorizont. Unter dem Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ fasst er „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Widergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektives geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.“ (Vgl. Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, S. 15.) Im Sub-Feld der Shoah-Literatur wird für jene Texte, die den Anschein des Autobiografischen erwecken, die Personalunion von dargestellter figura und realer persona besonders vehement

1.7 Erinnerung, Gedächtnis, ‚Postmemory‘

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­ ositiver Aufnahme durch die Kritik – Wilkomirski wurde in Großbritannien p mit dem Jewish Quarterly Literary Prize sowie dem französischen Prix Mémoire de la Shoah ausgezeichnet206 – verursachte 1998 die Enthüllung in der Schweizer Weltwoche, dass Bruno Dössekker alias Wilkomirski die geschilderten Ereignisse nicht selbst erlebt hat, einen Skandal, infolgedessen Suhrkamp das Buch aus dem Handel nahm.207 Für seine umfassenden Recherchen zum ‚Fall Wilkomirski‘ beschreibt der Schweizer Historiker Stefan Mächler, wie Medienvertreter*innen, Zeitzeug*innen und andere Akteur*innen in der emotional aufgeladenen Debatte Position bezogen haben, als ginge es „bei Wilkomirskis Fälschung um die wichtigste und dramatischste Sache der Welt, zumindest als stünde das Gedächtnis an die Shoah in Frage“;208 unter anderem häufte sich der Verweis, die ‚Fälschung‘ könnte Holocaust-Leugner*innen in die Hände spielen.209 Rückblickend zeigen Intensität und Verlauf der Debatte an, dass der ‚Fall Wilkomirski‘ in einen Zeitraum der Neubestimmung von Shoah-Erinnerung und

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gefordert, wie dies Philippe Lejeune für den ‚autobiografischen Pakt‘ bestimmt hat. Vgl. Le­­ jeune, Philippe: Der autobiografische Pakt [Le Pacte autobiographique, 1975]. Frankfurt: Suhrkamp 1994. Vgl. Huntemann, Willi: „Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocaust-Texten“. In: Arcadia 36, 1 (2001), S. 21–45, hier: S. 21. Vgl. Moser-Kroiss, Judith: „Memorias del infierno – Enrico Marco und der Versuch einer kontrafaktischen Geschichte“. In: Stagl, Justin (Hg.): Sozio-kulturelle Metamorphosen. Heidelberg: Winter 2007, S. 119–127, hier: S. 122. Dössekker musste sich auch juristisch verantworten wegen „arglistig erschlichener Anteilnahme“ (Huntemann: „Zwischen Dokument und Fiktion“, S. 22). Diskursanalytisch interessant ist, dass selbst wissenschaftliche Arbeiten zum ‚Fall Wilkomirski‘ mancherorts ein Vokabular verwenden, in dem eine moralische Beurteilung des Autors mitschwingt: Wilkomirski wird – ohne ironische Distanz oder markierten Sprachgebrauch – beispielsweise als „Betrüger“ und sein Text als „literarischer ‚Fake‘ oder ‚Bluff ‘“ (ebd., S. 22 f.) bezeichnet. Für eine detaillierte Aufarbeitung des Skandals, die Rekonstruktion von Wilkomirskis/Dössekkers Biografie samt deren Versatzstücken ‚authentischer‘ Kindheitserinnerungen sowie deren Integration in Bruchstücke vgl. Mächler: Der Fall Wilkomirski. Zur false-memory Debatte in den USA rund um die (Un)Zuverlässigkeit von Erinnerung in Zusammenhang mit psychoanalytischen Fragestellungen und Kindheitserinnerungen vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 266–278. Vgl. Mächler: Der Fall Wilkomirski, S. 150. Derartige Befürchtungen äußerte der Chefredakteur des Israelitischen Wochenblatts (1901–2001 neben der Jüdischen Rundschau Maccabi (1945–2001) das zentrale Publikationsorgan der Schweizer jüdischen Gemeinschaft mit internationaler Ausstrahlung). Für eine ähnliche Einschätzung vgl. auch den Brief von Hanno Helbling an Suhrkamp (Zitiert von Mächler in: Der Fall Wilkomirski, S. 109). Auch die ‚Authentizität‘ des Tagebuchs der Anne Frank wurde bereits in den 1980er Jahren in revisionistischen Kreisen in Zweifel gezogen und in mehreren Gutachten des BKA (1980, 2006) und des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation untersucht. Vgl.: N.N.: „Anne Frank rehabilitiert“. In: Kultur heute. Deutschlandfunk. Beitrag vom 27. Juli 2006. URL: http:// www.deutschlandfunk.de/anne-frank-rehabilitiert.691.de.html?dram:article_id=49856 [2.4.2021].

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1. Voraussetzungen

diversen Erinnerungskulturen fällt. Nicht nur der Übergang der Erinnerung aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis wird vollzogen, sondern auch Debatten hinsichtlich hegemonialer Erinnerungskulturen werden in den 1990er Jahren ausgetragen210 – das Jahrzehnt wird als Höhepunkt nicht nur deutscher und österreichischer, sondern gar internationaler Erinnerungsdebatten angesehen.211 Innerhalb der Schweizer Erinnerungskultur fällt die Debatte um Wilkomirskis Buch in eine Phase der kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der Schweiz im Nationalsozialismus, die auf internationalen Druck von einer unabhängigen Expert*innenkommission untersucht wurde;212 die Veröffentlichung von deren Ergebnissen löste im Dezember 1999 in den Schweizer Medien vehemente Debatten über die Vergangenheit und das Geschichtsbild der Schweiz aus.213 In Frankreich hielt Jacques Chirac anlässlich der Shoah-Gedenkfeier in Paris am 21. Juli 1995 eine Rede, in der er als erster französischer Präsident Verantwortung für die französische NS-Kollaboration übernahm; auch Frankreich standen damit große Streitigkeiten über Erinnerungskultur und Geschichtsbild ins Haus.214 Dass auch andere europäische Länder begannen, ihre Erinnerungskulturen zu reflek210 Vgl. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 68 ff. 211 Vgl. z.B. Eckel, Jan/Moisel, Claudia: „Einleitung“. In: dies. (Hg.): Universalisierung des Holocaust?, S. 9–25, hier: S. 15. 212 Unter ausländischem Druck hatte die Schweiz eine ‚Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg‘ eingesetzt (UEK; nach ihrem Vorstand auch ‚Beriger-Kommission‘). Sie war im Dezember 1996 von Parlament und Regierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft ins Leben gerufen worden und sollte die „wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen der Schweiz mit den kriegführenden Mächten“ untersuchen sowie die „Dienstleistungen, welche die neutrale Schweiz dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien zukommen liess“ (Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.): Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich: Chronos 2001, S. 17). Der Untersuchungszeitraum schloss auch die Nachkriegszeit und die „staatlichen Massnahmen zur Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte“ (ebd., S. 5) mit ein, stellte also implizit auch Fragen nach dem Umgang mit Geschichtsbild und Erinnerung nach 1945. Eine weitere Expertenkommission untersuchte den „Zustrom von Geldern aus dem ‚Dritten Reich‘ und den besetzten Gebieten zu Schweizer Banken und den Abfluss dieser Werte von den Banken“ sowie den Umgang der Banken nach 1945 mit „denjenigen Geldern, bei denen keine Anspruchsberechtigten mehr erreichbar waren“ (Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.): Nachrichtenlose Vermögen bei Schweizer Banken. Depots, Konten und Safes von Opfern des nationalsozialistischen Regimes und Restitutionsprobleme in der Nachkriegszeit. Zürich: Chronos 2001, S. 18). 213 Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 6. 214 Vgl. Assmann. Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 80. Zur Shoah-Erinnerung in Frankreich vgl. Schmid, Harald: „Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als ‚Holocaustgedenktag‘ in Europa“. In: Eckel/Moisel (Hg.): Universalisierung des Holocaust?, S. 174–202, bes.: S. 189 ff.

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tieren, zeigt schließlich die transnationale ‚Holocaust-Konferenz‘ in Stockholm im Jahr 2000.215 Für Österreich gilt die ‚Causa Waldheim‘ mittlerweile als die Signatur einer sich verändernden öffentlichen Erinnerungskultur – sie löste 1986 neben einer anhaltenden Diskussion um Erinnerungspraktiken auch eine Revision von Österreichs Rolle während des Nationalsozialismus aus. In Deutschland entfachten in den 1990er Jahren mehrere Ereignisse die bundesweite Debatte: erstens die ‚Wehrmachtsausstellung‘ – zwei Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit dem Titel Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 –, die zwischen 1995 und 1999 beziehungsweise 2001 und 2004 zu sehen war. Zweitens die Polemiken um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin – der Anstoß für dessen Errichtung war bereits 1988 gefallen, die Verhandlungen bis zum Beschluss des Bauvorhabens dauerten bis 1999, Baubeginn war erst 2003.216 Drittens die Veröffentlichung von Daniel Goldhagens Mono­ grafie Hitlers willige Vollstrecker (Hitler’s Willing Executioners, 1996), in der ­Goldhagen einen gesamtgesellschaftlichen, eliminatorischen Antisemitismus als ­zentrale treibende Kraft für den Aufstieg des Nationalsozialismus und für den Genozid ausmacht.217 Viertens Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (11. Oktober 1998).218 Walser macht in dieser Rede eine „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“219 aus und kritisiert einen ritualisierten, sich abnützen215 Vgl. dazu: Eckel/Moisel (Hg.): Universalisierung des Holocaust? 216 Vgl. Stiftung Denkmal für die Ermordeten Juden Europas (Hg.): Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Ort der Information. Mit einem Überblick zu Gedenkzeichen und historischen Informationen in der näheren Umgebung. Berlin, München: Deutscher Kunstverlag 2010. 217 Goldhagens These war bereits bei Erscheinen des Buches mehr als umstritten. Kritisiert wurde Goldhagen nicht nur, weil er die Kollaboration der Bevölkerung der besetzten Länder an der Vernichtung vernachlässigte, sondern auch wegen seines selektiven Umgangs mit Quellen im Allgemeinen und wegen seines eingeschränkten und generalisierenden Umgangs mit Primärquellen im Besonderen (vgl. z.B. Birn, Ruth Bettina: „Revising the Holocaust“. In: The Historical Journal 40 (1997), S. 195–215). Auch der deutsche Historiker Hans Mommsen kritisiert Goldhagens monokausalen Erklärungsversuch und die zu schmale Quellenbasis (vgl. z.B. Mommsen, Hans: „Einleitung“. In: Finkelstein, Norman G./Birn, Ruth Bettina: Eine Nation auf dem Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit. Düsseldorf: Claassen 1998, S. 9–22). Trotz oder gerade wegen der Debatte wurden in Deutschland innerhalb weniger Wochen über 80.000 Exemplare des Buches verkauft, die Debatte fand somit auch außerhalb fachwissenschaftlicher Kreise Resonanz (vgl. Schneider, Michael: „Die ‚Goldhagen-Debatte‘ – Ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft“. In: Archiv für Sozialgeschichte, 37 (1997), S. 460–481, hier: S. 461). 218 Diese exemplarische Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern illustriert lediglich die Häufung von Polemiken und Disputen, welche die Annahme einer ‚Schwellenzeit‘ bestätigt, in der (nationale) Erinnerung zu einem umkämpften Feld wird. 219 Walser, Martin: „Erfahrung beim Verfassen einer Sonntagsrede“. In: Schirrmacher, Frank (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt: Suhrkamp 1999, S. 7–17, hier: S. 12.

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1. Voraussetzungen

den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Auschwitz dürfe nicht zur „Drohroutine“ werden, zu einem „jederzeit einsetzbare[n] Einschüchterungsmittel“, zu einer „Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“, denn was „durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebetes“.220 Sein Standpunkt wurde von prominenter Seite ebenso unterstützt (etwa von Walter Jens oder Siegfried Unseld) wie kritisiert, so von Ignaz Bubis, dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland. Er antwortete am 9. November in der Berliner Synagoge auf Walsers Rede und initiierte damit die Kontroverse im engeren Sinne.221 All diese Beispiele, die an anderer Stelle ausführlich dokumentiert und untersucht wurden, weisen das Feld der Shoah-Erinnerung im ausgehenden 20. Jahrhundert als stark umkämpft aus. Walsers Rede von ‚Ritualisierung‘ betrifft konventionalisierte Erinnerungspraktiken bis in die Gegenwart, die auch Robert Menasse kritisiert. So heißt es in seiner Frankfurter Poetikvorlesung: „Die Erinnerung ist aus den Köpfen der Menschen abgewandert in die Festplatte, von der jederzeit Sonntagsreden mit dem Titel ‚Niemals vergessen!‘ runtergeladen werden können, zu denen jeder gelangweilt nickt“.222 Menasses Kritik kann auch als Mediatisierungskritik verstanden werden, die auch einen Aspekt von Schindels Dunkelstein ausmacht: Zur genannten Ritualisierung gesellt sich die ubiquitäre Verfügbarkeit von Bildern von KZ-Opfern oder Leichenbergen (Dokumentationen, Internet, Museen etc.), die sich abnützen und dazu beitragen, dass (sprachliche) Bilder des ‚Shoah-Diskurses‘ semantisch entleert werden. Werden die Bilder häufig reproduziert und sind sie jederzeit verfügbar, erfüllen sie eine ähnliche Funktion wie narrative Strukturmomente und werden damit Teil diskursiver Muster. Die semantische und inhaltliche Organisation von Erinnerungspraktiken und literarischen Texten über die Shoah ist damit in vielen Fällen konventionalisiert und vorhersehbar. Aus der Allgegenwärtigkeit der genannten Bilder, die konstitutiver Teil des kollektiven deutschen sowie österreichischen Gedächtnisses geworden sind, ergibt sich die Frage, wie Literatur zur Repräsentation des Genozids steht. Die Theaterarbeiten von Tabori und Schindel reihen sich in eine literarische Traditionslinie ein, in der die Brechung von Strukturmomenten und Erwartungen, Strategien der Verfremdung sowie Ästhetiken des Grotesken Programm sind (ähnlich den bereits genannten Beispielen für die Prosa wie Romane von Hilsenrath oder Kertész). Solche Ästhetiken tragen zu einer Dynamisierung des literarischen Fel220 Ebd., S. 13. 221 Bubis, Ignaz: „Rede des Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland am 9. November 1998 in der Synagoge Rykerstraße in Berlin“. In: Schirrmacher: Die Walser-Bubis-Debatte, S. 106– 113. Manfred Fuhrmanns im gleichen Band abgedruckte Stellungnahme zu Walsers Rede vermittelt einen ausgewogenen Überblick über kritische und affirmierende Reaktionen darauf. 222 Menasse, Robert: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesung. Frankfurt: Suhrkamp 2006, S. 19.

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des bei, indem gültige Doxa wiederholt in Frage gestellt werden. Dass in vielen Kunstwerken die ‚authentische‘ Darstellung nicht mehr das vordergründige Anliegen ist, hat Terrence Des Pres bereits 1987 in seinem Essay Holocaust Laughter?223 gezeigt. Implizit hat er damit auch eine nachhaltige Veränderung des Sub-Feldes der Shoah-Literatur prognostiziert. Vor allem die Kategorie der ‚Authentizität‘ wurde zum umkämpften Terrain. Einer steigenden Anzahl von Texten sind nicht mehr solche literarischen Strategien eigen, die Authentizität des Dargestellten suggerieren sollen, sondern sie verweisen vermehrt auf ihre eigene Fiktiona­lität.224 Oftmals wird damit auch den Rezipient*innen eine stärkere Leistung für die Bedeutungskonstitution abverlangt, die mit Des Pres als „more active re­sponse“225 zu bezeichnen wäre. So zielen etwa verfremdende Darstellungen, aber auch Ästhetiken des Grotesken darauf ab, der Automatisierung von Wahrnehmung durch literarische Mittel der Verfremdung entgegenzuwirken. An einem Beispiel aus der zeitgenössischen Bühnenpraxis lassen sich einige der genannten Beobachtungen illustrieren: Im Oktober 2013 kam am Wiener Burg­ theater anlässlich des 75. Jahrestages des Novemberpogroms 1938 das unter der Feder von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann eingerichtete Projekt Die letzten Zeugen zur Premiere. Darin inszenierten Rabinovici und Hartmann den Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis, wenn die Symbolstruktur des Textes zeigte, wie Erinnerung nach dem Ableben der Zeitzeug*innen mediatisiert werden kann: Das Format ist am ehesten als Lesung mit szenischen Elementen und symbolisch aufgeladener Choreografie zu bezeichnen, die folgende diverse Akteur*innen auf der Bühne versammelte: sechs Shoah-Überlebende und Verfasser*innen autobiografischer Texte sowie sechs Burgschauspieler*innen, die diese Texte dem Publikum vorlasen. Die Überlebenden waren Rabinovicis Mutter Schoschana, Überlebende des Ghetto Vilnius, verschiedener Konzentrationslager und eines Todesmarschs; der bekannte Publizist Ari Rath, der 1938 mit einem Kindertransport nach Palästina

223 Des Pres, Terrence: „Holocaust Laughter?“. In: Lang, Berel (Hg.): Writing and the Holocaust. New York und London: Holmes & Meier 1988, S. 216–233. Vgl. auch Kapitel 3.6. Jean Cayrol beklagte bereits in „Témoignage et littérature“ (1953), dass die Lagererfahrung zum Inhalt von vorhersehbar konstruierten Bestsellern geworden sei: „Une bonne intrigue concentrationnaire, un bourreau-maison, quelques squelettes, une légère fumée de Krema au-dessus de tout cela et nous pouvons avoir le prochain best-seller qui fera frémir l’Ancien et le Nouveau Monde.“ ­(Cayrol: „Témoignage et littérature“, S. 575–578.) 224 Ein eindringliches populärkulturelles Beispiel von der Abkehr eines Authentizitätsparadigmas sind die explizit kontrafaktischen Geschichtsdarstellungen in Quentin Tarantinos Spielfilm ­Inglourious Basterds (2009) oder, mit geringerem Fokus auf der Shoah als am Faschismus, ­Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008). 225 Des Pres: „Holocaust Laughter?“, S. 232.

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entkam;226 die Roma Ceija Stojka, die mehrere Konzentrationslager überlebte und in Österreich als Autorin und Künstlerin bekannt wurde; Lucia Heilman, die dem Genozid in einem Wiener (Keller)Versteck entkam; Rudolf Gelbard, eines der wenigen Kinder, die Theresienstadt überlebten; Vilma Neuwirth, die als Kind einer sogenannten ‚Mischehe‘ die Shoah in Wien überlebte; Marko Feingold, der eine ab 1939 andauernde Inhaftierung in Auschwitz und Buchenwald überlebte.227 Die ungleichen Biografien der schreibenden Überlebenden sollten der Vielzahl von Lebenswegen während der Shoah Rechnung tragen. Eine große, halb durchsichtige Gaze-Leinwand teilte die Bühne nicht nur in einen vorderen und einen hinteren Bühnenraum, sondern trennte auch die Verfasser*innen der Erinnerungstexte räumlich und symbolisch von den lesenden Schauspieler*innen: Letzteren war der vordere Bühnenraum zugeteilt, wo sie an einem schlichten Stehpult lasen, während die Überlebenden nebeneinander dem Publikum zugewandt hinter der Gaze-Leinwand saßen. Während der Lesung wurden live-Großaufnahmen der Gesichter der jeweiligen Verfasser*innen der Texte auf die Leinwand projiziert und verschiedentlich überblendet mit fotografischem Archivmaterial (aus dem Privatbesitz der Überlebenden sowie aus dem DÖW;228 etwa Fotos der Häuser, in denen die Zeitzeug*innen vor ihrer Deportation gelebt hatten). Am Ende der jeweiligen Lesung wurden die Überlebenden von den Schauspieler*innen an die Bühnenrampe geholt, richteten einige Worte an die Zuseher*innen und verließen die Bühne, die nach den Lesungen leer zurückbleibt. Dieser sukzessive Abschied der Überlebenden war im Theater nur Illusion: Es folgte nicht nur Applaus in Anwesenheit aller Zeitzeug*innen (und Schauspieler*innen) auf der Bühne, sondern auch ein zweiter Teil des Abends mit moderierten Publikumsgesprächen mit jeweils einer Zeitzeugin/einem Zeitzeugen in den Foyers des Burgtheaters. Nachdem die Schauspieler*innen während der inszenierten Aufführung anstelle der Überlebenden gelesen hatten, sprachen diese nun wieder für sich selbst. Jenseits konventioneller Inszenierungen von Zeitzeug*innengesprächen (in Schulen, Museen, Oral-History-Dokumentationen etc.) sind für dieses Projekt zwei Aspekte charakteristisch, die ein komplexes Bedeutungsfeld von Verweisen auf Probleme der Mediatisierung von Erinnerung öffnen, wie sie sich auch für das Erkenntnisinteresse an Schindels Dunkelstein als hilfreich erweisen werden: zum einen die Rolle der verschiedenen Sprecher*innen, zum anderen die kontinuierlichen (symbolischen) Verweise auf Veränderungen in der Shoah-Erinne226 Vgl. Rath, Ari: Ari heißt Löwe. Erinnerungen. Wien: Zsolnay 2012. 227 Ausführliche Biografien der mitwirkenden Zeitzeug*innen finden sich auch im Programmheft zu Die letzten Zeugen. 228 Vgl. Die letzten Zeugen. Programmheft. Wien: Burgtheater 2013, S. 4.

1.7 Erinnerung, Gedächtnis, ‚Postmemory‘

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rung. Schindels und Menasses Kritik an ausufernden Mahnmaldebatten oder ritualisierten Erinnerungspraktiken setzen Rabinovici und Hartmann die Rückkehr zu einer unmittelbaren Begegnung mit Träger*innen des ‚kommunikativen‘ Gedächtnisses entgegen – gleichwohl im Projekttitel daran erinnernd, dass diese Möglichkeit zeitlich beschränkt ist (die letzten Zeugen als Stellvertreter der wenigen noch lebenden Zeitzeug*innen). Die Co-Präsenz von Überlebenden auf der Bühne und Theaterbesucher*innen im Zuschauerraum wird im zweiten Teil des Abends um die Möglichkeit tatsächlicher Interaktion vertieft: Das Sprechen wird symbolisch aus dem offiziellen Raum der Theaterbühne in den privateren und anders codierten Raum des Foyers verlegt; im Gegensatz zum monologischen Sprechen der Schauspieler*innen auf der Bühne, das einseitiges Zuhören verlangt, steht er für dialogisches Sprechen mit Interaktionsmöglichkeiten. Der erste Teil des Abends inszeniert einen Gegensatz zu diesem privaten, dialogischen Sprechen insofern, als er Sprechen in Stellvertreterschaft inszeniert: Wenngleich die Überlebenden im übertragenen Sinne zu Wort kommen (ihre Texte werden gelesen), wird eine jüngere Generation zu ihren Sprachrohren, während sie als passive Zuhörer*innen wie schweigende Museumsexponate betrachtet werden. Ihre Gesichter sind noch bewegt, werden jedoch bald ebenso auf Archivmaterial reduziert sein wie die Archivfotos, die neben der live-Projektion ihrer Gesichter stehen. Hinter der Gaze-Leinwand lässt sich die Anwesenheit der Überlebenden zwar erkennen, jedoch steht die mediale Vermittlung dieser Anwesenheit (live-Projektion) im Mittelpunkt, während die nachfolgenden Generationen bereits das Sprechen für sie übernommen haben. Indem an die Stelle der Materialität des Körpers der Überlebenden deren medial­ vermitteltes Bild – anders gesagt, deren Simulacrum – tritt, inszeniert Die letzten Zeugen den Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis. Darauf verweist jener Teil der visuellen Einrichtung, der die live-Projektionen der Gesichter der Überlebenden mit dem oben beschriebenen visuellen Archivmaterial kombiniert und sie damit auch visuell in das Paradigma eines rein medial vermittelten Gedächtnisspeichers stellt. Noch in einer anderen Weise jedoch wird dieser Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis in Die letzten Zeugen symbolisiert: Hinter der Leinwand, jedoch vor den Zeitzeug*innen, schreibt eine sitzende Frau das Gelesene ‚live‘ mit. Der Vorgang des Transkribierens der vorgelesenen Texte akzentuiert nicht nur den Übergang ins kulturelle Gedächtnis, sondern auch die Übertragung in ein anderes Speichermedium: Die Trennung des Bühnenraums wurde oben als Symbolisierung des Übergangs von einem Gedächtnismedium (kommunikativ) in das andere (rein medial vermitteltes kulturelles) bezeichnet; analog dazu veranschaulicht der Akt des Mitschreibens den Übergang zwischen zwei Symbolisierungssystemen – dem Oralen und dem Schriftlichen. Zwar ver-

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1. Voraussetzungen

schriftlicht die Frau einen Text, der bereits schriftlich vorliegt, jedoch setzt diese Mitschrift im Symbolsystem der Bühnensprache den Akt des Aufschreibens in ­Szene. Schließlich symbolisiert den Moment des Übergangs in Die letzten Zeugen auch folgender Teil der Inszenierung: Nachdem die Schauspieler*innen nach ihrer jeweiligen Lesung den ihnen zugeordneten Bühnenraum verlassen, holen sie die jeweilige Verfasserin/den jeweiligen Verfasser des von ihnen gelesenen Textes an die Bühnenrampe und gehen danach ab. Dass am Ende lediglich leere Stühle auf der Bühne bleiben, indiziert das Sterben des kommunikativen Gedächtnisses und den Übergang in das kulturelle. All diese Übergangsszenarien verweisen auf paradigmatische Veränderungen in der gegenwärtigen Erinnerungslandschaft: Die Materialität des Körpers der Überlebenden wird ersetzt durch die Projektion ebendieser Körper, ihre Stimme durch die Stimme der nachfolgenden Generationen; ihre Erzählungen werden im Medium der Schrift konserviert, visuelle Bilder von ihnen in Archive eingegliedert. Wenn am Ende des Stückes die Stühle auf der Bühne leer sind, bleiben die Archivfotos und das schriftliche Transkript und treten an die Stelle der Körper der Überlebenden.229 Indem bei Rabinovici und Hartmann das Simulacrum an die Stelle des ‚authentischen‘ Körpers treten kann, wird die Frage danach, wodurch die Körper der Überlebenden ersetzt werden können, nicht problematisiert. In vielen literarischen Texten von Autor*innen der Postmemory-Generation ist dieser Übergang jedoch unbestimmter und wesentlich stärker umkämpft. An der bei Rabinovici und Hartmann kontinuierlichen Präsenz der Bilder des Übergangs entfaltet sich jenes Problemfeld der Mediatisierung der Shoah-Erinnerung, das auch Tabori und Schindel verbindet: Während Tabori ab den 1960er Jahren den Körper als zentralen Erinnerungs- sowie als neuen Zeichen- und Bedeutungsträger in Szene setzt, beschäftigt Schindel das Verschwinden dieses Körpers und die Frage, was an dessen Stelle treten kann. Anders als Rabinovici und Hartmann beschränkt sich Schindel in Dunkelstein zwar nicht auf biografisch-subjektives Erinnern, ihn beschäftigen jedoch trotzdem diverse Möglichkeiten der Mediatisierung am Übergang zweier Gedächtnisformen. So stellen Tabori wie Schindel unter den stark differierenden erinnerungsdiskursiven Bedingungen ihrer Schreibkontexte die Frage nach der Mediatisierung von Shoah-Erfahrung und Erinnerung. Viele der oben genannten Debatten der 1990er Jahre (‚Goldhagen-Debatte‘ etc.) seien zwar für die Bedeutung einer „erinnerungskulturellen Selbstverständigung der jungen Berliner Republik, ihrer gesellschaftlichen Reichweite und öffentlichen Wahrnehmung kaum zu überschätzen“, so Fischer, Hammermeister 229 Ceija Stojka verstarb im Laufe der Projektvorbereitungen. An sie erinnerte ein leerer Stuhl, der auch auf die von ihr hinterlassene Lücke im kommunikativen Gedächtnis verwies.

1.7 Erinnerung, Gedächtnis, ‚Postmemory‘

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und Kramer, haben jedoch in den folgenden Jahren „keine bruchlose Fortsetzung“230 erfahren. Auf die Literatur wirkte sich diese erinnerungskulturelle Veränderung jedoch insofern aus, als sich zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten „der Holocaust-Diskurs von der Literatur entfernt und in Gedenkstätten und Museen verlagert“231 habe, so Ernestine Schlant. Verschiebungen in der Funktion und Rolle der Literatur spiegeln sich auch in literaturgeschichtlichen Veränderungen und literarischen Verfahren und Ästhetiken, die im Sub-Feld (re-)aktiviert werden. Beispielsweise zeigt sich für die Erinnerungsepoche des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, dass unterschiedliche Erinnerungspraktiken oder Gedächtnistheorien vermehrt Thema der Literatur sind und so als Indikatoren auch für wissensgeschichtliche Verschiebungen lesbar werden (z.B. Rabinovicis Suche nach M., 1997 und Die Außerirdischen, 2017; Jáchym Topols Die Teufelswerkstatt, 2010 [Chladnou zemí, 2009]; Robert Menasses Doktor Hoechst, 2013). Schreibverfahren, welche die Shoah in den Subtext verschieben und damit deren schwierige Zugänglichkeit in einer ‚Poetik der Abwesenheit‘ reflektieren, u ­ ntersucht etwa Axel Dunker am Beispiel von Elfriede Jelinek, W. G. Sebald oder Georges Perec. Für den oben beschriebenen Zeitraum der ‚Schwellenzeit‘ konstatiert Dunker, es lasse sich „heute [2003] keine bedeutende Literatur zum Holocaust mehr vorstellen, die das Problem der Repräsentierbarkeit und den zunehmenden zeitlichen Abstand nicht reflektiert.“232 Es handle sich dabei um Schreibverfahren, welche „auf die Abwesenheit anders als mit realistischer Repräsentation oder diskursiver Thematisierung reagieren“233 und die somit vergleichbar mit den ephemeren Denkmälern von Horst Hoheisel oder Jochen Gerz seien. Veränderte gedächtnistheoretische und erinnerungspraktische Voraussetzungen für literarisches Schreiben gehen mit Umgestaltungen in Schreibverfahren einher; deren Zusammenspiel zeigt sich auch in einer Evolution literarischer Ästhetiken. An Dunkers Untersuchung lässt sich ablesen, dass sich infolgedessen auch das Sub-Feld der Shoah-Literatur verändert. War es in den 1960er Jahren vor allem thematisch abgegrenzt – jeder Text, der darin partizipierte, musste sich mit der Shoah beschäftigen (s. oben) –, ist eine thematische Abgrenzung im beginnenden 21. Jahrhundert weniger eindeutig beschreibbar. Die steigende Zahl von Texten, welche die eigenen Darstellungsmöglichkeiten verstärkt einer Reflexion unterziehen, haben Berg, Joachimsen und Steigler in 230 Fischer/Hammermeister/Kramer: „Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts“, S. 12. 231 Schlant: Die Sprache des Schweigens, S. 14 f. 232 Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 289. 233 Ebd., S. 14.

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1. Voraussetzungen

ihrem Sammelband zu Formen der Shoah-Erinnerung bereits Mitte der 1990er Jahre verzeichnet: Die Infragestellung der Aussagbarkeit und Tradierbarkeit der Shoah wurde abgelöst durch eine Reflexion über die Darstellungsformen und ihre Voraussetzungen und Konsequenzen. An die Stelle der Problematisierung von Darstellbarkeit überhaupt trat eine Analyse der verschiedenen Formen des Ausgesagten und Dargestellten. Die Erinnerungsformen, die in Augenzeugenberichten und Romanen, Kunstwerken und Denkmälern, aber auch in historischen und philosophischen Theorien deutlich werden, wurden zum Gegenstand der Untersuchung.234

Derartige ästhetische Verschiebungen lassen sich exemplarisch auch zwischen Taboris Die Kannibalen und Schindels Dunkelstein, entstanden im Abstand von über 40 Jahren, offenlegen. Beide Autoren beziehen sich auf verschiedene Formen der Aussag- und Darstellbarkeit, allerdings haben sich Fokus und Voraussetzungen der Betrachtung verschoben: Sie hängen wesentlich mit den Erinnerungsepochen zusammen, in denen Tabori und Schindel als Autoren in Erscheinung treten. Ihre ‚Deutungsversuche‘ der Shoah (Berg/Joachimsen/Steigler) sind untrennbar verbunden auch mit historisch dominanten Formen des Erinnerns sowie mit zeitgenössischen Gedächtnistheorien und Erinnerungspraktiken; als ‚Deutungsversuche‘ können sie gelten, da Erinnerung immer als Deutungen des Vergangenen zu verstehen ist. In den vorhergehenden Kapiteln, die diskursive, ästhetische und erinnerungskulturelle Voraussetzungen für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Dramen der beiden Autoren skizziert haben, sind Begriffe wie ‚grotesk‘, ‚das Groteske‘ oder ‚Ästhetiken des Grotesken‘ bereits mehrfach gefallen; einer theoretischen Konzeptualisierung der ästhetischen Kategorie des Grotesken gilt das folgende Kapitel.

234 Berg, Nicolas/Jochimsen, Jess/Stiegler, Bernd: „Vorwort“. In: dies. (Hg.): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München: Fink 1996, S. 7–11, hier: S. 7.

2. ÄSTHETIKEN DES GROTESKEN Die 1960er Jahre und das frühe 21. Jahrhundert lassen sich, so wurde gezeigt, als Erinnerungsepochen beschreiben, an denen diskursive und mediale Veränderungen auftreten: Für die 1960er Jahre zeichnet sich eine erste Konsolidierung diskursiver Konventionen im Sub-Feld der Shoah-Literatur ab, beispielsweise hinsichtlich philosemitischer Darstellungen von ‚Juden‘. Auch literaturästhetische Debatten über die ‚Darstellbarkeit‘ der Shoah laufen mit der Rezeption von Adornos Thesen in Preisreden oder Poetik-Vorlesungen an.1 Im beginnenden 21. Jahrhundert rufen gesellschaftspolitische Einschnitte sowie mediale Zäsuren – die ‚dritte Medienrevolution‘ samt ihren Auswirkungen auf Gedächtnistheorien und Erinnerungspraktiken – erneute Reflexionen nach Darstellungsformen sowie nach Formen und Prozessen kollektiver Erinnerung auf den Plan. Damit werden in beiden Erinnerungsepochen Fragen nach der Beschaffenheit von (gesellschaftlichen, politischen, medialen, gedächtnistheoretischen) Ordnungssystemen virulent. Gerade an diesen Erinnerungsepochen sind Ästhetiken des Grotesken verstärkt aktiv: Auffallend ist, dass die 1960er Jahre ebenso ein steigendes Interesse an ‚dem Grotesken‘2 in Literatur und Wissenschaft verzeichnen wie das beginnende 21. Jahrhundert.3 Mit dieser Beobachtung ist ein erstes zentrales Charakteristikum des im Folgenden verwendeten Groteskenbegriffs aufgerufen: Bezüge zwischen Ästhetiken von literarischen Texten und außerliterarischen Diskursen sind zu berücksichtigen, denn Veränderungen in sozialen Realitäten der Autor*innen tragen wesentlich dazu bei, Ästhetiken des Grotesken zu bestimmten Zeitpunkten zu (re-)aktivieren. Es gibt eine komplexe Ästhetik des Grotesken, die mittels unterschiedlicher literarischer Verfahren konstituiert werden kann und die in verschiedene Bezie1

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Vgl. z.B. Peter Weiss’ Rede anlässlich der Verleihung des Lessingpreises oder Wolfgang Hildesheimers Poetik-Vorlesung: Weiss, Peter: „Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. Rede anläßlich der Entgegennahme des Lessingpreises der Freien Hansestadt Hamburg am 23. April 1965“. In: Kiedaisch: Lyrik nach Auschwitz?, S. 92–98. – Hildesheimer, Wolfgang: „Die Wirklichkeit des Absurden. Frankfurter Poetik-Vorlesung“ [1964]. In: Ebd., S. 98–101. Der in der Groteskenforschung verwendete Singular ‚das Groteske‘ suggeriert ästhetische Homogenität, wo sie nicht anzutreffen ist, weshalb ich es vorziehe, von ‚Ästhetiken des Grotesken‘ zu sprechen. Wenn ich mich auf die Groteskenforschung beziehe, verwende ich jedoch den dort konventionalisierten Begriff ‚das Groteske‘. Vgl. z.B. die Monografien von Peter Fuß, Alexander Scheidweiler und Dorothea Scholl: Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001. – Scholl, Dorothea: Von den ‚Grottesken‘ zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance. Münster: Lit Verlag 2004. – Scheidweiler, Alexander: Maler, Monstren, Muschelwerk. Wandlungen des Grotesken in Literatur und Kunsttheorie des 18. und 19. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.

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2. Ästhetiken des Grotesken

hungen zu anderen Ästhetiken tritt. Ihrer Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit werden besonders solche Definitionsversuche nicht gerecht, die sie mithilfe von Motivrekurrenzen oder strukturmanipulativen Verfahren (s. unten) beschreiben. Vielmehr muss die Bedeutung soziokultureller Bezugssysteme besonders dann in den Blick genommen werden, wenn man die auffällige Konjunktur eines Interesses am Grotesken an Epochenzäsuren bedenkt. Folglich bietet sich die Verwendung eines sprechakttheoretischen Ästhetikbegriffs an, der soziale, historische oder politische Entstehungsbedingungen berücksichtigt. Zum Zeitpunkt seiner Begriffsprägung um 1500 bezeichnet ‚grotesk‘ eine spezifische Art zu malen, erst einige Dekaden später verschiebt sich die Bedeutung in ein alltagssprachliches Register: Entsprechend ihrem Herkunftsort in vermeintlich unterirdischen Räumlichkeiten bezeichnet das italienische ‚grottesche‘ in seiner ursprünglichen Begriffsverwendung4 eine spezifische ornamentale Malerei: Sie vereint Ornamente aus Pflanzen, menschlichen sowie tierischen Motiven, die sich oftmals um andere bildliche Darstellungen ranken und dadurch ein ästhetisches Gegengewicht zu den visuellen Zentren der (Wand-)Gemälde bilden. Von dieser klar konturierten kunstgeschichtlichen Begriffsverwendung hält der Begriff ‚grotesk‘ über die französische Malerei5 Einzug in den Alltagsgebrauch,6 mit dem ein Verlust eindeutiger Bedeutungsfixierung einhergeht. Im weitesten Sinne bezeichnet ‚grotesk‘ nun verzerrte, divergente, absonderliche Erscheinungsformen und ist mittlerweile Teil eines alltagssprachlichen Registers. Daran anschließend beschreibt Dorothea Scholl in ihrer romanistischen Habi-

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Die etymologischen Ursprünge in der Freskengestaltung der Domus Aurea, seinerzeit Palast von Nero und um 1480 in Rom entdeckt, verweisen gemäß den im Laufe der Jahrhunderte tief ins Erdreich versunkenen Relikten der Domus Aurea auf dessen unterirdischen Auffindungsort (‚grotte‘, also Grotten beziehungsweise Höhlen). Für 1502 ist die erste schriftliche Verwendung des Begriffs in einem Vertrag über die Malereien in der Bibliothek des Doms von Siena beglaubigt. Vgl. Rosen, Elisheva: „Grotesk“. In: Brack, Karlheinz/Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/ Steinwachs, Burkhart/Wolfzettel, Friedrich (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 2, Stuttgart und Weimar: Metzler 2001, S. 876–900, hier: S. 880. Rosen beschreibt die Aneignung dieser Ornamentik in der Renaissance durch Raffael oder Giovanni Battista im Vatikan sowie deren Ausbreitung über Renaissancepaläste oder Kirchen bis nach Schloss Fontainebleau und in die französische Malerei. Vgl.ebd., S. 876. Im deutschen Sprachraum ist ‚grotesk‘ das erste Mal in Johann Fischarts Affentheuerlich Naupengeheuerliche Geschichtsklitterung (1575) belegt, einer ‚experimentellen‘ Übertragung von Francois Rabelais’ Gargantua und Pantagruel (erschienen 1532–1564) ins Deutsche. Fischart verwendet den Begriff im Kompositum ‚grubengrotteschisch‘ in der Bedeutung von ‚seltsam gestaltet‘ und erläutert ihn anhand einiger Beispiele. Vgl. „Groteske“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. URL: https://www.dwds.de/wb/Groteske [2.4.2021]. Zur begrifflichen Expansion im Französischen, Deutschen und Englischen vgl. Rosen: „Grotesk“, S. 883–886.

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litationsschrift den Übergang vom „kunsttheoretisch gefaßten ‚Grottesken‘ zu einer literaturtheoretischen Konzeption des ‚Grotesken‘ im Sinne der Modernität“7 in der Periode der Renaissance. Für den deutschen Sprachraum nennt Alexander Scheidweiler Justus Möser mit seinem Essay Harlekin oder Verteidigung des Groteske-Komischen (1761) als ersten Theoretiker des Grotesken:8 In einer detaillierten Analyse liest er Harlekin als anti-akademische Apologie des Grotesk-Komischen, die sich gegen den abstrakten Rationalismus der Aufklärung stellt9 und die überdies im Kontext klassizistischer Angriffe auf das Groteske zu lesen ist. Im Zuge dieser konzeptuellen Ausdifferenzierung wird das Groteske als ästhetisches Phänomen konzipiert und dessen Bewertung Aushandlungsort auch ideologischer Positionen und Weltanschauungen. Beispielsweise bringt Scheidweiler den Klassizismus Winckelmann’scher Prägung und dessen Aufwertung des geglätteten Körpers, der sich vom ‚grotesken Körper‘ absetzt, in Verbindung mit kulturellen Interessen des Bürgertums.10 Dessen neuer, ‚bürgerlicher Körper‘ erscheine, so Scheidweiler, nur dann akzeptabel, wenn er „hochgradig sublimiert, geglättet und in die Sprache des Geistes übersetzt“11 werde. Wenn hier die Ausdifferenzierung des Grotesken zu einer ästhetischen Theorie in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Winckelmann und Möser genannt wird, so geschieht das, um aus diesen historischen Positionen Groteskentheorien auch als Manifestationen des Ideologisch-Politischen offenzulegen und damit auch eine Perspektive hin zur Shoah-Groteske zu erschließen. Damit ist auf Winckelmann und Möser zurückzukommen: Winckelmanns Neuinterpretation griechischer Statuen bildet „die identifikatorische Szene für ein neues Verständnis des Subjekts, das seine Legitimation nicht mehr aus feudaler und metaphysischer Ordnung, sondern aus der Natur des Körpers bezieht“,12 so Klaus Schneider. Damit entwerfe dieser „das eindringliche Bild einer Selbstbestimmung aus präsenter Körperlichkeit, bei dem die demonstrierte Freiheit des Körpers von gesellschaftlicher Disziplinierung […] Freiheit von jeder Ordnung überhaupt und befreite Sinnlichkeit signalisiert.“13 Wenn Winckelmann nicht am empirisch nachvollziehbaren Körper festhält, sondern von einer „bewuß7 Scholl: Von den ‚Grottesken‘ zum Grotesken, S. 7. 8 Vgl. Scheidweiler: Maler, Monstren, Muschelwerk, S. 85. 9 Vgl. ebd., S. 87–89. 10 Vgl. ebd., S. 237–240. 11 Ebd., S. 238. Scheidweilers vorrangiges Interesse gilt dem „Bedeutungswandel des Grotesken im Sinne der Entkörperlichung und des damit einhergehenden Verlusts der Komik“ (ebd., S. 463), die er an einem breiten Spektrum literarischer und kunsttheoretischer Texte von Möser, Raimund, Tieck, E.T.A. Hoffmann, Schlegel bis hin zu Karl Immermann nachvollzieht. 12 Schneider, Klaus: Natur – Körper – Kleider – Spiel: Johann Joachim Winckelmann. Studien zu Körper und Subjekt im späten 18. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 1. 13 Ebd., S. 121.

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ten Wirklichkeitskonstruktion mit demonstrativen [sic] Charakter“ ausgeht, sei daraus zu schließen, dass Winckelmann Hierarchie und Pedanterie der deutschen Gesellschaft vorführen wolle.14 Damit sollten Bilder von Nacktheit und Verhüllung auch die Befreiung „von den als Mode deklarierten Zeichen der gesellschaftlichen Ordnung“15 proklamieren. Damit ist jene idealistisch-demokratische klassizistische Grundhaltung aufgerufen, der in Scheidweilers Untersuchung eine untergeordnete Rolle zukommt, die jedoch vor allem dann relevant wird, wenn man die ideologische Indienstnahme des Körpers in der NS-Kunst untersucht; sie spielt ihrerseits für eine Konturierung der Shoah-Groteske eine Rolle. Zuvor seien Körperbilder in der NS-Plastik, für die Klaus Wolbert bereits Anfang der 1980er Jahre den Zusammenhang zwischen Ästhetik und Ideologie eindrücklich herausgestellt hat, in den Blick genommen: Aufgrund evidenter formaler Kontinuitäten, die aus früheren ­Bildinventaren in die NS-Kunst einfließen, plädiert er für die Notwendigkeit, eine formale Auseinandersetzung mit NS-Kunstwerken mit einer Analyse von Körperkonzepten, Rezeptionsweisen und ästhetischen sowie ideologischen Programmen zu verbinden.16 Der klassizistische, meist nackte Körper zeigt sich in der NS-Plastik ebenso idealistisch überformt wie in Winckelmanns Kunstprogramm, allerdings entbehrt er der emanzipatorischen Gehalte des Klassizismus des 18. Jahrhunderts. Statt des humanistischen Elements setzt er auf eine elitäre Körperkonzeption, die Wolbert als mit „Substanzialität, mit elitärem Geist, mit vitaler Macht und Pracht, mit irrationalen Seelenkräften und animierender Erotik“ aufgeladen bezeichnet, dem das Potential „eines politisch längst ins Reaktionäre tendierenden Menschenbildes“17 innewohnt. Diese konzeptuelle Trennung zwischen der klassizistischen Form der Skulpturen und dem Klassizismus als geistesgeschichtlicher Kunst- und Welthaltung muss berücksichtigt werden, um die Spezifizität der NS-Kunst zu konturieren: Die Loslösung des klassizistischen Körpers von emanzipatorischen Anliegen entfernte ihn auch von jenen politischen Agenden, die für Gleichheit,

14 Vgl. ebd. 15 Ebd., S. 124. 16 Vgl. Wolbert, Klaus: Die Nackten und die Toten des ‚Dritten Reichs‘. Folgen einer politischen Geschichte des Körpers in der Plastik des deutschen Faschismus. Gießen: Anabas 1982, S. 9. Für die Verknüpfung von NS-Forschung und Körpergeschichte war Klaus Theweleits Männerphantasien (1977/78) ein Wegbereiter, der einen zentralen historiografischen Beitrag zur Körper- und Geschlechtergeschichte des Faschismus leistete. Theweleit entleiht methodische und konzeptuelle Zugriffe dem Arsenal psychoanalytischer und postmoderner Theorien, nicht zuletzt den Arbeiten von Gilles Deleuze und Felix Guattari. Vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte [1977]. Band 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors [1978]. München: Piper 2000. 17 Wolbert: Die Nackten und die Toten des ‚Dritten Reichs‘, S. 27.

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Freiheit, Aufklärung usw. eintraten. Gerade dadurch werde der nackte Körper auch in der NS-Ideologie zu einem politischen Körper insofern, als die Begriffe, „die das nackte klassische Ideal ehemals positiv bestimmten“, aus diesen Konzeptionen „in neuer Zurüstung“18 hervorgingen. Der klassizistische Körper ist ohne seinen Antipoden, den hässlichen Körper, nicht zu denken. Indem das idealisierte Schöne der NS-Kunst in Stellung gebracht wurde gegen das Hässliche der sozialen und politischen Realität der Demokratie, der Großstadt und der ‚Proletarier‘, zeigt sich dessen Funktion „innerhalb der Klassenkämpfe bzw. der faschistischen Ideologie“:19 Die Identifikation der Kunst mit diesem Ideal der ‚Schönheit‘ fungierte auch als Wegbereiter einer Ideologie, die nicht nur die Abschaffung ‚hässlicher Kunst‘ forderte (d.h. die Kunst der Moderne), sondern in weiterer Folge auch die Liquidierung alles als ‚hässlich‘ Ausgesonderten – im Besonderen kranker, beeinträchtigter, ,jüdischer‘, homosexueller usw. Menschen. Wenn die ‚Schönheit‘ des nackten Körpers in der NS-Plastik als „Maßstab des Lebenswertes“ gilt, beinhaltet er auch „die Anweisung zum Mord“, so Wolbert: Das übersteigerte Maß der ‚Schönheit‘ lieferte „intentional all diejenigen der Knechtung und Vernichtung aus, die ihrem ästhetischen Anspruch nicht genügen konnten.“20 Dem Ewigkeitsanspruch des idealen Körpers stehen die Körper realer Menschen gegenüber, die für den Tod im Krieg, als Produktivkraft, in Konzentrationslagern vorgesehen sind. Diese Verbindung zwischen Kunstästhetik und (politischer) Ideologie führt direkt in ein Spannungsfeld abseits alltagssprachlicher oder kunstgeschichtlicher Bezugsgrößen, das zwischen den beiden zentralen Traditionslinien der Groteskenforschung21 des 20. Jahrhunderts entsteht: Wolfgang Kaysers motivgeschichtliche Arbeit Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung (1957) prägte vor allem die deutschsprachige Groteskenforschung; Michael Bachtins gattungstheoretisch geschulte Studie Rabelais und seine Welt (196522) wurde vor 18 19 20 21

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Ebd., S. 206. Ebd., S. 223. Ebd., S. 234. Ein Überblick über einige zentrale Positionen der Groteskenforschung seit Ende des 19. Jahrhunderts findet sich bei Scheidweiler (vgl. Scheidweiler: Maler, Monstren, Muschelwerk, S. 49–83): Er skizziert die Positionen von Schneegans (das Groteske als Form der Satire), Kayser (das Beunruhigende und die Entfremdung), Bachtin (das Groteske als „Ausdruck einer heiteren Volkskultur, die auf einem bestimmten Körperverständnis“ beruhe; ebd., S. 75), Hans Robert Jauß (der das Groteske als „spezifisch mittelalterliche Form des Häßlichen“ verstehe; ebd., S. 75), Pietzcker (die enttäuschte Erwartungshaltung vonseiten der Rezipient*innen), Geoffrey G. Harp­ ham (das Groteske „als Grenzphänomen zwischen Kunst und Welt“; ebd., S. 75) sowie Fuß (das Groteske als Medium des kulturellen Wandels). Kayser, Wolfgang: Das Groteske in Malerei und Dichtung [1957]. Nachdruck der Ausgabe von 1957. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2004. In Folgenden Zitation im Fließtext: GMD. Die häufig zitierte, 1960 bei Rowohlt erschienene Ausgabe weist im Vergleich zu dieser Neuauflage einige Kürzungen

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allem im Zuge des ‚cultural turns‘ breit rezipiert. Obwohl ungefähr zeitgleich entstanden, offenbaren sich in den beiden Arbeiten deutliche Unterschiede in Erkenntnisinteresse, methodischer Herangehensweise sowie der weltanschaulichen Konzeption des Grotesken. Wolfgang Kayser (1906–1960) war im deutschsprachigen Kanon universitärer Lehre vor allem mit Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft (1948) bis in die 1960er Jahre wegweisend und schulbildend für die werkimmanente Methode literaturwissenschaftlicher Hermeneutik. Dass Kaysers Arbeiten ideologisch nicht unbelastet sind, zeigen nicht nur seine Parteimitgliedschaft in der NSDAP ab Mai 1937 und seine Mitgliedschaft in der SA (1933–1938),23 sondern auch seine Forschungsarbeiten: Nach einer Promotion im Feld der Barockforschung habilitierte er sich über die Geschichte der deutschen Ballade (1938); sowohl darin als auch in der Untersuchung über Bürgerlichkeit und Stammestum in Theodor Storms Novellendichtung (erschienen 1938) lässt sich laut Wilhelm Voßkamp ein „völkischer Tonfall […] nicht überhören, wo nach Wandelbarkeit oder dem Unwandelbaren der ‚durch Rasse und Blut bestimmten Einheit‘ des Menschen gefragt wird.“24 Dass Kayser oft als Zugpferd der werkimmanenten Methode genannt wird, kritisiert Voßkamp mit dem Hinweis auf Kaysers bevorzugte Arbeitsfelder der Vers-, Stil-, Gattungs- und Motivgeschichte und auf Kaysers Interesse an „Sinn- und Funktionseinheit literarischer Werke und deren poetologischer Gesetzlichkeit“.25 Von motiv- und stilgeschichtlichem Interesse bei gleichzeitiger Missachtung sozialgeschichtlicher Kontexte zeugt auch Kaysers Untersuchung des Grotesken, die bis Anfang der 1980er Jahre wegweisend für die deutschsprachige Groteskenforschung war26 und erst durch die verstärkte Rezeption von

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auf; deshalb orientiert sich das Folgende an der Ausgabe von 2004. – Bachtin, Michael: Tvorchestvo Fransua Rable i narodnaia kul’tura srednevekov’ia i renessansa [Das Schaffen von François Rabelais und die Volkskultur in Mittelalter und Renaissance]. Moskau: Khudozhestvennaia literatura 1965. Vgl. Maier, Heidi-Melanie: „Wolfgang Johannes Kayser“. In: König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Band 2. Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 904–906, hier: S. 904. Nach seinem aktiven Kriegsdienst zwischen Dezember 1939 und Januar 1941 lehrte Kayser in den Jahren 1941–1950 an der Universität Lissabon. Im Zuge der Entnazifizierung als ‚Mitläufer‘ eingestuft, konnte er ab 1950 seine Arbeit an der Universität Göttingen aufnehmen. Voßkamp, Wilhelm: „Wolfgang Kayser (1906–1960)“. In: König, Christoph/Müller, Hans-Harald/Röcke, Werner (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Berlin, New York: de Gruyter 2012, S. 235–238, hier: S. 235. Voßkamp zitiert Kayser, Wolfgang: Stammestum bei Storm. Berlin 1938, S. 9 und S. 68. Voßkamp: „Wolfgang Kayser“, S. 237. Noch 1980 orientiert sich der Großteil der Beiträge in dem von Otto Best herausgegebenen Sammelband Das Groteske in der Dichtung an Kaysers Groteskenbegriff. (Vgl. Best, Otto F.: Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980.) Allerdings inkludiert Best auch einen Beitrag von Bachtin über die Körpergroteske mit dem Titel „Die groteske Gestalt des Leibes“, die dem 1969 bei Hanser erschienenen Band von Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur entnommen ist. (Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karne-

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Bachtins Arbeiten ab den 1980er Jahren partiell abgelöst wurde. In Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung spiegelt sich dieses motiv- und stilgeschichtliche Interesse in Kaysers Anliegen, eine „genauere Bestimmung des Grotesken überhaupt“ (GMD 10) vorzunehmen, also epochen- und gattungsübergreifende Entwicklungslinien offenzulegen. Dabei zeigt sich ein Hang zu in den 1950er Jahren nur sehr begrenzt vorliegenden intermedialen Forschungsansätzen,27 schließlich steht gegen Beginn der Monografie ein virtueller Rundgang durch die Gemäldegalerie im Prado – die/der Leser*in spaziert so von Diego Velasquez über Francisco de Goya und Hieronymus Bosch bis zu Pieter Bruegel d. Ä.; Beispiele aus der Kunstgeschichte bleiben, dem Titel folgend, zahlreich. Sein Weg in den Prado veranschaulicht nicht nur Kaysers Anliegen einer auch kunstspartenübergreifenden Untersuchung, sondern führt ihn auch an den begrifflichen Ursprung des Adjektivs ‚grotesk‘ in der Ornamentik (vgl. GMD 21).28 Das epochen-, kunst- und gattungsübergreifend Verbindende zwischen den analysierten Werken, für die er ‚das Groteske‘ als konstitutiv sieht, beschreibt er als literarische Artikulation der Erfahrung einer „sich verfremdenden“ beziehungsweise „entfremdeten“29 Welt. Die Einsicht einer „aus den Fugen gehenden […] Welt“ (GMD 45) bedinge eine motivische Häufung ‚des Monströsen‘, ‚Grauenvollen‘ und ‚Unheimlichen‘, die das Groteske für ihn als beunruhigende, destabilisierende, ‚monströse‘ Ästhetik konturieren. In Kunst und Literatur häufe sich diese Ästhetik folglich in „drei Epochen, die nicht mehr an das geschlossene Weltbild und die bergende Ordnung der vorangehenden Zeiten“ anknüpfen konnten, als die Kayser „das 16. Jahrhundert, die val. Zur Romantheorie und Lachkultur. München: Hanser 1969, S. 15–23.) Der bei Hanser erschienene Band versammelt Auszüge aus Bachtins Büchern zu Dostojewski und Rabelais; dass die jeweiligen Passagen nicht mehr im argumentativen Gesamtkontext stehen, erschwert allerdings die Rekonstruktion des argumentativen Zusammenhangs. Zu den Versuchen einer Verortung von Bachtins Literaturtheorie, die der Herausgeber und Übersetzer Alexander Kaempfe im Nachwort zu dieser Textauswahl von Bachtin vornimmt, vgl. May, Markus: „Bachtin im Dialog – Über den Gesprächspartner. Vorwort“. In: May, Markus/Rudtke, Tanja (Hg.): Bachtin im Dialog. Heidelberg: Winter 2006, S. 9–27, hier: S. 16. 27 Zu einer ‚intermedialen‘ Lesart von Kaysers Monografie vgl. Oesterle, Günter: „Zur Intermedialität des Grotesken“. In: Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Nachdruck der Ausgabe von 1957. Tübingen: Stauffenburg 2004, S. VII–XXX. 28 Im Anhang der Untersuchung versammelt ein Bildteil Reproduktionen von Arbeiten einiger der von Kayser genannten Künstler (von Goya bis Bosch, jedoch auch Künstler der Moderne, der Kayser ebenfalls ein Kapitel widmet; zu ihnen zählen Salvador Dalí, Max Ernst oder Alfred Kubin). Kayser unterscheidet zwischen ‚die Groteske‘ als kunstgeschichtlicher Gattung und ‚das Groteske‘ als ästhetischer Kategorie, deren Entstehen er Mitte des 18. Jahrhunderts ansiedelt. 29 Kayser verwendet diese beiden Begriffe synonym. Für „entfremdet“ oder „sich entfremdend“ vgl. z.B. GMD 36, 45, 48, 200; für „sich verfremdend“ oder „verfremdet“ vgl. z.B. GMD 36 und 38. In seiner Zusammenfassung setzt Kayser das Groteske schließlich sogar gleich mit der entfremdeten Welt: „das Groteske ist die entfremdete Welt“ (GMD 198).

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Zeit zwischen dem Sturm und Drang und der Romantik und die Moderne“ (GMD 202)30 nennt (z.B. E.T.A. Hoffmann und Schlegels Gespräche über die Poesie; Gottfried Keller und Edgar Allan Poe; Franz Kafka und Thomas Mann). Anhand seiner Analysen verzeichnet Kayser diverse Motivkomplexe, die in den genannten Epochen charakteristisch für das Groteske seien – „alles ‚Monströse‘“, „alles, was als Gerät sein eigenes, gefährliches Leben entfaltet“ (GMD 195ff.), beispielsweise auch Marionetten und „exzentrische[] Figuren“ (GMD 75), der „Wahnsinn“ als „letzte Steigerung der Weltverfremdung“ (GMD 78) oder die Fledermaus als das „groteske Tier schlechthin“ (GMD 197). Zwar ist Kaysers Konzentration auf das ‚Grauenvolle‘ und ‚Destabilisierende‘ von den Erfahrungen der beiden Weltkriege sowie der atomaren Bedrohung im 20. Jahrhundert nicht zu trennen,31 wie Günter Oesterle in seinem Vorwort zur Neuauflage von Kaysers Monografie (2004) ins Feld geführt hat, jedoch bleiben explizite Verweise auf die jeweiligen politischen Kontexte oder auf wissensgeschichtliche Paradigmenwechsel und damit eine sozialgeschichtliche Perspektivierung bei Kayser aus. Dies überrascht vor allem dann, wenn Kayser bereits im Vorwort vermerkt, dass die „Kunst der Gegenwart […] eine Affinität zum Grotesken [zeige] wie vielleicht keine andere Epoche“ (GMD 11) und anschließend ausgerechnet Dürrenmatt nennt.32 Wenn Kayser auch eine Affinität der zeitgenössischen Literatur zu Ästhetiken des Grotesken behauptet, nennt er doch soziale und politische Realitätserfahrungen der untersuchten Autor*innen als Einflussfaktoren auf literarische Ästhetik nur ganz allgemein, ohne diese näher zu bezeichnen. Gerade in seinem Unterkapitel über die ‚Sprachgroteske‘, in dem ihn ein Assoziationsfaden von Fischarts Geschichtsklitterung (vgl. Anm. 6) zu Christian Morgensterns Galgenliedern führt, wird dies augenfällig: Fischarts Beschreibung eines Tanzes bei den Riesen in seiner deutschen Version von Gargantua und Pantagruel33 bezeichnet Kayser als 30 Das 16. Jahrhundert lebe aus Erfahrungen, so Kayser, „die in den vorherigen Sinngebungen des Daseins ungedeutet blieben“; Sturm und Drang sowie Romantik wendeten sich gegen rationalistische Weltbilder, und die Moderne bekämpfe „die Geltung der anthropologischen und die Zuständigkeit der naturwissenschaftlichen Begriffe, mit denen das 19. Jahrhundert seine Synthesen versucht hatte“ (ebd., S. 203). 31 Oesterle: „Zur Intermedialität des Grotesken“, S. XII. 32 Dürrenmatts Der Verdacht über einen NS-Arzt, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, erschien zwischen 1951 und 1952 in Der Schweizer Beobachter beziehungsweise 1953 in Buchform; Der Besuch der alten Dame hatte im Januar 1956 Premiere in Zürich. 33 „Da dantzten, schupfften, hupfften, lupfften, sprungen, sungen, huncken, reyeten, schreieten, schwangen, rangen, plöchelten, füßklöpffeten, gumpeten, plumpeten, rammelten, hammelten, voltirten, branlirten, gambadirten, cinqpassirten, capricollirten, gauckelten, redleten, bürtzleten, balleten, jauchzeten, gigaten, armglocketen, hendruderten, armlaufeten, warmschnaufeten (ich schnauf auch schier) …“ Fischart: Affentheuerlich Naupengeheuerliche Geschichtsklitterung, 1575. Zit. nach GMD 168.

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„Beispiel für eine solche turbulente und den Sprecher mitreißende Betriebsamkeit spracheigener Prinzipien, die am Ende wieder in eine Welt des Ungeheuerlichen geführt hat“ (GMD 167). Anstelle eines grauenerregenden Motivkomplexes ist es hier die Sprache selbst, die den Eindruck des ‚Ungeheuerlichen‘ bewirkt. Ähnlich verhalte es sich mit Morgensterns Lyrik, so legt Kaysers Argumentation nahe, wenn er eine ideale rezeptionsästhetische Reaktion auf dessen Lyrik folgendermaßen beschreibt: Wenn die/der Leser*in „die Beunruhigung überkäme, daß man der Sprache nicht ohne weiteres trauen dürfte, so wäre wohl eine Absicht Morgensterns erreicht. […] In den Jahren 1906 bis 1908 häufen sich die Eintragungen [in Morgensterns Notizbüchern, J.Ö.], die von der Fragwürdigkeit der Sprache handeln. […] Morgenstern will in seinen Grotesken das naive Vertrauen in die Sprache und das von ihr getragene Weltbild erschüttern.“ (GMD 165f.) Damit stellt Kayser Morgensterns oft als harmlos angesehene sprachspielerische Lyrik in eine Tradition der Sprachkritik, die sich mit Viktor Klemperers LTI – Notizbuch eines Philologen (1947) verbinden lässt: Der Auseinandersetzung des zum Protestantismus konvertierten jüdischen Romanisten mit der Sprache des Nationalsozialismus ist ein Zitat des jüdischen Religionswissenschaftlers Franz Rosenzweig als Motto vorangestellt: „Sprache ist mehr als Blut.“34 Paradigmatisch verweist es auf Klemperers Überzeugung, dass die sprachliche und damit gesellschaftliche sowie kulturelle Prägung vor dem Biologismus der nationalsozialistischen Rassenlehre zu sehen ist; LTI liegt avant la lettre die Auffassung der Performativität von Sprechakten zugrunde. Nun rekurriert auch Kayser auf Klemperers Arbeiten, allerdings lediglich auf dessen Morgenstern-Aufsatz aus den 1920er Jahren.35 Kaysers Hermeneutik, die als Prämisse einen Bezugspunkt zur historischen Realität der Autor*innen annimmt, hat dort einen blinden Fleck, wo sie jene Fragwürdigkeit von Sprachverwendung und den Missbrauch von Sprache vernachlässigt, die in weit kürzerer historischer Distanz passierte. In Kaysers der Werkimmanenz verpflichteten Arbeit bleibt die Erfahrung einer brüchig gewordenen Weltordnung auf die Perspektive literarischer Figuren und deren soziale Welt beziehungsweise auf die Sprache eines konkreten Textes beschränkt; darin entspricht seine Arbeit durchaus zeitgenössischen methodischen Konventionen 34 Klemperer, Viktor: LTI – Notizbücher eines Philologen [1947]. Stuttgart: Reclam 222007, S. 6. 35 Vgl. GMD 162 und 164. In der bei Rowohlt erschienenen Ausgabe von 1960 sind beide Verweise auf Klemperer getilgt (vgl. Kayser, Wolfgang: Das Groteske in Malerei und Dichtung. Reinbek: Rowohlt 1960). Kayser bezieht sich auf folgenden Aufsatz Klemperers: Klemperer, Viktor: „Christian Morgenstern und der Symbolismus“. In: Zeitschrift für Deutschkunde 42 (1928). An dieser Stelle nennt Kayser auch die Arbeiten Leo Spitzers, eines weiteren jüdischen Romanisten, der 1933 in die Türkei und anschließend in die USA emigrierte. Klemperer hingegen wurde aufgrund seiner ‚privilegierten Mischehe‘ von der Deportation verschont und konnte den Nationalsozialismus unter schwierigsten Bedingungen in Deutschland überdauern.

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literaturwissenschaftlich-germanistischer Hermeneutik. Kaysers Monografie zeichnet damit ein augenfälliger Widerspruch aus zwischen (sozial-)geschichtlichem Bewusstsein bei gleichzeitiger Ablehnung, den Blick auf das ‚Außerhalb‘ der Literatur auszuweiten. Der Untersuchungszeitraum verweist zwar auf epistemische Umbrüche und damit auf Kaysers (sozial-)geschichtliches Bewusstsein, jedoch nennt er weder, worin die ‚bergende Ordnung‘ besteht, noch wodurch ‚das geschlossene Weltbild‘ ins Wanken kam.36 Nun trägt Kaysers methodisch nicht ganz klar konturierte Studie weder zu einer Schärfung des Groteskenbegriffs bei, noch lässt sich daraus eine analytische Theorie entwickeln, jedoch ist sie als etwas diffuse Literaturgeschichte des Grotesken angesichts der Materialfülle nach wie vor aufschlussreich.37 Auch Kaysers punktuelle Berücksichtigung literatur- und ästhetikgeschichtlicher Parameter ist dort nach wie vor relevant, wo er darlegt, wie die Zuschreibung ‚grotesk‘ in der ästhetischen Theorie je nach historischer Epoche auf „den Schaffensvorgang, das Werk und die Aufnahme“ (GMD 194) zielen, also produktions-, rezeptionsästhetisch oder werkimmanent perspektiviert werden kann. Im Zuge dieser Argumentation kommt Kayser abermals auf die historische Distanz zwischen Betrachter und Betrachtungsobjekt zu sprechen: „Die Kunstwissenschaft ist gegenwärtig bemüht, die Formensprache des Hieronymus Bosch 36 Das von Kayser betonte Prinzip der Destabilisierung findet sich in Peter Fuß’ Konzeption des Grotesken als ‚Medium des kulturellen Wandels‘ wieder: Er macht das gehäufte Auftreten des Grotesken an ‚Epochenübergängen‘ geltend, wo es die „Grenzen einer Kulturformation“ (Fuß: Das Groteske, S. 12) synchron und diachron indiziere. Er nennt ‚anamorphotische Verfahren‘, welche symbolisch kulturelle Ordnungsstrukturen destabilisieren – zu ihnen zählt er literarische Verfahren der Verkehrung, Verzerrung und Vermischung. Diese lassen sich motivisch fassen (etwa durch die Häufung von chimärischen Gestalten, die durch literarische Verfahren der ‚Vermischung‘ entstehen) oder – ähnlich Bachtins Karnevalssemiotik – im Sinne struktureller Inversion (z.B. werden Gelehrte zu Toren; Kot erscheint als Gold – verkehrt werden also Hierarchien ebenso wie implizite Wertesysteme). Laut Fuß’ rezeptionsästhetischem Verständnis wirken Werke grotesk, weil sie mittels der genannten anamorphotischen Mechanismen etablierte symbolische Ordnungsstrukturen in Frage stellen, anstatt sie zu zementieren. Für eine prägnante Kritik an Fuß vgl. Scheidweiler: Maler, Monstren, Muschelwerk, S. 72–74. 37 Trotz dieser Unschärfe ist es nicht zuletzt Kaysers Monografie zu verdanken, dass in der literaturwissenschaftlichen Forschung das Groteske wieder als eigenständige ästhetische Kategorie begriffen wird, da sich bei Kayser auch das Bedürfnis einer abgrenzenden Konturierung von anderen ästhetischen Kategorien wie der Ironie oder ‚dem Komischen‘ abzeichnet. Die Konjunktur der Groteskenforschung in den 1960er Jahren mag mit Kaysers Monografie (1957) zusammenhängen: Es erschienen mehrere Einzeluntersuchungen, welche Ästhetiken des Grotesken theoretisch zu fassen versuchten – von Thomas Cramers Monografie zu E.T.A. Hoffmann (1966) und Arnold Heidsiecks Untersuchung zum Grotesken und dem Absurden (1969) bis hin zu Einzeltextstudien, die den wissenschaftlichen Diskurs zum Grotesken weniger stark prägten. Vgl. Cramer, Thomas: Das Groteske bei E.T.A. Hoffmann. München: Fink 1966. – Heidsieck, Arnold: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Stuttgart: Kohlhammer 1969.

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zu dechiffrieren. Gelänge es, so wäre der Nachweis erbracht, daß die Bilder nach der Intention des Künstlers nicht eigentlich grotesk wären und die Wirkung dieses für die abendländische Gestaltung des Grotesken vielleicht bedeutsamsten Künstlers auf einem schöpferischen Mißverständnis beruht.“ Mit diesem historischen Beispiel will Kayser davor warnen, „das Groteske einzig von der Aufnahme her zu bestimmen“ (GMD 195; motivgeschichtliches Wissen über ‚groteske Motive‘ wie die bereits genannte Fledermaus könne bei derartigen rezeptionsästhetischen ‚Missverständnissen‘ übrigens Abhilfe schaffen, so insinuiert Kayser). Ungeachtet der überkommenen Annahme, man könne die Bildersprache eines Künstlers samt seiner Intention entschlüsseln, ist Kaysers Bewusstsein der Rolle, welche die historische Distanz als operative Kategorie für die Textanalyse spielt, aufschlussreich: Ohne Wissen um zeitgenössische (diskursive, ästhetische etc.) Konventionen und wissensgeschichtliche Parameter kann das Verhältnis zwischen Ästhetiken des Grotesken und anderen Darstellungen schwerlich beschrieben werden. Nun ist Distanz nicht nur als epistemische Kategorie virulent, sondern spielt auch als Wahrnehmungsmodus dort eine Rolle, wo Kayser das Groteske als „Struktur“ beschreibt: Er entdeckt den Kern des Grotesken in der Plötzlichkeit einer veränderten Perspektive oder eines Auflösungsprozesses von Bekanntem. „Das Groteske ist die entfremdete Welt“, in die unerwartet etwas „einbricht“ und „unfaßbar, undeutbar“ bleibt; diese „verfremdete Welt erlaubt uns keine Orientierung, sie erscheint als absurd“ (GMD 198f.). Diese Vorstellung einer unerwarteten und irritierenden Distanz zu Bekanntem kehrt bei Kayser in den Begriffen der ‚verfremdeten‘ oder ‚entfremdeten Welt‘ ständig wieder. Sie kann reduziert werden, indem das Unheimliche in Kunst übersetzt und dort ‚gebannt‘ wird: Bei aller Ratlosigkeit und allem Grauen über die dunklen Mächte, die in und hinter unserer Welt lauern und sie uns entfremden können, wirkt die echte künstlerische Gestaltung zugleich als heimliche Befreiung. Das Dunkle ist gesichtet, das Unheimliche entdeckt, das Unfaßbare zur Rede gestellt. Und so ergibt sich eine letzte Deutung: die Gestaltung des Grotesken ist der Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören. (GMD 202)

Die künstlerische Darstellung reduziert das Unheimliche, Fremde, Beängstigende und macht es vertrauter; gleichzeitig wird es in Kaysers Beschreibung aus einer konkreten politisch-historischen Realität herausgelöst und im Metaphysischen verortet. Wenn in der Kunst das ‚Dunkle gesichtet‘, das ‚Unfassbare zur Rede gestellt‘ und das ‚Dämonische in der Welt gebannt‘ ist, verharmlost es jene real existierenden politischen, sozialen oder historischen Zusammenhänge, auf die es sich bezieht. Das Beunruhigende muss in der Kunst gebannt werden, damit die Angst genommen wird vor den als bedrohlich empfundenen Veränderungen

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in der realen Welt, infolge derer „nicht mehr an das geschlossene Weltbild und die bergende Ordnung der vorangehenden Zeiten“ (Kayser, s. oben) angeknüpft werden kann. Damit erhält das Groteske bei Kayser wieder die Rolle des hässlichen kleinen Bruders jener scheinbar beruhigenden klassizistischen Elitenästhetik, die Wolbert vehement kritisiert. Die Verharmlosung des Grotesken, gegen die Kayser sich wendet, sieht er etwa in einer Verbindung des Grotesken mit dem Burlesken oder dem ‚Grobkomischen‘38. Dass er selbst jedoch die ästhetische Sprengkraft des Grotesken verharmlost, bleibt ein blinder Fleck in seiner Studie. In dieser Auslegung eines Zusammenhangs zwischen Ästhetiken des Grotesken und ‚der Welt‘ außerhalb der Literatur liegt nun eines der Hauptprobleme von Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung: Es wird auch bei Kayser nur satisfaktionsfähig als ästhetischer Gegenspieler von schönen, stabilisierenden und affirmierenden Ästhetiken. Damit nobilitiert Kayser gewissermaßen, wohl unbeabsichtigt, jene klassizistische ‚Elitenästhetik‘ des Nationalsozialismus im Wolbert’schen Sinne. Nicht nur ein Seitenblick auf Kaysers Biografie, sondern auch die oben ausgeführten Kritikpunkte an seinem Groteskenbegriff kündigen den fundamentalen Unterschied zu Michael Bachtins Arbeit an: Bereits ein Blick auf Bachtins Biografie zeigt dies, schließlich musste der wenig regimekonforme Bachtin während des Stalinismus große Teile seines Lebens in der Verbannung verbringen. Dies hat mit dazu beigetragen, dass seine Werke oft mit großer zeitlicher Verspätung oder erst posthum erscheinen konnten.39 Außerdem liegen soziokulturelle Bezugssysteme – anders als bei Kayser – im Zentrum von Bachtins Arbeiten und ziehen eine neue Perspektivierung des Grotesken nach sich. Zwar hat Bachtin sein Rabelais-Buch diachron vor Kaysers Monografie verfasst, es konnte jedoch erst mit großer zeitlicher Verspätung erscheinen; im Zuge von Aktualisierungen vor der Veröffentlichung hat Bachtin auch eine Passage zu Kaysers Groteskenkonzeption ergänzt, in der er sich deutlich vom deutschen Germanisten abgrenzt. In Bachtins Standortbestimmung des Grotesken nehmen sozialgeschichtliche Veränderungen einen zentralen Stellenwert ein und werden argumentativ viel 38 Die Frage „nach dem Lachen im Grotesken“ sieht Kayser als „den schwierigsten Teilkomplex in dem ganzen Phänomen“ (GMD 201) und so bewertet er diverse Formen ‚des Komischen‘ (­ Burleske, das Grobkomische, die „Laune“ (GMD 92) des Capriccios etc.) unterschiedlich. Einerseits ordnet er die „Neigung, es [das Groteske] mit dem Burlesken und Grobkomischen gleichzusetzen“ als dessen „Verharmlosung“ (GMD 28) ein; andererseits sieht er das Potenzial des Lachens als Moment der Verfremdung und räumt ihm damit eine Rolle in seinem Groteskenbegriff der ‚verfremdeten Welt‘ ein. 39 Der Begutachtungsprozess von Bachtins Dissertation über Rabelais hatte sich auf sechs Jahre (1946–1952) erstreckt. Vgl. dazu detaillierter: Sasse, Sylvia: Michail Bachtin zur Einführung. Hamburg: Junius 2010, S. 158–160. Sie erschien schließlich 1965, dem Jahr der Uraufführung von Weiss’ Ermittlung.

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expliziter an die jeweilige Ästhetik eines Textes gekoppelt. Literarische Erneuerungen, beispielsweise gattungsgeschichtliche, sind bei Bachtin ebenso wie ­Um­gestaltungen an Gattungen – oder Ästhetiken – immer auch sozial kodiert. Diese Aufwertung des sozialhistorischen Kontexts ist für solch einen Groteskenbegriff nötig, der Ästhetiken nicht nur als Phänomene von Motivrekurrenzen oder als strukturelle Verfahren40 begreift, sondern als umfassende Spiegelungen von v­ eränderten realen (sozialen, historischen, politischen, ideologischen usw.) ­Problemkonstellationen. Während sich Kaysers Groteskenkonzeption aus der werkimmanenten Methode literaturwissenschaftlicher Hermeneutik speist, ist Bachtins Groteskenstudie in Zusammenhang mit seinen kultursemiotischen Arbeiten und jenen zu Gattungstheorie zu sehen; sie ist damit in ein vielschichtigeres methodisches und wissensgeschichtlich interessiertes Referenzsystem einzuordnen als Kaysers Untersuchung. In Rabelais und seine Welt entwirft Bachtin ein kultursemiotisches Verständnis einer subversiven Lachkultur des Mittelalters, die er in Opposition zur offiziellen Seriosität bringt und daraus Rückschlüsse auf Prozesse der ‚Karnevalisierung‘ zieht. In der kulturwissenschaftlichen Rezeption von Rabelais und ­seine Welt herrscht das Interesse an literarischen Strategien dieser ‚Karnevalisierung‘ und des ‚grotesken Realismus‘ vor, obwohl Bachtin in seinen Rabelais-Studien auch die Evolution von Gattungen sowie Gattungsgedächtnis beschäftigen:41 Er liest Rabelais’ Gargantua und Pantagruel dementsprechend als Indikator für das Entstehen einer neuen Gattung, in der die im Verschwinden begriffene Lachkultur des Volkes in einen literarischen Text transponiert werde. Die neue Gattung sei eng mit dem Motivkomplex des ‚grotesken Realismus‘ verbunden und dieser wiederum an ein vitalistisches Körperverständnis gekoppelt; sie speise sich noch aus der Lachkultur des Mittelalters, aus dem mittelalterlichen volkstümlichen Karneval und aus Spielformen des ‚grotesken Realismus‘. Hier sieht Bachtin Wurzeln sowie zentrale Charakteristika des Rabelais’schen Werkes, gleichzeitig zeigt sich darin auch der kultursemiotische Ansatz seiner Studie: Im Mittelalter sei das Lachen „in allen Bereichen der offiziellen Ideologie und in den strengen Umgangsformen des offiziellen Lebens verpönt“42 gewesen, w ­ eshalb

Vgl. z.B. jene Verfahren, die Fuß als ‚anamorphotische Mechanismen‘ untersucht. Vgl. Fuß: Das Groteske, S. 235–421. 41 Zur Rabelais-Analyse in Bachtins Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman sowie zu Unterschieden im Vergleich zur Rabelais-Auseinandersetzung in Rabelais und seine Welt vgl. Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 435–441. – Vgl. außerdem: Bachtin, Michael: Chronotopos. Frankfurt: Suhrkamp 2008, bes. Kapitel 7: „Der Chronotopos bei Rabelais“. 42 Bachtin, Michael: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt: Suhrkamp ²1998, S. 123. Im Folgenden Zitation im Fließtext: RW. 40

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die verdrängte Heiterkeit außerhalb dieses Bezugssystems sanktioniert wurde.43 Die „extreme Seriosität der offiziellen kirchlichen Ideologie“ stellt Bachtin der verdrängten Heiterkeit gegenüber, die „außerhalb des kanonisierten Kults, Rituals oder Zeremoniells“ aufzufinden sei. Die Lachkultur ‚des Volkes‘ und jene ‚der offiziellen Kultur‘ sieht er als koexistente Erscheinungen, sodass sich parallel zu „kanonischen Formen der Mittelalterlichen Kultur“ auch „reine Lachformen“ (RW 124) entwickeln konnten. Diese gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen seien aus historischer Distanz anhand literarischer Werke noch rekonstruierbar, wie Bachtin an Rabelais zeigt: In dessen Arbeiten ermöglichen es die von Kirche und Staat sanktionierten Karnevalsformen,44 die offizielle Seriosität kurzfristig zu durchbrechen und etablierte Normen zu verlachen: Die bestehende Weltordnung wird umgestülpt, tradierte Hierarchien werden sublimiert; die von den Dogmen der Gesellschaft, des Staates und der Kirche negierten Elemente wie Parodie, Groteske und Obszönität finden hier ihren Platz, sodass der Karneval „die zeitweise Befreiung von der herrschenden Wahrheit und der bestehenden Gesellschaftsordnung, die zeitweise Aufhebung der hierarchischen Verhältnisse, aller Privilegien, Normen und Tabus“ (RW 58) zelebriert. Ein kulturhistorisches Verständnis des volkstümlichen Karnevals perspektiviert Bachtin kultursemiotisch, wenn er den Karneval mit einem spezifischen „Motivsystem“ des „Materiell-Leiblichen“ (RW 68f.) verbindet, das er als ‚grotesken Realismus‘ bezeichnet: Dieses Motivsystem sei das Erbe einer ästhetischen Lebenskonzeption der Renaissance, die sich von späteren Epochen unterscheide; es rekurriere auf Darstellungen von Körperlichkeit und Körperhandlungen (Essen, Trinken, Sexualleben, Ausscheidungen etc.), die „grandios, hyperbolisiert und maßlos“ (RW 69) dargestellt werden. Die kulturwissenschaftliche Forschung hat diesen ‚grotesken Körper‘ auch als Kritik am Stalinismus gelesen45 und die zugrundeliegende Körperkonzeption 43 Auch Fuß spricht von dem „Versuch, eine offizielle (ästhetisch-politische) Ordnung durch die Ausgrenzung des Grotesken zu etablieren“ (Fuß: Das Groteske, S. 47), als er die Marginalisierung des Harlekins und die damit einhergehende Ablehnung des Dramenstils der Commedia dell’arte ins Auge nimmt. 44 Zu Bachtins Verwendung des Epithetons ‚karnevalesk‘ vgl. RW 258 f. Kritik an Bachtins Karnevalsbegriff kam u.a. aus der Karnevalsforschung, die etwa die Annahme einer homogenen Kultur des Volkes, von der vor Entstehung der Nationalstaaten nicht gesprochen werden könne, als problematisch sieht und damit auch Bachtins zugespitzte Gegenüberstellung einer offiziellen Elite- (ernst und seriös sowie reaktionär und rückgewandt) und einer subversiven Volkskultur (heiter und lebensfroh sowie erneuernd und schöpferisch) kritisiert. Vgl. Johannsmeier, Rolf: Spielmann, Schalk und Scharlatan. Die Welt als Karneval: Volkskultur im späten Mittelalter. Reinbek: Rowohlt 1984, hier: S. 13. – Camporesi, Piero: Bauern, Priester, Possenreißer. Frankfurt und New York: Campus 1994, S. 7–13. 45 Gegen die Auffassung, es handle sich bei Bachtins Rabelais-Studie um eine politische Allegorie, stellen sich Morson und Emerson. Vgl. Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 94.

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als der Literatur- und Kulturproduktion des Stalinismus diametral entgegengesetzt: Dort muss der individuelle Körper funktionieren und gesund sein; der kollektive wird entworfen als uniformer und uniformierter, gleichgeschalteter Volkskörper. Zu dieser Körperkonzeption des sozialistischen Realismus steht der groteske Körper quer, seine Apotheose des sexuell aktiven, ausscheidenden, nicht der Norm entsprechenden Körpers wird oft als politisch widerständischer Körper gelesen. Bezüge auf den Stalinismus werden auch zwischen dem zeithistorischen Entstehungskontext der Rabelais-Studie und jenem von Gargantua und Pantagruel geltend gemacht, so beispielsweise von Lachmann, Eshelman und Davis; sie lesen Rabelais’ Roman als Darstellung von revolutionären Umbrüchen, wie sie auch Bachtin im stalinistischen Russland erfahren habe.46 Auch Bachtins Studien zu Polyphonie und Dialogizität hat die Forschung mitunter in diese Argumentationslinie eingegliedert. Bachtin setze die beiden idealen Konzepte implizit einem real existierenden Herrschaftssystem entgegen, das alles Einheitliche und ‚Monologische‘ und damit auch „the hegemonic space of the single truth“47 fördere – in Kultur, Politik und Literatur –, und ergreife damit Position für eine Kultur der Mehrdeutigkeit und Öffnung. In ihrer Bachtin-Biografie beschreiben Holquist und Clark die Rabelais-­Studie als Buch über ein anderes Buch, in dem Bachtin – wie Rabelais – eine Begegnungszone zwischen Altem und Neuem, zwischen Offiziellem und Inoffiziellem sowie „the interface between a stasis imposed from above and a desire for ­change from below“48 untersuche. Derartige kulturtheoretische Hermeneutiken spiegeln sich in der Einschätzung der Slawistin Sylvia Sasse, die für Bachtins Verhältnis zum Stalinismus zwei vorherrschende Lesarten formuliert: Es hieß entweder, Bachtin übe mit seiner Konzeption des Lachens und des grotesken Körpers auf Umwegen Kritik an den wohlproportionierten Körpern der sozialistischen Helden sowie an der offiziellen Volksfröhlichkeit zu Zeiten des Terrors. Oder man sah gerade in Bachtins Versuch, die volkstümliche Lachkultur als Gegenkultur der offiziellen Kultur zu situieren, die große Schwachstelle des 46 Vgl. Lachmann, Renate/Eshelman, Raoul/Davis, Marc: „Bakhtin and Carnival: Culture as Counter-Culture“. In: Cultural Critique 11 (1988–1989), S. 115–152, bes. S. 111–119. Die Verfasser*innen führen die Entstehung einer postrevolutionären Ordnung, die auf die Dehierarchisierung der Revolution folgt, ins Feld: Diese Lesart von Bachtins Rabelais-Buch bedeutet, dass „the carnival laughter whose forms and functions Bakhtin defines applies not only to the Roman Catholic Church and the Holy Roman Empire and the Renaissance, but also to Stalinism, the new ‚sublime‘ realm of a remote, imperious ruler.“ (Ebd., S. 118.) 47 Ebd., S. 116. 48 Clark, Katerina/Holquist, Michael: Mikhail Bakhtin. Cambridge (Mass.), London: Harvard University Press 1984, S. 298.

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Buches. Eine solche Auffassung von Volkskultur sei naiv, übersehe sie doch die Instrumentalisierung und Usurpation der inoffiziellen Lachkultur durch die Gewaltherrschaft.49

Bachtins Auseinandersetzung mit offiziellen und inoffiziellen, mit legitimierten und delegitimierten Ästhetiken sowie mit der Apotheose des grotesken Körpers und dessen Antipoden des ästhetisch Schönen ist charakteristisch für die Binaritäten, welche die Rabelais-Studie durchziehen. In einem binären Bezugssystem stehen einander die beiden Extreme der offiziellen, homogenen Kultur der Eliten sowie einer Kultur des ebenfalls homogenen Volkes gegenüber. Dass gerade diese binäre Grundstruktur Bachtins Rabelais-Studie von seinen früheren Arbeiten absetzt, haben Emerson und Morson überzeugend dargelegt.50 Unterdessen hat sich in der Forschung die Annahme zementiert, dass Oppositionen zentral für den grotesken Körper sowie für Ästhetiken des Grotesken seien: Die vordringliche Leistung von Bachtins Aufwertung des grotesken Körpers sei es, ihn in Stellung zu bringen gegen die genannte klassizistische Körperästhetik des ‚Schönen‘, ‚Glatten‘ und ‚Reinen‘. Diese Fokussierung auf die (im Rabelais-Buch zweifellos angelegte) binäre Grundstruktur hat in der Bachtin-Rezeption vielfach den Blick auf Bachtins grundlegendes Interesse an Rabelais verstellt, nämlich die Frage nach Gattungsgedächtnis und der Evolution von Gattungen (und Ästhetiken). Ferner bedingt die gewichtige Bedeutung, die diesem binären Bezugssystem häufig zugeschrieben wird, dass Bachtins Groteskenkonzeption in der kulturwissenschaftlichen Forschung vielfach verkürzt verstanden wird.51 Das Hauptinteresse der kulturwissenschaftlichen Forschung am Rabelais-Buch gilt dem Schlagwort der ‚Karnevalisierung‘; sie wird in der Forschung wiederholt als literarische Strategie verstanden, die Hierarchien und Machtverhältnisse verkehrt und damit problematisiert. Betrachtungsobjekt können dabei Machtverhältnisse und ­Hierarchien sein, die in der außerliterarischen Wirklichkeit oder nur innerhalb

49 Sasse: Michail Bachtin zur Einführung, S. 158. 50 Vgl. Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 446. Auch Bachtins Kritik am Strukturalismus in den Arbeitsheften aus den 1960er und 1970er Jahren stellt sich gegen dessen mechanistische Kategorien wie Oppositionen (vgl. Sasse: Michael Bachtin, S. 65). Im Zuge seiner Kritik am Russischen Formalismus lehnt Bachtin beispielsweise auch die Trennung zwischen Form und Inhalt ab, wie sie etwa Viktor Šklovskij vorschlug. Vgl. Bachtin: „Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen“. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt: Suhrkamp 1979, S. 95–153. 51 Die mancherorts einseitige Rezeption von Bachtins Arbeiten bestätigt auch Morson und Emersons Feststellung, dass gerade in der frühen Bachtin-Rezeption „‚dialogism‘ and ‚carnivalization‘ were often applied to literary texts rather mechanically“ (Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 100).

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einer Diegese existieren. Derartige textuelle Strategien werden im Zuge eines hermeneutischen Verfahrens ‚entschlüsselt‘ und infolgedessen wird der ‚karnevaleske‘ Charakter eines literarischen Textes herausgestrichen; daran anschließend werden diese Strategien als subversiv beschrieben und positiv bewertet. Die wertende Gegenüberstellung von Offiziellem und Subversivem im ­Rabelais-Buch bedingt in der Rezeption vielerorts eine gleichermaßen wertende Einschätzung des Vorgangs literarischer Subvertierung: Ein derartiges binäres Bezugssystem führt zu einer grundsätzlichen und voreiligen ideologischen Aufwertung von Ästhetiken des Grotesken,52 die es im Sinne einer differenzierten Untersuchung notwendigerweise zu vermeiden gilt, da ein solches Verfahren die vielfältigen Spielarten von Ästhetiken des Grotesken verkennt. Bachtins Groteskenkonzeption vom Ballast des rezeptionsgeschichtlichen Essentialismus zu befreien, wird in vorliegender Analyse durch den assoziativen Unterbau von Bourdieus Feld­theorie erleichtert, da auch sie auf relationalen Bezugsgrößen aufbaut. Ein feld­theoretischer Denkrahmen verhindert es, literarische Verfahren per se als subversiv oder affirmativ zu fassen, sondern stattdessen die Doxa, also etwa die gültigen Darstellungsparadigmen im Sub-Feld, wahrzunehmen und zu beschreiben. Wenn die Gleichsetzung von ‚grotesk‘ mit ‚subversiv‘ bedeutet, dass alles ‚Groteske‘ a priori positiv zu bewerten ist, führt dies gerade im Hinblick auf (literarische) Darstellungen der Shoah zu methodischen Problemen und inhaltlichen Verkürzungen. Eine derartige positive Kategorisierung impliziert beispielsweise das Fazit eines Aufsatzes von Hanno Möbius über dokumentarische Schreibstrategien und Ästhetiken des Grotesken in der Shoah-Literatur. Seiner Ansicht nach würden etwa Dokumentaraufnahmen, die „jüdische Passanten [zeigen], die achtlos an toten Ghettobewohnern vorübergehen, die auf der Straße gestorben waren […] eine Kraft beweisen, die authentische Bilder haben können“, während „ein grotesker Kontext die Möglichkeit [bietet], deren Wirkung noch zu steigern. Die Aufnahmen wirken anders als im realistischen Kontext: authentischer und distanzierter zugleich.“53 52 So schließt z.B. Symmak aus seinen Ausführungen zu dem Karneval als Strukturprinzip der Invertierung von Hierarchien sowie der Verbindung zwischen Karnevaleskem und ‚Groteske‘: „Karnevalisierte Literatur gerät zur Schnittmenge peripherer Redeweisen und schafft jenseits eines eingeschränkten Bedeutungsumfangs Raum für unabhängige Diskursaktualisierungen.“ (Symmak, Markus: Karnevaleske Konfigurationen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Untersuchungen anhand ausgewählter Texte von Wolfang Hilbig, Stephan Krawczyk, Katja Lange-Müller, Ingo Schulze und Stefan Schütz. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 48.) Karnevalisierung als literarisches Strukturprinzip sowie seine Verbindung mit ‚dem Grotesken‘ nimmt hier die Gestalt eines grundsätzlich positiven Bewertungskriteriums an. Die beiden Literaturwissenschaftler Stallybrass und White stellen Strategien des Karnevalesken gar in den Einzugskreis des Utopischen (Stallybrass, Peter/White, Allon: The Politics & Poetics of Transgression. London: Methuen 1986, S. 57). 53 Möbius, Hanno: „Dokument und Groteske in der Literatur zum Holocaust“. In: Arlt, Herbert/

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Möbius’ wirkungsästhetischer Argumentation liegt die Annahme zu Grunde, Ästhetiken des Grotesken böten prinzipiell vielfältigere Möglichkeiten als „ein realistischer Kontext“. Eine vergleichbare Annahme scheint Peter Arnds’ Fazit zum Subtext von Märchen in den Arbeiten von Grass, Hilsenrath und Anselm Kiefer zugrunde zu liegen, wenn es über Grass’ Blechtrommel heißt, sie „seems consciously to revive the grotesque after the Nazis had suppressed it as degenerate and persecuted it in all of its forms, both in the human body and in the arts.“54 Problematisch ist eine derartige generelle Aufwertung des Grotesken insofern, als sie argumentativ an dessen vollständige Ausgrenzung durch den Nationalsozialismus – in der Kunst sowie im menschlichen Körper – gekoppelt ist. Gerade in antisemitischen Darstellungen von ‚Juden‘ nehmen Figurationen des grotesken Körpers hingegen einen großen Stellenwert ein: in Karikaturen im Stürmer oder im Völkischen Beobachter55 ebenso wie in antisemitischen Propagandafilmen wie Jud Süß (1940) oder antisemitischen Karikaturen des 19. Jahrhunderts.56 Darstellungen des ‚grotesken‘ jüdischen Körpers (vgl. Kapitel 1.5) sind damit keinesfalls a priori subversiv, sondern entsprechen zu bestimm- und beschreibbaren historischen Zeitpunkten hegemonialen antisemitischen Wahrnehmungsmodi. Diese ‚Judenbilder‘ arbeiten mit Darstellungskonventionen, welche gemäß diversen Lesarten von Bachtins Körpersemiotik in einen Katalog grotesker und damit subversiver Körperdarstellungen einzuordnen wären – etwa die Fokussierung auf einzelne Körperteile sowie deren Hyperbolisierung (z.B. die Nase oder große Lippen; großer Bauch). Gerade in der Auseinandersetzung mit Shoah-Literatur ist eine prinzipielle positive Bewertung von Ästhetiken des Grotesken also problematisch,57 wenn man groteske Körper oder das Groteske per se als SubManger, Klaus (Hg.): Jura Soyfer (1912–1939) zum Gedenken. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1999, S. 319–335, hier: S. 335. 54 Arnds, Peter: „On the Awful German Fairy Tale: Breaking Taboos in Representations of Nazi Euthanasia and the Holocaust in Günter Grass’s Die Blechtrommel, Edgar Hilsenrath’s Der Nazi & der Friseur, and Anselm Kiefer’s Visual Art“. In: The German Quarterly 75, 4 (2002), S. 422– 439, hier: S. 437. 55 Während Der Stürmer nicht als offizielles Parteiorgan galt und – im Gegensatz zu anderen Publikationsorganen – vordringlich den Zweck hatte, Hass auf ‚Jüd*innen‘ zu schüren, verfolgte der Völkische Beobachter als Parteizeitung der NSDAP auch andere propagandistische Ziele. (Vgl. Kammer, Hilde/Bartsch, Elisabeth/Baukhage, Manon: Jugendlexikon Nationalsozialismus. Begriffe aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933–1945. Berlin: Rowohlt 2006. Einträge „Der Stürmer“, S. 54f.; „Völkischer Beobachter“, S. 278f.) 56 Die vielen Reproduktionen antisemitischer Karikaturen des 19. Jahrhunderts in Eduards Fuchs’ Monografie Die Juden in der Karikatur zeigen, wie der Körper beständig zum Aushandlungsort antisemitischer Zuschreibungen wird. Vgl. Fuchs, Eduard: Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte [1921]. Berlin: Guhl 1985, bes. S. 211–286. 57 Dafür spricht auch der Befund zur Verwendung des Adjektivs ‚grotesk‘ in Texten von Überlebenden in Kapitel 1.3.

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vertierung von nationalsozialistischen (Körper-)Bildern und Ideologien versteht; diese Annahme ist, selbst wenn nicht explizit formuliert, in manchen kulturwissenschaftlichen Lektüren von Shoah-Texten angelegt. Die Annahme, die Subvertierung etablierter Strukturen rechtfertige eine grundsätzlich positive Bewertung des Grotesken, ist mit der Karnevalssemiotik insofern verbunden, als auch Bachtin darin einen subversiven Grundgedanken hervorhebt: Er nimmt an, dass Regeln und Konventionen eines bestehenden (politischen, gesellschaftlichen) Systems umgeworfen werden müssen, damit ein regel- und hierarchiefreier Raum entstehe (wenn auch nur vorübergehend wie im Karneval). Auf diese Weise schreibt Bachtin dem Lachen sowie dem Karneval im Rabelais-Buch eine utopische Funktion zu, da sie sämtliche (sozialen) Normen verlachen und jegliche Systeme oder Ordnungen fröhlich negieren können. Diesen Utopismus des Rabelais-Buches bezeichnen Emerson und Morson als apolitisch, da er nicht ein Normensystem durch ein anderes ersetzen will, sondern auf eine Relativierung aller politischen Ereignisse sowie politischen Probleme im Allgemeinen abhebe;58 Rabelais’ Sprache beschreibe Bachtin des Weiteren „not as a dialogue that generates new and valuable truths, but as the joyful destruction of all truths“.59 Für Bachtins Arbeiten sei dieser utopische Gehalt eher atypisch, schließlich stehe ihm der Anti-Utopismus seiner anderen Schriften gegenüber und sein „lifelong dislike of systems, his distrust of final answers and his preference for the messy facts of everyday life made him deeply suspicious of all utopian visions“.60 Während das Rabelais-Buch in dieser Hinsicht also „inconsistent with ­Bakhtin’s other writings“61 sei, fallen Parallelen zwischen dem Rabelais-Buch und Bachtins lebenslanger Auseinandersetzung mit Gattungen durchaus ins Auge. Deshalb gilt es nun, den bisherigen Beobachtungen zur Verbindung zwischen Bachtins kultursemiotischem Ansatz und einer Rezeption des Grotesken als grundsätzlich subversiver Ästhetik seine Untersuchungen zur Gattungstheorie des ­Romans an die Seite zu stellen, um das Potenzial von Bachtins Arbeiten für einen relationalen Groteskenbegriff zu erschließen: Nicht zuletzt an dem Kapitel „Rabelais und die zeitgenössische Wirklichkeit“ entfaltet sich Bachtins Literaturbegriff; er versteht literarische Texte als soziales Kommunikationssystem, in dem Subjektpositionen und Weltbilder miteinander in Kontakt treten – davon losgelöst können literarische Texte gar nicht entstehen. Mit der Publikation des Dostojewski-Buches 1929 (Probleme der Poetik Dostoevskijs) beginnt jene Periode in seinem Schaffen, in der er in Arbeiten zum 58 Vgl. Morson und Emerson: Creation of a Prosaics, S. 94 f. 59 Ebd., S. 95. 60 Ebd., S. 94. 61 Ebd.

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Roman (Das Wort im Roman, 1934–35, Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, 1937–38 sowie den Rabelais-Studien) sein Verständnis des ‚offenen Kunstwerks‘ entwickelt. „Die einzelne konkrete Äußerung“, so Bachtin, „steht immer in einem wertmäßig-sinnhaften kulturellen Kontext – einem wissenschaftlichen, einem künstlerischen, einem politischen oder einem anderen Kontext […]; nur in diesen Kontexten hat die einzelne Äußerung Leben und Sinn […]“.62 Diese anfänglich deskriptive Theorie erweitert er zur Forderung nach einem polyphonen Textcharakter als Qualitätsmerkmal von Prosatexten, denn darin zeige sich, dass die Autorin/der Autor „zwei individuelle Bewußtseine, zwei Stimmen, zwei Akzente […], zwei sozial-sprachliche Bewußtseine“63 miteinander in Kontakt treten lässt. Sie stehen in keinem hierarchischen Verhältnis zu-, sondern gleichberechtigt nebeneinander. Zentral an diesem Verständnis des Dialogischen, wie Bachtin es anhand von Dostojewskis Prosa entwickelt, ist, dass die Stimmen auf unterschiedliche Standpunkte verweisen, die jedoch nicht lediglich beschrieben werden, sondern als performative Setzung im Text in einen Dialog treten (vgl. zu Bachtins Gattungstheorie in Probleme der Poetik Dostoevskijs Kapitel 4.6). Bachtins Konzeption des ‚offenen Kunstwerks‘ lässt sich lesen auf der Folie seiner und Pawel Medwedews Kritik am Russischen Formalismus und dessen Vorstellung von literarischer Evolution: Diese gehe kontextunabhängig und losgelöst von Erfahrungen sozialer Realitäten vor sich, erfolge mechanistisch. Sind Darstellungskonventionen kanonisiert, müssen sie mithilfe von Verstößen aufgebrochen werden – genauer: durch „einen Verstoß, den man nicht voraussehen kann“. Wird „dieser Verstoß zum Kanon“,64 sind wieder neue Verstöße vonnöten. Die Funktionen literarischer Verfahren können im Sinne des Russischen Formalismus nur dann beschrieben werden, wenn sie unter literaturhistorischem Blick analysiert werden und wenn die synchrone Untersuchung des literarischen T ­ extes mit der diachronen Analyse des sich verändernden Literatursystems verbunden wird. Nicht soziale Realitäten und Kontexte sind für den Russischen Formalismus relevante Bezugssysteme, sondern literaturhistorische Wandlungen. Bachtin hingegen stärkt die Interdependenz von Literatur und subjektiver (auch emotionaler) Wahrnehmungsposition der Autor*in. Literarische Ausdrucksformen verändern sich nicht – so lautet ein wichtiger Einwand von Bachtin und Medwedew gegen den Russischen Formalismus –, weil ihre Darstellungskonventionen abgegriffen sind, sondern weil real existierende Autor*innen neue Darstellungsmöglichkeiten finden, um Veränderungen in ihrer Lebenswelt zu ver62 Bachtin, Michael: Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt: Suhrkamp 1979, S. 95–153. 63 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman [1934/35]. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt: Suhrkamp 1979, S. 154–300, hier: S. 245. 64 Šklovskij, Viktor: Theorie der Prosa. [1925] Frankfurt: Fischer 1966, S. 24.

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stehen und zu zeigen: Folglich zog Bachtin ein Verständnis literarischer Evolution vor, in dem „change is usually prosaic and continuous, rather than revolutionary; only such a vision would allow both daily creativity and ordinary responsibility to be meaningful.“65 Für Bachtins Gattungsbegriff ist diese Feststellung zentral, zumal er Weltwahrnehmung und Gattungswissen als reziproke Kategorien fasst; da „genres are really forms of thinking“,66 verändere sich mit Gattungswissen auch die Wahrnehmung der Welt, die Autor*innen umgibt. Der Zusammenhang zwischen Gattungswissen und Weltwahrnehmung kann dabei helfen, den Begriff des ‚Grotesken‘ neu zu perspektivieren, schließlich betont er die Reziprozität von außerliterarischen Diskursen und Literatur, von Wissen über Ästhetiken und Weltwissen. Die Shoah-Forschung unterstellt mancherorts, Literatur reagiere primär auf nicht-literarische Diskurse; so stellt etwa Michael Hofmann fest: „In Analogie zu der gesamtgesellschaftlich durchaus zögerlichen Entwicklung eines ‚Gedächtnisses von Auschwitz‘ reagiert die Literatur auf diskursive Interventionen von Philosophen und Zeitkritikern (Karl Jaspers, Adorno, Arendt) und auf äußere Ereignisse (wie vor allem die Prozesse gegen NS-Verbrechen in Nürnberg, Jerusalem und Frankfurt).“67 Literatur ist allerdings mehr als nur Resonanzraum für „diskursive Interventionen“. So wird etwa zu zeigen sein, wie für Taboris Theaterarbeit die Verquickung zwischen Veränderungen im Schreiben und Sprechen Überlebender als Figuren literarischer Texte sowie als Zeitzeug*innen in außerliterarischen Diskursen eine zentrale Rolle spielt. Ähnlich ist Schindels Dunkelstein nicht losgelöst von dem Verschwinden dieser Sprecher*innen als Zeitzeug*innen zu sehen: In literarischen sowie in erinnerungskulturellen Diskursen muss diese Sprecher*innenposition neu besetzt werden; dies als gesamtgesellschaftliches Problem zu verstehen, auf das die Literatur lediglich reagiert, würde die ästhetische und erinnerungspolitische Komplexität von Schindels Drama jedoch schmälern. Der Aufschwung der Bachtin-Rezeption der letzten Jahrzehnte68 bedeutet auch für die kulturwissenschaftliche Forschung zum Grotesken eine Neuorientierung: Seine Karnevalssemiotik wird zu einem der zentralen Referenzpunkte 65 Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 280 und S. 277. 66 Ebd., S. 280. 67 Hofmann, Michael: „Die Shoah in der Literatur der Bundesrepublik“. In: Eke/Steinecke: Shoah in der deutschsprachigen Literatur, hier: S. 63. Auch Hofmanns spätere Einschränkung, Literatur reagiere „nicht unmittelbar“ auf die betreffenden Interventionen, stehe „aber in einem engen Zusammenhang mit ihnen“ (ebd., S. 63), impliziert nach wie vor kein reziprokes Verhältnis. 68 Obzwar die deutsche Bachtin-Rezeption bereits 1964 eingesetzt hatte (auf dem Heidelberger Slavistentag wurde Probleme der Poetik Dostoevskijs vorgestellt), verlief sie im deutschsprachigen Raum auch in den 1980er Jahren noch schleppend. Vgl. auch May: „Bachtin im Dialog – Über den Gesprächspartner“. May widmet sich u.a. diachron variierenden Rezeptionsperspektiven auf Bachtins Werk.

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und sein Karnevalsbegriff damit zu einer der wichtigen Bezugsgrößen der deutschsprachigen Groteskenforschung. Die am meisten zitierten Schlagwörter aus seiner Monografie sind ‚Karnevalisierung‘, ‚grotesker Realismus‘ und ‚erneuerndes Lachen‘ – besonders das letzte unterscheidet das an Bachtin anschließende Groteskenverständnis von Kaysers skeptischer Haltung gegenüber Elementen des Komischen. Diese Schlagwörter bezeichnen drei zentrale Verschiebungen, welche die (deutschsprachige) Groteskenforschung infolge der Bachtin-Rezeption kennzeichnen: erstens die Reintegration des Lachens und damit ‚des Komischen‘ im weitesten Sinne als legitime Spielart von Ästhetiken des Grotesken;69 zweitens die neuerliche Aufwertung von Leiblichkeit und Körperlichkeit; drittens eine Koppelung von Untersuchungen ‚des Grotesken‘ an eine Analyse jener soziokulturellen Bezugssysteme, die zum Entstehungszeitpunkt der literarischen Texte relevant waren. Besonders der letzte Punkt setzt Bachtins Interesse am Grotesken ab von beispielsweise werkimmanenten (Kayser; auch Heidsieck70) oder rezeptionsästhetischen71 literaturwissenschaftlichen Untersuchungen. Zwar markiert diese Aufwertung soziokultureller Bezugssysteme eine Öffnung der Groteskenforschung in Richtung der Kulturwissenschaften im Anschluss an die Bachtin-Rezeption, die im deutschsprachigen Raum ab den 1980er Jahren anlief. Jedoch werden Bachtins Theorien zu Gattung und Roman – sie stellen neben der ‚Karnevalssemiotik‘ sogar die zweite gewichtige Bezugsgröße der westeuropäischen Bachtin-Rezeption dar72 – in der Auseinandersetzung mit seiner Groteskenkonzeption oftmals vernachlässigt, obwohl das konzeptuelle Ineinander seiner kultursemiotischen Karnevalskonzeption und seiner Gattungstheorie auch aufschlussreich für die Entwicklung eines tragfähigen Groteskenbegriffs ist. Dieser Zusammenhang zwischen Gattungstheorie und Groteske lässt sich verdeutlichen, wenn man Gattungen und Ästhetiken als Sprechhandlungen versteht: In Sprechgattungen plädiert Bachtin für eine Erweiterung des Gattungsbegriffs, der das gesamte Spektrum sprachlicher Aktivität umfasst. Er unterscheidet zwi69 Die positive Bewertung ‚des Komischen‘ geht zurück auf die Traditionslinie von der Commedia dell’arte über Justus Mösers Harlekin oder Vertheidigung des Groteske-Komischen (1761) bis hin zu Karl Friedrich Flögels Geschichte des Grotesk-Komischen (1788), einem der ersten wissenschaftlichen Betrachtungen des Grotesken. Vgl. dazu etwa Scheidweilers Untersuchung zu Mösers Wiederbelebung der Ständesatire anhand der Commedia dell’arte mittels ‚des Grotesken‘; er verbindet dies auch mit einer Analyse der Rolle des grotesken Körpers in Texten von Möser bis Raimund. Vgl. Scheidweiler: Maler, Monstren, Muschelwerk, S. 85–161. 70 Vgl. Heidsieck: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Um ‚das Groteske‘ von anderen ästhetischen Kategorien wie ‚dem Absurden‘, ‚Tragikomischen‘ oder ‚Manieristischen‘ abgrenzen zu können, untersucht er Dramen von Brecht, Frisch oder Dürrenmatt. 71 Z.B. Carl Pietzckers wenig rezipierte Groteskentheorie aus dem Jahr 1980 (vgl. Pietzcker, Carl: „Das Groteske“. In: Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung, S. 85–102). 72 Vgl. Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 271.

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schen ‚primären‘ und ‚sekundären‘ (beziehungsweise ‚komplexen‘) Sprechgattungen: Literatur zählt er zur zweiten Gruppe, sie nehme ihrerseits primäre Gattungen in sich auf und verarbeite diese – im Vergleich zu primären Sprechgattungen könnte Literatur insofern als Metaisierung gesehen werden, als sie primäre Sprechgattungen potenziere und verdichte. Sekundäre Sprechgattungen „entstehen unter den Bedingungen einer komplexen, relativ hochentwickelten und organisierten (vor allem schriftlichen) kulturellen Kommunikation […]. Im Laufe ihres Entstehungsprozesses nehmen sie verschiedene primäre (einfache) Gattungen der unmittelbaren sprachlichen Kommunikation in sich auf und verarbeiten diese.“73 Die Evolution von literarischen Gattungen verbindet Bachtin nun mit Veränderungen in primären Gattungen und damit auch in sozialen Realitäten; diese Beeinflussung wirke in beiden Richtungen: Jede Epoche in der Entwicklung der Hochsprache hat ihre tonangebenden Sprechgattungen, und zwar nicht nur sekundäre (literarische, publizistische und wissenschaftliche), sondern auch primäre Gattungen (bestimmte Typen mündlichen Dialogs in Salons, im vertrauten Kreis, in Arbeitsgruppen, im Familienalltag, in der politischen Öffentlichkeit, in den philosophischen Wissenschaften u.a.). Jede Ausdehnung der Hochsprache auf Kosten der verschiedenen nicht-schriftlichen Schichten der Volkssprache zieht unausweichlich Umschichtungsprozesse nach sich: In die Gattungen der Hochsprache (in literarische, wissenschaftliche, publizistische sowie Gesprächsgattungen u.a.) dringen in mehr oder weniger beträchtlichem Umfang neue Verfahren ein und geben der Gattung eine neue Prägung; der Aufbau der Äußerung als Ganzheit, die Integration, die Einbeziehung des Hörers oder Partners u.a. nehmen neue Formen an und führen zu einer mehr oder weniger tiefgreifenden Umgestaltung und Erneuerung der Sprechgattungen selbst.74

So wie das Genre jedes (künstlerischen) Ausdrucks untrennbar mit seinem (historischen, sozialen, kulturellen etc.) Äußerungskontext verbunden ist, können auch Ästhetiken nicht entkoppelt von ihren Äußerungskontexten untersucht werden: Unterschiedliche Ästhetiken zeigen ‚die Welt‘ nicht nur grundverschieden, sondern nehmen sie auch grundverschieden wahr. Die ‚Wahl einer Ästhetik‘ folgt der Wahrnehmung von sozialen Zusammenhängen und realen Problemkonstellationen in Bachtins Verständnis nicht einfach nach. Vielmehr sehen Autor*innen bestimmte Dinge in ‚der Welt‘ unterschiedlich, weshalb Ästhetiken von verschiedenen thematisch verbundenen Texten (z.B. über die Shoah) stark differieren können – schließlich nimmt eine Autorin/ein Autor beim Verfassen 73 Bachtin, Michail M.: Sprechgattungen. Übers. von Rainer Grübel und Alfred Sproede. Berlin: Matthes & Seitz 2017, S. 9. 74 Ebd., S. 14 f.

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2. Ästhetiken des Grotesken

literarischer Texte nicht zuerst die Umwelt wahr und nimmt anschließend eine Transposition dieser Wahrnehmung in Literatur unter Zuhilfenahme verschiedener literarischer Techniken vor. Vielmehr ist bereits die Weltwahrnehmung selbst „shaped by genres of expression“.75 Daraus folgt, dass ein literarischer Text, der anhand von Ästhetiken des Grotesken beschrieben werden kann, andere Aspekte (sozialer) Realitäten thematisiert als ein Text, der sich beispielsweise melodramatischer, repräsentationaler oder dokumentarischer Ästhetiken bedient – Ästhetiken des Grotesken stellen hierbei keinen privilegierten Wahrnehmungsmodus dar, sondern lediglich einen unter vielen. Demnach können Ästhetiken zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedliche Aspekte von außerliterarischer Wirklichkeit thematisieren und so dazu beitragen, neue Aspekte daran wahrzunehmen. So wird anhand von Taboris Die Kannibalen etwa der Zusammenhang zwischen Ästhetiken des Grotesken und einer neuen literarischen Konzeption von Überlebenden als emanzipierten Sprecher*innen zu untersuchen sein oder anhand von Schindels Dunkelstein ästhetische Spiegelungen des Ablebens der Zeitzeug*innen an der Erinnerungsepoche des 21. Jahrhunderts. Ästhetiken können zu verschiedenen Zeitpunkten (re)aktiviert werden und dergestalt veränderte soziale Zusammenhänge und reale Problemkonstellationen reflektieren – insofern können sie auch als ‚akkumulierte Erfahrungen‘76 bezeichnet sowie als Gedächtnisträger verstanden werden. Literarische Texte leisten damit auch einen Beitrag als Medium des Gedächtnisses; nicht zuletzt, indem zu bestimm- und beschreibbaren historischen Zeitpunkten diverse literarische Ästhetiken praktiziert werden, können literarische Texte auch an jene epistemischen Verschiebungen erinnern, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens relevant waren (vgl. auch Kapitel 3 und 4). Wenn jeder literarische Äußerungsakt bestimmte Ästhetiken aktualisiert, können sukzessive (nicht revolutionäre, s. oben) Veränderungen in Ästhetiken wiederum mit sozialen Veränderungen in Zusammenhang gebracht werden: Mit der Aktualisierung verschiedenartiger Ästhetiken verändert sich das Spektrum von Wahrnehmungsmöglichkeiten – so lenken Ästhetiken des Grotesken im Sub-Feld der Shoah-Literatur den Blick auf andere Problemkonstellationen als etwa melodramatische Ästhetiken (z.B. die kanonische Fassung von Das Tagebuch der Anne Frank, vgl. Kapitel 1.1): Während melodramatische Ästhetiken oftmals in ein

75 Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 275. 76 Morson und Emerson verwenden diesen Terminus in Zusammenhang mit ihrer Analyse von Bachtins Gattungsbegriff: Da sprachliche Äußerungsakte immer in Verbindung mit kontextuellen Informationen zu denken seien (teilnehmende Personen, Wertvorstellungen etc.), könne man jede Gattung (im Sinne eines weiten Gattungsbegriffs) dergestalt als ‚akkumulierte Erfahrung‘ bezeichnen. (Vgl. Morson/Emerson: Creation of a Prosaics, S. 292.)

2. Ästhetiken des Grotesken

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Paradigma von Einfühlungsästhetiken einzuordnen sind, lässt sich im Falle von Ästhetiken des Grotesken häufig die Verwendung von literarischen Strategien der Verfremdung belegen, die eine Einfühlung von Seiten der Rezipient*innen in eine (Perspektiven-)Figur oft erschweren oder verhindern. Für den Groteskenbegriff, der dieser Untersuchung zugrunde liegt, folgt da­raus, dass Ästhetiken in diesem Sinne ähnlichen Regulativen gehorchen wie (primäre und sekundäre) Sprechgattungen und damit Gattungen im Bachtin’schen Sinn: Eine Systematik von Ästhetiken basierend auf strukturellen, motivischen, formalen, oder sprachlichen Merkmalen zu entwerfen, erscheint verfehlt – schließlich hat gerade Kaysers Versuch einer Definition des Grotesken gezeigt, wie wenig trennscharf Motivbündel oder strukturelle Merkmale im Einzelfall sind. Für ein differenziertes Verständnis einer vielschichtigen, wandelbaren und traditionsreichen Ästhetik wie der des Grotesken ist vielmehr eine sprechakttheoretische Perspektivierung sinnvoll, da sie die soziale Umgebung des Äußerungsaktes einbezieht. Nur so ist gewährleistet, dass auch unterschiedliche Spielformen des Grotesken berücksichtigt und in Zusammenspiel mit ihrem Äußerungskontext beschrieben werden können. Äußerungskontexte wie soziale Zusammenhänge und reale Problemkonstellationen blendet Kaysers Groteskenkonzeption dort aus, wo ihr Verfasser die Verbindung zwischen ‚realer Welt‘ und grotesker Ästhetik im Metaphysischen verortet, anstatt sie an eine konkrete politisch-historische Realität rückzubinden. Auch sein Fazit, das Groteske banne ‚das Unheimliche in der Welt‘, setzt die ästhetische Sprengkraft des Grotesken herab und ordnet sie in seiner Argumentation wieder einer klassizistischen Elitenästhetik unter. Bachtins Verständnis des Grotesken hingegen ist stärker ideologisch-politisch konturiert: Gerade eine Engführung seines Gattungsbegriffs mit seiner Analyse von Rabelais und seine Welt zeigt, dass in Bachtins Argumentation das Groteske nicht lediglich als hässlicher Rücken des Klassizistischen auftaucht, sondern das Klassizistische als gattungsgeschichtliche Austreibung des Grotesken gilt. Ästhetiken des Grotesken sind demzufolge nicht Begleiterscheinungen klassizistischer Ästhetiken, sondern sind als komplementär zu ihnen zu sehen. Damit löst Bachtin sie aus ihrer Abhängigkeit von klassizistischen Ästhetiken, da sie nicht mehr mittels Abgrenzungsfiguren von klassizistischen legitimiert werden müssen, und zeigt sie auf diese Weise als weitaus facettenreichere künstlerische Manifestation eines Wahrnehmungsmodus als Kayser. Ausgehend von Bachtins Literatur- und Gattungsbegriff werden Ästhetiken des Grotesken beschreibbar unter Rückgriff auf soziale Realitäten und vielförmige diskursive Kontexte, unter denen klassizistische lediglich eine mögliche Referenzfolie darstellen. Für vorliegende Untersuchung der dramatischen Arbeiten von Tabori und Schindel bedeutet dies, dass Texte, die sich Ästhetiken des Grotesken bedienen, nicht als homogene ‚Gruppe‘ mit gemeinsamen Textmerkmalen (seien es moti-

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2. Ästhetiken des Grotesken

vische, strukturelle o.ä.) zu verstehen sind; daher ist hier stets im Plural die Rede von ‚Ästhetiken des Grotesken‘. Die untersuchten Texte verbindet, dass sie im Zusammenspiel mit grundlegenden Darstellungsfragen sowie mit erinnerungspolitischen und medialen Veränderungen entstehen und so als Indikatoren für sukzessive Umgestaltungen auch sozialer Zusammenhänge zu begreifen sind. Ein Sub-Feld wie jenes der Shoah-Literatur eignet sich besonders gut, um unter dieser Prämisse außerliterarische Konfigurationen und ihre Verquickung mit sich wandelnden Ästhetiken zu untersuchen, da darin spezifische Feldeffekte greifen. Diese lassen erkennen, dass außerliterarische Konfigurationen gleichermaßen relevant sind wie literarische Strategien, die für jeden Text individuell betrachtet werden müssen. Bei der Beschreibung von literarischen Verfahren und Ästhetiken in den folgenden Kapiteln müssen also die jeweiligen literarischen und nicht-literarischen Bezugssysteme, die im vorhergehenden Kapitel skizziert wurden, stets mitgedacht werden; Spezifizierungen sind in den beiden Kapiteln zu Tabori und Schindel noch zu ergänzen. Die Arbeiten von Tabori und Schindel werden im Folgenden in jenes diskursive Bezugsfeld gesetzt, das Kapitel eins skizziert hat; davon ausgehend werden ihre Ästhetiken des Grotesken mittels einer Bachtin’schen Perspektivierung beschrieben. Bourdieus Feldbegriff hat dabei einen heuristischen Rahmen gegeben, um das soziokulturelle und literarische Bezugssystem abzustecken. Bachtins Karnevalssemiotik und seine Gattungstheorie sind ebenso relational konzipiert wie Bourdieus Feldtheorie, allerdings untersucht Bachtin Kulturgeschichte und literarische Evolution weniger aus einer soziologischen als aus einer kultursemiotischen und sprechakttheoretischen Perspektive. Eine solche Perspektivierung der Arbeiten von Tabori und Schindel steht auch im Fokus der folgenden Kapitel, die kein spezifisch soziologisches Erkenntnisinteresse verfolgen.

3. KÖRPER UND KANNIBALEN Ästhetiken des Grotesken und Theaterarbeit bei George Tabori

In einem der Gespräche, die der deutsche Regisseur Dietmar N. Schmidt für einen Dokumentarfilm mit Tabori führte, bezeichnet Tabori sich als Gastarbeiter, als Einwanderer also, dessen Aufenthalt in einem fremden Land (vermeintlich) zeitlich befristet sei: „Ich bin George Tabori erstmal, heimatlos, ein Gastarbeiter, ein sehr schönes Wort, und ich nehme das Wort als Ausländer wörtlich, ich bin ein Gast hier, versuche mich als Gast zu benehmen, was mir nicht immer gelingt. Aber ich erwarte, daß die Gastgeber mich als Gast betrachten. Und wenn sie das nicht tun, dann packe ich meine Koffer.“1 Wider seine Erwartungen hat Tabori, so legt dieses Zitat nahe, nach seinem ersten längeren Aufenthalt in Berlin (1969) seit Kriegsende bis zu seinem Tod 2007 ein (künstlerisches) Zuhause im deutschsprachigen Raum gefunden: Nachdem am 13. Dezember 1969 das 1963 fertig­ gestellte und 1968 in New York uraufgeführte2 Drama Die Kannibalen in der Werkstatt des Westberliner Schiller-Theaters –damals bekannt für seine politisch-avantgardistischen Produktionen3 – in einer Inszenierung von Tabori und Martin Fried zur europäischen Erstaufführung gekommen war, blieb Taboris Arbeit mit dem deutschsprachigen Theater verbunden. Die Berliner Aufführung trägt mittlerweile einen historischen Index, markiert sie doch Taboris Eintritt in ein literarisches Feld, in dem sich seine Arbeit – auch rückblickend – nur schwer in bestehende Konventionen zeitgenössischer Theaterproduktion einordnen lässt. Die Einschätzung Anat Feinbergs – sie legte 1999 eine der ersten Tabori-Monografien vor –, es handle sich bei Die Kannibalen um einen „erste[n] Angriff auf die Holocaust-Larmoyanz und den guten Geschmack“,4 lässt sich in mehrerer Hinsicht bestätigen. Bereits ein Blick auf die Handlung des Dramas zeigt die inhaltliche und ästhetische Kluft, die sich zwischen Taboris Drama und dem

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Schmidt, Dietmar N.: „Aus Betroffenheit Kunst: Nathan, Shylock. Szenen eines Films mit G ­ eorge Tabori“. In: Welker, Andrea (Hg.): George Tabori. Dem Gedächtnis, der Trauer und dem Leben gewidmet. Portraits. Wien, Linz: Bibliothek der Provinz 1994, S. 105–106, hier: S. 105. Schmidt zitiert hier eine Szene aus seinem Dokumentarfilm Humor als Weisheit der Seele. Der Regisseur George Tabori (1996). 2 Die von Martin Fried inszenierte Uraufführung fand in einer alten New Yorker Kirche statt; in einen sakralen Raum kehrte Tabori mit seiner Inszenierung von Franz Schmidts Oratorium Das Buch mit den sieben Siegeln für die Salzburger Festspiele 1987 zurück. 3 Vgl. Donahue, William Collins: „Waiting for The Cannibals: George Tabori’s Post-Holocaust Play“. In: ders./Martha B. Helfer (Hg.): Nexus. Essays in German Jewish Studies 4 (2018), S. 103– 136, hier: S. 107. 4 Feinberg: George Tabori, S. 81.

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3. Körper und Kannibalen

gros der Shoah-Literatur der 1960er Jahre auftut: Sie eröffnet sich auf der Zeit­ ebene der Jahre 1944/45 sowie der Zeitebene der Gegenwart des Schreibens: In einem Konzentrationslager kommt der Häftling Puffi in einem Handgemenge mit seinen Mithäftlingen5 zu Tode, als sie ihn beim Verzehr eines gestohlenen Stücks Brot erwischen und es ihm entreißen. Sie beschließen, den Toten zu kochen und zu essen – alle Versuche von (der ansonsten namenlosen Figur) Onkel, sie durch Erinnerungen an ihre Menschenwürde daran zu hindern, bleiben erfolglos. Als das Fleisch gar ist, entdecken KZ-Aufseher das kannibalische Mahl und stellen die Häftlinge vor die Wahl: Entweder sie essen davon und werden dabei fotografiert – die Fotos sollen für antisemitische Propaganda verwendet werden –, oder sie werden umgehend ermordet. Mit zwei Ausnahmen verweigern die Häftlinge das Mahl; die beiden Überlebenden erzählen Angehörigen ihrer ermordeten Mithäftlinge Jahre später von den Ereignissen. In dieser Konfiguration entspinnt sich die zweite Zeit- und Handlungsebene des Stücks, im Text wird also die Handlung des Dramas gleichzeitig entwickelt und kommentierend reflektiert. Die Handlung beider Textebenen entfaltet sich während des Wartens darauf, dass der Kochvorgang beendet und Puffi gar ist. Das Drama endet mit dem Bild eines essenden SS-Mannes, der „wie ein Tier schlingend“ (K 299) Puffi verzehrt. Wie das vorige Kapitel gezeigt hat, ist es gemäß einer sprechakttheoretischen Perspektivierung von Ästhetiken des Grotesken sinnvoll, künstlerische Äußerungsakte in ihrem Kontext zu untersuchen. Für Taboris Kannibalen sind also die Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen Tabori als ungarisch-jüdischer, deutsch sprechender, auf Englisch schreibender und in den USA lebender Theaterautor in das deutschsprachige literarische Feld eintritt (Kapitel 3.1); dass Taboris Verhältnis zu unterschiedlichen Theatertraditionen beachtet werden muss, um die Konzeption seiner Theaterarbeit adäquat zu beschreiben (Kapitel 3.2); überdies Taboris Auseinandersetzen mit tabuisierten Diskursen wie Kannibalismus und Anthropophagie oder Opferbildern, die von philosemitischen Paradigmen abweichen (Kapitel 3.3 und 3.4). Ohne ein Pauschalurteil zu fällen, lässt sich bereits jetzt festmachen, dass ge­­ wisse etablierte zeitgenössische Konventionen im literarischen Schreiben über die Shoah auf Die Kannibalen nicht zutreffen – so das Paradigma des ‚blinden‘ Philosemitismus, die Linearität von Handlungsentwicklung, die Rekonstruktion faktischer Evidenzen wie Abläufen in Lagern etc. Welche Spezifika von Taboris Drama Ressource von Veränderungen im literarischen Umgang mit der Shoah darstellten, die gar als „Angriff “ (Feinberg) auf bestehende Konventionen gewertet werden, steht im Folgenden zur Diskussion. Dabei ist auch die These zu untersuchen, dass Taboris Arbeiten symptomatisch sind für jenen veränderten Umgang mit dem Körper von Überlebenden, 5

Unter den Häftlingen sind auch „ein Politischer“ (die Figur Lang) und „der Zigeuner“.

3.1 Anfänge in der BRD

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der sich in Literatur und Erinnerungskultur in den folgenden Jahrzehnten ablesen lässt: Sie betreffen vor allem dessen Materialität und Selbstreferentialität, die mittels literarischer Strategien des Performativen akzentuiert werden und sich damit auch in wesentlichen Punkten vom Dokumentarismus (z.B. Weiss) absetzen. Beide bedingen einen veränderten Blick auf (die Körper von) Überlebende(n) (Kapitel 3.5) und lassen sich mit solchen literarischen Strategien verbinden, die zur Konstitution von Ästhetiken des Grotesken in Taboris Dramen beitragen. Diese veränderte Rolle der Körperlichkeit der Shoah-Erfahrung ist in Taboris Dramen konzeptuell verbunden mit seiner Arbeit mit Schauspieler*innen: Seinen Weg vom belächelten Theaterexperimenteur der 1970er zum akklamierten Schauspielleiter und Burgtheater-Regisseur der 1990er Jahre kennzeichnet eine anfangs wenig etablierte Ablehnung des konventionellen Regietheaters. Als Tabori 1987 das Wiener Schauspielhaus übernimmt und es in Der Kreis umbenennt, setzt er auch institutionell ein Zeichen für eine Theaterarbeit, die den Arbeitsund Produktionsformen der Staatstheater entgegentritt: die Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Schauspieler*innen als demokratische Arbeitsform; die von Lee Strasberg beeinflusste Arbeit an den Rollen; die mögliche Einbeziehung von Zuseher*innen; schließlich ein Verständnis von Theaterarbeit als kontinuierlicher Experimentierprozess, das sich gegen das Staatstheater mit seinem Fokus auf ein fertiges, beliebige Male reproduzierbares Produkt stellt (Kapitel 3.2). Ein umfassendes Verständnis von Taboris Arbeit als ‚Bühnenarbeiter‘, als der er sich bezeichnet,6 ist nötig für eine Analyse jener literarischen Strategien, die Taboris Ästhetik des Grotesken in seinen Dramen konstituieren und die Bedeutung seines Werkes für eine Literaturgeschichte der Shoah abstecken. Während die literaturwissenschaftliche Forschung Taboris ‚Holocaust-Stücke‘ in der Regel entkoppelt von seiner Theaterarbeit untersucht, ist eine Engführung von Theatertexten und seiner Arbeit mit Schauspieler*innen am Körper und an körperlicher Erfahrung (z.B. in Hungerkünstler, 1977) unumgänglich; außerdem müssen diskursive Verschiebungen im Sprechen über Zeitzeug*innen (Konsequenzen der Eichmann-Prozesse etc.) berücksichtigt werden, um Taboris neuartigen Zugriff auf die Shoah-Erfahrung beschreiben zu können.

3.1 Anfänge in der BRD Taboris erstem im deutschsprachigen Raum aufgeführten Theaterstück kommt aus mehreren Gründen eine zentrale Rolle zu: Erstens markiert es Taboris Ein6

Vgl. z.B. Tabori, George: „Tode am Nachmittag. aus: Die sehr kurzen Memoiren eines älteren Bühnen-Arbeiters“. In: ders.: Unterammergau oder Die guten Deutschen. Frankfurt: Suhrkamp 1981, S. 179–198.

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tritt in das deutschsprachige literarische Feld; damit kennzeichnet sein dramatisches Schreiben (die Romanproduktion ist bereits beendet) von Beginn an eine Ästhetik, die seine Arbeiten von zeitgenössischen Konventionen absetzt und die auch für Taboris weitere Dramen konstitutiv sein wird. Zweitens ist Die Kannibalen Taboris erste explizite Auseinandersetzung mit der Shoah; zwar lassen frühere Texte Vorläufer erkennen, etwa in seiner ambivalenten Figurenzeichnung oder der Konzeption von Opfer-Figuren, doch die Hinwendung zu ausdrücklichen Shoah-Themen markiert eine thematische Zuspitzung des Werks. Drittens verdichtet Tabori in Die Kannibalen erstmals jene literarischen Strategien, welche konstitutiv für seine Ästhetik des Grotesken werden und welche auch spätere Arbeiten (z.B. Jubiläum, 1983) charakterisieren. So wie Kannibalen den vielbeachteten Beginn seiner Arbeit in der deutschsprachigen Theaterlandschaft einleitet, so begründet die Uraufführung von Jubiläum, für die Tabori den Mühlheimer Dramatikerpreis erhielt, vierzehn Jahre später seinen endgültigen Durchbruch als Dramatiker. Es folgte die Anerkennung auch durch Konsekrationsinstanzen außerhalb der Theaterlandschaft, etwa mit dem Büchner-Preis 1992.7 Mit Die Kannibalen stellt sich Tabori schon in den 1960er Jahren gegen das in der theatralen Landschaft der BRD konsolidierte philosemitische Paradigma und nimmt sich der Perspektive von Überlebenden an – dies wird zu einem wiederkehrenden Thema in seinen Dramen. Etwa reflektiert Jubiläum in den frühen 1980er Jahren die veränderte Erfahrung von Shoah-Überlebenden im zeitgenössischen politischen Klima der Bundesrepublik, indem Tabori darin jene antisemitischen Ideologien aufgreift, die über die Nachkriegszeit hinaus außerhalb etablierter (literarischer) Diskurse problemlos weiterbestehen konnten: In Jubiläum sind die Toten auf einem Friedhof – manche von ihnen wurden im Genozid ermordet – 50 Jahre nach Hitlers Machtergreifung8 „dazu verurteilt, […] sich an das zu erinnern, was sie lieber vergessen würden, nämlich den achten Kreis der Hölle“,9 wie es in den einleitenden Anmerkungen heißt. Die neue Kontur, die Shoah-Erinnerung ab den 1980er Jahren schrittweise erhält (steigende Rezeption von Überlebendentexten; ‚Historikerstreit‘; Aufschwung von rechtsextremen Ideologien in den 1960er und 1970er Jahren10 etc.) klingt bereits in der ersten 7

Infolge der Zuerkennung des Büchner-Preises sei auch das wissenschaftliche Interesse an Taboris Oeuvre angestiegen, so Bayerdörfer und Schönert (vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter/Schönert, Jörg: „Vorwort“. In: dies. (Hg.): Theater gegen das Vergessen. Bühnenarbeit und Drama bei George Tabori. Tübingen: Niemeyer 1997, S. VII–IX, hier: S. VII). 8 Die Premiere der Uraufführung an den Bochumer Kammerspielen wurde auf den Jahrestag der ‚Machtergreifung‘, den 30. Januar 1983, gelegt. 9 Tabori, George: Jubiläum. In: Theater. Band 1. Hg. von Maria Sommer und Jan Strümpel. Göttingen: Steidl 2014, S. 589–621, hier: S. 591. 10 Vgl. Stöss, Richard: „Zur Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland“. In: Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/198940/zur-entwicklung-des-rechtsextremismus-in-deutschland [2.4. 2021].

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Szene an, in der einer der jüdischen Toten einem jungen Neonazi dabei hilft, „die Grabsteine mit Parolen und Hakenkreuzen“11 zu beschmieren. Die Sprechenden sind im Drama Tote, stehen jedoch auch ein für die Generation der Überlebenden – auf den Friedhof verbannt, finden sie Gehör nur unter sich und bleiben aus einem lebendigen Erinnerungsdiskurs ausgeschlossen. Dieses Motiv der diskursiven Ausgrenzung wiederholt sich in Tabori-Dramen über rund drei Jahrzehnte: So wie der Shoah-Überlebende Hirschler in Die Kannibalen erzählt, dass sein „Gehirnklempner […] völlig taub“ sei und seinen „Hör­ apparat“ (K 278) abstelle, sobald er zu erzählen beginnt, spricht auch Taboris Nathan im Jahr 1991 seine Ringparabel ohne Zuhörende (vgl. Kapitel 1.2). Diese kurzen Beispiele sollen auf den größeren werkgeschichtlichen Zusammenhang hinweisen, in dem Die Kannibalen zu sehen ist; spätere Dramen knüpfen häufig an Motive, Themen oder Poetiken an, die Tabori in seinem ersten Drama entwickelt. So verbindet etwa die Auseinandersetzung mit multiplen Erinnerungen an die Shoah sowie die Kontinuität der Verfolgungserfahrung Die Kannibalen und Jubiläum; und über Mein Kampf bekräftigt Tabori 1987: „‚Mein Kampf ‘ ist ‚Kannibalen‘ heute.“12 Zwar befasst sich nicht Taboris gesamtes dramatisches Oeuvre explizit mit der Shoah – etwa hat Pinkville den Vietnamkrieg zum Thema; Hungerkünstler ist eine Kafka-Adaption; Sigmunds Freude basiert auf Protokollen eines Seminars des Gestalttherapeuten Fredrick S. Pearls –; jedoch ist die schrittweise Anerkennung von Taboris Arbeit im deutschsprachigen Raum untrennbar mit seinen ‚Holocaust-Stücken‘ verbunden. In den rund 25 Jahren zwischen Taboris Eintritt in das deutschsprachige literarische Feld und der späteren, auch institutionellen Anerkennung seiner Arbeit (Büchner-Preis) ändert sich die Häufigkeit von Tabori-Inszenierungen auf den Spielplänen: So wurde Die Kannibalen in den 1970er Jahren noch unbefangen inszeniert, wohingegen es anschließend bis Mitte der 1980er Jahre kaum Inszenierungen von Tabori-Stücken gab außer seinen eigenen.13 Für Pott und Sanders Diagnose, der Erfolg von Mein Kampf habe ein steigendes Interesse an seinem ‚Erstlingswerk‘14 Die Kannibalen bedingt und möglicherweise die Popularisierung von Tabori vorangetrieben, spricht der Anstieg der Inszenierungen von Die Kannibalen in der Saison 1987/88 auf fünf auf deutschen und österreichischen Spielplänen. 1989/90 folgten bereits 14 Inszenierungen von Tabori-Stücken (13 davon von Mein Kampf) und in der Spielzeit 1991/92 gehörte Tabori schließlich

11 Tabori: Jubiläum, S. 592. 12 „‚Es ist das große Welttheater, jedes Leben‘. George Tabori über ‚Mein Kampf ‘ im Gespräch mit Reinhard Palm und Ursula Voss“. In: Theater heute 7 (1987), S. 24-26, hier: S. 25. 13 Vgl. Schulze-Reimpell: „Vom Provokateur zum Medienstar“, S. 15. 14 Vgl. Pott/Sander: „Abdankung des Dokumentarischen“, S. 159.

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zu den meistgespielten Autor*innen des deutschen Theaters.15 Überraschenderweise gingen die Aufführungen ab dem Jahr der Büchner-Preis-Verleihung wieder erheblich zurück – über mögliche Gründe ließe sich ohne eingehende Untersuchung nur spekulieren. Deutlich wird bei Betrachtung der Aufführungskonjunkturen jedenfalls, dass Taboris ‚Holocaust-Stücke‘16 in allen Phasen der Tabori-Rezeption am häufigsten inszeniert wurden. Auch nach seinem Tod kommen nicht nur, jedoch vor allem die ‚Holocaust-Stücke‘ zur Aufführung.17 Anlässlich des 100. Geburtstags (2014) des wenige Jahre zuvor Verstorbenen finden von Wien bis Berlin in Theatern und Rundfunk gleichermaßen Feierlichkeiten ihm zu Ehren statt,18 die Anzahl der Tabori-Inszenierungen steigt im Zuge dieser wieder. Für eine Erschließung von Taboris Rolle in der Literaturgeschichte der Shoah ist nun neben der wichtigen Rolle, die seine ‚Holocaust-Stücke‘ gegenüber seinen anderen Arbeiten für seine Anerkennung spielen, auch folgendes Alleinstellungsmerkmal relevant: Tabori ist der bisher einzige Büchner-Preisträger, der zwar im deutschsprachigen Raum lebt und arbeitet, den Großteil seiner Texte jedoch in einer anderen Sprache verfasst: Er schreibt meist auf Englisch, übersetzt werden die Arbeiten oft von Taboris dritter Frau Ursula Grützmacher-Tabori.19 Taboris 15 Vgl. Schulze-Reimpell: „Vom Provokateur zum Medienstar“, S. 15 f. 16 In der Tabori-Forschung werden diese oft gesondert von Dramen mit anderem Inhalt untersucht, vgl. etwa Strümpel, Jan: Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele. Göttingen: Wallstein 2000. 17 Z.B. Mutters Courage (z.B. Theater im Viertel, Saarbrücken, 2006; Staatstheater Kassel, 2016), Die Kannibalen (Berliner Ensemble, 2014;), Mein Kampf (Verfilmung durch Urs Odermatt, 2009; Braunschweig, 2014; Schauspiel Hannover, 2016; die vielbeachtete Inszenierung am Theater Konstanz im Frühjahr 2018, bei der die Ankündigung, Theaterbesucher*innen mit Hakenkreuzbinden kostenlosen Eintritt zu gewähren, kontroverse Diskussionen auslösten; Burgtheater Wien 2020). 18 Z.B. ein ‚Tabori-Abend‘ mit Gert Voss und Ignaz Kirchner im Wiener Burgtheater; eine mehrtägige Hommage mit Filmen, Inszenierungen, Lesungen im Berliner Ensemble; eine Ausstrahlung der Bearbeitung von Masada von Ursula Voss im Deutschlandradio Kultur von 1990. 2010 wird außerdem ein George Tabori Preis für die Freien Darstellenden Künste verliehen. 19 Für einen ersten, exemplarischen Fassungsvergleich zwischen der ersten englischsprachigen Veröffentlichung von Die Kannibalen (1974) und dem deutschsprachigen Text sowie verschiedenen Fassungen von Mein Kampf vgl. Schmidt, Stephanie: „George Tabori als Wanderer zwischen Sprachen und Gattungen der Literatur“. In: Bayerdörfer/Schöner: Theater gegen das Vergessen, S. 333–345. Eine systematische Untersuchung der komplexen Formen von Autorschaft bei Tabori ist ein Desiderat der Tabori-Forschung; über die textlichen Eingriffe seiner Exfrau und Übersetzerin wird in der Tabori-Forschung zwar gemutmaßt – so soll in einer Übersetzung beispielsweise aus einer nicht-jüdischen eine jüdische Figur geworden sein –, es liegen bisher jedoch keine umfassenden Forschungsergebnisse vor. Eine kontinuierliche Arbeit am Text während des Probenprozesses bedingte auch Taboris Arbeit mit Schauspieler*innen, in denen laufend Ideen und Vorschläge in den Text eingearbeitet wurden – „Probenarbeit bedeutet einfach Schreiben mit anderen Mitteln“, so Tabori. (Tabori, George: „‚Psychologisches Theater‘“. In: Welker: George Tabori, S. 117.) Diesem Phänomen sowie Konzepten kollektiver Autorschaft

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komplexes Verhältnis nicht nur zu Sprache, sondern auch zu kultureller Identität speist sich aus einer Biografie des Exils und der Bewegung zwischen Sprachen und Kulturen: „Ich fühle mich nicht als Ungar,“, so Tabori 1990, „ich fühle mich nicht als Engländer, wo ich eigentlich erwachsen geworden bin, ich fühle mich nicht als Amerikaner, wo ich zweiundzwanzig Jahre lebte, gewiß nicht als Deutscher.“20 Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Autor den wichtigsten Literaturpreis eines Landes erhält, wenn er eine Vereinnahmung seiner Identität als Bewohner dieses Landes (‚Deutscher‘) ablehnt und seine Texte nicht in der Mehrheitssprache des Landes schreibt, wenngleich seine schriftstellerische Arbeit mit dessen Geschichte verflochten ist.21 In der Begründung für die Verleihung des Büchner-Preises an Tabori heißt es, die Juroren „bewundern“ in seinen „Theaterstücke[n], seine[r] klärende[n] Prosa und seine[r] engagierte[n] Theaterarbeit […] seinen Mut, dem deutschen Publikum mit Witz [sic] Ironie und doch mit der Leidenschaft des Opfers und der Distanz des Weisen die unheilvolle gemeinsame Geschichte der Deutschen und Juden vor Augen zu führen.“22 Für eine Erschließung von Taboris Arbeit und deren Funktion im literarischen Feld ist diese Jurybegründung vorderhand aufschlussreich, da sie zwei Aspekte herausstreicht: neben ästhetischen Charakteristika (Witz, Ironie) auch eine gewisse biografische Legitimation für Taboris Schreiben („Leidenschaft des Opfers“). Dieser implizite Verweis auf Taboris ‚Jude‘-Sein ist auch in Wolf Biermanns Laudatio zentral23 und bezeichnet eine auffällige Konstante in der Rezeption von Taboris Dramen.

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widmet sich Cornelia Blasberg unter anderem in ihrem aufschlussreichen Beitrag über Autorschaftskonzepte in Taboris Dramen (Blasberg, Cornelia: „Adolf Hitler/George Tabori: ‚Mein Kampf ‘. Über Autorschaft auf der Bühne (der Geschichte)“. In: Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart: Metzler 2002, S. 258–277). Schmidt: „Aus Betroffenheit Kunst“, S. 105. Wie umstritten derartige Entscheidungen sein können, zeigt 2016 die Weigerung einiger Jurymitglieder des Österreichischen Staatspreises, diesen an den auf Slowenisch schreibenden österreichischen Kärntner Slowenen Florjan Lipuš zu verleihen. Zweifelhaft ist dieser Juryentscheid, da Kärntner Slowenen als autochthone Volksgruppe anerkannt sind und Lipuš’ Arbeit etwa NS-Widerstand in Österreich, Vertreibung und Ermordung der Kärntner Slowenen oder den Alltag der slowenischen Minderheit in der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung bearbeitet. (Vgl. Jung, Jochen: „Peinliche Affäre rund um Österreichischen Staatspreis. Wie slowenischsprachigem Autor eine verdiente Würdigung versagt wurde“. In: Die Presse, 04. Januar 2017. URL: http://diepresse. com/home/meinung/gastkommentar/5149018/Peinliche-Affaere-rund-um-Oesterreichischen-Staatspreis [2.4.2021].) Der Staatspreis wurde Lipuš schließlich im Jahr 2018 zuerkannt. Preisträger des Büchnerpreises. In: Homepage der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. URL: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/george-tabori [2.4.2021]. Vgl. Biermann, Wolf: „Ein herzerfrischender Skandal“. In: Homepage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. URL: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georgbuechner-preis/george-tabori/laudatio [2.4.2021].

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Als Jude gehört Tabori in den 1990er Jahren bereits einer etablierten Opfergruppe an, er wird nicht zuletzt in seiner gesellschaftlich-diskursiven Funktion und Rolle als Opfer geehrt; über Taboris Wiener Zeit schreibt Gaston Salvatore, dessen Stalin Tabori im Kreis inszeniert hat: „Die Theater- und Literaturpreise fingen geradezu an, über ihn herzufallen. Tabori konnte nichts falsch machen. Tabori stand in Deutschland unter Naturschutz.“24 Die Zuschreibung einer Opferrolle verweist einmal mehr auf die nach wie vor gültige diskursive Konvention, die Biografie von Autor*innen zur Legitimation von Darstellungen – vor allem im Falle solcher Ästhetiken, die konventionelle Wahrnehmungsmuster irritieren (hier: Witz, Ironie) – heranzuziehen, wie auch an Kormans Video deutlich wurde. Da Tabori die Kriegsjahre fernab der Schauplätze des Genozids verbrachte, hat er keine eigenen biografischen Erfahrungen mit Deportation und Vernichtung: Nach einem ersten Besuch bei seinem Bruder in London (1935) pendelte er bis 1939 regelmäßig dorthin. Die ersten Kriegsjahre erlebte er als Korrespondent britischer Zeitungen in Sofia und Istanbul, arbeitete für den britischen Nachrichtendienst (er erhielt 1941 die britische Staatsbürgerschaft) und zog deshalb 1942 nach Jerusalem; ab 1943 lebte er wieder in London, bevor er 1947 in die USA ging und erst im Anschluss an die deutsche Erstaufführung von Die Kannibalen in die BRD umzog. Dennoch ist die Verflechtung von biografischer Legitimation und ‚Wirklichkeitsbezug‘ eine wichtige Ressource für einige Tabori-Dramen; neben seinem ‚Jude‘-Sein25 betrifft dies auch die Ermordung eines Großteils von Taboris „akkulturierte[r]“26 ungarischer Familie (Mutter und Großmutter sprachen fließend Deutsch, auch sein Kindermädchen war zweisprachig):27 die Ermordung des Vaters in Auschwitz hatte Einfluss auf Die Kannibalen, das Überleben seiner Mutter – sie starb 1963 in London – auf Mutters Courage. Ersteres ist geschrieben „Zum Gedenken an CORNELIUS TABORI, / umgekommen in Auschwitz, / ein bescheidener Esser.“ (K 237), so die zynische, auf die Ästhetik des Dramas vorausweisende Widmung. In dem zuerst als Erzählung, dann als Hörspiel und schließlich als Drama vorliegenden Text Mutters Courage28 – Transpositionen in 24 Salvatore, Gaston: „George Tabori“. In: Welker: George Tabori, S. 186–187, hier: S. 187. 25 Taboris Verhältnis zum Judentum ist komplex. Er selbst bekannte sich zum Judentum, kann jedoch kaum als sehr gläubig bezeichnet werden, da er testamentarisch eine Einäscherung verfügte, nach jüdischem Glauben ein Sakrileg. In seinen Dramen zeugt eine Fülle intertextueller Verweise von seiner profunden Kenntnis jüdischer Geschichte und Religion. Zu Veränderungen in Taboris Auseinandersetzung mit dem Judentum vgl. z.B. Zipes, Jack: „George Tabori and the Jewish Question“. In: Theater 29, 2 (1999), S. 98–107. 26 Feinberg: George Tabori, S. 9. 27 Vgl. ebd., S. 11. 28 Der am 17. Mai 1979 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführten Dramenfassung (Regie: Tabori, Fried) waren eine erstmals 1981 in dem Band Son of a bitch erschienene Erzählung sowie eine Hörspielproduktion (1979) vorausgegangen.

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verschiedene Gattungen kommen in Taboris Oeuvre mehrfach vor – erzählt die Figur George von der wundersamen Rettung seiner Mutter Elsa Tabori vor der Deportation: von der Verhaftung am Budapester Westbahnhof, der Deportation in einem Viehwagen und ihrer mirakulösen Flucht, die sie einem SS-Offizier verdankt. Sie behauptet, ihren Schutzpass des Roten Kreuzes vergessen zu haben, woraufhin dieser sie nach Budapest zurückfahren lässt. Deutlich zeigt dieser kursorische Blick auf jene beiden Texte, in denen Tabori den ‚Wirklichkeitsbezug‘ zwischen seinen literarischen Arbeiten und seiner Familiengeschichte am deutlichsten akzentuiert,29 die für viele Tabori’sche Selbstaussagen typische Vermischung von (biografischen) Fakten und anekdotischer Fiktion.30 Wenngleich er selbst die NS-Diktatur außerhalb der besetzten Gebiete verbracht hat, macht Tabori biografische Erfahrungen geltend als Anstoß für seine literarische Produktion: Er erinnert sich an die ersten im Ausland eintreffenden Nachrichten von Konzentrationslagern – Tabori war damals Sprecher der ungarischen Abteilung bei der BBC in London – und erzählt von „Schreckensnachrichten, und gleich [der] eigene[n] Reaktion, wer von denen, die ich kenne und liebe, dort waren, und da war es ganz unmöglich, sich nicht damit zu beschäftigen.“31 Dieses Erlebnis habe auch das Bedürfnis gespeist, einen Roman über seinen Vater zu verfassen – er sei allerdings unveröffentlicht geblieben. Zeitliche Parameter legen nahe, dass sich Tabori damit auf den von seinem Verlag abgelehnten Roman Pogrom bezieht, der das Leben in einem Konzentrationslager zum Thema haben dürfte: In Rückschau beschreibt Tabori 1994 in einem Interview das Vorhaben, in Pogrom „das Leben in einem KZ [zu] beschreiben. Doch dann merkte ich, daß das nur jemand kann, der selbst dort gewesen ist.“32 Er habe also 29 Zur Biografie als Legitimationsstrategie im Kontext der Aufführungen von 1969 und 2014 (Inszenierung im Berliner Ensemble anlässlich Taboris 100. Geburtstag) sowie deren Rezeption anlässlich der Uraufführung vgl. Donahue: „Waiting for The Cannibals: George Tabori’s Post-Holocaust Play“, bes. S. 112–120. 30 Neben dem Überleben der Mutter als realer Person und als Figur in Mutters Courage trägt auch Georges in der Dramenfassung angedeutete Biografie Parallelen zu jener des Autors Tabori. Das Spiel mit autobiografischen ‚Wirklichkeitsbezügen‘ erweitert Tabori, indem er in Michael Verhoevens Verfilmung (1994) die Figur des Sohnes spielt. Solcherlei Strategien der Verknüpfung von dargestellter figura und realer peresona würden einer weiteren Untersuchung lohnen. Eine Studie zu Taboris Selbst- und Autorschaftsinszenierung ist mithin ebenso ein Desiderat der Tabori-Forschung wie eine systematische Untersuchung von Epitexten wie Briefen oder Notizen. Sandra Pott und Jörg Schönert ziehen1997 Bilanz über die Rezeption von Taboris Arbeiten in Deutschland und thematisieren dabei auch Strategien der Selbstinszenierung – beispielsweise anhand des Films „Nach Ihnen, Herr Mandelbaum.“ George Tabori in Auschwitz, gedreht von 3sat anlässlich Taboris 80. Geburtstags (vgl.: Pott, Sandra/Schönert, Jörg: „Tabori unter den Deutschen: Stationen einer ‚authentischen‘ Existenz?“. In: Bayerdörfer/Schönert: Theater gegen das Vergessen, S. 346–377). 31 Schmidt: „Aus Betroffenheit Kunst“, S. 106. 32 „Ich habe mein Lachen verloren. André Müller im Gespräch mit George Tabori“. In: Die Zeit,

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20 Jahre gewartet, bis er dieses Thema im Zuge der Arbeiten zu Die Kannibalen wieder aufgegriffen habe: Pogrom habe er dann nie veröffentlicht, weil ich zwischendurch erkannt habe, daß einer, der nicht dabei war, nicht wirklich da war, der kann über dieses Thema nicht schreiben. Das war zunächst meine Ausrede, das war meine Selbstzensur, und es ging erst fünfzehn Jahre später mit den ‚Kannibalen‘, daß ich das gleiche Thema verarbeiten konnte; ja auch nicht als Dokument, sondern wie es womöglich war, wie es wohl war aus der Sicht der Familie, der Söhne, der Enkel.33

In seiner Rede von „Selbstzensur“ spart Tabori die Ablehnung des Manuskripts durch den Verlag aus; dort war der Eindruck entstanden „that the novel was ­neither good nor original, as the basic situation was too similar to that of Origin­ al Sin (1947): ‚an adult is shown to be dominated by an unresolved Oedipus complex.‘“34 Nun lassen sich aus der Veröffentlichungsverweigerung sowie aus Taboris Behauptung, er habe das Thema von Pogrom erst 15 Jahre später in Die Kannibalen unter einer veränderten Perspektive wieder aufgegriffen, Rückschlüsse auf ästhetische Umgestaltungen zwischen Die Kannibalen und diesem ersten Versuch, in Prosaform über die Ermordung seines Vaters zu schreiben, ziehen.35 Außer der wegweisenden Transposition von der Prosa in die Dramatik dürften Umgestaltungen narrative Strukturen und die Figurenkonzeption betreffen – so sind Taboris Romane, denen Pogrom laut Verlag ähneln soll, meist linear erzählt. Lediglich Analepsen in Form von Erinnerungen deuten die Zeitstruktur von Die Kannibalen an. Literarische Strategien der Verfremdung oder eine Betonung von Körperlichkeit – beides charakteristisch für Taboris Ästhetik des Grotesken – zeichnen die Prosa weit weniger aus als die späteren Dramen. Bei allen ästhetischen Unterschieden zwischen frühen Dramen und der Prosa sind inhaltliche Kontinuitäten wie die Themenkreise Flucht und Exil sowie der Problematisierung von Opfer- und Täter-Rollen augenfällig – trotz dieser Verbindungsli6. Mai 1994. URL: http://www.zeit.de/1994/19/ich-habe-mein-lachen-verloren/komplettansicht [10.11.2017]. 33 Schmidt: „Aus Betroffenheit Kunst“, S. 106. 34 Feinberg, Anat: Embodied memory. The theatre of George Tabori. Iowa City: University of Iowa Press 1999, S. 199. Feinberg zitiert einen Brief von Boardman an George Tabori vom 22. Oktober 1947. Original Sin erschien auf Deutsch unter dem Titel Ein guter Mord. 35 Auch der Weg zur heute vorliegenden Fassung von Die Kannibalen war von wiederholten Umgestaltungen geprägt, das Drama liegt in diversen Fassungen vor (vgl. Feinberg: George Tabori, S. 77). Zur frühen stofflichen Auseinandersetzung sowie zu Vorläufern in Prosa vgl. Feinberg: Embodied Memory, S. 198 f. bzw. Feinberg: George Tabori, S. 78. Eine textgenetische Archäologie müsste anhand der Materialien im George-Tabori-Archiv an der Akademie der Künste in Berlin erfolgen. Die anschließenden Kapitel folgen der letzten, bei Steidl erschienenen Ausgabe von Taboris gesammelten Dramen.

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nien werden die vor Kannibalen veröffentlichten Texte in der Tabori-Forschung oftmals stiefmütterlich behandelt.36 Dass die Berliner Aufführung von Die Kannibalen nicht zu dem Skandal führte, den Tabori wohl befürchtet hat,37 mag mit dieser Legitimierung durch Taboris Biografie beziehungsweise seine Familiengeschichte zusammenhängen. Möglicherweise konnte das Ausmaß der Verstöße gegen diskursive Konventionen auch erst mit historischer Distanz in seiner Tragweite begriffen werden; so zeigt sich erst in historischer Rückschau, dass sich 1968 noch keine Tradition von NS-Satire oder -Groteske ausgebildet hatte, an die Tabori anschließen hätte können. In Unterammergau oder Die guten Deutschen schreibt der Autor, die New Yorker Presse sei über Kannibalen entsetzt gewesen, weswegen sein Co-Regisseur Fried in Antizipation eines Skandals für den Berliner Premierenabend ein ‚Fluchtauto‘ organisiert hätte, um die beiden Regisseure nach Tempelhof zu fahren.38 Ob historisch verbürgt oder nicht, diese Anekdote verweist auf Taboris Zweifel an einer positiven Aufnahme des Stücks; in einem Interview behauptet er 1987 sogar, er habe „nie gedacht, dass dieses Stück nach Deutschland kommt“.39 36 Die Romane Beneath the Stone the Scorpion, 1945 (Das Opfer); Companions of the Left Hand, 1946 (Gefährten zur linken Hand, 1999); Original Sin, 1947 (Ein guter Mord, 1992); The Caravan Passes, 1951 (Tod in Port Aarif, 1994) wurden 2015 im Steidl-Verlag neu aufgelegt, doch folgten bisher keine wünschenswerten systematischen Untersuchungen der frühen Texte und Romane. Eine Ausnahme stellt der Text und Kritik-Band (1997) dar, in dem sich neben Jan Strümpels Aufsatz zu Taboris Romanen auch Peter Höyngs Beitrag zu Taboris Jahren in den USA sowie Michael Tötebergs Untersuchung von Taboris Arbeit als Drehbuchautor finden. Vgl. Höyng, Peter: „‚Car, radio, blonde wife, good address, job with big business.‘ Taboris Jahre in den Vereinigten Staaten“. In: Strümpel: George Tabori, S. 18–27. – Töteberg, Michael: „Auf dem Markt der schönen Lügen. Eine verleugnete Karriere: der Drehbuchautor Tabori“. In: ebd., S. 37–50. – Strümpel, Jan: „Flucht vor der Erinnerung. George Taboris Romane“. In: ebd., S. 28–36. Die spärliche Berücksichtigung der Romane in der Tabori-Forschung überrascht erstens angesichts thematischer Korrespondenzbezüge zu den Dramen und zweitens, da seine Prosa-Veröffentlichungen in renommierten Verlagen einen gelungenen Einstieg in die amerikanische Literaturszene markieren, wie Höyng bemerkt (vgl. Höyng: „Taboris Jahre in den Vereinigten Staaten“, S. 19). 37 Laut Feinberg hat die deutsche Erstaufführung „left spectators and critics consternated, uneasy, unsure of how to react or what was expected of them.“ (Feinberg: Embodied Memory, S. 198.) Maria Sommer und Jan Strümpel schreiben im Nachwort der zweibändigen, von ihnen herausgegebenen Ausgabe von Taboris Dramen (2014/15) etwas drastischer von „Aufruhr, Kontroversen, Entsetzen und Erschütterung bei den Zuschauern und in der Kritik, in der Politik und in der jüdischen Gemeinde, in der intellektuellen Publizistik und in den Kirchen“ (Sommer, Maria/ Strümpel, Jan: „Nachwort“. In: Georg Tabori. Theater Band 2, S. 573.) Eine systematische Sammlung von Rezeptionszeugnissen wäre angesichts dieser unterschiedlichen Beurteilungen lohnend. 38 Vgl. Tabori, George: „Unterammergau oder Die guten Deutschen“. In: Unterammergau oder Die guten Deutschen. Frankfurt: Suhrkamp 1981, S. 7–28, hier: S. 22 f. Im Folgenden Zitation im Fließtext: U. 39 „‚Es ist das große Welttheater‘. Gespräch mit Reinhard Palm und Ursula Voss“, S. 25.

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3. Körper und Kannibalen

Daraus lässt sich, wenig überraschend, schließen, dass sich Tabori des Unterschieds in literarischen Konventionen zwischen den USA und der BRD bewusst war. Nicht zuletzt durch seine Übersetzertätigkeit von Brechts Gewehre der Frau Carrar sowie Frischs Andorra für die US-amerikanischen Erstaufführungen muss er über Tendenzen der deutschsprachigen Dramenproduktion im Bilde gewesen sein. Auch Brechts Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui hat Tabori für die amerikanische Erstaufführung ins Englische übertragen40 – die „Jahrmarkthistoire“, wie Brecht das Drama bezeichnete, verlegt die Handlung zum Zweck der Verfremdung in das Gangstermilieu; epische Mittel zielen auf die Gleichzeitigkeit eines Anspielungscharakters auf historische Verhältnisse im NS-Staat und die Wahrung ästhetischen Abstandes.41 Brecht hat Arturo Ui in der Hoffnung auf eine amerikanische Aufführung im März 1941 (also wenige Wochen vor seiner Ausreise in die USA) innerhalb von nur drei Wochen niedergeschrieben, zur US-amerikanischen Erstaufführung kam es jedoch erst posthum 1963 in New York,42 also im Jahr und am Ort der Uraufführung von Die Kannibalen. Die Uraufführung hatte, ebenfalls posthum, 1958 in Stuttgart stattgefunden. Es folgten 1959 eine Inszenierung am Berliner Ensemble (damals DDR) und bis 1968 zwei Inszenierungen in der BRD43 sowie eine Verfilmung für das DDR-Fernsehen. Für die Rezeption diagnostiziert Raimund Gerz, es habe sich im zeitlichen Abstand zum Nationalsozialismus „ein neues Grundmuster der feuilletonistischen Rezeption“ herausgebildet – einer „Geringschätzung der Inhalte […] bei gleichzeitiger Wertschätzung seiner Bühnenwirksamkeit“44 –, wodurch Arturo Ui später zu einem der meistgespielten Stücke Brechts wurde.

40 Vgl. Roessler, Norman: „Between Broadway & Ground Zero: The Arturo Ui Casebook, NYC 2002“. In: Westgate, Chris (Hg.): Brecht, Broadway and United States Theater. Newcastle: Cambridge Scholars 2007, S. 74–99, hier: S. 85. Zu Taboris Übersetzung Brecht on Brecht vgl. Stonecipher, Donna: „A Triple Act of Translation: George Tabori and Brecht on Brecht“. In: Nexus. Essays in German Jewish Studies 4 (2018), S. 165–175. 41 Vgl. Gerz, Raimund: „Der Aufstieg des Arturo Ui“. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 459–474, hier: S. 462 f. 42 Vgl. Gerz: „Der Aufstieg des Arturo Ui“. Brecht hat Arturo Ui zu Lebzeiten also weder zur Aufführung gebracht noch eine für den Druck autorisierte Fassung erarbeitet; das Drama erschien erst ein Jahr nach seinem Tod in Sinn und Form und in einer Werkausgabe von Brechts Stücken. Die US-amerikanische Erstaufführung wurde bereits nach sieben Tagen abgesetzt, der Rezensent Robert von Berg insinuiert, ein Grund dafür möge in der Inszenierung als „Vorstadtburleske“ mit einer „Serie von Klamaukepisoden“ liegen (vgl. Berg, Robert von: o.T. In: Süddeutsche Zeitung, 20. November 1963. zit. nach Thiele, Dieter: Bertolt Brecht. Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Frankfurt: Diesterweg 1990, S. 71). 43 Zu den ab 1959 eingerichteten Inszenierungen vgl. Thiele: Bertolt Brecht. Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, S. 68–79. 44 Gerz: „Der Aufstieg des Arturo Ui“, S. 472 f.

3.1 Anfänge in der BRD

139

Die in Kontrast zur späten Beliebtheit stehende langsam anlaufende Integration von Arturo Ui in deutsche Spielpläne lässt darauf schließen, dass 1968 (dt. Erstaufführung von Die Kannibalen) noch keine Konsolidierung von NS-Satire im bundesdeutschen Theater stattgefunden hatte. Wenngleich die Entfernung zwischen der NS-Diktatur und Brechts „Jahrmarkthistoire“ im Gangstermilieu wesentlich größer ist als zwischen Taboris KZ-Häftlingen in Die Kannibalen und der realhistorischen NS-Vergangenheit, rief auch die Uraufführung von Arturo Ui die Frage nach der ‚Angemessenheit‘ der satirischen Darstellung auf: In einer Rezension in der Deutschen Woche urteilt Ernst Schumacher, dass das Genre der „Historienfarce […], wie Brecht selbst das Genre des Stückes […] bezeichnet hat, […] dem Gegenstand nur bedingt angemessen ist.“45 Im Jahr der Uraufführung von Arturo Ui (1958) war auch Charlie Chaplins Der große Diktator (1940) erstmals in westdeutschen Kinos zu sehen.46 Über eine erste Test-Vorführung durch die Reeducation-Behörde vor Repräsentanten der Filmindustrie berichtet Alfred Andersch, der im Publikum saß, in dem frühen Aufsatz Chaplin und die Geistesfreiheit und kritisiert das Urteil, der Film sei für ‚das deutsche Publikum‘ nicht geeignet, als paternalistisch.47 Angesichts Taboris Arbeit als Drehbuchautor in Hollywood ist von seiner Vertrautheit mit frühen Beispielen für NS-Satire und Anti-NS-Propaganda wie Chap­ lins Hitler-Parodie oder Ernst Lubitschs Sein oder Nichtsein (1942) auszugehen. Diese waren nicht nur im ‚Dritten Reich‘ verboten (Chaplin-Filme standen seit 1934 auf dem Index), sondern es gestalteten sich auch außerhalb der nationalsozialistischen Länder Produktion und Distribution schwieriger, als rückblickend gemeinhin angenommen wird: In seiner Untersuchung zu Filmen über die ­Shoah beschreibt Ilan Avisar, wie Chaplin infolge der ihm entgegenschlagenden „wide­ spread opposition“48 zwei Millionen Dollar aus seinen eigenen Finanzmitteln in 45 Schumacher, Ernst: o.T. In: Deutsche Woche, 3. Dezember 1958. Zit. nach Wyss, Monika (Hg.): Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen sowie ausgewählter deutsch- und fremdsprachiger Premieren. München: Kindler 1977, S. 359–363, hier: S. 360. 46 In der DDR wurde der Film 1980 das erste Mal im Fernsehen gezeigt. Chaplins Hitler-Parodie konnte, da vor Beginn der systematischen Ermordung von Jüd*innen gedreht, diese noch nicht berücksichtigen. Eine kurze Szene zeigt den jüdischen Frisör und den Kommandanten Schulz nach ihrer Inhaftierung in einem „Prison Camp“, von der deutschen Synchronstimme übersetzt als „Konzentrationslager“. Daran anschließend zeigt eine rund 30-sekündige Szene den jüdischen Frisör in einem Gefängnis mit im Gleichschritt marschierenden Gefangenen und Türen mit Gittern (Chaplin, Charlie (Regie): Der große Diktator [The Great Dictator]. DVD, 125 Min., USA 1940, 1:19:03–1:19:55). 47 Vgl. Andersch, Alfred: „Chaplin und die Geistesfreiheit“. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. von Dieter Lamping. Band 8: Essayistische Schriften. Zürich: Diogenes 2004, S. 63–65. Anderschs Text erschien erstmals in der Zeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 7 (1946). 48 Avisar, Ilan: Screening the Holocaust. Cinema’s Image of the Unimaginable. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1981, S. 101.

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3. Körper und Kannibalen

die Produktion investierte und wie er während der Dreharbeiten Drohbriefe erhielt wegen seiner Positionierung gegen das NS-Regime.49 Chaplins Pläne für den Film fielen in die Zeit der Appeasement-Politik und des Münchner Abkommens (1938), sodass sich die Opposition gegen die Produktion auch politisch erklären lässt. Chaplins Satire mit ihrem Slapstick, Brechts Verfremdungsästhetik in der Historienfarce – anhand keiner der beiden Ästhetiken hatte sich zum Zeitpunkt der Berliner Aufführung von Die Kannibalen eine Traditionslinie von NS-Satire ausgebildet, in die sich Die Kannibalen einordnen ließe. Die ästhetische Divergenz zwischen Taboris Theaterarbeit und der deutschsprachigen Shoah-Dramatik der 1960er Jahre zeigt sich an Die Kannibalen am eklatantesten, thematisiert sein Blick auf die Shoah doch andere (soziale und historische) Realitäten, als dort Konvention ist. Für eine Beschreibung jener literarischen Strategien, die mit seiner Ästhetik des Grotesken verbunden sind, ist die Analyse von Die Kannibalen erstens in jenem breiteren diskursiven Kontext zu denken, aus dem Tabori biografisch, literaturgeschichtlich und ästhetisch in das deutschsprachige Feld eintritt. Zweitens ist ein umfassendes Verständnis von Taboris Theaterarbeit, die ihm besonders in den Anfangsjahren viele Gegner eingebracht hat, wichtig – ihr gilt das nächste Kapitel.

3.2 Taboris Theaterarbeit Die oben genannte, Taboris Selbstaussagen charakterisierende Vermischung von (biografischen) Fakten und anekdotischer Fiktion gilt insofern auch für seine Stellungnahmen zu Ästhetik und Schauspieltheorie, da auch diese vorwiegend anekdotische Form annehmen. Explizit theatertheoretische oder -ästhetische Schriften Taboris liegen – zumindest in der gegenwärtigen Publikationslage – nicht vor. Dennoch sind die wenigen anekdotischen Selbstaussagen für ein Verständnis von Taboris Poetologie insofern aufschlussreich, als sie sein Kunstverständnis indizieren: „Sollte das Theater überleben“, prognostiziert er, „so müßte es sich mehr mit dem Leben beschäftigen und weniger mit dem Theater.“ (U 10) Taboris scheinbar simple Formulierung reminisziert die historische Debatte um die Vorrangigkeit von ‚imitatio‘ oder ‚mimesis‘. Etwa hat André Malraux, auf den sich Tabori in der Formulierung seiner Kunstkonzeption auch explizit bezieht, wiederholt die Orientierung an literarischen Vorbildern (imitatio) vor der Orientierung an Objekten der Welt (mimesis) gefordert. In Unterammergau oder die guten Deutschen grenzt Tabori sich von Malraux’ Kunstverständnis ab, wenn er festhält, dessen „Trugschluß“ (U 7) gelte möglicherweise für die schönen Künste, 49 Vgl. ebd., S. 134.

3.2 Taboris Theaterarbeit

141

nicht jedoch fürs Theater. Dieses sei schließlich „von allen Künsten die lebenswahrste, und es hört für mich auf, Kunst zu sein, wenn es nicht mehr lebenswahr ist. Künstlichkeit, ob nun unterhaltend oder dekorativ, ist reaktionär“ (U 7), so Tabori. Eine Beschäftigung mit Taboris Arbeit mit Schauspieler*innen und seine darin erfolgende Abgrenzung vom etablierten bundesdeutschen Theaterbetrieb kann dabei helfen, dieses Kunstverständnis weiter zu erschließen. Autor*innen können sich sowohl zu vorhergehenden künstlerischen Ausdrucksformen (agonal) verhalten, wie sie sich zu sozialen Realitäten verhalten können, um sie unter bekanntem oder neuem Blick zu thematisieren. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen zwei Perspektivierungen steht in Zusammenhang mit Taboris Poetologie insofern, als Tabori einer großen Anzahl an Konventionen der zeitgenössischen bundesdeutschen Theaterarbeit (also spezifischen künstlerischen Ausdrucksformen) eine Absage erteilt: Aus der historischen imitatio-mimesis-Debatte, für die Malraux bei Tabori steht, schlussfolgert er für seine Theaterarbeit, „[w]enn Künstler anfangen, die Kunst und nicht das Leben nachzuahmen, hat man den Schauspieler, den wir alle kennen: er kommt nicht einfach in einen Raum, sondern macht seinen Auftritt; er hat vergessen zu gehen, statt dessen [sic] macht er einen Gang.“ (U 8) Und in einem Text über seine Probenarbeiten zu Becketts Verwaiser formuliert er: „Die Aufgabe, die wir uns vor einiger Zeit gestellt haben, richtig oder falsch, war, Leben zu produzieren und nicht Kunst zu reproduzieren.“50 Tabori orientiert sich in seiner Schauspielarbeit also nicht an Theater- oder Aufführungsgeschichte; seine Kritik, Schauspielarbeit habe sich von einer Orientierung an Lebensweltlichem entfernt, resultierte in einer Arbeitsweise mit Schauspieler*innen, die zu den Konventionen des deutschsprachigen theatralen Feldes der 1960er und 1970er Jahre quer steht. Der Schauspieler Arnulf Schumacher beschreibt sie in Zusammenhang mit seinen ersten Arbeiten mit Tabori in Bonn 1973–1975 als „Schlüsselerlebnis“: „Danach habe ich anders Theater gespielt, auch mit anderen Regisseuren, in anderen Rollen und anderen Stücken. Nicht etwas äußerlich Angedachtes, sondern etwas wirklich zutiefst Empfundenes und deswegen Echtes, Wahres zum Ausdruck zu bringen, war mir bis dahin fremd gewesen.“51 Schumachers Beschreibung liefert erste Hinweise auf Taboris Zugriff auf Schauspielarbeit und das von ihm geforderte Verhältnis zwischen Schauspieler*innen

50 Tabori, Georg: „Besprechung am ersten Probentag“. In: Materialien zu Samuel Becketts „Der Verwaiser“. Zusammengestellt von Manuel Lichtwitz, Frankfurt 1980, S. 129–138. Nachgedruckt in: Spectaculum 34. Frankfurt: Suhrkamp 1981, S. 266–271, hier: S. 267. 51 „Wo man bar bezahlt. Die Schauspieler Detlef Jacobsen und Arnulf Schumacher erzählen von den ersten Begegnungen mit Tabori in Bonn 1973–1975“. In: Ohngemach, Gundula: Regie im Theater. George Tabori. Frankfurt: Fischer 1989, S. 58–64, hier: S. 59.

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3. Körper und Kannibalen

und den von ihnen verkörperten Figuren: Im Zuge seiner Übersetzung einiger Brecht-Dramen in den 1960er Jahren hat Tabori sich nicht dessen epischem Theater angenähert, sondern sich von Brechts dialektischem Aufklärungstheater distanziert. Verpflichtet ist Tabori vielmehr Theatertraditionen, wie sie Peter Brook und Jerzy Grotowski vertreten, die in Forschungszentren arbeiteten und auf zeitgenössischen Festivals in Europa gefeiert wurden, oder der 1947 in New York gegründeten Theatergruppe Living Theatre.52 Deren durchschlagender Erfolg mit Paradise Now, das sie 1968 beim Festival d’Avignon uraufführten, wollte von Möglichkeiten einer Revolution nicht nur erzählen, sondern diese in den Körpern von Schauspieler*innen und Zuseher*innen auch wachrufen. Bezugspunkte für Taboris Theaterarbeit sind etwa das ‚Theater der Erfahrung‘, dem verschiedene Theaterformen mit ihrem Höhepunkt Mitte und Ende der 1960er sowie in den 1970er Jahren zugerechnet werden, die abseits etablierter Strukturen entwickelt wurden und als Gegenkonzepte zu Brechts Aufklärungstheater gelten. Formen des ‚Theaters der Erfahrung‘ liest Manfred Brauneck als Manifestation der kulturrevolutionären Ziele der zeitgenössischen jugendlichen Protestbewegungen und nennt Antonin Artaud als ihren ‚geistigen Ahnherrn‘.53 Gerade Artauds Das Theater der Grausamkeit. Erstes Manifest (1932) gilt als wichtiger Bezugspunkt. Dieses nicht kohärent argumentierte Manifest ist laut Brauneck „gerade in der Dunkelheit [der] Metaphorik zu einem Programm geworden, auf das sich die unterschiedlichsten Positionen beziehen lassen. Es manifestiert sich darin der Widerstand gegen jede Form von Aufklärungsdenken, zugleich eine Umwertung aller Normen“,54 was eine Vielzahl von Anknüpfungsmöglichkeiten begünstigt. Es besitzt eine religiös-metaphysische Dimension, trägt Züge einer radikalen Kulturkritik und kann nicht als „Anleitung für eine bestimmte ästhetische Richtung“55 gelten. Artaud erinnert in seinem Manifest etwa an den „körperlichen Charakter“ des Theaters und fordert, „die Unterwerfung des Theaters unter den Text zu durchbrechen“ und nicht auf Texte zurückzugreifen, die „als endgültig, als geheiligt angesehen werden“. Taboris kontinuierliche Arbeit am Text während des Probenprozesses, die Gewichtung von Körperlichkeit oder auch sein Humor – Artaud spricht von dem „Humor mit seiner Anarchie“56 – knüpfen in mehreren Punkten am ‚Theater der Erfahrung‘ an. 52 Vgl. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Fünfter Band. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 348 f. 53 Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Kommentare. Reinbek: Rowohlt 2009, S. 411 ff. 54 Ebd., S. 470. 55 Ebd., S. 478. 56 Artaud, Antonin: Das Theater der Grausamkeit. Erstes Manifest (1932). In: Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert, S. 414–416, hier: S. 414 f. Verbindungen von Taboris Theaterkonzeption und Artauds Theater der dionysischen Entgrenzung würden einer eigenständigen Untersuchung lohnen.

3.2 Taboris Theaterarbeit

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Für die von Schumacher genannte Verbindung zwischen der Arbeit der Schauspieler*innen an einer Rolle und ihren individuellen, lebensweltlichen Erfahrungen lassen sich außerdem Lee Strasbergs57 Arbeitstechniken als Einfluss auf Tabori ausmachen: Diese hatte Tabori vor seiner Rückkehr nach Europa rund zehn Jahre lang am New Yorker Actor’s Theatre beobachtet58 und beschreibt sie in seinem Vorwort zu Strasbergs posthum erschienenen Memoiren Ein Traum der Leidenschaft als Bestreben, „die alte Dialektik zwischen äußeren und inneren Techniken zu synthetisieren, indem er [Strasberg] die Kluft zwischen Sein und Spielen, zwischen Schauspieler und seiner Rolle überbrückte und methodische Wege zeigte, das ‚Unwiederholbare zu wiederholen.‘“59 Um dergestalt an bereits bekannte Erfahrungen anknüpfen zu können, kommen Arbeitstechniken zur Anwendung, die an psychotherapeutische Prozesse erinnern; und in der Tat ist einer der Schlüsselbegriffe das ‚emotionale Gedächtnis‘, das im Kern der Arbeit der Schauspieler*in liege, ja „am Ursprung des künstlerischen Schaffens überhaupt“60 stehe. Strasbergs Anliegen zu folgen bedeutet, „dem Schauspieler die besten Mittel an die Hand zu geben, um in der Fiktion der Bühne die Realität zu entdecken“,61 so Tabori. Dazu zählen Arbeitstechniken rund um die Konzeption des ‚emotionalen Gedächtnisses‘ beziehungsweise ‚Sense Memory‘;62 die ersten Probenwochen mit Tabori prägten dementsprechend Spiele, Übungen, ‚Sensitivity Training‘ anstelle der an deutschen Staatstheatern üblichen Textarbeit.63 Die daraus resul57 Nach seiner Schauspielausbildung gründete Strasberg 1931 gemeinsam mit Harold Clurman und Cheryl Crawford das Group Theatre mit dem Ziel der Bildung einer Theatergruppe, die sowohl gemeinsam Stücke produzierte als auch auf der Grundlage von Stanislawski einen systematischen Ansatz für die Schauspieler*innenausbildung entwickelte. Nach fünf Jahren gab Strasberg die Tätigkeit am Group Theatre zugunsten seiner Arbeit als unabhängiger Regisseur auf, kehrte jedoch 1951 durch die Übernahme der Künstlerischen Leitung ans Actors Studio zurück und entwickelte dort seine Arbeitstechniken mit Schauspieler*innen weiter, die unter dem simplen Begriff der ‚Method‘ bekannt wurden. (Vgl. auch: Strasberg, Lee: Ein Traum der Leidenschaft. Die Entwicklung der „Methode“ [A Dream of Passion, 1987]. München: Schirmer/ Mosel 1988.) 58 Vgl. Ohngemach: George Tabori, S. 21. 59 Tabori, George: Vorwort. In: Strasberg: Ein Traum der Leidenschaft, S. 9–17, hier: S. 15. 60 Morphos, Evangeline: „Vorwort zur Originalausgabe“. In: Strasberg: Ein Traum der Leidenschaft, S. 19–25, hier: S. 21. 61 Tabori: Vorwort zu Ein Traum der Leidenschaft, S. 15. 62 Der Schauspieler Günter Einbrodt verwendet diesen Begriff in einem Interview („Dazwischen ist immer ein Mensch. Günter Einbrodt, Rainer Frieb, Detlef Jacobsen und Heiko Steinbrecher über Sigmunds Freude 1975 in Bremen und 1987 in Wien“. In: Ohngemach: George Tabori, S. 72–80, hier: S. 75). 63 Vgl. „Wo man bar bezahlt. Die Schauspieler Detlef Jacobsen und Arnulf Schumacher erzählen von den ersten Begegnungen mit Tabori in Bonn 1973–1975“, S. 58. Einige Übungen beschreibt Michael Müller-Janke: „Taboris Arbeit mit dem Schauspieler: ‚Selbsterfahrung‘ und ‚Integration‘ des Ichs“. In: Bayerdörfer/Schönert: Theater gegen das Vergessen, S. 45–61.

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3. Körper und Kannibalen

tierende angestrebte Verbindung zwischen individuellem Empfinden beziehungsweise eigener Biografie und der jeweiligen Rolle sollte in einem weiteren Reflexionsschritt eine quasi-therapeutische Funktion erfüllen, indem aufseiten der Schauspieler*innen Reflexionsprozesse über Identitäten sowie eigene (soziale) Rollen ausgelöst werden. Demgegenüber steht der Apparat der Staatstheater mit Konventionen des Regietheaters, in denen als finales Resultat eines Probenprozesses eine durchkomponierte Inszenierung zu stehen hat und in dem Schauspielarbeit den Anweisungen von Regisseur*innen unterliegt. Taboris ungewöhnliche Arbeitsweise mit Schauspieler*innen geht Hand in Hand mit einer grundlegenden Kritik an großen Staatstheatern, die Tabori als „menschenfeindlich und dadurch auch kunstfeindlich“ bezeichnet. Er sieht sie als „spätkapitalistischen Betrieb[] mit seinen Problemen: zuviel [sic] Produktion und Erfolgszwang“64 just zu einem Zeitpunkt, als seine Arbeit an jenen Institutionen angekommen ist, auf die seine Kritik zielt: Er äußert sie ausgerechnet im Jahr der Uraufführung von Mein Kampf am Wiener Akademietheater (1987), bei der Tabori selbst Regie führte. Den üblichen Arbeitsbedingungen an Staatstheatern wie den Bühnen des Burgtheaters setzt er folgende Arbeitsweisen entgegen: Prozesshaftigkeit (kein finales, beliebig oft wiederholbares Kunstprodukt, sondern die Premiere als Probe65), demokratische Arbeitsformen66 (Proben als Schreibarbeit, die auf kollektive Arbeit setzt; z.B. Sigmunds Freude), Betonung individueller körperlicher und emotionaler Erfahrung der Schauspieler*innen (z.B. Hungerkünstler, s. unten).

64 George Tabori im Gespräch mit Wend Kässens und Jörg W. Gronius. In: Kässens, Wend/Gronius, Jörg W.: Theatermacher. Athäneum: Frankfurt 1987, S. 157–174, hier: S. 157. 65 Nach der von ihm selbst inszenierten Uraufführung von Mein Kampf am Wiener Akademietheater (1987) bestand Tabori darauf, „nach der Premiere weiterzuarbeiten, einzubauen, was ich vom Publikum gelernt habe. Es ist unmöglich, ich kann keine Probe haben. Also das, was Matisse gemacht hat, im Museum, wo seine Bilder schon hingen, herumzugehen und sie zu korrigieren, das ist für mich das Ausschlaggebende.“ (George Tabori im Gespräch mit Sibylle Fritsch. In: Profil, 23. Juli 1990. Zit. nach Feinberg: George Tabori, S. 149.) Dass die den Uraufführungen zugrundeliegenden Fassungen gegebenenfalls wesentlich von den nachträglich publizierten abweichen (vgl. Ohngemach: George Tabori, S. 35), bringt für die Tabori-Forschung methodische Herausforderungen mit sich. 66 Die Umbenennung des Wiener Schauspielhauses in Der Kreis (1987) begründet Tabori mit der Form des Kreises als ästhetisch befriedigende Form, da er die „demokratischte [sic] Form [verkörpere], weil er räumlich nicht hierarchisch ist und jeder gleich weit entfernt oder nah ist.“ (George Tabori im Gespräch mit Wend Kässens und Jörg W. Gronius, S. 159.) Auch Schauspieler*innen nahmen Taboris Arbeitsprinzip als demokratisch wahr: So bezeichnet Gert Voss Tabori als demokratischen Regisseur, der Schauspieler*innen „behandelte […] wie einen gleichberechtigten Partner.“ (Gert Voss über Probearbeiten zu Taboris Inszenierung von Othello [Akademietheater, 1992]. In: Dermutz, Klaus: Die Verwandlungen des Gert Voss. Gespräche über Schauspielkunst. St. Pölten: Residenz 2006, S. 263.)

3.2 Taboris Theaterarbeit

145

Damit erklärt sich Taboris anfängliche Außenseiterposition im etablierten Theaterbetrieb also zuvorderst mit seiner ungewöhnlichen Arbeit mit Schauspieler*innen und seinem Verständnis von Probenprozessen – wie Strasbergs Arbeit in den USA stieß auch Taboris Arbeitsweise in Deutschland vorerst auf Ablehnung.67 Sie zeigt sich etwa an der Außenseiterposition der Schauspieler*innen innerhalb des Theaters, wo sie sich mit „Vorwürfe[n] und Beschimpfungen […] aus dem Theater, von Berufskollegen“68 konfrontiert sahen. Diverse Konflikte indizieren Taboris institutionelle Unangepasstheit und seinen Widerstand, sich in die Konventionen des künstlerischen Feldes, in dem er agierte, zu fügen; erst auf seine Übernahme des Wiener Schauspielhauses samt Umbenennung in Der Kreis folgte eine stärkere Anerkennung seiner Arbeit. Noch ohne Thema oder Ästhetik von Die Kannibalen in die Argumentation einzubeziehen, zeigt bereits ein Blick auf Taboris Widerstand gegen den zeitgenössischen Theaterbetrieb, dass sich seine künstlerische Arbeitsweise nur schwer in zeitgenössische Konventionen eingliedern lassen. Eine Analyse von Die Kannibalen wird den Zusammenhang zwischen seinen literarischen Texten und seiner Arbeitsweise mit Schauspieler*innen berücksichtigen müssen; das betrifft etwa die Reflexion eigener sozialer Rollen, die Betonung von körperlichem Nachempfinden und den Fokus auf psychische und physische Erfahrungen. Diesen Zusammenhang zwischen literarischem Werk und Probenprozess fordert Tabori sodann auch zumindest indirekt ein, wenn Proben ein persönliches Erlebnis hervorrufen sollen, um es für die Rolle fruchtbar zu machen.69 Die „innere[] Beteiligung“, die Schumacher nach der ersten Arbeit mit Tabori für seine Figuren empfinden konnte, beschreibt er aus der Perspektive des Schauspielers als Distanzverlust: Man fange an „zu leiden, wenn du als Schauspieler keine Distanz mehr hast – wenn es weh tut. Wenn du unter Umständen seelische Verletzungen abbekommst. Wenn die Distanz immer kleiner, immer enger wird – und am Ende bist du es dann. In den Proben war immer das Ziel, ein starkes persönliches Erlebnis zu haben, das einem für die Rolle später weiterhelfen kann.“70 Eine anschauliche Brücke zwischen diesen Anforderungen an Schauspieler*innen und schriftstellerischer Arbeit bildet Taboris Kafka-Inszenierung Hunger67 Zwar wurde Taboris Arbeit mit Schauspieler*innen anfangs belächelt und beargwöhnt, jedoch inszenierte er allmählich an großen Staatstheatern (Münchner Kammerspiele, Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Burgtheater Wien, Volksbühne Berlin, Residenztheater München, Lessingtheater Wolfenbüttel uvm.), womit auch der Erfolg seiner eigenen Dramen einherging. Vgl. Schulze-Reimpell: „Vom Provokateur zum Medienstar“, bes. S. 15. Für eine Chronologie von Taboris Regiearbeiten vgl. „Chronologie“. In: Tabori: Theater Band 2, S. 598–605. 68 Einbrodt, Günter. In: „Dazwischen ist immer ein Mensch, S. 77. 69 Vgl. „Wo man bar bezahlt. Die Schauspieler Detlef Jacobsen und Arnulf Schumacher erzählen von den ersten Begegnungen mit Tabori in Bonn 1973–1975“, S. 59. 70 Ebd.

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3. Körper und Kannibalen

künstler71 (UA Bremen 1977; Untertitel der Druckversion: „Frei nach Kafka“72) mit ihrem Ziel eines intensiven, auch körperlichen Nachempfindens. Das den Probenprozess grundierende Anliegen, die eigenen körperlichen Empfindungen mit der ‚Hungerkunst‘ zu verbinden, führte zum Entschluss einiger Schauspieler*innen, 42 Tage lang unter ärztlicher Aufsicht zu fasten. Die so verringerte Nähe zwischen literarischer Figur und Empfinden der Schauspieler*innen kündigt sich auf der Textebene an: Tabori setzt sich in seiner Hungerkünstler-Bearbeitung von Kafkas distanzierter Erzählhaltung, die eine empathische Perspektivenübernahme kaum zulässt, ab – sein Zugriff auf das Thema setzt auf individuelles Empfinden von Körperlichkeit. So indiziert etwa die direkte Anrede des Publikums durch den Hungerkünstler am Beginn der Druckversion die Kluft zwischen analytischer Distanz und Empathie – es heißt dort: „Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.“73 Diese Formulierung übersetzt den von Schumacher empfundenen existenziellen Distanzverlust zwischen Schauspieler und Figur, so ließe sich sagen, in eine Poetologie der Tabori’schen Theaterarbeit. Während Tabori also körperliche Sinneseindrücke in seiner Hungerkünstler-Bearbeitung von Beginn an ins Zentrum setzt, fokussiert die Eingangspassage von Kafkas Ein Hungerkünstler die Beobachtung („Besichtigung“) eines Objektes: In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teilnahme; jeder wollte den Hungerkünstler zumindest einmal täglich sehn; an den spätern Tagen gab es Abonnenten, welche tagelang vor dem 71 Für eine Beschreibung der Inszenierung, zu Kontroversen sowie einer politischen Kontextualisierung des Fastens in der Geschichte des RAF-Terrorismus der 1970er Jahre vgl. Kagel, Martin: „Hungerkünstler. George Tabori Directs Kafka in Bremen (1977)“. In: Nexus. Essays in German Jewish Studies 2 (2013), S. 153–171. 72 Vgl. Tabori, Georg: Hungerkünstler. In: Theater. Band 1, S. 501–519, hier: S. 501. Weitere Kafka-Inszenierungen von Tabori inkludieren z.B. Unruhige Träume (Burgtheater Wien, 1992), Berichte für eine Akademie (Akademietheater Wien, 1994). Dass Bühnenadaptionen von Prosatexten in den 1970er Jahren eher ungewöhnlich waren, beschreibt Tabori in seinem Text über Becketts Verwaiser: „Wir sind häufig angegriffen worden, besonders für unseren Kafka-Abend, weil wir Prosa und kein Drama auf die Bühne gebracht haben, eine doppelte Korruption.“ (Tabori: „Besprechung am ersten Probentag“. In: Spectaculum 34, S. 270.) 73 Tabori: Hungerkünstler, S. 503. Die Taboris Text einleitende Passage findet sich bei Kafka erst im achten von zwölf Absätzen. Indem Tabori diese einzige Passage, in der bei Kafka der implizite Leser angesprochen wird, aufgreift, perspektiviert er den Text von Beginn an grundlegend anders als Kafka.

3.3 Taboris Bilder der Opfer und agency

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kleinen Gitterkäfig saßen; auch in der Nacht fanden Besichtigungen statt, zur Erhöhung der Wirkung bei Fackelschein.74

Dem Beobachtungsvorgang und der Beschreibung einer Wirkungsabsicht (Fackelschein) stehen bei Tabori individuelles körperliches Nachempfinden und eine Absage an deren Beschreibbarkeit gegenüber. Mit dem Thema von Die Kannibalen ist dies insofern verflochten, als die Konzeption von Taboris Hungerkünstler-Bearbeitung und deren im ersten Satz artikulierte Poetologie als gedankliche Fortführung seiner Auseinandersetzung mit der Shoah gelten kann: Es wird sich zeigen, dass in der Figurenrede in Die Kannibalen keine distanzierte, analytische Haltung zum Gegenstand zum Ausdruck kommt, wie sie etwa Peter Weiss anstrebt. Vielmehr subvertiert Tabori die Illusion von linearer Erzählbarkeit der Shoah-Erfahrung und nähert sich damit deren traumatischem Status in den Biografien von Betroffenen an. Der Hungerkünstler, der sich gegen die Musealisierung seines Gewerbes wehrt, indem er ihr die Notwendigkeit des Empfindens gegenüberstellt, spielt in der Konzeption des ‚ekelerregenden Körpers‘ auch in Die Kannibalen eine Rolle. Dort finden sich Vorläufer einer weiteren literarischen Strategie, die auch Hungerkünstler kennzeichnet: Taboris Hungerkünstler ist nicht nur Objekt der Betrachtung, sondern stellt von Anfang an die eigene Perspektive sowie die individuelle körperliche Empfindung in den Mittelpunkt seiner Rede. Die beiden letztgenannten Aspekte bilden eine essentielle Brücke zwischen Taboris Arbeit mit Schauspieler*innen und jener zentralen Blick- und Perspektivenverschiebung auf Überlebende und der Betonung von körperlicher Empfindung und Affizierung, die sich als zentrale Darstellungsstrategie in Die Kannibalen zeigen wird. Sie hängt eng zusammen mit Taboris Abkehr von einem philosemitischen Opferparadigma, das im Fokus des nächsten Kapitels steht.

3.3 Taboris Bilder der Opfer und agency Dass Tabori in seinen Dramen einen diskursiv und kulturell scheinbar fixierten Status von ‚Opfer‘ und ‚Täter‘ wiederholt aufbricht, hat die Tabori-Forschung bereits mehrfach festgestellt75 – tatsächlich stehen bereits in seinen Romanen der74 Kafka, Franz: Ein Hungerkünstler. In: ders.: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt: Fischer 2008, S. 261–273, hier: S. 261. 75 Vgl. etwa Braese, Stephan: „Rückkehr zum Ort der Verbrechen. George Tabori in Deutschland“. In: Kramer, Sven (Hg.): Das Politische im literarischen Diskurs. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 32–55. – Pott/Sander: „Abdankung des Dokumentarischen“. – Donahue: „Waiting for The Cannibals: George Tabori’s Post-Holocaust Play“. (Donahue erinnert auch daran, dass in Die Kannibalen früh die Gruppe von ‚Opfern‘ diversifiziert wird, indem auch ein ‚Zigeuner‘ und

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3. Körper und Kannibalen

artige essentialistische Kategorisierungen zur Debatte: So erzählt Taboris Debütroman Das Opfer (Beneath the Stone the Scorpion, 1944)76 von dem deutschen Wehrmachtsoffizier Major Helmuth von Borst, der in einem besetzten slowenischen Dorf nahe der ungarischen Grenze im Jahr 1941 versucht, einem vermeintlich britischen Gefangenen Informationen zu entlocken. Tabori verzichtet dabei auf moralisierende Schematisierungen zugunsten der Thematisierung komplexer Schuldverstrickungen. Bereits die Erzählperspektive des Romans überrascht, da der jüdische Autor Tabori entscheidet, aus der Perspektive des Majors zu erzählen. Ferner fügt sich die Figurenpsychologie kaum in einen Schematismus in der Darstellung von Nationalsozialisten: Nachdem Major von Borst erfahren hat, dass der Gefangene ein britischer Journalisten ist und dieser ihm seine Lebensgeschichte erzählt hat, verhilft Major von Borst ihm zur Flucht und begeht danach Suizid. Anstatt den Major als bösartigen Täter zu desavouieren, wird er als gemischter Charakter gezeigt, der sich kaum mittels eindeutiger moralischer Kategorien beschreiben lässt. In ihrer Untersuchung von englischsprachiger Literatur deutscher Exilanten in Großbritannien zwischen 1933 und 1945 beschreibt Nicole Brunnhuber Das Opfer als Versuch, einer einseitigen Dämonisierung ‚der Deutschen‘ in Großbritannien entgegenzuwirken: Tabori wollte, so Brunnhuber, „[to confront] British audience with a far more complex image of German mentality and culture than wartime propaganda, or indeed conventional thrillers, would permit.“77 Die Ablehnung einer klaren Opfer-Täter-Dichotomie durch einen jüdischen Schriftsteller mag für diesen 1942/43 entstandenen Roman überraschen: vor allem, wenn man Taboris Arbeit als Korrespondent für verschiedene Zeitungen berücksichtigt (1940/41), sein Wissen über die erste Verhaftung seines Vaters durch ‚Pfeilkreuzler‘ (Mai 1942) sowie seine Korrespondententätigkeit in Jeruein homosexueller Mann (die Figur Weiss) auftreten. Vgl. ebd. S. 120.) – Eke, Norbert Otto: Wort/Spiele: Drama – Film – Literatur. Berlin: Erich Schmidt 2007. Ich halte mich im Folgenden an Ekes Differenzierung zwischen sacrificium und victum, die Die Kannibalen vorführe: Indem Tabori das Opfer auf seinen Status als victum rückverwandle, zerstört er „das Phantasma des ‚reinen‘ Opfers“ (ebd., S. 129), so Eke. 76 Tabori, George: Beneath the Stone the Scorpion. London/New York: T.V. Boardman & Company 1944. Deutsche Übersetzungen: Unter dem Stein das Skorpion (Bern: Hallwang 1945), Das Opfer (Neuübersetzung von Ursula Grützmacher-Tabori; Göttingen: Steidl 1996). Der jüngere Titel nimmt die Ambivalenz zwischen einem essentialistischen Opfer-Status und dem Vorgang der Opferung in den Blick, wohingegen der englische Titel den intertextuellen Verweis auf Mary Shelley fokussiert. Zur Datierung der Arbeit an dem Roman sowie der Erstveröffentlichung vgl. Wend Kässens Nachwort zur deutschen Ausgabe von 1996 (in: Tabori: Das Opfer, S. 311–320) sowie Brunnhuber, Nicole: The faces of Janus. English-language fiction by German-speaking ex­­ iles in Great Britain, 1933–45. Oxford: Peter Lang 2005, S. 186. 77 Brunnhuber: The faces of Janus, S. 187.

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salem für die ungarische Abteilung der BBC (1942), als in Palästina Nachrichten von den NS-Verbrechen eintrafen.78 Mit politischem Unwissen lässt sich Taboris Wahl der erzählerischen Mittel also nicht begründen, vielmehr lässt sie sich unter Berücksichtigung von Brunnhubers Einschätzung mit Zielgruppe und Distribution in Großbritannien erklären sowie mit einem bewussten Bruch mit dominierenden Zuschreibungskonventionen. Ausgehend von dem Roman zeigen sich darüber hinaus Kontinuitäten in Taboris Verweigerung essentialistischer Identitätszuschreibungen, wie er sie etwa in einem Interview im Jahr 1987 beschreibt: Das Band zwischen dem deutschen Kommandanten und dem englischen Flieger verändere den Kommandanten, der „am Ende […] seine Identität als Feind nicht mehr bewahren“ kann und den Engländer freilässt. Tabori wollte sich damit gegen „die Propagandafilme [stellen], die überall auftauchten in Hollywood“ und ihren „Die-da-ismus, ‚Die Deutschen‘, ‚Die Nazis‘, ‚Die-das‘.“79 Noch 1994 stellt er in einem Interview fest: „Ich mag diese Leute nicht, die sagen, hier sind die Juden und auf der anderen Seite die bösen Deutschen. Ich habe das nie so empfunden, auch während des Krieges nicht.“80 Als erstes wichtiges Charakteristikum von Taboris Konzeption der Opfer kann also festgehalten werden, dass Tabori sich bereits in seinem Debütroman von essentialistischen Identitätskonzeptionen und literarischen Typen abwendet. Dies nimmt auch Aspekte der Figurenkonzeption in Die Kannibalen vorweg. Im Folgenden seien drei weitere Charakteristika von Taboris Opferkonzeption untersucht: zweitens sein Umgang mit Sakralisierung; drittens ein neues Selbstbewusstsein der Opfer, das Die Kannibalen zeigt; viertens die Diskursivierung von Körpern als literarische Strategie in Die Kannibalen. Bereits in den 1940er Jahren unterwandert Tabori, so wurde an Das Opfer deutlich, eine Dichotomie zwischen Opfer- und Täterbildern, die sowohl für Kriegspropaganda als auch für Zuschreibungen an nationalsozialistische und ‚jüdische‘ Figuren in literarischen Texten (nachvollziehbarerweise) lange charakteristisch war. Im Sub-Feld der Shoah-Literatur geht diese Dichotomie einher mit einer moralisch klar kodierten Fixierung von Opfer- und Täterbildern, wie sie etwa Bölls Todesursache: Hakennase sowie viele Überlebendentexte charakterisiert. Dass sie gerade in den 1950er und 1960er Jahren mit einer ‚religiösen Monumentalisierung‘ (Stern, s. oben) von Verfolgten einhergehen kann, hat sich etwa am Tagebuch der Anne Frank, an Zeugnissen des christlichen Widerstands und an dem christlichen Opferungsnarrativ in Bölls Todesursache: Hakennase gezeigt. 78 Vgl. Feinberg: George Tabori, S. 22–28. 79 „‚Es ist das große Welttheater‘. Gespräch mit Reinhard Palm und Ursula Voss“, S. 25. 80 „Ich habe mein Lachen verloren. André Müller im Gespräch mit George Tabori“.

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An solchen Texten lässt sich ablesen, wie Autor*innen vor der Konsolidierung narrativer Konventionen im Schreiben über den Genozid auf kulturell oder literaturgeschichtlich etablierte Narrative, Symbole oder Bilder zurückgreifen. Dazu gehören der Topos der Hölle (vgl. Kapitel 1, Anm. 103) oder die Bedeutung von christlichen Narrativen des Leidens, der Opferung (sacrificium) sowie des Märtyrers (vgl. Kapitel 1). Häufig entwerfen Narrationen, in denen Shoah-Erzählungen mit christlichen Motiven überblendet werden, Bilder von jüdischen Opfern als sacrificium, ähnlich wie in Todesursache: Hakennase. Solch eine sakralisierende Überhöhung ist der Opfer-Täter-Konfiguration in Taboris Oeuvre, wie sie in Das Opfer ihren Ausgangspunkt nimmt und sich in Die Kannibalen gedanklich fortsetzt, fremd. Ihr setzt Tabori einen fundamental veränderten Blick auf Überlebende entgegen, wie er zeitgleich auch im Kontext der juristischen Prozesse der 1960er Jahre entworfen wird (vgl. Kapitel 1). Die Kannibalen führt eine sukzessive Entsakralisierung ‚des Opfers‘ dort vor, wo die Figuren sich erstens mit ihrem eigenen Opferstatus auseinandersetzen und sich zweitens diese Sakralitätsdiskurse aneignen: Sie erproben Szenen der Selbstbestimmung und des Ausbruchs aus der Rolle des vermeintlich passiven Opfers, auf das sie bis dato festgeschrieben sind. Am eindrücklichsten inszeniert Tabori dies im ersten Drittel des zweiten Aktes in einer Szene, in der die KZ-Häftlinge Rückkehrszenarien nach ihrer Befreiung und ein gemeinsames Abendmahl imaginieren. Serviert werden „eine Schüssel mit Hirn, im Teig goldgelb gebraten … Hier – ein Teller mit Augen … Hier – eine gedünstete Niere … Und hier, auf einer großen silbernen Platte der Braten selbst, in Blutsauce schwimmend, eine eintätowierte Nummer auf dem Rücken!“ (K 283) Von diesem kannibalischen Mahl wenden sich die Figuren würgend ab, als Puffi auftritt und von den anderen Figuren als „Puffis Sohn“ (K 284) begrüßt wird.81 Als solcher fragt er „Wo ist mein Vater? […] Was habt ihr mit ihm gemacht?“ (K 284), worauf Klaub ihm antwortet: „Wir haben ihn aufgefressen und wieder ausgeschissen.“ Darauffolgend wendet er sich an die Figur Onkel: Ich weiß, was du erreichen möchtest, aber ich laß mir von dir nicht den Appetit verderben oder das Herz schwer machen für alle Ewigkeit. Fleisch ist Fleisch und mein Vater im Himmel kann mich am Arsch lecken! Wandert herum Ich bin kein böser Mensch. Ich würde keinem Lämmlein auf der Weide ein Haar krümmen.

81 Das kontinuierliche Spiel mit Rollen und Perspektiven ist konstitutiv für das Drama und verweist auf die Schwierigkeit der Integration der Shoah-Erfahrung in eine kohärente Identität; außerdem ist es als literarische Strategie der Verfremdung zu lesen – etwa in einer Passage, in der Zigeuner, Lang und Ghouls eine Szene beim Fleischer spielen und Lang dabei als Leberwurst posiert (vgl. K 253 f.).

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Wenn ich sehen würde, wie ihm einer was tut, würde ich den Kerl umbringen. Ja, ihm würde ich vielleicht den Schädel einschlagen, aber: In jeder Küche wird täglich gemordet! Hühnchen werden geschlachtet, Fischen wird der Kopf abgeschnitten und so weiter – und wo soll man die Grenzen ziehen? Wenn mir jemand ein Lammkotelett hinstellt, würd ich darüber keine Tränen vergießen. Ich bin kein Narr! Es ist kein Verdienst, ein Narr zu sein! – Fleisch ist Fleisch, und ich will existieren, ich will Zeugnis ablegen – Er wendet sich an Hirschler, sich das Hemd aufreißend und die Brust entblößend; Hirschler schlägt mit einem Laut des Ekels die Hände vors Gesicht und wendet sich ab. – ich will ein wandelnder Katalog von Wunden sein! Er hält das Hemd mit beiden Händen auf. Und ich will meine Wunden meinen Kindern zeigen! Eilt von einem zum anderen, in verrenkter Körperhaltung, wie ein Krüppel; die Angesprochenen wenden sich entsetzt ab, stoßen Laute des Abscheus aus. Nein, mit der Nase werde ich sie darauf stoßen! Ich werde sie zwingen, meine Schwären zu küssen und meinen Eiter zu trinken. Sie sollen lernen, im Leiden nichts Erhabenes zu sehen! Wieder bei Onkel Und wenn es hier nur zwei Männer gäbe, einen Mörder und ein Opfer, dann würde ich nicht das Opfer sein. (K 284 f.)

Die Passage führt vor, wie Klaub die Vereinnahmung durch eine christologische Deutung ebenso ablehnt („mein Vater im Himmel kann mich am Arsch lecken“) wie die Legende vom jüdischen Gottesmord in der Figuration vom Lamm Gottes („Ich würde keinem Lämmlein auf der Weide ein Haar krümmen“ als Kontrast zur Schlachtung der Lämmer an Pessach, die im Johannesevangelium zeitgleich mit der Kreuzigung Jesu stattfinden, vgl. Joh. 18)82. Eingedenk der Tatsache, dass die Ikonografie des Christentums die Motivik des geschundenen Körpers zentral setzt, kann schließlich Klaubs Zurschaustellen seiner Wunden als Appropriation von Jesu’ Wunden und Stigmata gelesen werden („ich will ein wandelnder Katalog von Wunden sein!“, „Und ich will meine Wunden meinen Kindern zeigen!“). Damit ist die Aneignung einer sakralen Deutung von Opferbildern ein zweites zentrales Charakteristikum von Taboris Opferbegriff. Indem Klaub seine Leiden an der Vergangenheit aus dem Einzugskreis des Erhabenen löst, kann seine Figur außerdem als gedanklicher Gegenentwurf gelesen werden zu Hegemüllers Wunsch, zum Kreis der ‚Todgeweihten‘ zu gehören: Nicht den Wunsch, Teil einer Masse sakraler Opfer zu sein, sondern den existenziellen Überlebenswunsch akzentuiert Tabori in Klaub und desavouiert damit auch die Vorstellung einer 82 Von der These der Kollektivschuld ‚der Juden‘ an der Kreuzigung hat sich die katholische Kirche erst im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils (Oktober 1962 – Dezember 1965) abgewandt, als das Judentum als Wurzel des Christentums anerkannt und der Schuldvorwurf des ‚Gottesmordes‘ fallengelassen wurde (Nostra aetate, promulgiert am 28. Oktober 1965).

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freiwilligen Selbstopferung (Opfer als sacrificium; etwa Jona im Alten Testament). Gerade in dieser Aneignung der Bildlichkeit des geschundenen Körpers außerhalb eines christlichen Deutungszusammenhangs manifestiert sich Taboris Ästhetik des Grotesken. Wie Kapitel zwei gezeigt hat, verändern sich Ästhetiken dann, wenn sich auch in der Wahrnehmung der sozialen Umgebung Veränderungen einstellen – Taboris Blick auf den Körper des Überlebenden ist dort neu, wo er sich Motivik und kulturelle Deutung christlich-ikonografischer Sinngebung aneignet und damit umwertet. Solch eine Umwertung von Zeitzeug*innen findet ungefähr zeitgleich auch in den sozialen Realitäten von Gerichtsprozessen oder der israelischen Gesellschaft statt (vgl. Kapitel 1). Das Drama spiegelt seinerseits den Zusammenhang zwischen sozialen Veränderungen und literarischen Ästhetiken: Tabori zeigt KZ-Überlebende als Opfer im Sinne von victum und nicht als Opfer im Sinne von sacrificium und zeichnet Überlebende, die sich Opferungsdiskurse (sacrificium) aneignen; dies spiegelt seine fundamentale Blickverschiebung auf die Shoah und die betroffenen Menschen. Taboris ‚Wahl einer Ästhetik‘ folgt nicht einfach der Wahrnehmung von sozialen Zusammenhängen und realen Problemkonstellationen nach, sondern die Realität von Shoah-Überlebenden und das Sprechen über sie wird neu perspektiviert. Das Entstehen eines neuen Selbstbewusstseins der Opfer, Emanzipation und agency sind das dritte Charakteristikum von Taboris Opferbegriff und auch explizites Thema seiner Dramen. Als emanzipierte Sprechende konzipiert er indes neben jüdischen Figuren auch andere stigmatisierte Randgruppen, etwa Roma und körperlich oder geistig beeinträchtigte Figuren in Jubiläum, die beeinträchtigte Ruth und den ‚Native American‘ in Weisman und Rotgesicht, sozial stigmatisierte Figuren in Mein Kampf sowie Homosexuelle und den „Zigeuner“ in Die Kannibalen. Das Ende vom „jüdischen Western“83 (so der Untertitel des Dramas) Weisman und Rotgesicht (UA 1990, Akademietheater Wien) lässt sich als literarische Versuchsanordnung lesen, diese Emanzipation der Sprechenden auch als Kritik an einer Idealvorstellung von Opfersolidarität zu zeigen. In einem verbalen Duell zwischen Rotgesicht und dem jüdischen Weisman soll ermittelt werden, welcher von beiden mehr gelitten habe: Weisman […] Wer ist schlimmer dran, na, wer ist schlimmer dran? Rotgesicht Ich. Weisman Ach ja? Das wollen wir doch mal sehen! Es gibt ja nicht mal ein Wort für antiindianisch. Sie umkreisen einander wie Sumo-Ringer. Rotgesicht Vorsicht, Judenmann, die Felsen beginnen nach Blut zu stinken wie 83 Tabori, George: Weisman und Rotgesicht. In: Theater Band 2. Göttingen: Steidl 2015, S. 81–107, hier: S. 81

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in einer Metzgerei. Weisman Na los, Big Chief Fußpilz. Rotgesicht Après vous, Judenmann. […] Weisman X-beinig, plattfüßig, kurzsichtig, schwerhörig, geschielt bis dreizehn. Rotgesicht Schließmuskel locker. Weisman Vom Bruder die Treppe runtergeschubst Rotgesicht Hab keinen Bruder. Weisman Von dreitausend Niggerjungs mit Fahrradketten verdroschen Rotgesicht Ich vom Sheriff, von berittener Polizei, von der Verkehrswacht, von der Nationalgarde. Weisman Von Bella. Rotgesicht Elektrogeschockt in Ku-Klux-Klan-Klinik. Weisman Sonderfall. Ruth Punkt. Zwei null. […] Rotgesicht Onkel gelyncht in Disneyland. Weisman Ihr Kupferhumor lässt mich kalt. Rotgesicht Ihre schneeweiße Pietät kann mich. Weisman Tante verbrannt in Treblinka. Rotgesicht Die Schonzeit ist vorbei. Weisman Es geht schon wieder los. Rotgesicht Jidsein ist nicht abendfüllend.84

Die eindrückliche Persiflage („geschielt bis dreizehn“) und Hyperbolisierung („dreitausend Niggerjungs“) stereotyper Opferbiografien und -eigenschaften („X-beinig, plattfüßig85, kurzsichtig, schwerhörig“) ruft explizite („Ihre schneeweiße Pietät kann mich“) und implizite Kritik an einer „falschen Pietät“86 (Tabori, siehe unten) auf den Plan. Gleichzeitig betont die Emanzipation der Sprechenden über das mehrfach codierte Narrativ des Opfers auch das selbstreflexive Bewusstsein der Figuren hinsichtlich der diskursiven Festschreibung ihrer Identität („antiindianisch“) oder (pop)kultureller Vermarktung, wenn im Schlusssatz der zitierten Passage ‚Jüdischsein‘ als „nicht abendfüllend“ bezeichnet wird. In ihrem Wettbewerb der Opferkonkurrenz verbinden die beiden Duellanten historische

84 Ebd., S. 102 f. 85 Zum ‚jüdischen Fuß‘ vgl. Thurn: „Falsche Juden“, S. 139. Vgl. darüber hinaus Gilman, Sander L.: „Der jüdische Körper. Eine Fuß-Note“. In: ders.: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 181–204. 86 Tabori, George: „Ein Goi bleibt immer ein Goi … Zur Nathan-Inszenierung Claus Peymanns in Bochum 1981“. In: Welker: George Tabori, S. 285–287, hier: S. 285.

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Gewalt (Ku-Klux-Klan, Treblinka, Misshandlung von ‚Native Americans‘ durch ‚weiße‘ Ordnungshüter) mit körperlichen Motiven („X-beinig, plattfüßig“, „Schließmuskel locker“). Weisman und Rotgesicht lässt sich dergestalt mit Die Kannibalen verbinden, da in dem früheren Drama die Bedeutung von Körper und Körperlichkeit erstmals zur Diskussion steht und dort einen wesentlichen Teil der selbstreflexiven Poetik ausmacht. Auch die Subvertierung vermeintlich selbstverständlicher Solidarität unter ‚Opfergruppen‘ in Weisman und Rotgesicht findet in Die Kannibalen Vorläufer: Dort manifestiert sie sich in kontinuierlichen Gewaltausbrüchen und Streitsequenzen und führt damit auch zu einer Individualisierung von Opferbiografien (im Gegensatz zur Konzeption einer homogenen ‚Opfergruppe‘, die etwa Todesursache: Hakennase vorstellt). Individuelles, selbstbewusstes Sprechen ist Voraussetzung für das zitierte Duell aus Weisman und Rotgesicht; ein ähnliches Selbstbewusstsein kennzeichnet auch Die Kannibalen, wie eine Szene zeigt, in der die Figur Onkel in einem Zwiegespräch mit Gott die Musealisierung der Ermordeten kritisiert (ähnlich wie auch Taboris Hungerkünstler, der seinen Status als ausgestelltes Objekt thematisiert; s. oben): Ich beklage mich nicht! Meine Klagen hängen mir zum Hals heraus. Unsere Latrinen Sind bereits Denkmäler, unsere Knochen kennt eine ganze Welt. Verflucht sei dein Mitleid, deine Gerechtigkeit, selbst deine Liebe, Ich will nichts wissen davon. Noch hab ich meinen Stolz – In diesem Schlamm, dieser Wildnis, dieser Stätte des Mordes Diesem Auschwitz! (K 275)

Die Reflexion der eigenen Rolle und Position in einem Diskurs sowie die ­Emanzipation aus einem festgeschriebenen Wahrnehmungsmodus ist eine der zentralen Denkbewegungen der Textpassage: Die Klage, die keine Klage sein will, lässt sich lesen als Versuch der Befreiung der Opfer aus ihrer Musealisierung („Unsere Latrinen / Sind bereits Denkmäler, unsere Knochen kennt eine ganze Welt.“), in der Shoah-Opfer zu Artefakten wurden. Sie muss als Verweis auf eines der Dilemmata dieser Musealisierung gelten: Einerseits ist sie für die Etablierung eines kollektiven Shoah-Gedächtnisses wichtig; andererseits muss sie zwangsläufig mit Komplexitätsreduktionen operieren (Entwurf eines homogenen Opfer-­Bildes; philosemitische Tendenzen etc.). Dies stellt das paradoxe Verhältnis heraus zwischen dem Zeigen von Artefakten der NS-Verbrechen (Latrinen als Denkmäler; Knochen, die die ganze Welt kennt) und dem Stolz und der Würde der ermordeten oder gequälten Menschen („Noch habe ich meinen Stolz – / In diesem Schlamm“).

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Onkels Emanzipation aus einer durch diskursive oder museale Praktiken bedingten Passivität reflektiert auch die Zeitstruktur des Dramas. Sie ist geprägt von kontinuierlichen, fließenden Übergängen zwischen den Zeitebenen der Gegenwart und der erinnerten Vergangenheit, was erstens als Kritik an der Vorstellung der Linearität von Erinnerung oder einer abgeschlossenen Vergangenheit gelesen werden kann – und damit auch die Struktur des Traumas mit unvermittelten ‚Flashbacks‘ aufgreift – und zweitens auf die mehrfache Kodierung der Emanzipation der Sprechenden verweist. Sie ist damit eine zentrale literarische Strategie der Herstellung von agency, schließlich können Taboris Figuren sowohl als sie selbst als auch über sich selbst sprechen und ihre eigenen Erlebnisse verschieden perspektivieren. Dies betrifft neben zeitlichen Parametern (Sprechen in der Situation, retrospektives Sprechen über die Situation) auch die Verschmelzung der Figuren, die stellenweise eine klare Trennung zwischen ihnen erschwert (z.B. spricht Puffi als Puffi selbst sowie als sein eigener Sohn). Darüber hinaus kennzeichnet das Drama ein ständiger Wechsel zwischen der Darstellung von Handlung und dem Erzählen von Handlung durch die Figuren, etwa im vergeblichen Versuch, sich an eine Begebenheit aus der vergangenen KZ-Inhaftierung zu erinnern. Damit kommt der Reflexion über Möglichkeiten des Erinnerns, des Erzählens, der eigenen Position innerhalb eines Diskurses und den Möglichkeiten des Sprechens in Die Kannibalen ein zentraler Stellenwert zu. Problematisiert wird dergestalt auch die Monoperspektivierung von Geschichte durch diskursive Konventionen oder erinnerungskulturelle Instanzen; ihr steht bei Tabori eine multiple Perspektivierung gegenüber, die schließlich auch einer moralisierenden Bewertung (etwa der Anthropophagie) entgegenwirkt. Zwar setzte sich Taboris Zeichnung von Opferfiguren bereits vor Die Kannibalen von zeitgenössischen diskursiven Konventionen ab, doch entwickelt Tabori in dem Stück diese Tendenz insofern weiter, als darin die problematische Konzeptionalisierung ‚des Opfers‘ auch selbstreflexiv in Szene gesetzt wird. Die literarischen Verfahren zur Darstellung dieser neuartigen Selbstreflexion umfassen unter anderem die Diskursivierung von Körpern, die im Folgenden untersucht wird. Einem vom Individualschicksal abstrahierten Opferbild, wie es für Todesursache: Hakennase charakteristisch ist, stellt Tabori in der zuletzt zitierten Szene eine individuelle Erfahrung entgegen. Auf Klaubs Vergangenheit verweist sein sichtbarer geschundener Körper: die genannten Schwären und der Eiter, die entblößte Brust (sie zeigt vermutlich Folgen der Inhaftierung) und die „verrenkte Körperhaltung“ des „Krüppels“, die er einnimmt. Besonders der Gestus des Zeigens betont die Materialität des geschundenen Körpers, dem die Zeichen seiner Inhaftierung eingeschrieben sind und in dem sich dessen Vergangenheit materialisiert.

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Es hat sich gezeigt, wie im Eichmann-Prozess der Sinnüberschuss von körperlicher Erfahrung eine zentrale Rolle bei der Bezeugung der Shoah-Erfahrung spielte – Srebnik zeigte Lanzmann seinen misshandelten Körper, de-Nurs Körper war im Eichmann-Prozess Teil des Bezeugens (vgl. Kapitel 1). Solch ein Sinnüberschuss ist charakteristisch für die eben zitierte Szene, allerdings wird die ‚Authentizität‘ des geschundenen Körpers nicht erreicht, indem Tabori einen tatsächlichen Shoah-Überlebenden und dessen Körper auf die Bühne bringt, sondern durch dessen vielschichtige Diskursivierung. Diese literarische Strategie bezeichnet nun das vierte und letzte Charakteristikum von Taboris Opferbegriff: Nicht mittels ‚Authentizität‘ des Körpers, sondern mittels der Reaktion anderer Figuren auf Klaubs Körper entsteht der Eindruck unmittelbarer Präsenz des ‚authentischen‘ Körpers.87 Die Evokation des geschundenen Körpers erfolgt hier vermittelt als Staffelung, die sich mithilfe von Winfried Menninghaus’ Konzeption des Ekels beschreiben lässt. Den Ekel als Affekt versteht er als „Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird“, als eine Empfindung, die uns „überkommt, […] uns unangemeldet und unkontrollierbar“ überfällt. Laut Menninghaus ist diese Erfahrung jedoch kaum dokumentiert, da sie als „unwürdig, undezent und abominabel verworfen worden“88 sei. Die Gleichzeitigkeit von Abwehr und Faszination macht dabei das zentrale Moment des Ekels aus. Eine Anthropologie des Ekels ist in der zitierten Passage aus Die Kannibalen in den Gesten jener Figuren, die Klaub ansehen, codiert – in ihrer Abwehr, dem Bedecken des Gesichtes beziehungsweise der Augen, dem Abwenden sowie der lautlichen Äußerung von Abscheu. Die Aufmerksamkeit der Zusehenden fokussiert nicht nur Klaubs Körper, sondern auch die Reaktion darauf und leistet so vermittelt einen Beitrag zur Bedeutungskonstitution dieses Körpers. Jedoch wird seine Bedeutung nicht durch externe Zuschreibungen (antisemitische Propaganda beziehungsweise ein jahrhundertealtes Dispositiv des kranken, hässlichen, unreinen jüdischen Körpers) hervorgebracht, sondern durch das Sprechen des Betroffenen und durch situative Interaktion. Die Bedeutungskonstitution des Körpers ist vor allem dank zwischenmenschlicher Begegnung erfassbar, die die Zusehenden beobachten – jemand nimmt den Körper des Überlebenden wahr und reagiert darauf. Tabori setzt hier an die Stelle eines abstrakten Opferdiskurses die konkrete, individuelle Unmittelbarkeit von Körperlichkeit. Gleichzeitig wird einer unreflektierten Identifikation mit Klaub entgegengewirkt, indem die Bedeutung s­ eines 87 In diesem Punkt unterscheidet sich Taboris Drama wesentlich von performativen Arbeiten wie etwa von der weiter unten genannten Marina Abramović, bei der stets der ‚authentische‘ und nicht der diskursivierte Körper im Mittelpunkt steht. 88 Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt: Suhrkamp 1999, S. 7–9.

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Körpers vermittelt konstituiert wird: Erst der Vorgang des Zeigens und der Selbstbenennung konstituiert die Bedeutung des Körpers, wenn Klaub über seine e­ igene Rolle spricht. Der ‚hässliche‘ Körper als Antipode zum ästhetisch schönen wird hier mittels einer emanzipatorischen Bewegung wieder in den Blick genommen: Wie der klassizistische Körper der NS-Kunst als elitäre Körperkonzeption vom emanzipatorischen Gehalt früherer Figurationen des klassizistischen Körpers abgelöst wurde, hat Klaus Wolbert gezeigt (vgl. Kapitel 2). Nun ruft in Die Kannibalen gerade der eklige Körper die Vorstellung von Selbstbestimmung und Emanzipation wieder auf den Plan, wenn Tabori Klaub aus einem passiven Opfer-Paradigma löst und ihm einen selbstbestimmten Umgang mit seinem geschundenen Körper zuspricht – Klaub „will“ seine Wunden zeigen und seine Mitmenschen dazu „zwingen“, sich mit der Geschichte seines Körpers auseinanderzusetzen. Dieses Moment der Selbstbestimmung löst in Taboris Drama Klaub aus jenem passiven Opferstatus, den etwa Weiss’ Ermittlung inhaltlich und sprachlich vorführt: So beschreibt Zeugin 5, wie sie „im Aufnahmeraum / auf die Tische gelegt wurden“ (E 33), das Subjekt wird hier sogar grammatikalisch zum Objekt der Handlung. Mit der Auschwitz-Tätowierung fällt in der Sicht dieser Figur die Auslöschung subjektiver Selbstbestimmung zusammen: „Als wir im Aufnahmeraum / auf die Tische gelegt wurden / und man uns After und Geschlechtsteile / nach versteckten Wertgegenständen untersuchte / vergingen die letzten Reste / unseres gewohnten Lebens / Familie Heim Beruf und Besitz / das waren Begriffe / die mit dem Einstechen der Nummer / ausgelöscht wurden“ (E 33). Während die Auslöschung des Subjektstatus und die Reduktion der Figuren auf einen Objektstatus bei Weiss beschrieben und grammatikalisch bekräftigt wird, führt Tabori einen Emanzipationsprozess vor: Klaub spricht über sich und damit für sich selbst und reflektiert zudem seinen Opferstatus und widersetzt sich ihm. Die zuletzt zitierte Passage nimmt außerdem gewisse Debatten um Gedenkstättenpolitik und Gedächtniskultur vorweg: Anlässlich Peymanns bereits erwähnter Bochumer Nathan-Inszenierung kritisierte Tabori bereits 1981 (also lange vor Schindel, Menasse oder Rabinovici) die ‚Sakralisierung‘ von Opfern im Zuge zeitgenössischer Gedenkstättenpolitik: Eingedenk seines ersten Besuchs mit seinem Sohn in Dachau beschreibt Tabori eine „Gedenkstätte, wie sie heute genannt wird, richtig hübsch in ihrer falschen Pietät und so hergerichtet, daß ein Gedenken an irgend etwas anderes als das Gedenken von Gedenken unmöglich ist.“89 Diese Kritik ist unlösbar mit Taboris Subvertierung der pietätvollen Konzeption jüdischer Figuren in Die Kannibalen verbunden. In Gedenkstätten stehen einander oftmals zwei paradoxe Bilder von KZ-Opfern gegenüber: einerseits Bilder von Leichenbergen oder fast verhungerten Menschen; andererseits Artefak89 Tabori: „Ein Goi bleibt immer ein Goi“, S. 285.

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te (Dokumente wie Geburtsurkunden, persönliche Gegenstände, Zeichnungen etc.) oder Videos von Zeitzeug*innengesprächen, die geglättete Bilder von unschuldigen Opfern zeigen. In diesem widerspruchsvollen Nebeneinander zwischen der Dokumentation der Erniedrigung und der Sakralisierung der Opfer siedelt Tabori seine Dachau-Kritik an. Ihr stellen sich die Figuren in Die Kannibalen insofern entgegen, als sie sich von beiden Bildern zu befreien suchen. In Taboris Auseinandersetzung mit Opfer-Bildern bündeln sich also eine Vielzahl an Problemstellungen aus (literarischen) Shoah-Diskursen und Erinnerungspolitik. Sie geht über das Aufbrechen einer Dichotomie zwischen ‚Opfer‘ und ‚Täter‘ hinaus, indem sie diskursiv produzierte essentialistische Bilder von ‚Opfern‘ unterwandert – als solches wurde ein erstes Charakteristikum von Taboris Opferbegriff beschrieben. Dass Taboris Figuren als KZ-Häftlinge Opfer der NS-Diktatur sind, steht völlig außer Frage. Jedoch zeigt Tabori sie weder als homogene Gruppe noch sakralisiert er sie, sondern hebt ihre Individualität und Aktivität hervor: Sie eignen sich eine sakrale Deutung von Opferbildern an und entwickeln ein neues Selbstbewusstsein als emanzipierte Sprechende. Zum Aushandlungsort von agency wird dabei u.a. der Körper der Überlebenden, der in seiner Materialität gezeigt wird, dessen Materialität jedoch diskursiv vermittelt ist. Die ‚Authentizität‘ des geschundenen Körpers entsteht in Die Kannibalen nicht, indem Tabori einen Shoah-Überlebenden und dessen Körper auf die Bühne bringt, sondern durch ein komplexes Ineinander von Materialität und Diskursivierung. Die genannten Charakteristika von Taboris Opferkonzeption räumen den Kannibalen im Sub-Feld der Shoah-Literatur der 1960er Jahre eine exponierte Position ein: Es steht darin nicht weniger als ein neuer Opferdiskurs auf dem Spiel, den Tabori an seinen emanzipierten, selbstreflexiven Figuren entwickelt. Gepaart mit der Aneignung der Bildlichkeit des geschundenen Körpers außerhalb eines christlichen Deutungszusammenhangs legt er den Grundstein für Taboris Ästhetik des Grotesken, die zu einer zentralen Blickverschiebung auf Zeitzeug*innen beiträgt. Taboris Figuration von Überlebenden als Kannibalen erweitert diese Strategien.

Bilder von ‚Juden‘ und Anthropophagie

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3.4 „Und deshalb, liebe Brüder in Christo, empfehle ich euch / Das Judenherz in Aspik oder mit einer pikanten Sauce“ – Bilder von ‚Juden‘ und Anthropophagie Auf der Folie der bundesdeutschen Theaterlandschaft der 1960er Jahre nimmt Anthropophagie in Die Kannibalen einen Bruch mit diskursiven Konventionen vor. In seinen Bildern der ‚jüdischen Kannibalen‘ problematisiert Tabori historische Linien des Antijudaismus, die sich auch in ein antisemitisches Paradigma einordnen lassen, wie das Ende des Dramas reflektiert, an dem Fotos von Menschenfleisch essenden Juden für antisemitische Propaganda aufgenommen ­werden. Ob die KZ-Insassen sich zu Kannibalen machen lassen und Teil der medialen antisemitischen Inszenierung werden oder den Tod vorziehen, verbindet Tabori nicht nur mit einer konkreten moralischen Frage, die das Drama durchzieht, sondern dies ist vor allem Teil von dessen subkutanem repräsentationskritischem Narrativ. Die genannte moralische Frage bringt Tabori durch die Figur Onkel ins Spiel, der oft als eine Art moralisches Gewissen agiert: Nach der Ermordung Puffis spricht er sich gegen den Verzehr des Toten aus („Ich verbiete euch, damit fortzufahren. Ich will in der Hölle schmoren, wenn ich euch fortfahren lasse!“, K 243): Als Haas einen großen Topf für die Zubereitung des kannibalischen Mahls auf die Bühne trägt und ihn auf den Ofen stellen möchte, bemüht sich Onkel, ihn daran zu hindern. Die moralische Frage nach der Legitimation von Anthropophagie unter den extremen Lebensbedingungen im KZ ist für die Charakterisierung der Figuren zwar relevant, für eine Literaturgeschichte der Shoah ist jedoch Taboris Koppelung von Repräsentationskritik an die Figur des ‚jüdischen Kannibalen‘ wesentlich interessanter. In der europäischen Kulturgeschichte spielt ‚der Kannibale‘ als Alteritätsfigur eine gewichtige Rolle: In seiner Untersuchung Colonial Encounters: Europe and the Native Carribean beschreibt der britische Literaturwissenschaftler Peter ­Hulme die Faszination, die ‚der Kannibale‘ ausstrahlt: „Fortunately, just beyond the next hill there is another society, unvisited as yet by anthropologists, and they are still cannibals. Exactly the story Columbus heard nearly 500 years ago.“90 Er beschreibt, wie die Grenzen von Gemeinschaften oft konstituiert werden, indem Bedrohungen auf das außerhalb der Gemeinschaft stehende ‚Andere‘ projiziert werden, was die Gemeinschaft zusammenrücken lässt und ihre Gruppenidentität stärkt. Mit Bildern von ‚Kannibalen‘ hänge dies insofern zusammen, als „that pattern further specifies the possible function of ‚cannibalism‘ given the possibility that, as early as the thirteenth century, ‚anthropophagy‘ was operating as the ‚other‘ 90 Hulme, Peter: Colonial Encounters: Europe and the Native Carribean, 1492–1797. London, New York: Routledge 1992, S. 83.

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of the still developing concept of ‚Europe‘“.91 Der Kannibale als das identitätsstiftende Andere des jungen Europa spielte vor allem im Zuge kolonialer Expansionspolitik eine Rolle, wenn in Erzählungen von ‚exotischen Völkern‘ Berichte von ‚Menschenfresserei‘ ein häufig wiederkehrender Topos sind. Skepsis hinsichtlich des faktualen Hintergrunds derartiger Berichte über Kannibalismus als kulturelle Praxis ‚exotischer Völker‘ in kolonialisierten Erdteilen deutet das obige Zitat von Hulme aus dem Jahr 1986 an und stellte sich allgemein in der Kannibalismus-Forschung um 1980 ausgehend von ethnologischen Forschungsergebnissen ein.92 Dies ebnet den Weg für eine kulturwissenschaftliche Kannibalismus-Forschung, die sich etwa mit der Repräsentation von Kannibalen oder mit Kannibalismus als (literarischer) Metapher auseinandersetzt. Für diesen Untersuchungszusammenhang ist die Frage nach tatsächlichen Fällen von Kannibalismus in Konzentrationslagern oder Ghettos sekundär;93 hingegen bieten Erkenntnisse aus der kulturwissenschaftlichen Kannibalismus-Forschung Anknüpfungspunkte etwa für eine Beschäftigung mit der Konstruktion von Alteritätsfiguren, wie auch Hulme sie nennt, oder mit dem Verhältnis zwischen Kannibalismuserzählungen und historischen Traumata: In seiner Einleitung zu einem Sammelband über Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur nennt etwa Daniel Fulda Beispiele, in denen „faktenbezogene Diskurse anthropophagische Vorfälle erfinden, um ansonsten inkommensurable Erfahrungen zu artikulieren“. So lassen sich „die zahlreichen, zumeist vermutlich ‚erfundenen‘ Anthropophagieberichte aus dem Dreißigjährigen Krieg als Reflex auf eine Gewalterfahrung deuten, die das zeitgenössische Weltbild sprengte, eben-

91 Ebd. S. 85. 92 Vgl. Fulda, Daniel: „Einleitung“. In: ders./Pape, Walter (Hg.): Das Andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg: Rombach 2001, S. 7–34, hier: S. 9 f. Mit Authentifizierungsstrategien in Berichten über Kannibalismus befasst sich etwa Volker Mergenthaler und führt Beispiele für Kannibalismusdiskurse an, die sich der Sprache der Jurisprudenz bedienen und „sich dem juristischen Diskurs in geradezu parasitärer Weise ein[schreiben]“ (Mergenthaler, Volker: Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897–1936). Berlin: de Gruyter 2005, S. 110). 93 Dass es realhistorische Fälle von Kannibalismus gab, diese jedoch etwa von Jüd*innen im Wissen um deren mögliche Instrumentalisierung für antisemitische Propaganda verschwiegen wurden, zeigt eine Textpassage aus Marcel Reich-Ranickis Autobiografie Mein Leben (1999). Darin erzählt Reich-Ranicki von seinen Erfahrungen im Warschauer Ghetto als Angestellter des Judenrates, dessen deutsche Korrespondenz er führte: Dort habe es „einen Fall von Kannibalismus [gegeben]: Eine dreißig Jahre alte Frau, die vor Hunger dem Wahnsinn verfallen war, hat aus der Leiche ihres zwölfjährigen Sohnes einen Gesäßteil herausgeschnitten und zu verspeisen versucht. Als ich [Reich-Ranicki] den Bericht hierüber ins Deutsche übersetzte, wurde ich darauf hingewiesen, daß diese Sache geheimgehalten werden müsse.“ (Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben. Stuttgart: DVA 1999, S. 213.)

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deshalb in den üblichen Gewaltdiskursen aber keinen Ausdruck fand.“94 Fuldas Annahme über die Bedeutung von Kannibalismus als Metapher im Kontext von ‚inkommensurablen Erfahrungen‘ liefert einen wichtigen Hinweis für eine Einordnung von Taboris Kannibalismusfigurationen in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang, der mit der Darstellbarkeit von extremen Gewalterfahrungen verflochten ist. Damit erweist sich Repräsentationskritik einmal mehr als Bezugspunkt des Dramas – sie betrifft bei Tabori die Darstellung nicht nur der Gewalt im Genozid, sondern auch der KZ-Inhaftierten als Alteritätsfiguren. Tabori verbindet also aus Shoah-Diskursen hinlänglich bekannte Darstellbarkeitsdebatten mit einem Rekurs auf eine kulturhistorische Alteritätsfigur, die häufig im Kontext kolonialer Expansion konstruiert wurde: Kannibalismuserzählungen sind Teil eines Inventars an populären Stereotypen des Fremden in der Literatur etwa über Ozeanien95 oder Mittel- und Südamerika;96 vor allem die postkoloniale Theoriebildung sieht sie verbunden mit Alterisierungsdiskursen und -strategien ‚des Fremden‘ im Zuge kolonialer Expansionspolitik, die sich in (literarischen) Bildern von Kannibalen bündeln. Bevor der Zusammenhang zwischen Kannibalismus-Figurationen und Repräsentationskritik bei Tabori in den Blick genommen wird, gilt es zu fragen, was Figurationen von Kannibalen und von Juden miteinander verbindet. In das Repertoire antisemitischer Propaganda lässt sich Kannibalismus insofern einordnen, als es sich in das nationalsozialistische Bild des ‚Juden‘ als Schädling und damit als nicht-menschlich und animalisch eingliedern lässt. Besonders zeigt jedoch ein Blick in historische Linien des Antijudaismus dessen zumindest punktuelle Verwandtschaft mit Kannibalismusdarstellungen – etwa in der Anschuldigung, Juden würden christliche Kinder in ritueller Form töten, um deren Blut für religiöse oder medizinische Zwecke zu gewinnen. 94 Fulda: „Einleitung“, S. 30. 95 Vgl. dazu: Dürbeck, Gabriele: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur, 1815–1914. Tübingen: Niemeyer 2007. Dürbeck untersucht Stereotype des Fremden in der Südseeliteratur im Zeitraum zwischen der Gründung des Deutschen Bundes (1815) und dem Ende des deutschen Kolonialreiches (1914). 96 Dort wurden etwa die Einwohner Brasiliens besonders häufig als ‚Menschenfresser‘ dargestellt. Mit Kannibalismus-Erzählungen in europäischen Reiseberichten über das Brasilien der ersten Phase der Kolonialisierung (1500–1654) beschäftigt sich etwa Astrid Wendt in ihrer bereits etwas älteren Untersuchung. Zwar waren „schon von den Westindischen Inseln kannibalische Akte berichtet“ worden, jedoch „nehmen sich diese Erwähnungen doch oberflächlich und wenig aufschlußreich aus gegenüber dem, was über Brasilien an die europäische Öffentlichkeit gelangte“, so Wendt (Wendt, Astrid: Kannibalismus in Brasilien. Eine Analyse europäischer Reiseberichte und Amerika-Darstellungen für die Zeit zwischen 1500 und 1654. Frankfurt, Bern, New York, Paris: Peter Lang 1989, S. IV.) Wendts Untersuchungszeitraum endet mit der Rückeroberung Brasiliens durch die Portugiesen im Jahr 1654.

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In seiner Untersuchung antiker Ethnografie lokalisiert Gerhard Baudy Kannibalismus-Vorwürfe gegen Juden bereits im Alexandria der frühen Kaiserzeit, im zweiten vorchristlichen Jahrhundert,97 und beschreibt außerdem, wie um 117 n. Chr. „die römische Kriegspropaganda den Kannibalismusvorwurf gegen die aufständischen Juden von Kyrene und Ägypten erhoben“98 hat. Zu diesen frühen Dokumenten von vermutlich politisch motivierten Kannibalismusanschuldigungen gesellt sich in Europa später systematisch die Vorstellung des rituellen Kannibalismus als jüdische kulturelle Praxis: Sie bildete sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Fulda heraus, als Anschuldigungen, ‚Juden‘ hätten christlichen Kindern Blut abgezapft, zu einem Pogrom an 34 Jüd*innen führten.99 Einige Jahre später traten Vorwürfe auf, ‚Juden‘ „were alleged to share the heart of a murdered child while solemnizing Passover“ und so war der Vorwurf entstanden, „that Jews engaged in a form of ritual cannibalism, an accusation soon connected with their rites at Passover“.100 In der Nachfolge der Verkündigung der Transsubstantiationslehre durch das IV. Laterankonzil (1215) bereicherte ausgehend von einem christlichen Glaubensinhalt das Motiv der Blutentnahme die Ritualmordbeschuldigung; schrittweise verfestigte sich die Annahme, ‚Juden‘ würden Blut nicht nur für magische und medizinische Zwecke, sondern auch für religiöse Praktiken wie die Zubereitung der Mazzot gebrauchen.101 Davon, dass die Verknüpfung von Gewalt an christlichen Kindern und Formen des Antijudaismus als zumindest regional einflussreiches Motiv zu bewerten ist, zeugen Beispiele aus dem Raum Süddeutschland und der Schweiz der frühen Neuzeit, etwa der sogenannte ‚Chindlifrässerbrunne‘ (Kinderfresserbrunnen) in der Berner Altstadt: Errichtet im Jahr 1545 zeigt er einen auf einem Sockel sitzenden Mann, der gerade ein Kind verschlingt und in einem umgehängten Sack weitere hilflose, ängstlich blickende Kinder trägt. Auffällig ist sein spitzer, nach oben kugelig endender Hut, der in seiner Ikonografie den ‚Judenhüten‘ ähnelt, wie sie ab dem 13. Jahrhundert in Österreich und Deutschland in einzelnen Städten infolge der Kennzeichnungspflicht von Juden eingeführt worden waren – so 97 Vgl. Baudy, Gerhard: „Der kannibalische Hirte. Ein Topos der antiken Ethnographie in kulturanthropologischer Deutung“. In: Keck, Annette/Kording, Inka/Prochaska, Anja (Hg.): Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaft. Tübingen: Gunter Narr 1999, S. 221–242, hier: S. 231 f. 98 Ebd., S. 230 f. 99 Vgl. Langmuir, Gavin I.: Toward a definition of antisemitism. Berkeley: University of California Press 1990, S. 264. 100 Ebd., S. 265f. Auch Langmuir nennt frühere Vorwürfe des rituellen Kannibalismus, etwa aus der „time of the Temple“ (ebd.); er verweist jedoch auch auf gleichlautende Anschuldigungen gegen Christ*innen oder ‚Ketzer*innen‘ (vgl. ebd.). 101 Vgl. Erb, Rainer: „Ritualmordbeschuldigung“. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. Berlin, Bosten: de Gruyter 2010, S. 293 f.

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trugen laut der Antisemitismusforscherin Marion Neiss beispielsweise „1290 […] z.B. die Juden in Nürnberg den sogenannten Pileum cornutum, einen roten Hut, dessen trichterförmige, nach oben ragende Spitze kugelig endete“;102 auch das Tragen gelber Ringe auf der Kleidung wurde etwa in Augsburg (1434) oder Bamberg (1451) eingeführt und verbreitete sich in den folgenden hundert Jahren über andere deutsche Städte.103 Dass der Hut als ‚jüdisches‘ Attribut zu lesen ist, legen andere Illustrationen des ‚Kinderfressers‘ nahe, die ebenfalls Attribute von ‚Juden‘ tragen. So hat etwa der Kunsthistoriker Eric Zafran in einem nach wie vor lesenswerten wissensgeschichtlichen Artikel aus dem Jahr 1979 die historische Verschmelzung von antiken Bildern von Kronos (in der römischen Mythologie Saturn) als ‚Kinderfresser‘ und antijüdischen Ressentiments spätestens ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert nachgewiesen.104 Das Bild des ‚Kinderfressers‘ sei, so Zafran, historisch jedoch älter: Kronos habe aus Angst vor einer Entmachtung durch eines seiner Kinder diese aufgegessen – lediglich das jüngste, Zeus, konnte von seiner Mutter (Kronos’ Frau) durch eine List gerettet werden. Die später entstandene traditionsreiche Verschränkung zwischen Bildern von Saturn als ‚Kinderfresser‘ und Kennzeichnungen von ‚Juden‘ führt Zafran an einem Holzschnitt aus einem Almanach des Nürnberger Druckerverlegers Peter Wagner aus dem Jahr 1492 vor; er zeigt Saturn beim Verschlingen seiner Kinder und weist ihn durch Attribute wie den ‚Judenhut‘ und den ‚Judenring‘ auf seiner Kleidung als ‚Jude‘ aus.105 Die Verschränkung der mythologischen Figur Saturn mit zeitgenössischen Antijudaismen erklärt Zafran damit, dass Saturn das „displacement of one god by another“ symbolisiert und damit Anknüpfungsmöglichkeiten für antijüdische Ressentiments geboten habe, schließlich sei eine willkommene Analogie zu dem Verhältnis zwischen Christentum und Judentum herstellbar gewesen: „It was the Jews who, according to the dominant medieval concept, sought to destroy their own offspring or son, Christ, but he was miraculously resurrected and a new era born. Thus Saturn and the Jews both represent the unworthy fathers, who are rejected, defeated and displaced by their sons who establish new orders (Christianity and the reign of the Olympian gods).“106 Wagners Holzschnitt verbindet das ‚Image‘ von Saturn mit bestehenden antijüdischen Ressentiments, die mittels jüdischer Attribute wie dem ‚Judenhut‘ evoziert werden; der ‚kinderfressende‘ Saturn könne damit als Angebot an Zeitgenossen gelten, antijüdische Bilder von 102 Neiss, Marion: „Kennzeichnung“. In: Handbuch des Antisemitismus Band 3, S. 174–176, hier: S. 174 f. 103 Vgl. ebd., S. 175. 104 Zafran, Eric: „Saturn and the Jews“. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 42 (1979), S. 16–27. 105 Vgl. ebd., S. 24. 106 Ebd.

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Almanach Peter Wagner, Nürnberg 1492. Holzschnitt.

Ritualmorden zu aktualisieren. Die Aktualisierung eines mythologischen Bildinhalts mittels zeitgenössischer Antijudaismen, die Wagners Druck zeigt, erwies sich als anschlussfähig auch für folkloristische Bildinventare des ‚Kinderfressers‘ und damit für die Weiterentwicklung von Saturn-Bildern, für die auch die Figur auf dem ‚Kindlifresserbrunnen‘ in der Berner Altstadt aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelten kann. Die genannten Beispiele für frühe politisch motivierte Kannibalismusvor­würfe (römische Kriegspropaganda 117 n. Chr.), für mythologisch aufgeladene antijüdische Saturn-Darstellungen (Almanach Wagner), für folkloristische ‚Kinderfresser‘-Darstellungen mit jüdischen Attributen (Berner Altstadt) und für Vorwürfe des rituellen Kannibalismus im weiteren Sinne (Ritualmord, Mazzotbacken aus Blut) weisen auf eine kulturhistorisch komplexe Verschränkung von Judenbildern und Kannibalismusvorwürfen hin. An dieses Dispositiv anschließend haben auch die Nationalsozialist*innen historische Ritualmord-Vorwürfe aktualisiert; etwa widmete der Stürmer (erschienen 1923–1945) dem Thema ‚Ritualmord‘ eine Nummer im Juli 1929 und eine Sondernummer im Mai 1939, die unter anderem ‚historische Zeugnisse‘ von jüdischen Ritualmorden zusammenstellte. Da sich dies in „eine pseudo-wissenschaftliche Argumentation, wie sie der Rassenantisemitismus der Nationalsozialist*innen vortrug, […] kaum systematisch integrieren“ ließ, erlangte er jedoch „keine

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größere propagandistische Bedeutung mehr“,107 wie Rohrbacher und Schmidt in ihrer kulturgeschichtlichen Untersuchung von antijüdischen Mythen und antisemitischen Vorurteilen zusammenfassen. Dies mag auch daran liegen, dass Bilder von ‚kannibalischen Juden‘ als kulturalistische Alteritätsfiguren historisch älter sind als Bilder von ‚Kannibalen‘; Letztere bildeten außerdem in der Neuzeit von Michel de Montaigne (Des cannibales, 1580) über Alexander von Humboldt108 (die rund dreißig Bände umfassende Reise in die Aequinoktialgegenden des Neuen Kontinents, ab 1805 auf Französisch erschienen) und Sigmund Freud (Totem und Tabu, 1912/13) bis zu Claude Lévi-Strauss (Traurige Tropen, 1955) in unterschiedlichen, auch wissenschaftlichen Kontexten ein kontinuierliches Faszinosum. Obiger Exkurs zu historischen Figurationen von ‚Juden‘ als Ausführende von rituellem Kannibalismus führt zurück zu Taboris repräsentationskritischer Auseinandersetzung mit der Darstellung von KZ-Insassen und dem Genozid (vgl. auch Kapitel 4.5). Am deutlichsten lässt sich dies in der letzten Szene des Dramas ablesen, in der die KZ-Insassen vor der Wahl stehen, sich beim Verzehr von Menschenfleisch ablichten zu lassen oder in der Gaskammer ermordet zu werden. Hirschler und Heltai essen von dem Mahl und werden fotografiert, die anderen wählen die Ermordung. In dem Moment, in dem auch KZ-Aufseher Schreckinger von dem Mahl probiert, spricht eine Lautsprecherstimme einen Text, der mythische, historisierende und exotistische Kannibalismusbilder aufruft: Herodot und Strabo Berichten von den skythischen Massageten Die alte Menschen töteten und auffraßen. Kannibalismus kommt vereinzelt auch bei Kulturvölkern vor Wie Berichte von Schiffbrüchigen und Belagerungen bezeugen. Die Gewohnheit, verstorbene Blutsverwandte zu verzehren Als die pietätvollste Art, ihre sterblichen Überreste zu beseitigen Verbindet sich mit dem Brauch Die Alten und Kranken zu töten. Einige Wilde jedoch sind voller Gier nach den Leichen eines Ermordeten Damit sein Geist sie nicht heimsuchen möge, Und deshalb, liebe Brüder in Christo, empfehle ich euch

107 Vgl. Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek: Rowohlt 1991, S. 357. 108 Zu Montaigne und Humboldt vgl. etwa Holdenried, Michaela: „Das Kannibalische Dreieck. Ikonen des Fremden“. In: kultuRRevolution 32/33 (1995). Sonderheft Tropische Tropen – Exotismus (hg. von Nana Badenberg, Alexander Honold, Rolf Parr, Thomas Schwarz), S. 39–44.

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Das Judenherz in Aspik oder mit einer pikanten Sauce – So zart, es zergeht auf der Zunge. (K 299)

Der antike Geschichtsschreiber und Ethnograph Herodot berichtete bereits in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts von dem Volk der androphagoi, das an den Grenzen des geltenden ethnozentrischen Weltbildes lebe; die androphagoi stehen wilden Tieren nahe und verkörpern eine „gesetzlose Lebensform“, die „sozusagen die Schwelle zwischen Animalität und Humanität“109 markiert. Die damit eingeführte Verbindung von Anthropophagie als Zustand von Wildheit und Barbarei hat sich lange gehalten, ebenso eine Gleichsetzung zwischen Kannibalismus und Primitivismus. Erst Montaignes Essay Des cannibales aus dem Jahr 1580 markiert einen Übergang, der den Kannibalismus ‚der Brasilianer‘ als kulturelle Praxis bestimmt. Damit ebnet Montaigne den Weg für einen Paradigmenwechsel in der Beurteilung – tatsächlich oder vermeintlich existierender – kannibalischer Praktiken, in dem er die Bestimmung unterschiedlicher Kulturen mit verschiedenen symbolischen Ordnungen einleitet.110 Tabori bezieht sich hier also sowohl auf frühe Figurationen von Kannibalen als ‚Wilde‘ und ‚Primitive‘ als auch auf spätere Kategorisierungen von Kannibalismus als kultureller Praxis. Der im obigen Zitat genannte Wunsch, die Leichen zu verzehren um den Geist der Ermordeten zu bannen, lässt sich schließlich mit Lévi-Strauss’ Reisebericht in Traurige Tropen (1955) verbinden: In den Beschreibungen seiner Reisen nach Brasilien bestimmt er Anthropophagie als kulturelle Praxis einiger Sozietäten, die furchterregende Kräfte eines Individuums neutralisieren oder nutzen sollen.111 Tabori rekurriert in dieser finalen Textpassage also auf verschiedene Medien der Repräsentation von Kannibalen (antike Historiografie und Ethnografie, Ethnologie, Reiseberichte; Fotografie in der Dokumentation durch Schreckinger), auf divergierende kulturelle Wertungen von Anthropophagie (er greift Zuschreibungen wie „Kulturvölker“, „pietätvoll“, „Wilde“ auf) sowie auf die Transsubstantiation („liebe Brüder in Christo“). Die direkte Anrede („Und deshalb, liebe Brüder in Christo, empfehle ich euch / Das Judenherz in Aspik“, s. oben) signalisiert jedoch das Ende des kulturhistorischen Diskurses und führt in die unmittelbare Körperlichkeit des Dramas, in der Tabori Anthropophagie nicht als Metapher oder als kulturelle Praxis zeigt; er knüpft damit etwa an jene Passagen des Stücks an, in denen die Figuren sehnsüchtig die Namen von Gerichten rufen und dazu onanieren (vgl. K 252). 109 Moser, Christian: Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der ­Anthro­pophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 9–14. 110 Vgl. ebd., S. 10. 111 Vgl. ebd., S. 15 f.

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Der unmittelbare Umschwung von einem kulturhistorischen Exkurs in die Profanität einer kulinarischen Empfehlung kann als schlagartige Blickverschiebung gelesen werden, die zur Konstitution von Taboris Ästhetik des Grotesken beiträgt, da sie abermals mit der Perspektivierung des Dargestellten und einem spezifischen Blick auf soziale Realitäten zusammenhängt. Dies veranschaulicht ein Vergleich mit anderen Thematisierungen von Kannibalismus im Feld der Shoah-Literatur im ungefähren zeitlichen Umfeld: In seinem bereits zitierten autobiografisch grundierten Zeugnis Das Menschengeschlecht beschreibt ­An­telme, wie der Protagonist auf die Idee der Essbarkeit seiner Mitmenschen verfällt, als er einem gesunden, wohlgenährten Menschen begegnet: „Das Gesicht gleicht einer gepflegten, rosigen Hinterbacke; einer natürlichen Rosigkeit und nicht der Rosigkeit der Kälte oder der Atemlosigkeit, das blühende Rosa. Einen Menschen wie diesen könnte man sicherlich essen. Ich bin zu ihm gegangen und habe ihn um Feuer gebeten.“ (Menschengeschlecht 398) Anders als bei Tabori bleibt Kannibalismus augenfällig als Gedankenspiel der Figur hypothetisch und damit außerhalb der konkreten Handlung des Textes. Weniger hypothetisch ist eine Kannibalismus-Darstellung in der Erzählung Abendessen (poln. 1946, dt. 1963) des polnischen Shoah-Überlebenden Tadeusz Borowski, der 1951 Suizid beging: Der Ich-Erzähler wird Zeuge einer Massenerschießung von 20 Russen, der die Inhaftierten zu Abschreckungszwecken beiwohnen müssen. Die ausgehungerten Männer stürzen sich nach der Erschießung „auf das blutige Pflaster“ und müssen von den Blockältesten vertrieben werden. Da er etwas abseits der Hinrichtungsstätte steht und sich „nicht rechtzeitig nach vorne drängen“ konnte, nimmt der Ich-Erzähler nicht teil am kannibalischen Akt. Am nächsten Tag versichert ihm „ein zum Muselmann abgezehrter Jude aus Estland […] dauernd voller Eifer, menschliches Hirn sei wirklich so köstlich, daß man es ungekocht, ganz roh essen kann.“112 Anders als Antelme zeigt Borowski Kannibalismus nicht nur als reale Verhaltensmöglichkeit unter den Bedingungen der KZ-Inhaftierung, sondern verzichtet auch darauf, das kannibalische Mahl durch die Erzählinstanz zu bewerten (etwa als erschreckend oder abstoßend); vielmehr berichtet die Erzählinstanz in sachlichem Ton und frei von Ironie oder moralischer Verurteilung. Diese Erzählhaltung bringt einen diskursiven Normalisierungsprozess zum Ausdruck, der seinerseits auf die radikale Alterität menschlicher Existenz und menschlicher Lebensbedingungen in Konzentrationslagern verweist (sie aber nicht explizit als solche beschreibt). Zu bedenken ist hierbei allerdings, dass es ein ‚Muselmann‘ ist, der dem Ich-Erzähler von seiner kulinarischen Erfahrung berichtet, der also 112 Borowski, Tadeusz: Abendessen. In: ders.: Bei uns in Auschwitz [U nas w Auschwitzu, 1946]. München: btb 2008, S. 337–342, hier: S. 342. Borowskis Erzählungen erschienen erstmals 1963 unter dem Titel Die steinerne Welt auf Deutsch.

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selbst gewissermaßen außerhalb der Gemeinschaft der KZ-Häftlinge steht (‚Musel­ männer‘ verkörperten einen Zustand, den Primo Levi als ‚Tot-Obwohl-NochAm-Leben-Sein‘ beschreibt oder der Philosoph als Emil L. Fackenheim als ‚lebenden Toten‘113). Während Antelme nur die Möglichkeit von Kannibalismus andeutet und Borowski dessen Normalisierung unter den Lebensbedingungen in Konzentrationslagern zeigt, zeichnet Die Kannibalen ein repräsentationskritischer und selbstreflexiver Zugang aus, der die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Inhalt der Darstellung auf der einen Seite und deren medialer Inszenierung, Verbreitung und ideologischer Instrumentalisierung auf der anderen stellt. Damit ist Taboris Blick auf die soziale Realität ein anderer als jener von Antelme oder Borowski. Diese Blickveränderung markiert auch der oben beschriebene abrupte Wechsel vom kulturhistorischen Diskurs zur profanen Verzehrsempfehlung. Eine umfassende Analyse von Taboris Kannibalismusbildern und seinem Blick auf die sozialen Realitäten, in die er Anthropophagie eingliedert, muss nun noch einen weiteren Aspekt der letzten Szene berücksichtigen, in der Hirschler und Heltai beim Verzehr des kannibalischen Mahls fotografiert, während Onkel und Klaub infolge ihrer Weigerung ermordet werden: Wenngleich Taboris Figuren am Beginn des Dramas die Zubereitung des kannibalischen Mahls proaktiv begonnen haben, erfolgt dessen tatsächlicher Verzehr in einer Situation extremer Macht- und Gewalt­ ausübung. Damit verschränken sich in der genannten Szene Anspielungen auf mediale Repräsentationen von Kannibalen (die Fotos, die der Kapo von Hirschler und Heltai beim Essen aufnimmt) und auf die Konstruktion von kollektiven Identitäten – auf dem Spiel steht weniger die Frage, ob die Figuren Kannibalen sind als eine Offenlegung der Bedingungen, unter denen sie zu solchen gemacht werden. Damit umgeht der Text auch ein moralisches sowie ein repräsentationstheoretisches Problem, dass nämlich die Darstellung von menschenessenden Juden Gefahr läuft, ihrerseits einen antisemitischen Topos zu reproduzieren. Vordringlich zeigt Tabori mit dieser Textstrategie außerdem, dass sowohl die Alteritätsfigur ‚des Kannibalen‘ als auch jene ‚des Juden‘ in vieler Hinsicht Produkt etwa von imperialen oder rassistischen Blicken ist und aus konstruktivistischen diskursiven Prozessen resultiert. Ein gewichtiger Unterschied ist hierbei, dass das Bild ‚Jude‘ in den 1960er Jahren, also dem Entstehungs- und Aufführungszeitpunkt von Die Kannibalen, eine vielfältige reale Entsprechung in europäischen und US-amerikanischen Gesellschaften hatte114 (egal, wie sehr diese 113 Vgl. Körte, Mona: „Der ‚Muselmann‘ in Erinnerung und Erzählung“. In: Segler-Messner, Silke/ Neuhofer, Monika/Kuon, Peter (Hg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945. Frankfurt u.a.: Peter Lang 2006, S. 97–110, hier: S. 104. 114 Anders verhält es sich etwa mit antijüdischen Tendenzen in Shakespeares Dramen: Da Jüd*in-

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Bilder mit Aussehen oder Lebensformen von realen Jüd*innen divergierten). Mit dem Konzept ‚Kannibale‘ hat es insofern eine völlig andere Bewandtnis, als die Existenz von dessen realer Entsprechung fragwürdig ist. Folglich lässt sich der Konstruktionscharakter des Konzepts ‚Kannibale‘ leichter erfassen, als wenn lediglich die Konstruktion von Bildern von ‚Juden‘ im Drama zur Disposition stünde: Dass Taboris (jüdische) KZ-Insassen zu Kannibalen gemacht werden, mag also damit zusammenhängen, dass sich über das Konzept ‚Kannibale‘ der konstruktivistische Charakter von Alteritätsfiguren leichter zeigen lässt als im Falle von ‚Juden‘. Dem muss noch eine Erweiterung hinzugefügt werden und spätestens jetzt zeigt sich die vielschichtige Komplexität von Taboris Kannibalismusbild: Der Autor zeigt (jüdische) KZ-Insassen, die ihre Mitmenschen essen und damit judenfeindliche Bilder im weitesten Sinne bestätigen. Folglich liefert ihre ‚Barbarei‘ und ‚Primitivität‘ den Machthabern wiederum einen Grund, sie zu töten – sie haben es schließlich, so der Kern der Propaganda, für die Fotos wohl angefertigt werden, nicht anders verdient. Gerade für die Perpetuierung von antisemitischen Judenbildern ist ein derartiger Zirkelschluss realpolitisch brisant: So zeigt sich etwa in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein ähnlicher Mechanismus in der Beurteilung der rund 250.000 ostjüdischen DPs im Jahre 1945/46. Sie waren mit Vorwürfen von Schwarzhandel, Preiswucher, unproduktiver Arbeit oder dem Missbrauch von Wohnraum konfrontiert; Angelika Königseder beschreibt, wie diese Vorwürfe „eine Schuldzuweisung an die überlebenden Juden [implizierten], die den Antisemitismus folglich durch ihr Verhalten selbst zu verantworten hätten. Diese Täter-Opfer-Umkehr intendierte eine Relativierung des Antisemitismus in der NS-Zeit und damit die eigene Entlastung.“115 Bisher hat sich also gezeigt, dass Bilder der Alteritätsfiguren ‚Jude‘ und ‚Kannibale‘ als Resultat von diskursiven Praktiken entstehen, wenngleich unter v­ öllig­ unterschiedlichen Voraussetzungen und eingebettet in differierende gesellschaftliche Zusammenhänge. Beide entstehen jedoch im Kontext von Gewalterfahrungen und Machtausübungen und beide Bilder haben reale Entsprechungen – jüdische Menschen auf der einen Seite und, dies muss für ‚den Kannibalen‘ nun ergänzt werden: dunkelhäutige Fremde (etwa aus Übersee) auf der anderen. Beide Menschengruppen sind von historischen Diskriminierungsprozessen nen bereits 1290 aus England vertrieben worden waren, kannten vermutlich weder Shakespeare noch viele seiner Zeitgenossen reale jüdische Menschen. Sie stellten eine ebenso abstrakte, mythisierte Alteritätsfigur dar wie die Kannibalen, die Othello im ersten Akt des Dramas nennt (zu Othello vgl. Windisch, Martin: „Inszenierte Anthropophagie auf der Bühne der Shakespeare-Zeit“. In: Keck/Kording/Prochaska: Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaft. Tübingen: Gunter Narr 1999, S. 67–86, bes. S. 68 f.). 115 Königseder, Angelika: „Displaced Persons (DPs)“. In: Benz: Handbuch des Antisemitismus, Band 3, S. 57–58, hier: S. 58.

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betroffen – sei es, dass Jüd*innen keine handwerklichen Berufe ausüben durften oder kennzeichnungspflichtig waren oder dass people of colour kein Wahlrecht hatten oder räumlich segregiert wurden –, beide unterlagen extremen Gewalteinwirkungen und beide müssen sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Gesellschaft und Literatur als autonom sprechende Subjekte etablieren. Die zeitliche Korrelation einer Emanzipation von jüdischen Shoah-Überlebenden und von Emanzipationsbestrebungen von ehemals Kolonialisierten fällt in diesem Zusammenhang auf: Wie sich Jüd*innen als Opfer extremer Gewalt­ausübung als Sprechende ab den 1960er Jahren etablierten, haben die vorigen Kapitel dargelegt. In ein ähnliches zeitliches Umfeld fallen etwa Bürgerrechtsbewegungen in den USA – der Bus-Boykott von Montgomery durch Rosa Parks (1955/56)116 hatte ebenso nationale Aufmerksamkeit erregt wie unterschiedliche Formen zivilen Ungehorsams (etwa die Freedom Rides in die US-amerikanischen Südstaaten) oder Kennedys Versprechen, ein Bürgerrechtsgesetz in den Kongress einzubringen. All dies dürfte Tabori, der sein Drama 1963 in den USA fertigstellte und erst danach wieder nach Europa umzog, nicht entgangen sein – davon zeugt auch seine literarische Bearbeitung des Themas Rassismus etwa in The ­Niggerlovers (UA 1967, New York; dt. Adaption: Die Demonstration). Tabori ist ein in den USA schreibender Autor, der eine klassische koloniale Alteritätsfigur verwendet, um über die Shoah zu schreiben; in seinen Bildern von Kannibalen verschränken sich nicht nur die Alteritätsfiguren ‚Juden‘ und ‚Kannibalen‘, sondern auch zwei emanzipatorische Diskurse.117 Tabori hat diese ­Engführung keineswegs erfunden. Bereits Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (mehrere Fassungen zwischen 1951 und 1966) und Aimé Césaire in Über den Kolonialismus (Discours sur le colonialisme, 1950/1955) haben in den 1950er Jahren den Versuch unternommen, Strukturen und Wirkungsweisen von Kolonialismus, Imperialismus, Nazismus und Holocaust zusammenzuführen – diesem Blick auf die Arbeiten der beiden Theoretiker*innen hat 116 In diese Zeit fällt auch der Zusammenschluss der Bandung-Staaten gegen Kolonialismus und Rassendiskriminierung und deren erste afroasiatischen Konferenz im Jahre 1955. Auch dies muss als emanzipatorische Bewegung verstanden werden, die etwa erstmals den Begriff ‚Dritte Welt‘ im Gegensatz zur ‚Ersten Welt‘ selbstbezüglich verwendete. 117 Eine noch explizitere Art der Appropriation von kulturalistischen Bildern aus der Kolonialherrschaft erfolgte im Fall der Bilder von ‚brasilianischen Kannibalen‘ schon in den späten 1920er Jahren in der Literatur der brasilianischen Moderne: 1928 veröffentlichte der brasilianische Autor Oswald de Andrade sein Manifesto Antropófago, das „as an avant la lettre Latin American cultural theory on consumption and countercolonial discourse“ kanonisiert ist (Jáuregui, Carlos: „Anthropophagy“. In: McKee Irwin, Robert/Szurmuk, Mónica (Hg.): Dictionary of Latin American Cultural Studies. Gainesville: The University Press of Florida 2012, S. 22–28, hier: S. 22). Jáuregui erwähnt auch die Uneinheitlichkeit der Bewegung sowie ihre vielfältige Vereinnahmung und Transformation.

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etwa Michael Rothberg in seiner Studie zu multidirektionaler Erinnerung zwei Kapitel gewidmet.118 Auch Frantz Fanons Arbeit über Prozesse der Internalisierung von Unterdrückung und Rassismus stellt eine Verbindung zwischen den Alteritätsfiguren ‚Jude‘ und ‚Negro‘ her: In Schwarze Haut, weiße Masken (franz. 1952, engl. 1967), das Tabori aus Gründen der zeitlichen Chronologie allerdings während der Arbeit an Die Kannibalen noch nicht gekannt haben kann, zieht Fanon nicht nur einen expliziten Vergleich zwischen ‚Schwarzsein‘ und ‚Jüdischsein‘, sondern erinnert auch an das Bild des ‚Negros‘ als ‚Kannibalen‘: My body was given back to me sprawled out, distorted, recolored, clad in mourning in that white winter day. The Negro is an animal, the Negro is bad, the Negro is mean, the Negro is ugly; look, a nigger, it’s cold, the nigger is shivering, the nigger is shivering because he is cold, the little boy is trembling because he is afraid of the nigger, the nigger is shivering with cold, that cold that goes through your bones, the handsome little boy is trembling because he thinks that the nigger is quivering with rage, the little white boy throws himself into his mother’s arms: Mama, the nigger’s going to eat me up.119

Dieser „inborn complex“, den er hier vorführt, verbinde ihn schließlich mit ‚den Juden‘: In Anti-Semite and Jew (p. 95), Sartre says: “They [the Jews] have allowed themselves to be poisoned by the stereotype that others have of them, and they live in fear that their acts will correspond to this stereotype. … We may say that their conduct is perpetually overdetermined from the inside.” All the same, the Jew can be unknown in his Jewishness. […] He is a white man, and, apart from some rather debatable characteristics, he can sometimes go unnoticed. He belongs to the race of those who since the beginning of time have never known cannibalism. What an idea, to eat one’s father! Simple enough, one has only not to be a nigger. Granted, the Jews are harassed – what am I thinking of? They are hunted down, exterminated, cremated. But these are little family quarrels. The Jew is disliked from the moment he is tracked down. But in my case everything takes on a new guise. I am given no chance. I am overdetermined from without. I am the slave not of the “idea” that others have of me but of my own appearance.120

118 Vgl. Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press, 2009. 119 Fanon, Frantz: Black Skin, White Masks [Peau Noire, Masques Blancs, 1952]. London: Pluto Press 2008, S. 86. 120 Ebd., S. 87.

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3. Körper und Kannibalen

Fanons Blick auf ‚Juden‘ trägt Züge von Vergleichsprozessen von Opfergruppen, die auch Rothberg unter dem Konzept von ‚competitive memory‘ zusammengefasst hat,121 und Fanon ist insofern zu widersprechen, als es durchaus Verschränkungen von Judenbildern und jenen von ‚Kannibalen‘ gab. Trotz solch möglicher Kritik an Fanons Thesen ist für vorliegenden Kontext aufschlussreich, dass Fanon die Figur ‚des Juden‘ als Abgrenzungsfolie heranzieht für seine Auseinandersetzung mit jenen diskriminierenden und rassistischen Prozessen, die auf sein Selbst- und Fremdbild einwirken. Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf Taboris zeitgleiche Auseinandersetzung mit dem Thema Kannibalismus auch in seiner Tätigkeit als Regisseur geworfen: Im Jahr der Fertigstellung von Die Kannibalen (1963) inszenierte er am Berkshire Theatre Festival Shakespeares Der Kaufmann von Venedig122 und verlegte darin dessen Handlung nach Theresienstadt. Laut der schwedischen Schauspielerin Viveca Lindfors, Taboris zweiter Ehefrau, hat Tabori „bei seinen Nachforschungen über seines Vaters Tod ein vergilbtes altes Flugblatt gefunden, das eine Theateraufführung des Stückes in Theresienstadt von einer Gruppe Gefangener ankündigte“123 – dies mag das überraschende Inszenierungskonzept veranlasst haben. Die Inszenierung beschreibt Lindfors folgendermaßen: Das Stück begann auf einer leeren Bühne, leer mit Ausnahme eines dünnen und nackten toten Mannes in der Mitte. Während ein Militärorchester fröhlich ‚Lilli Marleen‘ spielte, tragen ihn zwei Männer in Gefangenenkleidung nach draußen. Ein großes Hitler-Bild wird an die Rückwand gehängt. Zuletzt nehmen einige deutsche Offiziere ihren Platz in der ersten Zuschauerreihe ein. Das Spiel kann beginnen. (…) Aber Der Kaufmann von Venedig gespielt in Theresienstadt, so unser Titel, endet in einer Gerichtsszene. Einer der Offiziere geht auf die Bühne und übernimmt die Rolle des Richters. Mit dem Manuskript in der Hand befiehlt der Nazi dem Kaufmann, dem 121 Vgl. Rothberg: Multidirectional Memory, S. 1 f. 122 Martin Windisch, der sich mit inszenierter Anthropophagie auf den Bühnen der Shakes­peareZeit beschäftigt hat, geht davon aus, dass gewisse textuelle und visuelle Repräsentation von Anthropophagen vertraute Bilder zur Shakespeare-Zeit waren, auf die Autor*innen rekurrieren konnten. Diese Bildinventare von Anthropophagen entstammen dem Kontext kolonialer Expansion und zeigen verschiedene Vorgänge des Zerlegens, Grillens und Verzehrens von Menschen – etwa durch die Tupinambas an der Küste Brasiliens in einem aus Augsburg oder Nürnberg stammenden Holzschnitt von etwa 1505 (vgl. Windisch: „Inszenierte Anthropophagie auf der Bühne der Shakespeare-Zeit“, S. 69). So finden sich in Shakespeares Arbeiten Bilder von exotischen Völkern als Kannibalen (z.B. in Othello) sowie im Kaufmann von Venedig, den ein „hochambivalentes Spiel mit der Essensmetaphorik“ (ebd., S. 72) durchzieht, auch Beispiele für die Verschränkung der Themen Antijudaismus und Kannibalismus. 123 Lindfors, Viveca: Viveka … Viveca. An Actres … A Woman. Viveca Lindfors. A life. New York: Everest House 1981, S. 251. Zit nach: Ohngemach: George Tabori, S. 24.

Bilder von ‚Juden‘ und Anthropophagie

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Juden, auf die Knie zu gehen und um Verzeihung zu bitten – so wie es in Shake­ speares Text vorgeschrieben ist. Die Spannung ist unerträglich. Die anderen Gefangenen ahnen, daß es um Leben und Tod geht, alle kommen auf die Bühne. Wird er sich unterwerfen? Der Jude schaut umher und geht langsam in die Knie. Aber er ist nicht allein. Porzia, gespielt von mir, ist die erste, die sich ihm anschließt. Einer nach dem anderen schließt sich ihnen an. Wir fangen an, langsam in Richtung Zuschauerraum zu kriechen, genauso wie die Gefangenen ganz am Anfang des Abends. In dem Moment, wo wir am Rand der Bühne ankommen, gibt es ein Black-Out. Wenn das Licht dann langsam wieder angeht, sind nur noch Haufen von unseren Kleidern übrig.124

Eine fundierte Analyse der Inszenierung lässt sich ausschließlich basierend auf Lindfors Beschreibung zwar nicht vornehmen, doch scheint eine motivische Gemeinsamkeit zwischen Taboris Kaufmann-Inszenierung und dem Ende von Die Kannibalen zumindest darin zu liegen, dass die unter Morddrohungen erzwungene Unterwerfung am Ende steht; in beiden Fällen haben die Figuren also keine echte Wahl zwischen Kollaboration und Widerstand. Die Verbindung von Kannibalismus und Shoah führte Tabori auch in seiner Münchner Kaufmann-Inszenierung des Jahres 1978 unter dem Titel des Shylock-Satzes Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren fort: Das Plakat zeigte Portraits der Schauspieler mit verzerrten, grimassierenden Gesichtern, unter die Original-Portraits von jüdischen KZ-Inhaftierten gemischt wurden.125 Damit zeigt sich also der hohe Komplexitätsgrad von Taboris Kannibalenfiguration: Sie führt (historische) Alterisierungsdiskurse ‚des Fremden‘ zusammen, erweitert Fragen der Darstellbarkeit der Shoah um eine umfassende Auseinandersetzung mit Repräsentationskritik; schließlich lässt sich der konstruktivistische Charakter von Alteritätsfiguren an ‚dem Kannibalen‘ leichter vorführen als an jüdischen Figuren. Dabei weichen Taboris Kannibalismus-Bilder und damit sein Blick auf soziale Realitäten des Shoah-Alltags von jenen seiner Zeitgenossen in wichtigen Punkten ab – so etwa in seinem Zugriff auf Körperlichkeit, dem das folgende Kapitel gilt.

124 Ebd., S. 24 f. Kürzungen in Klammer von Ohngemach. 125 Vgl. Ohngemach: George Tabori, S. 25. Auch in Die Kannibalen finden sich das Shylock-Motiv (vgl. K 254) sowie weitere Verweise auf Figuren (z.B. Miranda, die Tochter des Prospero im Sturm, vgl. K 266) oder Zitate (etwa aus König Lear, vgl. K. 267) aus Shakespeares Dramen, anhand derer Taboris Shakespeare-Rezeption auch in Die Kannibalen gesondert untersucht werden könnte. Mit der Shylock-Rezeption nach der Shoah beschäftigen sich etwa die Beiträge in dem von Zeno Ackermann und Sabine Schülting herausgegebenen Band Shylock nach dem Holocaust. Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur (Berlin: de Gruyter 2011).

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3. Körper und Kannibalen

3.5 Theater, Performativität und Körper In den 1960er Jahren zeichnen sich zentrale Veränderungen in der deutschsprachigen Theaterlandschaft ab, welche die unterschiedlichen Medialitäten von Drama als Text und Drama als Inszenierung betreffen, wie sie speziell im 20. Jahrhundert entstehen, als Inszenierungen nicht mehr lediglich als Umsetzung eines Dramentextes verstanden werden, sondern als eigenständige, auch para- und nonverbal und damit multimodal kodierte Texte. Manche dieser Veränderungen, ex post als ‚performative Wende‘ bezeichnet, indiziert etwa Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (UA Frankfurt 1966) – das Stück markiert „eine wesentliche Station nicht allein in der Erprobung, sondern vor allem auch in der Etablierung neuer Theaterformen“126 – etwa durch eine radikale Veränderung der kommunikativen Situation auf der Bühne sowie zwischen Bühne und Publikum oder durch ein systematisches Umdenken des Verhältnisses zwischen Bühnenhandlung und ‚der Welt‘ außerhalb der Bühne.127 In der Theatersemiotik hat Erika Fischer-Lichte die Dimension des Performativen als Merkmal künstlerischer Äußerungen eingebracht, die kein „fixier- und tradierbares Artefakt“128 mehr darstellen, sondern ein transitorisches, unwiederholbares Ereignis, dessen Bedeutung sich in der Aufführung konstituiert. Die Elemente (also alle wahrnehmbaren Bestandteile) einer theatralen Inszenierung versteht sie nicht als bedeutungsvermittelnde Zeichen, sondern als selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend129 und damit, in ihrer Definition, als performativ. Damit knüpft Fischer-Lichte einerseits an Austins Konzeption performativer Sprechakte an – schließlich wird „die Materialität des Vorgangs […] nicht in einen Zeichenstatus überführt“130 –, andererseits erweitert sie seinen Begriff, indem sie ihn auf künstlerische beziehungsweise theatrale Praxis anwendet und die Dimension der affektiven Erfahrung stärkt. Marina Abramovićs Perfor­mance Lips of Thomas,131 in der die Künstlerin mittels Selbstverletzung (Ritzen mit einer Rasierklinge, Selbstgeißelung etc.) psychische und physische Grenzen des Körpers auslotet, beschreibt Fischer-Lichte beispielsweise folgendermaßen: Es „ging nicht darum, die Performance zu verstehen, sondern sie zu erfahren und mit den 126 Kastberger, Klaus: „Publikumsbeschimpfung“. In: Forschungsplattform Handke Online. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1867 [2.4.2021]. 127 Vgl. z.B. Gottwald, Herwig/Freinschlag Andreas: Peter Handke. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2009. 128 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 19. 129 Vgl. ebd., S. 38. 130 Ebd., S. 21. 131 Abramović, Marina: Performance Lips of Thomas. 24. Oktober 1975: Galerie Krinzinger, Innsbruck. Für eine Beschreibung der rund zweistündigen Performance vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 9 f.

3.5 Theater, Performativität und Körper

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eigenen Erfahrungen, die sich nicht vor Ort durch Reflexion bewältigen ließen, umzugehen.“132 An Fischer-Lichtes Performativitätsbegriff lässt sich in Zusammenhang mit Taboris für die zeitgenössische Dramenproduktion unüblichen Umgang mit Körperlichkeit anknüpfen; auch die selbstreferentiellen Bezüge auf die Inszenierung des eigenen Körpers oder die Affizierung durch diesen Körper lassen sich damit erschließen. Für den Regisseur Tabori ist außerdem ein Verständnis der Aufführung als transitorisches Ereignis wegweisend, das für seine lange Außenseiterposition im etablierten Theaterbetrieb mitverantwortlich war (vgl. bes. Kapitel 3.2). An Taboris Theaterarbeit der 1960er und 1970er Jahre lässt sich somit auch ablesen, wie die ‚performative Wende‘ Einzug in das Sub-Feld der Shoah-Literatur hielt. Diese Veränderungen können basierend auf jenen Erkenntnissen beschrieben werden, wie sie sich auch in den Kulturwissenschaften infolge dieser ‚performativen Wende‘ etablierten. Sie nehmen die Gemachtheit von Sprache und Wirklichkeit in den Blick sowie die Frage, „durch welche Handlungsvollzüge (kulturelle) Bedeutungen erzeugt werden“;133 dies kann auch dabei helfen, Taboris Konzeption des ‚grotesken Körpers‘ genauer zu beschreiben. Dafür sei an die in Kapitel 3.3 zitierte Textstelle erinnert, die Klaub beim Darbieten seiner Wunden zeigt: […] Wenn mir jemand ein Lammkotelett hinstellt, würd ich darüber keine Tränen vergießen. Ich bin kein Narr! Es ist kein Verdienst, ein Narr zu sein! – Fleisch ist Fleisch, und ich will existieren, ich will Zeugnis ablegen – Er wendet sich an Hirschler, sich das Hemd aufreißend und die Brust entblößend; Hirschler schlägt mit einem Laut des Ekels die Hände vors Gesicht und wendet sich ab. – ich will ein wandelnder Katalog von Wunden sein! Er hält das Hemd mit beiden Händen auf. Und ich will meine Wunden meinen Kindern zeigen! Eilt von einem zum anderen, in verrenkter Körperhaltung, wie ein Krüppel; die Angesprochenen wenden sich entsetzt ab, stoßen Laute des Abscheus aus. Nein, mit der Nase werde ich sie darauf stoßen! Ich werde sie zwingen, meine Schwären zu küssen und meinen Eiter zu trinken. Sie sollen lernen, im Leiden nichts Erhabenes zu sehen! Wieder bei Onkel Und wenn es hier nur zwei Männer gäbe, einen Mörder und ein Opfer, dann würde ich nicht das Opfer sein. (K 284 f.)

132 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 19. 133 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt 2006, S. 110. Bachmann-Medick nennt auch Bachtins Karnevalssemiotik sowie sein Dialogizitätskonzept als Vorreiter der ‚performativen Wende‘, da er „an einer spezifischen Weiterentwicklung des linguistic turn gearbeitet habe, welche die Sprache als abstraktes linguistisches System ablöst durch die Sprache als historische Praxis“ (ebd.).

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3. Körper und Kannibalen

Die Motivik von Klaubs Körper ist Bachtins Konzeptualisierung des grotesken Körpers, wie er ihn in Rabelais und seine Welt für Rabelais’ Arbeit beschreibt und wie er einen einflussreichen Motivkomplex in der kulturwissenschaftlichen Bachtin-Rezeption darstellt, nicht unähnlich: Dieser Körper zeichnet sich aus durch eine Favorisierung unterer Körperregionen (Bauch, Hintern, Phallus) sowie Körperöffnungen (Mund oder Anus, vgl. RW 358) gegenüber oberen Körperregionen (Kopf, Logik, Geist). Damit ist einmal mehr der groteske Körper als Anti­ pode zum ästhetisch ‚Schönen‘ und dem klassizistischen Körper aufgerufen;134 als Gegenbewegung zur Ausgrenzung ‚des grotesken Körpers‘ im Zuge eines antisemitischen Dispositivs wird er bei Tabori allerdings aufgewertet, wenn Klaub ihn selbstbewusst zeigt. Diese den Körper aufwertende Sprechhandlung ist konstitutiv für Strategien des Performativen in Die Kannibalen, da Klaubs grotesker Körper so lange keine Bedeutung in Taboris Drama ‚hat‘, so lange er ihn nicht explizit zeigt und benennt, ihn also selbstreferentiell ausstellt. Der Körper kann – mit Fischer-Lichte gedacht – also nicht lediglich auf seinen referentiellen Zeichencharakter reduziert werden, sondern wird durch die performative Setzung im selbstreferentiellen Sprechen gewissermaßen erst konstituiert: Klaub verleiht seinem Körper eine Geschichte, wenn er dessen abstoßende Teile im Vorgang des Zeigens bezeichnet („Wunden“, „Eiter“, „Schwären“). Damit wird die Materialität des geschundenen Körpers im Moment des selbstreflexiven Zeigevorgangs als Bedeutungsträger konstituiert und zum Zeichen für eine konkrete Gewaltvergangenheit. Potenziert wird dieses performative Element, wenn Klaub seinen Körper nicht nur zeigt, sondern die anderen Figuren des Stücks – und damit auch das Theaterpublikum – zu einer Konfrontation mit diesem Körper zwingt. Dieser unschöne, leidende Körper des KZ-Insassen spielte in der Shoah-Literatur lange eine untergeordnete Rolle, insofern er nicht explizit als leidender und grotesker Körper gezeigt wurde – zwar sind Themen wie Hunger, Kälte oder Schmerzen zentrale Topoi in Shoah-Erzählungen, jedoch werden sie selten mittels der Materialität des Körpers vermittelt. Auch der Ekel vor diesen Körpern war im Zuge des philosemitischen Paradigmas der unmittelbaren Nachkriegszeit (verständlicherweise) kaum Thema. Dies ist insofern bemerkenswert, als in Konzentrationslagern die intendierte Hervorbringung eines Körpers, der die Aufseher*innen mit Ekel affiziert und Jüd*innen als nicht-menschlich erscheinen lässt,

134 Auch Langs Körper trägt die Folgen der KZ-Inhaftierung: „Mutter, mein Ulcus macht mir wieder zu schaffen. Ich vertrage nur noch Joghurt und Mozart. Habe ich mich sehr verändert? […] Du siehst mich ja gar nicht an Schreit Sieh mich an! Zeigt seine klauenartigen Hände Sieh mal. Zeigt sein Zahnfleisch und seine Zunge Sieh mal. Reißt sich büschelweise Haar aus Sieh mal!“ (K 279) Ihm gegenüber stehen, auch in ästhetischer Hinsicht, jene „zwei eigentlich fabelhaft gut­ aussehenden Burschen von der Gestapo“ (K 272), von denen die Figur Weiss erzählt.

3.5 Theater, Performativität und Körper

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dazu beitragen sollte, den Inhaftierten als Objekten des Ekels den menschlichen Subjektstatus zu entziehen; Ekel war also ein intendiert hervorgebrachtes Korrektiv von Mitleid, das sich gegenüber gequälten KZ-Insassen gegebenenfalls regen konnte. In Fred Wanders Roman Der siebente Brunnen (1970) findet sich eines der Beispiele aus literarischen Shoah-Texten, die diesen Ekel explizit benennen, wenn Wander den Blick eines Wachpostens auf die Häftlinge in der Latrine beschreibt: „Wie sehen sie aus. Man hat ihn belehrt, es seien keine Menschen! Da hocken sie, wenn man sie läßt, den ganzen Tag auf der Kloake. Der Posten ist krank vor Ekel.“135 Im Unterschied dazu thematisiert Weiss in Die Ermittlung zwar Praktiken, die Körperhygiene betreffen (etwa die Praxis, den Häftlingen den Besuch der Latrinen nur in der Früh zu erlauben; Latrinengänge während des Tages wurden mit Kerkerstrafen vergolten; vgl. E 32), erwähnt die affektive Reaktion des Ekels jedoch entsprechend seiner Poetik nicht. Nun ergibt sich hinsichtlich der Darstellung von ekelerregenden Körpern von KZ-Häftlingen in der Dramatik nicht nur eine theaterpraktische Hürde, sondern in der Literatur im Allgemeinen ein Dilemma: Es besteht die Gefahr, antisemitische Judenbilder einmal mehr zu reproduzieren – einen ähnlichen Problemkomplex hat das vorige Kapitel hinsichtlich der Darstellung von ‚Juden‘ als ‚Kannibalen‘ herausgestellt. Zumindest zwei Wege führen bei Tabori aus diesem Dilemma: erstens die wiederholte Verwendung der mis en abyme, also von Techniken der selbstreflexiven Wiederholungen; zweitens Strategien des Performativen, die weniger stark auf referentielle Zeichenverwendung gründen. Beide Textstrategien verbinden sich in obiger Passage: Darin integriert Tabori erstens eine doppelte Wahrnehmungsperspektive, indem die anderen Figuren sich angeekelt von Klaubs Körper abwenden, während die Zuseher*innen sowohl den Körper sehen als auch die Reaktion auf ebendiesen Körper beobachten. Exemplarisch trägt die mis en abyme in der konkreten Szene dazu bei, den selbstreferentiellen Charakter des Dramas zu verstärken – sie findet sich auch auf anderen Ebenen des Textes, in den wiederkehrenden Verfremdungseffekten oder in der Zeitstruktur von Die Kannibalen, die das wiederholte Zurückkommen auf bereits gezeigte Szenen ermöglicht. In der doppelten Wahrnehmungsperspektive zeigt sich in zitierter Passage außerdem die Ambivalenz des Ekels, die Menninghaus beschrieben hat, besonders eindrücklich in der Gleichzeitigkeit von Abwehr (Abwenden der Figuren) und Faszination (Hinsehen des Publikums)136. Da der 135 Wander, Fred: Der Siebente Brunnen [1970]. Göttingen: Wallstein 2005, S. 113. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Brunnen. 136 Menninghaus beschreibt Ekel als „die heftige Abwehr (1) einer physischen Präsenz bzw. eines uns nahe angehenden Phänomens (2), von dem in unterschiedlichen Graden zugleich eine unterbewußte Attraktion bis offene Faszination ausgehen kann (3).“ (Menninghaus: Ekel, S. 13 f.)

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3. Körper und Kannibalen

groteske Körper bei Tabori jedoch lediglich diskursiv anwesend ist und nicht sensuell (wie er dies etwa in Hermann Nitschs Arbeiten mit Tierkörpern und -säften der Fall ist), streicht Tabori damit – zweitens – die Unverfügbarkeit des ‚authentischen‘ materiellen Körpers der Shoah-Opfer heraus. Durch die Strategien des Performativen wird der nicht-authentische Körper jedoch zum Zeichen für den grotesken Körper; dieses Zeichen ist nicht von Beginn an als referentielles Zeichen präsent, sondern die Bedeutung des Körpers der Schauspielenden wird erst im Zeigevorgang, also im sprachlichen Handlungsvollzug, konstituiert. Bevor Textstrategien des Performativen eingehender betrachtet werden, sei ein weiteres Beispiel für die wiederholte Verwendung der selbstreflexiven Figur der mis en abyme angeführt: In mehreren Szenen des Dramas sind Figuren uneinig darüber, was ‚wirklich‘ passiert ist, so etwa hier Ramaseder und Weiss: Ramaseder Du hast auch gesagt: „Und Gott sprach zu Abraham …“ Ach, Scheiße, ich weiß nicht mehr, was er sagte. Weiss wie oben Lege – deine – Hand – nicht – an – den – Knaben! Ramaseder Na, und was zum Teufel soll das heißen? Er bricht in Tränen aus. Heltai ungeduldig Nein, nein, so war es überhaupt nicht. Er schiebt Ramaseder zur Seite, bedeutet ihm, gut aufzupassen. Er nimmt die Gelatine und legt sie an eine andere Stelle des Tisches. Murmelnd. Das war hier. Er nimmt die Schachtel und legt sie anders hin. Und das lag da. Er nimmt Ramaseders Platz auf der Bank ein, aber verrenkt, die Knie zusammen, die Füße auseinander und nach außen gedreht. Pause. In der Rolle Ramaseders Na, und was zum Teufel soll das heißen? (K 270)

Taboris Figuren hadern mit der Erzählbarkeit ihrer Erfahrungen ebenso wie mit der Verlässlichkeit ihrer Erinnerungen; dies verstärkt nicht nur den repräsentationskritischen Gestus des Textes, sondern bewirkt außerdem eine verfremdende Blickverschiebung auf die Handlung. Derartige Strategien der Verfremdung durchziehen Die Kannibalen als roter Faden: etwa, wenn die Figuren ihre Ermordung mit dem Laut „Schsch“ mitteilen (z.B.: „Er stirbt. Ein ‚Schsch‘-Laut kommt aus seinem Mund“, K 271, s. unten). Die Ermordung der Figuren wird nicht gezeigt, sondern mittels verfremdender Textstrategien angedeutet; diese können sich zusätzlich mit performativen Sprechhandlungen verbinden: so etwa in folgender Szene, in der Onkel den zwölfjährigen KZ-Insassen Ramaseder dafür rügt, gestorben zu sein: Onkel: Ramaseder, ich bin sehr enttäuscht von dir. Ich weiß, du bist erst zwölf, aber das ist keine Entschuldigung. Du verstößt dauernd gegen die Regeln. Wo hast du deine Jacke? Du musst sie immer anhaben, auch beim Schlafen! Und was ist das hier? Er schlägt mit der flachen Hand gegen Ramaseders Hosenbeine. Rostflecken sind erlaubt, aber Schlammkrusten müssen abgekratzt werden. Und warum stopfst

3.5 Theater, Performativität und Körper

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du dir die Jacke nicht mit Papier aus, jetzt, wo der kalte Wind weht? Und was ist mit deinen Schuhen, Ramaseder? Er tritt heftig gegen Ramaseders bloße Füße. Warum hast du dir keine Lappen um die Füße gewickelt, wie ich’s dir gesagt habe? Schuhe drücken, sie scheuern, Hühneraugen werden steinhart hier, Schuhe können dein Tod sein, aber du darfst sie nie aus den Augen lassen, sonst werden sie gestohlen. […] Und, Ramaseder, ist das vielleicht eine Art zu sterben? Am helllichten Tag, im Alter von zwölf Jahren, und keiner hält dich in den Armen? Er nimmt Ramaseder in die Arme. Wirst du das denn nie lernen? Zum Publikum Er hob ihn auf. Nicht leicht für ihn, bei seinem Alter. Trug ihn hinaus. Sie konnten ihn draußen wie wild die Erde aufkratzen hören, wie ein Hund, der nach einem Knochen scharrt, um dem Kind ein Grab zu graben. Hirschler beginnt ein langsames rhythmisches Kratzen mit den Fingernägeln auf der Tischplatte. Onkel hebt Ramaseder mühsam hoch und trägt ihn schwankend zum Hocker, wo die Jacke des Jungen liegt; dort setzt er ihn ab, steht einen Augenblick lang über ihm. Dann lädt er sich Ramaseder auf die Schulter und trägt ihn zur Tür. Weiss, irr lächelnd, versetzt dem locker baumelnden Arm Ramaseders einen leichten Schlag, so dass er hin und her schwingt. Onkel dreht sich mit seiner Last um, blickt Klaub an; laut. Das Mittagessen für morgen? Hirschler, der kurz mit dem Kratzen aufgehört hat, fängt wieder damit an, während Onkel durch die Tür verschwindet. Das Kratzen hört auf. (K 271)

Onkel erzählt hier von Überlebensstrategien in Konzentrationslagern – ein topoisiertes Handlungselement vieler Berichte von Zeitzeug*innen. Mit derartigen Konventionen bricht hier jedoch die auf das Erzählen folgende Darstellung, die Handlung (Bewegung auf der Bühne) und Sprachhandlung (Kommentieren und Beschreiben der eigenen Handlung) verknüpft. Verfremdend wirkt diese Passage insofern, als hier die sprachliche Beschreibung einer Handlung und die konkrete Handlung auf der Bühne voneinander entkoppelt sind. Verfremdungseffekte und Strategien des Performativen sind in einigen Szenen in Die Kannibalen verbunden, wie etwa ein eingehender Blick auf Taboris Verwendung von Onomatopöie zeigt. Mit einer solchen setzt der Haupttext des Dramas ein und sie führt unmittelbar in dessen handlungsmotivierenden Konflikt – Puffi isst heimlich ein Stück Brot und stirbt im darauffolgenden Handgemenge: Puffi Krrrump. Die anderen setzen sich nacheinander auf.  Krrump. Die anderen lauschen. Sie trauen ihren Ohren nicht. Klaub Da isst jemand was. Klaub, Ghouls und der Zigeuner fangen an, nach dem Esser zu suchen […] Puffi K-r-rump. (K 239)

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3. Körper und Kannibalen

Bereits auf der nächsten Seite führt Tabori eine weitere Onomatopoesie ein, die mehrmals wiederholt wird; abermals ist sie mit dem Bedeutungsfeld ‚Essen‘ verbunden: Klaub eine Fliege verfolgend Bsss. Bsss. Er will sie fangen, da kommt ihm Onkel um Haaresbreite zuvor. Onkel triumphierend Bsss. Bsss. Die anderen applaudieren. Ramaseder Darf ich die haben, Onkel? Onkel Fang dir doch deine eigene Fliege, verdammt noch mal! […] Er schiebt Ramaseder die Fliegen in den Mund. Ramaseder kaut. Hirschler im Rhythmus der Kaubewegungen Bsss. Bsss. (K 241)

In beiden Textstellen verwendet Tabori onomatopoetische Zeichen, die nicht Teil des Wortschatzes einer bestimmen Sprache sind; ihre Bedeutung entsteht im Handlungszusammenhang des Stücks. Nach linguistischer Definition sind onomatopoetische Wörter ikonische Zeichen, also Zeichen, in denen „wir […] das Bezeichnete als Abgebildetes (wieder)erkennen“137 und die der Lautstruktur der jeweiligen Sprache angepasst sind. Da Taboris Figuren onomatopoetische Zeichen erfinden, muss im Zuge der (Sprech-)Handlung der Bezug zum Bezeichneten erst etabliert werden. Im zweiten Fall von „Bsss. Bsss.“ ist dieser Vorgang etwas komplexer als bei „Krrrump“, da hier nicht nur die Fliege, also ein singulärer Referent, bezeichnet wird, sondern das gesamte Bedeutungsfeld Hunger – Jagd auf Essen – Nahrungseinnahme. Wenig später kehrt die Onomatopoesie lautlich leicht abgewandelt als „Ksss – Ksss.“ (K 247 ff.) wieder, bei der ersten Verwendung das Schleifen des Messers bezeichnend: Hirschler Ich war es, ich hab ihm das Messer weggenommen und es Weiss gegeben. Und Weiss schliff es am Ofen scharf. Weiss Ksss – Ksss. Hirschler Weiss? Weiss? Welcher war das denn? Weiss, hinter dem Topf, winkt. Heltai Weiss war der Koch. Hirschler Ich hab keine Ahnung, wovon du redest. Heltai Du musst einen gesunden Schlaf haben. Weiss Ksss – Ksss. 137 Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R.: Studienbuch Linguistik. Tübingen: Niemeyer 31996, S. 23.

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Hirschler Wie geht’s denn deiner Frau? Heltai Frag lieber nicht. Hirschler Was willst du denn machen? Vegetarier werden? […] Ein Schweinskotelett ist was Abstraktes. Könnte sonst was sein. Bei einem Schweinskotelett denk ich nicht an ein Schwein. Weiss Ksss – Ksss. Klaub ist aufgestanden, um Puffi nach hinten zu ziehen. (K 247 f.)

Ähnlich wie im Falle von „Bsss. Bsss.“ bezeichnet es jedoch im Folgenden nicht nur einen konkreten Vorgang; vielmehr weitet die restliche (Sprech-)Handlung auf der Bühne (Weiss, der hinter dem Topf winkt; Weiss als Koch; Klaub bewegt den toten Puffi etc.) die Onomatopoesie auf das Bedeutungsfeld ‚Kannibalismus‘ aus. Schließlich führt Tabori gegen Ende des ersten Aktes einen weiteren Laut ein, als die Figuren sich an die Ermordung des zwölfjährigen Jungen Ramaseder erinnern. Lapidar heißt es im Nebentext: „Er stirbt. Ein ‚Schsch‘-Laut kommt aus ­seinem Mund“ (K 271). Am Ende des Dramas kehrt der Laut wieder, als die ­KZ-Insassen sich zwischen Kannibalismus und Gaskammer entscheiden müssen. Weder wird ihre Entscheidung gezeigt noch erklärt, sondern einzig ihre Ermordung mittels der (wieder leicht abgewandelten) Onomatopoesie bezeichnet: Schreckinger […] Fang an aufzutragen. Alle außer Klaub und Onkel setzen sich. Der Kapo holt den Topf, füllt mit der Kelle die Näpfe, die ihm Klaub zureicht und gibt sie mechanisch an Onkel weiter, der sie weiterwandern lässt, bis alle bekommen haben. […] Dann stellt der Kapo den Topf hastig auf den Ofen zurück und positioniert sich seitlich davon in übertrieben militärischer Haltung. Klaub und Onkel setzen sich. Pause. Guten Appetit. Keiner rührt sich. Esst. Dreißig Sekunden Stille. Dann schüttelt Haas lange und heftig den Kopf. Esst. aas HaHaHaas krächzt und schüttelt noch einmal den Kopf. Ab in den Duschraum. Haas erhebt sich und trottet nach rechts zur Tür, neben der er sich aufstellt. Er öffnet den Mund und produziert ein zischendes Geräusch. – ‚Schschsch‘ –, das nur vom Atemholen unterbrochen, bis zum Einsatz der Lautsprecherstimme vernehmbar bleibt. Esst! Längere Pause. Dann erhebt sich Ghoulos. Ab in den Duschraum.

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3. Körper und Kannibalen

Ghoulos trottet zum Pritschengestell, klettert hinauf, läuft auf der obersten Pritsche bis nach vorn und bleibt dort stehen, das zischende Geräusch produzierend. Lang erhebt sich, sieht Schreckinger kurz an, trottet, das Zischen produzierend, zum Pritschengestell, setzt sich auf die mittlere Pritsche, wie die Vorigen mit dem Gesicht zum Publikum. Glatz erhebt sich zögernd, nimmt seinen Napf, als ob er sich nicht davon trennen könnte, stellt ihn wieder hin, schlägt sich mit den Fäusten auf den Mund und trottet dann, das Zischen produzierend, zum Pritschengestell […]. Weiss erhebt sich, kopfschüttelnd, wie jemand, der die Welt nicht mehr versteht; das Zischen produzierend, trottet er auf sein Podest hinter dem Topf zurück. (K 297 f.)

Onomatopoetische Zeichen konstituieren handlungsrelevante Bedeutung; Onomatopoesie, und damit Sprache, kann hier als performativ insofern bezeichnet werden, als das kontinuierliche, sich chorisch steigernde Zischen den Ort der Gaskammer und den Vorgang des Ermordens konstituiert, ohne sie zu zeigen oder zu beschreiben. Nachdem Onomatopoesie am Dramenbeginn als bedeutungskonstituierend eingeführt wurde, durchziehen lautlich leicht abgewandelte onomatopoetische Äußerungsakte den Text. In der Abwandlung der Imitation des Messerschärfens wird die Bedeutung des Bezeichneten zu etwas Bedrohlichem umcodiert, bis es schließlich die Ermordung in der Gaskammer bezeichnet. Dies bedeutet, dass Tabori mit verschiedenen Strategien des Performativen arbeitet, die sich stellenweise auch mit Verfremdungseffekten verbinden und die etwa den geschundenen, grotesken Körper als bedeutungstragendes Zeichen konstituieren und mittels onomatopoetischer Zeichen Inhalte vermitteln oder Handlung erzählen. Ein weiterer Zusammenhang zwischen Performativität und Shoah-Literatur betrifft schließlich den Sprech- und Handlungsakt des Bezeugens. Die bisherigen Zitate aus Die Kannibalen haben illustriert, wie das Erzählen von Erlebtem (Onkel, der dem Publikum von Ramaseders Tod erzählt) oder dessen gemeinsame Rekonstruktion (Hirschler, der sich nicht an Weiss erinnert) ein wichtiger Bestandteil der Dramenhandlung ist, auch wenn Tabori die Verlässlichkeit von individueller Erinnerung problematisiert. Den Akt des Zeugnisablegens an sich hat die Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman im Jahr 1992 als performativen Sprechakt bezeichnet, wenn sie schreibt: „Testimony is […] a discursive practice […]. To testify – to vow to tell, to promise and produce one’s own speech as material evidence for truth – is to accomplish a speech act, rather than to simply formulate a statement.“138 138 Felman, Shoshana: „Education and Crisis. On the Vicissitudes of Teaching“. In: dies./Laub, Dori. Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis and History. New York, London: Routledge 1992, S. 1–65, hier: S. 5.

3.5 Theater, Performativität und Körper

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Deutlich wurde, dass selbstreflexive Figuren wie die mis en abyme oder Verfremdungseffekte Teil eines Repertoires literarischer Verfahren sind, die mit Strategien des Performativen in Die Kannibalen verflochten sind. Sie ermöglichen es Tabori, den geschundenen, grotesken Körper der Zeitzeug*innen im Text als bedeutungstragendes Zeichen zu etablieren – zwar diskursiviert verfügbar, dadurch aber als materieller Referent in einem historischen Bedeutungszusammenhang erst konstituiert: Der Körper tut, als ob er der Körper eines Zeitzeugen sei und wird dadurch zum Zeichen für eine Gewaltvergangenheit. Die dergestalt erfolgende Aufwertung performativer Sprachverwendung in Die Kannibalen verortet das Drama in einem theatergeschichtlichen Spannungsfeld, Teil dessen auch Handkes Publikumsbeschimpfung ist: Veränderungen in der europäischen Theatergeschichte können, so Fischer-Lichte, auch als Geschichte von „Umstrukturierungen und Neubestimmungen des Verhältnisses“139 zwischen der referentiellen und der performativen Funktion formuliert werden, welche das Theater immer gleichzeitig erfülle. In den 1950er Jahren habe im Theater der westlichen Kultur die referentielle Funktion derart dominiert, dass die performative fast vollständig aus dem Blickfeld geraten sei. Diese Differenzierung – so problematisch sie im Detail auch sein mag140 – kann mit Blick auf die Shoah-­ Literatur dabei helfen, die Bedeutung von Körper und Körperlichkeit in Taboris Theaterarbeit weiter zu erschließen: Wenn Klaub seine Wunden selbstbewusst seinen Kindern (und damit, metaphorisch gesprochen, der nachfolgenden Generation im Allgemeinen) zeigt, wertet dies den grotesken Körper des Shoah-­Opfers auf. Dadurch wird dieser Körper gleichsam als zentraler Akteur in literarischen Texten über die Shoah etabliert. Mit dieser künstlerischen Praxis ist die später folgende Konjunktur der Oral History verbunden, wenn sie diese nicht gar antizipiert: Nicht historische Dokumente oder archäologische Funde verbürgen in der Praxis von Zeitzeug*innengesprächen oder Oral History Interviews die Ereignisse der Vergangenheit, sondern die Körper der Betroffenen verbürgen als Zeichen die Authentizität der Erfahrung und die Wahrhaftigkeit des Erzählten. Der Körper von Überlebenden hat aber an sich noch keine Bedeutung, denn sie muss erst durch den Akt des Zeugnisablegens konstituiert werden. Das bisher Gesagte hebt Die Kannibalen vor allem von jenen zeitgenössischen Dramen ab, die unter dem Begriff ‚Dokumentartheater‘ subsumiert werden; zwar spielt etwa auch in der Ermittlung der Körper von KZ-Insassen beziehungsweise

139 Fischer-Lichte, Erika: „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Weg zu einer performativen Kultur“. In: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp 2002, S. 277–300, hier: S. 279. 140 Zu einer Kritik an Fischer-Lichtes Performativitäts-Begriff vgl. etwa Wirth, Uwe: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“. In: ders.: Performanz, S. 9–60, bes. S. 39.

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3. Körper und Kannibalen

deren körperliche Erfahrung eine Rolle, jedoch dominiert hier eine referentielle Zeichenverwendung, die ihrerseits mit dem Anliegen der Repräsentationalität historischer Evidenzen verbunden ist (vgl. Kapitel 1.6). So beschreibt Zeuge 3 den Hunger von KZ-Insassen folgendermaßen: Wir fuhren 5 Tage lang Am zweiten Tag war unsere Wegzehrung verbraucht Wir waren 89 Menschen im Waggon dazu unsere Koffer und Bündel Unsere Notdurft verrichteten wir in das Stroh Wir hatten viele Kranke und 8 Tote Auf den Bahnhöfen konnten wir durch die Luftlöcher sehn wie die Bewachungsmannschaften von weiblichem Personal Essen und Kaffee erhielten Unsere Kinder hatten zu jammern aufgehört als wir in der letzten Nacht vom Bahndamm auf ein Nebengleis abbogen (E 13)

Hunger und Durst sind hier Bestandteil einer protokollartigen, sachlichen Beschreibung der Zugreise, die der Zeuge als Aneinanderreihung faktualer Evidenzen präsentiert und die jeder affektiven Reaktion entbehrt. Weder wird die Erzählbarkeit dieser historischen Evidenzen problematisiert noch der Versuch unternommen, die körperliche Erfahrung mit performativen Textstrategien zu verbinden. Auch in vergleichbaren Textstellen, in denen Zeug*innen die Körper von KZ-Insassen beschreiben, dominiert die referentielle Funktion von Sprache (im Gegensatz etwa zur emotiven oder appellativen, die primär auf den Sender oder den Empfänger gerichtet sind), also die Ausrichtung auf einen konkreten Gegenstand: Etwa spricht der gleiche Zeuge in einer anderen Szene von „Hunderte[n] / von zerlumpten Gestalten / viele bis aufs Skelett abgemagert“ (E 30) oder jemand berichtet von Ratten im Quarantänelager: Diese „nagten nicht nur die Leichen an / sondern auch die Schwerkranken / Oft waren die Füße von denen / die in Agonie lagen / morgens angebissen.“ (E 39) Anstelle der hier dominierenden Ausrichtung von Sprachverwendung auf externe Gegenstände steht bei Tabori das hohe Maß an Selbstreferentialität; einmal mehr betont dies die repräsentationskritische Haltung des Autors: Kein detailliertes Bild der Leiden im Konzentrationslager mithilfe faktischer Rekonstrukti-

3.5 Theater, Performativität und Körper

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on entwirft die Figurenrede, um für die Dauerhaftigkeit faktualen Wissens einzustehen, sondern das Erzählen von körperlichen Erfahrungen in Extremsituationen und die Flüchtigkeit dieser Erfahrungen sind Thema. Dieser Problemkomplex kommt in Texten von Überlebenden wiederholt zur Sprache – etwa in Die Untergegangenen und die Geretteten anhand des Hungers von KZ-Insassen: Levi schreibt dort von der Unmöglichkeit, diesen Hunger jenen zu beschreiben, die ihn nicht selbst erlebt haben. Diese reflexive Passage über die Erzählbarkeit flüchtiger physischer Erfahrungen reiht sich in eine grundsätzliche Kritik an der (literarischen) Repräsentation von (historischen) Erfahrungen ein, wenn Levi von der Differenz spricht, die zwischen den Verhältnissen besteht, wie sie „dort“ herrschten, und deren Verhältnissen, wie sie von der gängigen Vorstellung dargestellt werden, die durch ungenaue Bücher, Filme und Mythen unterstützt werden. Sie gleitet unweigerlich in die Simplifizierung und ins Klischee ab. Ich möchte hier einen Damm gegen dieses Abdriften errichten. Zugleich möchte ich aber auch daran erinnern, daß es sich hierbei nicht um ein Phänomen handelt, das auf die Perzeption der jüngsten Vergangenheit oder der historischen Tragödien begrenzt ist. Es ist viel allgemeiner, es ist Teil unserer Schwierigkeit oder Unfähigkeit, die Erfahrungen anderer zu perzipieren, die um so deutlicher wird, je weiter derartige Erfahrungen in der Zeit, im Raum und in ihrer Eigenart von den unseren entfernt sind. Wir neigen dazu, sie mit den uns näher liegenden Erfahrungen zu verknüpfen, etwa so, als wäre der Hunger in Auschwitz mit dem vergleichbar, den man verspürt, wenn man eine Mahlzeit ausgelassen hat. (UG 161)

Diese Erfahrungsdifferenz tritt bei Levi damit weniger als grundsätzliche Kritik an künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Shoah auf, als sie sich als Kommunikations- oder Empathieproblem manifestiert. Dass dies nicht nur das kulturelle Gedächtnis (also die Weitergabe von Wissen oder Konzepten zwischen mehreren Generationen; Jan und Aleida Assmann), sondern auch das individuelle beziehungsweise kollektive Gedächtnis (Maurice Halbwachs) betreffen kann, beobachtet etwa Semprún. Levis Beobachtung führt er insofern fort, als bei ihm selbst das eigene quälende Hungergefühl im Nachhinein kaum mehr vorstellbar ist: Schweigend trinken wir, während die Kameraden sich gegenseitig in Erinnerung rufen, wie sehr wir gehungert haben. Aber hatten wir auch tatsächlich Hunger? Ein einziges richtiges Essen hat den Hunger zu etwas Abstraktem gemacht. Er ist nur noch ein Begriff, eine abstrakte Idee. Und trotzdem sind Tausende meiner Kameraden an dieser abstrakten Idee gestorben. Ich bin stolz auf meinen Körper, er muß eine erstklassige Maschine sein. Ein einziges Essen hat genügt, dieses von nun an

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3. Körper und Kannibalen

unnötige Etwas, den Hunger, an dem wir hätten sterben können, in ihm auszulöschen.141

Sprechen über den Hunger als Versuch des (individuellen und kollektiven) In-­ Erinnerung-Rufens reicht kaum aus, um den Zweifel an der ‚Wahrheit‘ der eigenen Erfahrung völlig zu eliminieren, schließlich existiert die ‚Wahrheit‘ dieser Erfahrung nicht als greifbare Tatsache, sondern ausschließlich als Erinnerung. Für vorliegenden Kontext ist dabei vor allem von Interesse, dass Semprún diesem Zweifel ein Bild des Körpers als „erstklassiger Maschine“ gegenüberstellt, dessen Materialität und Funktionalität der abstrakten Erinnerung gegenübertritt. Der Körper in seiner Materialität wird damit zum Garanten für die Beglaubigung der (eigenen) Erinnerung sowie der Narration. Es wurde gezeigt, dass die Materialität des Körpers mittels performativer Textstrategien in Die Kannibalen als bedeutungstragendes Zeichen konstituiert wird – verglichen mit den Prosatexten von Levi und Semprún unter den Voraussetzungen des Kommunikationssystems der Dramatik. Den Kontrast zwischen primär referentieller Sprachfunktion und performativer Ästhetik reflektiert folgende Textstelle, lesbar als selbstreflexiver Kommentar zur Poetik des Autors: Darin versuchen Klaub und Onkel, die Ereignisse während der Deportation zu rekonstruieren. Ästhetische Unterschiede zum restlichen Dramentext sind augenfällig, da dort etwa Gefühlsausbrüche oder verwirrende Verschmelzungen von Zeit­ ebenen und Figuren dominieren. Die Kommunikationsstruktur der Befragung ähnelt übrigens jener der Ermittlung: Klaub […] Wo warst du, Onkel? Onkel Ich stand neben dir. Klaub Wie würdest du die Atmosphäre im Viehwagen beschreiben? Onkel Es war schrecklich. Klaub Kannst du dazu ein Beispiel anführen? Onkel Lewinsky bekam einen Anfall und erstickte. Klaub Schön. Was noch? Onkel Langeweile. Klaub Weiter. Onkel Humor. Klaub Von welcher Art? Onkel Darüber möchte ich nichts sagen. (K 285 f.)

Letztlich kann auch das Innehalten vor einer Beschreibung des Humors gelesen werden als Innehalten vor einem in den 1960er Jahren bestehenden ästhetischen 141 Semprún: Die große Reise, S. 85.

3.5 Theater, Performativität und Körper

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Tabu, nämlich vor dem Schreiben über die Shoah mit Strategien des Komischen (vgl. Kapitel 3.6). Bevor jedoch das Themenfeld des Komischen in Die Kannibalen in den Blick genommen wird, sei einem Aspekt der bisher behandelten literarischen Strate­ gien des Performativen noch eine Ergänzung, das sprachliche Register betreffend, hinzugefügt: Im Vorfeld der deutschen Erstaufführung hat laut Tabori der Vorstand der jüdischen Gemeinde in Berlin versucht, die Produktion stoppen zu lassen. Auf Taboris an ihn gerichtete Frage, was er beanstande, war es nicht der Inhalt des Stückes, das er nie gelesen hatte, sondern es waren einige ungehörige Redewendungen, die ihm hinterbracht worden waren. „Ich war selber in Auschwitz“, rief er aus, „und ich habe niemals Pisse gesagt.“ (U 23),142 so Tabori. Auch von Irritationen seitens der „beiden Juden der Besetzung“, die im Probenprozess „mehrmals aufzugeben“ (U 23) versucht waren, berichtet Tabori;143 und auf die Proben zurückblickend, erinnert er sich an Diskussionen unter den Schauspieler*innen angesichts der vulgären Sprachverwendung: Einige „hatten Scheu vor meinen Obszönitäten, sie konnten nicht begreifen, warum sie so wichtig waren, um das Tabu zu brechen. Einer wollte nicht Fick sagen, ein anderer bestand darauf, Arschficker durch Arschgeiger zu ersetzen, ein dritter hätte am liebsten seine Ohren zugehalten, wenn jemand Punze sagen mußte. Diese Beispiele einer zensierenden Prüderie waren mir neu“ (U 23). Diese Irritationen weisen darauf hin, dass in Die Kannibalen nicht nur die Kategorien der Materialität, der Selbstreferentialität und des Performativen konstitutiv für Taboris Körperkonzeption sind, sondern auch die Versprachlichung dieses Körpers: Der Bruch mit den Konventionen im Sprechen über die Körper von Shoah-Opfern ist nicht zuletzt ein Bruch des Registers. Narrative Muster, die Shoah als Erzählung von sakralisierten Opfern oder heroischen Widerstandskämpfern zu präsentieren (vgl. Kapitel 1.1, 1.4), haben meist eine Entsprechung in der Wahl des Registers. Über tabuisierte Körperteile und Körperhandlungen wird dementsprechend kaum mit drastischen verbalen Mitteln gesprochen, so etwa in der Ermittlung, wenn Zeuge 8 von einer Inhaftierung im Bunkerblock berichtet: „In den ersten 5 Nächten / schrie er laut / Dann hörte der Hunger auf / und der Durst nahm überhand / Er stöhnte / bat und flehte / Er trank seinen Urin / und leckte die Wände ab“ (E 148). 142 Vgl. auch Perets: „Vom Erhabenen ins Groteske“, S. 125. Perets weist darauf hin, dass Heinz Galinski, der Vorstand der jüdischen Gemeinde, auch versucht hatte, die Uraufführung der Ermittlung zu verhindern. 143 Auch der Musiker Stanley Walden, der zahlreiche Arbeiten von Tabori begleitet hat, erwähnt in einem Interview mit Ursula Ohngemach viele Proteste „von jüdischer Seite gegen die Theaterabende von George Tabori, die sich mit dem Thema Nazivergangenheit und Judenverfolgung provokativ auseinandersetzten“. („Gespräch mit Stanley Walden: Man beginnt nicht bei Null“. In: Ohngemach: George Tabori, S. 37–47, hier: S. 41.)

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3. Körper und Kannibalen

Nicht nur in der Rede im Gerichtsaal, die ein hoher Grad an Offizialität und Seriosität markiert, ist das Register formell („Urin“). Auch Wander entscheidet sich im Siebenten Brunnen für euphemisierende Sprachverwendung für bestimmte Körperhandlungen, etwa wenn der Erzähler von Krämpfen nach dem Verzehr von Kartoffeln berichtet: „Alle, die an diesem Morgen Pellkartoffeln gegessen hatten, um die sie sich rauften kurz vor dem Aufbruch, heiße Pellkartoffeln, in stinkendem Wasser gekocht, sie bekamen Krämpfe. Und Kalischer ging zur Seite um sich zu entleeren. Da traf ihn sein Schuss.“ (Brunnen 38) In Wanders Roman bedingt nicht die Sprechgattung des Gerichtsprozesses ein formelles Register, sondern es fügt sich die Sprachverwendung („sich entleeren“) zu dem Symbolkomplex des Sakralen, Heilgeschichtlichen, der den Roman durchzieht. Auch als Wander von den Latrinengängen der Inhaftierten schreibt, deutet er Körperhandlungen nur an: Einige Häftlinge haben sich „ein Viertelstündchen in der Latrine“ versteckt. Vor ihnen „auf der Stange keuchen Männer über ihrem wunden Leib, sitzen schweigend da oder fluchen, und es stinkt nach Chlor, aber wir riechen es nicht, sind entflohen.“ (Brunnen S. 12) Der „wunde Leib“ rückt in die Nähe des verwundeten Leibs Christi und ist als sublimierter Körper sprachlich anders codiert als die geschundenen Körper von Taboris Figuren mit ihren Wunden und Schwären. Diese Körper gehören Figuren, die von den Bedingungen im Konzentrationslager dazu gezwungen wurden, hygienische Standards und kulturelle Ausscheidungstabus zu verletzen – etwa fragt Onkel Ramaseder an einer Stelle: „Wo warst du, als Altschul seine eigene Scheiße aß?“ (K 244) oder Heltai stellt fest „Ich habe meine eigene Pisse getrunken, ich habe – – Er bricht bestürzt ab und schlägt die Hand vor den Mund. (K 278) Die Körper in Die Kannibalen sind Körper, die ‚scheißen‘ und ‚pissen‘, sie brechen kulturelle Körpertabus, die die Figuren im Registerverstoß ihrer Sprachverwendung reflektieren. Diese Debatten spiegeln sich etwa in Onkels folgender Äußerung, in der die von Tabori bezeichnete ‚Prüderie‘ Eingang in die Druckfassung des Dramas fand und der Begriff ‚Arschficker‘ durch ‚Arschgeigen‘ ersetzt wurde (da Onkel sich hier abschätzig über einen Kuss zwischen zwei Männern äußert, würde der Begriff ‚Arschficker‘ eine spezifische Funktion erfüllen):144 Haut ab, ihr Arschgeigen! Er schlägt die Hand vor den Mund. Erstaunlich! Ich habe mein Leben lang kein unanständiges Wort gebraucht. Wir waren anständige Leute. Meine Frau spielte Cembalo. Natürlich kam es gelegentlich vor, dass wir Stuhlgang

144 Da Inszenierungs- und Textarbeit bei Tabori in einem symbiotischen Verhältnis stehen, könnte diese Textpassage erst während der Probenarbeit integriert worden sein. Schulze-Reimpell beschreibt Taboris Arbeiten als „Theaterprodukte“, die „nicht eigentlich am Schreibtisch, sondern auf der Probe“ entstehen (vgl. Schulze-Reimpell: „Vom Provokateur zum Medienstar“, S. 11).

3.5 Theater, Performativität und Körper

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hatten oder urinierten oder koitierten, wir hatten sechs Kinder, aber gefickt habe ich mein Lebtag noch niemand, das kann ich euch versichern! (K 259)

Das Bewusstsein konventionalisierter sprachlicher Codierungen markieren hier das Innehalten, der sprachliche Registerwechsel und der Metakommentar, der den Verstoß reflektiert, sowie er ihn herausstreicht. Darauf folgt eine Accumulatio, die den Verstoß bekräftigt und in der Onkel „wie ein Verrückter um den Tisch herum“ läuft und schreit: „Ficken, Scheißen Pissen! Ficken, Scheißen, Pissen! Ficken, Scheißen, Pissen!“ (K 259) Für Taboris Körperkonzeption spielt also nicht nur die Materialität der grotesken Körper der Zeitzeug*innen eine Rolle, sondern auch deren sprachliche Codierung – anders gesagt, geht es nicht nur darum, dass die hier thematisierten Körper keine reinen, schönen, sakralen, heroischen Körper sind, sondern auch darum, dass die Begrifflichkeiten für diese Körper nicht rein, schön, sakral und heroisch sind. Deutlich wurde also, dass Taboris Umgang mit dem grotesken Körper von Überlebenden mit einer neuen Ästhetik im Sub-Feld der Shoah-Literatur einhergeht; diese ist verbunden mit Taboris spezifischem Blick auf soziale Realitäten, auf die (Sprecher*innen-)Rolle von Shoah-Überlebenden, der seinerseits mit weiteren Veränderungen von der Rolle von Shoah-Überlebenden im Zuge der ‚Aufarbeitung‘ der NS-Vergangenheit korreliert. Wechselbeziehungen zwischen der Konjunktur des Genres ‚Dokumentartheater‘ in den 1960er Jahren und zeitgenössischen juristischen Aufarbeitungen der NS-Verbrechen145 sind augenfällig. Doch auch Tabori nimmt die kommunikative Situation des Gerichtsprozesses in einer der oben zitierten Textstellen auf, sie sei hier wiederholt: Klaub […] Wo warst du, Onkel? Onkel Ich stand neben dir. Klaub Wie würdest du die Atmosphäre im Viehwagen beschreiben? Onkel Es war schrecklich. Klaub Kannst du dazu ein Beispiel anführen? Onkel Lewinsky bekam einen Anfall und erstickte. Klaub Schön. Was noch? Onkel Langeweile. Klaub Weiter. Onkel Humor. Klaub Von welcher Art? Onkel Darüber möchte ich nichts sagen. (K 285 f.) 145 Vor den Auschwitz-Prozessen etwa der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1957/58) oder der sogenannte Schauprozess in der DDR gegen Hans Globke (1963).

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3. Körper und Kannibalen

Den Versuch der juristischen Rekonstruktion lässt Tabori hier insofern scheitern, als das Gespräch in Schweigen endet und es damit offenlegt, was unter den kommunikativen Voraussetzungen des Prozesses nicht gesagt werden kann. Die Gattung Gerichtsprozess mit ihren Sprecher*innenrollen (befragende Anwält*innen – befragte Zeug*innen) und ihrer Kommunikationsstruktur (vordefinierte Abfolge von Fragen und Antworten; faktenorientierter Gesprächsinhalt etc.) zeigt Tabori für die Auseinandersetzung seiner Figuren mit der Shoah als nicht produktiv. In Die Kannibalen wird Erinnerung durchgespielt, durchgearbeitet, wiederholt, sie ist affektiv aufgeladen, so haben viele Zitate gezeigt; sie ist nicht abschließbar, nicht bewältigbar.146 Allerdings ist Die Kannibalen auf subtilere Weise mit zeitgenössischen NS-Prozessen verbunden – sie betreffen die genannten Aspekte von emanzipiertem Sprechen, Selbstreferentialität und Materialität des Körpers. Hier ist an den Paradigmenwechsel der Bedeutung von Zeitzeug*innen zu erinnern, den Yablonka untersucht hat (vgl. Kapitel 1.6): Die von ihr beschriebenen einschneidenden Veränderungen in der Rolle von Zeitzeug*innen infolge des Eichmann-Prozesses betreffen nicht nur das signifikant steigende Interesse einer breiten Öffentlichkeit an den Erfahrungen der Überlebenden, sondern auch eine sprachliche Individualisierung in deren Erzählen hin zur ersten Person Singular statt wie bisher in der ersten Person Plural. Dies mag wesentlich mit Gideon Hausners Entscheidung verbunden sein, sich im Eichmann-Prozess auf Aussagen von jüdischen Zeitzeug*innen und deren individuelle Erfahrungen zu stützen. Dass Tabori als jüdischer Autor, der viele Familienmitglieder in der Shoah verloren hat, den Eichmann-Prozess zumindest durch Arendts Berichterstattung in der New York Times mitverfolgt hat, ist anzunehmen (er lebte zu der Zeit noch in den USA). Der von Yablonka beschriebene Paradigmenwechsel lenkt den Blick auf Bezugspunkte zwischen realhistorischen Veränderungen in der Wahrnehmung von Shoah-Überlebenden und Taboris Ästhetik des Grotesken: Taboris ‚Verstoß‘ gegen konventionalisierte Darstellungen der Körper von Shoah-Überlebenden in den 1960er Jahren ist nicht nur, dass sie groteske Körper im Sinne eines vitalistischen Motivsystems (Bachtin) sind. Sie sind auch im dem Sinne ‚grotesk‘, als sie auf der Folie anderer Darstellungskonventionen als ‚grotesk‘ kenntlich werden – etwa indem Tabori sie in einem sprachlichen Register über Körpererfahrungen sprechen lässt, das ihnen dafür angemessen scheint. Dies läuft jenen sakralen Opferbildern entgegen, die Taboris Figuren auch explizit ablehnen – und sie befreien sich dergestalt aus jenen Rollen, auf die sie diskursiv festgeschrieben sind.

146 Vgl. etwa Strümpel: Vorstellungen vom Holocaust. Strümpel bezeichnet Taboris Dramen als „Erinnerungs-Spiele, in denen über die Implikationen des Spiels reflektiert wird“ (ebd., S. 10).

3.6 Komik und Lachen in Die Kannibalen

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Im Sub-Feld der Shoah-Literatur aktiviert Tabori seine Ästhetik des Grotesken in dem Moment, in dem sich fundamentale Veränderungen in der gesellschaftlichen Rolle von Zeitzeug*innen einstellen. Tabori unterzieht die Zeitzeug*innen einem neuen Blick: Zwar mögen geschundene Körper als ‚grotesk‘ gelten und als Antipoden zu klassizistischen Körperkonzepten wahrnehmbar sein, jedoch trägt erst Taboris spezifischer Blick auf diese Körper in diesem spezifischen Äußerungskontext dazu bei, Ästhetiken des Grotesken zu konstituieren. Taboris Blick ist neu und damit möglicherweise provokativ; er lässt sich jedoch auch einordnen in einen ‚Blick‘ auf Überlebende, der sich erst Jahre später im Zuge von Zeitzeug*innengesprächen oder Oral History Interviews etablieren wird: In den 1980er Jahren wird für die bundesdeutsche Literaturlandschaft ein signifikanter Anstieg an Publikationen – und damit vermutlich auch an Leser*inneninteresse – von Überlebendenberichten festzustellen sein; auch die Praxis, Gespräche mit Zeitzeug*innen für didaktische oder erinnerungspolitische Aktivitäten zu veranstalten und aufzuzeichnen, entsteht erst wesentlich später. An Taboris Kannibalen lässt sich jedoch eine zentrale diskursive Verschiebung in der Rolle von Überlebenden ablesen, die sich mittels seiner Ästhetik des Grotesken beschreiben lässt. Damit ist der groteske Körper bei Tabori nicht lediglich als Motiv unabdingbar für die Konstitution einer Ästhetik des Grotesken, sondern primär in der ästhetischen, performativen und selbstreferentiellen Rolle, die an eine konkrete Art des Sprechens über diesen Körper geknüpft ist. Dieser auf eine spezifische Art vertextete groteske Körper ist damit nicht primär ein subversiver Angriff auf Repräsentationskonventionen von offiziellen Elitekulturen, wie eine oberflächliche Bachtin-Rezeption vermuten lassen könnte (vgl. Kapitel 2). Vielmehr belegt Die Kannibalen Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit von Shoah-Überlebenden, die nicht nur an ihre literarische Darstellung geknüpft ist, sondern sich auch außerhalb der Literatur zeigt. Für das Verhältnis von Repräsentationskonventionen und Taboris Ästhetik des Grotesken muss schließlich noch das Moment des Komischen betrachtet werden.

3.6 Komik und Lachen in Die Kannibalen In dem bisher Gesagten wurde ein Zentralaspekt von Die Kannibalen nicht berücksichtigt: Bei aller Komplexität des Themenfeldes von KZ-Inhaftierung, Traumatisierung und Shoah ist es nicht nur, aber auch ein lustiges Stück.147 Es provoziert 147 Die Rolle von Witz oder Komik im Kontext der Shoah wurde in der Forschung unterschiedlich perspektiviert. Stephan Braese hat auf die soziale Funktion hingewiesen, die Witz und Humor im Kontext der Shoah zukommen kann – dies zeigen etwa Emanuel Ringelblums Notes from the

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3. Körper und Kannibalen

Lachen und hat komische Momente, die bereits Christoph Müller in seiner Rezension zur Berliner Aufführung 1969 beschreibt. Er spricht von einem „Publikum, das im Verlauf der Vorstellung systematisch verunsichert wird, ob und wann es lachen, ob und wann es weinen soll. […] Beklagenswertes wird komisch, Komisches beklagenswert, alles zusammen kunstästhetisch schauderhaft schön“.148 An der zentralen Rolle, die das Lachen in Definitionen des Begriffs ‚Komik‘ einnimmt, übt die jüngere Komikforschung vermehrt Kritik, da sich Komik nicht zwangsläufig in Lachen äußere und Lachen nicht notwendigerweise mit Komik verbunden sei149 – auch in Die Kannibalen wird aus unterschiedlichen Gründen gelacht und nicht immer ist Lachen mit Komik verbunden: Wenn etwa auf der Bühne ein KZ-Insasse ‚wie ein Irrer‘ lacht (s. unten), lädt dies nicht zum Mitlachen ein. Konzepte von ‚Komik‘ können dessen ungeachtet bei der Beschreibung von Die Kannibalen helfen, da sie Rückschlüsse auf die Tiefenstruktur des Textes zulassen. Vorweggenommen sei dabei, dass auf der Bühne in Die Kannibalen nur selten gelacht wird und wenn, gibt es kaum Anlass, mitzulachen. Ein Beispiel dafür ist die folgende Replik in einer Szene, in der Klaub von der Deportation einiger Häftlinge in einem Viehwaggon erzählt, während diese Deportation gleichzeitig von den KZ-Häftlingen in einer Art Rollenspiel nachgestellt wird: Der Zug verlangsamt sein Tempo, die Menschen steigen mitten in der Nacht für zehn Minuten aus, leeren die als Abort dienenden Kübel, werden von den Wachmännern beschimpft und müssen Liegestütze machen. Die Figuren Klaub und Onkel mimen die Inhaftierten, während Hirschler, Heltai und Puffi Wachen darstellen: Aus dem Knäuel der anderen [derjenigen, die Häftlinge spielen und das Aussteigen aus dem Viehwaggon mimen, JÖ] haben sich Puffi, Hirschler und Heltai nach vorn geschoben und spielen jetzt die Wachen.

Warsaw Ghetto, die auch Witze aus dem Warschauer Ghetto dokumentieren (vgl. Braese: „Holocaust als Komödie“, S. 106). Karin Dahlke widmet sich Taboris ‚Witz‘ – Tabori integriert in seinen späteren ‚Holocaust-Dramen‘ neben Kalauern auch das Erzählen von Witzen häufiger (z.B. in Jubiläum) und irritiert dort explizit (vgl. Dahlke, Karin: „‚Überrumpelte Katastrophen‘. Taboris ‚Witz‘ im Schatten der Shoah“. In: Bayerdörfer/Schönert: Theater gegen das Vergessen, S. 123–154). Einer psychoanalytischen Perspektivierung von Lachen und Humor in Taboris Arbeit widmet sich Timothy Malchow in seinem Rekurs auf Freuds Theoreme zum Lachen (vgl. Malchow, Timothy: „George Tabori’s Jubiläum: Jokes and their Relation to the Representation of the Holocaust“. In: The German Quarterly 72, 2 (1999), S. 167–184). 148 Müller, Christoph: „Darf man denn das? George Taboris ‚Kannibalen‘ in der Werkstatt des Berliner Schillertheaters“. In: Die Zeit, 6. Januar 1970. URL: http://www.zeit.de/1970/02/darf-mandenn-das [2.4.2021]. 149 Vgl. Kindt, Tom: „Komik“. In: Wirth, Uwe (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler 2017, S. 2–6, hier: S. 2.

3.6 Komik und Lachen in Die Kannibalen

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Onkel betet „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch; ein Spott der Leute und Verachtung des Volks.“ Hirschler Onkel karikierend Ich aber bin ein Wuuurm und kein Möööönsch … Gelächter und Zurufe. (K 289)

Das Lachen der Figuren auf der Bühne infolge der karikierenden Imitation von Onkels Gebet lässt sich mit dem in der Komikforschung etablierten Topos der Überlegenheit beschreiben: Die Lachenden nehmen Unzulänglichkeiten wahr im Wissen, davon selbst nicht betroffen zu sein150 – gelacht wird hier über die Hilflosigkeit des Betenden, der gegen die Gewalt der lachenden, ihm überlegenen Wachmänner nichts ausrichten kann. Manifest ist auf der Textebene, dass die Figuren, die SS-Männer imitieren, über Onkel lachen; über die Rezeption hingegen lässt sich nur spekulieren. Zu vermuten ist, dass die Theaterbesucher*innen nicht einstimmen, also keine Kongruenz zwischen dem Lachen auf der Bühne und der Reaktion der Zusehenden besteht, da sich Lachen ‚mit den Täter*innen‘ verbietet angesichts des für die Shoah-Literatur bis dato unumstößlichen moralischen Verdikts, dass über Deportierte, Verfolgte und Ermordete nicht gelacht wird – höchstens mit ihnen. Nicht für alle Textstellen lässt sich die Frage nach der Kongruenz von lachenden Figuren und lachenden Zuseher*innen derart deutlich bestimmen. Etwa illustriert folgende Szene Müllers oben zitierte Einschätzung, das Publikum werde „im Verlauf der Vorstellung systematisch verunsichert […], ob und wann es lachen, ob und wann es weinen soll“:151 Darin entsteht Unruhe im KZ, die eine Selektion ankündigt; die Unruhe schwappt auf die Baracke über, in der „hektische Aktivität“ (K 292) ausbricht. Abermals übernehmen die Figuren Rollen von KZ-Aufsehern und KZ-Inhaftierten und stellen eine Selektion nach: Ghoulos schreit [in seiner Rolle als KZ-Aufseher] Erstens: Gesicht waschen und Haare mit Schnee anfeuchten! Sie [die Figuren, die KZ-Häftlinge darstellen] drängen sich um die Schüsseln, sprit-

150 Vgl. ebd., S. 3. In jüngeren Debatten erfahren die drei in der Komikforschung unterschiedenen Grundtypen –Inkongruenz-, Überlegenheits- und Entlastungstheorie – unterschiedliche Gewichtung: Der Überlegenheitsansatz wird mittlerweile nur noch als Bestandteil eines integrativen Modells berücksichtigt; die Entlastungstheorie, die etwa Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten nachhaltig modellierte (demnach gehe das Komische „mit der als lustvoll erfahrenen Befreiung von moralischen und rationalen Kontrollanstrengungen einher“, ebd.), wird nur mehr in einzelnen Aspekten fruchtbar gemacht; Inkongruenz ist hingegen nach wie vor eine wichtige Komponente eines integrativen Modells (vgl. ebd., S. 3–5 sowie Anm. 155; vgl. zu den einzelnen Theorien z.B. Kindt, Tom: Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert. Berlin: Akademie Verlag 2011, bes. S. 41–47.) 151 Müller: „Darf man denn das?“.

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zen sich Wasser ins Gesicht, feuchten sich die Haare an. Haas beugt sich über den Topfrand und bellt kurz und laut. Sie erstarren für einen Augenblick. Zigeuner schreit Zweitens: Jugendliche Haltung üben! Sie versuchen, gerade und aufrecht zu gehen, rücken die Schultern, schlenkern mit den Beinen. Haas bellt zum zweiten Mal. Sie erstarren. Lang schreit Drittens: Hackenzusammenschlagen und Lächeln üben! Er schlägt die Hacken zusammen und bricht in ein albernes Kichern aus, das von den anderen sofort aufgenommen wird. Sie stolzieren herum, in übertrieben militärischer Haltung, kichernd und grienend. Haas bellt zum dritten Mal. Alle erstarren außer Lang, der weiter wie ein Irrer herumstolziert und kichert. Heltai ins Publikum Hirschler hatte das wichtigste Verjüngerungsmittel – einen Lippenstift! Hirschler hat sich vorn postiert, hebt die Hand mit dem Lippenstift; er schmiert allen, die schnell an ihm vorbeidefilieren, Lippenstift ins Gesicht, zuletzt sich selber. Hirschler zum Publikum Sie hofften, jugendlich zu wirken! Sie stolzieren herum, den Lippenstift auf den Backen verreibend. Aus dem Lautsprecher ertönt wütendes Hundegebell. Sie erstarren. Klaub Los, singt was! (K 292 f.)

Den militärischen Drill unterbricht das erste Bellen – nicht von einem Hund, sondern von Haas kommend – als plötzliches Irritationsmoment: Aus der Kehle eines Menschen gilt es nicht als Teil des Skripts152 ‚Selektion‘, sondern ist als theatrales Mittel erkennbar. Auch Langs Kichern ist ein solches Irritationsmoment, da es nicht in die Gewalt der Situation und damit ebenso wenig in das Skript ‚Selektion‘ passt – situativer Kontext und Verhalten der Figur Lang sind inkongruent. Nicht eindeutig aufzulösen ist die Frage nach dem Grund für Langs Lachen – deutbar ist es als Krisenphänomen angesichts der Verzweiflung über die Hilflosigkeit und die Absurdität des eingeforderten Verhaltens. Ausschlaggebend für die Mehrdeutigkeit der Szene ist die Gleichzeitigkeit der beiden Bezugsrahmen ‚Selektion‘ und ‚Theater‘; zweiterer wird nicht nur durch das Spiel-im-Spiel aufgerufen, sondern auch durch artifizielle theatrale Mittel wie 152 Skriptsemantische Theorien des Humors entwickeln das Konzept der Inkongruenz unter anderem im Rückgriff auf die Kognitionswissenschaften weiter: Sie gehen davon aus, dass inkompatible Bezugsrahmen die gewohnten Deutungen von Skripts instabil werden lassen und das Komische damit als „das Resultat eines überraschenden ‚Bezugsrahmenwechsels‘“ beschrieben werden kann (Wirt, Uwe: „Neuere (analytische, systemtheoretische, performanztheoretische) Ansätze“. In: ders.: Komik, S. 129–133, hier: S. 130). Zwei Skripts müssen in einem „besonderen Oppositionsverhältnis der semantischen Inkongruenz – des Widerspruchs oder der Ambiguität“ (ebd., S. 129) zueinander stehen, damit gelacht wird. Vor allem der Linguist Viktor Raskin hat in den 1980er Jahren die skriptsemantische Theorie in die Forschung eingebracht (vgl. Kotthoff, Helga: „Linguistik und Humor“. In: Wirth: Komik, S. 112–122, bes. S. 114 f.).

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das wiederholte Bellen der Figur Haas oder die Bemalung der Insassen mit Lippenstift. Während je nach Inszenierung die Umsetzung sowie die Intensität der ‚Bemalung‘ Lachen vonseiten der Theaterbesucher*innen provozieren könnte, verändert spätestens das Bellen des Hundes aus dem Lautsprecher die mehrdeutige Lesart der Szene: Das Bellen des Hundes aus dem Lautsprecher läuft dem Bellen der Figur Haas zuwider – anders gesagt: ein Stilmittel des Realismus ersetzt ein Stilmittel der Verfremdung, wobei sich das Zeichen an sich (Bellen) nicht verändert. Infolgedessen werden theatrale Mittel wie Haas’ Bellen oder die Verwendung von Lippenstift zum Röten von Gesichtern umcodiert und nun stärker dem Skript ‚Selektion‘ zugeordnet. An diesem Wechsel lässt sich die Bedeutung des Kippphänomens153 für Taboris Umgang mit dem Lachen erschließen, das Christoph Müller in seiner oben zitierten Rezension bezeichnet hat („Beklagenswertes wird komisch, Komisches beklagenswert“): Das Lachen als Ausdruck wahrgenommener Ambivalenz kippt unter dem Vorzeichen der situativen Veränderung zur Eindeutigkeit (Lippenstift als Hilfe für das Überleben; Bedrohung der Häftlinge durch einen scharfen Hund), infolgedessen die Wahrnehmung der existenziellen Gefährdung der Häftlinge dominiert. Dieser programmatische Wechsel zwischen Ambivalenz und Eindeutigkeit trägt ebenso zu der von Müller angesprochenen Unklarheit über die Legiti­mation des Lachens bei wie der zweifelhafte Status der Theaterbesucher*innen in dieser Szene, die als passive Augenzeugen gewissermaßen eine (unfreiwillige) Komplizenschaft mit den Gewaltausübenden eingehen. Im Moment des Lachens ist es schwer zu entscheiden, ob man mit den Figuren und dem theatralen Mittel der Verfremdung lacht oder ob man über die Figuren als Objekte von Gewalt lacht, wenn sie etwa verzweifelt versuchen, mithilfe des Lippenstiftes ‚frisch‘ und ‚gesünder‘ auszusehen und damit ihr Leben zu retten. Während ersteres diskursiv sanktioniert ist, verbietet sich zweiteres, da es als Affirmation nationalsozialistischer Gewalt zu verstehen wäre. Erschwert wird die Antwort auf die Frage, ob man mit den oder über die Figuren lacht außerdem durch das wiederholte Spiel-im-Spiel, in dem die Figuren kontinuierlich changierende Rollen einnehmen – von KZ-Häftlingen, von Überlebenden, von Toten, von Wärtern usw. Sie sind folglich gleichermaßen als Opfer von Gewalt, als Gewaltausübende sowie als Augenzeug*innen von Gewalt präsent. 153 Vgl. hierzu auch: Iser, Wolfgang: „Das Komische: Ein Kipp-Phänomen“. In: Preisendanz, Wolfgang/Warnig, Rainer (Hg.): Das Komische. München: Fink 1976, S. 398–402. Ausgehend von Isers Konzeption des Komischen als ‚Kipp-Phänomen‘ untersucht Norbert Otto Eke ‚schwarzen Humor‘ in Taboris Dramen auch unter dem Blickwinkel von Entautomatisierung im Sinne Šklovskijs. (Vgl. Eke, Norbert Otto: „Der Witz als ästhetische Entautomatisierung. Shoah und Lachen“. In: Meyer-Sickendiek, Burkhard/Och, Gunnar (Hg.): Der jüdische Witz. Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie. Paderborn: Fink 2015, S. 325–338.)

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So wie es eine etablierte Prämisse in der zeitgenössischen Komikforschung ist, dass Komik in (sozialen) Kontexten entsteht und nicht als inhärente Eigenschaft von Gegenständen oder Situationen zu begreifen ist, gilt es auch, für das Lachen nach kontextuellen Faktoren zu fragen – sowohl bezüglich des Lachens auf der Bühne als auch hinsichtlich der ‚response‘-Seite154 mit ihrer historischen, kulturellen und individuellen Varianz. Wie komplex das Ineinander diverser literarischer Strategien in dieser Hinsicht in Die Kannibalen ist, lässt sich anschaulich anhand einer schrittweisen Lektüre einer längeren Textpassage zeigen. Dies soll nachstehend anhand einer Szene erfolgen, in der die Figur Onkel von einem Traum erzählt, in dem er und die anderen Häftlinge alle wieder „zu Hause“ (s. unten) sind. Die situative Verortung des Gesprächs lässt sich nicht eindeutig bestimmen – es agieren die KZ-Insassen in einer Art gruppentherapeutischem Erinnerungsspiel, in dem sie verschiedene Situationen der Heimkehr aus der Lagerhaft durchspielen. Anstatt Onkels Erzählung zuzuhören, möchte der KZ-Insasse Glatz den Raum verlassen, jedoch erinnert ihn die Figur Zigeuner: „Es führt kein Weg nach draußen, außer durch den großen Schornstein. Also setz dich hin“ (ebd.). Die Reaktionen der anderen Figuren auf das Gespräch über die Heimkehrszenarien beschreibt Tabori im Nebentext. Zigeuner Onkel, was hast du denn geträumt? Onkel Wir waren zu Hause. Alle außer Klaub stampfen mit den Füßen und schütteln die Köpfe, in panischer Angst. Klaub Nicht sehr originell. Onkel Nein. Der übliche Traum der Häftlinge. Ihr seid wieder zu Hause. Sie stampfen mit den Füßen und schütteln die Köpfe. Aber es ist ja alles in Ordnung. Ihr seid in Sicherheit. Sie beruhigen sich langsam. Im Folgenden wird deutlich, dass er die anderen bewusst provoziert. Sie sind weg. Nichts Schlimmes kann mehr passieren. Die Sonne scheint. Ihr geht die Straße entlang. […] Weiss lauschend, die Augen geschlossen Kirchenglocken. Lang Telefonklingeln. Hirschler Telefonklingeln? Heltai Ja, Dummkopf, das Telefon klingelt, aber ganz normal. Die Anderen Ganz normal. Ganz normal. Weiss Hallo, wer ist da? – – Ich bin’s. Die anderen, außer Klaub, lächeln. […] 154 In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Komikforschung verstärkt der Untersuchung der ‚response‘-Seite zugewandt, die untersucht, warum etwas als komisch wahrgenommen wird (vgl. Kindt: „Komik“, S. 4).

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Onkel Die Nachbarn sprechen euch an – – Sie schütteln in Panik die Köpfe und stampfen mit den Füßen. – – aber es ist alles gut. Sie schütteln euch die Hand. Sie erzählen von ihren Sorgen. (K 276 f.)

Tabori verschränkt hier die Traumata der Verfolgten mit alltäglichen Szenen, die zwischen Normalität (Kirchenglocken, Telefonklingeln) und Bedrohung (beängstigende Anrufe, Angesprochenwerden durch die Nachbarn – beide könnten etwa Denunziation oder Deportation bedeuten) changieren. Diese Ambivalenz verstärkt sich im weiteren Verlauf der Szene, wenn die Figuren über die genannten alltäglichen „Sorgen“ (ebd.) sprechen: die Sorge zu viel zu rauchen oder die Frage, wo man zu Abend essen wolle. Den Zitatcharakter dieser Alltagsgespräche markiert Tabori mittels Anführungszeichen und er markiert damit auch die Distanz dieser „Sorgen“ (ebd.) zur Lebensrealität der KZ-Insassen: Onkel Die Nachbarn sprechen euch an – – Sie schütteln in Panik die Köpfe und stampfen mit den Füßen. – – aber es ist alles gut. Sie schütteln euch die Hand. Sie erzählen von ihren Sorgen. Mit geschlossenen Augen „Wo wollen wir heute Abend essen?“ Hirschler „He, Bernie, hast du das Gas abgestellt?“ Heltai „Ich rauche zu viel.“ Zigeuner Unglaublich! Unglaublich! Weiss „Milch oder Zitrone, der Herr?“ – – „Beides.“ Die anderen, außer Klaub, lachen. (K 277)

Die oben genannte Ambivalenz verstärkt Tabori hier, wenn er alltägliche „Sorgen“ (ebd.) über Essenspräferenzen, über das Abdrehen eines Gasherdes oder über zu häufiges Rauchen mit dem Wortfeld ‚Konzentrationslager‘ – eingeführt am Beginn des Textabschnitts, wenn Zigeuner an den Schornstein als einzigen Ausweg aus der gegebenen Situation erinnert – verschränkt; die beiden Wortund Gesprächsfelder sind über zuwiderlaufende Konnotationen von Begriffen wie ‚Gas‘, ‚Rauch‘ oder ‚Essen‘ definiert. Während die Angst der heimgekehrten Häftlinge vor Telefonklingeln oder den Nachbarn auf der ‚response‘-Seite kaum als komisch wahrgenommen wird, kann die Verschränkung der beiden Skripte ‚Gasherd abdrehen‘ und ‚Gas im KZ‘ als Anlage für Komik beschrieben werden, da einander entgegengesetzte Bedeutungsfelder in ein unauflösbares Spannungsverhältnis treten. Das Erfassen eines derartigen Missverhältnisses bezeichnet die Komikforschung als Kern der auch in neueren Untersuchungen nach wie vor einflussrei-

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chen ‚Inkongruenztheorie‘;155 auch in linguistischen Komiktheorien kommt der gleichzeitigen Wahrnehmung eines Konzepts in zwei selbstständigen, jedoch inkompatiblen Referenzrahmen eine gewichtige Rolle zu.156 In vorliegendem Fall werden die beiden Bezugsrahmen ‚Alltagssorgen‘ und ‚Alltag im Konzentrationslager‘ parallel geführt und in beide lassen sich die Konzepte ‚Gas‘ und ‚Essen‘ einordnen. Die inkommensurable Mehrsinnigkeit der Konnotationen resultiert aus der Verbindung zwischen traumatischer Erinnerung und Alltagskonversation oder, anders gesagt, in der komischen Wiederkehr traumatischer Bilder von Gaskammern und Verbrennungsöfen in einem vordergründig banalen Kontext. Diese Ambivalenz wird durch die Verschränkung von Szenen der alltäglichen Heimkehr (Gesicht waschen, sich an den Tisch setzen etc.) mit der Heimkehr des KZ-Insassen weiter verstärkt: Weiss „Milch oder Zitrone, der Herr?“ – – „Beides.“ Die anderen, außer Klaub, lachen. Onkel Man steigt die Treppe hinauf, leichtfüßig, wie von Wellen getragen. Ein Hund bellt – – Sie stampfen und schütteln die Köpfe. – – aber das hat nichts zu bedeuten. Man klingelt, man steht da in seiner Zebrakluft, ein stinkendes Skelett – – Sie stampfen und schütteln die Köpfe. – – aber alles ist gut. Sie öffnet die Tür. Zigeuner Mutter! Hirschler „Wo bist du gewesen?“ Heltai „Warum bist du am Freitag nicht gekommen, wie du es versprochen hast?“ […] Onkel Man tritt ein. Man wäscht sich das Gesicht. Man setzt sich an den Tisch. […] Heltai setzt sich neben Hirschler Was gibt’s zum Abendbrot? Onkel […] Ich hab einen Braten gemacht. Hirschler Donnerwetter! Wie hast du denn den organisiert? 155 Frühe Vorstellungen zu Theorien der Inkongruenz basieren auf der Annahme, dass die Wahrnehmung eines Missverhältnisses zentral für Komik ist (sie nehmen also die ‚response‘-Seite in den Blick) und haben große fächer- und richtungsübergreifende Zustimmung und Ausdifferenzierung erfahren (von der Psychologie bis zur Literaturtheorie, von rhetorisch-poetologischen Ansätzen bis zur Skriptsemantik; vor allem in der linguistischen Forschung spielten Inkongruenztheorien lange eine zentrale Rolle). Vgl. Kindt: Literatur und Komik, S. 41–47. – Ruch, Willibald/Hofmann, Jennifer: „Psychologie, Medizin, Hirnforschung“. In: Komik, S. 89–101, bes. S. 94 f. – Kotthoff: „Linguistik und Humor“, S. 114. Für eine Zusammenfassung der Kritik an der Inkongruenztheorie vgl. Kindt: Literatur und Komik, S. 59 ff. 156 Vgl. Kotthoff: „Linguistik und Humor“, S. 114.

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Onkel Ich habe die Bettlaken verkauft. Heltai Es ist doch kein Pferdefleisch? Onkel Bei mir kriegst du so was nicht! Heltai Hast du was zu trinken da? Onkel Ja, einen schönen Riesling. Heltai Gekühlt? Onkel Gekühlt – – Auf ein Brummen Heltais – – aber nicht zu kalt. Hirschler Sonst verliert er an Blume. Heltai Die Blume ist mir schnurzegal. Ich bin bescheiden geworden. Ich habe meine eigene Pisse getrunken, ich habe – – Er bricht bestürzt ab und schlägt die Hand vor den Mund. (K 277 f.)

Mit dem Verschwinden erstens der Anführungszeichen aus dem dramatischen Text, also der Zitathaftigkeit der Äußerungen, sowie zweitens der eingeschobenen Beschreibungen des Verhaltens der auf der Bühne Zuhörenden im Nebentext normalisiert sich die Gesprächssituation bis zu dem Punkt, an dem die Realität des KZ-Alltags wieder in das Gespräch eindringt. Die Unvereinbarkeit von KZ-Erfahrung und Alltag für Überlebende wird weder aufgelöst noch weiter thematisiert, sondern es folgt unmittelbar ein abrupter Themenwechsel:

Heltai Die Blume ist mir schnurzegal. Ich bin bescheiden geworden. Ich habe meine eigene Pisse getrunken, ich habe – – Er bricht bestürzt ab und schlägt die Hand vor den Mund. Hirschler steht auf und kommt zur Rampe, spricht zum Publikum Gestern Abend war ich bei meinem Gehirnklempner. Er ist zweihundert Jahre alt, stammt aus Wien, spricht kein Wort Englisch, und soviel ich weiß, ist er auch völlig taub. Sowie ich mich hinlege, stellt er seinen Hörapparat ab. Ich muss meine Banalitäten herausbrüllen, das ganze Haus weiß schon, was mit mir los ist, und wenn ich gut in Form bin, gelingt’s mir ihn aufzuwecken. Mimt einen schwerhörigen Analytiker „Also, nun … das mit Ihrer Schwester …“ Schwester? Was für ’ne Schwester? Seit fünf Jahren komm ich jetzt zu Ihnen, Sie alter Bock, fünfzig Dollar pro Sitzung. Mittlerweile sollten Sie doch mitgekriegt haben, dass ich überhaupt keine Schwester habe! – Na schön, ich liege also da, flach auf ’m Rücken, esse Türkischen Honig und erzähle ihm von diesem Traum. Als Analytiker „Traum? Was meinen Sie mit Traum?“ Onkel kommt näher In meinem Traum sah ich dieses Kind im Reisfeld! Sein eines Auge war nur ’n großes klaffendes Loch, Nase war weggebrannt, die Zunge herausgeschnitten, aber … und das ist das Faszinierende an der Sache … ich war glücklich! Als Analytiker „Weshalb waren Sie unglücklich?“ Brüllend Nicht unglücklich, Idiot, sondern glücklich! Ich war glücklich, weil mir klar wurde, dass alle andern auch Mörder sind, nicht nur

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ich allein, alle, hören Sie? ALLE! Als Analytiker „Alle nicht.“ Onkel legt Hirschler die Hand auf den Arm und führt ihn mit sanfter Gewalt zu seinem Platz zurück. Ich schlug ihm ins Gesicht! Es war ein richtiger Durchbruch. Lang hat mit geschlossenen Augen Platz genommen Mutter, mein Ulcus macht mir wieder zu schaffen. Ich vertrage nur Joghurt und etwas Mozart. Hab ich mich sehr verändert? (K 278 f.) hat

Die Szene der Erzählung des Traums überführt Tabori hier in das neue Skript ‚Sitzung beim Psychoanalytiker‘. Dieses konkretisiert vorhergehende Aspekte der Szene, wenn man den imaginären Dialog der Heimgekehrten mit den Wartenden (z.B. Zigeuner und seine Mutter) als Replik auf die Therapietechnik des ‚leeren Stuhls‘ aus der Gestalttherapie liest.157 Gewichtig ist jedoch vor allem, dass Tabori das Skript ‚Sitzung beim Psychoanalytiker‘ zwar parodistisch aufruft, die daran geknüpften Erwartungen jedoch subvertiert. Der Analytiker hört seinem Patienten nur oberflächlich zu, ist schwerhörig und schaltet sein Hörgerät aus, schläft ein, weiß nach fünf Jahren noch immer nicht über die Familienverhältnisse des Patienten Bescheid. Außerdem nimmt er die (scheinbaren) Widersprüche in der Erzählung seines Patienten nicht wahr, sondern korrigiert sie, um die Erzählung gängigen narrativen Mustern anzupassen: Als Hirschler – es sei daran erinnert, dass er einer jener zwei Figuren des Dramas ist, die die Shoah überleben, da sie vom kannibalischen Mahl essen – von seinem Glück über einen Traum von einem verstümmelten Kind erzählt, korrigiert der Analytiker den scheinbaren Widerspruch; nicht glücklich, sondern unglücklich müsse der Patient gewesen sein. Bevor die Inkongruenz, in der das Schuldgefühl des Überlebenden abermals zum Thema wird, aufgelöst werden könnte, findet ein weiterer Themenwechsel statt: Lang schaltet sich in das Gespräch ein, der Heimkehrdialog wird wieder aufgenommen. Die Inkongruenz zwischen Skript und Verhalten der Figuren sowie der abrupte Themenwechsel konstituieren die Ambivalenz der Szene. Augenscheinlich wird durch das bisher Gesagte auch die dramaturgische Verflochtenheit der einzelnen Szenen sowie die hohe Geschwindigkeit des Textes: Sie lässt kaum Zeit, Widersprüche auf- und dadurch erleichterndes Lachen auszulösen, sondern bewegt sich rasant schnell zum nächsten Thema oder Skript, zur nächsten Ambivalenz. Die solcherart entstehende konstitutive Überforderung ist integraler Bestandteil des Dramas: Komik entsteht nicht primär, indem Widersprüche hergestellt und anschließend aufgelöst werden, da Tabori zuvor bereits das nächste Thema setzt. Inkongruenzen und Ambivalenzen lassen sich exemplarisch auch an folgen157 Taboris Bekanntschaft mit Techniken der Gestalttherapie bezeugt das Stück Sigmunds Freude, das auf Protokollen eines Seminars des Gestalttherapeuten Fredrick S. Pearls beruht.

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der längerer Textstelle illustrieren, in der Tabori Lachen, Essen und das Thema Anthropophagie verbindet: Heltai und Hirschler unterhalten sich in der Sprechgegenwart über ihre Essensgewohnheiten, während Weiss im Hintergrund im KZ das kannibalische Mahl (den toten Puffi) zubereitet – die Zeitebenen fließen hier also ineinander: Hirschler Was willst du, was soll ich denn machen? Vegetarier werden? […] Na schön, gewisse Sachen krieg ich einfach nicht mehr runter. Neulich, in diesem spanischen Bums in der MacDougal-Straße, da gab’s so ’n ganzes gebratenes Spanferkel, Spezialität des Hauses. Fett und runzlig, schauderhaft realistisch. Ich meine, es sah aus wie ein Schwein. Ich hab nichts gegen ein Schweinskotelett. Ein Schweinskotelett ist was Abstraktes. Könnte sonst was sein. Bei einem Schweinskotelett denk ich nicht an ein Schwein. Weiss Ksss – Ksss. Klaub ist aufgestanden, um Puffi nach hinten zu ziehen. Heltai Ich war heute in Eddies Schnellimbiss. Hirschler In welchem denn? Heltai An der Autobahn. Hirschler ungeduldig Ja, aber in welchem denn? Heltai Ausfahrt 8–A. Hirschler Aha. Heltai Das Lokal lieb ich. Lach nicht – ich liebe Eddies Schnellimbiss. Hirschler lacht Ich hab ja gar nicht gelacht. Heltai Es ist so nett dort, so gemütlich. Hirschler Was hast du gegessen? Heltai Bananen-Split. Bei Eddie bestell ich mir immer einen Bananen-Split. Hirschler Und vorher nichts? Club-Sandwich? Schaschlik? Paniertes Kalbsschnitzel? Heltai Ich muss auf meine schlanke Linie achten. Sie lachen und klopfen sich auf den Bauch. Hirschler Also warum bestellst du dir ’n Bananen-Split? Heltai Ich kann einfach nicht anders. Jedes Mal, wenn ich bei Eddie vorbeikomme, muss ich reingehen und mir ’n Bananen-Split bestellen. Ich schlängele mich zur Theke, ich mach mir die Krawatte auf, ich schiebe das Messer weg. Weiss Ksss – Ksss. Hirschler Natürlich schiebst du das Messer weg. Heltai Was ist ’n daran so natürlich? Hirschler Hast du schon mal versucht, einen Bananen-Split mit ’m Messer zu essen? Weiss Ksss – Ksss.

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Pause. […] Haas kommt Klaub zu Hilfe. Gemeinsam ziehen sie die Leiche Puffis nach hinten, wo Weiss von seinem Podest hinter dem Topf herunterkommt und sie erwartet. […] Weiss tritt über die Leiche, hebt das Messer und führt einen großen Bauchschnitt aus. Allgemeines Aufstöhnen. […] Stimme eines Mannes, über Lautsprecher Haben Sie Sinn für das Wesentliche? Weiss hantiert mit großen Stücken Fleisch, die er mit dem Messer zurichtet und in den Topf wirft. Danach beginnt er mit einer Schöpfkelle gleichmäßig im Topf zu rühren. Wenn Sie ein Essen vorbereiten, woran denken Sie zuerst? […] Kochkunst und bloße Ernährung sind nicht dasselbe – Sie dürfen das eine nicht mit dem anderen verwechseln. Die anderen sitzen um den Tisch […]. Versuchen Sie, die Mahlzeiten nach Aussehen und Geschmack so vielseitig wie möglich zu gestalten. Entwickeln Sie Phantasie bei den Zutaten. Bewahren Sie Ruhe, auch wenn Ihnen die Haare ins Gesicht hängen und Ihnen auf unschöne Weise die Nase läuft. Ihre ersten Kochversuche werden vielleicht mit einem Fiasko enden, aber bald werden Sie Geschick und Routine erwerben und damit Freude und Selbstvertrauen. Das glauben Sie mir nicht? Vielleicht schöpfen Sie Mut, wenn ich Ihnen sage, dass ich selbst einmal die unwissendste und hilfloseste kleine Frau war, die ein mittelloser junger Mann sich je auf den Hals geladen hat. Gemeinsam haben wir so manches Brandopfer auf dem Altar der Ehe dargebracht, aber heute kann ich ein Essen geschmackvoll zubereiten und appetitlich servieren. Kichern. – Das Geräusch kochenden Wassers wird lauter und verebbt. Lange Pause. (K 247 ff.)

Inkongruenz entsteht hier vor allem mittels der verschmelzenden Zeitebenen, wodurch belanglose Alltagskonversation – das Gespräch über kulinarische Vorlieben zwischen Hirschler und Heltai – und Anthropophagie nebeneinanderstehen. Nicht nur rasche Themen- und Skriptwechsel können Komik herstellen, sondern auch die Gleichzeitigkeit von scheinbar inkongruenten Themen. Auch dieses Spannungsverhältnis entlädt sich nicht in plötzlichem Lachen, sondern bleibt aufrecht – so auch in Hirschlers Bemerkung zu seiner schlanken Linie. In der gesamten Textpassage bleibt das inkongruente Spannungsverhältnis bestehen; weder führt die plötzliche Wahrnehmung eines Missverhältnisses zu Lachen, noch löst es sich auf und provoziert ‚erleichtertes‘ Lachen; vielmehr bleibt das Missverhältnis bis zum Schluss der Passage bestehen, als sie in einer „langen Pause“ mündet. Die Szene unterlegt kontinuierliches Lachen und Kichern – wer vor der „langen Pause“ worüber kichert, lässt sich nur schwer erschließen; deutbar ist es als Reaktion auf die Erzählung der/des Sprechenden – Tabori schreibt von der „Stimme eines Mannes“, die sich selbst jedoch als Frau bezeichnet –, die/

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der von einem „Brandopfer am Altar der Ehe“ spricht. Die Replik verweist hier wohl auf die etymologischen Wurzeln von ‚Holocaust‘ (gr. holókaustos) als ‚vollständig verbranntes Tieropfer‘ und auf die Problematik dieses Begriffs als Bezeichnung für die Shoah. Die vielschichtigen Inkongruenzen exemplifizieren die spezifische Komplexität, die Tabori im Text durchgängig herstellt. An den bisher zitierten Szenen zeigt sich eine weitere Funktion des Lachens in Die Kannibalen, wenn man Lachen als performativen Akt der Gruppenbildung versteht: Lachen bestätigt als Interaktionsform Gruppenzusammengehörigkeit und trägt so zur Entstehung von Gruppengefühl – wenn auch flüchtig und zeitlich begrenzt – und damit zur Konstitution von Gemeinschaft bei.158 Intratextuell zeigt sich dies etwa in Der Siebente Brunnen, wenn Fred Wander beschreibt: „Dort hatte einer von den Deutschen schon ein Kind erschlagen, lachend und mit hartem Blick.“ (Brunnen 43) Die lachenden Täter grenzen sich unverkennbar von dem ermordeten Opfer ab, außer ihnen lacht niemand. In Die Kannibalen wird auf der Bühne manchmal gelacht, doch tragen Taboris komplexer Opferbegriff (vgl. Kapitel 3.3) sowie der kontinuierliche Rollenwechsel der Figuren dazu bei, dass Lachgemeinschaften erstens weniger eindeutig zu bestimmen und zweitens flüchtig sind. So findet sich in den Kannibalen das überlegene Lachen der (gespielten) SS-Männer über den betenden Onkel bei der Ankunft im KZ als Verstoß gegen ethische Normen ebenso wie das Lachen als Krisenphänomen einer der Figuren auf der Bühne angesichts der Realität des Lagers (etwa bei der Selektion) – lachende Figuren können damit sowohl Involvierte als auch distanzierte Beobachtende, SS-Männer oder KZ-Insassen sein. Lachen kann, so Hans Rudolph Velten in seiner Performanztheorie von Lachgemeinschaften, ‚inklusiv‘ und ‚exklusiv‘ sein, damit also Gruppenzugehörigkeit ausdrücken. Lachgemeinschaften bezeichnet Velten auch deshalb als performativ, da sie selbst „ein prekäres Erfahrungsfeld von Spannungen, Grenzziehungen und Aushandlungsprozessen darstellen“. Sie „markieren und bearbeiten […] Konflikte und Differenzen durch Inklusion und Exklusion sowie das Aushandeln von Nor-

158 Vgl. dazu etwa Hans Rudolph Veltens Performanztheorie von Lachgemeinschaften: Velten, Hans Rudolph: „Text und Lachgemeinschaft. Zur Funktion des Gruppenlachens bei Hofe in der Schwankliteratur“. In: Röcke, Werner/Velten, Hans Rudolf (Hg.): Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin: De Gruyter 2005, S. 125–144, bes. S. 128 f. Velten stellt Lachen als sozialen Vorgang ins Zentrum und knüpft damit an Lachtheorien von Freud oder Bergson an. Für neuere Ansätze zeitgenössischer Komikforschung, denen Veltens Theorie zuzurechnen ist, stellt Uwe Wirth ein „wiederbelebtes Interesse an performanztheoretischen Überlegungen“ fest, die „gleichsam das Gegengewicht zu den eher ‚körperlosen‘ analytischen und systemtheoretischen Ansätzen darstellen.“ (Wirth „Neuere (analytische, systemtheoretische, performanztheoretische) Ansätze“, S. 131.)

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men, Status und Geltung.“159 Auch in Die Kannibalen trifft das Lachen im Kern Aushandlungsprozesse von Normen, denn Tabori bewegt sich mit seinem Drama in einem stark regulierten Diskursfeld, in dem die Legitimation von Lachen umstritten ist. Gelacht wird im Drama über die Unzulänglichkeit deportierter Menschen; Lachende und Verlachte sind SS-Mann und KZ-Insasse, Mörder und Ermordete gleichermaßen, denn Rollen und Identitäten sind in Die Kannibalen fluide – die KZ-Insassen spielen etwa SS-Männer, sie üben Gewalt gegeneinander aus und bilden wechselnde Allianzen. Dadurch sind Objekte und Subjekte des Lachens nicht immer eindeutig bestimmbar und wechseln ihre Gruppenzugehörigkeit, die im Akt des Lachens entstehenden Lachgemeinschaften sind damit fluide und unübersichtlich. An diese Feststellung schließt sich für die ‚response‘-Seite die ethische Frage an, mit wem Rezipient*innen lachen, ohne unsolidarisch mit den Opfern zu sein – es sei an Müllers Kannibalen-Rezension erinnert, in der er ein Publikum beschreibt, das „systematisch verunsichert wird, ob und wann es lachen, ob und wann es weinen soll“ (s. oben). In Die Kannibalen sind Lachgemeinschaften flüchtig, denn man ist als lachende*r Zuseher*in nicht fortwährend ‚auf der Seite der Juden‘, weil man Nazis verlacht (wie etwa in Der große Diktator); man ist auch nicht beständig ‚auf der Seite der Nazis‘, weil man Juden verlacht (wie etwa in NS-Propaganda160); und man lacht auch nicht immer mit, wenn auf der Bühne gelacht wird. Vielmehr ist Lachen in Die Kannibalen in den meisten Fällen als Krisenphänomen zu deuten, das auf Inkommensurabilität reagiert. Die kontinuierliche Überschneidung von Skripts, das ständige Kippen von alltäglichen in ernste oder existenziell bedrohliche Situationen destabilisiert Gruppenidentifikation und -zugehörigkeit. Komische Elemente finden sich auch in solchen Textstellen, in denen sich programmatische Verstöße gegen etablierte Normen ausmachen lassen; ethische Parameter entscheiden, über welche Normverstöße gelacht wird (z.B. über den Analytiker, dessen Verhalten vom Skript ‚psychoanalytische Sitzung‘ abweicht) und angesichts welcher Normverstöße sich Lachen verbietet (nimmt man etwa das Angebot an die Zuseher*innen an, mit den SS-Männern über den betenden Onkel zu lachen, oder nicht). Müllers Rezension legt nahe, dass Rezipient*innen 159 Velten: „Text und Lachgemeinschaft“, S. 130. 160 Ein alltägliches Beispiel ist die Praktik des gemeinsamen Verlachens von Jüd*innen in Form einer parodistischen Darstellung von Auswanderung und Flucht im Fastnachtskontext, die das Titelbild von Anne Peiters Monografie Komik und Gewalt zeigt: Eine Gruppe verkleideter Männer sitzt im Februar 1936 auf einem Fastnachtszug in Marburg und mimt mittels vermeintlicher Attribute ‚des Jüdischen‘ männliche Juden; auf dem Wagen liegen auch Möbelstücke und ihn kleidet ein Schild mit der Aufschrift „Auf nach Palästina!“. (Vgl. Peiter, Anne: Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2007.)

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versucht sind zu lachen, wenn Komisches und ‚Beklagenswertes‘ ineinander umschlagen. Es werden nicht die im Sub-Feld der Shoah-Literatur gültigen Diskursregeln und deren ‚political correctness‘ verlacht, sondern diese Diskursregeln mittels Strategien der Komik offengelegt. Eine Analyse sowohl davon, worüber von wem gelacht wird, als auch, worüber gelacht werden darf, öffnet den Blick auf Darstellungskonventionen im Sub-Feld der Shoah-Literatur, wo Ästhetiken, die Lachen über die NS-Vergangenheit provozieren, lange Zeit streitbar sind. Alfred Anderschs bereits genannter Essay über die ‚Testaufführung‘ von Chaplins Der große Diktator in Berlin im August 1946 sei hier als frühes Beispiel für eine kritische Auseinandersetzung mit Sanktionierungen von Ästhetiken genannt. Andersch schreibt: Man kann sich das geradezu vorstellen: wie die Herren von der überseeischen film-section die Filmrollen wieder in die Koffer packten, mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen. Welche Taktlosigkeit war ihnen da nur in den Sinn gekommen. Dem deutschen Volk zuzumuten, es sollte über eine satirische Darstellung seiner jüngsten Vergangenheit lachen. […] Wie gut, daß man vorher noch diese deutschen Filmfachleute befragt hatte. Das waren wenigstens Leute mit Ernst und Verantwortungsgefühl. Die waren eisern entschlossen, nicht zu lachen. Das Lachen hatte man ihnen abgewöhnt in der Zeit, in der sie in Deutschland ihre Filme drehten. Das Gefühl für Freiheit freilich auch. Und deshalb waren sie entschlossen, den Amerikanern zu empfehlen, sie sollten die Freiheit in Scheiben verkaufen. Denn die Freiheit ist eine gefährliche Angelegenheit. Sie könnte ja, im Falle des Chaplin-Films, dazu führen, daß die Gefühle einiger übriggebliebener Nazis verletzt würden. Und die würden dann vielleicht auf ihren Hausschlüsseln pfeifen. Worauf wir uns wiederum erheben und sie aus dem Theater feuern müßten (herrlicher Gedanke!). Es gäbe also einen Skandal. Es käme Leben in die Bude. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in der sich das deutsche Volk befindet, könnte dann vom Ausland konstatiert werden, während es heute noch der festen Meinung ist, in besagtem Volk rühre sich nichts gegen den Nazismus. […] Die Tragikomödie der re-education geht also weiter. Vorerst dürfen wir nur ernst über unsere Vergangenheit nachsinnen. Die deutschen Berater der ‚Erzieher‘ haben so entschieden.161

Anderschs polemische Kritik verweist auf das Verhältnis zwischen Konventionen und dem Lachen als Normverstoß, auf das „Geflecht implizit als gültig vorausgesetzter Regeln“, auf das Komik aufmerksam mache, so Uwe Wirth: Handlungen und Äußerungen, die Lachen auslösen, machen „jene Regeln, die im Rahmen einer Kultur implizit als gültig vorausgesetzt werden, explizit. Mit anderen Wor161 Andersch: „Chaplin und die Geistesfreiheit“, S. 64 f.

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3. Körper und Kannibalen

ten: Was wir komisch finden, gibt Aufschluss über unseren kulturellen Deutungsrahmen.“162 Eine Analyse des Lachens in Die Kannibalen ist dabei gleichermaßen problematisch wie sie aufschlussreich für eine Positionierung des Dramas im zeitgenössischen diskursiven Kontext ist: problematisch, da (nicht zuletzt aufgrund der historischen Distanz zum Gegenstand) nur Vermutungen darüber angestellt werden können, an welchen Stellen Theaterbesucher*innen lachen beziehungsweise 1969 gelacht haben. Aufschlussreich, da sich an dieser Stelle bereits ein Arsenal an Verstößen beschreiben lässt, die Tabori in Die Kannibalen vornimmt: Juden als Kannibalen; Ekel hervorrufende Körper der Opfer; profane Begrifflichkeiten für diesen Körper; fluide Lachgemeinschaften, die eine beständige Solidarisierung verunmöglichen; das kontinuierliche Umschlagen zwischen Belustigung und Entsetzen. Mit seinen komischen Elementen verstößt Die Kannibalen gegen die in den 1960er Jahren geltende Konvention in der Shoah-Literatur, dass über Sakrales nur mit sakralen Mitteln geschrieben werden darf. In seinem mittlerweile kanonischen Beitrag „Holocaust Laughter?“ (1987) fasst der Literaturwissenschaftler Terrence des Pres zeitgenössische (implizite) Konventionen im literarischen Schreiben über die Shoah folgendermaßen zusammen: 1. The Holocaust shall be represented, in its totality, as a unique event, as a special case and kingdom of its own, above or below or apart from history. 2. Representations of the Holocaust shall be as accurate and faithful as possible to the facts and conditions of the event, without change or manipulation for any reason – artistic reasons included. 3. The Holocaust shall be approached as a solemn or even a sacred event, with a seriousness admitting no response that might obscure its enormity or dishonor its dead.163

Vor allem der drittgenannte Punkt ist hier wegweisend, da er sowohl die Wahl literarischer Strategien betrifft (etwa solche, die Lachen provozieren) als auch die sprachliche Codierung, welche die Ermordeten nicht herabwürdigen dürfe.164 Tabori bricht nicht nur die einflussreiche Konvention, Opfer des Genozids als sakral oder heroisch darzustellen (vgl. Kapitel 3.3), sondern auch das dafür verwendete ästhetische Register. Dieser Bruch lässt sich, so hat die Analyse gezeigt, 162 Wirt, Uwe: „Vorwort“. In: ders. (Hg.): Komik, S. IX–X, hier: S. IX. 163 Des Pres: „Holocaust Laughter?“, S. 217. 164 Als zeitgenössische Replik auf Des Pres’ Vortrag kann Stephan Braeses Aufsatz zum „Holocaust als Komödie“ gelten, wenn Braese mit Joachim Pech die (moralische) Voraussetzung für eine „Holocaust-Komödie“ formuliert, die darin liege, dass das Leiden während der Shoah Ausgangspunkt und nicht Ziel der Darstellung sein müsse (vgl. Braese, Stephan: „Holocaust als Komödie“. In: Roebling-Grau/Rupnow: ‚Holocaust‘-Fiktion, S. 103–112).

3.7 Körper und Kannibalen – eine Zusammenfassung

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sowohl zwischen Die Kannibalen und anderen literarischen Texten nachweisen als auch intratextuell. Er verweist auf Störungen diskursiver Konventionen, die nicht primär als mechanistisch im Sinne des Russischen Formalismus zu verstehen sind, sondern in Verbindung mit Taboris Erfahrung von (veränderten) sozialen Realitäten. Komik wird in der Groteskenforschung oft als Charakteristikum ‚des Grotesken‘ beschrieben; ich ziehe es in meinem Verständnis ‚des Grotesken‘ vor, es nicht mittels eines Merkmalskatalogs zu beschreiben und sehe Komik damit nicht als inhärentes Merkmal ‚des Grotesken‘. Jedoch spielt Komik auch für mein Verständnis von Taboris Ästhetik des Grotesken eine Rolle, da sich daran ein veränderter Umgang mit Komik zeigt und sie den Bruch mit (sozialen) Konventionen markiert – etwa mittels der Häufung von inkongruenten Skripten des Alltags und des Traumas (beispielsweise Essenszubereitung und Kannibalismus oder ‚Sitzung beim Psychoanalytiker‘ und traumatische Erinnerungen).

3.7 Körper und Kannibalen – eine Zusammenfassung Die vorhergehenden Kapitel haben gezeigt, wie Taboris Ästhetik des Grotesken zwischen historisch-diskursiven, ästhetischen und poetologischen Voraussetzungen zu beschreiben ist: mit der Abgrenzung von konventionalisierten Opferbildern (bes. Kapitel 3.3); einer Auseinandersetzung mit Alteritätsdiskursen (Kannibalismus) und Repräsentationsdebatten (bes. Kapitel 1.4 und 3.4); der Emanzipation von Überlebenden als autonome Sprechende (bes. Kapitel 3.3 und 3.5); der Verwendung von literarischen Strategien der Verfremdung und dem Einsatz von Komik um diskursive Konventionen zu durchbrechen (bes. Kapitel 3.5 und 3.6). Vor allem schließlich mit seinem neuartigen Umgang mit dem grotesken Körper, der in Die Kannibalen zum zentralen Erinnerungsmedium, seine Materialität zum Bedeutungsträger wird (bes. Kapitel 3.5). Groteske Körper sind in Die Kannibalen nicht nur Trägermedien von Verletzungen, sondern auch Speichermedien ihrer Geschichtlichkeit. Sie werden mittels literarischer Strategien der Verfremdung, der ‚Komik‘ und der Performativität (vgl. Kapitel 3.5, 3.6) als indexikalische Zeichen konstituiert, deren Materialität die eigene Vergangenheit indiziert. Damit werden sie lesbar als Medien des individuellen und körperlichen, aber auch des kollektiven Gedächtnisses: Sie werden zu Trägermedien des ‚Funktionsgedächtnisses‘ (A. Assmann), also ein „angeeignetes Gedächtnis“,165 das an ein Subjekt als dessen Träger gebunden ist. 165 Assmann: Erinnerungsräume, S. 137. Für das Funktionsgedächtnis seien Selektivität und ein Prozess der Auswahl und Verknüpfung charakteristisch. Im Gegensatz dazu versteht Assmann das Speichergedächtnis als „Gedächtnis zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse“ (ebd., S. 134.), ein Repertoire an nicht Aktualisiertem. Das Funktionsgedächtnis sei konstruiert

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3. Körper und Kannibalen

Dieses Subjekt fasst Tabori im Vergleich zu zeitgenössischen diskursiven Praktiken neu, wenn Individualität, selbstbewusstes Sprechen und Selbstreferentialität an die Stelle konventionalisierter und typisierter Opferbilder treten (vgl. bes. Kapitel 1.1, 1.4, 3.3, 3.5). Überlebende wie Ermordete waren in Shoah-Diskursen lange Zeit kaum als souverän sprechende Subjekte anwesend – der jüdische Historiker Philip Friedman forderte bereits 1957 eine ‚Judeo-centric‘ Repräsentation der Shoah anstelle herrschender ‚Nazi-centric‘ Diskurse (vgl. Kapitel 1.1, 1.7). Um diese Forderung, die aus heutiger Perspektive als etabliert gelten kann, in ihrer Tragweite zu begreifen, muss die zeitgenössisch marginale Rolle von autonom sprechenden Überlebenden in Shoah-Diskursen berücksichtigt werden: Erst mit der Erinnerungsepoche von Zeitzeug*innengesprächen und Oral-History-Interviews veränderte sich deren Status im kulturellen Gedächtnis. Taboris Die Kannibalen nimmt diese Entwicklung insofern vorweg, als das Drama den grotesken Körper von Überlebenden und ihr Sprechen neu kodiert und mittels Strategien der Verfremdung, der Komik und der Performativität inszeniert. Taboris Theaterarbeit widersetzt sich dadurch philosemitischen Bildern von ‚Juden‘, der Ausgrenzung von Ekel als affizierendem Merkmal von grotesken Körpern und der Entsubjektivierung von Überlebenden etwa durch Stellvertreterschaft im Sprechen oder typisierte Opferbilder. Kapitel zwei definierte unter anderem einen relationalen Groteskenbegriff, demzufolge Taboris Ästhetik also nur relational zu anderen Ästhetiken und diskursiven Konventionen der Zeitgenossenschaft beschrieben werden kann. Dies betrifft literarische Strategien, weltanschauliche Positionen (Taboris Bilder von ‚Juden‘ und Opfern) sowie auch das soziokulturelle Bezugssystem des Dramas: Etwa wurde gezeigt, wie Überlebende, ihr Sprechen sowie ihr individueller Körper im Zuge gesellschafts- und erinnerungspolitischer Veränderungen ab den 1960er Jahren – etwa infolge des Eichmannprozesses und der Auschwitz-Prozesse – eine neue Rolle erhielten. Dergestalt weist Taboris Ästhetik des Grotesken auf den Aufschwung von Zeitzeug*innen-Gesprächen und Oral-history-Archiven insofern voraus, als darin die Körper der Überlebenden und ihre Stimme zum Medium von Erinnerung werden, denn in ihnen ist die körperliche Anwesen­ heit der Zeug*innen die Voraussetzung für Narrative, die das Erzählte in erster Instanz beglaubigt. Somit ist der neu kodierte Körper in Die Kannibalen auch in seiner Zeitgenossenschaft als Medium einer Gegenerinnerung zu sehen – das Funktionsgedächtnis habe auch einen „politische[n] Anspruch“, seine Träger seien die „Besiegten und Unterdrückten“,166 es stehe ‚dem offiziellen Gedächtnis‘ entgegen. Die nur und kausal, trage damit konstruktivistische und Sinn produzierende Züge, was dem Speichergedächtnis abgehe. 166 Ebd., S. 139 f.

3.7 Körper und Kannibalen – eine Zusammenfassung

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langsame Anerkennung Taboris im deutschsprachigen Raum (vgl. Kapitel 3.1, 3.2) mag an seiner agonalen Stellung zu konventionalisierten Ästhetiken und erinnerungsdiskursiven Formationen seiner Zeitgenossen liegen. Insofern steht seine Ästhetik des Grotesken in Die Kannibalen auch für literarische Evolution in der Literatur der Shoah. Dabei geht literarische Evolution weder kontextunabhängig vor sich, noch ist sie als mechanisches Aufbrechen kanonisierter Darstellungskonventionen zu begreifen (in diesem Sinne beschreibt der Russische Formalismus literarische Evolution, vgl. Kapitel 2). Vielmehr nimmt der Autor Tabori eine subjektive Wahrnehmungsposition ein, die mit zeitgenössischen ideologischen Positionen, Welt­ anschauungen und Ästhetiken wenig gemeinsam hat. Seine Theaterarbeit im Allgemeinen, vor allem jedoch Die Kannibalen nimmt damit eine fundamentale Blickverschiebung auf Überlebende vor; eine solche Blickverschiebung ist ­Voraussetzung für literarische Evolution und kann außerdem am Beginn einer neuen Erinnerungsepoche stehen. Diese Epoche lässt sich anhand von Taboris Ästhetik des Grotesken antizipieren und betrifft vor allem das emanzipatorische Sprechen von Zeitzeug*innen und deren neu codierte Körper. So wie der groteske Körper bei Tabori als Medium der Erinnerung performativ gesetzt und selbstreferentiell in seiner Materialität hervorgebracht wird, muss seine Ästhetik des Grotesken verstanden werden als literarisches Trägermedium für eine Veränderung im Schreiben und Sprechen über und vor allem durch Überlebende als Akteur*innen innerhalb literarischer Texte (als Figuren) sowie außerhalb (als Zeitzeug*innen in Prozessen oder Oral-history-Interviews). Damit kündigt sich nun auch jene Erinnerungsepoche an, in welcher der gesellschaftliche Umgang mit Shoah-Opfern einem zentralen Paradigmenwechsel unterworfen ist (vgl. Kapitel 1.7, 4.1): Am Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis muss verhandelt werden, wie Shoah-Erinnerung mediatisiert werden kann, wenn die ‚realen‘ Körper von Zeitzeug*innen nicht mehr als Trägermedien von Erinnerung zur Verfügung stehen. Unter diesen veränderten gesellschaftlichen, ästhetischen und politischen Voraussetzungen ist Schindels Dunkelstein zu betrachten.

4. MEDIATISIERUNG UND JUDENRÄTE Ästhetiken des Grotesken und Generizität in Robert Schindels Dunkelstein

Spätestens die Veröffentlichung des Romans Gebürtig (1992) sowie dessen Verfilmung (2002; Regie: Robert Schindel, Lukas Stepanik, Georg Stefan Troller) räumten Robert Schindel einen wichtigen Rang in der österreichischen Gegenwartsliteratur im Allgemeinen und im Sub-Feld der Shoah-Literatur im Besonderen ein. Vor Erscheinen von Gebürtig war Schindel hauptsächlich als Lyriker in Erscheinung getreten (z.B. Geier sind pünktliche Tiere, 1987; Im Herzen die Krätze, 1988); eine Ausnahme bildet der 1970 in der Edition Hundsblume erschienene Prosatext Kassandra. Zwar ist die Shoah bereits in Schindels früher lyrischer Arbeit ein wiederkehrendes Thema, doch trägt vor allem die Veröffentlichung von Gebürtig – und in weiterer Folge auch Schindels Essays (z.B. der Band Gott schütze uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst, 1995) – dazu bei, dass sich die Arbeit des Autors auch in einer Tradition literarischer Österreich-Kritik verorten lässt, die eine Gruppe jüngerer Autor*innen im Anschluss an Peter Handke, Thomas Bernhard oder Ingeborg Bachmann infolge der ‚Causa Waldheim‘ in den 1980er Jahren unter veränderten Bedingungen fortführt, wie Matthias Beilein in seiner von literatursoziologischen Fragestellungen geleiteten Arbeit gezeigt hat.1 Zu diesen Autor*innen zählen auch Robert Menasse und Doron Rabinovici;2 bei allen ästhetischen Unterschieden ihrer literarischen Arbeiten liegt ein gemeinsames Anliegen der drei etwa in der Kritik an zeitgenössischen Erinnerungspraktiken, sodass sie sich im österreichischen literarischen Feld ähnlich positionieren: Sie verbinde, so Beilein, dass ihrem literarischen Schreiben politisches Engagement vorausgehe,3 dass sie nach und infolge der ‚Causa Waldheim‘ literarisch 1 2

3

Vgl. Beilein: 86 und die Folgen. Die Arbeiten der drei Autoren nehmen wiederholt aufeinander Bezug; von einem Nahverhältnis zeugt etwa, dass Schindel die Laudatio für Menasse bei der Verleihung des Erich-Fried-­ Preises 2003 hielt, dass Menasse ein Vorwort für die Neuauflage von Schindels Kassandra (2004) verfasste und Rabinovici das Nachwort für Schindels Dunkelstein. Menasses Etablierung im literarischen Feld vom Autor nichtfiktionaler Texte zum Romancier hat Verena Holler nachgezeichnet (vgl. Holler, Verena: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. Frankfurt, Wien: Peter Lang 2003); Rabinovici veröffentlichte Essays, Polemiken und Artikel, u.a. im Falter und im Standard (vgl. Rabinovicis Ausführungen in: „‚Wir sind die Angelus-Novus-Generation‘. Interview mit Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici“. In: Beilein: 86 und die Folgen, S. 297–325, bes.: S. 305).

4. Mediatisierung und Judenräte

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arrivierten und aus Familien stammen, „deren Angehörige als Juden Opfer der Shoah wurden“;4 ferner würden ihre nach 1986 erschienenen Romane „gemeinsame Schreibstrategien“5 aufweisen. Bei ihnen verbindet sich ‚Jude-Sein‘ mit historischen, politischen und biografischen Anliegen, und Menasse bezeichnet sich und seine beiden Schriftstellerkollegen in einem gemeinsamen Interview im Bewusstsein einiger geteilter poetologischer Anliegen6 und vergleichbarer biografischer Hintergründe als „die Angelus-Novus-Generation“, die „den Auftrag mitbekommen [habe], baut die bessere Welt, aber immer in die Geschichte blickend. Unser Problem war, daß wir geschickt werden mit dem Rücken voran.“7 Dieses Bewusstsein einer Schreibhaltung, metonymisiert im Bild von Benjamins Engel der Geschichte, zeigt sich in der kontinuierlichen Präsenz der Themen Erinnerung, Kontinuität von Vergangenheit oder Mediatisierung der Shoah im Werk der drei Autoren: Es kreist etwa um Fragen nach transgenerationeller, individueller und ‚kollektiver‘ Schuld (Rabinovici: Suche nach M., 1997), um historische Linien von Diskriminierung und Verfolgen europäischer Jüd*innen sowie deren ‚Aufarbeitung‘ (Menasse: Vertreibung aus der Hölle, 2001) oder um verschiedene Formen des Verschweigens, Vergessens und Verdrängens von Vergangenheit (Schindel: Gebürtig, 1992; Rabinovici: Ohnehin, 2004). Gemeinsam ist Rabinovici forderte etwa am Vortag der Inauguration Kurt Waldheims bei einer Kundgebung vor der ÖVP-Zentrale ein Ende des Schweigens (vgl. dazu auch Rabinovici, Doron: „Es kann ein neues Österreich geben“. In: Dor, Milo (Hg.): Die Leiche im Keller. Dokumente des Widerstands gegen Dr. Kurt Waldheim. Wien, Picus 1988, S. 29–30); zu Rabinovicis historiografischer Dissertation Instanzen der Ohnmacht vgl. die folgenden Kapitel. 4 Beilein: 86 und die Folgen, S. 12. In Schindels Familie überlebten lediglich sein Onkel und seine Mutter die Shoah, in Rabinovicis Familie seine Mutter, Großmutter sowie ein Onkel. Menasse ist Nachfahre eines „former Kindertransportee, who returned to Austria after the war“. (Reiter: Contemporary Jewish Writing, S. 3.) 5 Beilein: 86 und die Folgen, S. 12. Trotz der Gemeinsamkeiten sollen Unterschiede in ihren Ästhetiken und ihren nicht-literarischen Interventionen nicht nivelliert werden: Während Menasse sich etwa prominent zu tagespolitischen Entwicklungen äußert (Der Standard, Die Presse etc.), engagiert sich Rabinovici eher auf Kundgebungen und Demonstrationen. Schindels Desinteresse an der Tagespolitik führe dazu, so Beileins Urteil, dass viele seiner nichtfiktionalen Texte zwar politisch seien, jedoch „den tagespolitischen Fokus“ vermeiden „um sich in der Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und der eigenen Identität Fragen zu widmen, die weit über das bloß Aktuelle hinausgehen“ (ebd., S. 57). Unterschiede zwischen Rabinovicis und Menasses Österreich-Kritik beschreibt Beilein als Unterschiede sowohl in ihren Strategien als auch in ihren Meinungen – vor allem in der Beurteilung des FPÖ-Wahlerfolgs des Jahres 2000 (vgl. ebd., S. 63–82). 6 Etwa wurden Rabinovicis Ohnehin und Schindels Gebürtig in der literaturkritischen Rezeption, ungeachtet der Ablehnung dieser Zuschreibung durch beide Autoren, oft als ‚Schlüsselromane‘ bezeichnet. Mit Menasse teilt Rabinovici die Auffassung, dass „jeder Roman auch eine Autobiografie“ sei („Wir sind die Angelus Novus Generation“, S. 306) und auch Schindel bestätigt autobiografische Züge in Gebürtig (ebd., S. 307). 7 „Wir sind die Angelus-Novus-Generation“, S. 304.

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diesen Arbeiten eine intensive Auseinandersetzung mit Dynamiken von Erinnern und Vergessen oder Verdrängen auf individueller und kollektiver Ebene, synchron sowie diachron. Unter den Figuren finden sich in den genannten Romanen neben Angehörigen jener Generation, welche die Shoah (als Opfer oder Täter*innen gleichermaßen) überlebt haben, stets auch Angehörige der Postmemory-Generation. Die Interaktion zwischen ihnen ist oft konfliktreich,8 diese Konflikte sind jedoch häufig handlungsmotivierend oder wegweisend für den Lebensweg oder das Selbstverständnis der jüngeren Figuren. Das Erbe der ‚Überlebendengeneration‘ und damit das Verhältnis zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis stellt auch über deren Tod hinaus einen wegweisenden Einfluss auf Lebensformen und Identitäten der Postmemory-Generation dar. Ähnliche Themen beschäftigen Schindel auch in seinem essayistischen Werk – etwa widmet er sich in dem Essay Schweigend ins Gespräch vertieft (2004) der historischen Entwicklung vom langjährigen Schweigen über die NS-Vergangenheit bis zu einer Einschätzung der gegenwärtigen Erinnerungskultur: Am Paradoxon des Titels macht er die Kluft fest zwischen „notorischem Geplapper über Auschwitz“ in den „Täterländern“ und der Tatsache, dass die Ermordung immer mehr durch das Sprechen über Erinnerung an den Genozid verschleiert werde. Überbordende Debatten um Erinnerungskulturen, Mahnmale, „Erinnerungsdienst, Shoahbusiness, Auschwitzkeule“ würden die Tatsache überdecken, dass darunter „die Toten immer mehr verschwinden, vergessen werden als wirklich Ermordete.“9 Der Kern seiner Zeitdiagnose betrifft jene erinnerungskulturellen Debatten, in denen die Frage nach der Angemessenheit oder Form von Erinnerungspraktiken den Inhalt des Erinnerten überlagert und damit die Schicksale der Ermordeten überdeckt – diese Debatten würden damit den Menschen hinter dem erinnerten Ereignis nicht mehr gerecht. An eine fundamentale Kritik an jenen erinnerungsdiskursiven Formationen, die in Kapitel 1.6 diskutiert wurden, schließt Schindels Vorwurf an, dass Erinnerung und Gedenken – so umstritten die jeweiligen Praktiken, Denkmäler oder Diskussionsführungen auch sein mögen – zum Selbstzweck würden, wenn „Leu8

9

Etwa lektoriert Danny, der Protagonist in Schindels Gebürtig, einen Roman von Emanuel Katz; Auslöser für das Verfassen jenes literarischen Textes ist Katz’ schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern, deren Selbstverständnis als Shoah-Überlebende zentral für ihr Selbstbild und ihr Verhalten gegenüber ihrem Sohn ist. Schindel, Robert: „Schweigend ins Gespräch vertieft. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in den Täterländern“. In: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen. Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 15–22, hier: S. 22. Zentrale Themen in diesem Band sind, ebenso wie in Gott schütz uns vor den guten Menschen (1995), das Verhältnis zwischen ‚Jüd*innen‘ und ‚Nichtjüd*innen‘ sowie Fragen nach ‚jüdischer Identität‘. Ausgangspunkte der Texte sind oft biografische Erfahrungen des Autors.

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te im Ernst die Mahnmaldebatte für das Mahnmal halten“.10 Ähnlich beschreibt auch Menasse in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung sein Unbehagen an zeitgenössischen Erinnerungspraktiken: „Als Kulturleistung sind Erinnerung und Gedächtnis ritualisiert, also Teil der religiösen Riten geworden, die sich in Kranzniederlegungen ausdrücken, an bestimmten Kalendertagen an bestimmten sakral gewordenen Gedenkorten.“11 Die Kritik, die Schindel und Menasse an Erinnerungs- und Mahnmaldebatten üben, lassen sich mit Taboris Kritik an der „falschen Pietät“ in der Gedenkstätte Dachau – dort wurde Schindels Vater ermordet – verbinden, die „ein Gedenken an irgend etwas anderes als das Gedenken von Gedenken unmöglich“12 mache. Den Umgang mit Gedenkstätten und Erinnerung setzt Schindel etwa am Beginn von Gebürtig ins Werk, wenn im Prolog des Romans der aus Mauthausen stammende Designer Erich Stiglitz der jüdisch-wienerischen Soziologin Mascha Singer von seinem Geburtsort erzählt: „Mauthausen ist eine schöne Gegend. […] Als Kind hab ich dauernd im Konzentrationslager gespielt. Ein Superspielplatz. Glaubst du, daß ich mir als Zehnjähriger was dabei gedacht habe?“ (G 10). Gleichermaßen programmatisch wie polemisch verweist diese Replik auf eines der zentralen Themen des Romans, in dem Schindel in diversen Figuren verschiedene­Erinnerungsperspektiven auf die Shoah einander begegnen lässt: diejenige von Shoah-Überlebenden, diejenige von deren Kindern sowie diejenige von Nachkommen österreichischer Täter*innen. Der Titel ‚Gebürtig‘ verweise dabei auch auf Hannah Arendts Begriff der ‚Gebürtlichkeit‘ (‚natality‘),13 ein bedeutendes Konzept für ihre politische Philosophie, das sie in Vita activa oder Vom täglichen Leben (1960; The Human Condition, 1958) entwirft: Es sei dies die „existenziale Bedingung […], die es dem Menschen ermöglicht, Neues zu beginnen“. Jedes neue Leben entwickle einen neuen Handlungswillen, der im Verbund mit Anderen weitergetragen werde, – darin bestehe die „konstitutive Pluralität allen menschlichen Handelns“ – und bringe Neues in den Raum der Politik ein. Totale Herrschaft ziele darauf ab, das „menschliche Vermögen, einen neuen Anfang zu machen, ein für allemal auszulöschen“,14 zu welchem Ende das Lager diene. Wie biografisch bedingtes Bewusst10 Ebd. 11 Menasse: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung, S. 121. 12 Tabori: „Ein Goi bleibt immer ein Goi“, S. 285 (vgl. Kapitel 3.3). 13 Vgl. Strasser, Alfred: „,Wien ist die schönste Stadt der Welt‘ sagte ein Zagreber Kostümmann zu mir, derweil er mir den Judenstern provisorisch am Mantel befestigt.‘ – Die Darstellung der Juden im Wien der achtziger Jahre in Robert Schindels Roman Gebürtig“. In: Germanica 42 (2008), Online erschienen am 1.  Juni 2010. URL: http://journals.openedition.org/germanica/532 [2.4.2021]. 14 Marchart, Oliver: „Natalität/Anfangen“. In: Heurer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2011, S. 299–

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sein und damit einhergehende (Erinnerungs-)Positionen aussehen können und wie sich solche neuen Positionen in der Postmemory-Generation ausbilden, ist ebenso Thema von Schindels Gebürtig wie die Begegnung dieser divergierenden Positionen. Tabori und Schindel verbindet damit eine kritische Position gegenüber zeitgenössischen Erinnerungspraktiken. Trotz eines Altersunterschiedes zwischen den beiden Autoren von 30 Jahren (Schindel wurde 1944 geboren) verbinden sie auch biografische Verflechtungen der Familiengeschichte mit der Shoah: Beide Väter wurden in der Shoah ermordet, beide Mütter überlebten – der Verlust des Vaters und die Beschäftigung mit den Erinnerungen der Mutter charakterisieren das Verhältnis zu den Eltern. Deren Biografien weisen hingegen während der NS-Diktatur große Unterschiede auf; so wurden Schindels Eltern als im kommunistischen Widerstand aktive Jüd*innen deportiert: Sie kehrten im Sommer 1943 aus Frankreich unter Decknamen nach Österreich zurück – zu einem Zeitpunkt, zu dem die meisten Verfolgten verzweifelt versuchten, das Land zu verlassen –, um im Auftrag der Exil-KPÖ eine Widerstandsgruppe in Linz aufzubauen. Bald nach der Geburt des Kindes wurden die Eltern von der Gestapo verhaftet, gefoltert und deportiert,15 der Vater in Dachau ermordet, die Mutter überlebte Auschwitz und Ravensbrück. Robert Schindel trug bei seiner Geburt den Namen Robert Soël, denn Deckname der Mutter (Gertrude Schindel) war Suzanne Soël. Nach ihrer Rückkehr nach Wien nach Kriegsende fand sie ihren Sohn wieder, der in einem Kinderheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt als „Waise von asozialen Eltern unbekannter Herkunft“16 überlebt hatte; dieses zufällige Überleben eines Kindes von im Widerstand aktiven Eltern ist in Dunkelstein am Rande Thema (vgl. Kapitel 4.5). Anders als Tabori, der mit Die Kannibalen in das deutschsprachige literarische Feld eintritt, ist Schindel zum Veröffentlichungszeitpunkt von Dunkelstein (2010) bereits ein arrivierter Autor – im Sub-Feld der Shoah-Literatur sowie als Lyriker; Dunkelstein ist sein erstes Drama.17 Thematisch knüpft es unverkennbar an Gebür300, hier: S. 299. 15 Vgl. Pollack, Martin: „Geburtsort: Bad Hall“. In: Judex, Bernhard (Hg.): Die Rampe. Porträt Robert Schindel. Linz: Trauner Verlag 2018, S. 20–25, hier: S. 22. 16 Vgl. die autorisierte Biografie auf Robert Schindels Homepage. URL: http://www.schindel.at/ med_bio.htm [2.4.2021]. 17 Ein zweites Bühnenwerk mit dem Titel Don Juan wird sechzig, das ursprünglich als Libretto konzipiert war und im Wiener Mozartjahr 2006 in Auftrag gegeben wurde, erschien 2015 im Wiener Hollitzer Verlag. Die Musik zum Libretto stammt von Dirk D’Ase (vgl. Hüttler, Michael: „Zur Entstehungsgeschichte“. In: Schindel, Robert: Don Juan wird sechzig. Wien: Hollitzer 2015, S. 73–74, hier: S. 73), die Oper wurde bis dato nicht uraufgeführt und Schindels Buchfassung blieb von der Literaturkritik so gut wie unbeachtet.

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tig an, erweitert das Thema des Romans nun am augenfälligsten um die kontroverse Auseinandersetzung mit der historischen Rolle von jüdischen Funktionären und sogenannten Judenräten:18 Die Biografie der Figur Dunkelstein ist unverkennbar an den realhistorischen Benjamin Murmelstein angelehnt, der als jüdischer Funktionär 1938–1942 die Organisation der Zwangsvertreibung der österreichischen Jüd*innen wesentlich mitverantwortete und nach seiner Deportation Anfang 1943 letzter Judenältester im Ghetto Theresienstadt war. Auf einer zweiten, in der ungefähren Gegenwart spielenden Zeitebene zeigt Schindel einen Filmdreh in Terezín, dem ehemaligen Ghetto Theresienstadt; d ­ iese Zeitebene kommentiert, erweitert, mediatisiert die auf der vergangenen Zeit­ebene gezeigten historischen Ereignisse. Im Zentrum stehen dabei erstens die moralischen Bewertungen von Judenräten durch die nachfolgenden Generationen; zweitens Möglichkeiten der Mediatisierung von Judenräten in Film und Literatur: Wenn überlebende Judenräte und deren Mitarbeiter nicht mehr am Leben sind, wer spricht wie über sie? Judenräte sind umstrittene Figuren, da ihre historische Rolle Fragen nach Schuld, Kollaboration und Formen von Widerstand aufwirft. Schindel greift damit auf ein Thema zu, das zwar vehemente innerjüdische Kontroversen ausgelöst hat, gleichzeitig jedoch zentral für die Weitergabe von Erinnerungen an die Shoah ist. Es betrifft Möglichkeiten und Formen jüdischen Widerstands während der Shoah, Handlungsalternativen der Verfolgten, Funktion und Rolle der ‚jüdischen Selbstverwaltung‘ im Genozid sowie die vielbeschworene ‚Schuld der Überlebenden‘. Der Themenkomplex, den Dunkelstein 18 Ich setze Begriffe wie ‚Judenrat‘, ‚Judenälteste‘ oder ‚jüdischer Funktionär‘ im Folgenden nicht unter Anführungszeichen, verstehe sie jedoch als zitierte Begriffe aus historischen Diskursen, die ihrerseits auch Gegenstand des vorliegenden Buches sind. Die Begriffe ‚Judenältester‘ und ‚Judenrat‘ sind in der (jüdischen) historiografischen Forschung sehr etabliert; als Judenälteste wurden etwa auch die Obersten der ‚jüdischen Selbstverwaltung‘ – z.B. in Ghettos – bezeichnet und eingesetzt. Angesichts des geringen Maßes an Selbstbestimmung und Handlungsspielraum und der Tatsache, dass diese ‚jüdische Selbstverwaltung‘ ohne ein erhebliches Maß der Zusammenarbeit mit Nationalsozialist*innen nicht möglich war (siehe die folgenden Kapitel), sind diese Begriffe mehr als zynisch. Gleichzeitig verweist diese problematische Terminologie auf jenes Dilemma, das nicht nur für den Handlungsspielraum von Judenräten, sondern auch für deren nachträgliche Beurteilung (z.B. durch Arendt) symptomatisch ist. Auf die nicht eindeutigen Ursprünge des Begriffs ‚Judenrat‘ verweist Dan Michman – seiner Ansicht nach sind Rückbezüge auf mittelalterliche Organisationsstrukturen, also auf Strukturen vor der Emanzipation europäischer Jüd*innen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wahrscheinlich (vgl. Michman, Dan: Die Historiographie der Shoah aus jüdischer Sicht. Konzeptualisierungen, Terminologie, Anschauungen, Grundfragen. Hamburg: Dölling und Galitz 2001, S. 106.). Zur Institutionalisierung der Begriffe ‚Judenrat‘ beziehungsweise ‚Ältestenrat‘ durch die Nationalsozialist*innen im Jahr 1939 sowie zu Anweisungen zu deren Zusammensetzung vgl. Klein, Bernard: „The Judenrat“. In: Jewish Social Studies 22, 1 (1960), S. 27–42, bes. S. 27. Zur Unterscheidung zwischen landesweiten Judenvereinigungen und lokal agierenden Judenräten vgl. Michman: Die Historiographie der Shoah aus jüdischer Sicht, S. 109 f.

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umkreist, ist somit gleichermaßen voraussetzungsreich, wie er interessant ist für eine Untersuchung von Erinnerungs- und Gedächtnismöglichkeiten, da sich darin vielschichtige historische Debatten bündeln. Doron Rabinovici, der im Jahr 2000 die erste deutschsprachige wissenschaftliche Monografie über Judenräte vorgelegt hat (vgl. Kapitel 4.5) – er veröffentlicht nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als promovierter Historiker – beschreibt im Nachwort zu Schindels Dunkelstein, wie Judenräte „nach 1945 zum Schandfleck schlechthin geworden [waren]. Mehr noch: In gewisser Weise hatte sich das Verdikt der Nationalsozialisten, allenfalls ein toter Jude könne ein guter Jude sein, durchgesetzt.“19 Die Komplexität der Lebensrealität von Menschen in der jüdischen Selbstverwaltung beschreibt Rabinovici anhand des realhistorischen Beispiels von Wilhelm Reisz, der in Wien zum ‚Gruppenführer‘ der jüdischen Ordner ernannt worden war – hätte er den Dienst verweigert, wäre er deportiert worden. Nachdem er sieben Jahre der Deportation entgangen war, wurde er 1945 vom österreichischen Volksgericht für seine Tätigkeiten mit 15 Jahren Gefängnis einschließlich eines Vierteljahres schweren Kerkers bestraft; am Tag nach der Urteilsverkündung erhängte er sich in seiner Zelle.20 Dieser Schuldspruch steht in keinem Verhältnis zur weithin bekannten Milde gegenüber vielen hochrangigen, aktiv am Genozid beteiligten SS-Männern oder deren rascher Amnestierung. Mit diesem Beispiel stellt Rabinovici jene Problematik heraus, die auch im Kern von Dunkelstein liegt und den Themenkomplex von Mitschuld und Kollaboration betrifft. Während Tabori den Körper von Zeitzeug‘*innen im Allgemeinen als Medium von Erinnerung entwirft, holt Schindel für seine Auseinandersetzung mit Mediatisierung konkrete historische Figuren aus der Latenz. Die Kannibalen hat in den 1960er Jahren, so hat das vorhergehende Kapitel gezeigt, Shoah-Überlebende als emanzipierte Sprechende entworfen. Emanzipiertes Sprechen ist auch Thema in Dunkelstein, dem bislang einzigen deutschsprachigen Drama, in dem eine Judenrat-Figur so ausführlich und selbstbestimmt über ihr Verhalten während der NS-Diktatur spricht. Es wird sich zeigen, wie Dunkelstein in diesem Punkt von anderen Darstellungen von Judenräten in Literatur und Film abweicht und wie Schindels Drama folglich, wie Die Kannibalen, unter dem Aspekt von agency gelesen werden kann. Die angedeutete thematische Komplexität des Dramas mag dazu beigetragen haben, dass die Literaturkritik Dunkelstein bei Erscheinen kaum beachtete. Als 19 Rabinovici, Doron: „Ein Stück über die Vernichtung, ein Stück über die Ohnmächtigen und ein Stück vom Überleben“. Nachwort zu Dunkelstein. In: Schindel, Robert: Dunkelstein. Innsbruck: Haymon 2010, S. 115–123, hier: S. 116. 20 Vgl. Rabinovici, Doron: Instanzen der Ohnmacht. Frankfurt: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2000, S. 14–18.

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Auftragswerk für das Volkstheater Wien kam es in der Matinee Gedächtnis: 9. November 1938. Für mich muss kein Kaddisch gesprochen werden am 8. November 2009 dort zwar zu einer gekürzten szenischen Lesung, jedoch nicht zur ursprünglich geplanten Uraufführung und auch die geplante Veröffentlichung im Suhrkamp Theaterverlag blieb aus.21 Stattdessen wurde Dunkelstein 2010 als ‚Lesedrama‘ veröffentlicht – anders als ein Großteil der bei Suhrkamp erschienenen Lyrikbände von Schindel und seiner Prosa und den Essays im wesentlich kleineren und mit deutlich geringerem symbolischem Kapital (und geringer Distributionsreichweite außerhalb von Österreich) ausgestatteten Innsbrucker Haymon-Verlag. Erst 2016 wurde es im Wiener Theater Hamakom uraufgeführt und nun auch vonseiten der Kritik mit etwas mehr Aufmerksamkeit bedacht.22 Mehrere Gründe für die zeitverzögerte Uraufführung von Dunkelstein sind denkbar, einer davon mag im umstrittenen Thema, ein anderer in der Struktur des Dramas mit seinen vielen Kurzszenen (64 Szenen auf lediglich 103 Textseiten der Buchfassung) mit Ortswechseln nach fast jeder Szene und den kontinuierlichen Wechseln zwischen den beiden Zeitebenen des Dramas liegen (Wien während des Nationalsozialismus; Filmdreh in Theresienstadt in der Schreibgegenwart, also am Beginn des 21. Jahrhunderts). Beide Tatsachen mögen dazu geführt haben, dass Frederic Lion, Regisseur am und künstlerischer Leiter des Theater Hamakom, in seiner Inszenierung von Dunkelstein eine wesentlich gekürzte Fassung zur Uraufführung brachte: Er hat den Handlungsstrang um den Filmdreh in Theresienstadt, also sämtliche in der Gegenwart spielende und die Mediatisierung des Judenrat-Stoffes betreffende Szenen, gestrichen. Der Fokus auf die historischen Szenen beschnitt das Drama um jenen thematischen Strang, in dem die Begehung von Mediatisierungsmöglichkeiten am Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis nachdrücklich beleuchtet wird; damit wurden die ästhetisch fordernden Szenen und jene Passagen, die für Schindels Ästhetik des Grotesken konstitutiv sind, in der Uraufführung getilgt. Um Schindels Ästhetik des Grotesken in seiner Auseinandersetzung mit Prozessen der Mediatisierung herauszuarbeiten, ist im Folgenden die Bedeutung des Übergangs vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis auch als medialer 21 Vgl. Kunne, Andrea: „Verschwinden. Zwischen den Wörtern“. Sprache als Heimat im Werk Robert Schindels. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag 2009, S. 441. 22 Vgl. z.B. Pohl, Ronald: „‚Dunkelstein‘: Ahasver hinter der Brecht-Gardine“. In: Der Standard, 2.  März 2016. URL: http://derstandard.at/2000032146328/Dunkelstein-Ahasver-hinter-der-Brecht-Gardine [2.4.2021]. – Mayer, Norbert: „‚Dunkelstein‘: Der Rabbiner als letzter Retter“. In: Die Presse, 2. März 2016. URL: http://diepresse.com/home/kultur/news/4937812/ Dunkelstein_Der-Rabbiner-als-letzter-Retter [2.4.2021]. – Öttl, Johanna: „Widerstand und Ambivalenz – Die Figur des Benjamin Murmelstein in Film und Theater“. In: gift, zeitschrift für freies theater 1 (2017), S. 32–35.

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4. Mediatisierung und Judenräte

Transformationsprozess zu beschreiben. Daran anschließend steht Schindels Auseinandersetzung mit jüdischen Funktionären und dem Thema ‚jüdischer Widerstand‘ im Fokus, an denen sich in Dunkelstein Debatten am Übergang der beiden Formen des Gedächtnisses entfachen (Kapitel 4.2 und 4.3). Dies bedeutet, dass zuerst der dargestellte Gegenstand in den Blick genommen wird und darauffolgend dessen Mediatisierung.

4.1 „My hologram will take over my job“23 – Mediatisierung und Gedächtnis im 21. Jahrhundert Die Erinnerungsepoche des 21. Jahrhunderts und der dafür zu benennende Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis ruft alte wie neue Debatten über die Repräsentation der Shoah auf den Plan. Beispielsweise ersetzt die unüberblickbare Anzahl medialer Bilder von Konzentrationslagern und nationalsozialistischer Gewalt im Zuge der Veränderungen von Gedächtnismedien endgültig jegliche unmittelbare historische Erfahrung, sodass etwa das Verhältnis zwischen ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘ wieder verstärkt debattiert und Erinnerung zum umkämpften Feld wird (exemplarisch gezeigt anhand des ‚Falles Wilkomirski‘ in Kapitel 1.6). Der groteske Körper der Überlebenden in Die Kannibalen indiziert einen Blickwechsel auf die soziale Realität von Überlebenden, der mit einer neuen Positionierung von deren Rolle in zeitgenössischen Diskursen korreliert. Es hat sich erstens gezeigt, wie Taboris Arbeiten symptomatisch sind für einen veränderten Blick auf die Körper von Überlebenden; zweitens, wie sich dies mit solchen literarischen Strategien verbinden lässt, die zur Konstitution von Ästhetiken des Grotesken beitragen. Dunkelstein thematisiert nun vor allem die Frage, was im Zuge der erinnerungspolitischen Veränderungen an die Stelle dieses Körpers tritt: Welche ästhetischen und erinnerungspolitischen Konsequenzen sind am Übergang vom kommunikativen ins rein medial vermittelte kulturelle Gedächtnis denkbar, wenn der Körper des Überlebenden nicht mehr als Zeichen zur Verfügung steht, sondern nur mehr dessen Simulacrum? Es gilt somit, den Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis auch als medialen Übergang von körperlicher Materialität des kommunikativen Gedächtnisses in dessen Mediatisierung zu beschreiben und mit den dramatischen Arbeiten von Tabori und Schindel in Beziehung zu setzen. Während Tabori die Zeitzeugin/den Zeitzeugen als selbstbestimmt sprechendes Subjekt und die Legitimität ihres/seines grotesken Körpers im Text erst etablieren musste, unter23 Elster, Aaron im Interview. In: „Holocaust survivors preserved in hologram“. In: Newsy. Online am 22.11.2017. URL: https://www.youtube.com/watch?v=cThsZ-paonI [2.4.2021], 8:12.

4.1 „My hologram will take over my job“ – Mediatisierung und Gedächtnis im 21. Jahrhundert

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lag die solcherart entstandene Funktion von Zeitzeug*innen in Shoah-Diskursen zwischenzeitlich einem Paradigmenwechsel. Ab den 1980er Jahren hatte die individuell affizierte Perspektive von Überlebenden Konjunktur (vgl. Kapitel 1.6) und ihre Körper verbürgten im Rahmen von Zeitzeug*innengesprächen oder Oral-history-Interviews die ‚Authentizität‘ der Shoah-Erfahrung. Für gewisse Genres ist er gattungskonstitutiv (Zeitzeug*innengespräche etc.); wenn er in seiner Materialität nun verschwindet und Erinnerung an die Shoah ab dem beginnenden 21. Jahrhundert fast ausschließlich vermittelt, also nicht in persönlichem Kontakt und nicht mittels der körperlichen Anwesenheit von Betroffenen möglich ist, wird die Mediatisierung von Zeitzeug*innen virulent und damit auch die Frage nach Generizität. Wenn die körperliche Anwesenheit von Zeitzeug*innen gattungskonstitutiv für manche Genres ist, wie wirkt sich deren Verschwinden ganz grundlegend auf Shoah-Diskurse aus? Bei der Erschließung dieses medialen Transformationsprozesses hilft Baudrillards Konzept des Simulacrums, dessen „Beziehung zur materiellen Welt“ Klaus Kraemer folgendermaßen beschrieben hat: Sie bilde ein „Konstruktionsmodell von Wirklichkeit […], aus dessen Sinnfundus Welt symbolisch erzeugt und gedeutet, abgestützt und reproduziert wird. Simulakren sind einerseits auf eine vorgestellte Wirklichkeit ausgerichtet und richten andererseits nach eigener Maßgabe die vorgestellte Wirklichkeit auf sich aus.“24 In Der symbolische Tausch und der Tod unterscheidet Baudrillard zwischen drei historischen Simulationsordnungen, kurz Simulakren,25 wobei er die dritte und gegenwärtige die ‚Ordnung der Simulation‘ nennt. In ihr werde die Wirklichkeit nicht mehr in Zeichen dargestellt, sondern die Realität der Simulationen (‚Hyperrealität‘) zum „bestimmenden Konstruktionsmodell von Wirklichkeit erhoben“, so Kraemer.26 Die Frage nach der „vernünftigen Bestimmung“ der Zeichen, „nach dem Realen und Imaginären an ihnen“ wird laut Baudrillard „auf dieser Ebene ausgelöscht“.27 Einer näheren Auseinandersetzung mit dem Kon24 Kraemer, Klaus: „Schwerelosigkeit der Zeichen? Die Paradoxie des selbstreferentiellen Zeichens bei Baudrillard“. In: Bohn, Ralf/Fuder, Dieter (Hg.): Baudrillard. Simulation und Verführung, München: Fink 1994, S. 47–69, hier: S. 49. 25 Vgl. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod [L’échange symbolique et la mort, 1976]. München: Matthes und Seitz 1982, bes. S. 8 f. sowie S. 79–89. Baudrillard bezeichnet als Simulacrum erster Ordnung das klassische Zeitalter der Imitation (er nennt etwa Stuck als ­Imitation der Natur, z.B. in Kirchen und Palästen, vgl. ebd., S. 82), als Simulacrum zweiter Ordnung die Produktion infolge der Industrialisierung, die er am Unterschied zwischen Automaten (Imitation des Menschen, Simulacrum erster Ordnung) und Robotern (serielle Massenproduktion, Simulation zweiter Ordnung) ausführt. (Vgl. dazu auch: Kneer, Georg: „Jean Baudrillard“. In: Kaesler, Dirk (Hg.): Aktuelle Theorien der Soziologie. München: Beck 2005, S. 147–167.) 26 Kraemer: „Schwerelosigkeit der Zeichen?“, S. 52. 27 Baudrillard: Der symbolische Tausch, S. 90. Ich verwende den Begriff ‚Simulacrum‘ im Sinne

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4. Mediatisierung und Judenräte

zept des Simulacrums in Kapitel 4.8 sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass der mediale Transferprozess vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis auch als Übergang von körperlicher Materialität in deren Mediatisierung in Form diverser Simulacren verstanden werden kann – etwa in ‚dokumentierende‘ Simulacren (z.B. Videoaufzeichnungen in Oral-History-Archiven) oder ‚fiktionalisierende‘ (z.B. literarische Texte oder Filme). Als Beispiel für einen Mediatisierungstransfer, der das Genre des Zeitzeug*innengesprächs unter neuen medialen Voraussetzungen fortschreibt, können Hologramm-Projekte wie etwa die 3D-Hologram exhibition des Illinois Holocaust Museum and Education Center in Chicago gelten, deren erinnerungskulturelle und medientheoretische Vielschichtigkeit hier aus Platzgründen nur angedeutet werden kann: Darin stellen Menschen in einem Auditorium Fragen an ein auf einer Bühne sitzendes Hologramm einer/eines Shoah-Überlebenden, das ihnen als mediatisierter ‚authentischer‘ Körper in Form eines Simulacrums Rede und Antwort steht. Im technisch-medialen Vorbereitungsprozess beantworten die Zeitzeug*innen umringt von Computerkameras rund 1500 Fragen, sodass mittels dieser Aufzeichnungen eine Art digitaler Gedächtnisspeicher entsteht, aus dem die Hologramme in Gesprächen so viele Fragen wie möglich scheinbar spontan beantworten können. Der Shoah-Überlebende Aaron Elster, der sich holografieren ließ, beschreibt, er „will continue to speak to young people as long as I have a voice. And now my hologram will take over my job.“28 Das Hologramm ersetzt solcherart die Funktion des Körpers und übernimmt die Rolle der/des körperlich anwesenden Zeitzeugin/Zeitzeugen im Genre ‚Zeitzeug*innengespräch‘, das (scheinbar) ohne die biografisch verbürgte Erzählung einer körperlich anwesenden Person nicht auskommt.29 Kraemers als Terminus für „ein abstraktes System von Zeichen, das in einer spezifischen Beziehung zur materiellen Welt steht und ein Konstruktionsmodell von Wirklichkeit bildet, aus dessen Sinnfundus Welt symbolisch erzeugt und gedeutet, abgestützt und reproduziert wird.“ (Kraemer: „Schwerelosigkeit der Zeichen?“, S. 49.) 28 „Holocaust survivors preserved in hologram“. In: Newsy. Online am 22.11.2017. URL: https:// www.youtube.com/watch?v=cThsZ-paonI [2.4.2021]. Vgl. auch die ausführliche Beschreibung von Hologramm-Projekten auf der Homepage von Yad Vashem: Körte-Braun, Bernd: „Erinnern in der Zukunft: Frag das Hologramm“. In: Yad Vashem. International Holocaust-Gedenkstätte. URL: https://www.yadvashem.org/de/education/newsletter/10/holograms-and-remembrance. html [2.4.2021]. 29 Für den Fall, dass die Hologramme mit nicht-antizipierten Fragen konfrontiert werden, wird in den Aufnahmeprozess übrigens eine Sequenz des ‚speak-after-me‘ inkludiert, in der die ­Zeitzeug*innen Phrasen nachsprechen wie: „I’m actually a recording so I can’t answer that ­question.“ oder: „Maybe you should try to reboot.“ (Eva Schloss während der Produktion ihres Hologramms. In: „Could Holograms Let Our Experience Live On?“. In: The New York Times. Online am 9.7.2018: URL: https://www.youtube.com/watch?v=6-E70bul6Fo [2.4.2021], 4:50).

4.1 „My hologram will take over my job“ – Mediatisierung und Gedächtnis im 21. Jahrhundert

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Im Gegensatz zu solch einem als mimetisch-authentifizierend zu rubrizierenden Ansatz beschreiben Fischer/Hammermeister/Kramer für die Shoah-Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts die Tendenz, die Leistung von Literatur als Erinnerungsmedium verstärkt zu spiegeln. Ihre reflexive Funktion trete gegenüber der rekonstruierenden nun stärker in den Vordergrund, was so weit gehen könne, dass „die Reflexion von Erinnerungsprozessen in vielen Fällen“ – die Autoren nennen exemplarisch Sebald und Gstrein – dazu tendiere, „den Kern der historischen Rekonstruktion zu verunsichern“. 30 In Dunkelstein stehen rekonstruierende und reflexive Funktion nebeneinander und ergänzen einander, schematisch gesprochen ist jeder der beiden Funktionen eine der Zeitachsen des Dramas zugeordnet: Auf der Zeitebene der Vergangenheit werden Aufgabenbereich und Arbeitsalltag eines jüdischen Funktionärs rekonstruiert und auf der zweiten Zeitebene diskursive Zuschreibungen an Judenräte montiert; auf zweitgenannter rückt außerdem die Mediatisierung und Reflexion historischer Wissensbestände in den Blick.31 Verallgemeinernd gesagt sind rekonstruierender und reflexiver Funktion beziehungsweise den beiden Zeitachsen in Dunkelstein wiederum unterschiedliche Ästhetiken zugeordnet – am literarischen Realismus geschulte Ästhetiken auf der vergangenen, im weitesten Sinne ‚verfremdende‘ auf der gegenwärtigen Zeitachse. Sie gilt es, in den folgenden Kapiteln zu beschreiben und zu untersuchen, mit welchen literarischen Strategien Schindel Prozesse der Mediatisierung thematisiert und wie diese zur Konstitution von Schindels Ästhetik des Grotesken beitragen. Judenräte und jüdische Funktionäre stellen Erinnerungskultur und literarische Ästhetik dabei vor spezifische Herausforderungen insofern, als ihre Aufgabe – vereinfacht gesagt – darin lag, an ihrer eigenen systematischen Ermordung mitzuwirken, indem sie etwa an der Umsetzung nationalsozialistischer Gesetze partizipierten oder Deportationslisten erstellen sollten (vgl. Kapitel 4.4). Folglich hat ihr Verhalten kontroverse Debatten ausgelöst, sie sind in Historiografie und SubFeld der Shoah-Literatur jedoch gleichzeitig – wohl aufgrund der Komplexität Störungen in der Kommunikation können so thematisiert werden und rufen damit außerdem, wie Sybille Krämer es formuliert, in der Störung sich selbst in Erinnerung (vgl. Anm. 32). 30 Fischer/Hammermeister/Kramer: „Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts“, S. 16. 31 Schon die beiden Romane Gebürtig und Der Kalte (2013) (konzipiert als zwei Teile einer bisher unvollendeten Trilogie) befassen sich im Abstand von rund 20 Jahren mit Fragen der österreichischen Erinnerungslandschaft: Gebürtig, so sei wiederholt, mit Erinnerungen der österreichischen Postmemory-Generation und der Gegenwärtigkeit von Vergangenheit; Der Kalte, in der Literaturkritik oft als Schlüsselroman wahrgenommen (vgl. etwa Wolfgang Paternos Interview mit Robert Schindel: „Erst als Toter pflegt man Gleichmut“. In: profil, 9. Februar 2013. URL: https://www.profil.at/home/robert-schindel-erst-toter-gleichmut-352177 [2.4.2021]), kreist um die ‚Waldheim-Affäre‘. In Dunkelstein steht nun vor allem die Mediatisierung dieser Themenkomplexe am Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis zur Debatte.

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4. Mediatisierung und Judenräte

der historischen Situation – Randerscheinungen. Unter diesen Voraussetzungen muss im Folgenden berücksichtigt werden, dass allein die Figurenkonstellation von Dunkelstein auf ungleich vielschichtigeren Wissensbeständen aufbaut als Die Kannibalen, indes muss Schindel von limitierter historischer Kenntnis dieses Spezialdiskurses aufseiten der Rezipient*innen ausgehen. Die historischen Voraussetzungen sowie die vielschichtigen Diskurse über Judenräte, jüdische Funktionäre und jüdischen Widerstand während der Shoah werden in den Kapiteln 4.2 und 4.3 betrachtet. Daran anschließend steht die Schnittstelle des Übergangs zwischen Funktionsund Speichergedächtnis im Fokus, die Schindel für ein mehrfach kodiertes Narrativ der Transformation nützt, indem er sich Gedächtnisträgern, Gedächtnisinhalten und Mediatisierungen dieser Gedächtnisinhalte annimmt. So wie die Beschaffenheit von Medien des Gedächtnisses wegweisend ist, sind ästhetische Fragen hinsichtlich des genannten Zusammenhangs zwischen Inhalt und Art der Darstellung einer Betrachtung zu unterziehen. Wir haben gesehen, wie das Burgtheater-Projekt Die letzten Zeugen (vgl. Kapitel 1.6) diesen Übergang auch als Mediatisierungsprozess inszeniert; so etwa im Bild der schreibenden Frau den Übergang vom mündlichen Erzählen in das Speichermedium Schrift. Wichtig für vorliegenden Kontext ist, dass der Mediatisierungsprozess in Die letzten Zeugen störungsfrei abläuft und von Rabinovici und Hartmann nicht problematisiert wird: Die jüngeren Sprecher*innen lesen den überlieferten Text der Überlebenden, der Übergang zwischen dem Symbolisierungssystem des Mündlichen (Zeitzeug*innen) und des Schriftlichen (die transkribierende Frau im hinteren Bühnenraum) geht reibungslos vor sich. Im Gegensatz dazu führt Dunkelstein vor, wie dieser Prozess der Mediatisierung nach dem Ableben der Zeitzeug*innen in einer neuen Erinnerungsepoche problematisch wird; seine Ästhetik des Grotesken lenkt die Aufmerksamkeit verstärkt auf Medien beziehungsweise auf Prozesse der Mediatisierung, wie die folgenden Kapitel ebenfalls zeigen werden. Sybille Krämer spricht vom Wirken von Medien ‚in Latenz‘, wenn sie argumentiert, dass Medien nur „im Rauschen, das ist aber in der Störung, […] sich selbst in Erinnerung“ bringen und „ins Zentrum der Wahrnehmung“32 rücken. Anders als im Falle des reibungslos gezeigten Prozesses der Mediatisierung in Die letzten Zeugen wird im Anschluss an Krämer augenfällig, dass Dunkelstein diesen Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis als störungsanfällig zeigt. Zu untersuchen wird die These sein, dass Schindel den Prozess der 32 Krämer, Sybille: „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren“. In: Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt: Fischer 2003, S. 78–90, hier: S. 81.

4.2 Saul Dunkelstein – Benjamin Murmelstein

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Mediatisierung neu kodiert, indem er den Blick auf die Genese der medialen Repräsentation lenkt, und dass hier Ästhetiken des Grotesken greifen. Nimmt Tabori die Zeichenhaftigkeit des Körpers in den Blick, fokussiert Schindel also die Mediatisierung dieses Körpers: Dunkelstein reflektiert Narrativisierungsmöglichkeiten und dekonstruiert damit implizit Fiktionalisierungsstrategien beziehungsweise Darstellungsmöglichkeiten und Ästhetiken. Die Offenlegung von Fiktionalisierungsmöglichkeiten und Metafiktionalisierung33 sind bei Schindel wesentlich mittels literarischer Strategien der Illusionsdurchbrechung, der Verfremdung und der Gattungsmischung verbunden und damit einigen literarischen Strategien in Taboris Die Kannibalen verwandt. Sie stehen in den Kapiteln 4.5 und 4.6 im Fokus. Bevor dergestalt die reflexiven Passagen in Dunkelstein untersucht werden, steht am Beginn eine Analyse der rekonstruierenden Dimension des Dramas.

4.2 Saul Dunkelstein – Benjamin Murmelstein Zwar spielt Dunkelstein, ähnlich wie Die Kannibalen, auf zwei Zeitebenen, jedoch trennt Schindel diese stärker voneinander als Tabori – sie beziehen sich zwar, so wird sich zeigen, wiederholt aufeinander, verschwimmen aber nicht. Der historische Handlungsteil, dem dieses Kapitel gilt, skizziert den realhistorischen ­Hintergrund von Dunkelstein und zeigt den jüdischen Alltag im nationalsozialistischen Wien der Jahre 1936–1942. Die betreffenden Kontexte gilt es genauer zu beschreiben, da Schindels Drama mit seinen komplexen Verweisen auf inner­ jüdische Kontroversen, realhistorische Personen und historische Diskurse wesentlich voraussetzungsreicher ist als Die Kannibalen (für dessen Verständnis ist ­lediglich rudimentäres Wissen über den Genozid und die Existenz von Konzentrationslagern Voraussetzung). Kaffeehausszenen, Szenen von Verhaftungen und des Arbeitsalltags in der ‚Zentralstelle für jüdische Auswanderung‘ bespielen ein breites Spektrum, das die Kontinuität von Alltag (z.B. Szenen von Bridgepartien im Kaffeehaus) ebenso vorführt wie Suizide von jüdischen Menschen nach März 1938 (der Suizid von Schindels Figur Egon Fridell) und Aktivitäten des kommunistischen Widerstandes (vgl. Kapitel 4.5). Verweise auf historische Signaturen segmentieren den Handlungsverlauf – so beginnt der zweite Akt mit dem ‚Anschluss‘ und der dritte mit Kriegsbeginn. Zentralfigur der Zeit- und Handlungsebene der Vergangenheit ist der Rabbi und spätere Judenälteste Saul Dunkelstein, den Schindel sowohl im rabbinischen 33 Als ‚Metafiktionalisierung‘ wird im Folgenden die Thematisierung diverser Fiktionalisierungsmöglichkeiten in literarischen Texten oder Filmen bezeichnet.

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4. Mediatisierung und Judenräte

Alltag (z.B. beim Predigen) als auch in seiner politisch-bürokratischen Funktion in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zeigt, wo er ab 1938 die Emigration von so vielen Wiener Jüd*innen wie möglich organisieren und ermöglichen soll. Schindels Interesse gilt der ambivalenten Aufgabe jüdischer Funktionäre – schließlich wirkt Dunkelstein zwar einerseits mit der erfolgreichen Organisation der Emigration aktiv an der Rettung von Jüd*innen mit, andererseits ist die Emigration treffender als ‚systematische Vertreibung‘ zu beschreiben und außerdem erleichtert der dafür notwendige bürokratische Aufwand unwillentlich die später erfolgende Deportation der in Wien verbliebenen Jüd*innen. Diese unbestreitbare Ambivalenz der Figur nimmt das Ende des Dramas explizit in den Blick, als auf der Zeitebene der Gegenwart die Befreiung von Theresienstadt durch die Rote Armee gedreht wird. Umgeben von Statist*innen, die tote Jüd*innen spielen, fragt ein „Rotarmist“ den überlebenden Judenrat Dunkelstein: Rotarmist: Un far wus epes sait ir arois a lebendiker? Lautsprecher: Und wieso haben Sie überlebt? Dunkelstein: Un far wus ir? Lautsprecher: Und wieso Sie? Willy Klang, der als Toter neben Raffi und dem jungen Häftling liegt, steht auf, putzt sich ab. Willy Klang: Tja. Warum?34

Die Frage nach den Umständen von Dunkelsteins Überleben führt in den diskursgeschichtlichen Kern des Dramas, spiegelt sie doch die hartnäckige Anschuldigung der Kollaboration an überlebende jüdische Funktionäre (es sei an das Beispiel Wilhelm Reisz erinnert). Schindel hat seinen titelgebenden Protagonisten unverkennbar an den realhistorischen Benjamin Murmelstein angelehnt,35 jüdischer Funktionär in Wien und dem Ghetto Theresienstadt und einziger überlebender Judenältester (vor-

34 Schindel: Dunkelstein, S. 110. Im Folgenden Zitation im Fließtext: DS. 35 Auch andere Figuren lassen sich auf historische Akteur*innen rückbeziehen (vgl. dazu auch Kapitel 4.5): Etwa ist Sturmbannführer Linde Adolf Eichmann nachempfunden; außer der Transposition des Namens Eich(mann) – Linde zeigt Schindel ihn im Gespräch mit Dunkelstein über jüdische Riten und Kultur (vgl. DS 65), was einen realhistorischen Hintergrund haben dürfte: Dass der realhistorische Murmelstein für Eichmann „Zusammenfassungen über die jüdische Geschichte und Religion sowie über die verschiedenen jüdischen Organisationen“ verfasste, damit dieser sich „als Spezialist für jüdische Fragen“ ausgeben konnte, hat Rabinovici gezeigt. (Rabinovici, Doron: „‚Der letzte der Ungerechten‘. Benjamin Murmelstein“. In: Heimann-Jelinek, Felicitas/Hölbling, Lothar/Zechner, Ingo (Hg.): Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien 2007, S. 187–193, hier: S. 189.)

4.2 Saul Dunkelstein – Benjamin Murmelstein

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hergehende Theresienstädter Judenräte wurden ebenso ermordet wie die Judenräte anderer osteuropäischer Ghettos bei deren Auflösung, von denen als letztes großes der über 1000 auf polnischem und sowjetischem Boden errichteten Ghettos wurde ab August 1944 Litzmannstadt/Łódź aufgelöst36). Murmelsteins Aufgabenbereich im nationalsozialistischen Wien widmet sich der folgende Exkurs. Geboren 1905 im galizischen Lemberg, übersiedelte Murmelstein nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien, wo er nach seiner Promotion und abgelegten Rabbinatsprüfung als Rabbiner wirkte. Zur relevanten Figur für die Shoah-Forschung wird er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, als er stellvertretender Amtsdirektor der IKG und Leiter der ‚Zentralstelle für jüdische Auswanderung‘ wird. Infolge von Umstrukturierungen (zwischen 18. März und 2. Mai 1938) hatten sich die Nationalsozialist*innen in die Verwaltungsstruktur der IKG als Vertretungsorgan der jüdischen Gemeinde eingliedern lassen. Indem etwa die selbstgewählten Repräsentanten der jüdischen Gemeinde durch einen einzigen ersetzt wurden, trat an die Stelle diverser Gremien eine hierarchische Struktur. Dieser fundamentale Einschnitt in die Selbstbestimmung der IKG ist symptomatisch für deren veränderte Funktion als Vollzugsorgan der NS-Behörden.37 In weiterer Folge waren ihr etwa die Fürsorgezentrale (Speisung, Betreuung von Kindern, uvm.) und die Auswanderungsabteilung zugeordnet (sie verantwortete etwa ‚Auswanderungsberatung‘, die Durchführung der Auswanderungen, führte eine Beratungsstelle für Devisenangelegenheiten oder für berufliche Umschulungen für in Emigrationsländern benötigte Berufe). Um den bürokratischen Ablauf der Auswanderung zu erleichtern, sollte die eigens eingerichtete ‚Zentralstelle für jüdische Auswanderung‘ die massenhafte Auswanderung (d.h. die Vertreibung) der österreichischen Jüd*innen forcieren. Organisatorische, finanzielle und rechtliche Fragen waren mit nationalsozialistischer Stelle zu akkordieren, die IKG wurde außerdem erpresst, internationalen Organisationen gegenüber (z.B. dem World Jewish Congress) die reale Lage der Verfolgung zu verharmlosen, um Fürsorge und Auswanderungsmöglichkeiten nicht zu gefährden.38 Gleichzeitig musste die IKG Gelder von internationalen jüdischen Organisationen für die Auswanderung akquirieren, da die Emigration ohne die von den Nationalsozialist*innen beschlagnahmten Gelder nicht von36 Vgl. „Ghettos“. In: Holocaust-Enzyklopädie des United States Holocaust Memorial Museum. URL: https://encyclopedia.ushmm.org/content/de/article/ghettos [2.4.2021]. Für eine fundierte Auseinandersetzung mit den über 1000 Ghettos auf polnischem und sowjetischem Boden vgl. etwa Miron, Guy/Sulhani, Sholmit (Hg.): The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos during the Holocaust. Jerusalem: Yad Vashem 2009. 37 Vgl. Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 85. 38 Vgl. ebd., S. 86–92 und S. 146. Für die Flucht nach Palästina war die eigenständige Dachorganisation „Palästina-Amt“ verantwortlich (vgl. ebd., S. 88).

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4. Mediatisierung und Judenräte

stattengehen und die Fürsorge ohne die gestrichene staatliche Unterstützung nicht umgesetzt hätte werden können. Zu den Aufgaben der Repräsentanten der IKG und der ‚Zentralstelle‘ wie Murmelstein zählten also die Organisation der Zwangsvertreibung, das Akquirieren von Hilfsgeldern und die erpresste positive Berichterstattung über die Lage österreichischer Jüd*innen. Der deutsche Historiker Dan Diner betont in seiner luziden Analyse des Handlungsspielraums von jüdischen Funktionären den „exceptional epistemic value of the[ir] situation“. Dieser besondere epistemische Wert liege darin, dass jüdische Funktionäre „were able to contemplate options for action and thus to reflect upon their own situation vis-à-vis the Nazis. They were allowed just enough social normality and the semblance of political will so as to nurture the illusion that they could act in furtherance of their own survival.“39 Murmelstein wurde also zum Leiter der ‚Zentralstelle für jüdische Auswanderung‘ und damit von jener „nationalsozialistischen Behörde, mit der sich erst die Massenvertreibung und danach die Deportation in die Vernichtungslager organisieren ließen“.40 Sie machte Wien zum Prototyp späterer Judenräte und wegen ihrer erfolgreichen Organisation der Zwangsemigration (das zuständige Sonderkommando unter Eichmann wurde zum „‚Vorzeigemodell‘ nationalsozialistischer ‚Judenpolitik‘“41) zum Vorbild für Städte wie Berlin, Prag oder Paris. Murmelsteins Rolle in diesem Prozess ist ambivalent: Auf der einen Seite schreibt die Historikerin Lisa Hauff die hohe Auswanderungsquote von 128.500 österreichischen Jüd*innen zwischen 1938 und Ende 1941 wesentlich Murmelstein zu.42 Auf der anderen Seite war er laut Hauff in die Abwicklung der mit Jahresanfang 1941 einsetzenden Deportationen ab dem Frühjahr desselben Jahres eingebunden; ab Inkrafttreten des ‚reichsweiten‘ Auswanderungsverbots (Oktober 1941) war die Zentralstelle fortan „neben der Gestapo für Deportationen zuständig“.43 Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass Zwangsauswanderung und Deportation rückblickend in weitgehend voneinander getrennte Phasen eingeteilt werden können, die alltägliche Verfolgungsrealität jedoch einem sich ständig wandelnden Prozess von Vertreibung mittels Auswanderung bis zur Deportation unterlag. 39 Diner, Dan: „Historical Understanding and Counterrationality: The Judenrat as Epistemological Vantage“. In: Friedländer, Saul (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ‚Final Solution‘. Harvard University Press 1992, S. 128–142, hier: S. 133 f. Diners Analyse des Handlungsspielraums von Judenräten betont die Bedeutung von Rationalität und ökonomischem Handeln und die Wichtigkeit, Handlungsweisen der Nationalsozialist*innen zu antizipieren. 40 Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 10. 41 Ebd. 42 Vgl. Hauff, Lisa: Zur politischen Rolle von Judenräten. Benjamin Murmelstein in Wien 1938–1942. Göttingen: Wallstein 2014, S. 13–15 und S. 28. 43 Ebd., S. 109.

4.2 Saul Dunkelstein – Benjamin Murmelstein

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Murmelstein wurde am 28. Januar 1943 gemeinsam mit seiner Familie deportiert und in Theresienstadt bald zweiter Stellvertreter im Judenrat und ab Dezember 1944 bis zur Befreiung des Ghettos dessen letzter Judenältester. Indem Schindels Drama mit Dunkelsteins Deportation nach Theresienstadt endet,44 dient Murmelsteins Wirken in Wien als inhaltlicher und auf der Zeitebene der Vergangenheit auch als zeitlicher Rahmen von Dunkelstein. Auf der Zeitebene der Gegenwart setzt Schindel nun primär die kontroverse Rezeption von jüdischen Funktionären wie Murmelstein ins Werk. Für Murmelstein begann die Nachkriegszeit mit einer 18-monatigen Untersuchungshaft in Prag wegen des Vorwurfs der Kollaboration, der schließlich zurückgezogen wurde. Ein zweites Verfahren, eingeleitet 1949 infolge einer anonymen Anzeige wegen Verdachtes des Verbrechens nach §3,4 des Kriegsverbrechergesetzes, wurde nach wenigen Monaten eingestellt. Dass der juristischen Exkulpation hingegen keine moralische folgte, zeigen die vielen Anschuldigungen, denen Murmelstein und andere jüdische Funktionäre ausgesetzt waren.45 So wurde Murmelstein, der sich 1947 in Rom niedergelassen hatte, nach seinem Tod 1989 sowohl das Totengebet in der Synagoge versagt als auch die Bestattung neben seiner Ehefrau (erst nach Jahren konnte sein Leichnam aus dem Grab am Seitenrand des Friedhofs in jenes seiner Frau überstellt werden). Die moralische Verurteilung jüdischer Funktionäre sowie die nach 1945 erhobenen Vorwürfe der Kollaboration mit den NS-Behörden wurzelten wohl wesentlich im „Funktionswechsel der Kultusgemeinde von einer reinen Auswanderungstätigkeit hin zur Mitarbeit an den Deportationen“,46 so Hauff. Da Murmelsteins Tätigkeit für die Zwangsemigration einen Beitrag zur ‚Lösung der Judenfrage‘ lieferte, wurde sein Engagement für die Rettung jüdischer Menschen kaum anerkannt, obwohl vor Inkrafttreten des Auswanderungsverbots auch die Erschließung von Auswanderungsmöglichkeiten sowie die „Einwerbung der hierfür benötigten finanziellen Mittel bei ausländischen jüdischen Hilfsorganisationen“47 zu seinen Aufgaben gezählt hatten. Diskursgeschichtlich gesehen trug zur moralischen Aburteilung von jüdischen Funktionären vor allem Arendts Berichterstattung zum Eichmann-Prozess in der New York Times bei, 1963 unter dem Titel Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil erschienen. Neben ihrer kanonisch gewordenen Umwertung 44 Mit Dunkelsteins Deportation führt Schindel die beiden Zeit- und Handlungsebenen zusammen: Am Ende des Dramas zeigt er auf der Zeitebene der Vergangenheit Dunkelsteins Deportation nach Theresienstadt, auf der Zeitebene des Filmdrehs die dortige Ankunft der Filmfigur Dunkelstein. 45 Vgl. Hauff. Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 301–304. Solche Vorwürfe betrafen etwa den ehemaligen Amtsdirektor der IKG Josef Löwenherz. 46 Ebd., S. 222 f. 47 Ebd., S. 28.

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nationalsozialistischer Täter*innen vom ‚radikal Bösen‘ zum ‚banal Bösen‘ verhängte Arendt auch ein kontroverses Urteil über das aus ihrer Sicht erstaunlich hohe Maß an Kooperation jüdischer Funktionäre sowie jüdischer Polizei bei der Organisation von Verhaftungen und Deportationen; ohne deren Mithilfe wäre die Zahl ermordeter Jüd*innen, so Arendt, deutlich geringer gewesen.48 Die sich daran anschließende Kontroverse, etwa mit Gershom Scholem, machte Arendts Thesen einer größeren Öffentlichkeit bekannt – so erschien etwa in der NZZ vom 19. Oktober 1963 ein Briefwechsel zwischen Scholem und Arendt. Scholem lehnt darin Arendts Perspektive zwar entschieden ab, relativiert mit Blick auf Murmelstein jedoch: „Dieser Murmelstein in Theresienstadt hätte […] verdient, von den Juden gehängt zu werden“.49 Auf dieses krude Urteil antwortete Murmelstein zwar in der NZZ,50 die Möglichkeit einer Stellungnahme im Eichmannprozess wurde ihm hingegen nicht gewährt; obwohl er sich angeboten hatte, wurde er nicht als Zeuge geladen – im Gegensatz übrigens zu dem ehemaligen Amtsdirektor der IKG (Josef Löwenherz), der jedoch wenige Monate vor seiner Aussage verstarb. Über Gründe für diese Entscheidung der Staatsanwaltschaft lässt sich nur spekulieren,51 sie mag für Murmelstein jedenfalls Anlass für seinen Erfahrungsbericht über Alltag, Organisationsstruktur und Geschichte Theresienstadts geliefert haben: Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto erschien 1961 auf Italienisch, allerdings erst 2014 in einer deutschen Übersetzung.52 Diese Skizze der historischen Umstände ist notwendig, um die thematische Komplexität von Dunkelstein sowie der titelgebenden Figur zu erschließen. Es ist 48 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper 1964, bes. S. 153 ff. Michman führt Arendts Anschuldigungen zurück auf ihre „eklektische Vorgehensweise, mangelhaften Nachforschungen und Verallgemeinerungen“ (Michman: Die Historiografie der Shoah aus jüdischer Sicht, S. 265). 49 Briefwechsel zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt in der NZZ vom 19. Oktober 1963. Zit. nach Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 42. Quelle für Scholems Aburteilung seien Erzählungen von Überlebenden des Lagers Theresienstadt gewesen, so Rabinovici (vgl. Instanzen der Ohnmacht, S. 377). 50 Murmelstein bezieht in einem Artikel in der NZZ vom 14. Dezember 1963 Stellung zu Scholems Vorwurf. Vgl. Murmelstein, Benjamin: „Das Ende von Theresienstadt. Stellungnahme eines Beteiligten“. In: Neue Züricher Zeitung, 14. Dezember 1963, Morgenausgabe, Bl. 5. Wiederabdruck in: Loewy, Ronny/Rauschenberger, Katharina (Hg.): „Der Letzte der Ungerechten“. Der „Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942–1975. Frankfurt, New York: Campus 2011, S. 15–25. 51 Hauff mutmaßt, Murmelstein habe als „Antibeispiel eines ‚Opferzeugen‘“ (Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 305) nicht dem Bild entsprochen, das die Staatsanwaltschaft zeichnen wollte. 52 Murmelstein, Benjamin: Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto [Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann, 1961]. Wien: Czernin 2014. Die Tagebücher von Adam Czerniakóws, Judenältester im Ghetto Warschau, wurden bereits 1986 auf Deutsch veröffentlicht – allerdings erst 18 Jahre nach der hebräischen Übersetzung.

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nicht Aufgabe einer ihrem Gegenstand gerecht werdenden Literaturwissenschaft, literarische Texte auf ‚historische Akkuratheit‘ zu durchleuchten, doch muss sie die Referenzbezüge ihres Untersuchungsobjekts berücksichtigen. Für Dunkelstein wirft die komplexe historische Referenzfolie die Frage nach den Quellen des Autors auf – für Schindels Arbeit an Dunkelstein kommen Murmelsteins erst 2014 auf Deutsch erschienene Memoiren aus zeitlichen Gründen ebenso wenig in Frage wie Claude Lanzmanns Murmelstein-Film Der Letzte der Ungerechten (2013), der Murmelstein einem breiteren Publikum bekannt machte. Auch Lisa Hauffs profunde Studie Zur politischen Rolle von Judenräten (2014),53 die eine wichtige Quelle für vorliegende Arbeit darstellt, lag bei der ersten szenischen Lesung aus Dunkelstein (2009) noch nicht vor. Indes lassen sich für kontroversere Urteile über Judenräte – neben Arendt – weitere potenzielle und wesentlich ältere Quellen ausmachen: So beschreibt H.G. Adler in seiner nach wie vor als Standardwerk geltenden Studie aus dem Jahr 1955 über Gründung, Organisationsstruktur, Alltagsleben bis hin zur Auflösung von Theresienstadt (Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft) den Judenältesten als Herr[n] des ‚Ghettos‘ mit diktatorischen Befugnissen. Er war […] unbeschränkter Herrscher – soweit ihn die SS nicht einschränkte. Fast alles im ‚Ghetto‘ geschah in seinem Namen. […] Er bestimmte die Politik der Gemeinschaft und er allein war der SS gegenüber für alles verantwortlich. Dem Lager gegenüber mußte er sich theoretisch nicht verantworten […]. Es ist schwierig, seine Lage zu würdigen. Da er dem letzten SS-Mann gegenüber ohnmächtig war, verlor seine Stellung nach innen hin jeden Glanz. So stand der Judenälteste zwar als Oberhaupt da – doch mit gebundenen Händen. Er konnte beneidet, geliebt, gefürchtet und gehaßt werden – aber er war machtlos. Seine Entschlüsse und Befehle, ob gut oder schlecht, konnten zwar Schicksale bestimmen, ein Leben retten oder verdammen, aber sie hatten dennoch kein Gewicht.54

Bei aller Härte des Urteils streicht Adlers Einschätzung jedenfalls die Machtlosigkeit von Judenräten eindrücklich heraus. Ähnlich harsch urteilt Raul Hilberg 53 Auffällig ist eine Häufung von Publikationen zu Judenräten kurz nach der Jahrtausendwende: Auf Polnisch erschien 2009 eine bisher nicht übersetzte Biografie des Warschauer Judenältesten Adam Czerniaków (Marcin Urynowicz: Adam Czerniaków 1880–1942. Życie i działalność, Warszaw 2009.) und im Jahr 2012 (poln.; dt. 2017) des Judenältesten in Litzmannstadt/Łódź Chaim Rumkowski (Polit, Monika: Mordechaj Chaim Rumkowski – Wahrheit und Legende – „Meine jüdische Seele fürchtet den Tag des Gerichts nicht“ [Mordechaj Chaim Rumkowski. Prawda i zmyślenie, 2012]. Osnabrück: Fibre, 2017. Polits Arbeit ist methodisch problematisch, da sie literarische Texte ähnlich wie historiografische Quellen behandelt. 54 Adler: Theresienstadt 1941–1945, S. 240 f.

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4. Mediatisierung und Judenräte

in seiner richtungsweisenden, ebenfalls nach wie vor als Standardwerk geltenden Pionierarbeit Die Vernichtung der europäischen Juden (engl. 1961, dt. 1982), wenn er in dem Kapitel Die Opfer über „die Rolle der Juden bei ihrer eigenen Vernichtung“ schreibt, deren Reaktionsmuster sei „durch ein nahezu vollständiges Fehlen von Widerstand gekennzeichnet“55 gewesen, denn sie „fügten sich unverzüglich allen Anordnungen und Befehlen.“56 Aus dieser grundsätzlichen Interpretationslinie jüdischen Handelns speist sich auch sein hartes Urteil über die „institutionalisierte Willfährigkeit der Judenräte“: Während der Konzentrationsphase übermittelten die Räte die deutschen Forderungen an die jüdische Bevölkerung und händigten den Deutschen die jüdischen Vermögenswerte aus, wodurch sie die Durchschlagskraft der Täter beträchtlich erhöhten. […] Die deutschen Aufseher wandten sich an die Judenräte, wenn sie Informationen, Geld, Arbeits- oder Polizeikräfte benötigten, und die Räte versorgten sie tagtäglich mit den geforderten Mitteln. […] In den Augen der deutschen Täter waren sie verläßliche Handlanger, während sie weiterhin das Vertrauen der Juden genossen. Dieser Widerspruch verschärfte sich trotz ihrer unermüdlichen Appelle an die Nachsicht der Deutschen und an den Gehorsam der Juden von Tag zu Tag. […] Die jüdische Effizienz bei der Zuteilung von Wohnraum oder der Austeilung von Lebensmittelrationen war eine Erhöhung der deutschen Leistungsfähigkeit, die jüdische Rigorosität bei der Steuereintreibung oder Ausnutzung von Arbeitskräften war eine Stärkung des deutschen Zugriffs […]. Kurz, die Judenräte assistierten den Deutschen mit ihren guten wie mit ihren schlechten Eigenschaften, und noch die besten Leistungen einer jüdischen Bürokratie wurden letzten Endes für den allesfressenden Vernichtungsprozeß der Deutschen vereinnahmt.57

Die Härte von Hilbergs Urteil ist der Tatsache geschuldet, dass er sich in seiner Arbeit ausschließlich auf ‚Täterquellen‘ stützte, wie Dan Michman kenntnisreich dargelegt hat58 – folglich lässt Hilbergs Arbeit ihrerseits Rückschlüsse auf die Wahrnehmung von Judenräten durch die Nationalsozialist*innen zu. Sie spiegelt damit auch wider, dass in die Dokumente der ‚Täterseite‘ kaum Hinweise auf jüdischen Widerstand Eingang fanden. Nun existieren auf ‚Opferseite‘ auch solche Quellen, die Judenräte in einem positiveren Licht erscheinen lassen. Etwa zeichnet Yehuda Bauer ein luzides Bild 55 Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden [The Destruction of the European Jews, 1961]. Frankfurt: Fischer 112010, S. 1100. 56 Ebd., S. 1109. 57 Ebd., S. 1108 f. 58 Für eine Zusammenfassung von Michmans Forschungsergebnissen vgl. Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 37–38. Auch Arendts Aburteilung von Judenräten lässt sich im Übrigen nicht zuletzt damit erklären, dass sie ihr Wissen primär aus Hilbergs Studie bezog.

4.2 Saul Dunkelstein – Benjamin Murmelstein

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widerständischer Aktivitäten von Judenräten:59 Er nennt neben den wenigen Beispielen für von Judenräten organisierte bewaffnete Aufstände auch beispielhafte Kollaborationen mit Partisanen oder Untergrundkämpfern und weist ferner deren Widerstand in Form der Gründung von politischen Parteien und Untergrundorganisationen nach. Auch ihre pädagogischen, kulturellen und religiösen Aktivitäten streicht er heraus und fasst sie unter dem Begriff ‚amida‘ (hebr. ‚sich gegen jemanden erheben‘ / ‚standhalten‘) zusammen.60 Sein Blickwinkel berücksichtigt die Rolle von jüdischen Funktionären auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und nicht nur für die Logik der ‚Täterperspektive‘. Während Judenräte einerseits also als „bedingungslose Werkzeuge des nationalsozialistischen Verwaltungssystems“61 und damit metonymisch für mangelnden jüdischen Widerstand gesehen werden, legen andere Stränge der historiografischen Forschung ihren Fokus auf den „positiven Aspekt der organisatorischen Funktion der Räte innerhalb der jüdischen Gemeinden“.62 Die Perspektivierung von historiografischem Schreiben, der Kapitel 1. galt, wird für eine Untersuchung von Judenräten damit auffallend bedeutsam. Für vorliegenden Untersuchungszusammenhang lässt die Berücksichtigung der Perspektivierung etwa von Hilbergs Vernichtung der europäischen Juden Schlussfolgerungen hinsichtlich der Zweckhaftigkeit von Judenräten sowie der Umstrukturierung bereits vorhandener jüdischer Organisationen für die nationalsozialistischen Machthaber zu: Deren Instrumentalisierung erleichterte in Wien etwa die Kommunikation mit der jüdischen Bevölkerung Österreichs und daran anschließend eine effiziente Umsetzung antisemitischer Gesetze; ferner eine gleichermaßen effiziente Organisation der Vertreibung und der Vorbereitung von Deportationen sowie sie auch Enteignungen jüdischen Eigentums vereinfachte. Wie Schindel solcherart divergierende Perspektiven in Dunkelstein wiedergibt, 59 Vgl. Bauer, Yehuda: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen [Rethinking the Holocaust, 2001]. Frankfurt: Suhrkamp 2001, bes. Kapitel 6 („Jüdischer Widerstand – Mythos oder Wirklichkeit?“) und Kapitel 7 („Unbewaffneter Widerstand und andere Reaktionen“). 60 Vgl. ebd., S. 154. Bauer widmet auch kulturellen Aktivitäten in Theresienstadt einen Abschnitt (vgl. ebd., S. 162). 61 Michman: Die Historiografie der Shoah aus jüdischer Sicht, S. 104. Diese Interpretationslinie im Anschluss an Hilbergs Vernichtung der europäischen Juden bezeichnet Michman als ‚Hilberg-­ Schule‘. 62 Ebd. Etwa hat Aharon Weiss’ Forschung zu osteuropäischen Judenräten gezeigt, wie sich mit Fortschreiten der NS-Diktatur die Handlungsweisen von Judenräten veränderten: Die zu Beginn der deutschen Besetzung eingesetzten Judenräte, die sich den Befehlen der Nationalsozialist*innen widersetzt hatten, wurden meist nach kurzer Zeit abgesetzt; folglich loteten spätere Judenräte andere Handlungsmöglichkeiten aus (vgl. Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte, S. 165 f.). Neben Weiss war auch Isaiah Trunks Forschung (vgl. Anm. 63) wegweisend für diese Interpretationslinie.

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4. Mediatisierung und Judenräte

wird sich im nächsten Kapitel zeigen. Zuvor seien noch zeitgenössische Beispiele für eine spezifisch österreichische Auseinandersetzung mit Judenräten genannt, die als mögliche Quellen für Schindels Drama zu berücksichtigen sind. Dass „die einschlägige wissenschaftliche Literatur zur Thematik der Juden­räte fast ausschließlich von jüdischen Wissenschaftlern stammt“,63 wie Hauff diagnostiziert, mag wenig überraschen. Auch Rabinovici, der als erster – jüdischer – deutschsprachiger Wissenschaftler im Jahr 2000 mit Instanzen der Ohnmacht eine Monografie über Judenräte vorlegte (vgl. bes. Kapitel 4.5), beschreibt, wie in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung eine Analyse der „Reaktion der jüdischen Gemeinschaft und die Strategien der Gemeindeleitung als zu heikles Unterfangen empfunden“64 wurde. Eine Auseinandersetzung aus jüdischer Perspektive fand in Wien im Jahr 2007 mit der Ausstellung Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien im Jüdischen Museum (4. Juli – 21. Oktober) statt; es darf als wahrscheinlich gelten, dass Schindel sie zur Kenntnis nahm. Anlass für die Ausstellung war ein spektakulärer Aktenfund im Jahr 2000 von 500.000 Seiten Archivmaterial der IKG aus der Zeit 1938–1945 (der Großteil der Akten der IKG aus der NS-Diktatur war 1952 in die Central Zionist Archives in Jerusalem als Dauerleihgabe überantwortet worden). Anhand der neuen Dokumentenlage ließ sich die Vernichtung der Wiener jüdischen Gemeinde in bis dahin unbekanntem Ausmaß rekonstruieren (etwa dank einer vollständigen Liste aller rund 48.000 aus Wien deportierten Jüd*innen; dank Hauslisten der in Wiener Sammelwohnungen verbliebenen Jüd*innen; dank Aufzeichnungen jüdischer ‚Rechercheure‘, die Aufenthaltsorte von zu deportierenden Menschen ermitteln sollten, u.v.m.).65 Relevant für Schindels Arbeit an Dunkelstein könnte der letzte Ausstellungsraum gewesen sein, in dem Ausschnitte aus Lanzmanns insgesamt elfstündigen Murmelstein-Interviews gezeigt wurden, die dieser im Rahmen seiner Arbeiten 63 Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 34. Dazu zählen etwa die Arbeiten von Isaiah Trunk, Aharon Weiss, Bernhard Klein und, jünger, Dan Diner. Vgl. Klein: „The Judenrat“. – Trunk, Isaiah: Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation. New York, Macmillan: 1972. – Weiss, Aharon: „Jewish Leadership in Occupied Poland. Postures and Attitudes“. In: Yad Vashem Studies 12 (1977), S. 335–365. – Diner: „Historical Understanding and Counterrationality“. 64 Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 412. 65 Vgl. die Beiträge im Ausstellungskatalog Ordnung muss sein. Darin bes.: Zechner, Ingo: „Von der Macht und Ohnmacht des Archivs“, S. 16–19. – Heimann-Jelinek, Felicitas: „Ordnung muss sein“, S. 9–13. – Hölbling, Lothar/Zechner, Ingo: „Achtung Baustelle! Die Arbeiten an der Wiedererrichtung des Archivs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien“, S. 29–34. Dass die IKG nach 1945 auf diese Unterlagen zurückgriff, etwa um „Emigranten im Zusammenhang mit deren Ansprüchen an die Republik Österreich zu unterstützen“ (Heimann-Jelinek: „Ordnung muss sein“, S. 11), lässt die Bedeutung des Aktenfundes auch für die österreichische Restitutionsgeschichte erahnen.

4.2 Saul Dunkelstein – Benjamin Murmelstein

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zu Shoah (1985) in den 1970er Jahren in Rom geführt, jedoch nicht in den Film aufgenommen hatte.66 Wenige Jahre später (2013), doch erst nach Erscheinen der Buchfassung von Dunkelstein (2010), hat Lanzmann eine gekürzte Fassung des Materials als Dokumentarfilm unter dem Titel Der Letzte der Ungerechten67 veröffentlicht. Auch außerhalb der Ausstellungsräumlichkeiten wurden Auszüge aus Lanzmanns Material 2007 in Wien gezeigt, und zwar in einer gemeinsamen Veranstaltung von Jüdischem Museum und Österreichischem Filmmuseum. Begleitet wurde die Filmvorführung von einer Podiumsdiskussion zu historischen Kontexten (mit den Historiker*innen Ingo Zechner, Anna Hájková und Rabinovici) sowie einem Gespräch mit Lanzmann. Aufschlussreich für nach wie vor gültige Vorbehalte gegen Murmelstein zeigten sich in der im Gespräch vom Generalsekretär der IKG (Raimund Fastenbauer) gestellten Frage, warum man sich mit „Murmelstein – Murmelschwein“68 auseinandersetzen solle. Er rekurriert damit auf ein aus Theresienstadt überliefertes Wortspiel, das die Annahme der mangelnden Integrität Murmelsteins und seiner Bereitschaft zur Kollaboration mit den Nationalsozialist*innen artikuliert. Dieses Wortspiel greift Schindel in Dunkelstein in der Rede von „Saul Dunkelstein, den sie Dunkelschwein genannt haben“ (DS 10), auf; in Lanzmanns Murmelstein-Film fand es ebenfalls Eingang: Im Interview erzählt Murmelstein, man habe ihn als einzigen überlebenden Judenältesten im Prager Gefängnis 1945 gefragt „Wieso leben Sie?“.69 Dunkelstein endet mit dieser bereits zitierten Frage 66 Die gezeigten Ausschnitte stammten aus der „Shoah Outtakes Collection“ im USHMM (United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.), vgl. die Digitalisate der Shoah Out­takes Collection: „Benjamin Murmelstein – Theresienstadt Judenaelteste [sic]“. Accession Number: 1996.166; RG Number: RG-60.5009. URL: https://collections.ushmm.org/search/catalog/ irn1003918 [2.4.2021]. – Vgl. auch Loewy, Ronny: „Die SHOAH-Outtakes“. In: ders./Rauschenberger: „Der Letzte der Ungerechten“. Der „Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942– 1975, S. 11–14. 67 Die Ästhetik des Films gleicht jener von Shoah hinsichtlich der Kombination aus Interviewmaterial und Filmaufnahmen von gegenwärtigen ‚traumatischen Orten‘; in Der Letzte der Ungerechten inkludiert Lanzmann allerdings Archivmaterial, etwa Filmstills aus dem Propagandafilm Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944/45), siehe dazu Kapitel 4.8. (Vgl. Lanzmann, Claude (Regie): Der Letzte der Ungerechten [Le Dernier des I­ njustes, 2013]. DVD, 218 Min., Frankreich/Österreich 2015. Folgende Buchfassung dokumentiert Gespräch und Filmszenen: Lanzmann, Claude: Der Letzte der Ungerechten. Reinbek: Rowohlt 2017.) 68 Vgl. Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 9. Hauff nennt auch Einsprüche von Shoah-Überlebenden und deren Nachkommen gegen die Beteiligung der IKG an der Veranstaltung (vgl. ebd.), die auf die Befürchtung verweisen, solch eine öffentliche Auseinandersetzung könne Zuschreibungen der ‚Mitschuld der Juden an ihrer eigenen Vernichtung‘ wiederbeleben. 69 So Murmelstein im Interview mit Lanzmann. Vgl. Lanzmann, Claude: Der Letzte der Ungerechten. Reinbek: Rowohlt 2017, S. 28 f.

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4. Mediatisierung und Judenräte

eines Rotarmisten an Dunkelstein, möglicherweise war die Szene im Rahmen der Ausstellung oder der Filmvorführung gezeigt worden.70 Schindel integriert also, so zeigen die beiden letztgenannten Beispiele, diskursive Versatzstücke aus der Rezeption von Judenräten erkennbar in sein Drama. Weiteren Ausprägungen einer solcherart kontroversen Rezeption sowie deren Manifestation in Dunkelstein widmet sich das nächste Kapitel.

4.3 Judenräte im diskursiven Feld Dunkelstein eröffnet mit einem kurzen, aus zwei Szenen bestehenden ‚Prolog‘, von denen jede in eine der beiden Zeit- und Handlungsebenen einführt. Die erste, in der sich die titelgebende Figur vorstellt, spielt auf einige der bereits umrissenen Debatten über Judenräte an, wenn Schindel seinen Dunkelstein sagen lässt: „Ich bin Saul Dunkelstein, Rabbiner, Funktionär. In mir sehen Sie den Letzten der Ungerechten, ich bin der Übriggebliebene, auf den euer Hass geht. Und das ist die Geschichte.“ (DS 7) Sie wird im nächsten Kapitel in Zusammenhang mit der Literarisierung von Judenräten eingehender betrachtet. In der zweiten, etwas längeren Szene führt Schindel in die Handlungsebene der Erzählgegenwart ein, in der in Terezín „Männer in KZ-Kluft mit gelben Winkeln über dem Herzen“ (DS 7) um einen Holztisch sitzen, Komparsen in dem Film Und Gott schaut weg, der am Gelände des ehemaligen Ghettos gedreht wird. Wie Schindel auf dieser Handlungsebene kontroverse Urteile über Judenräte und jüdische Funktionäre aufgreift, untersucht dieses Kapitel. Über die Biografien der vier Komparsen sowie ihre differierenden Bezugspunkte zur Shoah vermittelt der Gesprächsverlauf Folgendes: Raffi ist Teil der postmemory-Generation und hat „gegen die Araber gekämpft“ (DS 9);71 Willy Klang war Beamter der IKG und „Assistent von Doktor Saul Dunkelstein“ (DS 10); der ‚alte Häftling‘ ist Überlebender des Mauthausen-Außenlagers Ebensee; der ‚junge Häftling‘ wird als Figur vorerst am wenigsten greifbar, seine Repliken legen nahe, dass er Jude ist und, wie Raffi, Angehöriger der postmemory-Generation – wie sich später zeigen wird, ist es eine ‚Pointe‘ des Dramas, dass seine Identität erst an dessen Ende enthüllt wird. 70 Als weitere Quelle für Schindel kommt der am 13. Mai 2008 von Leonhard H. Ehrlich, Professor für Philosophie und Judaistik, am Wiener Wiesenthal Institut gehaltene Vortrag „Geschätzt und gescholten: Benjamin Murmelstein in Wien 1938–43“ in Frage (Rabinovici moderierte den Abend) – direkte Bezüge zu Dunkelstein scheinen nicht zu bestehen. Vgl. Ehrlich, Leonhard H.: „Geschätzt und gescholten: Benjamin Murmelstein in Wien 1938–43“. Vortrag am Wiener Wiesenthal Institut, 13. Mai 2008. URL: https://www.youtube.com/watch?v=fzINy_XsOOw [2.4.2021]. 71 Genaueres erfahren die Leser*innen nicht; es könnte sich um den Jom-Kippur-Krieg 1973 handeln, den Libanonkrieg 1982 oder die Erste Intifada (1983–1993).

4.3 Judenräte im diskursiven Feld

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In dieser Figurenkonstellation führt Schindel zugespitzt zwei grundlegend unterschiedliche für das Drama prägende Blickwinkel auf die Shoah vor: Mit R ­ affi und dem ‚jungen Häftling‘ auf der einen und Willy Klang und dem ‚alten Häftling‘ auf der anderen Seite stehen einander jeweils zwei Vertreter des kommunikativen Gedächtnisses und der postmemory-Generation gegenüber. Diese Konstellation ist insofern handlungsmotivierend, als der Generationen- und Erfahrungsunterschied bereits hier den zentralen Konflikt des Dramas ins Werk setzt: Auf dem Spiel steht die Bewertung von jüdischem Verhalten während der Shoah zwischen der Perspektive der jüngeren Männer, ‚die Juden‘ hätten keinen nennenswerten Widerstand geleistet, und dem vehementen Widerspruch der beiden Shoah-Überlebenden gegen dieses Geschichtsbild. Diese zweite Szene des Prologs setzt in medias res in einer hitzigen Debatte mitten in Raffis polemischer Beteuerung ein: „… sag ich euch, versteht ihr, sag ich euch, wie sag ich, dass ihr versteht: Nie würde ich in die Gaskammer marschiert sein. Niemals.“ (DS 7) Sein eigenes imaginiertes Heldentum stellt er gegen das Verhalten der realen Shoah-Opfer, die seiner Meinung nach „[o]hneweiters und mir nichts, dir nichts wie die Schafe zur Schlachtung marschiert“ seien.72 „Im Gänsemarsch. Kein Kampf. Ein ganzes Volk ohne Kampf. Ich bin Israeli. Hör zu. Wozu bin ich Israeli? Ich schäme mich.“ (DS 7 f.) Raffi stellt dieser abwertenden Einschätzung einer passiven, widerstandslosen einheitlichen Gruppe ‚der Juden‘ sein eigenes imaginiertes Verhalten gegenüber, das ein martialisches Verständnis von Widerstand grundiert: „Ich geh mit einer Kugel, versteht ihr. Mit einer Kugel in meiner Pistol. Sechs Kugeln in der Pistol. Fünf nehm ich mit, die sechste für mich. Vor der Gaskammer. Als Fanal.“ (DS 7) Der ‚junge Häftling‘ stimmt ihm zu mit den Worten „Yeah. So hätten wir es damals alle tun sollen. Nicht mir nichts, dir nichts …“ (DS 7). Raffis Behauptung, er hätte „mit allem gekämpft. Auch mit der Steinschleuder“ (DS 9), relativiert Willy Klangs Biografie kontrapunktisch: „Unser Gewehr war ein gutes Versteck. Unser Panzer ein Affidavit, unsere Stalinorgel ein Einreisevisum nach Amerika. Und unsere Steinschleuder war die Güte eines Gestapobeamten, eines SS-Mannes, eines Wehrmachtsoffiziers“ (DS 9), erklärt er ruhig, doch eskaliert der Konflikt in den nächsten beiden Repliken: Raffi: Und die Handgranate war der Verrat der eigenen Leut. Alter Häftling: (brüllt) Bist du verrückt? Scheißt du auf uns? Scheißt ihr auf uns?

72 Der Satz „Brüder, gehen wir nicht mehr wie die Schafe zur Schlachtbank!“ war laut Hilberg der Aufruf der jüdischen Kampforganisation in Warschau vom 27. Januar 1943 der Vereinigten Antifaschistischen Organisation in Bialystok vom 16. August 1943 und die erste Zeile eines Appells aus dem Untergrund an die jüdische Bevölkerung in Wilna während des Winters 1941/42. Vgl. Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 1108.

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4. Mediatisierung und Judenräte

Ich war in Ebensee, hörst du, Ebensee. Du Grünschnabel. Keine Ahnung hast du. Ihr alle nicht. Ihr Superzionisten. Auf unseren Knochen habt ihr euer Land errichtet. Jetzt scheißt ihr auf uns? Bist du völlig verrückt geworden? Raffi: Niemand scheißt auf euch. Beruhige dich Alter Häftling HÄFTLING: Wegen solchenen wie dir haben wir den Hitler überlebt? Junger Häftling HÄFTLING: Schon. Auch. Oder? Raffi: Jawoll. Wenigstens wegen solchenen wie wir. Was tätst du ohne Israel? Alter Häftling HÄFTLING: Was tu ich mit Israel? (DS 9)

Schindel führt in diesem Wortgefecht eine zentrale Inkongruenz erstens zwischen zwei Geschichtsbildern und zweitens zwischen zwei Formen des Gedächtnisses vor; beide betreffen die Differenz zwischen der Erfahrung der Zeitzeug*innen und deren nachträglicher Vermittlung. Sie zeigen sich an einander diametral entgegengesetzten Vorstellungen sowohl von Spielformen als auch von Möglichkeiten von Widerstand. In diesem Streitgespräch verdichtet Schindel diverse Anspielungen auf diskursgeschichtliche Positionen zum Thema ‚jüdischer Widerstand‘: Sie betreffen Verweise auf die Staatsgründung Israels (s. unten); auf die in vielen Widerstandsdiskursen topoisierte Rede von den Schafen, die sich widerstandslos zur Schlachtung führen lassen (vgl. Anm. 72); auf die Kontinuität jüdischer Gemeinschaft („wegen solchenen wie dir haben wir den Hitler überlebt?“); auf die Annahme einer homogenen Gruppe von ‚Juden‘ in Europa vor Beginn der nationalsozialistischen ­Verfolgung („ein ganzes Volk ohne Kampf “) und schließlich die Geschichte des KZ-­Außenlagers Ebensee (s. unten). Ihnen gilt der folgende Exkurs, der das komplexe diskursive Bezugsfeld von Dunkelstein skizziert. Allen voran gilt es, die Annahme eines homogenen Judentums vor, während sowie nach der Shoah, auf die das Drama mehrfach rekurriert, zu betrachten – es ist doch nicht zuletzt der Absenz einer derartigen Einheitlichkeit geschuldet, dass sich bei der Organisation von Widerstand in der Praxis signifikante Hürden darboten. Aus der Perspektive des Historikers erklärt Rabinovici im Nachwort zu Dunkelstein: Die „Vorstellung, die jüdische Minderheit hätte inmitten der deutschen und österreichischen Gesellschaft als souveräne Einheit agieren und gegen sie vorgehen können, entspricht dem Klischee, das Judentum wäre ein homogener Block gewesen, eine Verschwörungszentrale, abgesondert und hierarchisch strukturiert.“73 „Ein ganzes Volk ohne Kampf. Ich bin Israeli. Hör zu. Wozu bin ich Israeli?“ (DS 9), klagt Raffi die Toten wie die Überlebenden der Shoah an. Die Figur verkennt damit nicht nur die Realität des europäischen Judentums vor dem Geno73 Rabinovici: Nachwort zu Dunkelstein, S. 118.

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zid, sondern setzt mittels der identitätspolitisch aufgeladenen Kategorie ‚Israeli‘ ebenfalls einen homogenen Block israelischer Jüd*innen voraus. Dabei ist diese Annahme auch für den jungen israelischen Staat der 1950er Jahre irrig, wie ein Blick auf die israelische Sozialgeschichte zeigt: Die Verflechtung von Legitimierungen der israelischen Staatsgründung (14. Mai 1948) auf der einen und Vorstellungen von kollektiver israelischer Identität samt deren Zusammenhang mit der Shoah auf der anderen Seite wird in der oben zitierten Szene aus Dunkelstein virulent, wenn vor allem Raffi wiederholt eine Dichotomie zwischen heldenhaft kämpfenden Israelis und feigen Shoah-Opfern präsupponiert. Die israelische Unabhängigkeitserklärung etwa setzt einen Zusammenhang zwischen ‚heldenhaftem Widerstand‘ und Staatsgründung ins Bild, wenn es dort heißt: The catastrophe which recently befell the Jewish people – the massacre of millions of Jews in Europe – was another clear demonstration of the urgency of solving the problem of its homelessness by re-establishing in Eretz-Israel the Jewish State, which would open the gates of the homeland wide to every Jew and confer upon the Jewish people the status of a fully privileged member of the community of nations. Survivors of the Nazi holocaust in Europe, as well as Jews from other parts of the world, continued to migrate to Eretz-Israel, undaunted by difficulties, restrictions and dangers, and never ceased to assert their right to a life of dignity, freedom and honest toil in their national homeland. In the Second World War, the Jewish community of this country contributed its full share to the struggle of the freedom- and peace-loving nations against the forces of Nazi wickedness and, by the blood of its soldiers and its war effort, gained the right to be reckoned among the peoples who founded the United Nations.74

Das Argument, mit dem Beitrag der ‚jüdischen Gemeinschaft‘ („Jewish community“) zum Kampf gegen den Nationalsozialismus habe diese das Recht erworben, von den Vereinten Nationen anerkannt zu werden, streicht die Bedeutung eines heldenhaften Kampfes („The blood of its soldiers and its war efforts“) gegen den Nationalsozialismus für zionistische Anliegen heraus. Der aktive Kampf der „Jewish community of this country“, also der Israelis, steht neben der Notwendigkeit eines jüdischen Staates, um den Shoah-Überlebenden und anderen Jüd*innen ein würde- und friedvolles Leben zu garantieren. Beachtlich ist, dass ein zentrales Argument für die Notwendigkeit der Anerkennung Israels durch die UN neben der Shoah auch der bewaffnete Kampf gegen die

74 Declaration of Establishment of State of Israel. Veröffentlicht vom Israelischen Außenministerium. URL: http://www.mfa.gov.il/mfa/foreignpolicy/peace/guide/pages/declaration%20of%20 establishment%20of%20state%20of%20israel.aspx [2.4.2021].

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4. Mediatisierung und Judenräte

NS-Diktatur ist.75 Shoah-Überlebende auf der einen, heldenhafte Kämpfer*innen auf der anderen Seite – in der Unabhängigkeitserklärung gleichberechtigt nebeneinanderstehend, ist die zugrundeliegende Annahme eines homogenen Judentums im jungen Staat Israel aus sozialgeschichtlicher Perspektive hingegen als nicht haltbar. Hanna Yabklonka hat auf den bis in die 1960er Jahre greifenden „trennenden Unterschied von Israelis und europäischen Juden“76 hingewiesen – ein konzeptueller Unterschied von schwachen Shoah-Überlebenden als marginalisierte Einwanderer und heldenhaften Israelis, die den Unabhängigkeitskampf geführt hätten. Erst infolge des Eichmann-Prozesses und der darin gewichtigen Rolle der Zeug*innenenaussage von Überlebenden (vgl. Kapitel 1.6) nivellierte er sich, sodass die bis dahin geltende qualitative Unterscheidung von Diaspora-Jüd*innen und jungen Israelis abgelöst wurde von der Vorstellung eines Kontinuums von jüdischem Heldentum. Voraussetzung für diese einschneidende konzeptionelle Veränderung in der israelischen Gesellschaft war nicht zuletzt ein umgeformtes Bild von Widerstand, das nicht mehr an bewaffneten Kampf gebunden war, sondern auch Aktivitäten wie die Investition in Bildung in Ghettos inkludierte.77 Die Bedeutung eines israelischen Widerstandsnarrativs, das die Eichmann-Verteidigung in ihre Argumentation eingebunden habe, kritisiert Arendt in Eichmann in Jerusalem: Der Prozess habe darauf abgezielt, „die Juden in der Diaspora“ daran zu erinnern, dass „der Verfall des jüdischen Volkes in der Diaspora damit geendet habe, daß sie schließlich wie die Schafe in den Tod gingen und daß erst die Erreichung eines jüdischen Staates es Juden ermöglicht habe, sich zur Wehr zu setzen und zu kämpfen“. Auf diese Weise sollte „den Juden außerhalb Israels der Unterschied zwischen israelischem Heldentum und jüdischer Ohnmacht demonstriert werden“.78 Dieser sozialhistorische Exkurs zum konzeptionellen Unterschied zwischen Israelis und europäischen Shoah-Überlebenden in Israel sowie zu Verflechtungen diverser Diskursstränge zum Thema ‚Widerstand‘ führt zurück zu Dunkelstein und ermöglicht es, die Eingangssequenz weiter zu erschließen. Die bereits zitierte Replik des alten Häftlings sei wiederholt: „Bist du verrückt? Scheißt du auf uns? 75 Eine auffällige zeitliche Korrelation zu diesen Argumentationslinien lässt sich in einer neuen Richtung von Shoah-Historiografie im Israel der 1950er Jahre finden, deren Hauptinteresse der Erforschung von jüdischem bewaffnetem Widerstand und ‚Heldentum‘ galt. Vgl. Michman: Die Historiografie der Shoah aus jüdischer Sicht, S. 264. 76 Yablonka, Hanna: „Die Bedeutung der Zeugenaussagen im Prozess gegen Adolf Eichmann“. In: Sabrow, Martin/Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen: Wallstein 2012, S. 176–198, hier: S. 185. 77 Vgl. ebd., S. 186–189. 78 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. München, Berlin: Piper 2016, S. 78.

4.3 Judenräte im diskursiven Feld

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Scheißt ihr auf uns? […] Keine Ahnung hast du. Ihr alle nicht. Ihr Superzionisten. Auf unseren Knochen habt ihr euer Land errichtet. Jetzt scheißt ihr auf uns? Bist du völlig verrückt geworden?“ (DS 9). Die Pronomina („Scheißt du“ – „Scheißt ihr“) markieren ebenso eine Verschiebung von einem individuellen zu einem kollektiven Narrativ wie die Replik „Keine Ahnung hast du. Ihr alle nicht.“ Der dahingehend etablierte Kontrast zwischen Shoah-Überlebenden, die der alte Häftling repräsentiert („wir“), und Israelis, die Raffi repräsentiert („ihr“, „Superzionisten“) spitzt sich in dem Satz zu: „Auf unseren Knochen habt ihr euer Land errichtet.“ Dieser Wortwechsel markiert damit die Differenz zwischen zwei komplementären identitätspolitischen Narrativen, welche die Figuren Raffi und ‚alter Häftling‘ verkörpern und in die divergierende Konzeptionen von Widerstand hineinspielen: Raffis enger Widerstandsbegriff fokussiert bewaffneten Widerstand, während der alte Häftling einen weiten Widerstandsbegriff vertritt. Die Position des ‚alten Häftlings‘ indiziert seine Inhaftierung in Ebensee. Dort widersetzten sich am 5. Mai 1945 die Häftlinge erfolgreich dem Befehl des Lagerleiters, in die Stollen zu gehen,79 als das Lager ‚evakuiert‘ werden sollte (der Weg in die Stollen hätte wohl ihren Tod bedeutet80). Die Befreiung des Lagers am darauffolgenden Tag erlebten somit über 16.000 Menschen.81 Befehlsverweigerung unter extremer Gewaltanwendung muss für die Figur ‚alter Häftling‘ als widerständische und lebensrettende Handlung gelten. Für die moralische Beurteilung des Handelns von jüdischen Funktionären hat Hauff dargelegt, wie „das jüdische Bewusstsein“ in den unmittelbaren Nachkriegsjahren geprägt war „durch die Dichotomie von Widerstand und Kollaboration als die zentralen Aspekte des jüdischen Handelns während der nationalsozialistischen Verfolgung“.82 Diese Dichotomie zeigt Schindel nicht nur in dem angesprochenen Konflikt auf der Zeitebene der Gegenwart über die retrospektive Beurteilung jüdischen Verhaltens während der Shoah, sondern bezüglich der Zeitgenossenschaft von jüdischen Funktionären auch auf der Zeitebene der Jahre 1936–1945. Nachdem sich an der zweiten Szene des Prologs somit gezeigt hat, wie Schindel das streitbare thematische Feld von Dunkelstein eröffnet, steht im Folgenden die Figur Dunkelstein im Fokus, um zu zeigen, wie Schindel einen jüdischen Funktionär zu einem emanzipierten Sprechenden im Sub-Feld der Shoah-Lite79 Vgl. Verein Widerstandsmuseum Ebensee (Hg.): Konzentrationslager Ebensee. Gedenkausstellung. Ebensee: Verein Widerstandsmuseum Ebensee 1997, S. 84. 80 Vgl. „Kurzgeschichte KZ Ebensee“. In: Zeitgeschichte Museum Ebensee, KZ-Gedenkstätte Ebensee. URL: https://memorial-ebensee.at/website/index.php/de/geschichte/19-konzentrationslager/6-kz-ebensee [2.4.2021]. 81 Verein Widerstandsmuseum Ebensee: Konzentrationslager Ebensee, S. 88. 82 Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 33.

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ratur macht. Diese neuartige Sprecherperspektive ermöglicht es, Handeln zwischen nationalsozialistischen Befehlen, der Auswanderungsorganisation sowie der Aufrechterhaltung jüdischer Fürsorgestrukturen differenziert ins Bild zu setzen.

4.4 Literarisierung von Judenräten und agency Die Eingangssequenz des Dramas, vom auf dunkler Bühne sitzenden Dunkelstein „zum Publikum“ gesprochen, sei wiederholt: „Ich bin Saul Dunkelstein, Rabbiner, Funktionär. In mir sehen Sie den Letzten der Ungerechten, ich bin der Übriggebliebene, auf den euer Hass geht. Und das ist die Geschichte.“ (DS 7) Emphatisch setzt Schindel die subjektive Sprecherposition jener Figur ins Zentrum, die er in weiterer Folge als präjudiziert zeigt, und öffnet die Kluft zwischen emanzipiertem Sprechen und externen Zuschreibungen bereits im ersten Satz, wenn dem ‚Ich‘ ein nicht näher bestimmtes Gegenüber („euer Hass“) entgegensteht. Diese Kluft steht in diesem Kapitel ebenso im Fokus wie eine Analyse von Ermächtigungsstrategien in Dunkelstein und von zeitgleich entstandenen Literarisierungen von Judenräten. Bemerkenswert an dem zitierten Dramenbeginn ist vorderhand ein neuerlicher Rückgriff auf Murmelstein-Diskurse, nämlich das darin mittlerweile topoisierte Attribut „Der Letzte der Ungerechten“,83 das Murmelstein bereits 1963 gebrauchte: Auf den oben zitierten Briefwechsel zwischen Arendt und Scholem reagierte Murmelstein in der NZZ mit der Erwiderung „Das Ende von Theresienstadt. Stellungnahme eines Beteiligten“. Darin heißt es: „Als der einzige am Leben gebliebene Judenälteste aus der Zeit des Dritten Reichs bin ich, um den Titel eines bekannten Romans zu paraphrasieren, ‚der Letzte der Ungerechten‘.“84 Die Bezeichnung rekurriert auf eine jüdische Legende, laut derer die selbstlosen Taten von 36 namenlosen Gerechten auf Erden vor Gott die Existenz der Menschheit rechtfertigen und sie damit vor dem Untergang bewahrten. In der Kulturgeschichte der Shoah hat die Legende in der Allee der Gerechten unter den Völkern in Yad Vashem Eingang gefunden: Wie die legendenhaften 36 Gerechten in Notlagen Jüd*innen retten, ehrt dort Yad Vashem jene, die unter Gefährdung des eigenen Lebens uneigennützig Jüd*innen vor dem Genozid gerettet haben. Literarische Spuren der Legende führen etwa zu Rose Ausländers Gedichtzyklus 36 Gerechte (1967), vor allem jedoch zu André Schwarz-Barts Roman Le Dernier 83 Vgl. etwa Lanzmanns Film oder den Titel des Sammelbandes von Loewy und Rauschenberger (Loewy/Rauschenberger: „Der Letzte der Ungerechten“. Der „Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942–1975). 84 Murmelstein: „Das Ende von Theresienstadt. Stellungnahme eines Beteiligten“, S. 25.

4.4 Literarisierung von Judenräten und agency

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des Justes (1959; dt. Der letzte der Gerechten), auf den Murmelstein sich in seiner „Stellungnahme“ bezieht. Dieser erzählt die Familiengeschichte der Lévys vom 12. Jahrhundert bis zur Shoah, gezeichnet von Verfolgung, Pogromen und Genozid. Mit der Selbstbezeichnung „Letzter der Ungerechten“ lässt Schindel seinen Dunkelstein also die eigene Position in einem Diskurs reflektieren. Diese selbstreflexive Metaebene teilt die Dunkelstein-Figur mit Taboris Überlebenden in jenen Passagen in Die Kannibalen, in denen sie aktiv ihre Position als musealisierte Artefakte zurückweisen (vgl. Kapitel 3.3 „Unsere Latrinen / Sind bereits Denkmäler, unsere Knochen kennt eine ganze Welt“). Ausgehend von dieser Reflexion im Prolog zeigt Schindel Dunkelstein als selbstbestimmte Figur und löst sie aus festgeschriebenen diskursiven Mustern. Dies betrifft erstens die Konzeption Dunkelsteins als autonom sprechende Figur: Die Möglichkeit, sich öffentlich zu erklären, wollte man der realhistorischen Person Murmelstein als einzigem überlebenden realhistorischen Judenältesten nicht zugestehen – weder wurde seinem Wunsch nachgekommen, im Eichmann-Prozess auszusagen, noch integrierte Lanzmann das Interview mit ihm in Shoah (erschienen wenige Jahre vor Murmelsteins Tod). Dass Schindel seiner literarisierten Figur eine solche Sprechmöglichkeit zugesteht, wird als emanzipatorische Darstellungsstrategie sichtbar, da Schindel seine Judenrat-Figur damit aus einem fast ausschließlich fremdbestimmten Diskurs löst. Das Drama zeigt Dunkelstein in kürzeren Dialogszenen, denen Schindel zwei längere Monologe an die Seite stellt. Die dialogischen Szenen zeichnen Dunkelsteins Werdegang in der IKG nach, die Entstehung der ‚Zentralstelle‘ und ­Dunkelsteins dortigen Alltag; sie charakterisieren ihn als cholerischen, doch scharfsinnigen Pragmatiker; sie zeigen Dunkelstein im Gespräch mit Gemeindemitgliedern oder SS-Männern und geben solcherart Einblick in seinen Arbeitsalltag. Dahingegen eröffnen die Monologe Einsichten in die Figur und vermitteln Einblick in Gewissenskonflikte: Die Predigt in einer Wiener Synagoge 1937 sowie ein zweiter Monolog, der Dunkelstein im inneren Konflikt mit seiner Position zeigt, wird nach dem nun folgenden Blick auf zwei ausgewählte Dialogpassagen betrachtet. Ein Konflikt zwischen Dunkelstein und Amtsdirektor Leonhardt85 zeigt divergierende Perspektiven jüdischer Funktionäre auf die systematische Vertreibung. Während Leonhard die angeordnete Auswanderung von 40.000 Jüd*innen innerhalb von 14 Tagen für unmöglich erachtet und Wert auf die Fortführung aller bisherigen Aktivitäten der Kultusgemeinde legt, plädiert Dunkelstein für bürokratische Umstrukturierung und Fokussierung auf Emigration. Seiner Ansicht nach soll das 85 Der realhistorische Amtsleiter der IKG hieß Josef Löwenherz; die namentliche Analogie ist wie bei Sturmbannführer Linde (Adolf Eichmann nachempfunden) augenfällig.

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Ziel aller Aktivitäten des Amtes sein: „Ausreise. Legal. Illegal. […] Drei Schwerpunkte: erstens Ausreise, zweitens Ausreise, drittens Fürsorge mit allem Drum und Dran. Nix sonst.“ (DS 45) Solche und ähnliche dialogische Szenen, in denen Dunkelstein spricht, spiegeln exemplarisch die im vorigen Kapitel beschriebenen Aufgabenbereiche der realhistorischen IKG – etwa die Bemühungen, Ausreiseinstanzen in einer ‚Zentralstelle‘ zu konzentrieren oder ausländische Gelder zu akquirieren. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten auch unter jüdischen Figuren zeigen, wie uneins auch jüdische Funktionäre hinsichtlich ihrer Verhaltensweisen waren. Als zweiter, ebenfalls konfliktgeladener Dialog sei nun eine Begegnung Dunkelsteins mit einem Gemeindemitglied zitiert: Inseratenhändler Blum ersucht Dunkelstein, dieser möge ihm „täglich die Namen und Adressen der angemeldeten Todesfälle“ überlassen, damit ihm „durch Entgegennahme und Unterbringung der Parten in der Zeitung Neue Freie Presse ein bisschen Verdienstmöglichkeiten geboten“ (DS 59) werden. Als Dunkelstein seine Bitte grob abschlägig beantwortet, verlässt Blum Dunkelsteins Büro mit den Worten „Schönen Dank, Herr Doktor Dunkelschwein“ (DS 60) und erschießt sich vor der Türe. In der darauffolgenden Szene rechtfertigt Dunkelstein gegenüber dem jungen Willy Klang seine Entscheidung: Ich konnte prinzipiell seiner Bitte nicht entsprechen. […] Jüdische Todesfälle dürfen doch in der Einheitspresse nicht annonciert werden. Es soll doch kein Mitgefühl in der österreichischen Bevölkerung geschürt werden. […] Ich muss mich doch, wie wir alle, an die Anordnungen halten. Wenn ich mich nicht daran halte, aber das vergisst du mir gleich wieder, muss es sich auszahlen. (DS 61)

Schindels Dunkelstein erhält hier die Möglichkeit – anders als Murmelstein im Eichmann-Prozess oder in Shoah – seine Entscheidungen autonom und unabhängig zu erklären. Nun hat die Analyse von Die Kannibalen dargelegt, wie die fließenden Übergänge zwischen den Zeitebenen der Gegenwart und der erinnerten Vergangenheit dazu beitragen, die Figuren aus einer durch diskursive oder museale Praktiken bedingten Passivität zu emanzipieren – Taboris Figuren können sowohl als sie selbst als auch über sich selbst sprechen und ihre eigenen Erlebnisse verschieden perspektivieren. Darin hat sich die Bedeutsamkeit der Emanzipation von Überlebenden als autonom Sprechende in Die Kannibalen gezeigt. Das Verhältnis zwischen den beiden Zeitebenen in Dunkelstein muss allerdings anders verstanden werden, denn mit Ausnahme der Figur Willy Klang stehen einander auf den beiden Zeit- und Handlungsebenen agierende Figuren und Diskurse über Figuren und Widerstandsmöglichkeiten gegenüber. Zu den Diskursen über Dunkelstein zählen etwa folgende auf der Zeitebene der Gegenwart geäußerte (Kollaborations-)Vorwürfe: „Saul Dunkelstein, den sie

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Dunkelschwein genannt hatten“ (DS 10) – „Was hat er [Dunkelstein] getan außer gefressen und gebetet und kollaboriert?“ (DS 16) – „Ihr selbst habt euch noch auf die Deportationslisten geschrieben. Ein Jud hat den anderen ins Gas geschickt.“ (DS 8) Komplementär zu diesen diskursiven Festschreibungen zeigt Schindel auf der vergangenen Zeitebene die tatsächlichen Umstände, unter denen Dunkelstein seine Funktion ausübte – retrospektive Annahmen über mangelndes widerständisches Handeln und das Ausloten von tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten werden dergestalt gegeneinandergestellt. Der Wechsel der Zeitebenen und der Sprechenden indiziert damit die Kluft zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung, zwischen selbstbestimmtem, autonomem Sprechen und Zuschreibungen von außen. Die getrennt geführten Zeit­ ebenen bedingen in dieser Hinsicht über weite Strecken eine konzeptuelle Trennung zwischen verschiedenen Sprecher*innenpositionen, in der kommunikatives Gedächtnis und vermittelte Vergangenheit einander gegenüberstehen. Die konzeptuell getrennten Zeitebenen indizieren damit auch eine klare diskursgeschichtliche Trennung zwischen jenen Szenen, in denen Dunkelstein emanzipiertes Sprechen zugestanden wird, und jenen Szenen, in denen andere für ihn als aus dem kommunikativen Gedächtnis verschwundene Figur sprechen – Stellvertreterschaft durch seinen ehemaligen Mitarbeiter Willy Klang, der auf beiden Zeitebenen auftritt, und Stellvertreterschaft durch die filmische Mediatisierung. Dunkelsteins Möglichkeit, als emanzipiert Sprechender seine Perspektive zu artikulieren, bieten vor allem dialogische konfliktgeladene Szenen; darüber hinaus geben die beiden längeren Monologe Dunkelsteins Gewissenskonflikten und Zweifeln Raum. Der erste Monolog – eine 1937 gehaltene Predigt – setzt Dunkelsteins Konflikt zwischen rabbinischer Weltanschauung und zukünftiger Funktion in der IKG avant la lettre ins Werk. Sie beginnt mit einem Zitat aus dem dritten Buch Mose: „Steh nicht unnötig da, wenn dein Nächster blutet“ (DS 21; Levitikus 19,11–18). Ausgehend von dieser moralisch-normativen Verhaltensregel nimmt das folgende Gedankenexperiment zukünftiger Aufgaben jüdischer Funktionäre vorweg: Wenn ich sehe, dass ein Mensch Einen anderen töten möchte, habe ich da Etwas zu tun? Was ist meine Wahl? Soll ich wegschauen? Derjenige, der einen anderen morden will, Ist ein Rodef, ein Verfolger. Mir ist erlaubt, ihn zu stoppen. Mir ist erlaubt, ihn zu töten, bevor er

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Einen dritten tötet, denn er ist ein Rodef.86 Doch wenn der mir einen Revolver An die Schläfe setzt und mir befiehlt, Einen Dritten mit meinem Revolver zu erschießen, Darf ich das nicht tun, denn mein Blut Ist nicht röter als das des Dritten. Ich werde Mich Erschießen lassen müssen. Schwere Tage kommen auf uns zu, meine Lieben. (DS 21 f.)

Die scheinbar eindeutigen Gebote für moralisch richtiges Verhalten erweitert Dunkelstein in seiner Predigt schrittweise zu komplexeren Argumentationszusammenhängen (die verbleibende Predigt übersetzt dieses Dilemma in das ­Genre der Parabel), wodurch in der Struktur des Dramas die Belastung und Widersprüchlichkeit seiner späteren Arbeit in der ‚Zentralstelle‘ vorweggenommen wird. Diese Widersprüchlichkeit zeigt Schindel in Dunkelsteins zweitem längeren Monolog als Gewissenskonflikt, ausgelöst von der Erkenntnis, dass die Organisation der ‚Umsiedelung‘ von Menschen nach Minsk deren Tod bedeutet: „Der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. / Bin ich Saul Dunkelstein, der Mann der Tat, / Auch der Mann des Tods? Bin ich der Mann des Mords?“ (DS 84). Im Folgenden fragt Dunkelstein etwa, unter welchen Umständen er Menschen von Deportationslisten reklamieren darf („Helene, du bist so krank, hier / Kannst du nicht überleben, ists nicht besser, / du reist nach Lodz, und die gesündre Freundin / Bleibt da“, DS 86) und stellt seine Entscheidungsgewalt in Frage („Was hab ich zu entscheiden? Was kann ich da schon / Groß noch tun.“, ebd.). Der Kern dieses Monologs lässt wiedererkennen, was Dan Diner beschrieben hat: Jüdische Funktionäre „were allowed just enough social normality and the semblance of political will so as to nurture the illusion that they could act in furtherance of their own survival“ (s. oben). Den Monolog setzt Schindel nicht nur durch die Linksbündigkeit von den vorhergehenden und den folgenden Szenen ab, sondern die zentrale intertextuelle Referenz auf Hamlet verleiht ihm auch eine spezifische literarische Qualität: „Was hab ich zu entscheiden? Was kann ich da schon / groß noch tun. […] Über86 In der Gemara, dem Traktat Sanhedrin, findet sich als Erweiterung bzw. Relativierung des von Dunkelstein zuvor zitierten Thora-Verses aus dem dritten Buch Mose das Gesetz des Din Rodef (vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin, VIII, vii). Dass die Auslegung des Din Rodef praktische Anwendung findet und damit über eine theologisch-exegetische Debatte hinausgeht, zeigt die Ermordung des israelischen Premierministers Yitzhak Rabin. Er war infolge seiner Unterzeichnung des Oslo-Friedensprozesses von rechtsextremistischer israelischer Seite als ‚Rodef ‘ gebrandmarkt und 1995 ermordet worden.

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leben oder Nichtüberleben / Laut: Nichtsein oder Nichtsein / Das ist in diesem Leben hier wohl keine Frage / Ist täglich Antwort: Nichtsein. / Tägliche Antwort: Mord. / Und ich der Semaphor / Zum Tode, warum ich?“ (DS 86) Schlussendlich ist es, und auch dies ist Thema des zweiten Monologs, allerdings auch Machtaffinität, die Dunkelstein in seiner Funktion hält: Ich liebe dein Gebot Und tus [d.h. weitermachen, JÖ] Für dieses arme Volk, Für meins, und muss es tun Auch für mich selbst. […] Und hab ein bisschen Macht. Saul, blöder, eitler Kerl, Und die gefällt dir doch. (DS 88 f.)

In Schindels differenzierte Darstellung von Dunkelstein fließt der theologische Hintergrund der Figur ein – gerade die Predigt reflektiert auch Dunkelsteins intellektuelle Kompetenz (Exegese theologischer Texte) sowie Vertrautheit mit sprachlicher Differenzierung –, die in weiterer Folge mit der Appropriation nationalsozialistischer Logik kämpft: Und meine Leut und ich sollen herausstreichen, Wer zu alt, zu jung, zu unentbehrlich, zu reich, Zu nah, und hat noch Privilegien. […] Doch wen rett ich, wenn ich wen retten kann, […] Einen Künstler? Denn der ist mehr wert Als der Schuster Oder umgekehrt? Das Weib statt Mann, die Tochter statt des Sohns? Den Schneider statt des Dichters?“ (DS 87)

Das Hadern der Figur mit dieser Appropriation verweist auf die Logik der ‚Gegenrationalität‘ (Dan Diner): Judenräte seien in eine „Handlungsfalle“ geraten, weil sie sich „alternativlos nur noch auf die letzte Instanz gesellschaftlich begründeten Handelns verlassen mussten – die der amoralischen Interessensverfolgung.“87 87 Diner, Dan: „Jenseits des Vorstellbaren – der ‚Judenrat‘ als Situation“. In: „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Getto in Lodz 1940–1944. Hg. vom Jüdischen Museum im Auftrag der Stadt Frankfurt am Main, Dezernat Kultur und Freizeit, Amt für Wissenschaft und Kunst, Ausstellungskatalog Jüdisches Museum. Frankfurt und Wien 1990, S. 32–40, hier: S. 40. Zit. nach Hauff: Zur

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Rationale Verhaltensschemata müssen scheitern, wenn sie auf irrationales Verhalten reagieren, da sich in der Realität des Genozids alle Formen von Rationalität zwangsläufig als Illusion erweisen mussten. Waren Judenräte gezwungen, jenseits der Grenzen von Vernunft und Rationalität zu agieren, führte dies jeden rationalen Handlungsentscheid ins Unmögliche. Diesen Aspekt der ‚Gegenrationalität‘ setzt Schindel in Dunkelstein ins Bild, als die Nationalsozialist*innen jüdische ‚Rechercheure‘ rekrutieren, um „zu Deportierende zum Sammellager zu bringen“ und „Untergetauchte aufzuspüren“ (DS 97), was Dunkelstein folgendermaßen rechtfertigt: „Das muss so sein. […] Die Listen dürfen nicht willkürlich durch die SS aufgefüllt werden, weil sich ein Jud, der auf der Liste steht, versteckt. Wir kriegen zusätzlichen Terror, und es marschiert statt dem Versteckten irgendeiner, womöglich einer, den wir retten könnten.“ (DS 97) Schindel zeigt Dunkelsteins Argumentation als Konsequenz eines historischen und psychologischen Prozesses und ihn damit als Figur, die sich schrittweise der Logik ihrer Funktion unterordnet. Ähnlich wie Tabori in Die Kannibalen den Shoah-Opfern Selbstermächtigung zugesteht, ermöglicht auch Schindel Dunkelstein Sprechen über die eigene historische Rolle. Anstatt einen bestehenden Diskurs fortzuschreiben und typisierte Bilder von Judenräten zu zementieren, ermöglichen selbstermächtigtes Sprechen in Dialogpassagen sowie introspektive Selbstreflexion in den Monologen es, Ambivalenzen herzustellen. Sie lassen sich zwischen der ‚Gegenrationalität‘ der Figur Dunkelstein und ihrer Affinität zu Macht auf der einen und der Hoffnung, Menschen retten zu können, auf der anderen Seite beschreiben. Gerade der zweite Monolog konzentriert dabei den Blick vermehrt auf Dunkelstein selbst; während er in den Eingangsszenen als Projektionsfläche diverser (Vor-)Urteile gezeigt wurde, können die zitierten Dialogpassagen und Monologe als Momente der Ermächtigung verstanden werden. Das Herstellen von Ambivalenzen und die ausführlich sprechende Figur als Ermächtigungsstrategie sind zentrale Aspekte, in denen sich Dunkelstein von zwei ungefähr zeitgleich entstandenen Literarisierungen von Judenräten absetzt – sie seien abschließend betrachtet. Im zeitlichen Umfeld der ersten szenischen Lesung (2009) und der Buchveröffentlichung von Dunkelstein (2010) erschienen der Roman Die Elenden von Łódź (schwed. 2009, dt. 2011) des schwedischen Romanciers Steve Sem-Sandberg, dessen Arbeiten sich wiederholt historischen Themen widmen,88 und Die Fliegenfängerfabrik (poln. 2008, dt. 2011) des polnischen politischen Rolle von Judenräten, S. 50. 88 Etwa erzählt der Roman Ravensbrück (2003) von der in Ravensbrück ermordeten Milena Jesenská und der Roman Die Erwählten (2015) von den Euthanasie-Morden in der Wiener NS-Jugendfürsorgeanstalt ‚Am Spiegelgrund‘.

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Autors Andrzej Bart. Diese literaturgeschichtliche Koinzidenz ist angesichts der geringen Anzahl von literarischen Texten über Judenräte auffällig. Bevor die um die Jahrtausendwende entstandenen Romane betrachtet werden, sei als frühes Beispiel für eine Literarisierung einer Judenrat-Figur der Roman Der Judenkönig des US-Amerikaners Leslie Epstein89 genannt, der von der Forschung überraschenderweise kaum beachtet wurde. Einer der Protagonisten ist I.C. Trumpelman, unverkennbar nach Chaim Rumkowski modelliert. Die Erzähl­ instanz, deren Naivität und Unbefangenheit gegenüber Gewalttaten die Tradition des Schelmenromans zitiert, versucht nicht, historische Zusammenhänge darzustellen, sondern erzählt manchmal nebensächlich scheinende Episoden aus der Geschichte des Ghettos und vermittelt so schlaglichtartige Blicke auf die Figur. Etwa berichtet der Erzähler, wie Trumpelman legendenhaft Menschen aus einem brennenden Haus im Ghetto rettet – folgende längere Szene vermittelt den Ton des Romans sowie die Figurenzeichnung: In diesem Moment, als kaum noch Hoffnung für die im brennenden Haus Eingeschlossenen bestand, traf Isaiah Trumpelman auf dem Koscielnyplatz ein. […] Der Älteste stand aufrecht und trotz der bitteren Kälte ohne Hut. Neisel bemerkte, wie die Flammen sein Gesicht erleuchteten und sich in seinen Brillengläsern spiegelten, so daß es einen Augenblick lang schien, als lodere das Feuer nicht außerhalb, im Gebäude, sondern in Trumpelmans Hirn. Dann fing das Haus Nummer 80 über ihrer aller Köpfe sichtbar an zu zittern, als wolle es auf die Knie niederfallen. […] Und gerade, als jedem klar wurde, daß es keine Möglichkeit gab, es [das im Haus verbliebene Kind, JÖ] zu retten, schritt I.C. Trumpelman in das brennende Haus. Es verging eine Minute nach der anderen. […] Teile des Gebäudes brachen auseinander und fielen mit lautem Krachen und dumpfem Aufschlag in Trümmer. Funken flogen wie unzählige menschliche Seelen in den schwarzen Himmel. Auf der Erde beteten die Juden für die Rückkehr ihres Präsidenten des Judenrats. […] Nach einer halben Stunde kam ein Ton wie ein Stöhnen, wie ein Mensch, der seufzte; es war jedoch das Gebäude selbst, seine Balken oder der kahle, durch sie hindurchfegende Wind, der das Geräusch verursachte. Dann sackte und kippte und schwankte der ganze Bau, alle vier Stockwerke. Der Ratsälteste schritt heraus. Nicht versengt. Nicht verrußt. Lodernde Holzteile stürzten um ihn herum zusammen, aber keiner traf ihn. Seinen Kamelhaarmantel hatte er abgenommen und um den Einhorn mit Namen Herschel [das im Haus verbliebende Kind, JÖ] gewickelt, dessen Brüder, ach, mit den Eltern und Großeltern zu Asche verbrannt waren. (Judenkönig, S. 83–85)

89 Epstein, Leslie: Der Judenkönig [The King of the Jews, 1979]. Hamburg: Hoffmann und Campe 1980. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Judenkönig.

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Neben solcherart mythischen Passagen zeichnet den Roman auch eine Vorliebe für das Absurde aus – etwa wenn Epstein Trumpelman verhandeln lässt, dass Deportierte statt 20 Kilogramm Gepäck zukünftig 35 Kilogramm mitführen dürfen und vier Stunden Aufschub von der Deportation erhalten, was den Ältestenrat zu einem „kollektive[n] Seufzer der Erleichterung“ (Judenkönig 202) verleitet. Eine ausführliche Analyse der literarischen Strategien des Romans, die von mythisierenden über ironisierende und humoristische bis hin zu surrealistischen Passagen – etwa Trumpelmans Vision seiner Begegnung mit „dem großen Mann“ (Hitler) im Dampfbad (vgl. Judenkönig 306) – kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht erfolgen. Diese frühe und in ihren literarischen Strategien bemerkenswerte Auseinandersetzung mit einer Judenrat-Figur führt jedoch zu den zeitgenössischen Judenrat-Darstellungen von Sem-Sandberg und Bart. Beide Romane befassen sich mit dem Ghetto Litzmannstadt/Łódź, lehnen ihre Figuren also an der historischen Person Chaim Rumkowski und nicht an Murmelstein an. Historisch gesehen sind Rumkowski und Murmelstein völlig unterschiedlich – sowohl hinsichtlich der Bedingungen, unter denen sie ihre Funktion ausübten (Murmelstein hatte bereits vor der Deportation nach Theresienstadt eine mehrjährige Leitungsfunktion während der NS-Diktatur inne; der Alltag in dem als Durchgangsghetto geplanten Łódź90 unterschied sich stark von jenem in Theresienstadt, das die Deportationen verschleiern sollte, vgl. Kapitel 4.8), als auch hinsichtlich ihrer Biografie und ihres Bildungsstandes: Murmelstein war als promovierter Intellektueller wissenschaftlich tätig gewesen und hatte sich als Rabbiner mit der Exegese religiöser Texte beschäftigt. Rumkowski hingegen hatte nur rudimentäre Bildung genossen, war als Textilunternehmer mehrmals zu Geld gekommen, hatte es wieder verloren, hatte als Versicherungsvertreter gearbeitet und war vor 1939 in einem Waisenheim beschäftigt gewesen.91 Nun sind diese differierenden historischen Folien, auf die literarische Judenrat-Figuren bei Bart, Sem-Sandberg und Schindel rekurrieren, vor allem dann zu bedenken, wenn historische Evidenzen wichtig für den jeweiligen Text sind oder faktuale Beglaubigung zu dessen Erzählstrategien zählen. So liest sich etwa Die Elenden von Łódź als eine Art literarisches Portrait des Lebens im Ghetto Litzmannstadt/Łódź von dessen Gründung 1940 bis zu dessen Auflösung (ab August 1944) mit dem Judenältesten Rumkowski als einem zentralen Charakter des figurenreichen Romans. Dass Sem-Sandberg Wert auf faktuale Beglaubigung seines Stoffes legt, insinuieren etwa der Klarname der Figur Rumkowski, das historische 90 Vgl. „Das Ghetto Lodz“. In: Yad Vashem. Internationale Gedenkstätte. URL: https://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/ghettos/lodz.html#narrative_info [15.7.2020]. 91 Vgl. Shapiro, Robert Moses: „Rumkowski, Khayim Mordkhe“. In: Yivo Enyclopedia of Jews in Eastern Europe. URL: https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Rumkowski_Khayim_Mordkhe [2.4.2021].

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Foto auf dem Buchcover der deutschen wie der schwedischen Ausgabe – es zeigt eine Straßenszene, im Vordergrund ein Kind mit einem gelben Judenstern auf dem Pullover –, eine weitere historische Fotografie aus dem Staatsarchiv Łódź im ersten Teil des Romans,92 eine Karte des Ghettos (vgl. Elende 634), die Reproduktion der affichierten „Bekanntmachung“ einer Gehsperre vom 5. September 1942 (Elende 258) sowie das Nachwort. Darin nennt Sem-Sandberg als Quelle für den Roman die Łódźer Ghettochronik (aus der er im Roman auch zitiert, etwa Elende 448 f.)93 und fasst außerdem die Biografien einiger realhistorischer Ghettoüberlebender zusammen, die als gleichnamige Vorlagen für Sem-Sandbergs Romanfiguren dienten.94 Auch der Romanbeginn lässt sich in einen Katalog solcher Authentifizierungsstrategien einordnen, wenn Sem-Sandberg ein NS-Schriftstück über die „Bildung eines Gettos in der Stadt Lodsch“ vom 10. Dezember 1939 in voller Länge zitiert (vgl. Elende 5–7). Diese Strategien der historischen Beglaubigung befördern auf Rezipient*innenseite die Annahme, dass es sich auch bei diversen Texteinschüben um ‚authentische‘ historische Dokumente handelt: So bezeichnet eine Ghettoinsassin Rumkowski in Tagebuchaufzeichnungen als „Monstrum“ (Elende 135) und „Automat[en]“, als „Mensch[en] ganz ohne äußeres Leben“ (Elende 367). Darüber hinaus lässt auch die Erzählinstanz (externe Fokalisierung) keinen Zweifel daran, wie die Rumkowski-Figur moralisch zu bewerten ist: Etwa weiß sie zu berichten, dass „der Judenälteste des Gettos im Bett [lag] und schlief “ (Elende 237), während im Ghetto eine große ‚Aktion‘ im Gange war – überhaupt ist er oft nicht greifbar, wenn er gesucht wird –, oder sie erzählt wiederholt von Essen wie Schlagobers oder gebackenen, zimtbestreuten Äpfeln (vgl. Elende 351) im Hause Rumkowski. 92 Sem-Sandberg, Steve: Die Elenden von Łódź [De fattiga i Łódź, 2009]. München: Goldmann 2013, S. 40 f. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Elende. Der Roman wurde u.a. ins Englische, Französische, Italienische, Polnische übersetzt, also wesentlich breiter rezipiert als Dunkelstein. 93 Die Ghettochronik umfasst die Zeitspanne 12. Januar 1941–30. Juli 1944 und wurde im Auftrag des Judenrats (!) angefertigt. Teile erschienen in einer englischen Übersetzung 1984, eine vollständige deutsche Ausgabe 2007. Vgl. Dobroszycki, Lucjan (Hg.): The Chronicles of the Łódź Ghetto, 1941–1944. New Haven: Yale University Press 1984. – Feuchert, Sascha/Leibfried, Erwin/ Rieck, Jörg (Hg.): Die Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt (= Schriftenreihe zur Lodzer Getto-Chronik). 5 Bände. Göttingen: Wallstein 2007. Für eine genauere Beschreibung des Verhältnisses zwischen Sem-Sandbergs literarischem Text und den historischen Quellen, auf die er sich im Peritext beruft, wäre eine umfassende Untersuchung auch der Ghettochronik notwendig; für vorliegenden Zusammenhang sind indes die Authentifizierungsstrategien des Autors von vorrangigem Interesse. 94 Auch sie nennt Sem-Sandberg mit Klarnamen, etwa Dawid Gertler, welcher der sogenannten Sonderabteilung der jüdischen Polizei des Ghettos vorstand. Vgl. „Gertler, David“. In: Los Angeles Museum of the Holocaust. URL: http://www.lamoth.info/?p=creators/creator&id=22 [2.4.2021] sowie „RG-01.11.29, Dawid Gretler Papers, Investigative materials, translations“. In: ebd., URL: http://www.lamoth.info/?p=digitallibrary/digitalcontent&id=292 [2.4.2021].

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Mittels Strategien historischer Authentifizierung und der Montage von ­ godokumenten vermittelt Sem-Sandberg so ein scheinbar mehrstimmiges Bild E von Rumkowski, das indes eindimensional bleibt, da es eine moralisch klar bewertete, eindimensionale Figurenzeichnung vornimmt: Sem-Sandberg zeigt Rumkowski in manchen Passagen als wunderlichen Alten, vorrangig jedoch als eitlen, korrupten, berechnenden Machtmenschen, als Frauenhelden, dem seine erfahrenen Mitarbeiterinnen ansehen könnten, „ob er in der Nacht ‚zum Zuge gekommen‘ war oder nicht. Es war seiner Stimmung abzulesen.“ (Elende 176) Rumkowskis Hilflosigkeit angesichts der nationalsozialistischen Gewalt, sein Hang zum Verschwenderischen und sein unsympathischer Charakter vermitteln sich unmissverständlich. Besonders drastisch fällt die Figurenzeichnung aus, wenn Sem-Sandberg Rumkowski in einer nur wenige Seiten umfassenden Szene in einem Kinderheim als pädophilen Vergewaltiger portraitiert und unmissverständlich sexuellen Missbrauch einer Elfjährigen insinuiert (vgl. Elende 167–170). Rund hundertfünfzig Seiten später schildert Sem-Sandberg Rumkowskis systematischen sexuellen Missbrauch seines Adoptivsohnes Staszek sogar explizit, wenn es etwa heißt: „Staszek sah das Glied des Ältesten in den Unterhosen erigieren, und als der Präses die Hand des Jungen dorthin führte, hob er stattdessen den schwellenden roten Peniskopf zu seinem Gesicht und fuhr mit der Hand daran auf und ab, wie der Präses es ihn gelehrt hatte.“ (Elende 317)95 Schließlich ordnet Sem-Sandberg Rumkowski in ein Paradigma von Täterschaft auch im Kontext des Genozids ein, wenn er dessen Suche nach einem geeigneten Adoptivsohn als private Selektion ins Bild setzt: Während der Deportation der Waisenkinder aus dem Ghetto führt deren Weg aus dem Waisenhaus auf bereitstehende Wagen vorbei an Rumkowski. Dieser habe seinen Wagen dicht an der Treppe parken lassen, so dass die Kinder allesamt an ihm vorüber müssen, bevor man sie auf eine der wartenden Ladeflächen hebt. Die Mageren, Hinkenden und Verwachsenen: An ihnen schweift der Blick des Präses vorbei. Er sucht nach dem einzigen vollendeten Kind, das ihm als Rehabilitierung dienen könnte für all jene Tausende, die er hatte opfern müssen. (Elende 274)

Während Schindel in Dunkelstein Ambivalenzen herstellt und Dunkelstein aus einem präjudizierten Diskurs löst, bewirkt Sem-Sandbergs Darstellung Gegen95 Von „[u]nsubstantiated prewar rumors [which] alleged that Rumkowski sexually abused a number of orphans and staff members at [the orphanage, JÖ] Helenówek“ schreibt der Judaist Robert Moses Shapiro in seinem Eintrag zu Rumkowski in der Yivo Enyclopedia of Jews in Eastern ­Europe; er berichtet auch, dass „similar unconfirmed allegations about his wartime behavior were made by some survivors of the Łódź ghetto.“ (Shapiro: „Rumkowski“.) Die Authentifizierungsstrategien in Sem-Sandbergs Roman signalisieren, die Vorwürfe seien unzweifelhaft.

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teiliges. Dazu trägt neben den bereits genannten literarischen Verfahren auch bei, dass er Rumkowski nur selten in intimen Gesprächen zeigt, die en gros keine alternative Perspektive auf Rumkowski anbieten. Vielmehr affirmieren etwa zitierte Passagen aus einigen „ewig langen, selbstverherrlichenden Reden“ (Elende 353) des Ältesten die Wahrnehmung der Erzählinstanz. All dies erleichtert eine moralisch-ethische Verurteilung der Figur durch die Leser*innen und leistet weder auf ethischer noch auf ästhetischer Ebene einen differenzierten Beitrag zu einer Literaturgeschichte von Judenräten. Dass sich der Roman nicht der Komplexität der historischen Situation nähert, sondern das Bild einer diskursiv vorverurteilten Figur affirmiert, zeigt auch die klar positionierte Erzählinstanz, deren Haltung der Komparatist Robert Eaglestone treffend beschreibt: Sie „tells, explains and judges, ruling out any sense of complexity or difficulty in the desire to condemn“.96 Die Widersprüchlichkeit der realhistorischen Situation glättet der Roman dadurch. Im Gegensatz dazu liegt die Herstellung von Ambivalenz in Die Fliegenfängerfabrik (poln. 2008, dt. 2011) im Kern von Barts Poetik, da Rumkowski in dem Roman in einem mehrstimmigen, surreal anmutenden Prozess vor Gericht steht. Auf einer zweiten Erzählebene berichtet der Ich-Erzähler, ein aus Łódź gebürtiger Autor namens Andreas, von seiner Rolle als Prozessbeobachter und seinem Weg durch die zeitgenössische Stadt auf den Spuren des Ghettos. Sodann wird der erzählerische Faden des Prozesses kontinuierlich unterbrochen und damit bereits mittels der Erzählanlage die Vorstellung eindeutigen linearen Erzählens über solch einen Prozess unterwandert. In der Eingangssequenz weist eine durch Naivität gezeichnete Erzählinstanz, die Bekanntes als scheinbar Neues schildert, auf literarische Strategien der Verfremdung voraus, welche Die Fliegenfängerfabrik durchziehen: Sie zeigt Rumkowskis Ankunft in einem Vernichtungslager (und endet mit dessen Gang in die Gaskammer); angesichts der „Lagerhallen aus roten Ziegelsteinen“ und einem „Wald aus Schloten“97 mutmaßt die Erzählinstanz, es handle sich um ein Fabrikgelände und beschreibt das spielende Streichquartett folgendermaßen: 96 Eaglestone, Robert: „Avoiding Evil in Perpetrator Fiction“. In: Holocaust Studies 17, 2–3 (2001), S. 13–26, hier: S. 20. An Eaglestones Konzeptualisierung ist problematisch, dass er Rumkowski eindeutig als ‚perpetrator‘ sieht; sein Aufsatz behandelt auch Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und stellt Sem-Sandbergs Rumkowski damit fraglos in eine Linie von Tätern wie Littells SS-Mann Max Aue. Zwar zitiert er Dan Stone, der „comments that most would agree that ‚although Rumkowski was an unpleasant character, he was no traitor‘ and that his collaboration was undertaken, as it were, in good faith that it was serving the interests of those in the ghetto.“ (ebd., S. 19.) Jedoch bleiben die Klassifikation Rumkowskis als ‚perpetrator‘ und seine Handlungsweisen als ‚collaboration‘ unhinterfragt. 97 Bart, Andrzej: Die Fliegenfängerfabrik [Fabryka muchopałek, 2008]. Frankfurt: Schöffling 2011, S. 11. Im Folgenden Zitation im Fließtext: FF.

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Nach der Magerkeit der drei Männer und der einen Frau zu urteilen, verdienten die Musiker nicht viel, doch musste der Besitzer [der Fabrik] kein Geizhals sein, denn der an manchen Stellen abbröckelnde Putz verriet, dass er kein übermäßig reicher Mensch mehr war. Wenn das stimmte, dann wiederum sprach es für ihn, dass er sich bis zum Schluss um die Pflege der Musik kümmerte. (FF 15)

Diese Erzählstrategie bewirkt einen neuen Blick auf hinlänglich Bekanntes – sie erinnert entfernt an die Erzählhaltung in Kertész’ Roman eines Schicksallosen – und lässt erahnen, dass die Befreiung von stereotypen Wahrnehmungsmustern ein Anliegen des Romans ist. Sodann lässt Bart im folgenden Prozess auch zahlreiche Figuren auftreten, die Rumkowski gekannt haben und entweder für oder gegen ihn Partei ergreifen. Etwa den Pädagogen Janusz Korczak (vgl. Kapitel 4.7), in dessen bruchstückhafter Erinnerung Rumkowski als „positive Gestalt erscheint“ (FF 49) und der ihn beschreibt als „Typ eines vorbildlichen Volontärs [für das Waisenhaus, JÖ]. Vielleicht nicht gerade mit dem weitesten geistigen Horizont, doch ehrlich in seinen Absichten.“ (FF 50). Neben einem Mitarbeiter von Korczak oder einem ehemaligen Berufungsrichter aus dem Ghetto sagt auch Hans Biebow (Leiter der NS-Verwaltung des Ghettos Litzmannstadt/Łódź) über Rumkowski aus. Er bezeugt, dass Rumkowski, hätte er sich geweigert, den Vorsitz des Ältestenrats der Juden zu übernehmen, erschossen worden wäre (vgl. FF 173). Eine ehemalige Mitarbeiterin von Rumkowski bringt schließlich – wie bei Sem-Sandberg – die Vorwürfe der sexuellen Belästigung an Mädchen im Waisenhaus zur Sprache. Als Bart schließlich Hannah Arendt in den Zeugenstand treten lässt, wirft seine Begehung von Judenrat-Diskursen auch ethisch-philosophische Debatten auf den Plan. Sie spielt den Suizid des Warschauer Judenältesten Adam Czerniaków (der realhistorische Czerniaków nahm sich das Leben, als er von der systematischen Ermordung der aus dem Ghetto deportierten Menschen erfuhr) gegen Rumkowskis Verhalten aus: Czerniaków habe sich mit seinem Suizid „würdig“ verhalten und „mehr Stil“ (FF 108) gezeigt als Rumkowski. Rumkowskis Verteidiger argumentiert, da „das Lodzer Ghetto als letztes Ghetto in Europa liquidiert wurde“, sei Rumkowski als jemand zu sehen, „dank dem die Menschen im Lodzer Ghetto länger lebten als in jedem anderen“, worauf Arendt entgegnet: „Ich glaube nicht, dass das für sie von besonderer Bedeutung war. Was hatten sie von ihrem Cheder, dem jüdischen Theater oder ihren Hungerrationen, wenn sie sowieso alle umgebracht wurden, nur eben ein bisschen später.“ (FF 109) Die vom Verteidiger an die Anwesenden – der Text legt nahe, dass es sich zu großen Teilen um Zeitzeug*innen und deren Nachkommen handelt – gerichtete Bitte, er möchte „jetzt von euch hören, ob ein bisschen kürzer oder ein bisschen länger leben keinen großen Unterschied macht“, wird mit „fürchterliche[m] Lärm, Geschrei“ (ebd. 110) quittiert.

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Dieses Beispiel zeigt, wie Barts Darstellung von Rumkowski tatsächlich vielstimmig ist (und nicht, wie bei Sem-Sandbeg, nur vorgibt, dies zu sein) und dergestalt Ambivalenz herstellt. Sie läuft damit den literarischen Strategien der Glättung und Komplexitätsreduktion in Die Elenden von Łódź mit der eindeutigen moralischen Kategorisierung von Rumkowski zuwider. Renata Plaice liest Barts Darstellung des Prozesses „as an intertextual ref­erence to ideas of higher justice in a metaphysical reality which Bart employs not without ironic and aesthetical distance“.98 Zum Eindruck ‚ästhetischer Distanz‘ tragen etwa die wechselnden Erzählebenen bei: Der Prozess wird mancherorts intern fokalisiert aus der Perspektive von Rumkowskis Ehefrau Regina geschildert, an anderen Stellen durch den Ich-Erzähler. Dieser verlässt den Prozess jedoch bald, um sich auf den Spuren des Ghettos durch das zeitgenössische Łódź zu bewegen – auch diese Passagen alternieren mit dem Bericht des Prozesses. Schließlich ist der Prozess selbst angesiedelt in einer kafkaesken Raumtopografie (auch Kafkas in Auschwitz ermordete Schwester Ottla lässt Bart im Roman übrigens auftreten), die das Dargestellte abermals verfremdet. Die solcherart eingesetzten literarischen Strategien der Verfremdung werden trotz der Verwendung der Klarnamen der Romanfiguren als Fiktionalisierungssignale lesbar und setzen den Roman damit von Sem-Sandbergs Prosa mit ihren weitgehend am literarischen Realismus geschulten Szenen ab. Eine weitere literarische Strategie der Distanzierung zeigt folgende mis en abyme: Nach einem Prozesstag besuchen Beteiligte eine Theateraufführung, die Szenen aus Shakespeare-Dramen zeigt (etwa Coriolanus und Richard III) und solcherart literarische Machtfigurationen miteinander verbindet. In dieses Paradigma von Machtfiguren ordnet Bart Rumkowski ein, wenn in diesem Dramenmedley plötzlich ein Schauspieler auftritt, der Rumkowski verkörpert; währenddessen sitzt der ‚echte‘ Rumkowski im Publikum und beobachtet die dargebotene Szene (dies erinnert an Hamlet, wo der zuvor von Claudius verübte Königsmord als Theaterszene nachgestellt wird, um dem im Publikum sitzenden Claudius seine Schuld vorzuführen). Der mediatisierte Rumkowski auf der Bühne bietet nun endlich die Verteidigungsrede dar, die der ‚echte‘ Rumkowski im Prozess verweigert hat: „Ich hatte ein einziges Ziel: die Juden retten. Und dafür wollt ihr mich mit Stumpf und Stiel ausspucken? Über euer Schicksal vergieße ich Tränen, nicht über das meine!“ (FF 221) Im Gegensatz dazu erhebt der ‚echte‘ Rumkowski in Barts Prozess nur ein einziges Mal das Wort, ausgerechnet um eine aktive Partizipation zu verweigern: „[I]ch muss mich nicht verteidigen. Ich weiß nicht, wer ihr seid und mit welchem 98 Plaice, Renate: „Holocaust memory in recent Polish literature: Andrzej Bart’s Fabryka muchopałek and Piotr Paziński’s Pensjonat“. In: Journal of European Studies 42, 1 (2011), S. 34–49, hier: S. 39.

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Recht ihr über mich richtet oder auch nur über mich sprecht. Und niemand zwingt mich dazu, mich mit euch zu unterhalten.“ (FF 56) Stellvertreterschaft im Sprechen ist damit in Die Fliegenfängerfabrik anders konturiert als in Dunkelstein, fokussiert Bart doch nicht auf die Perspektive der Judenrat-Figur, sondern auf deren Diskursivierung. Plaice kommt in ihrer Analyse der Fliegenfängerfabrik zu dem Schluss, dass Bart „does not analyse the Shoah but the discursive nature in the construction of its memory.“99 Mit der Wahl des Genres des Prozesses hat sich Bart die Notwendigkeit eines Urteilsspruchs selbst auferlegt. Sein ‚Ausweg‘ ist folgendes Plädoyer des Verteidigers am Prozessende: War es wert, Zeit für meinen Mandanten zu verlieren? Ja, und nochmals ja! Denn die Eitelkeit muss hart bestraft werden, die ihn an die eigene Außergewöhnlichkeit glauben ließ. Es war notwendig, ihm die falsche Überzeugung aus dem Kopf zu schlagen, er sei ein guter, fürsorglicher Jude gewesen, denn tatsächlich war er nur ein aufgeblasener Dummkopf. Ich beantrage deshalb das härteste Urteil … Möge unsere Strafe sein, dass man ihn ewiglich als den in Erinnerung behält, der er war! (FF 237)

Die im Roman manifeste Sprachlosigkeit Rumkowskis modelliert gemeinsam mit diesem Schuldspruch eine Erzählbewegung hin zur Theoretisierung von Erinnerung. Im Gegensatz dazu weisen die Authentifizierungsstrategien in Die Elenden von Łódź darauf hin, dass Sem-Sandberg an der faktualen Erinnerung an die ­Shoah mit literarischen Mitteln teilhaben und nicht etwa die Konstruktion von Erinnerungsinhalten thematisieren möchte. Die von Fischer/Hammermeister/Kramer für die Shoah-Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts formulierte Beobachtung, es zeige sich die Tendenz, dass ihre reflexive Funktion gegenüber der rekonstruierenden stärker in den Vordergrund trete (vgl. Kapitel 4.1), ist hilfreich, um die grundlegende ästhetische und ideologische Differenz zwischen Die Elenden von Łódź und Die Fliegenfängerfabrik zu formulieren. Während Sem-Sandberg auf die Rekonstruktion (vermeintlich) historischer Realität setzt, reflektiert Bart Erinnerungsprozesse und verunsichert den „Kern der historischen Rekonstruktion“.100 Dunkelstein partizipiert an beiden Diskursen: Während auf der Zeitebene der Vergangenheit die am literarischen Realismus geschulten Szenen faktuale Informationen über die Wiener Situation etwa rund um die ‚Zentralstelle‘ oder Für99 Ebd., S. 40. 100 Fischer/Hammermeister/Kramer: „Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts“, S. 16.

4.5 Realismus und Verfremdung

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sorge vermitteln, steht auf der Zeitebene der Gegenwart die Mediatisierung d ­ ieser Vergangenheit und damit die Beschaffenheit von Erinnerungsprozessen auf dem Spiel. Das folgende Kapitel schließt eine Analyse der am literarischen Realismus geschulten Szenen ab und widmet sich der Analyse von literarischen Strategien der Verfremdung auf der Zeitebene der Mediatisierung.

4.5 Realismus und Verfremdung Dieses Kapitel stellt eingangs die bisher vernachlässigten Frauenfiguren des Dramas – die Kommunistinnen Gisa Winter und Edith Gold sowie die Fürsorgerin Esther Rebenwurzel – in den Fokus. Auch in ihren Figuren nimmt Schindel historische Wissensbestände auf und transponiert sie in Literatur, dabei greifen vor allem am literarischen Realismus geschulte Ästhetiken. Neben diesen Ästhetiken stehen, vor allem auf der Zeitebene der Gegenwart, literarische Strategien der Verfremdung, die im weiteren Kapitelverlauf untersucht werden, da sie zum polyphonen Charakter von Dunkelstein beitragen. So wie die Figuren Dunkelstein oder Sturmbannführer Linde sind auch einige Frauenfiguren in Dunkelstein realhistorisch präfiguriert – häufig im privaten Umfeld des Autors. Dunkelstein ist zwei Frauen gewidmet: „In Memoriam / Franziska Löw-Danneberg / Mignon Langnas / die mir 1944–1945 das Leben gerettet haben“ (DS 5), lautet die Widmung. Schindel erwähnt in seinem autobiografischen Text Was wird aus Robert Soël? A Dank beide: Er wurde von der jüdischen Fürsorgerin Franziska Löw im jüdischen Kinderspital abgegeben. Das Spital bekam einen Bombentreffer, übersiedelte in weiterer Folge mit uns Kindern von der Ferdinandstraße in die Mohaplgasse. […] In diesem Jammertal arbeitete Mignon Langnas als Krankenschwester, sie brachte ihre Tage damit zu, immer wieder zu verhindern, […] dass der kleine Robert weder an der einen noch an einer folgenden Kinderkrankheit zugrunde geht.101

Für Schindels Selbstverständnis sind diese selbstlosen Akte karitativer Hilfe ebenso wegweisend wie die Widerstandsbiografie seiner Mutter Gertrude Schindel, 101 Schindel, Robert: „Was wird aus Robert Soël? A Dank“. In: ders.: Man ist viel zu früh jung. Essays und Reden. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 9–11, hier: S. 9. Der Text erschien auch in der gekürzten Taschenbuchausgabe der Tagebücher und Briefe von Mignon Langnas aus den Jahren 1938– 1949. Langnas’ Mann war bereits 1939 aus Wien geflüchtet, ihre beiden Kinder hatte sie nach New York geschickt, sie selbst war in Wien geblieben, um sich um ihre Eltern zu kümmern, und hatte als Krankenschwester gearbeitet. Nach Kriegsende folgte sie der Familie in die USA, wo sie 1949 verstarb. Vgl. Langnas, Mignon: Tagebücher und Briefe. 1938–1949. Innsbruck und Wien: Haymon 2013.

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die sich mehr über ihre Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei als das Judentum definiert hat:102 Ihren Sohn fand sie nach ihrer Befreiung aus Ravensbrück in Wien wieder und sozialisierte ihn im Sinne ihrer kommunistischen Überzeugung.103 Dass die Mutter ihr Überleben nicht nur einem Zufall, sondern auch dieser kommunistischen Überzeugung verdankte, deutet Schindel in einem Gespräch an: „Kommunist-Sein“ habe „ja damals genützt […]. Wenn man ‚bloßer Jude‘ war, ist man ja einfach verschickt worden und ist über die Rampe gegangen […]. Als kommunistischer Jude musste man einen Gestapo-Akt mit sich führen und musste einen Hochverratsprozess bekommen und das hat meiner Mutter quasi das Leben gerettet, weil es so lang gedauert hat.“104 Die drei genannten Personen aus seinem biografischen Umfeld sowie diese Eckdaten seiner Sozialisation arbeitet Schindel in den Figuren der Fürsorgerin Esther Rebenwurzel und den Akteur*innen des kommunistischen Widerstandes (Gisa Winter und Edith Gold) in Dunkelstein ein: Der erste Akt setzt mit der Entlassung der beiden „Politischen“ (DS 11) Gisa Winter und Edith Gold im Frühling 1936 ein, bald folgt indes eine neuerliche Verhaftung bei einem ‚toten Briefkasten‘. Wenn Gisela Winter bei ihrer Verhaftung mit französischem Akzent spricht und sich mit einem Ausweis auf den Namen Suzette Sorel lautend ­ausweist, ist eine Ähnlichkeit mit Gertrude Schindels Decknamen Suzanne Soël offenkundig; eine weitere Analogie zu dieser literarischen Figur ist, dass Gertrude Schindel 1935 infolge einer Anklage wegen Hochverrats einige Zeit in Untersuchungshaft verbrachte.105 In Vignetten zeigen Szenen der historischen Zeitebene, wie Edith im Gestapogefängnis misshandelt und ihr mit der Deportation ihrer Mutter gedroht wird; sie solle den Aufenthaltsort von Gisa Winters Kind Peter herausfinden. Mit dem Kind soll Gisa Winter zur Preisgabe jener Informationen über ein kommunisti102 Schindel dazu in einem Gespräch mit Eva Menasse: „Sie [die Mutter, JÖ] hat gesagt ‚Ich bin eine Hitlerjüdin. Der Hitler hat mich wieder zur Jüdin gemacht.‘ Für sie wie für viele dieser Generation, also die jüdischen Sozialisten und Kommunisten, Kreisky ist auch so ein Beispiel, haben sich eigentlich nicht als Juden empfunden, weil sie gedacht haben, die Juden sind kein Volk und […] haben auch keine Kulturgeschichte in dem Sinn, der schlagend wird auch noch in den Generationen, wo sie nicht mehr gläubig sind, sondern sie haben das für eine pure Religionsgemeinschaft gehalten und wenn man aus dem Judentum austritt, ist man kein Jude mehr.“ („Ich habe kein Talent zum Hassen“. Robert Schindel im Gespräch mit Eva Menasse. 3sat: 17. November 2019. URL: https://www.3sat.de/kultur/kulturdoku/talent-zum-hassen-menasse-schindel-100. html [2.4.2021], 22:35–23:15, Transkript JÖ). 103 Kommunistische Kinder- und Jugendinstitutionen prägten Schindel, der später Teil der ‚Kommune Wien‘ war, sich jedoch hinterher vom marxistisch-leninistischen Studentenbund wegen ihrem „unter ‚Antizionismus‘ laufenden Antisemitismus“ (ebd., 14:45) distanzierte. 104 Ebd., ab 23:30. 105 „Gertrude Schindel“. In: DÖW. URL: https://www.doew.at/erinnern/biographien/spanienarchiv-online/spanienfreiwillige-s/schindel-gertrude#gerti%20schindel [2.4.2021].

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sches ‚Südnetz‘ erpresst werden, die sie trotz Folter nicht verrät. Dass Edith Gold den Aufenthaltsort des Kindes Peter Winter preisgibt, legt dessen Ankunft in Theresienstadt am Ende des Dramas nahe; Edith wird indes ebenso ermordet wie Gisa, die an den „Folgen der Verhöre“ (DS 108) im Gestapogefängnis stirbt. Ester wird erschossen, das Kind Peter Winter deportiert. Was dieser Einblick erstens aufzeigt, ist, wie Schindel das streitbare Thema von Widerstandsmöglichkeiten, das der Prolog programmatisch ins Werk setzt, anhand weiterer Figuren und politischer Konstellationen ausweitet: Damit stehen den Handlungsweisen von Judenräten in Dunkelstein zwei zuwiderlaufende Formen von Widerstandsmöglichkeiten komplementär gegenüber – neben dem kommunistischen Widerstand (repräsentiert durch die Figuren Gisa Winter und Edith Gold) auch apolitisches soziales Engagement, im Drama verkörpert durch die Figur Esther Rebenwurzel, der das Folgende gilt. Daran anschließend wird eine Auseinandersetzung mit weiteren Quellen für die Frauenfiguren dabei helfen, den dialogischen Charakter von Dunkelstein zu erschließen, um das Drama dergestalt in ein Verhältnis zu Bachtins Groteskenkonzeption zu setzen. Als etwas holzschnittartig gezeichnete Figur repräsentiert Esther Rebenwurzel Menschlichkeit und aufopfernde Fürsorge bei gleichzeitigem Wissen um die Aussichtslosigkeit des eigenen Tuns; als Komplementärfigur zu Dunkelstein gewinnt sie vor allem in folgendem Dialog Kontur, in dem sie Dunkelstein befragt, warum die von ihr nach Buchenwald geschickten Pakete zurückkommen, obwohl keine Todesmeldungen eintreffen. Auch die finanzielle Situation der Fürsorge spricht sie an: Dunkelstein: […] Die Zeit ändert alle. Mich freuts ja, dass du der Engel geblieben bist, als den ich dich immer schon erkannt hab, aber gegenwärtig brauchen die Juden ein paar Teufel, um zu überleben. Ich kann nichts aufstellen für deine Sache. Ich bin pleite, mit meinem Budget am Ende. Die Auswanderung frisst … Esther: (zornig) Für jeden von dir gnädig Geretteten sterben mir zwei Alte und ein Kind. Schau mich an. Dunkelstein: Schau du mich an. Die Alten sterben, die Kinder schaffen es nicht. So wie so. So wie so. Die anderen schaffen es. Sie überleben unser Volk. Nicht die Alten, nicht deine Würmer. Schau mich an. Hab ich das gemacht? Hab ich das gemacht? Ist das meine Welt? Esther: Du hast es nicht gemacht, aber es ist deine Welt. Dunkelstein: (nach einer Pause) Also, die Namen deiner in Luft Aufgelösten [deren Pakete aus Buchenwald zurückkommen, JÖ]! (Nimmt die Liste und liest) Also zum Beispiel Doktor Jakub Winter. Ist am (sieht in einer Mappe nach) dreiundzwanzigsten August aus Buchenwald nach England. Gemeinsam mit Weber, Fakahel, Sim-

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mel, Engelberg und so weiter. Man ist nicht untätig.106 Und wenn es Krieg geben wird, werden die eine Waffe nehmen gegen unsre Herrschaften, oder? Esther: Den Jakub Winter hast du herausgebracht? Dunkelstein: Wir, Esther. Wir. Jeder dreht an den Schrauben, wo sie sind. Jeder tut, was er kann. (DS 71 f.)

Die schematische Opposition zwischen den beiden Figuren als ‚Engel‘ und ‚Teufel‘ wirft ethische Fragen danach auf, wie der ‚Wert‘ eines Menschenlebens bemessen und gegen ein anderes aufgewogen werden kann. Gleichzeitig konterkariert die Szene diese Opposition selbst, indem sie das Ineinandergreifen der Initiativen Esthers und Dunkelsteins zeigt. Damit weist die Szene auch auf die Rettung des Säuglings Peter Winter am Ende des Dramas voraus, auf die der oben skizzierte Handlungsstrang um Gisa und Edith hinausläuft. Dort schickt Dunkelstein den Säugling auf Esthers Bitte zurück nach Wien mit dem Argument, dieser habe Fieber und „versaue“ ihm sein „Hygieneprogramm“ (DS 109). Die ‚Pointe‘ des Dramas liegt in der vorletzten Szene, in der der ‚junge Häftling‘ am Filmset sich als Peter Winter zu erkennen gibt und damit als lebender Beweis des erfolgreichen Zusammenspiels zwischen der auf Individualschicksale fokussierten Fürsorgerin und dem machtpolitisch agierenden Dunkelstein herhält. Auffällig ist, dass die alternative Widerstandskonzepte verkörpernden Figuren ausnahmslos weiblich sind.107 Ihre Handlungsweisen verschiebt Schindel ins Private, etwa wenn sich Esther Rebenwurzel individueller Schicksale annimmt oder Schindel die Widerstandsaktivistinnen nicht primär als politisch aktive Figuren zeigt, sondern vordringlich als erpressbare Mütter (Gisa), Töchter (Edith) oder Liebhaberinnen (Edith beginnt eine Beziehung mit Kriminalkommissar Kalterer). Folglich erfüllt (die etwas eindimensional gezeichnete) Esther Rebenwurzel eine narratologisch relevante Funktion als Komplementärfigur zu Dunkelstein. Für vorliegenden Kontext interessiert ihre Figur nicht zuletzt, da sie auf weitere Quellen für Dunkelstein verweist. Als Vorbild lässt sich die in Was wird aus Robert Soël? erwähnte Franzi Löw-Danneberg ausmachen, Fürsorgerin und damit Angestellte der IKG ab September 1937.108 Details über ihren Arbeitsalltag entnimmt 106 Schindel bezieht sich hier vermutlich auf die Interventionen der IKG, die Entlassung von Dachau-Häftlingen mit gültigen Einreisepapieren in andere Staaten zu erwirken (vgl. Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 136). 107 Esther Rebenwurzels Solidarität, Einfühlungsvermögen und Aufopferung in Kontrast zu Dunkelstein als rational handelndem, berechnendem Intellektuellen ordnen sich in ein Paradigma von streitbaren Genderbildern ein. 108 „Franzi (Danneberg-)Löw: Mit meiner Deportation gerechnet“. In: DÖW. URL: https://www. doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/ns-judenverfolgung-deportation/franzi-danneberg-loew-mit-meiner-deportation-gerechnet [2.4.2021].

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Schindel Rabinovicis Monografie Instanzen der Ohnmacht (sie ist u.a. Löw-Danneberg gewidmet), wo es etwa heißt: Vormittags absolvierte sie in der Kultusgemeinde den Parteienverkehr, nachmittags die Hausbesuche, und in den Abendstunden ging sie in die verschiedenen Jugendheime, um mit den Kindern das Nachtmahl einzunehmen, sie zu waschen und zu Bett zu bringen. Franzi Löw war Vormund von etwa 200 außerehelichen jüdischen Kindern. Die Stadtgemeinde Wien hatte deren Vormundschaft niedergelegt.109

Hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen weiß Rabinovici zu berichten, dass Löw für das von ihr betreute Heim für Säuglinge keine Vollmilch [bekam]. Zwei Bäcker im 18. Bezirk erklärten sich jedoch bereit, Franzi Löw jeden Tag illegal zwei Zehn-Liter-Flaschen Vollmilch und 20 Kilo Brot zu überlassen. Sie mußte täglich um fünf Uhr morgens in den 18. Bezirk fahren und dann die Vollmilch und das Brot in den 2. Bezirk tragen, bevor ihr Dienst begann. Sie riskierte dabei ihr Leben. Die Gestapo durfte nicht erfahren, woher sie die Lebensmittel erhalten hatte.110

Aufschlussreich für eine Beschreibung des dialogischen Charakters von Dunkelstein sind diese ausführlich zitierten Passagen aus Rabinovicis Monografie, da Schindel manche fast wortgleich übernimmt.111 Exemplarisch sei dies an einer Szene illustriert, die mit einem kurzen, ans Publikum gerichteten Monolog Esthers beginnt: „Jetzt hab ich als Fürsorgerin der Kultusgemeinde so ein Leben: Ich habe einen nicht so kleinen Sprengel zu betreuen. Leopoldstadt, Brigittenau und Floridsdorf. Ich muss auch schauen auf alle Jugendheime. Jetzt habe ich hier in der Kultusgemeinde Parteienverkehr. Klagewartin bin ich.“ (DS 51) Unmittelbar danach findet mitten in der Szene ein Wechsel auf die gegenwärtige Zeitebene statt, auf der Willy Klang Esthers Arbeit in Rückschau beschreibt: Sie hatte so ein Leben: Die jüdische Administration verfügte immerhin über ein Heim für Säuglinge. Doch Esther bekam keine Vollmilch. Zwei Bäcker in Währing [der 18. Wiener Gemeindebezirk, JÖ] erklärten sich bereit, der Esther Rebenwurzel jeden Tag illegal zwei Zehnliterflaschen Vollmilch und zwanzig Kilo Brot zu überlassen. 109 Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 94. Das Versenden von Geld und Paketen in Lager und Ghettos war ab Januar 1942 verboten (vgl. ebd., S. 304). 110 Vgl. ebd., S. 95. Rücksichtlich der gegen Löw nach 1945 eingebrachten Anzeige (vgl. ebd., S. 396 ff.) gewinnt die Schwierigkeit, das Verhalten von Menschen innerhalb der IKG zu beurteilen, abermals Kontur. 111 Es sei daran erinnert, dass Rabinovici ein Nachwort für Dunkelstein verfasst hat sowie Schindel ihm in der Widmung „für Rat und Tat“ (DS 5) dankt.

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Lautsprecher: Illegal. Willy Klang: Sie musste jeden Tag um fünf Uhr früh nach Währing fahren und dann das Lebenszeug in die Leopoldstadt tragen, bevor überhaupt ihr Dienst begann. Lautsprecher: Unter Lebensgefahr. Willy Klang: Die Gestapo durfte nicht erfahren, woher sie die Lebensmittel erhalten hatte. […] Nachmittags machte Esther ihre Hausbesuche, abends ging sie in die diversen Jugendheime, um mit den Kindern das Nachtmahl einzunehmen, sie zu waschen und zu Bett zu bringen. Sie war Vormündin von zweihundertdrei außerehelichen jüdischen Kindern. […] Die Stadt Wien hatte deren Vormundschaft niedergelegt. […] Die Gemeinde Wien übertrug alle jüdischen Kinder der Kultusgemeinde. Deren Institutionen waren überfüllt, aber der Esther gelang es, ihre Mündel in den verbliebenen Häusern der Kultusgemeinde unterzubringen. […] (Zu Raffi:) Das war eine Heldin. (DS 51 f.)

Weitere Szenen und Episoden in Dunkelstein lassen sich ebenfalls auf Passagen aus Instanzen der Ohnmacht zurückführen; etwa zeigt Schindel Esthers Einsatz für verzweifelte Frauen während des Parteienverkehrs: Jüdische Frau: Ich weiß nicht mehr weiter. Mein Mann ist in Dachau. Ich bin allein mit einem fünfjährigen Mädl. Ich hab niemanden, der mich unterstützt. Wie soll ich die Spitalskosten für meine inzwischen verstorbene Mutter … (Schluckt.) Verzeihen Sie. Ich kann die Kosten nicht aufbringen. Esther: Wieviel müssen Sie noch bezahlen? Jüdische Frau: Hundertelf Reichsmark. Ich arbeite nämlich in der Notausspeisung. Ich verdiene achtundfünfzig Reichsmark. (Monoton:) Miete RM 25, Spitalskosten monatlich à conto fünf, muss aufkommen für Licht, Strom, Heizung, Wäsche. Ich kann mir keine Lebensmittel kaufen, auch nicht für meine Tochter. (Schreit:) Soll ich sie töten und dann mich? Und was sagt die Kultusgemeinde dazu? (DS 53)

Esther sichert ihr die finanzielle Hilfe der IKG zu. In Instanzen der Ohnmacht zitiert Rabinovici folgenden Brief einer Frau an die IKG vom November 1940: Ich bitte Sie hiermit, [sic] um Erlaß der Zahlung des Restbetrages von RM 111,- an Spitalskosten für meine verstorbene Mutter Berta Fischer, welche in Fürsorge stand. Mein Mann ist in Shanghai, ich stehe allein mit meinem 5jährigen Kinde, für welches ich, ohne jede fremde Unterstützung, zu sorgen habe. Bin in einer Küche der Notausspeisung beschäftigt und verdiene monatlich netto FM 58,-, hiervon wird mir RM 5.- monatliche à Konto der Spitalskosten abgezogen. Von meinem Lohn muß ich RM 25.- für Miete bezahlen, weiters geht ab für Beleuchtung, Beheizung, Wäschegeld etc., der mir so verbleibende Restbetrag reicht monatlich nicht einmal

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dazu die [?] Lebensmittel zu kaufen. Der monatliche Abzug ist daher für mich wirklich untragbar.112

Ein abschließendes Beispiel, in dem Schindel fast gleichlautende Passagen aus Instanzen der Ohnmacht aufgreift, sei zusammengefasst: In Dunkelstein betritt ein „vierzehnjähriges Mädchen“, das per Telegramm vom Tod ihres Vaters in „Dachstein“ benachrichtigt worden ist, Esthers Büro. Da die Mutter „so krank [sei], sie hat es so mit den Nerven“, habe das Mädchen das Telegramm abgefangen und bittet Esther nun, sie und ihre Schwester einige Tage in einem Heim unterzubringen, damit sie die Urne des Vaters abfangen, das Begräbnis organisieren und „Schiwe sitzen“ (DS 54) (die erste, einwöchige Zeit der Trauer nach dem Tod etwa eines Elternteils) können, ohne dass die kranke Mutter davon erfahre. Fast wortgleich zitiert Rabinovici in Instanzen der Ohnmacht ein Dokument des DÖW, in dem sich die damalige Leiterin der Jugendfürsorge erinnert, wie bei ihr „ein vierzehnjähriges Mädchen […] erschien, um für sich und seine Schwester die Unterbringung in einem Heim zu erbitten. ‚Es muß ja nicht für lange sein. Wir wollen nur, wenn die Urne des Vaters kommt (…) zum Begräbnis des Vaters und Schiwe [die rituelle Totenwache; D.R.] sitzen.“113 Deutlich wird an diesen Beispielen zweierlei: erstens, wie mittels Quellen aus Historiografie und Oral-History-Gesprächen diverse (ideologische) Positionen in Dunkelstein integriert werden. Zweitens lässt sich an ihnen die hypertextuelle Beziehung114 zwischen Schindels Drama und Rabinovicis historiografischer Arbeit ablesen, die bis in exakte Zahlen, auffällige Terminologie (‚Schiwe‘) und identische Formulierungen hineinreicht. Die Transposition betrifft die generische Transformation eines formellen Briefes (Rabinovici) in eine mündlich vorgetragene Bitte; dementsprechend nimmt Schindel das sachliche Register zugunsten einer deutlich emotionaleren Färbung zurück (den Eindruck von Emotionalität bewirkt etwa die rhetorische Frage der ‚jüdischen Frau‘, ob sie ihre Kinder und sich selbst töten solle).115 112 Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 99. Die eckige Klammer mit Fragezeichen entstammt dem Originalzitat. 113 Schwarz, Rosa Rachel: Zwei Jahre Fürsorge der Kultusgemeinde Wien unter Hitler; Tel Aviv; 14. Mai 1944; DÖW 2737; 7. Zit. nach ebd., S. 99 f. 114 Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [Palimpsestes. La littérature au second degré, 1982]. Frankfurt: Suhrkamp 1993. Genette spricht von ‚Hypertextualität‘, wenn ein Text B (in diesem Falle Dunkelstein) ohne einen Text A (in diesem Falle Instanzen der Ohnmacht) nicht existieren könnte und sich „auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise [auf ihn] bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren.“ (ebd., S. 15.) Das von Genette beschriebene Verhältnis betrifft üblicherweise literarische Texte und nicht Beziehungen zwischen einem literarischen und einem historiografischen Text. 115 Als ‚Transstilisierung‘ beschreibt Genette „eine stilistische Umarbeitung, eine Transposition, deren einzige Funktion eine Veränderung des Stils ist“ (ebd., S. 309).

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Ähnliches gilt für die Erinnerung der jüdischen Fürsorgerin an das Mädchen, das um vorübergehende Unterbringung in einem Heim bittet: Auch deren sachlichen Ton transponiert Schindel in eine emotional aufgeladene Begegnung (laut Nebentext beginnen die beiden Figuren zu schreien) zwischen dem vierzehnjährigen Mädchen und Esther Rebenwurzel, in der die Verwechslung von ‚Dachau‘ mit ‚Dachstein‘ wohl Kindlichkeit fingieren soll. In beiden Fällen erfolgt die Literarisierung des Hypertextes mittels Transposition in ein anderes Genre, infolgedessen sich etwa das Register ändert sowie Markierung von Emotionalität ergänzt wird. Beide Strategien werden in den kurzen Szenen, die Esther im Dialog mit den beiden Frauen zeigt, als Strategien von – bei aller begriffsgeschichtlichen Problematik – ‚realistischen‘ Darstellungsverfahren lesbar, insofern sie sich als ‚plausibel‘ und ‚wahrscheinlich‘ beschreiben lassen und gewisse Erwartungen erfüllen.116 Diese Erwartungen betreffen etwa die zeitliche Ordnung – im Gegensatz etwa zu Anachronien in Die Kannibalen samt verschmelzenden Zeitebenen – oder die Emotionalität der Figuren, schließlich gehört Schreien zu einem stereotypen Repertoire der Darstellung verzweifelter Frauen und ruft damit Wissen über einen kulturellen Code ab. Daraus lassen sich Schlussfolgerungen hinsichtlich der Ästhetik von Dunkelstein ziehen, die in weiterer Folge aufschlussreich für dessen Ästhetik des Grotesken sein werden. Eindeutig zeigt sich, wie die zitierten Szenen auf Wissensbestände aus historiografischen Diskursen rekurrieren. Da diese Darstellungsinhalte nicht verfremdet, sondern rekonstruiert werden sollen, dominieren literarische Strategien des klassischen Realismus in den Szenen über Akteur*innen des kommunistischen Widerstandes und die Fürsorge. Kontrastierend greifen auf der Zeitebene der Gegenwart gehäuft literarische Strategien der Verfremdung, da der Filmdreh Strategien des literarischen Realismus nicht anwendet, sondern thematisiert. Nachdem sich dieses Kapitel bisher den am Realismus geschulten Szenen gewidmet hat – deren Quellen und hypertextuellen Bezügen sowie ihrer Ästhetik –, liegt das Augenmerk im Folgenden auf literarischen Strategien der Verfremdung, vor allem in Schindels Darstellung des Filmdrehs. Die Inhalte der gedrehten Szenen legen nahe, dass Und Gott schaut weg die ‚Realität‘ der Konzentrationslager zeigen möchte, schließlich stellen die Kompars*innen Deportationen in Viehwaggons (vgl. etwa I/4, III/9) und Todesappelle nach – solche Szenen zählen zu Topoi (populärkultureller) Darstellungen der Shoah. Dass der Film-im-Drama auf die Vermittlung eines spezifischen Bildes der Todesappelle abzielt, zeigt sich, wenn in den fiktionalen Dreharbeiten der „Todesappell verschoben“ wird, weil „das Wetter […] zu prachtvoll“ (DS 16) ist. 116 Vgl. Morris, Pam: Realism. London, New York: Routledge 2003, S. 105.

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Als die Dreharbeiten nach einem Wetterwechsel aufgenommen werden, kommen zusätzlich Windmaschinen zum Einsatz, um die Kälte auch visuell ‚abzubilden‘: Filmset, Todesappell. Wir sehen einen Teil der Komparsen in Gruppen, darunter Willy Klang, alter Häftling, junger Häftling, Raffi, Aufnahmeleiter. Der hält ein Megaphon in der Hand Aufnahmeleiter: Seids so gut, geht’s langsam auf Position. Ich weiß, es ist kalt, aber es muss sein. Raffi: Werft ihr die Windmaschinen bei der Probe auch an, ihr Wahnsinnigen? Junger Häftling: Hab dich nicht so. Raffi: Ich bin der Sohn eines alten Wüstenvolkes. Ich frier mir nicht so gern den Arsch ab. Alter Häftling: (zu Willy Klang) Du hast mich gefragt, warum ich da bei dem Film mitmache. Willy Klang: Du hast mir keine Antwort gegeben. Wenn du nicht darüber reden willst, auch gut. Alter Häftling: Ich habe vier ältere Brüder. Ich habe vier ältere Brüder gehabt. Ich als der Jüngste bin mit dem Mosestransport nach England. Ich war fünfzehn. Willy Klang: Und jetzt willst du nachempfinden, wie es deinen Brüdern in der Shoah ergangen ist? Alter Häftling: Wieso weißt du? Aufnahmeleiter: (ins Megaphon) Alle jetzt die Position einnehmen! Hände auf die Hosennaht. Starr geradeaus schauen. Nicht in die Kamera schauen. Achtung, gleich kommt der Wind. Windmaschine. Unangenehmer Vorgang, denn es ist sehr kalt Willy Klang: Na servus, Gschäft. Raffi: Ist eh nicht arg. Aufnahmeleiter: Ruhe da hinten. Alter Häftling: (zwischen den Zähnen) Vergebliche Mühe, Willy. Ich kann den Brüdern nichts nachempfinden. Das sind ja hier nur Kinkerlitzchen. Willy Klang: Na warte, wenn du hier so einen Tag und eine Nacht stehst wie die damals in Theresienstadt beim Todesappell, in Holzschlapfen und nicht in solchen Edelböck. Dünnes Gewand, nix drunter … Aufnahmeleiter: Jetzt du umfallen. (Pause. Zu Raffi:) Umfallen. Der alte Häftling lässt sich gleichfalls fallen. Aufnahmeleiter: Du nicht, Herrgott. Die fallen ja nicht gleichzeitig vor Erschöpfung um. Einmal der, dann der. Steh wieder auf. Ich sage dir, wenn du umfallen darfst. Der alte Häftling steht wieder auf. Alter Häftling: Spiel dich nicht so auf! Aufnahmeleiter: Ich mach meinen Job. Mach du auch deinen Job. (DS 82 f.)

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Der Wunsch, den Verstorbenen etwas „nachzuempfinden“ zitiert den Topos der Einfühlung und verweist sowohl erinnerungskulturell als auch rezeptionsästhetisch darauf, dass der Film ein ‚realistisches‘ Bild der Vergangenheit ‚abbilden‘ möchte. Dies wird, so suggerieren die dargestellten Szenen, nicht mittels historischer Details erreicht, sondern mittels Überzeichnung und Klischee: etwa durch den Dreh im Winter (Szenen in Konzentrationslagern spielen oft im Winter oder brütend heißen Sommer, jedoch kaum an einem lauen Frühlingstag, vgl. Kapitel 1.3), die eingesetzten Windmaschinen sowie die „schwermütige[n] Melodien“ (DS 40), die ein Junge am Filmset auf der Flöte blasen soll und die sich anschließend zum „Judenelendsmotiv“ „verdichte[n]“ (DS 42). Ästhetischer Referenzrahmen sind die Debatte um das Bilderverbot, die Und Gott schaut weg systematisch unterwandert. Anders als etwa in Lanzmanns Shoah kommen Maske, Garderobe etc. eine wichtige Rolle zu. So werden etwa die Vorbereitungen zum „Set Elendsquartier“ beschrieben: „Maske, Garderobe laufen noch rum, nesteln an diversen Statisten“, während Willy Klang und der alte Häftling „laut Drehbuch düster vor sich hinzuschauen“ (DS 40) haben. Außer solchen Strategien zur Herstellung eines Realitätseffektes soll wohl auch das Judentum der Komparsen zu einem solchen Effekt beitragen, indem jüdische Komparsen jüdische Ghettohäftlinge darstellen. Die (vermeintliche) ‚historische Authentizität‘, die durch eine Entsprechung zwischen historischer Person und mediatisierter Figur erreicht werden könne, machte Brecht bereits 1928 in dem kurzen Text Die Bestie zum Thema: Er erzählt von Dreharbeiten zu einem Film über russische Pogrome, bei denen ein älterer Mann sich wegen seiner „außerordentlichen Ähnlichkeit mit dem berühmten Gouverneur Muratow“, dem „Urheber jener blutigen Metzeleien“,117 von denen der Film erzählt, um Beschäftigung bewirbt. Die Erzählinstanz versichert, es sei nicht ungewöhnlich gewesen, „historische Rollen statt mit Schauspielern mit ähnlichen Typen“ (Bestie 327) zu besetzen, doch reicht Ähnlichkeit hier nicht aus: Das Schauspiel des älteren Mannes – des „Ähnlichen“ (Bestie 327, 328, 329) – muss verbessert werden, da seine sachlich-nüchterne Spielweise nicht dem Verhalten einer „Bestie“, sondern eher eines „kleine[n] Beamten“ (Bestie 328) entspreche. Die sich anschließende Überkompensation des „Ähnlichen“ wird wiederum mit der Begründung zurückgewiesen, seine Darstellung zeige einen „Bösewicht alter Schule“ (Bestie 329). Der ursprünglich als Muratow-Darsteller geplante Schauspieler, der den Part gerne an den älteren Mann abträte, um „seine Volkstümlichkeit durch die Darstellung einer ausgemachten Bestie [nicht] aufs Spiel zu setzen“ (Bestie 327), springt nun, inspiriert vom Schauspiel des „Ähnlichen“ ein und spielt die Szene so vor, dass den Anwesenden „das Herz im Leibe stockte“ (Bestie 330). Angesichts 117 Brecht, Bertolt: Die Bestie. In: ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Fünfter Band: Prosa. Frankfurt: Suhrkamp 1997, S. 326–331, hier: S 326. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Bestie.

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dieser schauspielerischen Leistung ist „der Ähnliche“ nicht mehr vonnöten: „Es hatte sich eben wieder einmal gezeigt, daß bloße Ähnlichkeit mit einem Bluthund natürlich nichts besagt, und daß Kunst dazu gehört, um den Eindruck wirklicher Bestialität zu vermitteln“ (Bestie 331), urteilt die Erzählinstanz. Die ‚Pointe‘ von Brechts Text ist, wenig überraschend, dass der „Ähnliche“ Muratow nicht nur darstellt, sondern ihn tatsächlich verkörpert, er also der Dargestellte ist. Der Schauspieler verkörpert die ‚Bestie‘ – genauer gesagt: das Bild der ‚Bestie‘ – ‚authentischer‘ als die historische Person sich selbst; die Vorstellung von historischer Realität übersteigt die tatsächliche historische Realität. Brecht negiert damit den Realitätseffekt, der erwartet wird, wenn Menschen ihr eigenes Schicksal spielen und führt vor, wie das Simulacrum einer historischen Person als ‚realistischer‘ und ‚authentischer‘ eingestuft wird als die historische Realität selbst, wie also Muratow an das Bild von ‚Muratow‘ angepasst werden muss.118 In der Theatergeschichte befasste sich Diderot im Paradox über den Schauspieler (1770–1773) mit dem Paradoxon, dass nicht die historische Person ein Bild von sich selbst am besten vermittelt, sondern der Schauspieler, dem ein bestimmtes Bild von dieser Realität vorschwebt. Es lässt sich in eine Debatte innerhalb der französischen Schauspieltheorie und -praxis des 18. Jahrhunderts über die Frage einordnen, wie sich auf der Bühne „eine glaubwürdige Menschendarstellung erzeugen ließe“.119 Auf dem Spiel stand in europaweiten Debatten über die Programmatik der Schauspielkunst, „ob der Schauspieler bei seinem Spiel die dargestellten Leidenschaften selbst haben müsse, oder ob ‚die Tränen des Schauspielers‘, wie Denis Diderot schrieb, ‚aus seinem Gehirn‘ stammen und eben dies das Paradoxon seiner Gefühlsdarstellung sei.“120 So folgerte Diderot: „Übertriebenes Gefühl macht mittelmäßige Schauspieler, mittelmäßiges Gefühl macht die Masse der schlechten Schauspieler, und der absolute Mangel an Gefühl ist die Voraussetzung für erhabene Schauspieler.“121 Damit liegt die paradoxe Voraussetzung des Eindrucks von ‚Authentizität‘ in der kalkulierten Reproduktion von Affekten, ohne dass der Schauspielende diese Affekte selbst empfindet – nicht der Affekt der Schauspielenden ist gefordert, sondern dessen Reproduktion.122 118 Für ein zeitgenössisches Beispiel vgl. Kapitel 1.5, in dem an Menasses Vertreibung aus der Hölle der Konstruktionscharakter von Bildern von ‚Juden‘ beschrieben wurde, wenn Menasse antisemitische Gemeinplätze als Voraussetzung für den Eindruck von Authentizität bei der Verkörperung einer jüdischen Figur zeigt. 119 Stegemann, Bernd: Schauspielen. Theorie. Berlin: Verlag Theater der Zeit 2010, S. 77. 120 Kurzenberger, Hajo: „Drama und Schauspieler“. In: Englhart, Andreas/Schößler, Franziska (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Drama. Berlin, Boston: de Gruyter 2019, S. 465–479, hier: S. 474. 121 Diderot, Denis: Das Paradox über den Schauspieler [gekürzte Fassung]. In: Stegemann: Schauspielen, S. 84–96, hier: S. 88. 122 Diderots Annahme steht in offensichtlichem Gegensatz zu Taboris Arbeit mit Schauspielern (vgl. Kapitel 3.2).

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Während in Schindels Film-im-Drama also diverse Mittel darauf abzielen, ein Simulacrum von Theresienstadt zu entwerfen, unterlaufen die literarischen Strategien bei der Darstellung dieses Filmdrehs diese Mittel. Folglich lassen sich die Ästhetik des Film-im-Drama auf der einen Seite und die Darstellung des Filmdrehs auf der anderen auf zwei Polen des Spektrums von ‚realistischer‘ und verfremdender Ästhetik verorten. Dunkelstein möchte kein Simulacrum von Theresienstadt entwerfen, sondern reflektiert die Genese eines solchen Simulacrums – etwa, indem Schindel den Einsatz von Windmaschinen zeigt, indem er die Kommandos an die Statist*innen verbalisiert, im richtigen Moment zusammenzubrechen, und indem er den Autonomieverlust der jüdischen Komparsen gegenüber dem Aufnahmeleiter123 zur Schau stellt. In ein Repertoire solcher Strategien zur Störung des Realitätseffektes lassen sich weitere Passagen in Dunkelstein einordnen, wie die oben zitierte Szene, in der Willy Klang über Esther spricht: Schindel wechselt von der Zeitebene der Vergangenheit, in der Esther für sich selbst spricht, in die Zeitebene der Gegenwart, in der Willy Klang über sie spricht.124 Stellvertreterschaft im Sprechen ist, so hat sich gezeigt, ein umkämpftes Feld in Shoah-Diskursen: Während sich Überlebende zuerst als Sprechende in Shoah-Diskursen etablieren mussten, stellt sich infolge ihres Ablebens eine zentrale Verschiebung hin zur Mediatisierung ihrer Erfahrungen ein. Dieser Sprecher*innenwechsel von Esther zu dem ‚alten Willy Klang‘ geht nicht störungsfrei von sich, denn Schindel integriert eine nicht näher definierte 123 Bereits der Prolog streicht die Autorität des Aufnahmeleiters über die jüdischen Statist*innen heraus, als dieser das weiter oben geschilderte Gespräch zwischen Willy Klang, dem alten Häftling und Raffi unterbricht: „AUFNAMEHELEITER: (hereinschreiend) Zum Set. Todesappell. Gemma, gemma. […] WILLY KLANG: Jaja, wir müssen. Immer müssen wir. Wir müssen immer.“ (DS 10) Auf einen ‚Befehl‘ des Aufnahmeleiters an die Komparsen „Ende mit dem gemütlichen Plauscherl. Auf Position.“ reagiert Raffi: „(steht auf, Hacken zusammenschlagend) Heil Hitler!“ (DS 36) 124 Die Figur Willy Klang fungiert als Scharnier zwischen den Zeitebenen und übernimmt an manchen Stellen die Funktion einer extern fokalisierten Erzählinstanz, die Ereignisse aus der historisch informierten Retrospektive erklärt, Vergangenes kommentiert, Informationen nachträgt – so finden sich auf der gegenwärtigen Zeitebene wiederholte Aufforderungen an ihn, von Dunkelstein zu erzählen (vgl. etwa DS 16, 52, 79). Diese Aufforderungen lösen oft einen Wechsel von der gegenwärtigen auf die vergangene Zeitebene aus: Auf dieser wird das von Willy Klang Erzählte szenisch gezeigt. Auf der Handlungsebene der Gegenwart übernimmt Willy Klang somit auch Stellvertreterschaft im Erzählen über Dunkelstein und fungiert damit auch als Verbindung zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Es lässt sich vermuten, dass auch Willy Klang einer historischen Person nachempfunden ist – möglicherweise folgender Person, die Rabinovici beschreibt: „der junge Willy Stern, ein einfacher Ordner, eine Art Laufbursche zwischen der jüdischen Verwaltung in der Seitenstettengasse und der Gestapo am Morzinplatz“ (Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 341). Für ein Oral History Interview mit Willy Stern vgl. „Oral history interview with Dr. Wilhelm (‚Willy‘) Stern“. RG Number: RG-50.862.0016. URL: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn607586 [2.4.2021].

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Lautsprecherstimme, die das Erzählte kommentiert („illegal“, „unter Lebensgefahr“, s. oben). Der Sprecher*innenwechsel an sich ist nicht als literarische Strategie der Verfremdung lesbar, doch durchbricht die Lautsprecherstimme die Illusion, stört den Realitätseffekt und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gemachtheit der Szene und auf die Komplexität des Mediatisierungsprozesses. Diese literarischen Verfahren ähneln dabei jenen Strategien, die Tabori in den Kannibalen unter Zuhilfenahme von Lautsprecherstimmen anwendet. Ähnliche Verfahren zur Störung des Realitätseffektes lassen sich auch für jene Textpassagen beschreiben, in denen Schindel historisches und literarisches Textmaterial als intertextuelle Zitate (Genette125) in das Drama montiert. An drei Stellen arbeitet Schindel dergestalt den historischen Kontext in den Handlungsverlauf ein: die Ankündigung antijüdischer Maßnahmen im Laufe des Jahres 1938, die Annexion Österreichs 1938 sowie den Kriegsausbruch 1939. Die letztgenannten historischen Zäsuren integriert Schindels mittels Zitaten von zwei kanonisierten Gedichten; so vermittelt im zweiten Akt die Projektion eines Fotos vom Wiener Heldenplatz samt „Führer auf dem Balkon“ (DS 29) und das zeitgleiche Verlesen von Ernst Jandls wien: heldenplatz die Annexion Österreichs. Den dokumentarischen Gestus der Szene – das Foto als dokumentarisches Material beglaubigt historische Evidenz – unterläuft Jandls sprachexperimentelles Gedicht. Das generische Spannungsverhältnis zwischen dokumentarischem Foto und sprachexperimentellem Gedicht kann erstens als Störung des Realitätseffektes beschrieben werden. Zweitens bedingen die beiden verschiedene ästhetische Stimmen Archivmaterial vs. Sprachexperiment den polyphonen (bzw. polymedialen) Charakter des Textes. Als vergleichbares literarisches Verfahren indiziert gegen Beginn des dritten Aktes Matthias Claudius’ Kriegslied (1778; „‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg! O Gottes Engel wehre, / Und rede du darein!“ usw., DS 74) den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges: Ein Komparse sitzt lesend am Filmset, während eine Lautsprecherstimme Kriegslied verliest; nach Verklingen der Stimme betritt Willy Klang den Raum, „nimmt dem jungen Häftling das Buch mit den Gedichten von Matthias Claudius aus der Hand, schaut, was der gelesen hat, nickt.“ (DS 74) Kriegslied verbindet die beiden Zeitebenen und öffnet den Assoziationsraum für die Erinnerung an a­ ndere europäische Kriege. In der dritten Textstelle montiert Schindel nicht literarische, sondern historiografische Prätexte in Dunkelstein – eine den Realitätseffekt störende Lautsprecherstimme verliest abermals „sachlich“ (DS49) antijüdische Maßnahmen. Als historische Kontexte werden solcherart die „Verordnung über die Anmeldung 125 Vgl. Genette: Palimpseste, S. 10 f. Von ‚Intertextualität‘ spricht Genette im Falle der „effektive[n] Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ (ebd.), etwa in Form eines Zitats – wie im vorliegenden Fall –, eines Plagiats oder einer Anspielung.

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des Vermögens von Juden“ vom 26. April 1938 und der „Approbationsentzug für jüdische Ärzte“126 vom 25. Juli 1938 in den Dramentext integriert. Auch der Erlass, als zweiten Vornamen ‚Israel‘ oder ‚Sara‘ anzunehmen, wenn Vornamen von Jüd*innen nicht als ‚jüdisch‘ erkennbar sind (17. August 1938), wird solcherart eingeflochten.127 Etwa liest die Lautsprecherstimme: 25.7.1938: Die Approbationen jüdischer Ärzte erlöschen am 30.9. Statt Arzt Krankenbehandler. […] 17.8.1938 (gilt ab 1.1.1939): Juden dürfen nur solche Vornamen beigelegt werden, die in den vom RM des Inneren herausgebrachten Richtlinien von Vornamen angeführt sind. Sonst Israel, Sara. (DS 51)

Als literarische Verfahren stehen diese intertextuellen Zitate kontrapunktisch den Strategien des klassischen Realismus auf der Zeitebene der Vergangenheit gegenüber und tragen so einer Genrediversifikation sowie einer Diversifikation von Ästhetiken Rechnung, die den Rezeptionsprozess verkompliziert. Wenn sich Inhalte von massenmedial verfügbaren Bildern der Shoah (etwa von Deportationsszenen, Todesappellen, nackten Toten etc.) oder deren (Re-)Inszenierung abnützen, beginnen Rezipient*innen, mit Šklovskij gesprochen, mehrere Male wahrgenommene Dinge bald nur noch „wiedererkennend wahrzunehmen: wir haben das Ding vor uns, wir wissen, daß es da ist, aber wir sehen es nicht mehr. […] In der Kunst wird die Befreiung der Dinge vom Automatismus mit verschiedenen Mitteln erreicht“128 – etwa mittels Strategien der Verfremdung. Solche Verfahren bewirken in Dunkelstein, dass die Rezipient*innen das Simulacrum (einen Film über ein Ghetto) nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern seine ­Genese reflektieren. Wahrnehmung wird verkompliziert129 und des Automatismus enthoben, indem sie von konventionalisierten Mustern abweicht. Damit lenken diese literarischen Strategien die Aufmerksamkeit auch auf die Beschaffenheit von Erinnerung und den diskursiven Konstruktionsprozess von Erinnerungsinhalten. Abschließend sei an die Feststellung erinnert, dass die Diversität der beschriebenen literarischen Verfahren den polyphonen Textcharakter von Dunkelstein

126 „An diesem Tag“. Ein Projekt des Leo-Baeck-Instituts New York/Berlin, das die Erfahrungen des Jahres 1938 aus jüdischer Perspektive dokumentiert. URL: https://www.lbi.org/1938projekt/ de/an-diesem-tag/ [2.4.2021]. 127 Vgl. ebd. 128 Šklovskij Viktor: Theorie der Prosa. Frankfurt: Fischer 1966, S. 14. 129 Vgl. ebd., S. 13.

4.6 Komik und Generizität

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bedingt und das Drama dergestalt diverse ästhetische Stimmen und (ideologische) Positionen integriert. In Das Wort im Roman nennt Bachtin zwei Charakteristika des ‚humoristischen Romans‘: Erstens werde eine Vielfalt von ‚Sprachen‘ und verbal-ideologischen Horizonten – gattungs- und berufsspezifische, ständisch-gruppenspezifische […], Sprachen von Richtungen, Alltagssprachen […] usw. – eingeführt, allerdings vorwiegend im Rahmen der schriftlichen und mündlichen Hochsprache; dabei werden diese Sprachen meist nicht an bestimmte Personen […] geknüpft, sondern anonym ‚vom Autor‘ eingeführt.130

Zweitens werden die „eingeführten Sprachen und sozioideologischen Horizonte“ als „verlogen heuchlerische, eigennützig, beschränkt, eng verstandesmäßig, der Wirklichkeit unangemessen, entlarvt und zerstört.“131 Bachtins Ausführung zum ‚humoristischen Roman‘ ließe sich weitgehend in eine Beschreibung von Dunkelstein einpassen. Mit der Genrediversifikation lässt sich so nicht nur der polyphone Charakter des Dramas beschreiben, sondern auch der Zusammenhang zwischen der Ästhetik von Dunkelstein, Bachtins Begriff von ‚Komik‘ und seiner Groteskenkonzeption herstellen; ihm gilt das folgende Kapitel.

4.6 Komik und Generizität Für die Beschreibung der Ästhetik des Grotesken in Dunkelstein sei daran erinnert, dass Bachtin seine Groteskenkonzeption in einen gattungsgeschichtlichen Zusammenhang stellt. Berücksichtigt man solch eine gattungsgeschichtliche Einbettung von Ästhetiken des Grotesken, lässt sich daraus die eminente Bedeutung der in Dunkelstein zitierten Diskurse und Ästhetiken erschließen, denen die vorhergehenden Kapitel galten. Es wurde dargelegt, wie Dunkelstein philosophische, identitätspolitische, historiografische Diskurse (vgl. Kapitel 4.2, 4.3) verbindet. Wie Schindel religiöse Texte (in Dunkelsteins Predigt, vgl. Kapitel 4.4) zitiert und oral-history-Texte als Quellenmaterial verwendet (vgl. Kapitel 4.5) und solcherart im Drama divergierende (ideologische) Positionen nebeneinanderstehen. Diverse Stillagen – etwa die gebundene Rede in Dunkelsteins Monologen im Gegensatz zur Alltagssprache des Streitgesprächs am Filmset – verbindet Schindel ebenso wie unterschiedliche Genres, wenn sich neben das Genre des Streitgesprächs etwa ein selbstreflexiver Monolog stellt, der Motive aus der Literaturgeschichte aufnimmt (Hamlet als Prätext für Dunkelsteins Predigt, vgl. Kapitel 130 Bachtin: Das Wort im Roman, S. 201. 131 Ebd., S. 201 f.

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4. Mediatisierung und Judenräte

4.4). Die vorhergehenden Kapitel haben also gezeigt, wie in Dunkelstein dergestalt diverse Subjektpositionen und Weltbilder miteinander in Kontakt treten (vgl. Bachtins Verständnis literarischer Texte in Kapitel 2) und die komplexe historische Situation von Judenräten in einen polyphonen Text gefasst wird (an dieser Stelle sei an Sem-Sandbergs im Kontrast dazu auffällig monoperspektivischen Roman Die Elenden von Łódź erinnert). Es sei überdies an die Verflechtung von Bachtins Groteskenkonzeption und seinen Arbeiten zur Gattungstheorie erinnert, die auch die Rabelais-Studie kennzeichnet: Bachtin liest Gargantua und Pantagruel als Indikator für das Entstehen einer neuen Gattung (vgl. Kapitel 2) und sieht das Werk in einem gattungsgeschichtlichen Paradigma, das bis zur menippeischen Satire der Antike zurückreicht – in die Tradition von dessen Namensgeber Menippos von Gardara und späteren Vertretern wie Lukian stellt Bachtin auch Rabelais und Dostojewski.132 Die menippeische Satire beschreibt er als einen „Hauptträger und -vermittler des karnevalistischen Weltempfindens in der Literatur bis in unsere Tage.“133 Die Menippee, von der Bachtin-Forscherin Renate Lachmann definiert als „Mischgattung, die in der Brechung der epischen und tragischen Distanz Antwort auf eine Krise der offiziellen hohen Gattungen ist“,134 versteht Bachtin als Repräsentantin eines Gattungsgedächtnisses, da sie das Wissen diverser (historischer) Gattungen am Leben erhalte. Die Verbindung zwischen der Menippee und seinem Interesse an Rabelais besteht etwa in der für Gargantua und Pantagruel beschriebenen Mischung von Diskursen – offiziellen wie inoffiziellen (es sei an den Untertitel der Rabelais-Studie Volkskultur als Gegenkultur erinnert) –, Sprachen (Latein und Vulgärsprachen) und sozialen Wahrnehmungsmodi. Es wurde bereits festgestellt, das Bachtin ab der Publikation von Probleme der Poetik Dostoevskijs (1929) sein Verständnis des ‚offenen Kunstwerks‘ entwickelte, das er von einer deskriptiven Theorie zur Forderung nach einem polyphonen Textcharakter als Qualitätsmerkmal von Prosatexten erweiterte (vgl. Kapitel 2). Seine Auseinandersetzung mit der Menippee ist in diesem Kontext zu lesen: In Probleme der Poetik Dostoevskijs beschreibt Bachtin, wie die Menippee „in großem Ausmaß andere Gattungen“ inkorporiere, die „in unterschiedlicher Distanz zur letzten Position des Autors [erscheinen], d.h. sie sind in unterschiedlichem Maße parodistisch oder objektiviert.“ Diese „eingefügten Gattungen verstärken die Vielfalt der Stile und Töne in der Menippee“135 und tragen dabei zu einem polyphonen Textcharakter bei. 132 Vgl. Bachtin, Michael: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein 1985, z.B. S. 121, 130, 135. Zu Gattungsgeschichte und Gattungsmerkmalen der Menippee vgl. S. 126–133. 133 Ebd., S. 127. 134 Lachmann, Renate: Vorwort zu Rabelais und seine Welt. In: RW, S. 7–46, hier: S. 30. 135 Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 132.

4.6 Komik und Generizität

271

Die Komikforschung fokussiert in ihrer Lesart der menippeischen Satire vor allem auf die für sie konstitutive Gattungsmischung:136 Sie sei „typologisch prägend und sogar als traditionsbildend für Prosasatiren und satirische Prosa bis in die Gegenwart.“137 – zu literaturgeschichtlichen Beispielen zählen satirische Romane wie Gargantua und Pantagruel, Grimmelshausens Simplicissimus (1668), Voltaires Candide (1759) oder Grass’ Blechtrommel (1959).138 Bachtin sieht solch eine Verbindung von Genres, Stilen und Diskursen sowie die Kollision von Tragischem und Komischem als konstitutiv für seine gattungsgeschichtliche Groteskenkonzeption. Dass solch ein Mischverhältnis charakteristisch auch für die Ästhetik von Dunkelstein ist, hat sich bereits gezeigt. Im Speziellen deutet die im Peritext genannte Genrebezeichnung ‚Realfarce‘ dieses Mischverhältnis an. Die Etymologie des Begriffs ‚Farce‘ verweist in die Küchensprache, wo der lateinische Ausdruck für „stopfen, mit Füllsel versehen, eine Wurst machen, mästen“ seit dem 18. Jahrhundert im deutschen Sprachraum „als Alternative zu ‚Gehäck‘ im Sinne einer Fleischfüllung“ nachweisbar ist.139 Eine übertragene Bedeutung von ‚Farce‘ als Gattungsbezeichnung im Sinne von ‚Gemisch‘ und ‚Füllsel‘ führt in die französische Tradition der Mysterien- und Mirakelspiele: Dort erfüllte die Farce die Funktion eines ‚komischen Füllsels‘.140 Auf den hybriden Charakter der Farce hat Gerhard Mack in seiner Studie zur Gattungsbestimmung hingewiesen: Für das 12. Jahrhundert nennt er „Hybridisierung aus Volkssprache und Latein in Heiligenlegenden fürs Volk“141 konstitutiv. Von Beginn stand die Farce also neben anderen Stillagen und Genres; auch eine Mischung von komischen und ernsthaften Elementen ist in ihrer Gattungsgeschichte kon136 Vgl. etwa Zymner, Rüdiger: „Satire“. In: Wirth: Komik, S. 21–25, hier: S. 23. – vgl. Möllendorff, Peter von: „Satirischer/Parodistischer Roman. Antike“. In: Wirth: Komik, S. 250–255, hier: S. 252. 137 Zymner: „Satire“, S. 24. 138 Vgl. ebd. 139 Mack, Gerhard: Die Farce. Studien zur Begriffsbestimmung und Gattungsgeschichte in der neueren deutschen Literatur. München: Fink 1989, S. 22. 140 Catholy, Eckehard: „Farce“. In: Kohlschmidt, Werner/Mohr, Wolfgang (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Berlin, New York: de Gruyter 2001, S. 456–458, hier: S. 456. 141 Vgl. Mack: Die Farce, S. 23. Im deutschen Sprachraum verbreitete sich der Begriff ‚Farce‘ als Gattungsbezeichnung erst im 18. Jahrhundert, wurde von Goethe, Lenz, Klinger und Heinrich Leopold Wagner als Variation des Lustspiels fruchtbar gemacht, anschließend jedoch wieder verdrängt. Erst im Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte die Farce eine Renaissance (etwa bei Frisch, Dürrenmatt, Jarry, Ionesco, Beckett, Arrabal, Dario Fo oder Ayckbourne). Vgl. ebd. – Catholy: „Farce“. – Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner 82001, S. 260 f. Mack stellt die auffallende Aktualität der Farce in der Dramatik der 1980er Jahre fest, nachdem sie vom deutschsprachigen Theater mehr als 100 Jahre ausgeschlossen gewesen sei – im Gegensatz übrigens zur lebendigen Farcentradition im anglo-amerikanischen Sprachraum (vgl. Mack: Die Farce, S. 10 f. sowie S. 19).

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4. Mediatisierung und Judenräte

stitutiv. In dieser Mischung von Stillagen, Genres und komischen wie ernsthaften Inhalten ist sie der menippeischen Satire also strukturverwandt. Ein für Farce wie menippeische Satire konstitutives Mischverhältnis zeichnet auch Dunkelstein aus und stellt das Drama in eine Traditionslinie des Komischen. Für eine genauere Beschreibung der Stillagen, Genres und komischen beziehungsweise tragischen Elemente in Dunkelstein ist es nun notwendig, das komplexe Verhältnis zu betrachten, das zwischen den Handlungselementen besteht, die sich der historischen Realität auf der einen Seite und jenen, welche die Repräsentation von historischer Realität thematisieren, auf der anderen. Sie seien im Folgenden als textueller ‚Real-‘ und als ‚Repräsentationsraum‘ bezeichnet. Der ‚Realraum‘ des Dramas betrifft erstens historische Rolle und Funktion von Judenräten und jüdischen Funktionären in den 1930er und 1940er Jahren; zweitens die Verfolgung und Ermordung von Jüd*innen in Ghettos und Konzentrationslagern, die der Film-im-Drama zeigt. Der ‚Repräsentationsraum‘ betrifft den Filmdreh, ist also vor allem im Handlungsstrang der Gegenwart verortet. Das Verhältnis von Real- und Repräsentationsraum ist verschachtelt, denn die Zeitebenen wechseln kontinuierlich. Außerdem nehmen Figuren auf der gegenwärtigen Zeitebene fortwährend Bezug auf Figuren und Ereignisse der vergangenen Zeitebene. Dazu kommt, dass der Filmdreh (Repräsentationsraum) manche Handlungselemente zum Gegenstand hat, die auf der vergangenen Zeitebene diskutiert werden und die sich also auf den Realraum beziehen. Schließlich t­ reffen Real- und Repräsentationsraum auch in den Komparsen aufeinander, zeigt Schindel doch im Filmdreh jüdische Menschen, die ihr eigenes Schicksal spielen: der Komparse ‚alte Häftling‘ ist Überlebender des KZ Ebensee, der Komparse Willy Klang ehemaliger Mitarbeiter der IKG; beide sind sowohl Schauspieler als auch Zeitzeug*innen. Am augenfälligsten treffen Real- und Repräsentationsraum in jener Szene aufeinander, in der ein jüdischer Komparse beim Dreh einer Deportationsszene in einem Viehwagen ein traumatisches Flashback erleidet (vgl. Kapitel 4.8) und damit Real- und Repräsentationsraum für ihn ununterscheidbar ­werden. Die im Realraum gezeigte historische Situation ist nicht nur komplex (vgl. Kapitel 4.2–4.5), sondern auch ‚tragisch‘: Judenräte und jüdische Funktionäre standen vor der Aufgabe, an der Organisation ihrer systematischen Ermordung mitzuarbeiten, während sie gleichzeitig unter der Vorspiegelung der ‚Selbstverwaltung‘ als Repräsentanten jüdischer Menschen mit vorgetäuschter, real kaum existierender Entscheidungsmacht ausstaffiert wurden. Diese ‚tragische‘ Situation ist nun auch die realhistorische Referenzfolie für die Auseinandersetzung mit der ‚Darstellbarkeit‘ der Shoah, die auf der gegenwärtigen Zeitebene des Dramas der Filmdreh thematisiert. In diesen Passagen ist Dunkelstein ein reflektiertes Spiel über das Film-Spielen: Ein Film in einem Drama soll darstellen, was im Drama ebenfalls dargestellt wird – in einem literari-

4.6 Komik und Generizität

273

schen Text, der von Judenräten erzählt, wird ein Film über Judenräte gedreht (z.B. die „Szene Judenrat“,(DS 70) und das Filmset „Haus des Judenrats“ (DS 105)). Außerdem stellen jüdische Komparsen für einen Film die Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen nach (etwa mimt Willy Klang, der als Mitarbeiter der IKG die Shoah überlebt hat, am Ende des Dramas im „Befreiungsdreh[] Theresienstadt“ (DS 110) einen Toten). Indem in solchen Szenen über den Filmdreh Real- und Repräsentationsraum ineinandergreifen, werden sie als doppeltes Spiel-im-Spiel zum Aushandlungsort zeitgenössischer Darstellungsdebatten. Die „selbstreflexive[] Anlage“ und der „ständige[] Einsatz[] von ‚Spiel-im-Spiel‘-Konstellationen“,142 welche die Forschung als konstitutiv für die Komik beschreibt, sind charakteristisch auch für Dunkelstein und machen das Drama in dieser Hinsicht zu einem komischen Text. Nicht auf komische Effekte zielt Dunkelstein, nicht realhistorische Konstellationen oder realen Personen nachempfundene Figuren werden verlacht, sondern die Struktur des Dramas und dessen selbstreflexive Anlage stellen Dunkelstein in ein Paradigma des Komischen. Die Figur Dunkelstein mag zwar an manchen Stellen in einer Figurentypologie des Komischen stehen – er ist korrupt, cholerisch und machthungrig; den realhistorischen Murmelstein beschreibt H.G. Adler in seiner Theresienstadt-Monografie übrigens als „Fallstaff “143 –, doch bleibt Dunkelstein eine vielschichtige Figur, die keinen Anlass bietet, verlacht zu werden. Vielmehr werden die Akteur*innen vor der historischen Situation, deren ‚Tragik‘ lange Zeit kaum erfasst wurde (z.B. Arendt, s. oben), als ‚tragische‘ Figuren kenntlich. Komik ist in Dunkelstein also vor allem als gattungsgeschichtliche Konstellation zu sehen. Die für Ästhetiken des Grotesken konstitutive Gattungsmischung (Bachtin) und die Mischung von Stillagen (‚tragische‘ realhistorische Situation, ‚komische‘ Struktur etc.) sowie von Hohem und Niederem lassen sich darüber hinaus mit dem Genre der Farce verbinden – es gilt also, auf die Genrebezeichnung ‚Realfarce‘ zurückzukommen. Gängige Definitionen der ‚Farce‘ bezeichnen sie etwa als „Lachstück, das von der Beachtung tragender Ordnungsgrößen der Gesellschaft – Ethik, Wahrheitskriterien, Vernunft – suspendiert ist“,144 oder beschreiben, dass sie „bestimmte Verhältnisse des Lebens karikaturistisch so weit [übertreibe], daß eine eigene burleske Welt entsteht.“145 Nun ist allerdings die Übersteigerung der Realität in eine burleske Welt gerade nicht eine auf Dunkelstein zutreffende Beschreibungs142 Ellricht, Lutz: „Komik mit theatralen Mitteln: Körper – Inszenierung – Interaktion“. In: Wirth: Komik, S. 174–177, hier: S. 176. 143 Adler: Theresienstadt 1941–45, S. 114. 144 Mack: Die Farce, S. 25. 145 Catholy: „Farce“, S. 456.

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kategorie. Indes klassifiziert Schindel sein Drama auch nicht als ‚Farce‘, sondern als ‚Realfarce‘: Nicht die Darstellung der Realität gilt ihm als Farce, sondern die Konstellationen dieser Realität. Welche Konstellationen setzt Schindel also als farcenhaft ins Werk? Erstens die realhistorische Situation von Judenräten und jüdischen Funktionären in den 1930er und 1940er Jahren: In einer Welt, in der Menschen unter dem Deckmantel der ‚Selbstverwaltung‘ an der Organisation ihrer eigenen systematischen Ermordung mitarbeiten, können moralisch-ethische Ordnungsgrößen der Gesellschaft als suspendiert gelten. Zweitens eignet auch bestimmten Repräsentationen dieser historischen Wirklichkeit ein farcenhafter Charakter, wenn etwa Menschen als Statist*innen ihre eigene Ermordung nachstellen. Diese Konstellation ist ebenfalls realhistorisch beziehungsweise filmgeschichtlich präfiguriert: In Ruth Beckermanns Dokumentarfilm Die papierene Brücke (1987)146 begibt sich die Regisseurin auf die Spuren von zeitgenössischem jüdischem Leben in Osteuropa, das sie als eng verflochten mit der Shoah zeigt. Von Beckermanns vielseitiger Auseinandersetzung mit jüdischem Leben ‚post Shoah‘ sind für vorliegenden Kontext vor allem jene Szenen interessant, die Beckermann im jugoslawischen Osijek an der Drau gedreht hat. Dort begleitete sie Dreharbeiten des Mehrteilers War and Remembrance der US-amerikanischen Fernsehstation ABC filmisch. War and Remembrance wurde in den Jahren 1988/89 ausgestrahlt und erhielt mehrere Emmys und drei Golden Globe-Awards, ist jedoch heute weitgehend unbekannt (im Gegensatz etwa zum Mehrteiler Holocaust (USA 1978/ BRD 1979), der mit vergleichbaren Ästhetiken arbeitet). Für die in Theresienstadt spielenden Szenen in War and Remembrance diente die barocke Festungsanlage in Osijek als Kulisse. In den Drehpausen von War and Remembrance hat Beckermann am Set gefilmt, diese Szenen sind Teil von Die papierene Brücke: Kompars*innen sitzen in einem Aufenthaltsraum – die meisten von ihnen scheinen Jüd*innen zu sein – und ihre Gespräche erörtern etwa Möglichkeiten des Widerstands während der Shoah oder Friktionen innerhalb der Wiener jüdischen Gemeinde. Unter den Kompars*innen ist ein junger österreichischer Schriftsteller namens Robert Schindel, als Ghettoinsasse kostümiert und mit einem Judenstern am Revers,147 der erzählt, wie ihn die Kameraleute stets im Profil filmen möchten, wohl wegen seiner ‚jüdischen Nase‘. Diese Filmszene aus Die papierene Brücke (1987) erinnert an den Epilog von Gebürtig (1992), in dem die Figur Danny tagebuchartige Aufzeichnungen über einen Filmdreh führt: Er ist nach „Theresienstadt in ABC-Version“ im „slawonischen Osijek“ (G 341) gefahren, um dort „der ABC-Fernsehgesellschaft für die Fernsehserie ‚Krieg und Erinnerung‘ die Nah146 Vgl. Beckermann, Ruth: Die papierene Brücke. DVD, 92 Min., Österreich 1987. 147 Vgl. ebd., 46:00. Das kurze Gespräch mit Schindel beginnt bei 50:30.

4.6 Komik und Generizität

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komparserie zu liefern“ (G 343). Er beschreibt weiter, wie ihn der erste Regieassistent „sofort erspäht und in einen gewissen Vordergrund placiert“ habe, „damit die Welt nicht vergißt, was ein jüdisches Gesicht ist.“ (G 349) Hypertextuelle Bezüge zwischen Die papierene Brücke, Gebürtig und Dunkelstein werden an dieser subtilen Auseinandersetzung mit künstlerischer Repräsentation des ‚jüdischen‘ Körpers kenntlich; ebenso die Verschachtelung von Real- und Repräsentationsraum, also von Bezügen zwischen den Erfahrungen des realen Autors Robert Schindel in Die papierene Brücke, dem Tagebuch der fiktiven Figur Danny in Gebürtig und den Filmszenen in Dunkelstein. In Gebürtig tritt wiederum eine die Filmregisseurin Beckermann reminiszierende Figur auf: die „Dokumentarfilmerin aus Wien und Czernowitz148“ Esther Lichtblau, die „ihre Melancholie mittels laufender Bilder verstärken und beenden zugleich“ (G 342) wolle. Hypertextuelle Bezüge zwischen Dunkelstein, Gebürtig und Die Papierene Brücke sind offenkundig. Daneben stellen sich die Parallelen zwischen Schindels autobiografischer Erfahrung am Filmdreh von War and Remembrance und seinen fiktiven Texten. Aufschlussreich für die Genrebezeichnung ‚Realfarce‘ ist somit, dass nicht nur die Darstellung der realhistorischen Situation von Judenräten in Dunkelstein prätextuell präfiguriert ist (vgl. Kapitel 4.5), sondern auch die farcenhafte Konstellation des Filmdrehs. Beckermann führt den vermeintlichen Realitätseffekt vor, den die Macher*innen von War and Remembrance möglicherweise im Auge hatten, als sie Jüd*innen wie Schindel als Statist*innen für Filmszenen über das Ghetto Theresienstadt casteten. Wenn in Dunkelstein jüdische Statist*innen auf Befehl eines Aufnahmeleiters tot umfallen müssen, wenn in Gebürtig die ‚jüdische Nase‘ vom Regisseur als Authentifizierungsmarker ins Bild gesetzt wird, übersteigert Schindel die Realität nicht, sondern bildet sie ab. Die Realität des Filmdrehs zu War and Remembrance ist hier schon selbst die Farce, nicht die karikaturistische Übertreibung solch einer Realität. Gattungsmischung, das betrifft in Dunkelstein also erstens die Verbindung von ‚tragischen‘ Inhalten und Darstellungsstrategien der Komik, zweitens die Gattungsgeschichte der Farce sowie drittens das Verhältnis zwischen den Handlungselementen, die sich der historischen Realität widmet, und jenen, welche die Repräsentation von historischer Realität thematisieren. Neben die Vielzahl an Genres, Stimmen und Wahrnehmungsmodi stellt Schindel außerdem mehrere Möglichkeiten der Mediatisierung der Shoah neben- und gegeneinander, die abschließend betrachtet werden. Es hat sich gezeigt, dass sich literarische Strategien der Verfremdung nicht nur einer ‚automatisierten Wirklichkeitsproduktion‘ (Norbert Otto Eke) widersetzen, 148 Die Lebensgeschichte von Beckermanns in Czernowitz geborenem Vater ist auch Thema in Die papierene Brücke.

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sondern auch auf derartige Automatisierungsverfahren verweisen.149 Auch in Dunkelstein verweisen literarische Strategien der Verfremdung auf konventionalisierte Ästhetiken, etwa auf klassischen Realismus, Sprachexperiment (vgl. Kapitel 4.5) und ‚Hollywood-Ästhetik‘ (sie wird in Kapitel 4.8 im Fokus stehen). Von ihnen setzen sich innerhalb des Dramas literarische Verfahren der Verfremdung ab, sodass verschiedene grundsätzliche Mediatisierungsmöglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander stehen. In ihrer Untersuchung der Diversität von Erinnerung und Identitäten bei Schindel und Rabinovici hat Iris Hermann150 auf den von Astrid Erll geprägten Begriff der ‚Polyvalenz von Erinnerung‘ zurückgegriffen. Erll argumentiert in ihrer Untersuchung zu kollektivem Gedächtnis und Erinnerungspraktiken, dass sich die Funktion von Literatur als Gedächtnismedium insofern von „schriftlichen Medien anderer Symbolsysteme des kollektiven Gedächtnisses (Chronik, Geschichtsschreibung, Gesetzestexte, religiöse Schriften, mythische Erzählungen usw.)“ unterscheide, als Literatur bei der Vermittlung von Inhalten „des kollektiven Gedächtnisses“ drei „symbolsystem-spezifische, distinktive Merkmale“ aufweise. Neben ‚fiktionalen Privilegien und Restriktionen‘ sowie ‚Interdiskursivität‘ nennt sie auch ‚Polyvalenz‘.151 Darunter versteht Erll eine Form von Verdichtungsleistung und eine daraus resultierende Komplexität, welche die Literatur von anderen Medien des kollektiven Gedächtnisses unterscheide; dies führe zu hochkomplexen und „zumeist auch ambigen Vergangenheitsdarstellungen“,152 die dem Symbolsystem Literatur vorbehalten seien. Im Anschluss an Erll bezeichne ich die Auseinandersetzung mit Mediatisierungsmöglichkeiten in Dunkelstein als ‚Polyvalenz von Mediatisierungen‘ und meine damit eine Verdichtungsleistung in dem Sinne, als Schindel verschiedene Möglichkeiten der Mediatisierung der Shoah in Dunkelstein gegeneinanderstellt. Keine davon zeigt er a priori als privilegiert. Diese Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der Mediatisierung ermöglicht es schließlich, die peritextuelle Klassifikation von Dunkelstein als ‚Lesedrama‘ in den Blick zu nehmen. Diese seltene

149 Zu Verfahren der Entautomatisierung vgl. auch Brauerhoch, Annette/Eke, Noerbert Otto/Wieser, Renate/Zechner, Anke (Hg.): Entautomatisierung. Schriftenreihe des Graduiertenkollegs „Automatismen“. Paderborn: Fink 2014. 150 Vgl. Hermann, Iris: „Ohnehin Gebürtig Andernorts. Zur Diversität von Erinnerung und Identität bei Doron Rabinovici und Robert Schindel“. In: dies. (Hg.): Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Amsterdam: Rodopi 2014, S. 133–148, hier: S. 137. Hermann analysiert die drei Romane Gebürtig (1992) Ohnehin (2004) und Andernorts (2010) unter dem Blickwinkel der Repräsentation von Erinnerung und Imaginationen jüdischer Identität. 151 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 3 2017, S. 170 f. Fettgedruckte Hervorhebungen im Original wurden nicht übernommen. 152 Ebd., S. 171.

4.6 Komik und Generizität

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Genrebezeichnung verweist bei Schindel nicht auf eine per Kriterienkatalog beschreib- und definierbare Abgrenzung gegenüber Dramen, die zur Aufführung bestimmt sind, sondern auf Mediatisierungsfragen. Die Bezeichnung ‚Lesedrama‘ – seit der Dramentheorie des 18. Jahrhunderts gebräuchlich für Dramen, die für eine Realisierung auf der Bühne entweder dezidiert nicht bestimmt oder nicht geeignet sind – verweist auf die unterschiedlichen Medialitäten von Drama als Text und Drama als Inszenierung, wie sie speziell im 20. Jahrhundert entstehen, als Inszenierungen nicht mehr lediglich als Umsetzung eines Dramentextes verstanden werden, sondern als eigenständige, multimodal kodierte Texte. Zumindest bis zur praktischen Erprobung der Drehbühne im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigten sich beispielsweise Inszenierungen von ‚shakespearisierenden‘153 Dramen von Goethe, Lenz oder Wagner wegen Kurzszenen und häufiger Ortswechsel als schwierig. Wenngleich Dunkelstein ähnliche Charakteristika aufweist (es sei erinnert: 64 Szenen auf lediglich 103 Textseiten mit Ortswechseln nach fast jeder Szene), kann darin mit Blick auf Bühnentechnik und Inszenierungspraktiken des 21. Jahrhunderts jedoch kaum der Grund für die Klassifizierung des Textes als ‚Lesedrama‘ liegen. Wahrscheinlicher ist, dass die generische Klassifikation auf das in Dunkelstein zentrale Thema der Mediatisierung sowie der medienspezifischen Darstellungsmöglichkeiten und -konventionen rekurriert. Indem die generische Klassifikation suggeriert, dass Schindel Dunkelstein nicht für die szenische Aufführung konzipiert hat, wird die Genrebezeichnung lesbar als medialer Gegenentwurf zu ‚repräsentationalen‘ Ästhetiken – etwa zu Filmen, die mittels Darstellungskonventionen der Hollywood-Industrie den Versuch einer ‚Abbildung‘ der Shoah vornehmen oder mit Strategien der Einfühlung arbeiten. Solch ein Film ist vermutlich der Film-im-Drama Und Gott schaut weg. Ist ein Drama dezidiert nicht für die Bühnendarstellung konzipiert, mag dies mitunter auf die Ablehnung von Einfühlung oder von wirkungsorientierten Normen verweisen. Es wäre jedoch verkürzt, Schindel folglich in die Traditionslinie des ‚Bilderverbots‘ (Cayrol, Lanzmann, vgl. Kapitel 1.2) zu stellen. Vielmehr zeigt das Repertoire an Darstellungsmöglichkeiten und Verweisen auf die Shoah-Diskursgeschichte (Judenräte, jüdischer Widerstand, Intertextualität etc.) das selbstreflexive Moment des Dramas, wenn die eigenen Mediatisierungsmöglichkeiten darin omnipräsent sind. Die im Sinne der Komikforschung ‚komische‘ Spiel-im-Spiel Konstellation von Dunkelstein, das ästhetische Spezifikum der Gattungsmischung sowie die Polyvalenz von Mediatisierungen sind damit zentrale Eckpunkte, zwischen denen sich die Ästhetik des Grotesken in Dunkelstein ausmachen lässt. Die Mischung 153 Vgl.: Ottmers, Martin: „Lesedrama“. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2. Berlin: de Gruyter 32000, S. 405–407, hier: S. 404.

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zwischen ‚komischen‘ und ‚tragischen‘ Momenten, zwischen Real- und Repräsentationsebene tragen dabei zu einer inhaltlichen wie ästhetischen Komplexität bei, die einer automatisierten Produktion von Wirklichkeitsbildern entgegenwirkt und standardisierten Narrationen zuwiderläuft. Dem Zusammenhang zwischen einer solcherart konstituierten Ästhetik des Grotesken und einer Beschaffenheit des kulturellen Gedächtnisses im 21. Jahrhundert gilt das folgende Kapitel.

4.7 Mediatisierung und kulturelles Gedächtnis Es hat sich gezeigt, wie Dunkelstein historische Bilder von ‚Judenräten‘ als Verräter, Kollaborateure oder ‚Retter‘ gegeneinander stellt; gleichzeitig bündeln sich in diesen Bildern vielfältige Vorstellungen von Widerstand – so etwa romantisierte Auffassungen von Partisanenkampf (‚in die Wälder gehen‘) oder Märtyrertod (die imaginierte Erschießung von fünf SS-Männern und der darauffolgende Suizid vor der Gaskammer). Diese disparaten Vorstellungen indizieren nicht zuletzt die Kluft zwischen gegenwärtigen Vorstellungen von Widerstandsmöglichkeiten und den tatsächlichen historischen Lebensbedingungen. Am Übergang vom kommunikativen in ein rein medial vermitteltes kulturelles Gedächtnis werfen sie die Frage auf, wie Bilder von ‚Judenräten‘ und Widerstand repräsentiert und erinnert werden. Kontur gewinnt diese Frage in Primo Levis Die Untergegangenen und die Geretteten bereits 1986, indem er die in Zeitzeug*innengesprächen gestellte Frage „Wa­rum habt ihr nicht revoltiert?“ (UG 161) zum Ausgangspunkt für eine Betrachtung der Erfahrungsdifferenz zwischen der Lebensrealität von KZ-Häftlingen und zeitgenössischen Inhaftierungs- und Befreiungsszenarien macht: Einer der Jungen, der einen aufgeweckten Eindruck machte und offensichtlich der Klassenanführer war, stellte mir die rituelle Frage: „Aber warum sind Sie denn nicht ausgebrochen?“ Ich erklärte ihm kurz, was ich auch hier geschrieben habe. Er war nicht sehr überzeugt und bat mich, eine Skizze des Lagers auf die Tafel zu zeichnen und die Punkte zu markieren, an denen sich die Wachtürme, die Tore, die Abzäunungen und das Kraftwerk befanden. Vor dreißig gespannten Augenpaaren versuchte ich das, so gut es ging, zu tun. Mein Gesprächspartner betrachtete eine Zeitlang die Zeichnung, bat mich um ein paar weitere Präzisierungen, dann entwickelte er mir den Plan, den er sich ausgedacht hatte: hier, bei Nacht, dem Wachposten die Kehle durchschneiden; dann seine Uniform anziehen; danach sofort nach hinten zum Kraftwerk laufen und den Strom abschalten, dadurch schalten sich die Scheinwerfer aus, und der Zaun steht nicht mehr unter Hochspannung; danach hätte ich dann in aller Ruhe weggehen können. Und ernst fügte er hinzu: „Wenn Ihnen das noch einmal passieren sollte, dann machen Sie es, wie ich Ihnen gesagt habe. Sie werden sehen, es klappt.“ (UG 106 f.)

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Was Levi hier aufzeigt, ist der Bruch zwischen autobiografischer Erfahrung und prototypischen Widerstandsszenarien, die einen ‚naturgegebenen‘ Zusammenhang zwischen Gefangenschaft und Flucht und damit auch zwischen Unterdrückung und Rebellion präsupponieren (vgl. UG 163). Derartige Widerstandsfantasien verdeutlichen, so Levi, „den Riß […] (und er wird von Jahr zu Jahr größer), der zwischen den Verhältnissen besteht, wie sie ‚dort‘ herrschten, und deren Verhältnissen, wie sie von der gängigen Vorstellung dargestellt werden“ (UG 161; vgl. Kapitel 3.5). Entscheidend für diesen Riss ist nicht nur der Vorwurf des mangelnden Widerstandes, sondern bereits die selbstverständliche Annahme Widerstand sei eine notgedrungene Reaktion auf Verfolgung und Genozid. Illusorische Vorstellungen von Rebellion verkennen dabei, dass „das System der Konzentrationslager […] als wichtigstes Ziel das Zerbrechen der Widerstandsfähigkeit des Gegners von allem Anfang im Auge hatte“, wie Levi verzeichnet. Eindrücklich beschreibt er, wie fremd und „unentzifferbar“ die Welt war, in die man mit Eintritt in ein Konzentrationslager „hineinstürzte“: Nicht „zwei gegnerische[] Parteien“ habe man angetroffen, sondern eine Vielzahl von unklaren Grenzlinien. Statt der erhofften „Solidarität der Schicksalsgenossen“ beispielsweise Aggression „von seiten gerade derjenigen, in denen man die zukünftigen Verbündeten zu erkennen hoffte.“ Diese Entdeckung sei „so übermächtig [gewesen], daß jede Widerstandsfähigkeit auf der Stelle zusammenbrach.“ (UG 35) Im vorigen Kapitel wurden hypertextuelle Bezüge zwischen Dunkelstein und Beckermanns Die papierene Brücke herausgestellt, auf die in diesem Zusammenhang zurückzukommen ist. Der Streit der Komparsen über jüdischen Widerstand aus dem Prolog von Dunkelstein ist in Die papierene Brücke inhaltlich präfiguriert, wenn Beckermann eine heftige Debatte zwischen zwei Komparsen über Möglichkeiten von Widerstand filmt. Der ältere dürfte Shoah-Überlebender sein (er wirft dem jüngeren Mann vor „du warst nicht dort“, s. unten), der andere gehört der postmemory-Generation an und ist vermutlich in Israel aufgewachsen. Folgende längere Passage aus dem Streitgespräch greift sowohl Levis Dia­ gnose auf als sie auch erkennbar im Prolog von Dunkelstein wiederkehrt: Älterer Komparse: Hör zu a bisschen, du warst nicht dort. […] Weißt du wie viele im Warschauer Ghetto umgekommen sind? […] A halbe Million. 500 000 Menschen. Auf einen Fleck. […] Nach dem Aufstand war sofort alles weg, was war, der Rest von den 500 000, man weiß nicht einmal, waren es 400 000 oder 300 000, aber in diese drei Wochen im Warschauer Ghetto sind alle umgekommen. Jüngerer Komparse: Gut, jetzt darf ich dir was erzählen. Schau: Bevor ich bin hierhergekommen, war bei mein Vater, wo ich bin erwachsen, ein Nachbar. Und bei diesem Nachbar, er war in die Partisane und hat gekämpft und jedes Jahr an ein gewissen Tag […] sind alle Gruppe von seine Gruppe von Partisane bei ihm gekom-

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men […]. Und es war auch eine Dame und sie war die stärkste von allen. […] Sie war eine Jugoslawin, eine nicht-jüdische. Und sie hat mir die Story von der ganzen Gruppe erzählt. Sie hat gesagt, alle, was du siehst hier, waren im Konzentrationslager und waren Kandidaten zum Sterben. Und wir haben gewusst, wir haben uns geschworen, wir sterben nicht im Gas, wir sterben von Kugel. Von Widerstand. Aber nicht vom Gas. Und ein großes Teil ist […] gefallen und gestorben, aber ein sehr großer Teil ist gelungen der Flucht in die Wälder und […] hier ist die Resultat. Älterer Komparse: Was für ein Resultat? Jüngerer Komparse: Sie konnten sich äh äh Älterer Komparse: Ich sage ja, die Parole war: Retten und überleben. Retten um jeden Preis, weil es keine Abwehr gibt. […] Älterer Komparse: Hitler hat niedergerungen a halbe Welt. Ganze Europa niedergewälzt. Da sollen ein paar Juden ohne Waffen hingehen und schießen? Das ist ja Idiotie, so was überhaupt anzunehmen! […] Vergleiche nicht Israel mit den Juden von damals. Das ist wieder ganz was anderes. Jüngerer Komparse: Du hast jetzt gesagt: Willst du, dass zwei Juden soll nehmen ein Gewehr und schießen auf ganz Deutschland. Das ist ja Quatsch. Aber wenn du hast eine Gelegenheit, ein SS-Mann herunterzustochen, seine Waffe zu nehmen, seine Kleider zu nehmen Älterer Komparse: Dann bist du umgebracht im nächsten Moment und bringst du 10 000 Juden um. Du nimmst auf deine Gewissen den Tod von 10 000. Jüngerer Komparse: Die sterben sowieso. Älterer Komparse: Sehen Sie, er versteht das nicht. Es wurde von Judenrat befohlen und gebeten und ersucht: Es ist sinnlos. Und es ist verboten nach jüdischem Gesetz, Selbstmord zu begehen. […] Jüngerer Komparse: Ich will nur sagen, dass wir sind wir schon erwachsen mit andere Mentalität. Ich musste mich selbst schlagen mit vier Leuten. Mein Vater ist nicht zu Hilfe gekommen. Ich bin gekommen mit gebrochene Nase […] Vier Jahre später hab ich alleine die alle vier so zerschlagen, dass ihre Mutter ist gekommen zu meinem Vater: Warum hat dein Sohn meine vier geschlagen? Hat er gesagt: Wenn deine Vier meine Junge geschlagen, bin ich zu dir gekommen? Ich bin erwachsen geworden mit andere Mentalität. Ich gehe nicht in Gaskammer. Ich stelle vor eine Kugel. Ich gehe nicht in Gaskammer, auf keinen Fall. Ich erwarte nicht von dir irgendeine Antwort. Das war andere Mentalität. Das kann man nicht. Ich sage nur, dass wir in Israel werden erwachsen mit eine ganz andere Mentalität.“154

154 Ca. 1:01–1:07. Transkription JÖ; Invektiven des Gesprächspartners sind nicht transkribiert, da sie für vorliegenden Kontext nicht relevant sind.

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Inwiefern dieses Gespräch den Prolog von Dunkelstein (vgl. Kapitel 4.3) präfiguriert, muss nicht eigens erklärt werden; es reflektiert die Brisanz von realhistorischen Debatten um Widerstandsmöglichkeiten. Relevant für vorliegenden Kontext ist primär, dass Beckermann in ihrem Dokumentarfilm ebenso wie Levi in Zeitzeug*innengesprächen und Schindel in seinem Drama eine neuartige Facette des ‚Darstellbarkeitsproblems‘ ins Werk setzen, wenn alle drei implizit fragen, wie Bilder von Gefangenschaft und Widerstand medial repräsentiert werden und in das kulturelle Gedächtnis eingehen. Auf eine Folge der kontinuierlichen Mediatisierung der Shoah hat Norbert Otto Eke in seiner Untersuchung neuerer Shoah-Dramen verwiesen, wenn er feststellt, dass „in den und durch die Medien produzierte Bilder Evidenzen erzeugen, die zu hinterfragen in dem Maße schwierig wird, als sie von standardisierten Narrationen gestützt und durch diskursive Praktiken stabilisiert werden“.155 Bilder von Gefangenschaft und Widerstand während der Shoah werden auffallend häufig anhand des oder ausgehend von dem Warschauer Ghettoaufstand verhandelt (auch in der zitierten Szene aus Die papierene Brücke fehlt der Verweis nicht). Die auffällige Diskrepanz zwischen der geringen „militärische[n] Bedeutung“ des Aufstandes und dessen umfassender Bekanntheit hat Markus Meckl an Bildern und Interpretationen des Warschauer Ghettoaufstandes im kollektiven Gedächtnis untersucht. Dies sei vor allem der Darstellung des Aufstandes geschuldet, die ein für partikulare Interessen anschlussfähiges Bild „vom Helden“ zeichne, das „eher der literarischen Vorlage eines klassischen Heldenepos als der Geschichte des Warschauer Ghettos“ entspringe.156 Wie die Verknüpfung von Gefangenschaft und Flucht beziehungsweise von Unterdrückung und Rebellion sowie anschlussfähige Bilder von ‚Heldentum‘ strukturgebend für Shoah-Narrationen sein kann, lässt sich an Jon Avnets Fernsehfilm Uprising (2001)157 prototypisch ablesen – an ihm wird im Folgenden gezeigt, wie spezifische Mediatisierungen der Shoah standardisierte Bilder erzeugen können, die konstitutiv für das kulturelle Gedächtnis werden. Als „modernes Heldenepos, innerhalb dessen die Revolte […] zu einem allge-

155 Eke, Norbert Otto: „‚Was ist wahr? Woher haben Sie denn Ihre Bilder?‘ Shoah-Erinnerungen in neueren Theater-Texten (Robert Menasse, Werner Fritsch, Robert Schindel, Mieczysław Weinberg)“. In: Fischer/Hammermeister/Kramer: Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 27–49, hier: S 27 f. 156 Meckl, Markus: Helden und Märtyrer. Der Warschauer Ghettoaufstand in der Erinnerung. Wien: Metropol 2000, S. 7. 157 Avnet, John (Regie): Uprising. Der Aufstand [Uprising!]. DVD, 150 Min., USA 2001. Im Folgenden Zitation im Fließtext: Uprising. Zur prominenten Besetzung zählen David Schwimmer, Jon Voight und Donald Sutherland. Die Handlung erstreckt sich über die beginnende schrittweise Auflösung des Ghettos (Juni 1942) bis zum Aufstand im April/Mai 1943.

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meingültigen Symbol für Mut und Ehre erhoben wird“,158 zeigt Uprising den ­Alltag von Jüd*innen, jüdischen Funktionären und jungen Widerstandskämpfer*innen im Warschauer Ghetto. Vor allem eine Gegenüberstellung der Komplementärfiguren Mordechaj Anielewicz und Adam Czerniaków ist insofern aufschlussreich für das Entstehen kollektiver Bilder von Gefangenschaft und Rebellion, als die beiden divergierende, in der Semantik des Films klar bewertete Reaktionen auf Unterdrückung repräsentieren. Beide sind realhistorischen Personen nachempfunden – Anielewicz war einer der Organisator*innen des Aufstandes; er engagierte sich in der internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair, die junge Menschen auf die Alija sowie das Leben in einem Kibbuz vorbereiten sollte. 1940 war er freiwillig von Vilnius nach Warschau zurückgekehrt, die ersten Massenmorde an Jüd*innen auch des Warschauer Ghettos im Jahr 1941 veranlassten ihn, sich im bewaffneten Widerstand zu engagieren.159 Czerniaków war ab 1939 Vorsitzender des Warschauer Judenrates und Judenältester im Warschauer Ghetto nach dessen Errichtung 1940. Im Juli 1942 beging er Suizid, als er eine Deportationsliste für einen Kindertransport zusammenstellen hätte sollen. Der Film zeigt Anielewicz als stereotypen Hollywood-Helden – jung, unabhängig, muskulös, aktiv und furchtlos in der Organisation des bewaffneten Aufstandes. Aufschlussreich für vorliegenden Zusammenhang ist eine Szene, in der Anielewicz eine Gruppe der Hashomer Hazair unterrichtet und folgende Frage an sie richtet: „Can a moral man maintain his moral code in an immoral world?“ (Uprising 8:16). Die Antwort des Films auf diese Frage ist ungleich einfacher als die komplexen Erwägungen Dunkelsteins in seinen beiden Monologen (vgl. Kapitel 4.4), denn heldenhaft verhält sich Anielewicz bereits in seinem ersten Auftritt, wenn er sich mit körperlicher Gewalt erfolgreich gegen ein Mitglied der ‚jüdischen Polizei‘ wehrt, das ihn zum Arbeitsdienst abkommandieren möchte. Nach diesem Entkommen zeigt der Film sein Engagement in der Hashomer Hazair sowie seine Gefangennahme beim Fluchtversuch Richtung Palästina. Daran anschließend zeigt der Film ein nebulöses Befreiungsnarrativ: Der verletzte Anielewicz wird in einer Zelle geschlagen, kann seinen Peiniger jedoch überwältigen und ihm seine Waffe entwenden. In den folgenden Szenen taumelt er durch weiße Schneefelder, spaziert dann mit besagter Waffe ins Ghetto zurück zu seinen Freunden. Dieses undurchsichtige wie verwirrende Befreiungsnarrativ, 158 Sarhangi, Mohammad A. S.: Jüdischer Widerstand im US-amerikanischen Kino. Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft. Berlin, Boston: DeGruyter 2019, S. 3. 159 Vgl. Kassow, Samuel: „Mordekhai Anielewicz“. In: The YIVO Encyclopedia of Jews in Easter Europe. URL: http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Anielewicz_Mordekhai [15.7.2018]. Online-Enzyklopädie des YIVO, des Jüdischen Wissenschaftliche Instituts (zur Erforschung der Kulturgeschichte des osteuropäischen Judentums sowie jüdischer Emigration in die USA) in New York.

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in dem die Umstände der Flucht konturlos bleiben, reproduziert samt seiner räumlich nicht fixierten Topografie jene von Levi kritisierte Verknüpfung von Gefangenschaft und Rebellion. Aufschlussreich für eine weitere Erschließung des martialischen Verständnisses von Widerstand in Uprising ist Anielewicz’ Komplementärfigur Czerniaków: Avnet zeigt ihn als kränklichen alten Mann bei der laufenden Medikamenteneinnahme und setzt ihn auch durch seinen bürgerlichen Habitus von Anielewicz ab – Czerniaków tritt in elegantem bodenlangem Mantel, mit Hut und Fliege auf, besitzt eine teuer aussehende Taschenuhr und fährt in einem eleganten Auto samt Chauffeur durchs Ghetto. Das erste Viertel des Films zeigt das Scheitern von Czerniakóws Kooperationsstrategie etwa anhand des Versuchs, eine Gruppe deportierter Jüd*innen zurückzukaufen: Obwohl er den verlangten Betrag aufbringt, werden diese entgegen der Vereinbarungen ermordet. Damit bewertet der Film Kooperationsversuche mit den Machthabern von Beginn an als sinnlos. In einem zentralen Dialog zwischen Anielewicz und Czerniaków bittet der junge Held den Judenältesten um Unterstützung für den bewaffneten Widerstand, die Czerniaków jedoch ausschlägt. Infolgedessen wirft ihm Anielewicz seine Kooperation mit den Nationalsozialist*innen vor; Czerniaków wiederum warnt Anielewicz vor Kollektivstrafen der Deutschen und qualifiziert seine Widerstandsvorstellungen ab: „Your dream is a romantic notion that will get you all killed“ (Uprising 26:54). Das Gespräch schließt mit Czerniakóws Ratschlag „You should be wearing a hat. In this weather you can get pneumonia.“ (Uprising 27:03) Czerniakóws Habitus, der Kooperationsvorwurf sowie diese finale Replik disqualifizieren den alten, konservativ-autoritären Mann und seine Etikette und bereiten damit auch das Narrativ von Czerniakóws Suizid als Schwäche vor. Eine dritte für das Widerstandsbild des Filmes wichtige Figur ist Janusz Korczak, der polnische Pädagoge, Autor und Kinderarzt, den die Literaturgeschichte der Shoah aus Erwin Sylvanus’ Drama Korczak und die Kinder (1957) kennt: Der realhistorische Korczak, Leiter eines jüdischen Waisenhauses (nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs innerhalb des Warschauer Ghettos befindlich), weigerte sich, außerhalb des Ghettos Unterschlupf zu suchen, da er die Kinder nicht im Stich lassen wollte; als rund 200 Waisenkinder 1942 nach Treblinka deportiert wurden, begleitete er sie freiwillig.160 Anielewicz, Czerniaków und Korczak repräsentieren divergierende Verhaltensweisen angesichts des Genozids: martialischen Widerstand, strategische Kooperationsversuche und märtyrerhafte Opferbereitschaft. Zusammengeführt werden sie eindrücklich an einem der Wendepunkte des Films, der Czerniaków, 160 Vgl. „Janusz Korczak“. In: Yad Vashem. The World Holocaust Remembrance Center. URL: https:// www.yadvashem.org/education/educational-materials/learning-environment/janusz-korczak/ korczak-bio.html [2.5.2021].

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Korczak und die Mitglieder der Widerstandsbewegung in folgenden kurzen alternierenden Sequenzen rund um den Deportationsbeginn der Warschauer Jüd*innen161 zeigt: Czerniaków soll Deportationslisten erstellen; Anielewicz hält vor Gleichgesinnten ein flammendes Plädoyer für aktiven Widerstand – diese Rede alterniert mit Deportationsszenen; Czerniaków schreibt einen Abschiedsbrief; Korczak bereitet die Kinder für einen ‚Ausflug‘ vor; Czerniaków trinkt eine rote Flüssigkeit; es herrscht Chaos im Ghetto, durch das Korczak und die Kinder singend zu den Deportationszügen ziehen; die Ghettobewohner*innen steigen in Züge, unter ihnen Korczak und die Waisenkinder; ein jüdischer Schupo beobachtet die Deportation der Kinder, dramatische Zeitlupen und ein close-up indizieren einen Gewissenskonflikt; der tote Czerniaków am Schreibtisch; Anielewicz trifft im Ghetto einen aus Treblinka zurückgekehrten Augenzeugen der Gaskammern; ein Teil von Anielewicz’ Ansprache („we will live with honour and we will die with honour. Jewish honour.“ Uprising 55:40) – schließlich ein längeres Black. Die verbleibende Filmhandlung fokussiert auf bewaffneten Widerstand. So, wie diese Parallelmontage Czerniakóws Suizid als Kapitulation zeigt, so präsentiert Avnets Filmästhetik den ‚heldenhaften‘ und ‚aktiven‘ Anielewicz als dem alten, schwachen Czerniaków überlegen. Anielewicz ist damit ein ästhetischer und ideologischer Gegenentwurf zu Czerniaków sowie zum Typus jenes Judenrats, den auch Schindels Dunkelstein verkörpert, da er mit den Machthabern verhandelt. Uprising arbeitet mit klaren Oppositionen in der Figurenzeichnung, eindeutigen Werturteilen (jung und attraktiv bedeutet aktiv und selbstbestimmt; dagegen steht alt, von außen gesteuert und schwach; personifiziert in Czerniaków wird es nach wenigen Szenen durch dessen Tod aus dem Narrativ getilgt); der Film simplifiziert und reduziert Komplexes auf Eindeutiges. Die klare Bewertung von differierenden Widerstandsbildern in Uprising zeigt exemplarisch, wie standardisierte Narrationen vermeintliche historische Evidenzen erzeugen. Sie sind Teil eines komplexen ‚Darstellbarkeitsproblems‘ insofern, als sie problematische Geschichtsbilder erzeugen und stabilisieren, etwa durch aufwändige, actiongeladene Kampfszenen mit Spezialeffekten und dadurch mit einer Ästhetik, die ich als ‚Hollywood-Ästhetik‘ bezeichne162 (vgl. auch Kapitel 4.8). Für Uprising kann damit ein ähnliches Urteil gefällt werden wie jenes, das Miriam Bratu Hansen über Schindlers Liste fällt: Der Film sei ein „Hollywood product“, da es „is circumscribed by the economic and ideological tenets of the

161 Ab 22. Juli 1942 wurden in mehreren Wochen täglich zwischen 2 000 und 10 000 Menschen aus dem Ghetto (überwiegend nach Treblinka) deportiert (vgl. Polonsky, Antony: „Warsaw“. In: The YIVO Encyclopedia of Jews in Easter Europe. URL: https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/ Warsaw#id0ehiac [2.4.2021]). 162 Zu Sarhangis Einschätzung, auch der dramaturgische Aufbau des Films folge jenem des klassischen Hollywood-Dramas, vgl. Sarhangi: Jüdischer Widerstand im US-amerikanischen Kino, S. 78.

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culture industry, with its unquestioned and supreme values of entertainment and spectacle; its fetishism of style and glamour […] and its reifying, levelling, and trivializing effect on everything it touches.“163 Abschließend lohnt im vorliegenden Kontext ein Blick auf Körperbilder, die in Uprising zum Aushandlungsort ideologischer Positionen werden: Auffällig ist die Wiederkehr von Bildern des ‚Muskeljuden‘ im muskulösen Körper des Widerstandskämpfers Anielewicz, dem als Antipode der schwache Körper des alten, blassen Czerniaków mit seiner wächsernen Haut, den müden Augen und seiner Sorge, Anielewicz hole sich eine Lungenentzündung, entgegensteht. Der muskulöse Körper164 des zionistischen Helden lässt sich mit einem ‚jüdischen Gemeinschaftskörper‘ verbinden, wie er in Kapitel 1.5 für die Körperpolitik der Jahrhundertwende beschrieben wurde und wie er sich in das Narrativ eines tapferen und aktiven Gemeinschaftskörpers der realhistorisch überlebenden ‚Ghetto fighters‘ fügt: Das Ghetto Fighter’s House, 1949 als erstes Shoah-Museum gegründet von den realhistorischen Überlebenden des Aufstands, sieht sich als Museum, das „the story of the Holocaust during World War II“ erzähle, „emphasizing the bravery, spiritual triumph and the incredible ability of Holocaust survivors and the fighters of the revolt to rebuild their lives in a new country about which they had dreamed – the State of Israel.“165 Die Beschreibung spiegelt den nachhaltigen Einfluss der argumentativen Verknüpfung von Heldenmut, Kampf und der Legitimation der Staatsgründung (vgl. Kapitel 4.1); außerdem propagiert die Ausstellung des Ghetto Fighter’s House als „message of the exhibition“: „We must fight for the future“.166 Kampf für die Zukunft, Stärke und Durchsetzungsfähigkeit sind dominante Narrative auch in der Erinnerung an den Warschauer Ghettoaufstand. Avnets Blick auf Judenräte und Widerstand fokussiert völlig andere Aspekte sozialer Realitäten als Schindels, wenn Fluchtnarrative sowie Narrative von Stärke und Durchsetzungsfähigkeit im Zentrum stehen. Sowohl Dunkelstein als auch Uprising sind dabei Teil des Speichergedächtnisses, das Aleida Assmann in Abgrenzung zum Funktionsgedächtnis in Stellung bringt; es habe den ‚vitalen Bezug verloren‘ und ist Teil eines nicht-menschlichen Trägermediums. Im Gegensatz dazu beschreibt Assmann für das Funktionsgedächtnis auch einen „politische[n] 163 Bratu Hansen: „Schindler’s List is not Shoah: The Second Commandment, Popular Modernism, and Public Memory“, S. 296. 164 Quentin Tarantino hat dem wehrhaften ‚Muskeljuden‘ in Inglourious Basterds in der ihm eigenen ironischen und hyperbolischen Filmsprache ein Denkmal in der Figur des „Bear Jew“ gesetzt: Die Spezialität des muskulösen Mannes im Tank Top ist es, Nazis mit einem Baseballschläger den Kopf einzuschlagen. 165 Ghetto Fighter’s House Museum. Offizielle Homepage. URL: http://gfh.org.il/eng/?CategoryID=229 [2.4.2021]. 166 Ebd.

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Anspruch“: Seine Träger seien die „Besiegten und Unterdrückten“,167 es stehe ‚dem offiziellen Gedächtnis‘ entgegen. In Kapitel drei wurde der groteske Körper in Die Kannibalen als Medium der Gegenerinnerung beschrieben: Er thematisiert Sichtbarkeiten von (diskursiven) Herrschaftsverhältnissen und wird im Zuge performativer, selbstbestimmter Sprechakte als indexikalisches Zeichen und damit als Speichermedium seiner eigenen Geschichtlichkeit etabliert. Im Vergleich zu den unauslöschlichen Spuren der Vergangenheit in den Körper in Die Kannibalen sind die Körper in Uprising auffällig geschichtslos: Einer der Widerstandskämpfer erleidet im Zuge von Folterungen schwere Verletzungen im Gesicht. Wenige Szenen später – es dürften wenige Wochen, höchstens einige Monate vergangen sein – sind die Verletzungen verschwunden, keinerlei Narben oder andere Spuren zeugen davon. Ähnlich geschichtslos wie dieser Körper ist auch die Mediatisierung der ­Shoah in Uprising, indem darin zeitgenössische Bilder von Widerstand, ‚Heldentum‘ etc. dominieren. Der Film ist damit Teil jener Reibungsfläche zwischen Funktionsund Speichergedächtnis, die Levis zitierte Beobachtungen betreffs des Risses zwischen historischer Realität und zeitgenössischen Bildern von dieser Realität auf den Plan ruft: Sie betrifft den erinnerungskulturellen diachronen Übergang zwischen Funktions- und Speichergedächtnis, denn nicht nur was ins Speichergedächtnis aufgenommen wird, sondern auch die Art seiner Repräsentation steht auf dem Spiel. Diese Feststellung öffnet auch den Blick auf den Zusammenhang zwischen kulturellem Gedächtnis und (literarischer) Ästhetik: Wenn unterschiedliche Ästhetiken unterschiedliche Aspekte sozialer Realitäten zeigen, muss davon ausgegangen werden, dass diese Ästhetiken auch wesentlich mitbedingen, was erinnert wird. Avnets Hollywood-Blick auf den Warschauer Ghettoaufstand beeinflusst Gedächtnisinhalte insofern, als er eine Wertung von bewaffnetem Widerstand vornimmt und eine inhärente Verbindung zwischen Gefangenschaft und Flucht beziehungsweise zwischen Unterdrückung und Rebellion als selbstverständlich behauptet. Indem der Hollywood-Blick Czerniakóws schwierige Situation als unterlegen zeigt und Anielewicz Sympathieträger des filmischen Blicks ist, nimmt Uprising auch klar Partei für eine ganz bestimmte Art des Widerstandes. Avnets Blick habe ich als ‚Hollywood-Ästhetik‘ bezeichnet und einige damit verbundene Charakteristika herausgestellt. Als Medium des kulturellen Gedächtnisses sind Filme über die Shoah Teil des Speichergedächtnisses, sie speichern also ‚Wissen über die Shoah‘ (es gab ein Ghetto in Warschau, dort gab es einen Aufstand usw.). Indem Medien des Speichergedächtnisses auf bestimmte Ästhetiken zurückgreifen, beeinflussen sie dieses ‚kulturelle Wissen‘ (im Falle von Uprising: Man konnte Waffen ins Ghetto schmuggeln, bewaffneter Widerstand ist 167 Assmann: Erinnerungsräume, S. 139 f.

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sinnvoller als die verzweifelten und aussichtslosen Verhandlungsversuche von Czerniaków usw.). Avnets Blick auf das Leben im Ghetto trivialisiert mittels seiner Ästhetik realhistorische Bedingungen, reduziert Komplexität und projiziert zeitgenössische Bilder auf vergangene historische Realitäten. Die Ästhetik von Dunkelstein läuft diesen Tendenzen zuwider, indem innerhalb des Textes diverse Stimmen diverse Blicke auf soziale Realitäten repräsentieren und dadurch dessen Komplexität steigern und Wahrnehmung verkomplizieren (vgl. Kapitel 4.5). „Die Mischung und das Dialogische haben für die Sinnbildung der Texte aus der menippeischen Tradition entscheidende Bedeutung“, schreibt Lachmann,168 und sie tragen in Dunkelstein dazu bei, dass topoisierte Vergangenheitsbilder hinterfragt werden. In dieser Hinsicht zeigt sich abermals der selbstreflexive Gestus des Dramas: Dunkelstein ist nicht nur selbst Teil des Speichergedächtnisses, sondern thematisiert auch dessen Entstehen, denn der Film-im-Drama ist Teil eines (fiktiven) Speichergedächtnisses. Gegen manche im Filmdreh gezeigte Sequenzen erhebt Willy Klang – er kann innerhalb des Figurenensembles als menschlicher Träger des Funktionsgedächtnisses gelten, da er zwischen den Zeitebenen vermittelt – Einspruch („Das ist nicht Dunkelstein. Das ist Hollywood.“ DS 106, vgl. Kapitel 4.8). Die Genese des Speichergedächtnisses zeigt Schindel also in mehrfacher Hinsicht als störungsanfällig – nicht zuletzt, wenn die jüdischen Kompars*innen beim nachgestellten Appell zum falschen Zeitpunkt umkippen oder ein Statist ein posttraumatisches Flashback erleidet (vgl. Kapitel 4.8). Dunkelstein problematisiert also den Entstehungsprozess des kulturellen Gedächtnisses – er ist störungsanfällig und in ihm begegnen einander diverse medial geprägte Vergangenheitsvisionen, die im Drama nebeneinanderstehen; ihm gilt das nächste Kapitel.

4.8 „Theresienstadt als Hollywood der SS-Opfer“ (H.G. Adler) – Die Suche nach dem Außerhalb der Simulation In W. G. Sebalds Prosatext Austerlitz beginnt der titelgebende Protagonist als Erwachsener die Rekonstruktion seiner Kindheits- und Familiengeschichte: seine Rettung aus Prag mittels eines Kindertransportes, sein Leben bei walisischen Pflegeeltern, die Deportation seiner Mutter nach Theresienstadt, die Ermordung seiner Eltern. In Terezín versucht er, sich ein Bild von der Vergangenheit seiner Mutter und damit auch seiner eigenen Geschichte zu machen: Dabei erzählt Sebald Austerlitz’ „Lebensgeschichte als Bildverlust“,169 die Aneignung der Ver168 Lachmann: Vorwort zu Rabelais und seine Welt, S. 33. 169 Rahofer, Antonia: „Fragmente der Erinnerung. Theresienstadt als intermedialer Gedächtnisort in W.G. Sebalds ‚Austerlitz‘“. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei 18, 1–2 (2010), S. 337–353, hier: S. 339.

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gangenheit misslingt. So berichtet er über seinen Besuch des Ghettomuseums in Terezín und den Versuch, sich dort ein Verständnis des Vergangenen anzueignen: Er „begriff […] nun und begriff es auch nicht, denn jede Einzelheit […] überstieg bei weitem [s]ein Fassungsvermögen.“170 Schließlich eröffnet ihm nicht ein musealer Raum, sondern ein textueller, nämlich die Lektüre von Adlers Theresienstadt-Studie,171 „Zeile für Zeile Einblicke […] in das, was ich mir bei meinem Besuch in der Festungsstadt aus meiner so gut wie vollkommenen Unwissenheit heraus nicht hatte vorstellen können“ (AU 338). Trotz alledem bleibt Theresienstadt inintelligibel, nur der Grundriss der Festung sowie Fotografien des zeitgenössischen Terezín legen als Bilder intermediale Spuren zur Vergangenheit – es sei ihm, so Austerlitz, „unmöglich gewesen, mich in das Ghetto zurückzuversetzen und mir vorzustellen, daß Agáta, meine Mutter, damals gewesen sein soll an diesem Ort.“ (AU 350) Letztlich hofft er, der verschollen geglaubte Film über das Ghetto aus dem Jahr 1944 könne einen Zugang zur Vergangenheit ermöglichen: „Immerzu dachte ich, wenn nur der Film wieder auftauchte, so würde ich vielleicht sehen oder erahnen können, wie es in Wirklichkeit war“ (AU 350). Die Abwesenheit individueller biografischer Erinnerung und die Rekonstruktionsversuche des Protagonisten stehen in Austerlitz in einer Reihe mit einer grundlegenden Skepsis Sebalds gegenüber der Repräsentation von Geschichte in Gemälden, Monumenten oder Geschichtsbüchern. Die Poetik von Austerlitz ist einer Poetik der ‚Oral History‘172 insofern nahe, als es vor allem Gespräche mit dem ehemaligen Kindermädchen sind, die Austerlitz schließlich einen Zugang zu seiner verschütteten Vergangenheit ermöglichen – überhaupt erfolgt auch die Erzählung von Austerlitz’ Biografie über eine zweite, vermittelnde Erzählinstanz. Im Rahmen seines Besuchs in Terezín kommt dem ‚Gedächtnisort‘ (A. Assmann) keine intakte Funktion als Gedächtnismedium zu; vielmehr eröffnet Austerlitz erst dessen Mediatisierung in Form von Schrift (Adlers Monografie) und Bild (der historische Theresienstadt-Film) einen Zugang zu Vergangenem. Mediatisierung ist auch in Dunkelstein zentrales Thema auf der gegenwärtigen Handlungsebene und ist verbunden mit dem bei Sebald wichtigen Theresien170 Sebald, W.G.: Austerlitz [2001]. Frankfurt: Fischer 2003, S. 287. Im Folgenden Zitation im Fließtext: AU. 171 Bezüge zwischen Adlers Monografie (1955) und Sebalds Austerlitz untersuchen die Beiträge in Finch, Helen/Wolff, Lynn L. (Hg.): Witnessing, memory, poetics. H.G. Adler and W.G. Sebald. Suffolk: Boydell & Brewer 2014. Expliziten intertextuellen Bezügen zwischen Adlers Theresienstadt-Monografie und Austerlitz widmet sich etwa Ruth Vogel-Kleins Beitrag „History, Emotions, Literature: The Representation of Theresienstadt in H. G. Adler’s Theresienstadt 1941–1945: Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft and W. G. Sebald’s Austerlitz“ (in: ebd., S. 180–197). 172 Vgl. auch Wollf, Lynn L: „Austerlitz“. In: Öhlschläger, Claudia/Niehaus, Michael (Hg.): W.G. Sebald Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2017, S. 48–58, bes. S. 52.

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stadt-Film, denn vor allem die filmische Mediatisierung von Theresienstadt ist konstitutiver Subtext des Dramas: Der Film Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944/45) stellt die Frage nach der bewusst gesteuerten Konstitution des Speichergedächtnisses mittels des Mediums Film in der NS-Zeit in den Raum. Gleichzeitig setzt der Filmdreh in und über Theresienstadt das Ghetto als medial konstituierten Erinnerungsraum ins Werk: Dort wurde 1944 ein Film gedreht, dessen Konzeption das Bild des Ghettos nachhaltig prägen sollte, wie Theresienstadt überhaupt eine spezifische Rolle innerhalb der Topografie des Genozids zukam. Auf dem Hintergrund der Geschichte des Ghettos sowie den einzigartigen Bedingungen seiner (medialen) Inszenierung erhält die Darstellung des Filmdrehs in Dunkelstein eine besondere epistemische Qualität. Um diese zu illustrieren, wird die (Mediatisierungs-)Geschichte des Ghettos betrachtet. Das Bild des Ghettos Theresienstadt,173 gelegen innerhalb einer historischen Garnisonsstadt, einer „spätbarocke[n] Idealstadt in vollkommenere Symmetrie, die in eine Festungsanlage nach dem Bastionärsprinzip eingebettet war“,174 prägten nicht Wachtürme oder Stacheldrahtzäune, sondern es unterschied sich bereits aufgrund architektonischer Gegebenheiten von anderen Ghettos oder Lagern. Wie in anderen Ghettos gab es keine Gaskammern,175 Menschen wurden etwa nach Auschwitz und Treblinka deportiert; den Tod vieler Gefangener verursachten vor allem die notorische Überbevölkerung,176 die daraus folgenden katastrophalen hygienischen Bedingungen und Unterernährung. Damit war Theresienstadt einerseits Teil der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, spielte darin andererseits aus zwei Gründen eine spezifische Rolle: Erstens unterstand die innere Organisation dieses und anderer Ghettos 173 Zur Einordnung Theresienstadts als Ghetto und der Abgrenzung vom KZ vgl. Benz, Wolfgang: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung. München: Beck 2013, S. 9–12. Vor Benz’ Untersuchung war lediglich eine Monografie über Theresienstadt erschienen und zwar von H.G. Adler. Er schreibt: „Ihre Elemente [der Zwangsgemeinschaft, JÖ] unterschieden sich nie wesentlich von einem Konzentrationslager, aber die Selbstverwaltung mit allen ihren Funktionen baute man so in die Zwangsgemeinschaft ein, daß die ursprünglichen Verhältnisse, scheinbar zumindest, verdeckt wurden, und sich Formen ausbildeten, die wirklich die soziale Grundlage veränderten.“ (Adler: Theresienstadt 1941–45, S. 140.) 174 Benz: Theresienstadt, S. 16. Zur Geschichte der Festung vgl. auch ebd., S. 15–21. 175 Der im Frühjahr 1945 begonnene Bau von Gaskammern konnte nicht beendet werden (vgl. ebd., S. 199). 176 Rund 53 000 Menschen lebten etwa im September 1942 in einer Stadt, die zuvor von 3700 Menschen bewohnt worden war (vgl. Benz: Theresienstadt, S. 38). Im April 1944 lag der Tagesdurchschnitt an Todesfällen etwa bei 24 (vgl. Blodig, Vojtěch: „Anmerkungen zu Maurice Rossels Bericht“. In: Kárný, Miroslav: „Der Bericht des Roten Kreuzes über seinen Besuch in Theresienstadt“. In: Theresienstädter Studien und Dokumente 3 (1996), S. 276–220. Anmerkungen: S. 302–320, hier: S. 306.)

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formal der ‚jüdischen Selbstverwaltung‘ mit einem Judenältesten an der Spitze – de facto kontrollierte es die SS-Kommandantur, welcher der Judenälteste Bericht erstatten und deren Befehle er durchführen musste.177 Zweitens sollten die Zusammensetzung der Ghettohäftlinge sowie die mediale Inszenierung des Ghettos über den Genozid hinwegtäuschen, indem Theresienstadt den deutschen und österreichischen Jüd*innen als privilegiertes Ghetto, als ‚Altersghetto‘ präsentiert wurde.178 Auch war Theresienstadt in den „Sondierungen und Verhandlungen über den Freikauf von Juden“ zum „Besichtigungsobjekt“ geworden179 und wurde der internationalen Gemeinschaft als ‚Endlager‘ (d.h. von dem aus keine weiteren Deportationen in Vernichtungslager stattfanden) präsentiert: Die „Verbringung Privilegierter und Prominenter […] an einen ‚bevorzugten Ort‘“ sollte „Interventionen zu deren Gunsten verhindern“180 und den Transport in Vernichtungslager verschleiern. Wegen der daraus folgenden spezifischen Sozialstruktur, geprägt von jüdischen Intellektuellen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, waren künstlerische Aktivitäten, (etwa Literatur, Theater, Kabarett) anfangs geduldet, ab Sommer 1943 gar gefördert.181 Wie nachhaltig erfolgreich das Bild des privilegierten Ghettos war, das die Nationalsozialist*innen konstruierten, belegt Benz anhand zahlreicher Hinweise auf das dortige rege kulturelle Leben auch in der Forschungsliteratur. Er listet der Forschungsliteratur entnommene Behauptungen auf, wie jene, dass „die Lebensbedingungen besser waren als in anderen Lagern, dass die Kinder und Jugendlichen in den Genuss von Schulbildung gekommen seien […]. Die Faszination der künstlerischen, literarischen und intellektuellen Produktion in Theresienstadt erscheint abgelöst von den Bedingungen, unter denen sie entstand [sic] und vermittelt deshalb ein irreales Bild.“182 177 Dazu schreibt Benz, unter den Ghettoinsassen sei das Schlagwort der ‚Strafhaft in Theresienstadt, verschärft durch jüdische Selbstverwaltung‘ kursiert; Einsichtige hätten jedoch den Vorteil daran erkannt, dass Befehle der SS mittels der Selbstverwaltung ins Lager weitergegeben wurden und damit direkter Kontakt mit der SS gering gehalten wurde (vgl. Benz: Theresienstadt, S. 46). Ähnliche Organisationsstrukturen charakterisieren auch andere Ghettos wie Litzmannstadt/Łódź, Warschau oder Bialystok. 178 Vgl. ebd., S. 35 f. Die Wannsee-Konferenz (20. Januar 1942) legte fest, dass Jüd*innen über 65 Jahren sowie „schwerkriegsbeschädigte[]“ Juden und „Juden mit Kriegsauszeichnungen“ dorthin deportiert werden sollten um „mit einem Schlag die vielen Interventionen“ auszuschalten, wie Reinhard Heydrich argumentierte (vgl. Protokoll der Wannseekonferenz. In: Pätzold, Kurt/ Schwarz, Erika: Tagesordnung: Judenmord. Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942. Berlin 1992, S. 102–112, hier: S. 107. Zit. nach Benz: Theresienstadt, S. 36). 179 Benz: Theresienstadt, S. 186. 180 Ebd., S. 35. 181 Vgl. ebd., S. 125; zu diversen kulturellen Aktivitäten im Ghetto vgl. ebd., bes. S. 102–135. 182 Ebd., S. 230 f. Konkrete Beispiele etwa aus der 1992 erschienenen Enzyklopädie des Holocaust zitiert Benz in: „Theresienstadt. Ein vergessener Ort der deutschen Geschichte?“. In: Theresienstädter Dokumente 3 (1996), S. 7–18, bes. S. 8–10.

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Ausschlaggebend für den nachhaltigen Erfolg dieses Bildes war die ‚Verschönerungsaktion‘ anlässlich einer Besichtigung des Ghettos durch Delegierte des IKRK (Internationales Komitee des Roten Kreuzes), des dänischen Außenministeriums und des dänischen Gesundheitswesens am 23. Juni 1944, welche die dänische Regierung nach der Deportation von rund 450 dänischen Jüd*innen nach Theresienstadt eingefordert hatte. Im Rahmen einer von langer Hand vorbereiteten ‚Verschönerungsaktion‘ entstand ein potemkinsches Dorf: Die Gefangenen mussten Häuser neu streichen, die Straßen reinigen, Blumenbeete graben, einen Kinderspielplatz, einen Musikpavillon sowie in dem ehemaligen Gymnasium ein Gemeinschaftszentrum errichten;183 um der Überbevölkerung entgegenzuwirken, wurden 7500 Menschen nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Schilderung des Zeitzeugen Siegfried von der Bergh, jüdische Kinder sollten Lagerkommandanten Karl Rahm auf der Straße als ‚Onkel Rahm‘ ansprechen, zeugt von der detailgenauen Inszenierung des Besuchs.184 Die Inszenierung des Ghettos veranlasste den Delegierten des IKRK, es in seinem Bericht als Ort zu schildern, dessen Bevölkerung „nicht unter Unterernährung leidet“, ja dass gar Nahrungsmittel im Ghetto ankämen, die „nahezu unmöglich in Prag zu finden sind“;185 über die medizinische Versorgung heißt es, der „Zustand der Instrumente und medizinisch-chirurgischen Apparaturen ist allem Anschein nach zufriedenstellend. Es gibt sicher kaum eine Bevölkerung, die so gut versorgt wird wie die von Theresienstadt. Die Ärzte sind häufig mit einem persönlichen Instrumentenkoffer ins Ghetto gekommen, dies erklärt den sehr großen Reichtum an Instrumenten.“186 Die Beschreibung zeigt, wie das reale Theresienstadt in internationalen Diskursen durch das Bild eines so nicht existierenden Theresienstadt ersetzt werden sollte. In Simulacra and Simulation (1981) beschreibt Baudrillard die Ära der Simulation als „inaugurated by a liquidation of all referentials. […] It is no longer a question of imitation, nor duplication, nor even parody. It is a question of subs-

183 Vgl. Margry, Karel: „‚Theresienstadt‘ (1944–1945): The Nazi propaganda film depicting the concentration camp as paradise“. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 12, 2 (1992), S. 145–162, hier: S. 146. 184 Vgl. ebd. Von der Bergh schildert auch: „Es wurde erzählt, daß in dem Augenblick, da die Herren des Roten Kreuzes eine der Küchen besuchten, einige dort postierte Jungen ganz zufällig ihr Essen bekommen sollten. Sie sollten dann die Nase rümpfen und so laut ausrufen, daß die Herren es hören konnten: ‚Wie scheußlich, heute gibt es schon wieder Sardinen!‘“ (Van der Bergh, Siegfried: Der Kronprinz von Mandelstein. Überleben in Westerbork, Theresienstadt und Auschwitz. Frankfurt: Fischer 1996, S. 85 f. zit. nach Benz: Theresienstadt, S. 187.) 185 Kárný, Miroslav: „Der Bericht des Roten Kreuzes über seinen Besuch in Theresienstadt“, S. 288. Für die vollständige aus dem Französischen übersetzte Fassung des Berichts vgl. S. 285–297; darauf folgen umfassende Anmerkungen zum Bericht von Vojtěch Blodig (vgl. Anm. 176). 186 Ebd., S. 294.

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tituting the signs of the real for the real“.187 Eine Prämisse von Baudrillards in den 1980er Jahren entfalteten Theorie audiovisueller Zeichen ist die Absenz eines außermedialen Referenten des medialen Zeichens, infolgedessen das Zeichen bedeutungskonstitutiv wirkt, also den ursprünglich dahinterliegenden Referenten ersetzt. Für die Inszenierung Theresienstadts im Jahr 1944 – also in einem Medienzeitalter, das vor der von Baudrillard beschriebenen Welt in einem „fortgeschrittenen Zustand der Verbildlichung“188 liegt – ist Baudrillards Konzept gleichwohl hilfreich: Denn infolge der erfolgreichen Verschönerungsaktion ­sollte auch ein Film in der potemkinschen Kulisse gedreht werden, um das im Rahmen der ‚Verschönerungsaktion‘ erprobte Simulacrum von Theresienstadt auch in das Medium Film zu übersetzen. Dieser 1944/45 gedrehte Film war als mediales Zeichen nur mehr lose mit dem ursprünglichen Referenten ‚Ghetto Theresienstadt‘ verbunden und sollte Wissen über die Realität von Theresienstadt ersetzen. Das inszenierte Bild von Theresienstadt als Privilegiertenghetto wurde in kurzer Zeit wirklichkeitskonstituierend – der Bericht des IKRK markiert einen Übergang vom Status des Fiktiven in jenen des Realen: Der positive Bericht hat das IKRK davon abgehalten, ein weiteres ‚jüdisches Arbeitslager‘ zu besuchen, da das Simulacrum von Theresienstadt überzeugend gewesen ist, wie der tschechische Historiker Miroslaw Kárný gezeigt hat. Manifeste Folge dieser Entscheidung war die Liquidierung des Theresienstädter Familienlagers in Auschwitz-Birkenau – es war als „raffiniert vorbereitete[s] Alibi des jüdischen ‚Arbeitseinsatzes‘ im Osten“189 eingerichtet worden, um im Falle von Interventionen darüber hinwegzutäuschen, dass Menschen aus Theresienstadt in Vernichtungslagern ermordet wurden; dies hätte die Lüge des ‚Endlagers‘ Theresienstadt enttarnt. Die Auf­ lösung des ‚Theresienstädter Familienlagers‘ in Auschwitz-Birkenau nach zehnmonatiger Existenz ist eine direkte Folge des überzeugenden Simulacrums von Theresienstadt, das die Verschönerungsaktion geschaffen hatte. Dieser retrospektiven Deutung der Konsequenzen der Theresienstadt-Inszenierung sei Murmelsteins zeitgenössische Wahrnehmung als andere Perspektive an die Seite gestellt: Er nahm an, die erfolgreiche Simulation von Wirklichkeit sichere den Fortbestand des Ghettos. In seiner „Stellungnahme eines Beteiligten“ (der bereits zitierten Reaktion auf die Kontroverse zwischen Scholem und Arendt) beschreibt er, wie er im Herbst 1944 mit drastischen Maßnahmen den Fortbestand eines sauberen, arbeitsamen Ghettos bewerkstelligte, um dessen Liquidierung zu verhindern:

187 Baudrillard: Simulation and Simulacra, S. 2. 188 Strehle, Samuel: Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 95. 189 Kárný: „Der Bericht des Roten Kreuzes“, S. 277.

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Die Einführung der 70stündigen Arbeitswoche, die Heranziehung von Frauen zu Schwerarbeit und die Einschaltung von Nachtschichten gehen auf keinen SS-Auftrag, sondern auf meine persönliche Initiative zurück. Ich mußte mich in einen unerbittlichen Antreiber jener Menschen verwandeln, die gerettet werden sollten. Wenn die SS nicht eingeschaltet werden sollte, was auch tatsächlich nicht der Fall war, mußten Ordnung und Arbeitsdisziplin in einem äußerst schwierigen Milieu nur durch entsprechendes Auftreten aufrechterhalten werden. […] Am 5. Dezember fand eine Besichtigung des Ghettos durch einen Vertreter des Reichssicherheitshauptamtes statt. Ich […] konnte eine Äußerung des Besuchers erhaschen: so kann es bleiben. Jetzt hieß es, annehmbare Lebensbedingungen zu schaffen.190

Mit dieser aus der zeitgenössischen Innenperspektive getroffenen Einschätzung ist Murmelstein nicht alleine: Auch Chaim Rumkowskis überlieferter Ausspruch „Unzere passport iz di arbeit“ verweist auf die Einschätzung, der Fortbestand des Ghettos Litzmannstadt/Łódź hänge von dessen Produktivität ab. Auch aus der historiografischen Rückschau bestätigen Stimmen diese Einschätzung, so etwa des Historikers Solomon Bloom: „One of the reasons why the Nazis tolerated the existence of the Ghetto as long as they did was their need for manufacturers. Eventually most of the factories [im Ghetto Litzmannstadt/Łódź, JÖ] worked to supply the Wehrmacht.“191 Die beiden zitierten Interpretationen der Bedeutung des Theresienstadt-Simulacrums widersprechen einander insofern, als die eine das Fortbestehen des realen Ghettos als Folge des Simulacrums sieht, während die andere belegt, wie in Auschwitz-Birkenau die Ermordung zahlreicher Menschen darauf gefolgt war. Andererseits gleichen sie einander in ihrer Einschätzung der Rolle des Theresienstadt-Simulacrums als wirklichkeitskonstituierend. Damit ist die Differenz zwischen Mimesis und Simulation, die Theresienstadt eingeschrieben ist, als nicht nur ästhetische, sondern auch realpolitische und über Menschenleben entscheidende zu verstehen. Der positive Bericht des IKRK ebnete schließlich auch den Weg für eine filmische Inszenierung des Ghettos, die den Erfolg der ‚Verschönerungsaktion‘ fortsetzen sollte: Wenige Wochen nach der Besichtigung wurde im Ghetto im August und September 1944 ein Propagandafilm gedreht,192 der „sich tief in die Wir190 Murmelstein: „Stellungnahme eines Beteiligten“, S. 19 f. Im genannten Zeitraum wurde das Ghetto Litzmannstadt/Łódź, neben Theresienstadt das letzte bestehende Großghetto, fast vollständig liquidiert (vgl. Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 286). 191 Bloom, Solomon F.: „Dictator of the Lodz Ghetto. The Strange History of Mordechai Chaim Rumkowski“. In: Marrus, Michael R. (Hg.): The Nazi Holocaust. Historical Articles on the Destruction of European Jews. Band 6: The Victims of the Holocaust. Westport, London: Meckler 1989, S. 295–306, hier: S. 298. 192 Vgl. Margry: „The Nazi propaganda film“, S. 145. Ein erster, bereits 1942 im Ghetto gedrehter

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kungsgeschichte des historischen Ortes Theresienstadt eingeprägt“193 hat, wie Benz urteilt. Er trug dazu bei, dass Theresienstadt wahrgenommen wird als Ort, „an den Juden zwar deportiert wurden, an dem aber vor allem musiziert und gemalt wurde, wo bedeutende Wissenschaftler gelehrte Dispute hielten, wo anrührende Kinderzeichnungen entstanden, wo Gedichte geschrieben worden sind.“194 Die Nachhaltigkeit dieses Bildes eines ‚harmlosen‘ Künstlerlagers Theresienstadt und damit der wahrnehmungsstrukturierenden Funktion des Simulacrums lässt sich auch an literarischen Darstellungen von Theresienstadt ablesen, etwa in Pavel Kohouts Tanz- und Liebesstunde. Eine deutsche Romanze (1989).195 Sie erzählt vom Buhlen der 18jährigen Christine, Tochter eines SS-Offiziers in Theresienstadt, um SS-Untersturmführer Weißmüller, der in der ‚Kleinen Festung‘ (dem Gestapo-Gefängnis, das neben dem Ghetto in der ‚Großen Festung‘ lag) für Exekutionen verantwortlich ist. Theresienstadt ist lediglich Kulisse für eine Romanze, das Ghetto ein konturloser Ort, obwohl in unmittelbarer Nähe. Lediglich eine Figur vertritt die Ghettoinsassen: Peripetie der Romanze ist das Auftauchen einer Primaballerina, die Christine Tanzstunden geben soll und dafür aus einem Deportationszug geholt wurde. Christine verfasst einen Brief an Hitler, um ihn über die fälschliche Inhaftierung der Tänzerin zu unterrichten, woran sich der Konflikt mit ihrem Vater entzündet. Im Brief argumentiert sie gegen die Deportation, da die Tänzerin erstens nur Halbjüdin sei und zweitens eine bedeutende Künstlerin. Diese Logik wird von Kohout weder problematisiert noch konterkariert; die Ballerina bleibt konturlos und erfüllt primär eine narratologische Funktion. Gegen Ende des Textes vergewaltigt Weißmüller sie, um sexuell bereit für Christine zu sein; die Vergewaltigung wird jedoch kaum problematisiert. Nach diesem kurzen Exkurs zu einer literarischen Manifestation apolitischer und verharmlosender Bilder von Theresienstadt als Künstler*innenghetto sei der Theresienstadt-Film von 1944 näher betrachtet, der unter dem Titel Der Führer schenkt den Juden eine Stadt in ein kollektives Gedächtnis der Shoah-Geschichte eingegangen ist. Dieser Titel, der ab Sommer 1945 in Berichten von Theresienstadt-Überlebenden kolportiert wird, ist ein sich hartnäckig haltender Mythos;196 zeitgenössische Dokumente und Filmfragmente belegen den tatsächlichen Titel Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet des im März 1945 fertiggestellten Films. Die breite Bekanntheit des vermeintlichen Titels Film ist bis auf Ausschnitte von insgesamt etwas über 8 Minuten nicht erhalten. Vgl. zum 1942 gedrehten Film Margry, Karel: „The First Theresienstadt Film (1942)“. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 19, 3 (1999), S. 309–337. 193 Benz: Theresienstadt, S. 197. 194 Benz, Wolfgang: „Theresienstadt. Ein vergessener Ort der deutschen Geschichte“, S. 8. 195 Kohout, Pavel: Tanz- und Liebesstunde. Eine deutsche Romanze. München und Hamburg: Knaus 1989. 196 Zu den Wurzeln dieses Mythos vgl Benz: Theresienstadt, S. 193 f.

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steht in starkem Kontrast zur Verbreitung des Films: Nur eine Handvoll Menschen sah ihn je in voller Länge (darunter Murmelstein), kein vollständiges Exemplar ist erhalten, allerdings konnten die meisten Szenen rekonstruiert werden.197 Rekonstruktionen basierend auf erhaltenen Fragmenten belegen die Dominanz der Inszenierung von gemeinschaftlichem und kulturellem Ghetto-Leben – sie umfassen Szenen von schachspielenden Männern und lesenden Frauen, einem Fußballspiel sowie einer Kabarettaufführung vor mehreren hundert ­Zuseher*innen (auch vor vielen Kindern); der für die ‚Verschönerungsaktion‘ gebaute Musikpavillon wird in Szene gesetzt und der Filmvorspann zeigt ein Chorkonzert; auch eine Szene von Männern in einer Gemeinschaftsdusche ist erhalten (die Intention, Gerüchte von Gaskammern zu verschleiern, liegt auf der Hand).198 Trotz einer gewissen Korrespondenz zwischen Gezeigtem und real Existierendem sind vor allem die Aussparungen von Hunger, Überbevölkerung, Schwerstarbeit, der hohen Todesrate sowie der Transporte in Vernichtungslager199 offensichtlich. Diese Tatsache untermauert Adlers Annahme, der Film solle verdeutlichen, „wie gut es den Juden ginge, daß sie keine Sorgen hätten, nach wie vor die bekannten ‚Parasiten‘ wären, die für nichts anderes Sinn hätten als für Unfug, Kaffeehaus und ein Leben in Vergnügen und Luxus, während die braven ‚Arier‘ verbluteten oder sich wenigstens zu Tode arbeiteten.“200 Entscheidend für vorliegenden Zusammenhang ist nun, dass der Theresienstadt-Film von 1944/45 großteils von und mit jüdischen Akteur*innen gedreht – Ghettoinsasse Kurt Gerron201 war zum Regisseur und Kopf des jüdischen Filmteams ernannt, als Darsteller*innen und Statist*innen waren Ghettoinsassen verpflichtet worden –, aus jüdischen Geldern finanziert wurde202 und insgesamt, wie 197 Für eine Rekonstruktion des Films und eine Beschreibung des Quellenmaterials vgl. Margry: „The Nazi propaganda film“, S. 155–158. Zur vermuteten Distribution des Films vor allem außerhalb von Deutschland sowie den Namen jener, die den Film in voller Länge sahen, vgl. ebd., S. 154. 198 Vgl. das Archivmaterial in Lanzmann: Der Letzte der Ungerechten, z.B. 27:40–32:00. – Filmstills in Benz: Theresienstadt, S. 196. – Filmstills in Margry: „The Nazi propaganda film“. – Vgl. etwa zum Dreh der Szenen im Freiluftkabarett, für den bis zu 1800 Menschen benötigt wurden, Adler: Theresienstadt, S. 180. 199 Vgl. Margry: „The Nazi propaganda film“, S. 155. 200 Adler: Theresienstadt, S. 179. Adler berichtet, die Teilnahme der Inhaftierten sei erzwungen worden. 201 Vgl. Benz: Theresienstadt, S. 193. sowie Margry: „The Nazi propaganda film“, S. 145. Gerron war ein Berliner Kabarettist, Schauspieler und Filmregisseur. Zu Vorstufen, zur kontinuierlichen Überwachung aller Filmaufnahmen durch die Nationalsozialist*innen bis zu Gerrons Deportation im Oktober 1944 und den darauffolgenden fundamentalen Umarbeitungen im Vergleich zum ursprünglichen Drehbuch vgl. Margry: „The Nazi propaganda film“, S. 152 f. 202 Margry hat gezeigt, dass anstelle von Goebbels Propagandaministerium Sturmbannführer Hans Günther von der ‚Zentralstelle zur Regelung der Judenfrage in Prag‘ in Planung und Produkti-

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Adler schreibt, „eine rein jüdische Sache werden [sollte], so ausschließlich, daß man alle Arbeiten an diesem Film den Juden auftrug und überließ; nur die Aufnahmen […] wurden von Kameramännern der Prager tschechischen Wochenschau ‚Aktualita‘ gedreht.“203 Daraus ergibt sich die spezifische epistemische Qualität des Films: erstens der Hohn, Jüd*innen einen Film produzieren und finanzieren zu lassen, der ihre systematische Ermordung verschleiern sollte. Zweitens eine Doppelung von Simulationsstrategien, die einen „apparatus of illusion, i.e. filmmaking facilities, deployed in the middle of another, namely, a site of extermination seeking to produce the impression of a Jewish paradise“204 zeigt. Nicht filmische Mimesis des Ghettos wurde angestrebt, sondern die Simulation eines autonom verwalteten ‚jüdischen Siedlungsgebiets‘. Das filmische Simulacrum ist nun ‚hyperreal‘ in dem Sinne, als sich das Hyperreale im Gegensatz zur Imitation „nicht mit einer Nachahmung des Realen nach dem Prinzip der Ähnlichkeit“ begnügt; dessen „Strategie […] funktioniert nicht über positive Realitätseffekte“, sondern zielt darauf ab, „das Reale negativ zu evozieren – mit Hilfe einer paradoxen Strategie der Realitätsverneinung.“205 Gerade die serielle (Re-)Produktion von Bildern bewirkt im medialen Zeitalter deren Übergang in den Status des Realen. In seiner Untersuchung von Shoah-Darstellungen in Fernsehserien hat Markus Stiglegger beschrieben, wie in der medialen Verdichtung von Bildern historischer Ereignisse Bildermythen entstehen, „sorgsam konstruierte Trugbilder des Vergangenen, die doch so real erscheinen und als Realität im kollektiven Bildgedächtnis aufgehen können.“206 In dieser Hinsicht ist der historische Theresienstadt-Film verbunden mit dem Film, dessen Dreh Dunkelstein zeigt: Fluchtpunkt des Drehs von Und Gott schaute weg ist die Produktion eines Simulacrums der historischen Vergangenheit; der Film wird dabei unter den Voraussetzungen eines Referenzsystems gedreht, das vorwiegend mit Hyperrealität und Simulacren operiert. Mit Blick auf die Industrialisierung des medialen Produktionsprozesses hat Stiglegger beschrieben, wie seriell produzierte ähnliche Bilder ihr eigenes semiotisches System kreieren und ihre eigeon des Filmes involviert war; dies belegen unter anderem die an die ‚Zentralstelle‘ adressierten Rechnungen der Aktualita. Die finanziellen Ressourcen der ‚Zentralstelle‘ bestanden aus enteignetem jüdischem Kapital. (Vgl. ebd., S. 147 f.) 203 Adler: Theresienstadt, S. 179. 204 Sandomirskaja, Irina: „Welcome to Panorama Theresienstadt. Cinematography and Destruction in the Town Called ‚As If ‘ (Reading H. G. Adler)“. In: Drubek, Natascha (Hg.): Ghetto Films and their Afterlife. Special Double Issue of Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 2–3 (2016). DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2016.0002-3.48 [2.4.2021]. 205 Strehle: Zur Aktualität von Jean Baudrillard, S. 111. 206 Stiglegger, Marcus: Auschwitz-TV. Reflexionen des Holocaust in Fernsehserien. Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 29.

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nen Mythen schaffen, die sich verselbstständigt haben und „zum reinen Code mutiert [sind], dessen Referenzsystem eventuell noch ermittelt werden, jedoch gleichwohl auch losgelöst davon betrachtet werden kann.“207 Es wurde gesagt, dass sich die spezifische epistemische Qualität des realhistorischen Theresienstadt-Films auch daraus ergibt, dass Jüd*innen einen Film zur Verschleierung ihrer Ermordung produzieren mussten. Der Anblick der „präpariert[en] und filmgerecht geschminkt[en]“ Darsteller*innen hat bereits Adler zu der sarkastischen Formulierung „Theresienstadt als Hollywood der SS-Opfer!“208 verleitet. Die bewusste Erschaffung des Theresienstadt-Simulacrums reflektierte auch Murmelstein in seinem Gespräch mit Lanzmann und vergleicht sich mit Scheherazade: Der Sultan ermordet jede Frau. Eine überlebt, weil sie ein Märchen erzählen soll. Und sie erzählt dieses Märchen so lange […], bis sie durchkommt. Ich habe überlebt, weil ich ein Märchen erzählen sollte: Ich habe erzählen sollen das Märchen von dem Judenparadies Theresienstadt. Zumindest haben sie das [sic] vorgestellt, dass ich das erzähle werde, dass es gibt ein Ghetto wo die Juden leben wie im Paradies […]. Und um dieses Märchen zu erzählen, haben sie mich gehalten.209

An der wirklichkeitsstiftenden Fiktion hat Murmelstein ebenso mitgewirkt, wie in Dunkelstein die jüdischen Komparsen daran mitwirken, beim Filmdreh von Und Gott schaut weg ein bestimmtes Bild der Shoah zu erzeugen: Nachgestellte Appelle und Deportationen sowie Szenen, die wohl Armut und Überbevölkerung im Ghetto zeigen sollen (im Drama ist vom Dreh „Elendsquartier“ (DS 40) die Rede), vermitteln ein hinlänglich bekanntes Bild von Konzentrationslagern. Dass etwa Todesappelle in Theresienstadt als ‚selbstverwaltetem‘ Ghetto (und eben nicht als von der SS verwaltetem KZ) nicht alltäglich waren, zeigt, wie topoisierte Szenen Teil eines filmischen semiotischen Systems werden, dessen Referenzsystem nur mehr partiell mit historischer Realität korreliert. Verbindungen zwischen Schindels Erfahrung als Statist in War and Remembrance, dem Epilog von Gebürtig und dem in Dunkelstein gezeigten Filmdreh (vgl. Kapitel 4.6) legen nahe, dass Und Gott schaut weg mit melodramatischen Ästhetiken operiert; auch der Filmtitel suggeriert keine etwa avantgardistische oder dokumentarische Filmästhetik und ebenso die Windmaschinen, die Kälte visuell nachvollziehbar machen sollen. Dass die Filmbilder nicht primär auf eine real existierende historische Welt verweisen, sondern in den Status der historischen Fiktion eintreten, zeigt auch 207 Ebd., S. 30. 208 Adler: Theresienstadt 1941–45, S. 180. 209 Lanzmann: Der Letzte der Ungerechten, 35:55–36:30.

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das Ende des Dramas. Es wird eine Szene gedreht, in der Dunkelstein sich den Ghettoinsassen vorstellt: Ich bin Saul Dunkelstein. Ich trete dieses Amt an und vor euch hin: Dieses Lager muss funktionieren. Keine Schlamperei in der Verwaltung dulde ich. Ich ahnde sie. Ich bin nicht freundlich. Ich bin nicht mild. Ich bin der Judenälteste Dunkelstein. […] Kampf gegen die Läuse, gegen den Typhus. Strickte Reinlichkeit, strackse Disziplin. Wer seine Pflicht erfüllt, der kann hier überleben. […] Murrt nicht, Juden. Macht, was ich sag! Stimme: Cut! Raffi (zu Willy Klang): Das ist Saul Dunkelstein? Willy Klang: Ah geh. Das ist nicht Dunkelstein. Das ist Hollywood. (DS 105 f.)

Die Redesituation legt nahe, dass sie innerhalb der diegetischen Ebene des Films die Funktion erfüllt, Dunkelstein einem impliziten Filmpublikum vorzustellen; dass nicht eine real gehaltene Rede re-präsentiert wird, sondern die ­Szene der Informationsvermittlung an das implizite Filmpublikum dient. Wäre Mimesis einer historischen Situation das Anliegen der Szene, könnte man ihr mangelnde historische Plausibilität zu Lasten legen: Als Murmelstein im September 1944 Judenältester wurde, hatte er bereits seit Anfang 1943 die Funktion des zweiten Stellvertreters im Judenrat innegehabt, war für die Dezernate ‚Technik‘ und ‚Gesundheit‘ verantwortlich und mit der ‚Stadtverschönerung‘ betraut worden,210 also kein Unbekannter im Ghetto; allerdings überliefert die historiografische Forschung zu Murmelstein keine zentrale Rede.211 Auch die Replik am Ende des Zitates indiziert, dass Und Gott schaut weg nicht in ein Paradigma der Mimesis, sondern der Simulation einzuordnen ist: Während Raffi den auftretenden Dunkelstein mit dem ‚realhistorischen‘ Dunkelstein gleichsetzt, erkennt Willy Klang die Dunkelstein-Figur des Films als Hollywood-Fiktion. Mimesis und ein Simulacrum, welches „das Prinzip der mimetischen Referenz

210 Vgl. Adler: Theresienstadt 1941–45, S. 112. sowie Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 282–286. 211 Anders im Falle von Rumkowski: Bekannt aus dessen notorischer Rede vom 4. September 1942, gehalten nach der Anordnung Kinder und Alte zu deportieren, ist folgender Teil: „Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen. Man verlangt von ihm das Beste, was es besitzt – Kinder und alte Menschen. […] Nun, im Alter muß ich […] betteln: Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder! […] Ich muß diese schwere und blutige Operation durchführen, ich muß Glieder amputieren, um den Körper zu retten!“ (Rede von Chaim Rumkowski, gehalten am 4. September 1942. Zit. nach Roth, Markus: „Texte aus und zu dem Ghetto Litzmannstadt/Łódź. Ihre Rezeption vorwiegend in Deutschland und Polen“. In: Spiegel der Forschung. Justus Liebig Universität Gießen, 1 (2013), S. 46–55, hier: S. 49.)

4.8 „Theresienstadt als Hollywood der SS-Opfer“ (H.G. Adler)

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[unterläuft]“,212 stehen einander hier gegenüber; die Differenz zwischen Mimesis und Simulation beglaubigt die Autorität des Zeitzeugen Willy Klang als Scharnier zwischen Funktions- und Speichergedächtnis. Den Begriff ‚Hollywood‘ zur Charakterisierung einer bestimmten Ästhetik verwendet Schindel ein zweites Mal, um seine Figuren zwischen Mimesis und Simulation differenzieren zu lassen: Ein weiterer Dreh gegen Dramenende zeigt eine Szene, in der die Filmfigur Dunkelstein die Rettung zweier Kinder ermöglicht, indem er sie mit der Andeutung, sie hätten Fieber und „versauen mir mein ganzes Hygieneprogramm“ (DS 109) zurück nach Wien schickt. Raffis Interpretation „Schon wieder typisch Hollywood.“ korrigiert Willy Klang: „Nein, mein Lieber. Diese Sache stimmt ausnahmsweise. Er hat dem kleinen Peter Winter tatsächlich das Leben gerettet. Der Peter lebt heute in Wien.“ (DS 110) Die ‚Lektion‘, die Raffi sichtlich aus der zuvor zitierten Passage gezogen hat und die das Verhältnis zwischen historischer Faktizität und historischer Fiktion betrifft, läuft hier ins Leere: Die Rettung des kleinen Peter Winter ist keine Erfindung Hollywoods, sondern ‚historischer‘ Fakt. Das Simulacrum schürt falsche Erwartungen hinsichtlich einer vermeintlich einfachen Unterscheidbarkeit zwischen Mimesis und Simulation – trotz oder gerade wegen eines kritischen Blicks auf Hollywood-Simulacren –, für die lediglich der vermittelnde Zeitzeuge Willy Klang ins Wort genommen werden kann. Mit den Zeitzeug*innen verschwindet indes auch diese Vermittlungsinstanz, sodass kein Außerhalb der Simulation mehr existiert: Der Blick auf das Simulacrum lässt nicht zu, dass man die Differenz zwischen historischem Fakt und historischer Fiktion ‚entschlüsseln‘ kann. Als „Gegenkraft zur Repräsentation“ erzeugt die Simulation ein „Bild ohne Vorbild, eine Neuschöpfung von Wirklichkeit.“213 Die Bilder „haben sich verselbstständigt“ und „postulieren […] keine Verbindung mehr zu einem Außerhalb der Zeichen- und Bilderwelt, sondern tauschen sich untereinander aus, verweisen nur noch auf andere Zeichen und Bilder.“214 Während manche Filme oder Texte diese ‚Neuschöpfung‘ offensiv postulieren – etwa Tarantinos Rachefantasie Inglourious Basterds – behaupten andere einen Referenzbezug zu einem Außerhalb der Zeichen- und Bilderwelt, ohne diesen en détail einzulösen (z.B. Uprising). Wieder andere setzen den ambivalenten Status zwischen Mimesis und Simulation ins Werk, so etwa die oben zitierte Szene aus Dunkelstein. Dem bisher über die vermittelnde Rolle von Zeitzeug*innen Gesagten muss nun eine Einschränkung hinzugefügt werden. Folgende Szene aus Dunkelstein zeigt den Dreh einer Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz, für den 212 Strehle: Zur Aktualität von Jean Baudrillard, S. 99. 213 Ebd., S. 99. 214 Ebd., S. 105.

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die Kompars*innen in einen Viehwaggon steigen, der hinter ihnen geschlossen wird: Alter Häftling: […] Der Hund hat gebellt. (Schreit.) Türl öffnen. He, aufmachen! (Er läuft zur Wand und schlägt mit beiden Fäusten und brüllt.) Aufmachen, um Gottes Willen. Aufhören! Aufhören! (Beginnt laut zu schluchzen und zu schreien) Willy Klang, der junge Häftling laufen zum alten Häftling und versuchen ihn zu halten. Der reißt sich los und wirft sich auf den Boden. Nicht, bitte, bitte nicht. Nicht losfahren. Dableiben. Lasst mich leben! (Weint heftig) Die anderen schauen sich an, beginnen auf die Waggontür zu hämmern. Willy Klang (brüllt): Herbertl, mach die Tür auf. Wir brauchen einen Arzt. Die Tür wird aufgestoßen. Der Aufnahmeleiter erscheint, der Regisseur, SS-Komparsen kommen und schauen neugierig herein. Der alte Häftling sieht sie. Alter Häftling: Hilfe! Hilfe! Man hargelt mich. Lasst mich leben. Ich bin doch noch ein Kind! Ein SS-Komparse lächelt. Der Aufnahmeleiter sieht das. Aufnahmeleiter: Was gibt’s da zu lachen. Raus mit Ihnen. Der alte Häftling wälzt sich auf dem Boden. Man versucht ihn zu beruhigen. Willy Klang: Hermann, das ist doch nur ein Film. He, nur ein Film. Beugt sich über ihn, hält ihn fest. Dunkel. (DS 93).

Die Verschmelzung der beiden Wahrnehmungsmodi der Deportation einmal als traumatische Erfahrung und einmal als filmische Simulation irritiert gewohnte Repräsentationsmodi und verfremdet damit das Dargestellte.215 Schindels Blick auf die Deportation lässt dergestalt auf ein hohes Problembewusstsein hinsichtlich erinnerungspolitischer Konstellationen und medialer Entwicklungen schließen. An der zweiten ‚Epochenschwelle‘ sind Shoah-Diskurse in das ‚Zeitalter der Simulation‘ eingetreten, in dem sowohl Medien „strukturgebende und -stabilisierende Bedeutung“216 haben können als auch Ästhetiken. So steht in Dunkel215 Die Verschmelzung von Filmdreh und realer Vergangenheit deutet außerdem an, dass der Komparse nicht nur einen Shoah-Überlebenden darstellt, sondern tatsächlich einer ist – die Szene könnte in einer empathischen Lesart als traumatischer Flashback verstanden werden. Andererseits verbindet Schindel in der Figur ‚alter Häftling‘ zwei Biografien: der einen zufolge hat ihn ein Kindertransport nach England gerettet und er möchte als Komparse die Erfahrungen seiner im Genozid ermordeten Brüder nachempfinden; die zweite weist ihn in der Eingangsszene als Überlebenden des KZ Ebensee aus. Nun nennt sowohl das Personenverzeichnis nur eine Figur ‚alter Häftling‘, wie auch der Dramentext nahelegt, dass es sich um eine einzige Figur handelt. Damit ist die ‚reale‘ Biografie des alten Häftlings so uneindeutig, wie auch für ihn selbst in obiger Szene die Differenz zwischen Realität und Simulation. 216 Eke: „‚Was ist wahr? Woher haben Sie denn Ihre Bilder?‘ Shoah-Erinnerungen in neueren Theater-Texten“, S. 27.

4.9 Mediatisierung und Judenräte – eine Zusammenfassung

301

stein ‚Hollywood‘ metonymisch nicht nur für eine Ästhetik, sondern auch für einen bestimmten Blick auf historische Vergangenheit. In diesem Zusammenhang hat Norbert Otto Eke von einer „Einschleifung von Wahrnehmungs- und Rederoutinen zur Selbstverständlichkeit einer gleichsam automatisierten Wirklichkeitsproduktion“ gesprochen, „die Heterogenes und Fremdes (Befremdliches) tendenziell ausschließt“.217 Er richtet hier indirekt den Blick nicht nur auf die Produktion von Wirklichkeiten und Evidenzen durch die gedächtnisstiftende Funktion von (literarischen) Texten, sondern auch auf den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und ‚automatisierter Wirklichkeitsproduktion‘. Die vorhergehenden Kapitel haben gezeigt, dass der Blick von Autor*innen auf soziale Realitäten untrennbar mit ästhetischen Parametern verbunden ist. Dies bedeutet umgekehrt, dass konventionalisierte Ästhetiken dazu tendieren, konventionalisierte Blicke auf historische Wirklichkeiten zu (re-)produzieren. Auch Schindels Verweise auf ‚die Hollywood-Industrie‘ sowie der Name der Produktionsfirma ‚Globus‘, die zu einer Globalisierung von Erinnerung (d.h. einer Vereinheitlichung von mentalen und konkreten Bildern von historischen Ereignissen) beiträgt und im Falle popkultureller Filme oder Texte eine Hegemonialisierung von mentalen Bildern und damit Ästhetiken mitbedingt, reflektiert diese Tendenz.

4.9 Mediatisierung und Judenräte – eine Zusammenfassung Kapitel drei hat die eminente Bedeutung des grotesken Körpers von Shoah-Überlebenden in Die Kannibalen sowie paradigmatische Verschiebungen im Sprechen von Zeitzeug*innen in den Blick genommen. Die mit dem Ableben dieser ­Zeitzeug*innen in der Erinnerungsepoche des beginnenden 21. Jahrhunderts entstehende Leerstelle steht im Zentrum von Dunkelstein, da das Drama v­ er­handelt, wie sie gefüllt wird. Konflikte zwischen Angehörigen der Überlebendengeneration und der postmemory-Generation führen den Übergang des kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis vor, den Schindel als störungsanfällig und konfliktbeladen zeigt. Diesem komplexen Prozess des Übergangs widmet sich Dunkelstein, so haben die vorhergehenden Kapitel gezeigt, anhand des thematisch höchst voraussetzungsreichen Themenfeldes der Judenräte: Weder kennt die Literaturgeschichte sie als prominente Figuren (vgl. Kapitel 4.4), noch ist außerhalb von historiografischen Spezialdiskursen viel über ihre Funktion in der Organisation des Genozids und über ihre Handlungsbedingungen bekannt. Schindel steht mit Dunkelstein folglich vor der Herausforderung, gleichzeitig ‚Wissen‘ über Judenräte zu vermitteln und deren Mediatisierung zu thematisieren. Er berücksichtigt dabei 217 Ebd.

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4. Mediatisierung und Judenräte

außerdem die ex post erfolgte ethische Verurteilung von Judenräten sowie eine Beurteilung von ‚jüdischem Verhalten‘ während der Shoah insgesamt, wenn er die enge Verflechtung im Sprechen über Judenräte, ‚jüdischen Widerstand‘ und die ‚Mitschuld der Juden an ihrer eigenen Vernichtung‘ auch als historisch ­präfiguriert zeigt (vgl. Kapitel 4.2, 4.3). Schindels Ästhetik des Grotesken ist in diesem Zusammenspiel von quasi-­ didaktischem Anliegen, einer Diskussion von Möglichkeiten der Mediatisierung der Shoah und dem Übergang des kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis angesiedelt: Gerade in seiner Auseinandersetzung mit der Mediatisierung der Shoah greift Schindel dabei auf diverse Diskurse (philosophische, identitätspolitische, historiografische), Genres, Stillagen und vor allem auf konventionalisierte Ästhetiken zurück (klassischer Realismus, Sprachexperiment, ‚Hollywood-­ Ästhetik‘; auch: Verfremdung). Dergestalt treten in Dunkelstein diverse Subjektpositionen und Weltbilder miteinander in Kontakt, um die komplexe historische Situation von Judenräten in einen polyphonen Text zu fassen. Dieser polyphone Textcharakter konstituiert Schindels Ästhetik des Grotesken ebenso wie die Polyvalenz von Mediatisierungen (vgl. Kapitel 4.6) und die selbstreflexive Anlage des Dramas. Dergestalt trägt etwa das komplexe Spiel-im-Spiel dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Produktion diverser Bilder von Judenräten zu lenken. Je nach Ästhetik divergiert auch der Inhalt dieser Vergangenheitsbilder (vgl. Kapitel 4.7), da jede Ästhetik zu unterschiedlichen Blicken auf die Vergangenheit verhilft. Diese Produktion von Vergangenheitsbildern ist eines der Kernthemen der Erinnerungsepoche des 21. Jahrhunderts: Während in den 1960er Jahren neu verhandelt wurde, wer wann wie über die Shoah sprechen darf, steht nunmehr die Frage auf dem Spiel, welche Bilder von der Shoah vom kommunikativen ins kollektive Gedächtnis übergehen. Dunkelstein leistet in dieser Hinsicht eine doppelte Gedächtnisfunktion: Erstens ist das Drama selbst Teil des Speichergedächtnisses und erinnert als solches an Judenräte. Zweitens thematisiert es das Entstehen dieses Speichergedächtnisses, indem auf der Handlungs­ ebene der Gegenwart ein Film über Judenräte gedreht wird.

SCHLUSSBEMERKUNG Jüdische Kannibalen im KZ, die ihre Mithäftlinge essen, Judenräte als NS-Kollaborateure, die Deportationslisten erstellen – zwischen solch kontroversen Inhalten nehmen George Taboris Kannibalen (1963/1969) und Robert Schindels ­Dunkelstein (2010/2016) ihre Positionen in literarischen Shoah-Diskursen ein. Dass sie sich kaum in die gängigen Konventionen von Shoah-Literatur einordnen ­lassen, zeigt bereits ein Blick auf ihre Themen: Weder Schindels noch Taboris Figurenzeichnung entspricht etablierten Schemata von Überlebendenerzählungen, heroischen Widerstandsnarrativen oder melodramatischen Opferschicksalen, wie sie charakteristisch für viele populäre Texte oder Filme über die Shoah sind. Stattdessen sind Die Kannibalen und Dunkelstein Indikatoren von ästhetischen wie erinnerungspolitischen Paradigmenwechseln an den Epochenschwellen zum einen der 1960er Jahre, als sich der Körper als Trägermedium von Erinnerung etabliert, zum anderen der 2000er Jahre, als das Verschwinden dieser Körper eine neue Phase der Mediatisierung von Erinnerung auslöst. Um diese erinnerungskulturellen Transformationsprozesse mit ästhetischen Umgestaltungen engführen zu können, hat Kapitel eins die diskursgeschichtliche Rahmung der Untersuchung abgesteckt: Die Perspektivierung von literarischem Schreiben (‚point of view‘) hat ebenso Auswirkungen auf dessen Darstellungsinhalte wie die Perspektivierung von historiografischem Schreiben – schematisch gesprochen stehen einander ‚Täter‘- und ‚Opferperspektive‘ gegenüber. In den Nachkriegsjahren folgt daraus ein philosemitischer Habitus (z.B. in Folge von Reeducation-Programmen) bei gleichzeitigem Fortbestehen eines antisemitischen Dispositivs (z.B. Ettighoffer), ferner sind Ästhetiken der Shoah-Literatur in der Nachkriegszeit auffallend heterogen. Einflussreiche und nachhaltig prägende Ästhetiken operieren etwa mit Sentimentalisierungsstrategien (z.B. Das Tagebuch der Anne Frank) oder Objektivierungsstrategien des politischen Theaters (z.B. Weiss), neben ihnen bestehen allerdings auch Ästhetiken, die unwillentlich ambivalente heilsgeschichtliche Opfernarrative entwerfen (z.B. Böll). Gegen ein sich konsolidierendes philosemitisches Paradigma mit seinen Sentimentalisierungstendenzen positionieren sich erstens Erzählungen jüdischer Überlebender, für die ab den 1980er Jahren ein stark ansteigendes Interesse zu verzeichnen ist, das seinerseits einer fundamentalen Aufwertung von Zeitzeug*innen in Shoah-Diskursen und Erinnerungskultur den Weg ebnete. Zweitens verfassen ab den 1960er Jahren vor allem jüdische Autor*innen Arbeiten, die sich agonal zu den genannten Konventionen, zu sich etablierenden Ästhetiken, etwa konventionalisierten Repräsentationsmodi von ‚jüdischen Körpern‘, positionieren. Dergestalt sind sie retrospektiv als Gegen-Erinnerung lesbar (z.B. Hilsenrath) und erweitern das Repertoire an Ästhetiken und Darstellungsinhalten.

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Schlussbemerkung

Letztgenannte haben auch dazu beigetragen, dass sich der Körper von Überlebenden ab den 1960er Jahren als Evidenzbeweis der Shoah als historisches Ereignis und als Beglaubigung individueller Erinnerung etablieren konnte – in literarischen wie nicht-literarischen Diskursen (z.B. Eichmann-Prozess) und vor allem durch die Emanzipation von Überlebenden als Sprechenden. Mit dem Ableben der Zeitzeug*innen um die Jahrtausendwende findet indes der Übergang vom kommunikativen ins rein medial vermittelte kulturelle Gedächtnis statt, womit der Paradigmenwechsel vom Körper als Trägermedium von Erinnerung zu dessen Mediatisierung virulent wird, eine körpergestützte also in eine sekundäre Erinnerungskultur übergeht (z.B. Die letzten Zeugen). In den Kontexten ­dieser beiden zentralen erinnerungskulturellen Zäsuren müssen Taboris und Schindels Dramen betrachtet werden. Vor diesem diskursgeschichtlichen Hintergrund wurde im zweiten Kapitel ein relationaler Groteskenbegriff entfaltet: Ästhetiken des Grotesken lassen sich nicht, wie etwa in der Nachfolge von Wolfgang Kayser lange Usus, anhand einer homogenen ‚Gruppe‘ von Texten mit gemeinsamen (motivischen, strukturellen etc.) Merkmalen beschreiben, sondern nur relational, also in ihren historischen, sozialen und kulturellen Äußerungskontexten. Genre und Ästhetik eines (künstlerischen) Äußerungsaktes müssen in ihrem Zusammenspiel mit dem jeweiligen (historischen, kulturellen etc.) Äußerungskontext und eingedenk Michael Bachtins Arbeiten zu Dialogizität und Generizität betrachtet werden. Ästhetiken werden solcherart als akkumulierte Erfahrungen und als Gedächtnisträger sichtbar, die nur im Zusammenspiel mit ästhetischen, erinnerungspolitischen und medialen Veränderungen beschreib- und damit auch als Indikatoren für Umgestaltungen auch sozialer Zusammenhänge begreifbar werden. Die Forschung hat gezeigt, dass Ästhetiken des Grotesken an Epochenschwellen verstärkt aktiv werden; der Rückgriff auf Bachtins Arbeiten erlaubt es, den Zusammenhang von Ästhetiken des Grotesken mit solchen literarisch-weltanschaulichen Veränderungen genauer zu beschreiben: Sie suspendieren etablierte Ordnungssysteme und müssen als ästhetische Interventionen gelten, die konventionalisierte und stereotypisierte Wahrnehmungsmuster entautomatisieren und damit auch Sichtbarkeit (von Darstellungskonventionen sowie von bislang Ausgespartem) produzieren. Taboris Darstellung von Zeitzeug*innen und Schindels Auseinandersetzung mit der Mediatisierung der umstrittenen und literarisch unterrepräsentierten Judenräte setzen mittels Ästhetiken des Grotesken streit­bare Themen aus Shoah-Diskursen ins Werk. Die Beschreibung von Taboris unkonventioneller Theaterkonzeption und seiner neuartigen schauspielpraktischen Arbeit hat in Kapitel drei gezeigt, wie zentral Strategien des Performativen für seine Theaterarbeit sind. Auch für Die Kannibalen sind sie ein zentrales ästhetisches Mittel, das es Tabori ermöglichte, den grotesken, geschundenen Körper von Überlebenden als Akteur in der Shoah-­

4.9 Mediatisierung und Judenräte – eine Zusammenfassung

305

Literatur zu etablieren. In Zusammenhang damit hat sich für Taboris Arbeit an ‚Opfer‘-Bildern der koloniale Alteritätsdiskurs des Kannibalismus als fruchtbar für die Beschreibung seiner Strategien einer gleichzeitigen Repräsentation und Repräsentationskritik erwiesen. Konventionalisierte Repräsentationsmodi werden in Die Kannibalen etwa durch Strategien der Verfremdung oder literarische Strategien der Komik, wie rasche Themen- und Skriptwechsel oder fluide Lachgemeinschaften, suspendiert. Dergestalt partizipiert Die Kannibalen an einer einschneidenden Umgestaltung des gesellschaftlichen Umgangs mit Zeitzeug*innen, der zeitgleich auch im Eichmann-Prozess nachhaltig vollzogen wurde, indem die individuell affizierte Perspektive von Überlebenden ins Zentrum eines öffentlich-juristischen Diskurses rückte. In Die Kannibalen fungieren die grotesken Körper der KZ-Insassen und Überlebenden als Trägermedien des Funktionsgedächtnisses und dergestalt als Wegbereiter einer Konjunktur von Zeitzeug*innen in den 1980er Jahren, als Oral-history-Interviews und Zeitzeug*innengespräche zu zentralen erinnerungskulturellen Praktiken avancieren. Die sich auf die körperliche Anwesenheit von Zeitzeug*innen stützende Erinnerungsepoche gerät notwendigerweise in eine Krise, wenn der Körper von Überlebenden nicht mehr als Zeichen zur Verfügung steht, sondern an seine Stelle dessen Simulacrum tritt. Im Bezugsfeld dieses Paradigmenwechsels vom Körper als Trägermedium von Erinnerung zu dessen Mediatisierung entwickelt Schindels Dunkelstein rund vierzig Jahre nach Tabori seine literarische Bearbeitung des lange tabuisierten Themas der jüdischen Funktionäre und Judenräte, wie Kapitel vier gezeigt hat. Schindel partizipiert dabei an drei Diskursen: erstens der Rekonstruktion des historischen Handlungsraums von Judenräten zwischen historischer Schuld und Handlungsohnmacht; zweitens der Diskursgeschichte von Judenräten; drittens der Reflexion und Dekonstruktion literarischer Darstellungsverfahren. Die Analyse dieser drei Themenfelder konnte zeigen, wie Dunkelstein diverse Judenrat-Diskurse absorbiert (z.B. Arendt, Hilberg) und davon ausgehend Fiktionalisierungsstrategien und Darstellungsverfahren implizit dekonstruiert. In ­seinen vielfältigen Formen der Mischung von Genres, Stillagen und präfigurierten Diskursen ist Dunkelstein der Gattungsmischung der menippeischen Satire verwandt, die auch konstitutiv für Traditionslinien der Komik ist und bei ­Bachtin ein Scharnier zwischen seinen gattungstheoretischen Arbeiten und seiner Auseinandersetzung mit dem Grotesken darstellt. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit rahmt Dunkelstein mittels einer vielschichtigen Spiel-im-Spiel Konstruktion, die zur Selbstreflexivität, Verfremdung und Medienreflexion beiträgt. Das Spiel mit Genres und Sprechgattungen im Bachtin’schen Sinne (Realfarce, Lesedrama, Traditionslinien des Komischen) unterminiert eine monoperspektivische Sicht auf die Vergangenheit und auf die komplexe historische Rolle von Judenräten. Dergestalt stellt Schindel unterschiedliche ästhetische Fiktionalisierungs-

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Schlussbemerkung

möglichkeiten eines Themas gleichberechtigt nebeneinander, bietet damit ­konkurrierende Mediatisierungsmöglichkeiten an und wirkt einer Komplexitätsreduktion entgegen, die zeitgenössische (populär-)kulturelle Darstellungen der Shoah auszeichnet (z.B. Avnet, Sem-Sandberg). Auffällig wurde dabei, dass Schindels Ästhetik den Blick auch auf Störungen im Übergang vom kommunikativen ins kollektive Gedächtnis lenkt und solcherart zur Entautomatisierung von Wahrnehmung beiträgt. Der historische Konflikt von Judenräten sowie deren zeitgenössische Repräsentation muss historisch komplexe Voraussetzungen mitbedenken und mit ins Werk setzen. Taboris emanzipatorischer Zugang zur traumatischen Erfahrung der KZ-Inhaftierung setzt hingegen weit weniger Wissen auf Rezipient*innenseite voraus. Darin mag ein Grund dafür liegen, dass die literarischen Verfahren in Dunkelstein weniger innovativ sind als in Die Kannibalen. Auf vielfältigen Ebenen thematisiert und inszeniert Schindel den Medienwechsel an der Epochenzäsur im Horizont des Wechsels vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, er vollzieht ihn jedoch nicht (etwa inkorporiert er keine alternativen Mediatisierungsformen). Das Drama erweist sich so als eine Art Schwellentext, dessen ­Inhalte auf eine stärker mediatisierte Erinnerungsepoche vorausweisen, während seine literarischen Mittel im Spannungsfeld zwischen Repräsentation und Repräsentationskritik verhaftet bleiben. Auch in digitalen Shoah-Mediatisierungen, die in den vergangenen Jahren mit der Verbreitung ‚neuer Medien‘ signifikant ansteigen, bleiben Zeugenschaft, das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion, Aneignung der Shoah-Vergangenheit durch die postmemory-Generation und die Rolle des ‚grotesken‘ Körpers von ­Shoah-Überlebenden virulent und sind weiterhin mit ästhetischen Fragestellungen verbunden – seien es TikTok-Videos, in denen sich User*innen als Shoah-Opfer schminken und in Kurzvideos von ihrer Ermordung erzählen (#HolocaustPOVchallenge)1 oder Social Media Initiativen wie #weremember.2 Mit den Transformationen von Erinnerung und Erinnerungskultur infolge des Wechsels vom Analogen ins Digitale beschäftigt sich mittlerweile auch die kulturwissenschaftliche Forschung,3 die Gedächtnis und Zeugenschaft im Horizont medialer Umbrüche und der Globalisierung von Erinnerung etwa mittels der 1

2 3

Vgl. z.B. die Tiktok-Clips in: n.n.: „Jugendliche inszenieren sich auf TikTok als Holocaust-Opfer – doch dem Hype folgt die Reue“. In: Stern, 11. September 2020. URL: https://www.stern.de/ panorama/tiktok-trend--jugendliche-inszenieren-sich-als-holocaust-opfer-9409482.html [2.4.2021]. Der World Jewish Congress rief vor dem 27. Januar 2021 dazu auf, Fotos auf sozialen Medien zu posten, die ein Schild mit der Aufschrift #weremember zeigten. Vgl. z.B. Rothstein, Anne-Berenike/Pilzweger-Steiner, Stefanie (Hg.): Entgrenzte Erinnerung. Erinnerungskultur der Postmemory-Generation im medialen Wandel. Oldenburg: DeGruyter 2020.

4.9 Mediatisierung und Judenräte – eine Zusammenfassung

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Konzepte von ‚prosthetic memory‘4 oder ‚multidirektionale Erinnerung‘5 theoretisieren. Dabei stehen transkulturelle und transnationale Erinnerung oder der partizipatorische Charakter von Erinnerung und Zeugenschaft (z.B. in Computerspielen,6 auf YouTube etc.) auf dem Spiel. Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur transformieren sich weiter, entsprechend werden auch Ästhetiken des Grotesken weiterhin virulent bleiben. Sie markieren Veränderungen in literarischen Shoah-Diskursen, denn sie lassen sich als Geschichte von literarischen Agonalitäten beschreiben. Unter ihnen haben Ästhetiken des Grotesken ein besonders augenfälliges Irritationspotenzial. George Taboris kannibalische Juden und Robert Schindels an der Organisation des Genozids mitarbeitende jüdische Funktionäre machen sichtbar, wie Ästhetiken des Grotesken zur Wahrnehmung neuer Aspekte von Vergangenheit und Erinnerungsarbeit beitragen können. Gleichzeitig sind sie mit zeitgenössischen Entwicklungen öffentlicher Diskurse verbunden und ermöglichen so einen Blick auf Umgestaltungen auch in außerliterarischen Shoah-Diskursen.

4

5

6

Vgl. z.B. Landsberg, Alison: Prosthetic memory. The transformation of American remembrance in the age of mass culture. New York: Columbia University Press 2004. Als ‚prothetic memory‘ bezeichnet Landsberg Erinnerungen an Ereignisse, die man nicht selbst erlebt hat, sondern die aufgrund des Zugriffs auf massenmediale Erinnerungsspeicher entstehen. Vgl. z.B. Rothberg: Multidirectional Memory. Rothberg entwirft „ein Konzept transkultureller Erinnerung, das gegen rivalitäts- und konkurrenzbezogenes Erinnern einsteht“. (Öttl, Johanna: „‚Flüchtlingskrise‘ und NS-Erinnerung: Zu einem aktuellen Diskurs bei Norbert Gstrein und Vladimir Vertlib“. In: Henke, Daniela/Vanassche, Tom (Hg.): Ko-Erinnerung. Grenzen, Herausforderungen und Perspektiven des neueren Shoah-Gedenkens. Berlin, Boston: DeGruyter 2020, S. 99–118, hier: S. 100.) Vgl. etwa zum Computerspiel Call of Duty World War II Widmann, Tabea/Honke, Josefine: „Prosthetic Witnesses. Eine neue Form von Zeugenschaft in medialisierten Erinnerungskulturen“. In: Rothstein/Pilzweger-Steiner: Entgrenzte Erinnerung, S. 93–134, bes. S. 122–127.

Mein Dank gilt Norbert Christian Wolf und Werner Michler für die Betreuung der Dissertation; Norbert Otto Eke für die Übernahme des Zweitgutachtens; Elisabeth Klaus, Wolfgang Gratzer, den Kolleginnen vom Doktoratskolleg Wissenschaft und Kunst Salzburg; dem Theodor Körner Fonds für die Unterstützung des Dissertationsprojektes. Last but not least Fermin und Linda.

LITERATURVERZEICHNIS

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REGISTER A Abramović, Marina 174 Adler, H.G. 229, 273, 288, 295, 296, 297 Adorno, Theodor W. 44, 46 Améry, Jean 67 Andersch, Alfred 205 Anielewicz, Mordechaj 282, 283, 284 Antelme, Robert 47, 48, 49, 50, 51, 59, 167 Apitz, Bruno 32, 33 Arendt, Hannah 77, 170, 213, 227, 228, 238, 252 Artaud, Antonin 142 Avnet, Jon 281, 283, 285, 286, 287 B Bachtin, Michael 107, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 176, 269, 270, 271, 304 Bacon, Jehuda 83, 86 Bart, Andrzej 247, 248, 251, 252, 253, 254 Baudrillard, Jean 73, 219, 291 Beckermann, Ruth 274, 275 Biebow, Hans 252 Böll, Heinrich 55, 56, 57, 58, 59, 60, 62, 63, 64 Borowski, Tadeusz 167 Bourdieu, Pierre 13, 38, 117, 126 Boyne, John 33 Brecht, Bertolt 138, 142, 264, 265 C Chaplin, Charlie 139, 205 Claudius, Matthias 267 Czerniaków, Adam 252, 282, 283, 284, 285 D de-Nur, Yehiel (auch unter Yehiel Feiner bzw. dem Pseudonym K. Tzetnik bekannt) 86, 87 Diderot, Denis 265 E Epstein, Leslie 247, 248

Ettighoffer, Paul Coelestin 24, 25, 26 F Fanon, Frantz 171, 172 Frank, Anne 30, 31, 32 H Handke, Peter 174 Hartmann, Matthias 95, 97, 98, 222 Hausner, Gideon 84 Herodot von Halikarnassos 166 Hilberg, Raul 229, 230 Hilsenrath, Edgar 36, 37, 68, 69, 70 J Jandl, Ernst 267 Johannes Paul II., Papst 61 K Kafka, Franz 59, 60, 146, 253 Kayser, Wolfgang 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 304 Kertész, Imre 52, 53, 54 Klemperer, Viktor 109 Kohout, Pavel 294 Kolbe, Pater Maximilian 61 Korczak, Janusz 252, 283, 284 Korman, Jane 9, 10, 11, 12, 14, 16, 47 L Langnas, Mignon 255 Lanzmann, Claude 52, 229, 232, 233, 297 Lessing, Gotthold Ephraim 29, 30, 38, 39, 41 Levi, Primo 48, 168, 185, 278, 279 Löw-Danneberg, Franziska 255, 258 M Malraux, André 140 Menasse, Robert 71, 72, 73, 74, 94, 210, 211, 213

Register

Montaigne, Michel de 166 Möser, Justus 103 Murmelstein, Benjamin 215, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 232, 233, 240, 241, 248, 292, 297 N Nordau, Max 66 P Peymann, Claus 40 R Rabelais, François 113, 114, 115, 119 Rabinovici, Doron 41, 95, 97, 98, 210, 211, 216, 222, 232, 233, 236, 258, 259, 260 Rahm, Karl 291 Reisz, Wilhelm 216 Rumkowski, Chaim 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 293 S Scheherazade 297 Schindel, Gertrude 214, 255, 256 Scholem, Gershom 228 Sebald, W. G. 287, 288 Semprún, Jorge 75, 76, 77, 185 Sem-Sandberg, Steve 246, 248, 249, 250, 254

337

Shakespeare, William 173, 244, 253 Srebnik, Simon 87 Stein, Edith 61 Strasberg, Lee 143 T Teilhaber, Felix 66 W Walser, Martin 93 Wander, Fred 177, 188, 203 Weiss, Peter 78, 79, 80, 81, 82, 83, 85, 87, 88, 157, 177, 183, 184, 187 Wilkomirskis, Binjamin 90 Winckelmann, Johann Joachim 103