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German Pages 394 [396] Year 1997
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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen K nste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerd rfer, Dieter Borchmeyer und Andreas H fele Band 21
Theater gegen das Vergessen Bühnenarbeit und Drama bei George Tabori
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer und Jörg Schönert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Theater gegen das Vergessen : Bühnenarbeit und Drama bei George Tabori / hrsg. von HansPeter Bayerdörfer und Jörg Schönen. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Theatron ; Bd. 21) NE: Bayerdörfer, Hans-Peter [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-66021 -X
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert Druck GmbH, Darmstadt. Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch.
Inhalt
Vorwort
VII
Dieter Dorn "Lieber George"
l
Hans-Peter Bayerdörfer Stimmen in der Wüste: Jüdischer Intellekt und dramatische Gestalt in Taboris Stücken. Statt einer Einleitung
3
Michael Müller-Janke Taboris Arbeit mit dem Schauspieler: 'Selbsterfahrung1 und 'Integration' des Ichs
45
Anat Feinberg Taboris Bremer Theaterlabor. Projekte - Erfahrungen Resultate
62
Sibylle Peters Die Inszenierung des Scheiterns. 'Gedächtnis' und 'Identität' als Konzepte der Theaterarbeit Taboris
98
Karin Dahlke 'Überrumpelte Katastrophen'. Taboris 'Witz' im Schatten der Shoah
123
Sandra Pott und Marcus Sander Abdankung des Dokumentarischen? Taboris Die Kannibalen als Gegenstück zu Die Ermittlung von Peter Weiss
155
Marcus Sander Friedhofs-Monologe. George Taboris Jubiläum
183
VI
Marcus Sander Der Tod der Jüdischen Frau. Bertolt Brechts Einakter des Exils,'nach Auschwitz'bearbeitet von George Tabori
218
Sandra Pott "Ecce Schlomo": Mein Kampf- Farce oder theologischer Schwank?
248
Sibylle Peters Die Verwandlung der Schrift in Spiel. George Taboris Metaphysik des Theaters: Die Goldberg-Variationen
270
Silvia Stammen Geschichte der Zerstörung - Zerstörung der Geschichte. Nathans Tod im Textvergleich mit Nathan der Weise
283
Gabriele Brandstetter Aufklärung und Theater der Gewalt. George Tabori und Lessings Nathan
319
Stephanie Schmidt George Tabori als Wanderer zwischen Sprachen und Gattungen der Literatur
333
Sandra Pott und Jörg Schönen Tabori unter den Deutschen: Stationen einer 'authentischen Existenz1?
346
Literaturverzeichnis zu George Tabori
379
Namenregister
381
Vorwort
Ein gutes Vierteljahrhundert lang hat George Tabori an deutschsprachigen Bühnen gearbeitet und für das Theater im deutschsprachigen Raum geschrieben. Aber erst in den letzten zehn Jahren ist er vom 'Insider-Tip' zu einem der meist gespielten Autoren der Theaterliteratur dieses Jahrhunderts und einem der meist gebetenen Regisseure geworden. 1992 wurde George Tabori mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Er ist nicht nur der erste in der Reihe der Preisträger, dessen Texte ins Deutsche übersetzt werden - er ist auch der erste, den zum Zeitpunkt der Preisverleihung die Wissenschaft kaum wahrgenommen hatte. Das mag darin begründet sein, daß sich für Taboris Werk, für die 'Übersetzungen ins Deutsche', die Germanistik nicht zuständig sah. Da die englischsprachigen Vorlagen dieser Übersetzungen nur in wenigen Fällen veröffentlicht sind, haben auch Anglisten und Amerikanisten keinen Anlaß dazu gesehen, sich auf Tabori einzulassen: eine Lebens- und Werkgeschichte wie die Taboris hat keinen Ort in der etablierten philologischen Praxis. Nur ansatzweise hat sich die Theaterwissenschaft in den deutschsprachigen Ländern um Tabori gekümmert. Die richtungsweisende Dokumentation zu den Shylock-Improvisationen (1979) von Andrea Welker und Tina Berger sowie die erste zusammenfassende Würdigung durch Gundula Ohngemach (1989) lassen nicht vergessen, daß wichtige Phasen der Theaterarbeit von Tabori nur in ersten Schritten erschlossen sind. Die bislang vorliegenden Veröffentlichungen zu seiner Theaterarbeit und seinen Dramen wurden nahezu ausschließlich von denjenigen verantwortet und mit Beiträgen versorgt, die an den Inszenierungen Taboris mitgearbeitet haben oder die als Dramaturgen und Theaterkritiker das aktuelle Theatergeschehen verfolgen. Doch hat sich - allem Anschein nach - diese Situation in jüngster Zeit geändert. Im umfassenden Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hat George Tabori seit 1995 seinen Platz gefunden; seine Texte und seine Theaterpraxis sind in der germanistischen Literaturwissenschaft und in der Theaterwissenschaft Gegenstand von Lehrveranstaltungen geworden, aus denen Forschungsgruppen und Forschungskontakte hervorgegangen sind. Der hier vorgelegte Band will den Stand der Gespräche festhalten und erweitern. So ergingen Einladungen zur Mitarbeit an Gabriele Brandstetter (Uni-
VIII
Hans-Peter Bayerdörfer und Jörg Schönert
versität Gießen), Karin Dahlke (Universität Hamburg) und Anat FeinbergJütte (Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg). Neben der Theaterarbeit Taboris sollten die Bezugspunkte insbesondere die Dramen bilden, die dem Thema der Shoah gelten: Die Kannibalen, Mutters Courage, Jubiläum, Mein Kampf, Weisman und Rotgesicht, Die Goldberg-Variationen und Nathans Tod. Die jüngste Phase von George Taboris Theater- und Dramenarbeit - seit Requiem für einen Spion - wurde nicht mehr einbezogen. Zunächst waren die literaturgeschichtlichen Bezüge aufzunehmen, die Taboris Dramatik mit Bertolt Brecht, Samuel Beckett und Peter Weiss verbinden. Dabei wird deutlich, worin sich die besondere Stellung Taboris im Theater der Gegenwart begründet: Seine Dramen und Inszenierungen dienen einem Theater gegen das Vergessen·? sie erinnern insbesondere an die Geschichte der Verfolgung der Juden, an den Genozid der Nationalsozialisten, an die Gegenwärtigkeit des Antisemitismus und Rassismus; sie 'erspielen' auf dem Theater auf 'peinliche Weise1, was Opfer und Täter aus unterschiedlichen Gründen verdrängen (und was sich angesichts traumatischer Erfahrungen nicht verdrängen läßt); sie prägen das Gedächtnis für diese Geschichte mit Hilfe einer Intellektualität, die aufklärt, ohne zu belehren, und einer Leibhaftigkeit des Theatralen, die uns die Bühne am Ausgang des 20. Jahrhunderts als "sinnliche Anstalt der memoria" (Gabriele Brandstetter) verstehen läßt. Taboris Theater schlägt Wunden und will Wunden heilen, es setzt Geschichte und Gegenwart in ein Beziehungsnetz, wie es im Spiel des Theaters geknüpft werden kann. Es ist offensichtlich, daß George Taboris Wirkung in den deutschsprachigen Ländern mit der Thematik der Verfolgung der Juden und mit seiner Teilhabe am jüdischen Schicksal dieses Jahrhunderts zu tun hat unabhängig davon, was er über sich selbst, seine Beziehung zu Judentum und Israel oder seine Stellung als 'jüdischer Schriftsteller' äußert. Unser Buch will die wissenschaftliche Diskussion zu Tabori so befördern, daß bald getan werden kann, was zu tun bleibt - etwa die Materialien zu sichten, die Tabori der Berliner Akademie der Künste überlassen hat und die wesentliche Aufschlüsse über seine Leistung als Theatermacher und Regisseur versprechen; des weiteren alle diejenigen Texte zu diskutieren, die nicht die Erfahrung der Shoah ins Zentrum stellen, sowie jene literatur- und theaterDer Titel ist George Tabori nachformuliert, der im Interview mit Michael Ernst aus Anlaß seiner Leipziger Inszenierung von Arnold Schönbergs Moses und Aaron äußerte: "Aufklärung hat noch nie etwas genützt. Es ist wie mit dem Schreiben: Ich tu' es nicht wegen des Effekts. [...] Man muß etwas gegen das Vergessen tun, wenn es gelingt, ist das schon viel." -'Ich fühle mich überall als Fremdling.' [...] Ein Gespräch über Oper, Heimat und Auschwitz. In: Wochenpos\, 24.11.1994.
Vorwort
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geschichtlichen Voraussetzungen, die auf Taboris Erfahrungen der englischen und amerikanischen Kultur verweisen. Zudem wäre es wichtig, die Texte und Dokumente zu sichern, die eine Analyse und Würdigung der herausragenden Theaterarbeiten gestatten. Im vorliegenden Band ist der Zugang zu Taboris Auseinandersetzung mit Lessings Nathan der Weise eröffnet, ohne daß eine umfassende Synopse der korrespondierenden Passagen im Rahmen eines vertretbaren Umfangs des Bandes möglich gewesen wäre. In der notwendig ausführlichen Weise wären auch Taboris Bühnenbearbeitungen zu Dostojewskijs Großinquisitor und Kafkas Verwandlungen zu dokumentieren und wissenschaftlich zu erschließen. Wir haben für diese Veröffentlichung die Beiträge nicht einfach 'eingesammelt'; die Vorfassungen zirkulierten im Kreis der Mitarbeiter, wurden eingehend diskutiert und aufeinander bezogen. Dennoch war es im Sinne eines ersten Problemaufrisses unumgänglich, widersprüchliche Meinungen und divergierende Akzente zu belassen. Vereinheitlichungen beschränken sich daher auf die Formalien wie die Zitierverfahren der Primär- und Sekundärliteratur. Taboris Dramen werden nach den seitengleichen Ausgaben der Theaterstücke zitiert, die 1994 im Hanser Verlag München und Fischer Verlag Frankfurt/M. erschienen sind (im fortlaufenden Text mit Band- und Seitenzahl); wiederholt zitierte Buchpublikationen zu Taboris Texten werden in den Fußnoten nur mit Kurztitel genannt, die vollständigen Literaturangaben finden sich im Literaturverzeichnis (S. 379f.). Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich trotz drängender anderer Verpflichtungen zur Zusammenarbeit für diesen Band bereitgefunden haben, sei herzlich gedankt. In Hamburg haben Stephanie Schmidt und Anett Makus, in München Astrid Carstensen PC-Fassungen erstellt. Ihrer Kompetenz und ihrem Engagement verdanken wir viel. Mit geduldigem Verständnis für die Schwierigkeiten eines solchen Gemeinschaftsprojekts, mit Umsicht und Akribie hat Wilhelm Schernus (Universität Hamburg) die Druckvorlage ausgearbeitet; ihm danken wir herzlich. Das Register haben Sandra Pott und Marcus Sander erstellt; Bernd Graff (Universität München) hat die Schlußkorrektur des Bandes besorgt. Besonderer Dank gilt Dieter Dorn für die Erlaubnis zum Abdruck seiner Laudatio, mit der er als Intendant der Münchner Kammerspiele George Tabori am 12. November 1995 in der Vortragsreihe "Reden über das eigene Land" begrüßt hat.
München und Hamburg, im September 1996
Hans-Peter Bayerdörfer und Jörg Schönert
Dieter Dorn "Lieber George"1
Lieber George, der Blick ins Parkett und auf den Rang zeigt es - Du hast den Münchner Kammerspielen wieder mal ein volles Haus beschert. Diesmal nicht, wie früher so oft, mit einer Inszenierung von Dir auf dieser Bühne, sondern mit Dir selber. Aber darin liegt vielleicht gar kein so großer Unterschied - das sage ich nicht, weil ich meinte, Du inszeniertest Dich bei jedem Stück letztendlich doch nur selber (obwohl: in Szene setzen kannst Du Dich auf Deine herzlich heitere hintersinnige Art beneidenswert gut, auch darin reichen Dir wenige das Wasser), nein, ganz im Gegenteil - sondern deshalb, weil zwischen Dir und Deiner Arbeit tatsächlich keine Differenz zu bestehen scheint und auch nicht bestehen will: Du bist ganz in dem, was Du tust, und darum verschwindest Du im Ergebnis. Der Regisseur ist da am besten, wo man ihn nicht merkt - Du bist wahrscheinlich in unserer Zunft der absolute, vielleicht der einzige 'Pazifist1, mit anderen Worten: Du arbeitest gewaltfrei, fast. Auch wenn Du jetzt ausschaust wie ein alter Löwe: Da saust keine Pranke nieder, da wird kein Stil geprägt, kein Konzept durchgezogen gedankenreich und gnadenlos, da ist kein Wille zur Macht der Konsequenz, nein, da erscheint überhaupt kein Wille, der sich dem Schauspieler oder dem Publikum aufzwingen möchte. Da leuchtet eher ein Nicht-Vorherwissen auf, ein Fragen, ein Staunen, ein Wundern, eine Erinnerung - in der sich Spieler und Betrachter gleich voraussetzungslos wiederzufinden scheinen, wie Kinder am Anfang der Zeit, als gebe es keine Schranken zwischen Parkett und Bühne, und also auch keine in der Welt, kein oben und kein unten, nur die gemeinsamen schmerzhaften und glücklichen und verrückten und lächerlichen Erfahrungen. Du machst Dich in der Arbeit nicht klüger als Deine Schauspieler, und Du machst Dich nicht klüger als Dein 1
Zur Einführung des Redners in der Vortragsreihe "Rede über das eigene Land", Münchner Kammerspiele, 12. November 1995.
2
Dieter Dorn
Publikum - Du bist einer von ihnen, Du stehst auf ihrer Seite - also auf unserer. Deine Kunst ist Liebes-Kunst, und deshalb hast Du wohl wie kein anderer die Abhängigen (Schauspieler und Zuschauer) in Freiheit setzen können. So, wie ein guter, gütiger Vater das macht: einen Schöpfungs-, einen Arbeitsprozeß anstoßend, begleitend, bedeutend, auf kein fertiges Ergebnis dringend, Scheitern zulassend. Dieser Mut, forschend auch Scheitern zu riskieren, ist vielleicht das Wichtigste, was man von Dir lernen kann - wenn Du überhaupt etwas lehren wolltest. Mut und Liebe: man kann sie nur konstatieren, nicht erklären. Und staunen, daß Du beides nicht verloren hast auf Deiner 80-jährigen Wanderung durch die Alte und die immer wieder Neue Welt - immer unterwegs, seit es Dein ungarisches Zuhause für Dich nicht mehr gab, nach Wien, nach Prag, nach London und bis Hollywood, in die Fabrik der Träume und von dort als Theaterträumer zurück nach Europa, nach Deutschland: in das Land, das Deine Familie in Rauch und Asche aufgehen ließ. Es scheint, als habest Du sie hier gesucht und suchtest ihre Spur noch immer weiter und fändest, was Du suchtest, in Stücken und Teilen immer wieder neu in den Theatern zwischen Berlin, München, Wien, Hamburg und bei denen, mit denen Du dort umgehst. Dabei immer gut Freund mit allen, alle für Dich einnehmend, aber von niemand vereinnehmbar. Vielleicht bis Du hergekommen - und hiergeblieben, um in diesem Land, das so beschäftigt ist mit sich selbst und so gern aus dem Leid, das es über andere gebracht hat, das kitschigste Selbstmitleid herausdestilliert, zu zeigen, was es heißt, nicht zu vergessen - und dabei nicht zu hassen, sondern zu lieben. Du hast uns, lieber George, weil Du so ein guter Mensch bist, unser Gewissen schon fast zu leicht gemacht. Dreimal bist Du auf Deiner Wanderschaft nach München gekommen, ein Weilchen geblieben, und dreimal wieder weggegangen, aber immer so weggegangen, daß Du wiederkommen konntest. Wie schön, daß Du heute wieder da bist, um zu reden von Deinem Land. Welches Land ist es - Kakanien, England, Amerika, Deutschland, Österreich - oder das Königreich eines liebenden Theaternarren? Komm auf die Bühne, Du Theatermonument, laß Dich umarmen und erzähle.
Hans-Peter Bayerdörfer
Stimmen in der Wüste: Jüdischer Intellekt und dramatische Gestalt in Taboris Stücken. Statt einer Einleitung
1. Im deutschen Erstdruck von Weisman und Rotgesicht (im Programmbuch der Wiener Uraufführung)1 lautet die szenische Anweisung für den Schauplatz des ganzen Spiels "waste land, die Wüste schlechthin". Deutlicher als in der späteren Buchausgabe, wo der vorgeschaltete englische Ausdruck fehlt, ist die Verallgemeinerung, die über die nachfolgende Konkretisierung, "ein kupferfarbenes Plateau in den Rocky Mountains", hinwegzielt und zweisprachig intertextuelle Verweise schafft: nicht nur die biblischen Texte von den prophetischen Stimmen aus der Wüste klingen an, sondern auch T.S. Eliot, nicht nur Nietzsche, sondern auch Beckett - um nur die nächstliegenden zu nennen. Der erste Eindruck der Wüste, der im Stück geäußert wird, ist denn auch der eines "erhabenen Blicks", erst danach macht sich das Bewußtsein geltend, daß man sich "hoffnungslos verirrt" hat (II, S. 207f.).2 Dennoch behält die Erinnerung an prophetische Stimmen und Orte der Offenbarung bei Weisman auch dann noch die Oberhand über das Gefühl des existentiellen Ausgesetztseins, nachdem er und seine Tochter Opfer eines Überfalls an diesem unbehausten Ort geworden sind. Denn beim zweiten hörbaren Geräusch erwartet er "ein Zeichen in der Wüste" (II, S. 212). Wie hier so auch sonst: biblisch gesättigt und unterlegt mit Anspielungen auf die jüdische Exil-Erfahrung ist die Diktion des Intellektuellen Weisman. Er verkörpert, wie zahlreiche andere Dramenfiguren bei Tabori, eine spezifische, geschichtlich geprägte Gestalt von Geistigkeit. Alexander Granach hat sie - als er sich 1925 über die Bedeutung ostjüdischen Einflusses auf das deutsche Theater ausließ3 - als "ewig 1 2
3
Burgtheater Wien, Programmbuch Nr.58, 23.3.1990. Diese wie alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf die zweibändige Ausgabe der Theaterstücke (München u. Wien 1994) sowie die textgleiche Taschenbuchausgabe bei Fischer (Frankfurt/M. 1994). Alexander Granach, Brief an Dr. Woyda, Berlin 5.11.1925 (Alexander-Granach-Archiv der Akademie der Künste); zitiert nach Nina Kühner: Judentum, Antisemitismus und das Theater der Weimarer Republik. Magisterarbeit München 1996, S. 130.
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Hans-Peter Bayerdörfer
elastischen Talmud-Intellekt" bezeichnet. Diese Formel ist wie geschaffen für Taborische Figuren, denn sie bringt nicht nur die geschichtliche Herkunft, die Fülle der überlieferten sprachlichen Artikulations- und Deutungsmuster ins Spiel, die diesen Figuren zur Verfügung stehen - auch da, wo sie sich der historischen Tragweite gar nicht immer bewußt sind. Sie erfaßt darüber hinaus die argumentative Leistung, die diese Intellektualität im Dialog erbringt, und zudem den spezifischen Charme, der sie auszeichnet. Denn es macht die besondere Agilität dieses Intellekts aus, daß er sich, wo immer er sich auf die Herausforderungen der nichtjüdischen Welt einläßt, sozusagen selbst in Anfuhrungszeichen setzt. Diese vermeintliche Selbstrelativierung ist wie ein Schutz vor möglichen Angriffen von der Gegenseite, denn diese erscheinen als dejä-vu und dejä-entendu. Freilich scheint diese Herkunft Weisman eine Last zu sein, die er gerne vergessen würde; wenigstens - so gibt er vor - freut er sich, in dem nächsten Ankömmling einen "Goi", einen "urigen Indianer" zu erkennen, von dem nicht zu befürchten ist, daß er von "Einstein", von "Auschwitz" oder von "gefillte Fisch" gehört habe (II, S. 212). Indes, der Eindruck trügt. Obwohl der Ankömmling, als angeblicher Vertreter einer amerikanischen Minorität, genauso wie die Schwarzen in Demonstration? den Weißen mit einer exquisiten Reihe von antisemitischen Schimpfwörtern-von "Judenschwein" bis "Christuskiller" (II, S. 218f.) - traktiert und ihn als Fremdling aus seinem "Paradies", aus "seiner Wüste" entfernt sehen will - ist er nicht, was er vorgibt. Auch in dieser "gottverlassenen" Gegend (II, S. 211), so will es Taboris Dramaturgie, trifft man nicht auf Naturkinder. Denn seit Mein Kampf läßt Tabori am liebsten Paare auftreten, die erst in ihrem Miteinander und Gegeneinander die abgründige Vielschichtigkeit intellektueller Existenz heute - auch die Existenz jüdischer Intellektueller - zu repräsentieren vermögen.5 Der vermeintliche Indianer tritt zwar zunächst als 'Person' eines anderen Kulturkreises auf, doch erwachsen Zweifel an ihrer Identität, die Tabori in Frage stellt und in dialogische Zusammenhänge führt, in der sie Schritt für Schritt intellektualisiert wird. 4
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Das an prägnanter Stelle im Text auftauchende Schmähwort "nigger lovers" zeigt den direkten Zusammenhang mit der rassistischen Konfliktlage der 60er Jahre in den USA. Thomas Rothschild hat diese Intellektualität, "wie sie nur in der Diaspora und - so traurig das sein mag - unter den Bedingungen des Antisemitismus entstehen konnte", aus ihrer historischen Entstehung als Reaktion erklärt - zitiert bei Jan Strümpel: George Tabori. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (50. Nlg.) 1995, S. 12. Es versteht sich, daß die damit namhaft gemachten Bedingungen grundsätzlich ergänzt werden müssen durch die Eigenbestimmtheit jüdischer intellektueller Traditionen, die sich in ihrer ganzen historischen Erstreckung weder auf die Erfahrungen des Exils noch gar auf die 'conditio antisemitica' reduzieren lassen.
Stimmen in der Wüste
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Rotgesicht ist nämlich alles andere als indigen indianisch,6 er ist ein 'Halbblut', das sich am Ende des Stückes als 'Geegee Goldberg' vorstellt. Was sich bei ihm als antijüdisch formulierter Haß gegen die Weißen allgemein ausgibt, erscheint im nachhinein als forcierte Tirade mit sehr persönlichen Motiven; sie erklären die Selbstverleugnung als Folge einer unglücklichen Vater-Bindung. Mag Rotgesicht Halbjude sein oder nicht - seine Fähigkeit zu Identitätsspielen mit wechselnden biographischen Vorgaben weist ihm eine intellektuelle Disposition zu, die von Naturwüchsigkeit ebenso weit entfernt ist wie von Naivität. Wo immer in Taboris Stücken Intellekt sich 'paarweise' formiert und dabei mindestens eine jüdische Gestalt in Erscheinung tritt, ist von vornherein die Selbst-Problematisierung jüdischer Existenz impliziert. Die jeweiligen Partner stehen daher keineswegs notwendigerweise auf derselben Stufe. Dennoch schafft Tabori selbst sozusagen Figuren-Reihen. Wenn er eine Reihe 'jüdischer Helden' bildet, wie in der Münchner Vorankündigung von Nathans Tod, und dabei auf den Titel eines Gedichtbandes von Paul Celan, Niemandsrose, zurückgreift, der dem 'Niemandsland' der Wüste entspricht, so wählt er dabei aus seinen eigenen Paar-Zuordnungen unter besonderen Problemaspekten aus. Außer Lessings Nathan in Taboris eigener Umgestaltung, erscheinen in dieser Liste die Dramenfiguren Onkel Cornelius, Arnold Weisman, Arnold Stern, Schlomo Herzl und der 'kleine Goldberg' - alle ohne ihren jeweiligen Spielpartner aus den Stücken, auch wenn dieser jüdisch sein sollte. "Niemandsrosen sind sie alle", so führt Tabori dann aus, "Gottes Kinder, also Juden, auserwählt, ohne daß man sie bei der Geburt gefragt hätte, ob sie auserwählt sein wollen: also Juden, und doch nicht nur das. Bis man ihnen auf ihre nie verstummende Fresse den gelben Stern stampft."7 Der Ehrentitel 'Niemandsrose' kommt offenbar nicht allen jüdischen Figuren zu, was mit Taboris Dialektik vom Unterliegen und Gewinnen, Erfolg haben und Scheitern zu tun haben mag - einer Dialektik, die noch später zu erörtern sein wird.8 Auf der Hand liegt indessen der Zusammenhang zwischen 'Niemandsrosen' und Niemandsland. Judengestalten in der Wüste, im Eliot- oder im BeckettLand,9 das bedeutet Entgrenzung und zugleich Erweiterung. Zur metaphorischem in der vierten Szene durchschauen Weisman und Ruthie, daß es sich bei Rotgesicht nicht um eine Rothaut handelt. In: Corampublico. Hg. vom Bayerischen Staatsschauspiel München, 1991, H. 11, S. 4. Siehe hier Abschnitt 12 sowie Sibylle Peters in diesem Band ("Die Inszenierung des Scheiterns"). Taboris lebenslange Beschäftigung mit Beckett ist ausführlich dokumentiert in: Die einfachste Stimme, die ich kenne. Gespräch über Beckett. In: Jörg W. Gronius u. Wend Kässens (Hg.): Tabori. Frankfurt/M. 1989, S. 47-54. Trivialisierende Beckett-Rezeptionen auf den Bühnen und in der Dramatik hat Tabori in der Szene 4 ("Das Nichts") von
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Hans-Peter Bayerdörfer
sehen Ebene der metaphysischen Leere oder der Absurdität als menschlicher Grundbefindlichkeit tritt das Exil. Exil aber ist überall, denn es ist letztlich eine historische Ortsbestimmung, abhängig davon, wo sich Exilierte aufhalten. Geschichtlich korrespondierend besagt 'Wüste1 daher: "Shoah ist immer gleich um die Ecke" (II, S. 227). Für Tabori hat es damit aber eine besondere Bewandtnis. Exilsgeschichte teilt sich durch den zeitlichen Riß, der durch die Welt geht, in eine Vor-Zeit und eine End-Zeit, eine prae- und eine post-ShoahZeit. Taboris 'endgames' haben ihre geheime dramaturgische Achse darin, daß sie diesen Riß ständig über-spielen, nicht um ihn zum Verschwinden zu bringen, sondern um ihn als die Grenzscheide des Bewußtseins zu markieren. Nicht nur als direkte dramaturgische Devise tritt das Verfahren in Erscheinung, wie in Kannibalen, sondern als intertextueller szenischer Horizont, wie etwa in der Telefonszene von Jubiläum, wo der Bezug zu Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches, vom Jahre 1983 auf 1933 zurückblendet.10 Noch größer ist hier die historische Spannweite in den auf Hamlet verweisenden Szenen mit dem Totengräber Wumpf, später mit dem Geist des Vaters, oder in dem Masada-Spiel (um eine dramaturgisch das ganze Stück prägende Konstellation zu nennen), wo der zugleich historische und szenische Zwischen-Raum zwischen Josephus' Jüdischem Krieg und Celans Eröffhungsgedicht aus demandsrose die historische Kluft zum Ausdruck bringt." Peepshow unter dem Stichwort des semiologischen Experiments geistreich aufs Köm genommen (II, S. 102-105). - Eine Darstellung von Taboris Beckett-Inszenierungen gibt Anat Feinberg-Jütte: The Task is not to Reproduce the External Form but to Find the Subtext. George Tabori's Productions of Samuel Beckett's Texts. In: Journal of Beckett Studies 1992, H. 1,8.95-115. Dazu Marcus Sander in diesem Band ("Friedhofs-Monologe" und "Der Tod der Jüdischen Frau"). Eine vergleichbar strikte und zugleich grundsätzliche dramaturgische Gestaltung auf der Basis 'vor und nach der Shoah' ist mir nur aus der polnischen Neo-Avantgarde bekannt: die Produktion von Stanislaw Wyspianskis Akropolis (1962) von Jerzy Grotowski und Josef Szajna. Das hochstilisierte Versdrama des Neo-Romantikers Wyspianski "ist eine Apotheose der von der menschlichen Gemeinschaft geschaffenen Werte. Im Dom auf dem Wawel, der polnischen Akropolis, werden in der Osternacht Gestalten von Bildteppichen und Skulpturen lebendig und spielen die für die europäische Kultur markanten Szenen aus dem Alten Testament und der Antike." Text und Szenenfragmente aus diesem Stück versetzt die Inszenierung von Grotowski und Szajna in das Konzentrationslager Auschwitz. "Statt einer Apotheose - der Tod der Kultur, die Vernichtung der Menschen. Die Gestalten entsteigen nicht den Denkmälern der Vergangenheit, sondern gleichsam dem Rauch der Krematorien und dem Martyrium der Vernichtung". Die utopisch-endzeitliche Erlösergestalt Wyspianskis, eine Doppelfigur aus Salvator und Apollo, ist in der Inszenierung eine "graue, herumgestoßene Puppe ohne Kopf, die an eine abgemagerte Leiche aus dem Lager erinnert". In einer ekstatischen Prozession wird diese Salvatorpuppe in Trance und Hysterie
Stimmen in der Wüste
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Analog verfahrt George Tabori im Falle von historischen Shakespeare- oder Lessing-Vorlagen. In den Shylock-Improvisationen bildet The Merchant of Venice den Text, der die Situation des Judentums im Europa der ShakespeareZeit verwahrt, historisch verstärkt durch die anti-jüdische SAy/ocfc-Ballade des Samuel Pepys; die Texte werden szenisch realisiert mit einer subtextuellen Spielanlage, die auf die nazistische Verfolgung direkt Bezug nimmt, diese ständig in Erinnerung ruft bis hin zu dokumentarischen Berichten über die Konzentrationslager. In Nathans Tod entwickelt Tabori - ausgehend von der Pogromerzählung des Lessingschen Helden im 4. Akt - gleich zwei Pogromszenen auf der Bühne, denen auch zwei rahmende Parabeln Lessings entsprechen - eine Konstruktion von fast spiegelbildlicher Anlage, die sich im Sinne eines historischen prae- und post-Shoah lesen läßt.12 Endspiele in der endzeitlichen Wüste nach der Shoah sind Überlebensspiele, und zwar im doppelten Sinne: Spiele um zu überleben und Spiele derer, die überlebt haben und mit ihren Überlebenstraumata leben müssen. Oder aber, Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsspiele jener, die - von Überlebenden informiert oder an diese herantretend - sich deren Überleben vor Augen führen und sie nach der Rechtfertigung und den Folgen ihres Überstehens fragen. In "waste land" verlieren sich die Stimmen in den Abgründen der Geschichte, denn ständig sind diese auf der Suche - einer kaum jemals gelassenen, fast immer verzweifelten Suche nach den Bedingungen ihres gegenwärtigen Ausgesetztseins.
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Die spezifische Intellektualität von Taboris Juden-Figuren zeigt sich nicht nur im Vorrang intelligenter und phantasievoller Schlagfertigkeit in der dialogischen Konfrontation, sondern auch in einem Überschuß geistiger Kreativität im Verhältnis zu allen situativen Bedingungen und allen theoretischen oder ideologischen Erklärungsmustem, die zur Klärung der Situation aufgeboten werden. In diesem Sinne unterscheiden sich Taboris Spielformen durch einen spezifischen Überhang an dynamischem Intellekt von den Spielmöglichkeiten in der Dramatik der großen Leitfiguren, das heißt des Beckettschen wie des zu einer Luke im Boden gebracht, in der die ganze Gruppe verschwindet. In die plötzliche Stille erklingt eine informierende Stimme: "Sie sind gegangen und ziehen Kreise aus Rauch." - Vgl. August Grodzicki: Regisseure des polnischen Theaters. Warszawa 1979, S. 47^19. Vgl. dazu in diesem Band auch die Beiträge von S. Stammen und G. Brandstetter.
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Hans-Peter Bayerdörfer
Brechtschen Theaters. Taboris Inszenierung von Becketts Warten auf Godot beispielsweise ist dafür bezeichnend, zumal sie an das mehrschichtige Sinnmodell 'Wüste' anknüpft: "the acting area was marked by an earth circle of sand."13 In diesem wüstenhaft begrenzten Spielbereich bewegen sich Figuren, die durchaus anderes Profil aufweisen als in Becketts eigenen Inszenierungen seines Stücks: "Estragon and Vladimir are neither clowns nor tramps, but refiigies, intellectuals."14 Tabori versetzt das Stück also gemäß seiner eigenen Auffassung in die Wüste, verstanden als Exil, indem er Becketts und seine eigene Lebenserfahrung als Exilanten sozusagen zusammenführt. Die theatrale Devise, der er folgt, ist dieselbe, die später in Weisman und Rotgesicht erkennbar ist: "the most striking feature about Tabori's Godot was the attempt to keep the metaphorical quality of the play whilst simultaneously allowing for a realistic dimension to unfold."15 Das im metaphorischen Sinne Endzeitliche wird durch das Konkrete des historischen Exils komplementiert. Hinzu kommt aber als dritte Dimension, was sich laut Bericht der Schauspieler - Peter Lühr und Thomas Holtzmann - sozusagen aus dem Produktionsprozeß in die Aufführung selbst hinein verlängerte: "[...] the play evolved as an imaginary rehearsal." Bei aller intimen Auseinandersetzung zwischen den Figuren, im Sinne der persönlichen, psychischen, situativen Konflikte, ließ die Produktion den Charakter eines "play/rehearsal-within-the-play"16 nie aus dem Bewußtsein schwinden. Will man an dieser Stelle verallgemeinern, so ist der Taborischen Dramaturgie zu bescheinigen, daß sie mindestens immer auf drei Ebenen ihre Spiele situiert: einer von endzeitlicher Universalität (wobei "waste land" zur globalen Metapher wird), einer historisch konkreten von Exil, Emigration in der Spannung von prae- und post-Shoah, und einer theatralen von der nicht abschließbaren (Bühnen-)Probe.17 Damit ist eine spielerische Verfassung charakterisiert, die das Vorläufige des immer erneuten Revidierens gegenüber aller sich verfestigenden werkhaften Endgültigkeit der ästhetischen Erscheinung wahrt. Das souveräne Gleiten - denn in der Regel sind die Ebenen weder im Text noch in der szenischen Produktion zu unterscheiden - bezeichnet in sich noch einmal den Überschuß des Intellekts über die dramatische und theatrale Mate-
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Feinberg-Jütte: Tabori's Productions (Anm. 9), S. 105. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Ebd. - Außerdem vgl. hier Abschnitt 13. Zu Taboris Entfaltung und Präzision seiner Bühnenverfahren in seiner wichtigen Bremer Experimentalzeit vgl. Anat Feinbergs Beitrag in diesem Band.
Stimmen in der Wüste
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rialisierung der Sujets.18 Diese Spielmächtigkeit gegenüber allem, was das Spiel ausmacht, bestimmt auch die virtuose Übernahme Brechtscher Theaterästhetik. Kaum einem Dramatiker englischer oder deutscher Sprache ist in den letzten Jahrzehnten der kreative und phantasievolle Umgang mit Brechtschen Techniken so von der Hand gegangen wie Tabori.19 Dennoch ist ein Unterschied markant. Nie erschöpft sich die spielerisch verfremdende Souveränität in einer letztlich ideologisch-didaktischen Zielsetzung, immer bleibt ein Überschuß erhalten, der sich nicht lehrhaft verrechnen läßt.20 Selbst wo sich Brechts Erbe mit Händen greifen läßt - bis zur direkten Zitatanleihe bei der Dreigroschenoper und der dramaturgisch direkten Orientierung an Mann ist Mann oder den Lehrstücken, wie etwa in Der Voyeur oder Die Demonstration - ist die Nutzung Brechts letztlich spielerisch und - bei allem Ernst der Sozialkritik von einer unideologischen Offenheit, die den Effekt des Spiels nicht in der Veränderung der Überzeugung, sondern in der Änderung der psychisch-mentalen Verfassung des Zuschauers im Visier hat. Daß diese Differenz zu Brecht auch eine zutiefst geschichtlich-mentale Komponente enthält, hat Tabori selbst in unverblümter Direktheit und doch zugleich in größter Diskretion formuliert: "Bertolt Brecht langweilten die Juden, auch ein Symptom seiner Krankheit, denn Langeweile ist gefährlicher als ein Tritt in den Bauch, er ruhe in Frieden."21
3. Souveränität und Anspruch dieses Intellekts drücken sich - wenn man seine Tätigkeit in den Stücken generell beachtet - darin am unmittelbarsten aus, daß die Reflexion auf Dauer eingestellt ist und selbst dann nicht aussetzt, wenn Situation, Umstände und die Übermacht der anderen - im physischen oder politischen Sinn - das Subjekt der Reflexion bis zum äußersten bedrohen. In dem Stück Die Demonstration setzt sich Monsieur Y, ein jüdischer Überlebender der nazistischen Konzentrationslager in Frankreich, den Methoden aus, mit 18
Vgl. dazu auch Sibylle Peters ("Die Verwandlung von Schrift in Spiel") in diesem Band. " Es bedürfte genauerer Ausführungen, um zu zeigen, daß Taboris metatheatrale Ästhetik, soviel sie auch Bertolt Brecht verdankt, ihrer Essenz nach eher auf Pirandellosche Dimensionen ausgeht, da das Verhältnis von Schein und Sein als letztlich nicht lösbares Dilemma der menschlichen Erkenntnis und Weltorientierung in der Schwebe bleibt. 20 Dazu in diesem Band Marcus Sander ("Der Tod der Jüdischen Frau"). 21 Tabori: Unterammergau, S. 27.
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denen die rassistische Macht des amerikanischen Südens der sechziger Jahre gegen die aufbegehrende schwarze Minorität vorgeht. Monsieur Y, der sich auf eine solidarische Kundgebung mit Schwarzen im Süden vorbereiten will, läßt sich das Vorgehen der Polizei am eigenen Körper 'demonstrieren'. Nachdem er selbst schon nach Luft schnappt, weil er in den Unterleib getreten worden ist, versucht er immer noch, die erklärende Rationalität gegenüber den Vorgängen aufrecht zu erhalten: "Interessant, nicht wahr, meine Liebe?", so redet er Madame X in dieser Situation an. "Würdest Du das einem stinknormalen Sadismus zuschreiben oder wäre hier nicht eine spezifische amerikanische Vemarrtheit in die Gewalt nachzuweisen ... ein Erbteil des Pioniergeistes, der die Gewalt anbetete als die einzige Lösung aller Probleme, und das vielleicht zu Recht?" (I, S. 158) Bei aller Borniertheit, die man in Monsieur Y's Reden stellenweise wahrnimmt, ist seinem Versuch der intellektuellen Bewältigung ein Moment von Beharrlichkeit zu eigen, welche bis hin zur Grenze der physischen Vernichtung nicht aufgibt und sich auch durch deren Androhung nicht zum Schweigen bringen läßt. In doppelter Hinsicht wird er an seine Grenzen getrieben: zum einen überschreitet er selbst die trennende Linie von Opfer zu Täter, indem er im entsprechenden Rollenspiel genußreich zuschlägt, zum anderen gelangt er, nachdem er selbst - wie zur Demonstration - übel zugerichtet worden ist, zu dem Ausruf: "Ich hab genug! Ich möchte kein Neger mehr sein!" (I, S. 170) Dies klingt wie Selbstaufgabe, wie Kapitulation. Sowie er aber wieder zu sich kommt, beharrt er auf seinem Vorsatz zum Widerstand und macht sich auf die Reise zur Demonstration. Und wenn man hier einen opfersüchtigen Idealismus alter Prägung am Werke sehen möchte, so entgegnet das Stück, daß sich die Bereitschaft zur Selbstbehauptung und zugleich die physische Solidarität des jüdischen Intellektuellen aus einer Überlebenserfahrung speisen, deren Antriebsstärke sich nur mit der Kraft primärer Triebenergien vergleichen läßt.
4. Die Überlegenheit des Intellekts zeigt sich weiterhin in verschiedenen, die Taborischen Texte durchgehend strukturierenden sprachlichen und stilistischen Eigenarten. Eine unmittelbare Möglichkeit, auch in bedrängter Situation oder im Abwehrkampf gegen Übergriffe eines Anderen sich die intellektuelle Identität zu wahren, ist - außer der wortspielerischen Ironie - der momentane Wechsel der Sprache. Im Falle von Monsieur in Demonstration ist es ein bis
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zur Marotte ausgearbeitetes und zugleich karikiertes Verfahren. Freckels demonstriert ihm, wie "nigger lovers" bei Demonstrationen von der weißen Polizei behandelt werden, und er tut es, nach Monsieurs Meinung, jenseits des Vereinbarten, das heißt über die Grenzen von Schmerz und Angst hinaus. Als dieser nach der 'Behandlung' hinter dem Sofa wieder erscheint, ist sein Gesicht "bis zur Unkenntlichkeit verschwollen" (I, S. 166); im folgenden Dialog deutet der Sprachwechsel einen Wechsel der Reflexions- und Erfahrungsebene an, der in dieser Situation das Wahren von Identität noch zu ermöglichen scheint: MONSIEUR C'est bien interessant, tout 93, hein? MADAME X Oui, tres interessant MONSIEUR Werden die mich noch mal vorknöpfen? MADAME X Ich fürchte, ja MONSIEUR [...] Es ist nicht wie in Rouen, in Rouen, selbst als sie mich mit diesen scheußlichen Kriegszigaretten verbrannten - [...], selbst da war es noch möglich ... intakt zu bleiben, tu comprends? MADAME X Oui, je comprends (I, S. 166).
Eine Fülle von weiteren Strategien des Ausweichens, mittels eines intellektuellen Umschaltemanövers, kennzeichnet die Dialogstruktur. Ganz allgemein gesprochen handelt es sich um den Wechsel der Sprachebene, die sprachlich verfügte reservatio mentalis. In der Kain und Abel-Szene von Die GoldbergVariationen beispielsweise gerät Mr. Jay in Bedrängnis, weil die Schauspieler die Kooperation verweigern und ihm Vorwürfe wegen seines autokratischen Regiesystems machen. Mr. Jay hat zunächst rechtlich, mit den Bindungen des Schauspielervertrags und den Konsequenzen der Nichteinhaltung gedroht; aber dann lenkt er doch ein, mit einer Sprachwechsel-Pointe, indem er den Titel des bekannten Filmes Les enfants du paradis von Marcel Carne zitiert und damit einen inhaltlichen Kontakt-Schluß zwischen der Stoffebene der geplanten Szene - 'Kain und Abel' - und dem Probendilemma mit den Schauspielern herstellt: "Mes enfants du paradis, was soll ich tun? Mich hinknien?" (II, S. 299) Mit der folgenden Selbsterniedrigung - statt zu fordern, läßt sich Jay zur Bitte herbei - bringt er den Probenprozeß, "noch einmal von vorne", wieder in Gang. Die Schauspieler nehmen ihrerseits das Gesprächsmuster ironisch auf, mit erneutem Sprachwechsel. "RAAMAH Also, noch einmal von vorn, but no more, Mister Nice Guy" (II, S. 300). Es dürfte schwer fallen, eine historische Formation von Intellektualität zu finden, für die die Notwendigkeit der beständigen Artikulation in mehreren Sprachen größeres Gewicht hat, als die jüdische. Die mehrsprachige Orientierung seit Beginn des Exils verbindet die Sprache der geheiligten Tradition,
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zugleich die Sprache der Gelehrsamkeit, mit der je eigenen Umgangssprache und den Sprachen der Umgebungsvölker. Diese Mehrsprachigkeit unterliegt im Judentum einer spezifischen kulturgeschichtlichen Entwicklung, denn jeder Jude soll - so verlangt es die religiöse Bestimmung - der Sprache der Thora mächtig sein, ohne Ansehen von Stand und Besitz. Die Folge ist, daß eine religiös begründete "Demokratisierung der [...] Gelehrsamkeit"22 eintritt und sich durchsetzt, die auf Dauer keine elitäre Abgrenzung von Intellektuellen zuläßt. Sprachwechsel und Strategien der Übersetzung, die der intellektuellen und argumentativen Bereicherung dienen, machen in der jüdischen Kulturgeschichte nicht nur ein Kennzeichen der geistigen Elite aus, sondern vermitteln diese mit der Breitenkultur. Tabori hat diesem Zusammenhang vielfach, ausdrücklich auch im Hinblick auf die Stilistik des Übersetzens und den daraus folgenden literarischen und theatralen Möglichkeiten, subtile Erörterungen gewidmet.23 Übersetzung ist Sprachschule, zugleich Sprachschule des Humors und Sprachschule der Dramaturgie. Es folgt daraus, daß die Übersetzung von Sprache zu Sprache - in einer tief in jüdischer Tradition verwurzelten Weise - als Urmodell des Zitierens und der Anspielung in Taboris Texten zu verstehen ist, wobei die Modi der Abwandlung, der Entgegensetzung und der neuen Kontextuierung vielfach ineinander wirken können.24 Zweifellos ist diesem Verfahren Taboris auch im Koordinatensystem der modernen Intertextualität, wie sie die europäische Literatur des 20. Jahrhunderts insgesamt - und insbesondere seit Beckett auch die dramatische Literatur - kennzeichnet, sein literatur- und theatergeschichtlicher Ort 22
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Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1988, S.29. Vgl. das Interview mit Tabori im Programmbuch (Nr. 17) der Wiener Uraufführung von Mein Kampf, Burgtheater 6.5.1987. S.l 18-120. - Es versteht sich, daß Taboris Ausführungen stärker vom Verhältnis des Englischen bzw. Amerikanischen oder Deutschen zum Ungarischen ausgehen als von den jüdischen Kultursprachen. Doch zeugen seine Bemerkungen zum Jiddischen wie auch dessen sporadische Verwendung in den dramatischen Texten von hoher Sensibilität für diesen Bereich. Bezeichnend ist dafür, daß Tabori schon zur Zeit der Arbeit an dem Kafka-Projekt Verwandlungen das Stück für die jiddische Dramatik öffnet und auf Abraham Goldfadens Stück Shulamiss zu sprechen kommt. - Vgl. dazu die Dokumentation von Peter Sprengel: Scheunenviertel-Theater. Jüdische Schauspieltruppen und jiddische Dramatik in Berlin (1900-1918). Mit TextDokumentation und einem Exkurs zu Kafka. Berlin 1995, sowie die Münchner Magisterarbeit (1995) von Christian T. Lange: Dramaturgische undtheatrale Strategien bei der Bearbeitung von Legendenstoffen in der jiddischen Dramatik am Beispiel von "Goldfaden ", "Shulamiss" und "An-Ski", "Der Dibek"; die Arbeit enthält im Anhang eine vollständige Transkription des Goldfadenschen Stückes. Vgl. dazu den Beitrag von Stephanie Schmidt in diesem Band.
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zuzuweisen. Doch ist die spezifische Abtönung des Vorgehens, die sich jüdischer Tradition verdankt, unübersehbar. Eines der Kennzeichen dürfte sein, daß die Sprachen unterschiedlichen Rang haben - und das heißt dramaturgisch beispielsweise, bei dem die Goldberg-Variationen durchziehenden Zitat des Schmerzens- und Verlassenheits-Rufes Jesu am Kreuz - "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" - ein bereits in die neutestamentliche Passionserzählung eingearbeitetes alttestamentliches Zitat.25 Diese Kernstelle der Passionsberichte fuhrt Mr. Jay an, wenn er Goldberg daraufhinweist, daß nicht jede Dramenfigur sich der Sprache des biblischen Ursprungs bedienen darf. Das Verfahren ist deutlich zu erkennen, daß nur "das Schlimmste" Eindruck "auf die Gottlosen" machen wird, und das heißt wenn die dargestellten Leiden in größtmöglicher 'Authentizität' zur Erscheinung gelangen: "und der letzte Schrei soll einem das Blut gerinnen lassen: 'Eli, Eli, warum hast Du mich verlassen?' Eben, warum hat er ihn verlassen?" (II, S. 337) Im Rahmen des Stückes hat Goldberg dieses Zitat seinem Vorgesetzten und Peiniger bereits vorweggenommen, als Mr. Jay, in der Rolle Aarons, ihn, in der Rolle Moses, dem sadistischen Angriff der Hell's Angels ausgesetzt hat: "Aaron, Aaron, warum hast Du mich verlassen?" (II, S. 322) In der Probe der Kreuzesdarstellung, nachdem Goldberg von Jay in die Übernahme der Rolle Jesu hineinmanipuliert ist, wird er von diesem dann mit der Theater-Lanze in die Leber gestochen. Aber Jay vergißt, absichtlich-unabsichtlich, das Einziehen der Schneide, so daß er Goldberg wirklich verletzt. Dieser erwidert mit dem biblischen Schrei auf hebräisch: "Eli, Eli, lama asabthani?" (II, S. 343) Zwei fundamentale Strategien in Taboris Dramatik lassen sich anhand der geschilderten Zusammenhänge erkennen. Zum einen ist deutlich, was intellektuelle Souveränität in Taboris Dialogik kennzeichnet: Übersetzungsstrategien gewinnen universale historische Tragweite im Inhaltlichen, dramaturgisch führen sie zu scharfer rollenmäßiger Prägnanz. Denn einerseits werden mit der subtilen Abwandlung im mehrsprachlichen Kontext ja nicht nur Einzelzitate, Einzelepisoden oder einzelne literarische Dokumente ins Spiel eingebracht, sondern großräumige religions- und geistesgeschichtliche Entwicklungen, die nicht weniger als die Geschichte der jüdisch-christlichen Polarisierung über Jahrtausende hinweg zum Hintergrund haben, nicht weniger als das unablässige Ringen um jüdische oder christologische Interpretation der alttestamentlichen Texte. Andererseits aber wird auf subtile Weise das Rollenprofil der jüdischen Intellektuellen, Mr. Jay und Goldberg, geschärft und wertend nachgezeichnet, denn nur Goldberg darf den ursprachlichen Wortlaut des Klagerufs im Munde 25
Psalm 22, 2.
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führen und damit letztlich die Authentizität des Zitierten für sich in Anspruch nehmen. Zum zweiten aber ist erkennbar, daß 'jüdische Intellektualität' in unterschiedlicher Prägung die Figuren bestimmt und über die Einzelfigur oder die Figurenpaare hinaus ein Gesamtkonzept des dramatischen Entwurfs ausbildet. Jay und Goldberg unterscheiden sich in ihrer Nähe zu der biblischen Tradition, auf die sie sich je auf ihre Weise berufen. Das wird im gesamten dramatischen Verlauf darin verdeutlicht, wie die Kette der Zitate ihnen einen unterschiedlichen Rang zuweist: Der eine zitiert die biblischen Urworte sozusagen nach dem Hörensagen (wobei dieses Hörensagen ein solches der abgeleiteten Übersetzung ist), der andere zitiert im einen Falle wortspielerisch kreativ, im anderen Falle, in der Situation der extremen existentiellen Bedrohung, im ursprachlichen Originalton. Die Disposition des Dramas insgesamt - als eines Stückes, das die Geschichte der Menschheit im Zitat des Heiligen Buches präsentiert - weist den einzelnen Figuren den Status ihrer jeweiligen Intellektualität an, indem es sie in ein 'Sprachgitter' einfügt, das die Abszisse der Übersetzungen mit der Ordinate einer allen Übertragungen vorausliegenden Sprachlichkeit verbindet. Die intertextuelle Disposition geht dabei über jede Einzelrolle hinaus und strukturiert die Stücke insgesamt, sei es ausdrücklich wie in Die GoldbergVariationen oder unausdrücklich wie die Dekalog-Debatten in Mein Kampf?6 Diese Struktur bietet die Möglichkeit, die jüdischen Rollen weiter zu differenzieren -je nach dem, ob der biblische Verweis, der in ihren Worten enthalten ist, dem subjektiven Rollenbewußtsein zugehört oder über dieses hinausführt.27 In dieser Differenz liegt weiterhin eines der markanten wirkungsmäßigen Potentiale der Taborischen Dramatik, da sie die Publikumsreaktionen - u.a. der jüdischen und nicht-jüdischen Zuschauer, und im Falle der letzteren mit religiöser (Rest-)Bindung oder säkularer Bindungslosigkeit - unterschiedlich bestimmen dürfte.28
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Dies gilt auch für die nicht-biblischen Intertexte. In Jubiläum ist die Brecht-Ebene explizit, die Shakespeare-Ebene implizit, um ein prägnantes Beispiel zu nennen. Möglicherweise lassen sich die Rollenpaare, von denen oben die Rede war, in eben diesem Sinne unterscheiden, womit sich zugleich Taboris Liste der 'jüdischen Helden1 und die der nicht genannten Anderen von den Stücken her erläutern ließe. Dazu hier Abschnitt 14.
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5. Die Möglichkeit, dem intellektuellen Zitieren eine solche Reichweite zu verleihen, basiert aber, dramaturgisch wie dialog-stilistisch gesehen, auf einer Durchdringung des Dialogs mit mehrsinnigen Anknüpfungen, die von Replik zu Replik die Perspektivierung der Inhalte überraschend verändern. Die Verfahren, die Tabori anwendet, teilt er mit der Tradition der englischen und amerikanischen Dialogstilistik des "well made play", wie sie aus einer Entwicklung von zwei Jahrhunderten hervorgegangen und bis heute stilprägend geblieben ist.29 Die raffinierteste Form der Pointierung ist das durchgehende, aber vielfach nuancierte understatement, die grobschlächtigste der scheinbare sprachliche Fehlgriff, der dem Lachen den Anlaß im offenkundigen Mißverständnis eines einzelnen Ausdrucks anbietet,30 dem aber - einem angeblichen Bonmot Becketts zufolge31 - eine besondere Dignität ursprünglicher Komik zukommt: "Am Anfang war der Kalauer." Das understatement läßt den lachenden Rezipienten immer weiter Ausschau halten nach den Bedeutungsbezirken, die er, obwohl sie mitgemeint sind, sich noch gar nicht vor Augen geführt hat. Ein Beispiel: Mr. Jay, der auf Goldbergs Arm die KZ-Nummer bemerkt hat: "Du hast Dich mit Hitler nicht vertragen? GOLDBERG Wir hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten" (II, S. 338). Der Kalauer hingegen, dessen literarische Kultivierung auf die Farce und ähnliche Gattungen verweist, wirft den Lachenden auf sich selbst zurück - und zwar mit der Frage, ob er sich nicht zu früh, aus zu einfachen Anlaß, zum Lachen hat verleiten lassen: "MR. JAY Im Gegensatz zu Dir, Goldberg, ist der In seinen Ausführungen zur "Ästhetik des Spiels im zeitgenössischen brititischen Drama" (Forum Modernes Theater 1988, Bd. 3, H. l, S. 17-30) hat Dieter A. Berger die Prinzipien dieser dramatischen Tradition zusammengefaßt und aus dem Bemühen "um Vermittlung der Dramenaussage" an das Publikum erläutert: "Tatsächlich nehmen im englischen Theater die Dramatiker in beträchtlichem Maße auf die Erwartungen der Zuschauer Rücksicht. Diese Erwartungen sind auch heute noch geprägt von den populären Formen des spätviktorianischen Theaters, \onfarce, music-hall, comedy of manners" (S. 17). Es ist meines Erachtens offensichtlich, daß Tabori - bei aller unmittelbaren Beschäftigung mit dem Verhältnis des Schauspielers zu Rolle und Spiel - dieses Publikumsverhältnis der englisch-amerikanischen Tradition beständig im Auge hat. Unter diesem Aspekt wäre eine vergleichende Studie zwischen den Dramen Taboris und den Stücken von Ayckbourne oder Frayn dringend wünschenswert. Von dieser Funktion her erklärt sich auch die Verwendung kalauernder Titel wie "Mother's Courage", "Mein Kampf/ Meine Kämpfe", "Der alte Mann und was mehr" - Vgl. Tabori: Feigenblatt, S. 211-219. Jörg W. Gronius zitiert den Satz ohne Nachweis - Vgl. Gronius u. Kässens (Hg.): Tabori (Anm. 9), S. 20.
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Junge [Jesus] ein ganz ausgebuffter. Er trägt keinen Vatermörder, er ist einer" (II, S. 236). Es macht die Qualität der dialogischen Einbettung des Kalauers aus — und nicht immer erreicht Tabori das Niveau des Vorbilds Beckett — ob er im Nachfassen nach der ersten Brüskierung des Lachens eine ähnliche Erweiterung der Sinnfrage anregt, wie das understatement, oder nicht. Die hohe Dichte der intellektuellen Pointierung mittels Lachen, die Taboris Dialog erreicht, gipfelt, wie er selbst mehrfach ausgeführt hat, im Witz als strukturierender Erzählform, die bisweilen in Wiederholung und Abwandlung geradezu szenenbildend eingesetzt wird, wie beispielsweise der Witz von den Juden und dem VW im Falle von Jubiläum.32 Die spezifische Intellektualität der Taborischen Texte zeichnet sich darin aus, daß, wie in diesem Beispiel, der Judenwitz mit antisemitischer Pointe als jüdischer Witz aufgefangen und damit in seiner Stoßrichtung umgekehrt wird. Dabei verweist das Umwertungsverfahren auf Taboris eigene Kennzeichnung der eigentlichen Werthaltigkeit der Witze, die "nichts anderes [sind] als überrumpelte Katastrophen",33 und darin liegt ihr Vorzug gegenüber - den unangebrachten - Reaktionen von Sentiment und Pietät, wenn von Verfolgung und Holocaust die Rede ist.34 Bemerkenswert ist die Häufigkeit der makabren und der grotesken Pointierung der jeweiligen Umbrüche zwischen den Repliken. Im Hinblick auf Taboris grundsätzliche Einschätzung der Shoah als Riß durch die Geschichte, zeigen diese Umschläge ständig den Epochenbruch an, und zwar im intellektuellen Überschreiten der Linie. Die Toten von Jubiläum etwa unterhalten sich über Platzmangel auf dem Gräberfeld und über die bevorstehende Einebnung des jüdischen Friedhofs: "In Kassel begräbt man die Leute im Stehen, um Parkplätze zu gewinnen." Dieser an sich schon hinreichend makabre Zynismus wird in den folgenden Repliken noch in der Anspielung auf die Verbrennungsöfen der Konzentrationslager überboten: "OTTO Hast Du je an Einäscherung gedacht? LOTTE Dein Takt haut mich um, Otto" (II, S. 73). Eine weitere spezifische Zuspitzung solcher Verfahrensweisen ist erkennbar, wenn die makabre Komponente noch ein Moment des Blasphemischen erhält,
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Szene 5 und 11. In Tabori: Unterammergau (S. 25) wird der Witz argumentativ verwandt. Vgl. außerdem Wend Kässens: Sehen, was man nicht sehen will. Zur Theaterarbeit George Taboris. In: Gronius u. Kässens (Hg.): Tabori (Anm. 9), S. 25f. Tabori: Feigenblatt, S. 186. - Zu den Formen und Funktionen des Lachens vgl. die Einleitung von Gundula Ohngemach zu George Tabori (Regie im Theater. Frankfurt/M. 1989, insbesondere S. 34ff.). - Zum psychoanalytischen Verständnis von Taboris Komik vgl. Karin Dahlke in diesem Band. In diesem Sinne hat sich Tabori bereits zur deutschen Erstaufführung der Kannibalen geäußert- in: Schiller-Theater. Werkstatt 1969/70, S. 210.
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etwa wenn auf die Frage von Frau Tod "Wollen Sie immer noch ewig leben?" Schlomo mit Anspielung auf einen populären christlichen Choral antwortet: "Nun ja, die Möglichkeit ist nicht ohne Charme. Näher zu Dir, mein Gott, aber bitte nicht zu nah" (II, S. 202).35 Der eigentliche, sowohl kulturell als auch theologisch entscheidende Sinn solcher blasphemischen Allusionen ist von Tabori selbst unübertrefflich formuliert worden: "Vielleicht ist die Angleichung von Heiligkeit und Humor der große jüdische Beitrag zur Zivilisation, und jeder wirkliche Humor ist schwarz."36 Die kulturgeschichtliche Reichweite dieser Aussage führt nicht nur zu einem der bereits biblisch belegten Zentren jüdischen theologischen Selbstverständnisses, dem expliziten Streiten oder Hadern mit Gott, sondern auch zu jenen jüdischen Gestalten der Literatur, die mit ergebenem Trotz und aufmüpfigen Vorhaltungen ihr Lebensverhältnis zum Ojberschten' bestreiten und in Balance halten, oder auch zu jenen mehrschichtigen und obertonreichen literarischen Texten, in denen dem Herrn des Offenbarungswortes der Literat, selbstbewußt und listig, als Sprachschöpfer entgegentritt. Tabori erweist sich darin als literarischer Erbe großer Traditionen, die im deutschen Judentum, etwa bei Heine,37 in Erscheinung treten oder aber, in vielfältiger und nuanciertester Gestalt in den klassischen Erzählformen des jiddischen Ostens.
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Man geht wohl nicht fehl, wenn man in Taboris Dialogik u.a. auch jenen Überschuß an Intellekt am Werke sieht, der in der Tradition des jüdischen Streitgesprächs und der talmudischen Erörterung die besondere Kultur der Auseinandersetzung hervorgebracht hat. Die darin immer wieder sichtbare Komponente des Spielerischen, die sich nicht nur in der Sachhaltigkeit der Erwiderung, sondern in der Brillanz von deren Formulierung bekundet, realisiert sich auf vielen Ebenen. Mit den Glanzformen dieser Streitkultur teilt Tabori etwa die Technik des argumentativen Schlagabtauschs mittels Sentenzen und Zitaten - jedoch so, daß die erwidernde Formulierung die vorausgehende nicht nur widerlegt, sondern das Problem in einen neuen Kontext rückt; in der gleichen weiterführenden Brillianz realisiert sich die Beantwortung der Frage durch die 35
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Der zitierte Choral ist vom Salonorchester der "Titanic" unmittelbar vor dem Untergang des Schiffes intoniert worden. Tabori: Unterammergau, S. 22. Vgl. u.a. die Gedichte Prinzessin Sabbat und Jehuda Ben Halevy.
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überbietende Gegenfrage, so etwa im Falle des 'kartesianischeri Dialogs im Rahmen des Mensch-Gott-Spiels von Mein Kampf: "HERZL Wenn ich nicht zweifle, was bin ich dann? LOBKOWITZ Wenn Du nur zweifelst, was bist Du dann? HERZL Kein Theologe LOBKOWITZ Ich auch nicht (II, S. 146). Die Beweglichkeit dieses Intellekts zeigt sich desweiteren darin, daß anhand eines einzigen Sujets sozusagen von Satz zu Satz die Diskursebenen gewechselt werden - etwa wenn sich Mr. Jay über die zu probende Szene der Kreuzigung äußert und sich dabei in wenigen Worten von theatertheoretischen und wirkungsästhetischen Betrachtung zur psychologischen Interpretation der Figur Jesu, dann zum theologischen Diskurs wendet und wieder zum theatertheoretischen zurückkehrt (II, S. 335-338). Nicht weniger souverän ist die artistisch und lustvoll gehandhabte, pseudo-etymologische Methode, deren sich Schlomo bei der quasi historischen Herleitung des Namens Hitler bedient (vgl. II, S. 154f.); sie zeigt ein spielerisch-intellektuelles Verhältnis zur Sprache ebenso wie den wohlbedachten Umgang mit Wort und Buchstabe:"[...] kein Wunder, die Wiener tragen ihre eigene Klagemauer in sich. Nomen est omen. Dreht man die Vokale um, wird Wiener zu Weiner [...]" (II, S. 183). All das läßt an die spielerische Sprachartikstik von Morgenstern bis Dada denken. Doch hat das geistreiche Buchstabenspiel eine vor-dadaistische Geschichte, die jahrhundertelang in die kabbalistischen Geheimnisspiele mit den Buchstabenfolgen der heiligen Wörter zurückreicht.
7. Alle genannten Verfahrensweisen lassen sich zum einen im Zusammenhang mit der neueren und neuesten anglo-amerikanischen Dramatik sehen, jenem 'theatre of games', das auf allen Ebenen der Gestaltung die Spieltechniken vervielfacht hat.38 Unter erweiterter Perspektive sind sie zum anderen aber mit gleichem Recht als Fortsetzung einer jahrtausendelang kultivierten Methode 38
Berger: Ästhetik des Spiels (Anm. 29) resümiert: "Es ist eine sich geradezu verselbständigende Vorliebe für das Spiel und den spielerischen Umgang mit dem Traditionellen, seien es gesellschaftliche Werte, Gattungsstrukturen (wie Handlung, Figuren, Dialoge) oder literarische Vorlagen" (S. 18). - Der Terminus 'theatre of games' stammt von B. Rothstein (The work of Tom Stoppard. Dissertation Univ. of Rhode Island 1979), zitiert ebd. S.20. - Es ist dramengeschichtlich offenkundig, daß diese Tradition auch das theatrale Profil von Becketts Theater mitgeprägt hat und damit auch auf diesem Wege zur Voraussetzung der Taborischen Dramatik geworden ist (ebd., S. 20).
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des Um- oder Neu-Erzählens von Geschichten und Traditionen verstehen, die kaum irgendwo so prägnante Überlieferungsketten hervorgebracht hat wie im Judentum. Das Bewahren der Tradition unter Veränderung und Anpassung ihrer einzelnen Elemente an jeweils neue historische Gegebenheiten bewirkt die einzigartige Kontinuität: quasi interpretierend entsteht unter Wahrung des alten Wortlauts die Geschichte, die unter neuen Voraussetzungen oder mit einem anderen Hintergrund versehen, erneut erzählt wird: "Der historische Bericht bleibt ja in dem unantastbaren Bibeltext intakt, zu dem die hagadische Phantasie vor jedem neuen Höhenflug zurückkehren muß. Doch jedes Ereignis darf neu erzählt und neu gedeutet werden, manchmal gleich mehrfach."39 Damit ist das Traditions- und Kreativitätsprinizp der jüdischen Überlieferung in eins gekennzeichnet. In Taboris Theater-Improvisationen' erscheint dieses Prinzip in gewandelter Gestalt wieder, nunmehr begründet durch Schauspielverfahren etwa der Strasberg-Schule und ihre gestaltpsychologischen Voraussetzungen,40 wobei die Beziehung auf vorgegebene Text- und Erzählfomen mittels der Unterlegung durch Subtexte abgewandelt wird. Gelegentlich erscheint das Verfahren aufgesetzt, gesucht und willkürlich - so wenn Tabori bei seiner ./Vutf/zan-Bearbeitung der Beziehung zwischen Saladin und Sittah ein gewaltbereites Konkurrenzverhältnis unterlegt und zusätzlich zwischen Al-Hafi und Sittah ein gemeinsames, subversives Komplott insinuiert, so daß sich aus dem doppelten Spieleffekt ein dritter, nämlich Rivalität und Rache zwischen den Männern, Saladin und AI Hafi, gewinnen läßt.41 Was in diesem Zusammenhang kolportagehaft anmutet, hat in anderen Neu-Erzählungen die Stringenz einer großen Tradition. Im Rahmen der Kafka-Variation der 17. Szene von Babylon-Blues*2 wird die alte Geschichte des Propheten Jona eingeschaltet, des 'Boten im Ruhestand' - eine Formulierung, die auf den bereits kranken Kafka verweist, der sich seinerseits durch den göttlichen Anruf zu einer prophetisch-literarischen Rolle gegenüber Ninive herausgefordert sieht. Es bleibt aber nicht bei dieser Überlagerung der Lebensläufe des Vaters der modernen Erzählliteratur und des 39 40
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Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S. 33. Taboris einschlägige Äußerungen und Argumente sind zusammengefaßt in den entsprechenden Kapiteln der Dissertation von Iwona Uberman (Auschwitz im Theater der "Peinlichkeit", George Taboris Holocaust-Stücke im Rahme der Theatergeschichte seit dem Ende der 60er Jahre. München 1994); vgl. zum jetzigen Diskssionsstand Michael MüllerJankes Beitrag in diesem Band. Vgl. dazu den Probenbericht in Silvia Stammen: George Taboris Inszenierung von "Nathans Tod" im Kontext der Lessing-Rezeption und der Judenproblematik in Taboris dramatischem Werk. Magisterarbeit München 1992, S. 68-73. Unter dem Titel "Frühstück" publiziert in Tabori: Feigenblatt, S. 220-226.
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alttestamentlichen Propheten. Die Unterlegung ist mehrfach geschichtet, denn hinter Kafka taucht stellenweise Tabori in biographischer Reminiszenz ausdrücklich selbst auf. Dem entsprechend erreicht Jona nach Meerfahrt, Walfisch-Aufenthalt und einer Wüstendurchquerung ein Ninive, in dem sich Unmoral und Verbrechen in den Farben der Metropole New York - und das heißt im Gegeneinander von Schwarz und Weiß, analog zur Schilderung in Der Voyeur - abzeichnen. Vergleicht man damit die erneute Erzählung der JonaGeschichte in Die Goldberg-Variationen (Szene 12), so trifft die alte Büß- und Drohpredigt des Propheten auf eine jüdische Umgebung (gemäß dem fiktiven Spiel in der Stadt Jerusalem), der erneut der Holocaust - wenn "die Öfen wieder zu rauchen beginnen" - angedroht wird (II, S. 325). Aus dieser Jona-Variation ist ersichtlich, daß die wichtigste Unterlegung Taboris für die Methode des Neu-Erzählens die Holocaust-Erfahrung darstellt. Damit ist die seit Kriegsende und der Adorno/Hochhuth-Kontroverse bis zu Lanzman und Spielbergs Werken immer erneut umstrittene Frage der Darstellbarkeit der Shoah und deren Zulässigkeit aufgeworfen. Im Hinblick auf Taboris Werke hat Georg-Michael Schulz dieses Problem einer umgreifenden zeichentheoretischen Erörterung zugeführt, unter der Leitfrage: "Wie aber wäre es, wenn das de facto [sei. an der Repräsentation von Auschwitz] versagende Zeichen sein Scheitern selbst noch mitvermittelte?" Wege einer "Semiotik des indirekten Zeigens"43 sieht Georg-Michael Schulz in erster Linie in einer Potenzierung der Spielverfahren, die er am "Erspielen der Vergangenheit" in Kannibalen analytisch belegt,44 und in einer durchgehenden Grotesk-Gestaltung, die er an Jubiläum im einzelnen untersucht.45 Dieses Inventar ist um die Methode zu erweitern, welches vorgegebene Erzählungen mit dem ShoahThema unterlegt, so daß diese indirekt, man könnte sagen 'konkomitant1 in Erscheinung tritt und damit jene diskrete Präsenz erhält, die dem Undarstellbaren die Undarstellbarkeit beläßt. Unter diesem Aspekt wäre an die szenische Neu-Erzählung der Geschichte der Strafkolonie in Taboris Spiel Verwandlungen zu erinnern. Dieses belegt die zentrale Rolle, die Kafka für Taboris Theater gewonnen hat. Die Kafkasche Erzählung wird einerseits direkt mit den KZ-Erfahrungen, das heißt aus der Perspektive post-Shoah, unterlegt, andererseits aber in einen theatergeschichtlichen Kontext - prae-Shoah - eingebunden, der mit Kafkas Freund und Ge43
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Georg-Michael Schulz: George Tabori und die Shoah. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Theatralia Judaica II. Nach der Shoah. Israelisch-deutsche Theaterbeziehungen seit 1949. Tübingen 1996, S.148-163, hier S. 148f. Ebd., S. 152ff, mit exakter Analyse der Brechungen von Zeit- und Handlungsebenen. Ebd., S. 155ff.
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währsmann für Dramatik und jiddische Bühne, Jizchak Loewy, das alte jiddische Theater in Erinnerung bringt. Diese Konstellation demonstriert aufs deutlichste, wie die moderne szenische Umsetzung mit der jüdischen Tradition des Neu-Erzählens zusammenhängt. Die Vermittlungsgestalt ist Kafka, der für Tabori offensichtlich die Möglichkeit verbürgt jüdische Tradition und modernste Kunst deckungsgleich werden zu lassen. Kafka verbürgt und demonstriert zugleich das Vorgehen - etwa in der Weise wie er im Prozeß-Roman ja nicht nur die Parabel vom Gesetz erzählt, sondern auch eine Kette von interpretierenden Verschiebungen dieser Parabel folgen läßt. Derselben jüdischen Tradition ist Taboris Vorliebe für die Parabel und nicht zuletzt für die rabbinische Anekdote zuzuordnen.46 Bezeichnenderweise gruppiert er in seiner Neu-Erzählung von Lessings Nathan*1 die stofflichen Materialien so um, daß die Ring-Parabel nahezu ans Ende des ganzen Stückes gerückt wird, während er an den Anfang eine zweite Lessingsche Erzählung, die sog. Palast-Parabel stellt.48 Nicht weniger bezeichnend ist aber, daß Tabori in seinem lockersten Spieltext, dem Babylon-Blues, nicht nur eine geistreich disponierte Folge von nicht kausal gebundenen Erzähleinheiten realisiert, sondern diese auch einer quasi rabbinischen Instanz, einem "Talmid Chacham" in den Mund legt. Man mag in diesem Spieltext, dessen Erzähler, "Meister Zwi", als "nicht sehr weiser Weiser" und als "Penner" ausgewiesen wird, eine Parodie auf Nietzsches Zarathustra sehen oder eine Anknüpfung an Brechts Me-ti. Titel und Prolog jedenfalls verweisen die zweiundzwanzigteilige 'Improvisation1 über die Möglichkeit und die Erscheinungsformen von Glück in die große Tradition rabbinisch geprägten variierenden Erzählens. In ihr sind auch Variabilität und überraschende Anknüpfungs-Effekte vorgegeben, wie sie sich häufig in Taboris Dramaturgie finden und wie er sie selbst mit der Beobachtung erläutert hat, daß oft "eine Nebensache in einer Geschichte zum Zentralereignis der nächsten wird".49 "6 Vgl. "Die Mär vom großen Rabbi Elieser" in Mein Kampf (U, S. 185). 47 Hier bliebe die weitere formgeschichtliche Pointe zu erörtern, daß sich in Lessings Parabeln die aufklärerische Bestimmung der Form mit Mendelssohns Traditionserbe vermittelt, dem Lessing ja auch in der Disputations-Dialogik seiner Nathan-Gestalt Reverenz erweist. 48 Vgl. weiter oben Anm. 12, außerdem meine Bemerkungen zu Taboris Gestaltung im Zusammenhang eines Überblicks zur Bühnenrezeption von Lessings Drama nach 1945 in: H.-P.B. (Hg.): Theatralia Judaica II (wie Anm. 43), S. 71-99. - Des weiteren Anke Roeder: Die Konturen des Verschwindens. Zu Nathans Tod von George Tabori. In: Andrea Welker (Hg.): George Tabori. Dem Gedächtnis, der Trauer und dem Lachen gewidmet. Portraits. Wien u.a. 1994, S. 290-292. 49 Interview mit George Tabori im Programmbuch Nr. 17 des Burgtheaters Wien zu Mein Kampf,6.5.mi,S. 125.
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Nicht zuletzt wird diesem Neu-Erzählen der jüdischen Traditionsstoffe auch das Passionsthema des Neuen Testaments unterworfen. Zweimal wird die Geschichte Jesu in Goldberg-Variationen neu erzählt, jeweils aus jüdischer Perspektive - so in Szene 16, wo der Unruhestifter vorgestellt und als Rebell gegen wirtschaftliche Gepflogenheiten und religiöses Herkommen geschildert wird, oder, erneut in der Schlußszene, als ausflippender Halbwüchsiger, der, nachdem er Zeuge der elterlichen Gemeinsamkeit geworden ist, aus Familie und Konvention ausschert und nach und nach zum Außenseiterrebell gegen Gesellschaft und Leben wird (II, S. 336 und 344f). Schon in der vorausgegangenen Sinai-Szene (Nr. 9) haben die Hell's Angels dieser Neu-Erzählung den Weg bereitet: "Und der Jesus, man vergißt es heute, / War auch kein Christ von der Mutter Seite" (II, S. 137).50 Das ganze Stück bietet unter diesen Voraussetzungen mit dem Titel "Variationen" den Schlüssel des Verfahrens an, das in dessen Verlauf selbst seine eindrücklich universale Verwirklichung findet. Variiert, das heißt neu erzählt und nacherzählt werden die wichtigsten Stationen des Buches, von dem es in Mein KampfheiRt: "Es gibt nur ein Buch, und das ist schon geschrieben, und dieses eine Buch, das schon geschrieben ist, sagt alles über alles" (II, S. 148f).
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Intellekt ist in vielerlei Hinsicht abhängig, und diese Abhängigkeit gehört zum Selbstverständnis der Intellektuellen. Abgesehen von den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen sowie den kultur-, geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen gewinnen die kreatürlich-körperlichen bei Tabori ihre besondere Präganz, zumal diese mit den historischen in ständige Verbindung gebracht werden. Die Formel, daß der "Logos Fleisch wird", kann Tabori in der Weise umformulieren, daß der Logos Fleisch werden muß. Es ist dabei deutlich, daß sich für ihn mit dieser neutestamentlich-johanneischen Formel kein inkarnationstheologischer Inhalt verbindet, daß sie ihm vielmehr als Metapher für das Tun des Schauspielers, das heißt für das Verhältnis von Text und Spiel bei der Bühnenproduktion dient. Die Frage ist aber, ob umgekehrt auch das Fleisch Logos werden kann. Körperlichkeit, als Bedingung und Grenze des Auch der Replik auf Brechts Jüdische Frau in Jubiläum geht die Ankündigung in Gestalt einer schnoddrigen 'Kurzfassung' der Szene voraus: "HELMUT Sie packt, sie telefoniert, sie sagt beim Abschied leise Servus, sie geht ins Exil, ihr Mann, die fiese Memme, läßt sie" (I, S. 60).
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Intellekts, tritt in zweierlei Hinsicht - limitierend und damit immer wieder schockierend - in Erscheinung: zum einen diätetisch, Nahrung und Essen betreffend, zum ändern erotisch-sexuell. In beidem ist sie sowohl Feier des Dasein wie auch Peinlichkeit für den Intellekt, sie wirkt somatisch beglückend und sarkastisch verstörend. Von Monsieur Y, der aus seiner Shoah-Erfahrung eine politisch-intellektuelle Mission macht, sagt Madame X: "Für Monsieur liegt die Wahl immer zwischen Märtyrertum und Sex" (I, S. 153), und was für den politischen Intellektuellen gilt, gilt für den künstlerischen nicht weniger, wie man an Mr. Jays Bühnenunternehmung und ihrer Störung durch seine sexuelle Abhängigkeit erkennen kann.51 Daß darüber hinaus Eros als Macht der Verbindung auch die der Zerstörung bedeutet, hat wohl kaum ein Theaterkünstler so deutlich gestaltet wie Tabori, in seinen eigenen Stücken bis hin zu seinen Shakespeare-Inszenierungen. Die Büchner-Preis-Rede über die Liebe bringt das Thema auf die verbale Formel, daß "Haß, Mord, Gewalt, die Sehnsucht nach Zerstörung" zu "diesem schönseufzenden Wort" gehören. Dazu verweist er auf das psychologische wie szenische Bildsymbol des Messers als eines "Ersatz-Geschlechts", das für ihn unauslöschlich mit dem Namen Shylock verbunden ist.52 Mit der Nennung dieses Kernmotivs der Shakespeareschen Komödie, mit dem sich die Vertragsbedingung des Pfundes Fleisch verbindet, formuliert Tabori selbst 'sarkastisch1, was auch in seinem Theaterschaffen wie in seiner Dramatik zum 'szenischen Sarkasmus1 überleitet.53 Denn das erotische Begehren als Eindringen und das fleischliche Begehren des Sich-Einverleibens, dessen Extrem das Kannibalische darstellt, liegen hinsichtlich ihrer Triebdynamik auf einer Linie.54 Es versteht sich von daher, daß auch der Grenzwert des szenischen Sarkasmus, die radikale Triebverweigerung (hier der Nahrungsaufnahme) ihre szenische Ausarbeitung bezeichnenderweise mit Kafkas Hungerkünstler findet.55 Die spezielle Entfaltung dieses Themenkomplexes, wie Tabori sie als Künstler leistet, hat im Hinblick auf die historische Situierung einer prae- und 51
Zu verweisen wäre auch auf Peepshow, in deren Szenen die Künstlervita als 'biographia sexualis' dargestellt wird. 52 In: Büchner-Preis-Reden 1984-1994. Stuttgart 1994 (= RUB 9313), S. 204-209, S. 205f. " Bei der Arbeit an den Shylock-Improvisationen gehörte der drastische Umgang mit einem Stück rohen Fleisches zu den einleitenden Übungen. 54 Eine weitreichende Analyse ist nachzulesen bei Brigitte Marshall: Verstrickt in Geschichte(n). Im Würgegriff des Ober-Lebenskampfes George Taboris. In: Maske und Kothurn 37 (1991), H. l^t, S. 311-325. 55 Die zentrale Bedeutung dieses Projekts in Taboris entscheidender Entwurfs- und Experimentierphase in Bremen geht aus der Darstellung von Anat Feinberg in diesem Band (S. 76f.) hervor.
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post-Shoah-Epoche ihren Angelpunkt in einer doppelten Konstellation: einerseits in den diätetischen Regeln der jüdischen Tradition, zum anderen in der Ritualmord-Legende des AntiJudaismus, wie sie in Mein ATiWzp/ausdrücklich in einer Replik Hitlers aufgegriffen wird: "[...] und da habe ich sie gesehen, diese Shylocks, schwarze Pestvögel in schmierigen Pelzen und Kaftanen, keine Freunde von Wasser und Seife, ihren Achselhöhlen entströmte ein Gestank dampfender Wollust, während sie ein christliches Baby-Schnitzel hinunterschlangen" (II, S. 167). Daß Herzl hier zynisch kontert mit der Frage "welche Beilage?" ist in der Szene, in der er Hitler zu beeinflussen (das heißt schrittweise aufzuklären) sucht, strategisch zu verstehen. Er hält das Thema auf der Ebene der Speisekarte und der Rezepte, die eine stilistisch wie historisch gleichermaßen bedeutende Textschicht in Taboris Dramen, vor allem in Mein Kampfund Kannibalen, ausmachen. Das gesamte weiter reichende Themenfeld ist damit freilich nur angerissen - nicht ohne Grund gibt Goldberg, in der Rolle von Moses, den ironisch-sarkastischen Kommentar hinsichtlich des göttlichen Gesetzgebers: "Wenn es ums Kochen geht, wird er leicht hysterisch" (II, S. 319). Die Speiseregeln der jüdischen Tradition sind für Tabori offenkundig der Ausdruck einer Bindung, die mit jüdischer Herkunft ebenso zu tun hat wie mit universaler menschlicher Selbstdisziplinierung. Die Eingrenzung des Dranges zu essen und etwas sich einzuverleiben, die Zurückdrängung der unmittelbaren kreatürlichen Bedürfnisse, ist alles andere als peripher, rührt sie doch an die Grenze, deren Bedeutung angesichts der kannibalischen Konsequenzen, die sich im Falle des Übertretens abzeichnen, in historischen und existenziellen Grenzsituationen deutlich vor Augen tritt. Daß dem Judentum von seinen Gegnern mit dem Ritualmord-Vorwurf zugleich kannibalische Praxis — das Kinderblut wird ja angeblich für das Backen der Matzoth verwendet unterstellt wurde, zeigt die historische Tragweite ebenso wie die Brisanz des Sujets von Kannibalen.56 Auf dieser Ebene stellt das Stück die Umkehrung der alten antijüdischen Vorwürfe dar: durch die nationalsozialistische Macht wird das kreatürliche Überlebens- und Eßbedürfhis der Opfer in die Versuchung der kannibalischen Befriedigung gezwungen; letztlich enthüllt sich aber der Vernichtungsdrang des NS-Systems selbst als kannibalisch. Die von der Onkelgestalt ausgehende Ablehnung des kannibalistischen Ansinnens seitens der Häftlinge stützt sich jenseits allgemein humanitärer Impulse von Ethos und Herkommen auf die im mosaischen Gesetzeskorpus niederge56
Vgl. in diesem Band zur Diskussion des Stückes die Beiträge von Karin Dahlke sowie von Sandra Pott und Marcus Sander.
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legten diätetischen Vorschriften, die die körperliche Selbsterhaltung des Menschen regulieren und dezidiert alle triebhaft kannibalischen Zerstörungsenergie damit eindämmen. Wie der Verlauf des Stückes selbst ergibt, ist der Rückzug auf jüdische Identität der letzte mögliche Widerstandsakt gegen nationalsozialistische Übermacht, und in diesem Zusammenhang zeigt die von den Nachkommen nachgestellte 'Tischgemeinschaft', die in dem Stück letztlich religiös und metaphysisch begründet wird, die Scheidelinie zwischen dem humanen und dem tierischen Verhalten: "Schrekinger hat sich auf die Tischkante gesetzt, nach zwei Näpfen gegriffen und begonnen, daraus zu essen, dann mit der ganzen Hand hineinzufahren, wie ein Tier schlingend" (I, S. 73)." Auf analoge Weise wird diese Thematik in Mein ATiwz/?/genregemäß58 mit der Tötung des Tieres abgehandelt, der Zerstörung der Liebesgabe im sadistischen Akt der Zubereitung. Der Küchenauftritt von Himmler-Himmlischst kann geradezu als Modell des szenischen Sarkasmus von Tabori betrachtet werden, bringt er doch — indem er den alltäglichen Akt des Kochens im historischen Vorgriff mit der nationalsozialistischen Gewalttat verbindet - den Inbegriff kannibalischer Vernichtung zur Anschauung. Bezogen auf die altjüdischen Speisegesetze ist darin das diätetisch-symbolische System von Taboris Dramatik ausformuliert: Mit dem Wort "Blutsauce", deren Zubereitung genau geschildert wird, ist der eine Pol des Systems bezeichnet, den anderen bildet das Brot, das als vegetabile Lebensgrundlage (zusammen mit Salz und Wein) in der Religionsgeschichte die jüdische Form der Tischgemeinschaft, die Gemeinsamkeit des Einhaltens und des Erinnerns, symbolisiert. Als szenischer Grundtypus kann in diesem Falle der Schluß von Jubiläum gelten, wo das Brot, als Vermächtnis und Erinnerungsspeise der Toten von Auschwitz überbracht wird, und zwar von der Vatergestalt, die die Opfer der Shoah ebenso repräsentiert wie sie die abschließende Symbolszene des Stückes sozusagen ästhetisch konsekriert.59 Tischgemeinschaft in diesem Sinne - und die Toten des Jubiläum-Stückes beginnen alle, unterschiedslos nach Herkunft und Vorgeschichte, zu essen - verweist auf ein Jenseits des Sarkasmus. EntWie in einem Satyrspiel spiegelt sich diese Situation - nur oberflächlich harmloser - in der Eingangsszene der Ballade vom Wiener Schnitzel. Die "beglückt Speisenden" sind die AltNeu-Antisemiten, "höflich ausgedrückt -, füllig, tatsächlich aber widerlich fett". Sie werden dem magenkranken, von Verfolgungsträumen der NS-Zeit heimgesuchten Morgenstern gegenübergestellt, und die Szene kulminiert in der Aufforderung: "Gebt ihm ein Schnitzel! Stopft es dem Saujud in den Schlund." - In: Theater heute 1996, H. 5, S. 46-52, hier S. 48. Vgl. zur Frage "Farce oder theologischer Schwank" Sandra Pott in diesem Band. In der Bochumer Uraufführung brachte sich Tabori als Autor in der Weise in die Schlußphase des Stückes ein, daß er die Vater-Rolle selbst spielte.
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scheidend ist die kulturgeschichtliche Rückbindung. "Evokation und Identifikation" des jüdischen "Gruppengedächtnisses" wird nirgends so sichtbar wie am Pesach-Seder, wo "bei einem Mahl im Familienkreis, Ritual, Liturgie und sogar Kochkunst so orchestriert [werden], daß die zur Lebensgrundlage gehörende Vergangenheit von einer Generation zur anderen weitergegeben wird".60
9. Mit dieser vermächtnishaften Szene wird zugleich eine religionsgeschichtliche Grenzlinie gezogen, die auch in anderen Stücken Taboris sichtbar ist. Es handelt sich um die Abgrenzung gegen das sakramentale Mahl und die damit gegebenen Vorstellungen von Messianität, wie sie in christlicher Geschichtsauffassung eine bereits vorweggenommene oder sich vollziehende Erlösung impliziert. Bezeichnenderweise wird dieses Thema in Taboris Dramatik an zentraler Stelle aufgenommen, in den Goldberg-Variationen, indem neutestamentliche Perikopen dem Verfahren der Neu-Erzählung unterzogen werden. Denn eine wie auch immer - und sei es in Nuancen - noch gegebene messianische Deutung von Passion wäre nicht ausgleichbar mit der Bedeutung, die die Shoah in der Geschichtsauffassung einnimmt, wie sie sich in den Stücken artikuliert. Im einzelnen gibt zu dieser Frage nicht nur Mr. Jay den Ton an, wenn er die Passionsgeschichte als Seifenoper oder Oberammergau-Parodie spielen will (vgl. II, S. 335) oder die Meinung äußert, wenn man dem "Jungen" (das heißt Jesus) zwei Gauner zur Seite gebe, reduziere man ihn "auf einen x-beliebigen Ganoven" (II, S. 337). Die spätere 'Kreuzigung' Goldbergs und sein hebräischer Leidensschrei indiziert, daß jenseits einer von Jay trivialisierten Konzeption des Theaters der Grausamkeit, die Kreuzsymbolik - wie in anderen Stücken Taboris, so auch in den Schlußteilen von Goldberg-Variationen - als universales Leidenssymbol, das die Religionen übergreift, verstanden wird.61 Die Kreuzigung als Symbol von Verfolgung und Leiden ist Teil der jüdischen Geschichtserfahrung, ehe sie zum Angelpunkt des christlichen Weltbilds wird. Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S. 57 - Im Satyrspiel der Ballade kann daher das Wiener (Kalbs-)Schnitzel auch umgewertet werden, wenn es - wie in der Friedhofsszene - in gedenkender Gemeinsamkeit mit den Toten gegessen wird (vgl. Theater heute 1996, H. 5, S. 52). Vgl. die Interpretation der Darstellung von Moses, Jona und Jesus bei Sibylle Peters ("Die Verwandlung der Schrift in Spiel") in diesem Band, S. 277-279.
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In der minutiösen Wiedergabe der Kreuzigungsprozedur, unter technischen und medizinischen Gesichtspunkten, verbirgt sich in dem Stück zugleich der Hinweis auf die Allgemeinheit des römischen Hinrichtungsverfahrens, dem zahlreiche jüdische Glaubensmärtyrer in den Jahrzehnten der antirömischen Aktivitäten zum Opfer gefallen sind.62 Daraus folgt die energische Zurückweisung der Auferstehung, die dem gekreuzigten Nazarener eine messianische Rolle beglaubigen würde. Tabori nimmt hier prinzipiell die Position Iwan Karamasows in der Großinquisitor-Erzählung ein; auch für ihn ist die Vorstellung einer bereits eingeleiteten messianisschen Erneuerung der Welt mit den historischen Erfahrungen der Menschheit nicht vereinbar. Der weltgeschichtliche Riß der Shoah schließt eine solche Auffassung des Verhältnisses von Messianität und Geschichte aus. Die Aufforderung des Inquisitors an den zurückgekehrten Jesus "Geh und komm nie wieder" durchziehen - genauso wie die sprachlose Geste, der erwidernde Kuß, den Dostojewskis Jesus dem Inquisitor gibt - als Wandermotiv die Taborischen Stücke. In den Goldberg-Variationen richtet sich der Imperativ von Jay an Goldberg, da er sich von seinem Kontrahenten nicht an sein ständiges Scheitern erinnert sehen will. Jenseits der Bewußtseinsebene von Jay wird in den Variationen aber eine weitere beziehungsreiche szenische Konstellation hergestellt: als der gekreuzigte Goldberg wiederkehrt, werden die Schuhe, die er zurückgelassen hat, als impliziter Auschwitz-Verweis behandelt. Angesichts der Erfahrungen der Menschheit mit den Inquisitoren jeglicher religiöser und ideologischer Herkunft zerfällt eine messianische Botschaft nach christlicher Prägung. Entgegen steht ihr eine dezidiert jüdische Aufassung von Messianität, wie sie Schlomo - als Stimme, die sich selbst zuspricht - artikuliert: "Laß uns warten, Schlomo. Warten ist die wahre Zeit. Wenn man auf den Messias wartet, kommt es aufs Warten an, nicht aufs Kommen" (II, S. 172). Damit ist die theologische Auszeichnung der Zeit in der Wüste, der Zeit des Exils vorgenommen: sie erklärt ebenso Weismans Erwartung von (alltäglichen) Wundern, wie Taboris Umgang mit den Beckettschen Wüsten-Szenarien. Einer solchen Theologie des Wartens entspricht die Dramaturgie des Wartens in der für Tabori spezifischen Weise. Aus dieser Destruktion der christlichen Messianitätsidee folgt - um auf ein weiteres Grundproblem der Stücke zu sprechen zu kommen - die der ihr zugeordneten ethischen Konzeption, das heißt der Vorstellung einer universalen
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Das Stück kommt darin mit entsprechenden Ausführungen von Pinchas Lapide in seiner Essay-Sammlung Entfeindung leben? (Gütersloh 1993, S. 65ff.) überein.
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Nächstenliebe,63 der nach christlicher Auffassung im Vergleich zur vermeintlichen Gesetzesreligion des Judentums die höhere Dignität zugesprochen wird. Zunächst ist eine rein pragmatische Ebene zu erkennen, auf der die Unmöglichkeit der Realisierung von Nächstenliebe demonstriert wird. In Weisman und Rotgesicht geht es um die Frage, wie weit man, um dem ethischen Imperativ zu genügen, sich selbst preiszugeben habe, mit dem augenscheinlich plausiblen Resultat: "Wann ist genug genug? Fünfzehn Prozent? [...] Nächstenliebe kann man nicht an der Ladenkasse aufrechnen" (II, S. 230). Entsprechend negativ verläuft die Prüfung auf der ideologischen Ebene, wo Nächstenliebe als Deckmantel von Herrschaftsstrukturen erscheint, wenn sie der Richter in der "Frohe[n]-Fest-Szene" von Der Voyeur (II, S. 18-21), das heißt an Weihnachten zur Zeit der Bescherung, im Song vorstellt. Dies führt zu dem grundsätzlichen Einwand, daß Nächstenliebe als quasi eschatologisches Konzept von Ethik sich in historischen Zeiten nicht verwirklichen lassen kann.64 Wo sie proklamiert wird, kaschiert sie. Der Kampf zwischen Mr. Jay und Goldberg bietet dafür die einschlägigen Situationen und Parolen. In der Szene 'Jona1, in der Goldberg die apokalyptische Bußpredigt nach Ninive zu bringen hat, zieht Jay, in der Rolle des Herrn, die Vernichtungsdrohung zurück, mit der Ausrede, er "habe soeben die Gnade erfunden" (II, S. 326). Jona bzw. Goldberg versteht dies als Kaschierung des Machtverhältnisses. In der Schlußszene aber revanchiert er sich und schickt seinen Widersacher - mit dem von Fjodor Dostojewski] entlehnten Kuß - in die Beobachterrolle des Pensionärs, des Alten, der nicht mehr mitmischen kann. Danach fährt Goldberg die verbale, zynisch pointierte Retourkutsche: "Ich habe soeben die Nächstenliebe erfunden" (II, S. 346). 63
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Die einzige Möglichkeit, dem Jesus der Dostojewskischen Erzählung gegenüber dem Großinquisitor Recht zu geben, besteht für Tabori offensichtlich in der metaphorischen Umstellung der Geschichte auf Theaterverhältnisse. Wenn er vom Theater der Katakomben gegenüber dem Theater der Kathedralen spricht, sieht sich Tabori auf der Seite des wiederkehrenden Jesus und nicht auf der des imperialen Statthalters der religiösen Macht: "Nehmen wir an, daß Christus zurückkehren oder daß man ihn fragen würde, wo er den wahren Christen gefunden habe: in den Katakomben damals am Anfang, im Petersdom, in Rom oder im Fernsehen. Ich glaube, ich brauche nicht viel zu spekulieren, was seine Antwort wäre. Das Theater hat sehr viel mit Glauben und Unterdrückung und mit Hilfe zu tun." In: Wend Kässens u. Jörg W. Gronius: Theatermacher, Frankfurt/M. 1987, S. 174. Es bliebe zu erörtern, inwieweit dem universalen Liebesprinzip das enger zu fassende Gebot der Feindesliebe entgegengesetzt werden kann. Im Pogrammbuch zur Wiener Aufführung von Mein Kampf (Anm. 23) verweist Tabori auf die Gemeinsamkeit der jüdischen und der christlichen Bibel in dieser Frage, um dann zu kommentieren: "Das ist die theologische Ebene, wo die extremen Polaritäten der Versöhnung - das ist nicht das richtige Wort - die Liebe, das Vergeben, das Verzeihen üben."
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10. Die großangelegte dramatische Auseinandersetzung mit dem Ethos der Nächstenliebe findet dann in der Dramatisierung von Dostojewski)s GroßinquisitorLegende statt. Die in messianischem Licht gezeichnete Figur Aljoscha, für die das übermenschliche Vertrauen in die Liebe die religiöse Legitimiation bildet, muß sich den Gegenkräften der Geschichte stellen, dem nicht enden wollenden Aufgebot von Terror, Sadismus und Gewalt. Im abschließenden Zweikampf zwischen Aljoscha und Iwan, die als Doubles von Christus und Inquisitor agieren, läuft der Heilbringer Aljoscha selbst zum Gegner über, indem er diesen - gemäß dessen eignen Maximen - erschlägt. Dostojewskijs Aljoscha wird mit Hilfe der Neu-Erzählung widerlegt.65 Zieht man Taboris Dramatik insgesamt in Betracht, so steht die Illusion der Realisierbarkeit universaler Liebe nicht nur in Widerspruch zu den Erfahrungen der Geschichte, sondern auch zu dem unumstößlichen Postulat einer letzten Gerechtigkeit.66 In Szene 11 von Jubiläum hat Tabori den dokumentarischen Bericht einer NS-Greueltat, der Erhängung der Kinder vom Bullenhuser Damm, sowie den Nachkriegsprozeß zu diesem Vorfall verarbeitet, und zwar in einer mehrschichtig angelegten Spiel-im-Spiel-Szene. Gegen Ende wird der Prozeß zur Tötung der Kinder nachgestellt, und das spastisch behinderte junge Mädchen Mitzi - selbst Opfer nazistischen Terrors - spricht in der Rolle des Staatsanwalts der fünfziger Jahre die angeklagten Mörder der Kinder frei, mit 65
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Der Schluß von Taboris DerGroßinquisitor bleibt von irritierender Ambivalenz. Zunächst wird das Prinzip der Dialektik von Siegen und Unterliegen formuliert (vgl. Abschnitt 12), dann folgt das "Lied von der Nächstenliebe" aus Der Voyeur, das abschließend die These von der historischen Unmöglichkeit des Liebesprinzips affirmiert - ein Pendant zu Gruschenkas Eingangslied über die ewige Feindschaft zwischen Kain und Abel. An dieser Stelle zeigt sich, wie das ethische Problem mit dem theologischen der Theodizee unterlegt ist. Auch dieses ist bei Tabori omnipräsent. Abgesehen von der direkten Frage ("Ist dies die beste aller Welten?" - II, S. 302) ist das Indiz der Theodizee die Frage nach dem Leiden des Schuldlosen oder des Gerechten oder das Problem der Unerfüllbarkeit der göttlichen Gebote (Schnoddrig blasphemisch reagiert Jay bzw. Aaron, nachdem er von Goldberg bzw. Moses erste Mitteilung über den Dekalog erhalten hat: "Ich will mich ja nicht Kritischer Theologie hingeben, aber er [sei. 'Er'] muß meschugge sein. Die Pennerbande wird ihm das nie abkaufen" (II. S. 320). Das Stück Ballade vom Wiener Schnitzel (U A Wien 1996) greift zum Theodizee-Problem auf den religionsgeschichtlichen und biblischen 'locus classicus', das Buch Hiob und das dort im Alten Testament erstmalige Auftauchen des Teufels zurück. Taboris Friseur-Teufel agiert als GegenSchöpfer, indem er den Juden Morgenstern nach dem Klischeebild des Ostjuden um-kosmetisiert, um ihn anschließend mit langen Fragesequenzen aus dem Hiob-Buch,die alle das Leiden des Gerechten zum Inhalt haben, zu traktieren (Theater heute 1996, H. 5, S. 51).
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dem - dokumentarisch überlieferten - Argument, "daß sich die Kinder [nicht] über Gebühr lange quälen mußten, bevor sie starben" (II, S. 82). Bei diesem Gericht der Toten über das Gericht der in Nachkriegsdeutschland amtierenden Lebenden bäumt sich der Tote Arnold Stern so gegen das Urteil auf, daß er das tote Mädchen, das in der Rolle des Staatsanwalts agiert und diesen, auf Rückfrage, als "netten alten Herrn" bezeichnet, mißhandelt: "ARNOLD schlägt sie, umarmt sie dann Tut mir leid, daß ich Dich geschlagen habe" (II, S. 83). Er lehnt sich auf gegen eine Nachsicht und ein Verzeihen, die - wie so oft in Nachkriegsdeutschland - historische und ethische Gerechtigkeit außer Kraft setzen und damit ungeschehen erscheinen lassen, was als geschehen gesühnt oder als nicht gesühnt erinnert werden müßte. Im Vergleich zu einem Liebeskonzept, das weder historisch zulässig ist noch psychologisch (weil Liebe und Gewalt im Lebensvollzug nicht zu trennen sind), ist in Taboris Dramen das Gebot ethisch höherwertig. In der Rolle von Moses formuliert Goldberg als ein jüdischer 'Jedermann' die genuine, das heißt nicht aus christlicher Sicht entstellte Deutung des alttestamentlichen Dekalogs: "Na ja, eigentlich keine Gebote, das ist eine goiische Fehlübersetzung. Es sind Gottes Worte, die einem sagen, wie man gut ist, statt glücklich" (II, S. 319).67 Dieses Verständnis des Dekalogs ist 'antigesetzlich'. "Das hebräische Urwort - Gotteswort - klingt weniger autoritär als der abendländische Begriff Gesetz."68 Die 'Gebote1 haben ihren springenden Punkt gerade darin, daß sie die Differenz zwischen dem Ethos und dem Bedürfnis nach Glück nicht verschleiern.69 Die Differenz zwischen realer, historischer Lebensform und 67
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Selbstverständlich bleibt Tabori nicht bei einem moralistischen Dualismus stehen, sondern räumt dem Glücksbedürfhis sein unveräußerliches Recht ein. Außer den entsprechenden Äußerungen im Interview zu Mein Kampf (\g\. Anm. 23) sind dem Thema die Szenen des Babylon Blues - als unaufhörliche Suche nach den Spuren von Glück - gewidmet. George Tabori: Zehn Gebote, Nachbars Kuh. In: Theater heute, Jahresheft 1992, S. 25; dazu auch Micha Brumlik: Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot. Frankfurt/M. 1994,8.8. Diese hat nichts damit zu tun, daß sich der Autor etwa über die sittliche Realisierbarkeit der Gebote Illusionen machen würde: "Bedauerlicherweise hat der mosaische Gott seine Kinder, wie üblich, arg überschätzt. Sein Gesetz verlangt zu viel. Wir haben es (fast) nie geschafft, es nicht zu brechen" - Tabori: Zehn Gebote (Anm. 68), S.25. - Diese Auffassung des Gebotes führt zu einer geschichtsphilosophischen Konsequenz: als erwähltes Volk verköpert das historische Judentum die permanente Erinnerung daran, daß die Menschheit, ihrem sittlichen Bewußtsein realiter nicht gewachsen ist. Das Gefühl von Beschämung, das daraus entsteht, ist peinlich und bewirkt, daß es in Haß gegen die umschlägt, die daran erinnern - eine Erklärung für den Antisemitismus. Denn "eine Möglichkeit, der Peinlichkeit zu entgehen, ist, die Ursache der Peinlichkeit zu vernichten". Daraus ergibt sich eine ästhetisch-dramaturgischen Konseqenz: die "Verbindung zwischen Theater und dem
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idealem, eschatologischem Anspruch wird nicht beseitigt. Entlang dieser Differenz, die auch im Grenzfall - und der Grenzfall ist die Scheidemarke der Geschichte - noch den kreatürlichen Überlebenswunsch und den sittlichen Selbstanspruch nach Maßgabe der Gebote unterscheidet, zeichnet sich nicht zuletzt auch die historische Position und Aufgabe des Theaters ab - eingetragen in das altmodisch-skurrile und dennoch gültige Porträt der Vaterfigur. Der Vater-Onkel widersetzt sich dem kannibalischen Ansinnen seiner Mithäftlinge "bis zum letzten Hauch" (I, S. 12), wobei dieser Hauch sowohl als Chiffre des hebräischen Gottesnamens wie als Metapher schauspielerischen Sprechens verstanden werden kann. In ästhetischer Transformation wirkt beides auf der Bühne; man spricht dort nicht privat, als "Zivilist", sonden "in dem ganz besonderen, was sage ich, in dem geheiligten Tonfall einer öffentlichen Aufführung, der das Wort Fleisch werden läßt [...] und manchmal, wenn Gott mit im Spiele ist, den Leuten sogar eine Gänsehaut verursacht!" (I, S. 32f.) Der Grund der Taborischen Dramaturgie wird in dieser Engführung von theologischen und ästhetischen Theoremen sichtbar: Tonfall und Hauch werden bei entsprechender schauspielerisch-ästhetischer Beglaubigung zu dem Impuls, der - im Stück und in der von ihm präsentierten historischen Situation - den Widerstand gegen das Kannibalische, Unmenschliche, Tierische möglich macht.
11.
Fragt man nach der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem - der Tradition gemäß - göttlichen Autor des Dekalogs, so ergeben sich in Taboris Texten interessante Befunde. Auf der einen Seiten steht die teils ironische, teils aggressive Provokation von traditionellen Sprachformen und Verhaltensweisen, die für Tabori, wie 'Pietät' insgesamt, nicht mehr an der Zeit sind, auf der anderen eine Grenz-Sicherung, die von allen gewahrt wird und die ihrerseits die dramaturgische Landschaft der Dialoge und Szenen umzieht. Gewiß ist der theologische Diskurs der jüdischen Intellektuellen an vielen Stellen destruktiv. Ironisch aufgelöst werden - auf einer ersten Ebene traditionelle metaphysische Epitheta des Gottesbegriffes, Omniszienz und UbiJudentum" hat ihre besondere Valenz, denn das Theater stellt Peinlichkeit her in einer Weise, daß sie bewältigt werden kann. Indem sie bewußt gemacht wird, kann die Fixierung als Haß auf die historischen Erinnerungs-Träger, das heißt die Juden realiter entfallen Tabori: Unterammergau, S. 200.
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quität, so etwa in der ersten Szene von Mein Kampf (U, S. 146f), wenn der lächerliche Gott Lobkowitz seine Allwissenheit gegen Schlomo verteidigt. Tieferschürfend ist die nachhaltige Destruktion aller mit der Vater-Nomenklatur verbundenen und assoziierbaren Inhalte im Zeichen eines psychologisch verstandenen Vater/Sohn-Konflikts.70 Ihre besondere Pointe hat diese Auflösung darin, daß damit - im strengen Wortsinne - das Abbildverbot des Dekalogs eingehalten wird. Die Vater-Nomenklatur verfahrt vorstellungsmäßig anthropomorph und ist dadurch - nach allem heutigen Sprachverständnis - eine Quelle von Vater-Abbildlichkeit, die letztlich theologisch wie psychologisch nur in einem entstellenden Diskurs enden kann, wenn von Gott die Rede ist. In diesem Sinne muß die Inkarnationstheologie des Christentums besonders fragwürdig erscheinen. Tabori versichert sich bei diesem Thema der literarischen Autorität Franz Kafkas, wie der doppelte Textverweis auf das biblische Sohnesopfer Abrahams und auf Die Verwandlung in Goldberg-Variationen zeigt: "Schämst Du Dich nicht, Deinen einzigen Sohn, den Du liebst, zu mißhandeln, als wäre er Ungeziefer?" (II, S. 328), wirft Jay dem PatriarchenVater vor. Und diese Invektive wiederholft sich in der Darstellung der Leidensgeschichte, wenn Goldberg, in der Rolle Christi am Kreuz, den ihm dargereichten Essigschwamm ausspuckt: "Was für ein Vater ist das, der mich so leiden läßt?" (II, S. 343) Es kennzeichnet die mentale, wie die geschichtliche Prägung der jüdischen Intellektuellen in Taboris Stücken, daß sie im Vergleich zu diesem bildlich-symbolisch geprägten Diskurs christlicher Theologie die von der Tradition des Judentums geforderte Grenzen, unter anderen das Verbot der Namens-Nennung, strikt einhalten: Selbst die fragwürdigsten jüdischen Geister, wie Jay, folgen dieser Norm: "Es gibt nur einen Gott, sein Name sei gepriesen" (II, S. 337). Auf der anderen Seite steht die Karikatur von Gottesvorstellungen nach menschlicher Maßgabe. Die Inkarnation ist skurril, ein "Nicht-Abbild', ein menschliches Phantom - dem dient die theologische Farce: Gott als der scheiternde Koscher-Koch Lobkowitz, dessen lächerliche Selbstanmaßung so offensichtlich ist, daß unter ihrem abstrusen Charme bisweilen Lichtblicke geistig-intellektueller, genuin jüdischer Tradition szenisches Ereignis werden - dank der Annäherung des Humors und des Heiligen, aber auch dank der Verspieltheit des Intellekts, mit der Tabori seine Gestalten ausstattet. In diesem Zusammenhang wären auch sporadische Auseinandersetzungen mit der christlichen Trinitätstheologie zu verstehen, so in Goldberg-Variationen (II, S. 337) die polemische Charakterisierung des 'Jungen' durch Jay, der diesem nicht nur die Unterminierung von Gesetz und Ordnung unterstellt, sondern auch die latente Vielgötterei: "Es gibt nur einen Gott, sein Name sei gepriesen, aber der Junge macht eine ganze Mischpoke draus, die Mutter Gottes, den Heiligen Geist und Gottes Sohn, sich selbst, was sonst?"
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Zwischen der Unnennbarkeit des göttlichen Namens und der skurrilen Parodie menschlicher Überhebung hinsichtlich der Gottesvorstellung erstreckt sich der weite Diskursrahmen, in dem die Stimmen der Wüste ihr intellektuelles Spielfeld finden.71
12.
Was die szenische wie dramaturgische Bedeutung des theologischen Diskurses in Taboris Dramatik ausmacht, ist dessen spezielle Methode der 'via negationis',72 die auf eine theatergerechte Weise radikal weitergeführt wird: Gottes Unnahbarkeit ist darstellbar im unausweichlichen Scheitern des menschlichen Tuns. Dies gilt für alle - sowohl für die, die sich quasi göttliche Kompetenz zulegen, als auch für die, die sich um die Respektierung der Unnahbarkeit bemühen. Dieses Scheitern ist sowohl im Ethischen, wie im Natürlich-Triebhaften, wie - und nicht zuletzt - im Ästhetischen und Künstlerischen die Signatur menschlichen Tuns. Das Gegenteil, die Vollendung, das restlose Gelingen, wäre menschliche Selbstüberhebung, ein luziferischer Akt: "WEISMAN [...] Für mich warst Du nie eine Strafe, Ruthie, sondern eine wundersame, wenn auch leicht beschädigte Gottesgabe, eine Mahnung, daß Perfektsein eine Art von Blasphemie ist, Gott allein ist perfekt" (II, S. 210).73 Theater der Peinlichkeit ist letztlich eine szenische Konzeption, die diese (theologisch begründete) Insuffizienz allen menschlichen Verhaltens spielerisch abbildet und damit als Herausforderung an die Zuschauer Gestalt werden läßt. Auf dieser Ebene wird das Goldberg-Spiel ausgetragen, in einer Serie von Fehlschlägen für den Theatermacher Jay, dessen Buchstaben-Name ja nicht nur den Paßvermerk "J" bedeuten, sondern als Initiale für den Gottesnamen eintreten kann, und der mit einem großen Auftritt in der ersten Szene den Zum Abbildverbot und seiner Bedeutung für die jüdische Kulturgeschichte vgl. generell Brumlik: Schrift, Wort und Ikone (Anm. 68). Im Interview aus Anlaß der Aufzeichnung der Schlußszenen der Wiener Aufführung von Die Goldberg-Variationen in der ZDF-Sendung von Norbert Beilharz (18.2.1992) hat sich Tabori ausdrücklich auf den Terminus berufen - und zwar in Zusammenhang mit dem Theater Grotowskis: diese Dialektik, zwischen Glaube und Blasphemie, Anbetung und Hohn, Liebe und Haß, habe "sehr viel" mit seinem eigenen Stück "zu tun". Auch im Text von Der Großinquisitor (Residenztheater München, 29. l. 1993, S. 19) teilt Tabori der Rolle Iwan die Sentenz zu: "Der wahre Weg zum Glauben führt durch die Blasphemie." Zur ethischen Seite des Scheitern vgl. hier Abschnitt 10, zur ästhetischen Seite Jays Rede über Perfektion und Chaotik in der Kunst (II, S. 313f.).
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Nimbus des künsterlischen Schöpfers für sich in Anspruch nimmt, des intellektuellen wie des ästhetischen Souveräns. Er bricht in jeder Szene, die folgt, erneut ein, aufgrund seiner kreatürlichen, erotischen, psychischen Bedingnisse. Arn Ende muß er sich aufs Altenteil und, in der Theatermetapher gesprochen, hinter die Kulissen setzen lassen, wo er für den Fortgang der 'Show' nur noch die Daumen drücken kann, "daß nichts schiefgeht" (II, S. 346). Goldberg hingegen, der - dem Namen nach - Allerwelts- und JedermannJude,74 dessen historische Rolle wie dessen historische Last durch die KZNummer am Arm bezeichnet ist, geht von vomeherein vom Scheitern aus. Als Regie-Assistent, als supplementärer Schöpfer, hat er immer nur einzuspringen, die Mißgeschicke und die Fehlschaltungen des Probenverlaufs zu tragen, bis hin zur lächerlichen Dusche in der mißlingenden Schöpfungs-Szene, in der die Scheidung zwischen der Erde und dem Urmeer vollzogen werden soll und in der dann versehentlich schon die Sintflut eingespielt wird. Dieser Goldberg agiert durchweg auf Lücken hin, in der Rolle des 'Lückenbüßers', bis hin zum Eintreten in die Opferrolle des 'Jungen'. Und wenn er am Ende, nachdem Mr. Jay hinter die Kulissen verbannt ist, das Spiel von neuem beginnen läßt, dann verweist die Logik des in den Anfang sich zurückschlingenden Schlusses auf dieselbe Kette des möglichen Mißlingens, die das Stück Die Goldberg-Variationen bereits einmal vorgeführt hat. Nur an einer Stelle des Stückes verzeichnen Hergang und Dialog den Verweis auf ein Jenseits des Scheiterns. Am Schluß der "Abraham-Isaak-Szene", als auf der Bühne gerade die Verhinderung des Sohnes-Opfers mißlingt, kommt es zu einer aporetischen Replik-Fuge im Dialog: Der Isaak-Darsteller, der - entgegen der biblischen Vorlage - auf der Probe realiter verletzt worden ist und blutet, bildet den Anlaß. Die Sarah-Darstellerin macht dem AbrahamDarsteller Vorwürfe in verallgemeinerter Form: "So einer bist Du, von Anfang bis Ende ein Kindesmörder." Taboris szenische Anweisung schreibt danach vor: "Abraham und Sarah tragen Isaak hinaus." Dann setzt der Text erneut ein mit einer Äußerung Jays von kommentierend-gegensätzlichem Charakter: "Aus kleinen Kindern werden große Vatermörder" (II, S. 331). Den Bruch im logischen Gefüge, die Aporie, die in den menschlichen Generationsbindungen sichtbar wird, überdeckt im Folgenden die Anweisung Bach-Musik. Es ist das einzige Mal im Stück, daß Goldberg und Mr. Jay eine Gemeinsamkeit verordnet wird, sie "lauschen". Jay kommentiert: "Da hat Bach schon die Engel Der Name Goldberg taucht nicht nur in Weisman und Rotgesicht auf, sondern auch in Demonstration, wenn Cream puff erzählt, wie er auf der New Yorker "Goldberg-party" die versammelten jüdischen Intellektuellen mit gezielten antijüdischen Stereotypen provoziert habe (I, S. 151).
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gehört", und Goldberg stimmt zu: "Ja, er war nicht schwerhörig." Nur an dieser, eher peripheren Stelle, kommen die Kontrahenten für eine Sekunde überein. Es handelt sich dabei freilich um ein Moment der Transgression, vom theatralen und dramatischen in einen Symbolbereich des Absoluten, in die Musik, die im abstrakten und zugleich klanglich-sinnlichen Konstrukt der Variationen die Harmonie des unendlichen Gelingens ausdrückt.75
13.
Die Dialektik von Erfolg und Scheitern, Sieg und Niederlage färbt auf charakteristische Weise die Gestaltung des dialogischen Agon, wie ihn Tabori zunächst von der traditionellen Dramaturgie als Grundmuster der Stücke übernimmt. Auch geläufige Metaphern für diesen Agon treten auf, wenn etwa das Modell des Schachspiels von Lessings Szenen her auf Nathans Tod generalisiert oder wenn - in Weisman und Rotgesicht - ausdrücklich der hochstilisierte Kampfsport Sumo angeführt wird (II, S. 233).76 Abgesehen von vielen anderen Themen, die Tabori der Dialektik des Scheiterns unterwirft, gewinnen seine agonalen Duelle ihre besondere Prägnanz, wenn die Konstellation post-Shoah dadurch ermessen werden soll, daß man sich hinsichtlich des größeren Maßes an Leiden und Schmerz, das einem zugefallen ist, aneinander mißt. Schon in der Konfrontation des "nigger lovers" Monsieur (samt seinen KZ-Erfahrungen) mit den amerikanischen Schwarzen, denen seine Solidarität gilt, wirkt dieses 'Maß' aggressiv stimulierend für die Auseinandersetzung. Die Konstellation wiederholt sich bei dem Voyeur und den Puertorikanern von Harlem, In der musikwissenschaftlichen Literatur ist das Variationenwerk häufig mit der Kunst der Fuge verglichen worden, im Hinblick auf konstruktive Konsequenz und monumentale Gesamtanlage. In diesem Sinne werden beide als Symbole der vollkommenen musikalischen Komposition selbst verstehbar. Nimmt man Tabori auch hinsichtlich des Interpreten beim Wort - und er verlangt die Einspielung der "Goldberg-Variationen" von Glenn Gould aus dem Jahr 1957 -, so ergeben sich weitere Bezugsfelder. Gould selbst verstand den Kontrapunkt, zumal den Bachschen, als künstlerischen Ausdruck eines kosmischen Harmoniegesetzes - ein Verständnis, das seine eigene pianistische Realisierung prägte. Die enthusiastische Rezeption Goulds in Amerika und dann auch in Europa der sechziger und der siebziger Jahre ist mit dessen pianistischem Ideal in Verbindung zu bringen, denn es schließt jegliche Art von subjektiv-emotionaler Prägung der Darbietung aus, zugunsten einer gleichermaßen subtilen wie virtuosen Verklärung der musikalischen Struktur. Es wäre reizvoll, an diesem Punkt erneut das Verhältnis zu Brecht und dessen aus dem Sport übernommenen szenischen Metaphern für das dramatische Geschehen, wie in Dickicht der Städte oder in Mahagonny, zu vergleichen.
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und dann erneut bei Weisman und der vermeintlichen Rothaut: "WEISMAN [...] Wer ist schlimmer dran, eh, wer ist schlimmer dran? ROTGESICHT Ich. WEISMAN Ach ja? Das wollen wir doch mal sehen!" Und dann wirft Weisman seinem Gegner vor, daß es nicht einmal einen mit 'Antisemitismus1 vergleichbaren Ausdruck für "anti-indianisch" gebe (II, S. 233). An solchen Stellen der Zuspitzung wird deutlich, daß auf einer menschlichdialogischen Ebene die Duelle nicht entscheidbar sind. Man könnte sagen, daß es sich um Duelle auf Probe handelt. Wo eine Dialektik von Sieg und Scheitern zur Debatte steht, müssen die Dialoge immer wieder von vorne anheben können. Ein wirkliches Beenden ist nur außerdialogisch, durch Eingriff von Gewalt oder des menschlich nicht Verfügbaren möglich. Auf dieser Ebene gibt die Taborische Dramaturgie den Gewaltszenen Raum. Monsieur Y, der argumentativ die Oberhand behält, wird zusammengeschlagen (I, S. 164); Weisman, dem der Kontrahent bescheinigt: "Du hast gewonnen" (II, S. 239), erliegt dem Herztod, Aljoscha ersticht Iwan.77 Dennoch bleibt deutlich, daß solche 'Schlichtung' gegen die Regeln des Spiels erfolgt, indem sich die Kontrahenten unabschließbar in immer erneuten intellektuellen Anläufen über ihre Erfahrungen mit der Welt auseinandersetzen. Im tiefsten existenziellen Sinne geht es aber darum, wer besser scheitert, wer gültiger unterliegt - und diesem Sinne nach dürfen Dialogduelle dieser Art nur auf Probe (und das heißt auf WiederEröffhung hin) gespielt werden, nicht auf faktischen Abbruch.78
An diesem Finalpunkt in Der Großinquisitor wird die Dialektik von Sieg und Unterliegen besonders schlagend durchgespielt. Iwan hat bei der Verabredung des Kräftespiels angekündigt, er werde sich töten, wenn Aljoscha gewinne, und damit dessen Replik herausgefordert: "Dann werde ich eben verlieren." Damit ist der Inhalt des Kampfes festgelegt, denn Aljoscha erläutert wenig später, daß er den Selbstmord als die schlimmste, das heißt die Sunde wider den heiligen Geist betrachtet. - So mündet das Stück in den von Tabori vorgeschriebenen Jakobskampf um den Segen Gottes, und zwar mit dialektischer Pointe. Auf die stärkste der Provokationen Iwans, der dem Bruder zu verstehen gibt, er habe den Vater ermordet - den bei Dostojewski fein ziselierten Umweg über den eigentlichen Mörder Smerdjakow spart Tabori aus -, reagiert Aljoscha nicht, indem er abermals verzeiht, sondern indem er "unterliegt", das heißt zum Gewaltprinzip Iwans überläuft und diesen erschlägt. Iwan hat gewonnen, er braucht nicht Selbstmord zu begehen, er wird getötet. Aber genau auf diese Weise hat Aljoscha in seiner Niederlage gewonnen: indem er sich selbst zum Täter macht, sich in dieser Rolle zum Opfer bringt, erspart er dem Bruder die schlimmste der Sünden. Es dürfte sich hier um eine dramaturgische Konsequenz aus der dezidiert jüdischen Auffassung vom dialogischen Prinzip handeln. Dennoch bliebe zu erörtern, wieweit sie grundsätzlich der griechischen Auffassung des Dialogs zuwiderläuft, die das Pathos des überlegenen Intellekts und den preiswürdigen Sieg zum Ziel des agonalen Prinzips macht.
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Die Dramaturgie der Rollen-Paare findet, wie sich leicht demonstrieren läßt, in der Dialog-Struktur 'zur Probe', einschließlich der Möglichkeiten des offenen oder verdeckten Rollentausches, ihre szenische Basis. Jene Grundthemen Taboris, die ohnehin duale Anlage aurweisen, gelangen hier zum szenischen Austrag. Abgesehen von der generellen Polarität von Vater und Sohn oder der Generationen, ist es die aus dem Shoah-Thema hervorgehende Konfrontation von Täter und Opfer, die hier ihre unabschließbare sprachliche Dynamik erhält. Wenn es laut Tabori nur dann gelingt, "einen Hitler [...] zu bewältigen", wenn man dessen Züge "in sich selbst erkennen" kann,79 so ist damit die jederzeit widerrufbare und erneut zu initiierende 'Szene auf Probe' unabdingbar. Dasselbe gilt verstärkt, wenn Rollenüberlagerungen szenenbestimmend sind, wie fast durchweg in Goldberg-Variationen. Mr. Jay als Quasi-Vater, theologischer Übervater und Regisseur, im unabschließbaren Konflikt mit Goldberg, als Sohn und Assistent - diese Konstellation wird dadurch weiter verkompliziert, daß beide in der Spiel-im-Spiel-Rolle als Aaron und Moses oder als Gott und Jona aufeinandertreffen und, damit nicht genug, auch noch die innerjüdische Polarität von Identifikation und Aversion aufgebürdet bekommen: "GOLDBERG Sie mögen die Juden nicht, stimm's? MR. JAY Ich mag die Juden nicht, stimmt" (II, S. 334). In dieser Form des dialogischen Agons kommt die Spielforderung des Intellekts selbst zur Geltung - die Insistenz auf der Hypothese, die allein dem Rätsel der menschlichen Existenz und der Unbegreiflichkeit des Weltlaufs, nicht zuletzt der Unnahbarkeit der übergeordneten Instanz entspricht. Diese Spielforderung hebt jede Gegebenheit, damit auch jeden Spielort in den Modus der Möglichkeit, und das heißt,sie macht ihn zur Bühne. Nicht nur Weisman verfährt in der Wüste so und spielt seiner Tochter Auto-stop vor: ä la Clark Gable, dann als Sozialist, devoter Katholik usf. Auch in die Baracken von Auschwitz kann die Bühne eingeführt und auf den Gräbern von Jubiläum zum Prozeßspiel aufgerufen werden. Nicht nur, wenn Tabori Warten auf Godot inszeniert, bleibt die Prämisse der Probe spielkonstitutiv. Sie gilt allgemein, im dramaturgischen wie im theatralen Sinn: die Probe stellt die eigentliche Form des Taborischen Theaters dar.80 Sie widerruft die Geltung alles Gesagten und 79 80
Programmbuch zu Mein Kampf (Anm. 23), S. 130. Erneut wird die historische Situierung von Taboris Dramatik auch im Rahmen der europäischen, speziell der anglo-amerikanischen Dramatik augenfällig. Sieht man von den entsprechenden Bühnenexperimenten der Vorkriegsavantgarde ab, die in dieser Hinsicht in Pirandellos Sei personaggi in cerca ctautore ihr unüberbietbares dramaturgisches Modell gefunden hat, so ergeben sich insbesondere Parallelen zur jüngsten englischen Dramatik und deren kreativer Abwandlung des Modells der 'backstage comedy' - vgl.
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hebt die Endgültigkeit eines wie auch immer zu erreichenden Bühnenwerkes auf- nur das "work in progress1 ist legitim; und es ist bekannt, wie wenig der Regisseur Tabori die Premiere als unüberholbaren Zielpunkt der Bühnenarbeit betrachtet. In den Stücken selbst bezeichnet die Probe die Prämisse, welche den zahllosen Spiel-im-Spiel Szenen ihr gehaltliches Gefalle verleiht. Ein erster Höhepunkt nach diesem Prinzip ergibt sich in Kannibalen, als die Schauspieler die Konflikte der ihnen übertragenen Rollen ins Persönliche wenden und die Szene - wie auf einer Probe denkbar - aus dem Ruder läuft, weil sich die Akteure in die Haare geraten. Die Inspizienz greift ein, Saallicht geht an; das Geschehen suggeriert, es würde die Vorstellung abgebrochen - ehe sich die Darsteller wieder in ihre Rollen zurückbegeben (I, S. 64f). Tragende szenische Bedeutung gewinnt das Gesetz der Probe auf Dauer dann in der KafkaDramatisierung von Verwandlungen, einschließlich der Entfaltung einer entsprechenden theater- und schauspieltheoretischen Diskursebene im Spiel selbst. Dem Prozeß des Probierens selbst verhilft der Autor in diesem Fall zu immer neuem Beginn, indem er die Konflikte der Texte Kafkas auf die Theaterschaffenden selbst reduplizierend überträgt oder mittels der Thematisierung verschiedener Texte Kafkas immer erneut Anfänge setzt. Dem damit im Gang gebrachten - potentiell nicht endenden - Probenverlauf setzt der Verfasser ein - im wörtlichen Sinne - abruptes Ende, indem er ins Biographische ausweicht, den Tod des Erzählers Kafka nachspielt und damit den Proben von Verwandlung und Urteil eine übergreifende Rahmung gibt. Unter diesem Aspekt, wie auch unter zahlreichen anderen, erweist sich Goldberg-Variationen als Opus magnum' von Taboris Dramaturgie. Das unabschließbare Duell von Mr. Jay und Goldberg mündet in den erneuten Anfang des theatralen Projekts selbst: "Lichtstand eins", verlangt Goldberg, und die szenische Anweisung besagt: "Die Bühne ist leer wie am Anfang" (II, S. 346).
14.
Dem virtuellen Charakter eines Theaters, das seinen Inbegriff in der Probe findet, entspricht als tragendes mentales Korrelat die Erinnerung. In seinem vielzitierten Essay "Es geht schon wieder los" hat Tabori die Funktion seines
Berger: Ästhetik des Spiels (Anm. 29), S. 24-28. - Zum Verhältnis zu Brecht vgl. hier Abschnitt 2 sowie Anm. 21.
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Theaters als Erinnerungsbühne beschrieben und in subtiler Auseinandersetzung mit Shakespeare, insbesondere mit dessen Shylock, erläutert. Seine Maxime das, "was das Theater die Wissenschaft lehren könnte"81 - besagt, daß Vergangenheit nur als vollsinnliche, alle Teile des Körpers erfassende Erinnerung "bewältigt" werden kann.82 "Nicht-sinnliche Erinnerung verbleibt im Geschichte-Erzählen, wobei der Vergangenheit nichts als Vergangenheit bleibt, und zwar in großer Entfernung".83 Die theaterästhetischen und schauspieltheoretischen Konsequenzen dieser Auffassung sind vielfach angesprochen worden und verdienen eine genaue Würdigung.84 Gleichermaßen verdient erörtert zu werden, inwieweit diese Position des Autors mit dezidiert jüdischer Traditions- und Mentalitätsgeschichte verbunden ist. Auf dem Grund einer Kulturgeschichte, in deren Verlauf "ein ganzes Volk die Aufforderung, sich zu erinnern, als religiösen Imperativ empfindet",85 bedeutet Taboris programmatische Erklärung über sein Theater zunächst eine direkte Fortsetzung der Tradition. Bezogen auf eine "Überlieferung", die so "extrem Buch-orientiert ist" wie die der Juden,86 ist die Forderung der vollen, schauspielerisch getragenen Versinnlichung hingegen als Provokation zu verstehen, denn sie schließt eine Aufwertung der Bühne als Erinnerungsträger ein, die sie in der jüdischen Geschichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht, und seither nur bedingt, gewonnen hat.87 Vorausgesetzt ist dabei, daß für ein Volk, das Jahrtausende im Exil über die Kontinente verstreut überlebt, das Gedächtnis in weit höherem Maße den Zusammenhalt bedingt, als bei Gemeinschaften mit kohärentem, festem Lebensgebiet. Wichtiger jedoch als dieses geschichtspragmatische Argument wiegt die Tatsache, daß Gedächtnis als Überlieferung im Zentrum jüdischer Religion steht. Daß dieses Gedächtnis sich nicht in erster Linie und nur zeitweise als
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Tabori: Unterammergau, S. 202. "Wer die Vergangenheit vergißt, ist verdammt, sie wieder zu leben", heißt es (ebd., S. 19); das Wachrufen darf freilich nicht nostalgisch historisch und auch nicht nur logisch zentriert sein: "Ich weiß, daß keine Botschaft durchkommt,wenn sie nicht unter die Haut geht und ich habe von keiner Bühne, weder in Ost noch in West, Worte gehört, die auch nur die Oberhaut berührt hätten" (ebd., S. 20). Ebd. Vgl. dazu auch in diesem Band Michael Müller-Janke, S. 51 f. Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S. 22. Des weiteren wäre zu vergleichen: Amos Funkenstein: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen. Frankfurt/M. 1995. Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S . U . Vgl. Verf.: Jüdisches Theater der Zwischenkriegszeit - östliche Wurzeln, westliche Ziele? Umrisse einer Kontroverse. In: Theater der Region - Theater Europas. Kongreß der Gesellschaftfür Theaterwissenschaft. Hg. von Andreas Kotte. Bern 1995, S. 25^17.
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geschichtliches Bewußtsein artikuliert, setzt seine Effizienz keineswegs herab. Seine geschichtlich wirkungsvollsten Formen sind "Ritual und Rezitation"; Schlüsselanlässe sind die Feste.88 Es ist offensichtlich, daß Tabori, wie in der jüdischen Tradition vorgegeben, zwischen Erinnerung und geschichtlicher Rekapitulation unterscheidet. Erinnerung muß zu einer sinnbezogenen und damit befreienden Beziehung zur Vergangenheit fuhren. Das Historische, als Rekonstruktion des Gewesenen leistet dies nicht; es ist die "Unzulänglichkeit dieser Tatsachen",89 die Taboris Zutrauen zu jeder dokumentarischen Methode untergräbt, obwohl er gelegentlich Dokumente prägnant einsetzt.90 Aber die davon erwartete Authentizität stellt er uneingeschränkt in Abrede, daher kann auf diese Weise die eigentliche Funktion von Erinnerung keineswegs bewirkt werden. Es kommt hinzu, daß geschichtliche Antworten (als wissenschaftliche) auf Erklärungen aus sind, denen Tabori von Grund auf mißtraut, während den unbeantworteten, den unbeantwortbaren Fragen, die das Geheimnis umschreiben, ohne es zu enthüllen, sein eigentliches Interesse gilt.91 Sinnliches Erinnern ist die Domäne des Theaters. Im Vergleich damit ist sein Zugang zu den Modi historischen oder gar wissenschaftlich-historischen Bewußtseins - auch in einem angeblich wissenschaftlichen Zeitalter - sekundär. Hingegen kommt es mühelos der Art nahe, wie historische Kollektive, Völker und Gruppen, die Erfahrung ihrer Vergangenheit prägen und bewältigen, wie sie die Frage des Sinns der Geschichte als die des Sinns ihrer Geschichte aufwerfen. Mehr als mit geschichtswissenschaftlicher Erforschung eines historischen Kontinuums hat die Bühne mit Formen, Symbolen, Aus88
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Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S. 24. - Hinzuzufügen ist, daß schon im altjüdischen (biblischen) Israel die Feste nicht in erster Linie wie in den Umgebungskulturen, der Wiederkehr "mythischer Archetypen" und naturzyklischer Gegebenheiten gewidmet waren, sondern geschichtlichen Erinnerungsereignissen (ebd., S. 21; zu den Festgebräuchen vgl. des weiteren S. 52, 54 u. 60); einen historischen Überblick über die Bedeutung der Feste in den verschiedenen Perioden gibt Karl Erich Grözinger: Gedenken, Erinnern und Fest als Wege zur Erlösung des Menschen und zur Transzendenzerfahrung im Judentum. In: Alltag und Transzendenz. Studien zur religiösen Erfahrung in der gegenwärtigen Gesellschaft. Hg. von Bernhard Casper u. Walter Sparn. Freiburg u. München 1992, S. 19-50. Tabori: Unterammergau, S. 201. Die markantesten Beispiele sind der Prozeß über die Tötung der Kinder vom Bullenhuser Damm - nach einem ND-Bericht von G. Schwarberg - in Jubiläum (Tabori zugänglich gemacht von Hanne Hiob) oder der Folterungsbericht eines homosexuellen KZ-Opfers aus Die Männer mit dem rosa Winkel (von Hans Heger, Hamburg 1972) in den ShylockImprovisationen. Daraus erwächst auch sein Vorwurf an das Theater Brechts, es habe immer nur die Fragen gestellt, "auf die es Antworten gibt" - Tabori: Unterammergau, S. 203.
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druckstraditionen und mentalitätsgeschichtlichen Sedimenten gemein, in denen solche Sinngebung und Sinntraditionen präsent sind. Mit der Eigenart jüdischen Erinnerns von Geschichte, wie sie Yerushalmi beschrieben hat, kommt jedenfalls Taboris Dramatik darin überein, daß in erster Linie die Sinn- und Erwählungsgeschichte, die Heilsgeschichte gemäß der Thora repräsentiert ist, daß hingegen die Exilszeit, nach der Zerstörung des zweiten Tempels, keineswegs in kontinuierlicher Vergegenwärtigung präsent gehalten wird. Die biblische, kanonisierte, zumal die prophetische Überlieferung gibt eine so profunde Deutung des Sinns von Geschichte, daß sich die Beschäftigung mit dem späteren Verlauf des Exils erübrigt.92 Hält man sich diese Zusammenhänge vor Augen, so erscheinen Taboris Goldberg-Variationen auch als seine 'summa judaica1 - nicht nur, weil darin der jüdische Jedermann im Zentrum steht, dessen vorexilische Existenz in der Anrufung als "Adam" beschworen wird (II, S. 323) und dessen post-Shoah-Existenz durch die KZNummer am Arm visualisiert ist, sondern weil in den Variationen die sinnverbürgende Erwählungsgeschichte der jüdischen Überlieferung dargestellt wird: von der Schöpfung bis zum Bundesschluß am Sinai und bis in die prophetische Ära hinein. Dennoch ist es auch für Taboris Werk von Belang, daß die jüdische Gedenktradition - vor der Übernahme abendländischen Geschichtsdenkens seit dem 18. Jahrhundert - eine Serie von historischen Einzeldaten verzeichnet: die großen Verfolgungen, die nach Tempelzerstörung und Bar Kochba-Aufstand die Diaspora-Situation des Judentums prägen, vor allem die Vertreibungen der Kreuzzugszeit, die ersten Ritualmord-Verfolgungen des 14. Jahrhunderts und die Vertreibung der Juden aus Spanien, die als epochaler Einbruch in ein bis dahin als symbiotisch verstandenes kulturelles Verhältnis zwischen Judentum und islamischen bzw. christlichem Europa empfunden wird. Auch diese Erinnerungsanlässe werden, in erster Linie durch rituelle Formen überliefert, durch Klage- und Bußlieder, die literarisch und religiös geprägt und auf bestimmte Gedenkdaten hin formuliert werden.93 Für die Generationen, die die Erfahrun92 93
Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S. 26ff. Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S. 58 u. S.63ff. - Daß das Thema des Gedächtnisses in Taboris Dramen omnipräsent ist, weil es alle einzelnen Sujets durchdringt, liegt auf der Hand. Es ist indes kennzeichnend, daß es auch motivlich ausdrücklich im Sinne jüdischer Tradition in Erscheinung tritt, und zwar in Gestalt des Gedenk-Rituals. Das KaddischGebet taucht in diesem Sinne an manchen Stellen geradezu als eine Art Pause im szenischen Kontinuum auf, so etwa im Eingang von Kannibalen, wenn der Onkel "an Puffis Leiche, eine Decke [sei. als Talith] um Kopf und Schultern geworfen, quasi ein Kaddisch" intoniert (I, S. 7). Dies geschieht, noch ehe die Leiche hinsichtlich ihrer Eignung zum Selbsterhalt tauglich ist. Der Onkel setzt damit vorab den Maßstab für menschenwürdigen
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gen des 20. Jahrhunderts zu machen hatten, bedeutet diese Linie von Erinnerungsdaten häufig die Perspektivierung auf die Shoah unseres Jahrhunderts. Bei allem, was gegen eine solche Einlinigkeit spricht, was von jüdischer und nichtjüdischer Geschichtsschreibung dagegen gesagt und aus verschiedenen Bereichen des Judentums selbst ins Feld geführt worden ist,94 scheint es bemerkenswert, daß Tabori in seinem dramatischen Werk seit Ende der 60er Jahre diese geschichtliche Linie des Gedenkens privilegiert. In dem MasadaSzenar, in dem der historiographische Rückblick (am Beispiel des Flavius Josephus und seines Bellum Judaicum) mit der lyrischen Klage der MasadaÜberlebenden konfrontiert wird,95 gewinnt dieses Gedenken die Perspektive, die als Historic des Exils und der Verfolgung ihr Gefalle findet:96 "Der Fels von Umgang mit Toten. Das Kaddisch ist die rituelle Erinnerung, die die Gegenkraft zu allen 'sarkastischen' Szenen im prägnanten Sinne darstellt. In Weisman und Rotgesicht wird die Reichweite der Symbolik vergrößert. In der Eingangsszene, in der sich - kontrafaktisch zum Beginn von Wagners Parsifal— der als Jäger bezeichnete Eindringling in der WüstenParadies-Landschaft durch die Tötung eines Junggeiers ankündigt, vollzieht Ruthie eine Bestattungsritual, indem sie den Vogel mit Steinen bedeckt. Wenig später spielt Weisman ihr eine Anhalter-Szene vor, in der er einen Juden imaginiert, der sich die Asche seiner verstorbenen Frau auf den Kopf streut und dabei ein Kaddisch "heult" (II, S. 211 f.). Beide Rituale werden am Ende, nach Weismans Tod ineinander zelebriert; Ruth "macht die Urne auf und streut Asche über ihn [...] Sie legt Steine über ihn" (II, S. 239), ehe sie sich mit Rotgesicht/Goldberg auf den "sehr langen" Weg nach Santa Fe macht. - Eine regelrechte Engführung szenisch-symbolischer Typen findet sich letzten Akt von Mein Kampf. Nach der sarkastischen Mizzi-Szene spricht Schlomo über dem gebratenen Tier das Kaddisch ein Gedenkritual auf Zukunft, für alle denen die nazistische Gewalt dasselbe antun wird wie dem Tier. Schon zuvor hat im intertextuellen Verweis auf Heine die Bücherverbrennung mir der Tier-Zurichtung parallelisiert: "Wenn ihr beginnt, Vögel zu verbrennen, werdet ihr enden, Menschen zu verbrennen" (II, S. 201). Das Kaddisch über dem Tier ist zugleich das über dem Buch. Der Zerstörung der geistigen wie der kreatürlichen Welt wird gedacht. Beides fordert die rituell sich aussprechende reservatio mentalis heraus, die letzte mögliche Geste des Widerstands. Schulz hat diese Szene als Muster für eine "Semiotik des indirekten Zeigens" interpretiert - Schulz: Tabori und die Shoah (Anm. 43), S. 160. Als ein Beispiel, lediglich aus dem Bereich der Geschichtsschreibung in Mitteleuropa, sei die Einleitung von Karl Erich Grözinger zu Judentum im deutschen Sprachraum (Frankfurt/M. 1991, S. 8) zitiert, wo ausdrücklich die "häufig sichtbaren Verflechtungen von jüdischer und deutscher Volkskultur, von jüdischem und deutschem Denken und Leben" als Gegenstand des Erinner- und Darstellbaren, mithin als Themen der historischen Gesamtwürdigung genannt werden. Zur jüdischen Josephus-Rezeption vgl. Yerushalmi: Zachor (Anm. 22), S. 29 u. S.47. Es bliebe noch weiter zu erörtern, wie die Formen historischen und sinnlich-lyrischen Gedenkens in dem Stück im einzelnen konfrontiert sind und wie sich unter solchen Gesichtspunkten der Geschichtsbezug anderer Tabori-Texte darstellt, eingedenk des Bekenntnisses des Verfassers aus Anlaß von Mein Kampf: "Wir sind gegen die Mythologie und nicht historisch" - Programmbuch zu Mein Kampf ( . 23), S. 130).
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Masada steht wie damals golden in der Wüste. Von oben sieht man im Süden Lybien, Ägypten, Tunesien, Algerien, im Osten Jordanien und Saudi-Arabien, im Norden den Irak, Libanon und Syrien. Im Westen sieht man an klaren Tagen Auschwitz."97 Taboris Wüsten-Erkundungen haben historische Eckdaten. Die jüdischen Intellektuellen, die als Stimmen in dieser Wüste auftreten, beziehen sich auf dieses 'goldene Masada' als letztes Denk-Mal der altjüdischen Geschichte und auf Auschwitz, als das Uneinholbare, dem Gedenken Aufgegebene. Damit findet der Intellekt ein Koordinatensystem, das ihm seine historische wie auch seine menschlich-humane Orientierung vorzeichnet. Zweifelsohne hat dieses System zahlreiche weitere Leitwerte - literarisch mit den Namen Dostojewski) oder Kafka zu verbinden, theatergeschichtlich mit denen Brechts oder Becketts; und die Wertstellung, die dem dramatischen Kosmos Shakespeares zusteht, wäre eigens noch zu diskutieren. Spätestens aber seit Kannibalen9* formieren sich die jüdischen Stimmen zum Leitprofil für die Texte - nicht nur in dem, was sie inhaltlich äußern, sondern mit allem, wodurch sie form- und stilgeleitete Orientierung geben: Denkformen, Sprachstile, Vorstellungsweisen und Erinnerungsmodi sind tonangebend. Diese Stimmen — um die Metapher weiterzuführen - bilden den 'cantus firmus', dem sich alle anderen Tonlagen stimmlich zuordnen. Kraft ihrer szenisch-sinnlichen Präsenz und der Universalität der Bühne vermitteln diese intellektuellen Stimmen die Einzigartigkeit der historischen Erfahrung des Judentums allen, die sich den Stimmungen des Taborischen Theaters aussetzen. Je nachdem mag es sich dann mit dem einzelnen Leser oder Zuschauer so verhalten wie mit Rotgesicht, dessen Verhältnis zum Jüdischen sich in allen Schattierungen zwischen antisemitischen Beschimpfungen und der Okkupation 97
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Programmbuch Masada - ein Bericht, Der Kreis. Theater in der Porzellangasse, Wien 1988,8.87. Angesichts solcher Vielseitigkeit ist es verstand!ich,daß sich Tabori immer wieder dagegen wehrt, in einem engen Sinne etikettiert zur werden: "der Tabori ist ein jüdischer Schriftsteller" (Gespräch mit Andreas Beck anläßlich der Münchner Neuinszenierung von Kannibalen. Bayerisches Staatschauspiel, Programmheft Nr. 36, Spielzeit 1995/96, S. 8f.). Die Implikationen dieses Satzes - Taboris Verständnis von Judentum, seine eigenen Zugehörigkeitserklärungen, die von ihm selten angesprochene Beziehung zu Israel und anderes mehr - stehen hier so wenig zur Debatte wie die Lebensgeschichte selbst, die Frage seiner Kenntnisse von jüdischer Tradition oder die Frage, was heute unter 'jüdischer Schriftsteller' zu verstehen wäre. Daß die jüdische Thematik seit Kannibalen dominiert, kann er nicht umhin selbst einzuräumen (ebd. S. 9), und bedürfte es einer weiteren Demonstration, so ließe sich das jüngste Stück, die Ballade vom Wiener Schnitzel, geradezu als Kompendium von Taboris jüdischen Themen verstehen. - Zu dem Widerstand, den Tabori Zuschreibungen entgegensetzt, die ihn als 'den Juden' (als Stellvertreter für 'die Juden') sehen, vgl. in diesem Band den Beitrag von Sandra Pott und Jörg Schönert.
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Hans-Peter Bayerdörfer
eines jüdischen Namens artikuliert. Auf seine Identität angesprochen, antwortet er aber mit Sätzen, deren intertextuelle Tragweite ihm - gemessen an seinen übrigen Stellungnahmen - kaum bewußt sein dürfte, von deren geschichtlichgeistiger Tragkraft er aber dennoch gleichsam über sich selbst hinausgehoben wird: "Ich bin nicht, was ich bin. Ich war mal, was ich war [...] Ich bin ein Nichts, und ich werde jemand sein!" (II, S. 223f.) Diese klingenden Rätsel, die der Namensoffenbarung im Alten Testament nachformuliert wurden, sind alles andere als Antworten. Sie leiten aber von der einzelnen Rolle zurück in den Problemhorizont, den das Spiel des Stücks insgesamt anlegt, und damit zu jenen Fragen, die laut Tabori dem Theater so besonders gemäß sind, weil es auf sie keine Antworten gibt.
Michael Müller-Janke
Taboris Arbeit mit dem Schauspieler: 'Selbsterforschung' und 'Integration' des Ichs
Für George Tabori ist das wesentliche Merkmal des Theaters seine Lebendigkeit, die von der Kunst des Schauspielers abhängt. Den Schwerpunkt seiner praktischen Theaterarbeit konzentriert der Theaterzauberer deshalb auf die Arbeit mit dem Schauspieler. Durch ihn entsteht und ereignet sich Theater. Mit Hilfe seiner Erfahrung und anhand bewährter Methoden, die die Grundlagen seiner Arbeitsweise bilden, will Tabori den Schauspielern helfen, ihre Lernfähigkeit und Offenheit zu bewahren oder wiederzuentdecken, die Angst vor Versagen zu überwinden und die Flucht in Rollenklischees zu vermeiden. Das schafft nach Taboris Auffassung die Voraussetzung, jenem Moment der Authentizität, der Leichtigkeit und Glaubwürdigkeit näherzukommen, die er mit seiner Theaterarbeit anstrebt. Das Hauptproblem sieht Tabori in der Schwierigkeit des Schauspielers, seinen persönlichen Zustand, sein komplexes, für ihn selbst nur schwer durchschaubares Sein als Mensch in Einklang mit der Rolle zu bringen. Aus Unsicherheit flüchtet sich der Schauspieler oft in die Rolle und versucht sich selbst 'draußen' zu lassen, was eigentlich unmöglich ist, oft aber sogar verlangt wird. "Also die Grundfrage: Wie kann man das Sein und das Spielen organisch zusammenbringen? Was passiert zum Beispiel, wenn ein Loch ist zwischen Sein und Spiel? Dann entsteht erstmal Lampenfieber oder Panik, oder man versucht sich durch Technik durchzumogeln. In den letzten vierzig, fünfzig Jahren haben sich viele Methoden entwickelt, das zu verhindern.'' Dazu gehört, in der Nachfolge Stanislawskis auch die Methode von Strasberg, dessen 'method1 für Tabori bei dem Versuch, einer Lösung dieses Problems näherzukommen, die entscheidende Grundlage bildete. Aus der Quelle Stanislawski kommt das zentrale Anliegen Strasbergs: die Suche nach größtmöglicher Wahrheit und Authentizität auf der Bühne. Es geht Strasberg - und in seiner Folge auch Tabori - darum, die Echtheit des Gefühlsausdrucks zu erreichen. Tabori stellt diesen Zusammenhang heraus:
Wend Kässens u. Jörg W. Gronius: Theatermacher. Frankfurt/M. 1987, S. 162.
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Michael Müller-Janke Stanislawski war der erste, der sich zum Beispiel mit dem sogenannten schöpferischen Augenblick beschäftigte. Das ist die Beziehung des Unbewußten zum schöpferischen Vorgang oder das Bewußtwerden des Unbewußten. Wie kann der Schauspieler auf den Weg zu den unbewußten Impulsen, Gedanken, Gefühlen gelangen, wie kann man Gefühle wiederholen und doch spontan bleiben? Das sind sozusagen Gretchenfragen, und Stanislawski war der erste, der das systematisch untersuchte.2
Für Tabori existieren im wesentlichen nur zwei Quellen, bei denen er sich Anregungen für seine Arbeit mit den Schauspielern holte. Neben der 'method' Strasbergs ist das die Gestalttherapie, entwickelt von Frederick S. Perls. Aus diesen beiden Methoden hat Tabori Übungen und Techniken, die sich bewährt und als nützlich erwiesen hatten, für seine Regiearbeit übernommen. Eine bei jeder Produktion funktionierende, ultimative Vorgehensweise hält er für illusorisch, da jede Probe eigenen Gesetzen folgt und einen vor neue Aufgaben stellt, die kreative Lösungen erfordern: "Ich war immer eklektisch, und ich glaube nicht, daß es Rezepte gibt."3 Innerhalb dieser Flexibilität, bildete sich im Verlauf aber doch ein erkennbares Repertoire an Übungen und eine lose Struktur in der Vorgehensweise bei den Inszenierungen heraus, so daß sich auch bei Tabori von einer Methode, im Sinne eines planmäßigen Vorgehens sprechen läßt.
l. Strasbergs 'method' Er habe zwar viel von Brecht gelernt und auch von der Gestalttherapie, aber "in konkretem Sinne gibt es nur die 'method', das was Strasberg nach Wachtangow, Tairow, Meyerhold, Boleslawski und auch Stanislawski weiterentwickelt hat".4 Für Strasberg bildete das 'emotionale Gedächtnis' einen zentralen Punkt seiner Schauspieltheorie. Er war, wie in seiner Folge auch Tabori überzeugt, daß gutes Schauspielen bedeutet, auf der Bühne zu leben, wofür eine wahrhaftige Stimmung auf der Grundlage echter Gefühle erzeugt werden muß. Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit, die Emotionen zu studieren und einfache und komplizierte Gefühlsregungen zu analysieren. Der erste Schritt war also, einen Weg zu finden, die im 'emotionalen Gedächtnis' gespeicherten Gefühle bei Bedarf zu aktivieren, damit der Schauspieler in der Lage
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Ebd., S. 167. Gundula Ohngemach: George Tabori. Frankfurt/M. 1989, S. 134. Ebd., S. 133f.
Taboris Arbeit mit dem Schauspieler
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ist, die vom Stück geforderte Realität herzustellen. "Die bewußte, vom Willen gesteuerte Wiederbelebung intensiver emotionaler Erfahrungen bildete das Zentrum unserer Arbeit. Mit Hilfe von Übungen zum 'emotionalen Gedächtnis1 trainiert sich der Schauspieler darin, die 'Inspiration' zu beherrschen."5 Diese Aufgabe ist auch ein Schwerpunkt in Taboris Arbeit. Über die Gefühlsebene soll eine imaginäre Realität im Spiel hergestellt werden, die den Schauspieler befähigt, willentlich und bewußt innere Regungen zu aktivieren. Seine Aufgabe sieht Tabori darin, mit dem Schauspieler an der Überwindung des Diderotschen Paradoxons zu arbeiten: Wie kann man im Augenblick größter Inspiration noch kontrolliert agieren? Denn, noch einmal Strasberg: "Wenn ein Schauspieler Emotionen wirklich durchlebt, kann er trotzdem unfähig sein, sie zum Ausdruck zu bringen."6 Im Wege steht dem Schauspieler dabei die soziale und psychologische Konditionierung, die beim Menschen im Verlauf seiner Entwicklung zu bestimmten Ausdrucksgewohnheiten führt. Jeder lernt seine Gefühle und inneren Regungen in den Formen auszudrücken, die die Gesellschaft oder seine Umgebung zulassen. Bestimmte Verhaltensweisen werden geprägt, werden zu unbewußten Gewohnheiten. Diese Ausdrucksgewohnheiten hängen in hohem Maß mit den Ausdrucksschwierigkeiten des Schauspielers zusammen. Mit verschiedenen Übungen sucht Tabori gemeinsam mit den Schauspielern für diese Schwierigkeiten eine Lösung zu finden. Am Anfang jeder Probe stehen die 'warm ups1 genannten Entspannungsübungen, die im wesentlichen denen von Strasberg gleichen. Dabei ist klar, daß es unmöglich ist, den Körper von jeglicher Spannung frei zu machen, aber der Schauspieler sollte sich darin üben, die Spannung so weit zu beherrschen, daß sie ihn nicht daran hindert, die von seinem Willen ausgehenden Kommandos auszuführen. Um darin eine optimale Effektivität zu erreichen, muß nun das hinzukommen, wofür die Entspannung die Voraussetzung bildet: Konzentration. Durch die richtige Beherrschung der ihm zur Verfügung stehenden Energie gelangt der Schauspieler zu der Konzentrationsfähigkeit, die es ihm gestattet, eine imaginäre Realität herzustellen. In der Konzentration liegt der Schlüssel zu seiner Vorstellungskraft. Strasbergs Übungen zur Entspannung und Konzentration wurden nahezu unverändert von Tabori übernommen; sie werden im Abschnitt über seine Probenarbeit näher erläutert. Ein weiteres wichtiges Element das Tabori mit dem Ziel, neue Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, einsetzt, sind die Improvisationen. Bei diesen Übun5 6
Lee Strasberg: Ein Traum der Leidenschaft. München 1988, S. 140. Ebd., S. 119.
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gen bleiben nicht nur Denken und Reaktionen der Schauspieler in Fluß, sie helfen ihnen auch zu einem einleuchtenden Verhalten für die zu verkörpernde Gestalt zu finden. Was Taboris Verfahren bei der Arbeit mit dem Schauspieler nun von Strasbergs 'method' unterscheidet, ist die Anwendung von Elementen aus der von Frederick S. Perls entwickelten Gestalttherapie.
2. Perls Gestalttherapie Tabori wurde auf die Gestalttherapie durch Zufall aufmerksam. Doch er erkannte, daß die Übungen und Spiele, entwickelt zur Arbeit mit Patienten oder Klienten, auch für Schauspieler brauchbar sind: Seine [Perls, M.M.-J.] Therapie hatte sehr viel mit der Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler zu tun. Wie ein idealer Therapeut bringt er seinen Patienten, den Schauspieler, dazu, sich zu finden, um diese Verbindung zwischen Sein und Spielen, also das Authentische ebenso zu erkennen wie das Verlogene oder wie immer man es nennen will, und irgendwie in die Mitte zu kommen. Das klingt merkwürdig, aber es ist so: Ein Schauspieler funktioniert entweder von der Mitte aus oder das, was er macht, ist falsch. [...] Wie man zu der Mitte kommt, welche technischen Mittel man benutzt, das ist das Problem.7
Ein reichhaltiges Reservoir an solchen Mitteln sah Tabori in dieser Therapieform - u.a. die Vorgehensweise in den Traumseminaren. Bei diesen Seminaren sollen die Patienten ihre Träume ausagieren, wobei sie sich nicht nur mit den darin vorkommenden Menschen, sondern auch mit Tieren, Pflanzen und Gegenständen identifizieren. Über diese Identifikation sollen sie die Möglichkeit erhalten, die desintegrierten Teile der Persönlichkeit wieder zu vereinen. In dieser Identifikations- und Integrationstechnik Perls liegt der Ansatz, den Tabori in seine Theaterarbeit übernommen hat. Für den Schauspieler bedeutet das, daß er keine andere Figur verkörpert, sondern von seinem eigenen Rollenpotential ausgeht und versucht, in sich die Mitte dieser Figur zu finden. Die Identifikationstechnik benutzt Tabori hauptsächlich in den Improvisationen. In der Gestalttherapie soll der Patient durch die Übungen "an die Ganzheit seines leibseelischen Erlebens herangeführt werden und dabei einen besseren Zugang zu seinen Gefühlen erhalten. [...] Eine gezielte Verstärkung der sinnlichen Wahrnehmung und der Körpergefühle" wird dabei angestrebt.8 Der
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Kässens u. Gronius: Theatermacher (Anm. 1), S. 168. Friedrich Dorsch (Hg.): Psychologisches Wörterbuch. Bern 1987, S. 254.
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zentrale Begriff für das angestrebte Ziel ist 'awareness': ein hoher Grad an Bewußtheit, eine Art äußerster Wachzustand des Menschen, frei von Hemmungen und Angst, was beim Schauspieler bedeutet, frei von Lampenfieber zu sein. Dadurch wird ein Zustand erreicht, in dem der Schauspieler intuitiv agieren kann. Perls nennt die Momente der Intuition "die Intelligenz des Organismus", die dadurch freigesetzt wird und einen blockadefreien Kreislauf von innerer Befindlichkeit und Ausdruck ermöglicht. Die Gespaltenheit des Menschen wird hier dadurch aufgehoben, daß die Teile integriert, der 'äußere Mensch' mit dem 'inneren' in Gleichklang gebracht werden. Durch die Kombination von 'method' und Gestalttherapie entwickelte Tabori sein Schauspielertraining, welches einerseits nach den Prinzipien von Perls Hemmungen abbaut und zu einer gesteigerten Bewußtheit fuhrt, andererseits nach denen von Strasberg die Vorstellungskraft trainiert und über das 'emotionale Gedächtnis1 eine authentische und glaubwürdige Rollengestaltung ermöglicht.
3. Selbsterforschung und Integration Tabori kritisiert an der Arbeit im konventionellen Theater die Überbewertung des Rationalen und die Flucht in die Sachlichkeit. Theaterarbeit soll nach seiner Auffassung mehr von Erlebens- als von Denkenergien getragen werden. Deshalb hält er emotionale Offenheit und Erlebnisbereitschaft für wichtige Voraussetzungen bei der Produktion von Theater. Dies soll nicht als Ablehnung der Rationalität mißverstanden werden, sondern er will der Sachlichkeit als Prinzip Sinnlichkeit entgegensetzen. In der Arbeit mit den Schauspielern will Tabori deren Bereitschaft zur Emotionalität und dadurch eine neue Sensibilität für die Wirklichkeit fördern. Durch Einbeziehen von psychotherapeutischen Praktiken, die ein erhöhtes Bewußtsein für Wahmehmungsprozesse schaffen, sollen die vorhandenen Wahrnehmungsmuster relativiert, emotionale und intellektuelle Verkrampfungen gelöst werden. Wenn Tabori den Begriff 'therapeutisch' nur sehr vorsichtig gebraucht, so vergleicht er doch seine Aufgabe manchmal mit der eines Arztes: "Es ist meine hippokratische Aufgabe, unser Sensorium aufzutauen, indem ich uns helfe, besser zu sehen, zu hören, zu riechen und zu fühlen."9
George Tabori: Spiel und Zeit. In: Theater heute 1983, H. 10, S. 1-5, hier S. 3.
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4. Selbsterforschung Tabori baut seine Arbeit mit dem Schauspieler auf dessen bewußter Selbsterforschung auf. Die Art der Selbsterforschung des Schauspielers ist nicht existentialistisch ausgerichtet. Der Schauspieler wird als Individuum geachtet, er entwickelt seine Rolle anhand seines individuellen Potentials, das für die Rollengestaltung verfügbar gemacht werden soll. Taboris Absicht ist es, die Ich-Funktionen Denken, Wahrnehmung und Gedächtnis des Schauspielers zu verbessern. Seine Stellung zu den Schauspielern, die er als 'primus inter pares'-Rolle bezeichnet, erhält damit ein emanzipatorisches Element. Schwächen und Stärken werden akzeptiert; der Schauspieler soll sich ihrer bewußt werden, um damit umgehen zu können. Ein Zurückdrängen der Individualität und eine Darstellungsweise, die ins Überindividuelle zielt, lehnt Tabori ab; er ermutigt den Schauspieler sogar, individuelle Elemente für die Rolle zu nutzen. Dadurch, daß Tabori den Charakter des Spiels betont, gibt er den Schauspielern viel Freiheit und keine Richtung vor, in die sie sich entwickeln sollen. Alles ist möglich oder kann ausprobiert werden, was dem Empfinden des Darstellers entspringt, und die Elemente, die für eine wahrhaftige, Verkörperung der Rolle von Nutzen sind, werden eingebaut.
5. Angstfreies Spielen George Tabori betont in der Probenarbeit den selbstzweckhaften Charakter des Spielens, um maximale Freiheit im Umgang mit der Rolle zu schaffen — und dies möglichst von neuem auf jeder Probe, ohne die vorherige bloß zu wiederholen. Die Spiele verbinden meist die Möglichkeit, Hemmungen zwischen den Partnern abzubauen, Vertrauen zu gewinnen, den Raum in Besitz zu nehmen und die eigene Befindlichkeit zu erkunden. Wichtig ist Tabori dabei, im Spiel eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen, die für ihn eine Voraussetzung kreativer Arbeit darstellt: "Man kann nicht schauspielern, wenn man Angst hat, es sei denn, man hat einen Weg gefunden, diese Angst auszudrücken oder zu akzeptieren. [...] Wenn man diese Angst negiert, macht man etwas Wichtiges in sich kaputt, denn Angst ist auch Energie."10 Angst ist in der Schauspielkunst wie im alltäglichen Leben ein prinzipielles Element, eine menschliche Dimension. Geht man darüber hinweg oder verTabori: Unterammergau, S. 189.
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sucht, sie zu verdrängen, hemmt man dadurch den Fluß kreativer Energie. Da aber die Bühnensituation 'verdichtetes Leben' darstellt und die Schauspieler einander gleichsam ausgeliefert sind, glaubt Tabori, daß dabei die Ängste als besonders intensiv und bedrohlich erfahren werden: Wenn man also diese Ängste bewältigt, sind die anderen minimal. Aber man sollte die beiden Seiten nicht trennen; ich glaube, das Persönliche, das Moralische, das Psychologische und das Künstlerisch-Handwerkliche zu trennen, das hieße anzunehmen, daß der Künstler ein anderer Mensch wird, wenn er seine Arbeit tut. Er ist derselbe Mensch, er bringt seine eigenen Probleme, Lust oder Unlust in die Arbeit mit. Die Frage ist einfach, wie bewußt das passiert. Wenn es unbewußt passiert, dann kann es zu schweren Problemen filhren, wenn das ein wenig bewußt gemacht wird, dann kann man sich damit auseinandersetzen."
Bei Tabori sollen also im Spiel Angst und Hemmungen abgebaut werden, um unbeschwert und damit kreativ spielen zu können.
6. Elemente der Rolle in sich selbst finden Der Weg zur Rollenfigur soll bei Tabori über inneres Erleben, über sinnliches Nachempfinden gefunden werden. Die Figur soll durch das Aufspüren einer inneren Motivation des Schauspielers für entsprechende Verhaltensweisen und Äußerungen Gestalt annehmen. In einem weiteren Schritt soll aus dem Spiel und der literarischen Vorlage (in der Auseinandersetzung mit dem Thema) die Figur entwickelt werden. Der Text dient in diesem Zusammenhang als Grundlage und Reizpunkt für die Kreativität. Die Auseinandersetzung des Schauspielers mit dem vom Text vorgegebenen Thema und mit sich selbst ist für Tabori dabei ein wesentliches Element des Produktionsprozesses. Diese Art der Annäherung des Darstellers an die Rolle soll aber nicht mit einem oberflächlichen 'Nur-sich selbst-spielen' verwechselt werden. Vielmehr handelt es sich dabei um das Entwickeln der Konturen einer Rolle aus den spezifischen Möglichkeiten des Schauspielers, der dadurch zum Mitregisseur wird. Eine - beispielsweise durch Textanalyse - gewonnene und festgelegte Interpretation der Rolle soll zugunsten der Persönlichkeit des Schauspielers vermieden werden.
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George Tabori: Notizen zu Sigmunds Freude, unveröffentlichtes Manuskript 1975, S. 9f. - vgl. in diesem Band Feinberg, Anm. 42.
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Michael Müller-Janke Es geht darum, daß jeder Schauspieler, ja jeder Mensch in sich Elemente dieser Rollen hat, und die gilt es zu entdecken. [...] Unsere Arbeit soll dem Schauspieler ermöglichen, all dies in sich zu finden. Dann kann die These, daß der Schauspieler interessanter ist als die Rolle, auch für andere sichtbar werden. Der Schauspieler muß dazu kommen, sich selbst mehr zu empfinden und zu entdecken, was bisher verborgen war.12
Der Schauspieler, der durch die Arbeit Verborgenes in sich entdeckt bzw. wiederbelebt, macht bei Tabori nicht diese Regungen selbst zum Gegenstand der Darstellung, sondern nutzt sie für die glaubwürdige Verkörperung seiner Rolle.
7. Der Weg zur authentischen Rollengestaltung Beim Produktionsprozeß arbeitet Tabori nicht nach dem im Regietheater meist üblichen Schema Leseprobe, Stellprobe, Einzelproben etc. Bei diesem Vorgehen hat der Regisseur gewöhnlich ein Interpretationskonzept des Stückes bereits ausgearbeitet, dem die Schauspieler folgen sollen. In Taboris Auffassung vom Schauspielertheater dagegen dominiert die individuelle Darstellungsweise, über die der Text interpretiert wird. Der Schauspieler hat in diesem Inszenierungskonzept absoluten Vorrang vor den anderen Mitteln der szenischen Interpretation. Die Gestaltung des Sinngehalts einer dramatischen Textvorlage läuft hier über ihre Reflexion durch den Schauspieler und ihre psychologische und gestische Interpretation durch ihn. Der Arbeitsschwerpunkt von Tabori liegt somit nicht im Studium einer vom Dramentext vorgegebenen Figur, ihrer Motivierung und Innerlichkeit, sondern in der Erkundung der eigenen Befindlichkeit des Schauspielers, seiner inneren Prozesse und Erfahrungen im Zusammenhang mit entsprechenden Situationen, die in die Rollengestaltung eingeflochten werden, um größtmögliche Wahrhaftigkeit und Authentizität in der Darstellung zu erreichen. Tabori räumt dem Schauspieler viel Raum ein zu intensiver Beschäftigung mit sich selbst. Er benutzt in der Anfangsphase Übungen, welche die Schauspieler auf die eigentliche Probenarbeit vorbereiten sollen. Von Taboris Probenarbeit gibt es vielfaltige Schilderungen, die den Verlauf des Probenprozesses durchschaubar machen und Auskunft darüber geben, welche Entwicklungsgeschichten bestimmten Phänomenen zugrunde liegen. Das spricht für die Offenheit von Taboris Arbeitsweise, wo nichts Mysteriöses 12
Ebd., S. 5.
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oder Geheimnisvolles passiert, das man verbergen müßte. Als Einstieg verwendet Tabori Übungen, welche die Schauspieler auf die eigentliche Probenarbeit vorbereiten beziehungsweise einstimmen sollen. Es handelt sich dabei um nicht-stückbezogene Aufwärmübungen, damit sich die Schauspieler physisch lockern und mental öffnen - ähnlich wie Sportler sich warm machen, damit die Energie für ungewöhnliche Leistungen aktiviert wird, oder wie ein Instrument, das gestimmt werden muß, um einen harmonischen Klang zu erzeugen.
8. 'warm ups' Bei Tabori bilden die 'warm ups1 genannten Entspannungsübungen, die er von Strasberg übernommen hat, einen festen Bestandteil seiner Arbeit; sie finden am Anfang jeder Probe statt. Da Alltagsprobleme und sonstige unerledigte Dinge - auch die bereits angesprochenen Ängste - Verspannungen hervorrufen, die den Schauspieler daran hindern, sich ganz auf die Anforderungen, die in der Arbeit an ihn gestellt werden, einzulassen, soll er sich mit Hilfe dieser Übungen auf die Probensituation einstimmen. Tabori verwendet in diesem Zusammenhang immer wieder den Vergleich mit einem Klavier, das - wenn es schlecht gestimmt ist - sich falsch anhören wird, selbst wenn Horrowitz Chopin darauf spielt. Bereits Strasberg betonte, wie wichtig es für den Schauspieler sei, einen Zustand des Entspannt-Seins anzustreben - und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es nach seiner Erfahrung die Voraussetzung für effektive Konzentration ist. Strasberg war überzeugt, daß in den Spannungsfeldern überschüssige Energie blockiert wird, die den Fluß von Gedanken und Empfindungen - und damit die Ausdrucksfähigkeit des Schauspielers - hemmt. Die Probensituation und später auch die Bühnenumgebung erzeugen bereits eine Spannung im Schauspieler. Die dabei erforderliche Konzentration auf Bewegung und Kommunikation setzt ihn einem spezifischen äußeren und inneren Druck aus. Deshalb ist die richtige Beherrschung der eigenen Energie eine Grundvoraussetzung für alles weitere. Worum es also Tabori geht, ist nicht, den Körper von Spannung zu befreien, sondern das richtige Maß bzw. eine harmonische Verteilung der Körperenergie zu erreichen. Ein ungehindertes Fließen der Energie soll gewährleisten, daß im richtigen Moment und am gewünschten Ort die zur Ausführung einer Aktion notwendige Energie zur Verfügung steht. Eine Entspan-
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Michael Müller-Janke
nungsübung, wie sie auch Strasberg beschreibt, habe ich bei den Proben zu Taboris Stück Nathans Tod, das er am Residenztheater München inszenierte, beobachten können. Solche 'warm ups' hat Tabori nicht selbst geleitet. Dieser Teil der Arbeit wurde von einer Lehrerin des Actors' Studio übernommen. Nach den 'warm ups' setzte sie ihre Arbeit mit Schauspielern, die gerade nicht bei der Probe gebraucht wurden, in einem anderen Raum fort. Zu Beginn der Übung saß jeder Schauspieler auf einem Stuhl. Sie sollten nun in Gedanken durch den Körper gehen, Kontakt zu den einzelnen Bereichen herstellen und sie auf das Vorhandensein von Spannung überprüfen. Die Schauspieler wurden angewiesen, verspannte Muskelpartien zu bewegen und versuchen, sie zu entspannen. Die Bewegungen sollten von einem gleichmäßig schwingenden Ton in der Brust begleitet werden: "Aahhhhhhh." Durch diesen Ton wird der Emotion der Weg zum Ausdruck gebahnt. Der Schauspieler muß jedoch daran denken, währenddessen die auf Entspannung zielenden Bewegungen fortzusetzen, sonst bliebe die akustische Aktion ohne Wirkung. Falls durch die beschriebene Prozedur die emotionale Energie nicht freigesetzt wird, sollte der Schauspieler einen heftigen, explosiven Laut ausstoßen, in den er alles hineinlegt: "Hah!" Bei diesem Verfahren geht es nicht nur um körperliche Entspannung. Sie ist nicht zu finden, ohne an die Ursachen für die Verspannungen heranzukommen, welche meist im psychischen und emotionalen Bereich liegen. "Einigen Psychologen zufolge bewahren die Muskeln Eindrücke von starken emotionalen, häufig dramatischen Erlebnissen. Solange diese Muskeln nicht entspannt sind, können sich die Emotionen nicht freimachen, um zum Ausdruck zu gelangen."13 Peter Radtke, ein stark körperbehinderter Schauspieler, hat seine Erfahrungen mit Taboris Theaterarbeit (während der Produktion des Medea-Projekts M an den Münchner Kammerspielen) in einem Buch verarbeitet. Auf seine Schilderungen werde ich im folgenden häufiger zurückgreifen, da ich nirgendwo sonst die Erfahrungen mit Taboris Arbeitsweise auf so kompetente und kritische Weise reflektiert gefunden habe. In diesem Buch schildert er auch seine ambivalenten Empfindungen während der 'warm ups': George stellt uns Jaffa vor, eine junge Frau, die mit uns sogenannte 'warm-ups' machen soll. [...] Mit geschlossenen Augen beginnen wir, bewußt unserem Atem zu lauschen. [...] Langsam beginnen wir, den Atem zu kontrollieren, ihn in die einzelnen Körperpartien zu schicken. Ich finde die Übung lächerlich, weiß nicht ob ich sie richtig mache. Trotzdem geht von ihr eine Wirkung aus, die mein Empfinden auf geheime Art berührt. Laßt eueren
Strasberg: Ein Traum (Anm. 5), S. 155.
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Atem von einem Ton begleiten! Plötzlich steigt aus meinem Bauch ein schnarrendes.grunzendes Geräusch auf. Es drückt Wohlbehagen aus, Stimmigkeit, die den ganzen Körper umfaßt. [...] 'Füllt mit eueren Stimmen den Raum!' Das Dröhnen wird höher und schärfer, Atmen und Summen gehen eine Verbindung ein. [...] Selten habe ich das Gefühl, mehr in mir zu sein, als in diesem Augenblick. Sie [die Übung] spricht mich an, stößt mich jedoch gleichzeitig ab. Immer wieder spüre ich in mir die Angst vor den eigenen Gefühlen. Ich habe mein ganzes Leben hindurch gelernt, meine Umwelt mit dem Kopf zu beherrschen.14
Damit beschreibt Radtke Erlebnisse, wie sie von anderen ganz ähnlich erlebt und geschildert wurden, und spricht in den letzten beiden Sätzen das Problem an, das mit diesen Übungen angegangen werden soll: Die Angst vor dem Verlust der kopfgesteuerten Kontrolle über die eigenen Gefühle zu überwinden. Die Angst entsteht aus der Verunsicherung gegenüber dieser neuartigen Wahrnehmungs- und Ausdrucks weise der eigenen Gefühle und der Energie, die in ihnen steckt.
9. Wahrnehmung des Partners Schon bei den (die eigentliche Probenarbeit vorbereitenden) Spielen gibt es solche, die den Kontakt zwischen den Akteuren herstellen und ihre Beziehung zueinander vertiefen sollen. Eine Variante, die in den Berichten der Beteiligten des öfteren erwähnt wird, ist das 'Händespiel', dessen Verlauf und Wirkung Peter Radtke so beschreibt: Wir sitzen zu dritt im Kreis. Wie immer in solchen Fällen halten wir die Augen geschlossen. (Tabori:) 'Versucht, Kontakt mit der Hand des Nachbarn zu bekommen!' Wir tasten Löcher in die Luft. Plötzlich Kontakt - wie ein elektrischer Schlag! Mein linker Mittelfinger hat Uschis Hand gefunden. Gleich darauf rechts die nächste Berührung: eine schwere, doch nicht derbe Hand schließt sich um meine Finger. Welch Unterschied! 15 Weiter beschreibt Radtke die vielfaltigen und feinsinnigen Empfindungen, die sich während der gegenseitigen Erkundung der Hände abspielten, die eine Spannung und eine eigenartige Vertrautheit zum Anderen erzeugten. "Wie kommt es, daß ich diese Frau, die ich nicht kenne, die ich bis vor kurzem noch so kompromißlos abgelehnt habe, nun umarme?"16 Folgende Übung soll die gegenseitige Abhängigkeit der Darsteller beim Spielen physisch erfahrbar machen. Dazu werden je zwei sich gegenüber14 15 16
Peter Radtke: M wie Tabori. Zürich 1987, S. 33f. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41.
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stehende Partner mit imaginären Gummibändern an Annen und Beinen aneinander gebunden. Tabori: "Stellt euch vor, ihr wäret durch die Gummibänder verbunden. Je weiter ihr auseinanderstrebt, desto stärker wird die Spannung. Ihr müßt sie euch erfahrbar machen. [,..] Vergeßt nie: Ihr hängt voneinander ab!"17 Auch dazu beschreibt Radtke die verblüffende Wirkung, daß nach wenigen Augenblicken diese gedachten Bänder wirklicher als jede Realität sind. Was nur in der Vorstellung existiert, verursacht eine spürbare Anstrengung und wird dadurch zur sinnlichen Erfahrung. Solche Übungen setzt Tabori ein, um beim Schauspieler die Vorstellungskraft zu trainieren, die bei der Aufführung für die Erzeugung einer imaginären Realität genutzt werden kann. Die Basis einer Aufführung ergibt sich bei Tabori aus der im Spiel entwickelten intensiven Wahrnehmung des Partners und dem Bewußtsein der Abhängigkeit voneinander: gemeinsam verkörpert man im Zusammenspiel ein Ganzes.
10. Vertrauensbildende Spiele Vertrauen ist bei Tabori eine der wichtigsten Voraussetzungen, um ungehemmt agieren zu können. Bei Grotowski bedeutet Vertrauen für den Schauspieler, keine Angst haben zu müssen, sich beim Bloßlegen seines Innersten lächerlich zu machen. Tabori versteht darunter ein umfassendes Vertrauen in sich selbst, den Partner, den Raum: die Gewißheit zu haben, daß einem nichts passieren wird. Besonders deutlich wird auch das im Fall von Peter Radtke, der diese Vorgänge durch seine spezielle Situation intensiver erlebt. Bei den Proben ging es darum, daß Ursula Höpfher ihn vom Boden in seinen Rollstuhl heben sollte. Er traute der schmächtigen Frau die Kraft nicht zu, hatte Angst, fallen gelassen zu werden. "Ich wage schüchtern meine Bedenken vorzubringen. George scheint nicht zu verstehen. 'Uschi ist kräftig; du kannst ihr vertrauen.' Als ob es nur auf Vertrauen ankäme. Aber auf was soll ich sonst bauen? Tatsächlich schafft es die zierliche Person. [...] Ich hatte Angst, und dennoch möchte ich die Erfahrung nicht missen: Uschi kann mich tragen!"18 Hier dient die Übung dazu, auch das Vertrauen sinnlich erfahrbar zu machen. Ein weiteres Beispiel soll zeigen, wie eine Vertrauensbasis für eine neue Situation geschaffen werden kann, welche sich durch äußere Veränderung 17 18
Ebd. Ebd., S. 51.
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ergibt, wie beispielsweise beim Wechseln vom vertrauten Probenraum in eine fremde Umgebung der Bühne. Um Vertrauen in diesen neuartigen Raum, seine Ausmaße, Beschaffenheit, seinen Geruch etc. zu gewinnen, benutzt Tabori eine Übung, bei der ein Partner den anderen mit verbundenen Augen im Raum herumführt. Derjenige, der nichts sehen kann, nimmt so den Raum mit anderen Sinnen als gewöhnlich wahr, etwa durch Betasten des Bodens, der Wände oder von darin befindlichen Gegenständen, und zugleich muß er auf den vertrauen, der ihn führt. Der Sehende wiederum muß lernen, Verantwortung für seinen Partner zu übernehmen.
11. Magische Objekte In den Proben steht bei Tabori auch die intensive Auseinandersetzung mit Objekten auf dem Programm, die der Schauspieler im Verlauf der Handlung benutzt. Indem er sich besonders aufmerksam mit ihnen beschäftigt, stellt er eine Beziehung zu ihnen her. Dabei genügt es nicht, den Gegenstand anzuschauen und sich darauf zu konzentrieren, sondern man muß durch Befragen eindringen und Form, Struktur, Farbe, Geruch, Geschmack neu entdecken. Ein Beispiel, wie auf diese Weise ein Gegenstand neue Bedeutung erlangt, berichtet Peter Radtke: George gibt mir eine Teeschale in die Hand. Ich spüre ihre glatte Oberfläche. Außer der Glätte glaube ich nichts zu erkennen. George befragt mich, dringt weiter in meine Gedanken. Nach einer Weile fällt meinen Fingern eine Unregelmäßigkeit auf: die Schalenwand - sie ist uneinheitlich dick. Die Fläche, die mir zuerst ebenmäßig vorkam, wird zu einer Abfolge kaum wahrnehmbarer Rillen. Im Innern der Schale fühle ich einen winzigen Tropfen Feuchtigkeit. Außen riecht der gebrannte, glasierte Ton steril und sauber, doch vom Boden heraufsteigt plötzlich der Duft von vielen hundert gefüllten Tassen Tee. Ich weiß es ist Einbildung, aber die Einbildung trägt. Unter den Fingern beginnt die Schale zu leben. [...] Nie hätte ich gedacht, daß ein toter Gegenstand so viele Eigenschaften besitzt. Und die Eigenschaften fangen an in mir Erinnerungen wachzurufen.19
In einem anderen Fall ging es Tabori darum, ein Abstraktum sinnlich erfahrbar zu machen. Während der Proben zu den Shylock-Improvisationen brachte er, um zu zeigen, was das bedeutet, ein Pfund frisches, rohes Fleisch. Jeder konnte es befühlen und beriechen und sich so einen sinnlichen Eindruck davon machen. Mit solchen Übungen sollte das sensitive Erinnern trainiert werden. 19
Ebd.,S.35f.
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Die Erinnerungsketten und Assoziationen, die zum Beispiel ein Geruch hervorruft - Bilder, Stimmungen, Gefühle - können dem Schauspieler helfen, sich in bestimmte Situationen zu versetzen und das Bewußtsein für seine Umgebung zu schärfen. Die oben beschriebenen Übungen stellen nur eine Auswahl aus einem ganzen Kontingent solcher Übungen und Spiele dar, die Tabori bei seiner Arbeit einsetzt. Wie bereits erwähnt, folgt der Probenprozeß bei Tabori keinem schematischen Aufbau. Es kommt durchaus vor, daß er zu einem fortgeschrittenem Zeitpunkt der Arbeit auf Spiele zurückgreift, um Konflikte zu beheben oder durch sie Lösungen für bestimmte Probleme zu suchen. Manchmal werden auch Situationen, die in den Spielen entstehen, in die Inszenierung übernommen. Radtkes Beschreibung dieser Probenarbeit belegt eindrucksvoll deren Wirkung: "Die Atem- und Bewegungsübungen, das Spiel mit den Partnern, die Studien mit George gewinnen für mich den Charakter einer Droge. Ich habe niemals LSD genommen. Man sagt, es lasse die eigene Existenz um ein Vielfaches intensiver erfahren. Gleiches empfinde ich hier. Als seien die Sinnesorgane aus ihrer Dumpfheit erwacht, erlebe ich jeden Moment klarer, vitaler, unbeschreiblich direkt."20 Diese Schilderung erinnert stark an das Ziel der Gestalttherapie, jene gesteigerte Bewußtheit ('awareness') zu erreichen.
12. Improvisationen Die Improvisationen bilden bei Tabori einen Übergang zur eigentlichen Inszenierung. Dabei wird versucht, durch Ausprobieren verschiedener Haltungen, zu einer Gestaltung der Rolle zu finden. So bildet sich im Verlauf eine immer deutlichere Struktur der Rolle heraus. Eine von Tabori häufig benutzte Variante ist die Tier-Improvisation, wobei es nicht darum geht, ein Tier möglichst realistisch nachzuahmen, sondern sein Wesen zu erfassen, sich in sein Verhalten einzufühlen. Radtke beschreibt, wie eine solche Übung für die Rollenfindung genutzt wird: Uschi (Höpfher) und Ulf (Schuhmacher) schlüpfen in die Rolle von Tieren. Ulf ist ein Schimpanse, Uschi eine Löwin. Wie würde eine Begegnung zwischen diesen beiden Tiergattungen in freier Wildbahn aussehen? Verhaltensmöglichkeiten werden durchgespielt. [...] Die beiden umkreisen sich, fauchen, zischen, schlagen mit Händen und Füssen 20
Ebd.,S.67f.
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nach dem vermeintlichen Feind. Sie meinen es ernst, haben offensichtlich völlig vergessen, daß es ein Spiel ist. Plötzlich sind sie ineinander verkeilt. 'Kommt jetzt in euern Anfangstext', fordert George die keuchend Ringenden auf. Bleibt immer Löwe und Affe; denkt nur an dies, an nichts mehr! Die ersten Sätze des Familienstreites werden herausgestoßen. Wie anders wirkt die Szene als beim ersten Mal. Der Text ist beseelt von einer Dynamik, die erschreckt.21
Diese Übung bietet die Möglichkeit, der physischen Charakterisierung einer Rolle näherzukommen. Es wird eine starke Verbindung geschaffen zwischen Körperdynamik und dem Inhalt der verbalen Äußerungen. Es besteht dadurch die Möglichkeit, konditionierte Verhaltensmuster - in Bezug auf entsprechende Äußerungen - zu durchbrechen und für diese Äußerungen neue Möglichkeiten des körperlichen Ausdrucks zu finden. Des öfteren übernimmt Tabori Handlungsabläufe, die bei den Improvisationen oder auch bei anderen Übungen entstehen, in die Inszenierung.
13. Übungen mit der Nonsens-Sprache Mit dieser Übung, bei der ein Partner in einer unverständlichen Lautsprache versucht, seinem Gegenüber den Inhalt des Gesagten klarzumachen, geht es darum, ein tieferes Verständnis für den Subtext zu entwickeln. Es soll nicht nur verstanden werden, was in Worten gesagt wird, sondern ein Verständnis für das, was tatsächlich vor sich geht, entwickelt werden. Indem der Schauspieler, den Inhalt dessen, was er sagen möchte, in der Nonsens-Sprache ausdrückt, muß er sich selbst genau über die Bedeutung des Textes im Klaren sein; gleichzeitig zwingt er den Partner, sich um wirkliches Verständnis zu bemühen, anstatt nur auf ein Stichwort zu hören. Für Tabori zählt der Mensch als ganzheitliches trichotomisches Wesen, in dem Leib, Seele und Geist von gleichwertiger Bedeutung sind. Taboris Übungen zielen darauf ab, diese Komponenten in Einklang zu bringen. Die Aufmerksamkeit soll nicht konzentriert und in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, sondern der Wahrnehmungskreis erweitert und intensiviert. Es soll ein Kontakt nach innen wie nach außen bestehen. Auch die äußere Realität ist von Bedeutung für die Arbeit; sie wird in die Probensituation einbezogen. Sie muß genauso erschlossen und sinnlich erfahren sein wie die innere Wirklichkeit des Schauspielers. 21
Ebd., S. 44.
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14. 'Primus inter pares' Das Konzept von Taboris Regiearbeit besteht in einem Wechselspiel zwischen Freiraum und Gebundenheit. Dem Regisseur obliegt bei diesem Konzept die Aufgabe, die Struktur für das Ganze zu erarbeiten und im Auge zu behalten, um von dieser Position aus, dem Schauspieler dabei zu helfen, die wahrhaftigen Ausdrucksmöglichkeiten seiner Rolle zu finden. Innerhalb eines vorgegebenen Handlungsrahmens hat der Darsteller die Möglichkeit, sich selbst, seine unverwechselbare Persönlichkeit zu verwirklichen. In diesem Fall gibt es kein 'falsch' oder 'richtig', solange Wort und Aktion miteinander in Einklang stehen und es gelingt, einen authentischen, lebendigen Ausdruck für die Rolle zu finden. "Wenn ich überhaupt ein Talent haben sollte, dann ist es das: Totsein auf der Bühne riechen zu können, ein Totsein, das auch Lüge ist."22Tabori will als Regisseur deshalb den Schauspielern dabei helfen, Mittel zu finden, diese Lüge, das technische Wiederholen von einmal Festgelegtem, zu vermeiden. Er fordert immer wieder, Ergebnisse von vorangegangenen Proben nicht einfach zu wiederholen, sondern die Situationen immer wieder neu entstehen zu lassen. Welchen Stil Tabori bevorzugt, zeigt sich auch in seinem Verhältnis zu anderen Regie-Methoden: Meine erste Begegnung mit dem Stein-Theater war erstaunlich und verblüffend in der Ästhetik, Intelligenz, inhaltlich auch sehr zwingend. Schauspielerisch fand ich es verkrampft. [...] Es war perfekt und etwas leer. Peter Brook ist ja auch ein Großmeister, aber er arbeitet ganz anders als Peter Stein. Er gibt viel mehr Freiheit. Er macht sehr wenig Regie, bietet statt dessen Hilfsmittel, Improvisationen, Spiele an. Auch diskutiert man bei ihm intensiv. Es entsteht eine ungeheure Einfachheit. [...] Er verzichtet auf alle Ornamente. [...] Ihn bewundere ich wirklich ohne Wenn und Aber.23
In seinen Proben betont Tabori den Charakter des Spielens. Durch die Spiele will er eine Atmosphäre herstellen, in der die schöpferische Phantasie sich frei entfalten kann. Deshalb bezeichnet er sich auch gerne als Spielleiter. Die Bezeichnung Regisseur ist ihm nicht ganz geheuer. Darauf angesprochen, daß es in seinen Texten zum Theater zwar viel über Schauspieler und deren Arbeit zu lesen gebe, aber sehr wenig über die Aufgabe des Regisseurs, äußerte er: Das stimmt, denn ich bin kein Regisseur und will kein Regisseur sein. Ich mag das Wort nicht, denn es erinnert mich an Regierung. [...] Dabei meine ich nicht, daß ich gegen das 22 23
Tabori: Unterammergau, S. 186. Kässens u. Gronius: Theatermacher (Anm. 1), S. 174.
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Regietheater bin, oder denke, man brauche keinen Regisseur oder Spielleiter. Es geht hier um eine schwer zu findende Balance.24
Zum Abschluß noch einmal Peter Radtke über den Regisseur George Tabori: George bemüht sich von Anfang an um eine lockere Atmosphäre. Ich bleibe skeptisch vor dieser von oben verordneten Heiterkeit. Überall lausche ich nach versteckten Tönen der Machtausübung. Das allzuhäufige Herausstreichen der primus-inter-pares-Rolle, die ständige Erwähnung der Freude, die im Spiel liegen soll, die Negierung der eigenen Funktion als Regisseur steigern eher mein Mißtrauen, als daß sie es abbauen würden. Doch der antiautoritäre Stil wird den ganzen Abend durchgehalten. Die Menschenftlhrung des George Tabori ist subtil, benötigt nicht die herkömmlichen Mittel der Einschüchterung, das Ausspielen von Macht, das bloße Befehlen.25
24
25
Emmanuel Bonn u. Siegmar Schröder: Theater des Zorns und der Zärtlichkeit. Bielefeld 1988,8.60. Radtke: M wie Tabori (Anm. 14), S. 29.
Anat Feinberg
Taboris Bremer Theaterlabor.1 Projekte - Erfahrungen - Resultate
l. Die Erfüllung eines langgehegten Traums Mit der offiziellen Gründung des Theaterlabors 1976 in Bremen durch George Tabori gab es erstmals in der Bundesrepublik eine experimentelle Theatergruppe, wie man sie bereits in der internationalen Theaterlandschaft kannte. Beeinflußt durch Grotowskis experimentellen Ansatz und sein polnisches Labor, entstanden seit Mitte der 1960er Jahre in Skandinavien, Brüssel, Paris und Tokio Theaterlabore. In den Vereinigten Staaten waren es Avantgarde-Gruppen wie The Living Theatre, Schechners Performance Group oder Chaikins Open Theatre, die neue Wege in der Theaterarbeit und Schauspielkunst betraten.2 Für den damals 62jährigen, rastlosen Juden George Tabori, der keine systematische Ausbildung im Theater vorweisen konnte und dessen Theaterarbeit in den USA keine besonders große Resonanz gefunden hatte,3 war das Bremer Theaterlabor die Erfüllung eines langgehegten Traums.4 1
2
3
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Die vorliegende Studie stützt sich auf umfangreiches unpubliziertes Material im TaboriBestand des Archivs der Berliner Akademie der Künste. Ich danke George Tabori für die Erlaubnis, diese Dokumente einsehen zu dürfen. Wichtige Insider-Informationen erhielt ich von einem Mitglied der Bremer Gruppe, Detlef Jacobson, dem ich an dieser Stelle herzlich für seine Hilfe danke. Weiterhin wurde eine Vielzahl von Theaterkritiken, die in deutschen Zeitungen erschienen sind, ausgewertet. Für Rat und Überlassung von unpublizierten Materialien danke ich weiterhin Gundula Ohngemach und Rolf Ronzier. Vgl. Christopher Innes: Avant Garde Theatre 1892-1992. London u. New York 1993, S. 125-192. Taboris erfolgreichstes Projekt im amerikanischem Theater war der Abend Brecht on Brecht (1962). In der Tat gehörte Tabori zu den ersten, die das amerikanische Publikum mit den Werken Brechts bekannt machte, indem er u.a. auch mehrere Brecht-Stücke ins Englische übersetzte. Davor hatte er Hollywood den Rücken gekehrt, wo er einige Filmscripts für die dortige Filmindustrie geschrieben und sein Glück als Theaterautor versucht hatte. Diese Stücke wurden in New York und London uraufgeführt, jedoch waren sie weder kommerziell ein Erfolg, noch gelang Tabori damit die Anerkennung als Theaterautor. Zuvor sammelte Tabori Erfahrung mit dem Free Southern Theatre in New Orleans, einer Gruppe von weißen und schwarzen Schauspielern, die gemeinsam politisches Theater
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Das Angebot kam von Peter Stoltzenberg, dem damaligen Intendanten des Theaters der Freien Hansestadt Bremen. Er hatte Die Kannibalen, Taboris deutsches Debüt 1969, in Berlin gesehen. Vor allem beeindruckt hatte es ihn, wie "zum ersten Male [...] Menschen auf dem Theater 'ehrlich' dargestellt" wurden.5 Tabori, der damals mit alternativen Theatergruppen in Berlin und in der Provinz zusammenarbeitete und erste Erfahrungen mit dem deutschen Bühnenbetrieb sammelte,6 nahm Stoltzenbergs Angebot gleich an. Seine erste Inszenierung in Bremen war David Rudkins Vor der Nacht (Premiere am 25.3.1975), seine letzte, genau drei Jahre später, war Hamlet (Premiere am 19.3.1978). Im Verlauf dieser drei Jahre, in denen das Theater in Bremen ihm zu einer "Art von Heimat" wurde,7 führte er in sieben Inszenierungen Regie, vier davon im Rahmen seines Theaterlabors.8 Ich beziehe mich auch auf die drei Inszenierungen, die vor der offiziellen Gründung des Theaterlabors in Bremen stattfanden, da Taboris Prinzipien und Arbeitsmethode dabei die gleichen waren wie im Labor, wenngleich sie dort intensiviert werden konnten. Außerdem ist eine deutliche Kontinuität festzustellen, was die beteiligten Schauspieler anbetrifft. Obwohl er in seinen Verhandlungen mit den zuständigen Stellen in Bremen darauf bestand, mit einer eigenen Gruppe zu arbeiten, wurde Tabori dieser Wunsch erst später gewährt. Zu diesem Zeitpunkt war jedermann klar gewormachten und in Kirchen und Kneipen vor überwiegend schwarzem Publikum auftrat. Später leitete er zusammen mit seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Viveca Lindfors, eine alternative Theatergruppe The Strolling Players. Die kleine Gruppe gastierte meist in der Provinz. - Vgl. Viveca Lindfors' Autobiographie: Viveka... Viveca. New York 1981, S. 253 u. 258. Vgl. Lust an der Wahrheit, ein Gespräch zwischen Peter Stoltzenberg und Andrea Welker. In: Andrea Welker (Hg.): George Tabori: Dem Gedächtnis, der Trauer und dem Lachen gewidmet. Portraits. Wien u.a. 1994, S. 76-78. Die deutsche Erstaufführung von Kannibalen hat in der Werkstatt des Schiller-Theaters in West-Berlin am 13.12.1969 stattgefunden. Das Stück wurde ein Jahr früher in New York uraufgeführt. Nach der positiven Rezeption von Kannibalen in Berlin führte Tabori bei seinen eigenen Stücken Pinkville (Dreieinigkeitskirche in Berlin-Rudow, Premiere: 24.8.1971) und Clowns (Zimmertheater Tübingen, Premiere: 8.5.1972) Regie. Ebenfalls inszenierte er James Saunders dramatische Version von Kleists Michael Kohlhaas an der Werkstattbühne des Schauspielhauses Bonn (Premiere: 8.4.1974). Vgl. Welker (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 76. Tabori hat immer eine geographische Definition von Heimat streng abgelehnt. Für ihn bedeutet Heimat "Bühne, Bett und Bücher". Siehe Tabori: Budapest-Hollywood-Berlin. In: Jörg W. Gronius u. Wend Kässens (Hg.): Tabori. Frankfurt/M. 1989, S. 122. Während der Probenarbeit in Bremen führte er an der Werkstattbühne des Schauspielhauses in Bonn (Mrozeks Emigranten, Premiere: 12.6.1975) wie auch im Werkraum der Münchner Kammerspiele (Kafkas Verwandlungen, Premiere: 23.2.1977) Regie.
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den, daß seine Arbeitsmethode und sein freier Umgang mit dem Text im Widerspruch zu den Grundprinzipien und Gewohnheiten des etablierten deutschen Theaters standen. Stoltzenberg gebührt das Verdienst, 1976 für Tabori die erforderlichen Bedingungen, die eine uneingeschränkte experimentelle Theaterarbeit gewährleisten, geschaffen zu haben. Weder vorher noch nachher hat irgendein deutscher Intendant ein solches Experiment gewagt. So erhielt Tabori ein eigenes Ensemble für sein Theaterlabor. Dazu kam noch die Bühnenbildnerin Marietta Eggmann, die ebenfalls an der Probenarbeit aktiv teilnahm.9 Das ehemalige Bremer Kino Concordia wurde in ein Studio umgewandelt, in dem Proben wie auch Aufführungen stattfanden. Ein Name war rasch gefunden: Studiobühne Concordia. Taboris Truppe war zugesagt worden, ihre Theaterexperimente, die aus öffentlichen Geldern finanziert wurden, frei durchführen zu können. Alle Schauspieler, von denen die meisten mit Stoltzenberg aus Heidelberg nach Bremen gezogen waren und dort bereits zum Ensemble gehörten, hatten - wie auch Tabori - normale Arbeitsverträge. Geplant war, nach zwei Arbeitsjahren ein oder zwei Mitglieder des Labors zurück ins große Ensemble zu schicken und dafür andere Schauspieler ins Labor zu holen. Wenngleich kein Termindruck ausgeübt wurde, so hatte man sich dennoch darauf geeinigt und zum Teil auch daran gehalten, etwa 120 Aufführungen in der Saison zu spielen, darunter drei neue Produktionen. Außerdem unternahm die Bremer Truppe Gastspielreisen nach Holland, Belgien und Polen, produzierte Hörspiele und trat in Jugendstrafanstalten auf. Die Voraussetzungen für die Arbeit des Theaterlabors wurden 1978 aufgekündigt. Stoltzenbergs Nachfolger Amo Wüstenhöfer weigerte sich, das Labor-Experiment fortzusetzen. Kultursenator Franke brachte die Meinung vieler Opponenten und Kritiker auf den Punkt: "diese Seelenkotze will ich nicht."10 Tabori war sich der Schwierigkeiten stets bewußt und beklagte sich längst vor dem offiziellen Ende über das, wie er es formulierte, "provinical malice" in Bremen, das jegliches Experimentieren vereitele.11 Stoltzenberg reiste nach Hamburg, Berlin und München, um für das Theaterlabor eine neue Heimstätte zu finden. Doch alle seine Bemühungen scheiterten. Die Gruppe löste sich auf. Einige Mitglieder folgten Tabori jedoch auf den weiteren Stationen seiner Theaterkarriere in der Bundesrepublik und in Österreich. Marietta Eggmann berichtet über ihre Erfahrungen mit Tabori in "Ein ungarischer Jude und eine Schweizer Schickse". In: Welker (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 81; dazu auch ihr Beitrag: Ein massiver Einbruch von Realität. In: Gundula Ohngemach (Hg.): George Tabori. Frankfurt/M. 1989, S. 65-69. Welker (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 77. Brief von George Tabori an Peter Stoltzenberg vom 2.6.1977.
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Zu diesen begeisterten Schauspielern, die mit 'dem Meister' durch dick und dünn gegangen sind, gehört Detlef Jacobsen (Jg. 1936). Er ist das einzige Mitglied der Truppe, das mit Tabori noch vor der Bremer Zeit gearbeitet hatte. Er wirkte bereits in Taboris £o/z//zaas-Inszenierung 1974 in Bonn mit, die er als Taboris "ersten Regieerfolg in Deutschland" bezeichnet. Der noch weitgehend unbekannte jüdische Theatermacher überraschte ihn: "Ich hatte mir Tabori nach der Kannibalen-Inszenierung am Thalia-Theater in Hamburg 1972 klein, schwitzend, aufgeregt und dick vorgestellt und war überrascht, als ich ihn persönlich kennenlernte, daß er groß, ruhig, lang und total dünn war."12 Nach zehn Jahren professioneller Bühnenarbeit in mehreren Theatern und mit zahlreichen Regisseuren war Jacobsens erste gemeinsame Arbeit mit Tabori für ihn ein Schlüsselerlebnis: "Ich bin ein Mensch, der oft große Schwierigkeiten mit Regisseuren hat, weil die meisten mich blockieren", erzählt Jacobsen und fahrt fort: "Plötzlich nach zehn Jahren Theaterpraxis kam jemand, der anders gedacht hat, der meine eigene Vorstellung von Theaterarbeit umsetzte und somit bestätigt hat." Taboris Plädoyer für die Suche nach dem privaten Subtext in einer Rolle, sein Beharren auf der Möglichkeit, sich durch die Theaterarbeit zu erkennen und besser zu verstehen, sowie seine ungewöhnliche Probenarbeit zeigten ihm eine andere, phantasiereichere und lebendigere Theaterwelt auf, als er sie bis dahin erfahren hatte. Von seinen Kollegen wegen dieser "Tabori-Nabelschau" bemitleidet oder auch belächelt, hat Jacobsen dennoch zu Tabori gehalten. Und als Tabori ihm eines Tages anrief und ihm mitteilte "Wir gehen nach Bremen", war es für Jacobsen keine Frage, wie er sich zu entscheiden hatte.13 Eine ähnliche Wertschätzung haben Tabori auch andere Mitglieder des Theaterlabors entgegengebracht. Die meisten waren zwar ausgebildete Schauspieler, hatten jedoch erst zwei bis drei Jahre Bühnenerfahrung. Sie liebten diesen unorthodoxen Regisseur, zollten ihm Respekt und achteten ihn als einen feinfühligen und offenen Menschen. Einige suchten in ihm den großen Vater, was er innerlich nicht sein wollte, da es auch eine große Verantwortung bedeutete. Selten hörte man von den Schauspielern ein Wort der Kritik oder gar abfällige Bemerkungen über "George", wie ihn alle nannten. Dabei fehlte es nicht an Konflikten und heftigen Diskussionen während der gemeinsamen Arbeit. Dazu noch einmal Jacobsen: "Eine ganz tolle Eigenschaft von George ist, Fehler gutzumachen, sich immer zu verbessern. Er war manchmal auf den Proben unausstehlich. Und dann plötzlich um Mitternacht ein Anruf- George. 12 13
Vgl. auch Wo man bar bezahlt. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 58. Ebd., S. 62.
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Er wollte sich entschuldigen, er war bei der Probe nicht nett gewesen. So etwas kenne ich bei keinem anderen Regisseur, denn in Deutschland würde man so etwas als ein Zeichen der Schwäche verstehen. George hat immer versucht, Fehler auszuwetzen, bei sich selber." Günter Einbrodt (Jg. 1939), der Jahre später die Rolle Hitlers in der Uraufführung von Taboris Mein Kampf (1987) spielen sollte, erinnert sich, wie skeptisch er gewesen war, bevor er Taboris Inszenierung Vor der Nacht sah: "Nach ungefähr zehn Minuten war ich elektrisiert. Ich sah meine Kollegen spielen, so gut und so, wie ich sie überhaupt nie vorher gesehen hatte. Die waren wie verwandelt."14 Einige Tage später ging er zu einer Party. Tabori saß in einer Ecke auf dem Fußboden "wie ein besoffener Hippie". Er ging auf ihn zu und sprach ihn an: "Herr Tabori, ich möchte, ich muß und ich will unbedingt bei Ihrem nächsten Stück dabeisein, egal, was Sie machen." Einbrodt war so von Taboris Arbeitsmethode angetan, daß er ein Jahr im Actors' Studio in New York verbrachte. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik arbeitete er weiter an seiner schauspielerischen Karriere und leitete daneben eigene Workshops für professionelle Schauspieler. Ein Gruppenbild mit dem 'Meister', der in ihren Augen jedoch nicht zu einem Guru aufstieg, porträtiert 14 Mitglieder.15 Der harte Kern des Theaterlabors bestand aus vier jungen Schauspielerinnen - Brigitte Kahn, Brigitte Röttgers, Veronika Nowag sowie der Tänzerin Ursula Höpfner16 - und den Schauspielern Detlef Jacobsen, Rainer Frieb, Günter Einbrodt und Klaus Fischer. Andere, wie Niko Grüneke, Manfred Meihöfer und der französische Tänzer Jean-Franfois Quinique, waren an einzelnen Projekten beteiligt. Heiko Steinbrecher, Jörg Höpfner ("unser Möglichmacher") und Murray Levy (ein früheres Mitglied des alternativen amerikanischen Bread and Puppet Theatre) wirkten als Schauspieler und/oder als Regieassistenten bzw. Inspizienten mit. Im Gegensatz zu anderen Avantgarde-Gruppen, die das Leben in der Kommune als einen alternativen Lebensstil zum Prinzip erhoben, legten die Mitglieder des Theaterlabors auf einen gewissen Grad an Privatheit wert. Gleichwohl erlebte man den Alltag oft gemeinsam und ging auch zusammen ins Kino oder ins Theater. Dazu Detlef Jacobsen: "Einige von uns wollten diese Art von Kommuneleben führen, andere wiederum, wie ich, waren dagegen. Und George hatte auch nicht die Kraft dazu. Nach zwölf bis sechzehn Proben14 15 16
Ein massiver Einbruch. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 69. Welker (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 98f. Über Ursula Höpfner, die seine vierte Ehefrau wurde, und deren Engagement für das Theaterlabor schrieb Tabori in "Lächelndes Rätsel". In: Theater heute 1995, H. 13 (Sonderheft), S. 123.
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stunden wollte man alleine sein." Die Berichte der Beteiligten zeugen von einem starken Gefühl für das Kollektiv wie auch von der Verantwortung für das gemeinsame Unternehmen. Ähnlich wie in einer Familie verzichtete man nicht auf die individuelle Selbstverwirklichung, sondern ließ genügend Raum für jeden einzelnen, sich als Person und als Künstler selbst zu entdecken. Objektive Schwierigkeiten, die ihnen begegneten, feindliche Bemerkungen, antagonistische Publikumsreaktionen oder vernichtende Kritiken ihrer Arbeit festigten die Gruppe, belebten ihre Arbeit und stärkten ihre Durchhaltekraft, wie Marietta Eggmann bestätigt.17 Es überrascht daher nicht, daß alle Mitglieder einen Aufruf verfaßten und unterschrieben, als das Theaterlabor in seiner Existenz bedroht war und ein Versuch unternommen wurde, das experimentelle Theater in letzter Minute zu retten.18 In Bremen gab es damals nur wenige Stimmen, die die Auflösung des Theaterlabors bedauerten. Bei vielen war eher ein Gefühl der Erleichterung zu verspüren, daß das dubiose Projekt, dem sich ein rebellischer Regisseur, von psychoanalytischen Ideen besessen, und seine ihm blind folgenden Anhänger verschrieben hatten, damit zu einem Ende kam. Unter den Theaterkritikern hielten ihm vor allem Erich Emigholz (Bremer Nachrichten), Peter von Bekker (Theater heute), der Tabori einen der "originellsten Theatermacher in Deutschland" nannte,19 und Georg Hensel (FAZ) die Stange. Ihnen war schon damals klar, was Bremen und die deutsche Theaterlandschaft damit verlor. "Kein Zweifel", schrieb Hensel, "daß das Ende dieses Theaterlabors den Verlust eines Experimentierfeldes nicht nur für die Bremer bedeutet: Ein Funke ist erloschen, bevor er noch auf andere Theater überspringen konnte."20
2. Disziplin und Spontaneität: Probenarbeit im Theaterlabor "Für mich ist die Arbeit am Theater das Labor, um die Dialektik von Freiheit und Ordnung, Spontaneität und Zwang zu untersuchen."21 In den Augen von Tabori ist jedes Erlebnis im Theater, insofern es real und echt ist, experimen17 18 19
20 21
Welker (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 81. Siehe "Ein Appell". In: Theater heute 1978, H. 6, S. 16. Peter von Becker: Das Nachtspiel bis zum Morgengrauen. In: Theater heute 1978, H. 6, S. 15. Georg Hensel: Die Last der toten Väter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1978. George Tabori im Gespräch mit Sibylle Fritsch: "Perfektion ist Blasphemie". In: Profil, H. 24, 14.6.1993, S. 72f.
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teller Natur. Ein Theaterlabor, das autonom und per definitionem experimentell ist, bietet die optimalen, fast utopischen Rahmenbedingungen für empirische Versuche auf der Bühne. Schauspieler besitzen, wie alle Künstler, eine erworbene Technik - "einen Sack voller Tricks, die sich durch Beifall bewährt haben".22 Aber nur wenige begreifen, daß es absolut notwendig ist, die eigene Technik ständig zu hinterfragen, zu überprüfen und zu erweitern. Die primäre Funktion des Theaterlabors war also, den jungen professionellen Schauspielern die Gelegenheit zu geben, sie zu ermuntern, ihre "Schubladen zu überprüfen", wie Tabori es ausdrückte. Gemessen an der intensiven Arbeit, die im Theaterlabor geleistet wurde, ging es Tabori dennoch um sehr viel mehr. Er versuchte, die Schauspieler von ihren Fesseln zu befreien, sie von jenen schlechten Gewohnheiten abzubringen, die sie sich in den "Kathedralen", d.h. den etablierten Theatern, angeeignet hatten. Tabori wollte die ursprüngliche Unschuld, wie sie vor dem Sündenfall existierte, wiederherstellen, und so eine spontane und echte Erfahrung wieder möglich machen. Er forderte die Schauspieler auf, ihr Hauptaugenmerk nach innen zu richten, initiierte somit einen dynamischen Prozeß der Selbstentdeckung und Sensibilisierung. Er übernahm Lee Strasbergs Bild des Schauspielers, der sowohl das musikalische Instrument als auch das produzierte Werk, Klavier und Concerto, gleichzeitig verkörperte.23 Er ermunterte den Schauspieler, nach innen zu horchen, sein Instrument immer wieder zu stimmen, seinen Resonanzboden zu erweitern und die Rolle in sich selbst zu finden, statt diese bloß zu "spielen". Tabori erweist sich dabei, wie bereits Brook, Chaikin oder Schechner vor ihm, als ein Schüler Grotowskis, indem er den Schauspieler motivierte, seinen persönlichen Ton zu treffen, anstatt sich auf eine Rolle zu stützen oder in die fiktive Identität eines anderen zu schlüpfen. Authentizität war in Taboris Theaterästhetik ein Schlüsselbegriff, der mangels einer exakten Definition im Spannungsfeld von Freiheit und Struktur, auf der Suche nach Ehrlichkeit ("honesty" im Gegensatz zu "sincerity"), die es dem Schauspieler ermöglichen sollte, sich selbst in der Rolle zu verwenden, angesiedelt war.24 "Tabori hat damals etwas gesagt, was ich lange Zeit nicht begriffen habe: 'Der Schauspie-
22
23 24
George Tabori im Gespräch mit Rolf Michaelis: "Ein begeisterungsfähiger Skeptiker". In: Theater heute 1976, H. 6, S. 32. Tabori: Feigenblatt, S. 185-191, bes. S. 187. Zu diesem Begriff und seiner Bedeutung bei Tabori siehe Ursula Höpfhers unveröffentlichte Studie über die Authentizität bei Tabori (Ms. von 52 Seiten). Das Manuskript ohne Titel- und Ortsangabe befindet sich im Tabori-Bestand des Archivs der Berliner Akademie der Künste.
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ler ist das Konzept'. Es ist wirklich so",25 erinnert sich Günter Einbrodt. Detlef Jacobsen sieht es nach Jahren ähnlich: "Das Große an George ist, daß er aus dem Schauspieler etwas herausholt, ihn produktiv macht, daß er im Gegensatz zu anderen Regisseuren nicht verlangt, dieses und jenes so oder so zu machen, sondern daß er den Schauspieler ermutigt, bei sich etwas zu finden." Sowohl Theorie als auch die Praxis des Bremer Theaterlabors waren bis zu einem gewissen Grad von den Vätern des modernen alternativen Theaters, insbesondere von Lee Strasberg beeinflußt, in dessen New Yorker Actors' Studio, Tabori ein "Beobachter" gewesen war.26 Tabori verheimlichte seiner Gruppe nie, daß er an andere alternative Theatermodelle anknüpfen wollte. "Alles, was wir an Wissen an modernen, experimentellen Dingen im Welttheater wußten, wußten wir von George", sagt Jacobsen, der auf Initiative von Tabori mit seinen Kollegen nach Bochum fuhr, um Strasberg, der als Gast dort war, zu begegnen. Die Proben - manchmal sogar die Inszenierungen (zum Beispiel Hamlet) - begannen mit 'warm-ups', die wie das Stimmen eines Musikinstruments durchgeführt wurden, um Körper und Geist zu lösen. Diese Entspannungs- und Konzentrationsübungen wurden sowohl individuell als auch in Form von Gruppenübungen durchgeführt. Die Teilnehmer in Taboris Inszenierung Vor der Nacht, von denen sich später viele dem Theaterlabor anschlössen, berichten, sie hätten zwei von neun Probewochen nur mit Grundtraining und Übungen aller Art verbracht.27 Das geschah, um sich auf einzelne Teile des Körpers (z.B. Füße, Hände oder Atem) zu konzentrieren und diese zu sensibilisieren. Ziel war es, die Schauspieler von Vorurteilen und hemmenden Tabus zu befreien - "Füße sind (nicht) was Schlechtes". Daneben gab es Übungen mit einem Partner, die unter anderem dazu dienen sollten, körperliche Chiffren als Kommunikationsmittel zu entschlüsseln. So mußte beispielsweise ein Schauspieler den Rücken oder die Händen des anderen fühlen oder sich seiner Gegenwart durch sogenannte "Spiegelübungen" bewußt werden. Zu den Vorbereitungen, die in vielerlei Hinsicht Peter Steins berühmten "Übungen für Schauspieler" an der Schaubühne ähnelten, kam ein Training, das helfen sollte, Aggressionen abzubauen bzw. die Schauspieler mit ihren Ängsten zu konfrontieren. Dazu dienten auch Gruppen- und Sensibilisierungsspiele (wie z.B. das "Hände-Spiel" und "Wir wollen einmal Ruhe") oder Kuschelspiele, die die Gruppe näher zusammenbringen sollten. Mit Hilfe von 25 26
27
Der Schauspieler ist das Konzept. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 84. Tabori berichtet, daß er zehn Jahre in Strasbergs Studio blieb; siehe dazu Wend Kässens u. Jörg Gronius: Theatermacher. Frankfurt/M. 1987, S. 167. Siehe das Gespräch über die Probenarbeit in dem Programmheft zu David Rudkins Vor der Nacht. Theater der Freien Hansestadt Bremen 1976, S. 81-93.
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Experimentierspielen versuchte Tabori, den Schauspielern neue Erfahrungen und Empfindungen zu vermitteln, so z.B. wie ein "Roboter" mechanisch zu gehen oder, andersherum, sich unkontrolliert zu bewegen, also beispielsweise den "Dorftölpel" zu spielen. Schließlich machte Tabori seine Schauspieler auch mit Strasbergs "sense-memory"-Training bekannt, bei dem es darauf ankommt, einen Moment in der Vergangenheit zu vergegenwärtigen, wiederzuerleben und noch einmal zu erfahren, wobei dabei das Unbewußte bewußt gemacht und dieses Erlebnis wiederum für einen eventuellen Abruf in der Zukunft bereit gehalten werden sollte.28 Probenarbeit heißt für Tabori, den Text, falls ein solcher vorliegt, zu erkunden, den Subtext und damit sich selber zu entdecken; Proben bedeuten für ihn, immer etwas auszuprobieren. Daher überrascht es nicht, daß die Proben an den Stücken viel länger dauerten als das in deutschen Theater üblich oder gar erwünscht war. Die Arbeit an einem Stück, die Vorbereitung einer Inszenierung, war - wie bei Grotowski, Schechner und anderen - wichtiger als das Endprodukt, das sui generis nie fertig sein konnte. Perfektion galt als Blasphemie, und das sogenannte "perfekte" Theater erscheint als ein totes Theater.29 Die ideale Inszenierung war demzufolge ein "work in progress". Taboris Laborgruppe schöpfte die Freiheiten, die ihnen vertraglich zugesichert waren, voll aus: Es wurde nicht unter Zeitdruck gearbeitet, Premieren wurden einfach verschoben. Während die Proben zu Rudkins Stück (vor der Gründung des Bremer Theaterlabors) mehr als neun Wochen dauerten, wurde für Hamlet viereinhalb Monate im Theaterlabor geprobt. Die Proben zu Talk Show, mit dem das Labor offiziell debütierte, zogen sich sogar über ein halbes Jahr hin! Von den sieben Bremer Inszenierungen hatten vier einen Text als Vorlage (Rudkins Vor der Nacht, Euripides' Die Troerinnen, Edward Bonds Die Schaukel und Shakespeares Hamlet). Eine weitere Inszenierung basierte auf Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler. Zwei Produktionen, nämlich Sigmunds Freude und Talk Show, waren zum großen Teil eine gemeinsame Schöpfung der Gruppe mit einem knappen Text als Vorlage. Unter der Leitung Taboris verbrachten die Schauspieler viele Stunden und Tage mit der Lesung des Textes. Die Besetzung der Rollen erfolgte später, manchmal Wochen nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem Text. "Texte sind still, brauchen eine Stimme, unsere Stimme", lautete Taboris 28
29
Vgl. Günter Einbrodts "sense memory"-Erfahrung mit dem Schädel in Hamlet. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 101. Vgl. George Tabori im Gespräch mit Sibylle Fritsch (Anm. 21) sowie Jan Bielicki: Macht doch, was ihr wollt. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, 6.7.1990.
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Devise.30 Immer wieder betonte er, daß der Schauspieler den eigenen Weg zum Text finden muß, sich in den Text hineinfühlen soll, um das latente Geheimnis zu entdecken. Als die Gruppe Hamlet probte, verwies er die Schauspieler auf Susan Sontags Essayband Against Interpretation, in dem die amerikanische Autorin für eine wachsame, unvoreingenommene und sorgfältige Lektüre der Quellen und gegen eine allzu intensive Beschäftigung mit der Sekundärliteratur plädierte. Nach Tabori läßt jeder Text eine Vielzahl von Interpretationen offen, wobei keine triftiger oder zwingender ist als die anderen. Der spielerische Umgang mit Shakespeares Text rief bei den Schauspielern Erstaunnen hervor. Sie lasen Teile davon wie auch den gesamten Text: "Wenn wir [...] einen Durchlauf hatten und [...] es befriedigte uns nicht, dann haben wir in Anschluß das ganze sofort in einer Nonsense-Sprache, jeder in seiner eigenen, nochmal versucht."31 Dieses ungewöhnliche Experimentieren mit dem Text, das Dekonstruieren des Textes, eröffnete neue Perspektiven auf das Ganze. Es war nicht mehr wichtig, was man mitteilen wollte, so jedenfalls in der Erinnerung Einbrodts. Die semantische Deutung wurde der Situation untergeordnet, wie es bereits Strasberg andeutete, als er schrieb: "Ich glaube, daß nicht das Wort das Zentrum eines Stückes ist, sondern die Situation."32 Durch diese intensive Lese-Erfahrung mit dem //aw/ef-Text wurden die Nachteile der Übersetzung von Erich Fried den Schauspieler bewußt: Der lyrische Ton hemmte den Fluß der Sprache. So entschied sich die Gruppe gemeinsam für Heiner Müllers neue Übertragung. Diese ermöglichte es ihnen wie Tabori betonte -, "realistisch an den Text heran[zu]gehen und nicht rhetorisch".33 Es war der Versuch, Shakespeares Text nicht - wie so oft - zu deklamieren, sondern ihn natürlich zu sprechen. Auf ähnliche Weise verbrachte die Gruppe tagelang mit der Lektüre von Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler. Auch hier versuchten sie, sich in den Text hineinzufühlen. Der Text wurde solistisch, chorisch und kanonisch gelesen, wie Brigitte Röttgers in ihrer Protokoll über die Probenarbeit berichtet. Mehr noch: Sie berichtet, daß "Textpassagen wie beim Free Jazz organisch und frei" wiederholt wurden.34 Selbst "Variationen mit gesungenem Text" seien ausprobiert worden. Diese an die Jazzmusik erinnernden Improvisationen kennzeichnen auch Taboris Shylock-Abend in München im Jahre 1978. 30 31 32 33 34
Tabori: Feigenblatt, S. 39. Theaterarbeit mit George Tabor. In: Theater heute 1979, H. l, S. 51. Vgl. Programmheft zur Hamlet-Inszenierung, 1978. Theaterarbeit mit George Tabor. In: Theater heute 1979, H. l, S. 47. Ach ja, die Hungerkunst! - Protokoll einer Inszenierung. In: Programmheft zur Hungerkünstler-lnszenierung, S. 6.
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Die Rollenbesetzung wurde erst mitten in den Proben entschieden, und zwar - wie fast immer im Theaterlabor - auf demokratische Art, d.h. von der Gruppe und dem Regisseur. Auf eine solche Willensbildung geht auch die Entscheidung zurück, bei den Proben zu Sigmunds Freude Frederick Perls Protokolle seiner psychotherapeutischen Sitzungen nicht weiter zu lesen. Nachdem am Sinn dieses Unternehmens Zweifel aufgetaucht waren ("Wir konnten alle nicht damit umgehen"35), rang man sich zu einem improvisatorischen Umgang mit diesem Text durch. Durch die Einbeziehung der eigenen Träume und persönlichen Probleme wurden schließlich die Protokolle doch noch zur Textvorlage der Inszenierung. Das Hauptziel einer solch intensiven Auseinandersetzung mit dem Text war es, den Schauspieler dazu zu bringen, sich diesem individuell zu nähern und ganz persönlich darauf zu reagieren. Tabori ermutigte die Schauspieler, sich in den Text hineinzufühlen, die Geheimnisse des Textes zu erkunden, "das Zentrale, [...] das im Subtext steckt" zu entdecken, also das, was Peter Brook "secret play" nennt.36 Die Auseinandersetzung mit dem Text ist demzufolge ein dynamischer Prozeß - ein Lernprozeß, in dem der Schauspieler tief in sich selbst horcht und dabei vorher unbekannte und ungeahnte Dimensionen seines Ichs erschließt und somit auch die Rolle in sich selbst findet. "Es geht darum, daß jeder Schauspieler, ja jeder Mensch in sich Elemente dieser Rolle hat, und die gilt es zu entdecken", schreibt Tabori in seiner Einleitung zu Talk Show.37 Der Text steht am Beginn einer langen und unbestimmten Reise, eines Abtauchens ins Innere, wobei das Ziel von untergeordneter Bedeutung ist; denn "Der Schauspieler ist 'interessanter1 als seine Rolle, das Produzieren produktiver als das Produkt".38 Tabori hat fast nie sein eigenes Konzept oder seine Interpretation den Schauspieler bewußt aufgezwungen. Im Gegenteil: Er kritisiert den allmächtigen autoritären Regisseur, der wie ein Dompteur seine Schauspieler nach Wunsch und Laune dressiert. Während der Proben hat er sich entweder zurückgezogen, um den Schauspieler freien Raum zu gewähren und den Text bzw. den Subtext stärker wirken zu lassen, oder er saß mit ihnen im Kreis, wobei er oft laut dachte, Geschichten erzählte und sie dadurch inspirierte, animierte oder stimulierte, ihre Grenzen zu erkunden. In Anlehnung an Brechts "induktives Vorgehen" ist die Funktion des Regisseurs bei Tabori 35 36
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Dazwischen ist immer ein Mensch. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 75. Vgl. Die einfachste Stimme, die ich kenne. Ein Gespräch zwischen George Tabori und Wend Kässens: In: Gronius u. Kässens (Hg.): Tabori (Anm.7), S. 50. Programmheft zu Talk Show, S. 5. Tabori: Unterammergau, S. 9.
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nicht, eine Idee zu verwirklichen, sondern die Produktivität der Schauspieler zu wecken und zu organisieren.39 Der große Respekt und das Vertrauen, die Tabori den Schauspielern entgegenbrachte, führten dazu, daß diese ein hohes Maß an Freiheit, Möglichkeiten zum Ausprobieren wie auch Selbstverantwortung hatten. Wenn ein Probenverlauf dem Verreisen ähnelt, dann ist - so Tabori - der Regisseur der Reiseleiter, der den Ausflug organisiert und die Reisenden, deren Erlebnisse unvorsehbar und individuell sind, begleitet oder "coacht", wie Taboris Lieblingsvokabel lautet.40 Seine //aw/eMnszenierung ist ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise. Obwohl Tabori eine bestimmte Vorstellung von diesem Stück im Kopf hatte, die er im Detail in seinem Essay "Hamlet in Blue" niedergelegt hat,41 hielt er es für besser, diesen Essay der Gruppe nicht zu lesen zu geben, um ihr nicht seine Sehweise zu oktroyieren und dadurch ihren persönlichen Zugang zum Stück von vornherein festzulegen und den freien Lauf der Assoziationen eines jeden einzelnen zu behindern. Ein anderes Beispiel für den ungewöhnlichen Freiraum, den Tabori den Schauspielern gewährte, ist die Inszenierung von Sigmunds Freude. Statt wie üblich den Schauspielern ein Bühnenmanuskript vorzulegen, bekamen diese einen Ordner mit getippten Notizen, ein Szenario, in dem das Grundmuster dieser collage-artigen Auffuhrung dargelegt war, und eine Liste von 34 Fallgeschichten in die Hand. Tabori ließ keinen Zweifel daran, daß die vorgeschlagenen Episoden keineswegs die Struktur oder den Verlauf der Inszenierung bestimmen mußten: "They are meant to give impulses and open a discussion [...]. The point is that even with these notes we will be starting at zero-point", schrieb Tabori, die Devise des englischen Regisseurs George Devine zitierend.42 Die Gruppe begann dann, über das Wesen des Glücks nachzudenken, Momente des Glücklichseins zu proben. Dazu gehörten auch Milenas Briefe und der Moment, in dem Leonardo da Vinci das Lächeln des Mona Lisa entdeckt. Erst im Laufe der intensiven Improvisations39 40
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Bertolt Brecht: Über den Beruf des Schauspielers. Frankfurt/M. 1981, S. 28. Vgl. Gundula Ohngemach: George Taboris Theaterarbeit. Eine Analyse der Probenarbeit am Beispiel von "Jubiläum". Magisterarbeit München 1983, S. 45f. Der ursprünglich auf englisch verfaßte Text von "Hamlet in Blue" wurde in Theatre Quarterly 12/1975-2/1976, S. 116-132, veröffentlicht. Teile dieses Essays wurden ins Deutsche von Ellen Jacobsen und Peter von Becker übersetzt und in Theater heute 1978, H. 6, S. 17-20 veröffentlicht. Ich ziehe es vor, aus der englischen Originalfassung zu zitieren. George Tabori in "Notes" zu Siegmunds [sie!] Freude, unveröffentlichtes Manuskript "for internal use only", Juli 1975. Für die Einsichtnahme bin ich dem Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb zu Dank verpflichtet. Die Devise Devines erwähnt Tabori in einem Brief an Samuel Beckett vom 24.10.1980.
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phase kam Tabori mit Perls Protokollen (in der deutschen Fassung als "Gestalttherapie in Aktion" bezeichnet), die im Verlauf der weiteren Proben modifiziert und zum Teil geändert wurden. Im krassen Gegensatz zum Typ des dominierenden und rechthaberischen Regisseurs kann Taboris Rolle vielleicht am besten als die eines Anregers oder 'Animateurs1 definiert werden. Durch seine Präsenz und seine wohl dosierte Zurückhaltung möchte er den anderen aufrütteln, ihn vitalisieren, ihm Vorschläge unterbreiten und ihn dadurch ermuntern, sich seiner Sinne, Gefühle und seines Intellekts bewußt zu werden. Was Gundula Ohngemach in ihrem Buch über Tabori als "Recherche" bezeichnet,43 nämlich den Schauspieler Impulse und Stimulanzien zu geben, reichte von einem Dia-Vortrag über den Alltag und die Probleme auf einer Obstplantage (im Fall von Rudkins Stück) bis hin zu einem gemeinsamen Zoobesuch (bei den Proben zu Hungerkünstler), um eine konkrete Anschauung vom Verhalten eingesperrter Tiere zu bekommen. Besonders zahlreich und mannigfaltig waren die Anregungen, die Tabori der Laborgruppe in der ersten Phase der Proben zu Hamlet zu vermitteln versuchte. Er organisierte beispielsweise einen gemeinsamen Besuch der Pariser /fam/e/-Inszenierung der russischen Taganka-Truppe, schaute sich mit seinen Schauspielern den Film Der Pate an, zitierte Dover Wilsons Schriften über Shakespeare, machte die Schauspieler mit den Bildern Francis Bacons, seines "Lieblingsmalers",44 bekannt, um ihnen zu zeigen, wie dieser Künstler die Auflösung des menschlichen Körpers darstellt. Darüber hinaus las man während der Proben Freuds Trauer und Melancholie, Mitscherlichs Unfähigkeit zu trauern und Machiavellis Der Fürst. Diese Lektüre fand in der Inszenierung ihren Niederschlag. Hamlets 'Trauerarbeit1 nach dem Mord an seinem Vater oder Claudius' Opportunismus und Streben nach der Macht wären als Beispiele zu nennen.45 Es war nicht zuletzt diese intensive Arbeit mit dem gesamten Ensemble und der damit verbundene kollektive und individuelle Erfahrungsprozeß, die diese Theaterproduktionen entscheidend geprägt und ständig im Fluß gehalten haben. Wie die //a/M/eMnszenierung zeigt: Die gemeinsame Suche nach dem 43 44 45
Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 25. Siehe Tabori: Feigenblatt, S. 91-93. Siehe Theaterarbeit mit George Tabori. In: Theater heute 1979, H. l, S. 49f. Tabori erzählt, er habe den "Shakespeares Memory"-Abend in der Schaubühne unter Leitung von Peter Stein gesehen. Er habe dieses Projekt "ungeheuer bewundert", insbesondere die aurwendige Recherche für diese achtstündige Produktion. Ihm sei jedoch alsbald klar geworden, daß seine Gruppe von dieser Recherche nicht profitieren könne, und "ab einem gewissen Moment kam die Entscheidung, wir müssen unseren Weg finden".
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Subtext begann mit bildlichen/situativen Assoziationen, einem quasi-politischen Abbild des alljährlichen 'Kanzlerfests'. In dieser Probenphase lag die Betonung auf der sozialen und politischen Dimension des Stücks. Sie stand ganz im Zeichen der aktuellen Ereignisse in Deutschland im Herbst 1977. Die Entfuhrung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer war allen noch frisch in Gedächtnis. Fragen nach Legitimität politischer Herrschaft und Machtmißbrauch wurden auch in der Theatergruppe heftig diskutiert. Erst im Verlauf der Probenarbeit verlagerte sich das Interesse mehr und mehr auf Hamlet, die zentrale Figur in Shakespeares Stück. Er sollte in allen Szenen anwesend sein, das Geschehen, die Intrigen am königlichen Hof ständig beobachten, die Realität als eine Art Alptraum erleben. Die Gruppe beschloß, die Bühne in eine Schneelandschaft, in der eine einsame Telefonzelle stand, zu verwandeln. Das Telefonhäuschen sollte sowohl Hamlets Rückzugsort als auch sein Gefängnis andeuten. Weder konnte er die Außenwelt telefonisch erreichen (nur angerufen werden), noch war es ihm möglich, die Tür von innen zu öffnen. Als die alptraumhafte Wahrnehmung Hamlets immer stärker ins Zentrum der Inszenierung rückte - und sich damit jener typischen, von Tabori gewollten Grenzsituation annäherte - verwandelten Bühnenbildnerin Eggmann und die Schauspieler die Bühne in eine Studierstube. Auf Hamlets Askese einerseits und die Ästhetik des 'poor theatre1 andererseits verweisen die spärlichen Requisiten: zwei Koffer, ein Stuhl, ein Bett. Hieran sieht man, wie ein Bühnenbild, so einfach es auch erscheinen mag, erst im Verlauf der Proben entstand und ständig verändert wurde. Nicht das Konzept oder irgendein Plan, sondern die immanenten Bedürfnisse und Konstellation im Spielraum erweisen sich als bestimmend. Am Ende der Probenarbeit blieb in Bremen nur das Bett, ein altes Eisenbettgestell, auf der Bühne übrig. Dieses Requisit verweist auf den zweifachen Konflikt. Nach Freudscher Leseart verkörperte das Bett in den Augen der Truppe den Konflikt zwischen Vater und Sohn, also den Ort des Todes, wie auch die eigentümliche ödipale Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Improvisationen, jenes zentrale Element in der Theaterarbeit von Stanislawski, Grotowski oder Strasberg, waren auch Grundbestandteil der Methode, nach der das Theaterlabor arbeitete. Außer zu improvisieren (wie z.B. im Falle des bereits erwähnten 'Kanzlerfests'), haben die Schauspieler sich ebenfalls daran versucht, tierisches Verhalten nachzuahmen, um so das Tierische1 im Menschen, seine Aggressivität, Wildheit und Impulsivität zu entdecken.46 Ein anderes Improvisationsspiel sollte den Teilnehmer klar machen, wie sie den anderen am liebsten umbringen würden. Dieses wurde schließlich Teil der Vgl. Programmheft zu Hungerkünstler, S. 3ff.
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eigentlichen Inszenierung. Wichtig war also die wirkliche, aktuelle Erfahrung, die Verwandlung von Wort in Fleisch sozusagen, die ein volles Engagement seitens der Schauspieler erforderte. Das tatsächliche Gespür, wie es ist, wenn man Äpfel pflückt und den vollen Eimer trägt, gehört zu den Erfahrungen, die in Rudkins Stück geprobt wurden. Bei Hamlet fuhren die Schauspieler Einbrodt und Fischer extra nach Hamburg, um dort in einer schlagenden Verbindung mit den Studenten die Fechttechnik zu erlernen und eine Mensur zu erleben.47 Die Selbsterfahrung als Vorbedingung für eine optimale Verkörperung der Rolle fand ihren extremen Ausdruck in den Proben zu Kafkas Hungerkünstler. Brigitte Röttgers Arbeitsprotokoll zeugt von einer immer stärker werdenden Beschäftigung mit Essen - dem Eßvorgang, der bewußten Nahrungsaufnahme oder auch dem Fasten und der Nahrungsverweigerung.48 Die Gruppe begann damit, daß man zunächst einen Abend keinen Alkohol mehr trank. Dann stellt man vorübergehend das Rauchen ein, und einmal wurde auf das Frühstück verzichtet. Erfahrungen und Empfindungen wurden ausgetauscht, der Sinn und die Bedeutung des Verzichts wurden diskutiert. Erst danach beschloß man, 24 Stunden zu fasten. Es war Tabori, der eines Tages folgenden Vorschlag machte: "Wie wäre es, wenn wir vierzehn Tage nicht essen würden?" Die Gruppe nahm die Anregung auf. Mehr noch: die Aufgabe wurde radikalisiert - "was übrigens spontan in der Gruppe entstand, weil einer von ihnen, der Murray [Levy] schon mal gefastet hatte", wie sich Tabori im nachhinein erinnert.49 Es wurde beschlossen, sich an Kafkas Erzählung zu orientieren und 40 Tage zu fasten. Am 9. Mai 1977 wurde mit dem Fasten begonnen. Nur Tee, stark verdünnte Gemüse- oder Fruchtsäfte und ab und zu Wein oder Buttermilch waren erlaubt. Bis zum 20. Juni, also insgesamt 42 Tage, dauerte das mit staatlicher Genehmigung50 und unter ärztlicher Aufsicht durchgeführte Fastenexperiment, das für einen politischen Skandal sorgte - nicht zuletzt weil es an den Hungerstreik von Angehörigen der Baader-Meinhof-Gruppe erinnerte. (Deshalb wurde es auch als Fasten und nicht als Hungern bezeichnet.) Rückblickend hat Tabori dieses radikale Experiment, die Verschmelzung von Kunst und Leben, in die folgenden Worte gefaßt: "Es ging darum, daß man die Erfahrung vollzieht, daß man Schwierigkeiten empfindet [...]. Die Gruppe, die 47 48
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Situation-Regie. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 98. Protokoll der Probenarbeit im Programmheft zu Hungerkünstler, S. 7. Vgl. Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 90ff. Höpfher: Authentizität (Anm. 24), S. 9.
Brief von Horst W. Franke an Senator Herbert Bruckner vom 16.5.1977, Kennzeichen Nr. 6403.
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gehungert hat, und das war meine Erfahrung mit der Gruppe, die haben wirklich das Empfinden gehabt, sie haben das Recht, das zu sein, was sie sind, weil sie eben authentisch sind."51 Gerade in dieser Zeit des Fastens gewann die Inszenierung ihre späteren Konturen. "Der Zwang zur Nahrungsaufnahme wird zum zentralen Geschehen", wie es unter dem Datum 23. Mai im Arbeitsprotokoll heißt. Erst zu diesem Zeitpunkt wurden Textpassagen bestimmten Schauspielern zugeordnet. Auch sprach sich die Gruppe einstimmig gegen einen großen Käfig als zentrales Bühnenrequisit aus. Wie gerade an diesem extremen Beispiel deutlich wird, scheinen die Mitglieder des Theaterlabors die Balance zwischen ihrer Individualität, der Stimme des einzelnen und seinem Wunsch nach Selbstbestätigung, und dem schöpferischen Ideal der Gruppenarbeit gefunden zu haben. Sich an jene Zeit im Theaterlabor erinnernd, betont Klaus Fischer: "Mich haben damals die Arbeitsweise und das Ensemble interessiert, alles andere war für mich nicht wichtig, wichtig war das 'wir'."52 Selten endeten die Proben mit der Premiere. Eine Uraufführung wurde ausdrücklich als "eine offene Probe, die in Form und Substanz veränderbar ist", aufgefaßt. Diese Einstellung bringt die ästhetische Konzeption des Theaterlabors - "Freiheit und Spontaneität, das Unerwartete und Zufällige und dadurch das Gefährliche" - zum Ausdruck.53 "Ein paar Stunden vor der Premiere haben wir noch immer Dinge probiert", erinnert sich Jacobsen und fügt hinzu: "wir wußten manchmal nicht, wann es 'richtig' losgeht. George wollte herausfinden, ob ein Schauspieler aus der Generalprobe in die Premiere ohne Pause gehen konnte, das hatte zur Folge, daß es manchmal tolle Aufführungen gab, aber auch sehr schwache, die absackten, weil die Gruppe noch nicht die Erfahrung gemacht hatte, wie man etwas, das aus der Improvisation entstanden ist, gemeinsam festhalten kann. Dieses Haltenmüssen ist gleichzeitig mit dem Absterben der Spontaneität verbunden." Weit entfernt davon, ein vollendetes Produkt zu sein, ging die Arbeit oft auch nach dem Erscheinen der ersten Kritiken weiter. Reaktionen und Kommentare seitens der Zuschauer wie auch die Empfindungen der Schauspieler sowie organisatorische Zwänge (z.B. bei Gastspielen) fanden hier ihren Niederschlag. Es fällt auf, daß Tabori die Schauspieler nie allein ließ, sie vor, während und nach einer Aufführung anleitete, inspirierte, tröstete, aufmunterte und an ihrer Freude teilnahm. Während einer Aufführung von E. Bonds Schaukel Höpfner: Authentizität (Anm. 24), S. lOf. (Hervorhebung, A.F.). Der Schauspieler ist das Konzept. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 86. Vgl. Programmheft zu Hamlet, S. 3. Tabori bezieht sich auf Tschechows Dikrum "Man ist nie fertig".
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machte er beispielsweise mit einigen Schauspielern gemeinsame Sache. Als Bühnenarbeiter verkleidet saß er, einen Besoffenen mimend, in einer Ecke der Bühne. Der nicht-eingeweihte Schauspieler Detlef Jacobsen wurde plötzlich mit einem jener unerwarteten Störfaktoren konfrontiert, von denen Tabori stets begeistert erzählt hatte, und die er in die Aufführung aufzunehmen empfahl. Das Ergebnis war, wie Jacobsen berichtet, "eine wilde Textimprovisation", die damit endete, daß er mit zwei anderen Bühnenarbeitern den "Störenfried" in einen Korb verfrachtete und von der Bühne beförderte.54 Theaterarbeit als 'work-in-progress', eine Art kollektives und individuellgestaltetes schöpferisches Erlebnis, gekennzeichnet durch eine ständige Suche nach einer totalen schauspielerischen Hingabe, geprägt von der Überzeugung, daß Schauspielen und Sein, Theater und Leben, untrennbar miteinander verbunden sind - das ist die Quintessenz des Bremer Theaterlabors. Und darüber hinaus bleibt festzuhalten: der große Spaß an der Sache, die Freude am Experimentieren, der Spaß am Spiel und an den Improvisationen, die Glückseligkeit, sich einfach gehen lassen zu dürfen, die Befriedigung, eine angemessene Lösung eines Problems gefunden zu haben, das Glück des schöpferischen homo ludens. Oder in den Worten Taboris: "Wichtig ist dabei die Freude am Spiel. 'Hab Spaß' lautet immer wieder die Parole."55
3. Die Inszenierungen Taboris Inszenierungen in Bremen legen Zeugnis ab, wie bewußt und gefühlvoll er seine Themen auswählte, so daß sie den besonderen Arbeitsbedingungen wie auch den Gegebenheiten und den Bedürfnissen des Theaterlabors als einer experimentierenden Gruppe entgegenkamen. In einem unveröffentlichten Gesprächsprotokoll wird Tabori wie folgt zitiert: "In einem üblichen Ensemble ist das Ensemble da, um gewisse Programme zu verwirklichen. Die Gruppe bedeutet nun ziemlich genau das Gegenteil, d.h. gewisse Programme sind da, damit die Gruppe sich verwirklichen kann gegenüber der Gesellschaft, für die sie spielt." Und er fügte hinzu: "Wenn wir aber wirklich neue Wege finden wollen, müssen wir Stoffe, Themen, Stücke finden, die für unsere
Der Schauspieler ist das Konzept. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 87. Detlef Jacobsen: Wir brauchen sie: eine kleine Änderung. In: Welker (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 83. Vgl. auch Taboris Brief an die Gruppe vom 30.10.1976 nach der Premiere von Talk Show, in dem er sagt: "Aber vor allem, habt selbst Freude."
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Gruppe richtig sind und die zur Weiterentwicklung der Gruppe beitragen."56 Gleichzeitig ist die Liste der in Bremen aufgeführten Stücke typisch für Tabori. Es sind nicht nur Werke von zwei seiner Lieblingsautoren, Kafka und Shakespeare. Im Bremer Spielplan manifestieren sich auch viele der Motive und Interessen, die sein früheres Werk in den USA oder in Berlin sowie seine späteren Inszenierungen kennzeichnen. Dazu gehören z.B. die gewollt provozierende Analyse der komplexen Beziehungen zwischen Opfer und Täter; das phantasiereiche und differenzierte Ausloten menschlichen Verhaltens in Grenzsituationen, in denen es auch zu Ausbrüchen von Haß oder Gewalt kommt; die obsessive Beschäftigung mit Krankheit und Tod; das leidenschaftliche Interesse, von der Psychoanalyse beeinflußt, an den Regionen der Seele und am Irrationalen. Am Beginn seiner Bremer Theaterarbeit stand Taboris bewußte Entscheidung für ein zeitgenössisches englisches Stück, nämlich David Rudkins Vor der Nacht (Premiere: 25.3.1975). Es war jedoch nicht die Handlung — die Ermordung eines neu eingestellten Pflückers durch seine Kollegen auf einer Obstplantage in der Nähe von Birmingham -, die dabei den Ausschlag gab. Es faszinierte ihn die Möglichkeit, die dieses Stück ("voll von Libido-Bildern"57) ihm bot, ein Kaleidoskop menschlicher Leidenschaften zu entfalten. Die Aufführung konzentrierte sich daher auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Arbeitern auf der Plantage, zwischen älteren und neuhinzugekommenen, rangniedrigeren und ranghöheren. Es sollte der dynamische Vorgang deutlich werden, wie aus Frust und Zorn Aggressionen enstehen, die sich schließlich zu einem Mord an dem vermeintlichen Sündenbock steigern. Tabori reduzierte Rudkins grellen Realismus, indem er die Inszenierung vom Lokalkolorit zu befreien versuchte. Die deutsche Übersetzung, die er benutzte, verzichtet auf den Slang in den Dialogen. Darüber hinaus betonte Tabori die symbolische Dimension des Stückes durch Bilder und Zeichen (Äpfel, Messer, ein plötzliches Gewitter oder die ständige Präsenz der Heugabel). Höhepunkt der Aufführung, bei dem den Zuschauem der Atem stockte, war das Zelebrieren von Grausamkeiten: die Ermordung Roches, die als ein Ritualmord mit mythischen und christlichen Konnotationen dargestellt wurde. Röche ist der Unschuldige, der von der frustrierten, unwissenden Menge aufgeopfert wird. Das Kreuzzeichen, das man auf seiner Brust anbringt, ist Zeichen einer illusionären Hoffnung auf Befreiung und Erlösung. Die Handlung
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George Tabori im Gespräch mit der Gruppe, unveröffentlichtes Manuskript, Blatt 5. Vgl. Gedanken zum Stück. Brief von David Rudkin an George Tabori im Programmheft zu Vor der Nacht, S. 79.
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gewann dadurch eine weitere Dimension hinzu. Diese spiegelte sich auch im Bühnenaufbau wider. Die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne wurde im relativ kleinen Concordia-Theater quasi aufgehoben. Publikum und Schauspieler hatten die gleiche Bewegungsfreiheit und waren den gleichen räumlichen Zwängen unterworfen. Denn die Zuschauer saßen wie Gefangene in sechs Gruppen hinter Verschlagen aus Maschendraht und beobachteten das Geschehen durch ein Gitter. Die intensive Probenarbeit der Gruppe zeitigte nicht nur eine geladene, gespannte Atmosphäre, sondern auch eine deutliche erkennbare "Gruppendynamik in diesem Obstgarten Eden",58 wie einer der Kritiker leicht ironisch schrieb. Auch trug sie bei zu einer nunancierten Darstellung der verschiedenen Personen, die in diesem Stück vorkommen. Claus-Dieter Clausnitzer, der den Vorabeiter Spens spielte, einen Mittelsmann zwischen dem Plantagenbesitzer (einem Behinderten im Rollstuhl) und den von diesem ausgebeuteten Arbeitern, verkörperte das Inbild eines mausgrauen Vorgesetzten, eines Aufsteigertypus oder kleinkarierten Bürokraten, der seine Machtposition und vermeintliche Überlegenheit durch einen arroganten, höhnischen Ton zum Ausdruck brachte und dabei ein wenig an den vielzitierten Schreibtischtäter ("den Buchhalter des Bösen"59) erinnerte. Ein Anflug homoerotischer Affinität kennzeichnet die Beziehungen zwischen Larry, dem Studenten, und dem empfindsamen und geistig zurückgebliebenen Johnny.60 Die zentrale Figur in Taboris Inszenierung ist aber ganz eindeutig Röche, der Tramp (gespielt von Uli Eichenberger). Sein Aussehen und Verhalten stempelten ihn zum Außenseiter, der die Gemeinschaft bedroht, die bestehende Ordnung in Frage stellt und deswegen zum Opfer wird. Röche hatte einen schäbigen Mantel an, seinen Kopf bedeckte ein Tuch. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und keine Socken. Zeitweise ähnelte er dem Prototyp eines Tramps, den man in Taboris Münchener Beckett-Inszenierung neun Jahre später auf der Bühne sah. Intelligent, sensibel, faul, gemütlich, voller Humor und zur Ironie neigend, präsentierte sich Röche als ein wandernder Barde, als ein Alleinunterhalter für alle Gelegenheiten, der Anekdoten hervorzaubert oder "Kneipen-Poesien"61 vorträgt. Eichenberger, der diese Rolle glänzend 58 59
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Klaus Wagner: Gruppenangst beim Äpfelpflücken. In: Frankfurter Allgemeine, 1.4.1975. Ebd. Die Figur des körperlich Behinderten hat Tabori immer wieder beschäftigt. Die besten Beispiele dafür sind die Wahl des an den Rollstuhl gefesselten Krüppels Peter Radtke für die Hauptrolle in /(1985) oder für einen Part in Glückliche Tage (1986). An weiteren Figuren aus seinen Stücken wären hier zu nennen: die spastische Mitzi in Jubiläum (1983) oder das mongoloide Mädchen Ruthi in Weisman und Rotgesicht (1990). Henning Rischbieter: Rudkins Vor der Nacht. In: Theater heute 1975, H. 6, S. 15.
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verkörperte, leistete sich auch Improvisationen, indem er z.B. ein Gedicht vortrug, das er selber geschrieben hatte. Röche, der von den anderen den Spitznamen 'Shakespeare' bekam, ist eine Bühnenfigur ganz nach Taboris Geschmack: ein vorbildlicher Künstler, ein Naturtalent, bei dem Kunst und Leben untrennbar miteinander verbunden sind. Wie Schlomo Herzl in Taboris Mein Kampf spncht auch Röche von einem Buch, das er schreiben will. Er ist der begnadete Geschichtenerzähler, ein Opfer mit einem Lächeln auf seinen Lippen. In seiner ersten Inszenierung der Troerinnen von Euripides (Premiere am 14.4.1976) - die zweite folgte 1986 in München - konzentrierte sich Tabori ebenfalls auf extremes menschliches Verhalten, auf Gewalt, Grausamkeit und Leiden, die Menschen ihren Mitmenschen zufügen. Während er in Vor der Nacht die Handlung vom spezifischen gesellschaftlichen Kontext befreiete, katapultierte er in den Troerinnen die Antike in die Gegenwart. Dazu dienten ihm ein minimalistisches modernes Bühnenbild und zeitgenössische Kostüme wie auch ein recht unverbindlicher Zugang zum Text in der modernen Übertragung von Matthias Braun, der es den Schauspielern ermöglichte, ihre Assoziationen in Euripides Drama hineinzutragen. Die Bühne im Bremer Theater am Goetheplatz62 wirkte wie ein "klinisch kalter Wartesaal"63: grünlich gestrichene Wände, ein ansteigender Boden mit einem gefalteten, weißlichen Plastiktuch ausgelegt, an der Rückwand ein Waschbecken mit Spiegel, Lampe und Handtuch. Dieser "anonyme Raum" mit einer Milchglasdecke, durch die nur ein gedämpftes Licht eindrang, evozierte beim Zuschauer das Gefühl, in einem Krankenhaus oder einer Haftanstalt zu sein, wo - so Rolf Michaelis - "Menschen um Namen und Eigenart gebracht, degradiert zu Nummern" werden.64 Auf der Bühne stand eine Mülltonne, an der Rampe befanden sich ein Bündel mit schwarzen Zivil- und Trauerkleidern der Frauen wie auch hochhackige Schuhe. Diesem Bild der Verwüstung, der Zerstörung und der Gefühlslosigkeit angemessen, begann die Aufführung mit einem zwanzig Minuten langen stummen Vorspiel, einem außerordentlich eindrucksvollen Spektakel, das den Ton für den weiteren Verlauf der Inszenierung 62
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Das war die einzige Inszenierung, die außerhalb der Concordia stattfand. Nach dieser Erfahrung sagte Tabori im Gespräch mit Rolf Michaelis: "Jetzt ist mir klar, was ich immer schon wußte, daß ich mich in einem Keller wohler fühle als in irgendeinem dieser scheußlichen Opernhäuser". In: Theater heute 1976, H. 6, S. 32. Rolf Michaelis: Theater gegen Gewalt - Gewalt gegen Theater. In: Theater heute 1976, H. 6, S. 33-38. Für Bühnenbild und Kostüme war in dieser Inszenierung Veronika Dorn zuständig. Ebd.
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angab und auf Taboris Lesart von Euripides-Text hinwies. Das extensive Tableau zeigte ein greuliches Schauspiel: Die Troerinnen wurden brutal von den siegreichen Soldaten, die moderne Uniformen trugen, belästigt, mißhandelt, gequält, gedemütigt und gepeinigt. In verdreckten, zum Teil zerissenen Kleidern, die Haare geschoren, die Augen mit Tüchern verbunden und die Hände mit Handschellen gefesselt, erschienen die Frauen als Opfer der männlichen Brutalität. Sie waren die wahren Opfer des sinnlosen Krieges. Obgleich Tabori ein universales Bild des Machtmißbrauchs und menschlichen Leidens zeichnen wollte, werden in diesem Vorspiel auf dem Theater Erinnerungen an die deutsche Geschichte wach, wie z.B. in dem Moment, als die Soldaten in den Mund der weiblichen Opfer schauen, um Goldzähne zu entdecken. Die Aufführung, für die der Originaltext gekürzt und gestrafft wurde, unterstrich die mentalen und psychischen Auswirkungen des Krieges, stellte die Frage nach der individuellen Verantwortung für die kollektiv verübte Barbarei. Tabori verstärkte diesen Eindruck, indem er den Chor aufteilte und an bestimmten Stellen des Stückes einsetzte. Eine weitere Abweichung vom Original war die Darstellung Helenas als Opfer ihrer eigenen Weiblichkeit. Tabori, der immer wieder gegen jegliche dogmatische Unterscheidung zwischen Opfer und Täter argumentierte, betonte Helenas Passivität und Hilfslosigkeit, indem er ihr eine 'sprachlose Rolle' zuwies und Astyanax zu ihrem Wortführer machte. Auch wird der Mord an Astyanax nicht, wie in der Vorlage, nur berichtet, sondern von Tabori auf der Bühne dargestellt. Wie der dramatische Höhepunkt in Rudkins Vor der Nacht wird auch der Mord an Astyanax als die Aufopferung des Unschuldigen, als eine Art Ritualmord interpretiert. Konfrontiert mit der Barbarei, sollten die Zuschauer Mitleid und Furcht empfinden, Entsetzen und Betroffenheit - nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Bezüge - spüren. Ironischerweise war es gerade diese extreme Intensität, die die Zuschauer aus dem Theater trieb, und zwar noch längst bevor die Aufführung zu Ende gegangen war. Dieser Moment der bewußt beabsichtigten Verwirrung der Zuschauer, die offenkundige Provokation, war ein wichtiges Element in Taboris Bremer Theaterarbeit. Die gleiche Intention lag auch der Inszenierung von Edward Bonds Die Schaukel (Premiere: 25.3.1977) zugrunde. Tabori wollte wieder einmal die Ausgrenzung und Stigmatisierung eines Individuums in einer Gesellschaft zeigen, in der Zynismums herrscht, Brutalität und Gewalttätigkeit toleriert werden und als Überlebensstrategien Anerkennung finden.65 Er nahm allerdings an den Proben nicht von Anfang an teil, da er in München Kafkas Vgl. Edward Bonds Anmerkungen zu dieser Thematik im Programmheft zur Schaukel.
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Verwandlungen inszenierte. Dennoch trägt die Bond-Inszenierung ganz eindeutig seinen Stempel; sie kann ebenfalls als Beweis dafür dienen, daß die Gruppe auch ohne die physische Präsenz Taboris bereits seine Prinzipien und Vorstellungen internalisiert hatte. Der historisch belegte Vorfall, nämlich die Tötung eines beschuldigten Schwarzen in einer Kleinstadt im amerikanischen Bundesstaat Kentucky im Jahr 1911 - und zwar auf der Bühne des örtlichen Theaters unter Teilnahme eines sensationssüchtigen und haßerfüllten Publikums - wurde im Prolog von einem Bühnenarbeiter berichtet. Kaum hatte er seinen Bericht, der sich direkt an das Bremer Publikum wandte, beendet, wurde er von seinen Kollegen gepackt und sein Gesicht mit einer Spritzpistole schwarz gefärbt. Nun war er der Stigmatisierte, das Opfer. Dieser Auftakt erschloß die Botschaft der Inszenierung sofort: Jeder, ob weiß oder schwarz, kann zum Opfer werden, zum Sündenbock einer Massenhysterie oder des ungezügelten Hasses. In der Tat ist es am Ende von Bonds Stücks ironischerweise ein weißer Mann, der gutmeinende Fred, der in Taboris Inszenierung (wie bereits Larry in der Rudkin-Inszenierung) homoerotische Neigungen hat und zum Opfer einer Lynchjustiz wird. Mit diesem Ritualmord, der "ins parabelhaft Sinnbildliche gesteigert"66 wird, wollte die Gruppe die Zuschauer provozieren und sie somit auch aktiv in das Geschehen hineinziehen. Fred (Rainer Frieb) wurde nackt an die Schaukel gefesselt. Die Hinrichtung sollte durch die Bombardierung mit Tomaten erfolgen. Entsprechend dem Grundprinzip des Living Theatre, das eine aktive Beteiligung der Zuschauer wünschte, wurden in Bremen dem Publikum Tomaten als Wurfgeschosse angeboten. Auf der Bühne dokumentierte ein übereifriger Photograph die Hinrichtung, dazu sang man die amerikanische Nationalhymne. Im Durchschnitt ließen sich etwa ein Drittel der Zuschauer zu diesem 'do-it-yourself-Lynchen1 überreden. Einige waren der Meinung, die auch mehrere Kritiker teilten, daß dieses eine lächerliche Zumutung sei, ein geschmackloser Theater-Gag.67 Andere Zuschauer wiederum nahmen das Angebot der Schauspieler doch an, warfen jedoch die Tomaten nicht auf das Opfer, sondern auf die "Täter", entweder aus Protest gegen die vermeintliche Ungerechtigkeit oder gar als Ausdruck ihrer Empörung über die Zumutungen der Labor-Gruppe. Detlef Jacobsen erinnert sich, daß es im Verlauf der spontanen Diskussion öfters "Frauen, fast immer Frauen, gab, die auf die Bühne kletterten und den an die Schaukel gefesselten Schauspieler befreiten. Es kam Rolf Ronzier: Theater als Prozeß: Die Theaterarbeit George Taboris. Magisterarbeit Freie Universität Berlin 1988, Teil II, S. 137. Siehe z.B. Peter Iden: Mord im Theater. In: Frankfurter Rundschau, 28.3.1977. Vgl. Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 86f.
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auch vor, daß Zuschauer mich, der ich sie ja als Mr. Skinner zum Werfen animiert hatte, von der Bühne jagten und mich, als ich davonlief, bis auf die Straße verfolgten." Dieser exaltierten Lynch-Szene folgte ein stilisierter Tempowechsel. Die Darsteller bewegten sich wie in Zeitlupe marionettenhaft bei Blues-und Dixieland-Musik über die Bühne. "[...] so als wollte man symbolisch aufdecken, daß der Mensch, gelenkt von seinen Gefühlen, auch ihr Opfer werden kann."68 Die Aufführung endete mit einer Szene, die an den Prolog anknüpfte. Bühnenarbeiter räumten routinemäßig und gedankenlos die Requisiten von der Bühne, darunter auch Freds Leichnam. Im Repertoire der Bremer Gruppe sind zwei Projekte besonders hervorzuheben, in denen Tabori und die Darsteller den Versuch unternahmen, die Berührungspunkte, die Tangente zwischen Theater und Therapie zu finden. "Die Verbindung von Theater und Therapie ist ja uralt. Man kann davon ausgehen, daß das Katharsisprinzip bei den Griechen auch therapeutische Wirkungen hatte, auf das Publikum und ganz gewiß auf die Schauspieler", erklärte Tabori.69 Im Theater kann die Annäherung an eine Rolle, die eine Begegnung mit allen Schatten des Ichs ist, durch Anwendung von therapeutischen Mitteln profitieren, während in mehreren therapeutischen Techniken theatralische Elemente mitspielen — wie beispielsweise in Freuds Psychoanalyse, in Perls Gestalttherapie oder in Morenos Psychodrama. Gutes Theater, wie eine erfolgreiche Therapie, ist eine Reise nach innen, ein dynamisches Erlebnis der Selbsterfahrung - und der Schlüssel für den Erfolg liegt in den Händen der Schauspieler, ähnlich wie die Heilung des Patienten von der Bereitschaft abhängt, involviert zu sein, sich auf die Therapie einzulassen, tief in sich zu schauen, etwas wiederzuleben, sich auszuleben. Mit der Aufführung von Sigmunds Freude (Premiere: 28.11.1975) - oder auf Englisch James'Joys, ein raffiniertes Wortspiel, das an Derridas "Ponge/eponge" erinnert - wollte Tabori herausfinden, was Glück oder "the nature of happiness" bedeutet.70 Der Zuschauer sollte die Empfindung von Freude und Spaß teilen, die nach Tabori immer dann einsetzt, wenn das Leiden aufhört. Zu den Proben, die mit individuellen Improvisationen der Schauspieler "über 68 69
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Erich Emigholz in Bremer Nachrichten, 28.3.1977. Warum macht das deutsche Theater krank, Herr Tabori? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Magazin), 18.9.1987. Siehe auch Jörg Gronius: Bitte zu Tisch. In: Gronius u. Kässens (Hg.): Tabori (Anm. 7), S. 11-16, und: Nur im Gefühl steckt die Wahrheit. Gespräch zwischen George Tabori und Sibylle Fritsch. In: Psychologie heute 1994, H. 2, S. 40-42. "Notes" zu Siegmunds Freude (Anm. 42), S. 4.
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das Wesen des Glücks" begannen, brachte Tabori die Sitzungsprotokolle von Frederick S. Perls mit, dem Gründer der Gestalttherapie, mit dem er einmal zusammengetroffen war. Tabori war sich dabei durchaus bewußt, daß die deutsche Kulturlandschaft - im Gegensatz zur amerikanischen - eine psychologiefeindliche ist, daß im deutschen Theater immer wieder Widerstand gegen das Psychologische, "das Menschliche", gar gegen Gefühle, aufkam. Er erzählte der Gruppe von seiner eigenen Therapie in den Staaten, bei der er einen "Satori", eine plötzliche Offenbarung (ähnlich wie Joyces "epiphany") verspürte und die er als einen Höhepunkt oder gar einen Wendepunkt in seinem Leben empfand.71 Von Taboris einleitenden "Notes" wie auch von Perls Protokollen inspiriert, entwickelten die Schauspieler ihr eigenes Konzept und zwar so, wie es sich Tabori für seine experimentierfreudige Gruppe erhofft hatte. Der Abend wurde demzufolge als eine gemeinsame Produktion von Tabori und dem Ensemble angekündigt. Es war eine Collage von Improvisationen, freien Assoziationen, Fallstudien und persönlichen Erfahrungen, in Anlehnung an einen Grundsatz des Open Theatre oder der Performance Group, nämlich "dramatic material coming from the actors' exploration of their inner selves".72 Dieses ungewöhnliche Theatererlebnis, das zwischen drei und vier Stunden dauerte und das von Aufführung zu Aufführung verändert und umgeformt wurde, birgt die Quintessenz von Taboris Arbeit mit der Gruppe. Schauspielen und Sein sind verflochten. Der Schauspieler entdeckt die Rolle in sich selber auf seiner Suche nach dem authentischen Ich; er ist, wie Tabori es ausdrückte, das Konzept. Und ähnlich wie in Perls Gestalttherapie verlief der Weg zum wahren Selbst über die Wiedererfahrung, von Empfindung der Gefühle, über das Austragen von Konflikten und das Wiedererleben von Gewesenem, wie im Fall der "sense memory". Tabori beruft sich auf den von Aristoteles geprägten und definierten Begriff der Katharsis, versteht diese jedoch als einen Versuch, die "Innenwelt von den Schlacken ungefilterter Gefühle zu befreien", wie Erich Emigholz es sieht.73 Der Aufführung lag wieder einmal das Prinzip des 'empty space' oder des 'poor theatre1 zugrunde. Der Spielraum, von Marietta Eggmann gestaltet, suggerierte eine 'Seelenlandschaft1. Eine mit rotem Samt ausgeschlagene Drehscheibe, die zeitweilig rotierte, bildete das Zentrum der Raumbühne und verwies symbolisch auf die erkundete Seele. Am Rande der Drehscheibe, in einem Sessel sitzend, befand sich der Therapeut, 'Fritz', ihm gegenüber der
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Dazwischen ist immer ein Mensch. In: Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 74f. Innes: Avant Garde Theatre (Anm. 2), S. 175. Erich Emigholz: Traumarbeit. In: Theater heute 1976, H. l, S. l Off.
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Patient, der zwei nebeneinanderstehende Stühle zur Verfügung hatte, um die wechselnden Perspektiven des ausgetragenen Konflikts sinnfällig gestalten zu können. Die etwa einhundert zugelassenen Zuschauer (mehr waren aufgrund der Sicherheitsvorschriften nicht erlaubt) waren um dieses "Neurosen Karussell"74 gruppiert. Die Aufführung bestand aus acht bis zehn Episoden, die meistens damit begannen, daß der Therapeut den Patienten aufforderte, Traumbruchstücke zu erzählen und alle darin vorkommenden Menschen oder Objekte spielerisch darzustellen. Dieser Prozeß der Wiedererfahrung wurde wechselweise abgebrochen oder weitergeführt durch harte Übergänge vom Mensch zum Objekt sowie durch Rollenwechsel zwischen Patient und Therapeut. All dies verhinderte wiederum eine potentielle Identifizierung des Zuschauers. Bemerkenswert ist, daß nur wenige dieser Episoden oder Minidramen, aus denen Sigmunds Freude besteht, Taboris Liste (in den unveröffentlichen "Notes" zur Aufführung) der über dreißig vorgeschlagenen "Fälle" entsprachen. Die gemeinsam erarbeitete Collage enthielt z.B. die Geschichte eines drogenabhängigen Sozialarbeiters, der vom Therapeuten dazu gebracht wird, den eigenen 'topdog' und den 'underdog' in sich zu entdecken; den Fall eines Erotomanen und Exhibitionisten, der mit dem 'Vulkan1 in sich Dauergespräche führt und schließlich einen explosiven Ausbruch erlebt; die Geschichte eines von Magengeschwüren gepeinigten Showmasters, der von einem Alptraum gequält wird, in dem Polizisten ein Kind verprügeln; der Fall eines Schauspielers, der glaubt, sein eigenes Motorrad zu sein. Und dann gibt es noch die Geschichte eines gequälten Mannes, der an der Erziehung durch einen dominierenden Vater leidet, oder die eines zweimal geschiedenen Callgirls, deren Schuldgefühle sich in einer 'Putzsucht' äußern. Beim Vergleich dieser Minidramen mit den von Tabori vorgeschlagenen Episoden zeigt sich, daß Taboris Interesse dem Zauber des einfachen Glücks gilt -jener Erleichterung, die man nach großem Leid spürt - oder auch der Außergewöhnlichkeit des Banalen ("the extraordinariness of [...] trivial moments"75). Dagegen war die Gruppe eher von der Möglichkeit fasziniert, Alpträume, Ängste oder Frustrationen zu dekuvrieren und die Erleichterung, die durch eine konkrete Auseinandersetzung mit diesen entspringt, zu zelebrieren. Die Aufführung endete mit einem ironischen Tableau - einem kollektiven Erlebnis, das Tabori in seinen "Notes" beschrieb. Die Darsteller bauten hastig eine fünktionslose Phantasiemaschine aus Holz auf, ein riesiges Spielzeug, um
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Georg Hensel: Seelentrip im Traumseminar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1975. Tabori: "Notes" zu Siegmunds Freude (Anm. 42), S. l.
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damit schließlich mittels eines Holzhammers eine Sahnetorte zu zerstören. Diese Verbildlichung der Befreiung und Freude wurde von Bachs Kantate "Nun ist das Heil und die Kraft" (BWV 50) wie auch durch das Ausschütteln von Kissenfedern begleitet. Die Traum-Session wurde damit zu einer "verfremdeten Apotheose"76 heruntergespielt. Der ungewöhnliche Charakter der Aufführung spiegelt sich auch in der Rezeption durch Kritiker und Zuschauer wider. Das Publikum, das Tabori in den "Notes" mit "playmates in a great kindergarten [...], not as dodos, schoolboys or Scheisbürger" verglichen oder als Teilnehmer an einem Fest bezeichnet hat,77 war angeblich äußerst verblüfft und desorientiert, wußte nicht, wie es das Stück verstehen sollte, stellte sich die Frage, ob die Darsteller Theater spielten oder nicht. Einmal geschah sogar, daß ein Zuschauer aktiv mitmachte, sich auf den Stuhl setzte und einen seiner Träume erzählte. Detlef Jacobsen, der den Therapeuten spielte, war verblüfft: "Ich konnte doch den Mann nicht therapieren!" erinnert er sich. "Zum Glück war sein Traum nicht ein entsetzlich verquerter Traum. Als er zu Ende geredet hatte, fragte ich ihn, wie er sich jetzt fühle. Er sagte, irgendwie erleichtert. Worauf ich ihm sagte, siehst Du, es ist der erste Schritt. Und schon kam die Brigitte Kahn, die wie die anderen Schauspieler in ihrem Kostüm im Publikum saß, und setzte die Aufführung fort." Hin und wieder gaben einige Zuschauer im Gespräch mit den Schauspielern zu, daß die Aufführung ihnen geholfen hatte, ihre eigene Probleme zu erkennen oder sogar zu überwinden. Vernichtende Kritiken kamen von einigen Kritikern, die von einem "psychologischen Dilettantismus" auf der Bühne oder von "vorgetäuschter Spontaneität", die "keine Spur eines Kunstwerks zeigt", sprachen.78 Talk' und 'show' als therapeutische und theatralische Techniken standen ebenfalls im Zentrum der Aufführung von Talk Show (Premiere: 23.10.1976) - eines Stückes, das konzepruell wie auch inhaltlich viel mit Sigmunds Freude gemeinsam hat. Die Textbasis war Taboris amerikanisches Schauspiel The 25th Hour. Als Tabori seiner Gruppe diesen Text zu lesen gab, spürte er sofort, daß sie damit unzufrieden waren und es nicht gut fanden. Zu der nächsten Probe am folgenden Nachmittag kam er mit einer völlig neuen Fassung. "Diese hat er in der Nacht geschrieben, ein neues Stück, das er photokopiert, sortiert und eingeheftet uns am nächsten Mittag in die Hand drückte. Das neue 76 77 78
Ronzier: Theater als Prozeß (Anm. 66), Teil II, S. 80. Tabori: "Notes" zu Siegmunds Freude (Anm. 42), S. 5f. Siehe z.B. Lothar Schmidt-Mühlisch: Ach, Nachtijall, ick hör dir schon von janz weit trapsen. In: Die Welt, 4.7.1978; Hans Brandt: Menschen suchen ihre Mitte. In: Mannheimer Morgen, 11.12.1975; Dietmar N. Schmidt: Die Küche spricht mit dem Schlafzimmer. In: Südwest Presse (Ulm), 5.12.75.
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Stück war toll, es hieß Talk Show", erinnert sich Detlef Jacobsen. Im Laufe der ungewöhnlich langen Probenphase von etwa sechs Monaten entwickelte die Gruppe unter der Leitung Taboris eine Sequenz von Episoden, zehn Minidramen, die als Variationen über das Thema Krankheit und Tod betrachtet werden können. Die endgültige Textfassung, die den einzelnen Schauspielern viel Freiraum für Improvisation ließ, berücksichtigte ihre Überempfindlichkeiten und Launen. In einem Interview, betitelt "Die Marx Brothers im Zauberberg", das im Programmheft abgedruckt ist, definiert Tabori Talk Show als ein "Lustspiel über Sterben und Krankheit" und bezieht damit den deutschen Begiff für Komödie (Lustspiel) auf "Lust", das heißt als Freude und Spaß - ähnlich wie er es bereits in Sigmunds Freude tat, wo ebenfalls Glück und Leid miteinander verbunden sind und Lust durch Aufhebung des Leids entsteht. Auch in Talk Show vermischen sich schauspielerische und therapeutische Erlebnisse. In der Auseinandersetzung mit dem Tod wird dessen Absurdität deutlich. Dazu Tabori: "Ich kann dieses Thema nur dann ernst behandeln, wenn ich es komisch behandele." Humor ist ihm eines der wichtigsten Mittel für die Auseinandersetzung mit dem Tod. Er setzt ihn therapeutisch ein, um Angst und Schmerz zu bekämpfen, und durch 'comic relief theatralisch eine ironische Distanz zu schaffen. "Der Tod ist der größte Verbrecher", sagt Tabori und betont gleichzeitig sein "Ja" zum Leben: "Für mich ist [...] der Tod lächerlich im Angesicht des Lebens."79 Wie auch in allen anderen Bremer Inszenierungen wurde in Talk Show auf alles Beiwerk bewußt verzichtet, dagegen die Nähe zum Zuschauer gesucht. Der Boden des Concordia-Theaters wurde mit Matrazen ausgelegt. So entstand eine 'Matrazengruft'80 bzw. ein riesiges Matrazenlager, ein Trainingsraum, in dem die Schauspieler agierten und die Zuschauer, die sich die Schuhe ausziehen mußten, liegend oder halbsitzend die Show erlebten. Die in hellblaue und rosa Einheitshemden gekleideten Darsteller spielten die Patienten im Lazarus-Spital in Hollywood - eine offenkundige Anspielung auf das Heilwunder im Neuen Testament. Während sich The 25th Hour auf das fiktive Einzelschicksal von Arthur Prince konzentrierte, brachte Talk Show Künstler, Prominente, Filmstars und Intellektuelle zusammen, die alle physisch und/oder seelisch krank sind. Die Darsteller behielten ihre eigenen Vornamen oder sprachen einander mit den Vornamen der Hollywoodstars an, ohne diese dabei zu imitieren. Wie bereits in Sigmunds Freude fehlte auch in dieser Gruppen-Komposition nicht die so wichtige Befriedigung des individuellen 79 80
George Tabori: Die Marx Brothers im Zauberberg. In: Programmheft zu Talk Show, S. 2. Tabori bezieht sich assoziativ auf Heines Pariser 'Matratzengruft'.
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Selbstdarstellungstriebs: jeder Schauspieler hatte seine große Theaterstunde, jeder erzählte dem Arzt und agierte sein Krankensgeschichte, improvisierte elementare Erlebnisse wie Geburt, Sexualität oder physischen Verfall. Auch hier wurden die Rollen getauscht, die Kranken schlüpften in die Rolle des allwissenden Arztes. Alsbald wurde klar, daß der 'Halbgott in Weiß1 viel schlimmer dran war als seine Patienten. Am Ende der Show mußte er sich denn auch einer Operation unterziehen. Die neun Darsteller standen rings um sein Bett, wie in einem Gebetsritual, und beteten für ein erstes Lebenszeichen. Talk Show war als ausgedehnte Metapher einer kranken Gesellschaft gedacht: "Das Leben ist eine unheilbare Krankheit", erklärte Tabori wiederholt.81 Für ihn, der hinter die schönen Fassaden Hollywoods geblickt hatte, ist die Welt der fabrizierten Träume ein Ort, der - um es mit den Worten John Websters zu beschreiben - "a rotten and dead body / hidden in rich tissue" gleicht.82 In diesem Sinne ist Hollywood - "Nekropolis", wie Tabori es nennt - exemplarisch für das Vergängliche und das Pathologische und bildet so den idealen Hintergrund für die Betrachtung menschlichen Verhaltens in Grenzsituationen. Das Auskundschaften solcher Grenzsituationen kennzeichnet auch die Aufführung von Kafkas Hungerkünstler (Premiere: 10.6.1977).83 Die Gruppe hatte für Hamlet geprobt, als Tabori eines Tages mit dieser Kurzgeschichte Franz Kafkas an sie herantrat - ein glänzendes Beispiel für Taboris unerwartete und kreative Digression, die zu der einstimmigen Entscheidung für das Vorziehen von Kafkas Werk führte. "Ich habe immer gehofft, einen Stoff zu finden, wo die Probleme der Gruppe zu einem direkten Ausdruck kommen könnten, und es ist klar, daß die Hungerkünstler besonders geeignet sind; weil es einerseits eine Metapher ist über Künstlertum oder Schauspielerkunst, und andererseits [...] kann sich [die Gruppe] nur dann verwirklichen, wenn die Mitglieder sich individuell verwirklichen können." Die Umsetzung von Kafkas Erzählung in einen Bühnenstoff weist alle Leitgedanken auf, die für Taboris Theaterarbeit charakteristisch sind, vor allem, daß im schöpferischen Prozeß eines wahren Schauspielers kein 'Loch' auftauchen darf, wie Tabori es formulierte, keine Diskrepanz zwischen Leben und Kunst, Sein und Schein entstehen darf. Nach 81 82 81
Tabori: Feigenblatt, S. 213. John Webster: The Duchess ofMalfi, II, i,42. Die Premiere fand statt, ohne daß eine Genehmigung der Kafka-Erben vorlag. In einem Brief vom 2.8.1977 schreibt Dr. Maria Sommer an Tabori: "Ich habe zwischendurch ein bißchen gezittert, weil eine etwas peinliche Anfrage von London, von den Kafka-Erben, kam, sie hätten der Presse entnommen, daß die Aufführung total anders sei als das Manuskript, das sie gelesen hatten, und außerdem sei sie offenbar auch noch schlecht."
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Tabori muß ein guter Schauspieler immer seiner Person treu bleiben, darin wiederum seine Rolle finden. Er muß sich bewußt sein, daß er als Schauspieler Produzent und das Produkt zugleich ist. Im Fall von Ein Hungerkünstler bot sich eine einmalige Gelegenheit, diese Prämissen zu erkunden und zu verifizieren sowie folgende grundlegenden Fragen aufwerfen, die sich auf das Wesen und Bedeutung der Schauspielkunst beziehen: Kann der Schauspieler die Rolle, die er Verkörpert1 tatsächlich einnehmen? Soll er zur Figur, die er darstellt, werden? Wie weit, wenn überhaupt, ist der Schauspieler bei der Ausübung seines Berufs von einem Publikum abhängig? - Eine Lösung der letzten Frage konnte zu radikalen Entscheidungen fuhren, wie im Falle von Grotowskis Labor. Inwiefern - wenn überhaupt - wird die Schauspielkunst von äußeren Bedingungen, vom wechselnden Geschmack und von vorübergehenden Moden oder kommerziellen Überlegungen, die vom Management, oder von der Intendanz angestellt werden, beeinflußt? Bereits zu Beginn der Probenarbeit änderte die Gruppe den Originaltitel von Kafkas Erzählung in Die Hungerkünstler. Die Entscheidung hing damit zusammen, daß jedes Gruppenmitglied unbedingt seine eigene Erfahrung machen sollte, emotionell, intellektuell wie auch physisch (wie zum Beispiel das Fasten), um dadurch seinen Beitrag für das gemeinsame Theater-Projekt leisten zu können. (Ahnlich verhielt es sich ein Jahr später mit den Improvisationen von dreizehn Shylock-Darstellern über Shakespeares Juden.) Der Spielraum im Concordia-Theater ähnelte einer Zirkus-Arena,84 der Boden war mit Muttererde und Stroh bedeckt. Aus einem großen Tisch im Zentrum des Spielraums ragte ein abgeschälter Kletterbaum, der das Territorium des Panthers (oder Leoparden in der Aufführung) markierte. An den Seiten befanden sich Käfige für die Künstler, die aus Kisten, Leitern, Stühlen hergestellt waren. Auf den jeweiligen Käfigen waren Namensschilder der Künstler montiert wie auch Photos jedes einzelnen vor, während und nach dem Fasten. In den Käfigen bewahrten die Künstler private Gegenstände (Bücher, Uhren, Bilder usw.) auf. Die acht Hungerkünstler85 trugen ausgebeulte, an jüdische Kopfbedeckungen erinnernde Hüte und schwarze, glänzende Trikots, die ihr Abgemergeltsein deutlich hervortreten ließen, die aber auch ihre Wahlverwandschaft zum Panther (in seiner Funktion als Schau- und Lustobjekt) betonten. Die dialektische Spannung von Sein und Schein, von Kunst und Leben, von Natur und Künstlichkeit wurde weiterhin durch die Präsenz von
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Die Gruppe hat das Stück später auch in einer Zirkusarena in Berlin (Mariannenplatz-Zelt) und in München gespielt. In der zweiten Version waren es nur noch sechs.
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zwei auf der Bühne umherstolzierenden Pfauen, denen man Eigenschaften wie Langlebigkeit, aber auch Stolz und Eitelkeit nachsagt, hergestellt. Die Aufführung begann mit den beiden Ehrendamen, die in Kafkas Erzählung den Hungerkünstler aus dem Käfig herausholen, um ihn zu seiner Krankenmahlzeit zu fuhren, und die in Taboris Inszenierung den Zuschauern Blumen zur Begrüßung überreichten, sie zur Spielstätte begleiteten. Dann übernahm der Impresario die Leitung, und unter Leierkastenklängen führte er den Besuchern die Künstler in den Käfigen vor, während drei Wächter (Tabori spielte einen von ihnen) Schach spielten oder Bier tranken. Die Zuschauer wurden somit gleich und direkt mit der "show1 konfrontiert, die das Fiktive mit dem Realen vereinigte. Sie hörten sich die Beschwerden der Künstler über die abnehmende Popularität der Hungerkunst an. Diese wurden entweder als Solo oder im Chor oder auch als Kanon vorgetragen. Das Publikum erfuhr gleichzeitig etwas über den persönlichen Hintergrund, das Fastenerlebnis des jeweiligen Darstellers. Der ausgedehnten Einleitung folgten Dialoge, die auf Kafkas Vorlage basierten und in denen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Hungerkünstler und dem Impresario zum Ausdruck kamen. Der Hungerkünstler beklagte sich über die Ausbeutung und den Mißbrauch seiner Kunst durch den kommerziell orientierten Impresario, bedauerte auch die unersättliche Sensationssucht der Zuschauer und lamentierte über die Tatsache, daß es ihm nie gestattet werde, seine Kunst voll auszuleben oder sie bis an ihre Grenzen zu treiben. Die Aufführung erreichte ihren 'dramatischen Höhepunkt' (so entschied es jedenfalls die Gruppe während der Proben), als die Künstler zur Nahrungsaufnahme gezwungen wurden. Somit wurde sowohl der Mißbrauch autoritärer Macht als auch die Unmöglichkeit einer gänzlich freien Entfaltung der Kunst deutlich. Der Impresario umkreiste die versammelten Hungerkünstler und pfiff auf der Trillerpfeife wie ein Dompteur. Laute Marschmusik signalisierte die Vulgarisierung der Szene. Die Künstler sträubten sich vergeblich gegen die erzwungene Nahrungsaufnahme. Ihre Rechtfertigungserklärungen bestanden aus einer Collage von Kafkas Text, seinen Tagebuchnotizen wie auch aus ihren eigenen Erfahrungen während des Fastens. "Gewalt kann eine große befreiende Kraft sein, aber es gibt Zeiten, in denen der praktischste, der menschlichste und - wenn man so will - der gewaltätigste Akt einfach in der Verweigerung besteht."86 Die Verweigerung
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Tabori: Unterammergau, S. 38f. - Im Programmheft zu Die Uungerkünxtler vergleicht Tabori diese Verweigerung mit der Weigerung eines Säuglings, die Muttermilch weiter zu saugen; er sieht darin ein Zeichen des Individualisierungsprozesses.
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- 'defiance' - war, wie bereits in Die Kannibalen ein Zeichen der freien Entscheidung, eine Bestätigung der Individualität, und - was die theatralische Metapher betrifft - eine Art Perfektion des Produzenten wie auch seines Produkts. Als wieder Stille einkehrte, hörte man das Ticken eines Metronoms - ein Hinweis auf die verflossene Zeit. Die Künstler begannen wieder zu essen, einige hastig, andere widerwillig; manche wurden gefüttert, andere spieen es wieder aus. Tabori hatte in seinem überarbeiteten Text zu der Aufführung eine Liste mit verschiedenen Reaktionen während dieses dramatischen Höhepunkts angelegt. Diese Aufzeichnungen machen deutlich, wie stark er Kafkas Text dekonstruierte und ihn dadurch variabel machte. Jeder Hungerkünstler reagierte individuell auf die erzwungene Nahrungsaufnahme, bezog dabei seine eigenen Erfahrungen nach dem langen Fasten und die Auseinandersetzung mit dem politischen System ein. Nach der Fütterung teilten die Künstler Brot ("wohlschmeckendes Brot", wie einer der Kritiker bemerkte) an das Publikum aus. Anschließend formten sie auf dem Bühnenpodest ein lebendes Tableau, ein Denkmal für die Hungerkünstler. Ein kurzes jüdisches Lied wurde gesungen, gefolgt von einem stummen Epilog. Der Panther überquerte die Spielstätte, zog sich mit einem Stück rohen Fleisches, das ihm der Impresario hingeworfen hatte, in sein Revier auf dem Baum zurück. Die Gruppe führte die Proben auch nach der Premiere fort und veränderte ständig die Inszenierung. In der darauffolgenden Saison starteten sie mit einer zweiter Version der Hungerkünstler, in der Resignation und unterdrückter Zorn an die Stelle von Weigerung und Widerstand traten. Diese zweite Fassung erweiterte ebenfalls die Rolle des Panthers/Leoparden. Diesen Part hatte wie zuvor Ursula Höpfher übernommen, die jeden Abend erneut mit tausenden von schwarzen Flecken auf ihrer zuvor goldgrundierten Haut bemalt wurde, wodurch sie sinnlich, agil und mysteriös zugleich wirkte. Der Panther beließ es nicht dabei, die Künstler zu attackieren. Um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu gewinnen, kehrte er das 'Animalische1 heraus und biß einen Hungerkünstler tot. Bemerkenswert ist die Kritik von Erich Emigholz zu dieser zweiten Version. Er fand diese Fassung "fertiger", während die erste seiner Meinung dagegen eher Versuchscharakter hatte. Sein Urteil lautete: "Das Unfertige entsprach mehr dem, worum es dieser Gruppe geht."87 Wegen der großen Begeisterung über den Kafka-Text zunächst verschoben, wurde Hamlet zur letzten Produktion des Theaterlabors (Premiere: 19.3.1978). Wie schon in mehreren anderen Inszenierungen wurde Shakespeares Vorlage verkürzt, komprimiert, dekonstruiert und diente der Gruppe als ein Vehikel für 87
Erich Emigholz in Bremer Nachrichten, 17.9.1977.
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eine Entdeckungsreise, für eine Reise ins Irrationale, zu den unbewußten Regionen. Auch diesmal ermutigte Tabori seine Schauspieler, gegen den 'deutschen Strich' zu agieren, den zwanghaften Hang zur Rationalisierung oder Intellektualisierung zu vermeiden, der bloß ein ungesunder Ersatz für das wirkliche Erlebnis sei, nämlich die Hingabe an Leidenschaft und Gefühle. Nach Tabori liegt Hamlets Problem in "his dread of the undiscovered country, not beyond Jordan but within himself1.88 Es ist seine Angst, in sich selbst hineinzuschauen, sein Versäumnis, echte Gefühle zu empfinden, seine Gewohnheit, das Unangenehme oder das Unerwünschte zu unterdrücken, seine Neigung, alles zu rationalisieren in der Hoffnung, alles unter Kontrolle zu haben. Alle diese Eigenschaften sind für George Tabori "das Deutsche" an Hamlet: "I am struck by the Germanism of Hamlet as well as the Hamletism of the Germans", schreibt er in seinem originellen Essay "Hamlet in Blue", den er bereits einige Jahre vor der Inszenierung verfaßt hatte.89 Hamlet in moderner Kostümierung, ein Psycho-Protokoll mehrerer leidender, gequälter Seelen anstatt eines Intrigenspiels - dies waren die besonderen Kennzeichen der Bremer Aufführung. Hinter dieser Analyse gequälter Seelen verbirgt sich Taboris freudianisch gefärbte These, daß "every son wants to do in his father".90 Auch enthält seiner Meinung nach dieses Stück eine minutiöse Schilderung der Last, die Eltern, ob noch lebend oder bereits gestorben, für ihre Kinder darstellen, indem sie ihre Kinder emotioneil tyrannisieren und sie für immer und ewig zu Opfern machen. Gemäß dem Labor-Konzept eines minimalen und funktionellen Bühnenbilds wurde die Spielstätte, umzirkelt von den etwa hundert zugelassenen Zuschauern, in eine Szene des "Nachtspiels"91 umgewandelt. Den Fußboden teerte man schwarz, die Stühle der Zuschauer wurden darin befestigt. Schwarze Tücher hingen an den Wänden, und die Decke überspannte eine gewaltige Segeltuchplane, von deren Enden Eiszapfen hingen. Durch ein Loch mitten in diesem kalten, nächtlichen Himmel baumelte eine Beleuchtungsformation aus zahllosen Glühbirnen, die einem riesigen Traubenbündel ähnelte. Das gewollte diffuse Licht verstärkte die alptraumhafte Atmosphäre, verband dadurch die Außenwelt, die Welt der Hofintrigen, mit der Seelenlandschaft. Während der Proben entschied sich die Gruppe, das Bett zum Zentrum der Aufführung gegenständlich wie auch symbolisch - zu machen. Dieser Ort, wo sich nach " Tabori: Hamlet in Blue (Anm. 41), S. 129. 89 Ebd., S. 119. 90 Ebd., S. 127. 91 Vgl. Peter von Becker: Das Nachtspiel bis zum Morgen-Grauen. In: Theater heute 1978, H. 6, S. 12ff.
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Tabori "alle großen Dinge des Lebens abspielen: Geburt, Krankheit, Liebe und Tod",92 jene Plattform des Unbewußten, die sich in den Träumen oder Alpträumen zeigte, betonte gleichzeitig auch Hamlets pathologischen Egozentrismus. Die Aufführung wurde von Improvisationen, Tableaus und direkten Kontaktaufnahmen mit den Zuschauern umrahmt. Letztere wurden sogar in der Pause, bei Gesprächen und Diskussionen fortgesetzt. Die Zuschauer sollten die grundsätzliche Freiheit des Schauspielers erkennen - seine Freiheit, die Rolle weiter zu entwickeln oder zu gestalten. Ihre Aufmerksamkeit wie auch ihre Beteiligung war somit gefordert. Die Auffuhrung begann mit jenen Improvisationen über das Thema Tod, Sterben und Töten, die im Lauf der Probenarbeit entstanden waren. Hamlet und Laertes fochten miteinander, Ophelia 'übte' das Ertrinken, die anderen rangen miteinander oder erdrosselten sich gegenseitig. Diese Improvisationen, die technisch betrachtet auch als 'warmup' dienten, wurden durch einen direkten Kontakt zu den Zuschauern fortgesetzt. Man begrüßte und informierte sie über das bevorstehende Geschehen, warnte sie vor dem gewaltsamen Ende, und gleichzeitig wies man sie auf den Kern des Dramas hin, nämlich Hamlets komplexe Beziehung zu seinem Vater. Während dieses Vorspiels wurde eine Verbindung zwischen Worten und Taten (oder genauer ausgedrückt: dargestellten Situationen) geschaffen, die an Strasbergs Überzeugung, "daß nicht das Wort das Zentrum eines Stückes ist, sondern die Situation" erinnert. Hamlets toter Vater wältzte sich vor Schmerzen im Bett. Die zu ihm eilenden Darsteller (ab und zu auch einige besorgte Ärzte aus dem Publikum) entblößten den Körper des Toten, der mit Wundpflastern, Zeichen der gewaltsamen Schändung, bedeckt war. Erst damit begann das eigentliche Stück, nämlich mit dem zweiten Teil der zweiten Szene des ersten Aktes. Das Schicksal Hamlets, eines intellektuellen jungen Mannes, der moderne Kleidung und eine dunkle Brille trug, wurde als eine "case history par excellence"93 dargeboten. Nach freudianischer Interpretation litt Hamlet sowohl an einem Vater- als auch an einem Ödipus-Komplex. Das Bild des väterlichen Geistes, der sich am Rücken des Sohnes huckepack festklammerte und ihn durch den Raum jagte, symbolisiert die väterliche Last, die Hamlet niederdrückt. Hamlet fühlt sich aufgefordert, den Mord an seinen Vater zu rächen, ist aber unfähig dies zu tun. Je näher er der Tat kommt, desto entschiedener wird seine Weigerung. Diese Unfahgikeit, die moralische Pflicht zu erfüllen, ruft bei ihm eine Neurose hervor, die nach 92
Tabori: Feigenblatt, S. 205. " Tabori: Hamlet in Blue (Anm. 41), S. 128.
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Meinung Taboris aus der Unfähigkeit resultiert, ein echtes, tiefes Gefühl der Trauer zu verspüren und wahre, heilsame Trauerarbeit zu leisten. Hier ergibt sich also die Verbindung zu der deutschen Mentalität, von der Tabori in seinem "Hamlet"-Essay ausführlich spricht. Ähnlich wie die Menschen in Nachkriegsdeutschland nicht zu echter Trauerarbeit fähig waren, so das Ehepaar Mitscherlich in seinem bekannten Buch,94 fühlt sich Hamlet zur Trauer verpflichtet, ist jedoch unfähig, über die moralische Pflicht hinaus einen echten Schmerz zu empfinden, gar innerlich zu trauern. An Stelle der Trauer, die eine purgative, heilsame Wirkung mit sich bringt, kämpft er mit seinem Pflichtbewußtsein, unterdrückt den Schmerz und steigert sich in Melancholie, die eine Form von Selbstmitleid ist: "He suffers because he can't suffer and, by the terms of filial obligations, he ought to [...]. The mourner laments his loss; the melancholic castigates himself."95 Erst nach "Der Ermordung des Gonzago" befreit sich Hamlet von der ihn lähmenden Melancholie, nimmt die bislang als Alptraum empfundene Wirklichkeit anders wahr. Zum Handeln ist es jedoch zu spät. Nicht weniger wichtig als Hamlets pathologische Beziehungen zu seinem Vater ist nach Taboris Psychogramm dessen Ödipus-Komplex. Die Rivalität zwischen Vater und Sohn um die Zuwendung und Liebe der Frau bzw. Mutter erreicht ihren Höhepunkt in einer Versinnbildlichung, einer visuellen Metapher: Gertrud lockt ihren Sohn zärtlich an ihr Bett, entkleidet ihn und zieht ihm unter Liebkosungen ihre Trauerkleider über. Diese extrem erotische Szene, die einen der Kritiker an Strindberg erinnerte,96 entstand erst im Verlauf der Probenarbeit, zum Teil als Reaktion der beiden Schauspieler (EinbrodtHamlet und Kahn-Gertrud) auf ihre eigenen Hemmungen. Andere wichtige Änderungen an Shakespeares Text sind: die homoerotischen Züge Horatios, die wir bereits aus den anderen Labor-Inszenierungen (Rudkin, Bond) kennen; der Ringkampf zwischen dem Geist und dem betenden Claudius (III, 2), welcher die Animosität und Rivalität zwischen den beiden nicht nur verbal, sondern auch visuell umsetzt; Ophelias Anfall von Wahnsinn beim Anblick der Leiche ihres Vater, als die völlig gebrochene Tochter nicht wie üblich Blumen, sondern banale Gegenstände wie eine Glühbirne, einen Federhalter oder einen alten Schuh auf die Leiche streut; oder der Auftritt von Claudius als grausamer Dompteur (wie der Impresario in der Kafka-Inszenierung), dessen Brutalität und Gewaltherrschaft besonders sinn-
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Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. München 1967. Tabori: Hamlet in Blue (Anm. 41), S. 129. Simon Neubauer: Hamlet als Fleckenteppich. In: Weserkurier, 21.3.1978.
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fallig wird, als er mit einem blutigen Stück Fleisch zwischen den Zähnen die Bühne durchquert. Auch die berühmte Totengräberszene wurde eher "im Stil einer Kölner Karnevalsnummer",97 mit den beiden Vätern (Hamlets Vater und Polonius) in der Rolle der Totengräber, inszeniert. Die Aufführung endete, wie sie begann: mit einem direkten Appell an die Zuschauer. Die Darsteller wünschten ihnen Spaß beim folgenden Blutbad. Rotwein wurde gereicht, und die Darsteller zerquetschten über sich Beutel mit Blut. Langsam wie Marionetten bewegten sie sich auf Hamlet zu und umringten ihn. Nach seinem berühmten Diktum ("Der Rest ist Schweigen") verkündigten die Darsteller, wie bereits im Vorspiel, das Hauptthema der Aufführung, nämlich die Last der toten Väter. Der Geist erschien, in Frack und Zylinder gekleidet, und ging stumm über die Bühne. Während des Beifalls bedankten sich die Darsteller bei ihrem Publikum.
4. Das Theaterlabor in der Retrospektive Das Bremer Theaterlabor war Taboris impulsivster und imponierendster Versuch, sein Konzept von einem anderen, alternativen Theater zu verwirklichen und dabei gleichzeitig seine Ideen im Licht dessen, was er empirisch im Laufe dieses intensiven 'work-in-progress' lernte, zu modifizieren oder zu revidieren. Den verschiedenen Theater-Experimenten, die später in München und andernorts folgen sollten, fehlte der Rahmen, die Bedingungen und ein eingespieltes Team, mit dem Tabori eine so erfolgreiche symbiotische Arbeitsdynamik entwickeln konnte. Und Jahre danach, als er dieses schöpferische Experiment zu wiederholen suchte, nämlich in Wien, in seinem eigenen Theater (Der Kreis) und mit einer angeschlossenen Schauspielerwerkstatt ä la Strasbergs Actors' Studio, war die Unbekümmertheit, die bedingungslose Spontaneität, die das Labor auszeichnete, nicht mehr vorhanden. Statt dessen mußte er mit bekannten, vielfach sogar renommierten Schauspielern arbeiten, die ihre oft langjährige Bühnenerfahrung nicht abzuschütteln vermochten oder umzudenken bereit waren, dies auch vielleicht nicht konnten. Mehrere Vorwürfe wurden seinerzeit gegen Taboris Theaterlabor vorgebracht. Neben der scharfen Kritik an der ungleichmäßigen Qualität der Produktion, am Dilettantismus oder auch am psychotherapeutischen Klimbim wurde der Gruppe vorgeworfen, daß sie sich in ihre private, mystische Welt Georg Hensel: Die Last der toten Väter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1978.
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zurückgezogen habe. Es war von einer "Sekte"98 die Rede, die ganz in Mystik eingetaucht, blind und unterwürfig den Plänen und Launen ihres Gurus folgte. Die hier angeführten Beispiele aus der Teamarbeit in Bremen beweisen jedoch das Gegenteil, nämlich die demokratischen Grundsätze, nach denen das Theaterlabor funktionierte. Gleichwohl kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Anteil Taboris, der älter und lebenserfahrener als die Ensemblemitglieder war und auch über Charisma verfügt, größer gewesen ist, als die Schauspieler bereit waren zuzugeben. Aus verständlichen Gründen wehrten sie sich vehement gegen den Eindruck, sie seien vom Verrückten Guru' abhängig. Viele Jahre später, als er das Laborprojekt aus der Retrospektive einzuordnen versuchte, meinte Stoltzenberg: "Jede Gruppe braucht einen 'Guru1. Peter Brook, Ariane Mnouchkine - wir hatten George. Solche Menschen sind ja nicht beliebig zu produzieren - sie sind ein Glücksfall."99
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Ohngemach (Hg.): George Tabori (Anm. 9), S. 91. Vgl. auch "Ein Appell". In: Theater heute 1978, H. 6, S. 16. Welker (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 77.
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Die Inszenierung des Scheiterns. 'Gedächtnis' und 'Identität1 als Konzepte der Theaterarbeit Taboris
l. Das sichere Experiment Tabori versteht den Schauspieler als einen professionellen Menschen. Äußerungen in dieser Richtung sind es, die Tabori den Ruf des weisen alten Meisters der Bühnenkunst eingebracht haben, als der er 1994, im Jahr seines achtzigsten Geburtstags, überschwenglich gefeiert wurde. Zu seiner Inszenierung von Delirium am Hamburger Thalia-Theater (mit der Premiere am 29.5.1994) schrieb die Süddeutsche Zeitung: Tabori findet aus der größten Albernheit stets zurück zu einem Ernst, zu einer Melancholie, die erst erklärt, warum diese Menschen spielen müssen. Es ist ein Akt der Verzweiflung. Mit wenigen Zeichen kommt er aus: Die Schuhe - sie erinnern an Auschwitz. Das laute Schlagen einer eisernen Tür - es suggeriert Gefängnis, Staat, Macht. [...] Taboris Delirium, keineswegs bloß heiter, feiert das Leben, feiert die Freude, trotzdem! Das Publikum jubelte, die Schauspieler applaudierten ihrem Regisseur. Tabori lächelte.1
Warum ist Tabori ein solcher Glücksfall für das deutschsprachige Theater? Während sich an den wenigen anderen zeitgenössischen Bühnenautoren - wie im Fall von Botho Strauß - die Geister scheiden, anderen ihr Werk zum Gewaltakt wird, der sie um ihr Leben bringt - wie im Fall Werner Schwabs -, ist Tabori achtzigjährig auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Es ist ein Höhepunkt, der es ihm dennoch erlaubt, sich als Experimentierenden, als Scheiternden zu zeigen. Eine Ursache seiner Beliebtheit scheint nicht zuletzt darin zu liegen, daß er allen an seiner Theaterarbeit Beteiligten, Schauspielerinnen wie Zuschauerinnen, immer wieder das Gefühl vermittelt, an einem riskanten Experiment teilzuhaben. Wie entsteht dieser Eindruck? Worauf läßt sich Taboris Erfolg als Bühnenautor und Regisseur zurückführen? Böse ließe sich spekulieren, Tabori, als ehemaliger jüdischer Emigrant, der viele Verwandte durch nationalsozialistischen Terror verloren hat, habe im erneuten Erwachen deutschen Nationalgefühls eine Alibi-Funktion, indem Süddeutsche Zeitung, 31.5.1994.
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seine Stücke dem 68er-Establishment die Kontinuität einer Kritik suggerieren, deren gesellschaftliche Relevanz längst Geschichte ist. Deutlich ist jedoch, daß Taboris erfolgreiche theatrale 'Experimente' trotz der ständigen Präsenz der Shoah in seinen Stücken nicht in erster Linie in der Tradition des politischen Theaters stehen.2 Einem breiteren Publikum wurde Tabori erst zum Ende der 70er Jahre bekannt - zu einem Zeitpunkt, wo das explizit politische und dokumentarische Theater nur noch selten auf den Bühnen der Staatstheater zu sehen war. Zehn Jahre zuvor kam Tabori aus Amerika nach Deutschland - im Gepäck eine unzerrüttbare Überzeugung von der Unzulänglichkeit und der Liebenswürdigkeit der Menschen, die weit jenseits einer politischen Analytik und einer Theorie der Kollektivschuld stand. Er hatte mit der Theatralisierung dieser Überzeugung Erfolg - einen Erfolg, der proportional zur Entpolitisierung der Bundesrepublik wuchs: Er darf das. Er darf KZ-Häftlinge ihren Mitgefangenen auffressen lassen [Kannibalen}, seine Mutter von der Rampe in Auschwitz zu ihrer Bridge-Partie zurückschicken [My Mother's Courage}. Er darf den Herrn Shylock als bösartigen Juden herzeigen [Ich -wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen} und den Herrn Hitler im Männerasyl in der Blutgasse zum Fluchen bringen [Mein Kampf]. Er darf über Gott und die Welt lästern, den alltäglichen Schrecken mit Kalauern unterlaufen. [...] Dieser so grundgütige, alles verzeihende, hagere, sanft verschlurfte Mensch spielt und läßt spielen, mit sich und den anderen.3
Taboris Erfolg kann also vielleicht auch als Ausdruck einer unzulässigen Erleichterung gesehen werden: "Er darf das!" Er ist ja Jude, sein Vater ist in Auschwitz umgekommen. Er darf den Witz erzählen, und wir, im schon immer schützenden Dunkel der deutschen Zuschauerräume, dürfen dann auch lachen, wenn Hitler zu Herzl sagt: Jude, ich schätze deine Handreichungen. Wenn meine Zeit gekommen ist, werde ich dich angemessen entlohnen. Ich werde dir einen Laden kaufen, damit du es warm hast, und wenn du richtig alt bist, finde ich eine saubere Lösung für dich (II, S. 163).
Wir lachen mit dem Juden über Auschwitz - und das ist sicher manchmal wie ein Erwachen aus einem Alptraum, der eben keiner war. Dennoch macht es sich eine solche Kritik zu leicht. Es ist nicht das Freisprechen von Schuld, das
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Vgl. dazu den Beitrag "Abdankung des Dokumentarischen?" von Sandra Pott und Marcus Sander in diesem Band. Wochenpost, 1.6.1994.
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Taboris Theater so erfolgreich macht, sondern eine komplexere Strategie. Meine Überlegungen gehen von der Annahme aus, daß Taboris Erfolg nicht nur der (Un-)Glücksfall einer besonderen gesellschaftspolitischen Konstellation ist, der die Aufarbeitung der Shoah (k)ein besonderes Anliegen gewesen wäre, sondern seine Ursachen in der Theaterprogrammatik und Arbeitskonzeption hat, die Tabori seit seiner Rückkehr nach Europa konsequent entwikkelte. Sie hat ihren Niederschlag nicht nur in den zahlreichen Dramen gefunden, die Tabori seit den Kannibalen veröffentlichte, sondern auch in den Dokumenten und Interviews zu seinen Bearbeitungen und Inszenierungen, in seinen gesammelten Essays zum Theater und dem Erlebnisbericht des Schauspielers Peter Radtke M -wie Tabori. Dieses Textkorpus will ich nach den verstreuten Spuren und Symptomen von Taboris Sicht auf das Theater als Kunstform absuchen, um dann anhand von Taboris Bezug auf Beckett und seiner legendären Münchner Inszenierung von Warten auf Godot (1984) zu Aussagen über dieses so seltsam sichere Experiment zu kommen, als das sich Taboris Theater mir darstellt. Ich werde zunächst die besondere Beziehung zwischen Text und theatralem Raum zu umreißen versuchen, die Taboris Theaterarbeit prägt. Auf dieser Basis ist dann zu entwickeln, wie im Rahmen eines solchen Theater-Verständnisses Bedeutung mit Bezug auf bestimmte Konzepte von Identität und Gedächtnis erzeugt wird. Unabschließbares Thema der Stücke und der Inszenierungsarbeit sind die Gefährdungen des jeweiligen Selbstverständnisses der Figuren, die Brüche, die das Ineinander von Geschichte und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, für sie bedeutet - Gefährdungen, denen ein unablässiges, oft spielerisches Zitieren von Rollenmustern und Gedankenschablonen mit dem Ziel einer spielerischen Rekonstruktion von Identitäten entgegengesetzt wird.4
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Erika Fischer-Lichte beschreibt das Theater als Modell einer Identitätsbildung, die von einer anthropologisch verorteten Gefährdung derselben ihren Ausgangspunkt nimmt: "[...] die Abständigkeit des Menschen von sich selbst, wie Helmuth Plessner sie genannt hat, seine exzentrische Position, definiert die conditio humana. [...]. Das Theater als soziale Institution sui generis symbolisiert diese conditio humana, in der es zugleich sein Fundament und die Bedingung seiner Möglichkeit hat [...]." Da Fischer-Lichte Identität jedoch als Leitfaden einer allgemeinen Theatergeschichte versteht, kann nicht die hier fragliche Identität des bürgerlichen Individuums oder des psychologischen Subjekts im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, auf die sich das Identitätskonzept in der Theaterarbeit Taboris richtet; - vgl. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart (2 Bde.). Tübingen 1990, Bd. I.S.4.
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2. Theatrale Räume und innere Bühnen Taboris Stücke zeichnen sich sehr augenfällig durch eine Einheit des Ortes aus. Von der ersten bis zur letzten Szene finden sich die Protagonistinnen seiner Stücke in einer Lagerbaracke wie in Kannibalen, im kargen Raum eines Männerasyls wie in Mein Kampf, auf einem Friedhof wie in Jubiläum, in 'ihrer' Wüste wie in Weisman und Rotgesicht. In diesen Räumen etabliert Tabori eine Ambivalenz aus existentieller Unentrinnbarkeit und der Weite seines verzweigten historischen Kosmos. Wie elementar diese Konstellation für Taboris Verfahren ist, zeigt sich unter anderem in seiner Umarbeitung von Texten für die Bühne: So wird das Theaterstück Mein Kampf auf der Grundlage der gleichnamigen Erzählung gestaltet, gegenüber den unterschiedlichen Schauplätzen der Erzählung wird im Drama die Handlung ausschließlich auf das Interieur von Frau Merschmeyers Männerasyl beschränkt. Auch in der Bearbeitung von Shakespeares Kaufmann von Venedig verfahrt Tabori konsequent: Die für Shakespeares Drama wesentliche Raumteilung - das moderne Venedig wird dem arkadischen Belmont gegenüberstellt - wird von Tabori 'unterschlagen'; Venedig, die moderne Stadt, dient als einziger, als unentrinnbarer Ort von Taboris experimenteller Collage (aufgeführt in München 1978).5 Die Einheit dieser Räume ist immer die Einheit der Bühne - sie sind immer schon Bühnen. Das Fehlen der vierten Wand gibt nicht den Blick auf eine reale Situation oder deren Episierung oder deren Dokumentation frei - sie entblößt immer nur die Bühne selbst. Die Unentrinnbarkeit der räumlichen Abgeschlossenheit ist damit nicht zugleich eine Ödnis. Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen dem Verwiesensein auf sich selbst, in das Tabori seine Figuren einspannt, und den Höllen, wie sie Beckett, eine der Ikonen Taboris, für seine Gestalten erschafft:6 Letztere verweigern sich konsequent den Semantisierungsversuchen ihrer Asylsuchenden - selbst zum Aufknüpfen taugt der magere Baum in Warten auf Godot nicht mehr. Auf der Suche nach einer Gestaltungsfolie, auf der die Räume Taboris entstehen, werden statt dessen Situationen sichtbar, die durch die Semantisierungsleistung der Beteiligten, durch das Verschmelzen der inneren und äußeren Bedeutungswelten der Figuren erst entstehen. Während der Raum Becketts dieser Dichotomic Vgl. Andrea Welker u. Tina Berger (Hg.): George Tabori. Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte Juwelen in den Ohren. München u. Wien 1979. Vgl. zu weiteren Parallelen und Unterschieden zwischen Becketts dramatischem Werk und den theatralen und dramatischen Strategien Taboris in diesem Band "Friedhofs-Monologe" von Marcus Sander (S. 186-191).
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von Innen und Außen die Produktivität verweigert, scheinen Taboris Figuren geradezu auf den Rahmen angewiesen zu sein; es sind die inneren Bühnen der Figuren, die wir betrachten - ihre Asyle, Wüsten, ihre ruhelosen 'Ruhestätten'. Sie erscheinen als symbolische Orte, an denen der Kampf um eine Identität ausgefochten wird, die im immerwährenden Bezug zur Shoah noch möglich wäre - die Identität des Opfers, des Assimilanten, des Nachgeborenen, des Überlebenden. Zu Beginn der Aufführungen wirken diese Bühnen als karge Umräume, die auf ein Kammerspiel, auf die Vormachtstellung der Sprache in der Vielzahl theatraler Ausdrucksmittel hindeuten. Doch diese Bühnen sind mehr als der zufällige oder rein indikatorische Ort des Geschehens: Die Einheit des theatralen Raumes ermöglicht es den Figuren, innere Entwicklungen, Strategien zur psychischen Verarbeitung der jeweiligen Extremsituationen, in die Tabori seine Figuren stellt, nach außen zu projizieren. Die Einheit des Raumes, die Permanenz bestimmter Objektbezüge, ist meist ihr einziger Anhaltspunkt im Kampf um eine persönliche Kohärenz; sie befinden sich ständig in einer quasi gestalttherapeutischen Situation.7 Ich werde im folgenden darauf zurückkommen, inwiefern diese Konstellation auch in Taboris Arbeit mit den Schauspielerinnen eine wesentliche Rolle spielt. Bezogen auf den theatralen Raum ist festzuhalten, daß Taboris Theaterarbeit darauf abzielt, die auf der Textebene entstehenden Bedeutungen durch die Gestaltung und Nutzung des Bühnenraums nicht nur zu kommentieren. Indem auf den übrigen Zeichenebenen des theatralen Raumes (Requisiten, Raumaufteilung, Licht etc.) ebenfalls Bedeutungen hervorgebracht werden, ordnet sich der gesprochene Text vielmehr in seiner Entstehung bereits in vielfach verzweigte Kontexte ein. Im folgenden werde ich daher im entsprechenden Zusammenhang von einer Vertextlichung des Raumes sprechen. Als ein signifikantes Beispiel für das Entstehen dieser Bühnenräume Taboris aus einer Situation, in der die Innenwelt der Protagonisten mit der räumlichen Konstellation verschmilzt, kann die szenische Lesung Masada dienen, die unter Taboris Leitung innerhalb weniger Tage im Oktober 1988 in Graz entstand: Eine Überlebende des mythisch gewordenen Massakers unter den in der Festung Masada verschanzten Juden und der jüdisch-römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus legen dialogisch Zeugnis von der Schuld des Überlebens ab. Der Raum der Lesung ist eine abstrakte Installation: Da sind ein Modell der Festung Masada, ein Haufen von Überresten des Lebens: Kleidung, Schuhe und Gebrauchsgegenstände, Stacheldraht und verbrannte Erde. Während der Darsteller des Geschichtsschreibers räumlich im wesentlichen an Vgl. Gundula Ohngemach: George Tabori. Frankfurt/M. 1989, S. 134f.
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sein Schreibpult und sein Buch gebunden bleibt, mißt die Überlebende das Interieur aus. Wichtiger als die reine 'Befindlichkeit' in dieser Kriegs- und Pogromlandschaft, deren historische Erstreckung von Masada bis zu den Konzentrationslagern der Nazi-Zeit präsent ist, ist aber das Geschehen, das sich darin abspielt. Die Verwandte des Eleazar durchwandert sie lange und ruhelos, suchend, aber ziellos suchend, findend, aber wie durch Zufall findend.8
Der Bezug der Überlebenden auf die Objekte der räumlichen Installation scheint im wesentlichen eine mnemotechnische Funktion zu haben, die sich in ersten Versuchen verdichtet, die Katastrophe symbolisch zu distanzieren und so zu verarbeiten. Zum anderen illustriert sie einfach das Berichtete. Die rasche Erarbeitung der szenischen Darstellung läßt in Masada ein frühes Probenstadium der Theaterarbeit Taboris erkennbar werden: Tabori beginnt seine Probenarbeit mit einer Mixtur aus Lesungen und gestalttherapeutischen Bezügen der Protagonisten aufeinander und auf Objekte, die sich später zu einer semantischen Einheit des Raumes verdichten. In Masada wird der Text großenteils gelesen, der umgebende Raum dient der symbolischen Internalisierung und Illustration der Textebene. Er ist dem Geschehen auf der Textebene noch nachgeordnet. Die Aufführung zeigt jedoch gleichsam eine Probenphase, in der die Schauspielerin durch ein emotionales Sich-Beziehen auf die Gegenständlichkeit des Raumes diese Relation von Text zu Raum umzukehren beginnt. Durch ihren Bezug auf die räumliche Konstellation wird bereits deutlich, daß sich der Text in eine Vielzahl von Kontexten einschreibt. Der Bühnenraum nähert sich durch diese semantischen Überlagerungen der Bedeutungs- und Verweisdichte moderner Lyrik. Hierauf verweist auch Hans-Peter Bayerdörfer in einem Aufsatz, der die Bezüge dieser szenischen Installation auf die Dichtung Paul Celans thematisiert: Der vielgestaltige Raum, der [...] auf alle Zentral-Perspektivierung verzichtet, mithin ein Nebeneinander von Bedeutungen evoziert, läßt sich als räumliche Auffächerung des Sprach-Raumes verstehen, der in dem Eröffnungsgedicht der 'Niemandsrose' vorformuliert ist. Masada und Shoah werden simultan, die zeitlich-geschichtliche Tiefendimensions des Gedichts [aus Celans Zyklus "Niemandrose" wird einleitend vorgetragen, Anm. S.P.] wird in die Gleichzeitigkeit transponiert; das Raum-Zeit-Kontinuum, das sich im Laufe des Ausschreitens ergibt, birgt eine Vielzahl von 'Funden', die der Grabenden zufallen.9
Hans-Peter Bayerdörfer: Celan auf der Bühne. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989), S. 151-166, hier S. 153. Ebd., S. 160.
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In anderen Inszenierungen Taboris bildet eine solche Überblendung oder Gleichschaltung verschiedener Referenzbereiche lediglich die Grundlage für das eigentliche szenische Geschehen10 - die szenische Lesung Masada 'bescheidet' sich damit, eine solche Simultaneität von Ereignissen und kulturellen Kontexten herzustellen und den verschiedenen dadurch entstehenden Mehrdeutigkeiten nachzuspüren. Die Figuren der Masada-Überlebenden und des Geschichtsschreibers Flavius Josephus sind hier noch nicht zu Tabori-typischen Theaterfiguren geworden, deren Identitätssuche gezieltere Objektbezüge und schließlich eine Geschlossenheit der räumlichen Semantik zur Folge gehabt hätte. Die Figuren sind in der szenischen Lesung noch hauptsächlich im Text präsent - ihre Identitätssuche als Überlebende bleibt, obwohl wesentliches Thema der Darstellung, im theatralen Raum eine Markierung. Gerade der 'Abbruch' der Arbeit in einem frühen Stadium - hier dadurch begründet, daß die Lesung ursprünglich gar nicht als Aufführung gedacht war - ermöglicht uns diesen Blick auf Prozesse von Bedeutungserzeugung in Taboris Theaterarbeit. Nahem wir uns weiter. In seinen Stücken gibt Tabori die Einheit des Ortes, die Geschlossenheit der Szenerie vor. Damit wird eine bestimmte Art des Darstellungsprozesses unterstützt: In der Inszenierung von Mein Kampf durch Thomas Langhoff (Berlin, März 1990) hat sich der Zirkel zwischen Text und Raum geschlossen; der Bühnenraum ist dem Text nicht mehr im Sinne einer Kulisse nachgeordnet. Die Treppe, die in das Asyl hinunter führt, der Fleischerhaken in seiner Schiene, die Federung der Feldbetten sind kinetische Elemente, mit deren Hilfe sich die Bewegung der Protagonisten verselbständigt: sie geben nur noch den Impuls - die räumlichen Funktionen bestimmen die Figuren, sie bestimmen sich im Umgang mit dem räumlich-kinetischen Potential. Der Raum um den Ofen, ausgewiesen als Identitäts-Raum Schlomos, zeigt sich einmal als sakraler Ort, als Environment jüdisch-religiösen Lebens - unter anderem im Bezug auf die Gepflogenheiten koscherer Küche, einmal als Zitat der Verbrennungsöfen von Auschwitz. Um einen Sessel am vorderen Rand der Bühne entsteht ein Ort des Kommentars, in dem zwischen den diskrepanten Informiertheiten der Figuren und der Rezipientlnnen vermittelt wird - ein Raum, dessen unterschiedener fiktionaler Status auch Erscheinungsformen von Transzendenz einschließt. Er wird zunächst vom arbeitslosen Koscherkoch Lobkowitz, der sich für Gott hält, 'bewohnt', dann von Hitler besetzt. 10
Etwa in der sich anschließenden Inszenierung seines Stückes Weisman und Rotgesicht, März 1990, in der Wiener Burg.
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In der Inszenierung wird die theatrale Form als Dialog höchst unterschiedlicher Texte genutzt: Der gesprochene Text korrespondiert einem Raum-Text, einem Körper-Text und vielen weiteren Texten der Zeichensysteme, die an der theatralen Repräsentation beteiligt sind. Die Vertextlichung des Raumes läßt den gesprochenen Text, der in diesem gegliederten Bühnen-Raum statthat, lediglich als die Spitze eines Eisbergs erscheinen, eines durch die Jahrhunderte gewachsenen Berges von Texten. Diesen theatralen Bedeutungszusammenhang zu untersuchen, verlangte eine intensive theatersemiotische Analyse - hier mag die Feststellung genügen, daß in dieser Nutzung des Theaters als Ort eines intertextuellen Zusammenhangs ein Verweismuster angelegt ist, das auch auf der inhaltlichen Ebene des Stückes zum Thema wird: Schlomo und Lobkowitz spielen - zumeist scheinbar auf dem Niveau von Kalauern, tatsächlich aber in der Tradition jüdischer Exegese - immer wieder mit den vielfachen Bezügen jeder aktuellen Rede auf mögliche Kontexte im kulturellen Gedächtnis der Jahrtausende. Eine Unbeherrschbarkeit der Verweisstrukturen tritt hier zutage, die - durch die damit verbundenen Verunsicherungen der Logik persönlicher Biographie - Hitler in Angst und Schrecken versetzt: HERZL Wie auch immer, beruhigen Sie sich und hören Sie auf, Metaphern zu mischen. [...] Was in ihrem Namen steckt, Junge? Ich sage Ihnen, was alles in einem Namen stecken kann. Herz reimt sich auf Schmerz. Schlomo auf homo (II, S. 154).
Bezogen auf den theatralen Raum soll hier deutlich werden: Gerade die Einheit des Ortes macht seine Semantisierung im Sinne letztlich unabschließbarer Verweise möglich. Würde Tabori seine Szenen zum Beispiel jeweils in einen den Textverweisen entsprechenden Raum stellen (eine Szene im Männerasyl neben eine Szene in der Wiener Kunsthochschule neben eine Szene im Führerhauptquartier), wäre die semantische Dichte der jeweiligen Räume zwangsläufig geringer. Der einheitliche Raum jedoch lädt sich im Gang der Handlung nach und nach mehrfach symbolisch auf und, nachdem ein erster 'Subtext' den Raum symbolisiert hat, erzeugt der Raum fortan selbst Subtexte in seiner Konfrontation mit dem aktuellen Text. Der Begriff des Subtextes ist hier aus Taboris eigenem Wortgebrauch entlehnt: Der Begriff meint in Taboris Verwendung die Vielzahl der bei der Umsetzung eines schriftlichen Textes in eine szenische Darstellung jeweils neu entstehenden Texte - individuelle Lesarten und Konnotationsebenen, die von den Spielenden hergestellt werden, ebenso wie die Texte, in denen sich die verschiedenen theatralen Zeichensysteme organisieren." Vgl. Tabori: Feigenblatt, S. 34. Vgl. auch Anat Feinberg in diesem Band (S. 70).
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Das im Vorangegangenen beschriebene Arbeiten mit einem einheitlichen räumlichen Rahmen, der vertextlicht wird und im Gegenzug den jeweils gesprochenen Text in seiner Entstehung bereits in Kontexte einordnet - also quasi verräumlicht -, kann man als die genuin theatrale Herangehensweise Taboris verstehen. Taboris Räume sind immer bereits Bühnen - den Einwohnern eines unentrinnbaren Ortes werden alle Objekte zum Verweis, Bretter bedeuten Welten, ein Kosmos entsteht in einem beobachtbaren Rahmen. Taboris Stück Die Goldberg-Variationen macht mit diesem Konzept Ernst: die Einheit des Raumes wird hier durch die Bühne auf der Bühne hergestellt, auf der die Protagonisten mehr oder weniger vergeblich versuchen, die Geschichte der Menschheit als Theaterstück zu inszenieren. In meinem Beitrag "Die Verwandlung von Schrift in Spiel" versuche ich zu zeigen, daß es die ohnehin ständige Nutzung des Konzepts von der Bühne auf der Bühne ist, die es Tabori in diesem Stück leicht macht, eine solche Doppelung zu etablieren. Es gelingt ihm, über die Herstellung der Bühne-auf-der-Bühne-Konstellation hinaus diesen denkbar allgemeinen Raum vielfach zu semantisieren: als Raum der Religion (als das Schema der Vertretungen der Transzendenz in der Immanenz) und als soziales Spiel der Repräsentationen von Macht. Die GoldbergVariationen mögen daher eines der komplexesten Stücke George Taboris sein. In dieser genuin theatralen Herangehensweise Taboris ist wohl ein Geheimnis seines Erfolges zu erkennen. Doch bisher konnte ich diese Theatralität lediglich als ein Vertrauen auf den Bühnenraum als Bedeutungsträger beschreiben. In der theatralen Erarbeitung von Texten durch Tabori zeigt sich dies als ein Vertrauen auf das Prinzip, daß der auf der Bühne gesprochene Text sich in einen Kosmos von Kontexten einordnen wird und einordnen läßt. Hierin liegt ein wesentliches Element der Modernität Taboris: Wer seine Dramentexte liest, weiß, daß sie lediglich die Anknüpfungspunkte enthalten, die es möglich machen, sie in Kontexte zu stellen - es sind in sich zunächst erstaunlich einfach gearbeitete Texte, jedoch voller Falltüren, mit einer Fülle von Verweisen, die Leserinnen und Darstellerinnen schließlich der Sicherheit der oberflächlichen Lektüre, der sie sich zunächst anbieten, berauben. Dies ist die andere Seite eines genuin theatralen Wissens um die Semiotizität räumlicher Darstellung: die Texte für sich verschließen sich nicht im Sinne eines klassischen Werks zu einem eigenen Bedeutungskosmos.
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3. Lebensgeschichte als Medium Nach Herleitung dieser These bleibe ich jedoch mit einer grundsätzlichen Frage zurück: Zum einen finden sich Texte, die dafür geschrieben sind, sich in Kontexte einzuordnen, zum anderen Theaterereignisse von großer semiotischer Dichte. Was aber ist das Medium, auf das Tabori so blind vertrauen kann, daß es den Bezug der schriftlichen Vorlage zu ihren Kontexten herstellen werde? Wie vollzieht sich die theatrale Transsubstantiation vom Text in einen Raum der Bedeutungen? Wie entgeht Taboris Raum der Leere der Räume Becketts? Wie wandelt sich Unentrinnbarkeit in semantische Weite? Nehmen wir hier den Faden wieder auf, der in der Beschreibung von Masada geknüpft wurde, und blicken auf das Procedere der Probenarbeit, so läßt sich diese Frage möglicherweise beantworten. Die theoretischen Grundlagen von Taboris Auffassung des Schauspiels gehen im wesentlichen auf die Arbeit Lee Strasbergs und seines New Yorker Actor's Studio zurück, mit dem Tabori über zehn Jahre in engem Kontakt stand.12 Strasberg wiederum verstand seine Arbeit als Erweiterung der klassisch-formalistischen Schule Konstantin Stanislawskis. Im Mittelpunkt der hier gelehrten Technik, in Schauspielerinnenkreisen einfach 'method' genannt, steht das emotionale Erinnern: Für die Darstellung einer bestimmten Situation verschafft sich der/die Darstellende Zugang zu einer parallelen Situation aus der eigenen Erfahrung. Versuchen wir diese Technik als Prozeß der Bedeutungserzeugung zu beschreiben, zeichnet sie sich durch drei Operationen aus: 1. Zu der zu spielenden Situation muß eine analoge Situation aus der persönlichen Erinnerung gefunden werden - da häufig extreme Erfahrungen Thema der Darstellung sind, wird hier mit dem Kriterium der Ähnlichkeit gearbeitet. 2. Um die so gefundene eigene Erinnerung zu aktualisieren, konzentriert man sich auf die Aktualisierung eines ihrer Elemente (häufig auf einen peripher am Geschehen beteiligten Objektbezug) und trainiert das emotionale Gedächtnis darauf, anhand dieses Anhaltspunkts ohne weiteres rationales Zutun die gewünschte Situation herzustellen. 3. Ist die emotionale Situation einmal hergestellt, muß sie häufig wiederholt werden, um sie so zu festigen, kontrollierbar zu machen und schließlich in den Fluß der Darstellung einzubinden.
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Ich danke Gabi Kloock für die gemeinsamen Überlegungen und die wichtigen Hinweise bezüglich der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Lee Strasbergs 'method1 und Taboris Proben-Technik.
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Fast das gesamte Schauspiel-Training versteht sich als Erarbeitung dieser drei Schritte und als Herausbildung der dazu notwendigen Kompetenzen, wie körperlicher und geistiger Entspannung, Konzentration und Kontrolle. Mit einiger Kenntnis strukturaler Bedeutungsmodelle13 läßt sich in diesen drei Schritten unschwer der Nachvollzug der wesentlichen Komponenten von Bedeutungsentstehung entdecken. Der erste Schritt entspricht der Metaphorisierung: zwei Elemente werden in translativen Bezug zueinander gesetzt, ohne deckungsgleich zu werden. Der zweite Schritt entspricht der Metonymisierung: Kontexte werden durch Teil-Ganzes-Beziehungen etabliert. Der dritte Schritt ist der der Signifikation: ein Bedeutungskomplex wird durch ständige Wiederholung verfestigt und so zum potentiellen Zeichen in einer bestimmten Aussagefolge. Die für unsere Fragestellung relevante Engführung des so beschriebenen, technisierten Bedeutungsprozesses besteht nun darin, daß der gemeinsame Bezugspunkt der miteinander verbundenen Elemente und definierten Kontexte in der 'method' immer die lebensgeschichtliche Situation ist - emotionale Erinnerung bleibt an individuelle Erfahrung geknüpft. Bedeutung wird so quasi als Äquivalent lebensgeschichtlicher Erfahrung definiert. Obwohl Taboris Probenarbeit und seine Darstellung wesentlich mit diesen Techniken arbeiten, kann Taboris Theaterkonzept nicht einfach als Weiterfuhrung dieser Schauspieltradition beschrieben werden. Der wesentliche Unterschied besteht zunächst darin, daß die Technik der emotionalen Erinnerung für Stanislawski und Strasberg in eine Ausbildung zum/zur Darstellenden integriert waren. Die Technik wurde hier begriffen als Voraussetzung für die Arbeit in einem Theaterprogramm, das ganz wesentlich auf die Zurechnung auf Charaktere abstellte: Mit der Entwicklung des naturalistischen Dramas standen die Figuren mehr und mehr in einem abbildhaften Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität, sollten als natürliche Menschen wirken, deren Gefühle und deren Verhalten Ausdruck sozialer Kontexte waren. Hier war eine psychologische Nuancierung des Spiels gefragt, die allein durch die Identifikation der Darstellenden mit den Figuren herzustellen war. Um dies zu erreichen, um etwa Tschechow angemessen spielen zu können, erarbeitete Stanislawski seine Technik des Schauspiels. Strasberg entwickelte sie weiter, um Schauspielerinnen zu Charakterdarstellerinnen zu machen, zu potentiellen Hollywood-Stars, deren darstellerische Fähigkeiten den Nahaufhahmen der Kameras standhalten konnten, und deren figurale Persönlichkeiten die Dürftig-
Vgl. hierzu Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymie. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. 3 Bde. Frankfurt /M. 1971, Bd. l, S. 323-333.
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keit textlicher Vorlagen übersehen ließen. In beiden Fällen wird die Technik jedoch der eigentlichen schauspielerischen Tätigkeit gegenüber als vorgängig betrachtet. Wichtig ist in diesem Konzept vor allem anderen die Kontrolle der Schauspielerinnen über die so genutzten Emotionen - eine Kompetenz soll ausgebildet werden, die im Zweifelsfall so sicher funktioniert wie eine Maschine. Im Mittelpunkt der Darstellung stand nicht etwa der Prozeß der persönlichen Selbstfindung, der nun mithilfe der Techniken zur Repräsentation von Gefühlen darstellbar geworden wäre, sondern jeweils eine 'story1, die auf der Zurechenbarkeit auf bestimmte Charaktere, ihre emotionalen Reaktionen und typischen Verhaltensweisen basierte. Tabori seinerseits macht alles andere als psychologisch-naturalistisches Theater: Seine Figuren sind niemals - auch nicht mithilfe psychologischer Deutungsmuster — gänzlich zu erfassen, denn wären sie das, wären sie sozusagen bereits selbst auf diese Möglichkeit der Definition verfallen und kämpften nicht mehr um ein Bild von sich selbst; sie sind statt dessen immer bereits Überlagerungen von Figuren, auch Figuren verschiedener Genres wie Farce und Trauerspiel. Betrachtet man Taboris Probenarbeit, wird schnell deutlich, daß er sich die genannten Techniken von Metaphorisierung, Metonymisierung und Signifikation dennoch und zwar in einer weitergehenden Weise zunutze macht: Zwar dienen sie ihm zur Anleitung der Darstellenden bei der Rollenfindung, doch diese Rollenfindung bleibt der Darstellung nicht nur vorgeschaltet, sie wird häufig zu ihrem Kern. Zwei Beispiele: Der Schauspieler Peter Radtke beschreibt, wie Tabori ihn in der Erarbeitung der Rolle eines behinderten Kindes in einer Inszenierung der Medea mit einem Teddybär als Gegenstand der Improvisation vertraut macht. Dann verbrennt Tabori das Plüschtier und konfrontiert den Darsteller in einer Schocksituation mit dem verbrannten, mißhandelten Teddy: Ich fahre zur Kiste - meine Spielsachen liegen darin - hebe den Deckel. Betäubt weiche ich zurück. Gestank von angebranntem Seegras schlägt mir entgegen, von verkohlter Wolle. Ich schaue in die Truhe. Vor mir der flauschige, riesige Teddybär - nein nur, was noch von ihm übriggeblieben ist: ein mich traurig anblickender Tierkopf, schlaksig herunterhängende Arme und Beine, in der Mitte ein schwarz umrändertes, übelriechendes Loch. Innereien des Plüschtieres quellen hervor. Ein leiser Schrei. Irgendwo höre ich zischen: 'Mach weiter!' [...] Der widerlich süße Geschmack, ein Zimmerbrand fällt mir ein - ich war Kind - nicht in unserer Wohnung, ein Stockwerk tiefer. Rauchschwaden waren heraufgestiegen, hatten auch unsere Räume mit einer Rußschicht belegt, mit eben jenem süßlichen Parfüm, das mir jetzt das Unterste zuoberst kehrt. Ich beginne meinen Text, achte auf keine Worte.14
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Peter Radtke: M wie Tabori. Zürich 1987, S. 57.
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Diese Probensituation wird beinahe unverändert in das Stück übernommen. Um sie herzustellen, wurde die Technik der Metonymisierung im doppelten Sinne genutzt: Der verbrannte Teddy steht metonymisch für einen Kontext von Kindheit, der im ganzen aktualisiert werden soll; Radtke verbindet ihn dazu konkret über eine olfaktorische Erinnerung mit einem Erlebnis aus seiner Kindheit. Insgesamt beschreibt Radtke die Proben als Selbsterfahrungsprozeß: Einen qualitativen Sprung nach vome gibt es, als ich das erste Mal meinen Rollstuhl verlasse. 'Kannst du auch auf dem Boden sitzen?' Gespielt arglos schaut mich George an. Ich nicke bejahend. 'Dann hebe Peter aus dem Rollstuhl heraus!' muntert der Meister Uschi auf. [...] Am Boden hocken - seltsam, wie ich das schöne Gefühl vergessen konnte, wenn ich auf den Knien meiner Mutter saß, meinen Rücken gegen ihre Schultern schmiegte. Uralte Erinnerungen steigen in mir hoch mit der Wärme, die vom Körper meiner Partnerin ausgeht.15
Tabori radikalisiert also die Technik des emotionalen Erinnems: Er überläßt es nicht den Darstellerinnen, durch emotionales Erinnern als Technik eine Rolle zu erfüllen, sondern er schafft in der Probenarbeit Situationen, die ein emotionales Erinnern erzwingen oder sogar selbst Gegenstand emotionaler Erinnerung werden können. Er erzeugt diese Situationen durch Metonymisierungen und Metaphorisierungen. Wenn er etwa zwei Darstellerinnen bittet, eine aktuell entstandene Situation in den Rollen von Tieren oder mithilfe eines fremden Ausdrucksmittels - etwa einer Phantasiesprache - zu wiederholen, hat diese Kommunikation ihren Wert allein in den entstehenden metaphorischen und metonymischen Verbindungen zum Ausgangstext. Er weist die Probensituationen damit von vornherein als Repräsentationen aus - sie selbst sind bereits theatral. Die Grenzen zwischen Selbsterfahrung als technischer Grundlage der Darstellung und der theatralen Situation verschwimmen immer weiter, je weiter der Probenprozeß fortschreitet. Als weiteres Beispiel dazu ein Bericht über eine Situation der Probenarbeit zum Shylock-Projekt: George Tabori bespricht die Konzeption der Jessica mit Siemen Rühaak. Er wird als junger Mann in einen Kreis geworfen und erzählt, wie er draußen von den Nazis mißbraucht und gefoltert wurde. Die anderen Schauspieler sollen dann zu ihm hingehen und ihn in eine Frau umziehen. Alle sitzen auf Stuhlen im großen Kreis. Siemen R. liegt in einem alten Soldatenmantel in der Mitte. Jeder beschreibt, was er sieht. [...] Jeder fragt dann: 'Ist das Jessica?' Schließlich geht Felix v. Manteuffel hin und schaut: 'Ja, es ist Jessica.' Siemen R. bleibt liegen und erzählt, was ihm Grausames geschehen ist. [...] Siemen R. schaut jeden an; schließlich geht Lanzelot/Ursula Höpfher auf ihn zu und zieht ihn sanft und zärtlich in Jessica um, die anderen sprechen dazu '... In solcher Nacht...'.
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Ebd., S. 51.
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Wenn Jessica angezogen ist, nimmt sie den Text langsam an, den ihr Lorenzo/Klaus Fischer und Lanzelot/Ursula Höpfher vorsagen.16
So wie die Probensituationen bereits theatral sind, bleibt die Darstellung auf der Bühne immer eine Art Probe. Der für die klassische institutionelle Organisation von Theater wesentliche Sprung zwischen Probe und Aufführung verschwindet. Während die Auffassung der emotionalen Erinnerung als einer Technik davon ausgeht, daß die Charaktere im theatralen Geschehen lediglich die Grundlage einer bestimmten Handlung sind, wird das Finden einer Rolle in Taboris Theaterkonzeption zum Modell des theatralen Geschehens selbst. Eine solche Suche nach der Rolle bestimmt das Gerüst der meisten seiner Dramen. Ihre Figuren suchen nach Selbstdarstellung, finden sie in Auseinandersetzung, Abgrenzung und Identifikation mit anderen Suchenden und verlieren sie wieder, finden sie in Rollenmustern wie Täter und Opfer, Herr und Knecht - und finden sich plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite der Dichotomien wieder, suchen 'Welt-Anschauungen' und bleiben Suchende. Hierin liegt das Experimentelle dieser Theaterform: kaum einmal erscheint die Identität der beteiligten Figuren gesichert, die tragenden Protagonisten der Stücke und Inszenierungen bleiben immer in Bewegung, um ihrer existentiellen Gefahrdung entgegenzuwirken. Dennoch ist dies bezüglich der theatralen Darstellung selbst ein Experiment mit absolut sicherem Ausgang: Den Zeugnissen von Darstellerinnen zufolge ist Tabori in den letzten Jahren seiner Theaterarbeit mehr und mehr von dem früheren Aufwand seiner installierten Improvisationen, wie sie den Probenprozeß von Medea oder den des Shylock-Projekts prägten, abgekommen. Seine Regie-Technik scheint heute häufig darin zu bestehen, sich als Anleiter der Darstellenden solange zurückzunehmen, bis diese an ihrer Aufgabe, an der Darstellung zu scheitern beginnen, um dieses Scheitern dann inszenieren zu können. Regie wird ersetzt durch das Vertrauen in einen genuin theatralen Mechanismus: So wie Schauspiel - wie es in der 'method' entworfen wird - auf eine Engfuhrung von Bedeutungsprozessen in Richtung auf individuelle Erfahrung und Ich-Findung hinauslaufen kann, läßt sich umgekehrt auch jede individuelle Bedeutungserzeugung der Darstellenden von Anfang an als theatrale begreifen - als der Versuch, sich z.B. über einen symbolischen Objektbezug eine Figur anzueignen. Es genügt, diesen Mechanismus niemals in Frage zu stellen: Wenn Bedeutung immer lebensgeschichtliche Bedeutung bleibt, kann die
Andrea Welker u. Tina Berger (Hg.): George Tabori (Anm. 5), S. 52f.
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Differenz von Darsteller und Rolle produktiv gemacht werden, indem sie im Ringen der theatralen Figur um ihre Identität wieder abgebildet wird. Der Kampf des Darstellers um die Darstellung und das prozessuale Scheitern der Identitätsentwürfe im Stück funktionieren analog. Sie vollziehen sich nach den genannten Prinzipien von Metaphorisierung, Metonymisierung und Signifikation.Tabori entmethodisiert die 'method' und macht sie damit zum theatralen Ereignis.17
4. Identität als Prinzip theatraler Darstellung Ich komme auf die Raumkonstellationen zurück und versuche, den Kreis der Betrachtungen zu schließen: Wird der individuelle Prozeß der Bedeutungserzeugung durch die Darstellenden als theatraler Mechanismus verstanden und genutzt, so verlangt er nach einem Rahmen, um nicht ins Beliebige abzugleiten. Die Einheit des Raumes, die Auswahl einer begrenzten Anzahl von Objekten zieht im Kampf der Figuren um Identität und in der Erarbeitung der Rolle durch den Darsteller wie zwangsläufig die vielschichtige Semantisierung des Bühnenraums nach sich. Tabori verlegt also sowohl die Vertextlichung des Raumes als auch die 'Erarbeitung' der Rolle von der Vorbereitung in die Aufführung hinein. In solchen Aufführungen wohnt das Publikum der theatralen Bedeutungserzeugung bei - das heißt: im Mittelpunkt der Darstellung steht weniger die Verkörperung dramatischer Geschehnisse als vielmehr die Entstehung theatraler Bedeutung aus der Verschränkung der Identitätssuche der Figuren und der Darstellungsversuche der Spieler und Spielerinnen. Aus dem Fundus der Erinnerung erzeugen die Darstellerinnen ihre Interpretationen der Rollen, die Figuren der Stücke ihre Identitäten und beide mit dem Publikum zusammen allmählich Topographien von Konnotationen, die sich über den Bühnenraum legen. Auf meine Frage nach dem Medium, mit Hilfe dessen sich Taboris Transsubstantiation von Text in Theater vollzieht, gibt es nun eine Antwort: Das Medium der Transsubstantiation ist der persönliche Identitätsprozeß der Darstellenden. Dies erklärt Taboris Diktum vom Schauspieler als dem professionellen Menschen, auf das ich mich eingangs dieser Überlegungen bezogen 17
Sandra Pott weist in diesem Band in ihrem Beitrag '"Ecce Schlomo': Mein Kampf- Farce oder theologischer Schwank?" daraufhin, daß sich dies auch im Text der Stücke Taboris wiederfindet: In Mein Kampf versucht Schlomo Hitler mit Hilfe der 'method' das Weinen beizubringen.
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habe. Theatrale Bedeutung entsteht, indem in den Text die Differenz von Innen und Außen, d.h. hier von Lebensgeschichte und historischem Geschehen, Darsteller und Bühnenraum hineingelesen wird. Die grundsätzliche Gefahrdung persönlicher Identität läßt die Bühne im ganzen zum Raum ihrer Erarbeitung werden. Die Figuren in Taboris Stücken und Inszenierungen werden in ihrem Selbstbild existentiell verunsichert. Um diesen Verunsicherungen zu begegnen, bilden sie sich ab, stellen sich dar - ihre Darstellungsversuche semantisieren den Bühnenraum: Die Küche des Asyls in Mein Kampf"wird zur jüdischen Kultstätte, das Renaissance-Venedig des Shylock wird zum Berlin des Pogroms vom 9. November 1938. Letztlich bleibt den Figuren in der ganzen Ambivalenz einer solchen Lösung die Bühne als Ort ihrer Identitätssuche, indem ihre geöffnete Identität uns zur Bühne wird. Kulturelles Gedächtnis und biographische Erinnerung durchdringen sich hier gegenseitig. Die emotionale Erinnerung als Technik des Schauspiels wird von der inneren Bühne auf die Bühne des Theater übertragen - biographisches Gedächtnis wird kulturelles Gedächtnis. Die Bühne, der Raum des kulturellen Gedächtnisses, ist jedoch ihrerseits nach dem Bild der inneren Bühne gestaltet - kulturelles Gedächntis funktioniert nach dem Modell des biographischen Gedächntisses. Genauer: Was für den Einzelnen, die Figur, den Darsteller nicht mehr abschließbar ist, findet in seiner Prozeßhaftigkeit durchaus eine sekundäre Geschlossenheit. Wenn das kulturelle Gedächtnis nach dem Modell des Biographischen gebaut wird, bietet es einen Rahmen, in dem der moderne Verlust von Identität in einen Prozeß der Suche umgeschrieben werden kann. Einen solchen Rahmen bietet die Einheit des Bühnenraums den Figuren der Stückes Taboris. Die Suche nach individueller Identität zirkuliert im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses und erzeugt so erst seine sich wandelnden Topographien - dies gilt im Theater und in der Kultur im allgemeinen. Das kulturelle Gedächtnis ist damit Bühne und Fundus zugleich: hier finden sich alle möglichen Rollen, Analogsituationen und Symbolbeziehungen. Damit ist eine einfache und dabei höchst erfolgreiche Technik der Theaterarbeit beschrieben. Daß Taboris Theaterarbeit in der Beschreibung dieses Vorgehens noch nicht hinreichend charakterisiert ist, liegt daran, daß Tabori dieser Technik ein persönliches Element hinzufugen kann: Seine 'Methode' gewinnt dadurch an Authentizität, daß Taboris eigene Biographie, die des jüdischen Emigranten, Vielgereisten und letztlich heimatlosen Zurückkehrers selbst eng mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Tabori kann in der Darstellung der scheiternden Identitätskonzepte unseres Jahrhunderts die Erfahrungen desjenigen geltend machen, der (fast) immer dabeigewesen ist, der mitgelitten
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hat. Diese scheinbar unhintergehbare Autorität des Augenzeugen gibt den Ausschlag. Hier darf man auch heute noch auf'Authentisches1 hoffen. Das hat Seltenheitswert, das wirkt bei aller Undarstellbarkeit des Grauenhaften unseres Jahrhunderts wie eine Erlösung und diese Erlösung wird in den Feuilletons und den Theatern so überschwenglich gefeiert. Mit dem Bezug auf seine vielfältigen persönlichen Erfahrungen folgt Tabori einem Muster: Die Lebensgeschichte des jüdischen Autors ist immer schon allgemeine Geschichte - dies ist Tradition einer Kultur, die vielfach dort zum Zielpunkt von Anfeindungen wurde, wo sich historische Entwicklungen zuspitzten. Die Identität der Figur des jüdischen Erzählers selbst müßte sich dabei aus einer Einheit der Differenz von Lebensgeschichte und Geschichte ergeben. Diese Einheit jedoch ist im Fall Taboris die Shoah. Und die Shoah als Zäsur des Erfahrungskonzepts bietet keinen Stoff für eine klassische Identitäts-Erzählung, insofern ihr spezifischer Charakter aus der Perspektive der Opfer gerade in dem Versuch besteht, das Prinzip der persönlichen Identität zu vernichten, selbst noch die Identität des Erleidenden.18 So ist jede 'Erzählung' der Shoah immer ein Kampf um oder ein Kampf gegen die Erzählung selbst. Und so ist es dieser immerwährende Bezug Taboris auf die Shoah, der die Identitätsfindung seiner Figuren endgültig zum Paradox werden läßt. Theatral betrachtet wird sie gerade dadurch besonders produktiv: Indem sie nämlich prinzipiell scheitert, muß sie immer aufs Neue begonnen werden; indem Tabori die Versuche seiner Figuren, in der Selbstdarstellung eine Identität (wieder) zu finden, mit der Shoah konfrontiert, zwingt er sie, immer wieder aufs Neue einen wiederum scheiternden Anlauf zu nehmen — erst so entstehen Überlagerungen von Bedeutungen: jeder erneute Versuch erzeugt eine neue Schicht.19 Doch entspricht diese Inszenierung des Scheiterns tatsächlich dem, was unter dem Ettikett der Authentizität öffentlich gefeiert wird? Funktioniert eine solche Inszenierung des Scheiterns in seiner produktiven Zirkularität nicht gerade deshalb, weil sich Lebensgeschichte und Geschichte eben niemals ganz
Vgl. hierzu unter anderem Jean-Fran9ois Lyotard: Der Widerstreit. München 1987 (Paris 1983), S. 17ff. Hier liegt auch die große Bedeutung der Metonymie in Taboris Theater - schon das vorangestellte Zitat aus der Süddeutschen Zeitung verweist auf sie: Schuhe und Eisentüren bleiben von Auschwitz - sie sind, was bleibt, wenn Vergleiche und damit Metaphern unmöglich werden. Indem sich die Shoah dem Vergleich, der Metapher, entzieht, wird sie Teil der Darstellung allein durch die Figur der Metonymie: Details der Vernichtung verweisen auf einen Zusammenhang, der sich jedoch noch nicht einmal als Gesamtheit seiner Details erfassen ließe - zu hoch sind die Berge von Schuhen.
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aufeinander reimen lassen? Überspitzt formuliert: Funktioniert die Inszenierung unseres Scheiterns an Auschwitz bei Tabori nicht gerade deshalb, weil Tabori eben kein Überlebender der Shoah im engeren Sinne ist? Tabori hat Auschwitz nicht am eigenen Leib erfahren müssen. Erfahren hat Tabori allein die Abwesenheit des Vaters, seines Vaters Cornelius, der in Auschwitz ermordet wurde. Eine Abwesenheit, die er in seinem ersten Stück Die Kannibalen zu bearbeiten versucht. Hierzu schreibt er: "Jeder hat einmal den Wunsch verspürt, seinen Vater umzubringen, Doch, was, wenn das schon andere für einen erledigt haben?"20 Auschwitz ist für Tabori auch und vor allem der Mord am Vater. In Freuds mythischer Erzählung von der Entstehung des Über-Ichs und des Gewissens ist der Vatermord die Geburt des modernen Subjekts. Die Söhne töten den Vater und essen ihn. Ihre Erinnerung an den Vater aber, ihr Empfinden des Verlusts etabliert in ihnen anstelle des lebenden Vaters das väterliche Gesetz, das eine solche Tat in Zukunft verbieten wird: Das Gesetz als Trennung zwischen Begehren und Befriedigung. Karin Dahlke analysiert in ihrem Aufsatz ausführlich die Nähe, in die Auschwitz und Erbsünde in Die Kannibalen treten.21 Sie zieht die Schlußfolgerung, daß in Taboris Theater die Erinnerung an die Shoah mit der Erinnerung an die Grenzen und Bedingtheiten - die Verschuldung -jeder Subjektivität geknüpft ist. Diese Gefährdung im Kern des Subjekts, die das Subjekt erst konstituiert, ist keine Erfahrung, die erst die Shoah mit sich gebracht hat. Im Gegenteil: Dies ist ein Moment, das die Neuzeit, die Moderne als Ganzes erst ausmacht. Es hat sein Pendant in der Metaphorik des Sündenfalls, der wesentliches Thema auch der Goldberg-Variationen ist: Wir haben uns von Gott getrennt, uns gegen ihn gewandt, indem wir uns unserer selbst bewußt wurden. Diese Schuld zeigt ihre untilgbaren Spuren in der Notwendigkeit und zugleich der Unmöglichkeit einer Selbstsetzung, Selbsterfindung und damit einer Selbstsicherheit des modernen Subjekts. Das Subjekt sucht nach Identität, um das Unmögliche zu tun, nämlich seinen Ursprung selbst zu umfassen und so seine Schuld gegenüber dem Schöpfer zu tilgen. Der Abschluß einer Identität gelingt den Figuren in Taboris Stücken nicht. Sie scheitern an dieser unlösbaren Aufgabe. Doch sie scheitern niemals endgültig. Denn ihr Scheitern bedeutet lediglich ein Akzeptieren der Unabschließbarkeit der Suche. Und diese Form des Scheiterns feiert Tabori - er baut darauf, denn sie läßt die Suche nach Identität, die Aktualisierung der Erinne20 21
Tabori: Unterammergau, S. 37. Vgl. Karin Dahlkes Beitrag, besonders S. 136.
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rung immer wieder von neuem beginnen. So entsteht Bedeutung, so lädt sich das kulturelle Gedächtnis auf, und so füllt sich der Theaterabend. Tabori feiert hier einen Humanismus, der versucht, sein eigenes Scheitern in sich einzuschließen. Auschwitz wird entsprechend nicht als ein Ereignis erinnert, das die Moderne zäsuriert oder beendet, ihre Projekte ad absurdum geführt hat. Es wird vielmehr zu einer erneuten Initialzündung kultureller Bedeutungserzeugung: Auschwitz wird tendenziell zum Sündenfall, oder - wie Paul Ricoeur einmal formuliert hat - zum Anti-Sinai,22 und damit zum Modell desjenigen, was letztlich außerhalb der Erfahrung, außerhalb der Darstellung, außerhalb des Gedächtnisses als Raum des Biographischen steht. Es hat daher gerade in jener Leerstelle statt, die Bedeutung erst erzeugt: "Immer scheitern, wieder scheitern, besser scheitern" (II, S. 235). Das sind die Worte Goldbergs, des einzigen, der jemals auf Taboris Bühne eine auf den Arm geprägte Nummer offen zur Schau stellt. Sie zeigt sich in dem Augenblick, in dem Goldberg, der Regie-Assistent, anstelle des nicht erschienenen Christus-Darstellers auf der Bühne gekreuzigt wird. Wir sehen die theatrale Stellvertretung einer Stellvertretung - das Auschwitz-Opfer ersetzt den geschändeten Gott, damit das Spiel sich fortsetzen kann. Ist auch die Shoah selbst in Taboris Theater in der Rolle einer Stellvertretung? Hat die Shoah in Taboris Theater der Erinnerung tatsächlich Erbsünde und Kreuzigung abgelöst? Steht Auschwitz hier nun stellvertretend für das Ungeheure, für das, was Erinnerung erst auslöst, was das Spiel in Gang setzt? Der Prozeß der Identitätsfindung der Subjekte steht an so elementarer Stelle in unserem System kultureller Bedeutungserzeugung, daß es uns kaum bewußt wird, wenn ein Dramatiker und Regisseur gerade auf diesen Prozeß abstellt. Taboris Erfolg wird auf alles andere zurückgeführt - nicht zuletzt auf seine menschlichen Qualitäten, auf seine Lebensweisheit, nur nicht darauf, daß er eine sehr gängige Form der Bedeutungserzeugung theatralisch vorführt und uns damit in unseren Strategien bestätigt - und zwar gerade weil sie ständig scheitern. Tabori kann für sich arbeiten lassen, was uns vom Ideengut des Humanismus geblieben ist - die Unzulänglichkeit des Menschen: Ein Theaterabend läßt sich nicht kopieren, nicht mal der eigene, Menschen sind jeden Tag anders, selbst wenn sie dieselben Wörter und Handlungen wiederholen. Jeder weiß das, nur wenige in unseren Theatern sind bereit, es zuzugeben; 23 22
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Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. (3 Bde.) München 1988-1991 (Paris 1983-1985), Bd. 3, S. 304. Tabori: Feigenblatt, S. 38.
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In der Literatur- und Theatergeschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, die Identität des Subjekts als ästhetischen Bezugspunkt aufzugeben und zu ersetzen: Versuche, die in ihrer Differenziertheit dem heutigen Zugriff lange Zeit durch die Polarisierung des Nationalsozialismus, der Völkische' Identität gegen individuelle Identität und ihren Freiraum setzte, entzogen waren. In Mein Kampfgeist George Tabori in der Entwicklung der Figur Hitlers selbst auf die im Konzept der Identität implizierte Problematik hin. Die Folgen einer Identitätssuche, deren Träger die Zwangsläufigkeit des Scheiterns nicht erträgt, zeigt sich denn auch im letzten Akt: Hitler will Schlomo am Ende des Dramas schon deshalb um sein Leben bringen, weil dieser zum Zeugen seines Scheiterns wurde. Das Konzept der Identität steht - wird es nicht als Prozeß des Scheiterns begriffen - nicht weit von totalisierenden Abbildungsmechanismen, die die konforme Kohärenz des Objektbereichs1 zu erzwingen versuchen. Dieser Zusammenhang konnte letztlich wenig an der zentralen Stellung der Identitätsfindung in den Bedeutungsprozessen unserer individualisierten Gesellschaft ändern. Er hat dennoch viele Autorinnen dazu bewogen, nach alternativen Konzepten zu suchen - nach Formen, einzelne Texte in kulturelle Kontexte einzuordnen und sie zum Sprechen zu bringen, ohne auf den Selbstdarstellungszwang des Subjekts zu rekurrieren. Derlei Überlegungen liegen Tabori fern, und eine Beschreibung seines Werks mit Hilfe postmoderner Denkmodelle scheint mir in dieser Hinsicht verfehlt. Weniger fern steht ihm jedoch ein Autor, dessen Werk für diese Verweigerungshaltung subjektbezogener Bedeutungserzeugung und subjektiver Sinngebung gegenüber fast stellvertretend genannt werden könnte - auch wenn er keinerlei Alternativen zu den geschilderten traditionellen Mechanismen der Semantisierung anbietet. Konsequent läßt sich sein Werk als der ständig scheiternde Versuch sehen, Bedeutungsentstehung zu verhindern — gemeint ist Samuel Beckett.
5. Beckett inszenieren Ziel dieses Beitrags ist es nicht, Becketts Strategien der Bedeutungsvermeidung und Identitätsverhinderung selbst zu beschreiben; es interessiert lediglich die Form des positiven Bezugs, den Tabori in seiner Theaterarbeit auf diesen Autor nimmt. Verwunderlich erscheint der Bezug auf diesen Bedeutungsvermeider par excellence nur auf den ersten Blick. Betrachten wir die Prämissen und Modifikationen solcher Verehrung anhand von Taboris Essay
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"Besprechung am ersten Probentag", geschrieben anläßlich einer Inszenierung von Becketts Text Der Verwaiser. Nach dem bisher Entwickelten kann das in diesem Text entwickelte Pathos im Sinne von "Wir werden daran scheitern, und das ist gut"24 nicht mehr verwundern. Erst mit dem Scheitern erster naheliegender Deutungsversuche durch die Darstellenden öffnet sich das Potential sich wiederholender, einander widerstreitender Semantisierungsversuche, aus denen das Theaterereignis entsteht: "Nichts wird einem gelingen, wenn man nach dem Erfolg schielt. Ich mache Theater nur aus dem einen Grund: es ist die schwierigste Sache der Welt".25 Im zweiten Abschnitt des Textes umschreibt Tabori die Ursachen seiner Affinität zu Beckett. Hier finden sich die herausgearbeiteten Techniken der Bedeutungserzeugung wieder. Der Objektbezug der Figuren beispielsweise erscheint ihm als Wegweiser einer Metonymisierung: Jeder Gegenstand ist ein Teil des Träumers, die Schuhe in Godot, Winnies Handtasche, die dunkle Brille von Hamm sind Teile von Beckett selbst. Diese Träume sind Rätsel, man fragt sich: Was war das, was geht da vor? Nur Beckett, wenn überhaupt, könnte dieses Rätsel lösen, gottseidank weigert er sich - nichts ist langweiliger als ein gelöstes Rätsel.26
Tabori fühlt sich so durch Becketts Texte zur Erarbeitung eines theatralen Subtextes geradezu animiert: Das geschriebene Wort, auch wenn noch so großartig, ist ein Stück Lehm, das auf den Atemhauch wartet. [...] Was mich zu ihm zieht, ist die Suche nach dem Subtext, den es vielleicht gar nicht gibt.27
Tabori spricht zugleich seine Verehrung aus und kündigt an, daß 'Werktreue' von ihm nicht zu erwarten sei. Ich habe oben Taboris eigene Texte als eindimensional in ihrem direkten Bezug auf die Mehrdimensionalität des theatralen Raumes beschrieben. In Taboris eigenen Worten könnte man sagen, seine Texte zeigten in der Lektüre selbst die Notwendigkeit des 'Subtexts' an. Den Zitaten ist zu entnehmen, daß Tabori Becketts Texte in der gleichen Weise auffaßt. Die Hermetik Becketts erscheint Tabori als Schnörkellosigkeit, die den Text zum Subtext hin öffnet:
24 25 26 27
Ebd., S. 3l. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd.
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[...] und wie alle Propheten bietet er eine Diät und einen Einlaufund ein Purgatorium, mit dem einmaligen Genie, sich alle gefeierten Tricks, Schnörkel, Tröstungen, Fallen, Aufschneideren, Eitelkeiten, kurz, all den Schmuck, wie er es einmal selbst formuliert hat, zu versagen.28
'Was geschieht da wirklich?' Dies ist die wesentliche Frage, die Becketts Versuche, zur Sinnlosigkeit vorzudringen, für Tabori bei der szenischen Erarbeitung aufwerfen: Beim dritten und vierten Lesen erkannte ich das Offensichtliche, nämlich den besonderen Schrecken und die besondere Schönheit der Geschichte, die in der Spannung zwischen dem Was und dem Wie liegt, zwischen der Stimme, die beschreibt, und den Vorgängen, die beschrieben werden.29
Tabori stellt dem Was der Sprache Becketts das Wie der theatralen Umsetzung gegenüber - dieses Wie soll nicht an die Umsetzung des Was gebunden sein, in dieser Diskrepanz entsteht der 'Subtext'. Interessant ist, daß Tabori mit dieser Technik durchaus auf eine verwandte Konstellation aus Becketts Dramen zurückgreifen kann: Der Nebentext in Warten auf Godot beschreibt häufig Handlungen, die dem aktuell gesprochenen Text zuwiderlaufen. Das Schlüsselbeispiel dafür ist die Ankündigung der Figuren wegzugehen, die Unentrinnbarkeit zu verlassen: dieser Satz führt den Nebentexten zufolge meist zu einer weiteren Retardierung des Geschehens.30 Obwohl einiges dafür spricht, daß Beckett mit dieser Technik das Was der Sprache, in der seine Figuren doch unentrinnbar gefangen sind, noch weiter diskreditieren wollte, erkennt Tabori hier stattdessen seine oben näher beschriebene Technik wieder: Das Scheitern der Bedeutungserzeugung, das einen erneuten Versuch auf einer anderen Ebene nach sich zieht und so zur Semantisierung eines theatralen Raumes führt. Ich werde versuchen, anhand der Münchner Inszenierung von Warten auf Godot (1984) dieses Scheitern des Taborischen Scheiterns nachzuzeichnen einer Inszenierung, die vielleicht gerade deshalb so glorios ist, weil sie Tabori an seine Grenzen treibt. Anstelle einer vollständigen Aufführungsanalyse werde ich einige signifikante Momente der Aufführung herausgreifen. Im Werkraum der Münchner Kammerspiele erarbeitete Tabori das Stück mit Peter Lühr (als Estragon) und Thomas Holtzmann (als Wladimir). Die 28
Ebd., S. 36.
29
Ebd., S. 42. Vgl. Samuel Beckett: Warten auf Godot. Frankfurt/M. 1971, S. 37: "ESTRAGON Ich gehe. Er rührt sich nicht."
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Einheit des Ortes, für Taboris Herangehensweise so wichtig, ist im Text vorgegeben. Die Inszenierung gibt sich keine Mühe, der Angabe "Landstraße. Ein Baum" nachzukommen - als Einheit des Ortes dient stattdessen der Werkraum der Münchner Kammerspiele - völlig leer, das heißt als Arbeitsbühne kenntlich. Wieder begegnet uns das Taborische Muster von der Bühne auf der Bühne, jedoch hier in seiner ganzen Nacktheit: Der Ort ist als Bühne (genauer als Probebühne) für alle erkennbar - eine Tatsache, die den Darstellenden keinen Kommentar mehr wert ist. Statt dessen steigt Holtzmann/Waldimir in den gesprochenen Text mit den Worten ein: "Landstraße. Ein Baum."31 Er beginnt mit dem Nebentext, den er offen aus der wohlbekannten hellgrünen Suhrkamp-Ausgabe von Warten auf Godot abliest. Holtzmann und Lühr sitzen an einem Tisch, über dem eine Arbeitslampe hängt. In die Konstellation dieser Anfangsszenerie kehren die Darsteller regelmäßig zurück. Immer wieder sitzen sie sich gegenüber und lesen Haupt- und Nebentext ernsthaft und doch nahezu ausdruckslos vor. Wir glauben wiederum ein frühes Probenstadium der üblichen Theaterarbeit Taboris erkennen zu können - ein sehr frühes. Peter Radtke beschreibt in seinen Erfahrungen aus der Medea-lnszenierung: Wir sitzen im Kreis, Ulf, Uschi und ich. 'Ganz einfach, ohne Kunst', sagt George. Wir beginnen zu lesen. Der einzige, der die Anweisung tatsächlich befolgt, ist Uschi. [...] Wut steigt in mir auf. Warum strengt sich diese Uschi nicht an? [...] Ich kann nicht sehen, wie lächerlich es ist, einen Text jetzt schon bis zum Rand füllen zu wollen, der dazu bestimmt ist, ganz allmählich, quasi wörtchenweise, durch Improvisation, Erfahrungen, Gefühle verarbeitet zu werden.32
'Ganz einfach, ohne Kunst' - dies beschreibt die immer wieder genutzte Form der Lesung in dieser Inszenierung sehr genau. Der Tisch, die kahle Arbeitsbühne, das Licht - die Szene könnte nicht deutlicher als Probensituation ausgezeichnet sein. Ich habe zu zeigen versucht, daß Tabori seine Aufführungen in gewisser Weise zwangsläufig zur Probe geraten - im gleichen Maße wie seine Anleitung der Darsteller bei der Rollenfindung immer schon theatrale Formen annimmt. Wieso aber ist in diese Aufführung bereits eine so frühe Probenphase eingegangen? Die Zusammenarbeit zwischen Holtzmann, Lühr und Tabori gestaltete sich problematisch: Das erfahrene Schauspielergespann weigerte sich nachhaltig, den Text "quasi wörtchenweise durch Improvisation, Erfahrungen, Gefühle" zu "verarbeiten": 31
Ebd., S.27.
32
Peter Radtke: M wie Tabori (Anm. 14), S. 31.
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Lühr und ich, wir haben schon vor Probenbeginn gesagt: 'Wenn Tabori Übungen macht, Gymnastik, Yoga oder so etwas - wir nicht. Das muß vorher ganz klar sein. Wir kommen um zehn auf die Probe, probieren, und wenn wir fertig sind, dann gehen wir wieder - und alles andere: Nein.33
Hinter dieser Verweigerung gegenüber der aus Taboris Theaterarbeit bekannten Suche nach dem 'Subtext1 steht offenbar die Konfrontation eines traditionellereren Verständnisses von Theaterarbeit (als einer wohl vor allem geistigen Auseinandersetzung mit dem Text) mit Taboris Improvisationskultur und damit möglicherweise auch die Konfrontation zweier verschiedener Auffassungen von Beckett. Tabori ließ Lühr und Holtzmann in ihrer Verweigerung gewähren, und dies war vielleicht der Glücksfall der Inszenierung: Er hat immer nur mit staunenden Augen dabeigesessen und sich gar nicht viel eingeschaltet. Wenn wir am nächsten Tag wieder etwas anderes machten, freute er sich genauso. Wir ordneten unseren Ablauf eigentlich nicht mit ihm zusammen, eher untereinander.34
Oben habe ich die Theatertechnik Taboris in gewisser Hinsicht als automatisch ablaufenden Vorgang beschrieben: Solange auf der Bühne das Scheitern von Identitätsfmdung in den Abgrenzungen, Semantisierungen und Identifikationen der Figuren im Vordergrund steht, kann das Bemühen des Darstellers um die Rolle als Metapher für die unabschließbare Restauration des Identitätsprinzips produktiv gemacht werden. Wenn dieses Bemühen scheitert, scheitert auch die Identitätssuche der Figur. Taboris meisterlich beherrschte Aufgabe, ist derjenigen des beharrlich schweigenden Psychoanalytikers ähnlich — und daher ist seine Rolle in der (Nicht-)Regie auch bei dieser Inszenierung in keiner Weise zu unterschätzen. Diese Aufgabe besteht weiterhin darin, das Bemühen und in diesem Fall das Scheitern dieses Bemühens in einen extremen Ausdruck zu treiben. Möglicherweise hat es in der Zusammenarbeit mit Lühr und Holtzmann genügt, die Regie als Instanz vollständig zurückzunehmen, um diesen Ausdruck hervorzurufen. Ein Großteil der Zeichenkomplexe dieser Inszenierung, auch auf der Ebene des gesprochenen Textes, lassen sich auf diese Matrix der scheiternden Probensituation beziehen: Das Prinzip der immerwährenden Wiederholung bestimmter unveränderlich veränderter Szenen (die niemals zu einem befriedigenden Abschluß kommt) erscheint wie das Scheitern der Signifikation. Die scheiternden Versuche des Paars, in Rollenspielen und Rollenmustern Halt zu
33
34
Ohngemach: George Tabori (Anm. 7), Interview mit Thomas Holtzmann, S. 111. Ebd., S. 112.
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finden, weisen auf Versuche der Metaphorisierung, die immer wieder in der Ausgangskonstellation der Inszenierung, der Situation Ohne Kunst' enden. In den Szenen, in denen gelbe Rüben verspeist werden sollen, essen Wladimir und Estragon offensichtlich die Luft - ein Hinweis auf ein Probestadium vor Bereitstellung der Requisiten. Noch einmal besonders hervorzuheben wäre hier der Objektbezug, in Taboris Probenarbeit mit der Technik der Metonymisierung verbunden: Estragons Schuhe und Waldimirs Hut sind beinahe das einzige, was in Warten auf Godot noch vom Fragment eines semantisierungsfähigen Bühnenkosmos ä la Tabori kündet. Um so häufiger beschäftigen sich die Figuren mit diesen Requisiten. Doch selbst diese minimale Ebene der Selbstabbildung, die den Figuren in Taboris Stücken meist folgenreich gestattet ist - man denke an die Erfahrungen Peters Radtkes während der Inszenierung von Medea - mißlingt hier: Die Schuhe passen nicht, und Wladimir stellt zu Beginn des zweiten Aktes fest, daß der Hut im nicht gehöre - eine Beziehung zwischen Teil und Ganzem wird verweigert. Doch wird dieses Mißlingen von Tabori wiederum ins Extrem getrieben: Unerträglich wird der ständige Bezug Estragons auf seine Schuhe für das Publikum. Ob dies entmutigend oder begeisternd ist, sei dahingestellt, doch offenbar funktioniert Taboris Konzept des Scheiterns selbst im eigenen Scheitern noch: Verweigert sich Warten auf Godot der auf (scheiternde) Identitätsprozesse abgestellten Lektüre auch gänzlich, so wird dieses Scheitern des Scheiterns zum Thema der Inszenierung. Vielleicht ist dies etwas, was selbst Beckett einsehen müßte: Im Humanismus oder dem, was von ihm übriggeblieben ist, entkommt niemand dem 'Subtext' Taboris, selbst wenn dieser Subtext nur noch aus dem Versuch besteht, ihn herzustellen - selbst wenn Warten auf Godot dabei zu einer Inszenierung der Inszenierungen Taboris wird.
Karin Dahlke
'Überrumpelte Katastrophen'. Taboris 'Witz' im Schatten der Shoah1
l. Mutters Courage - ein Witz, eine Katastrophe, ein Leben Mutters Courage ist "ein Märchen, und niemand würde vorm Backen im Ofen gerettet werden; außer der einen" (I, S. 298). Mutter Courage ist die Geschichte "eines Sommertages im Jahre 44, einem hervorragenden Erntejahr für den Tod" (I, S. 287). Ein Märchen, inszeniert als Theaterstück und Hörspiel, in der Form eines gemeinsamen Webens des Tuchs der Erinnerung im Sprechen zwischen Mutter und Sohn. Es ist die Geschichte der Mutter, die - von der Katastrophe überrumpelt- ihr doch noch einmal entkommt, durch einen lächerlichen Zufall, durch einen Witz. Bis zum Sommer 1944 hatten noch 750.000 Juden in Ungarn überlebt. Dann begann die letzte große Vernichtungsaktion Eichmanns. Bis zum 9. Juli 1944 waren 437.402 Juden nach Auschwitz deportiert worden.2 Unter den Deportierten befanden sich auch die Eltern von George Tabori. Seine Mutter entkam der Vernichtung, sein Vater nicht. Die Geschichte der Mutter beginnt mit ihrer Verhaftung. Sie wird, wie so viele andere in Budapest in diesem Sommer 1944, auf offener Straße von ungarischen Hilfspolizisten verhaftet. Aber sie hätte entkommen können, denn die Helfer Eichmanns waren schon altersschwach, gichtig und asthmatisch. Statt dessen wartet sie nach dem ersten fehlgeschlagenen Zugriff auf ihre Häscher unter der "Normaluhr": SOHN [...] "Sagen Sie", fragte meine Mutter - die Beachtung, die sie unter der Normaluhr fanden, war ihr peinlich - "wohin bringen Sie mich eigentlich?" 1. POLIZIST Nach Auschwitz. MUTTER Wohin? 2. POLIZIST ein Witz Zur jüdischen Bäckerei. MUTTER Oh (I, S. 294).
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2
"Die Menschen gehen ins Theater oder an ein Buch, um ihre Leiden gespiegelt zu sehen, auch wenn sie lachen, denn Witze sind nichts anderes als überrumpelte Katastrophen." Tabori: Feigenblatt, S. 186. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt/M. 1990, Bd. 2, S. 859ff.
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Es gibt eben auch diese Spielart des Witzes, es gibt den antisemitischen Witz, der die Opfer verhöhnt und verspottet. Es ist der Witz der Täter, der durch die Umbenennung von Auschwitz "Zur jüdischen Bäckerei" von der eigenen Schuld ablenken soll, indem die Schuld den Ändern, den Juden auch noch aufgebürdet wird. Die Opfer haben nicht nur Schuld als Opfer, sie werden in der maßlosen Flucht der Täter vor der Schuld zugleich auch noch zu den Tätern gemacht. Ein "Witz" der Täter. Peinigend. Allerdings bedarf es offensichtlich bei diesen zynischen Täter-Witzen doch des kursiv gesetzten Hinweises ein Witz. Wie mit einem Warnsignal gibt uns dieses schräg geschriebene Wort gleich zu Beginn zu verstehen, daß ein Witz nicht nur befreiend oder 'gut' ist. Witze selbst tragen einen Januskopf. Es kommt auf den Witz an, ob er die Katastrophe überrumpelt; es kommt darauf an, wie der Witz ins Spiel gebracht wird. In Budapest am Westbahnhof, dem ersten Sammelort vor dem Abtransport, findet sich die Mutter nach ihrer Verhaftung in einem Szenario wieder, das zwischen karnevalistischer Burleske und der unfreiwilligen Komik des Alltäglichen hin und her oszilliert und darin doch zugleich die Normalität des einfachen Menschen einfängt: SOHN [...] Da war zum Beispiel der Schächter mit noch blutigem Messer; eine Gruppe von Schulmädchen in Turnhosen und Spikes, die man aus einer Sportstunde geholt hatte; ein junger Mann im Schlafanzug, den Mund mit Zahnpasta gerändert, vier oder fünf Patienten in den verschlossenen Anzügen einer Irrenanstalt; ein Rabbiner mit Butterbrot und ohne Schuhe. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, brachten sie ihre Peiniger mit Bitten und Fragen zur Verzweiflung, die verrückt klangen, weil sie so normal waren. [...] STIMMEN [...] Gibt es einen Speisewagen im Zug? (I, S. 295)
Das Normale, das Banale, die Lächerlichkeit der körperlichen Erscheinung wie in einem fotografischen Schnappschuß aus der sinnlosen Kontinuität des Alltäglichen herausgerissen - trägt in sich schon den Schatten der Deportation, um im nächsten Moment aus diesem Schatten heraus unvermittelt den Zuschauer/Zuhörer anzuspringen: SOHN Ja, aber Streifen von Sonnenlicht zwischen den losen Brettern beleuchteten einige menschliche Teile, als seien die Deportierten schon zerstückelt: einen Hut, eine Hand, eine Hakennase, ein nasses Augenpaar, flatterndes Haar, Teile verschiedener Menschen wie zu einem einzigen verstümmelten Riesen vereint (I, S. 298).
In brutalen Schnitten bricht grell das Reale herein, die Bedrohung kippt ebenso plötzlich um in Witzigkeit. Die Realität des zerstückelten Körpers verschiebt
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sich in witzige Wortspiele. So erklingen gleich darauf fröhliche Stimmen im Zug: "Würde derjenige, dem der Ellbogen in meinem Solarplexus gehört, denselben bitte entfernen? / He-He-He!" (ebd.) Die harmlosen Witze springen wiederum um in die Anrufung des Absoluten: STIMMEN fröhlich [...] Ein feiner Gott bist du! Wo warst du heute morgen um elf, als man mir die Brille zerschlug? / Aus zu einem Bummel? Ein Nickerchen machen? Na schön, ich bin fertig mit dir, mein Junge! Tu mir einen Gefallen und erwähl dir ein anderes Volk das nächste Mal! (ebd.)
Gott, der absolute Andere, wird angerufen, als sei er ein Nebenmensch und das heißt - vor allem mit kleinen Fehlern versehen. In der konkretistischen Darstellung des Undarstellbaren, in dieser sprachlichen Inszenierung eines logischen Widerspruchs bewahrt sich noch das Bilderverbot, denn Gott, das Absolute, wird im Witz nicht zu einem Bild in Sinne einer präsenten Vorstellung, sondern zu dem Ändern, den diese sprachliche Inszenierung anzurufen versucht. Gott wird nicht im Witz präsent, sondern beliebige Zeichen oder Details geben dem Undarstellbaren eine sprachliche Existenz. Oder um es mit Tabori zu sagen: "Gott steckt im Detail" (I, S. 287). Aber die vermenschlichende Detaillierung des Absoluten erinnert zugleich an dessen Abwesenheit. Die Anrufung spricht in ihrem Spott über Gottes allzumenschliche Fehler auch ihren Schrecken aus, daß das Absolute in seiner Funktion als Anrufungsinstanz, als der göttliche Richter und Gesetzgeber, fehlt, daß das Subjekt verlassen ist. In diesem Moment - da, wo die Verlassenheit von Gott im Sprechen realisiert wird - schneidet Tabori eine sexuelle Szene hinein. Jetzt tritt die Peinlichkeit des Körpers auf, die sexuelle Liebespraktik eines coitus a tergo zwischen der sechzigjährigen Mutter und einem unbekannt bleibenden männliche Körper im Dunkel ihres Rückens: SOHN [,..] Sie war sich nicht ganz sicher im Viehwagen auf dem Weg nach Auschwitz, wie es zu bewerkstelligen wäre, wenn überhaupt, durch ihr gutes Schwarzes hindurch (I, S. 300f).
Eine aufblitzende Komik des Körpers, die durch die beschwörenden Worte des Mannes "Es wird das letzte Mal sein" (I, S. 300) sofort an die Erwartung des baldigen Todes gebunden wird. Das Fehlen des Ändern wird in einem scharfen Schnitt mit der Lusterfüllung des Körpers, mit seinem rücksichtslosen und sinnlosen Insistieren auf ein Genießen konstelliert. Dieses peinliche Drängen auch noch auf der Fahrt in den Tod gibt den unmenschlich Behandelten ihre
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Menschlichkeit wieder.3 Die Peinlichkeit des Begehrens wie des Genießens markiert zugleich die Grenze - die Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein, Leben und Tod, die in diesem letzten Mal um so schneidender in die Körper fährt. Je mehr sich die Geschichte der realen Begegnung mit dem Tod nähert, desto mehr nimmt die Erinnerung Formen einer theatralischen Inszenierung an. SOHN [···] Als sie nahe der Grenze anhielten, am "Tor zum Tode", wie man so schön sagt, um in einen deutschen Viehwagen umzusteigen, [war die] Landschaft [...] ohne Schrecken, das Wetter schön, die Arbeit ging gut voran, ein Vogel flog von einem Baum auf, es würde ein friedlicher Abend werden, und die Verdammten zogen vorüber wie Darsteller, die ins falsche Theaterstück geraten waren (I, S. 301).
Der Sammlungsort, der Hof einer verlassenen Ziegelei, "glich einer Bühne". Für den Auftritt des deutschen Offiziers wurden Gegenstände wie Requisiten herbeigeschafft: SOHN [···] Ein Tisch und ein Sessel wurden von ihnen in die Mitte gestellt, darauf ein Stapel Akten und ein Gummistempel. [...] Schließlich macht der deutsche Offizier seinen Auftritt, er kaute etwas, schlenderte zum Tisch, setzte sich aber nicht sogleich. Sein Publikum war überall, spähte hinunter durch die zerbrochenen Fensterscheiben der Fabrik: Die Deportierten [...] starrten hinunter in den Hof, warteten in den Kulissen sozusagen, denn in ihren Eingeweiden spürten sie, daß sie nicht mehr lange Zuschauer bleiben und früher oder später ihren eigenen Auftritt haben würden, ach ja, nichts geht darüber, eine Metapher so weit zu dehnen, bis sie reißt (I, S. 302f.).
Die Theatermetapher derealisiert die wartende Bedrohung; sie wiegt den Zuschauer/Zuhörer für einen Moment in Sicherheit, um immer wieder umzukippen in den drohenden Abgrund von Auschwitz. Denn das Theatralische, das Leichtfüßige und Unwirkliche der Szenerie macht den drohenden Einbruch des Realen nur um so gegenwärtiger - gerade indem der Tod in der Darstellung als Theatermetapher noch auf Distanz, in einem 'Als-ob1 gehalten wird. Die Theater-Metaphorik unterstreicht die Wahrung der Differenz zwischen Erinnerung und dem drohenden Realen. Anders gesagt: gerade indem die theatralischen Metaphern das Reale von Auschwitz verstellen, stellen sie es als das Undarstellbare aus. 3
"Was bin Ich? Ich bin an dem Ort, von dem der Schrei aufsteigt, daß 'das Universium einen Fehler in der Reinheit des Nicht-Seins darstellt'. Und dies nicht ohne Grund, denn hütet man sich, so läßt dieser Ort sogar das Sein schmachten. Er nennt sich Lusterfüllung." Jacques Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten. In: J.L.: Schriften H. Weinheim u. Berlin 1986, S. 196.
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In diesem oszillierenden Spiel zwischen der wirklichen, aber noch ausstehenden Bedrohung mit dem sichtbaren und gegenwärtigen 'Als-ob', mit dem Schein des Theaters wird Frau Tabori aus der passiven Opferrolle in die der aktiven Spielerin hineingestoßen. Sie wird an dieser Sammelstelle an der Grenze von einem "von Vaters Schatten, [einem prominenten] Mitglied des allseits bekannten Täbori-Mitleidsclubs und wie alle anderen Mitglieder nicht nur mit Mißerfolg geschlagen, sondern dazu noch völlig unbegabt" (I, S. 304) regelrecht vor ihre Verfolger geschubst. Kemelen, der Gescheiterte, spricht den Traum vom jüdischen Widerstand und das Trauma der verfolgten Juden aus, denn auch die ungarischen Judenräte hatten sich wie viele andere ihrer Vorgänger an der Aufstellung der Listen zu ihrer eigenen Deportation beteiligt, in der irrsinnigen Hoffnung, damit die Katastrophe noch maßvoll halten zu können.4 KEMELEN [...] Genug der Ausflüchte! Gehen Sie hinaus auf den Hof und sagen Sie diesem deutschen Offizier, was genug ist, ist genug! Kein Katzbuckeln mehr! Ihre Geduld ist erschöpft. Machen Sie ihn zur Schnecke! [...] SOHN [...] Er hatte schon die Tür geöffnet, stieß sie hinaus, schloß die Tür hinter ihr und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, um ihr die Umkehr unmöglich zu machen (I, S. 306).
In die Einsamkeit gestoßen, ist die Mutter in die Entscheidung gerufen: SOHN [...] Achttausendundsechzig Augen folgten ihrem Gang und verurteilten ihn, wie sie meinte; sie hatte sie verlassen, auch wenn Kemelen sie hinausgestoßen hatte, und war zur Verräterin geworden; jeder, der diese Toten überlebt, ist ein Verräter (I, S. 308).
Der Satz spricht die Unerbittlichkeit der Wahl des Lebens aus: Die Schuld der Lebenden wie der Überlebenden ist nicht zu tilgen. In dieser Schuld steht der Mensch nackt im doppelten Sinne: nackt vor dem Ändern und nackt vor und in seiner Begehrlichkeit: SOHN [...] Sie kam sich nackt vor, und ich sehe sie vor mir, wie sie nackt über den Hof ging, diese Nacktheit wird zum Maß ihres Mutes. Wer je hat meine Mutter in all ihrer Nacktheit gesehen? Nicht einmal ihr Mann, der es vorzog, sie im Dunkeln zu lieben. Und ich, ich habe sie nur ein einziges Mal nackt gesehen, als ich geboren wurde, und da waren meine Augen zu (ebd.).
Nackt steht die Mutter vor ihren Verfolgern; nichts kann sie mehr retten als die 4
Vgl. Hilberg: Die Vernichtung (Anm. 2).
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Flucht in die Courage - als die Courage, das Recht auf Leben mit einem nicht präsentierbaren Stück Ausweispapier zu begründen. MUTTER [...] Ich sollte gar nicht hier sein. Die Grünhemden kichern DEUTSCHER OFFIZIER höflich Was meinen Sie damit, Sie sollten nicht hier sein? MUTTER Ich habe einen Schutzpaß vom Roten Kreuz DEUTSCHER OFFIZIER Ach wirklich? SOHN Die Grünhemden prusteten vor Lachen (I, S. 309).
Denn dieser 'Grund' existiert im doppelten Sinne nicht: zum einen waren die Rot-Kreuz-Pässe durch zahllose Fälschungen fast wertlos geworden, zum anderen, und das ist die Überbietung der Grundlosigkeit: Frau Täbori hat ihren Paß gar nicht dabei, denn dieser sei bei ihrem Mann, der leider im Gefängnis der Gestapo sitze. Und trotzdem oder besser, gerade deshalb, kommt Frau Täbori frei: weil ihr ein deutscher Offizier die Existenz des unmöglichen Passes, nicht vorzeigbar, abwesend und zudem vermutlich gefälscht, glaubt. Dieser abgründige Witz spricht aber die Wahrheit der Situation aus: denn unter der Allmacht der terroristischen Willkür gibt es keine Rettung über einen in der Logik oder der 'List der Vernunft' gründenden Grund. Jeder 'vernünftige' Grund zur Rettung eines Menschen zerstiebt angesichts des maßlosen Terrors ins Lächerliche. Nur: das Lächerliche, das Peinliche, der Mut zur Lächerlichkeit, zur lächerlichen Nacktheit der Argumente - ein Zufall, ein unmöglicher Augenblick wie aber auch die Courage der Mutter, sich auf ein kleines Nichts zu berufen, sich mit einem Nichts zu retten, all das macht Mutters Courage aus. In seiner scheinbaren Blödigkeit, an der aber das Überleben hängt - inmitten dieser Blödigkeit, angestrahlt vom Scheinwerferlicht einer wahnsinnigen Ordnung der Todesfabriken, die von dem, was sie den Menschen zufügt, die vom Tod, der unfaßbaren wie undarstellbaren Katastrophe des individuellen Lebens, nichts wissen will - insistiert der Witz auf dem Überleben und überrumpelt die Katastrophe.
2. Die Pein der Erinnerung - das Loch der Erinnerung Mutters Courage inszeniert mit dem Witz eine ebenso komische wie tragische Überrumpelung des Schreckens. Der Witz erscheint an der Stelle der Todesangst. Die Pein und die Peinlichkeiten des Lebens, die Pein und die Peinlichkeiten des Körpers zerbrechen die Form des Theaters, öffnen die Formen-
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spräche des Theaters für die theatralische Groteske, um in der Maske des Witzes einer unaussprechlichen Pein doch Gehör zu verschaffen: es ist die Pein der Schuld der Überlebenden gegenüber den Toten. George Taboris Theaterarbeit hört nicht auf, der Spur der Pein, wie sie sich in die Körper und in das Sprechen eingräbt und dort das Narbengewebe zurückläßt, in seiner Kunst zu folgen. Tabori zerrt die Pein der Erinnerung wie der Schuld auf die Bühne, stellt sie zur Schau und macht sich selbst dabei der Tabuverletzung schuldig. Denn sein Theater verletzt die meist peinlich bewahrte Trennung zwischen Tätern und Opfern, zwischen deutschen Tätern und jüdischen Opfern. Aber vielleicht ist diese Form der Tabuverletzung - nämlich ihre gewissermaßen unausstehliche Witzigkeit, die nicht nur den Tätern das Lachen im Halse stecken bleiben läßt - noch verletzender und noch beunruhigender. In Taboris Witzen tanzen der Schrecken des Todes und das Lachen einen unerhörten karnevalistischen Tanz. Seine Witze aber wissen sich doch der Tradition der jüdischen Witze in einem Europa vor der millionenfachen Vernichtung verbunden, sie halten die Erinnerung an dieses verschwundene Lachen wach. Spielt Tabori uns nicht die Rolle des Schadchens vor, der seine Sophismen gemäß der Logik des Witzes aufbaut, um in der Form des witzigen Kurzschlusses und des vermeintlichen Lapsus eine Wahrheit preiszugeben, die sich nur unter der Maske des Witzes die Maske vom Gesicht reißen kann?5 Tabori spielt diese Rolle auf und mit dem Theater, für ihn sind Theater und jüdische Existenz untrennbar miteinander verbunden - über die Peinlichkeit: Eine Möglichkeit, der Peinlichkeit zu entgehen, ist, die Ursache der Peinlichkeit zu vernichten. Darin liegt die Verbindung zwischen dem Theater und dem Judentum. Ein englischer Kritiker hat das Theater einmal 'das Medium der Peinlichkeit' genannt. Es konfrontiert den Zuschauer mit Begebenheiten, die er lieber nicht wahrhaben will.6
Großes Theater ist für Tabori immer auch ein Theater der schlechten Nachrichten, "da es die zerschundene Nacktheit vorzeigt".7 Tabori spielt einerseits mit der Metapher der Nacktheit des Körpers, und andererseits attackiert er die Reduktion auf eine Bedeutungsfunktion der Metapher vom nackten Körper, indem er zugleich buchstäblich auf den nackten Körper und sein Lusterleben, auf dem Genießen beharrt.
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Sarah Kofmann benennt dieses Spiel der Wahrheit unter der Maske des Lapsus als eine Grundstruktur des jüdischen Witzes; vgl. Sarah Kofmann: Die lachenden Dritten. Freud und der Witz. München u. Wien 1990. Tabori: Unterammergau, S. 200. Tabori: Feigenblatt, S. 53.
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DIE KUNST DARF ALLES, besonders im Theater, wo das Undenkbare gedacht, das Unsagbare gesagt wird - so wenn Hamlet die Qualen des Seins wie des Nichtseins aufzählt, zurückgeblieben mit nichts als nichts, und Nichts ist das äußerste Grauen mit seiner Abwesenheit von Zeit. [...] Es ist fünf vor zwölf, und während ich auf meinen nächsten Schatten warte, will ich es mir leisten, meinen erwählten Beruf dafür zu feiern, daß er den peinlichen Riß zwischen der Göttlichkeit meiner Phantasien und dem lächerlichen Verfall meines Körpers heilt. Ich bin wie Sie, mein Herr, ein Gott mit einem stinkenden Arschloch.8
Aber Tabori setzt die Metapher des Nackten auch ein, um die reale Gefahr unter all ihren metaphorischen Verkleidungen anzusprechen, um sie zu benennen, um ihre sprachliche, um ihre wörtliche Anerkennung zu ermöglichen. Die versprengten Juden sind überall, zwar in verschwindender Zahl, aber sie bilden - und das ist Gottes Fluch gegen das auserwählte Volk - selbst als einzelne in ihrer Nacktheit ein Ghetto. So lange nur ein einziger übrig ist, wird es andere geben, die durch diese Nacktheit versucht sind, sie zu zerstören. Noch peinigender ist es, daß sie, wenn es sie nicht länger geben sollte, eine Leere hinterlassen und eine Erinnerung.9
Erinnerungen an eine Leere, an ein Loch, das die millionenfachen Morde an den europäischen Juden in unsere Erinnerung eingegraben haben und das sich nicht schließen wird. Ein Loch der Erinnerung, die der Witz, verschoben zu einem Moment der Katastrophe der Logik, wachhält und zugleich preisgibt, ein Loch, an dessen Stelle das Lachen ausbricht und über seine körperliche Spur zugleich der Erinnerung selbst ihre körperlichen Spuren des Vergessenen schafft: Was das Theater die Wissenschaft lehren könnte, ist, daß wahre Erinnerung nur durch sinnliches Erinnern möglich ist. Unmöglich ist es, die Vergangenheit zu bewältigen, ohne daß man sie mit Haut, Nase, Zunge, Hintem, Füßen und Bauch wiedererlebt hat.10
Das furchtbare Wort von der 'Vergangenheitsbewältigung' wird durch ein Theater des 'Wühlens in der Vergangenheit' als seine eigene Unmöglichkeit vor- und aufgeführt. Taboris Theater der Erinnerung mit dem Sprachwitz und dem Sinnlichen des Körpers wühlt auf. Denn es führt auf, daß das Loch sich nicht schließen kann, daß der Riß nicht zu heilen ist. Wenn Witze nichts anderes sind als überrumpelte Katastrophen, so ist Auschwitz der Signifikant für 'die Katastrophe' in diesem Jahrhundert. Jedes
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Ebd., S. 16f. Zitiert nach Jörg W. Gronius u. Wend Kässens: Tabori. Frankfurt/M. 1989, S. 38. Tabori: Unterammergau, S. 202.
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Erinnern, jedes Sprechen, jedes Schreiben und jedes Theaterspielen stellt immer wieder die Frage danach, ob es im Zusammenhang mit der Shoah überhaupt so etwas wie eine Darstellung mit den Mittel der Kunst geben darf. Taboris Theaterarbeit scheint diese Herausforderung noch weiter zuzuspitzen, greift er doch zu der im Zusammenhang mit der Shoah auf den ersten Blick unerträglichen Rhetorik des Witzes. Was geschieht der Darstellung durch dieses Darstellungsmittel? Ich kann an dieser Stelle die schwelende Debatte zu der Darstellbarkeit der Shoah nur flüchtig skizzieren, indem ich auf zwei Eckpunkte zu sprechen komme, nämlich auf die Frage nach dem Zusammenhang von Ästhetik und Genießen in der Kunst und andererseits auf die Frage nach dem Bild in der Bedeutung einer Abbildlichkeit des Schreckens. Beide Fragen zielen auf die Nähe jeder Kunst zum Genießen eines Schönen im Schrecklichen. Die Nähe zu diesem ästhetischen Genießen war es, die Adorno zu seinem so oft mißverstandenen Satz veranlaßte, daß nach Auschwitz keine Gedichte mehr möglich seien. Die Frage nach dem ästhetischen Genießen verbindet sich heute aktuell mit der Frage nach dem Abbildlichen des Schreckens, d.h. der Aktualität des Bilderverbots angesichts der Shoah. Dieser Diskurs über das Bild entzündet sich immer wieder aufs neue - wie zuletzt anhand des Streits um Schindlers Liste zu verfolgen - an der Frage, was die Bilder, als dem Grauen nachgestellte Filmbilder, den Opfern und dem Eingedenken an die Opfer antun, indem sie vorgeben, das Grauen mimetisch nachahmen zu können. Claude Lanzmann vertritt unzweideutig ein Bilderverbot auch gegenüber den Opfern der Shoah: Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, daß er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist. Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, daß jede Darstellung verboten ist.
Aber zugleich bleibt die Frage, ob die absolute Nicht-Darstellung nicht zugleich die Opfer mit einer Aura des Heiligen verbinde, die millionenfachen Morde und Verbrennungen der Toten selbst in die Nähe zu einer Opferung bringe und damit das Morden und Schlachten verschleiere.12 Aber es bleibt eine Zitiert nach: Theater heute 1994, H. 5, S. 4. Zu dieser Problematik, die Ermordung der europäischen Juden in die Nähe einer Opferung zu bringen, vgl. Bernhard Baas: Le sacrifice et la loi. In: Le Temps Modernes. Nr. 529-530, 1990, deutsch: Das Opfer und das Gesetz. In: RISS. Zeitschriftßr Psychoanalyse 2 I.Zürich 1992.
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offene Frage, eine offene Wunde des Erinnerns. Die Gefahr ist immer gegeben, daß jedes Sprechen, jedes Schreiben, jedes Darstellen die Unerträglichkeit von Auschwitz allmählich ein- und abschleift. Die Herausforderung an eine Kunst der Darstellung wäre, die Unmöglichkeit der Assimilierung, der Gewöhnung an den Schrecken von Auschwitz derart zu formen, daß das Unverfügbare bleibt, das etwas bleibt, was sich nicht fügt. Aber die Bilder, wie sie das Hollywood-Kino in der TV-Serie Holocaust oder in Schindlers Liste produziert, scheinen in der Tat das Loch der Erinnerung, die Leere und das Unvorstellbare, das Nichtdarstellbare des Erfahrens und der Erfahrung von Auschwitz selbst verschließen zu wollen, indem sie vorgeben, etwas realistisch in die Filmwelt einholen zu können, was sich jeglicher Mimesis entzieht. Bei Taboris Theater der Peinlichkeit handelt es sich jedoch nicht um eine Art von mimetischer Erinnerung. Sein Erinnern funktioniert anders. Wie in Mutters Courage deutlich, werden der Witz und das Theatralische von ihm gerade in den Momenten zur Distanzierung von der Macht der allzu realistischen Bilder eingesetzt, wo das unerträgliche Reale der Shoah zu nahe zu kommen droht. Und eben dadurch kommt es nahe - als ein unfaßbares Wirkliches. Taboris Theater der Erinnerung an die Shoah stellt demgegenüber auch Fragen an das Theater der Gegenwart. Welche Wirklichkeit ist die Wirklichkeit des Theaters heute, das heißt in der Zeit nach der Vernichtung? Ergibt sich aus dieser Vergangenheit und der Not der Erinnerung die Aufgabe für das Theater, die Räume der Illusionen zu zerstören, ihre Geschlossenheit zu öffnen und brüchig werden zu lassen, so daß die offene Wunde der Erinnerung und der Schuld im Raum des Theaterspiels erneut aufbrechen kann, daß sie sich nicht schließt? Und wie funktioniert der Witz in diesem Theater der Erinnerung an die Shoah? Kann in der rhetorischen Figur des Witzes die Unmöglichkeit eines irgendwie zu konstruierenden Sinns der Katastrophe selbst gegenwärtig werden, insofern der Witz im Unsinn die Realität des Lochs der Erinnerung ausstellt? Läßt die Wahl dieser rhetorischen Figur den Schluß zu, daß Tabori sich selbst nicht außerhalb der Schuld der Überlebenden plaziert? Und zwar über die Schuld des Lachens, denn mit dem Einsatz des Witzes gibt er den Theatergängern zwar das Genießen im Moment des Lachens - ein vom Spiel der Worte erzeugtes symbolisches Genießen, das aber das Lachen dennoch oft genug im Halse stecken bleiben läßt, eben weil es an das Unerträgliche erinnert. Es ist meine Frage an diese Form der Erinnerung mit dem Witz, ob George Tabori damit nicht zugleich auch sagt und die Lacher damit hineinzieht -, daß es aus der Schuld des Überlebens kein Entkommen gibt. Diese Frage läßt das ästhetische Genießen keinesfalls unberührt, denn das Genießen im Lachen setzt Theatermacher wie Zuschauer
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unweigerlich auch in eine Beziehung zu ihrem Genießen der Kunst - in eine Beziehung, die sich bei Tabori als zweischneidig erweist.
3. Die Kannibalen: der Tod des Vaters - heil-loses Erinnern, heil-loses Lachen Die Kannibalen setzen die Erinnerung an die Shoah in ungeheuerlichen, grellen, aufdringlichen, unmittelbar die Körper angehenden und obszön-witzelnden Wortspielen in Szene. Es ist ein Theater wie ein Theater der Erinnerungen im Kopf der Überlebenden, das sich unaufhörlich wiederholt, ohne daß es eine Erlösung gibt. Es ist ein Theater, das unablässig danach fragt, ob Erinnerung nicht immer schon eine gemachte Wirklichkeit ist, eine Wirklichkeit, die das unerträgliche Trauma und das Undarstellbare wie mit einem Schleier aus Worten und Bildern verhüllt. Dieses Theater der Erinnerung ist so dicht gewebt wie das Spiel der Erinnerungen im Kopf. Worte übersetzen sich in Körpergesten, die Körper bringen neue Worte hervor, die Worte untereinander spielen wie losgelöst von jedem Sinn und doch zentriert um ein unsagbares Loch herum ein maßloses Spiel der Worte; sie machen beklommen und sie machen Witze. Die Handlung springt hin und her zwischen der Gegenwart der Söhne und der Erinnerung der Väter, zwischen jetzt und damals. Die Illusion einer Linearität der Erinnerung - und das heißt auch die Illusion einer abgeschlossenen, einer vergangenen Vergangenheit - ist zerstört. In diesem Hin und Her der Worte, Bilder und Zeiten aber gibt es Knoten, die wiederkehren, die die Dramatik strukturieren. Die Knoten: Was heißt Erinnerung an die Shoah? Was heißt Überleben? Was heißt der Mord am Vater? Was ist das Gesetz? Das Spiel wird zerbrechen am Befehl des SS-Mannes, den Ändern zu fressen; es ist der Befehl zur Zerstörung des Gesetzes. Dazwischen spielt der Witz sein Spiel. Von welcher Wirklichkeit spricht der Witz also in diesem Theater der Erinnerung? Mit Die Kannibalen kehrte Tabori nach Europa, nach Deutschland zurück. Die Kannibalen, am Broadway nicht besonders erfolgreich, wurden erst im Berlin von 1969, im Land der Täter, zur Zeit der großen Anklage an die Väter - Vater, wo warst du, im Krieg? Vater, was hast du getan, im Krieg? - zum Theatererfolg. Ein zweischneidiger Erfolg in einem Land, in dem nur wenige Juden noch oder wieder leben. Vielleicht ein Erfolg aus Dankbarkeit. In dieser Zeit des Aufbrechens der deutschen Wunde, der vergeblichen Suche nach einer Antwort der Väter, war es vielleicht eine Erleichterung, daß an die Stelle der
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Leere ein jüdischer Theatermacher der unerträglichen Erinnerung an das Tun der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk in Europa im allgemeinen wie im besonderen gegenüber seinem eigenen Vater Worte verlieh, daß hier ein anderer, ein Jude, für sie, die deutschen Zuschauer, sprach. Warum der Titel Die Kannibalen! In Berichten aus den Todeslagern ist vom Kannibalismus unter den Häftlingen kaum die Rede.13 Bekannt aber ist der Vorwurf des Kannibalismus - und zwar als Fressen von Christenkindern durch Juden - als das antisemitische Hetzsymbol schlechthin, als Symbol der "Blutschuld". Eine "Blutschuld", die Tabori selbst immer wieder zitiert, so in Mein Kampf, wo Hitler diese Mär auftischen wird (II, S. 167). Kannibalismus ist auch im Zusammenhang mit mehr oder minder literarischen Berichten über Schiffbrüchige ein oft verwendetes literarisches Sujet. Der Hunger, fern ab jeder menschlichen Zivilisation, gleichsam in einem Außerhalb des Gesetzes, welches das Töten des Ändern untersagt, verlockt offenbar dazu bzw. läßt es vorstellbar erscheinen, dieses Gesetz zu übertreten und anderen Gesetzen, den Gesetzen der Überlebens, nachzugeben und einen auszuwählen, der für die anderen sterben soll, dessen Fleisch die Hungrigen speisen soll, dessen Tod den anderen das Leben schenken soll. Der Titel Die Kannibalen erinnert an den Kampf mit diesen zwei Gesetzen am Abgrund des Todes, erinnert an den Kampf mit der absolut tödlich gewordenen Macht des Antisemitismus. Die Kannibalen spielen den Kampf der Gesetze um das Leben als eine Erinnerung der Söhne an das, was mit den Vätern geschah. "Dies ist die ungewöhnliche Geschichte einer Tischgesellschaft, mitgeteilt von den Nachgeborenen derer, die an dem Festmahl teilnahmen, sowie von den beiden Überlebenden, denen wir die Kenntnis der Fakten verdanken" (I, S. 2). Es verwebt die Erinnerung an das, was war, mit dem, was ist. Bevor das Spiel jedoch beginnt, erklingen Stimmen aus den Lautsprechern, die nach ihren "Leibgerichten" rufen. Was ist ein "Leibgericht"? Was ist das "Leibgericht" der Kannibalen? "Leibgericht" ruft fordernd nach der Lieblingsspeise wie in der Kindheit, aber ebenso zu hören sind die Worte "Leib" und "Gericht". Und es spricht einen Zusammenhang zwischen beiden aus. Das "Leibgericht" ruft auch nach dem Gesetz, das den Körper zu einem verbotenen Leib macht. Das Spiel wird Gericht halten über den toten Leib der Väter. Der Ruf nach dem "Leibgericht" durchschneidet einen fiktiven Spielraum der Erinnerung. Einen Bühnenraum, aufgebaut vom Bühnenbild mit Stahlrohrgestellen dreier übereinanderliegenden Prit-
Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz. Wien 1987, S. 120. Hermann Langbein zitiert eine Erinnerung von Tadeusz Borowski: Von der SS erschossene russische Kriegsgefangene seien später von den Häftlingen vermutlich verspeist worden.
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sehen, in dem die Requisiten im Kopf der Zuschauer assoziativ einen Erinnerungsraum eröffnen, Erinnerungen an Bilder aus der Barackenrealität der Todeslager evozieren. Ein fiktiver Erinnerungsraum im Kopf, der aber von einer Doppelbödigkeit gezeichnet ist, die auch im Klang der Musik aufgenommen wird. Zunächst sollen Polka-Rhythmen erklingen, wozu Gäste auftreten - so, als ob man in einem Stück unschuldig deutscher UFA-Unterhaltungsseligkeit sei. Doch das Ungeheuerliche läßt sich nicht restlos zum Schweigen bringen: "Die Musik wird lauter, bis sie von der Lagersirene jäh abgeschnitten wird" (I, S. 5). Dieses Theater ringt mit der Erinnerung an den toten Vater und an den Tod des Vaters, es ringt mit dem realen Mord am Vater in Auschwitz und dem unmöglichen Mord in des ödipalen Phantasmas eines Sohnes. Es trägt die Widmung: "Zum Gedenken an Cornelius Tabori/umgekommen in Auschwitz,/ ein bescheidener Esser" (I, S. 3). Der Knoten des Stückes, in dem seine Fäden zusammenlaufen, wird markiert durch das Fleisch und den Tod, den Mord am Vater und die Erinnerung der Söhne an ein 'Festmahl'. Was geschieht da in dieser Verbindung? Das Spiel des Theaters beginnt mit einem Mord im Theater. Ein Häftling, Puffi Pinkus, kaut zu laut gestohlenes Brot und wird dafür von der Lagergemeinschaft überwältigt, beraubt, entkleidet und ermordet. Einer wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, um sein Fehlen wird fortan das Spiel kreisen. Onkel, Spieler des toten Vaters, der sich mit den Namen Cornelius nennt, gibt die Parole: "Möge seine Grabinschrift lauten: 'Er speiste seine Mitmenschen'" (I, S. 8). Puffis Körper ist das Fleisch: "Er war der zweitfetteste Mann Europas, keine geringe Leistung. Die Aufseher machten gern Fotos von ihm, um der Nachwelt zu beweisen, wie gut man uns Judenschweine verpflegte" (ebd.). Puffis Körper soll gekocht und aufgefressen werden. Aber der tote Puffi Pinkus wird im nächsten Moment durch das Sprechen eines Schauspieler zum toten Vater: "Eure Träume schrecke ein mondgesichtiger Irrer, seine großen blutigen Finger stößt er euch in die Augen! Ihr habt euren Vater geschlachtet, er dient euch zur Speise. Ich werde mich diesem Greuel widersetzen bis zum letzten Hauch" (vgl. I, S. 12). Die Anrufung des toten Vaters kehrt immer wieder: ONKEL Das kann man wohl sagen, daß du kein Schauspieler bist, also setz dich hin und hält's Maul. Wenn ich zu euch sage: "Hört zu, Leute, wir wollen mal jemand auffressen", dann spreche ich als Fleischfresser, als Krimineller, als Wolf, als Hippogryph - ach, was weiß ich, ich bin kein Zoologe. Aber wenn ich auf dem Berggipfel stehe oder auf der Bühne - das ist dasselbe - und ich spreche aus dem W-w-w-wirbelwind zu der Menge da unten - "Du sollst nicht essen vom Fleisch deines Vaters!" dann habe ich als ein Schauspieler gesprochen, und das heißt, als Gott (I, S. 33).
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Der Kampf zwischen der Not des Überlebens und der Not des Fleischfressens fuhrt zu der Frage nach dem, was der Mensch für den anderen ist: ein Vater, ein Bruder, eine Schwester - der Frage nach dem symbolischen Sein,14 die sich in Die Kannibalen in der Frage nach dem toten Vater verdichtet. Sie insistiert, sie hört nicht auf, immer aufs neue ins Sprechen der Schauspieler zu drängen. Sie insistiert wie die Schuld der Überlebenden. Es ist eine Wunde, die sich in unterschiedlichsten Spielarten darstellt und wie ein unfaßbares Ding das Spiel umtreibt und wiederholt an den Rand des Abgrunds drängt. Da wird einer ermordet, aber er ist nicht der Vater. Der tote Vater tritt im Sprechen der Schauspieler auf. Der Tote im Stück spielt dagegen die Rolle von einem Stück Fleisch - namenlos, ein Objekt des Hungers, ein Objekt des fleischfressenden Tieres. Das Fleisch kehrt aber als Sohn ins Stück zurück, Puffi kehrt als sein Sohn wieder - so wie Tabori sagt, daß die toten Juden die Überlebenden heimsuchen. Es gibt damit zwei Spielebenen im Spiel: Es gibt das Spiel des Festmahls, das sich ereignen wird, und es gibt ein Spiel um ein Festmahl, das nicht stattfindet. Auf der Spielebene eines symbolischen Festmahls, das nicht stattfindet, aber ruft das Theater das Gesetz in Erinnerung: Du darfst nicht töten. Immer wieder spielt das Stück die Frage nach dem Gesetz und der symbolischen Existenz des Subjekts durch. Demgegenüber drängen die Gesetze des Überlebens, drängt der Hunger, vor dem der tote Vater zum bloßen Nahrungsmittel zu werden droht. Auf dem Spiel steht die symbolische Existenz des Subjekts, wie es vom Gesetz hervorgebracht wird. Dem Ursprung des Gesetzes aber schreibt Freud in Totem und Tabu selbst das Zeichen des Ungeheuerlichen ein, denn die spätere Sohnesliebe zum toten Vater gründet Freud auf einen mythischen Mord am Vater. Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. [...] Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.15
Jacques Lacan analysiert in seiner Antigonae-Deutang, daß Antigonae in ihrem Insistieren auf die Beerdigung ihres Bruders dieses verdeutlicht: es geht um das symbolische Sein, um das Bruder-Sein, das Kreons Befehl vernichten will - vgl. Jacques Lacan: L'ethique de la psychoanalyse. Paris 1986. Sigmund Freud: Totem und Tabu (Studienausgabe). Bd. 9. Frankfurt/M. 1969-1975, S.426.
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Im Akt des Einverleibens des Körper des toten Vaters ereignet sich die Identifizierung mit dem toten Vater, das heißt so sein 201 wollen wie der Vater, und andererseits kehrt der tote Vater wieder in der Aufrichtung des symbolischen Gesetzes als verbietende Instanz, auf die sich fortan das Subjekt beziehen wird. Erst durch diese Tat werden die Söhne zu Subjekten; die Tat signifiziert sie, gibt ihnen ihr Mal, ihr Zeichen und unterscheidet sie vom Vater, macht sie erst zu Söhnen. Die Reue über die Tat, die auftritt, sobald das unwiderrufliche Fehlen, das Loch sich vor den Subjekten auftut, wird fortan die Wiederholung des Mordes verbieten. Der tote Vater wird zum Totem-Objekt, zum tabuisierten Ding. An der Stelle des fehlenden Vaters errichtet die Reue das symbolische Nein des Vaters, das den Mord, die Einverleibung des tabuisierten Dings und damit den Anspruch auf absolute Befriedigung der Wünsche untersagt. "Der Tote wird nun stärker als der Lebende gewesen war."16 Der Mythos vom toten Vater, in einem mythischen Sprechen an die Stelle des Fehlens, des Lochs gesetzt, wird das Sein des Sohnes, des symbolischen Subjekts für den toten Vater, strukturieren und sein Gesetz geben. Insofern spricht Freuds Mythos vom toten Vater immer schon von zwei Vätern: dem Vaterbild, mit dem der kleine Ödipus sich identifiziert, das geliebt und gehaßt das erinnerbare Objekt der Kindheit ist, und dem symbolischen Vater, der Instanz des Gesetzes, die das Nein spricht und die Beziehung des Subjekts zu all seinen Objekten des Begehrens bestimmen wird. Der Name des Vaters als das Nein des Vaters, als Symbol des toten Vaters, wird mächtiger als der lebende Vater, weil er über das Schuldgefühl die Söhne auf das Gesetz verpflichtet und ihnen eine absolute Befriedigung untersagt und sie doch über diese Beziehung erst zu Subjekten, zu Söhnen macht. Als Mythos ist der Mord am Vater eine Erzählung, ein Ereignis im Sprechen der Söhne, ein Ereignis im Sprechen des Unbewußten. In Die Kannibalen wird die Erinnerung an den fehlenden Vater, an das Festmahl 'wiederholt',17 um an das vom Mord am Vater errichtete Gesetz zu erinnern. Die Kannibalen erinnern an den wirklichen Vater Cornelius Tabori, und sie erinnern an den toten Vater als ein Reales, das im Unbewußten seine Spuren einschreibt, sich im Text der Erinnerung wie im Sprechen der Schauspieler im Spiel zeigt. Der Vater ist anwesend in der Gemeinschaft der Häftlinge, in der Gemeinschaft der Schauspieler-Söhne, die ihre Väter spielen - und zwar als symbolische Instanz, 16
17
Ebd. S. 427. Diese 'Wiederholung1 des Festmahls im Sprechen spielt auf die Freudsche Wiederholung eines Traumas, eines Undarstellbaren, an, wie es Freud in Jenseits des Lustprinzips artikulierte. Eine Szene wiederholt sich im Traum, im Symptom, im Spiel und doch kehrt das Verlorene zugleich nicht wieder, läßt sich nicht wieder-holen.
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die ihnen das kannibalistische Einverleiben des toten Körpers untersagt. Er ist anwesend als die Wirkung des Gesetzes in einer beklemmenden Ambiguität, nämlich dem Streit zwischen dem Überlebenwollen und dem Gesetz. So in der Erinnerung an die Viehwagenszene, wo es ein Messer gab, mit dem man den SS-Wachmann hätte töten können. Aber Onkel hatte das Messer verschwinden lassen und damit den erlösungversprechenden Mord am Wächter unmöglich gemacht. Onkel verteidigt sich mit den Worten: "Was wollt ihr von mir, Unsterblichkeit? Ein Leben ohne Schmerz?" (I, S. 61) Und: "Ich sage euch jetzt nichts anderes als damals im Viehwagen: Wenn Mord sich zu Mord gesellt, dann vermehren sie sich wie die Stinktiere!" (I, S. 62) Wie im Akt unbewußten Assoziierens springt das Spiel plötzlich um, springt in die unmittelbare Gegenwart des Theaterabends und der Zuschauer. "Die Spieler treten aus dem Spiel heraus und zeigen die Brutalität der Unmenschen, die sie vorher nur dargestellt haben" (Regieanweisung, I, S. 64). Onkel wird in einem wilden Spektakel angegriffen. "Das Licht im Zuschauerraum geht an. Der Inspizient rennt auf die Bühne und trennt die aufeinander Einschlagenden unter Ermahnungen" (ebd.). Das Licht geht wieder aus; das Spiel geht weiter, aber verweilt noch immer hart am Rand der Gegenwart. ONKEL Was tut ihr? Ich bin doch nicht er! Ich bin ich, sein Sohn! [...] Ich werde auch nicht klug aus ihm. Ich versuche es, ich versuche es schon seit fünfundzwanzig Jahren ... [...] Nein, man wird nicht zum Juden; man wird lediglich daran erinnert, daß man einer ist. — Ach, ist mir kalt, mir ist so kalt... (I, S. 64f).
Das Unbewußte kennt kein Vergehen der Zeit, kennt keine Vergangenheit, sagt Freud. Dem Schuldgefühl kommt aber auch eine entscheidende Funktion für die Bildung einer Gemeinschaft der Subjekte zu. Denn Freuds Ursprungsmythos vom Subjekt spricht zugleich von einer anderen Seite, von einem Abgrund, von einem Moment des Fallens in die Unterschiedslosigkeit. Bevor das Nein gesprochen ist, steht alles auf des Messers Schneide. Denn das Schuldgefühl verweist einerseits auf die Bedingungen der Möglichkeit des Subjekts als seiner Grenze, und andererseits markiert es den drohenden Umschlag in das Verschwinden, in die Auslöschung. Im Akt des gemeinschaftlichen Verzehrs des Leibes des Vaters, in diesem Moment der Einverleibung des Körpers des Ändern wären die Söhne und der Vater ununterscheidbar. Erst das Schuldgefühl und der im Akt des Fressens vernichtete Vater - der abwesende, der symbolische Vater, der als Instanz des Gesetzes im Subjekt wiederkehrt - wird sie separieren, wird sie in den Unterschied und damit ins Subjektsein führen. Freud gibt in seiner Massenpsychologie als Grund für panische Angst das Fehlen
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eines Führers, einer Vaterfigur an: mithin ein Fehlen, einen Moment des "Nichts1. "Dies ist vielleicht das Freudsche 'Ding', ich meine das Ding, dessen Umriß Freud im Entwurf zeichnet. Doch es ist auch und vor allem das Ding, von dem Lacan spricht, d.h. hier das öffentliche Ding, insofern es alle Subjekte in die Unterschiedslosigkeit eines Nicht-Subjekts aufgehen läßt."18 Das Schuldgefühl steht an der Grenze zwischen dem Subjekt und seinem Verschwinden in der Unterschiedslosigkeit. Diese hier von Bernhard Baas auf das politische Subjekt und dessen Konstitution im gemeinsamen Schuldgefühl bezogene Analyse bedeutet für die Frage der Schuld in Die Kannibalen, daß dieses Spiel auch die Inszenierung einer Wiederholung des uneinholbaren, weil unbewußten Schuldgefühls darstellt und die Strukturierung der Welt (und damit des Subjekts) auch noch angesichts des drohenden 'Nichts1 in der Shoah versucht und nicht aufgibt. Insofern ist die inszenierte Wiederholung der unmöglichen, d.h. aufgeschobenen wie mythischen Tat aus Totem und Tabu zu lesen als die Kennzeichnung der unfaßlichen Bedrohung durch die Vernichtung. Die 'Kannibalen' treiben ihr Spiel bis an die Grenze, bis an die Drohung des Übergehens in die Unterschiedslosigkeit, die vom 'Nichts' nicht zu unterscheiden ist. Aber das Schuldgefühl führt jeden in eine Zweischneidigkeit, läßt niemanden unbeschädigt: "Ohne dieses Schuldigsein wären wir Nichts, wären wir nichts als dieses Nichts. Das heißt aber auch, daß das Schuldigsein uns grundsätzlich an dieses Nichts verweist oder vielmehr uns diesem Nichts aussetzt, das die Grundlage der menschlichen Existenz abgibt."19 Indem Taboris Theater die uranfängliche Schuld jedes Subjekts mit der Erinnerung an die Shoah verkoppelt, führt sein Theater an diese Begegnung mit dem 'Nichts' heran, erinnert die Zuschauer an die Bedingung ihres eigenen Subjektseins an der Grenze zum Ungeheuerlichen. Der Auftritt des SS-Mannes mit dem sprechenden Namen Schrekinger wird dieses Spiel auf des Messers Schneide brutal beenden. Schrekinger, der "Engel des Todes" (I, S. 67) betritt die Szene. Schrekinger fragt nach dem "Fettwanst" (I, S. 69) und bemerkt die brodelnde Suppe im Topf. Auf seinen Befehl fangen Onkel und Klaub an aufzutragen. Schrekinger wünscht "Guten Appetit" (I, S. 71). Keiner rührt sich. "SCHREKINGER [...] Eßt" (I, S. 72). Der erste der Gemeinschaft, an den der Befehl ergeht, Haas, schüttelt den Kopf. Schrekinger wiederholt den Befehl, Haas schüttelt wieder den Kopf. "SCHREKINGER [...] Ab in den Duschraum. Haas erhebt sich und trottet nach rechts zur Tür, neben " Bernhard Baas: Das öffentliche Ding. Die Schuld (an) der Gemeinschaft. In: Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens. Kant und Lacan. Hg. von Hans-Dieter Gondek u. Peter Widmer. Frankfurt/M. 1994, S. 105. 19 Ebd., S. 106.
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der er sich aufstellt. Er öffnet den Mund und produziert ein zischendes Geräusch - Schschsch" (ebd.). Schrekinger wiederholt den Befehl für jeden Einzelnen; zehn schütteln den Kopf, trotten zur Tür und machen das Zischen. Nur zwei wollen sich fügen; die Überlebenden, Hirschler und Heltai; aber auch sie erstarren, sobald sie versuchen, den Befehl zu befolgen. In die erstarrten Körper schneidet eine Stimme aus dem Lautsprecher und spricht das Schlußwort von der Heimsuchung durch die Toten: Einige Wilde jedoch sind voll Gier nach der Leiche eines Ermordeten / Damit sein Geist sie nicht heimsuchen möge, / Und deshalb, liebe Brüder in Christo, empfehle ich euch / Das Judenherz, in Aspik oder mit einer pikanten Soße - / So zart, es zergeht auf der Zunge (I, S. 73).
Das letzte Bild des Theaters gehört Schrekinger. Es zeigt, wie er "mit der ganzen Hand" in die Näpfe fährt und alles verschlingt. Die nazistische Vernichtungslogik verlangt ultimativ die Verwerfung des symbolischen Gesetzes. Schrekingers Befehl "Eßt" verlangt die Realisierung der im Stück aufgeschobenen wie im Spiel symbolisch wiederholten Tat. Es gelingt Tabori mit dem einen Wort "Eßt" den Schrecken zu benennen: es ist dies der Schrecken eines maßlosen Vernichtungswillens, der sich gegen die symbolische Existenz des Subjekts richtet. Daher verlangt er nicht nur die Tötung der organischen Körper, sondern auch die Vernichtung der symbolischen Körper bis hin zur Vernichtung der Toten. Der Weg dahin führt über die Gleichschaltung der Opfer mit den Tätern. Der Ruf "Eßt" attackiert noch den Rest von Separierung, er ruft in die totale Gemeinschaft, in die restlose "Volksgemeinschaft", in die nazistische Gemeinschaft eines Volkes der Täter. Die Vollendung der Gemeinschaft durch Aufgehen in der Gemeinschaft wäre somit die Vernichtung der Gemeinschaft. Denn man überschreitet nicht das vom Gesetz Untersagte, ohne sich dieser Vernichtung anheimzugeben. Man durchbricht nicht die Grenze des Dings, ohne sich in den Abgrund dieses "Nichts1 zu stürzen, welches das Ding ist. [...] Man gestatte mir zu diesem Punkt eine Anmerkung: Sich dem Ruf, der es aufruft, ohne Widerstand zu ergeben, heißt für das Volk, sich in diese apokalyptische Begegnung mit seiner Ursache oder mit seinem Ding zu schicken: nichts bleibt nunmehr übrig außer dem Objekt a, der Schrecken einjagenden Stimme: den heulenden Sirenen, die das ganze Volk im Aufgehen in der Gemeinschaft in Angst verschlingen, diese Sirenen, die wie der Ruf nichts sagen - außer diesem Nichts der Vernichtung, das sie verkünden.20
Der Ruf Schrekingers ruft zur restlosen Vernichtung, auch noch des toten Körpers von Puffi. Ebd., S. 126.
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Mit dem Auftreten des Täters ist die Zeit der Witze vorbei. Sie spielen vorher. Die Witze in Taboris Theater suspendieren den Ruf zur restlosen Gemeinschaft, sie suspendieren auch den Ruf zum "Leibgericht". Das Spiel der Witze, das nach dem Mord an Pufifi Pinkus beginnt, schiebt das Festmahl auf. So wird das Sprechen nach dem Mord an Puffi ("Möge seine Grabschrift lauten: speiste seine Mitmenschen"' -1, S. 8) von den anderen wortwörtlich übersetzt - gemäß einer bekannten Witztechnik, das symbolisch-metaphorische Spiel der Worte in einer wahnhaften Identität zu vereindeutigen. Sein fetter Körper soll gekocht der Speisung der Hungrigen dienen. Aber statt der sofortigen Verspeisung beginnt ein wilder Karneval der Worte. Immer neue Metaphern und immer abgründigere Witze sollen die ungeheuerliche Präsenz des Toten wie den drohenden gemeinsamen Tod aller Häftlinge ins Schweigen zurückdrängen. HELTAI In diesem Falle bin ich ganz deiner Meinung, Onkel, aber nur aus Gesundheitsgründen. Puffi ist zu fett für meine Magengeschwüre. WEISS Gekochtes kann dir nichts schaden. HELTAI verblüfft Was? Ja, natürlich, wenn man's so betrachtet... KLAUB Schluß jetzt. Gibst du mir das Messer, Onkel? (I, S. 12f.)
In grotesken Verschlingungen der Körper auf der Bühne wird Onkel das Messer entrissen, und während Puffis zerstückelter Leib im Kochtopf im Bühnenhintergrund schmort, steigert sich das Spiel zum karnevalistischen Tanz auf Leben und Tod. Das Spiel der Überlebenden, das um die Erinnerung an das Trauma der Vernichtung ringt, reißt sie immer weiter fort, bis an die Grenze des 'Nichts'. Die immer rasender werdenden Schauspieler versuchen in immer neuen Übertreibungen des Komischen bis hin zur Groteske, die beklemmende, weil stets anwesende, aber unausgesprochen bleibende Schuld zum Schweigen zu bringen. Bachtin sagt über die mittelalterlichen Karnevalsfeste: In ihnen ist stets die besiegte Furcht gegenwärtig: in der Form des abstoßend Komischen, in der Form umgestülpter Symbole der Macht und Gewalt, in den komischen Gestaltungen des Todes, in der fröhlichen Zerstückelung. Alles Bedrohliche wird ins Komische gekehrt.21
Doch Tabori beharrt im Gegensatz zu Bachtin auf dem Scheitern dieser Abwehr des Bedrohlichen mit dem Komischen, ohne doch auf das Komische ver-
Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Frankfurt/M. 1990, S. 35f.
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ziehten zu wollen.22 Er treibt das Spiel bis zur Grenze des Komischen; die Schauspieler springen immer schneller zwischen witzelnden Wortspielen und dem Grauen der Vergangenheit, zwischen Vater-Sein und Sohn-Sein hin und her. Dieser sich ins Maßlose steigernde Rhythmus verrät die panische Angst. Eine Identifikation der Zuschauer mit einer Identität, sei es die einer Rolle oder die der Zeit, wird unmöglich. Der Schein zerreißt, und die Gegenwart des Theaters als Ort der Erinnerung bricht herein. Das theatralische Spiel wird durch die Maßlosigkeit der Witze seinerseits bis an seine Grenze und darüber hinaus, das heißt ebenfalls bis zu seinem Scheitern getrieben. Die unerträglichen Witze der Kannibalen sind Sprache eines heil-losen Lebens, das von seinem Scheitern angesichts seiner Katastrophe, von der hereinbrechenden Panik der Todesangst spricht. Taboris Witze spielen schärfer als andere mit dem Gesetz als einem Gesetz der Sprache. Denn sie spielen damit, daß es im Subjekt nicht nur die Identifikation mit dem ödipal begehrten wie gehaßten Vater gibt, sondern daß diese Identifizierung selbst von dem Gesetz der Sprache in eine unabschließbare Bewegung gebracht wird. Man könnte auch sagen, daß Tabori den Preis des Erwachsenen zahlt, wo der Vater nicht mehr das Objekt der Identifizierung ist. Wo der ödipale Imperativ, der ja eine Unmöglichkeit befiehlt - nämlich: sei wie der Vater und sei nicht wie der Vater -, wo dieser nicht lösbare Konflikt in die Sprache hinein verschoben wird, wo der ideale Vater sich auflöst in eine metonymische Bewegung des Sprechens und des Neins des Vaters, wo der Sohn erträgt, "daß er nicht der Potentat, daß er impotentat ist: sujet der Rede (parole)".23 Indem der Mord an Puffi sogleich in Witzigkeiten überspielt, wird der Tote sujet eines Spieles der Signifikanten. Puffi ist als Körper eine riesige ausgedehnte organische Masse, aber als Name eher ein Witz, ein Nichts. In Puffi klingt Puff an: wie Bordell und wie der Knall, wenn man eine aufgeblasene Tüte zusammenschlägt. Verpuffen weist noch deutlicher auf eine Nichtigkeit hin, ein kleines Nichts. Und doch wird der Mord an Puffi im Stück mit dem Mord am Vater in eine Beziehung gesetzt. Mit Puffis Namen wird das Bachtins These vom Sieg des Komischen über das Furchtbare im mittelalterlichen Karneval verdankt sich der Annahme von einem zyklischen Kreislauf vom Leben zum Tod und der nachfolgenden Wiedergeburt des Lebens. "Dieses Drama betraf aber natürlich nicht den individuellen Leib und nicht den privaten Alltag, sondern den großen Leib der Gattung und des Volkes, für den Geburt und Tod nicht den absoluten Anfang und das absolute Ende bedeuten, sondern bloß Momente seines nie aussetzenden Wachstums und seiner Erneuerung" - ebd., S. 33. Lutz Mai: Das Recht der Väter und die Schuld der Söhne. In: Frag.mente Nr. 29/30, 1989, S. 7: "er" kann sowohl Vater wie Sohn meinen, sujet spielt mit den Übersetzungen: Subjekt, Sujet, Unterworfenes, Untertan, Staatsbürger.
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Spiel um den Vatermord wie um das antisemitischen Kannibalismus-Symbol zu einem 'Nichts1 im Sprechen, es wird zum sujet der Witze. Es ist, als ob Tabori in seinen notorischen Witzen einen Weg sucht, mit seinem unlösbaren Konflikt umzugehen: "Jeder Sohn möchte irgendwann einmal seinen Vater umbringen; wenn aber - wie in meinem Fall - andere das für ihn erledigen, und er sich auf lähmende Weise zwischen einer Art Erleichterung und dem heftigen Verlangen nach Rache fühlt - was dann?"24 Mit Witzen umgehen läßt sich einmal im Sinne Freuds verstehen, der den Witzen vorrangig die psychische Funktion der Ersparung zuspricht25 - das heißt sich die volle Wahrnehmung zu ersparen, aber es meint auch etwas umgehen machen im Sinne, daß der tote Vater und die Schuld in dem Sprechen des Sohnes umgehen, daß dieses Trauma in Umlauf gebracht wird, in der Erinnerung spricht und sich so vom Leib sprechen läßt. An dieser Grenze spielen die Witze der Kannibalen. Sie spielen mit einem verbotenen Genießen; sie spielen mit dem Genießen des symbolischen Einverleibens des tabuisierten Dings, mit dem mythischen Vaterkörper, der in Puffis Namen zugleich nur ein Witz, ein Nichts ist. Die Witze geben diese Grenze zu hören, weil sie mit der Folie des Gesetzes, des Untersagten spielen. Sie verfremden das Gesetz, sie negieren das Gesetz, in dem sie das Verbotene im Spiel der Worte symbolisch überschreiten und das Begehren des Subjekts artikulieren. Ein Begehren, das sich auf das untersagte Ding bezieht, aber - da es vom Gesetz versperrt ist - sich an ein konkretes Objekt halten muß und sich darin nur verfehlen kann. So wie Puffis Körper nur eine groteske Verfehlung eines mythisch allgenießenden Vater-Phantasmas darstellen kann. Weil etwas fehlt, wird das Begehren sich immer wiederholen, so wie die Witze sich immer wiederholen, ohne je anzukommen. Aber in diesem Verfehlen blitzt für einen Moment das untersagte Genießen auf- nämlich dann, wenn der Witz sich auf ein Objekt bezieht, als ob es das Ding (das tabuisierte Ding) wäre, wenn er in seiner Technik des Spiels mit Homonymen die Unterschiede zwischen Ding und Objekt zum Verschwinden bringt. Es ist lächerlich, wenn mit dem Namen Puffi ein tabuisiertes Ding benannt wird. Gibt der Witz also einen Moment des Dings frei, einen Moment dessen, was nicht darstellbar ist? Einen Moment des Genießens, einen Moment des Lachens? Das Lachen ist eine Zeit des Genießens, wie Alain Juranvilles Unterscheidung von Glückseligkeit und Genießen verdeutlichen kann:
Tabori: Unterammergau, S. 37. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (Studienausgabe). Bd. 4. Frankfurt/M. 1969-1975.
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Kein Genießen ohne die Empfindung (opreuve) des Gewebes der Zeit. Doch die Zeit ist darin - radikal und in ihrer Positivität die reale Zeit. Die Fülle des Genießens hebt sich ab von der Fülle der Glückseligkeit durch das Gegebensein der realen Zeit. [...] Es ist die Empfindung einer Fülle, die an der Zeit selbst hängt und weit davon entfernt ist, sie aufzuheben. Sie wird im Körper hervorgebracht. Wie sollte man auch ohne Körper überhaupt genießen können?26
In der Zeit des Lachens öffnet sich der Körper für die Empfindung einer unaussprechlichen Fülle, um sich aber sogleich wieder zu verschließen. Das ist die untersagende Funktion des Witzes in Bezug auf das Genießen. Das Lachen, das Genießen bricht hervor, wenn der Witz in der Pointe seinen Höhepunkt erreicht. Der hereinbrechende Unsinn läßt die Differenzen für einen Moment kollabieren. Diese genußvolle Katastrophe, dieses Zusammenbrechen der grammatikalischen und semantischen Sprachgesetze, suspendiert für einen Moment auch die Separierung der Subjekte. Und das Lachen nach dem Witz - wäre es nicht die körperlich nachträgliche Repräsentation eines Durchbrechens der Ordnung der Differenzierungen?27 Dringt nicht über das Frei-Setzen des Un-Sinns ein Moment von Unterschiedslosigkeit blitzartig in das Feld der signifikativen symbolischen Ordnungen ein und verweist somit auf ein "Nichts1 diesseits der Sprache? Das Lachen wäre dann auch die Verschmelzung von Körper und Signifikant im Unterschiedslosen. Im gemeinsamen Ausbrechen ins Lachen bildet sich für einen Moment die Gemeinschaft der Schuldigen, denn für einen Moment brechen die Lacher ins Genießen aus. In dieser vom Witz gebildeten Gemeinschaft wird auch die Differenz zwischen Täter und Opfer berührt. Aber weder im Sinne einer Umkehrung der Täter-Opfer-Beziehung noch als deren Ineinssetzung, wie dies etwa Wend Kässens behauptet.28 Auch wenn Taboris Theater der Witze die Opfer in eine große Nähe zu den Tätern bringt, spielen sie doch ein anderes Spiel. Die Witze der Söhne haben ein besonderes Mal; sie bringen den Mord am Vater als ihr sujet ins Spiel und damit eben auch die eigene Schuld, die eigene Beschädigung, ins Sprechen. Die Witze Taboris greifen das Ideal eines Vaterbildes ebenso an wie das Ideal vom 'reinen1 Opfer. Aber darin nimmt Tabori Partei für die Opfer der Shoah. Er zeigt sie gerade in ihrem Zerrissensein zwischen Witz und Gesetz als Subjekte. Denn sie, die Opfer, werden nicht heroisch, sondern 26 27
28
Alain Juranville: Lacan und die Philosophie. München 1990, S. 286. Vgl. auch Samuel Weber: Die Zeit des Lachens. In: Freud-Legende. Wien 1989, sowie Klaus Heinrich: "Theorie" des Lachens. In: D. Kamper u. Ch. Wulf (Hg.): Lachen Gelächter - Lächeln. Frankfurt/M. 1986. Wend Kässens: Sehen, was man nicht sehen will. Zur Theaterarbeit George Taboris. In: Gronius u. Kässens: Tabori (Anm. 9), S. 32.
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klein, fehlerhaft und nichtig gezeigt, die sich vor allem in rastloser Spielwut selbst zu betrügen zu versuchen, um die Nähe des Unerträglichen verzweifelt auf Distanz zu halten. Sie machen Witze, um noch zu leben. In seinem Sprachwitz hält Tabori an dem Singulären, an dem, was nicht aufgeht im sprachlichen Begriff, an dem, was diesseits der Sprachmauer sein könnte, in provozierender Weise fest, indem er das singuläre Subjekt - auch am Platz des Opfers der Shoah - zeigt in seinem Gespaltensein unter und vor dem Gesetz und seinem Scheitern am Gesetz. Es ist gerade dieser Kampf mit dem Gesetz, der in Die Kannibalen die Häftlinge aus ihrem bloßen Objekt-Sein für die nazistische Vemichtungsmaschinerie herausreißt, sie ins menschliche Subjekt-Sein zurückholt. Auch wenn sie dabei nicht unbeschädigt bleiben und das Phantasma vom unschuldigen und reinen Opfer zerstört wird. Aber insofern das Stück dieses Phantasma zerreißt, warnt es auch vor den Gefahren einer Idealisierung der Opfer. Denn die, die das 'reine' Opfer beschwören, sollten bedenken, daß es eine Tradition des Opfers gibt, in der dieses rein und unschuldig sein mußte, um alle Schuld der Gemeinschaft, für die es sterben soll, auf sich nehmen zu können, um sinnstiftend sein zu können, um an Stelle des befürchteten Ausbruch unkontrollierbarer Gewalt treten zu können.29 Die Kannibalen subvertiert und zerstört diese Opferlogik, die Schauspieler-Kannibalen erfahren am Schluß keine Erlösung. In diesem Theater gibt es weder für die Esser noch für die Nicht-Esser und auch nicht für die Zuschauer eine erlösende Katharsis. Es wird keine Möglichkeit suggeriert, die Schuld begleichen zu können. Was bleibt, ist ein Eingedenken.
4. Mein Kampf: der Witz - ein Januskopf, ein talmudisches Wort Der Witz selbst aber trägt einen Januskopf; er spielt ein ambivalentes Spiel mit der Gemeinschaft der Lacher. Er kann sie mit in die Schuld ziehen. Wenn aber einer die Schuld und das Gesetz verleugnen will, kann notorisches Witzemachen auch lebensgefährlich wirken. Und Witze können peinlich sein, wenn einer sich unaufhörlich mit Witzen um seinen zukünftigen Peiniger bemüht, ihn mit Witzen unterhalten will. In Mein Kampf inszeniert Tabori diesen dramatischen Knoten. Mein Kampf ist ein Kampf mit dem Witz. Es ist ein Kampf des Subjekts in seiner Schuld wie in seinem Versagen vor dem Erkennen der tödlichen Gefahr, aber darin zugleich auch ein Kampf gegen den Anspruch 29
Vgl. Reno Girard: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt/M. 1992.
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einer absoluten Herrschaft, gegen die Totalität des absoluten, d.h. rassistisch im "Blut" begründeten Unterschieds. Und Mein Kampf ist ein Spiel um das Buch, um Hitlers Mein Kampf, Mein Kampf isi die Geschichte eines Kampfes zwischen Hitler und 'den Juden1 auf der einen und einem Juden mit Namen Schlomo Herzl auf der anderen Seite. Zwei Juden leben in einem Männerasylum in "Wien, Winter 19.. - Asyl in der Blutgasse" (II, S. 144); der eine, Lobkowitz,30 ein gescheiterter Koch, spielt Gott, der andere, Schlomo Herzl, ein fliegender Händler für Bücher, will ein Buch schreiben. Sein Titel soll lauten: "Mein Kampf. Gemäß dem Gesetz der Gastfreundschaft nimmt er Hitler auf und unterhält ihn in doppelten Sinne, mit Sprachwitz und Sorge um dessen Überleben. Ein doppelbödiges Spiel des Witzes, von dem Herzl nichts wissen will; denn er bewahrt Hitler mit seinem Witz vor einem frühen Tod, sichert ihm das Überleben, ein Leben für Hitlers Mein Kampf. "Mein Kampf ist der Titel für das Buch, das Herzl das ganze Stück über schreiben will. Doch am Ende existiert es nur in einem geschriebenen Satz: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben ist noch heute" (II, S. 199), ansonsten existiert es als ungeschriebener Text, als ein sprachliches 'Nichts' in Herzls Kopf. Und es existiert auf der Bühne als Spiel eines Kampfes zwischen Herzl und Hitler. Es ist ein Kampf Herzls mit den Mittel des jüdischen Witzes um Hitler als Subjekt, und es ist Hitlers Kampf um Herzls "Mein Kampf. Es ist ein Kampf um das Haben und das Sein; es ist ein Kampf um das absolute tabuisierte Ding und um das Begehren des Subjekts. Während nämlich Herzl Hitler mit seinem Sprechen in eine sprachliche Gemeinschaft im Witz verfuhren will - und das heißt auch in eine Gemeinschaft der Schuldigen, will Hitler etwas ganz anderes. Hitler will das unmögliche, das nichtexistierende Ding (hier als ungeschriebenes Buch im Spiel) haben; er will Herzls Buch im Kopf als ein wirklich geschriebenes Buch, nach dessen Buchstaben er die Vernichtung realisieren wird. So spielt der Titel "Mein Kampf auch mit der historische Tatsache, daß damals fast niemand die Worte Hitlers in Mein Kampf ernstgenommen hat, nicht daran glauben wollte, daß jemand Worte im wahrsten Sinne todernst meint und direkt und ohne Abstriche in die Tat umsetzen könnte. Während Hitler mit tödlichem Ernst von dem Unterschied zu 'den Juden' spricht, spricht Herzl eine ganz andere Sprache. Herzls Witz versucht Hitler in eine Gemeinsamkeit in der Sprache zu fuhren, versucht ihn mit einem Spiel der Buchstaben zu verführen. Tabori inszeniert die Verführung buchstäblich:
30
Der Witz spielt auch in 'Lobko-witz' seinen Part; vgl. dazu auch den Beitrag von Sandra Pott in diesem Band: '"Ecce Schlomo': Mein Kampf - Farce oder theologischer Schwank?"
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HITLER Odessa? Low? Pinsker? Zufall? Cousin? Sie spinnen wohl. Mein Blut ist rein wie Treibschnee, ich entstamme einer Rasse zäh wie Leder, flink wie Krupp-Stahl, hart wie Windhunde. [...] HERZL [...] Was in einem Namen steckt, Junge? Ich sage Ihnen, was alles in einem Namen stecken kann. Herz reimt sich auf Schmerz. Schlomo auf homo. Andererseits reimt sich Herzl auf Scherzi, das Schwanzstück vom Rind. Jeder verdient den Namen, den er trägt. Wenn Sie glauben, Sie sind der einzige Hitler in diesem Tränental, dann machen Sie sich auf eine Ernüchterung gefaßt. Im Wiener Telefonbuch gibt es, meiner Schätzung nach, dreiundzwanzig Hitler, alle, vermute ich, Abkömmlinge eines Zwillingsstammes, von Odessa der eine, von Munkacevo, das sich in die karpatischen Ausläufer schmiegt, der andere. Der Odessa-Zweig wurde vor etwa zweihundert Jahren aus der Stadt gepeitscht und ließ sich in Niederbayern nieder. Zwi ben Avraham Low, unser Ahnherr, war der sogenannte Kleine Trommler in Holzhausen; als eine Art lebender Zeitung trommelte er einmal die Woche die Dorfbewohner zusammen und verkündete die neuesten, meist schlechten Nachrichten. Sein jüngster Sohn, der unvergeßliche Zwerg Benjamin, hatte sich, im Gebiet um Stamberg, um den Müll oder Schutt zu kümmern und wurde aufgeräumt Ben, der Schüttler genannt; aber infolge eines bürokratischen Versehens im Rathaus wurde das "ü" durch ein "i" ersetzt, ein "t" wurde während des Siebenjährigen Krieges fallengelassen, während das "c" in den Nachwehen eines Pogroms verlorenging, woran, nicht überraschenderweise, seine englischssprachige Ehefrau Rebecca Anstoß nahm. Als die Shitlers sich in Ambach aufs Altenteil zurückgezogen hatten, ihrem Hobby, dem Forellenräuchem, nachgingen und die frohe Kunde der Emanzipation sie erreicht hatte, schickten sie Benjamin zum Amt für Germanisierung von Eigennamen, um etwas angemessen Wohlklingendes zu erstehen. Hohenzollern oder Beethoven hätten ihm zugesagt, aber die waren nicht für den öffentlichen Gebrauch bestimmt. Rosenduft oder Rosenkranz waren zu teuer. "Wieviel Geld haben Sie?" fragte der Beamte. "Zwei Heller", antwortete er. "Für zwei Heller", sagt der Beamte, ein Antisemit, "kann ich nur eins für Sie tun, Herr Shitler, das >S< streichen." Hast du nie von unserem lieben Onkel Ben gehört? HITLER Welchen Onkel Benjamin meinst du? HERZL Der Mann von der Tante Therese! HITLER Der nach außen schielt? HERZL Der mit dem Kröpf. HITLER Nie von ihm gehört! HERZL Schade HITLER Dies also ist Wien HERZL Nein, aber Talmud. HITLER Noch ein Cousin? LOBKOWITZ Ein Buch. HITLER Auf deutsch? LOBKOWITZ Auch. HITLER Mögen Sie Karl May? HERZL UND LOBKOWITZ In kleinen Dosen. HITLER Als Winnetou starb, mußte ich weinen; in kleinen Dosen. HERZL Ich auch. Also du siehst, wir haben doch etwas gemein. HITLER Das bezweifle ich, wenn man Ihre Nase sieht. Wie ist sie so geworden? HERZL Ein kleiner Gichtschub! Gemein, ein talmudisches Wort, hat, wie Gott, gegensätzliche Bedeutungen, es bedeutet böse, aber auch gewöhnlich. Wenn böse, dann trennt es, wenn gewöhnlich, vereinigt es (II, S. 154-156).
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Wie im Talmud bringt das Spiel der Buchstaben den Anspruch auf den einen Sinn, auf die eine Bedeutung, auf die Gewißheit zu Fall. Mäandernde Sprachspiele machen jeglichen Anspruch auf einen reinen wie auf einen im biologisch-rassistischem "Blut" wurzelnden Ursprung zunichte. Die Sprache gibt eine Gemeinsamkeit, indem sie einen gemeinsamen Ursprung gibt - nämlich daß Hitler wie Herzl sich in ihrer schimärischen Identität einem Spiel der Buchstaben verdanken, deren separierende Funktion wiederum von einem kleinen Fehl, dem Fehlen von etwas mehr Geld verursacht wurde. Man könnte sagen, daß beide ihre sprachliche Existenz einem 'Nichts', einem verlorenen Buchstaben verdanken. Aber in diesem Versteckspiel der Namen spielt auch eine Verschiebung des Faustmotivs. In der mittelalterlichen Faustsage wie in Goethes Tragödie wird Faust von dem Widersacher Gottes zum Abfall vom christlichen Glauben verfuhrt und um seine Seele und sein Leben gebracht. Bei Tabori versucht ein Jude seinen zukünftigen Vernichter, Hitler, zu verführen, aber es ist der Kampf um eine Verführung zum Leben in einer Sprachgemeinschaft und zum gemeinschaftlichen Leben von Christen und Juden in einem gemeinsamen Asyl in der "Blutgasse". Das eine Wort könnte sie trennen und vereinigen. Doch wie weit geht diese Verführung? Das talmudische Wort spricht von der Doppelbödigkeit des Witzes, denn er kann trennen oder er macht gemein, auch mit dem, der nichts als den Tod will. Das Sprechen des Ändern läßt sich nicht fein säuberlich sortieren in die guten und in die bösen Witze. Der Sinn wird sich erst nachträglich zeigen. So stehen sich auch Herzl und sein Mephisto nicht als zwei getrennte Identitäten gegenüber, sondern Herzl wird in seinem Bemühen um die Unterhaltung des Ändern selbst ein wenig zum mephistophelischen Verführer: die Differenzen spielen zwischen dem Subjekt Herzl und seinem Widersacher hin und her. Und doch inszenieren die Kämpfe mit der Sprache und mit dem Witz keine Ununterscheidbarkeit zwischen künftigen Täter und Opfer. Herzl sucht ein "gemeines / gemeinsames" Wort für Hitler zu finden - ein Wort, das sie zugleich vereint und trennt, das Hitler in das Reich einer Sprachgemeinschaft 'heim'-holen könnte. Es ist das witzige Wort, das talmudische Umgehen des Witzes im Spiel der Worte, dem Hitlers Kampf gilt: HITLER Meine Mutter wollte, daß ich Meisterarchitekt werde. Wie recht sie hatte. Heute morgen, als ich am Burgtheater vorbeikam, dachte ich mir, da fehlt doch was, da fehlt doch was: Säulen, ja es fehlen Säulen. Ich mag Säulen, Sie auch? HERZL In kleinen Dosen. Weißt du, was Michelangelo den Papst gefragt hat, bevor er mit der Sixtinischen Kapelle begann? HITLER Nein, was? HERZL mit italienischem Akzent Welche Farbe darf s denn sein, Papa?
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HITLER Das war ein Witz, vermute ich? HERZL Ja, Hitler, das war ein Witz. HITLER Ich hasse Witze. Ich vergesse immer die Pointe. Aber dann ziehe ich ja auch Ernstes vor. Schließlich ist das Leben eine sehr ernste Angelegenheit (II, S. 158).
Die Pointe spielt mit Hitlers Existenz, der in Wien so gerne Maler geworden wäre und doch nur als ein anderer Maler, als ein Anstreicher in die Geschichte einging. In der Pointe öffnet sich im Lachen ein Fehlen an Sinn, gibt ein kleines 'Nichts' frei, führt das Subjekt als ein 'Nichts' vor. Die Sprache des Witzes subvertiert in Mein Kampf unaufhörlich jeden Versuch zum herrischen Anspruch auf ein Ganzes - sei es Sinn, sei es Identität, sei es das Buch im Kopf. Eben deshalb beharrt Herzl auf dem Witz, ebenso wie Hitler ihn bekämpft. Hitlers Sprache sucht den Witz aus sich selbst zu vertreiben, versucht ihn zu deportieren, versucht den Witz der Sprache zu vernichten. Taboris Witz zeigt, wie sehr der Haß auf den Witz mit dem Wunsch zu seiner Deportation einhergeht, wie sehr Hitlers Sprache davon getragen ist, das Moment des eigenen kleinen "Nichts" zu verleugnen. Tabori denunziert einen Sprachstil, der sich peinlichst frei zu halten sucht von Witzen als ebenso pathetischen wie hohlen Anspruch - einen Sprachstil, der immer wieder aufs neue versucht, die eigene phantasmatische Grandiosität zu behaupten: "HITLER Um Shakespeare zu zitieren: Wo warst du? HERZL Hier, um Shakespeare zu zitieren, war ich" (II, S. 165). Hitlers Stil des Grandiosen muß Witze hassen, denn der Witz bringt etwas zum Scheitern, gibt etwas der Lächerlichkeit preis und sagt damit auch, daß der Zugang zum Totalen, zur Selbstvergötterung im eigenen Sprechen versperrt ist. Indem der Witz Schlomos die Pein wie die Peinlichkeit, die Blödheit der Sprache mit ihrem sinnlosen Spiel mit Homonymen im Witz ausstellt, hält er das Begehren offen, weil er den Anspruch auf Totalität durchstreicht. Es gibt keine absolute Aussage, weil sie von einem möglichen Witz der Sprache - einem witzigen Spiel mit "Maler" zum Beispiel - wie von einem Torpedo aus der Bahn geworfen ins Lächerliche abtrudeln kann. Der Witz der Sprache torpediert diesen Anspruch auf Totalität, den Tabori an anderer Stelle als die "deutsche Misere" charakterisierte, oder den Kässens umschreibt "als Neigung zur totalen Lösung, zum totalen Gehorsam, zum totalen Helden, in dem sich der kollektive Traum von totaler Größen verkörpert."31 Es ist dies die Logik des Entweder-Oder, des Alles oder Nichts, die der Witz hier durchkreuzt, indem er mit einem Zugleich spielt:
Gronius u. Kässens: Tabori (Anm. 9), S. 87.
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HERZL [...] In dieser letzten Woche hat Du dir einige der schlechtesten Gewohnheiten sowohl der Deutschen als auch der Juden zugelegt. Du denkst zuviel, hauptsächlich Blödsinn. Du schwatzt und quengelst, spekulierst, theoretisierst, prophezeist, onanierst, polarisierst, mit dir ist es immer Entweder-Oder, dabei vergißt du, daß die trudelnde Münze nicht auf Kopf oder Zahl fallen muß, sondern in der Luft hängen bleiben kann (II, S. 186).
In der Schwebe, in der Luft hängen bleibt wie das talmudische Wort der Witz; er läßt nicht wissen, ob er vereinigt oder trennt, ob er das Böse und/oder das Gemeine wie das Gemeinsame sagt und ins Spiel bringt. So hängt auch das Spiel zwischen dem einen Juden und Hitler gleichsam in der Luft und im Spielraum des Theaters; es hängt in der Schwebe des Nichtwissen über den Sinn dessen, was der andere spricht, wenn er Witze macht. Das ist die andere Seite der Gemeinsamkeit, die der Witz für einen Moment aufblitzen läßt. Der Witz sagt nicht, was für eine Gemeinschaft er im Lachen stiftet. Er spielt auch mit der Gefahr. Die Unterwerfung unter ein väterliches Gesetz, zum Beispiel jenes von der Gastfreundschaft, kann vor der Gefahr nicht restlos schützen. So spricht Lobkowitz zu Herzl: "Deine Güte diesem Graphiker gegenüber grenzt an mütterlichen Masochismus" (II, S. 162), und er verläßt ihn kurz darauf eben aufgrund dieser Aufopferung mit den Worten: "Gott braucht den Menschen. Auch der Mensch braucht den Menschen, aber du hast etwas von deiner Menschlichkeit verloren, seitdem du den Graphiker bedienst wie eine Mutter" (II, S. 164). Lobkowitz geht ab mit den hellsichtigen Worten: "Paß bloß auf, Schlomo Herzl, die Liebe ist lebensgefahrlich" (II, S. 165). Herzl begreift nicht, er zelebriert das väterliche Gesetz wie ein Schutzschild gegen das Begreifen: "In den Augen des Allmächtigen wiegt Gastfreundschaft so schwer wie ein Gottesdienst" (II, S. 162). Herzl hält unter diesem imaginären Schutzschild an einer gefährlichen Gemeinschaft fest, er will den tödlichen Sinn nicht hören im Sprechen Hitlers: HITLER Ich hätte es wissen sollen, aber es macht nichts, dies sind meine Lehrjahre; als ich im Stechschritt aus von Kropfs Büro marschiert war, habe ich Zuflucht in einem nahe gelegenen Kaffeehaus gesucht, einer rauchgeschwängerten Lasterhöhle, und meine Augen öffneten sich weit, und da habe ich sie gesehen, diese Shylocks, schwarze Pechvögel in schmierigen Pelzen und Kaftanen, kein Freunde von Wasser und Seife, ihren Achselhöhlen entströmte ein Gestank dampfender Wollust, während sie ein christliches Baby-Schnitzel hinunterschlangen. HERZL Welche Beilage? (II, S. 167)
Schlomos Witz läßt die bedrohliche Bedeutung des antisemitischen Greuelmärchens vom Kannibalismus der Juden in der Luft hängen. Er nimmt noch den
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antisemitischen Haß auf sich, indem er durch seinen Witz eine Brücke zum Haß schlägt, sich für einen Teil mit ihm gemein macht. Sein Witz versucht den Haß mit ihm zu teilen, versucht den Haß in die Sprache zu verschieben, ihn mit einer witzigen Pointe zu entschärfen. Aber dies ist nur der eine Teil, eine partielle Gemeinsamkeit, eine gemeinsame partielle Beschädigung. Die andere Seite ist, daß Herzl sich vom tödlichen Haß zugleich separiert, indem er dieses Stereotyp des Antisemitismus als Spiel der Signifikanten in sein Sprechen aufnimmt und demontiert, d.h. vom Stereotyp zum Signifikanten verschiebt, wodurch es zu einer banalen Mahlzeit für jedermann, zu einem gemeinen Schnitzel mit Beilage gemacht werden kann. Im Witz wird eine Gemeinsamkeit erzeugt, die die Identität stiftende Funktion des Stereotyps - nämlich die absolute Trennung zwischen Christen und Juden zu suggerieren - ad absurdum führt, sie zunichte macht und beide, Herzl wie Hitler, vor ein gemeinsamen "Nichts" der Schuld stellt. Diese Nichtigkeit in der Gemeinsamkeit, die der Witz anspielt und die Schlomo Herzl Hitler immer wieder anbietet, diesen Brocken will Hitler nicht schlucken. Nichts scheint den nazistischen Tätern bis heute verhaßter zu sein, als sich zu einer Schuld bekennen zu müssen. Welchen Sinn macht es, den Peiniger mit Witzen zu einer verzweifelten Gemeinsamkeit zu verführen? Welchen Sinn macht es, den, der nicht lachen will, den, der nicht in einer Schuld stehen will, mit Geschichten zu unterhalten? Die Frage nach dem Sinn der Witze wird im Stück mit der Frage nach dem Sinn des Schreibens und dem Sinn der Dichtung verbunden. Viermal stellt Herzl die Frage nach dem Sinn seines Tuns. Bezogen auf sein Buch im Kopf antwortet er: "und doch muß ich mein eigenes Buch schreiben, um das Böse aus meinem Herzen zu vertreiben, diesen Schatten, der auf meine Schwelle fällt" (II, S. 149). Angesichts von Gretchens Verführung zu einer Sünde, dem Liebe-Machen am Sabbat, umgeht er das Verbot des väterlichen Gesetzes mit einer Geschichte vom toten Vater, ermordet von der Polizei aufgrund der Lüge seines Sohnes: "Ach ja, eine Geschichte. Vielleicht ist das der Sinn der Dichtung: bei einem nackten Kind zu sitzen und dieser nackten Rose von Kind eine Geschichte zu erzählen" (II, S. 176). Und als dieses Gretchen sich später mit Hitler und dessen Freund, Heinrich Himmlischt zusammentut, um Schlomo Herzl das Buch "Mein Kampf zu rauben, dieses Buch, das nur in dem Kopf dieses einen Juden existiert, da fragt sich Herzl: "Ach ja, vielleicht liegt der Sinn der Dichtung in der Unterhaltung des Bösen, vorausgesetzt, man hält sie wach" (II, S. 201). So wie Schlomo Herzl Hitler unterhält - er unterhält ihn mit Witzen, und er unterhält ihn in seiner körperlichen Existenz. Sowohl im kleinen wie im großen. Als dann Frau Tod auftritt und Hitler als ihr Objekt haben will, hält Herzl sie mit Geschichten auf. Und als Frau Tod schließlich
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sagt, daß er damit gerade Hitlers elendes Leben verlängert habe, fallt Herzl ein vierter Sinn der Dichtung ein: "Ja meine Dame, das mag der Sinn der Dichtung sein, den Tod zu beschwatzen und hinzuhalten." Denn Schlomo will die Möglichkeit des tödlichen Sinns der Rede nicht verstehen: "FRAU TOD Armer Schlomo, daß Sie das immer noch nicht kapiert haben, daß Ihr Freund mich als Leiche überhaupt nicht interessiert. Als Leiche, als Opfer ist er doch absolut mittelmäßig. Aber als Täter, als Sensenknabe, als Würgeengel - ein Naturtalent" (II, S. 194). Schlomos Witze schützen nicht vor dem Verkennen des Todes. So wie Schlomo sich nur für die Unterhaltung interessiert, so verstellt seine Witzigkeit ihm den Blick darauf, daß ein anderer keine Witz macht, wenn er spricht. Diese andere Wahrheit ist aber schon in Schlomos Sprechen ausgesprochen - eine Wahrheit, die sich in einer kleinen Verschiebung in der Grammatik ankündigt HERZL [...] Du bist ein mieser Schauspieler. Er zieht Hitler die Stiefel aus Du solltest in die Politik gehen. HITLER Wie meinen? Glaubst du wirklich? HERZL Ja, das glaube ich wirklich. Nichts dabei. Natürlich müßtest du deine Grammatik verbessern und dazu das Markus-Evangelium studieren. UND ER KAM NACH GALILÄA, UND SEIN NAME VERBREITETE SICH IN DER FREMDE, UND ER LEHRTE IM TEMPEL. Markus verbesserte die Grammatik, indem er hinzufügte, in IHREN Tempeln, und so erfand er das Ghetto. So einfach ist das, vergiß Schlomo, EINEN Juden, sprich nur von DEN Juden, und du wirst ein König sein, der über eine Decke von Gebeinen schreitet, und sie werden dir in den Schnee folgen, und in die Wüste, zum brennenden Tempel (II, S. 181f.).
Schlomo spielt den Part des Subjekts, das nicht wissen will, das sich in seinem Sprechen vergißt, das sich gänzlich dem Witz der Sprache unterwirft, darin auch sein eigenes Überleben vergißt und in Gefahr gerät. Mein Kampf wäre dann auch zu entziffern als ein nicht nur komisches Spiel zwischen dem gemeinen / gemeinsamen Wort, sondern auch als ein tragisches, ein unlösbares Spiel zwischen Wissen-Können und Nicht-Wissen-Wollen des Subjekts. Auf einer zweiten Ebene betrifft dieses Spiel aber auch grundsätzlicher Taboris Theatermachen mit Witzen selbst. Denn wenn man die Fragen an den Sinn der Dichtung auf Taboris Theaterdichtung überträgt, dann könnte Herzls Antwort "und doch muß ich mein eigenes Buch schreiben, um das Böse aus meinem Herzen zu vertreiben, diesen Schatten, der auf meine Schwelle fällt" (II, S. 149) auch als eine Aussage über Taboris Form der 'Unterhaltung' mit Witzen verstanden werden. Beziehen wir auch die weiteren drei Antworten Schlomos zum Sinn der Dichtung auf Taboris Theater, dann gilt auch für sein Theater, daß es Geschichten erzählt und aufführt - an der Stelle, wo es das
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Gesetz übertritt, wo es sich mit Geschichten schuldig macht -, daß es der Unterhaltung des Bösen dient und zugleich versucht, den Tod zu beschwatzen und hinzuhalten. Dann zeigt der Witz wieder seinen Januskopf. Der Schatten der Bedrohung ist nicht restlos zu tilgen. Aber der Witz in Taboris Theater der Erinnerung an die Shoah versagt sich doch einer einfachen binären Entweder-Oder-Logik; er versagt sich der einfachen Unterscheidung in gute Witze, schlechte Witze, gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung. Es ist vielmehr eine Kunst, die ihr Spiel in vierfacher Weise inszeniert: als eine Form der Aufschiebung wie der Unterhaltung des Bösen und der Anerkennung wie der Überschreitung des Gesetzes. In dieser Struktur läßt sich die Bewegung des Subjekts in dem Geviert zwischen dem Gesetz und Genießen, zwischen Schuld und Versagen wiedererkennen. Ich denke, daß dieses Geviert zumindest dann für den Witz wirksam wird, wenn der Witz - wie dies bei den hier analysierten Theaterstücken Taboris der Fall ist - auf die Überschreitung des ödipalen Gesetzes zur Identifizierung mit dem Vater zielt, so daß er damit den Namen des Vaters und die Schuld der Überlebenden zum sujet der Witze macht und auf diese Weise ins Sprechen bringt. Man könnte dies in Anlehnung an Freuds Untersuchungen zum jüdischen Witz und vor allem deren Relektüre durch Sarah Kofmann als ein Strukturmerkmal jüdischer Witze benennen.32 Sie denunzieren nicht ein anderes Subjekt für dessen Unvollkommenheit, wie dies von Freud für die sogenannten aggressiven Witzen analysiert wird. Sondern sie attackieren mit Witz den Wahn einer totalen Gemeinschaft wie den einer totalen Herrschaft, aber auch den Wahn eines absoluten Wissens. Deshalb verleugnen sie nicht die Schuld, sondern sie setzen das Subjekt in seinem Lachen zugleich in die Schuld des Genießens, setzen es vor und in dieses 'Nichts' an Schuld. Der kurze Augenblick des TSIichts1 im Lachen, der die Erinnerung an die Nichtigkeit des Subjekts wachhält, wird im Witz aufgedeckt. Die Nichtigkeit wird offengehalten; sie wird erinnert, indem sie im Moment des Lachens mit dem Körper erfahren wird. Und der Witz — so wie er bei Tabori funktioniert - kann das ödipale Gesetz mit seinem Imperativ zur Identifizierung in eine Distanz setzen, indem er es dem Lachen aussetzt - und doch darin auch, wenn auch nur für einen Moment, das symbolische Gesetz des Vaters als dem Gesetz der Sprache, anerkennt und zugleich überschreitet. Taboris Protagonisten werden zwischen diesen beiden Gesetzen und damit zwischen Schuld und Genießen bis an die Grenze getrieben. Ihr Spiel ist ein Spiel mit dem Überschreiten des Gesetzes des Vaters, das den Sohn in die 32
Freud: Der Witz (Anm. 25); Kofmann: Die lachenden Dritten (Anm. 5), S.24.
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Schuld stellt, und es ist ein Überschreiten der Gesetze der Sprache, indem es die Grenze zum Genießen für einen kurzen Moment aufreißt. Diese Differenz zwischen den zwei Gesetzen gilt es aufrechtzuerhalten, denn hier spielt ein Widerstandsmoment gegen den Totalitarismus, ein Widerstandsmoment gegen die Katastrophe.33 Peter Widmer formulierte in Ethik und Psychoanalyse ein Maß für das Sprechen in der Psychoanalyse, nämlich nicht das Moment des 'Nichts' und der Nichtigkeit des Subjekts zu überspringen und zu vergessen, "sondern es aufzudecken".34 Dieser Moment des Aufdeckens dessen, was fehlt, was sich nicht fügt, läßt sich auch als Fluchtpunkt für die theatralische Kunst Taboris benennen. Es ist jeweils die Anstrengung einer Öffnung dieser Differenz. Tabori hält das Spielen der Differenz offen, gibt ihr einen Raum, einen Sprechraum im Theater. Greifen wir nun noch einmal die Frage nach der Darstellbarkeit und der Darstellung der Shoah auf, so läßt sich jetzt sagen, daß in diesem Theater der Erinnerung der Witz in einer bestimmten Weise funktioniert: als ein Widerstandsmoment gegenüber einem totalitären Anspruch wie gegen den Ruf in die totale Gemeinschaft. Aber der Witz behauptet auch den Widerstand gegen eine absolut gläubige Unterwerfung unter das väterliche Gesetz, die nichts von der Gefährdung wissen will. Denn der Witz macht das Gesetz selbst zu seinem sujet, spielt mit ihm, setzt es dem Lachen aus. Und darin beharrt der Witz auf der Nichtigkeit des Subjekts im Begehren, wie peinlich es auch sei. In Taboris Theaterarbeit können die Witze zwar die Katastrophe überrumpeln, aber sie bringen das Trauma der Erinnerung nicht zum Schweigen. Sie verleugnen das schreckenerregende Loch der Katastrophe nicht, sie versuchen es nur zu beschwatzen und hinzuhalten. Der Schatten an der Wand aber bleibt. Ein Schatten, der vielleicht schon immer im Spiel und Scherz des Theaters mitspielt, woran uns Tabori mit den Worten Hölderlins, die er seinem Mein Kampf voranstellt, erinnert: "Immer spielt ihr und scherzt? ihr müßt! oh Freunde! mir geht dies In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur."35
" Vgl. Baas: Das öffentliche Ding (Anm.18), S. 123. 34 Peter Widmen Einleitung. In: Ethik und Pschoanalyse (wie Anm. 18), S, 7-24, hier S. 8. 35 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Darmstadt u. Neuwied 1979, S. 79.
Sandra Pott und Marcus Sander
Abdankung des Dokumentarischen? Taboris Die Kannibalen als Gegenstück zu Die Ermittlung von Peter Weiss' Wirklichen Hunger hat man erst dann, wenn man einen anderen Menschen als etwas Eßbares betrachtet. Tadeusz Borowski2
Ein KZ-Häftling, der dicke Gänseleber-Verkäufer Puffi Pinkus, wird von seinen Barackengenossen getötet und gekocht. Puffi wurde erschlagen, denn er hatte heimlich einen Brocken Brot verzehrt, den er 'unrechtmäßigerweise' besaß. Nun sollen der Hunger der Häftlinge und das 'Bestattungs-Problem1 durch einen kannibalistischen Akt bewältigt werden. Die Häftlinge reproduzieren den Grundgedanken der 'Endlösung' im Kleinen, indem sie das nationalsozialistische Prinzip von Vernichtung und Verwertung menschlichen Lebens übernehmen und moralische Grundprinzipien bis aufs äußerste verleugnen. Der humane Alternativ-Vorschlag "Onkels", den Toten "zwischen dem Löwenzahn" zu begraben (I, S. 8), stößt auf den zynischen Spott seitens der Mit-Gefangenen.3 Sie haben die 'sozialen' Regeln des Vernichtungslagers Auschwitz, die mitleidlosen Techniken des Überlebens, derart verinnerlicht, daß ihnen eine zivilisierte Bestattung, wie Onkel sie vorschlägt, widersinnig erscheinen muß. Nicht nur der Leib des Ermordeten wird ausgeschlachtet, auch seine Kleidung wird buchstäblich bis auf das letzte Hemd verwertet: WEISS eine Schürze um den Leib gebunden Das Salz habe ich. ONKEL Und woher stammt diese alberne Kostümierung? WEISS Puffis Unterwäsche, hast du was dagegen? ONKEL Konntet ihr nicht warten, bis sein Grab fertig war? KLAUB Er wird kein Grab brauchen. Haas kommt mit dem großen Topf, krächzend. Er stellt den Topf auf den Ofen (I, S. 9).
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2 3
The Cannibals wurde am American Place Theatre 1968 in New York uraufgeführt (Regie: Martin Fried); die europäische Erstaufführung fand 1969 im Berliner Schiller-Theater statt (Regie: Fried und Tabori). Die Ermittlung wurde 1965 in zahlreichen deutschen Städten gleichzeitig uraufgeführt. Zit. nach Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz. Wien 1987, S. 120. Zitate zu Die Kannibalen und Die Ermittlung werden im Text nachgewiesen. Zitiert wird aus Tabori: Theaterstücke I bzw. Peter Weiss: Die Ermittlung. Frankfurt/M. 1991.
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Die Mithäftlinge des Getöteten, in ähnlicher Weise Opfer der im Lager vorherrschenden "Logik der Vernichtung" (Jean Amery) wie Puffi Pinkus, werden dadurch, daß sie Onkels Vorschlag abweisen, potentiell ihren deutschen Mördern gleich. Indem sie das Stück Brot (und die in ihm materialisierte Möglichkeit des Überlebens) höher bewerten als die moralische Pflicht, Mitleid gegenüber dem Mit-Opfer zu praktizieren, ihm zu helfen und solidarisch zu handeln, begeben sie sich in den Bereich jener "Grauzone" (Primo Levi), in dem sie als Opfer des Regimes von ihren Mördern kaum zu unterscheiden sind. Onkel wird im Verlauf des Stücks wiederholt sein Bekenntnis zu einer individuellen Tugend-Moral gegen das NS-System aussprechen ("Die einzige Methode, Gänsen zu widerstehen, ist die, einer Gans so unähnlich wie möglich zu bleiben" -1, S. 39); er wird seine 'unmoralischen' Lagergenossen mit alttestamentarischen Sprüchen in Grund und Boden fluchen, gerät aber mit seinen zum Teil dogmatischen Glaubenssätzen selbst unter Legitimationsdruck. Auch Onkel ist eine ambivalente Figur, die den Barbarismen des Lagers nur bedingt widerstehen kann (vgl. die Abschnitte 3 und 4). Daß aus Menschen Tiere werden, ist von der SS gewollt. Der (historisch wahrscheinliche) Kannibalismus in Auschwitz ist keineswegs tragischer Zufall, sondern Teil der Vernichtungs-Strategie, die dem Lager zugrundeliegt: das Verhungern der Gefangenen, ihr Dahin-Siechen an Krankheiten, die durch Hunger und Seuchen verursacht werden, sind integraler Bestandteil des Systems der Vernichtungslager.4 Zwei weitere Aspekte gehören zu den Folgen dieser Ausrottungspolitik: Indem die Häftlinge von ihren Peinigern an die Schwelle der Menschenfresserei getrieben werden, verlieren sie ihre "Verschiedenheit" (I, S. 71) von den Tätern - nämlich die Berechtigung, sich als Opfer zu fühlen, was für das Zerbrechen der psychischen Widerstandskraft der Häftlinge von erheblicher Bedeutung war. Primo Levi hat in Ist das ein Mensch? und in Die Untergegangenen und die Geretteten diesen Aspekt der Ent-Solidarisierung der Häftlinge auf erschütternde Weise herausgestellt. Außerdem erwies sich das Kalkül, die Häftlinge bis auf äußerste zu dehumanisieren, als 'self-fullfilling prophecy1: Die Opfer degenerierten beinahe zu jenen unmenschlichen Entstellungen, die von der NS-Propaganda seit jeher verbreitet wurden. Die Realität wurde auf diese Weise dem Stereotyp angepaßt. Vgl. Langbein: Menschen (Anm. 2), S. 120f. - Langbein verweist auf Tadeusz Borowskis Erinnerungen, also auf ein literarisches Zeugnis, von dem er ableitet, daß es in Auschwitz Fälle von Kannibalismus gegeben hat. Berücksichtigt man andere Vernichtungsprojekte der Zeit, beispielsweise die Situation für russische Kriegsgefangene in deutschen Lagern, muß man feststellen, daß Kannibalismus eine Alltagserscheinung des Zweiten Weltkrieges darstellte. Langbeins Schlußfolgerung ist somit plausibel.
Abdankung des Dokumentarischen?
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Ausgrenzung und Vernichtung erschienen im nachhinein als gerechtfertigt; dadurch war den Mördern die Durchführung der Vernichtung erleichtert. Um diesen Wahn einer Gemeinschaft von Tätern und Opfern als Konstrukt zu entlarven, läßt Tabori den Kapo die beiden Überlebenden am Ende des Stücks photographieren, während sie die Teller mit Menschenfleisch zum Mund führen (siehe Abschnitt 3). Der Autor rückt aber nicht die Träger der Vemichtungsapparatur in das Zentrum seines Stücks; er lenkt seine Perspektive nicht auf die Täter, auf das 'Warum' von Auschwitz. Im Mittelpunkt von Die Kannibalen stehen die Opfer, die Untergegangenen ebenso wie die Geretteten, vor allem aber die Nachgeborenen, die sich 'Auschwitz' 25 Jahre nach den historischen Geschehnissen spielend vergegenwärtigen. Indem Tabori die Bedeutung, die das Überleben in Auschwitz für die Opfer hat, in das Zentrum seines Dramas rückt, gibt er seinem Stück eine grundsätzlich andere thematische Ausrichtung als Peter Weiss in Die Ermittlung - so unsere erste These. In Weiss' "Oratorium" wird das Politikum der Frankfurter Auschwitz-Prozesse der sechziger Jahre auf die Bühne gebracht: Täter und Kollaborateure des NSSystems, vor allem aber das hinter ihnen stehende 'kapitalistische System' sollen - grob formuliert - bei Peter Weiss entlarvt, das uninformierte Publikum soll über die historischen Wurzeln des 'Wirtschaftswunderlandes' aufgeklärt werden. Am Ende von Taboris Die Kannibalen gewinnen einige Häftlinge ihre Fähigkeit zum moralischen Handeln wieder. Sie weigern sich, den Befehl des S S-Aufsehers Schrekinger auszuführen und Puffi Pinkus zu essen. Alle werden in der Gaskammer getötet - bis auf zwei, die Überlebenden Hirschler und Heltai, "denen wir" - wie in lapidarer Weise festgestellt wird - "die Kenntnis der Fakten verdanken" (Vorwort, I, S. 2). Ihr Bericht vom Lager bildet den 'Stoff des mit dem ersten Akt einsetzenden Erinnerungsspiels. Tabori widmet diese "ungewöhnliche Geschichte einer Tischgesellschaft" (ebd.) dem Andenken an seinen Vater, dem in Auschwitz ermordeten Cornelius Tabori. Dieser sei ein "bescheidener Esser" (I, S. 3) gewesen, betont die dem Drama vorangestellte Widmung. Wie so häufig beginnt also Tabori auch dieses Stück mit einem makabren Witz. Onkel bewahrt im Text ebenso menschliche Züge, wie es Tabori von seinem Vater an anderer Stelle behauptet: In dem Film "Nach Ihnen, Herr Mandelbaum." George Tabori in Auschwitz umgibt der Sohn seinen Vater mit einer Art Mythos.5 Cornelius Tabori habe sich im Lager wie ein Gentleman benommen, er sei ein fürsorg5
Zu Taboris erstem Besuch im ehemaligen Auschwitz 1994 vgl. den Beitrag "Tabori unter den Deutschen" von Sandra Pott und Jörg Schönert in diesem Band.
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lieber Häftling gewesen - ähnlich dem fiktiven Onkel im Stück, der (als Symbol der Unschuld) weiße Handschuhe trägt. Die Kannibalen ist - so die zweite These - ein explizit autobiographisches Gedenkstück Taboris. Steht in diesem Stück die Erinnerung an den Vater im Vordergrund, wird Tabori später mit Mutters Courage (Uraufführung München 1979) an die märchenhafte Reise der Mutter erinnern, die auf dem Weg nach Auschwitz der Vernichtung entgeht. Die Nahrungssemantik weist unter gattungsgeschichtlicher Perspektive auf ein Genre hin, das Tabori in anderen Dramen mit variierender Gewichtung einsetzt: das Genre der Farce.6 In Die Kannibalen stirbt die Figur des Onkels, um die herum das Normengerüst des Textes errichtet ist. Die komischen und erschreckenden Spielhandlungen enden nicht mit einer Wertordnung, die von allen Beteiligten akzeptiert werden kann. Jörg W. Gronius hat das Drama als "dokumentarisch-rituelle Farce"7 bezeichnet. Diese Genrebestimmung ist in dieser Form irreführend. Bei Die Kannibalen - so unsere dritte These - handelt es sich gerade um ein Stück, dessen anti-dokumentarische Tendenz die Struktur des Textes auf allen Ebenen bestimmt. Das Stück kann als entschiedene Absage an das dokumentarische Theater gelesen werden, das in den sechziger Jahren - der Entstehungszeit von Die Kannibalen - als das etablierte Muster dramatischer Bearbeitung des Holocaust galt.8 Die Kannibalen kann eher als 'rituelle Farce' bezeichnet werden: die Spieler versuchen, GeschichtsErfahrung auf spielend-groteske Weise zu vergegenwärtigen. Während diese Art des Erinnerns vor allem auf das szenische Präsentieren individuellen Verhaltens und kollektiver Rituale abstellt, sind in Die Ermittlung die Versuche, die historische Erfahrung zu aktualisieren, primär auf den sprachlichen Code angewiesen. Wie wird in beiden Dramen Erinnerung oder Dokumentation inszeniert? 'Auschwitz' wird - so unser Deutungsansatz - in Die Ermittlung moralischdidaktisch rationalisiert, während es in Die Kannibalen im Rahmen eines psychologisch-therapeutischen Erinnerungskonzeptes als Möglichkeit allgemeinmenschlicher Verhaltensformen bestimmt ist. Zu unserem Vorgehen: Wenn das therapeutische Spiel in Die Kannibalen analysiert werden soll, gilt es, zuerst die divergierenden Konzeptionen des 6
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Vgl. zur Farce '"Ecce Schlomo': Mein Kampf- Farce oder theologischer Schwank?" von Sandra Pott in diesem Band. Jörg W. Gronius: Bitte zu Tisch. In: J.W.G. u. Wend Kässens (Hg.): Tabori. Frankfurt/M. 1989. S. 19. Vgl. u.a. Anat Feinberg: Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nach/eriegsdrama. Köln 1988.
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Tabori-Dramas und des Stücks von Weiss herauszustellen. 'Wahrheit' wird bei Tabori nicht in einem öffentlichen juristischen Prozeß ermittelt, sondern mit Blick auf die Lebensgeschichte der Opfer und ihrer Hinterbliebenen nachgespielt, während sich 'Gericht' bei Peter Weiss gerade als gesellschaftliches Ereignis, als ein Zur-Rede-Stellen und Sich-der-Rede-Verweigern vollzieht. In einem zweiten Schritt werden einzelne Gericht-Szenen von Die Kannibalen erörtert: die Auseinandersetzungen zwischen Onkel und Ramaseder bzw. Onkel und Klaub. Hier wird deutlich, inwieweit George Tabori mit tradierten Rollen-Klischees spielt, indem er sie auf die 'Folie Auschwitz' bezieht. Des weiteren steht die Frage nach den unterschiedlichen Täter- und Opfer-Bildern im Vordergrund: Findet in Die Kannibalen eine Auflösung der Täter/OpferOpposition statt - zum Beispiel dadurch, daß Hirschler und Heltai am Ende des Stücks keinen Widerstand leisten und überleben? Inwieweit zeigt sich ein ähnliches Verfahren in dem Bestreben von Weiss, die Figuren als "Sprachrohre" (S. 9, Anmerkung) und Vertreter gesellschaftlicher Interessengruppen anzulegen? In einem letzten Schritt werden wir das Normengerüst beider Texte anhand von Taboris Onkel-Figur und Weiss' Zeugen 3 darauf hin untersuchen, inwieweit sich ein unterschiedlich akzentuiertes Verständnis von 'Auschwitz' bei beiden Dramatikern ergibt. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht Die Kannibalen. Weiss' Stück wird als Kontrastfolie hinzugezogen. Vorab ein Hinweis auf die unterschiedliche Rezeption beider Texte: Entfachten sich an Die Ermittlung (ebenso wie an Rolf Hochhuths Der Stellvertreter, 1963) über Literatur- und Theaterkritik hinaus Kontroversen zu dem Ausmaß und den Schuldigen der 'Judenvernichtung', stieß Taboris Text weitestgehend auf Indifferenz, Unverständnis, bestenfalls auf Empörung. Erst im Zuge der Stilisierung Taboris zum Theatermacher', die Ende der achtziger Jahre, mit dem Erfolg von Mein Kampf (U Wien 1987) einsetzte, wurde Die Kannibalen als 'Erstlingswerk' des nach Deutschland zurückgekehrten Autors nachträglich aufgewertet.9 Diese anfängliche Erfolglosigkeit Taboris in Deutschland ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der theater- und gesellschaftsgeschichtlichen Konstellation der sechziger Jahre zu sehen: Im Zuge der Politisierung des Theaters zu Beginn der sechziger Jahre, im Selbstverständnis der Bühne als 'moralischer Anstalt', waren Stücke gefragt, die sich in politisch und moralisch engagierter Weise dem Komplex 'Auschwitz' zu nähern versuchten.10
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Vgl. den Beitrag von Sandra Pott und Jörg Schönert in diesem Band. Vgl. hierzu Marcus Sander: Peinliche Erinnerung: George Taboris theatrale Darstellungen des Holocaust. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1996, H. 7, S. 634-639.
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Taboris 'Theater der Peinlichkeit1,11 sein provozierender und psychologisierender Zugang zum Nationalsozialismus, der der Opfer gedenken und nicht primär mit den Tätern abrechnen will, paßte nicht in die Erwartungen der Zeit. In seiner Arbeit am Dramentext sah und sieht Tabori einen Versuch der kollektiven Ent-Traumatisierung, nicht aber eine gesellschaftliche Anklage und eine Abrechnung mit dem politischen System der Bundesrepublik, wie der Autor noch 1996 — befragt nach der ursprünglichen Wirkungsabsicht von Die Kannibalen - herausgestellt hat: Ich habe nicht über Schuld und Sühne geschrieben. Ich habe nicht mit dem Zeigefinger gewackelt. Solche Gedanken über Schuld und Sühne kommen mir sehr selten, vielleicht jetzt eher, wo ich das deutschsprachige Theater kenne, aber diese Fragen nach Schuld und Sühne sind nicht meine Fragen.12
l. Die Schwierigkeit, 'Auschwitz' zu rekonstruieren Hinter den Konzeptionen von Die Kannibalen und Die Ermittlung steht zuerst ein Rekonstruktionsproblem: Wie kann 25 Jahre nach den historischen Ereignissen eine angemessene Vorstellung von 'Auschwitz1 gewonnen werden? Was uns heute als geklärt erscheint, mußte in den sechziger Jahren erst aufgeklärt und mitgeteilt werden: 'Auschwitz1 war für die meisten ein Niemandsland, über das man besser nichts wußte. Der Holocaust war lange tabuisiert, gerade auch in den Wissenschaften, wie Raul Hilberg in seiner düsteren Lebensbilanz Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers (1994) nachdrücklich bestätigt hat. Wer wissen wollte, mußte selbst ermitteln - wie Weiss, der den Frankfurter Auschwitz-Prozessen als aufmerksamer Beobachter beiwohnte.13 Die Konzeption seines Dramas stützt sich insbesondere auf Ereignisse und Aussagen, die er während des Prozesses notiert hatte. Weiss konzentrierte sich in Die Ermittlung vor allem auf Täter und Kollaborateure der 'Endlösung'. Er thematisierte die Unmöglichkeit, die nationalsozialistischen Verbrechen juristisch zu 'bewältigen'. Bei der Bearbeitung der Vgl. hierzu Marcus Sander: Der Holocaust in den Dramen George Taboris — am Beispiel von "Die Kannibalen" und "Jubiläum". Hamburg 1996 (unveröff. Magisterarbeit). George Tabori im "Gespräch". In: Programmheft zu Die Kannibalen. Hg. vom Bayerischen Staatsschauspiel / Cuvilltestheater München (Premiere 8.3.1996), S. 7-10, hier S. 8. Vgl. Rolf D. Krause: Faschismus als Theorie und Erfahrung. "Die Ermittlung" und ihr Autor Peter Weiss. Frankfurt/M. u. Bern 1982; Robert Cohen: Peter Weiss in seiner Zeit. Leben und Werk. Stuttgart u. Weimar 1992.
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Quellen des Auschwitz-Prozesses blendete er in der Konzeption der Figuren die Zuordnung 'Jude1 aus. Auf diese Weise wurden die Opfer zu einer Einheit, zu einer Gruppe von Verfolgten und Gequälten, die über ihre Leiden nurmehr fragmentarisch Auskunft geben konnten und die in ihrer Klage gegen die Quälenden verbunden waren. James E. Young weist aber in seiner Kritik an Weiss' Arbeitsweise zu Recht daraufhin, daß der Autor, indem er die Gruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen namentlich hervorhob, in der Bearbeitung des Materials inkonsequent verfahren ist. Das Postulat der 'Nicht-Fiktionalisierung' der dokumentarischen 'Vorlage', das Peter Weiss in seinen Notizen zum dokumentarischen Theater (1968) aufstellte, vermochte der Autor in der Praxis nicht einzulösen.14 Tabori hat bisher für nahezu keines seiner Stücke historische Quellen offengelegt.15 Ein mit Weiss vergleichbares dokumentarisches Verfahren wird von ihm nirgends angewandt: Weder erhebt Taboris Drama den Anspruch des Dokumentarischen, noch löst ihn der Autor gegen seine Absicht ein. Im Gegenteil: Der Dramatiker verweigert sich dem Programm des Dokumentartheaters zu historischer Authentizität und Faktizität. So verwundert es nicht, daß sich in Taboris Schriften zahlreiche Stellen finden, die als deutliche Absage an das dokumentarische Theater gelesen werden müssen: Es gibt in diesem Land [d.h. in der Bundesrepublik, die Verf.] ein großes Bedürfnis [...], sachliche Gründe zu finden, um diese Morde zu erklären. Ich meine diese Morde sind möglich geworden durch eben diese "Sachlichkeit", die Menschen in Gegenstände verwandelt.16 Die Nüchternheit schützt vor gar nichts: unter anderem hat sie die Konzentrationslager möglich gemacht.17
Peter Weiss und George Tabori demonstrieren die Schwierigkeit, Auschwitz zu rekonstruieren, in ihren Stücken anhand divergenter Ausgangskonstellationen. Weiss übernimmt die Redesituation der historischen Auschwitz-Prozesse: Zweck des richterlichen Verfahrens war hier die Rekonstruktion der historischen Fakten unter funktionalen Gesichtspunkten. Gestützt auf die Anklage, sollten die kriminellen Taten der Angeklagten identifiziert werden, um das für die Täter angemessene Strafmaß bestimmen zu können. Für die Recht14
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James Edward Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt/M. 1992, Teil I, Kap. 4. Zu den Quellen, die Jubiläum zugrundeliegen, vgl. die Hinweise in diesem Band von Marcus Sander in "Friedhofs-Monologe". Tabori: Unterammergau, S. 201. Tabori: Feigenblatt, S. 134.
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sprechung war es notwendig, eine umfassende Vorstellung vom Lager zu gewinnen, da nur auf der Basis allgemeiner Informationen das Verhalten der Angeklagten in Auschwitz beurteilt werden konnte. Die Prozeß-Situation läßt sich als eine institutionalisierte öffentliche Kommunikation beschreiben, in der die Rollen der Agierenden festgelegt waren. Die Rede war das bestimmende Medium der Wahrheitsfindung. Sie vollzog sich formell in einem Frage-Antwort-Schema. Da die Wechselreden der am Prozeß Beteiligten für die Beweisaufnahme relevant sein mußten, rückte das individuelle Bedürfnis der Opfer nach Mitteilung und Vergegenwärtigung der eigenen Lebensgeschichte in den Hintergrund. Täter und Opfer sollten sich aus der Retrospektive über die Geschehnisse im Lager äußern; ihre Rolle war reflexiv angelegt. Insbesondere die Täter bestritten allerdings die Relevanz des Prozesses, was dem Gericht die Rekonstruktion erheblich erschwerte. Von dieser Rede-Situation in den Auschwitz-Prozessen und in Peter Weiss' Die Ermittlung ist die Konstellation in Taboris Die Kannibalen grundverschieden: Die Überlebenden Hirschler und Heltai versuchen zusammen mit den Nachgeborenen ihrer ermordeten Mithäftlinge und dem Sohn Schrekingers, 'Auschwitz' in einem gemeinsamen Spiel zu rekonstruieren: "Nicht das Stück", schreibt Schulz treffend, "aber dessen Plot [...] spielt in Auschwitz."18 Tabori gibt ebensowenig wie Weiss vor, das Lager realistisch abbilden zu können, sondern greift auf Verfremdungs-Effekte zurück, um die zeitliche und räumliche Distanz zu dem historischen Geschehen zu betonen. Beispielsweise enthält Die Kannibalen im Vergleich mit anderen 'Holocaust-Stücken' Taboris den größten Anteil an Bühnen-Anweisungen, die als verfremdende Mittel genutzt werden. In Taboris Holocaust-Dramen gewinnt der verbale Code von Die Kannibalen bis zu Mein Kampf immer größeres Gewicht. Die Handlungen der Figuren und ihr Leiden appellieren in Die Kannibalen zwar an das Mitgefühl der Rezipienten, eine Identifikation aber wird erschwert. Vor allem das grausame Verhalten der Häftlinge und die abstoßende Weise der körperlichen Präsentation öffnet eine Kluft zwischen den Zuschauern und den gespielten Figuren - der Einfluß von Brechts 'epischem Theater1 auf Die Kannibalen ist unübersehbar. Auch die Figuren in Peter Weiss' Die Ermittlung entziehen sich Georg-Michael Schulz: George Tabori und die Shoah. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Theatralia Judaica II. Nach der Shoah. Israelisch-deutsche Theaterbeziehungen seit 1949. Tübingen 1996, S. 152. - Uberman verkennt die Konzeption des Stücks: In Die Kannibalen werde "zum Schauplatz der Handlung das KZ Auschwitz gemacht" - vgl. Iwona Uberman: Auschwitz im Theater der "Peinlichkeit". George Taboris Holocaust-Stücke im Rahmen der Theatergeschichte seit dem Ende der 60er Jahre. Phil. Diss. München 1994,8.65.
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identifikatorischen Ansprüchen von selten der Rezipienten. So treten die Zeugen als anonyme Stimmen in einem polyphonen Chor auf. Erika Salloch arbeitet heraus, inwiefern beispielsweise der Titel von Weiss' Stück Teil der Verfremdungs-Strategien des Autors ist: Das Emotionen hervorrufende KZ-Geschehen wird mit einem neutral klingenden Abstraktum angekündigt und kontrastiert.19 Während Weiss "Wirklichkeitsmaterial"20 fiktionalisiert, setzt Tabori an den subjektiv gefärbten Erinnerungen der 'fiktiven Figuren' der Überlebenden an: Wie sieht das Erinnerungs-Spiel aus, was sind seine Voraussetzungen? Im Gegensatz zur Konstellation in Die Ermittlung ist die Situation in Die Kannibalen ausdrücklich als nicht-institutionalisierte, private ausgewiesen. Die Söhne der in Auschwitz Ermordeten sowie der Sohn Schrekingers und die Überlebenden Hirschler und Heltai treffen sich zum Gedenk-Mahl. Der Anlaß der Zusammenkunft der "Gäste" (I, S. 5) ist der 25. Todestag von Puffi Pinkus (vgl. I, S. 14), also ein Jubiläum. Der Grund des Treffens ist der Versuch, die individuellen Leerstellen in den Familien- und Lebensgeschichten zu füllen Lücken, bei denen die Chiffre 'Auschwitz' für die einzelnen Spieler unterschiedlich semantisiert ist. Für die Nachgeborenen der Opfer, so wird erstens deutlich, geht es darum, sich die 'fremden Geschichten' ihrer Verwandten anzueignen. Sie sind aber gleichsam ihre eigenen, da sie einen Teil der allgemeinen Familien-Geschichten bilden, in der sie als Nachgeborene stehen. 'Auschwitz' bezeichnet somit auch den verschütteten Teil der eigenen Identität. Da die Nachgeborenen der Opfer selber nicht in Auschwitz waren, bedürfen sie der Mithilfe der Überlebenden, die ihnen die notwendigen Informationen über die Lager-Existenz der ermordeten Angehörigen geben sollen (vgl. das Vorwort, I, S. 2). Hiervon zu unterscheiden ist - zweitens - die Motivation Hirschlers und Heltais, an dieser 'Jubiläumsfeier1 teilzunehmen. Verschiedene Aspekte werden den Figuren von Tabori zugeordnet: das Motiv, sich freizusprechen, insbesondere der Drang, das subjektive Gefühl der eigenen Überlebensschuld mitteilbar zu machen, und zudem das Bedürfnis, von den indirekt Betroffenen seelischen Beistand zu erhalten und herauszutreten aus der Isolation. Der Wunsch, endlich von den eigenen Alpträumen befreit zu werden oder diese Träume zumindest besser zu verstehen, spielt eine besondere Rolle. Im englischsprachigen Text The Cannibals (veröffentlicht 1974) bilden die " Erika Salloch: Peter Weiss' Die "Ermittlung". Zur Struktur des Dokumentär theater s. Frankfurt/M. 1972,42. 20 Außerhalb des Ästhetischen. Peter Weiss im Gespräch mit Hans Mayer über die "Ermittlung". In: Freitag, Nr. 5, 27.1.1995, S. 9 und 11, hier S. 9.
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Seelennöte der Überlebenden den Rahmen des Stücks: Die Hirschler/HeltaiSzenen umschließen das Geschehen und lassen es beinahe als 'Kopfgeburt1 der Geretteten erscheinen.21 Doch noch in der späteren deutschen Ausgabe von 1994 findet sich eine Reihe von Signalen, die die Traumata der beiden ehemaligen Häftlinge, ihr Gebrochensein und ihre Isolation markieren. Tabori entwirft für die Situation der beiden Überlebenden ein Bild, das ihren Wunsch nach Kommunikation und die verweigernde Haltung seitens der Umwelt in prägnanter Weise zusammenfaßt: das Bild des KZ-Kranken, dessen Psychotherapeut immer dann, wenn der Patient in die Sprechstunde kommt, sein Hörgerät ausschaltet und die Ohren 'auf Durchzug' stellt (vgl. I, S. 50). Die grundsätzliche Schwierigkeit für die 'Verlierer der Geschichte', daß sie keine Abnehmer ihrer Erinnerungen finden, ist ein Motiv, das Tabori auch in späteren Dramen, insbesondere in Jubiläum, in den Mittelpunkt rückt: die Opfer wollen reden, aber niemand will die unerhörten Geschichten hören. Kurzum: wollen die Nachgeborenen der Opfer einen Teil ihrer Familiengeschichte und damit ihre eigene Identität rekonstruieren, so steht bei den Überlebenden der Wunsch im Vordergrund, sich und anderen die eigene Geschichte verständlich zu machen, um dadurch mit dem Trauma der Überlebensschuld besser umgehen zu können. Das Überschneiden der Interessen von Überlebenden und Opfer-Kindern ist dadurch gegeben, daß sich die Familiengeschichte mit der Überlebenden-Geschichte überlagert. Bleibt - drittens - das Motiv des Täter-Sohnes aufzuschlüsseln, des jungen Schrekinger, der ebenfalls an dem Erinnerungsspiel teilnimmt. Das fingierte Streitgespräch zwischen Vater und Sohn macht deutlich, daß auch er mit Verdrängung konfrontiert wird, der Verdrängung des "Engels des Todes" (I, S. 4), der nach 1945 problemlos die Verwandlung vom Menschenverbrenner zum Hühnerbrater vollzogen hat und symbolisch für die Kontinuität von 'Auschwitz' nach 1945 steht. Der Sohn durchschaut die 'bürgerliche Maske' des Vaters; er fühlt sich unzureichend informiert und versucht, die Informationslücke mit Hilfe der Opfer-Kinder bzw. der Überlebenden zu schließen. Deutlich ist also, daß zwar die Motive aller drei Gruppen, an der 'Jubiläumsfeier' teilzunehmen, verschieden sind, doch führt die Verflechtung der verschiedenen Geschichten die Spieler zusammen. Das kannibalistische "Festmahl" (I, S. 2) in Auschwitz und die hier entstandene "Tischgesellschaft" (ebd.) bilden den gemeinsamen Bezugspunkt ihres Zusammentreffens. 'Auschwitz' erscheint damit - ganz anders als in der Konzeption von Peter Weiss zuallererst als Leiden der davongekommenen Opfer sowie als Hypothek der Vgl. den Beitrag von Stephanie Schmidt in diesem Band.
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Nachgeborenen, die die Trümmer, durch die die eigene Lebens- und Familiengeschichte verschüttet ist, beseitigen müssen. Die gesellschaftliche Dimension ist in dieser rein privaten Konstellation ausgeblendet. In der Einberufung der 'Jubiläumsfeier1, 25 Jahre nach der Ermordung von Puffi Pinkus, kann der Versuch von Überlebenden und Nachgeborenen gesehen werden, den Damm der Tabuisierung des Holocaust durch Formen selbstorganisierter Bewältigung zu brechen. Die 'Bewältigungsfeier' hat in diesem Modell gleichsam kompensatorische Funktion: die gesamtgesellschaftliche Erinnerung ist nicht eingelöst, daher muß sie im kleinen Kreis nachgeholt werden. Ein Gerichtsverfahren wie in Die Ermittlung hülfe den Teilnehmern der 'Jubiläumsfeier' ohnehin nicht weiter, da ein offizieller Prozeß gegen die Täter das vornehmlich biographische Interesse von Überlebenden und Nachgeborenen nicht befriedigen könnte. Damit wäre für Die Kannibalen der Zweck der 'Jubiläumsfeier' bestimmt. Wie gestaltet sich nun der 'Bewältigungsakt' im Konkreten, welche Konzeption von 'Gedächtnis1 führt der Text vor? 'Gedenken' vollzieht sich in einem therapeutischen Akt der doppelten Transformation, in der Verwandlung von Leben in Sprache einerseits, in der Verwandlung von Sprache in Körperlichkeit andererseits. Leben wird zu Wort und Wort wird zu Fleisch. Da Hirschler und Heltai das Lager überlebt haben, sind sie zu Zeugen geworden. Zu Beginn der Überlieferung steht also die Lebenswirklichkeit von Hirschler und Heltai, ihr Überleben in 'Auschwitz'.22 Beide teilen ihre Erfahrungen im Medium der Sprache mit. Dieser Verbalisierungsprozeß, der in Die Kannibalen vor dem eigentlichen Theater-Spiel liegt und allein durch das Vorwort angedeutet wird ("denen wir die Kenntnis der Fakten verdanken" - I, S. 2), ist die Voraussetzung für das Erinnerungs-Spiel. In diesem Spiel im Spiel sollen die unterschiedlichen Fragen der Beteiligten auf der Grundlage der Überlieferung Hirschlers und Heltais beantwortet und in der sozialen Interaktion 'gelöst' werden. Der von den Überlebenden produzierte Text' dient also als Material, das die Grundsubstanz für das anschließende Bewältigungs-Spiel bildet. Welchen Status hat der Bericht der Überlebenden? Ist ihr Text der einzige Stoff, aus dem die Figuren ihr Spiel konstruieren? In welchen InteraktionsFormen wird das Gedenk-Spiel inszeniert; dominiert wie in Die Ermittlung vor allem die Rede die anderen theatralen Ausdrucksformen? Eingeschränkt ist der Bericht Hirschlers und Heltais vor allem dadurch, daß das Faktum des Überlebens die beiden Zeugen zu nicht-repräsentativen Be22
Zu 'Zeugenschaft1 von Holocaust-Überlebenden vgl. Young: Beschreiben des Holocaust (Anm. 14).
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richterstattem von Auschwitz macht. Die Überlebenden der Vernichtungslager repräsentieren nicht die achtzig Prozent der Häftlinge, die direkt nach ihrer Ankunft vergast wurden; ihr Bericht spart damit 'Auschwitz' bis zu einem gewissen Grade aus. Eingeschränkt ist der Bericht aber auch insofern, als Hirschler und Heltai den Nachgeborenen nur den Teil der Väter-Biographien mitteilen können, der sich mit ihrer eigenen Lager-Biographie deckt. Die fremde Geschichte kann nur insoweit mitgeteilt werden, als sie auch die eigene ist. Die Vorgeschichte der Mit-Häftlinge kann von den Überlebenden ebensowenig authentisch erzählt werden wie der Vorgang der Vergasung. Hirschler und Heltai sind als Überlebende zwar Zeugen von 'Auschwitz', aber nur bedingt Zeugen der 'anderen' Lager-Biographien ihrer Mit-Häftlinge.23 Zudem werden die Lagererlebnisse in dem retrospektiven Bericht Hirschlers und Heltais fiktionalisiert. Das Zeugnis der Überlebenden kann Erlebtes nicht authentisch reproduzieren: der zeitliche Abstand zwischen dem Erleben und Reflektieren bildet eine Kluft, und die retrospektive Rekonstruktion der Überlebenden geht nicht interessenlos vonstatten. Tabori macht eindrucksvoll das Dilemma der Überlebenden deutlich, einerseits das Lager dokumentieren zu wollen, andererseits aber als Zeugen befangen zu sein, weil ein Sprechen über Auschwitz für sie gleichbedeutend ist mit dem Versuch, sich von der (subjektiv empfundenen) Schuld des eigenen Überlebens freizusprechen. Die Figuren werden als Vertuschende und als Ermittelnde vorgeführt: zum einen offenbart das Gespräch Formen von Beschönigung, die die Tendenz zur Fiktionalisierung verstärken; zum anderen ist aber der Dialog zwischen Hirschler und Heltai auch durch gegenseitige Versuche zur Korrektur gekennzeichnet, die der Sehnsucht nach Schuldlosigkeit und geschönter Erinnerung entgegensteuern sollen: HELTAI Onkel ging zu Boden. HIRSCHLER Was willst du damit sagen? Onkel fiel hin, weil er alt war. HELTAI Keineswegs. Er kriegte einen Faustschlag ins Gesicht, deshalb fiel er hin. HIRSCHLER So? Daran kann ich mich gar nicht erinnern, HELTAI Du kannst dich nicht erinnern - weißt du, warum? Weil du es warst, der ihm den Schlag verpaßte. HIRSCHLER Ich? Was du nicht sagst! Das weiß ich überhaupt nicht mehr (I, S. 13f.; vgl. auch den Hirschler-Monolog in I, S. 50).
Insofern ist das Vorwort, das Tabori seinem Drama voranstellt, durchaus wörtlich zu nehmen: Wie unterschiedlich 'Lagerkarrieren' in Auschwitz verliefen, dokumentiert Primo Levi: Ist das ein Mensch? /Die Atempause. München u. Wien 1991.
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Dies ist die ungewöhnliche Geschichte einer Tischgesellschaft, mitgeteilt von den Nachgeborenen derer, die an dem Festmahl teilnahmen, sowie von den beiden Überlebenden, denen wir die Kenntnis der Fakten verdanken (I, S. 2).
Zwar kennen die Überlebenden die auf den Kannibalismus bezogenen "Fakten". Indem sie diese aber erst 25 Jahre danach, zudem 'gefiltert1 durch die eigene Erinnerung, weitergeben, wird eine authentische Wiedergabe unmöglich. Die Geschichte der Überlebenden wird zum Stoff für das gemeinsame 'Bewältigungs-Spiel1. Dieser Stoff setzt sich noch aus anderen Texten zusammen, beispielsweise aus Spuren der Väter-Biographien, die nicht mit den LagerBiographien Hirschlers und Heltais übereinstimmen, sondern von den Söhnen konstruiert werden. Diese Texte der Nachgeborenen sind ebensowenig authentisch wie die der Überlebenden. Die Reden der Nachgeborenen der Opfer neigen dazu, die Ermordeten zu stilisieren und um sie einen Mythos aufzubauen. Dies läßt sich am ehesten psychologisch erklären: die Angehörigen sollen in guter Erinnerung bleiben und vor den Fragen der Nach-Welt bestehen können. In Die Kannibalen werden diese Repliken der Söhne formal deutlich von den übrigen abgesetzt: Sprechen die Nachgeborenen ihren Text', treten sie an den vorderen Bühnenrand; das Präsens wechselt in das epische Präteritum, das Personalpronomen tritt in die dritte Person. Aus dramatischer Vergegenwärtigung wird Narration. Die Repliken werden auf diese Weise zu Nekrologen, zu Reden auf die vergasten Väter: GLATZ [...] Er steht auf und tritt zur Rampe. Ohne Pause spricht er weiter zum Publikum. Ein großer Geist, ein großer analytischer Geist. Irgend etwas passierte; sie wollten mir nicht sagen, was — außer ... Er denkt nach. Einmal saß er im Steinbruch. Eine Eidechse kam heraus, ein entzückendes kleines Geschöpf. Sie sahen sich an, er und die Eidechse. Dann kam ein Posten vorbei und zertrat sie ohne jeden Grund unter seinem Absatz. Er macht eine drehende Bewegung mit dem Absatz. Die Eidechse blickte aus uralten Augen zu meinem Vater auf, als wollte sie sagen: "Was seid ihr eigentlich für Menschen?" Er wußte nichts zu sagen ... er wußte nichts zu sagen ... er wußte nichts zu sagen ... (I, S. 53).
Die Kannibalen ist als Spiel im Spiel konzipiert, der Unterschied zwischen den spielenden Gästen und den gespielten Häftlingen wird (zumeist) deutlich markiert. Der Stoff aus dem Text der Überlebenden und den Texten der Nachgeborenen wird in einem zweiten Schritt der Transformation in ein körperliches Spiel verwandelt. Die Formen sozialer Interaktion, mit denen 'Auschwitz' therapeutisch bewältigt werden soll, unterscheiden sich von denen, die Peter Weiss in seinem 'Gerichtsspiel' etabliert. Die Sprache hat nur noch eine reduzierte Bedeutung. Taboris Spieler schöpfen aus allen Formen des kommuni-
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kativen Repertoires: sie erlauschen, erriechen, erschmecken und erschmatzen Geschichte. Besonders auffällig ist der Einsatz von Geräuschen. Die Stimmen der nach ihren Leibgerichten rufenden Sterbenden (zu Beginn des Stücks) können als 'Väter-Stimmen' im Bewußtsein der Spieler gedeutet werden. Die Sensibilität für die Stimmen aus der Vergangenheit - eine von vielen Anspielungen auf Shakespeares Hamlet - ruft die Gäste zum Spiel zusammen. Wird in Hamlet das Erscheinen des Geistes von der Generation der Söhne als Appell zur Rache interpretiert, so nehmen die Nachgeborenen in Die Kannibalen die Stimmen zum Anlaß, ein gemeinsames Gedenk-Mahl abzuhalten.24 Dieser Verweis auf einen klassischen Text ist typisch für Taboris Dramatik: häufig kann in seinen Stücken ein hohes Maß an intertextuellen Bezügen erschlossen werden, während sich das 'puristische' dokumentarische Theater gerade dieser Möglichkeit zur Kontextualisierung zu verweigern versucht. In die übergreifende, strukturbildende Spiel-im-Spiel-Konzeption werden Spiele von Tabori noch in einer anderen Funktion eingesetzt: es soll das Bedürfnis der (gespielten) Häftlinge demonstriert werden, die Zeit bis zum Auftischen des kannibalistischen Mahles zu überbrücken - eine Konzeption, die Tabori Samuel Becketts Warten auf Godot entnommen haben dürfte. Die von den Nachgeborenen gespielten Häftlinge entwerfen ad-hoc-Rezitationen und Harlekinaden, in die immer wieder die Lager-Realität und ihre Gewalt einbrechen - beispielsweise die plötzliche Ermordung Ramaseders (I, S. 37f). Die Spiele haben neben der überbrückenden auch eine eskapistische Funktion, wie Onkel feststellt: "Wenn man nichts zu essen hat, redet man eben" (I, S. 35). Die Spieler 'erfinden1 in den Spielen, die in die Spiel-im-Spiel-Konzeption eingelagert sind, wesentliche Stationen der Häftlinge bis zur Ankunft in Auschwitz (Leben in der 'kulinarischen' Normalität, Inhaftierung, Deportation u.a.) und konstruieren somit einen Teil der Vorgeschichte der Häftlinge. Ebenso verweisen die Spiele aber auf eine mögliche Zeit danach - zum Beispiel in der Inszenierung des lagertypischen Häftlingstraums, in dem die Heimkehr der Überlebenden antizipiert wird (vgl. I, S. 55).25 Diese verschachtelte Spiel-Konzeption, in der als 'Spieler' gekennzeichnete Akteure die Rollen von Häftlingen übernehmen, die ihrerseits wieder als Spielende markiert sind, führt - wie die Überblendung von Raum- und Zeitebenen - zu einer Verwirrung des Rezipienten, dem eine eindeutige Zuordnung der Interaktionsebene nicht immer möglich ist: 24 25
Zu den Hamlet-Bezügen vgl. "Friedhofs-Monologe" von Marcus Sander in diesem Band. Zum 'Heimkehrer-Traum1 vgl. Levi: Ist das ein Mensch? (Anm. 23), S. 58f.
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Endspiele in der endzeitlichen Wüste nach der Shoah sind Überlebensspiele, und zwar im doppelten Sinne: Spiele, um zu überleben und Spiele derer, die überlebt haben und mit ihren Überlebenstraumata leben müssen. Oder aber, Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsspiele jener, die - von Überlebenden informiert oder an diese herantretend - sich deren Überleben vor Augen führen.26
In Die Ermittlung ist der Blick, ausgehend von der bundesrepublikanischen Gegenwart der sechziger Jahre, auf die NS-Vergangenheit gerichtet, die möglichst authentisch rekonstruiert werden soll. Auf der einen Seite wird nach Erklärungen für 'Auschwitz' unter der Perspektive des 'Warum1 gesucht: insbesondere Zeuge 3 bemüht sich, Muster der Vergangenheit auf die Gegenwart abzubilden und Kontinuitäten 'zwischen den Systemen' herauszustellen (S.194f). Auf der anderen Seite nehmen die Angeklagten die Geschehnisse der Gegenwart, die durch ökonomische und machtpolitische Stabilisierung der Bundesrepublik gekennzeichnet ist, zum Anlaß, Einwände gegen die Notwendigkeit der Auschwitz-Prozesse zu formulieren. Sie behalten am Ende das letzte Wort (S. 198f.). Zwar ist die Wiedergabe der Lager-Vergangenheit in Weiss' Drama ebenso wie in Die Kannibalen durch die Gegenwart 'gefiltert1, doch arbeitet Weiss nicht mit dem Tabori eigenen Überblendungsverfahren. Gezeigt wird vielmehr, daß bestimmte soziale Schemata, die in die generalisierenden Argumentationen der Angeklagten und der Zeugen eingehen, auch in der Gegenwart zu vorzufinden sind. Mit seinem "Oratorium" strebe er keine nochmalige Verurteilung der Täter an, so Weiss, sondern hebe die KZ-Greuel auf eine symbolische Ebene. Die Zeugen werden zu "Sprachrohren" (S. 9, Anmerkung); sie repräsentieren den Chor all der gemarterten Häftlinge, die als Tote kein Zeugnis ablegen können. Angelehnt an Dante Alighieris Divina Commedia, ist das Oratorium in elf Gesänge unterteilt, die aus je drei Abschnitten zusammengesetzt sind: "Ich plante ein Welttheater. War mir aber über die Form noch nicht klar. Suchte nach einem Modell, nach einer Möglichkeit, den Stoff zu konzentrieren."27 Daß diese literarische Anleihe in die Irre führt, hat Martin Waiser moniert: 'Auschwitz' mit der Struktur der Divina Commedia zu kombinieren, gehe in zweierlei Hinsichten fehl. Im Inferno müßten die Schuldigen für ihre Sünden büßen. In dem Weiss-Drama leiden jedoch die schuldlosen Opfer der NS-Herrschaft. Bei Dante, so Waiser weiter, folgen auf das Inferno noch das Purgatorio und das Paradiso - was von der
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Hans-Peter Bayerdörfer in diesem Band, S. 7. Peter Weiss: Gespräch über Dante (1965). In: P.W.: Rapporte. Frankfurt/M. 1968, S. 142-169, hier S. 142.
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Lager-Realität freilich nicht behauptet werden könne.28 In seinem Gespräch über Dante von 1965 distanziert sich Weiss allerdings von einer solchen ideologischen Parallelisierung von Inferno und 'Auschwitz1: Das Weltbild, das Dante schildert, ist für mich sehr entlegen. Es ist ein heiles Weltbild. Es besteht hier keine Gefahr vor dem Zerfall der Werte. In allen Lagen bewahren die Menschen dieser Welt ihr Gesicht. Selbst die Verdammten haben noch wiedererkennbare Proportionen [...] Diese Geschlossenheit und Überzeugung, von der jede Zeile geprägt ist, ist für mich unerreichbar. So viel Kunstfertigkeit, so viel ideale Sicht kann ich nicht aufbringen. Uns ist die Ehrfurcht vor solcher Vollkommenheit seit langem vergangen.29
Gerade angesichts dieser veränderten Wahrnehmung von Welt scheint Weiss' Interesse an einer möglichst wirklichkeitsnahen Rekonstruktion der räumlichen und zeitlichen Ordnung des Lagers besonders groß zu sein. In Die Ermittlung beginnt der erste Gesang mit der Ankunft der Transporte auf der Rampe; weitere Leidens-Stationen werden abgeschritten, bis der elfte Gesang schließlich die 'Feueröfen1 thematisiert. Doch folgen diese Leidens-Stationen nicht in strenger Progression aufeinander. Rolf D. Krause führt an, daß der Dramatiker die Makro-Struktur seines Dramas von unterschiedlichen Aspekten her ausgelegt hat. Zum einen habe Weiss das "additive Prinzip", die fortschreitende Qual des "kollektiven Häftlingssubjekts" in den einzelnen Stationen des Lager-Lebens hervorgehoben, zum anderen habe er bestimmten Gesängen eine prototypische Bedeutung zugeschrieben.30 Eine Gelenkstelle bildet der "Gesang vom Ende der Lili Tofler". Sind bis zu diesem Punkt noch individuelle Zeugnisse beschreibbar, so dokumentiert Weiss im folgenden das technische Funktionieren der 'Todesfabrik', die am Maßstab der Effizienz orientierte industrielle Vernichtungsstruktur des Lagers.
2. "Ich hoffe, sie stopfen dich in den Ofen": Recht sprechen im Zeichen des 'Vatermords' Was meint 'Gericht' in beiden Dramen? Welchen Status haben die Versuche, in Anbetracht von 'Auschwitz' Recht zu sprechen? 'Gericht' wird in Die Kannibalen homonym gebraucht. Der Begriff bezieht sich einerseits auf die Nah-
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Martin Waiser: Unser Auschwitz. In: Kursbuch (Juni 1965), S. 189-200. Weiss: Gespräch über Dante (Anm. 27), S. 144. Vgl. Krause: Faschismus als Theorie (Anm. 13), S. 348f.
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rungs-Semantik, andererseits auch auf Formen des 'Recht Sprechens' im Sinne eines Abwägens von Empfindungen und Gründen zur Beurteilung fremder Verhaltensweisen. 'Gericht' (als Nahrung) wird mit körperlichen Gelüsten oder lebenserhaltenden Trieben in engen Zusammenhang gerückt.31 Das Recht sprechen hat in Die Kannibalen für die Spieler die Funktion, sich dialogisch der Vergangenheit der Väter anzunähern. Onkel beispielsweise wird zweimal zur Rede gestellt, zuerst von dem kleinen Ramaseder (vgl. hier I, S. 38-41), dann von Klaub, dem politischen Häftling (vgl. I, S. 57-65). Am Ende des Stücks wird der junge Schrekinger mit seinem Vater, dem ehemaligen Nazi-Mörder, kontrastiert (I, S. 69-71). Das Gespräch zwischen Ramaseder und Onkel erscheint zunächst als Dialog zwischen Vertretern verschiedener Generationen innerhalb der Opfergruppe, als Auseinandersetzung des 'Sohnes' mit dem 'Vater'. Ramaseder ist in einem "Handgemenge" (I, S. 37) erstochen worden; am Ende wird der Junge, "das Mittagessen für morgen" (I, S. 42), von Onkel vor der Lagerbaracke beerdigt. Das Gespräch ist klimaktisch angelegt; es beginnt damit, daß Ramaseder (ist er schon tot oder erst im Sterben begriffen?) seine Beziehung zu Onkel thematisiert: RAMASEDER [...] Ich habe die Schule immer gehaßt. ONKEL Das kann ich dir nachfühlen. RAMASEDER Aber dich hab ich geachtet. ONKEL Es freut mich sehr, das zu hören. RAMASEDER Ich habe manches begriffen. ONKEL Das genügt. RAMASEDER Anderes müßtest du mir erklären. ONKEL Man hat nie genug Zeit. RAMASEDER unwirsch In ganz einfachen Worten (I, S. 38).
Onkel entzieht sich dem offenen Gespräch und ermöglicht dadurch dem Kind die 'therapeutische' Chance, seinen unterdrückten Gefühlen Luft zu machen, zuerst in Tränen, dann in Wut, schließlich in Aggressionen, die sich bis zum offenen Wunsch nach Vatermord steigern: RAMASEDER [...] Mein Gott, du liebst diese Schweine! Ich hoffe, sie vergasen dich heute abend, ich hoffe, sie stopfen dich in den Ofen (I, S. 40).
Die Stationen bis zur Eskalation des Konflikts sind zum einen die Weigerung Onkels, das Kind aufzuklären (Onkel versucht immer wieder, den quälenden Fragen Ramaseders auszuweichen), zum anderen Onkels 'absurdes' Verhalten, Vgl. den Beitrag von Karin Dahlke in diesem Band.
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mit Höflichkeit auf die Verfolgung zu reagieren und nicht, wie der Junge es fordert, mit offensivem, gewaltsamen Widerstand: RAMASEDER Sie ließen dich den Bürgersteig aufwischen! ONKEL Ja, eben, das meine ich ja. RAMASEDER Warum hast du sie nicht totgeschlagen? Onkel schweigt (I, S. 39).
'Rechten1 wird anders als bei Weiss als Konflikt zwischen zwei individualisierten Figuren ausgetragen. Nicht die Rekonstruktion historischer Fakten steht im Mittelpunkt, sondern das interaktive Bewältigen der Konstellation des 'Vatermords', die von Tabori mit der Überlebens-Thematik verknüpft wird. Die ausweichende Haltung Onkels in diesem Vater/Sohn-Spiel ist grundsätzlich anders gelagert als das Schweigen der Angeklagten in Die Ermittlung. Ist das Verhalten der Angeklagten bei Weiss Ausdruck ihrer zynischen Haltung, dienen in Die Kannibalen Onkels Abwehr-Reaktion und sein Schweigen dazu, die Nicht-Vermittelbarkeit seiner Position zur Schau zu stellen. Das passive Widerstehen kann von Ramaseder nicht nachvollzogen werden: es beruht auf religiösen Glaubenssätzen und humanistischen Idealen, die für Onkel unantastbar sind, die nun aber in der Extrem-Situation des Lagers unter Legitimationsdruck geraten. Hier setzt Tabori das Versagen der Rede dazu ein, die moralischen Überzeugungen der Figur zu markieren, während in Die Ermittlung das Schweigen der Täter für ihren extremen Immoralismus steht. Die Position des schweigenden und verdrängenden Täters nimmt in Die Kannibalen Schrekinger ein. Tabori spielt in der Onkel/Ramaseder-Szene mit Rollenklischees, indem er das Vatermord-Motiv anzitiert: 'Auschwitz' wird als Material herangezogen, diese Rollenklischees zu überprüfen und sie zu persiflieren. Der Vatermord bekommt zur psychologischen eine materiell-egoistische Bedeutung — in einer Situation, in der Väter und Söhne dazu verdammt werden, im KZ um das nackte Überleben in Konkurrenz zu treten. Gleichzeitig eröffnet Tabori hier ein dialogisches Potential, das ihm, dem Emigranten und Überlebenden, durch den Tod von Cornelius Tabori verwehrt geblieben ist: der fiktive Dialog zwischen Onkel und Ramaseder ermöglicht es ihm, seinen eigenen, nicht vollzogenen Vater-Mord zu erspielen. Jeder Sohn möchte irgendwann einmal seinen Vater umbringen; wenn aber - wie in meinem Fall - andere das für ihn erledigen, und er sich auf lähmende Weise zwischen einer Art von Erleichterung und dem heftigen Verlangen nach Rache schwanken fühlt - was dann?32
32
Tabori: Unterammergau, S. 37.
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Freilich geht Tabori freizügig bei der Gestaltung der beiden Figuren vor: die Onkel-Figur ist auratisiert, Ramaseder hat als Auschwitz-Häftling mit George Tabori wenig gemein. Diese Gestaltungsverfahren sprechen jedoch nicht gegen die aufgestellte These: die anti-dokumentarische Spiel-Konzeption des Stücks verlangt kein authentisches Nachzeichnen der historischen Vater-Figur und der Figur des Sohnes. Eine Weiterführung und dramatische Zuspitzung der Ramaseder-Szene bildet das Gerichts-Spiel im zweiten Akt, die Auseinandersetzung zwischen Klaub und Onkel über die Schuld an der Inhaftierung in Auschwitz. Mit Klaub, 'dem Politischen', wird eine zweite Gegenposition zu Onkel aufgebaut. Nicht mehr das psychoanalytisch besetzte Vatermord-Motiv wird als Folie benutzt, sondern im Mittelpunkt steht die politische Frage, ob Onkel an der Lager-Situation der Häftlinge Schuld hat, also die Verrats-Thematik. Onkel wird von Klaub vorgeworfen, die Mit-Reisenden der SS ausgeliefert zu haben. Während der Deportation wurde im Waggon der Plan entwickelt, die Wache mittels eines Jagdmessers zu töten und auf diese Weise der Vernichtung zu entkommen. Onkel vereitelte diesen Plan, indem er das Messer versteckte: KLAUB Schön, was geschah mit dem Messer? ONKEL Nichts. KLAUB Wurde es je benutzt? ONKEL Nein. KLAUB Wo landete es schließlich? ONKEL Im Kübel. KLAUB Wer ließ es da verschwinden? ONKEL Ich [...] KLAUB Du warst grandios! Er läuft wieder nach links, streift mit der flachen Hand über die stumpfen Gesichter der anderen, um sie wieder zu 'aktivieren'. Ich klage ihn an, grandios gewesen zu sein (I, S. 60f.).
Nachdem Klaub Onkel verhört hat, klagt er ihn an: Onkel sei "grandios" gewesen, das heißt, er habe eine Menschenfreundlichkeit bewiesen, die über das Maß des (Über-)Lebensfähigen hinausgeht. Der Flucht-Plan sei durch die unangemessenen (weil dysfunktionalen) moralischen Regungen Onkels vereitelt worden. Anders als Klaub übernimmt 'der Politische' in Die Ermittlung nicht die Funktion des Klägers und desjenigen, der mit pragmatischen Strategien das Überleben einiger Häftlinge retten will, sondern er ist derjenige, der die Fakten bilanziert und interpretiert. Er behauptet von sich, weitgehend emotionslos zu sein (S.194), und formuliert Ansätze zur Analyse des Massenmords, die auf eine System-Kritik hinauslaufen:
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ZEUGE 3 Wir müssen die erhabene Haltung fallen lassen daß uns diese Lagerwelt unverständlich ist Wir kannten alle die Gesellschaft aus der das Regime hervorgegangen war das solche Lager erzeugen konnte Die Ordnung die hier galt war uns in ihrer Anlage vertraut deshalb konnten wir uns auch noch zurechtfinden in ihrer letzten Konsequenz in der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad seine Herrschaft entwickeln durfte und der Ausgebeutete noch sein eigenes Knochenmehl liefern mußte (S. 85f.).
Am Schluß des Prozesses, der bei Peter Weiss ohne Urteil endet, kann Zeuge 3 dem dominanten Auftreten der Angeklagten nur die Zahl der Toten, Verfolgten und Verschwundenen entgegenhalten (vgl. S. 195f.). In einem Interview mit Hans Mayer betont Weiss, daß es vor allem die quantitativen Proportionen sind, die das Grauen des Lagers charakterisieren. Der Richter sei infolgedessen unfähig, ein Urteil zu sprechen. Eine Vergeltung der Schuld sei unmöglich.33 Während Weiss an dem gesellschaftlichen Aufklärungs- und Rechtsprechungs-Akt interessiert ist, geht es Tabori insbesondere um das Phänomen der graduellen Steigerung psychisch-anthropologischer Konflikte auf der Folie 'Auschwitz'. Taboris Stück thematisiert psychische und anthropologische Muster in einem zeitlich nicht fest fixierten Rahmen. Beide Autoren wollen unterschiedliche Schemata aufdecken: Weiss reflektiert die ökonomischen und politischen, die eher 'rational' verankerten Abläufe, die zu 'Auschwitz' führten und die auch nach 1945 in der Bundesrepublik präsent sind; Tabori setzt dagegen die individual- und kollektiv-psychologischen Reaktionen auf Gewalt, Verfolgung und Vernichtung in Szene.
3. 'Survival of the Fittest': Identitäten von Tätern und Opfern Vor allem ein Aspekt wird immer wieder genannt, um das Charakteristische von Taboris 'peinlicher' Dramatik herauszustellen: die Frage, inwieweit bei ihm Täter/Opfer-Oppositionen aneinander angenähert, ja gar bis zur Auflö33
Weiss: Außerhalb des Ästhetischen (Anm. 20), S. 9.
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sung gebracht werden. In ihrer Darstellung über Bilder von Juden im deutschsprachigen Gegenwartstheater weist Anat Feinberg zu Recht darauf hin, daß mit Taboris Die Kannibalen das Ende einer überwiegend philosemitischen Darstellung von Juden auf dem Theater eingeläutet worden sei: Ironischerweise wurde der erste Versuch, das im deutschen Theater mit den Juden und dem Holocaust verbundene Tabu zu brechen, von einem Juden, nämlich dem Autor und Regisseur George Tabori, der 1969 in Berlin die europäische Uraufführung seines Stücks Die Kannibalen inszenierte, unternommen.34
Die Peinlichkeit, die Die Kannibalen auslöste, war vor allem durch das Bild von Juden bedingt, das Tabori auf der Bühne entwarf. "Ich war selbst in Auschwitz", soll Heinz Galinski, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, damals protestiert haben, "und ich habe niemals Pisse gesagt."35 Verstörend war zudem, daß zumindest partiell die Unterschiede zwischen den KZ-Besuchern und den KZ-Insassen aufgelöst werden, indem auch die Opfer als Mörder gezeigt werden. Tabori spielt in Die Kannibalen wie in vielen seiner späteren Stücke mit Rollen-Identitäten - an der unterscheidbaren Dichotomic zwischen Tätern und Opfern hält er aber grundsätzlich fest. Tabori greift in seiner Figuren-Konzeption auf ein antikes Muster zurück: Er führt Protagonisten und Antagonisten vor, also Häftlinge und KZ-Täter; beide Parteien bleiben voneinander getrennt. Die eine Gruppe der Opfer (unter ihnen Onkel) läßt Tabori zu 'Helden' werden. Für ihre Gottes- und Menschenfurcht müssen die 'Hungerkünstler', zu denen die Figuren schließlich werden, mit dem Preis des Lebens bezahlen. Hirschler und Heltai hingegen werden zu tragischen Figuren: sie werden durch die äußeren Einwirkungen so dehumanisiert, daß sie beinahe ihre Menschlichkeit verlieren, daß sie zu Tisch sitzen, bereit sind zu essen und zum Weiterleben verdammt sind. Im Text wird markiert, daß die Gewalttaten der Häftlinge Folgen der extrem inhumanen Lagerbedingungen sind, und unter dieser Voraussetzung zeigt Tabori die Häftlinge in ihrer Degeneration, ohne sie dabei verunglimpfen zu wollen. In seinem Essay "Kannibalen. Zur europäischen Erstaufführung" von 1969 macht Tabori deutlich, was er unter einer 'angemessenen Erinnerung' an die Shoah-Opfer versteht: Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität oder auch Pietät. Es wäre eine Beleidigung der Toten, etwa um Sympathie
34 35
Feinberg: Wiedergutmachung (Anm. 8), S. 56. Zit. nach Tabori: Unterammergau, S. 23.
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für ihre Leiden zu werben oder die totale Wucht ihrer Ausgesetztheit zu bejammern. Das Ereignis ist jenseits aller Tränen, und ich habe meine Häftlinge nur aus der Sicht ihrer Söhne präsentieren können - Söhne, die versuchen, jenseits von Gut und Böse sich das Gewesene zurückzurufen, mit der kühlen Neugier von Leuten, die überzeugt sind, daß ihre Väter vor den Augen der Nachwelt bestehen werden. Da ich ihr Vermächtnis nie angezweifelt habe, durfte ich es mir erlauben, auch den Hohn und Ekel ihrer Menschlichkeit zu zeigen, ehe ich am Ende ihren Widerstand feierte.36
Die Häftlinge in ihrer ganzen Menschlichkeit darzustellen, weil eine sentimentale oder idealisierende Darstellung einer Verhöhnung der Opfer gleichkäme, so läßt sich diese Aussage Taboris programmatisch zuspitzen. Ausdruck dieser Menschlichkeit ist für Tabori das Scheitern, das der Dramatiker in seinen Essays als anthropologische Konstante ausweist: Das Leben ist ein Hindernisrennen, ich habe mich immer verkrüppelt gefühlt und Anmaßungen der Perfektion höchst mißtrauisch gegenübergestanden: Wir sind keine Götter, und, wie die Bibel berichtet, selbst die Göttlichkeit war ständig durch Hindemisse auf dem Weg zwischen Plan und Verwirklichung verkrüppelt.37
Die Häftlinge scheitern an der Unmöglichkeit, zugleich überleben als auch gut sein zu wollen; sie sind die 'guten Menschen von Auschwitz1, wie man in Anlehnung an Brecht sagen könnte: Tabori zeigt Leute, die [...] ständig zwischen menschenwürdigen und unwürdigen Entscheidungen wählen müssen. Seine Opfer führen einen Kampf gegen den Hunger, die eigenen Schwächen und den Überlebenswillen, und es ist mitunter die Moral, mitunter der Instinkt, der die Oberhand gewinnt.38
Onkels ethische Haltung kann - wie von Klaub - als Versagen angesehen werden, weil sie gegen das Prinzip, mit allen Mitteln überleben und "Zeugnis ablegen" (I, S. 57) zu wollen, verstößt, und weil Onkel seinen Rigorismus nicht durchhalten kann. Zu Beginn des Stücks bittet er die Mit-Häftlinge mehrfach, ihm ein Stück von dem Brot des ermordeten Puffi Pinkus abzugeben (vgl. I, S. 6). Die ambivalente Haltung Onkels in Fragen der Moral zeigt sich auch an späterer Stelle, als Weiss und Haas ihre Homosexualität in einem erotischen Tanz darstellen. Onkel entpuppt sich als ängstlicher 'Spießer', der den Anblick der Liebenden nicht ertragen zu können meint (I, S. 27). Auch in diesem Punkt hat er nichts mit dem historischen Vater des Autors 35 37 38
Tabori: Unterammergau, S. 38. Tabori: Feigenblatt, S. 206. Uberman: Auschwitz im Theater (Anm. 18), S. 71.
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gemein.39 Solchen Schwächen steht aber die letztlich positive Gesamtbewertung der Figur durch den Autor entgegen: Gewalt kann eine große befreiende Kraft sein, aber es gibt Zeiten, in denen der praktischste, der menschlichste und - wenn man so will - der gewalttätigste Akt einfach in der Weigerung besteht, sich zu etwas zwingen zu lassen; eine Geste der Verneinung, die nicht ohne tiefes Geheimnis ist: nicht zu essen, obgleich man verhungert.40
Hirschler und Heltai beteiligen sich nicht an diesem Akt sanften Widerstehens, am Ende setzt sich ihr Überlebens-Trieb durch. Sie praktizieren keinen offenen Hunger-Streik, sondern deuten mit verbalen und körperlichen Gesten ihre Bereitschaft zu essen an: SCHREKINGER [...] Hirschler und Heltai erheben sich gleichzeitig. Beide halten ihre Näpfe in den Händen Iß. HIRSCHLER Ich eß ja schon. Erführt die Hand zum Mund. KAPO Klick. Hirschlers Hand erstarrt in der Bewegung, dann läßt er sie sinken. SCHREKINGER Iß. HELTAI tonlos Es ist mir schon immer schwergefallen, eine Einladung abzulehnen. Erführt die Hand zum Mund. KAPO Klick. Heltais Hand erstarrt in der Bewegung, dann läßt er sie sinken (I, S. 72f.).
Der Text läßt hier offen, ob Hirschler und Heltai auch tatsächlich zu Kannibalen werden:41 Ihre Gesten werden von dem abrupten Klicken des PhotoApparates unterbrochen. Damit verlagert Tabori die Perspektive von der möglichen Schuld der Überlebenden hin zu der symbolischen Funktion, die die Szene für die Täter hat. Hirschler und Heltai geben Schrekinger jenes 39
40 41
Vgl. die Anekdote aus der Büchner-Preis-Rede: Tabori berichtet davon, wie er "den ersten und zugleich letzten väterlichen Klaps in den Nacken erhielt, als ich, der Zehnjährige, ihm berichtete, was ich soeben in der Schule gelernt hatte, daß nämlich alle Rumänen schwul seien". Der Vater reagiert in vorbildlich-toleranter Weise: "Nachdem er sich entschuldigt hatte, erklärte der Vater, dies wäre die Zeit der ekelerregenden Nationalismen, die die Menschheit mit einer Art von Die-da-ismen verdinglicht, um sie leichter zu vernichten. Erstens seien nicht alle Rumänen schwul. Zweitens, es wäre nicht schlimm, wenn alle es seien, und drittens, es gäbe so etwas wie 'die Rumänen' nicht." - George Tabori: Liebeserklärung. In: Büchner-Preis-Reden 1984-1994. Stuttgart 1994 (= RUB 9313), S. 204-209, hier S. 206. Tabori: Unterammergau, S. 38f. Uberman geht hingegen (unter Nicht-Berücksichtigung des Textes) von dem Faktum des Essens aus: "Dem Befehl gehorchen nur Hirschler und Heltai. Sie essen ihre Suppe [...]" - Uberman: Auschwitz im Theater (Anm. 18), S. 64.
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Zeichen der Brüderschaft, auf das er in einem anderen Zusammenhang vergeblich gehofft hatte, als ich diesem bärtigen alten Kacker befahl, den Bürgersteig aufzuwischen, und er tat es, und ich wartete auf ein Zeichen, ein Zeichen des Kontaktes, etwas Erkennbares, eine Geste, irgend etwas, das zeigen würde, daß auch er seine menschlichen Schwächen hatte, daß wir im Innersten doch Brüder waren, mit dem gemeinsamen Interesse, uns halbwegs zivilisiert zu arrangieren. Aber es kam kein Zeichen. Er wischte den Bürgersteig auf. Er hielt sich vollkommen rein, nein intakt, in seiner Verschiedenheit (I, S. 70f.).
Tabori legt das Gewicht in der Schlußszene auf die Art, wie die Täter die Geste der Überlebenden so interpretieren und funktionalisieren, daß sie sich selbst als weniger schuldig begreifen können. An keiner Stelle des Stücks versucht der Dramatiker, das Verhalten der Überlebenden in moralischen Kategorien zu erfassen. Die Überlebenden-Problematik wird nicht als ethisches, sondern als psychologisches Phänomen begriffen. Gezeigt werden die Traumata der Überlebenden und ihre Bewältigungsversuche - beispielsweise die Unmöglichkeit für Hirschler und Heltai, nach 1945 bestimmte Speisen zu essen (vgl. I, S. 16). Es werden aber keine Gegenpositionen im Text aufgebaut, in denen andere Figuren über die Geretteten Recht sprechen. Zweifel an der Legitimation weiterzuleben lassen die Aussagen der Geretteten erahnen, sie werden aber schnell wieder verdrängt: "Zwei von uns überlebten. Heltai hat eine Spielzeugfabrik. Ich bin Frauen-Arzt in Long Island. Mir geht's gut" (ebd.). Die Überlebenden allein wären befugt, die Lagererlebnisse unter moralischen Gesichtspunkten zu interpretieren, hierzu fehlt ihnen aber die Distanz: sie sind emotional-traumatisch in ihrer eigenen Lebenschichte gefangen. Die Konzeption des Textes, die den Bericht als Ausgangspunkt des Bewältigungs-Spieles ausweist, streicht überdies die Wichtigkeit der Überlebenden, die Zeugnis ablegen können, heraus. Insofern weist Tabori das Überleben als nützlich für die Nach-Welt aus und rechtfertigt (jenseits aller moralischen Verhandlungen) implizit ihr Verhalten - ohne es allerdings als ähnlich heroisch zu feiern wie das der 'Hungerkünstler'. Bleibt der Blick auf Schrekinger. Tabori beendet das Stück, indem er den Barbaren das Menschenfleisch, "wie ein Tier schlingend" (I, S. 73), in sich hineinwürgen läßt. Hatte der Mörder versucht, den vermeintlichen Kannibalismus Hirschlers und Heltais im Bild festhalten zu lassen, um die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern zu verwischen, so läßt Tabori ihn am Schluß selbst zu einem Zerr-Bild erstarren und widerlegt damit das Märchen von den kannibalistischen Juden in grotesker Weise. Der Täter wird als Bestie vorgeführt, deren menschliche Züge nicht mehr zu erkennen sind.
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Die Essens-Semantik findet sich auch in späteren Stücken Taboris an zentraler Position: In der Schlußszene von Jubiläum bricht und verteilt Arnold Stern das Auschwitz-Brot, das er vom Vater-Geist überbracht bekommen hat; in Mein Kampf muß sich der Jude Schlomo Herzl am Ende des Stücks das geliebte und gemordete Huhn Mizzi einverleiben. Hier wird erneut der Zusammenhang von Essen und Überleben in Szene gesetzt. Im Gegensatz zu Schrekinger sind Stem und Herzl aber von George Tabori als Positiv-Figuren angelegt. Schrekinger wird als der wahre 'Überlebende' des Stücks ausgewiesen, als ein 'survivor of the fittest', als Verzerrung menschlicher Existenz. Er ist das extreme Gegenteil zu den untergegangenen und davongekommenen Opfern. Daß Schrekinger sich auch nach 1945 nicht als Mensch, als Scheiternder, begreift, macht der imaginäre Dialog mit seinem Sohn deutlich. Die Repliken des Vaters sind von Selbst-Rechtfertigung und ungebrochenem Rassismus gekennzeichnet (vgl. I, S. 69-71). Die Perspektive, die Tabori wählt, indem er Opfer und Nachgeborene in das Zentrum seines Stückes stellt, fuhrt - wie sich als Fazit für Die Kannibalen ergibt - nicht zu einer Auflösung von Täter/Opfer-Dichotomien. Diese werden, wenn auch in differenzierter Weise, prinzipiell aufrechterhalten. In Weiss' Die Ermittlung sind die Beziehungen zwischen Tätern und Opfern dagegen stärker durch den Rahmen des Prozesses fixiert als bei Tabori. Weiss räumt dem weiten Spektrum derjenigen größeren Platz ein, die sich in irgendeiner Form mit der SS arrangierten, um die Möglichkeit des eigenen Überlebens zu erhöhen oder um in materieller Hinsicht von diesen Arrangements zu profitieren. Diese Position wird bei Tabori vor allem durch die Figur des Kapos angedeutet. Im Gespräch mit Hans Mayer betont Weiss die Phänomene der Abstumpfung und Umgewöhnung, die ein Lager-Insasse durchleben mußte. Die extremen Bedingungen im Lager hätten zu neuen Gesetzen geführt, die in manchen Fällen das Überleben auf einem Minimum des Lebens ermöglichten. Die Annäherung von Tätern und Opfern ist beiden Gesprächspartnern unbegreiflich.42 Obwohl Tabori und Weiss unterschiedliche Akzente setzen, deuten sie in diesem Punkt dasselbe Phänomen an. Tabori konzentriert sich dabei auf die Charaktere der einzelnen Figuren, auf ihre 'Menschlichkeit', wobei er nicht anders als Weiss die Täter/Opfer-Identitäten grundsätzlich aufrechterhält. Weiss argumentiert politisch; er zeigt die Opfer als Sprecher einer homogenisierten Masse. Ihre psychogenetische Entwicklung wird ebenso ausgeblendet 42
Weiss: Außerhalb des Ästhetischen (Anm. 20), S. 9.
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wie die der Täter. Tabori wählt, indem er seine Figuren individualisiert, die entgegengesetzte Strategie.
4. 'Erinnerung' als Therapie (Tabori) und als politisch reflektierte Zeugenschaft (Weiss) Tabori hat 1969 seine Motivation, Die Kannibalen zu schreiben, wie folgt zusammengefaßt: Cornelius Tabori starb vor 25 Jahren in Auschwitz, mit unantastbarer Würde, wie überlebende Zeugen versichern; und noch heute kann ich seine Mörder nicht hassen, nicht einmal hier in dieser Stadt, wo sie einst brüllten und marschierten. Es ist nicht leicht, es öffentlich auszusprechen, aber sein armer Geist ließ mich keine Ruhe finden, bis dieses Stück geschrieben war; ein Stück, das weder Dokumentation noch Anklage ist, sondern eine Schwarze Messe, bevölkert von den Dämonen meines eigenen Ich, um mich und diejenigen, die diesen Alptraum teilen, davon zu befreien. Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen.43
Tabori grenzt sich sowohl von einer moralisierenden Holocaust-Dramatik als auch von einer dokumentarischen Bearbeitung der Shoah ab. Er legt die Perspektive auf die Therapie-Funktion, die die Arbeit am Stück für ihn selbst hat und deutet die Chance einer Ent-Traumatisierung für sich und die Opfer an. Als biographisches Gedenk- und Erinnerungsstück zielt Die Kannibalen auf andere inhaltliche und strukturelle Aspekte als Die Ermittlung. Die biographischen Bezüge spiegeln sich vor allem in der Figur des Onkels, um den, wie gezeigt, die ethisch-moralischen Fragen des Textes gruppiert sind. In Die Ermittlung erfüllt Zeuge 3 als Zentralfigur dagegen gänzlich andere Aufgaben. Er scheint den politisch deutenden Intentionen Weiss' nahezustehen, denn er erläutert, klärt auf und weist auf die potentielle Annäherung von Tätern und Opfern hin. Während Onkel, die Verkörperung einer beinahe unmenschlichen Reinheit und Unschuld, apolitisch handelt, war der politisch denkende Zeuge 3 in Auschwitz zur Passivität verurteilt. Erst im Verlauf des Prozesses erhält er die Möglichkeit, wichtige Funktionsweisen des NS-Systems offenzulegen. Auch er ist der Tendenz zur Homogenisierung und Ent-Individualisierung unterworfen, mit Hilfe derer Weiss die Zeugen zu einem Chor zusammenschließt.
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Zeuge 3 ist das letzte Opfer, das ermittelnd zu Wort kommt, bevor Weiss die Debatte auf den Richter, den Verteidiger, den Ankläger und schließlich auf Mulka verengt. Nach der Abdankung individueller Erinnerung kommen vor allem die politischen Protest- und Interpretationsformen zur Geltung. Onkel wird anders als Zeuge 3 mit einer individuellen Biographie ausgestattet. Beispielsweise wird seine Laufbahn als Schauspieler angedeutet, die durch die Verfolgung jäh unterbrochen wurde: ONKEL [...] Füße — Beine — Arme - vorzüglich — mechanisch — wissenschaftlich ~ hier ein Schräubchen, dort ein Schräubchen ~ von der Bühne verbannt ~ Auftrittsverbot — meine letzte Tätigkeit — Fabrik für künstliche Gliedmaßen ~ dem Kriegsministerium unterstellt — saß zwischen einem Berg von Knochen — aufgestapelt ~ aussortiert ~ registriert — packte Prothesen ein — spielte mit Kniescheiben ... (I, S. 31).
Der humanistisch-religiöse Bildungs- und Wertekanon, den Onkel verinnerlicht hat, stellt sich angesichts der Lager-Realität als absurd heraus. Die Onkel-Figur wird von Tabori persifliert, ironisiert, in bezug auf ihre körperlichen Regungen normalisiert und schließlich zur 'Re-Inkarnation' des Vaters stilisiert. Gerade von dem Verfahren der Persiflage kann abgeleitet werden, daß Onkel - anders als Zeuge 3 - nicht die Position des Autors vertreten soll. Anhand der Figuren des Onkels und des Zeugen 3 ließ sich zeigen, welcher Tendenz die beiden Stücke folgen. Akzentuiert Tabori die psycho-sozialen Konsequenzen des Lagers, so betont Weiss die ökonomischen und politischen Voraussetzungen und Resultate. Beide Autoren versuchen mit unterschiedlichen Verfahren - und insofern kann ihr Verständnis von 'Auschwitz1 einander angenähert werden -, das Einmalige und Un-Wiederholbare der Massenvernichtung zu unterlaufen. Stellt Weiss' Dokumentarstück die scheinbar abgeschlossene Welt der Konzentrationslager in ein historisches Kontinuum, das für die Nachwelt verstehbar und auch für eine faschismustheoretisch orientierte Systemkritik faßbar gemacht werden soll, bettet Tabori 'Auschwitz' dagegen in ein psycho-soziales Kontinuum ein und präsentiert auf diese Weise ein anthropologisches Modell, das maßgeblich von den Koordinaten Gewalt, Verfolgung und Vernichtung bestimmt ist. Was die dramatischen Verfahren betrifft, steht auf der einen Seite die "Rhetorik historischer Faktizität" (James E. Young), der Versuch des Dokumentaristen, das System der Lager zu objektivieren und rational zu erklären; auf der anderen Seite stellt Tabori, indem er von verschiedenen Verfremdungs- und Überblendungs-Verfahren Gebrauch macht, Mechanismen der Verfolgung und Vernichtung dar, die als psychische Traumata das 'Dritte
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Reich' überdauern und die spielend erfahrbar gemacht werden sollen. Gesellschaftliche oder ökonomische Faktoren berücksichtigt Tabori nicht. Weiss und Tabori drohen zu vereinseitigen, da die gewählten Darstellungsmuster jeweils nur eine begrenzte Sicht auf den Holocaust erschließen. Für Tabori wäre zu überlegen, ob der Ansatz ausreicht, 'Auschwitz' primär von der Erfahrung des Traumas zu verstehen, das sich über Generationen hinweg 'fortpflanzt', um einen dem Holocaust angemessenen Zugang zu finden. Muß ein solches Verständnis nicht das zentrale Merkmal von 'Auschwitz' verfehlen, wenn vermieden wird, die administrativ und industriell durchgeführte 'Judenvernichtung' darzustellen? Traumatische Spätfolgen von Opfern' sind keine Merkmale, durch die sich das Spezifische des Holocaust charakterisieren ließe. Sie lassen sich auch auf die 'Überlebenden1 anderer, weit weniger bedeutsamer 'Katastrophen' beziehen. Das Phänomen 'Auschwitz' als einer modernen Todesfabrik trifft Tabori in Die Kannibalen nicht - es interessiert ihn allerdings auch kaum.
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Friedhofs-Monologe. George Taboris Jubiläum^
Jubiläum von 1983, Taboris Gedenkstück zum 50. Jahrestag der Machtübergabe an Hitler, handelt von den Narren des Holocaust, von denjenigen, die an der Verfolgung verrückt wurden und die an der Vernichtung zugrundegingen. Gespenstisch geht es zu in diesem Text, der voll von Kultur-Zitaten steckt und der ein Musterbeispiel für das Zusammenspiel von Grauen und Groteske in Taboris Werk darstellt. Juden, Schwule und Behinderte stehen in diesem Friedhofsdrama Pate für die 'ewigen Opfer'. Tabori zeigt zerstörte Kreaturen, die auch Jahre nach der 'Befreiung' keine Ruhe finden und mit denen kein Staat zu machen ist. Die traurigen Narren sitzen in Quarantäne, hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt auf einem "Friedhof am Rhein, heute, wo die Toten dazu verurteilt sind, sich dessen zu erinnern, was sie lieber vergessen würden, nämlich den achten Kreis der Hölle" (II, S. 5l). 2 In Dantes Divina Commedia, auf die Tabori hier anspielt, im achten Kreis des 'Inferno', sind die Betrüger untergebracht, die 'argen Ratgeber' zum Beispiel. Sie haben ihre menschliche Gestalt verloren und erscheinen nur noch als Flammen. Dantes Höllen-Kreis ist aufgeteilt in zehn Gräben, in denen die Figuren ihre Schuld abbüßen. Bei Tabori sind es weniger Betrüger, die eine Friedhofslandschaft bevölkern, sondern um ihr Leben Betrogene. Wie die Figuren Dantes haben auch sie ihre menschliche Gestalt verloren: Unsere Toten befinden sich, dank dem Zahn der Zeit und Gottes kleinen Kreaturen, in verschiedenen Stadien der Zersetzung. Faulendes Fleisch, ein leeres Auge, eine fehlende Nase und so weiter. Sie tragen ihre besten Bestattungsklamotten (II, S. 51).
Jubiläum ist nach Die Kannibalen Taboris zweites Stück, das die KZ-Opfer in
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Jubiläum wurde am 30. l .1983 im Foyer des Schauspielhauses Bochum uraufgeführt. Regie führte Tabori. - Zu Jubiläum vgl. auch meinen Beitrag "Der Tod der Jüdischen Frau" in diesem Band, der sich ausführlich mit der Szene 8, dem Telefonzellen-Monolog Lotte Sterns, befaßt. Zitate zu Taboris Dramen werden im laufenden Text nachgewiesen; zitiert wird aus Tabori: Theaterstücke l/U.
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den Mittelpunkt rückt. Darin liegt ein wesentlicher Grund für den mangelnden Erfolg beider Texte in Deutschland: Das insbesondere für das Theater der sechziger Jahre etablierte Muster, daß man sich auf engagiert-aufklärerische Weise mit dem Holocaust zu befassen habe, führte weithin zu einer Marginalisierung der Opfer auf den bundesdeutschen Theaterbühnen. Dieser Prozeß der Verdrängung wurde seit der Erstaufführung von Die Kannibalen allmählich revidiert.3 Mit den Kannibalen verbindet sich die (eher zufällige) Rückkehr Taboris nach Deutschland; das Auschwitz-Stück muß als vorläufiger Endpunkt einer langjährigen Auseinandersetzung des Autors mit dem Holocaust und mit dem Schicksal des in Auschwitz ermordeten Vaters, Cornelius Tabori, gelesen werden. In Die Kannibalen sind deutliche Spuren von Taboris Konzept des sinnlichen und therapeutischen Erinnerns durch das Theater eingegangen.4 Jubiläum ist dagegen wesentlich von Taboris Deutschland-Erfahrungen bis 1983 geprägt, auch von dem Wissen über antisemitische Gewaltakte in der 'neuen1 Bundesrepublik. Künstlerisch ging dem Text eine intensive Beschäftigung Taboris mit Samuel Beckett voraus, die in den beiden Beckett-Abenden 1980 (München) und 1981 (Bochum u.a.) ihren vorläufigen Höhepunkt fand. 1984 leitete Tabori die legendäre Inszenierung von Warten auf Godot im Werkraum der Münchener Kammerspiele. Die Auseinandersetzung mit Samuel Beckett findet auch in der Konzeption von Jubiläum ihren Niederschlag: Tabori orientiert sich bei der Handlungsführung einerseits an der Struktur des 'analytischen Dramas', das heißt die für den dramatischen Konflikt entscheidenden Ereignisse liegen vor Beginn der Bühnenhandlung. Andererseits integriert er Elemente des Absurden: In Jubiläum ist die Handlung in der 'Gegenwart' auf ein in sich kreisendes Geschehen reduziert, bei dem die Figuren mit Geschichten, wechselseitigem Terror und makabren Witzen ihre Zeit totschlagen. Bertolt Brecht und Samuel Beckett - diese Namen markieren die beiden wichtigsten intertextuellen Bezüge für Jubiläum. In der szenischen Anlage seines Stücks und bei der Konzeption der Szene 8 orientiert sich Tabori an Brechts Zyklus Furcht und Elend des Dritten Reiches. Gundula Ohngemach, die auf die Textgenese von Jubiläum eingeht,5 hält hierzu fest: 3
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Vgl. u.a. Anat Feinberg: Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama. Köln 1988. Vgl. meinen Beitrag "Peinliche Erinnerung. George Taboris theatrale Darstellungen des Holocaust". In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1996, H. 7, S. 634-639. Ohngemachs lesenswerte Studie von 1983 konzentriert sich auf die Probenarbeiten zu Jubiläum, die im Schnellverfahren unter der Leitung Taboris vom 20.12.1982 bis
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Das Stück Jubiläum wurde im Laufe des Jahres 1982 geschrieben. Die Anregung dafür erhielt George Tabori von Hanne Hiob, einer Tochter Brechts, die ihm eine Fülle von dokumentarischem Material zur Verfügung gestellt hat. Darunter befanden sich Zeitungsausschnitte, veröffentlichte Dokumentationen über die Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus und über neonazistische zeitgeschichtliche Umtriebe. Doch nicht nur schriftlich nachweisbare Fakten, sondern auch Augenzeugenberichte, Erzählungen und Lebenserfahrungen bildeten den Grundstock des Materials.6
Iwona Uberman, in deren Dissertation sich ebenfalls Hinweise zur Entstehung von Jubiläum finden, beruft sich auf ein Telefonat mit der Brecht-Tochter vom 3.7.1993. Sie gibt an, Hanne Hiob habe Tabori zunächst anregen wollen, "ein Stück über das Schicksal der Kinder im Dritten Reich zu schreiben".7 Ein Hinweis dazu, warum Tabori diesen Vorschlag schließlich nicht realisierte, findet sich nicht. Wie die meisten von Taboris Texten wurde Jubiläum zuerst in englischer Sprache geschrieben und dann ins Deutsche übersetzt.8 Gundula Ohngemach versucht, das Stück in bezug auf seine textgenetische, thematische und dramaturgische Anlage je einer Dramentradition zuzuordnen - ein zwar interessantes, aber wohl etwas zu schematisches Unternehmen. Die Quellen von Jubiläum, so schreibt sie, seien dokumentarisch, die Situation [...] absurd, die Darstellung oder Vermittlung [...] episch ein absurdes episches Drama, eine groteske absurde 'reponse1 auf Hamlet, Dante, Brecht und die deutsche Geschichte, eine Hommage an die Toten, die nicht vergessen werden.9
Die hier eröffnete Opposition "Situation absurd", "Darstellung oder Vermittlung episch" ist insofern nicht tragfähig, als sich auch das absurde Theater epi29. l. 1983 in Bochum durchgeführt wurden. Die Verfasserin wohnte diesen Proben bei; sie führte "ein Probenheft, ein Tagebuch, in dem sich Beobachtungen, Beschreibungen, Reflexionen, Kommentare, Hinweise auf Quellen mit theoretischen Fragestellungen ablösten" (S.3). Die Vorzüge der Arbeit liegen in ihrem empirischen Teil, nämlich dort, wo versucht wird, in anschaulicher (und manchmal intimer) Weise Taboris Verständnis von Proben als einem 'work in progress1 zu explizieren. Vor allem die Hinweise zur Textgenese und zu den Quellen sind nützlich, auch der Teil 6, in dem Beispiele aus der Probenarbeit an einzelnen Szenen von Jubiläum gegeben werden. - Gundula Ohngemach: George Taboris Theater arbeit: Eine Analyse der Probenarbeit am Beispiel von Jubiläum. München 1983 (unveröffentlichte Magisterarbeit). Ebd., S. 34. Iwona Uberman: Auschwitz im Theater der 'Peinlichkeit'. George Taboris Holocaust-Stücke im Rahmen der Theatergeschichte seit dem Ende der 60er Jahre. Phil. Diss. München 1994, S. 95 u. S. 177, Anm. 3. Vgl. Ohngemach: Taboris Theaterarbeit (Anm. 5), S. 34. - Zur Übersetzungsproblematik vgl. auch den Beitrag von Stephanie Schmidt in diesem Band. Ebd., S. 42.
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scher Darstellungsweisen bedient, hier also nicht der distinkte Gegensatz zwischen beiden Theaterformen auszumachen ist. Von einem 'dokumentarischen Verfahren' bei Tabori zu sprechen, ist, wie zu zeigen sein wird, ebenfalls problematisch. Bezogen auf Jubiläum scheint mir vor allem zentral, daß sich Tabori in der dramaturgischen Gestaltung seines Stücks weniger an Brechts ideologisch ausgerichteter Konzeption des 'Lehrstücks' orientiert und daß er sich analytischen Erklärungsmodellen für das dargestellte Problem des 'Fremdenhasses' entzieht; ebenso verweigert sich der Autor einer Konzeption, die die vielfältigen Funktionen des Theaters auf die Aufgabe einer didaktischen Anstalt zur Umsetzung primär moralischer und pädagogischer Ziele reduziert sehen will. Hans-Peter Bayerdörfer ist zuzustimmen, wenn er schreibt: Kaum einem Dramatiker englischer oder deutscher Sprache ist in den letzten Jahrzehnten der kreative und phantasievolle Umgang mit Brechtschen Techniken so von der Hand gegangen wie Tabori. Dennoch ist ein Unterschied markant. Nie erschöpft sich die spielende verfremdende Souveränität in einer letztlich ideologisch-didaktischen Zielsetzung, immer bleibt ein Überschuß erhalten, der sich nicht lehrhaft verrechnen läßt.10
In seiner "unideologischen Offenheit",11 seinem spielenden (allerdings auch weitgehend apolitischen) Zugang zu 'Welt' steht Tabori Beckett näher als Brecht.
Exkurs l: Die Welt als Müllkippe: Beckett-Bezüge in Jubiläum12 Tabori hat seine Bewunderung für Brecht und seine an Stilisierung grenzende Verehrung von Beckett häufig herausgestellt.13 In seinem 1984 verfaßten Essay Warten auf Beckett, beschreibt er seine erste persönliche Begegnung mit dem irischen Dramatiker:14 Zwar wechselten beide an jenem Tag nur wenige Worte, doch wurde das Treffen für Tabori zum Beginn einer persönlichen Bekanntschaft, die ihm - den eigenen Worten zufolge - mehr bedeutete als die
Hans-Peter Bayerdörfer in diesem Band, S. 9. Ebd. Becketts Stücke werden im laufenden Text nachgewiesen. Grundlage ist die dreisprachige Ausgabe des Suhrkamp-Verlages. — Samuel Beckett: Dramatische Dichtungen in drei Sprachen. Frankfurt/M. 1981. - Eine hervorragende Analyse zu Becketts Endspiel bietet Theodor W. Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen. In: Th.W.A.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1981, S. 281-321. Zu Taboris Brecht-Rezeption vgl. auch "Der Tod der Jüdischen Frau" in diesem Band. Vgl. Tabori: Feigenblatt, S. 48-62.
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zu den meisten anderen Zeitgenossen der Literatur- und Theaterwelt. Taboris Bekenntnis, Becketts kleine Karten seien "wie Liebesbriefe"15 für ihn gewesen, ist nur eine von zahlreichen Äußerungen, die seine menschliche Bewunderung für Beckett belegt. Für Jubiläum werden Einflüsse von Beckett in verschiedener Hinsicht sichtbar: Wie in Warten auf Godot oder Endspiel liegt die Katastrophe vor der ersten Szene. Während 'Katastrophe1 bei Beckett für den Rezipienten kaum dechiffrierbar ist, kommt dem Referenzbereich 'Auschwitz' in Jubiläum eine zentrale Bedeutung zu. Die Welt, in der sich Becketts und Taboris Dramenfiguren bewegen, definiert sich durch die Nicht-Anwesenheit von Dingen oder durch solche, die die menschliche Verlusterfahrung symbolisieren. Nicht die Polis, nicht der Palast wird von den Dramatikern präsentiert wie in den Zeiten der attischen Demokratie oder zur Zeit Shakespeares, als das Drama im Zeichen möglicher oder gefährdeter Herrschaft stand: Die Dramenform korrespondierte mit dem geschlossenen Weltbild der jeweiligen Epoche. Das Theater suggerierte den Zuschauern Heil, ein Aufgehobensein in der von Göttern besorgten, letztlich unhinterfragbar stabilen Ordnung. Bei Beckett und Tabori werden Trümmerlandschaften errichtet, symbolträchtige Müllkippen, die darauf verweisen, daß es einmal mehr gegeben haben muß als Schutt und Asche. Beide Autoren verweigern sich entschieden einer Perspektive, die die Welt in Form sinnhaft-geschlossener Modelle darzustellen versucht. Das Tragische ist niemals lachhaft, eher umgekehrt, und unsere besten Witze gründen sich aufs Desaster. Großes Theater bedeutet immer schlechte Nachrichten. 16
Wie in den Die Kannibalen werden die Figuren auch in Jubiläum als (Er-)Leidende eines historischen Geschehens markiert. Opfer zu sein, wird in Taboris Dramen als anthropologische Konstante ausgewiesen. Der Dramatiker bringt einerseits eine Internationale von Ausgegrenzten auf die Bühne, andererseits werden auch die eigentlichen Täter, dadurch daß ihnen von Seiten ihrer 'Mit-Spieler' mit Verständnis und Mitleid begegnet wird, zu 'armen Schweinen' (vgl. II, S. 53), zu Opfern ihrer selbst. Die Figuren werden zu Teilnehmern eines Täter- und Opfer-Spiels, bei dem sich die Rollen annähern können. Täter- und Opfer-Bereiche sind semantisch vor allem durch die Shoah besetzt. 15
16
George Tabori und Wend Kässens: Die einfachste Stimme, die ich kenne. Gespräch über Beckett. In: Jörg W. Gronius u. Wend Kässens (Hg.): Tabori. Frankfurt/M. 1989, S. 47-54, hier S. 53. Tabori: Feigenblatt, S. 16.
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Auch Becketts Figuren sind als Opfer von Katastrophen, die sie nicht selbst herbeigeführt haben, ausgewiesen. Auch sie leiden an ihren Sehnsüchten, an ihren Erinnerungen und an dem Aufeinander-Angewiesen-Sein, das Täter/Opfer-Strukturen produziert. Dennoch ist Becketts Perspektive eine andere: Seine Figuren erscheinen vor allem als exemplarische Vertreter der 'condition humaine'. Die im engeren Sinne historische Dimension wird ausgeblendet. Den Figuren kommt eine Stellvertreterfunktion für die 'Gattung Mensch' zu, indem sie auf der Bühne einem Testverfahren ausgesetzt werden: Können sie, die allesamt auf der Schwelle zur 'Vermüllung' stehen, sich gegen den Prozeß der fortschreitenden De-Humanisierung menschliche Züge erhalten, oder werden sie selbst zu bloßen Spielbällen eines Geschehens, das sie nicht begreifen und dem sie hilflos, wenn auch nicht hoffnunglos, ausgesetzt sind? In Endspiel repräsentieren vor allem Nell und Nagg, die von Hamm und Clov zur Kellerexistenz in den tödlichen Tonnen verdammt sind, diesen Übergang vom Menschsein zum Abfall. Der Mensch erscheint nur noch als "Produzent von Dung".17 Die Opfer-Semantik ist bei Beckett also nur ein Bereich unter anderen, innerhalb dessen sich Da-Sein als Mit- und Gegeneinander-Sein konstituiert. Zentral ist vor allem die Verschiebung der Figuren vom Menschlichem zum Dinglichem.18 Auch in Taboris Jubiläum werden die Figuren im Stadium der Verwesung vorgeführt. Die Figuren sind an ihre Särge gefesselt, können sich aber noch bewegen. Hier zeigt sich deutlich Taboris Adaption absurder Traditionen (in entradikalisierter Form). Pointiert könnte man sagen, daß bei S. Beckett vor allem die existentielle Komponente, die 'condition humaine', dargestellt wird, während Tabori in Jubiläum den Schwerpunkt auf die Darstellung der Menschen als Opfer von 'Historic' legt. Der Opferstatus der meisten Figuren in Taboris Stücken resultiert aus einer doppelten Verfolgung: Zum einen stehen sie für die historischen Verfolgten, Geknebelten, Vergasten der nationalsozialistischen Terrorherrschaft: Behinderte, die für 'lebensunwert' befunden werden, Homosexuelle, die als 'Andere' durch das 'gesunde Volksempfinden' für zwölf und weitere Jahre rigoros verfolgt werden, schließlich und am häufigsten vertreten: die jüdischen Opfer der Shoah. Zum anderen sind die faktischen Opfer der Vergangenheit immer auch potentielle Opfer der Gegenwart und Zukunft (vgl. das Schaubild S. 198f.). Damit greift Tabori den Gedanken auf, daß das Geschehene grundsätzlich 17
18
Klaus Heitmann: Die Welt als Wüste: Becketts Endspiel. In: Franz Blüher (Hg.): Modernes französisches Theater, Adamov - Beckett - lonesco. Darmstadt 1982, S. 228-263, hier S. 234. Im Sinne von ebd., S. 231 f.
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wiederholbar ist, solange sich die Strukturen, die die Katastrophe ermöglicht haben, nicht ändern - ohne daß er allerdings wie Brecht oder Peter Weiss eine explizite und gesellschaftstheoretisch fundierte Systemkritik formulieren würde. Hinsichtlich der Figurenkonstellation können für Jubiläum wenigstens vier Aspekte benannt werden, bei denen der Einfluß Becketts auf die dramaturgische Konzeption sichtbar wird: Zunächst wäre die Paarkonstellation zu nennen: Den Männer-Paaren zum einen (Wladimir und Estragon in Warten auf Godot; Hamm und Clov in Endspiel bzw. Otto und Helmut in Jubiläum) werden 'gemischte Paare1 zum anderen gegenübergestellt (Nell und Nagg in Endspiel bzw. Lotte und Arnold Stern in Jubiläum). Die Beziehung solcher Figurenpaare ist durch Haßliebe gekennzeichnet:19 Der Emanzipation vom Partner steht die Abhängigkeit von ihm im Wege. Auch das Verhältnis der einen Paarstruktur zur jeweils anderen ist durch eine solche Zwiespältigkeit charakterisiert. In Jubiläum trüben ideologische Differenzen das Verhältnis der beiden Außenseiter-Paare (Arnold und Lotte bzw. Helmut und Otto): Der schwule Friseur beschimpft das jüdische Volk in Anwesenheit von Frau Stern als "Saujuden" (II, S. 57), adaptiert also unkritisch antisemitisches Vokabular und Gedankengut. Die behinderte Nichte Lottes, Mitzi, wird von ihm als "irgendein armer Krüppel" (II, S. 59) bezeichnet. Durch solche Passagen wird - wenn auch in wesentlich abgeschwächterer Form als noch in den Kannibalen - von Tabori angedeutet, daß die Opfer sich untereinander nicht bedingungslos solidarisieren, sondern potentiell ähnliche Ausgrenzungsmechanismen entwickeln wie die Täter.20 Die zweite Gemeinsamkeit hinsichtlich der Konfiguration bildet das Herr/Knecht-Verhältnis. Hierbei handelt es sich stets um dynamische Verhältnisse, das heißt die Figuren übernehmen wechselseitig mal den einen, mal den anderen Part - ohne daß allerdings die Opfer1 die Dominanzverhältnisse entscheidend umzukehren vermögen. Die Prototypen dieses Verhältnisses sind in Becketts Warten auf Godot Lucky und Pozzo, die durch Seil und Peitsche buchstäblich aneinander gefesselt sind. Das Macht-Zeichen von Hamm und Winnie ist der 'Thron', von dem aus sie als gelähmte Götter über die Welt bzw. über das walten, was noch von ihr übrig geblieben ist. Hamm, der peinlich genau darauf achtet, daß sein Rollstuhl in der Mitte der Bühne aufgestellt ist (vgl. Endspiel, S. 241), bildet ebenso das Spielzentrum, um das bzw. mit dem sich die anderen Aktionen bewegen, wie Winnie, die auf einem sie langsam 19 20
Vgl. ebd., S. 240. Vgl. "Abdankung des Dokumentarischen?" von Sandra Pott und mir in diesem Band.
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verschlingenden Grashügel ihr 'Reich', eine ausgedorrte Graslandschaft, 'regiert'. In Taboris Stücken ist dieses Herr/Knecht-Verhältnis zum einen durch den Bezugspunkt Shoah bzw. Verfolgung determiniert, zum anderen durch den eschatologischen Disput (vgl. insbesondere Herzl/Lobkowitz in Mein Kampf). Hierdurch erhalten seine Texte zahllose religiöse Anspielungen und Bibelverweise bzw. erschließen Kontexte jüdischer Denk- und Argumentationsstrukturen (angelehnt an die talmudische Dialogform, vgl. ebd. und Goldberg/Jay in Die Goldberg-Variationen). Beispielhaft für ein Herr/Knecht-Verhältnis (im zuerst genannten Sinne) ist die Szene zwei aus Jubiläum, in der Arnold von Helmuts rechtsradikalem Neffen Jürgen angerufen und mit antisemitischen Parolen mißhandelt wird ("Sammelt Juden, der Winter wird lang" - II, S. 54). Hans-Peter Bayerdörfer macht in seinem Beitrag "Stimmen in der Wüste" (in diesem Band) deutlich, wie die jüdischen Figuren in Taboris Texten sich mittels Witz und Intellektualität gegen die physische Gewalt ihrer Peiniger ein ums andere Mal zur Wehr zu setzen versuchen. Bei den anderen 'Opfergruppen' ist die Eigenschaft der hingebenden Unterordnung besonders stark ausgeprägt: Helmut liebt bzw. liebte Jürgen wegen seiner erotischen Ausstrahlung (vgl. II, S. 59 u. 64) genauso wie Weiss die Vergewaltigung durch die Gestapo-Männer 'genoß1, die ihn unmittelbar darauf nach Auschwitz schickten (vgl. Kannibalen I, S. 42f.). Mitzi hatte sich ebenfalls Chancen bei Jürgen ausgerechnet. Als sie seinen zynischen 'Liebesbrief erhält, nimmt sie sich das Leben: Jürgen hatte sie gefragt, wieso man vergessen habe, sie zu vergasen (vgl. II, S. 59).21 Drittens lassen sich Becketts und Taboris Figuren in die Clown-Tradition einordnen. Die Protagonisten von Warten auf Godot, Endspiel und Das letzte Band versuchen immer wieder, gegen die Pleiten und Tücken der Objekte anzugehen - Wladimir kämpft zu Beginn des ersten Aktes von Warten auf Godot gegen seinen Schuh an; Clov fallt, auf der Leiter stehend, sein Fernglas aus der Hand (vgl. Endspiel, S. 243); Krapp rutscht auf der Bananenschale aus (vgl. Das letzte Band, S. 87). Vor allem bei Wumpf, bei dessen Konzeption sich Tabori auch an der Totengräberszene aus Hamlet orientiert, handelt es sich um einen solchen traurigen Clown. Schließlich erscheinen die Figuren als Behinderte, die mit allen Mitteln gegen ihren körperlichen und psychischen Verfall kämpfen. Estragon drücken
Jürgen und Mitzi können ebenso wie Rotgesicht und Ruth (in Weisman und Rotgesicht) als Karikatur des 'jungen Liebespaares' gelesen werden (vgl. z.B. Shakespeares Romeo und Julia).
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die Schuhe, seine Füße verbreiten morbiden Gestank (vgl. Warten auf Godot, S. 99). Wladimir muß in kurzen Intervallen Wasser lassen. Nell und Nagg fehlen die Beine, während Hamm Clov mit seinem Wunsch nach Beruhigungspillen an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt. Krapp hält mit einem Äquinoktikum seine Darmtätigkeit über Wasser. Winnie trinkt sich "bei Lustlosigkeit...Schwunglosigkeit...Appetitlosigkeit..." (vgl. Glückliche Tage, S. 19)22 mit einer roten Arznei Heiterkeit an. Tabori selbst deutet Glückliche Tage, für ihn "eines der optimistischsten Stücke überhaupt", als die "Geschichte einer behinderten Frau".23 Seine Behinderten (in Jubiläum: Mitzi; auch Helmut, nachdem er aus der Nervenheilanstalt zurückkommt) werden als Vertreter spezifischer Opfergruppen ausgewiesen (vgl. Schaubild S. 198f.). Zu meinem Vorgehen: Ich will nach diesen allgemeineren Ausführungen in zwei Schritten ein erstes Verständnis von Taboris Text erschließen. Zuerst erörtere ich mit Blick auf die veränderte Konstellation gegenüber den Kannibalen die Figurenkonzeption von Jubiläum (Abschnitt 1). Wichtig ist mir zu zeigen, daß Tabori anders als in seinem frühen Auschwitz-Stück mit der Opposition 'lebendig - tot' spielt. Tabori bringt diese Opposition annähernd zum Verschwinden, indem er die Opfer-Figuren zwar als Tote markiert, sie aber durch die Spielsituation des Theaters als Weiterlebende agieren läßt. Ich werde, hieran anknüpfend, in einem zweiten Schritt zeigen, welche verschiedenen Zugangsweisen sich für Jubiläum ergeben (Abschnitt 2). Ein besonderes Interesse gilt dabei der Friedhofs-Chiffre, die den Fiktionsrahmen des Textes bildet.
l.
Von der Tischgesellschaft zum Narren-Friedhof
1.1. Spiel mit der Opposition 'lebendig - tot' in Jubiläum Steht in den Kannibalen und Jubiläum das Gedenken an die Massenvemichtung im Zentrum, so nähert sich Tabori in seinen späteren Dramen, in Mein Kampf (\JA 1987) und Weisman und Rotgesicht (UA 1990), 'Auschwitz' von der Peripherie her. In Mein Kampf ist die 'Judenvernichtung' historisiert, indem ihre (fiktive) Vorgeschichte in einem farcehaften Experiment 'auf die
Hier zitiert gemäß der Suhrkamp-Taschenbuchausgabe Glückliche Tage von 1975, da in der anderen Ausgabe ein Übersetzungsfehler vorliegt. Tabori und Kässens: Die einfachste Stimme (Anm. 15), S. 49.
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Bühne gebracht' wird. In Weisman und Rotgesicht wird der Holocaust exotisiert: das Duell zwischen Indianer und Juden in der Wüste soll erproben, welches Volk in der Geschichte stärker gelitten habe. In den Kannibalen sind es dagegen die Überlebenden Hirschler und Heltai, die Zeugnis von ihren Erfahrungen in Auschwitz ablegen; ihr Bericht wird zum 'Stoff für ein therapeutisches Erinnerungs-Spiel, das beide zusammen mit den Nachgeborenen von Opfern und Tätern inszenieren. Der Rahmen des Stücks wird durch die Träume der Überlebenden gebildet sowie durch die Kinder der Ermordeten bzw. durch den Sohn des KZ-Schergen Schrekinger, die sich der Vergangenheit ihrer Väter erinnern wollen. Wird in den Kannibalen noch die Möglichkeit einer 'Befreiung' für Überlebende und Nachgeborene durch die gemeinsame Interaktion, das heißt: durch das Theaterspielen angedeutet, findet sich eine solche Perspektive in Jubiläum nicht mehr. Die Situation wird für die Opfer als aporetische gekennzeichnet - es gibt kein Entrinnen aus den alptraumhaften Erinnerungen an die Vergangenheit. Tabori zentriert in den Kannibalen die Rahmen-Handlung um die Oppositionen 'authentische / nicht-authentische Erfahrung von Auschwitz' bzw. 'Generation der Väter / Generation der Söhne1. In Jubiläum dagegen spielt das Thema der 'zweiten Generation' nach dem Holocaust nur in der Schlußszene eine Rolle. Der Autor konzentriert sich auf die Täter/Opfer-Beziehungen: wie in den Kannibalen lassen sich die Figuren der Täter- oder der Opferseite zuordnen. Die Täter-Seite wird in Jubiläum lediglich von Jürgen repräsentiert. Läßt sich für Die Kannibalen eine deutliche Trennung von Lebenden und Toten vornehmen - Hirschler und Heltai sowie die Söhne der Ermordeten und Schrekinger leben; die ermordeten Väter sind tot -, ist diese Zuordnung für Jubiläum nicht so leicht möglich. Die Frage nach dem Spiel mit der Opposition 'lebendig - tot' ist grundlegend für das Verständnis von Jubiläum. Hierüber kann am ehesten geklärt werden, wen oder was die dargestellten Figuren repräsentieren.
l .2. Figuren als Tote Tabori benutzt verschiedene Techniken, mit denen er dem Rezipienten signalisiert, daß es sich bei den Opfern um Tote handelt. Zu Dramenbeginn werden die Figuren mehrfach als "die Toten" bzw. als "unsere Toten" bezeichnet (vgl. II, S. 51 ff.). Das Verfahren einer expliziten Charakterisierung der Figuren als Tote wird von Tabori ausschließlich in den Anmerkungen und im Nebentext angewendet, meistens am Anfang oder am Ende einer Szene. Da die Anmer-
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kungen häufig nicht inszeniert werden, nimmt der Zuschauer die Information in der Regel nicht als solche des impliziten Autors wahr. Es hängt allein von der Inszenierung ab, inwieweit den Zuschauern die Information 'durch das Spiel' vermittelt wird. Noch durch andere Techniken macht Tabori dem Rezipienten deutlich, daß seine Figuren als Tote verstanden werden sollen: einerseits dadurch, daß er eine Friedhofs-Topographie etabliert, andererseits indem er seine Figuren mit Lebensgeschichten versieht und den Tod Teil dieser Biographien werden läßt. So zeichnen die beiden ersten Anmerkungen ein naturalisiertes Bild der Friedhofslandschaft: Sie liegt "am Rhein", wird als "romantisch verwildert" beschrieben, ihre Bepflanzung ist "verwelkt" (II, S. 51). Der einleitende Nebentext zur Szene l setzt diese naturalisierte Beschreibung fort; hier werden die charakteristischen Merkmale des Friedhofs benannt (Grenzmarkierungen wie Mauer, Gräber mit Grabsteinen; Naturgewalten als 'bedrohende Mächte1 wie Wind, Würmer und Frost). Mit Szene 2 wird dieses naturalisierte Bild sukzessive in Frage gestellt. Es muß stückweise um Informationen ergänzt werden, die mit dem herkömmlichen Verständnis von 'Friedhof nicht vereinbar sind. Der Friedhof nimmt zunehmend die Gestalt eines kultivierten und technisierten Spiel- und Interaktions-Raumes an. Auf welchem 'natürlichen' Friedhof gibt es für 'die Toten' die Möglichkeit zu lesen (vgl. die Lektüre Helmuts, Szene 4 bzw. das Lektüre-Erlebnis Mitzis, Szene 11), zu telefonieren (Szene 2) und fernzusehen (Helmut sieht die Wochenschau - II, S. 60; "gestern abend in den Nachrichten", II, S. 57)? Im Off scheint es ein Krankenhaus zu geben, in dem man sich beschneiden lassen kann, eine Nervenheilanstalt, eine Schule und ähnliche Institutionen, die das zwischenmenschliche Zusammenleben organisieren helfen - die aber überflüssig sind, wenn man tot ist. Es drängt sich also der Verdacht auf, daß es sich zumindest um einen etwas ungewöhnlichen Ort handelt, den Tabori den Theaterzuschauern vorführt und an dem sich 'die Toten' ihre Witze und Katastrophen-Geschichten erzählen. Teil dieser Erzählungen ist auch der Tod der Figuren: Die Behinderte Mitzi nahm sich ebenso das Leben wie das schwule Paar Helmut und Otto; alle drei sind Opfer nazistischer bzw. neonazistischer Gewalttaten. Die Datierungen für den jeweiligen Tod sind vage und lassen sich nicht immer vom Text her aufschlüsseln (siehe auch Abschnitt 2). Werden für Helmut und Otto noch annähernd realistische Todesarten gewählt, steigert Tabori die Schilderung in Szene 8, dem Telefonzellen-Monolog Lotte Sterns, ins Allegorische: der allegorische Tod erscheint so als 'zweiter Tod' der Figur, als Erzählung des ersten 'realen1, über den jedoch keine Informationen gegeben werden. Besondere Bedeutung erhält diese Szene dadurch, daß Tabori sich Bertolt
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Brechts Einakter des Exils, Die jüdische Frau (aus Furcht und Elend des Dritten Reiches), zur Vorlage nimmt. Mitzis 'realer' Tod - sie erstickte sich im Ofen - kann vom Rezipienten als Allegorie der Vergasungsaktionen während der 'Euthanasie' des 'Dritten Reiches' verstanden werden (vgl. II, S. 63). Gundula Ohngemach weist in ihrem Probenbericht zu Jubiläum auf die Funktion der Requisiten als Markierungen der spezifischen Todesarten hin, die den Opfern in unterschiedlicher Weise zugeordnet sind: Die Auswahl der Requisiten wurde auf ein Minimum beschränkt. Besser gekennzeichnet sind sie als surreale Objekte. Sie sind streng personenzugeordnet und verbinden die dramaturgische Funktion als Handlungsträger, indem sie die Todesursache der Personen bzw. die Auslösung des Selbstmordes kennzeichnen [...]. 'Arnold' schenkt 'Lotte1 am fünfzigsten Jubiläum ihres Kennenlemens Nelken; später wird er von Jürgen erschossen (eins); beim Schuß nimmt er seine Brille ab. 'Helmut' besitzt das Buch von Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches, aus dem er die Szene drei vorliest; außerdem einen langen Mantel, der ihm in der Klinik genommen wird; endlich bleibt ihm noch ein Gürtel übrig, an dem er sich in der Nervenklinik erhängt. Otto' besitzt eine Schachtel mit Pillen, mit denen er sich in der Badewanne einschläfert (vier), zusätzlich benützt er eine Clownsbrille mit einer Pappnase für das Rollenspiel mit Helmut (vgl. Szene vier); anfänglich besaß er noch eine Schere (als Friseur in Szene drei), die dann wieder weggelassen wurde. 'Lotte' besitzt zwei Zehnpfennigstücke, die sie in der Hand hält, wenn sie in der Telefonzelle ertrinkt (sie wurden erst später hinzugenommen) (Szene sieben). 'Mitzi' erhält in Szene acht den Brief von 'Jürgen* und vergast sich danach in der Backröhre des Ofens; außerdem besitzt sie eine Puppe, die sie in der Hand hält; in der Szene acht liegen Bücher und Dokumentationen ("was ich über Hitler weiß") verstreut auf der Erde.24
1.3. Figuren als Weiter-Lebende Sind es aber wirklich Tote, die dem Rezipienten in Jubiläum vorgeführt werden? Das Theater mit seinen Konventionen macht es möglich, daß die Toten auf der Bühne wie Weiterlebende präsentiert werden. Indem die Figuren, die nur abstrakte Zeichen, nur Funktionsträger sind, von Schauspielern gespielt werden, werden sie für die Rezipienten physisch konkret und erscheinen neu 'zum Leben erweckt'. Das Theater schenkt den Figuren nicht nur die Möglichkeit, ihr Leben zu wiederholen, sondern es gibt ihnen ein zweites Leben nach dem Tod, das jedoch von den Folter-Spuren der Vergangenheit gezeichnet ist. Die Opfer-Figuren in Jubiläum erheben sich aus ihren Gräbern; sie müssen wie Lebende agieren, da sonst ein theatrales Spiel nicht möglich wäre.
Ohngemach: Taboris Theaterarbeit (Anm. 5), S. 56f.
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Tabori dürfte dieses Modell von Toten, die auf dem Theater in Lebende (und damit in Menschen) zurückverwandelt werden, aus Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft (U A Paris 1946) entlehnt haben. In der dort markierten Hotelsituation werden die Toten als Vertreter exemplarischer menschlicher Verhaltensweisen dargestellt, die die These vom Mit-Menschen als Hölle des Anderen szenisch und spielend vergegenwärtigen. Die Dreierkonstellation, wie sie bei Sartre angelegt ist, wird von Tabori allerdings dadurch, daß er seine Figuren als Repräsentanten spezifischer Opfergruppen auftreten läßt, aufgebrochen. In Jubiläum ist besonders die Fähigkeit der Opfer, Schmerz zu empfinden, auch ihre Fähigkeit zur Empathie, auffällig: HELMUT leckt an einem Finger und versucht, die Parole von seinem Grabstein zu wischen Daß dem nicht mal was Neues einfällt. ARNOLD Nur ein armes Schwein. Kann dir nicht mehr weh tun. HELMUT Bist du sicher? Pause ARNOLD Nein (II, S. 53).
Als Arnold beispielsweise von Mitzis Freitod hört, bricht er in Tränen aus (vgl. II, S. 55); auch Otto weint, als er Lotte davon berichtet, daß Helmut sich im Krankenhaus einer Beschneidung unterzieht (vgl. II, S. 58). Die Fähigkeit der Opfer, sich in das Schicksal anderer einzufühlen, wird vor allem an zwei Schlüssel-Szenen des Stücks deutlich. Zum einen an der adaptiven Deutung von Die jüdische Frau durch Helmut: die Brecht-Lektüre hat für ihn die Funktion, seine nach der Beschneidung neugewonnene Identität als 'Jude' zu stabilisieren; das 'Jude-Sein' übernimmt für ihn die Bedeutung einer Chiffre, mittels derer er einen Zugang zu der eigenen Identität als verfolgter Schwuler finden kann (vgl. S. 60f); zum anderen an der totalen Identifikation Mitzis mit den ermordeten jüdischen Kindern vom Bullenhuser Damm (vgl. Szene 11 von Jubiläum und den Exkurs 2). Auch die Art und Weise, wie die Figuren auf die körperliche Gewalt, die ihnen zugefügt wird, reagieren, weist sie als Weiterlebende aus. Als Arnold von Jürgen angeschossen wird, fließt Blut (vgl. II, S. 55). Am Ende von Szene 4 bluten Helmuts Finger; sein Körper windet sich vor Schmerzen, während er sich an die ihm zugefügten Elektroschocks erinnert. Neben diesen intakten physisch-psychischen Funktionen sind es vor allem Sprach- und Erinnerungsvermögen, die beim Rezipienten den Eindruck erwecken, es handele sich bei den dargestellten Figuren um Weiterlebende.
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2. Lesarten zu Jubiläum Daß die toten Figuren aus der Spielsituation des Theaters heraus auch als Weiterlebende rezipiert werden können, soll als Ansatzpunkt dienen, verschiedene Lesarten für Jubiläum zu bilden. Das polyvalente Zeichen Triedhof kann auf wenigstens vier verschiedene historisch-politische Konstellationen bzw. Modelle bezogen werden: Es steht als Modell für die gesellschaftlichpolitische Kontinuität von totbringender 'Verfolgung1 nach 1945; als Modell für die Situation der Lager-Überlebenden nach 1945; als Modell für Täter/Opfer-Verhältnisse in den historischen Konzentrations- und Vernichtungslagern; als Modell für die Situation der 'zweiten Generation' nach 1945. Jedes dieser Modelle steht für eine mögliche Zugangsweise zu Jubiläum; kein Modell erschließt alle Bedeutungsschichten des Textes. Insofern ist es sinnvoll, zuerst von der prinzipiellen Gleichrangigkeit der Lesarten auszugehen. Im ersten Modell werden die Figuren als Tote gelesen, die auch 983' den Schändungen der Täter ausgesetzt sind. Die drei nächsten Lesarten akzentuieren den Aspekt, daß die Figuren als Weiterlebende verstanden werden können; dabei beziehen sich die Lesarten auf verschiedene Zeit-Dimensionen: das zweite und vierte Modell beziehen sich auf die Zeitebene 983', das dritte Modell referiert auf den Holocaust. Ein Hinweis vorab zum Verständnis der Konfiguration: Die Angaben im Text sind zu fragmentarisch, als daß den Figuren jeweils eine konsistente 'Biographie' zugeordnet werden könnte. Naheliegend wäre es, Cornelius, Lotte und Arnold Stern als Opfer der Juden-Verfolgung des 'Dritten Reiches1 zu deuten. Otto und Helmut sowie Mitzi könnten dann als Opfer der 'neuen Gewalt' der 80er Jahre gelesen werden, die partiell ähnliche strukturelle Muster zu der des Nationalsozialismus aufweist. Indem die drei mit dem Schicksal der Familie Stern konfrontiert werden (bei der Ruhestätte handelt es sich nicht um einen 'rein jüdischen', sondern um einen gemischten Friedhof), werden sie sich ihrer eigenen Situation als Opfer aktueller Verfolgung bewußt. Diese Deutung, so plausibel sie auch auf den ersten Blick erscheinen mag, hat vor allem den philologischen Makel, daß sie sich nicht auf den Text stützen kann. An keiner Stelle wird Arnold als Opfer des 'Dritten Reiches' markiert, eher schon als Opfer der neuen 'Gewalt' (Jürgen 'erschießt' Arnold, vgl. Szene 2). Zwar berichtet Arnold von seiner ersten Begegnung mit Lotte am Tag der 'Machtergreifung'; weitere Informationen werden dem Rezipienten mit Ausnahme einiger Informationen über Arnold Sterns Vater - aber vorenthalten (vgl. Szene 2). Arnold Sterns Tod läßt sich vom Text her nicht eindeutig einer Zeitebene zuordnen: die Figur kann sowohl im 'Dritten Reich'
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als auch nach 1945 gestorben bzw. ermordet worden sein. Für Lotte Stern gilt dasselbe: Ihr Tod kann nicht nur auf die historische 'Judenvernichtung', sondern auch auf die aktuelle Situation der achtziger Jahre bezogen werden ("es geht schon wieder los" - H, S. 73). Zu Otto und Helmut finden sich zwar Angaben zur Todesart, keine jedoch zu der zeitlichen Datierung ihres Todes: HELMUT [...] In der Klinik hat man mir den Schmerz genommen und den Gürtel vergessen, da habe ich mich aufgehängt. OTTO Am Tag deiner Beerdigung ging ich nach Hause und machte die Betten. Deins war voller Krümel. Und die Zahnpastatube war nicht zugeschraubt. Du hast immer vergessen, die Zahnpastatube zuzuschrauben. Im Femsehen nichts Rechtes. Ich fand deine Galoschen unter dem Sofa. Als es Abend wurde, hatte ich vergessen, daß du tot warst, und kochte uns Tee. Ich trank zwei Tassen, abwechselnd. Dann schluckte ich die Tabletten und nahm ein Bad, in der Wanne ein Rand, noch von dir. Das Wasser war noch warm, als ich versank (II, S. 62).
Wahrscheinlich sind Helmut und Otto nach 1945 in den Selbstmord getrieben worden, sie können aber auch Opfer der Schwulenverfolgung des 'Dritten Reiches' sein. Mitzis Tod im Ofen, ihre verzweifelte 'Antwort' auf Jürgens zynischen Brief, muß dagegen auf der Zeit-Ebene 'nach 1945' angesiedelt werden. Es erscheint mir sinnvoll, die Figuren nicht als Individuen, sondern als Vertreter der spezifischen Opfergruppen zu verstehen. Die biographischen Angaben, die von Mitzi, Helmut und Otto zu 'ihrem Tod' gemacht werden, können wie der Monolog Lotte Sterns als 'gruppenspezifische Rede' gedeutet werden. Mitzi und Helmut lassen sich mehrere Opfer-Identitäten zuordnen: Als Nichte Lotte Sterns ist die Behinderte auch als Jüdin gekennzeichnet; Helmut nähert sich, indem er sich beschneiden läßt, der jüdischen OpferGruppe an; seine Reaktion auf 'Verfolgung' am Ende von Szene 4 weist ihn ferner als ein Opfer aus, das in die Behinderung, in den Wahnsinn getrieben wurde. Die Rede der Opfer zielt also nicht auf das individuelle Leiden der Figur, sondern auf das für die jeweilige Gruppe repräsentative Verfolgten-Schicksal. Dies erklärt auch, warum Tabori Informationen zu den Figuren nur fragmentarisch vergibt. Das folgende Schaubild verdeutlicht die verschiedenen OpferIdentitäten in Jubiläum:
198
Marcus Sander
Schaubild: Opfer-Identitäten in Jubiläum
Jüdische Opfer
Ebene I:
Ebene 2:
Individualität
Repräsentanz
Lebenszeit der
Tod der Figur
Figur
Geist des Vaters
Figur repräsentiert.
von der Gründerzeit 1
bis ins '3. Reich
unbekannt, vermut-
die im '3. Reich'
lich nach der
ermordeten Juden
Deportation in Auschwitz ermordet
Arnold
'3. Reich'oder:
keine Hinweise, am
die '2. Generation',
'3. Reich'und BRD
ehesten Opfer
die überlebenden
'neuer Gewalt'
Juden, die im '3.
(vgl. Szene 2)
Reich' ermordeten Juden
Lotte
wie Arnold
keine Hinweise,
die im '3. Reich'
allegorisch: Tod in
ermordeten Juden
der Telefonzelle
(die überlebenden Juden)
Friedhof s-Monologe
199 Ebene 1:
Ebene 2:
Individualität
Repräsentanz
Homosexuelle
Lebenszeit der
Opfer
Figur
Helmut
'3. Reich1 oder BRD
Selbstmord in der
die homosexuellen
(oder: '3. Reich' und
Klinik (mit dem
Opfer des
BRD)
Gürtel erhängt)
'3. Reiches', die
Tod der Figur
Figur repräsentiert...
homosexuellen Opfer nach 1945 (die überlebenden Homosexuellen des '3. Reiches')
Otto
wie Helmut
Selbstmord nach
wie Helmut
Tod Helmuts (durch Tabletten)
Behinderte Opfer
Lebenszeit der
Tod der Figur
Figur
Mitzi
BRD
Figur repräsentiert...
Selbstmord (durch
die behinderten
Ersticken)
Opfer nach 1945 (Opfer der Euthanasie des '3. Reiches')
200
Marcus Sander
Das Verfahren, das Tabori in Jubiläum anwendet, läßt sich als 'semantische Überblendung' bezeichnen. Semantische Einheiten - beispielsweise die mit den Figuren verbundenen Bedeutungskomponenten - sind mehrdeutig und lassen sich nicht eindeutig einer Zeit- bzw. Interaktions-Ebene zuordnen. Die Figuren agieren sowohl auf der Zeit-Ebene 933-1945' als auch auf der Ebene 'achtziger Jahre'. Besonders deutlich wird dies in Szene 5: Helmut, Opfer alter und neuer 'Umpolungs-Perversitäten1, wird in der Psychiatrie gefoltert und kommt als Wahnsinniger zurück, der Brecht-Texte nur noch als Kultur-Schutt vor sich 'hinplappem' kann. Handelt es sich um die SchwulenVerfolgung des 'Dritten Reiches', oder soll auf das 'Kontinuitäts-Problem' in der Bundesrepublik angespielt werden? Wohl beides. Tabori spielt mit dem kulturellen Wissen des Rezipienten, der die Zeichen der Vernichtung kennt und dechiffrieren kann. Zeichen werden in Jubiläum bewußt doppelt codiert, um so Vergangenheit und Gegenwart der Verfolgung deutlich zu machen.
2. l. Der Friedhof als Modell mißlungener Bewältigung 'Die Toten finden keine Ruhe': Berücksichtigt man die Erfahrungen des Autors mit den Kontinuitäten von NS-Herrschaft und dem neuen Antisemitismus der Bundesrepublik seit Ende der sechziger Jahre, liegt es nahe, den 'Friedhof in Jubiläum als Modell für die mentalen und gesellschaftlichen Kontinuitäten vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik zu deuten. Der "Friedhof am Rhein" steht metonymisch für verschiedene Symptome der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die den Schluß nahelegen, daß die Vergangenheit unbearbeitet und prinzipiell wiederholbar ist. Tabori zeigt in Jubiläum das kontinuierliche Fortwirken von rassistischen Denkhaltungen und Verhaltensweisen im Alltag. Jürgen symbolisiert dabei ebenso die offen-aggressive Variante der Verdrängung wie die zwei Altnazis, die Mitzi in direkter Weise ihren Haß auf Behinderte, Schwule und Juden zu erkennen geben, indem sie sie mit sadistischen Liedern verhöhnen: So eine Gaskur im KZ, Die finden alle Spastis nett, Fiderallalla, fiderallalla, fiderallallallalla (II, S. 57).
Jürgens Vater hingegen steht für die eher verdeckte Variante von 'Geschichtsvergessenheit': er meint, seine Schuld an den Massenverbrechen, an denen er im Zweiten Weltkrieg beteiligt war, nach 1945 in einem bürgerlichen Beruf
Friedhofs-Monologe
201
als Bäcker kompensieren zu können (vgl. II, S. 68). Wie den Angeklagten in Peter Weiss' Ermittlung fehlt Jürgens Vater jegliches Bewußtsein, Unrecht getan zu haben. Auf die Möglichkeit, daß sich ähnliche Ausgrenzungs- und Verfolgungsmuster, wie sie für das 'Dritte Reich' galten, wiederholen können, daß auch 983' die meisten wegsehen, wenn Verfolgte Hilfe brauchen, macht Tabori im Telefonzellen-Monolog Lotte Sterns aufmerksam (vgl. Szene 8). Aber nicht nur auf Kontinuitäten zwischen 'Drittem Reich' und der Bundesrepublik im Alltag, sondern auch auf politischer Ebene weist Tabori in Jubiläum hin: exemplarisch werden die Bereiche Medizin, Justiz, Bürokratie und Wissenschaft erschlossen.25 Für diese Lesart sprechen auch einige der 'Jubiläen1,26 auf die im Text angespielt wird: "Was ist geworden aus den süßen Bengeln mit den träumenden Mündern? Vierunddreißig Jahre Demokratie und schon wieder die alte Leier. Noch ein Jubiläum" (II, S. 59). Ottos Aussage zielt ebenso auf das Kontinuitäts-Problem wie die Tatsache, daß Tabori Jürgen als fanatischen Mengele-Anhänger zeichnet: JÜRGEN [...] Noch ein Jubiläum. Er wäre heute um die Siebzig, der arme Dr. Josef [...] Ich bete zu Gott, daß er kommt. Ich warte jedes Jahr auf ihn, zu dieser Zeit, wenn der Flieder blüht (II, S. 69).
Es zeigt sich, daß der Text auf die Kontinuitäts-Problematik Bezug nimmt und daß die Friedhofskonstellation in Jubiläum als Modell verdrängter und unabgeschlossener Vergangenheit gedeutet werden kann. Dabei ist jedoch festzuhalten, daß Tabori sich politischen oder soziologischen Erklärungsmustern vollständig verweigert und statt dessen, ähnlich wie in Kannibalen, psychologische oder anthropologische Muster bemüht. Ein solches Vorgehen hat Vorzüge, aber auch Grenzen: Es bleibt in Jubiläum lediglich beim Benennen bzw. Anzitieren von Versäumnissen. Dieses Verständnis allein kann den Text in seiner Komplexität jedoch nicht erfassen. Es ist keineswegs zwingend, daß Tabori - ginge es ihm vor allem um den 'gesellschaftskritischen' Aspekt - der Rede der Opfer ein so großes Gewicht beimißt, wie sie es in Jubiläum erhält. Ich will nun die gewonnene Auf Kontinuitäten im Bereich Medizin wird angespielt in Szene 5 ('schwarze Stiefel' des Arztes); ein Hinweis auf die "furchtbaren Juristen" (Ingo Müller) bringt Szene 3 ("und Heribert, ein Richter alter Schule, sprach sie frei" - II, S. 56); auf Kontinuitäten im Bereich der Bürokratie verweist der folgende Satz: "In Kassel begräbt man die Leute im Stehen, um Parkplätze zu gewinnen" (II, S. 73). Auf Defizite in Wissenschaft und Unterricht spielt Tabori mit Mitzis Hinweis auf die apologetische Geschichtsschreibung in Szene 11 an. Hierzu vgl. Ohngemach: Taboris Theaterarbeit (Anm. 5), S. 35f.
202
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Lesart um eine weitere ergänzen. Diese legt zwar auch den Akzent auf die Kontinuitäten von 'Verfolgung', verlagert dabei aber die Perspektive hin zu den Opfern.
2.2. Der Friedhof als Modell für die Situation der Überlebenden In Jean Amerys Essay Die Tortur, dem Versuch, eine Phänomenologie der Folter aus der Perspektive des Überlebenden von Auschwitz zu entwerfen, heißt es: Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht mehr austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen.27
Dieser Satz charakterisiert auch die Opfer-Figuren in Jubiläum. Sie können nicht nur als Ermordete, sondern auch als Repräsentanten der Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung gedeutet werden. "Jedes Leben hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge" (II, S. 52) - so heißt es in der vierten Anmerkung zu Jubiläum. Was sich auf den ersten Blick ausnimmt wie ein Witz ohne Pointe, eine sperrige Sentenz ohne tieferliegende Bedeutung, erhält unter der Voraussetzung, daß man Taboris Figuren als Überlebende liest, erhebliches Gewicht. Der Satz beschreibt ein Muster, das die Struktur des Textes maßgeblich prägt: die Auflösung des chronologischen Zeit-Begriffs zugunsten einer zyklisch-aporetischen Zeit im Bewußtsein der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung. Im Anfang war 'Auschwitz1, das Ende im Leben der Opfer, herbeigeführt durch den Terror der Lager und Folterstätten des 'SS-Staates'. Alles weitere sind Erinnerungen an den Riß in der Biographie und vergebliche Versuche, das verlorene Leben einzuholen: ARNOLD HELMUT ARNOLD
Weißt du, was passiert, wenn ein Lied zu Ende gesungen ist? Was? Es bleibt (II, S. 70).
Der Alptraum geht weiter: Vor allem die Redesituation in Jubiläum ist auf die
27
Jean Amory: Die Tortur. In: J.A.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1988, S. 37-58, hier S. 58.
Friedhofs-Monologe
203
Situation der historischen Überlebenden beziehbar.28 Besonders aufällig ist die nahezu vollständige Isolation von Taboris Figuren, die Unmöglichkeit für sie, mit den Verfolgungs-Geschichten 'in die Welt' zu treten und das Erlebte vermittelbar zu machen. Hierin ist ihre Situation durchaus der von Hirschler und Heltai aus den Kannibalen vergleichbar; letztere stoßen allerdings mit ihren Erinnerungen zumindest noch in der 'zweiten Generation' auf Gehör. Diese Isolation, wie sie für die Geretteten der Lager kennzeichnend ist, wird im Text zum einen durch die Einheit des Ortes markiert, zum anderen durch die Tendenz zum monologischen Sprechen, schließlich - besonders auffällig im Vergleich mit den Kannibalen - durch die fast ausschließliche Reduktion der Interaktionsformen auf die Figurenrede. Die Opfer sind 'unter sich', sie sind von der Gesellschaft wie durch eine schalldichte Wand abgetrennt. Kommunikation findet vor allem als Kommunikation unter Opfern statt. Dabei werden aber selbst diese gruppeninternen Gespräche durch zahlreiche Störfaktoren gefährdet: das Erleiden unterschiedlicher Arten von Verfolgung führt immer wieder zu Verständigungsschwierigkeiten: LOTTE Na schön, sprechen wir übers Wetter. ATNOLD So viel Laub, und niemand verbrennt es. OTTO Ich mag den Geruch von brennendem Laub. ARNOLD Es ist schwer, Laub zu sein. OTTO Obwohl mir letzten Sonntag die Nase abgefallen ist (II, S. 53).
Otto hält auch noch dann an seinem Urteil, er möge "den Geruch von brennendem Laub", fest, nachdem Arnold auf den Erfahrungszusammenhang 'Holocaust1 angespielt hat. Tabori macht in seinen Texten häufig von dem Verfahren doppeldeutigen Redens Gebrauch. Die einzelnen Szenen von Jubiläum werden durch Isotopien verknüpft. Eine solche Isotopie bilden beispielsweise die Lexeme 'brennen1, 'verbrennen', 'Feuer', Ofen' und 'Aschenbecher'. Isotopien lassen sich in Jubiläum in zweierlei Hinsicht an semantische Referenzbereiche anschließen: Einerseits kann vom Rezipienten ein Denotat bestimmt werden. Andererseits läßt sich dieselbe Isotopie auch auf ein Konnotat, auf die Massenvernichtung beziehen. Durch die Überblendung beider Bedeutungs-Ebenen überlagern sich Vergangenheit und Gegenwart (und die ihnen zugeordneten Interaktionen und Räume), was zu einer Vergegenwärtigung der Vergangenheit führt. Das Gespräch zwischen Arnold, Lotte und Otto über das 'brennende Laub' kann tatsächlich bloß als Konversation über das Wetter auf dem Fried28
Mein Bild von der Situation der Überlebenden habe ich vor allem aus den Berichten von Jean Ame"ry, Ruth Klüger, Primo Levi, Jörge Semprun und Elie Wiesel gewonnen.
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hof des Jahres 1983 gelesen werden - dies entspricht der Lesart Ottos, der lediglich das Denotat realisiert. Auf das historische Konnotat des Wortes wird hingegen von Arnold hingewiesen, wenn er mit den Worten "Es ist schwer, Laub zu sein" antwortet. Er und Lotte repräsentieren als Juden den 'Brennstoff, der in den Krematorien der Vernichtungslager "in Rauch aufgelöst1 wurde. Diese Aussage jedoch als Beleg dafür zu deuten, daß Arnold in den KZs umgekommen ist, ginge zu weit: Arnold ist mit dem HolocaustDiskurs vertraut; dieses Wissen kann, muß aber nicht in seiner eigenen Verfolgung begründet liegen. Indem Arnold seine generelle Aussage in präsentischem Tempus verwendet, unterstreicht er die Möglichkeit der Wiederholbarkeit des Holocaust. Otto versteht diesen Satz nur 'naiv'. Insofern reden hier beide Figuren aneinander vorbei. Neben diesem Aneinandervorbeireden aufgrund divergierender Verfolgungsgeschichten sind die antisemitischen Äußerungen Ottos gegenüber Frau Stern in Szene 3 ebenfalls ein Signal dafür, daß auch die Opfer sich nicht bedingungslos verstehen. Wie oben festgestellt, erweist sich nicht nur die Beziehung zwischen den Opfer-Gruppen als gestört, sondern selbst die Konstellationen innerhalb der beiden Paare werden wie in Becketts Endspiel als problematisch markiert. Die Figuren sind auch in ihren Beziehungen isoliert und können keine Sicherheit finden. Diese Isolation, in der sich das Opfer befindet, läßt ein so großes Bedürfnis nach menschlicher Nähe entstehen, daß es sich lieber den Sadismen des Täters ausliefert, als allein zu bleiben: LOTTE Geh nicht ran ARNOLD nimmt den Hörer ab Sonst ruft ja keiner an. Hallo, hier Arnold Stern (II, S. 55).
Ich werde an anderer Stelle versuchen zu zeigen, inwieweit Lotte Sterns Telefonzellen-Monolog auf die 'Redeweise' der Überlebenden beziehbar ist; die Figur will zwar die Erfahrung der 'Vernichtung' mitteilen, stößt damit aber auf Desinteresse und an die Grenzen der Erzählbarkeit.29 Es ist charakteristisch für Jubiläum, daß der dramatische Höhepunkt des Stücks durch einen Monolog gebildet wird. Die Tendenz zur Monologisierung ist ein wesentliches strukturelles Merkmal von Jubiläum und ein wichtiges Verfahren Taboris, auf das Bedürfnis der Figuren und die Unmöglichkeit, mit ihrer Rede jemanden zu erreichen, hinzuweisen. Auch stattet Tabori seine Opfer in Jubiläum mit den für Überlebende typischen psychischen Symptomen aus. Vor allem der traumatische Zwang, der 29
Vgl. den Abschnitt "Allegorisierung" in meinen Beitrag "Der Tod der Jüdischen Frau" in diesem Band.
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Vergangenheit zu gedenken und die Identität vollständig von der erlittenen Verfolgung her zu definieren, gehört hierzu: "HELMUT Ich rieche Gas. LOTTE Daran gewöhnt man sich" (II, S. 73). "Shoah ist", wie Tabori 'den Juden1 in Weisman und Rotgesicht sagen läßt, "immer gleich um die Ecke" (II, S. 227). Die Opfer leben lediglich in der Vergangenheit bzw. in der Gegenwart, sofern sie die Spuren von Verfolgung und Vernichtung trägt. Besonders deutlich läßt sich diese Fixierung auf die Spuren erlebter Katastrophe an Szene 2 zeigen. Arnolds Erzählung weckt Assoziationen zu Taboris 'Berlin-Zeit' Anfang der dreißiger Jahre.30 Die Figuren erinnern sich an den Tag ihres Kennenlernens, der mit dem Tag der Machtübergabe an Hitler zusammenfiel: ARNOLD [...] Musik Arnold tanzt Der unvergeßliche Delphi-Palast in der Kantstraße, an jedem Tisch ein Telefon, dein Bubikopf, dein Pepitakleid mit dem weißen Pikeekragen. Darf ich bitten, sagte ich verwegen und nahm dich im Sturm. LOTTE Und tratst mir auf die Hühneraugen. Telefon klingelt (II, S. 54).
Die Szene ist klimaktisch angelegt; sie bezieht ihre Spannung aus kontrastiven Elementen. Auf der einen Seite steht der Versuch Arnolds, die Erinnerung an das erste Treffen mit Lotte durch seine pathetische Erzählung zu aktivieren, andererseits wird dieser 'Erzählfluß' wiederholte Male durch die antisemitischen Anrufe Jürgens unterbrochen. Auf das mediale In-Beziehung-Treten von Täter und Opfern folgt am Ende der Szene das persönliche Aufeinandertreffen, das mit dem Pistolenschuß Jürgens endet. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten richtet sich auf die Reaktion des Opfers, das dem Täter das Wort nicht verbieten kann, weil es Mitleid für ihn empfindet: LOTTE Wer war das? ARNOLD Das arme Schwein. LOTTE Schon wieder? ARNOLD Laß ihm doch den Spaß (II, S. 54).
Die in Szene 2 etablierte Herr/Knecht-Konstellation präfiguriert den Grundkonflikt von Taboris 1987 uraufgeführter Hitler-Farce Mein Kampf. Wie Arnold Stern reagiert Schlomo Herzl mit "mütterlichem Masochismus" (vgl. II, S. 162) auf den Peiniger; auch Herzl versucht, mit der Macht des Wortes liebevoll-besänftigend auf Hitler einzuwirken, muß aber am Schluß des Stücks 30
Zu den autobiographischen Bezügen im Text vgl. Ohngemach: Taboris Theaterarbeit (Anm. 5), S. 37ff.
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verzweifelt feststellen, daß sein Rehumanisierungs-Programm beim Täter die entgegengesetzte Wirkung provoziert hat: "Ich war zu dumm zu wissen, daß manche Menschen Liebe nicht ertragen können" (II, S. 202). In Mein Kampf übernimmt Lobkowitz eine ähnliche Korrektiv-Funktion wie Lotte Stern. Zum einen versucht Lotte, Arnold mit eindringlichen Appellen vom Telefonieren abzubringen; andererseits schlüpft sie in die Rolle der Kritikerin, die Arnolds Erzählung mit ironischen Kommentaren versieht Die zeitliche Struktur, die Tabori der Szene 2 von Jubiläum zugrundelegt, ist von der Spannung zwischen Präsens und Präteritum, ihr Modus vom Wechsel zwischen Indikativ und Imperativ geprägt. Futurisches Sprechen findet in der Rede der Opfer ebensowenig Platz wie der Konjunktiv als Ausdrucksform des Möglichen und Wünschenswerten. Die Dimension der Zukunft ist vollständig ausgeblendet - Ausdruck der Traumata der Opfer, die in ihrer Geschichte 'gefangen' sind. Auch in den anderen Szenen des Textes, in denen die Opfer in Aktion treten, ist die Dominanz von Präsens und Präteritum bei Ausschaltung des futurischen Tempus vorherrschend. In der Schlüssel-Szene 8 springt das Tempus abrupt vom Präsens ins epische Präteritum ("mein Tod, ach ja, mein Tod war eine prächtige Groteske" - II, S. 71 f.), um gleich wieder in das szenisch vergegenwärtigende Präsens zu wechseln ("ich bin in einer Telefonzelle am Dom" - II, S. 72). Mit dem sofortigen Wechsel zurück ins Präsens deutet Tabori, daß ein Erzählen des Ausgrenzungs- und Vernichtungsvorganges mit konventionellen epischen Mitteln der Figur kaum möglich ist. Das In-Szene-Setzen löst die 'narratio1 als Ausdrucksform ab. Auch die Szenen 5 ("Helmut kommt aus der Nervenheilanstalt zurück") und 11 (Mitzis Erinnerungs-Spiel) lassen sich als Versuche von Überlebenden deuten, sich der alptraumhaften Vergangenheit anzunähern. Otto und Helmut beispielsweise vergewissern sich in einem Rollenspiel einer Zwangspsychiatrisierung Helmuts. Otto übernimmt dabei die Rolle des Professors, Helmut nähert sich in verschiedenen Anläufen seiner eigenen Biographie an. Ebenso kann man einzelne Passagen der Rede von Wumpf, dem Totengräber, der "seit dreihundert Jahren" (II, S. 63) Löcher gräbt, auf die Situation der Überlebenden des 'Sonderkommandos', die die Toten um ihren Tod beneiden, beziehen. WUMPF [...] Den Toten geht es gut. Nur den Toten geht es gut. Gefährdet kaum die Gesundheit. Ist ohne Schrecken. Ein Ruhetag ohne Ende, eine stille Rückkehr in den feuchten Anfang; der Kreis ist geschlossen, der Schmerz endlich vorbei, und die Freude beginnt (II, S. 63f.).31
Zu Wumpf vgl. Uberman: Auschwitz im Theater (Anm. 7), S. 100 u. 107f; Ohngemach: Taboris Theaterarbeit (Anm. 5), S. 87ff.
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Wumpf entzieht sich jedoch - anders als die anderen Figuren - einer repräsentativen Funktionszuschreibung. Er steht jenseits der Täter/Opfer-Beziehungen. Ihn ihm, der synthetischen Kunst-Figur, vereinigen sich vielmehr verschiedene intertextuelle Bezüge: die des zynischen Totenwächters, des romantischen Künstlers, des Shakespeare- und Beckett-Clowns sowie der historische Bezugspunkt 'Sonderkommando'. Will man der Lesart folgen, daß sich Referenzen von den Figuren in Jubiläum zu den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager herstellen lassen, kann man die topographische Struktur des Textes als ein im Zerfall begriffenes ehemaliges KZ-Areal deuten, das auf der Zeitebene 9831 die Funktion einer Gedenkstätte für die Opfer einnimmt. Die Gequälten von einst und heute kommen zusammen, um der Katastrophe, der sie entronnen sind, zu gedenken. Dabei sehen sie sich neuen Schändungen ausgesetzt. Die dritte Anmerkung zu Jubiläum läßt dieses Verständnis zumindest denkbar erscheinen: Verbrecher kehren für gewöhnlich an den Ort ihres Verbrechens zurück. Gelegentlich auch die Opfer (II, S. 53).
Mit dem Begriff des 'Überlebenden' läßt sich die im Text angelegte Opposition 'lebendig - tot' ebenso plausibel erklären wie der Bezug auf das Motiv des Wiedergängers und der Untoten. So haben die Geretteten der Lager nach ihren Grenz-Erfahrungen häufig die Frage gestellt, ob sie noch zu den Lebenden zu rechnen seien.
Exkurs 2: "Ich heiße Wituschka. Sonst weiß man nichts von mir." Mitzi und die Kindermorde vom Bullenhuser Damm Mitzis Erinnerungs-Monolog (Szene 11) läßt sich als Versuch verstehen, sich emphatisch und anamnetisch einer möglichen eigenen bzw. einer repräsentativen Lebensgeschichte anzunähern. Die Figur greift den nationalsozialistischen Kindermord vom Bullenhuser Damm auf und spielt ihn in einem verfremdenden Gerichtsspiel nach. Die Existenzform 'Kind' bietet Mitzi den entscheidenden identifikatorischen Anknüpfungspunkt. Ein Vergleich mit Günther Schwarbergs Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm macht deutlich, wie eng sich Tabori bei der Konzeption dieser Szene an die geschichtlichen Fakten gehalten hat. Jedoch ist für diesen Monolog, wie für Taboris Schaffen überhaupt, der Gestus des Anti-Dokumentarischen kennzeichnend.
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Mitzis therapeutisch-identifikatorischer Zugriff auf 'Geschichte1 steht der "Rhetorik historischer Faktizität" (James E. Young), dem Postulat des Dokumentartheaters nach objektiver, rational-kritischer Bewältigung des Holocaust, diametral entgegen. Mitzis Monolog wird durch ein Gespräch zwischen ihr und Arnold vorbereitet. Dieses kommt zustande, als Mitzi ein Buch zur NS-Geschichte in die Ecke wirft. Arnold, als Verkörperung jüdischer Güte, eröffnet das Gespräch mit der Frage, ob die Nichte Hilfe brauche. Die Antwort erfolgt auf sentenzartige, schroffe Weise: "Schule ist Scheiße. Hausarbeiten sind Scheiße." Um was für eine Art von Schule es sich hierbei handelt, wird nicht erwähnt. Zwar ist die Szenerie des gesamten Stücks ein "Friedhof am Rhein", doch blendet Tabori in Jubiläum oftmals verschiedene Referenzbereiche übereinander: Auf der ersten, denotativen Ebene ist "Schule" auf eine 'reale1 Lehranstalt der Bundesrepublik beziehbar, die Mitzi vor ihrem Tod besuchte; auf der Ebene des Konnotats verweist das Lexem auf die Schule vom Bullenhuser Damm als einen historischen Ort der 'Judenvernichtung1. Mitzi erscheint als ein naiv-verwirrtes Kind, das mit den vorgegebenen 'Hausaufgaben' restlos überfordert ist. Unfähig, die verschiedenen Fachbücher einer rationalen Kritik zu unterziehen, gibt sie indikativisch, ohne inneren Abstand, die 'Auschwitz-Lüge' zum Besten. Danach erzählt sie auf falsche Weise einen Judenwitz und berichtet schließlich, indem sie wiederum den Konjunktiv ignoriert, von ihrer Oma, die man habe "abschaffen" müssen, weil sie "nur noch vom Knochenbau her ein Mensch" gewesen sei (II, S. 77). Das Buch, das einerseits für das von der Schule vermittelte Wissen steht, andererseits aber auch metonymisch für das in Maßstäben von Zivilisation und Tradition denkende jüdische Volk, wird im Laufe der Szene zuerst von Mitzi zerrissen, dann zerreißen alle Spieler Bücher. Mitzis Dialog mit Arnold setzt sich fort mit einem Witz, der an verschiedenen Stellen von Tabori angeführt worden ist (vgl. u.a. II, S. 55): ARNOLD Das Thema, Mitzi? MITZI Was wissen wir über Adolf Hitler? ARNOLD Er war einsam. MITZI Das ist alles? ARNOLD Das ist viel (II, S. 76).
Auf Arnolds Stichwort "Was für Kinder?" (II, S. 77) gelingt Mitzi der Einstieg in ihr Spiel. Wie in den Kannibalen spaltet sich eine Figur in verschiedene Rollen auf und übernimmt spielend verschiedene Positionen, u.a. die der Kinder, des Staatsanwaltes und der Angeklagten. Die antagonistische An-
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Ordnung der Figuren-Identitäten (Myrtle versus Vater, Kind versus Dr. Duclik u.a.) produziert ein hohes Konflikt- und Spannungspotential. Ist der Vorspann des Monologes (Myrtle-Vater) noch dialogisch konzipiert, d.h. beziehen sich die Figuren in ihren Repliken wechselseitig aufeinander, haben die nachstehenden Repliken fast durchgängig die Form monologischer Rede. Die Szene erhält Gerichtscharakter. Die Opfer sind wie in Peter Weiss' Die Ermittlung gehalten, sachlich über ihre Erfahrungen zu berichten. Manchmal setzt die Sprache aus, die das Erlittene nicht wiederzugeben vermag. Vor allem zwei Aspekte dieser Szene sind bedenkenswert: Zum einen kann die Szene 11 als eine Art hermeneutisches Modell für Taboris eigenen Zugang zu 'Geschichte' betrachtet werden.32 Der Autor macht mit seinem MitziMonolog deutlich, daß 'Welt-Geschichte' für ihn nur über Identifikation und Empathie, nicht primär über den Weg der Aneignung von Wissen gefunden werden kann. Die 'Beschränktheit' Mitzis ist grundlegende Voraussetzung für ihre Fähigkeit, sich in das Schicksal der ermordeten jüdischen Kinder einzufühlen. Eine wichtige Voraussetzung für diesen empathischen Zugang zu Geschichte ist die Fähigkeit, sich selbst als Opfer zu begreifen. Zum anderen wird anhand der Mitzi-Szene einmal mehr deutlich, daß sich Taboris Konzept des 'sinnlichen Theaters' grundlegend von dem Konzept des Dokumentartheaters abgrenzt. Die Szene kann als Gegen-Modell zu der Auseinandersetzung mit den NS-Prozessen, wie sie in Weiss' Die Ermittlung vor allem auf einer Ebene dokumentarischer Rekonstruktion geführt wird, gelesen werden. Nicht die möglichst authentische Dokumentation eines historischen Stoffes steht für Tabori im Vordergrund, sondern die Perspektive liegt - wie im 'Spiel-imSpiel' in den Kannibalen - auf dem Prozeß der theatralen Aneigung von 'Geschichte' durch das Subjekt. Damit verlagert sich die Perspektive von einer kognitiven, moralisch-engagierten Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu einer psychologisch-theatralen Konzeption von 'Gedächtnis'.
2.3. Der Friedhof als Modell für Täter/Opfer-Beziehungen im KZ Konfiguration und Topographie in Jubiläum können also zum einen als Gedenk-Ort für die ermordeten Opfer des NS-Staates gedeutet werden, an dem sich zudem Kontinuitäten zwischen dem 'Dritten Reich' und der Bundesrepublik sichtbar machen lassen. Andererseits lassen sie sich auch auf die Situa32
Zum Zusammenhang von Individual- und Kollektiv-Geschichte bei Tabori vgl. den Beitrag "Die Inszenierung des Scheiterns" von Sibylle Peters in diesem Band.
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tion der traumatisierten Überlebenden beziehen. Ich will eine dritte Lesart ergänzen, die eine weitere Bedeutungsebene des Textes erschließt: Der Friedhof selber trägt Züge eines intakten historischen Konzentrationslagers; viele der hier vollzogenen Handlungen korrespondieren mit äquivalenten Aktionen in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Vor allem die Einheit und Hermetik des Ortes erinnern an die Semiotik einer KZ-Landschaft. Die Begrenzung des Friedhofs durch eine Mauer verweist auf die Mauern und Zäune der Lager und Ghettos; die Nervenheilanstalt, aus der Helmut zurückkommt, läßt sich auf Orte beziehen, in denen pseudomedizinische Experimente an Homosexuellen, an jüdischen Kindern (wie in der Schule am Bullenhuser Damm) oder (wie im Block 10 in Auschwitz) an Zwillingen durchgeführt wurden. Szene 6, in der Wumpf Löcher für die Leichen gräbt, erinnert an die Verbrennungsgruben und Massengräber in den Vernichtungsstätten, Mitzis Erstickungs-Tod an die Vergasungen im Zuge der 'Euthanasie1 und der 'Judenvernichtung1. Vor allem auch die Täter/Opfer-Beziehungen - so beispielsweise das wehrlose, totale Ausgesetztsein der Figuren gegenüber Jürgens sadistischer Gewalt - lassen Referenzen zu den historischen Folterstätten herstellen. Besondere Bedeutung erhält unter dieser Perspektive auch Szene 4: Die Geste des Frisierens weckt Assoziationen zu dem Schneiden von Menschenhaar vor der Vergasung, wie dies beispielsweise in erschütternder Weise von Abraham Bomba, einem Überlebenden von Treblinka, in Claude Lanzmanns Film Shoah beschrieben wird.33
2.4. Der Friedhof als Modell für die Situation der 'Zweiten Generation' Es wurde bereits angedeutet, daß Arnold auch als Repräsentant der 'zweiten Generation' nach dem Holocaust verstanden werden kann. Diese Zugangsweise will ich abschließend anhand der Schlußszene des Stücks verdeutlichen. Meine These ist, daß Tabori in Szene 12 einerseits auf die spezifische Verlusterfahrung der Kinder von Holocaust-Opfern anspielt, vor allem auf die Unmöglichkeit für die 'Nachgeborenen', eine 'natürliche1 Vater/Sohn-Beziehung aufrechtzuerhalten. Daß der Autor aber andererseits dadurch, daß er in der Szene spielerisch divergente Muster aufgreift (ironischer Verweis auf Richard Wagner; Anspielungen auf Shakespeares Hamlet und die Auschwitz-Lüge), in persiflierend-distanzierter Weise mit diesem Thema umgeht. Vgl. Claude Lanzmann: Shoah. München 1988, S. 153-159.
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George Tabori lenkt mit der Schlußszene die Perspektive auf die Beziehung Arnold/Cornelius Stern und verdeutlicht mit dem Auftritt des Geistes noch einmal den Wunsch der traumatisierten Opfer nach Befreiung von den Alpträumen der Geschichte, die Sehnsucht nach einem gewöhnlichen Leben, das nicht mehr von dem Kainsmal der Vernichtung gezeichnet ist. Der Geist von Arnolds Vater erscheint - anders als in Hamlet, wo der Auftritt des Geistes den 'point of attack' bildet - erst in der Schlußszene von Jubiläum, kurz nachdem Otto, Helmut und Lotte begonnen haben, seiner mit Kerzen, Musik und Photographien zu gedenken. Dem Geist kommt in Jubiläum keine handlungsrelevante Bedeutung mehr zu (alle Katastrophen sind bereits eingetreten); er fungiert als eine Art 'KZ-Godot', über den die illusionären Träume und Wunschprojektionen des Nachgeborenen, aber auch seine Verzweiflung sichtbar gemacht werden können. Wie die Figuren seines frühen Auschwitz-Stücks - Tabori selber hatte Die Kannibalen als "Schwarze Messe"34 bezeichnet - beschwören auch die Opfer in Jubiläum die Gespenster der Vergangenheit. Im Gegensatz zur Gesellschaft, an deren Rand sie abgeschoben wurden, versuchen die Opfer aktive 'Erinnerungsarbeit' zu leisten: die 'Geburtstagsfeier' für Cornelius Stern vollzieht sich als Gedenken an den Vater und an die Lücke, die durch sein gewaltsames Verschwinden entstanden ist: LOTTE [...] Arnold hört auf zu dirigieren. Die Musik verstummt. Als Junge trampte er den ganzen Weg von Lodz. In Fulda verlief er sich. Fragte einen Bauern: Wie komme ich nach Bayreuth? Und der Bauer sagte ... Üben mein Bester, immer schön üben. Der Geist von Arnolds Vater erscheint (II, S. 83f.).
Der Geist befindet sich von nun an auf der Bühne, wird aber anders als bei Shakespeare von den anderen Figuren zunächst nicht wahrgenommen. Sukzessive werden einige Stationen aus dem Leben von Cornelius Stern aufgerollt. Dieser wurde "heute vor himdertfunfundzwanzig Jahren" (II, S. 83), also 1858 geboren. Er, der Wagner-Liebhaber, arbeitete sich zum Heldentenor in Bayreuth empor, wo er in der Rolle des Parsifal auftrat. Das Engagement erhielt er allerdings nur, weil er gegenüber dem antisemitischen "Meister" seine jüdische Herkunft verleugnete: LOTTE Und als der Meister gerade seinen Vertrag unterschreiben wollte, sein Federhalter schwebte über der gestrichelten Linie, unterbrach er sich und fragte: "Ach übrigens, Stern, sind Sie Jude?" - "Nicht unbedingt", antwortete sein Vater. Das hat er sich nie verziehen (II, S. 84). 34
Tabori: Unterammergau, S. 37.
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Arnold berichtet nicht ohne Stolz von weiteren Stationen seines Vaters als Opernsänger: Es werden München und Paris (der letzte, durch ein Photo dokumentierte Ort vor seiner Deportation nach Auschwitz) genannt. Schließlich meldete sich Cornelius Stern - mittlerweile über 80-jährig - 1943 bei der Gestapo und ließ sich abtransportieren, obwohl er vielfache Möglichkeiten zur Flucht gehabt hätte: "Einen Parsifal verhaftet man nicht" (II, S. 85), soll er der Gestapo gesagt haben. Nachdem die Figuren die Verfolgten-Biographie rekonstruiert haben, ändert sich die Perspektive: die Szene spitzt sich vollends auf den Vater/SohnKonflikt zu. Arnold berichtet davon, wie er sich seit Jahren wünscht, daß sein Vater zurückkommen möge. Am Ende von Jubiläum ereignet sich scheinbar wirklich jene "wundersame Heimkehr" (II, S. 85), die Arnold jeden Abend seit der Deportation herbeigesehnt hat. Der Geist von Arnolds Vater schenkt seinem Sohn einen Laib Brot, offenbar zum Zeichen dafür, "daß man in Auschwitz Brot gebacken hat und keine Väter" (II, S. 85). Das Stück endet, wie es begonnen hat, mit einem makabren Witz: "Schmeckt komisch", meint Mitzi, nachdem sie ein Stück des Auschwitz-Brotes verzehrt hat. Arnold erwidert darauf: "Wir sind halt komische Leut'" (II, S. 86). Das imaginierte Gespräch zwischen Arnold und seinem Vater kann wie die Ramaseder/Onkel-Szene in den Kannibalen als ein weiterer Versuch Taboris gedeutet werden, in einen fiktiven Dialog mit dem in Auschwitz ermordeten Vater zu treten. Wie "Onkel Täbori" (I, S. 52) verweist "Cornelius" (II, S.85) als sprechender Name auf die Abwesenheit des Vaters, Cornelius Täbori. Täbori rückt die Verlusterfahrung Arnolds und die Versuche der Figur, dem Wissen auszuweichen, daß der ermordete Vater unwiederbringlich verloren ist, in den Mittelpunkt der Szene. Dieser Verlust wird als doppelter markiert. Zum einen hat die Verfolgung des Vaters zu einer Aufhebung der Rollen in der Vater/Sohn-Beziehung geführt: ARNOLD Seit vierzig Jahren warte ich auf seine wundersame Heimkehr, jeden Abend, zu dieser Stunde, meiner besten Zeit. Es klingelt, er steht vor der Tür, ich verschlucke einen Schrei, er sagt: "Du bist auch nicht jünger geworden, Sohn." Er hat sich verändert, aber man erkennt ihn noch, besonders die Ohren, und er reicht mir ein Geschenk. "Hast du die Bücher abgestaubt?" - "Ja, Vater." - "Hast du die Schallplatten geordnet?" - "Ja, Vater." - "Übst du auch jeden Tag?" - "Ja, Vater." - "Es riecht nach Kaffee." - "Ja, Vater" (II, S. 85).
Mit naivem Gestus äußert Arnold den Wunsch, wieder in die Rolle des Sohnes schlüpfen zu dürfen, der einen Vater hat, der ihn versorgt und erzieht. In dieser Situation, in der dem Sohn der Vater durch die Verfolgung genommen wurde,
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sehnt sich der erwachsene Sohn danach, daß ihm der Vater mit Geschenken zeigt, daß er ihn nicht vergessen hat, und daß es zu Hause - wie in Kafkas Heimkehr - nach Kaffee (und eben nicht nach Gas - vgl. II, S. 73) riecht, daß heißt: daß Normalität und Alltag wieder möglich sind. Arnold imaginiert eine Wiederherstellung bzw. Reparatur der seit der Deportation abrupt abgebrochenen und pervertierten Beziehung: seit vierzig Jahren ist 'das Kind' um den Vater besorgt, betet für ihn, 'beschenkt' ihn mit Wagner-Musik und hofft (wie im Wunschtraum der Vater) darauf, daß alles wieder 'in Ordnung' kommt. Tabori macht zum anderen im Text deutlich, daß für Arnold mit dem Verlust des Vaters auch der Verlust einer spezifischen 'Kultur der Väter' verbunden ist. Cornelius Sterns Biographie steht exemplarisch für das Leben der assimilierten Juden im Deutschen Reich und für das letztliche Scheitern der Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose. Die vollständige Absorption Cornelius Sterns von der deutschen Kultur symbolisiert zum einen die lakonisch-preußische Denk- und Redeweise, sein (erfolgreiches) Bestreben, dem Sohn die Sekundärtugenden 'der Deutschen' zu vermitteln; zum anderen seine fanatische Wagner-Verehrung. Tabori deutet vor allem durch die Schilderung von der Verhaftung Cornelius Sterns an, daß der Traum von der jüdischen Assimiliation in die deutsche Kultur zerplatzt ist: die totale Identifikation der Figur mit der Rolle des Parsifal nahm ihm den Blick für die realen politischen Begebenheiten; der Gedanke, als Jude vor der Gestapo erfolgreich die Rolle des deutschen Helden spielen zu dürfen, entpuppte sich als verhängnisvolle Illusion. Arnold begreift nicht die Tragik dieser Situation, in der der Vater den Häschern die Verfolgung erleichterte. Er reproduziert - anders als Ramaseder in den Kannibalen, der offen seinen Wunsch nach Vater-Mord ausdrückt (vgl. I, S. 40) - lediglich die Verhaltensmuster, die ihm Cornelius Stern vorgelebt hat. Er versucht den Vater, in dessen Schatten er gestanden hat ("Der Schatten hinter ihm bin ich" - II, S. 84), durch eine noch größere Verehrung Wagners zu übertreffen. Tabori ironisiert Arnold in Jubiläum auf verschiedene Weise, beispielsweise indem er ihn mit einer Redeweise ausstattet, die im öffentlichen Holocaust-Diskurs von den Leugnern der Massenvernichtung vertreten wird. Dies ist wahrlich eine groteske Situation: die einzige Möglichkeit, daß der Vater zurückkehren kann, ist, daß die Lügner die Wahrheit sagen: ARNOLD [...] Letzte Woche hab ich in der Zeitung gelesen, daß man in Auschwitz Brot gebacken hat und keine Väter. HELMUT Und solchen Dreck glaubst du? ARNOLD Dreck kann auch wahr sein. Es ist halt ein wahrer Dreck, die dreckige
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Wahrheit, aber ich bete jede Nacht, daß man in Auschwitz Brot gebacken hat. Der Geist von Arnolds Vater kommt näher. Arnold sieht ihn, verschluckt einen Schrei (II, S. 85).
Die Erlösungssehnsucht Arnold Sterns wirkt verzweifelt, lächerlich und zugleich bedrückend, da die Rezipienten um die irreversiblen historischen Ereignisse wissen. Am Ende erscheint der Geist zwar - Tabori entschied sich "drei Tage vor der Premiere",35 die Rolle in Bochum selbst zu spielen - aber der Schluß erinnert an das offene Ende von Die Kannibalen und Mein Kampf, die Konflikte bleiben ungelöst, die Figuren sind zum Weiterleben (bzw. zum Weitersterben) verdammt. Nachdem der 'irreale' Vater-Geist seinem Sohn ein 'reales' Geschenk vermacht hat, kommt es zur Essens-Szene, die an das Passah-Fest erinnert: Arnold bricht das Auschwitz-Brot, das ihm der Vater-Geist überantwortet hat. Daß Mitzi das Brot "komisch" schmeckt, dürfte weniger damit zu tun haben, daß sie mit dem ungesäuerten jüdischen Brot nicht vertraut ist. Der merkwürdige Geschmack ist vielmehr ein Indiz dafür, daß in Auschwitz doch Menschen 'gebacken' wurden. Ich lese das Einverleiben des Brotes ähnlich wie die Schlußszene in Mein Kampf (Schlomo ißt unter heftigem Weinen das verbrannte Huhn Mizzi) als quasi-kannibalistischen Akt: Huhn und Brot stehen als szenische Metaphern für die in den Krematorien verbrannten Menschen.36 Indem die Opfer essen, stärken sie sich für die Zukunft und ermöglichen so das physische Überleben. Der sich im Heimkehrer-Traum Arnolds artikulierende Wunsch nach Befreiung von der Vergangenheit erfüllt sich also nicht. Der Vater kommt nicht als Rache-Geist zurück (wie in Hamlet), auch nicht als 'Parsifal', um zu bestätigen, daß die Massenvernichtung nicht stattgefunden hat. Der Geist von Arnolds Vater betritt als entstellter, als 'beschämender Geist' die Bühne; er erinnert an die 'gespenstischen1, ausgemergelten Leiber der KZ-Häftlinge bzw. an ihre in Rauch aufgelösten Körper: "Warum der Geist, der natürlich an Hamlets Vater erinnert, nicht wie die anderen Toten leibhaft auftritt, sondern eben als Geist, wird nicht mitgeteilt. Man kann es sich denken: er ist vergast und verbrannt worden und besitzt keinen Körper mehr."37
35 36
37
Ohngemach: Taboris Theaterarbeit (Anm. 5), S. 100. In den Kannibalen integriert sich Schrekinger, der KZ-Wächter, problemlos als Hähnchenbrater in die Nachkriegsgesellschaft; in Jubiläum ist es Jürgens Vater, der nach 1945 zum Bäcker avanciert ist: 'Leib' und 'Laib1 werden nach dem Krieg für die 'Endloser' zu austauschbaren Objekten der Vernichtung. Georg-Michael Schulz: George Tabori und die Shoah. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Theatralia Judaica 11, Nach der Shoah. Tübingen 1996, S. 148-163, hier S. 157.
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Ob sich das Ende von Jubiläum tatsächlich im Sinne einer religiös anmutenden Utopie deuten läßt, ob man wirklich (wie Iwona Uberman dies tut)38 davon sprechen kann, daß Tabori mit dem "Versöhnungsritual" am Schluß des Textes "seinem Glauben an diefriedlicheZukunft Ausdruck" geben will - ein solches Verständnis muß angesichts der Überlagerung des Passah-Mahles durch die Topoi der Vernichtung entschieden bezweifelt werden.
2.5. Jubiläum: Zum Gedenken an die vergessenen Opfer Die Erfahrung, daß sich verschiedene Zugangsweisen zu Jubiläum entwickeln lassen, ist kein Indiz dafür, daß Taboris Text beliebig gedeutet werden kann. Vielmehr zeigt sie, daß sich die dramatischen Zeichen auf verschiedene Anspielungsbereiche beziehen lassen, wovon der Holocaust ein dominanter ist. Jubiläum läßt sich als Kultur-und Zitate-Landschaft lesen, in der Tabori verschiedene Intertexte aufeinander bezieht: Kennzeichnend für das dramatische Verfahren, das Tabori verwendet, ist das eklektische Aufgreifen von divergenten Mustern, die sich gegenseitig konturieren, überlagern und relativieren. Dabei ist besonders Taboris spielender Umgang mit Kultur-Zitaten hervorzuheben, der für seine Rezeption fremder Texte und Stoffe charakteristisch ist. Tabori verpflichtet sich nicht einer einzigen Tradition, sondern verschiedene Muster und Konstellationen werden in veränderter, häufig komischgrotesker Weise aufgegriffen, um damit das Thema - das Trauma der Erinnerung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung - zu bearbeiten. Verweise finden sich in Jubiläum - wie festgestellt - unter anderem auf Shakespeare, Brecht, Beckett und Peter Weiss. Tabori statuiert wie in den Kannibalen ein anthropologisches Modell von Gewalt, Verfolgung und Vernichtung. 'Zeit' wird in Jubiläum als immerwährende Zeit der Erniedrigung begriffen, als endlose Wiederkehr der Tortur. Nicht die Chronik, das Prinzip der Sukzession, liegt der szenischen Struktur des Textes zugrunde, sondern der Kreis, das Jubiläum und seine runden Zahlen, das Prinzip von Wiederholung und Variation von Täter/Opfer-Beziehungen jenseits historischer Einmaligkeit: ARNOLD [...] Die Zeit hat Sinn für Formen, die Zeit hat, wie die Musik, die höchste Form der Eleganz (II, S. 85).
38
Uberman: Auschwitz im Theater (Anm. 7), S. 111.
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Tabori zeigt in Jubiläum, daß das Gedenken an die Verbrechen des 'Dritten Reiches1 ein gespaltenes ist. Am Beispiel der unterschiedlichen Bedeutung des '(Be-)Grabens' läßt sich das Verhältnis von Tätern und Opfer zur Gedenkpraxis verdeutlichen: Die Täter versuchen, die Erinnerung an die Opfer zu planieren. Der Akt des Begrabene, wie er von Wumpf und Jürgen praktiziert wird, steht dafür, daß den Opfern des Nationalsozialismus das Totengedenken verweigert wird. Mit der Betonierung der Toten soll die Erinnerung zugeschüttet und vergessen gemacht werden: LOTTE Der Bagger kommt im Morgengrauen. Am Montag wird der Spielplatz betoniert. Bald hüpfen die Kinder auf uns herum (II, S. 73).
Die Opfer wehren sich gegen das Planieren der Erinnerung, indem sie ihm eine individuelle 'Gedenk-Praxis' entgegensetzen. Anders als in Graffiti,^ Taboris Gedicht von 1990, kommt es aber nicht zu einem offenen Aufstand der Opfer gegen ihre Peiniger. Für die Verfolgten bedeutet 'Graben' vor allem den Zwang zum Wühlen in der Vergangenheit, zum traumatischen Eingedenken, zur Erinnerung an die Katastrophe. Die für Jubiläum entwickelten vier Zugangsweisen können auch an den Kannibalen erprobt werden; dies zeigt, in welch engem thematischen Zusammenhang beide Stücke stehen. Im Vergleich mit den Kannibalen fällt dabei auf, daß der Aspekt der 'zweiten Generation1 in Jubiläum nicht mehr von zentraler Bedeutung ist. Daß es sich bei den Interaktionen auf dem 'Friedhof um Täter/Opfer-Beziehungen in einem historischen KZ handelt, wird lediglich angedeutet. Ich halte es für sinnvoll, Die Kannibalen vor allem unter den Perspektiven zu verstehen, die ich mit den Lesarten 2, 3 und 4 entwickelt habe ('Friedhof als Modell für die Situation der Überlebenden, für Täter/Opfer-Beziehungen im KZ oder für die Situation der 'zweiten Generation'). Für Jubiläum hingegen scheint es mir besonders produktiv zu sein, sich auf die Lesarten l ('Friedhof als Modell mißlungener 'Bewältigung' der Vergangenheit) und 2 zu konzentrieren. Tabori zeigt in Jubiläum wesentlich deutlicher als in den Kannibalen, daß die Vergangenheit nicht abgeschlossen ist, sondern in vielfacher Weise in die Gegenwart fortwirkt. Eine wichtige Funktion von Literatur war stets, den Verlierern der Geschichte, den Ausgegrenzten und Namenlosen, ein Gedächtnis zu verleihen. Indem er mit seinen Friedhofs-Monologen die niemals endenden Leiden der 39
Ein Verweis auf Graffiti findet sich in meinem Beitrag "Der Tod der Judischen Frau" in diesem Band, S. 223.
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Gemarterten in den Mittelpunkt rückt, verweist Tabori auf eine Leerstelle in der bisherigen theatralen Beschäftigung mit dem Holocaust. In dieser unsentimentalen Hinwendung zu den Opfern ist eine wesentliche Bedeutung von Jubiläum zu sehen, nicht in einer luziden Analyse der NS-Gewaltverbrechen und ihrer Folgen für die Gegenwart der achtziger Jahre. Eine solche Analyse bleibt in Jubiläum, in Taboris Werk insgesamt, aus.
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Der Tod der Jüdischen Frau. Bertolt Brechts Einakter des Exils, 'nach Auschwitz' bearbeitet von George Tabori1
George Tabori hat die zentrale Bedeutung von Bertolt Brecht für seinen eigenen Werdegang als 'Theatermacher' immer wieder herausgestellt. Während der gemeinsamen Hollywood-Zeit soll es zum 'Erweckungserlebnis' gekommen sein: 1947 traf ich Brecht im San Fernando Tal, auf der anderen Seite der Hügel von Hollywood. Im Schneidersitz saß er auf dem Fichtenboden, trug luxoriöse Jeans und seine Zigarre stank wie die Pest. Er sprach nur zwei oder drei Sätze mit mir und verschwand dann mit einer schwedischen Blondine. Wir trafen uns noch einmal, im Hause von Charles Laughton in Pacific Palisades, einer Villa, die langsam, unmerklich ins Wasser absank. Umgeben von unschätzbaren vorkolumbianischen Skulpturen, fast alles winzige Männer mit enormen Penissen, saßen dort diese zwei großartigen Gammler, eine Idealbesetzung für Estragon und Wladimir, und übersetzten den Galileo Galilei. Ich half ein wenig bei der berühmten Selbstrechtfertigungsrede, und dieses Erlebnis veränderte mein Leben. Diese beiden Tippelbrüder haben mich durch ihr bloßes Dasein, nicht durch Überredung, von der Prosa weg zum Drama angestiftet, was ich ihnen bis heute nicht verziehen habe.2
Wie auch immer diese Aussage zur angeblichen Mitarbeit Taboris am Galileo Galilei zu bewerten ist - neben Samuel Beckett kann Bertolt Brecht als die zweite große Leitfigur Taboris angesehen werden. Warum ihn ausgerechnet dieser "Gammler" so beeindruckte, erklärt Tabori ebensowenig wie im Falle von Beckett.3 Taboris schriftlich fixierte Überlegungen zu Brecht kreisen mehr um dessen Aura als um Brechts Theaterkonzeption oder dessen dramatische Werke. Ein möglicher Zugang zum dramatischen Werk Taboris läßt sich über den Weg der intertextuellen Bezüge erschließen. Ich will daher den Blick im folEin herzlicher Dank gilt Gundula Raabe und Hans-Harald Müller sowie Frithjof Trapp (alle Universität Hamburg) für die hilfreichen Gespräche. - Im Anhang zu diesem Beitrag findet sich eine Synopse, in der die wesentlichen, von Tabori vorgenommenen Veränderungen markiert sind. Tabori: Unterammergau, S. 13f. Vgl. meinen Beitrag "Friedhofs-Monologe" in diesem Band.
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genden auf die Bearbeitung eines Einakters von Brecht durch Tabori lenken, um mich der Frage nach thematischen und ästhetischen Charakteristika von Taboris Dramenwerk und auch der nach seinen Arbeitsstrategien zu nähern. Es geht mir um die Aufnahme von Brechts Die jüdische Frau in Taboris Jubiläum, Taboris Gedenkstück an den '30. Januar 1933' von 1983. Die Brecht-Vorlage wurde 1944 innerhalb des Exildramas Furcht und Elend des Dritten Reiches veröffentlicht.4 Dieser Einakter erscheint als Szene 8 in Jubiläum in grundlegend veränderter Konzeption wieder.
l. Zur Konzeption von Brechts Die jüdische Frau Die jüdische Frau gliedert sich in einen Vorspann und drei Hauptteile, die durch deutliche Zäsuren im Text voneinander getrennt sind.5 Der Vorspann besteht neben der Überschrift aus einem Motto, einem für Brecht typischen epischen Mittel, das den Leser vorinformieren soll und das den historischen Bezug des Stücks (Erlaß der 'Nürnberger Rassegesetze' von 1935) ausweist: Und dort sehn wir jene kommen Denen er ihre Weiber genommen Jetzt werden sie arisch gepaart. Da hilft kein Fluchen und Klagen Sie sind aus der Art geschlagen Er schlägt sie zurück in die Art (S. 385).6
Auffällig ist das lange, stumme Einleitungs-Spiel: die Figur wird zuerst als Bild 'ausgestellt'; ihre Gesten exponieren bereits den Grundkonflikt, den Judith Keith im folgenden zu lösen hat: die Frage nach der Stabilität der Beziehung zu ihrem Mann Fritz Keith angesichts der sich zuspitzenden politiWalter Busch: Bertolt Brecht: Furcht und Elend des Dritten Reiches. Frankfurt/M. u.a. 1982, S. 6; Vgl. auch Jan Knopf: Brecht-Handbuch Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1980. Dem Brecht-Handbuch sind, wenn nicht anders vermerkt, die nachstehenden Angaben im Text zur Entstehungsgeschichte entnommen. Zäsuren bilden jeweils die Regieanweisungen. Der erste Teil wird mit dem Satz "Sie hängt ein und ruft keine Nummer mehr an" beendet; Teil 2 beschließt das Auftreten von Fritz Keith ("Sie hält inne"); am Ende von Teil 3 steht die Geste des Mantelreichens. Zitate zu Die jüdische Frau werden im fortlaufenden im Text nachgewiesen; sie folgen Bertolt Brecht: Stücke 4. Berlin u. Weimar, Frankfurt/M. 1988 (= Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u.a. Band 4), S. 385-390. Taboris Dramen werden zitiert aus Theaterstücke I/II.
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sehen Konstellation, der antisemitischen Maßnahmen des 'Dritten Reiches'. Die Fabel des Einakters läßt sich wie folgt beschreiben: Eine in 'Mischehe' lebende Jüdin aus gehobenen Kreisen ist entschlossen, Frankfurt im Herbst 1935 zu verlassen. Sie befindet sich allein in ihrer Wohnung und packt ihre Koffer für die Flucht nach Amsterdam. Das Hauptmotiv für ihre Emigration ist die zunehmende Isolation, in die sie durch die diskriminierenden Maßnahmen des Systems, aber auch durch das abweisende Verhalten ihrer Mitwelt, gedrängt wurde.7 In vier 'strategischen' Telefonaten, an deren Ende das Verbrennen ihres persönlichen Telefonbuchs steht, bemüht sich die Jüdin, die sozialen Beziehungen für ihren 'arischen' Mann zu erhalten, der nach ihrer Flucht dazu selbst nicht in der Lage sein wird (Abschnitt 1). Im Anschluß an diese Telefonate studiert Judith Keith in fünf Anläufen Redesituationen ein, in denen sie Gespräche mit ihrem Mann über die bevorstehende Emigration simuliert. Diese Reden sind einerseits charakterisiert durch die Angst vor einer direkten Aussprache und einer womöglich abweisenden Reaktion ihres Mannes. Andererseits zeigen sie aber auch einen Akt der Selbstbewußtwerdung: Nach mehrfachen Selbstbezichtigungen wird der Protagonistin der lügenhafte Charakter ihrer Beziehungen und die Mitschuld von Fritz Keith an ihrer Lebenssituation bewußt (Abschnitt 2). Nach dieser Probephase kommt es mit der Rückkehr des Gatten zu einer direkten Aussprache zwischen den Ehepartnern. Dabei werden alle negativen Befürchtungen noch übertroffen: Fritz Keith hält seine Frau nicht von der Emigration zurück. Er bagatellisiert ihre Situation, äußert zahlreiche Fehleinschätzungen über das Regime und überläßt schließlich Judith Keith ihrem Schicksal. Indem er seiner Frau am Ende ihren Mantel überreicht, avanciert er zum symbolischen Handlanger bei ihrer Vertreibung (Abschnitt 3). In thematischer Hinsicht stehen bei Brecht zwei Aspekte im Vordergrund: Zum einen soll der verbrecherische Charakter des faschistischen Systems entlarvt werden - eines Systems, das "die Herrschaft des Gegenmenschen [...] 7
Claude Hill gibt als Hauptmotiv für Judith Keiths Flucht an, daß sie "ihrem Mann weitere Schikanen [...] ersparen und seine Stelle in der Klinik [...] retten will". Ich halte dies für ein zu vernachlässigendes Motiv. Die folgende Aussage der Figur macht dies deutlich: "Ich packe, weil sie dir sonst die Oberarztstelle wegnehmen. Und weil sie dich schon nicht mehr grüßen in deiner Klinik und weil du nachts schon nicht mehr schlafen kannst. Ich will nicht, daß du mir sagst, ich soll nicht gehen. Ich beeile mich, weil ich dich nicht noch sagen hören will, ich soll gehen" (S. 388) Die Jüdin packt ihre Koffer nicht vor allem aus Fürsorge, sondern aufgrund ihrer Isolation, die von ihrem Mann mitverursacht ist. Die Fürsorge, die sie in Anbetracht der Flucht entwickelt, ist ein letzter Ausdruck ihrer Liebe zu ihrem Mann, nicht aber der eigentliche Fluchtgrund. - Claude Hill: Bertolt Brecht. München 1978, S. 90.
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ausdrücklich als Prinzip statuiert"8 und dessen Funktionsweisen Gewalt, Anpassung und Verstellung auf allen gesellschaftlichen Ebenen sind. Die Lüge als Ausdruck dieser Verstellung macht dabei selbst vor der Privatsphäre der einzelnen Menschen nicht halt: Eine solche kann im 'Dritten Reich' nur noch sehr bedingt aufrechterhalten werden. Insofern reiht sich der Einakter thematisch in Furcht und Elend des Dritten Reiches ein: In ihrer seriellen Kompositionsform spiegeln die Einakter von Furcht und Elend die Vereinzelung der Menschen in der faschistischen Diktatur [...]. Was gezeigt werden soll, ist nicht die Arbeiterbewegung und ihr Widerstand, sondern in erster Linie die Art und Weise, wie sich das Hitlersystem durch Terror nach innen und außen am Leben erhält.9
Zum anderen zeigt Brecht das Zerbrechen eines 'bürgerlichen' Bewußtseins: Judith Keith war, bis sich zwei Wochen zuvor die Bekannten von ihr abwendeten, in einen bürgerlichen Honoratiorenkreis einbezogen; gelegentliche Bridge-Abende bildeten die Grundlage für die gemeinsamen höflich-distanzierten Kontakte. Deutliches Kennzeichen von Brechts Aufklärungsabsicht aus marxistischer Perspektive ist Judith Keiths zunehmende Erkenntnis ihrer Funktion im faschistischen Staat. Das 'Bourgeoisweib1 (vgl. S. 388) hatte das System selbst lange Zeit mitgetragen, hatte die Aufteilung in "wertvolle Menschen und weniger wertvolle" (ebd.) akzeptiert: Jetzt haben sie eine neue Einteilung dieser Art gemacht und jetzt gehöre ich zu den Wertloseren. Das geschieht mir recht (ebd.).
Indem Brecht Judith Keith die enge Verstrickung in den Unrechtsstaat erkennen läßt, geht er über die Darstellung der Figur als bloßes Opfer hinaus. Die Erkenntnis der 'bürgerlichen Maske' erscheint als Alternative zur Anpassung und als erster Schritt zu einer möglichen Resistenz gegen das von der Lüge bestimmte System. In formaler Hinsicht verhindert Brecht in Die jüdische Frau die vollständige Identifikation des Zuschauers mit der Figur. Dieser wird zum Teilnehmer eines Rätselspiels, bei dem er die für das Verständnis der Telefonate notwendigen Informationen rekonstruieren muß. Brecht vergibt nur selektiv Informationen: die Repliken von Judith Keiths Telefonpartnern werden vorenthalten; der Rezipient weiß, wie Kommunikation unter den Bedingungen nationalsozialistischer Ausgrenzung und Verfolgung angelegt ist, und
Jean Amory: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977, S. 48. Busch: Brecht (Anm. 4), S. 37.
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kann die fehlenden Dialogpartien ergänzen. Somit wird Kommunikation selbst zum Thema des Einakters. Die Figur wird weitestgehend auf ihr Sprachverhalten reduziert. Dem Zuschauer wird die Gelegenheit gegeben, die für das System charakteristischen lügenhaften Beziehungen in ihrer sprachlichen Manifestation zu erkennen. Ein solcher Erkenntnisgewinn des Zuschauers, der die Denkweise der Figur als falsch entlarvt, indem er die Sprache und die Gesten Judith Keiths ideologiekritisch betrachtet, ist für Brecht in seiner Konzeption des 'epischen Theaters1 entscheidend und nicht primär die Provokation von Gefühlsregungen bei den Zuschauern bzw. die Enveckung von Mitleid (im Sinne der Wirkungspoetik Lessings). Welche Struktur- und sinnverändernden Eingriffe nimmt Tabori bei seiner Bearbeitung von Brechts Einakter vor? Wie sind seine Bearbeitungsstrategien auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Entstehungszeiten beider Texte zu bewerten? Diese beiden Fragen stehen im Zentrum meiner Überlegungen. Meine Hauptthese lautet: Tabori revidiert mit dem Wissen um 'Auschwitz1 die Vorlage. Zeigt Brecht das 'Davor' der nationalsozialistischen 'Judenvernichtung', geht es Tabori in Szene 8 von Jubiläum darum, die für die Opfer traumatischen Spätfolgen des Holocaust 'auf die Bühne' zu bringen. Die Vergangenheit des 'Dritten Reiches' wird in die Gegenwart verlängert und als prinzipiell unabgeschlossen und wiederholbar ausgewiesen. Brechts sinnstiftende marxistische Perspektive ist für Taboris Bearbeitung der Szene irrelevant. Zu meinem Vorgehen: In einem Vorspann weise ich auf zwei Aspekte hin, die für das Verständnis der Texte wichtig sind: erstens die Frage nach einer gemeinsamen Welt-Erfahrung beider Autoren, wobei vor allem Taboris Wahrnehmung von Brecht als Opfer' angesprochen wird; zweitens die nach den Entstehungszeiten beider Texte. Diese extratextuellen Bezugsebenen werde ich dann zugunsten der textuellen Ebene vernachlässigen. Ich frage nach den Tendenzen von Taboris Bearbeitung und nach ihrer Bedeutung für Jubiläum.™
2. "Kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm" Taboris Wahrnehmung von Brecht als Opfer Mußte Tabori als 'rassisch' Verfolgter vor den Nationalsozialisten fliehen und konnte er nur durch Glück den Vernichtungslagern entgehen, hatte die Verfol-
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Der Textvergleich orientiert sich an strukturalistisch und informationstheoretisch ausgerichteten Konzepten zur 'Analyse des Dramas'. - Vgl. Manfred Pfister: Das Drama (6. Aufl.). München 1982.
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gung des Nicht-Juden Brecht durch das 'Dritte Reich1 primär politische Gründe. Der in der Fremde gefundene Wohnsitz konnte nur eine Zufluchtstätte, aber keine Heimat sein. Darin ähnelte sich die Situation für beide Autoren: Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Das heißt doch Auswanderer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß Wählend ein anders Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm."
Wie stark Taboris Sicht auf Bertolt Brecht auch von dem Bewußtsein eines gemeinsamen Schicksals als 'Verfolgte' geprägt ist, machen zwei Photos deutlich, die in der Juli-Ausgabe 1990 von Theater heute abgedruckt sind. Sie zeigen Tabori auf dem Dorotheenstädter Friedhof in Ost-Berlin, neben dem Grab Brechts sitzend, das mit antisemitischen Parolen ("Saujud" und "Juden Raus") beschmiert ist. Ebenfalls abgedruckt ist ein auf den 29. Mai 1990 datiertes fünfstrophiges Gedicht mit dem Titel Graffiti. An den armen B.B. eine Anspielung auf ein Gedicht aus Brechts Die Hauspostille}2 Die solidarische Haltung Taboris mit Brecht gibt vor allem Aufschlüsse über sein Verständnis von Opfer', das anthropologisch, überkonfessionell und übernational ist: Der Begriff 'Jude' ist für Tabori insbesondere eine Chiffre der Verfolgung, nicht primär die Bezeichnung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft. Nicht nur die Wahl der Form ist außergewöhnlich an diesem Text, sondern auch seine entfernte Ähnlichkeit mit der Fabel von Jubiläum: Auf einem "wie von einer Katastrophe geschüttelten" Friedhof im Osten beschmiert eine Gruppe von Skinheads ein Grab mit dem Wort "Raus". Man würde erwarten, das sich ein Gespräch zwischen Tätern und Opfern entspannt, in dem die Verfolgten ihre Peiniger mit Worten zu besänftigen und aufzuklären versuchen. Doch was folgt, ist für Taboris Texte nahezu revolutionär. Den Toten gelingt das, was den Opfer-Figuren sonst grundsätzlich verwehrt bleibt: Sie erheben sich in einem Akt gewaltsamen Widerstandes, indem sie ihre Widersacher erschlagen. Am Ende tanzen sie wie die Teufel und verhöhnen die Neonazis Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten (aus: Svendborger Gedichte). In: Bertolt Brecht: Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956. Berlin u. Weimar, Frankfurt/Main 1988 (= Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u.a. Band 12), S. 81. Graffiti. In: Theater heute 1990, H. 7, S. 1; ebenso in Tabori: Feigenblatt, S. 275f.
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mit einem Menuett. Erst nach diesem Sieg der Toten über die Lebenden kehrt Friede ein: "Der schöne, blaue Himmel [...] deckt alles, inpace, zu."13 Ist die Phantasie eines bewaffneten Aufstandes der Toten Kompensation der Machtlosigkeit, die Tabori angesichts des geschändeten Brecht-Grabes empfand? Ist in die Solidarität der Opfer, die sich als Widerstandshaltung artikuliert, die eigenwillige Weiterführung von Brechts Forderung nach einer Erhebung der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker hineinzulesen, die sich bei Tabori jedoch lediglich noch als lyrische Projektion zu äußern mag? Kann diese Widerstands-Konstruktion auch als Weiterentwicklung, vielleicht sogar als Revision des 1983 veröffentlichten 'Friedhofsdramas1 Jubiläum angesehen werden? Hier sind die Opfer allesamt zur Handlungsunfähigkeit gegenüber ihren Tätern verdammt. Vor allem eines wird bei der Betrachtung des Gedichtes und der Photos deutlich: Taboris Zugang zu Brecht ist wie der zu Beckett und Kafka vor allem auch ein biographischer, der sich über das Bewußtsein, 'Fremder1 und Verfolgter zu sein, konstituiert. Wichtig für das Verständnis der Texte ist auch der für beide Autoren unterschiedliche Grad ihrer Verwurzeltheit mit Deutschland und der deutschen Sprache. Tabori erfuhr Deutschland vor allem als Land der "Richter" und "Hinrichter" (II, S. 72), von dem aus der Holocaust 'geplant' und in die Wege geleitet wurde. Für eine Identifikation mit Deutschland und seiner Kultur, wie sie für Brecht charakteristisch ist, besteht für Tabori kaum Anlaß: "Was sollte ich in Deutschland? Ich hatte eigentlich nur eine Verbindung, das war meine Beziehung zum Werk von Bert Brecht."14 Daher ist es nicht verwunderlich, daß Tabori in Jubiläum Deutschland den Status einer Friedhofslandschaft zuweist. Dies offenbart eine Wahrnehmung dieses Landes, die vor allem von der Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung geprägt ist. Brecht hingegen entwirft in Furcht und Elend des Dritten Reiches ein Panorama der Unterdrückung seines Heimatlandes durch das faschistische System. Das Stück Furcht und Elend des Dritten Reiches entstand zwischen 1935 und 1938 im dänischen Exil, wo Brecht nach seiner Flucht aus Deutschland im Jahr 1933 seine künstlerische Arbeit mit dem 'Rücken zur Wand' fortzusetzen versuchte. Die Hauptarbeitszeit an diesem Stück wird von Jan Knopf auf das Jahr 1937 datiert. Seinen eigenen Angaben zufolge begann Brecht ab 1935, prägnante Einakter und Szenenskizzen zu entwerfen, zu denen ihn
Ebd. Der kleine Klick. Maria Sommer im Gespräch mit George Tabori (1989). In: Andrea Welker (Hg.): Dem Gedächtnis, der Trauer und dem Lachen gewidmet. Portraits. Wien u.a. 1994, S. 220-226, hier S. 220.
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Zeitungs- und Augenzeugenberichte des 'Dritten Reiches' inspiriert hatten.15 Claude Hill spricht zu Recht von einem "semidokumentarischen Stil" des Stücks.16 Der Autor selbst hat vor allem das Realistische und Konkrete seiner Szenen herausgestrichen: Das Stück zeigt typisches Verhalten der Menschen verschiedener Klassen unter der faschistischen Diktatur, und die Gestik der Vorsicht, der Abwehr, des Schreckens usw., aber auch der Auflehnung muß besonders herausgearbeitet werden. Das Stück stellt in der Reihe der Versuche, die seit 1930 publiziert wurden, den 20. dar.17
Die Szenen sind lose miteinander verknüpft. Sie erscheinen als in sich abgeschlossene Einakter bzw. als Szenen, die - wie der Autor explizit herausgestellt hat - einzeln inszeniert werden können.18
3. Brechts Exildrama der Entlarvung - Taboris Gedenkstück im Schatten von 'Auschwitz' Grundsätzlich andere Rahmenbedingungen als bei Tabori bestimmten die Produktion von Brechts Die jüdische Frau. Als Werk eines Autors, der sich zum 'politischen Exil' rechnete, erfüllte Furcht und Elend des Dritten Reiches vor allem politische Funktionen: Einerseits sollte das nationalsozialistische Regime im Sinne eines künstlerischen Kampfes vom Ausland aus entlarvt und diskreditiert werden.19 Andererseits sollte das proletarische Exiltheater, dessen Arbeitsbedingungen ungünstig waren, 'in Gang1 gehalten werden.20 Gleichwohl war für den Autor die Arbeit am Stück auch eine Möglichkeit, sich das materielle und psychologische Überleben zu sichern. Brechts Einakter entstand desweiteren zu einer Zeit, in der der Öffentlichkeit zwar breite Kenntnisse über die Judenverfolgungen des NS-Staates vor-
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Vgl. Bertolt Brecht: Schriften 4. Texte zu Stücken. Berlin u. Weimar, Frankfurt/M. 1991 (= Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u.a. Band 24), S.227. Allerdings besser 'Arbeitsweise1 statt 'Stil'. Hill: Brecht (Anm. 7), S. 89. Brecht: Schriften 4 (Anm. 15), S. 226f. Ebd., S. 226. Vgl. z.B. auch die Entlarvungs-Funktion von Brechts 1941 entstandenem Arturo Ui. Hierzu vgl. Franz Norbert Mennemeier u. Frithjof Trapp: Deutsche Exildramatik 1933-1950. München 1980, S. 55-57. Vgl. Knopf: Brecht-Handbuch (Anm. 4), S. 144.
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lagen: Die antijüdischen Boykotte vom April 1933, die Ausschaltung der Juden aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben, die 'Rassegesetze', auf die Brecht unmittelbar Bezug nimmt, und die 'Reichskristallnacht' im Jahr 1938 waren für jeden, der sehen konnte und wollte, sichtbare Zeichen des Unrechts; all diese Maßnahmen gaben Anlaß zu den schlimmsten Befürchtungen. Der Holocaust aber, das heißt die systematisch-industrielle Vernichtung der europäischen Juden, lag außerhalb jeder Vorstellungen. Insofern kann die Aussage von Walter Busch, in Furcht und Elend des Dritten Reiches würden "die großen einschneidenden Ereignisse und Maßnahmen [des 'Dritten Reiches']"21 dargestellt, nicht aufrechterhalten werden. Busch läßt außer acht, daß Brecht das wesentliche Projekt des NS-Staates, die Organisation und Durchführung einer "administrativen Vernichtung" der Juden (Raul Hilberg), zur Entstehungszeit seines Stücks nicht berücksichtigen konnte. Ob Brecht allerdings zu diesem Zeitpunkt zum Holocaust Stellung bezogen hätte, wenn ihm entsprechendes Wissen zur Verfügung gestanden hätte, ist - zumindest für Tabori fragwürdig: BB langweilten die Juden, auch ein Symptom seiner Krankheit, denn Langeweile ist gefährlicher als ein Tritt in den Bauch, er ruhe in Frieden.22
Taboris Stücke hingegen spielen im Schatten von 'Auschwitz', so auch Jubiläum. Der Holocaust kann, ganz anders als bei Brecht, als zentraler Referenzbereich angesehen werden, der Taboris Werk auf thematischer und formaler Ebene bestimmt. Wie für Kannibalen23 ist auch für Jubiläum der Gestus des Anti-Dokumentarischen kennzeichnend. Taboris Friedhofs-Drama kommt der Status eines Gedenkstückes zu. Zahllose Anspielungen im Text verweisen auf Gedenktage, die den Nationalsozialismus als Bezugspunkt haben. 'Gedenken' und 'Erinnern' sind zentrale Themen von Jubiläum. Das private Gedenken der Figuren schiebt sich in komischer Weise vor das öffentliche, macht damit zugleich auf die Verdrängung des Holocaust nach 1945 aufmerksam: Wie in Kannibalen finden sich in Jubiläum die Opfer allein gelassen. Die unterschiedliche Entstehungssituation und - damit zusammenhängend - der divergierende Informationsgrad beider Autoren bezüglich Ausmaß und Umfang der Judenverfolgung wirkt sich auf die Textstruktur von Die jüdische Frau und der Szene 8 von Jubiläum in erheblicher Weise aus. 21 22
23
Busch: Brecht (Anm. 4), S. 40. Tabori: Unterammergau, S. 27.
Zu Kannibalen vgl.den Beitrag "Abdankung des Dokumentarischen?" von Sandra Pott und mir in diesem Band.
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4. Die Revision von Brechts Vorlage in Taboris Jubiläum Die jüdische Frau liegt der Szene 8 von Jubiläum zwar als Vorlage zugrunde, doch nimmt Tabori so wesentliche Eingriffe vor, daß die ursprüngliche Konzeption des Einakters lediglich noch als kulturelle Folie, deren Sinn verändert wird, übrig bleibt,24 Diese These von einer sinnverändernden Umstrukturierung der Vorlage soll in zwei Schritten ausgeführt werden. In einem ersten Durchgang werden Taboris Eingriffe in die Textstruktur von Die jüdische Frau herausgestellt. Auf dieser Grundlage werde ich dann in einem zweiten Schritt Bearbeitungsstrategien, die in Lotte Sterns Monolog sichtbar werden, analysieren.
4.1. Veränderungen in der Textstruktur Betrachtet man den Stellenwert von Taboris Szene 8 im Kontext des Stückes Jubiläum, dann fällt auf, daß es sich hier nicht um einen Einakter handelt, sondern um eine Szene, die auch formal in das Stück integriert ist. Von großer Bedeutung ist, daß bereits in der Szene 4 von Jubiläum die literarische Vorlage im Sinne eines 'metatextuellen1 Verweises zum Thema der Figurenrede gemacht wird (siehe 4.2.).25 Fabel, Redesituation und Sprache sind in Taboris Version andere als in Brechts Einakter: Lotte Stern, die im Kontext des Stücks ebenso als Repräsentantin der jüdischen Holocaust-Opfer verstanden werden kann wie ihr Mann Arnold, erinnert sich auf einem Friedhof des Jahres 1983 in monologischer und episodischer Form an frühere Begebenheiten aus 'ihrem1 Leben. Vor allem erzählt sie 'ihren Tod', den sie als "prächtige Groteske" erlebte: eingesperrt in einer überschwemmten Telefonzelle, war die Jüdin der Vernichtung preisgegeben. Ihre Hilferufe wurden überhört. Wie gezeigt werden soll, handelt es sich bei diesem Rückblick um eine allegorische Darstellung der 'Judenvernichtung': Der Name und die Erinnerungen Lotte Sterns stehen als Chiffren für 24
25
Das Verhältnis von Vorlage und Bearbeitungstext ist durch ein hohes Maß an 'quantitativer' und 'qualitativer1 Intertextualität gekennzeichnet. Taboris Version erfüllt das 'qualitative' Kriterium der Referentialität, der Kommunikativität, der Strukturalität, der Selektivität und - vor allem - der Dialogizität. Vgl. Ulrich Broich u. Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 26-30. Zur Metatextualität vgl. ebd., S. 26f. Hierunter wird ein Text-Rückbezug verstanden, der "den Prätext kommentiert, perspektiviert und interpretiert und damit die Anknüpfung an ihn bzw. die Distanznahme zu ihm thematisiert" (ebd.).
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die Erfahrungen vieler Millionen namenloser Opfer, die in den Todeslagern der Nationalsozialisten zu Tode gequält wurden. Dieser zweite Abschnitt der Szene hält sich nur scheinbar an Brechts mediale Dialoge im ersten Teil seines Einakters.26 Es sei an die Redesituation in Die jüdische Frau erinnert: Den Telefongesprächen Judith Keiths liegt die Intention zugrunde, vor ihrer Flucht die persönlichen Beziehungen für ihren Mann zu sichern. Aus diesem Handlungszweck, der Rückschlüsse auf die einseitig fürsorgliche Beziehung von Judith zu Fritz Keith zuläßt, ergibt sich, daß die Gespräche von der Protagonistin strategisch angelegt werden müssen. Unter einem solchen 'strategischen Vorgehen' ist zu verstehen, daß die Figur zwar einerseits versucht, den Kommunikationspartnern ihr Handlungsziel transparent zu machen, daß sie andererseits aber ihr authentisches Denken und Empfinden schützen will, da eine Selbst-Offenbarung dem Kommunikationsziel im Wege stünde. Anders formuliert: Judith Keith will den eigentlichen Grund ihrer Flucht (die von den Gesprächspartnern mitverursachte Isolation) nicht preisgeben, da dies die Beziehung zwischen ihrem Mann und den Bekannten gefährden könnte. Folgerichtig wird die Flucht verschleiernd als Erholungsreise beschrieben - Judith Keith reproduziert die Lüge, wie sie für das 'Dritte Reich1 kennzeichnend ist, im Kleinen. Da jede Preisgabe der 'wahren Identität' von den Kommunikationspartnern als Anschuldigung und Vorwurf verstanden werden könnte, muß die Protagonistin eine Form finden, in der sie ihre Identität weitestgehend hinter ihrer Rede-Intention verstecken kann: Die expressive Funktion der Sprache soll zugunsten ihrer appellativen und phatischen Funktion zurückdrängt werden. Dieses Konzept kann jedoch nur partiell realisiert werden. Das Medium Telefon fördert die strategische Gesprächsführung der Figur in Hinblick auf eine Kontrolle und Ent-Emotionalisierung der Gespräche. So weit zu Brecht. Taboris Konzeption hingegen ist eine grundsätzlich andere. Lotte Sterns Rede ist als Erinnerungsmonolog gehalten, der in seinem zweiten Teil in dialogisierter Form präsentiert wird. Die Telefonate werden aus der Retrospektive erzählt, das heißt, sie sind in die epische Gesamtstrukur der Szene eingebettet. Mit dieser grundsätzlich anderen Redesituation entfällt auch die für Judith Keiths Telefonate charakteristische Redestrategie. Die Sprechfunktion verändert sich entscheidend: Nicht mehr die phatische Funktion der Sprache steht im Vordergrund, sondern allein die appellative. Eine Notwen-
Die drei Teile sind durch verschiedene Redekonstellationen gekennzeichnet: Den medial vermittelten Dialog (Teil 1), den dialogisierten Monolog (Teil 2) und den monologisierten Dialog (Teil 3). - Vgl. Pfister: Drama (Anm. 10), S. 180-185.
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digkeit für Judith Keith, die expressive Sprechfunktion zurückzudrängen, ergibt sich dadurch, daß der Ehemann als entscheidender Bezugspunkt wegfällt, nicht mehr. Zwar bleibt die Darstellung der Beziehung zwischen der Protagonistin und ihrer Umwelt auch für Taboris Szene bestimmend; die veränderte Redesituation bedingt aber, daß dem Verhältnis zwischen der Jüdin und ihrem Ehemann, das bei Brecht von zentraler Bedeutung ist, lediglich noch eine untergeordnete Funktion zukommt. Zu Beginn wurde auf die anti-illusionistische Dramatik hingewiesen, die insofern für Brechts Einakter charakteristisch ist, als Brecht durch Techniken der Informationsvergabe die Aufmerksamkeit des Rezipienten dahin lenkt, die 'Sprache im Nationalsozialismus' als lügenhaft zu durchschauen. Bei Tabori bezieht die Szene ihre Dramatik aus einer anderen Technik der Informationsvergabe als bei Brecht: Der Rezipient weiß in der Regel um das 'Danach' des historischen Zeitpunktes 935'; er ist über den Vorgang der Massenvernichtung ebenso informiert wie über die Verdrängung des Holocaust in der Nachkriegszeit. Durch dieses historische Wissen kann er den Monolog als einen deuten, der das Faktum der 'Judenvernichtung' selbst thematisiert. Damit konstruiert Tabori eine für seine Stücke typische Dramatik, die insbesondere aus dem Spiel des Autors mit dem kulturellen, d.h. historischen und literarischen Wissen des Rezipienten resultiert.
4.2. Monologisierung und Fragmentierung Oben wurde bereits eine erste Bearbeitungsstrategie benannt: Die Dialogpartien der Vorlage werden, sofern Tabori sie übernimmt, in die episch-monologische Anlage der Szene integriert. Unter dem Begriff der Fragmentierung, der die zweite Tendenz der von Tabori vorgenommenen Veränderungen kennzeichnet, soll zweierlei verstanden werden: erstens eine Dezimierung der Vorlage, zweitens ihre Aufsplitterung auf zwei Szenen von Jubiläum. Tabori verfährt bei seiner Bearbeitung von Brechts Einakter eklektisch. Ähnlich geht er bei der Konzeption späterer Stücke vor, zum Beispiel bei Nathans Tod.27 Wie in dieser Bearbeitung von Lessings Nathan der Weise wird der übernommene Vorlagen-Text von Tabori durch eigene Textpassagen ergänzt. Der Dramatiker bezieht sich in Jubiläum im wesentlichen auf den ersten Abschnitt von Brechts Einakter: die Telefonate werden, wenn auch in veränderter Form und Funktion, beibehalten. Der dritte Teil, also das face-to-face-Gespräch mit Vgl. in diesem Band die Beiträge von Silvia Stammen und Gabriele Brandstetter.
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Fritz Keith, entfällt in Taboris Szene 8 ganz. Die verschiedenen Anläufe der Protagonistin zur 'Selbst-Befreiung1 (Abschnitt 2) werden in Szene 4 ausgelagert (siehe Abschnitt 4.3. und die Synopse im Anhang). Diese Text-Reduktion zieht entscheidende Konsequenzen nach sich: Indem Tabori das Spektrum verschiedener Kommunikations- und Handlungsformen, wie Brecht es anlegt, allein auf den epischen Monolog reduziert, verlegt er alle Konflikte in das Innere Lotte Sterns. Handlung wird nur noch vermittelt auf die Bühne gebracht. Kann Judith Keith Gegenwart noch erleben, weil für sie im Jahr 1935 die Zukunft grundsätzlich offen ist, ist für Lotte Stern als Opfer und Repräsentantin der Massenvernichtung alles zu einem Geschehen der Vergangenheit geworden, das in Gedächtnisarbeit rekonstruiert werden muß. Die medialen Dialoge und das Gespräch mit dem Ehemann werden von Tabori auf diese Weise in den Erinnerungsmonolog der Figur integriert. Insofern reduzieren sich die Handlungsmöglichkeiten Lotte Sterns auf Formen des Umgangs mit der traumatisierenden Vergangenheit, nicht aber mit dem Gegenwärtigen oder der Zukunft. Tabori behält die Gesprächsanfänge und die Abschiedsformeln aus dem ersten Abschnitt von Brechts Einakter nahezu vollständig bei. Außerdem orientiert er sich an der sprachlichen Struktur der Telefonate, indem er Lotte Stern die Ja-/Nein-Struktur der Redeweise Judith Keiths übernehmen läßt.28 Die gänzlich andere Redesituation bedingt dazu erhebliche, das heißt sinnund strukturverändernde Eingriffe in die Anlage von Brechts Die jüdische Frau. Alle Passagen, die bei Brecht auf die Sicherung der gesellschaftlichen Kontakte für Fritz Keith durch seine Frau zielen, werden von Tabori weggelassen bzw. verändert. So läßt Brecht seine Protagonistin im dritten Telefongespräch mit Gertrud sagen: "Natürlich weiß er, daß wir nicht so ... gut standen" (S. 386). Die Beziehung zwischen den beiden Schwägerinnen konstituiert sich hier über einen Dritten, über den Ehegatten bzw. Bruder. George Tabori macht daraus den Satz: "Natürlich weiß ich, daß wir uns nicht so ... gut verstehen" (II, S. 73). Indem Tabori die Personalpronomina vertauscht, wird die Bedeutung des Satzes verkehrt. Der Redestrategie von Brechts Judith Keith steht es diametral entgegen, die von den ehemaligen Bekannten vollzogene Abwendung in direkter Weise anzusprechen. Durch die grundsätzlich andere Redesituation in Jubiläum kann Lotte Stern ihre Beziehung zu der Schwägerin ausdrücklich thematisieren. 28
Einige Veränderungen sind für die Sinnstruktur unerheblich: So gleicht Tabori einmal ein Präfix unserer Gegenwartssprache an ("auf-" statt "abhängen") bzw. er aktualisiert in einem Fall die Präposition ("für [statt auf] einige Zeit verreisen"). Es ist auch denkbar, daß hier ein Eingriff der Übersetzerin vorliegt.
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Eine ebenfalls schwerwiegende Veränderung nimmt Tabori mit der fragmentarischen Rezeption des zweiten Teils von Brechts Einakter in Szene 4 vor (vgl. die Synopse im Anhang). Helmut, Ehemann des schwulen Friseurs Otto, hat sich aus Schamgefühl für seinen rechtsradikalen Neffen Jürgen (einen "süßen Bengel mit einem träumenden Mund" - vgl. II, S. 59) beschneiden lassen und kehrt im Frauenkleid aus dem Krankenhaus zurück. Ein Gespräch zwischen den Partnern entwickelt sich, als der auf diese Weise zum "Saujuden" (vgl. II, S. 60) umfunktionierte Helmut mit der Lektüre von Die jüdische Frau beginnt: OTTO Was liest du da so eifrig. HELMUT buchstabiert B-r-e-c-h-t. OTTO Gott sei bei uns [...] Und was liest du da so eifrig von B-r-e-c-h-t, oder soll ich besser nicht fragen. HELMUT 'Die jüdische Frau'. OTTO Die hat uns noch gefehlt [...] Und was macht sie da, bei B-r-e-c-h-t, MatzeSuppe? HELMUT Sie packt, sie telefoniert, sie sagt zum Abschied leise Servus, sie geht ins Exil, ihr Mann, die fiese Memme, läßt sie. OTTO Helmut, wir haben 1983. Helmut hat aufgehört zu lesen, lauscht, hört das Klirren zerschmetternder29 Schaufenster (II, S. 60).
Der ausdrückliche Verweis auf die Vorlage hat die Funktion, die Beziehung von Otto und Helmut zu charakterisieren. Tabori überträgt den Konflikt zwischen Judith und Fritz Keith aufsein schwules Figurenpaar. Auf Otto wird die Fürsorglichkeit von Judith verschoben. Helmut avanciert zum Täger des Gewissens, während Otto gewissenlos handelt. Die Disharmonie zwischen Otto und Helmut ergibt sich hier aus der grundsätzlich unterschiedlichen Auffassung beider von ihrem Status als Homosexuelle in der Gesellschaft der 80er Jahre. Vertritt Otto die Position einer weitestgehenden 'Assimilation' der Schwulen und glaubt er, daß die NS-Vergangenheit abgeschlossen sei und ruhen solle, so ist Helmut bemüht, seine Identität als Verfolgter und Opfer aufrechtzuerhalten. Die Brecht-Lektüre hat für ihn eine in dieser Hinsicht bestätigende und stabilisierende Funktion. Seine Lektüre ist - wie später auch Mitzis Aneignung des 'Kindermordes vom Bullenhuser Damm' (Bild II) 3 0 durch die adaptiv-biographistische Aneignung des literarischen Stoffes geprägt. 29
30
Hier handelt es sich wohl um einen Übersetzungsfehler. An Stelle des Partizips I müßte das Partizip II benutzt werden. Vgl. hierzu meinen Beitrag "Friedhofs-Monologe" in diesem Band.
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Nachdem Schaufenster zerschlagen wurden (hier kann der historische Referenzbereich 'Reichskristallnacht1 erschlossen werden), entscheidet sich Helmut, ins Exil zu gehen. Dies wirkt deshalb absurd, weil die Figur tot und an den Friedhofsplatz gefesselt ist. Insofern gibt es für sie kein Entkommen. Tabori legt Helmut die Worte aus Judith Keiths fünfter Probe-Rede in den Mund: Ich geh und packe. Was seid ihr für Menschen, ja auch du! Hört Kinderschreie Das hier dauert nicht nur vier Wochen. Du weißt es, und ich weiß es auch. Sag also nicht: Es sind schließlich nur ein paar Wochen, während du mir den Pelzmantel gibst, den ich doch erst im Winter brauche. Und reden wir nicht vom31 Unglück. Reden wir von Schande (II, S. 61).
Am Ende der Szene 'erbricht' Helmut lediglich noch Brecht-Texte, während er sich an die ihm zugefügten Elektroschocks in der Psychiatrie erinnert. Hierdurch unterstreicht Tabori nochmals die existentielle Funktion, die die BrechtLektüre für die Figur zur Bestimmung ihrer Opfer-Identität hat. Ebenso wichtig wie die Bedeutung der Passage für das 'innere Kommunikationssystem1 des Dramas ist auch die für das 'äußere System'. Der Verweis in Szene 4 versorgt einerseits den Rezipienten mit Vorinformationen, der den späteren Lotte-Monolog als eine Bearbeitung von Brechts Vorlage identifizieren kann und in einem Satz die Fabel des Brecht-Textes präsentiert bekommt. Andererseits - und das ist der wichtigere Punkt - wird die Vorlage aktualisiert, indem sie von einer Figur im Jahr 983' als Medium der Identitätsbildung herangezogen wird.
4.3. Aktualisierung Das Problem von Ausgrenzung und Verfolgung erscheint bei Tabori nicht als exklusiv jüdische Erfahrung, sondern erhält eine 'allgemein-menschliche' Bedeutung. Opfer zu sein, wird bei Tabori als anthropologische Konstante ausgewiesen, während Brechts Verständnis von Opfer' mit seiner Ideologiekritik an der Verfaßt- und Verlogenheit der 'bürgerlichen Klasse' verbunden ist: die Täter-Opfer-Opposition wird aus Klassengegensätzen abgeleitet. Unter einer 'Aktualisierung1 verstehe ich das Bestreben von Tabori, die Erfahrung 'Auschwitz' nicht nur in ihrer historischen, sondern auch in ihrer 31
Tabori benutzt hier die Präposition mit dem bestimmten Artikel, worin sich der Bezug auf das Ereignis 'zerstörte Fensterscheiben' zeigt.
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gegenwärtigen Geltung darzustellen, also die Verlängerung der Vergangenheit in die Gegenwart der achtziger Jahre. Diese dritte Bearbeitungsabsicht ist maßgeblich durch die Konzeption von Jubiläum als Gedenkstück bestimmt (siehe Abschnitt 2). Helmut identifiziert sich mit Judith Keith als Opfer des NS-Staates: Der Brecht-Text soll der Figur helfen, die Gegenwartssituation des Jahres 1983 besser zu bewältigen. George Tabori spielt hier mit der für ihn kennzeichnenden Überblendungstechnik: Die Gegenwart wird durch die Vergangenheit überlagert, beide Zeitebenen fließen zusammen, wodurch Tabori das Bedrohliche von 'Gewalt', 'Verfolgung' und 'Vernichtung' herausstellt. Indem Tabori Otto die Brecht-Lektüre seines 'Ehemannes1 mit den Worten "Helmut, wir haben 1983" kommentieren läßt, verdeutlicht der Dramatiker gerade seine Strategie, Gegenwart und Vergangenheit zusammenfließen zu lassen. 'Auschwitz' wird nicht nur aktualisiert, sondern gleichsam enthistorisiert, indem es als prototypisches, für die Gegenwart kompatibles Modell von Verfolgung ausgewiesen wird.32 Zurück zur Szene 8 von Jubiläum: Inwieweit finden sich auch in Lotte Sterns Friedhofs-Monolog Tendenzen einer Aktualisierung? Die Redesituation selbst ist Ausdruck dieses Einbeziehens der aktuellen Dimension des Holocaust: Wie Helmut ist auch Lotte Stern traumatisiert durch die im 'Dritten Reich1 erlittenen Verfolgungen. Ihr Friedhofs-Monolog ist gleichsam Bewältigungs- wie allegorischer Darstellungsversuch dieser Verfolgung und Vernichtung. Der erste Teil des Monologs besteht aus einer episodischen Erzählung von generellen und individuellen Erfahrungen der Sprecherin, die schließlich in der Quintessenz "Kurz, das Leben kann mich" (II, S. 71) münden. Die ersten Sätze stellen einen ironischen Kommentar auf die jüdische Ethik dar, die sich durch eine "große Überschätzung des Lebens" (II, S. 71) auszeichne. Taboris Figuren weisen häufig ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Jude-Sein auf, das nicht selten von Selbsthaß bestimmt ist. Sie versuchen, Gerechtigkeit zu praktizieren (wie Onkel in Die Kannibalen oder Schlomo Herzl gegenüber Hitler in Mein Kampf), sie "überfordern", das heißt: sie überschätzen aber damit "das Leben". Dieses wird von anderen Gesetzen - dem der Verfolgung, der Härte und der Absurdität - diktiert. Dieser Aspekt wird auch in Lotte Sterns nächstem Satz angesprochen: "Die Ewigkeit dauert eine Sekunde, der Himmel ist reserviert für die Goyim und die Hölle für uns, hier und jetzt und nicht da, unten, irgendwo, jenseits" (ebd.). "Hölle" verweist auf den historiVgl. meinen Beitrag "Friedhofs-Monologe" in diesem Band.
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sehen Erfahrungsraum 'Auschwitz1, ebenso der dann folgende Satz: "Flammen mochte ich nie" (II, S. 72). Es folgt der Schwenk auf die biographische Ebene. Lotte Sterns Unlust am Leben artikuliert sich in verschiedenen bildlichen Vergleichen: Das Leben sei "eine höchst fragwürdige Art der Unterhaltung, eine lebenslängliche Langeweile, ein sozusagen stinknormaler Sonntagabend, in Solingen zum Beispiel, mit oder ohne Arnold Stern" (II, S. 7l).33 Am Ende des ersten Abschnitts von Taboris Monolog wird die bisherige Generalabsage an das Leben relativiert, indem Lotte "das Lachen" (ebd.) als ein positives Gegenmittel herausstellt. Daß auch die Witze "nicht mehr das [sind], was sie mal waren" (ebd.), ist ein von Tabori häufig eingesetzter 'Gag1. Seitdem die Judenwitze (als antisemitische Witze auf Kosten von Juden) die jüdischen Witze (als Witze der Juden) in Quantität und Qualität übertroffen haben, hat die Komik der Witze ihre kulturstiftende Funktion verloren und ist zum bloßen Belustigungsmittel von alten und neuen Nazis verkommen.Der Hinweis, daß sowohl alte als auch junge Nazis vor Lottes Telefonzelle herlaufen, bestätigt ebenso meine These von der Aktualisierung der Vorlage durch George Tabori wie die Schlußsentenz der Szene: "Es geht schon wieder los" (II, S. 73). Daß das Geschehen in und um die Telefonzelle nicht beachtet wird, steht dafür, daß sich die Passivität der Deutschen im Angesicht von 'Verfolgung' stets wiederholen kann. Die Telefonzelle steht aber auch für die Einschließungen in der Verfolgung, für die totale Isolation der Opfer, beispielsweise in der Gaskammer (vgl. dazu Abschnitt 4.5).
4.4. Verfremdung Tabori benutzt eine Reihe von verfremdenden Mitteln, die den Realismus der Vorlage durchbrechen: Hervorzuheben ist neben der epischen Grundstruktur der Szene, also der Vermittlung des Geschehens in der 'narratio' Lotte Sterns, vor allem die Verwendung von Komik. In diesen Episierungstendenzen wird der Einfluß Bertolt Brechts, aber auch der Samuel Becketts, auf Tabori deutlich spürbar:
An dieser Stelle wird besonders deutlich, inwieweit die bei Tabori andere Redesituation die Sprechweise der Figur bestimmt. Lotte Sterns Erwähnen der Beziehung zu ihrem Ehemann, die in Brechts Einakter zentral ist, wird in Jubiläum lediglich noch angeführt, um den allgemeinen Gedanken von der Langeweile des Lebens zu exemplifizieren. Sie ist für den Redezusammenhang damit von untergeordneter Bedeutung.
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Er [Tabori, M.S.] verfremdet Brechts Verfremdungseffekte mit dem Effekt des banalen Lebens. Was die Ideologie des epischen Theaters säuberlich getrennt hatte: falsches Leben und echte Kunst, schmeißt Tabori wieder heillos durcheinander.
Tabori macht in vielen seiner Dramen von episierenden Vermittlungsverfahren Gebrauch. Finden sich bei Brecht diese episierenden Einschübe häufig in Form von Liedern oder Botenberichten (zum Beispiel in der Dreigroschenoper), sind die von Taboris Figuren erzählten 'Geschichten' als Erinnerungsmonologe gehalten und stehen unter der Perspektive 'Auschwitz1. Durch die Erzählung einer Handlung, eines Vorfalls, einer Geschichte, die den Holocaust umkreist, umgeht der Autor die unmittelbare Inszenierung des Schrecklichen. Er verweigert sich einer Repräsentation der historischen Ereignisse und läßt sie nur in verfremdeter Form 'auf der Bühne' erscheinen.35 Bei der Rezeption von Taboris Werks wird immer wieder auf die Verbindung von Groteske und Grauen, von Komik und Katastrophe aufmerksam gemacht, die charakteristisch für das Werk des jüdischen Dramatikers sei.36 Auch die Bearbeitung von Brechts Vorlage ist auf die Erfahrung von Komik angelegt. Vor allem die Art von Lotte Sterns Tod erscheint selbst als grotesk. Dieser Eindruck relativiert sich allerdings, wenn man den allegorischen Status dieses zweiten Teils des Monologs berücksichtigt.37 Wolf Biermann: Ein herzerfrischender Skandal. Laudatio für George Tabori. In: Deutsche Akademie für Sprache und Literatur (Hg.): Büchner-Preis-Reden 1984-1994. Stuttgart 1994 (= RUB 9313), S. 204-209, hier S. 196f. Zur Problematik der Repräsentation vgl. Franz Wille: Du sollst dir kein Bildnis machen? Die Darstellbarkeit des Grauens - Überlegungen zu "Schindlers Liste", George Taboris Dramen und dem ersten Stück von Rainer Werner Fassbinder. In: Theater heute 1994, H. 5, S. 1-5. Vgl. den Beitrag von Karin Dahlke in diesem Band. Komik wird durch die Wahl beispielsweise der folgenden Mittel hergestellt: (1) obszöne Anspielungen: Mit ihnen werden die Erwartungen des Zuschauers, der einen der 'tragischen' Situation angemessenen Tonfall erwartet, unterlaufen ("Nutten", "kleiner Junge mit einem Flanellmund"); (2) drastische Bilder, insbesondere aus dem Bereich der Anatomie ("Hintern", "Krampfadem", "Arschbacken", "Nabel"); (3) Wortspiele, mit denen Heterogenes verbunden wird ("Richter und Hinrichter", "Masseure, Regisseure"); (4) überzogene intertextuelle Vergleiche ("Ophelia", "heilige Johanna"); (5) Wiederholung von Wortreihen in variierter Form (vgl. die Umstellung der Adverbial-Kette "hier und jetzt, nicht da, irgendwo, Gott weiß wo, jenseits"); (6) metasprachliche Thematisierung von Komik ("Die Witze sind ja auch nicht mehr, was sie mal waren"; "Nein, das ist kein jüdischer Witz"); (7) Situationskomik ("die Tür klemmt"). Diese und ähliche Verfahren, Komik zu erzeugen, werden von Tabori in vielen seiner Stücke eingesetzt. Vor allem die Dramen, die nicht den Holocaust in ihr Zentrum stellen, weisen ein erhebliches Maß an komischen Figuren der ersten und zweiten Gruppe auf. In Taboris 'Auschwitz'-Dramen erhält die Sexualität lediglich untergeordneten Rang, während sie in den weniger bekannten
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4.5. Allegorisierung Es wurde auf die anti-illusionistische Dramatik von Brechts Die jüdische Frau hingewiesen: Der Rezipient hat gegenüber den Figuren einen "Informationsrückstand".38 Die Figur wird zu einem Demonstrationsobjekt, anhand dessen der Rezipient zu Erkenntnissen über das Wesen des 'Dritten Reiches' gelangen soll.Taboris Dramatik ist eine andere: Zwar spielt auch er mit dem Mittel der 'diskrepanten Informiertheit1, doch verwendet er es mit umgekehrtem Vorzeichen. Der Rezipient hat hier in einem entscheidenden Punkt einen Informationsvorsprung gegenüber der Figur: Nicht mehr die Erkenntnis der Zuschauer über verstellte und lügenhafte Kommunikation im NS-Staat steht im Vordergrund, sondern deren Fähigkeit, den historischen Referenzbereich 'Auschwitz' zu erschließen. Der zweite Abschnitt der Szene 8 aus Jubiläum kann - so die These - vom Rezipienten als allegorische, also sinnbildliche Darstellung der Verfolgung und Vernichtung der Juden im 'Dritten Reich' gelesen werden.39 Tabori verdichtet in Lottes Erinnerungsmonolog die historische Situation der Juden in einem eindrucksvollen Bild: einer vom "schlammigen, eisigen Wasser" überschwemmten Telefonzelle, in der Lotte Stern im Angesicht mit der gleichgültig-mobilen deutschen Öffentlichkeit untergeht. Der 'groteske' Tod, wie Lotte Stern ihn berichtet, vollzieht sich wie folgt: Die Jüdin telefoniert mit den vier, den Zuschauern aus Brechts Einakter bekannten Kommunikationspartnern. Ihre Anrufe haben allesamt Appellfunktion. Eine strategische Gesprächsführung, wie sie für Judith Keith kennzeichnend ist, liegt Lotte Sterns Telefonaten nicht zugrunde: Die telefonischen Hilferufe werden aus der Situation heraus notwendig, da die Figur in der Zelle
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Stücken in den thematischen Mittelpunkt rückt (so beispielsweise in Peepshow). Die 'Metapher der Nacktheit' wird einem Bedeutungswandel unterzogen: nicht mehr die erotische Nacktheit wird von Tabori in den Vordergrund gestellt, sondern 'Nacktheit' wird zum Ausdruck extremer Bloßstellung und Demütigung des Menschen angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung. Hierzu vgl. Pfister: Drama (Anm. 10), S. 83ff. Peter von Becker spricht in diesem Zusammenhang von einer "szenischen Metapher für das Los der jüdischen Mitbürger nach 1933". - Peter von Becker: Die republikanischen Masken oder Deutsches Theater im Januar. In: Theater heute 1983, H. 3, S. 11-21, hier S. 20; Barbara Schmitz-Burckhart nennt Taboris Szene ein "triftiges Bild für den Untergang der Juden vor den Augen der Welt und eines der Glanzstücke in Taboris zuweilen auch geschwätzigem Text". - Barbara Schmitz-Burckhardt: Theater nach Auschwitz. Geschichten ohne Geschichte. Friderike Vielstich inszeniert Peter Weiss' "Die Ermittlung" und George Taboris "Jubiläum" in Ulm. In: Theater heute 1992, H. 7, S. 37f, hier S. 38.
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zu ertrinken droht. Durch den Boden der Zelle dringt Wasser ("ein Bruch in der Kanalisation vielleicht" - II, S. 72), und die Tür der Telefonzelle klemmt. Anders als Brechts Judith Keith, die ihrem Mann helfen will, braucht Lotte Stern also selbst dringend Hilfe. Da die Schreie von der sie umgebenden Öffentlichkeit nicht gehört bzw. ignoriert werden, bleibt nur der Griff zum Hörer. Der Jüdin wird aber auch von ihren Telefonpartnem die - anders als bei Brecht - direkt eingeforderte Hilfe verweiger, während sie allmählich wie von einer Sintflut überschwemmt wird. Dieser zweite Abschnitt von Taboris Monolog kann in zweifacher Hinsicht auf den historischen Komplex 'Auschwitz' bezogen werden. Wie Brecht in Furcht und Elend des Dritten Reiches thematisiert auch Tabori das Wegsehen der deutschen Öffentlichkeit angesichts der Juden-Verfolgung. Die Situation des Opfers wird dabei als noch erheblich bedrohlicher dargestellt als in Brechts Einakter. Dieser Eindruck wird von Tabori formal vor allem durch die Verengung des Raumes erzeugt: In Die jüdische Frau ist es Judith Keith immerhin noch möglich, Frankfurt zu verlassen und eine Flucht ins Exil anzutreten. Dieser Ausweg bleibt Lotte Stern in Taboris Szene durch das Verschlossensein der Tür verwehrt. Die Jüdin ist von der Welt durch eine gläserne, schalldichte Wand getrennt. Die Hermetik des Raumes ist damit total, die Situation ist ausweglos. Datierte Brecht seinen Einakter auf das Jahr 1935, läßt sich Taboris Szene auf eine historisch spätere Phase des 'Dritten Reiches1 beziehen: auf den Zeitpunkt, an dem eine Auswanderung für Juden aus Deutschland nicht mehr möglich war.40 Indem er die Zelle mitten in das Zentrum einer Großstadt in Deutschland verlegt und den Domplatz von Menschen aller gesellschaftlichen Schichten begehen läßt, verweist Tabori auf die beschämende Rolle der gesamten deutschen Öffentlichkeit bei der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. Die Kritik an der 'bürgerlichen Verstellung', wie sie Brecht in der Vorlage anlegt, wird damit für Jubiläum bedeutungslos. Neben dieser Deutung der Situation als allegorische Darstellung der Verfolgung und der Verweigerung von Hilfe läßt sie sich aber auch als eine Darstellung des Vorgangs der Vernichtung selbst interpretieren. Das Zeichen Telefonzelle' ist polyvalent: es kann als 'Folterbunker' oder 'Gaskammer' gedeutet werden. Lotte Sterns Tod erscheint unter dieser Perspektive weitaus weniger 'grotesk' als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ihre Hilferufe lassen sich als die Schreie der bzw. Gefolterten Vergasten deuten; die Telefo-
Gemeint ist das Emigrationsverbot für die deutschen Juden für die Dauer des Krieges vom 23.10.1941. Durch die Überblendung von Zeit- und Raum-Ebenen ist aber keine eindeutige Zuordnung wie bei Brecht möglich.
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nate' der literarischen Vorlage fungieren als Textfragmente, die die Figur in Anbetracht ihrer Vernichtung äußert. Der aus dem Boden steigende Schlamm (vgl. II, S. 72) wird in dieser Lesart zum Gas Zyklon B, das sich vom Boden aus langsam in der Kammer verbreitet bzw. zum Kot, mit dem sich die Stehzellen im Folter-Block 11 von Auschwitz unter den Schreien der gemarterten Häftlinge füllten. Sicher ist, daß Tabori im zweiten Abschnitt seiner Szene 8 den Referenzbereich 'Auschwitz' als eine Bedeutungsebene miteinbezieht und sich damit eine gänzlich andere Perspektive auf die Szene ergibt, als dies bei Brechts Einakter des Exils der Fall ist. Es muß noch einmal ausdrücklich betont werden, daß der TelefonzellenMonolog eingebettet ist in die epische Struktur des Bildes. Wenn also die These aufgestellt wird, daß der zweite Teil von Taboris Szene ein allegorischer Ausdruck des Vorgangs der 'Judenvernichtung' ist, dann ist dies nur insofern richtig, als es bedeutet, daß Lotte Stern sich in ihrem Erinnerungsmonolog einer allegorischen Redeweise bedient: Wie die meisten anderen Figuren in Jubiläum ist auch Lotte als Opfer nazistischer Gewalttaten nicht fähig, die erlebten Verfolgungen in 'direkter Sprache' widerzugeben. Durch den allegorischen und grotesken Ausdruck signalisiert Tabori dem Leser, daß die traumatisierten Opfer nur bildhaft von 'Auschwitz' sprechen können. Gleichzeitig schafft er ein komplexes Bild, in dem die Verfolgung der Juden, ihre Vernichtung sowie die Wiederholbarkeit des Holocaust einprägsam zusammengefaßt sind. Szene 8 verweist als dramatischer Höhepunkt des Stücks auf das thematische Zentrum von Jubiläum. Die Aporie der Erinnerung, der Zwang und die Unmöglichkeit für die NS-Opfer, ihre Verfolgungs-Traumata mitteilbar zu machen, bilden den zentralen Konflikt des Stücks. Wie in Kannibalen sind in Jubiläum die Opfer mit ihren Erinnerungen allein.41 Wird bereits in Kannibalen die Erinnerungs- als 'Nischen-Kultur' etabliert, als groteskes Spiel einer kleinen Gruppe von traumatisierten Überlebenden und Nachgeborenen, findet sich auch in Jubiläum kein Zeichen einer allgemein-gesellschaftlichen Bereitschaft, sich den belastenden Geschichten der Opfer zu stellen. Im Gegenteil: Tabori deutet mit zahllosen Verweisen gerade die Kontinuität zwischen 'altem' NS-Staat und 'neuer' Bundesrepublik an, die vor allem deshalb so erschrekkend wirkt, weil die historischen Geschehnisse viele Jahrzehnte zurückliegen. Den Eindruck der Wiederholbarkeit des 'Dritten Reiches' befördert auch das Aufgreifen absurder Traditionen durch Tabori. Die Figuren sind wie die Clowns in Becketts Endspiel zur Passivität verdammt; die Gedanken der Vgl. den Beitrag "Abdankung des Dokumentarischen?" von Sandra Pott und mir.
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Figuren drehen sich im Kreis, die Zeit-Struktur des Stücks ist zyklisch. Die Interaktion der Opfer untereinander kann die Isolation nicht überwinden, die Friedhofs-Konstellation in Jubiläum eröffnet den Figuren weit weniger Spielräume als die 'Spiel-im-Spiel'-Konzeption von Die Kannibalen: Jubiläum zeichnet sich im Vergleich mit Kannibalen durch eine erhebliche Reduktion der benutzten Interaktionsformen aus - insbesondere die gestischen und mimischen Aktionen sind (bei gleichzeitiger Aufwertung der Rede) reduziert. Die Erinnerung an Verfolgung und Vernichtung ist aus verschiedenen Gründen für die Opfer in Jubiläum aporetisch: der Verweigerung von Kommunikation seitens der Gesellschaft steht der Zwang zur Rede auf Seiten der Opfer gegenüber, ebenso aber die Unmöglichkeit, mit dieser Rede jemanden zu erreichen und Lösungen zu erzielen. Die Opfer können sich lediglich noch über ihre Konflikte aussprechen und sie zerreden; letztlich bleibt es aber ein absurdes Spiel von Toten, die sich in die Welt der Lebenden verirrt haben und die von der gesellschaftlichen Kommunikation ausgeschlossen sind.
5. Es bleiben: eine Welt der Vernichtung und das bittere Gelächter der Toten Taboris Umgang mit dem Holocaust - so sollte deutlich geworden sein vollzieht sich immer auch als kritische Rezeption von etablierten Mustern zur 'Judenvernichtung1, vor allem als Lektüre- und Auslegungsprozeß paradigmatischer Texte. Diese werden unter der Perspektive 'Auschwitz' neu gelesen und neu interpretiert. Daß mit der Lektüre von Brechts Die jüdische Frau gleichsam eine Ent-Heiligung des Prätextes einhergeht, daß Brechts Einakter in Jubiläum lediglich noch als bloßes Spiel-Material verwendet wird, ist freilich intendiert in Taboris Verständnis vom Theater als '"Medium der Peinlichkeit'"42 - einem Medium, in dem "alles verhöhnt werden kann, was als heilig gilt, und sei es nur, um zu entdecken, was davon noch Gültigkeit besitzt".43 Die unterschiedlichen Entstehungszeiten von Die jüdische Frau und der Szene 8 von Jubiläum sowie der damit einhergehende divergente Wissensgrad von Brecht und Tabori über den Holocaust führen zu grundlegenden Unterschieden in der thematischen Konzeption beider Texte. Differenzen in der Tabori: Unterammergau, S. 200. Ebd., S. 37. - Vgl. auch Marcus Sander: Peinliche Erinnerung. George Taboris theatrale Darstellung des Holocaust. In: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 1996, H. 7, S. 634-639.
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Weltanschauung sowie solche, die aus der Wahl von unterschiedlichen formalen Techniken resultieren, kennzeichnen Voraussetzungen und Merkmale beider Texte. In ästhetischer Hinsicht zeichnet sich Taboris Szene insbesondere durch einen Anti-Realismus und einen Anti-Dokumentarismus aus, was sich - wie gezeigt wurde - in der Tendenz zur Allegorisierung von Wirklichkeit, aber auch in seiner eklektischen Aufnahme verschiedener literarischer Traditionen offenbart.44 Ein Freund sagte mir: Das alles, was Brecht hier zeigt, erscheine ihm heute fast harmlos gegenüber den späteren Ereignissen. Darin liegt vielleicht der größte Vorzug; die Ereignisse kennen wir, wir suchen die Anfänge.45
Diese Bemerkung von Max Frisch zur Baseler Premiere von Furcht und Elend des Dritten Reiches im Jahre 1947 verweist auch auf eine wesentliche Differenz zwischen Brechts Die jüdische Frau und Taboris Szene 8 von Jubiläum: Zeigt Brecht die Zeit vor dem nationalsozialistischen Völkermord an der jüdischen Bevölkerung, konzentriert sich Tabori in seinem Gedenkstück auf das 'Danach' - auf den Massenmord und die traumatischen Folgen von Gewalt, Verfolgung und Vernichtung für die historischen und potentiellen Opfer. Es sind nicht mehr dieselbe Figuren wie bei Brecht, die in Jubiläum zum Publikum sprechen: Tabori verwandelt die aus Hitler-Deutschland geflohene Judith Keith in Lotte Stern, die (wie die meisten) nicht rechtzeitig fliehen konnte und die der Vernichtung zum Opfer fiel; er läßt durch Lotte Stern auf eine groteskallegorische Weise die Geschichte von der Ausgrenzung der Opfer bis zu ihrer Vernichtung in den Lagern erzählen. Lotte Sterns Erinnerungsmonolog wird damit zur Nach-Geschichte von Brechts Einakter und zu seiner durch den Verlauf der Geschichte notwendig gewordenen Revision. Es wird mit dem Abstand dieser 45 Jahre von Tabori auch eine vollständig andere Welt 'auf die Bühne gebracht': Nicht mehr 'Amsterdam' als Symbol einer möglichen Rettung und als Ausgangspunkt eines neuen Lebens, das frei ist von den Lügen 'bürgerlich-faschistischer' Verstellung, wird zum zentralen Ort erklärt, sondern ein Friedhof als Chiffre der totalen Zerstörung und — man denke an Taboris Liebe zu Shakespeare und Beckett - als Stätte komischschauderhaften Spiels. In der von Zeit- und Ortlosigkeit bestimmten Welt der Vernichtung kann Brechts Vorlage ebenfalls nur noch als eine zerstörte dargestellt werden. Der ursprüngliche Text erscheint korrigiert, indem er dezimiert und durch neue revidierende Textpassagen überblendet wird - Text44 45
Vgl. auch meinen Beitrag "Friedhofs-Monologe" in diesem Band. Zitiert nach Busch: Brecht (Anm. 4), S. 54.
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fragmente, die von Tabori nach 'Auschwitz' eingefugt werden. Wie Nathan in Nathans Tod die Ringparabel nur noch als Kaddisch am Ende des Stücks erzählen darf (die Katastrophe, die Vernichtung ist längst eingetreten), so greift Tabori Brechts Die jüdische Frau als eine kulturelle Folie auf, deren Text nach 'Auschwitz1 neu zu schreiben und deren belehrende Funktion nach allem, was wir heute über den Holocaust wissen, fragwürdig geworden ist: Die meisten Witzeerzähler beginnen immer wieder mit "Unterbrechen Sie mich, wenn Sie den schon kennen", aber man kann die Toten nicht daran hindern, ihre Witze wieder und wieder zu erzählen. Die Witze der Toten und ihr Gelächter, nicht das homerische, sondern das bitterste, werden als Unterhaltung empfohlen für Nekrophobe, Exorzisten, Gespensterjäger, frustrierte Liebende und den Rest der schweigenden Mehrheit (II, S. 51, Anmerkungen).
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Anhang: Textvergleich Tabori - Brecht Der nachstehende Textvergleich veranschaulicht die von Tabori vorgenommenen Bearbeitungsstrategien. Entsprechungen werden durch Unterstreichungen gekennzeichnet, kleinere Abweichungen sind durch < >, kleinere Auslassungen durch < - > markiert.
George Tabori: Jubiläum, Szenen 4 und 8
Aus: George Tabori: Theaterstücke U. Frankfurt/M. 1994, S. 60f. bzw. S. 71-73
Bertolt Brecht: Die jüdische Frau, Szene 8 Aus: Bertolt Brecht: Furcht und Elend des Dritten Reiches. In: B.B.: Stücke 4. Berlin u. Weimar, Frankfurt/M. 1988 (= Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u.a. Bd. 4), S. 385-390.
Szene 4 (Auszug)
Teil 2 von Szene 8 (Auszug)
Otto lacht wie eine Hyäne, bricht ab, als Helmut im Frauenkleid auftaucht. Er geht langsam. OTTO Wie geht es dir, Helmut? HELMUT aggressiv Viel besser. OTTO Hat man dich gut behandelt im Krankenhaus? HELMUT Ich habe Angst zu pullern. LOTTE Wie war's mit einem Teller guter Hühnersuppe? HELMUT Nichts, was treibt. OTTO sanft Tut's weh? HELMUT Ja. OTTO küßt ihn Jetzt bist du auch ein Saujud.
JUDITH KEITH: [...] Sie hält wieder inne. Sie beginnt wieder von vorn. Ja, ich packe. Du mußt nicht tun, als ob du das nicht gemerkt hättest die letzten Tage. Fritz, alles geht, nur eines nicht: daß wir in der letzten Stunde, die uns bleibt, einander nicht in die Augen sehen. Das dürfen sie nicht erreichen, die Lügner, die alle zum Lügen zwingen. Vor zehn Jahren, als jemand meinte, das sieht man nicht, daß ich eine Jüdin bin, sagtest du schnell: doch, das sieht man. Und das freut einen. Das war Klarheit. Warum jetzt um das Ding herumgehen? Ich packe, weil sie dir sonst die Oberarztstelle wegnehmen. Und weil sie dich schon nicht mehr grüßen in deiner Klinik und weil du nachts schon nicht mehr schlafen kannst. Ich will nicht, daß du mir sagst, ich soll nicht gehen. Ich beeile mich, weil ich dich nicht noch sagen hören will, ich soll gehen. Das ist eine Frage der Zeit. Charakter, das ist eine Zeitfrage. Er hält soundso lang, genau wie
Der Tod der Jüdischen Frau HELMUT Ja. Helmut liest ein Buch, hält inne, horcht, eine Fliege summt, er liest weiter. OTTO Was liest du da so eifrig? HELMUT buchstabiert B-r-e-c-h-t. OTTO Gott sei bei uns. Helmut liest, hält inne, hört Wochenschauton — Heilrufe — vom 30. Januar 1933, der verebbt, liest weiter. Und was liest du da so eifrig von B-r-e-c-h-t, oder soll ich besser nicht fragen. HELMUT 'Die jüdische Frau'. OTTO Die hat uns noch gefehlt. Helmut liest weiter, hält inne, lauscht, hört Wochenschauton mit Hitlers Stimme, der verebbt, liest weiter. Und was macht sie da, bei B-r-e-c-h-t, Matze-Suppe? HELMUT Sie packt, sie telefoniert, sie sagt zum Abschied leise Servus, sie geht ins Exil, ihr Mann, die fiese Memme, läßt sie. OTTO Helmut, wir haben 1983. Helmut hat aufgehört zu lesen, lauscht, hört das Klirren zerschmetternder Schaufenster. HELMUT erschrocken Hörst du? OTTO Was, mein Schatz? Klirren verebbt. HELMUT Nichts. OTTO Ich tue eine Flasche Blanc de Blanc auf Eis und hole die Peking-Ente aus der Röhre. Sportschau um sechs. HELMUT Ich geh und packe. Was seid ihr . für Menschen, ja. auch du Hört Kinderschreie Das hier dauert nicht nur vier Wochen. Du weißt es. und ich weiß es auch. Sag also nicht: s sind schließlich nur ein paar Wochen, während du mir den Pelzmantel gibst, den ich doch erst im Winter brauche < - >. Und reden wir nicht vo Unglück. Reden wir von Schande. Ein Kaddisch. Er gräbt ein Loch, bis seine Finger bluten, und vergräbt sein Kleid. Er zuckt in der Erinnerung an Elektroschocks undblabbert Brecht-Texte.
243 ein Handschuh. Es gibt gute, die halten lang. Aber sie halten nicht ewig. Ich bin übrigens nicht böse. Doch ich bin's. Warum soll ich alles einsehen? Was ist schlecht an der Form meiner Nase und der Farbe meines Haars? Ich soll weg von der Stadt, wo ich geboren bin, damit sie keine Butter zu geben brauchen. Was seid ihr für Menschen, ja. auch du Ihr erfindet die Quantentheorie und den Trendelenburg und laßt euch von Halbwilden kommandieren, daß ihr die Welt erobern sollt, aber nicht die Frau haben dürft, die ihr haben wollt. Künstliche Atmung und jeder Schuß ein RUSS'! Ihr seid Ungeheuer oder Speichellecker von Ungeheuern! Ja, das ist unvernünftig von mir, aber was hilft in einer solchen Welt die Vernunft? Du sitzt da und siehst deine Frau packen und sagst nichts. Die Wände haben Ohren, wie? Aber ihr sagt ja nichts! Die einen horchen und die ändern schweigen. Pfui Teufel. Ich sollte auch schweigen. Wenn ich dich liebte, schwiege ich. Ich liebe dich wirklich. Gib mir die Wäsche. Das ist Reizwäsche. Ich werde sie brauchen. Ich bin sechsunddreißig, das ist nicht zu alt, aber viel experimentieren kann ich nicht mehr. Mit dem nächsten Land, in das ich komme, darf es nicht mehr so gehen. Der nächste Mann, den ich kriege, muß mich behalten dürfen. Und sage nicht, du wirst Geld schicken, du weißt, das kannst du nicht. Und du sollst auch nicht tun, als wäre es nur für vier Wochen. Das hier dauert nicht nur vier Wochen. Du weißt es und ich weiß es auch. Sag also nicht: s sind schließlich nur ein paar Wochen, während du mir den Pelzmantel gibst, den ich doch erst im Winter brauche. Und reden wir nicht vo Unglück. Reden wir von Schande. Oh, Fritz! Sie hält inne. Eine Tür geht. Sie macht sich hastig zurecht. Ihr Mann tritt ein.
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Teil l von Szene 8
Lotte allein.
DIE JÜDISCHE FRAU
LOTTE Ein kleines, aber mieses Volk, die Gerechtigkeit suchend hier und jetzt, nicht da, irgendwo, Gott weiß wo, jenseits. Daher eine große Überschätzung des Lebens, nicht da, irgendwo, jenseits, sondern hier und jetzt. Die Ewigkeit dauert eine Sekunde, der Himmel ist reserviert für die Goyim und die Hölle für uns, hier und jetzt und nicht da, unten, irgendwo, jenseits. Ich persönlich finde das Leben, ach ja, das Leben, eine höchst fragwürdige Art der Unterhaltung, eine lebenslängliche Langeweile, einen sozusagen stinknormalen Sonntagabend, in Solingen zum Beispiel, mit oder ohne Arnold Stern, dessen Bart, dessen Schwere, dessen Klarinette, dessen unerträgliche Güte mich, um genau zu sein, nur fünf Minuten lang reizte, und basta. Die einzige Freude, die ich je genoß, war das Lachen, aber die Witze sind ja auch nicht mehr, was sie mal waren. Kurz, das Leben kann mich. Aber mein Tod, ich möchte nicht angeben, mein Tod, ach ja, mein Tod, war eine prächtige Groteske, schöner als der von Ophelia oder der Heiligen Johanna, Flammen mochte ich nie. teht auf Ich bin in einer Telefonzelle am Dom, es schneit, draußen der Karnevalsrummel, die Menge kommt und geht, Stadträte, Sanitätsräte, Richter, Hinrichter, Rentner, Zahnärzte, Rechtsanwälte, Linksliberale, Bischöfe, Masseure, Regisseure, Nutten, Junkies, alte Nazis, junge Nazis, und ein kleiner Japaner mit einem Flanellmund. Ruft eine Nummer an Hier Lotte Stern. Doktor, sind Sie es? - Guten Abend. Ich wollte nur eben mal anrufen und sagen, daß ihr euch jetzt doch nach einem neuen Bridgepartner umsehen müßt, ich verreise nämlich. — Nein, nicht für sehr lange, aber ein paar Wochen werden
Und dort sehn wir jene kommen Denen er ihre Weiber genommen Jetzt werden sie arisch gepaart. Da hilft kein Fluchen und Klagen Sie sind aus der Art geschlagen Er schlägt sie zurück in die Art. £5 ist Abend. Eine Frau packt Koffer. Sie •wählt aus, was sie mitnehmen will. Mitunter nimmt sie etwas aus dem Koffer und gibt es an seinen Platz im Zimmer zurück, um etwas anderes einpacken zu können. Lange schwankt sie, ob sie eine große Fotografie ihres Mannes, die auf der Kommode steht, mitnehmen soll. Dann läßt sie das Bild stehen. Sie wird müde vom Packen und sitzt eine Weile auf einem Koffer, den Kopf in die Hand gestützt.
Dann teht sie auf und telefoniert. DIE FRAU: Hier Judith Keith. Doktor, sind Sie es? - Guten Abend. Ich wollte nur eben mal anrufen und sagen, daß ihr euch jetzt doch nach einem neuen Bridgepartner umsehen müßt, ich verreise nämlich. Nein, nicht für sehr lange, aber ein paar Wochen werden es schon werden. Ich will nach Amsterdam. - Ja, das Frühjahr soll dort ganz schön sein. - Ich habe Freunde dort. - Nein, im Plural, wenn Sie es auch nicht glauben. - Wie ihr da Bridge spielen sollt? - Aber wir spielen doch schon seit zwei Wochen nicht. Natürlich, Fritz war auch erkältet. Wenn es
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es schon werden. - Übrigens, Doktor, die Tür klemmt. - Die Tür der Zelle. - Die Telefonzelle, die Tür klemmt. Ja, ich weiß, es klingt merkwürdig. - Nein, ich habe schon alles versucht, gedrückt, gestoßen, mit Ellbogen, Schultern, Hintern, Knien, sie geht nicht auf. - Nein, das ist kein jüdischer Witz. - Ja, es sind Leute draußen, eine Menge. - Nein, die kümmern sich nicht. - Ja, ich habe schon um Hilfe gerufen. - Möchten Sie es hören, bitte sehr. Schreit Hilfe! - Nein, ich bin nicht verrückt geworden. - Ja, würden Sie so liebenswürdig sein, den Notruf oder die Feuerwehr oder die... Adieu
so kalt ist, kann man eben nicht mehr Bridge spielen, das sagte ich auch! - Aber nein, Doktor, wie sollte ich? - Thekla hatte doch auch ihre Mutter zu Besuch. — Ich weiß. - Warum sollte ich so was denken? Nein, so plötzlich kam es gar nicht, ich habe nur immer verschoben, aber jetzt muß ich. - Ja, aus unserem Kinobesuch wird jetzt auch nichts mehr, grüßen Sie Thekla. - Vielleicht rufen Sie ihn sonntags mal an?
uft eine andere Nummer an
Sie hängt ein und uft eine andere Nummer an. Hier Judith Keith. Ich möchte Frau Schock sprechen. - Lotte? - Ich rasch adieu sagen, ich verreise einige Zeit. - Nein. nur mal ein paar neue Gesichter zu sehen. - Ja. was ich sagen wollte. Fritz hat nächsten Dienstag den Professor hier zu Abend, da könntet ihr vielleicht auch kommen, ich fahre, wie gesagt, heute nacht. - Ja, Dienstag. - Nein, ich wollte nur sagen, ich fahre heute nacht, es hat gar nichts zu tun damit, ich dachte ihr könntet dann auch kommen. - Nun, sagen wir also, obwohl ich nicht da bin, nicht? - Das weiß ich doch, daß ihr nicht so seid, und wenn, das sind doch unruhige Zeiten und alle Leute passen so auf, ihr kommt also? - Wenn Max kann? Er wird schon können, der Professor ist auch da, sag's ihm. - Ich muß jetzt hängen. Also. Adieu!
Hier Lotte Stern. Ich möchte Frau Schock sprechen. - Frau Schock? - Ich rasch adieu sagen, ich verreise einige Zeit. - Nein. nur mal ein paar neue Gesichter zu sehen. - Ja. was ich sagen wollte, ich bin in einer Telefonzelle am Dom, und die Tür klemmt, ich kriege sie nicht auf, außerdem steigt irgendwie Wasser aufwärts. - Ja, schlammiges, eisiges Wasser, wahrscheinlich der Rhein. - Nein, ich kann es nicht erklären, ich vermute, es sickert durch den Boden, ein Bruch in der Kanalisation vielleicht, es steht mir schon um die Krampfadern, und die Tür klemmt. - Nein, ich habe nicht getrunken. - Ja, es ist kalt. - Ja, es steigt. - Nein, niemand hilft. - Ich muß jetzt hängen. - Wenn Sie so gütig wären, die Polizei... Also. Adieu!
uft eine andere Nummer an Bist du es. Gertrud? Hier Lotte. Entschuldige, daß ich dich störeO aber ich stehe in dieser Telefonzelle am Dom bis zu den Arschbacken im schlammigen Wasser, und
- Also auf Wiedersehen! - Ja, sicher, gern!
- Adieu
Sie hängt ein und uft eine andere Nummer an, Bist du es. Gertrud? Hier Judith. Entschuldige, daß ich dich störe - Danke. Ich wollte dich fragen, ob du nach Fritz sehen kannst, ich verreise für ein paar Monate. -
246 die Tür geht nicht auf. - Ich denke, du als seine Schwester ... Warum nicht? - Natürlich weiß . daß wir nicht so ... gut aber ... ich möchte eher nicht ertrinken, hier, am Dom, das Wasser steht schon am Nabel.
- Ich danke dir sehr. Gertrud, und wir schreiben und ja immer mal wieder. Adieu. Schreit hinaus Hilfe! Hilfe!
ufi eine andere Nummer an. das Wasser steht ihr bis zum Hals Annaier ist Lotte, du. ich jetzt. - Nein, es muß schon sein, es wird zu schwierig, die Tür klemmt, die Menge kommt und geht... Zu schwierig
ch hätte dir gern noch adieu gesagt.
Marcus Sander Ich denke, du als seine Schwester ... Warum möchtest du nicht? - So wird es aber doch nicht aussehen, bestimmt nicht für Fritz. - Natürlich weiß . daß wir nicht so ... gut aber ... - Dann wird er eben dich anrufen, wenn du willst. - Ja, das will ich ihm sagen. Es ist alles ziemlich in Ordnung, die Wohnung ist ja ein bißchen zu groß. - Was in seinem Arbeitszimmer gemacht werden soll, weiß Ida, laß sie da nur machen. - Ich finde sie ganz intelligent und er ist gewöhnt an sie. Und noch was, ich bitte dich, das nicht falsch aufzunehmen, aber er spricht nicht gern vor dem Essen, könntest du daran denken? Ich hielt mich da immer zurück. Ich möchte nicht gern darüber diskutieren jetzt, mein Zug geht bald, ich habe noch nicht fertig gepackt, weißt du. - Sieh auf seine Anzüge und erinnere ihn, daß er zum Schneider gehen muß, er hat einen Mantel bestellt, und sorg, daß in seinem Schlafzimmer noch geheizt wird, er schläft immer bei offenem Fenster und das ist zu kalt. - Nein, ich glaube nicht, daß er sich abhärten soll, aber jetzt muß ich Schluß machen. - Ich danke dir sehr. Gertrud, und wir schreiben und ja immer mal wieder. Adieu.
Sie hängt ein und uft eine andere Nummer an. Anna