Kritische Gesamtausgabe. Band 16,1+2 Der Historismus und seine Probleme: Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922) 9783110900682, 9783110163421

Troeltsch’s great last book, Der Historismus und seine Probleme (Historicism and Its Problems), was written in a complic

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German Pages 1452 [1460] Year 2008

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Table of contents :
Vorwort
Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troeltsch • Kritische Gesamtausgabe
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Einleitung
1. Werkgeschichtliche Kontexte
2. Zu Inhalt und Aufbau des Ersten Buches von „Der Historismus und seine Probleme“
3. Offene Fragen: Das geplante Zweite Buch von „Der Historismus und seine Probleme“
Der Historismus und seine Probleme
Editorischer Bericht
1. Entstehung, Textgenese und Drucklegung der zwölf Erstfassungen
2. Zur Entstehung des Historismus-Bandes
3. Die Drucklegung des Historismus-Bandes
4. Die Einträge im Handexemplar
5. Editorische Entscheidungen
6. Variantenindizierung
Edierter Text
Vorwort
Inhaltsübersicht
Kapitel I. Über das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie
1. Die heutige Krisis der Historie
2. Der moderne Ursprung der Geschichtsphilosophie
3. Die formale Geschichtslogik
4. Die materiale Geschichtsphilosophie
5. Das reale Verhältnis von Natur und Geschichte
6. Naturalismus und Historismus
Kapitel II. Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge und ihr Verhältnis zu einem gegenwärtigen Kulturideal
1. Ausgangspunkt der Maßstabbildung von der historischen Individualität
2. Verschiedene Versuche, Historisch-Individuelles und Allgemeingültiges zu verbinden: Kant, Marburger Kantschule, Hegel, Eucken, Schopenhauer, v. Hartmann, Nietzsche, Simmel, Bergson, Positivismus, Kidd, H. G. Wells, J.-M. Guyau, Marxismus, Rickert, Max Weber, Praxis der Historie
3. Der Begriff der gegenwärtigen Kultursynthese in seinem Verhältnis zum Historisch-Individuellen und zum Ethisch- Allgemeinen
4. Apriorität und Objektivität einer solchen Kultursynthese
5. Historie und Werdehre
Kapitel III. Über den historischen Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte
1. Das Problem und kritischer Ausgang von der Rickertschen Theorie
2. Die Hegeische Dialektik: Hegel, Ranke
3. Die Organologie der deutschen historischen Schule: Schelling, Savigny, Grimm, Boeckh usw., Adam Müller, W. v. Humboldt, Die preußische Schule, Droysen; Schopenhauer und Kierkegaard als Gegenspieler
4. Die Marxistische Dialektik: Marx, Tönnies, Plenge, Bücher, Sombart, Max Weber
5. Die historische Dynamik des Positivismus: Saint-Simon, Comte, Mill, Spencer, Fouillée, Herbartianer, Wundt
6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus und die Versuche zu ihrer Deutung und Bestimmung in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie
7. Die Historiker des nachspekulativen Realismus
8. Historie und Erkenntnistheorie
Kapitel IV. Über den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte
1. Entwicklung und Aufbau
2. Der Europäismus
3. Das Problem einer objektiven Periodisierung
4. Die Schichtung des Aufbaus
Biogramme
Literaturverzeichnis
1. Verzeichnis der von Ernst Troeltsch genannten Literatur
2. Sonstige von den Herausgebern genannte Literatur
Personenregister
Sachregister
Gliederung der Ernst Troeltsch • Kritische Gesamtausgabe
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Kritische Gesamtausgabe. Band 16,1+2 Der Historismus und seine Probleme: Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922)
 9783110900682, 9783110163421

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Ernst Troeltsch

Kritische Gesamtausgabe

Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe

im Auftrag der Kommission für Theologiegeschichtsforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von

Friedrich W ilhe1m Graf Christian Albrecht . Volker Drehsen Gangolf Hübinger . Trutz Rendtorff

Band 16 Teilband

1

Walter de Gruyter . Berlin . New York

Ernst Troeltsch Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922)

Teilband 1

herausgegeben von

Friedrich W ilhelm Graf in Zusammenarbeit mit

Matthias Schloßberger

Walter de Gruyter . Berlin . New York

Das Vorhaben Troeltsch-Edition wird im Rahmen des Akademienprogramms von der Bundesrepublik Deutschland und vom Freistaat Bayern gefördert.

@

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt .

ISBN

978-3-11-016342-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­ halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für VervielfaItigungen, Übersetzungen, Mikroverftlmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Etwaige Bildrechteinhaber der Tafelabbildungen konnten leider nicht ermittelt werden. Sollten noch etwaige Ansprüche unerfüllt sein, bittet der Verlag um entsprechende Mitteilung. Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin Satztechnik �TEX): David Kastrup, Bochum Satz: Diana Feßl, Dr. Stefan Pautler, München Druck: Mercedes-Druck GmbH, Berlin

Buchbinderische Verarbeitung: Stein + Lehmann GmbH, Berlin

Vorwort

"Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie" erschien Anfang Oktober 1 922 und Mitte Dezember 1 922 in zwei Teilbänden als "Dritter Band" der "Gesammel­ ten Schriften" Ernst Troeltschs. Aufgrund der plötzlichen Erkrankung Troeltschs Ende der zweiten Januarwoche 1 923 und seines frühen Todes am 1 . Februar 1 923 blieb das geplante "Zweite Buch" zu einer materialen "Kultursynthese" des "Europäismus" ungeschrieben. Erste handschriftliche Entwürfe für die Einleitung zu diesem "Zweiten Buch" sowie eine Skizze des geplanten Aufbaus und Inhalts gingen verloren. So stellt das systematische Hauptwerk des Berliner Kulturphilosophen und Ethikers nur ein Fragment dar. Immerhin lassen sich die Umrisse des Troeltsch vorschwebenden Ganzen vage erschließen. Wie viele andere europäische Geschichtsdenker der Zeit suchte Troeltsch die dramatischen Krisenerfahrungen von Weltkrieg, Revolution und Inflation konstruktiv zu deuten, indem er elementare, länger wirkende Bewegungskräfte des histo­ rischen Prozesses beschwor und Langzeitperspektiven entwarf, die relative Kontinuität verbürgten und Orientierungswissen für neue Zukunftsge­ staltung bargen. In der breit angelegten problemgeschichtlichen Analyse von konkurrierenden Geschichtsauffassungen und Temporalkonzepten, wie etwa Erinnerung, Gedächtnis, Bewegung, schöpferischer Augen­ blick, Dauer, Kairos, Gegenwart, Ewigkeit und Sprung, wollte Troeltsch westeuropäisch-naturrechtliches Geschichtsdenken mit den in Deutschland besonders positiv konnotierten Begriffen des Historisch-Individuellen, Schöpferischen zusammenführen. Gerade die entschieden europäische Akzentuierung der ihm vorschwebenden "Kultursynthese" läßt die Nähe seiner Historismus-Deutungen zu den zeitgleich entstandenen politischen Programmtexten erkennen. Trotz seiner fragmentarischen Gestalt gilt das "Erste Buch" von "Der Historismus und seine Probleme" als die thematisch weit gespannteste Ana­ lyse der aus der modernen historistischen Denkrevolution resultierenden Probleme, die im frühen 20. Jahrhundert in deutscher Sprache publiziert wurde. Viele akademische Zeitgenossen lasen das Buch als Ernst Troeltschs intellektuelles "Testament" und "Vermächtnis". In den zwanziger Jahren

VI

Vorwort

avancierte es zu einem Schlüsseltext der Selbstverständigungsdebatten vie­ ler Intellektueller der damals jüngeren, zumeist antihistoristisch gestimmten Generation. Zahlreiche Rezensionen und kritische Essays spiegeln die In­ tensität der ideenpolitischen Herausforderung, die Troeltschs letztes Buch für die neuen jugendbewegten Unbedingtheitsdenker bedeutete. Friedrich Gogarten und Paul Tillich gaben dem Buch einen hohen Stellenwert für ihre Neubestimmung der Theologie, und in anderer Weise wählten zeitsensible Intellektuelle wie Karl Mannheim, Siegfried Kracauer und der Historiker Richard Koebner Troeltschs Großfragment als Ausgangspunkt ihrer geschichtstheoretischen Gegenwartsdeutungen. Aber auch bedeuten­ de Gelehrte aus Troeltschs eigener Generation, etwa Friedrich Meinecke, Otto Hintze, Alfred Loisy, Benedetto Croce, Ferdinand Tönnies und Alfred Vierkandt, suchten im Medium der kritischen Rezeption von Troeltschs geschichtsmetaphysischer "Kultursynthese" ihr eigenes Verständnis der Geschichtswissenschaft und des Schicksals der Religion in der Moderne zu klären. Mit der vorliegenden Edition gewinnt Ernst Troeltschs "Der Historis­ mus und seine Probleme" erstmals eine historisch-kritischen Präsentations­ prinzipien entsprechende Textgestalt. Dargestellt werden alle Entwicklungs­ stufen des Textes. Neben den publizierten Vorfassungen werden auch die wenigen handschriftlichen Zusätze dokumentiert, die Troeltsch zwischen Sylvester 1 922 und seinem Tod in sein Handexemplar eintrug. Der diffe­ renzierten Erschließung von Troeltschs Text dienen die Kommentare, der ausführliche Editorische Bericht und die teils werkhistorisch, teils systema­ tisch angelegte Einleitung. In den über 1 200 Kommentaren werden die vom Autor genannten Literaturangaben präzisiert, Zitate nachgewiesen so­ wie irrtümliche Verweise korrigiert. Angesichts der großen Fülle der von Troeltsch berücksichtigten Literatur mußten in der Kommentierung jedoch Grenzen markiert werden. Ü ber Einzelheiten der Editionspraxis informiert der Editorische Bericht. In den Biogrammen werden die wichtigsten der von Troeltsch genannten Autoren vorgestellt, mit Ausnahme allgemein be­ kannter Persönlichkeiten. Zeitlich parallel zu "Der Historismus und seine Probleme" schrieb Troeltsch grundlegende Essays zur "Krisis des Historismus", politischen Ethik und Kulturphilosophie, in denen er die Grundzüge seines Gebil­ detenrepublikanismus entfaltete. Diese Texte sind 2002 im Band 1 5 der Troeltsch KGA als "Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1 9 1 81 923)" von Gangolf Hübinger kritisch ediert worden. Das Schlußkapitel "Ueber den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte" weist voraus auf die Vorlesungen über "Ethik und Geschichtsphilosophie", die Ernst Troeltsch im März 1 923 in Großbritannien hatte halten wollen. Diese

Vorwort

VII

1 924 unter dem mißverständlichen Titel "Der Historismus und seine Überwindung" publizierten Vorlesungen wurden 2006 als Band 1 7 der Troeltsch KGA in deutscher und englischer Sprache ebenfalls von Gangolf Hübinger herausgegeben. Die Rezensionen zu geschichtsphilosophischen Neuerscheinungen, die Troeltsch neben der Arbeit am Historismus-Band schrieb, werden demnächst in Band 1 3, dem dritten Rezensionsband der Troeltsch KGA kritisch ediert. In engem Zusammenhang mit sei­ nem intensiven politischen Engagement für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei kommentierte Troeltsch, zunächst pseudonym, im "Kunstwart" von Dezember 1 9 1 8 bis November 1 922 die politischen Tagesereignisse. Auch wenn diese "Spektator-Briefe" in ihren entschieden politischen Fokussierungen von den als "Krise des Historismus" begrif­ fenen fundamentalen Normativitätsproblemen thematisch weit entfernt zu liegen scheinen, lassen sich vielfältige Wechselwirkungen zwischen den ganz unterschiedlichen Textproduktionsprozessen beobachten. In beiden Rollen, als gelehrter Geschichtsphilosoph ebenso wie als politischer Analytiker, will Troeltsch Orientierungswissen zur inneren Integration der stark fragmentierten deutschen Gesellschaft und für innereuropäische Verständigungsprozesse vermitteln. Vorworte sind akademische Erinnerungsorte für gebotenen Dank. Bei den harten editorischen Mühen habe ich in den letzten Jahren vielfältige Un­ terstützung erfahren. Herr Dr. Karl-Heinz Fix hat in sehr intensiven Archiv­ recherchen wichtige Hintergrundinformationen für den Editorischen Be­ richt und die Biogramme erschlossen sowie erste Kommentarfassungen ge­ schrieben. Herr Christian Nees und Herr Dr. Dirk Schmid haben schwer zu entziffernde Marginalien, Vorlesungsmitschriften und Briefe transkribiert, Herr Christof Löwe die beiden großen Register erstellt. Hohes Lob gebührt den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften, die in der Bayeri­ schen Staatsbibliothek und der FernleihesteIle der Münchner Universitätsbi­ bliothek geduldig über 1 000 Titel recherchiert und ausgeliehen haben. Ker­ stin Greifenstein und Christoph Leipold, später dann Michael Bauer, Hans­ Joachim Bruzinski, Frank Fabian, Constantin Greim, Christian Gross, Birte Janzarik, Rupert Paulik und Jessica Renner haben durch unermüdliches Bü­ cherschleppen am eigenen Leibe erlitten, daß sich Ernst Troeltsch in "Der Historismus und seine Probleme" gleichsam eine öffentliche Privatbiblio­ thek europäischen Geschichtsdenkens errichtete. In der Schlußphase haben zudem Herr Dr. Hans Cymorek, Frau Diana Feßl, Herr Dr. Harald Haury, Frau Stephanie Reichenbach-Klinke und Herr Alexander Seelos bei der Korrektur mitgearbeitet und letztlich dafür gesorgt, daß dieser Band in Druck gehen konnte. Herr Dr. Stefan Pauder hat in bewährter umsichtiger Souveränität den Prozeß der Drucklegung

VIII

Vorwort

begleitet sowie zusammen mit Frau Diana Feßl den Satz besorgt. Ihnen allen sei für die lange, mühevolle Mitarbeit an diesem Band 1 6, 1 und 2 der Ernst Troeftsch . Kritische Gesamtausgabe sehr herzlich gedankt. München, den 26. Januar 2008

Friedrich Wilhelm Graf

Inhaltsverzeichnis

Teilband 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troe/tsch . Kritische Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

Siglen, Zeichen, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIX

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1 . Werkgeschichtliche Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Zu Inhalt und Aufbau des Ersten Buches von "Der Historismus und seine Probleme" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3. Offene Fragen: Das geplante Zweite Buch von "Der Historismus und seine Probleme" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Der Historismus und seine Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

1 . Entstehung, Textgenese und Drucklegung der zwölf Erstfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

2. Zur Entstehung des Historismus-Bandes . . . . . . . . . . . . . . .

1 24

3. Die Drucklegung des Historismus-Bandes . . . . . . . . . . . . . .

133

4. Die Einträge im Handexemplar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 54

5. Editorische Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 55

x

Inhaltsverzeichnis

6. Variantenindizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

Edierter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Kapitel 1. Ü ber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie . . .

169

1. Die heutige Krisis der Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

2. Der moderne Ursprung der Geschichtsphilosophie. . . . . . . .

179

3. Die formale Geschichtslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

4. Die materiale Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

5. Das reale Verhältnis von Natur und Geschichte . . . . . . . . . .

258

6. Naturalismus und Historismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Kapitel II. Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge und ihr Verhältnis zu einem gegenwärtigen Kulturideal. . . . . . . . . . . .

292

1. Ausgangspunkt der Maßstabbildung von der historischen Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292

.

2. Verschiedene Versuche, Historisch-Individuelles und Allge­ meingültiges zu verbinden: Kant, Marburger Kantschule, He­ gel, Eucken, Schopenhauer, v. Hartmann, Nietzsche, Simmel, Bergson, Positivismus, Kidd, H. G. Wells, J .-M. Guyau, Marxismus, Rickert, Max Weber, Praxis der Historie . . . . . . . . . . . . . .

306

3. Der Begriff der gegenwärtigen Kultursynthese in seinem Verhältnis zum Historisch-Individuellen und zum EthischAllgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

358

4. Apriorität und Objektivität einer solchen Kultursynthese. . . .

371

5. Historie und Wertlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393

XI

Inhaltsverzeichnis

Kapitel III. Ü ber den historischen Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

416

1. Das Problem und kritischer Ausgang von der Rickertschen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

416

2. Die Hegelsche Dialektik: Hegel, Ranke . . . . . . . . . . . . . . . . .

442

3. Die Organologie der deutschen historischen Schule: Schel­ ling, Savigny, Grimm, Boeckh usw., Adam Müller, W. v. Hum­ boldt, Die preußische Schule, Droysen; Schopenhauer und Kierkegaard als Gegenspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

483

4. Die Marxistische Dialektik: Marx, Tönnies, Plenge, Bücher, Sombart, Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

536

5. Die historische Dynamik des Positivismus: Saint-Simon, Comte, Mill , Spencer, Fouillee, Herbartianer, Wundt . . . . . . . . .

599

Teilband 2

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus und die Versuche zu ihrer Deutung und Bestimmung in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die deutschen Metaphysiker der Jahrhundertmitte: Lotze, v. Hartmann, Eucken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die psychologisierenden Lebensphilosophen: Nietzsche, Dilthey, George-Schule, Spengler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die apriorisierenden Formdenker: Riehl, F. A. Lange, die Marburger Kantschule, die südwestdeutsche Schule, Simmel, die phänomenologische Schule, Scheler . . . . . . . . . . . . D. Die positivistisch-neuromantische Metaphysik Italiens und Frankreichs: Croce, Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

709 719 756 804 915

7. Die Historiker des nachspekulativen Realismus . . . . . . . . . . .

956

8. Historie und Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

964

Kapitel IV. Über den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte . .

1 008

1. Entwicklung und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 008 2. Der Europäismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 020

XII

Inhaltsverzeichnis

3. Das Problem einer objektiven Periodisierung . . . . . . . . . . . . 1 049 4. Die Schichtung des Aufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081 Biogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 01

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 41

1. Verzeichnis der von Ernst Troeltsch genannten Literatur. . . . 1 1 41 2. Sonstige von den Herausgebern genannte Literatur . . . . . . . . 1218 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 255

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 275

Gliederung der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe . . . . . . . . . . .

1423

Aufbau und Editorische Grundsätze der

Ernst Troettsch . Kritische Gesamtausgabe

I. Aufbau 1. Aufbau der einzelnen Bände Jeder Band enthält: (1) Vorwort (2) Inhaltsverzeichnis (3) Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troe/tsch . Kritische Ge­

samtausgabe

(4) Siglen, Zeichen und Abkürzungen (5) Einleitung des Bandherausgebers. Die Einleitung informiert über den Text bzw. die Texte des Bandes und deren Anordnung, über wissen­ schaftsgeschichtliche Bezüge und zeitgeschichtliche Hintergründe. (6) Editorische Berichte. Die Editorischen Berichte informieren über Ent­ stehung, Entwicklung und Überlieferungslage sowie über editorische Entscheidungen. (7) Troeltsch-Text mit textkritischem Apparat und Kommentaren der Her­ ausgeber; innerhalb eines Bandes sind die Edierten Texte chronolo­ gisch geordnet. (8) Biogramme. Berücksichtigt werden nur Personen, die von Troeltsch ge­ nannt sind, mit Ausnahme allgemein bekannter Persönlichkeiten. Die Biogramme informieren über die wichtigsten Lebensdaten, geben die berufliche bzw. gesellschaftliche Stellung an und nennen gegebenen­ falls die verwandtschaftlichen, persönlichen, beruflichen oder werkge­ schichtlichen Beziehungen zu Troeltsch. (9) Literaturverzeichnis. In einem ersten Teil wird die von Troeltsch zitier­ te Literatur angeführt, in einem zweiten Teil wird die von den Her­ ausgebern in Einleitung, Editorischen Berichten und Kommentaren genannte Literatur aufgenommen. Die Rezensionenbände enthalten ein dreigeteiltes Literaturverzeichnis. Im ersten Teil werden die von

XIV

(10)

(11)

(12) (13)

Aufbau und Editorische Grundsätze

Troeltsch rezensierten Schriften aufgeführt. Der zweite Teil verzeich­ net die von Troeltsch selbst zitierte Literatur. Im dritten Teil ist die von den Herausgebern in Einleitung, Editorischen Berichten und Kom­ mentaren genannte Literatur aufgenommen. Das Literaturverzeichnis wird auf autoptischem Wege erstellt. Personenregister. Aufgenommen sind sämtliche Personen, die von Troeltsch selbst in den Edierten Texten oder von den Herausgebern in der Einleitung, den Editorischen Berichten und Kommentaren erwähnt sind. Dazu gehören auch die Autoren der angeführten Literatur. Recte gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Troeltschs Texte, kursiv gesetzte Seitenzahlen auf die Herausgeberrede. Sachregister. Es enthält alle wichtigen Begriffe und Sachbezeichnun­ gen einschließlich geographischer Namen mit Ausnahme der biblio­ graphischen Erscheinungsorte. Das Sachregister erfaßt Troeltschs Text und die Herausgeberrede. Recte gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Troeltschs Texte, kursiv gesetzte Seitenzahlen auf die Herausgeberre­ de. Den Bänden können weitere Verzeichnisse, wie z. B. Konkordanzen, beigefügt werden. Gliederung der Ernst Troe/tsch . Kritische Gesamtausgabe.

2. Aufbau der einzelnen Seiten und Darstellung des Edierten Textes 2.1. Satzspiegel Es werden untereinander angeordnet: Text der Ausgabe letzter Hand, gege­ benenfalls mit Fußnoten Troeltschs, textkritischer Apparat und Kommenta­ re. Die Fußnoten werden ohne einen Trennstrich unter den Haupttext ange­ ordnet, der textkritische Apparat wird durch einen kurzen, die Kommentare werden durch einen durchgezogenen Trennstrich abgesetzt.

2.2. Hervorhebungen Hervorhebungen Troeltschs werden einheitlich durch Kursivsetzung kennt­ lich gemacht.

2.3. Seitenzahlen des Originaldrucks Die Seitenzahlen der Druckfassungen der jeweiligen Textstufen des Edier­ ten Textes werden am Seitenrand unter Angabe der entsprechenden Textsi­ gle angezeigt; im laufenden Edierten Text (auch in den Fußnoten und gege­ benenfalls im textkritischen Apparat) wird die Stelle des ursprünglichen Sei­ tenumbruchs durch einen senkrechten Strich zwischen zwei Wörtern bzw. Silben angegeben.

Aufbau und Editorische Grundsätze

xv

II. Editorische Grundsätze 1. Präsentation der Texte und ihrer Entwicklung

Die Texte werden nach historisch-kritischen Prinzipien bearbeitet. Das heißt, es werden alle Entwicklungsstufen eines Textes einschließlich handschriftlicher Zusätze dokumentiert und alle editorischen Eingriffe einzeln ausgewiesen. 1.1. Textvarianten

Liegt ein Text in mehreren von Troeltsch autorisierten Fassungen vor, so wird in der Regel die Fassung letzter Hand zum Edierten Text bestimmt. Die übrigen Fassungen werden einschließlich der handschriftlichen Zusätze Troeltschs im textkritischen Apparat mitgeteilt. Ausgespart bleiben dabei allerdings die zahlreichen Veränderungen bei Umlauten, "ss-ß", "t-th" und ähnliche, da sie auf Setzerkonventionen beruhen und nicht von Troeltsch beeinflußt wurden. 1.2. Handschriftliche Zusätze

Die handschriftlichen Marginalien der Handexemplare werden nach den Editionsregeln zur Variantenindizierung in den textkritischen Apparat inte­ griert. Der Nachweis beschränkt sich hierbei auf TextsteIlen. Markierungen von Troeltschs Hand wie Unterstreichungen und Anstreichungen werden nicht dargestellt. Ü ber die genaue Darstellungsweise informieren die jewei­ ligen Editorischen Berichte. 1.3. Texteingriffe

Die Texte werden getreu der ursprünglichen Orthographie und Interpunk­ tion ediert. Offensichtliche Setzerfehler werden stillschweigend berichtigt. Textverderbnisse werden im Apparat mitgeteilt.

2. Kommentierung der Texte Die Kommentierung dient der Präzisierung der von Troeltsch genannten Literatur, dem Nachweis von Zitaten, der Berichtigung irrtümlicher Anga­ ben, dem textlichen Beleg von Literaturangaben sowie der Erläuterung von Ereignissen, Begriffen und Bezügen, deren Kenntnis für das Verständnis des Textes unerläßlich erscheint. Es gilt das Prinzip der knapp dokumentie­ renden, nicht interpretierenden Edition.

XVI

Aufbau und Editorische Grundsätze

2.1. Bibliographische Präzisierung

Die Literaturangaben werden autoptisch überprüft. Fehlerhafte Literaturan­ gaben Troeltschs werden im Literaturverzeichnis still schweigend berichtigt. Eine Berichtigung im Kommentar wird nur dann gegeben, wenn das Auf­ finden im Literaturverzeichnis nicht oder nur schwer möglich ist. Die kor­ rigierte Literaturangabe wird mit dem ersten vollständigen Haupttitel sowie in Klammern gesetztem Erscheinungsjahr angezeigt. 2.2. Zitatprüfungen

Troeltschs Zitate werden autoptisch überprüft. Falsche Seitenangaben wer­ den berichtigt. Hat Troeltsch ein Zitat nicht nachgewiesen, wird der Nach­ weis im Apparat aufgeführt. Ist der Nachweis nicht möglich, so steht im Kommentar: "Als Zitat nicht nachgewiesen." Fehlerhafte und unvollstän­ dige Zitate werden korrigiert und ergänzt. Der Nachweis indirekter Zitate und Rekurse wird in der Regel nicht geführt. 2.3. Belege von Literaturverweisen Allgemeine, inhaltlich nicht näher bestimmte Literaturverweise im Edierten Text werden in der Regel nicht belegt. Inhaltlich oder durch Seitenangaben eingegrenzte Literaturverweise werden, so weit möglich, durch Zitate be­ legt. 2.4. Irrtümliche Angaben

Irrtümliche Angaben Troeltschs (z. B. Namen, Daten, Zahlen) werden im Apparat berichtigt. 2.5. Erläuterung von Fachtermini, Anspielungen und Ereignissen

Kommentiert wird, wenn die Erläuterung zum Verständnis des Textes not­ wendig ist oder wenn für das Textverständnis unerläßliche Zusatzinforma­ tionen geboten werden. Der kommentierte Sachverhalt muß eindeutig zu kennzeichnen sein. 2.6. Querverweise

Explizite Verweise Troeltschs auf andere seiner Werke werden nachgewie­ sen. Querverweise innerhalb des Edierten Textes können nachgewiesen werden. Sachverhalte, die sich durch andere Texte Troeltschs erschließen lassen, können durch Angabe dieser Texte nachgewiesen werden.

Aufbau und Editorische Grundsätze

XVII

2.7. Forschungsgeschichtliche Kommentare

Erläuterungen zur nachfolgenden Wirkungs- und Forschungsgeschichte werden nicht gegeben.

III. Erläuterung der Indices und Zeichen

1. Sigleneinteilung Die früheste Fassung eines Textes trägt die Sigle A. Weite­ re Fassungen werden in chronologischer Folge alphabetisch bezeichnet. Die Handexemplare mit handschriftlichen Zu­ sätzen Troeltschs sind als Textschicht der betreffenden Fas­ sung anzusehen. Sie werden mit der Sigle der betreffenden Fassung und einer tiefgestellten arabischen Eins bezeichnet (Beispiel: Al)' Bei Identität zweier Ausgaben wird im Edi­ torischen Bericht darauf verwiesen. Eine doppelte Nennung (etwa BC) entfällt damit. 2. Indices I) 2) 3)

,

,

123 , , abc ,

,

a-a b-b

a

, ß , "Y

c-c

Hochgestelle arabische Ziffern mit runder Schlußklammer bezeichnen Fußnoten Troeltschs. Hochgestellte arabische Ziffern ohne Klammern werden für die Herausgeberkommentare verwendet. Kleine hochgestellte lateinische Buchstaben werden für die Indizierung von Varianten oder Texteingriffen verwendet. Die Buchstaben stehen im Edierten Text hinter dem varian­ ten oder emendierten Wort. Kleine hochgestellte lateinische Buchstaben, die eine Wort­ passage umschließen �xxx xxx xxxll), werden für Varianten oder Texteingriffe eingesetzt, die mehr als ein Wort umfas­ sen. Die betreffende Passage im Edierten Text wird hierbei von einem recte gesetzten Index und einem kursiv gesetzten Index eingeschlossen. Kleine hochgestellte griechische Buchstaben werden für die Indizierung von Varianten oder Texteingriffen zu Textstellen

XVIII

Aufbau und Editorische Grundsätze

innerhalb des textkritischen Apparats verwendet. Die Buch­ staben stehen hinter dem varianten oder emendierten Wort. Bei mehr als einem Wort wird die betreffende Passage von einem gerade gesetzten Index und einem kursiv gesetzten In­ dex eingeschlossen (Q:xxx xxx xxxQ:). 3. Zeichen

Das Zeichen I im Edierten Text mit der jeweiligen Sigle und der darauf bezogenen Seitenangabe im Außensteg gibt die Stelle des Seitenwechsels nach der ursprünglichen Paginie­ rung einer Textfassung wieder. Eckige Klammern sind reserviert für Hinzufügungen durch [] den Editor. Geschweifte Klammern kennzeichnen Durchstreichungen { } Troeltschs in seinen handschriftlichen Marginalien. Unvollständige eckige Klammern bezeichnen unsichere Les­ l1 arten bei den Handschriften Troeltschs. Nicht entzifferte Wörter werden jeweils durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet. Das Zeichen I: : I wird für Einschübe Troeltschs in seinen :I : I handschriftlichen Texten verwendet. Hochgestellte Spitzklammern im Text umschließen Hinzu­ fügungen des Edierten Textes gegenüber vorangegangenen Fassungen. Dadurch entfällt für diese Passagen der Nach­ weis im textkritischen Apparat: Fehlt in A. Bei iJVei Textstufen in mehreren Schichten (A: 1. Textstufe, Al: Handexemplar der 1. Ausgabe, B: 2. Textstufe, BI: Hand­ exemplar der 2. Ausgabe) gilt folgende Benutzungsregel für die Spitzklammern:

Fehlt in A, Al « xxx» Fehlt in A Bei drei Textstufen (A: 1. Textstufe, Al: Handexemplar der 1 . Ausgabe, B: 2. Textstufe, BI: Handexemplar der 2. Ausga­ be, C: 3. Textstufe) gilt folgende Legende:

Fehlt in A, Al « xxx» Fehlt in A, Al, B, BI « Fehlt in B, BI

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

Aufstellung der in diesem Band verwendeten Siglen, Zeichen und Abkür­ zungen gemäß den Editorischen Grundsätzen der Ernst Troe/tsch . Kritische Gesamtausgabe

I

[]

{ }




«

»

---t

1) ,2) , 3) 1,2 3 ,

A, AA, B, B 1 a

b

a-a

c

b-b

GS KGA

Seitenwechsel Hinzufügung des Editors Geschweifte Klammern kennzeichnen Durchstreichun­ gen Troeltschs in seinen handschriftlichen Marginalien Hinzufügungen des Edierten Textes gegenüber der voran­ gegangenen Textstufe A Hinzufügungen des Edierten Textes gegenüber den voran­ gegangenen Textstufen A und AA Siehe Indices bei Fußnoten Ernst Troeltschs Indices bei Kommentaranmerkungen des Herausgebers Siglen für die Textfassungen in chronologischer Reihen­ folge Indices für Varianten oder textkritische Anmerkungen Beginn und Ende von Varianten oder Texteingriffen Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe

All e sonstigen Abkürzungen folgen: Siegfried Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 2. Auflage, Berlin, N ew York: Walter de Gruyter, 1992.

Tafel 1

9lummtr 6.

Se[tallt am C!5eburtstag du ftal [ere In der Berliner Unlotrflt4t: C!5el)elmrat profeffor Dr. Itrodt[eb 1)411 die Se[tcede.

kaiscrgehurtstapredc am

27. J anuar [91 (" Faksimile aus der Beilage der "Berliner ,\hend-I.eitung", �r.

2\ .,(1. J anuar 191(" \'gl. unten, S. BB-9.'.

Tafel 2 I

18

I ,

Phüosophie und Geschichte.

)

Dr. ERNST, TROELT�CH� Schriften.

.Erstes

III.

Buch;

I.

Hälfte.

2.

Hälfte

Professor', in Berl in , aeSiunmelte B.and. ' D�r �storis��s "und seine Probleme . Das Proplem , d�r Geschichtsphilosophie. f,



Grundzahl



10.

Grundzahl 10. (erscheint Anfang Dezember). Naeh ErSchei�en der 2. Hilfte bleibt Erllöhung der G � dzahl vorbehalten. Der kauf einer Hälfte verpflichtet zur Abnahme des ganzen Bandes. .c--

,

,

{

.

.



Das Buch geht aus von dem heute weithin 'empfundenen Konflikt

;

zwischen 4em strengen, fachmißigen Wiss � der historisch-sp�ialistischen

J:orschung und den phitosophiscll'en Porderungen an die Geschichte, wie

vöilig parallel ein ilinlicher Konflikt zwisch en den exakten Naturwissen­

,sc haften und der"Frage nach ihrer philosophischen oder �eltanschaulicben .

, Bedeutung besteht.

\

Es handelt sich also um die Frage, worin die weltlU}schauliche Be­ .deutung des historischen Wissens' besteht,

und wie man



deren Er­

kenntnis gelangen'könne. Dadurch wird das Buch zu einer G e s c h i c h t s­

pli i } 0 s 0 ph i e ,

die den praktisch-weltanschaulichen Gehalt und den

Gegenwartssinn der historischen Forschung geraCie herauszuarbeiten unternimmt.

aus dieser 'selbst

Das ist ihm nur'dadurch möglich,_ daß e s

zunächst Wesen und Logik der empirisch-historis�hen Forschung aufdeckt und. von da aus dann die ,(\ufgabe einer gegenwärtigen, neuen und ursprünglichen �roblem. des geschichte.

,

KulturhyPothese stellt. historischen ' �

Zugleich

Entwicklungsbegriffes

h�delt es von dem und

der

Universal-

.

'

Aus dem engen Zusammenhang beider Problemstellungen wird schlie8-

lc i h der Gedanke einer zwar nicht die Menschheit, aber die europäische ' Kultur umfassenden Universalgeschichte entwickelt und auf ihn die für / die Gegenwart maßgebende n4;ue Synthese der historischen Mächte unseres Kulturkreises begründet. :

PHILOSOPHIE UND GESCHICHTE.

Eine

Saminlung

von

Vorträgen und Schriften aus dem Gebiet der Philosophie und, G�·

chte :

> schi

Nr.

I.

Dr, HANS PICHLER,

sophie der G�schichte. , .

'

j e des

Grundz,ahl für Prof�ssor

m

Heft

I,

Greifswald, 'Zur Philo­

PichleT verf� lgt in seiner Abhandlung die Geg�nsätze .5 c h i c k s a lu p d W i l l e; er betont die Macht des Willens und die Bedeutung seiner Ziele und faßt daher die Geschichtsphilosophie schaft auf.

als ein� noqnative Wissen­

In kßl�pper Form bringt' die Ah.'1al}dlung die Grundgedanken

einer Philosophie der Geschichte.

i

.

Troeltschs Selbstanzeige des "Historismus" in Siebecks "Grünen Heften", vgl. unten, S,

145

f,

Tafel 3

Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge

Rede zur Feier des Geburtstages

Seiner Majestät des Kaisers und Königs gehalten in der AulA der

Königlichen Friedrich -Wilhelms- Universität zu Berlin am 27. Januar 1916 von

Eras' Troeltseh

Berlin

) 916

Druck der Norddeutlehen Buchdruckerei und Verlagsanst.alt.

Faksimile der ersten Seite der Separatausgabe der Kaisergeburtstagsrede "Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge"

(A), siehe unten, S. 292.

Tafcl4

Faksimile der Umschlagseite der "Historischen Zeitschrift", siehe unten, S. SS und 92 f.

TafelS

�efcI,{cI,tl{cI,e Qlbenbe im 3entralinftitut für 'froie�ung unb Unterricl)t 3t�nttlJ j)tft

�ie �ebeutung ber �efd,id,te für bie 9J3e(tanfd,auung 9Jon 'fmft �roeltfd)

9Jet'{tgt &ti

�et'lin 1918 'fmft 6iegfrietl �itt{er unb 609n �od)ftr4nt 68-71

Faksimile der Titelseite, siehe unten,

S. 93.

Tafel 6

PHILOSOPHISCHE VORTRAoE

elJ

lEI KANT·OESELLSCHA". UNTElt MITYlJtI{IINO 1'ON" VAIIIINCID UND .. PllSCWSIN-I'" Hl!1tAD9OI!OEB1!N VON AlTIIUI UBlEIT. Nr. 23.

VEI6FFEJlTLlCI' 'ON

Die Dynamik der Oescblcbte nacb der Oeschicbtspbilosopbie ..

.

.

.

.

'

_.� PosiiIY.... . "

_

.

.

.

-

. . von

.

Ernst Troeltsch

• Betlln

Verlai toD

ie;ea'ih.r

a

R.eicharcl"

19tO

Faksimile der Titelseite, siehe unten, S. 97.

.

.

Tafel 7

-

I." y.� r." y.� r.' ' -

... ...

CD

...

-

-

...





...

CD

CD

CD

-

...

8tbruQt 1920

11.�

!)ie ltrlfie bel �tfd)id)tell)iJftnJd)aft. Don &njl �totltfd).

ballt IIlelfad) IIOn dntt ltrlJIe ber �d)Id)teIllIJJmJd)aft ttbm 1/\ te bod,) IlItnlgtt eine Jold)t btr MjlorlJd)en SotJd)ung btt �e­ ld)rttn unb Sad)leult ale dne Jold)t bte �ljlotlJd)en Denfen& btt m enJd)tft Im Ugtmdnen. &Ibte ge�t Jtlt lange m lltmlld) llIelt auetlnanbu. Die lrltiI

lDmn man I)6rt, bGM

Jd)tn � unb ?3earbtltungtn bet ujldlung bte 3uJammml)ongte btr >bn iJJe unttt aIl Jeltlgtt Dttgldd)ung unb �uellltttung btt 3tugni1Jt, bit &g4nlW\g unb &Iebung btt 3wgnllft mit !>lIfe dntt blt aIlgtmtIntn �runb)llgt dnte 3tltraußle aut IIltlfad) m &Irplelen ftjljleUmbm Pr�loglt: aIlte bG& rlnb gtnaut, ultmbate unb non E3ad)fmnun Itbtemal gmau ultnritttt mttbobm unb ltunjlgtlfJt elntt annli�ttnb qa f ten ll>IJJmrd)aft gtIlIotbm. Dlt �nllltnbung bltJtt �ed)nlf auf Mt aIletllttJd)lebtnjltn unb immtt fitlntt unb abttJe�battr gello Uden 3t1ttliume, bit Immtt neut lDltbw I)olung betJtlbtn �ufgobt btl DttJd)lebung ber t:6Jungemltttl obtt mit btnl Dttjud) nwtt Dtutung obtt aud) blo� oie Ktitif bet �t�dt bte Dotg4ngu e: bGe bringt eint unfibt*�bate saue 1I0n �lllotlJd)en 50tJd)ungen lU &ge, bit lIOR 3t1t lU 3elt In gto�en t:e�tbQd)em lIttotbtltd, geJommdt unb r03uJagm foblJi3lcrt llIubtn maJJen. DOlU fommtn ble nllfemlttd ber lIttJd)lebenen Sptad)tn unb P�1I01og{tn, btt Palliogtop� {e unb Dlplomatlf, btt ?3lbllot�tfe, unb � td)l1)funbe, btr RelJcn unb bte unmlttdboten �gentlnbrude, rOlllle bit gcogtcap�IJd)tn, lurllllrd)en,· 6fonomlrd)tn unb r on j}{gm ,!>lIfeIllIJJtnJd)Clfttn, �nt 1Dt1d)t bi t Deutung bu o�tbclt, IlIllfenJd)aftlld)t Stnngt unb btIt 11

Faksimile der ersten Seite des Aufsatzes "Die Krisis der Geschichtswissenschaft" (1920) , siehe unten, S. 169 f.

Tafel

8

Wb

b

tut

Lb

DIE "D E

I? TSC HE

......

HIS TOR IS eHE SC H U L EU 'ON

ERNST TROELTSCH

N

EBEN der Hegeischen Schule und ihren micbtigen Aus­ strahlungen steht die

sogenannte "deutsche historische

Schule". Es ist in der letzten Zeit, seit

geschicbutbeo­

retische und soziologische Probleme so stark in den Vordergrund gerückt sind, viel von ihrem beiderseitigen Verhältnis die Rede gewesen, und der Unterschied ist in der Tat für diese Probleme von einer sehr erleuchtenden und vielsagenden Bedeutung. Den Zeitgenossen schien der Unterschied sehr gross, und sie würz­ ten ihn mit ungezählten Malicen gegen Hegel. Den späteren er­ schien er sehr viel geringer. Vom Standpunkt des die Romantik hassenden Liberalismus und von dem der empiriscb-kritischen

Methoden aus warf man heide zusammen gerne in den grossen Topf der Romantik. Das gleiche geschah aber auch bei den Bewunderern der Romantik, die gerne alle grosse Historie und vor allem die deutsche von der Romantik herleiten. Wieder

an­

deren, die bei der historischen Schule vor allem an Niebuhr und Ranke

dachten,

erschien sie als Ausgangspunkt der deut­

schen Historik im allgemeinen, und sie zogen dann gerne die Linie gleich zu Dahlmann, SYhel, Waitz, Treitschke und der modemen Seminarhistorie durch, indem sie dabei jene beiden

mit Romantik und organischer Geschichtsauffassung eng zu­ sammenstellten. Alles der

das

zeigt,

dass

es

für

das

Problemstellung und -lösung, wie

wirkliche sie

Verständnis

der "historischen

Schule" vorschwebten, vor allem auf eine genauere Umgren-

Faksimile der ersten Seite des Aufsatzes "Die ,Deutsche Historische Schule'" (1922) , siehe unten, S. 483 f.

Tafel 9

Festschrift zu Hua YaIh. . . ... 70. IIMI..... . . Baad XXVII

KANT-STUDIEN PHILOSOPHISCHE ZEITSCH RI PT BEGRONDET VON

HAllS YAlHINOU

UNTER MITWIRKUNg VON E. ADICKES

J. E. CREIOHTON P. MENZER

R. fUCKEN

A. RIEHL

MIT UNTERSTÜTZUNG DER "KANT·GESELLSCHAI'T" HEAAUSOfOEBEN VON

Prof. Ur. JUX

PRlSCIf!III!N·KÖHLlR

IN HALLE

UND

Prof. Dr.

ARTHUR

IN BERUN

UI!8I!RT

MIT EINEM BILDE H. VAiHINOfRS

BERLIN VERLAG VON REUTHER & REICHARD 1922

Faksimile des Heftumsehlags, siehe unten, S. 116.

Tafel 1 0

Die Logik des historischen Entwickelungs­ begriffes. v.... ,.....& �.... •ehn der Logik dea naturwissenscbafct hen, seinerseits wieder nach der mathemati,ch-phyaikaliach-chemi.echen uDd der biologischeu Seite geteilteD, Erkennens ist die Logik dea hiatoriachen Erkennens

ÜDmer ein eigentlimliches Problem gewesen. Der Kern &1ler histo­ rischen Logik ist nun aber der historiache Entwickelungsbegriil', der mindestens zunichat von den auf anderen Gebieten gebrauchteD

Entwickelungsbegrift'en sich wesentlich durch seine unmittelbare Phantasie-Anschaulichkeit unterscheidet.

Da weiterhia

an

clieHD.

Entwickelnngsbegriil' &ich alle etlUaohea UDd bltarplailoIophilohen Probleme 1IIIOIal,leßaD 10 ist . ..... ein BuptbeItMdteil aller �1oeop1üe -Gd wirIl- YOD PIailOlOpben wie Biatorikern gleicherweise immer DeU untersucht 1Dld iiberdacht. Bei der lo­ gischen Natur des Begriil's und der engen Verbindung mit den

. allgemeinsten Kulturproblemen ist in diesem Überdenken der Anteil der Philosophen naturgemä.8 der atärkere. lob habe daher in eiD8r

.BeiJw

.OD

U�

die

BegribailaDs

und Bimldeutaq

dea

Entwick�.. der bei c1en PhilolOphen mmeist in eine Kon. struktion der UniveraaJgeachichte ausläuft, eingehend untersucht 1).

An die Ergebnisse dieser Untersuchungen ist der weitere Gedanken­ gang anzuschließen und zwar zunächst an die Ergebnisse derjenigen Denker, die in der historischen Entwickelung des :Menschentums eine eigentlimliche und besondere Gestaltung und Bedeutung dea Entwi�elnngsbegriil'es sehen.

in

1) VgI.

'Öber

den Begrilf

Von der empirischen Historie aus

eiDer hIatorilcben

Dialektik

HZ

1917 ; Die DJ'D&IIIlk

der Geschichtlphüoaophie des Poaitimmu, ErgWungsheft der

1920 ; Der hiatorilche Entwicke1DDg1begri1l' philosophie,

HZ

192 1-22.

in

der modernen

Geiatee-

KaDtItuIIieD n. Lebeaa- .

Faksimile der ersten Seite des Aufsatzes "Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes" (1922), siehe unten, S. 964 f.

Tafel 1 1

6ES�MMELTE SCHRIFTEN E R N S T T R O ELT l e H , . .... .... . Drttt er

Band ;;;;;;

Der Historismus und seine Probleme E n t e H il ft e

T6bID.eD Verlet

VOD

J . c. B. M o h r (poDi Slebedc) 1 92.2.

Dw Kar der Wltna Hil/fle flerpjllelful ur AbllcMR e der _dlnt Hillfte. Die stbdle Hillfu wleAd'" �e"eru im Desnn flw 1922.

Faksimile des Titelblatts der "Ersten Hälfte", siehe unten,

S. 83

und 1 45.

Tafel

12

GESAMMELTE SCHRIFTEN ERNST TRO ELTS C H . 0.. _ .... ,...

D r i t t e r B and ;;;;;;;; ; __ ; ;;;,;;;;; ; ;; ; � ;;

Der: Historismus und seine Proble�e I Z w e i t e H I:Ute

Vertat

YOD

T6blneen J . Co B. M o h r (paal Ilebedr)

Der 'Kaf dN er,lm der

1 9z.2.

HlJlfle flerpflkltüt

••ettm

.ur

.4lnuWrte

nil/ru.

Paksimile des Titelblatts der "Zweiten Hälfte", siehe unten,

S. 83

und

1 45 .

Tafel n

Gesammelte Schriften von

Ernst Troeltsch Doc(or

Dr. phU'1 theo1-, jur. der Theolocle von Chrbtlania

Dri tter Band

Der Historismus und seine Probleme I.

Buch : Das logische Problem

Verlag

von

J.

der

Geschichtsphilosophie:

Tübingen C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1 922

Faksimile der Schm utztitelrückseite, siehe unten, S .

15 9.

Tafel 14

D e r H isto ris m u s u n d s ei n e Pro b l e m e Erstes Buch : Das logische Problem der Geschichtsphilosophie

von

. Ernst Troeltsch Doclor

Dr. pbIL, IIIeoL , Jur. der TIMoIo&le 'IOD Cltritliania

"

Verlag

von

}.

. Tlibincen C. B. Mohr

(Paul Siebeck)

1922

Faksimile des Titelblatts, siehe unten,

S, 1 60,

,

',

Tafel 1 5

3 16

Kapitel

DL Ueber den hbt. RntwlckeluD csbecrllr

salen Entwicklungserkenntnisse

ZU

I1Dd dk

UnlTersalcesc:bichle.

bringen. All das sind zweifel­

los Anpassungen an den modernen Stand der .Wissenschaft«, . wie sie einer lebendig fortwirkenden Lehre unvermeidlich sind und vor allem zur scholastischen Umdeutung heilig gesprochener Mustertexte gehören.

Aber der stärkste wissenschaftliche Ge­

halt und die eigentliche gedankliche Kraft ist damit zerbrochen

oder zersplittert U*) . Wendet man sich dagegen von der gegen­ wärtigen Marxistischen Literatur zu den Begründern zurück, so

ist gerade die Dialektik das äußerlich am stärksten hervor-

u')

Die Opposition gegen die Dialektik bei Masaryk, Die philos. und

soziologischen Grnndlagen des Marxismus,

1 899,

und Peter v. Strnve, Die

Marxache Theorie der sozialen EntwicklllDg, BraunllChes Archiv XIV, 1 899.

Die

AbbieJllDpn nm

lCantIuismna

hinilber bei Woltmann, Der historische

Materialiamus, 1 900, IlDd Max Adler,

Kaaalftlt

1904.

und Teieo1ogle,

Be­

merkenswert ist, daß es sich dabei stets um einen positivistisch in� Kantianismus oder um die Marburger Kantschule handelt ; das letztere wohl deshalb, weU auch sie einen monistischen Determinismus mit einer natur­ rechtlich-absolutistischen

Marx , 191 1 ,

Ethik

verbindet ;

vgl.

K.

Kant

VOrländer,

und Staudinger, Wirtschaftliche Grnudlagen der Moral,

und

1907.

Auch �tammlers .UeberwindllDg< des Marxismus ist in den sehr starken Konzessionen an eine monistische Kausalitätaerklirung und in der Entgegen­

setzung einer durch Freiheit erfolgenden • Regelung< von da s.

Wirtschaft und Recht nach der materialistischen

aus

bestimmt,

Geschichtsaullassu ng",

1906,

wozu :Max Webers später zu erwähnende grausame Kritik zu vergleichen ist. Für alle diese Leute existiert die Dialektik überhaupt nicht mehr.

Stru ve

versteht die Dialektik geradezu als Konatruktlon der Revolution und Auf­ hebung der Kontinuität, wogegen

er die Kanti8cbe Lehre

_ der Identität

des Kontinuitäts- und Kausalbegri1fes ausspielt und einereallatlache :s:au.ntlts­ forschung fordert.

.Dieses Gesetz der Kontinuitit (d. h. Kausalität), welches

die Hegelisch angehauchten Marxisten - nach dem Vorgange Hegels ( I) als sinnlose Tautologie hinstellen und so etwas wie reaktionären Blödsinn nennen, hat kein geringerer als Kant aufgeste.llt. < Dadurch ist aber der Sinn

der Dialektik ganz entstellt, ebenso wie in dem Schema S. 66+

Das ist der

grundaitdiche Gegensatz eines statischen Denkens gegen das dynamische : .In der Starrheit des ,Denkens' liegt aber nicht sowohl seine Stärke als die Bedingung seiner Möglichkeit eingeschlossen ; ohne dieselbe selbst nicht gedacht werden.

Das

kann

es eben

Veränderliche sowohl wie das Unverinder­

liehe der Welt wird durch konstante Begriffe der menschlichen Erkenntnis einverleibt.< 687 f.

Das

ist in der Tat der eigentliche Gegensatz, um den es

sich hier überall handelt. Im übrigen sind sachlich die realistischen Korrekturen Struves an der Dialektik wohl begrÜDdet und lehrreich. _

,......... . nw.

� ....,.. dtr .. � '-r "' ''' ''''''' Jwt---' H c... .,. � u .... ..... fA�� � .�� ., ...,.... r� " ''''i .... . ��. � .; f .......,. ...� " , ,, r�.

Faksimile aus dem Handexemplar (BI 3 1 6), siehe unten, S . 540.

Tafel

16

7.

Die Historiker des nachspekulativeu Realismus.

65 3

hervorzuheben ; Döllinger, der Freund Lord Actons, ist über höchst anregende Essays nicht hinausgekommen.

In all diesen

Fällen bietet das religiöse Element einen Zusammenschluß und Zielpunkt und dient die Historie einer bestimn.lten Lösung des religiösen Gegenwartsproblems. von

Die Geschichte der Kriegskunst

Hans Delbruck steht gleichfalls in universalhistorischer

Beleuchtung und seine Vorlesungen sind ausdrücklich der Welt­ geschichte gewidmet ; sie sind bis j etzt nicht veröffentlicht, aber man

weiß, daß sie sich stark an Hegel anschließen.

Lindners

Weltgeschichte, deren philosophischen Gehalt seine .Geschichts­ philosophie . noch besonders zusammenfaßt, bietet mehr einen formal-kausalen Zusammenhang ohne tiefere Originalität in der Erfassung des Sinnzusammenhanges, durch den wir die Gegen­ wart mit ihm zusammenschließen. strebte

Von den Kunsthistorikern

Max Dworzak immer stärker zu einer Weltgeschichte

des Geistes, aber ihm wie Wickhoff hat der Tod die Vollendung versagt .

Es hing bei ihm mit einer bestimmten Auffassung von

der Zukunft der Kunst zusammen, wie · er sie einem illusions­ und

naturalismusbedürftigen

Zeitalter

gegenüberstellte

und

1.. 1....u... t'a-. �.

wieder an die Symbolik des Mittelalters anknüpfen ließ. rAnderes,

�t.�

was sich .philosophische Geschichte . nennt, gehört nicht hierher ; ist die Philosophie d e l'histoire de l a France v o n Edme Cham-

so

pion mehr ein Abriß und eine Uebersicht als eine universalgeschichtliche Beleuchtung

MI) .

Die bloßen Sammelwerke wie

etwa die Ullsteinsche Weltgeschich te oder Aneinanderreihungen wie Wörmanns _Kunstgeschichte aller Völker und Zeiten « sind bei allen sonstigen Verdiensten eben gerade keine Weltgeschichte sondern

.Summen _ des historischen

Wissens.

Populäre und

Dilettantenarbeiten sind an Stelle der eigentlich historischen Weltgeschichte getreten, jedesmal von bestimmten Zielen und Aufgaben der Zukunft

ausgehend.

J .. �"..,.,,) o.(U """ /!. '7 .......r. ,.. ....,. , """ _tt... �...,.. JIIII

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Hierher gehört die feine "'-' J,-,," ?tu

... , "••• "....,....., ein Rückblick am Schlusse des 19. Jahrhunderts ., die den Grafen t;,..t � ).., York-Wartenburg, den Freund Diltheys, zum Verfasser hat. �:J�· � Wieder anderes gehört überwiegend oder ganz der Soziologie .. )< .Weltgeschichte in Umrissen ; Federzeichnungen eines Deutschen,

... Die Franzosen b.sitzen eine eigene Revue de Synthese Historique, hg. v. Heuri Berr, Paris Leop. Cer!. Ihre Ergebnisse für unser Problem müßten erst durchgearbeitet werden.

Was Ich kenne, ist stark methodologisch oder

soziologisch, aber enthält wenig Universalgeschi.chte. Von dem Physiologen

eh.

Riebet eine Allgemeine Kulturgeschichte, deutsch 1918.

}f*'1 . '

Faksimile aus dem H andexem p lar



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(B I 653), siehe unten, S. 960

Y"-4' ""... t.,

t..J..... 1_ � .

� .t,� ­ �'" �.

KGA 1 1 . 140 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck, 9. Februar 1 9 1 7 ---t KGA 1 9 . 1 4 1 Brief Ernst Troeltschs an Wilhe1m Bousset, 2 8 . Dezember 1 9 1 7, Göttingen, Nieder­ sächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. Ms. W. Bossuet 1 30 ---t KGA 1 9. 142 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck, 1 6. Februar 1 9 1 8 ---t KGA 1 9. 143 Brief Ernst Troeltschs an Wilhe1m Herrmann, 1 0. März 1 9 1 8, Marburg, Universi­ tätsbibliothek, Hs 691 ---t KGA 1 9.

Zur Entstehung des Historismus-Bandes

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müsse: "Also dieser Halbband: ,Geschichtsphilosophische Voraussetzun­ gen' für den Band: ,Der geistige Gehalt der Geschichte. Untersuchungen über Wesen und Entstehung des modernen Geistes' muß fertig sein. Zwei Drittel oder drei Viertel sind bereits fertig. Ich übersehe ihn vollkommen, u[nd] kann ihn nicht abbrechen, aus inneren u[nd] äußeren Gründen. Leider ist die Zeit der Konzentration geistiger Kraft nicht günstig. Ich leide im Grunde doch schwer unter der Schrecklichkeit der Ereignisse u[nd] der Unsicherheit der Zukunft. Allein so lange es geht, bleibt die Kraft auf die genannten wissenschaftlichen Pläne konzentriert."!44 Der Verweis auf seine aktuelle Beschäftigung mit dem Marxismus, Sim­ mel und Dilthey läßt vermuten, daß Troeltsch jetzt eine Vorstellung von sei­ ner Geschichtsphilosophie entwickelt hatte, die der tatsächlichen Konzepti­ on des Historismus-Bandes relativ nahe kam. Ob seine Einschätzung, daß der Band zu zwei Dritteln bzw. drei Vierteln abgeschlossen sei, der späte­ ren Gestalt des Bandes entsprach oder ob der Historismus-Band zu diesem Zeitpunkt noch bedeutend weniger Umfang haben sollte, läßt sich nicht entscheiden. Im Druck erschienen waren zu diesem Zeitpunkt erst die bei­ den Aufsätze " Ü ber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge" (1 91 6) und "Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung" (1 9 1 8) , de­ ren zentrale Partien später jeweils den Kern der ersten beiden Kapitel des Historismus-Bandes bildeten. Schon in diesen Arbeiten - also bereits seit 1 9 1 6 unternahm Troeltsch den Versuch einer logischen Grundlegung der Geschichtsphilosophie. Der Hinweis auf eine Auseinandersetzung mit den marxistischen Theo­ retikern sowie Simmel und Dilthey deutet darauf hin, daß Troeltsch zu die­ sem Zeitpunkt mit den beiden Studien " Über den Begriff einer historischen Dialektik" (1 9 1 9) und den zwei Aufsätzen "Der historische Entwicklungs­ begriff in der modernen Lebensphilosophie", in denen die Positionen Sim­ mels und Diltheys verhandelt werden (1 920, 1 921), beschäftigt war. Da die Arbeit über "Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus" ebenfalls 1 9 1 9 erschien, könnte Troeltschs Einschätzung, er sei mit zwei Dritteln oder drei Vierteln fertig - vorausgesetzt, daß die hier aufgezählten Aufsätze in einem relativ fortgeschrittenen Bearbeitungs­ zustand waren -, durchaus zutreffend gewesen sein. Im Sommer 1 9 1 9 in­ formierte Troeltsch erstmals die Ö ffentlichkeit über sein Projekt. In einer Anmerkung zu seiner Arbeit "Die Dynamik der Geschichte nach der Ge­ schichtsphilosophie des Positivismus" wies er darauf hin, daß seine Aufsät­ ze über "Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung", "Ueber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge" sowie "Ü ber den Begriff ei-

1 44 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck, 2. Januar 1 9 1 9 � KGA 1 9.

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ner historischen Dialektik. Windelband-Rickert und Hegel" "später im Zu­ sammenhang eines größeren Ganzen umgearbeitet und vereinigt"145 wer­ den sollten. Der Plan einer Teilung seiner Geschichtsphilosophie in ein "Erstes Buch" zur formalen und ein "Zweites Buch" zur materialen Geschichts­ philosophie dürfte der Einsicht entstammen, daß es zur Rekonstruktion der "Entstehung des modernen Geistes" - so die Formulierung von 1 9 1 3 - zunächst einer Reflexion der logischen bzw. formalen Prinzipien der Geschichtsphilosophie und einer differenzierten Auseinandersetzung mit der neueren geschichtstheoretischen Literatur bedürfe: Wie ist Ge­ schichtsphilosophie möglich? Im Vorwort zum Historismus-Band schrieb Troeltsch 1 922 rückblickend, je mehr er die für den ursprünglich geplanten Dritten Band vorgesehenen Aufsätze "neu zu bearbeiten und zum Ganzen zu vereinigen suchte", habe er die Notwendigkeit erkannt, sich auf die "Hauptfragen der Geschichtsphilosophie" zu konzentrieren und jene Sammlung und Neubearbeitung, die er im Vorwort zum Zweiten Band der "Gesammelten Schriften" in Aussicht gestellt habe, auf einen vierten Band, d. h. das "Zweite Buch" des Historismus-Bandes mit der "materialen Geschichtsphilosophie", zu verschieben.146 Im Januar 1 9 1 9 kam Troeltsch gegenüber Paul Siebeck auch auf die Frage des möglichen Verlages für das geplante Werk zu sprechen. Dazu äußerte er sich zunächst ausgesprochen defensiv: "Ich hätte gerne den ersten Halb­ band meines dritten Bandes heraus entweder bei Ihnen, wenn Sie ihn neh­ men wollen, oder bei irgendeinem der zahlreichen anderen, die mich jetzt mit Angeboten reichlich erfreuen. Aber über diesen letzten Punkt mag ich erst verhandeln, wenn ich fertig bin mit der Sache."147 Paul Siebeck bedankte sich in seiner Antwort am 1 1 . Januar 1 9 1 9 zunächst für die vertrauensvollen Mitteilungen hinsichtlich zukünftiger Projekte, zeigte sich aber über Troeltschs Erwägung verwundert, den Historismus-Band eventuell einem anderen Verlag anzubieten: "Etwas überrascht hat mich Ihre Andeutung, dass Sie über das Verlagsrecht des geplanten geschichtsphilosophischen 3. Bandes erst verfügen wollen, wenn Sie die Arbeit daran im wesentlichen beendet haben. Als Sie mir z. B. im Februar vor. J s. über den 3. Band berichteten, dachte ich nicht anders, als dass dieser in meinem Verlag erscheint, ist das doch sowohl in dem Vertrag aus dem Jahre 1 9 1 1 über die ,Soziallehren', als auch im Vertrag von 1 9 1 3 1 45 1 46 1 47

Ernst Troeltsch: Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus (1 9 1 9) , S. 4, in diesem Band unten, S. 600, Anm. 1). In diesem Band unten, S. 1 63. Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck, 2. Januar 1 9 1 9 ---> KGA 1 9.

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über den 2 . Band s o vorgesehen."148 In der Tat findet sich bereits in dem von Troeltsch am 9. November 1 9 1 1 unterzeichneten Verlags-Vertrag für Band I der "Gesammelten Schriften" unter § 9 der Passus: "Von den ,Gesammelten Schriften' sollen später zwei weitere Bände erscheinen, für die besondere Vereinbarungen bezüglich der Verlagsbedingungen vorbe­ halten bleiben." Auch der Verlags-Vertrag für Band 11 der "Gesammelten Schriften" "Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik" vom 8. Mai 1 9 1 3 enthält unter § 8 eine ähnliche Formulierung: "Von den ,Gesammelten Schriften' soll später noch ein weiterer Band erscheinen, für den besondere Vereinbarungen bezüglich der Verlags bedingungen vorbehalten bleiben. "149 Nun lenkte Troeltsch ein: "Natürlich haben Sie bei jedem selbständig er­ scheinenden Buche von mir die Vorhand u [nd] nun vollends erst recht bei einem, das dritter Band der Ges. Schriften sein soll oder sein kann. Das ist für mich die Folge unseres alten Freundschaftsverhältnisses u[nd] insofern selbstverständlich. Wenn von mir etwas anderswo erscheint, so sind es im­ mer nur Zeitschriften, Vereins- und Sammelwerkverhältnisse, die das herbei­ führen. Ich werde ja furchtbar viel in Anspruch genommen. Bezüglich des 111. Bandes habe ich mit niemand selbstverständlich verhandelt, sondern es hat sich hier das Gerücht verbreitet, daß ich an einem geschichtsphilosophi­ schen Buche arbeite, u [nd] daraufhin sind drei große Firmen gekommen. Ich habe allen erklärt, daß die Sache noch nicht fertig ist u [nd] daß ich Ih­ nen durch alte Freundschaftsbeziehungen verbunden sei; daher Ihnen die Sache zuerst anbieten würde. Anders kann man es doch gar nicht machen, wenn man so loyal wie möglich sein will . Daß ich Ihnen davon eine Andeu­ tung mache, ist doch auch nur natürlich. [...] Und außerdem kennen Sie die Autoren ja wohl [gen]ügend um mitzuempfinden, daß so etwas dem Autor eine gewisse Genugtuung bereitet, die ja sehr unschuldig ist. Also ich denke, daß jeder Schatten eines Mißverständnisses damit zerstreut ist, das mir sehr unangenehm wäre. , q SO Troeltschs Erklärung der Sachlage stimmte Paul Sieb eck versöhnlich: "ha­ ben Sie herzlichen Dank für Ihren freundschaftlichen Brief, über den ich mich sehr gefreut habe. Dass Sie in Berlin von meinen Kollegen noch viel mehr umworben werden als früher in Heidelberg, kann ich mir wohl den1 48 Brief Paul Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 1 . Januar 1 9 1 9. 1 49 Beide Verträge finden sich im Verlags archiv J. C. B. Mohr (paul Siebeck), Ordner "Ausgesonderte Verträge T". 1 50 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck, Januar 1 9 1 9 -+ KGA 1 9. Der Brief ist irr­ tümlich auf den 1 5. Februar 1 91 7 datiert, trägt aber von fremder Hand die Notiz: 23 1. 19 beantw.". ,,

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ken. Ich verstehe auch durchaus, dass Ihnen das eine gewisse Befriedigung gewährt. Denn schliesslich ist das Interesse der Verleger für einen Autor im­ mer ein Beweis dafür, dass seine Bücher begehrt sind. Seitdem Sie in Berlin sind, haben Sie also zweifellos mehr als früher die Möglichkeit, auch litera­ risch in die Breite zu wirken. Insofern können Sie in den Verlegeranfragen eine neue Bestätigung dafür erblicken, dass Ihr Entschluss, von Heidelberg wegzugehen, der richtige war. Deshalb dürfen Sie es mir aber auch nicht ver­ argen, wenn ich mich wehre, wenn es einmal so aussieht, als ob Sie diesen Berliner Lockungen erliegen könnten. Wenn übrigens als nächster Band Ih­ rer ,Gesammelten Schriften' die Vorarbeiten zu Ihren Untersuchungen über Wesen und Entstehung des modernen Geistes erscheinen sollen, so wäre m. E. das Gegebene, auch diesen Band selbst, für den Sie in ihrem letzten Briefe den Titel: ,Der geistige Gehalt der Geschichte' in Aussicht nahmen, in den Schriften unterzubringen." 1 51 Am 1 4. Oktober 1 9 1 9 kam es dann zu einem persönlichen Treffen zwi­ schen Oskar Sieb eck und Troeltsch. Oskar Siebeck übermittelte seinem Bru­ der Werner am 1 5. Oktober 1 9 1 9 aus Berlin die Nachricht: "Auf Deinen Brief vom 9. hin war ich gestern bei Troeltsch [ .] . Für den 1 . Teil von Band III der ,Gesammelten Schriften' rechnet Troeltsch jetzt mit 1 1/2-2 Jah­ ren. Wann der 2. Teil fertig wird, kann er noch nicht absehen. Er wird uns daher zu gegebener Zeit anheimstellen, ob wir beides als III,l und III,2 oder als IV bezeichnen wollen." Am Rande des maschinenschriftlichen Briefs findet sich die handschriftliche Notiz: "wird wohl auf den Umfang ankom­ men"152. Die Arbeit an der logischen Grundlegung der Geschichtsphilosophie führte nicht dazu, daß Troeltsch die Arbeit an Problemen der materialen Ge­ schichtsphilosophie völlig zurückstellte. In einem Brief an seinen vertrauten Korrespondenzpartner Friedrich von Hügel betonte Troeltsch im Januar 1 920 die Bedeutung von Mittelalterstudien für sein Geschichtsbild.153 Während er intensiv am "Ersten Buch" des Historismus-Bandes arbeitete, beschäftigte ihn bereits die mögliche Gestalt des "Zweiten Buches": "Meine wissenschaftliche Arbeit schreitet fort, augenblicklich auf Geschichtsphi­ losophie bezogen. Sie gibt mir den Halt und den Stoff für alle Arbeit. [.. ] Daran bohre ich jetzt mit allen Kräften. Eine Probe davon erlaube ich mir Ihnen als Dank für die Schrift von Herrn Kemp Smith zu schicken. Es ..

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Brief Paul Siebecks an Ernst Troeltsch, 23. Januar 1 9 1 9. Brief Oskar Siebecks an Werner Siebeck, 1 5. Oktober 1 9 1 9, Tübingen, Verlagsar­ chiv Mohr Siebeck. Zu Genese und Geltung dieser Geschichtskonzeption vgl. Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma (2003) .

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soll schließlich ein neuer Band werden. Das Mittelalter wird dabei als ein Hauptproblem in den Vordergrund treten."154 In einem speziell für Kriegs­ teilnehmer und Hilfsdienstpflichtige eingerichteten Zwischensemester hatte Troeltsch vom 22. September bis 20. Dezember 1 9 1 9 erstmals eine Vorle­ sung über "Philosophie der Geschichte" gehalten, zweistündig freitags von 5 bis 7 Uhr.155 Im Wintersemester 1 92 1 /1 922 las er dann vierstündig über "Philosophie der Geschichte". 156 Auch begann Troeltsch seit Anfang 1 9 1 9, seine Vortrags tätigkeit auf Themen im Umfeld des Historismus-Projekts zu konzentrieren. In der Berliner Lessing-Hochschule hielt er von Januar bis März 1 9 1 9 mehrere Vorträge über "Die Grundlagen der modernen Geistesgeschichte". Bei seiner ersten Reise in die Niederlande sprach er am 7. April 1 9 1 9 vor dem "Verein für Philosophie" in Amsterdam über "Das Wiederaufleben der Geschichtsphilosophie". Die "Berliner Studienwoche für In- und Ausländer", die zwischen dem 1 1 . und 23. Juli 1 921 stattfand, unterstützte er mit einem Vortrag über "Probleme der Geschichtsphiloso­ phie" als "Einführung in die Geschichtsphilosophie". Am 5. Dezember 1 921 sprach er vor der Studentenschaft der Universität Basel dann über den "Modernen Historismus", und in zwei Vorträgen Ende März 1 922 in Amsterdam und in Den Haag ging es um das "Humanitätsideal" bzw. die "europäische Humanitätsidee". Die Zeitungsberichte zu diesen Vorträgen lassen erkennen, daß Troeltsch hier jeweils sehr pointiert zentrale Aussagen sowohl seiner "formalen Geschichtslogik" als auch seiner materialen Ge­ schichtsphilosophie, der "Kultursynthese des Europäismus" vorstellte, be­ sonders intensiv vor dem Publikum in der Schweiz und den Niederlanden.

3. Die Drucklegung des Historismus-Bandes Wohl zu Beginn des Jahres 1 921 dürfte Troeltsch dem Hause Siebeck signa­ lisiert haben, in absehbarer Zeit ein fertiges Manuskript vorlegen zu kön1 54 Brief Ernst Troeltschs an Baron Friedrich von Hügel, 3 1 . Januar 1 920, in: Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1 901-1 923 (1 974), S. 1 05 -7 KGA 1 9. Norman Kemp Smith (1 872-1 958) war von 1 9 1 9-1 945 Professor für Logik und Metaphysik in Edinburgh; die "Inaugural Lecture" vom 1 6. Oktober 1 9 1 9 über "The Present Situation in Philosophy" hatte von Hügel Troeltsch zugeschickt. 1 5 5 Die von Hans Baron angefertigte Nachschrift dieser Vorlesung ist ediert worden: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.) : "Geschichte durch Geschichte überwinden". Ernst Troeltsch in Berlin (2006), S. 327-343. 1 56 Hans Barons Nachschrift ist ediert worden in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch­ Gesellschaft 1 9 (2006), S. 55-73.

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nen. Jedenfalls machte Oskar Sieb eck seinem Autor am 1 4. März 1 92 1 erste konkrete Angaben über das zu erwartende Honorar: "nach längerem Hin­ und Herreisen bin ich jetzt erst wieder soweit in Ordnung, dass ich auf un­ sere Unterredung bezüglich der Fortsetzung der ,Gesammelten Schriften' zurückkommen kann. Wenn ich mich recht entsinne, hatten Sie die Fertig­ stellung des III. Bandes für Herbst 1 922 in Aussicht genommen. Da ich Ih­ nen gerne schon heute bestimmte Vorschläge für die Verlagsbedingungen machen würde, da es aber recht schwierig ist, heute schon Bedingungen für eine spätere Zeit festzusetzen, möchte ich Ihnen ein Tantiemenhonorar von 1 0 % vom Ladenpreis des broschierten Exemplars vorschlagen. Ob wir in der Lage sind, den Prozentsatz zu erhöhen, wird seinerzeit von dem defini­ tiven Kalkül abhängen."157 Im August 1 921 erwähnte Troeltsch in einem Brief an Friedrich von Hü­ gel erstmals den Titel, unter dem der Historismus-Band schließlich erschei­ nen sollte. Mit Blick auf einen Termin für die geplante Vortrags reise nach England schrieb Troeltsch dem in England lebenden reformkatholischen Privatgelehrten: "Ich muß in diesem Jahre 1 922 mein Buch ,Der Historis­ mus und seine Probleme' unbedingt druckfertig machen, d. h. den ersten Halbband, und kann daher auf weitere Dinge mich in diesem Jahr unbedingt nicht einlassen. Ich bin beinahe fertig, es fehlen aber viele Einzelstücke, die viel Mühe machen, und die Endredaktion."1 58 Ende 1 92 1 fragte Werner Siebeck bei Troeltsch an, ob er ein in Aus­ sicht gestelltes Manuskript für das Jubiläumsheft der "Sammlung gemein­ verständlicher Vorträge" liefern könne. 1 59 Troeltsch lehnte ab: "Ich arbeite derart angestrengt an dem Buche über den Historismus, daß ich gar keine Möglichkeit anderer Manuskripte habe. Vor den Herbstferien kann ich gar nicht daran denken. Was etwa in diesen sich finden mag, kann ich heute, mit ganz anderen Arbeiten beschäftigt, noch nicht sagen. Ich bitte Sie nicht darauf zu warten, sondern die Nummer zu besetzen, wie Sie es können. Ich bin ganz unsicher. Im Herbst wird mein Buch fertig d. h. es ist bis auf zwei kleine Kapitel fertig, muß aber noch gründlich übergangen werden. Es wird aber im Herbst ganz sicher fertig. Ich werde es Ihnen dann schicken. Evd. im Sommer schon die erste Hälfte. Alles weitere ist aber unsicher. Ich den­ ke jetzt nur an das Buch."1 60 Die beiden "kleinen Kapitel", die Troeltsch 1 57 Brief Os kar Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 4. März 1 921 . Ein Antwortschreiben ist nicht überliefert. 1 58 Brief Ernst Troeltschs an Baron Friedrich von Hügel, 1 3. August 1 92 1 , in: Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1 901-1 923 (1 974), S. 1 1 3 -+ KGA 1 9. 1 5 9 Brief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 20. Dezember 1 921 . 1 60 Postkarte Ernst Troeltschs an Werner Siebeck, 30. Dezember 1 921 -+ KGA 1 9.

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zuletzt fertigsteIlte, gehören beide zum dritten Kapitel. Es handelt sich um den Abschnitt III. 3, "Die Organologie der deutschen historischen Schule" sowie um den Abschnitt III. 8, "Historie und Erkenntnistheorie". Anfang Januar 1 922 antwortete Werner Siebeck: "Mein Bruder und ich nehmen es gerne in Kauf, dass Sie im Augenblick kein Manuscript für die ,Sammlung gemeinverständlicher Vorträge' zur Verfügung haben, da Sie uns in Ihrer liebenswürdigen Karte den Abschluss des III. Bandes der ,Gesam­ melten Schriften' bestimmt in Aussicht stellen. Ihre näheren Nachrichten waren uns eine besonders große Freude und wir sind unsererseits jederzeit mit Vergnügen bereit, mit dem Satz des ersten Teiles zu beginnen. Beson­ ders erfreulich wäre es, wenn Sie das Manuscript des ersten Teiles so recht­ zeitig abschliessen könnten, dass dieser im Herbst bezw. zu Beginn des Win­ tersemesters erscheinen kann. " 161 Spätestens Anfang April 1 922 muß Troeltsch dann ein demnächst druck­ fertiges Manuskript in Aussicht gestellt haben. Werner Siebeck kündigte Troeltsch am 5. April einen Berlin-Besuch seines Bruders Oskar für den 8. bis 1 2. April an.162 Unter dem Datum "Berlin, 9. April 1 922" teilte Os­ kar Siebeck seinem Bruder Werner mit: "Troeltsch. Hat mich für morgen bestellt".163 Ein in der Verlagskorrespondenz aufbewahrter Notizzettel ist mit dem Datum ,, 1 0. 4." versehen. So dürfte das anberaumte Gespräch am 1 0. April stattgefunden haben. Unter anderem ist auf diesem Zettel von Hand vermerkt: "Der Historismus und seine Probleme Anfang August fertig Grossteil im Mai Jährliche Abrechnung 1 0 % Gesammelte Aufsätze Hist. II. Band in 3 Jahren."164 Am 1 0. April 1 922 wurden also die genauen Konditionen des Vertrages ausgehandelt und Pläne für die Zukunft bespro­ chen. Auch konnte Troeltsch Oskar Sieb eck einen ersten Teil des Manu­ skripts übergeben. Jedenfalls schrieb Werner Sieb eck am 22. April 1 922 an Troeltsch, sein Bruder habe zur großen Freude des Verlags bei seiner Rück­ kehr aus Berlin die Seiten 1-1 3 1 des Manuskriptes zum Dritten Band der "Gesammelten Schriften" mitgebracht: "Ich habe das Manuskript sogleich in Satz gegeben und angeordnet, dass Ihnen die Korrektur in Fahnen zuge­ stellt wird. - Den Vertrag über den III Band Ihrer ,Gesammelten Schriften', sowie den Nachtragsvertrag zu Ihrer Schrift ,Psychologie und Erkenntnis1 61 162 1 63

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Brief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 3. Januar 1 922. Brief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, S. April 1 922. Brief Oskar Siebecks an Werner Siebeck, 9. April 1 922, Tübingen, Verlagsarchiv Mohr Siebeck. Der Notizzettel ist in der Korrespondenz nicht genau chronologisch eingeordnet. Er findet sich unmittelbar vor Werner Siebecks Brief an Ernst Troeltsch vom 4. Mai 1 922.

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theorie' erlaube ich mir, Ihnen am Montag zuzusenden."165 Am 24. April schickte Werner Siebeck dann je zwei Exemplare der Verlags-Verträge an Troeltsch.166 Die Drucklegung ging so zügig vonstatten, daß sich Werner Sieb eck schon am 4. Mai 1 922 bei Troeltsch für die Rücksendung der "ersten 1 6 korrigierten Fahnen von Band III" bedanken konnte und nach einem weiteren Teil des Manuskripts fragte: "Wie mir die Druckerei mitteilt, wird das vorhandene Manuscript voraussichtlich noch 1 4 Tage ausreichen. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie mir bis Mitte des Monats weiteres Manuscript zugehen lassen könnten, denn nach dem, was Sie meinem Herrn Dr. Siebeck beim letzten Besuche gesagt haben, haben Sie ja größere Teile des Manuscripts schon nahezu fertiggestellt."167 Am 3. Mai 1 922 unterzeichnete Troeltsch den Verlags-Vertrag, schickte ihn am selben Tag nach Tübingen zurück und kündigte an, weitere Teile des Manuskripts liefern zu können: "Anbei die Verträge zurück. Die Bit­ te um ein gebundenes Exemplar habe ich beigefügt. Sie ist natürlich kei­ ne Bedingung. Aber es wäre mir sehr angenehm. Und wenn es Ihnen zu große Kosten macht, so können Sie sich durch Reduktion der Freiexempla­ re schadlos halten. Ich habe hier noch keinen Buchbinder u[nd] hätte das Exemplar gleich gerne gebrauchsfertig. Auch sparte ich gerne die Kosten. Von meinem Historismus bekommen Sie dieser Tage die Hauptmasse des Manuskripts. Was dann noch aussteht bekommen Sie im Juli oder August spätestens. Den Schluß des 3. Kapitels muß ich am 9/6 in Halle bei der Kantgesellschaft vortragen. Das kurze vierte Kapitel ist schon in Schmol­ lers Jahrbuch gedruckt u [nd] bedarf noch der Bearbeitung. (Ich schätze den Rest auf höchstens 4 Bögen) Korrekturen können Sie mir ruhig bis 3 Bogen auf einmal zuschicken um Porto zu sparen. Der Druck ist so gut, daß ich mit der Korrektur voraussichtlich wenig Mühe habe. Zusätze sind nur auf Grund etwaiger neuerer Litteratur nötig. Es ist alles so durchgearbeitet, daß die Sache sehr glatt gehen wird."168 Auf Troeltschs Bitte, ihm über die vertraglich zugesicherte Anzahl von 30 Freiexemplaren hinaus ein gebundenes Exemplar zukommen zu lassen, ging Werner Siebeck bereitwillig ein: "Mit Ihrer Bitte, von dem 3. Band Ih­ rer Gesammelten Schriften ein gebundenes Freiexemplar zu erhalten, sind 1 65

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Karte Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 22. April 1 922. Troeltschs Arbeit "Psy­ chologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft" (1 905) erschien 1 922 in zweiter Auflage --+ KGA 6. Karte Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 24. April 1 922. B rief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 4. Mai 1 922. B rief Ernst Troeltschs an Werner Siebeck, 3. Mai 1 922 --+ KGA 1 9.

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Sie leider einer Ueberraschung zuvorgekommen, die wir im Sinne hatten. Auf Ihren letzten Brief hin muss ich Ihnen die geplante Ueberraschung schon jetzt verraten. Wir haben in Aussicht genommen, Ihnen von dem 3. Band Ihrer Gesammelten Schriften ein gebundenes Exemplar ausserhalb der Zahl Ihrer Freiexemplare vom Verlag aus zu überreichen. Sehr erfreut hat mich Ihre Mitteilung, dass Sie demnächst den größten Teil des Manu­ scripts zum 3. Band absenden werden. Auch habe ich mir gerne bemerkt, dass das restliche Manuscript im Juli oder spätestens im August hier eintref­ fen soll. Der Druckerei werde ich davon Mitteilung machen, dass jeweils Korrektursendungen im Umfang bis zu drei Bogen an Sie abgesandt werden können."169 Wenige Tage nach seiner Bitte, einen weiteren Teil des Manu­ skripts einzureichen, konnte Werner Siebeck Troeltsch den Eingang seiner Sendung mit dem Text vom "II. Kapitel Absatz 55" bis zum "III. Kapitel Absatz 1-7" bestätigenPO Aufgrund des Umfangs von Troeltschs Manuskript kam es immer wieder zu kleineren technischen Schwierigkeiten. So mußte Oskar Sieb eck Troeltsch ermahnen, mit seinen Nachbesserungen etwas sparsamer zu sein: "in der Revision des 1 . Bogens Ihres ,Historismus', den ich heute zurücker­ halten habe, ist auf der letzten Seite eine grössere Einschaltung notwendig geworden, die sich nur einschalten lässt, wenn auch alle weiteren inzwischen umbrochenen Bogen neu umbrochen werden. Ich habe den Umbruch für diesmal sistieren lassen, damit die von Ihnen vorgeschriebenen Korrektu­ ren restlos ausgeführt werden können, möchte Sie aber für die Zukunft ganz ergebenst bitten, doch solche Einfügungen stets schon in den Fahnen vorzunehmen. Denn es könnte sich leicht so treffen, dass schon eine grössere Anzahl von Bogen umbrochen ist, und dann würde die nachträg­ liche Einfügung unverhältnismässige Arbeit und Kosten verursachen." 171 Allerdings folgte Troeltsch der Bitte des Verlegers nur eingeschränkt. Bis in die letzte Korrekturphase hinein aktualisierte er den Anmerkungsteil, indem er ihm von den Autoren zugeschickte Titel einarbeitete. Besonders deutlich zeigen dies die zusätzlich eingefügten vierzehn "a"-Anmerkungen. Genannt seien nur zwei besonders aussagekräftige Beispiele: Nicht zuletzt dank der Kontakte zu Ernst Robert Curtius nahm Troeltsch intensiv die aktuellen ideenpolitischen Debatten in Frankreich wahr. Der Straßburger Germanist Edmond Vermeil schickte ihm seine zuerst 1 92 1 publizierte, im Jahr darauf selbständig erschienene Studie "La Philosophie religieuse d'Ernest Troeltsch", die der so respektvoll Gewürdigte mit dankbarer 169 B rief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 8. Mai 1 922. B rief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 0. Mai 1 922. 1 7 1 B rief Os kar Siebecks an Ernst Troeltsch, 22. Mai 1 922.

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Zustimmung las und bei den abschließenden Fahnenkorrekturen noch ein­ arbeitete - als ein Zeichen dafür, daß auch in Frankreich die Jüngeren eine "Revolution in der Wissenschaft" inszenierten und sich in ihrem Protest gegen den Positivismus trotz des Krieges wahrnehmungssensibel auf die deutsche philosophische Diskussion und hier gerade auf Troeltschs eigene Religionstheorie bezogen.172 Wohl Anfang August 1 922 schickte Paul Tillich Troeltsch einen Sonderdruck seines soeben in der "Tat" publizierten "Kairos"-Essays. Im Schlußkapitel über den "Aufbau der europäischen Kulturgeschichte" fügte Troeltsch daraufhin noch eine Anmerkung ein, zur Bekräftigung seiner These, daß in diesem "Erdenleben [. . .] jeder Moment von neuem die Aufgabe [stellt] , aus der gewesenen Historie die kommende zu formen". 1 73 Sieht man die vielen anderen Bezüge auf die Manifeste, Traktate und Essays der intellektuellen Jugend, so wird deutlich, warum Troeltsch im wirklich letzten Moment noch eine Tillich-Referenz in seinen Text einbaute: Demonstrieren wollte er so, daß er bei aller Kritik an den revolutionären Posen der jungen Generation im Entscheidenden, im Willen zur aktiven Gestaltung des historischen Moments, im Tatwillen zur "Kultursynthese" elementare Übereinstimmungen sah. Nachdem ein erster Teil des Buches bereits gesetzt worden war, er­ teilte der Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck) der ihm angegliederten H. Laupp'schen Buchhandlung am 9. Juni den Druckauftrag für 3 1 00 Exemplare: "Lieferzeit schnellstens"Y4 Am 1 5. Juni informierte Oskar Sieb eck Troeltsch über die weitere Zeitplanung: "Ihre Zustimmung vor­ aussetzend, werde ich die Druckerei auch künftig von Ihrem ,Historismus' in jeder Woche zwei neue Korrekturbogen liefern lassen. Bei diesem Tempo wird das vorhandene Manuskript etwa bis Mitte Juli ausreichen; ich darf Ihnen anheimstellen, mir bis dahin weiteres Material für den Setzer freundlichst zugehen zu lassen."t75 Troeltsch hielt sich an den von Oskar Siebeck vorgegebenen Zeitrahmen. Im Juli 1 922 lag das Manuskript des Dritten Bandes seiner "Gesammelten Schriften" - abgesehen von Vorwort, Inhaltsverzeichnis und Register - voll­ ständig in Tübingen vor. Troeltsch war es gelungen, den seit einem Jahr ge­ planten Termin der Fertigstellung des Manuskripts einzuhalten. Am 1 7. Juli kündigte der stolze Autor an: "Gleichzeitig erlaube ich mir mitzuteilen, daß 1 72 1 73

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Vgl. unten, S. 9 1 7, Anm. 326a) . Vgl. unten, S . 1 0 1 5 f., mit Anm. 370a) . Tübingen, Verlags archiv Mohr Siebeck, Karton Druckaufträge 1 9 1 9-1 932. J e ein Aushängebogen ging an Ernst Troeltsch und den Verlag. Brief Oskar Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 5. Juni 1 922.

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der Rest des Manuskriptes zum ,Historismus' fertig ist u[nd] diese Woche abgeht. Die Frage ist, ob ein Personen- oder besser Autorenregister bei­ gegeben werden kann. Es scheint mir für die Benützung notwendig u[nd] ich habe meinem Korrekturgehilfen auch bereits die Anlegung aufgetragen. Doch fällt mir ein, daß ich darüber die Meinung des Verlages nicht kenne u[nd] ich bitte hierüber um Auskunft."176 Am selben Tag drängte - in Unkenntnis von Troeltschs Ankündigung ­ Siebeck erneut auf Abgabe des restlichen Manuskripts, obgleich die bisher eingereichten Manuskriptteile noch nicht vollständig gesetzt waren: "als ich Ihnen wegen der Drucklegung Ihres ,Historismus' das letzte Mal schrieb, lag mir leider eine nicht ganz genaue Auskunft der Druckerei vor. Nach der damaligen Auskunft müsste das vorhandene Manuskript jetzt abgesetzt sein. In Wirklichkeit reicht es aber noch bis in die zweite Hälfte des August. Des­ sen ungeachtet wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn ich das restliche Manu­ skript jetzt bekommen könnte. Daran wäre mir vor allem sehr gelegen, weil ich dann den Gesamtumfang des Bandes übersehen und meine Massnah­ men für den Vertrieb entsprechend einrichten kann." 177 Wie von Troeltsch angekündigt, traf das Manuskript bald darauf in Tübin­ gen ein. Am 22. Juli 1 922 bedankte sich Oskar Siebeck bei Troeltsch für "die Uebersendung des Schlussmanuscripts (Kap. III Abschn. 7 und Kap. IV) ". Erstmals kam Oskar Siebeck auf eine mögliche Teilung des Buches in zwei Hälften zu sprechen: "Die Druckerei berechnet den Gesamtumfang auf ca. 48 Bogen ohne Titel und Register. Da doch annähernd noch 25 Bogen ab­ zusetzen sind, habe ich mir überlegt, ob es sich nicht doch empfehlen dürf­ te, den III. Band in zwei Lieferungen zu etwa je 25 Bogen herauszugeben, denn es scheint mir zweifelhaft, ob der ganze Band so rechtzeitig fertigge­ stellt werden kann, dass er im Herbst zu guter Zeit erscheint. Zudem würde eine derartige Beschleunigung eine starke Belastung Ihrer Ferien bedeuten. Ich glaube deshalb mit gutem Gewissen eine Lieferungsausgabe empfehlen zu können. Ich müsste Sie nur in diesem Fall freundlichst bitten Ihrerseits mir zu gestatten, dass ich von der ersten Lieferung einige hundert Exem­ plare honorarfrei überdrucken darf, damit ich eventuell in Verlust geratene Exemplare der ersten Lieferung bei dem Erscheinen der zweiten ersetzen kann. Auf Ihre freundliche Anfrage nach dem Register möchte ich Ihnen vorschlagen, dass wir auf alle Fälle ein Namenregister wie im ersten und zweiten Band beigeben; auch wäre es vielleicht recht wertvoll, wenn ent-

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Brief Ernst Troeltschs an den Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck), 1 7. Juli 1 922 ----; KGA 1 9. Brief Oskar Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 7. Juli 1 922.

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sprechend dem ersten Band auch ein kurzes Sachregister beigefügt werden könnte."178 Der Vorschlag, den Historismus-Band aufgrund seines stattlichen Um­ fangs wie schon "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" in zwei Hälften nacheinander auszuliefern, stieß bei Troeltsch auf wenig Ge­ genliebe: "Wenn Sie eine Lieferungsausgabe für notwendig halten, will ich nichts dagegen sagen. Erwünscht ist sie nicht. Das Publikum hat sie nicht gerne u[nd] die Wirkung ist zersplittert. Die Leute lassen heute vielfach ihre Bücher nicht binden. Dann ist eine zersplitterte Ausgabe, wo Titel, Vorwort und Einteilung zuletzt kommen, den meisten unerwünscht. Ich könnte nun freilich die erstere gleich fertig machen, wobei dann freilich das Inhaltsver­ zeichnis sich auf Kapitel und Abschnitt beschränken müßte, was in diesem Fall kein großer Schaden wäre. Mir selbst macht die Korrektur keine Schwie­ rigkeiten. Ich habe sonst nichts zu tun u[nd] werde in Ambach am Starnber­ ger See sitzen, also sogar ganz gerne korrigieren. Im Oktober werde ich vor­ aussichtlich Dekan u[nd] dann ist meine Zeit wieder sehr besetzt. Ich würde also die Sache im August u[nd] September gerne erledigen. Auch glaube ich, daß die Schätzung etwas hoch ist. Das Manuskript hat 666 Seiten. Davon sind für den ungedruckten Rest nur ganz wenige Handschrift-Seiten. Das meiste sind Druckseiten, die kleiner sind als der jetzige Druck. Vom Manu­ skript sind bis jetzt 264 Seiten gedruckt in meiner Hand. Es bleiben also 400 übrig, denen sicher nicht 400 Seiten des Neudruckes entsprechen, son­ dern weniger, vermutlich etwa 370. Wir würden also etwa auf 700 Seiten 44 Bogen kommen. Das Vorwort wird ganz kurz, etwa 1 1/2 Seiten. Ich würde also eine Fertigstellung für möglich und wünschenswert halten. Die lieferungsweise Veröffentlichung der Weberschen Soziologie hat etwas Ab­ schreckendes für mich. Aber ich kenne die Dispositionen der Druckerei nicht u[nd] auch sonst das Technische nur sehr allgemein. Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen, wenn Sie die Sache für notwendig halten, na­ türlich auch nicht betreffs der Überdrucke, die mir übrigens auch doch als eine Belastung der Sache erscheinen. Doch ich stelle das Ihnen anheim."179 Troeltsch hatte die Seitenanzahl zu gering veranschlagt. Tatsächlich sollte der Historismus-Band ohne Vorwort 777 Seiten umfassen. Zunächst äußer­ te sich Werner Siebeck zur Frage einer möglichen Teilung aber nur indirekt, indem er auf das Procedere der Korrektur zu sprechen kam: "Wenn Sie in 1 78 1 79

Brief Oskar Sieb ecks an Ernst Troeltsch, 22. Juli 1 922. Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 24. Juli 1 922 -t KGA 1 9. Zu Troeltschs Äußerung, eine "zersplitterte Ausgabe" sei bei den meisten Lesern unerwünscht, ist anzumerken: Titel, Vorwort und Inhaltsverzeichnis wurden bei Büchern, die in zwei Hälften erschienen, üblicherweise mit der zweiten Hälfte ausgeliefert. Erst der

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der Lage sind, im August und September zu korrigieren, so ist es natürlich auch mir viel lieber, wenn zu Anfang des Wintersemesters das ganze Buch herausgegeben werden kann. Ich habe die Druckerei dahin disponieren las­ sen, dass das ganze Manuscript bis 1 5. September abgesetzt ist. Vielleicht wäre es für Sie eine gewisse Erleichterung, wenn Sie schon in den Revisi­ onsbogen die Stichworte für das Register mit Buntstift bezeichnen könnten, dann würde ich die Registerzettel auf meinem Büro ausschreiben lassen." 1 80 Am 2. August 1 922 gab Troeltsch die genaue Adresse seines Feriendomi­ zils bekannt: "Ambach am Starnberger See, Oberbayern bei Herrn Dr. Rolf Hoffmann."1 81 Das "Register betreffend ist ein Autoren-Register am nötig­ sten u[nd] wird hier gemacht. Bezüglich der Sachen genügt beim Inhalts­ verzeichnis eine Sammlung der Stichworte. Doch werde ich das wohl selbst machen müssen, wenn ich die ganze Sache übersichtlich beisammen habe. Ich habe ja doch die Haupteinteilungen [im] Kopf."182 Die aufmerksame verlegerische Betreuung des Hauses Siebeck zeigt ein Brief Werner Siebecks vom 1 2. August: "an Hand des 24. Bogens des In. Bandes Ihrer ,Gesammelten Schriften' darf ich Sie vielleicht auf eine Vervollständigung der Literatur aufmerksam machen, die mir bei der Durchsicht des Bogens wünschenswert erscheint. In Anmerkung 1 90 zitieren Sie die Arbeiten Max Webers; die unter 1 . zusammengefassten Logischen Abhandlungen erscheinen demnächst in dem Band der ,Gesam-

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Buchbinder, der beide Hälften zusammenfügte, löste Titel, Vorwort und Inhaltsver­ zeichnis von der zweiten Hälfte und stellte diese Seiten an den Beginn des Buches. Zum Aufenthaltsort Ambach: Troeltsch erwähnt in einem Brief an Friedrich von Hügel vom folgenden Tag, er gehe "auf Einladung eines Großindustriellen auf des­ sen Landgut am Starnberger See". Bei dem Großindustriellen handelt es sich um Dr. Rolf Hoffmann, dessen Logiergast Troeltsch des öfteren war. Vgl. den Brief Ernst Troeltschs an Baron Friedrich von Hügel, 25. Juli 1 922, in: Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1 901-1 923 (1 974), S. 1 3 1 - KGA 1 9. Brief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 29. Juli 1 922. Rolf Hoffmann (1 888-1 951), der von Troeltschs altem Freund Paul Hensel promo­ viert worden war, hatte im Sommer 1 922 in Erlangen die "Akademie auf dem Burg­ berg" gegründet. Die "Akademie auf dem Burgberg", die später "Philosophische Akademie" hieß, bestand bis 1 926. Im selben Jahr floh der Mäzen Hoffmann auf­ grund hoher Schulden nach Los Angeles. Dem Kuratorium der von Hoffmann fi­ nanzierten Akademie gehörten namhafte in- und ausländische Philosophen an, u. a. Rudolf Eucken, Heinrich Rickert, Ernst Cassirer, Benedetto Croce, Jose Ortega y Gasset, John Dewey und Bertrand Russell. Erster Präsident war Ernst Troeltsch. Ihm folgte Hans Driesch. Postkarte Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 2. August 1 922 - KGA 1 9. Eine Karte Werner Siebecks vom 4. August bestätigte den Eingang.

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melten Aufsätze zur Wissenschaftslehre' - und es wäre vielleicht für die Leser Ihres Buches von Wert, wenn Sie gleichzeitig auf den kompletten Band aufmerksam gemacht werden könnten. Auch die weiter unten zitierte Abhandlung ,Die Stadt' ist in der 3. Lieferung von ,Wirtschaft und Gesell­ schaft' enthalten. Von früheren Zitaten der Weberschen Aufsätze sind mir nur 2 aufgefallen: Seite 43, Anmerkung 1 9, und Seite 307, Anmerkung 1 50. Ich wollte nicht versäumen, Sie darauf aufmerksam zu machen."183 Auf diesen Wunsch, die Arbeiten Max Webers nach den jüngsten im Hause Siebeck erschienenen Ausgaben zu zitieren, ging Troeltsch nur auf Seite 369 in Anmerkung 1 90 ein, wo er auf mehrere Arbeiten Webers verwiesen hatte. 184 Die Drucklegung des Dritten Bandes der "Gesammelten Schriften" fiel in eine Zeit äußerst schwieriger ökonomischer Verhältnisse. In der zweiten Hälfte des Jahres 1 922 erreichte die seit Kriegsende zunehmende Inflation immer dramatischere Ausmaße. Im Juli 1 922 kostete ein Kilo Butter in Ber­ lin 1 95 Mark, im September bereits 575 Mark, im November 2440 Mark, im Januar 1 923 5500 Mark.185 Die galoppierende Inflation machte es den Verlegern nicht leicht, die Herstellungskosten ihrer Bücher zu kalkulieren. Der Verkauf teurer Neuerscheinungen wurde immer schwieriger, da auch die bisher relativ gut situierte Mittelschicht in äußerst kritische finanzielle Notlagen geriet. Angesichts dieser prekären Verhältnisse sah sich Oskar Sieb eck schließ­ lich gezwungen, den Historismus-Band entgegen Troeltschs Wunsch in zwei Hälften herauszubringen. Am 1 1 . September 1 922 bat er den noch am Starnberger See weilenden Troeltsch, in der Frage der Teilung in zwei Hälften einzulenken: "als ich gegen Ende des Sommer-Semesters zum letzten Male die Ausgabe Ihres ,Historismus' in zwei Halbbänden oder Lieferungen zur Diskussion stellte, waren für diesen Vorschlag auch verlegerische Gründe ausschlaggebend, die damals freilich noch nicht so stark ins Gewicht fielen, dass es mir unbedingt notwendig erschien, sie Ihnen darzulegen. Schon zu jener Zeit war ich mir darüber im Klaren, dass die Ausgabe eines so umfangreichen Werkes auf einmal für einen Verlags­ betrieb eine Belastung bedeutet, die nur bei genauestern Disponieren und bei schärfster Anspannung aller Kräfte tragbar sein werde. Seither haben sich aber die Schwierigkeiten, die in einem solchen Fall zu überwinden sind, wie Sie sich denken können, ungeheuer verschärft. Meine wichtigsten 1 83 Brief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 2. August 1 922. 1 84 In diesem Band unten, S. 596. 1 85 Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hg. vom Statistischen Reichsamt, 43 (1 923), S. 282.

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Lieferanten verlangen auf größere Aufträge Vorausbezahlungen, weil ihr Kapital einfach nicht mehr ausreicht, die Arbeitslöhne solange auf ihr Konto zu übernehmen, bis die Rechnungen wieder vom Verleger nach Druckvollendung des Werkes beglichen werden. Derartige Anforderungen kann ich nur dann zurückweisen, wenn ich in der Lage bin, mich darauf zu berufen, dass von meiner Seite der Lieferanten-Kredit - denn darauf läuft die bisher übliche Regelung schließlich hinaus - nur dann in Anspruch genommen wird, wenn das unumgänglich notwendig ist. Diese Verhältnisse zwingen mich, auf meinen früheren Vorschlag zurückzukommen und Sie angelegentlichst zu bitten, sich damit einverstanden zu erklären, dass die nunmehr vorliegenden 25 Druckbogen so rasch als möglich als erster Halbband ausgegeben werden. Über die Bedenken, die Sie gegen diese Regelung ausgesprochen haben, können wir nach meinem Dafürhalten j etzt viel eher hinweggehen; denn ich werde aller Voraussicht nach gleich bei der Versendung den genauen Termin bekanntgeben können, zu dem der 2. Halbband längstens ausgegeben werden kann. Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir schon jetzt etwa sagen könnten, bis wann ich ungefahr auf die Vorlage für die Register rechnen darf? Die katastrophale Beschleunigung, die die Geldentwertung in den letzten Wochen erfahren hat, lässt die Teilung Ihres Buches in zwei Halbbände schon um dessentwillen erst recht als geraten erscheinen, weil der für frühere Begriffe enorm hohe Anschaffungspreis dann wenigstens nicht auf einmal erlegt zu werden braucht."186 Angesichts der neuen Situation akzeptierte Troeltsch die Teilung: "Ich habe natürlich unter diesen Umständen gegen die Teilung nichts einzuwen­ den. Das sind katastrophale Verhältnisse, bei denen nichts zu helfen ist. Ich bin nur froh, daß das Buch überhaupt gedruckt ist. Wann das Register fer­ tig ist, kann ich erst sagen, wenn ich den Verf. getroffen habe. Er macht es gleichzeitig mit der Korrektur, bei der er mir hilft. Es wird also so ziem­ lich gleich mit dem Druck selber fertig werden. Ich gebe Ihnen darüber sobald Auskunft als ich den Herrn getroffen habe. Schlimmstenfalls könn­ te man es überhaupt weglassen. Es ist nicht absolut notwendig, wenn auch erwünscht. Inhaltsübersicht mache ich selbst, sobald die Sache vorliegt. Es wird wohl voranstehen müssen, damit man weiß, was noch kommt. Das könnte in 14 Tagen fertig sein. Ebenso ein sehr kurzes Vorwort. Ich hatte an sich vor, den Band dem Gedächtnis Windelbands und Diltheys zu wid­ men. Ich weiß nicht, ob Ihnen das paßt. Ich könnte mich auch begnügen, es im Vorwort zu sagen, wenn Ihnen das lieber ist. Was den Druck selber anbetrifft, so ist am Schluß ein Fehler aufgetreten, der aber leicht zu korrigie1 86

Brief Oskar Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 1 . September 1 922.

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ren ist. Der 8te Abschnitt des dritten Kapitels ,Logik und Erkenntnistheo­ rie des historischen Entwicklungsbegriffes', das Ihnen zuletzt zugeschickte Stück, müßte hinter Korrekturfahne 530 kommen. Statt dessen ist gleich das IV. Kapitel angeschlossen worden. Die Schuld trägt die Verspätung des Druckes in den Kantstudien[,] so daß ich dieses Stück mit besonderer Pa­ ginierung nachliefern mußte. Übrigens trifft, während ich dies schreibe, ge­ rade eine weitere Korrektursendung ein, die dieses Stück bringt. Ich werde es umpaginieren u [nd] die Anmerkungen umnummerieren. Dann ist alles in Ordnung. Die Korrekturen bis 530 d. h. bis Ende von Abschnitt 7 des III. Kap. gehen heute ab. Ich werde dann morgen die neue Korrektur ma­ chen u[nd] dann das IV. Kapitel erst schicken, wenn III fertig ist, was mit der nächsten Sendung wohl der Fall sein dürfte. Ich mache also Vorwort u[nd] Inhaltsverzeichnis [,] sobald die letzten Revisionsbogen vorliegen[,] in einem Tage. Sie können dann die Sache arrangieren, wie Sie wollen. Vom 26./9-6./1 0. werde ich in Darmstadt u[nd] Spardorf sein. Ich werde Ihnen aber Adresse u[nd] Zeit für alle Fälle noch genau angeben. An mir soll nichts fehlen."1 87 Vom 25. bis 30. September 1 922 fand in Darmstadt unter der Leitung von Hermann Graf Keyserling die Iv. Tagung der "Gesellschaft für Freie Philosophie" statt. Sie stand unter dem Motto: "Die Geschichte als Wil­ le und Spannung". Troeltsch hielt hier einen Vortrag über "Die Zufällig­ keit der Geschichtswahrheiten"188. Im Laufe des Jahres 1 922 war Troeltsch mehrfach bei Rolf Hoffmann zu Gast - sowohl in dessen Ferienhaus in Am­ bach als auch auf dessen Landgut in Spardorf bei Erlangen. In Spardorf soll Troeltsch Teile der für seine geplante Englandreise bestimmten "Fünf Vor­ träge" verfaßt haben, deren deutsche Fassung 1 924 unter dem Titel "Der Historismus und seine Ü berwindung" erschien. 189 Bevor Troeltsch nach Darmstadt und Spardorf aufbrach, erledigte er die versprochenen Arbeiten. Das am 1 9. September geschriebene Vorwort schickte er am 22. September nach Tübingen: "Anbei übersende ich Ihnen Titel, Widmung, Vorwort, Inhaltsverzeichnis. Mit der Widmung halten Sie es, wie es die Sachlage fordert. Können Sie sie nicht bringen, dann hole ich sie am Ende des Vorwortes nach. Die Ziffern zum Inhaltsverzeichnis müssen so wie so bei der Korrektur eingetragen werden, wenn alle Revisio1 87 1 88

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Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 1 3. September 1 922 ----7 KGA 1 9. Ernst Troeltsch: Die Zufalligkeit der Geschichtswahrheiten (1 923) , in: KGA 1 5, S. 537-569. Der Vortrag erschien im "Leuchter", dem "Jahrbuch der Schule der Weisheit". Vgl. Anonym: Die philosophische Akademie in Erlangen in Gefahr, in: Die Zeit, Nr. 1 1 4, 21 . März 1 925. Die Vorträge liegen jetzt kritisch ediert vor in KGA 1 7.

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nen da sind. Das Register will Herr Grüneberg sofort fertig machen, wenn alles vorliegt. Ich gehe am Montag wieder nach Darmstadt u [nd] bin vom 30/9-1 0/1 0 wieder in Spardorf bei Erlangen p A Herrn Dr. Hoffmann. Ich bitte Sie also von Montag ab die Sendungen nach Spardorf zu dirigieren, wo ich sie erledigen werde."190 Werner Sieb eck bestätigte umgehend den Empfang von Troeltschs Sen­ dung.191 Wenige Tage später forderte Oskar Sieb eck Troeltsch auf, ihn bei der Werbung für den Historismus-Band durch eine "Selbstanzeige" für sei­ ne "Grünen Hefte" zu unterstützen.l92 Am 4. Oktober 1 922 erschien dann die erste Hälfte des III. Bandes der "Gesammelten Schriften".193 Sie trägt einen eigenen Titelbogen, der vom Buchbinder entfernt werden mußte, wenn dieser später die erste Hälfte mit der zweiten Hälfte zusammenband. Dieser Titelbogen unterscheidet sich von dem der zweiten Hälfte vorangestellten u. a. durch die Aufschrift "erste Hälfte" und den Hinweis: "Der Kauf der ersten Hälfte verpflichtet zum Kauf der zweiten Hälfte". Die erste Hälfte erschien ca. drei Wochen nach Einführung einer der Währungs verschlechterung folgenden Schlüsselzahl, mit welcher der Börsenverein deutscher Buchhändler und der Deutsche Verlegerverein auf das Problem der ständig steigenden Preise reagiert hatten. Die Schlüssel­ bzw. Teuerungszahl war mit der festgelegten Grundzahl194 einer Veröf­ fentlichung zu multiplizieren, um den sogenannten Papier-Preis, d. h. den Bargeld-Preis eines Buches zu bestimmen. Ab 1 3. September wurde die Schlüsselzahl 60 eingeführt. Sie sollte gelten, bis eine neue Schlüsselzahl dem aktuellen Währungsverfall angeglichen wurde. 1 95 Die Veränderung der Schlüsselzahlen im Laufe der Jahre 1 922 und 1 923 war dramatisch. Seit dem 27. Dezember 1 922 mußte der Grundpreis schon mit 600 multipliziert werden, seit dem 21 . Juni 1 923 mit 63 000, seit dem 1 1 . August mit 300 000, ab dem 7. September mit 2 400 000, ab dem 20. November mit 1 90 19 1 1 92 1 93

Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 22. September 1 922 ---> KGA 1 9. Brief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 26. September 1 922. Brief Oskar Siebecks an Ernst Troeltsch, 28. September 1 922. Vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 89 (1 922), Nr. 232, 4. Oktober 1 922, S. 1 0847. 1 94 Die Grundzahlen orientierten sich am Schweizer Franken, d. h. ein Buch, für das die Grundzahl 24 festgesetzt war, kostete 24 Schweizer Franken. 19 5 Vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 89 (1 922) , 1 3. September 1 922, S. 1 293 f. Nicht alle Verleger und Sortimenter hielten sich streng an die festgesetzten Schlüsselzahlen. Vgl. Hans Widmann (Hg.): Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen, 2. Band (1 965) , S. 284 f.

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660 Milliarden und ab dem 22. November 1 923 mit 1 1 00 Milliarden.l 96 Erst am 5. Dezember 1 923 wurde der horrenden Geldentwertung Einhalt geboten. Die Rentenmark auf Dollarbasis löste die Mark ab und machte die Schlüsselzahlen überflüssig. Durch die Geschwindigkeit der Inflation war zwischen 1 9 1 7 und 1 923 der feste Ladenpreis für Bücher quasi außer Kraft gesetzt. In Anzeigen waren daher oft "unverbindliche" Preise bzw. "Tagespreise" angegeben. 197 Der Preis der ersten Hälfte des Historismus-Bandes war durch die Grundzahl 1 0 bestimmt. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Hälfte im Oktober 1 922 galt noch immer die offizielle Schlüssel- bzw. Teuerungszahl 60, so daß für die erste Hälfte des Historismus-Bandes nach den Angaben des "Wöchentlichen Verzeichnisses der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels" 600 Mark bezahlt werden mußten.198 Am 1 3 . Oktober bedankte sich Troeltsch bei Oskar Siebeck für die Zu­ sendung der ersten Hälfte und schickte ihm eine Liste mit 30 Personen, die ein Freiexemplar erhalten sollten, sowie den kurzen Werbetext für die "Grü­ nen Hefte" 199: "Anbei sende ich Ihnen die Selbstanzeige. Das ist für den Au­ tor stets eine unangenehme Sache, da er den Reklame- u[nd] Aktualitätston naturgemäß vermeidet, dadurch aber in eine sehr gelehrte Ausdruckswei­ se gerät. [. . .] Die erste Beehrung des Buches habe ich mit bestem Dank erhalten. Es handelt sich nun um die weiteren Versendungen. Hier sind mir besonders wichtig Sendungen ins Ausland."2°O Dann folgen die Namen: Paul Wernle (Basel) , Walther Köhler (Zürich) , Heinrich Hoffmann (Bern) , Baron Friedrich von Huegel (London), Carl Neumann (Heidelberg), Hein­ rich Rickert (Heidelberg), Hermann Oncken (Heidelberg) , Eduard Spran­ ger (Berlin) , Heinrich Maier (Heidelberg), Alois Riehl (Berlin), Werner Som­ bart (Berlin) , Eduard Wechßler (Berlin) , Friedrich Meinecke (Berlin), Hein­ rich Herkner (Berlin) , Werner Jäger (Berlin), Wolfgang Koehler (Berlin) , Karl Stählin (Berlin), Paul Hensel (Erlangen), Rolf Hoffmann (Spardorf) , Karl Vossler (München) , Ernst Cassirer (Hamburg) , Max Scheler (Köln) , Heinrich Scholz (Kiel) , Adolf von Harnack (Berlin), Georg Misch (Göttin1 96

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Vgl. Hans Widmann: Geschichte des Buchhandels vom Altertum bis zur Gegen­ wart (1 975), S. 1 49; ders. (Hg.): Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quel­ len, 1 . Band (1 965), S. 1 60. Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels (1 991), S. 303. Vgl. oben, S. 83, Anm. 2. Die "Selbstanzeige" wird in KGA 13 ediert werden. Siehe die faksimilierte Wieder­ gabe dieser Verlags anzeige oben nach dem Abkürzungsverzeichnis. Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 1 3. Oktober 1 922 -t KGA 1 9.

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gen), Herman Schmalenbach (Göttingen), Richard Kroner (Freiburg) , Gott­ fried Salomon (Frankfurt a. M.) , Paul Honigsheim (Köln), Edmond Vermeil (Straßburg) , Horst Grüneberg (Berlin) , Marianne Weber (Heidelberg), Carl Hagemann (Berlin) , Werner Weisbach (Berlin) . Anfang November wurde das letzte noch fehlende Stück, das Namenre­ gister, von Troeltschs Berliner Schüler Horst Grüneberg eingereicht. Am 3. November bestätigte der Verlag den Eingang.201 Umgehend wurde das Register gesetzt und an Horst Grüneberg zurückgeschickt. Grüneberg, der Troeltsch auch bei der Fahnenkorrektur unterstützt hatte, schickte am 1 0. November die korrigierten Fahnen des Registers wieder an den Verlag.202 So lag am 1 0. November das vollständige Typoskript in Tübingen vor. Am 9. November bat Troeltsch Sieb eck, auf einige seiner anderen Werke hinzuweisen: "Ist es möglich auf dem Umschlag auch meine Hauptwerke aus anderem Verlag zu nennen, etwa 4 Bücher? Protestantisches Christen­ tum und Kirche, Kultur der Gegenwart IV, 1 Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Kultur, München Oldenbourg 2. Aufl. 1 9 1 1 Augustin, christliche Antike und das Mittelalter, München Oldenbourg Das Historische in Kants Religionsphilosophie, Berlin Reichardt. Es wäre für Leser u[nd] Autor angenehm."203 Umgehend bestätigte ihm der Verlag, von diesem Wunsch Kenntnis ge­ nommen zu haben.204 Offensichtlich meinte Troeltsch mit der Bezeichnung "Umschlag" das letzte Blatt des Buches, da der Dritte Band der "Gesammel­ ten Schriften" wie die beiden ersten Bände nicht mit einem Schutzumschlag versehen war. In der separat erschienenen Ausgabe der zweiten Hälfte fin­ den sich auf dem letzten Blatt neben Hinweisen auf Werke Max Webers auch Anzeigen von Troeltschs Büchern, nur von den Werken allerdings, die vom Hause Sieb eck verlegt wurden.

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Karte des Verlags ]. C. B. Mohr (paul Siebeck) an Ernst Troeltsch, 3. November 1 922. Brief Horst Grünebergs an den Verlag ]. C. B. Mohr (paul Siebeck), 1 0. November 1 922, Tübingen, Verlagsarchiv Mohr Siebeck. Grüneberg, der sein Studium unter­ brochen hatte und seit April 1 922 "in der Wirtschaft" tätig war, mußte "die Korrek­ turfahnen aus [Troeltschs] Wohnung am Reichskanzlerplatz abholen" - so Grüne­ berg in einem Brief an Martin üstermann, 9. Dezember 1 969, Privatbesitz. Karte Ernst Troeltschs an den Verlag]. C. B. Mohr (Faul Siebeck) , 9. [?] November 1 922 ---; KGA 1 9. Karte des Verlags ]. C. B. Mohr (paul Siebeck) an Ernst Troeltsch, 1 5. November 1 922.

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Nach Erscheinen der ersten Hälfte zeigte sich Troeltsch sehr darum be­ müht, seinem Buch die Wege zum Leser zu bahnen. Am 4. Dezember teil­ te er Oskar Sieb eck mit: "Außerdem haben die Herren Spranger, Staatsse­ kretär Becker etc, denen ich meinen Historismus zu schicken bat, ihn im­ mer noch nicht erhalten. Hoffentlich ist da nichts auf der Post passiert. Es scheint jetzt viele Unregelmäßigkeiten zu geben. - Schließlich möchte ich nicht unterlassen zu bemerken, daß viele Leute klagen[,] sie hätten meinen Historismus im Sortiment nicht zu sehen bekommen u[nd] hätten von sei­ nem Erscheinen nichts gewußt. Das ist wohl alles schwierig."20s Die Sorgen seines Autors konnte Werner Siebeck nur teilweise zerstreu­ en. Am 6. Dezember antwortete der Tübinger Verleger: "Was sodann die von Ihnen beorderten Exemplare der 1 . Hälfte des Historismus anbetrifft, so sind diese Exemplare am 21 . Oktober hier abgegangen. Das für Profes­ sor Spranger bestimmte Exemplar kam als unzustellbar zurück und wurde nach Rückfrage bei Ihnen am 1 5. November an die neue Adresse von Spran­ ger expediert. Ich hoffe sehr, dass die verschiedenen Sendungen inzwischen richtig an ihren Bestimmungsorten eingetroffen sind. Sollte dies nicht der Fall sein, so darf ich Sie vielleicht um nochmalige Nachricht bitten, damit von unserer Seite bei der Post reklamiert werden kann. Dass es Sortiments­ firmen gibt, die von dem Erscheinen Ihres ,Historismus' nichts wissen wol­ len, überrascht mich offen gestanden ziemlich, denn wir haben vor etwa 1 4 Tagen im Buchhändlerbörsenblatt eine große Anzeige aufgegeben, in welcher nachdrücklichst auf das Erscheinen des 3. Bandes Ihrer Gesammel­ ten Schriften hingewiesen ist. Vielleicht liegen aber die Beobachtungen, von welchen Sie mir berichten, schon längere Zeit zurück. "206 Siebecks Verwunderung ist vor dem Hintergrund der inflationsbedingten Schwierigkeiten des gesamten Buchgewerbes kaum anders denn als ein Be­ schwichtigungsversuch zu verstehen. Vor Beginn der Inflation war es üblich, daß die Sortimenter Bücher erst zu einem späteren Zeitpunkt bezahlten. 205 206

Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 4. Dezember 1 922 � KGA 1 9. Brief Werner Siebecks an Ernst Troeltsch, 6. Dezember 1 922. Vgl. die ganzseitige Anzeige "Herbstnovitäten" des Verlags J. c. B. Mohr (paul Siebeck) in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhhandel 89 (1 922), Nr. 272, 23. November 1 922, S. 1 3 1 88: "Von meinen diesjährigen Herbstnovitäten kann ich die folgenden dem Buchhandel zu energischer Verwendung im Weihnachtsgeschäft empfehlen." Neben Troeltschs Historismus-Band wurden folgende Werke genannt: Adolf von Harnack: Augustin; Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Otto Baumgarten: Die religiöse Erziehung im Neuen Deutschland; Die Heilige Schrift des Alten Testa­ ments, hg. von Alfred Bertholet; Adolf Erman: Aegypten und aegyptisches Leben im Altertum.

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Nun wurde ihr Risiko immer höher. Sie waren zunehmend gezwungen, die von den Verlagen gelieferten Bücher unmittelbar nach Erhalt zu bezahlen, so daß sie von der üblichen Festbestellung immer mehr Abstand nehmen mußten. Dadurch war der Präsenzbestand von eher auflagenschwachen wis­ senschaftlichen Büchern mitunter erheblich eingeschränkt.207 Schon am nächsten Tag schrieb Troeltsch an Oskar Sieb eck: "Was die Exemplare meines Historismus anbetrifft, den ich Sie an Spranger, Becker, Riezler, Hintze, Wünsch zu schicken bat, so wollen Sie wohl beide Teile mit einander verschicken. Jedenfalls hat noch keiner der hiesigen Herren etwas. Ich werde von Ihnen stets um das Buch gedrängt. Die erste Anzei­ ge von Fueter in den Basler Nachrichten haben Sie wohl. Sonst kann ich sie Ihnen schicken. Ich hebe mir die Dinger ja doch nicht auf. Ich bitte übri­ gens natürlich auch die zweite Hälfte an diejenigen zu schicken, die die erste haben. Die Leute sind alle sehr neugierig u [nd] wollen es gerne haben. Auf­ gefallen ist mir, daß das Buch im Sortiment wenig zu sehen u[nd] zu haben ist. Verschiedene, die es kaufen wollten, konnten es nicht zu sehen kriegen. Ich bin übrigens todtfroh, daß die Sache fertig wurde vor der neuen Preis­ steigerung u[nd] vor meinem Dekanat. Ich [hätte] jetzt schon manches zu ändern. Aber man muß sich so etwas vom Herzen reißen, sonst wird es nie fertig. "208 Erneut erkundigte Troeltsch sich nach dem Verbleib der Freiexempla­ re. Nun gab Oskar Siebeck zu, daß diese tatsächlich noch nicht verschickt worden waren, und versuchte, die Befürchtungen des Autors hinsichtlich der Verfügbarkeit seines Buches abermals zu zerstreuen: "Sodann hat mein Bruder noch einmal persönlich die Frage der Freiexemplare für die Her­ ren Becker, Hintze und Riezler untersucht und dabei festgestellt, dass unse­ re Expedition mit der Versendung der Freiexemplare noch so lange zuge­ wartet hat, bis der komplette dritte Band fertig vorlag. Wir haben sogleich nach Eintreffen Ihres Briefes das Notwendige veranlasst und hoffen, dass die Herren nunmehr bei Eintreffen dieses Briefes im Besitz der Exemplare sind. Die Ankündigung Ihres ,Historismus' in den Basler Nachrichten ha­ ben wir mit grosser Freude gelesen. An die Empfänger von Freiexemplaren der ersten Hälfte des III. Bandes liessen wir ebenfalls je ein Exemplar der 2. Hälfte absenden. Nach unseren Beobachtungen, die wir in der allerletz­ ten Zeit gemacht haben, können wir Sie wegen des Bekanntwerdens und damit auch wegen des Absatzes Ihres ,Historismus' vollkommen beruhigen. Es wird immer Sortiments firmen geben, die mit den neuesten Erscheinun207 208

Vgl. Herbert G. Göpfert: Vom Autor zum Leser (1 977) , S. 1 38 f. Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 7. Dezember 1 922 -+ KGA 1 9. Vgl. Eduard Fueter: [Rez.] Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1 922) .

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gen nicht ganz auf dem Laufenden sind, aber ich glaube, diejenigen grossen Firmen, auf die es für einen wirksamen Vertrieb ihres Buches in erster Linie ankommt, sind alle schon längere Zeit über dessen Erscheinen orientiert. Auch uns ist es eine große Freude, dass die zweite Hälfte des III. Bandes noch vor Weihnachten fertiggestellt werden konnte. Die noch zu erwarten­ den Preissteigerungen brauchen gerade Ihnen keine grossen Sorgen berei­ ten. So finden Sie uns auch jederzeit bereit, mit dem Satz zum IV Band zu beginnen. Wir freuen uns jedenfalls auf den Tag, an dem Sie uns das Manu­ script - hoffentlich recht bald - werden übersenden können. Entsprechend unserer früheren Zusage haben wir uns erlaubt, Ihnen ein gebundenes Ex­ emplar des III. Bandes vom Verlag aus zu übersenden."209 Das versprochene Exemplar erreichte Troeltsch vermutlich zwischen dem 20. und 29. Dezember. Am 3 1 . Dezember 1 922 schrieb er an Oskar Sieb eck: "Erstlich herzlichen Dank für den gebundenen Band meines Historismus, der jetzt sehr stattlich aussieht u[nd] mich sehr erfreut."210 Nach dem "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" erschien die zweite Hälfte des Historismus-Bandes am 1 6. Dezember, nach dem "Wöchentlichen Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels" traf sie zwischen dem 24. und dem 29. bei der Deutschen Bücherei in Leipzig ein.21 1 Für die zweite Hälfte wurde der Preis wie für die erste Hälfte mit der Grundzahl 1 0 bestimmt. Die Schlüsselzahl, mit der die Grundzahl zu multiplizieren war, hatte sich in den vergangenen zwei Monaten jedoch von 60 auf 600 verzehnfacht, so daß die separat erschienene zweite Hälfte 6000 Mark kostete. Das broschierte Exemplar, das beide Hälften vereinigte, wurde vom Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck) mit der Grundzahl 20, das in Halbleinenwände gebundene Exemplar mit der Grundzahl 24 be­ stimmt, d. h. die broschierte Ausgabe kostete 1 2 000 Mark, die gebundene 1 4 400 Mark.212 Jean Rudolf von Salis, im Wintersemester 1 920/1 921 ein Hörer von Troeltschs Vorlesung über "Geschichte der neueren Philosophie", erinnerte sich 1 975 daran, im Januar 1 923 für den ganzen Historismus-Band 1 0 000 Mark bezahlt zu haben.213 Falls dies zutrifft, hatte von Salis den Band sehr preisgünstig erworben. Der Historismus-Band erschien in einer Auflage von insgesamt 3 1 00 Exemplaren. 3000 waren für 209 21 0 21 1 212

Brief Oskar Siebecks an Ernst Troeltsch, 1 3. Dezember 1 922. Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck, 1 3. September 1 922 � KGA 1 9. Vgl. oben, S. 83, Anm. 1 f. Vgl. die der separat erschienenen zweiten Hälfte am Ende beigebundene Verlags­ werbung. Bei den vom Verlag gebundenen Exemplaren fehlt diese Verlagswerbung. 213 Vgl. Jean Rudolf von Salis: Grenzüberschreitungen, Erster Teil (1 975), S. 1 50.

Die Drucklegung des Historismus-Bandes

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den Handel bestimmt, dem Autor standen 50 Freiexemplare zu. 50 Exem­ plare verschickte der Verlag als Rezensionsexemplare an Zeitungen und Zeitschriften des 1n- und Auslandes. Als Honorar erhielt Troeltsch zehn Prozent vom Ladenpreis der broschierten Ausgabe.214 Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse verkaufte sich der Dritte Band der "Gesammelten Schriften" recht ordentlich. Noch 1 922 wurden 685 Exemplare des Historismus-Bandes abgesetzt; 1 923 waren es dann 8 1 2, im folgenden Jahr 369 Exemplare. Nach fast zwei Jahren wa­ ren also knapp zwei Drittel der Auflage verkauft. Max Webers "Gesammel­ te Aufsätze zur Wissenschaftslehre", am selben Tag wie die erste Hälfte des Historismus-Bandes erschienen und gleichfalls in 3000 für den Handel bestimmten Exemplaren aufgelegt, verkauften sich geringfügig schlechter: 1 922 gingen 672 Exemplare, 1 923 661 Exemplare und 1 924 322 Exemplare über den Ladentisch. Nach 1 925 ließ der Absatz des Historismus-Bandes deutlich nach, obwohl viele wichtige Aufsätze zur Debatte um Troeltschs "Kultursynthese" erst in diesem und den folgenden Jahren erschienen.21 5 Rene König, der seinerzeit i n Berlin studierte, berichtete 1 987, "ab 1 927 oder 1 928" seien die Bände von Troeltschs "Gesammelten Schriften" "auf dem Bücherkarren, der in der Nähe der Staatsbibliothek stand", für we­ nig Geld "verramscht" worden.21 6 Zwischen 1 926 und 1 932 ließen sich mit stark abnehmender Tendenz durchschnittlich noch ca. 1 00 Exempla­ re des Historismus-Bandes jährlich verkaufen. Von 1 933 bis 1 940 waren es dann jährlich ca. 20 Exemplare. Damit war die Auflage fast vollstän­ dig umgesetzt: 1 941 und 1 949 wurden die beiden letzten Exemplare ver­ kauft.217 Mit dem Erscheinen der zweiten Hälfte des Historismus-Bandes bot der Verlag Einbanddecken an, so daß sich die Leser die beiden Hälften privat zusammenbinden lassen konnten. Die nachträglich gebundenen Exemplare sind - auch wenn die vom Verlag angebotenen Einbanddecken verwendet 21 4

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Vgl. den "Verlags-Vertrag" im Verlagsarchiv Mohr Siebeck, Ordner "Ausgesonder­ te Verträge T". Zu nennen sind hier vor allem Otto Hintze: Troeltsch und die Probleme des Hi­ storismus (1 927); Ferdinand Tönnies: Tröltsch und die Philosophie der Geschichte (1 925) ; Alfred Vierkandt: Schriften zur Geschichtsphilosophie (1 925) . Vgl. Rene König: Soziologie in Deutschland (1 987) , S. 27 1 . Vgl. "Verkaufsstatistik" im Archiv des Verlags ]. C. B. Mohr (Faul Siebeck) , die auch der " Ü bersicht über den jährlichen Absatz von Troeltschs Schriften im Verlag]. C. B. Mohr (Faul Siebeck)" zugrunde liegt, die Gangolf Hübinger für die Jahre 1 899 bis 1 933 zusammengestellt hat, Gangolf Hübinger: Ernst Troeltsch - Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft (2004), S. 203 f.

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Editorischer Bericht

wurden - deutlich von der gebunden erschienenen Ausgabe zu unterschei­ den. Sie haben zum einen nach dem Inhaltsverzeichnis einen Falz, zum an­ deren finden sich auf dem letzten Blatt Anzeigen der Werke Max Webers und Troeltschs. Papier Gaffe-Papier), Einband und Textgestaltung der Aus­ gabe entsprachen den Bänden I und II der "Gesammelten Schriften". Ei­ ne direkt vom Verlag hergestellte Ausgabe in "Halbleder", im Fachjargon als "Halb französisch" (abgekürzt: "Halbfrz.") bezeichnet, gab es erst 1 925, als sich der Verlag entschloß, alle vier Bände der "Gesammelten Schriften" auch in dieser Ausstattung anzubieten. Für diese Ausgabe wurde aber keine neue Auflage gedruckt.21B Die Startauflage war mit 3000 für den Handel bestimmten Exemplaren relativ hoch. Daher war keine zweite Auflage des Historismus-Bandes als anastatischer Neudruck oder als photomechanischer Nachdruck nötig, wie bei Band I und II der "Gesammelten Schriften", deren Startauflage deut­ lich geringer war. Von Band I, "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen", wurden 1 9 1 2 für die erste Auflage 1 570 Exemplare ge­ druckt. 1 9 1 9 erschien eine zweite Auflage als anastatischer Neudruck mit einer Auflagenhöhe von 1 020 Exemplaren, 1 923 eine dritte Auflage als pho­ tomechanischer Nachdruck mit einer Auflagenhöhe von 2040 Exemplaren. Von GS II, "Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik", wurden 1 9 1 3 für die erste Auflage 1 670 Exemplare, 1 922 für die als photomecha­ nischer Nachdruck erschienene zweite Auflage 1 020 Exemplare gedruckt. Insgesamt sind von GS II also weniger Exemplare gedruckt worden als von GS III. Auch GS IV, "Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziolo­ gie", 1 925 von Hans Baron posthum herausgegeben, wurde nur einmal in einer Auflagenhöhe von 3 1 1 0 Exemplaren aufgelegt.219 Eine neue Ausgabe des Historismus-Bandes erschien erst 1 96 1 im Scientia-Verlag, Aalen. Dabei handelt es sich um einen photomechanischen Nachdruck der Originalausgabe, der 1 977 erneut aufgelegt wurde. Die Auflagenhöhe der Scientia-Ausgaben betrug insgesamt ca. 2000 Exemplare. 218

219

Vgl. die Briefe Oskar Siebecks an die Witwe Marta Troeltsch aus dem August und Oktober 1 925. 1 932 wurden vom Verlag Band I-IV halb französisch gebunden für 90 Mark in Kassette angeboten. Vgl. die z. B. bei Karl Heussi: Die Krisis des Hi­ storismus (1 932) auf der Innenseite des hinteren Deckels der broschierten Ausgabe gedruckte Verlagswerbung des Hauses Siebeck. Alle Angaben nennen die volle Auflagenhöhe, d. h. Frei- und Rezensionsexemplare sind in ihnen enthalten. Vgl. Tübingen, Verlags archiv Mohr Siebeck, Calculations­ buch. Nicht miteinbezogen sind die sogenannten " Ü berdrucke" der ersten Hälfte; vgl. den oben, S. 1 39 f. mitgeteilten Brief Os kar Siebecks an Ernst Troeltsch vom 22. Juli 1 922.

Die Drucklegung des Historismus-Bandes

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Schon relativ früh war eine Ü bersetzung ins Englische vorgesehen:220 Im Oktober 1 922 bot Oskar Siebeck dem Verlag Macmillan & Co. die Rechte für die englische Ü bersetzung der Werke seiner Autoren an, um im Gegen­ zug die deutschen Rechte für Autoren des Hauses Macmill an zu erwerben. Dabei hob er hervor, daß die Lage insofern ausgezeichnet sei, als so bedeu­ tende Werke wie Heinrich Rickerts "Philosophie des Lebens", Max Webers "Religionssoziologie" und "Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre" sowie Ernst Troeltschs "Der Historismus und seine Probleme" soeben er­ schienen bzw. im Erscheinen begriffen seien.221 Es kam tatsächlich zu ei­ ner Kooperation mit Macmill an & Co. Allerdings wurden von Troeltschs Arbeiten nicht der Historismus-Band, sondern die "Soziallehren der christ­ lichen Kirchen und Gruppen" 1 93 1 in englischer Übersetzung herausge­ bracht. In der Übersetzung von Oliver Wyon erschien "The Social Teaching of the Christian Churches. With an introductory note by Charles Gore, nn, nc.L., LL.n" 1 931 in London bei George Allen & Unwin Ltd. sowie in New York bei The Macmill an Company. Ins Italienische wurde 1 977 ein kurzer Abschnitt des zweiten Kapitels des Historismus-Bandes übersetzt,222 ehe 1 985 ein Band mit den ersten bei­ den Kapiteln veröffentlicht wurde.223 Eine vollständige Übersetzung des Historismus-Bandes erschien in japanischer Sprache, und zwar im Rahmen einer zehnbändigen Edition "Gesammelter Werke" Ernst Troeltschs. Der Übersetzer ist Katsuhiko Kondo, Professor für Systematische Theologie am Tokyo-Union-Theological Seminary. Die drei Bände, die der "Historismus" in der japanischen Ausgabe beansprucht, wurden zwischen 1 980 und 1 988 veröffentlicht.224 In Moskau kam 1 994 eine russische Übersetzung heraus.225 Ausgaben in anderen Sprachen sind nicht bekannt.

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Diese Ü bersetzung ist bis heute nicht erfolgt. Bereits weit gediehen sind allerdings die einschlägigen Arbeiten von Garrett E. Paul (Gustavus Adolphus College, Saint Peter, MN) . Vgl. den Brief Werner Sieb ecks an den Verlag Macmillan & Co., 9. Oktober 1 922, Tübingen, Vedagsarchiv Mohr Siebeck. Aus dem zweiten Kapitel wurde der Abschnitt ,,5. Historie und Wertlehre" (S. B 200-220) in den von Sandro Barbera und Pietro Rossi herausgegebenen Sam­ melband "Lo storicismo tedesco" (1 971) aufgenommen (dort S. 857-879) . Ernst Troeltsch: La storicismo e i suoi problemi (1 985) . Vgl. Katsuhiko Kondo: Die japanische Ausgabe der Werke Ernst Troeltschs und die japanische Ernst-Troeltsch-Gesellschaft (1 990) . Ernst Trel' Daneben sind mit etwas geringerer, aber immerhin hinreichend starker Wirkung von der neu auflebenden Reli­ gions- und Kunstgeschichte her Einflüsse ausgegangen, welche die übliche protestantisch-liberal-preußische oder religionslos-nationalistisch-imperiali­ stischea Geschichtsauffassung umgeworfen oder das Verhältnis von Anti­ ke, Gotik, Moderne in ganz anderen Beleuchtungen gezeigt haben, insbe­ sondere die Kunst reichlich als Schlüssel zu den allgemeinen seelischen Be­ schaffenheiten der Zeiten verwenden. All das trifftb auf eine konventionell­ selbstverständliche Wertung, auf eine Cepigonenhaft gewordene und nicht allzu kraftvolle Mitte, die zwar davon nichts zu merken schien, aber für die Jugend insbesondere immer kraft- und reizloser wurde. I Und nun kam die ganze furchtbare praktische Probe aller historischen Theorien, die in einer Zeit des Friedens oder doch des Aufstieges entstanden waren und ihre Wertsysteme wie selbstverständlich in den Fortschritt der Zukunft hinein verlängerten. Weltkrieg und Revolution wurden histori­ scher Anschauungsunterricht von furchtbarster und ungeheuerster Gewalt. Wir theoretisieren und konstruieren nicht mehr unter dem Schutze einer alles tragenden und auch die kühnsten oder frechsten Theorien zur Harm­ losigkeit machenden Ordnung, sondern mitten im Sturm der Neubildung der Welt, wo jedes Wort auf seine praktische Wirkung oder Wir­ kungslosigkeit geprüft werden kann, wo Unzähliges Phrase und Papier ge­ worden ist, was vorher feierlicher Ernst zu sein schien oder auch wirklich war. Da schwankt der Boden unter den Füßen und tanzen rings um uns die verschiedensten Möglichkeiten weiteren Werdens. Das ist nun in der Tat eine Krisis des historischen Denkens, und daß sie vor allem von der Jugend empfunden wird, die unter der Wirkung der neuen Gedanken stärker steht als die meisten Aelteren, die vor a

A: religionslos-nationalistische

b A: drang

c-c

A: epigonenhafte

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Kapitel I. Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

allem ihr eigenes Lebensschicksal aus diesem Chaos wird formen müssen, das ist nur selbstverständlich. Es ist für sie ein theoretisches und ein prakti­ sches Problem zugleich und dabei von einer so unerhörten Gewalt, daß es begreiflich ist, wenn ein großer Teil der Jugend das Problem sich vom Leibe hält und nur die Lebendigen, Beweglichen, Schwärmerischen oder philoso­ phisch Erregbaren von ihm in voller Kraft ergriffen werden. Freilich wäre es ein Irrtum zu glauben, daß nicht auch wieder die Aelteren das voll empfin­ den. Aber sie haben doch das Neue nicht in dem Maße auszubaden wie die Jugend. Diese hat darum billig in I diesen Dingen vor allem das Wort, den Beruf, wenn nicht zur Lösung der Krisis selbst, so doch zur stürmischen Forderung neuer Lösungen. Wie ich mir meinerseits die Lösung der Krisis denke, das akann erst als Ergebnis dieser Blätter formuliert werden. Hier am Anfang kommt es nur darauf an, die Krisis als solche ausdrücklich anzuerkennen,a aber dann auch die Lage der technisch-historischen Forschung von der des geschichts-philosophischen Denkens gründlich unterscheiden. Die Krisis sitzt grundsätzlich in dem zweiten, nur nebenbei in dem ersten Problem. Das I aber heißt, daß die kritische Stimmung von dem zweiten nicht unbesehen auf das erste übergreifen darf. Auch da ist vieles morsch und konventionell, aber in der Hauptsache ist die Wissenschaft gesund. In dem zweiten dagegen vollzieht sich eine Umstimmung des ganzen Lebensgefühls und setzt sich ein Drang zum Vollen und Ganzen durch, der uns allerdings unentbehrlich ist. Hier muß aus souveränem Lebensgefühl heraus geschaffen werden, aber unsere Wissenschaft wollen wir nicht zerstören, verachten oder verleumden. Die Gegenwart hat so vieles zerstört, daß das Herostratentum auf diesem Gebiete doppelt gefährlich werden könnte. Der Ernst und die Sachlichkeit, die Gründlichkeit und Ehrlichkeit der deutschen Wissenschaft wird dauernd einer der Pfeiler unserer geistigen Weltstellung und ein Ausdruck unserer Art sein a

A: Krieges, der sichtlich das Ende einer längeren Periode und die Eröffnung neuer großer Entwicklungen ist, b A: Themafrage c-c A: Die Wirkung auf die Weltanschauung wird sich daraus dann ganz von selbst ergeben. d-d A: 1 . e B· Prösler f In B,folgt: - Allerhand Litteratur zur Geschichte der Historiographie u des histo­ riographischen Geistes ist verzeichnet bei R. Unger, Die Entwickelung des Pro­ blems der historischen Objektivität bei Hege!. - Deutsche Vierteljahrsschrift f Litteraturwiss u Geistesgeschichte I 1 923

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Kapitel l. Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

hatten, und der Kampf zwischen Natur- und Geschichtsphilosophie ist seitdem eines der großen Themen des modernen Geistes, das mit beständig wechselnden Schwerpunkten durchgearbeitet wurde und bis heute wird. Es ist für das Verständnis der Sache von Bedeutung, sich das klarzuma­ chen. Die Geschichtsphilosophie ist nicht etwa ein Spätling der Wissen­ schaft, ein erst langsam entdecktes Problem, das von Hause aus wenigstens im Entwurf der Wissenschaft selbst schon gelegen hätte. Sie kam vielmehr erst genau in dem Moment, wo man ihrer bedurfte, wo die Nöte der Welt­ anschauung sie verlangten. Sie ist mehr eine Sache der Weltanschauung als der Geschichtsforschung, und beide rückten erst in dem Augenblick zu­ sammen, wo die Ueberlegung der wesentlichen Geistesziele der Geschichts­ kenntnis bedurfte und wo die Geschichte nach einer grundsätzlichen Ein­ ordnung in philosophisches Denken verlangte. Von beiden Seiten her entsprang das Bedürfnis im gleichen I Moment und aus dem gleichen Grun­ de. Das Kulturbewußtsein verlangte Auseinandersetzung mit dem immer bekannter und deutlicher werdenden Wechsel der großen Kulturperioden, und die Geschichte verlangte eine Antwort auf die Frage nach Einheit, Ziel und Sinn, sobald sie über hinreichend mannigfaltige Gebiete sich ausge­ breitet hatte. Beides aber ergab sich aus dem Bruch mit den Resten des I Mittelalters und der Kirche, der Regsamkeit eines denkenden Bürger­ tums, das eine neue Zeit vor sich liegen sah und mit den alten Zeiten sich auseinandersetzen mußte. Die Griechen kannten wohl eine ausgebreitete Historie, ja sogar eine phi­ losophisch aufgebaute Historie als Reihenfolge der Kulturzeitalter, die uns allerdings nur in Trümmern und Andeutungen erhalten ist. Aber sie kann­ ten keine Geschichtsphilosophie, die aus der Anschauung des Geschehenen und der in ihm erkannten Richtlinien entscheidende Anstöße empfinge für die Lebens- und Weltanschauung. Die letztere beruhte vielmehr auf einem völlig außerhistorischena ja unhistorischen Denken, auf der Metaphysik der wandel- und zeitlosen Gesetze, mochten es die Platonischen Ideen, die Ari­ stotelischen Formen, oder das Heraklitisch-Stoische Naturgesetz sein, von den Eleaten ganz zu schweigen, die diese Richtung auf das Zeitlose und

B 1 2 a

A: außerhistorischen,

2. Der moderne Ursprung der Geschichtsphilosophie.

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Geschichtslose nur mit besonderer Rücksichtslosigkeit verkörperten. Ge­ schichte und Geist waren ihnen eingespannt in den festen Rahmen bleibender, ewiger Substanzen und Ordnungen, deren Sein sich gerade nicht aus ihren getrübten und wechselnden irdischen Verkörperungen, sondern aus der logischen Schau ihres zeitlosen Wesens ergab. Nicht aus der Geschichte erwuchs ein Mittel zum Verständnis dieses Wesens, sondern umgekehrt aus diesem Wesen erwuchs das Verständnis der Geschichte, insofern das menschliche Handeln und Schaffen eine bald trübe und schwankende, bald aufsteigende und fortschreitende Annäherung an diese durch reine Logik feststellbaren Ideale zu sein schien. Ebendeshalb gab es kein wirklich gehalt­ volles Werden und keine wirkliche erst aus sich den Gehalt offen I barende Entwicklung, sondern nur die immer bloß annähernde Verwirklichung eines festen Maßstabes. Da überdies die Griechen im Grunde allein diesem Maßstab nahekamen und alle übrigen Barbaren waren, so war ihnen auch eine Weltgeschichte solcher Annäherung kein Bedürfnis. Der Sinn der Welt hing eben überhaupt nicht von dem Maß dieser Annäherung ab, das die Menschen dieser Erde vollziehen, sondern schien ihnen selig in sich selber zu I sein und sich vor allem in jener Welt reiner Ordnung und reiner Formen jenseits des Mondes zu genießen, wo die Gestirngeister hausen. Wenn die Hellenen unter den Geschöpfen der Zeitlichkeit diesem Wesen allein nahekamen, so ist das beinahe nur ein glücklicher Zufall für sie, der für die Welt selbst nichts bedeutet. Die trübe Endlichkeit ist eben die Welt des Zufalls, und irgend etwas Individuell-Einmaliges hat überhaupt keine Be­ deutung für das ewige Wesen, sondern empfängt sie umgekehrt lediglich von ihm. Und wenn mit der Ewigkeit der Welt allerdings auch die Ewigkeit des Endlichen gesetzt ist, so kann sich unter diesen Umständen die schlechte Unendlichkeit des letzteren nur darin äußern, daß es in ewigem Kreislauf die Annäherungsversuche stets von neuem unternimmt I

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a

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B: Daville

b B: Fechter

Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1 784; 1 9 1 2) . Benedetto Croce: La 610s06a d i Giambattista Vico (1 91 1). Ohne Tönnies na­ mentlich zu erwähnen, spricht Croce davon, daß Vico eine Typengeschichte der menschlichen Gesellschaftsformen gefordert habe ("una storia tipica delle sone/ti uma­ ne", S. 33). Von Wundts "Heterogonie der Zwecke", also der These, der zuletzt erreichte Zweck resultiere nicht aus ursprünglichen Handlungsmotiven, sondern aus nichtintendierten Effekten einer Handlung, ist nicht auf S. 1 09 f., sondern auf S. 245 f. die Rede. Hier rückt Croce Vicos "provvidenza", die Idee der Rationalität und Objektivität der Geschichte, in die Nähe von Hegels "List der Vernunft", wel­ che er von Schopenhauer und Wundt umgeformt sieht - von Schopenhauer geist­ reich und bizarr, von Wundt weniger geistreich, aber sehr psychologisch in dessen Gesetz von der "Heterogonie der Zwecke" ("detta legge wundtiana dell eterogenesi deifini'j . I n der Ethik seiner Zeitgenossen, s o Croce, habe Vico wenig Fruchtbares gesehen. Eine vereinzelte Ausnahme seien ihm Pascals "Pensees" gewesen ("solitaria ecce­ zione'j, aber auch diese seien "nur verstreute Lichter" ("pur lumi sparsi'j. Vgl. ebd., S. 80. '

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2. Der moderne Ursprung der Geschichtsphilosophie.

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manität aus der lebendigen Anschauung der Geschichte arbeitete Herders intuitiver Genius, und ihm folgend Goethe, Schleiermacher, die Romantik. Beide Richtungen zusammengebogen, formale Sonderart der Geschichte und I inhaltliche Schöpfung der Geisteswerte aus der Geschichte vereinigt hat dann vor allem Hegel. Damit ist der entscheidende Gegensatz gegen die mathematisch-naturwissenschaftliche Weltanschauung erreicht und diese als reflexive Oberflächenlehre der aus der Geschichte geschöpften Tie­ fenlehre eingeordnet. Neben diesem deutschen geschichtsphilosophischen Denken geht das ganz andersartige anglo-französische her, das auf Bacons Utilitarismus bezüglich der Fortschrittsziele und auf die mathematische Na­ turlehre bezüglich der Fortschrittsgesetze sich gründet. Schon der Graf aSaint-Simona hat so die naturgesetzliche Erfassung der Fortschrittsbewegung mit der hierauf zu begründenden, vom Willen zu schaffenden Utopie vereinigt, und ihm sind Comte, Mill und Herbert Spencer darin gefolgt. Trotz aller Festhaltung der positiven, d. h. naturwissen­ schaftlichen Methode tritt doch auch hier die Geschichte, die Erkenntnis des Menschheitszweckes und die Gewinnung der Verwirklichungsmittel aus ihr, als Höhe- und Vereinigungspunkt aller Wissenschaft und als Begründerin der praktischen Weltanschauung der Zukunft auf, ja sie will gerade da­ durch die Gebrechen der revolutionär-anarchischen modernen Kultur zur Heilung bringen. 24

25

Vgl. Ottokar Lorenz: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufga­ ben kritisch erörtert (1 886), S. 89: "Die Pforte zu einer neuen über die philosophi­ rende Geschichtschreibung hinaus fortschreitenden Bahn ist längst eröffnet, sie braucht nicht eingestoßen zu werden, aber woran es mangelt, ist zuweilen die Ein­ sicht in die prinzipiellen Fragen und die klare Orientirung über die wahren Auf­ gaben, die noch zu erfüllen wären. Indem man in früheren ethisch und philoso­ phisch angeregteren Perioden von der Geschichtschreibung zuweilen mehr erwar­ tete, als diese Wissenschaft überhaupt zu bieten vermag, wurde auf der nächstfol­ genden Stufe der Entwickelung der rastloseste Fleiß und die ungeheuerste Rührig­ keit ausschließlich dem Bau und der Ausschmückung der Vorhallen des Tempels zugewendet, ohne anerkennen zu wollen, daß ein großes, steinernes, prachtvolles Treppenhaus noch kein Wohngebäude ist." Vgl. Gustav Schmoller: Gedächtnissrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke (1 896), S. 37: Nach den Jahren von 1 840-1 870, einer "Zeit der höch­ sten Anspannung und der grössten Erfolge", so Schmoller, sei es nur natürlich ge­ wesen, daß nun, "nach Erreichung so grosser Resultate, von 1 870-1 890 an eine gewisse Erschlaffung eintrat, die Spannung der Geister nachliess".

2. Der moderne Ursprung der Geschichtsphilosophie.

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daher eine Stellung, wo sie diese zugleich anerkennen und sich doch als deren eigene Voraussetzung geltend machen konnte, womit dann auch ih­ nen gegenüber in gewissem Sinne die Priorität des Geistes wieder gesichert war. Das war der Fall, wenn sie als Logik, Er l kenntnistheorie und Metho- A 1 4 denlehre ihr selbständiges Gebiet sich erstritt und von d a aus die Erkenntnis der Tatsachen wieder wenigstens der Einheit des erkennenden Geistes unterwarf. Zu diesem Zwecke knüpfte sie an Kant an, der zwar nicht so bescheiden gewesen war und tief in Metaphysik, Ethik und Geschichtsphi­ losophie hineingegriffen hatte, der aber nun wenigstens mit seiner Theorie der apriorischen Bedingtheit aller Natur- und Realerkenntnis eine bleibende Bedeutung im Zusammenbruch aller sonstigen Philosophie, auch seiner eigenen, zu behaupten schien. Der Geschichte kam adieser Neukantianismusa freilich zunächst sehr wenig zugute. Denn wie Kant selbst schon seine Erkenntnistheorie wesentlich auf die mathematisch-mechanische Naturer­ kenntnis zugeschnitten und auch die seelische Erscheinungswelt wenigstens grundsätzlich rein der Kausalitätsforschung unterstellt hatte, so war die neu­ kantische Erkenntnistheorie in ihren sehr verschiedenen Richtungen überall ausschließlich oder ganz vorwiegend auf die apriorischen Voraussetzungen der kausalen Naturerkenntnis gerichtet. Diese Apriorität war der Rest der Selbständigkeit und Eigenheit des Geistes, und insofern war im allgemeinen allerdings die Priorität des Geistes vor dem bloß Gegebenen gewahrt. Aber die Geschichte wurde dabei entweder ein Stück Natur; oder, wo für sie mit Kant die Freiheit der Vernunft als der Kern anerkannt war, da baute man dieses System der Harmonie der freien Willen zu einer Logik der Wille nseinheit aus, in der aller weitere konkrete Reich I turn der Geschichte B 23 unterging und die gesetzliche Einheit als Ideal dieselbe Tyrannei ausübte, bdie auf dem Naturgebiet das Naturgesetz betätigteb• In beiden Fällen war sie der starken und lebendigen Wirkung auf die Weltanschauung beraubt trotz aller philosophischen Begründung. Insbesondere war dabei dem inhaltlichen Wert und Gehalt der Geschichte, ihrer konkret-individuellen Lebendigkeit und dem spannungsreichen Spiel ihrer Tendenzen die eigentliche Bedeutung versagt. Und das wurde nicht besser, wenn man bei der nahen Nachbarschaft von Erkenntnis-Analyse I und Psychologie den A 1 5 Nachdruck auf diese letztere als den einzigen der experimentellen Natur­ wissenschaft nahekommenden Zweig der Philosophie legte. Da wurde die Geschichte erst recht zu einer aArt Naturwissenschaft 43

Eduard Spranger: Lebensformen (1 9 1 4; 1 92 1 ) . Zum Begriff der "eingehüllten Ra­ tionalität" vgl. v. a. Abschnitt 1 , Kapitel 5: "Die Grundformen geistiger Gesetz­ lichkeit" (S. 66-84). Mit "eingehüllter Rationalität" bezeichnet Spranger eine "Art von Gesetzlichkeit, die im Verhalten selbst nicht notwendig als Richtschnur zum Bewußtsein zu kommen braucht, sondern schon als immanente Triebkraft wirkt" (S. 67) . Der Ausdruck "natürliches System" konnte bei Spranger nicht nachgewie­ sen werden. Vermutlich handelt es sich um eine Anspielung auf Dilthey. Vgl. Wil­ helm Dilthey: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert (1 892/1 893; 1 9 1 4) .

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Kapitel 1 . Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

Die intuitive Empfindung des eigenen Selbst und die durchgängige Auffas­ sung der gerade mit der stärksten Anschauungskraft begabten Historiker sowie die unwill kürliche Psychologie der Künstler sprechen für eine eigene Realität und Unauflösbarkeit des Individuellen, ohne daß es erst nötig wä­ re, dieses grundlegende Lebensgefühl aus einer umständlichen Metaphysik und Erkenntnistheorie zu beweisen, welche beide vielmehr umgekehrt diese Erfahrungsgewißheit voraussetzen. Hier ist allerdings ein Punkt, wo nicht mehr die reine Logik, sondern die persönliche Lebensstellung des historisch denkenden Menschen entscheidet und umgekehrt von sich aus die Logik be­ stimmt. Doch wird der Historiker darauf verweisen können, daß individuel­ le Begriffsbildungen nicht nur auf seinem Gebiete, sondern schließlich auf allen anderen gleichfalls vorkommen, nur dann mit gar keinem oder viel ge­ ringerem geistigen Gehalt, daß also die individualisierende Begriffsbildung neben der generalisierend-vergesetzlichenden wohl zu den durch ihren inne­ ren Zusammenhang mit der Gegenständlichkeit erzwungenen Grundrich­ tungen der Sachlogik oder Wissenschaftslehre gehört, während die formale Elementarlogik ihre noch gegenstands freien Begriffe als auf die verschie­ denen Sachgebiete anwendbar und also von ihnen aus modifizierbar zu ge­ stalten hat. Darin ist bekanntlich schon Leibniz vorangegangen, der gerade bei der Schärfe seiner I mathematisierenden Einstellung zu dieser Anerken­ nung der durchgehenden verites de fait« sich gezwungen sah 1 8) . Damit kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt.> In diesem Be­ griffe der individuellen Totalität, der also durchaus nicht auf die Biographie und Einzelperson vorwiegend sich bezieht, ja diese letztere umgekehrt zu ei­ ner sehr sekundären, mehr literarisch und psychologisch bedeutsamen Auf­ gabe macht, ist anämlich demgemäßo weiterhin enthalten der Begriff der Ursprünglichkeit und Einmaligkeit. Das besondereb Prinzip liegt in etwas, was man nicht weiter herleiten und erklären, nur nachfühlend verstehen aber nicht ableiten kann. Das was man in der Historie ableiten und erklären nennt, ist nur ein Einfühlen in den Werdevorgang, bei dem man verstehen < 1 8) Auch an die alten scholastischen Probleme der "Individuation" ist zu denken, die nur zur modernen Geschichtslogik keine direkte Beziehung mehr haben.> a-a

44

A: dann

b A: besondernde

Vgl. z. B. [Gottfried Wilhelm Leibniz] : La Monadologie (1 840), § 33, S. 707: ,,11 y a aussi deux sortes de virites, celles de raisonnement et celles de fait. Les verites de raisonnement sont necessaires et leur oppose est impossible, et celles de fait sont contigentes et leur oppose est possible."

3. Die formale Geschichtslogik.

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kann, wie, die Uranlage einmal gesetzt, sich in der Wech­ selwirkung mit Umgebung und Bedingungen alles dieses Werden nachemp­ finden läßt. Aber in allem steckt doch eine schlechthin gegebene ursprüngliche Setzung, eine qualitative Einheitlichkeit und Besonderheit, die man als Schicksal, Prädestination, Schöpfung oder sonstwie bezeichnen kann, die aber bei alledem nur die logische Kategorie der nun einmal bestehenden tat­ sächlichen Gesetztheit be I deutet. So gibt es z. B. besondere Charaktere des israelitischen Volkstums, des Hellenenturns, des Germanenturns, die, wie man populär zu sagen pflegt, auf besonderer Veranlagung oder Begabung beruhen. Alle einzelnen Vorgänge des religiösen, wissenschaftlichen, künstlerischen usw. Denkens bei diesen Völkern verlaufen dabei völlig in den allgemeinen Regelmäßigkeiten des psychischen Lebens ; aber aus psychologischen Gesetzen ist dabei doch gerade die Sache selbst nicht zu erklären. Alle s kann man, geographische, historische usw. Voraussetzungen angenommen, nach­ fühlend verstehen, als ob man selbst in dieser Lage jene Gebilde erzeugt hätte; aber solches Verstehen ist nicht Erklären. All e jene Charaktere setzen sich aus abertausend Einzelvorgängen zusammen, sind aber aus der Zusammensetzung nicht abzuleiten, da in jenen Einzelvorgängen selbst schon jenes Be I sondere steckt und aus dem, was in ihnen schon steckt, das Ganze erst zusammenrinnt. Insofern ist gewiß kein Wunder und keine un­ faßliche Mystik in dieser Originalität, und doch ist sie etwas rein Gegebenes, wie ja auch die Welt im Ganzen selber ein solches ist. Auf dieser Originalität und dem Maße ihrer jeweiligen Be­ deutung und Sinnhaltigkeit beruht aber doch der eigentliche Zauber und Gehalt des historischen Lebens, die innere Freiheit und Unabhängigkeit von den bloßen Bedingungen und Umgebungen, Antezedentien und Einflüssen. Soviel diese auch immer bedeuten und wirken, sie erschöpfen nie das, was sich aus und in ihnen bildet. Sofern man unter dem äußerst vieldeutigen

A 23

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Kapitel I . Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

Freiheitsbegriff eben die Durchsetzung des inneren Wesens und seiner Not­ wendigkeit gegen den Zwang und Zufall äußerer Einwirkungen versteht, ist das der Grund der inneren Freiheit, die einerlei mit der Notwendigkeit und das Gegenteil des Zwanges und des Zufalls ist. Versucht man nun aber genauer die darstellende Charakterisierung der Totalität durch Formulierung eben dieses Ursprünglichen und Anschauung von seiner Auswirkung zu geben, so kommt man weiterhin auf die Notwendigkeit der engeren I Auslese, die nicht nur den Gegenstand aus dem fluß der Dinge herausschneidet, sondern auch innerhalb des Gegenstandes nur die wesentlichen oder charakteristischen Züge betont. Das ist eine tief in das unendliche Material eingreifen­ de Auslese, bei der alles auf den richtigen Blick und das feine Gefühl und die genaue Umsicht des Historikers I ankommt. Erst hierdurch erfolgt die Umbildung der historischen Erlebniswirklichkeit zum historischen Begriff. Era ist ein Allgemeinbegriff mit verbleibender konkreter Anschaulichkeit, der ganz naturgemäß auf einer Verbindung von Sachkenntnis und Intuition beruht.b In diesem Begriffe des "Wesentlichen" steckt nun aber mit der Auslese zusammen auch der der Vertretung, indem die charakteristischen Züge ei­ ne Masse von mit ihnen nach allgemeiner Erfahrung oder durch intuitive Phantasie gegebenen Folgerungen und Auswertungen zugleich mit vertre­ ten müssen, die höchstens in Beispielen veranschaulicht, niemals in ihrer wirklichen Masse auch nur annähernd wiedergegeben werden können. Die­ se Fähigkeit der Vertretung unzähliger Einzelheiten durch die sie in sich enta

A: Es

b In A kein Absatz.

3. Die formale Geschichtslogik.

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haltenden charakteristischen Züge ist die unerläßliche Voraussetzung jeder historischen Darstellung, das Wesen der hier herrschenden Allgemeinbegriffe und das Gegenstück der analogen Leistungen, die der ganz andersartige naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff leistet. Hier kommen dann weiterhin vor allem der historische Takt, die geschulte Erfahrung und die erratende Divination zur Bedeutung, womit zugleich eine Menge allgemeinbegrifflicher Elemente benutzt ist. a Fragt man nun aber schließlich, wie bjenes die anschauliche Abstraktion und Symbolbildung bestimmendeb Wesentliche oder Charakteristische sel­ ber bestimmt werden könne, so ist das nur möglich durch die Hinweisung auf eine Werl- oder Sinneinheit, die der jeweiligen Totalität für ihr eigenes Be­ wußtsein immanent ist und die wir freilich nur vermöge unserer eigenen Fähigkeit der Wert- und Sinnempfindung erfassen können. Auch das ist wieder ein rein logischer Gesichtspunkt, eine selbständig aus innerer Nö­ tigung an die historischen Dinge herangebrachte Einstellung, die sich nicht aus Psychologie und psychologischen Ge I setzen herleiten läßt, sondern auf unserer ganz autonomen Fähigkeit zur Erfassung verschiedenster Sinn- und Wertmöglichkeiten beruht. In dieser Fähigkeit ruht zugleich Bedürfnis und Nötigung, allen historischen Erscheinungen die etwa in ihnen enthaltene und ihnen zugrunde liegende innere Sinnstruktur abzufragen. Wenn man geglaubt hat, jenes Wesentliche stets bloß im Tatsächlich-Wirksa­ men suchen zu müssen und damit die Idee des We­ sentlichen wieder auf rein kausal-psychologischen Boden zurückzuführen, so ist eben das "Wirksame" selbst in der Hauptsache auf seine Bedeutung für Sinn- und Wertverwirklichungen zurückzuführen, sogar wenn es ein rein äußerer Vorgang wie Erdbeben, Hungersnot, Epidemien wäre. Es ist vollkommen un­ möglich, diese Einstellungen, Ausleseprinzipien und Akzentuierungen rein aus der Psychologie herzuleiten, es sei denn, daß man die Psychologie selber schon diesen autonomen Setzungen unterstellt hätte. In Wahrheit steht es mit der Idee des Wesentlichen genau so wie mit der der Totalität. Sie ist eine < 1 9) Ueber diesen Begriff des "Wirksamen" und "Dauernden", den z. B. Eduard Meyer in den Vordergrund stellt,45 s. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der ku1turwissenschaftlichen Logik, Archiv f. Soz. Wiss. XXII, 1 46 und Simmel, Probleme der Geschichtsphil. t , 1 892, S. 89 f.47> 45 46

47

Vgl. Eduard Meyer: Zur Theorie und Methodik der Geschichte (1 902) , S. 36-41 , bzw. oben, S. 203, Anm. 1 5) . Vgl. Max Weber: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1 906), S. 1 58-1 85. Weber moniert v. a., daß bei Meyer "jede klare Angabe darüber, was er unter seinem ,historisch Wirksamen' eigentlich versteht", fehle (S. 1 76). Ein entsprechender Bezug ist in keiner Auflage der von Georg Simmel zweimal überarbeiteten Schrift "Die Probleme der Geschichtsphilosophie" (1 892; 1 905; 1 907) nachgewiesen.

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Kapitel l. Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

ursprüngliche und spontane logische Einstellung, die I aus dem Wesen un­ seres Denkens in seinem Verkehr mit der historischen Lebenswirklichkeit mit innerer und letzter Notwendigkeit entspringt. In der zusammengesetzten Natur des Begriffes solcher individueller Kol­ lektivitäten oder Totalitäten liegt eben deshalb eine starke Spannung zwi­ schen dem Allgemeinen und Besonderen, zwischen dem Gemeingeiste und den Einzelgeistern, Gesellschaft und Einzelpersonen, objektivem und subjek­ tivem Geiste. Das ist infolgedessen das durchgängige schwierigste Problem aller Historie. Wie schon im biologischen Organismus der Gesamtkörper und die einzelnen Zellen, wie im persönlichen Seelenleben die Persönlich­ keit und die psychischen Einzelelemente ein spannungsreiches Verhältnis darbieten, so ist das erst recht in der historischen Totalität der Fall. Hier findet ein fortwährendes Hin- und Widerspiel, eine beständige gegenseiti­ ge Bedingung, eine beständige Einheit und ein beständiger Widerspruch statt, ein dialektisches Verhältnis, I wenn man unter diesem die Einheit des Widerspruchs versteht. Es ist eine unauflöslichea Antinomie, die das histo­ rische Gegenstück zu den Antinomien der naturwissenschaftlichen Atom­ und bKausalitätsbegriffe bildet", die aber in das Wesen historischer Dar­ stellung viel tiefer und empfindlicher eingreift als die letzteren in das der Naturwissenschaften. cWie in diesen letzteren die Antinomie der Substanz und des notwendigen Wirkens stecken, so in den ersteren die der histo­ rischen Lebenseinheit und der Wechselwirkung ihrer Teile unter sich und mit dem Ganzen. Dabei ist es auch hier wichtig hervorzuheben, daß dieser ganze Begriff seine Heimat auf dem Boden der historischen Anschauung hat und weder von Sozialpsychologie noch von Soziologie endehnt oder diesen zur letzten Aufklärung überlassen werden darf. Es ist ein Urphäno­ men der Historie und beschränkt sich nicht auf Staaten, Völker und Natio­ nen, sondern umfaßt auch die losesten rein gedanklichen oder gefühlsmä­ ßigen Verbindungen, genau so wie der Begriff der individuellen Totalität selbst, der damit nur in sein inneres Gefüge hinein verfolgt wird. In ihm hat alles Universale einen Bezug auf das Individuum und alles Individuelle einen Bezug auf das Universale, wobei unter dem Universalen die Sinnein­ heit der gerade den Gegenstand bildenden Totalität zu verstehen ist. Das Verhältnis von Gemeingeist und Einzelgeistern ist hierbei auch keineswegs ein formelhaft und für alle I Fälle zu bestimmendes. Bald kann Gemeina c-c

A: unauflösbare b-b A: Gesetzesbegriffe ist [Variante endet S. 219] A' Die Lösung der Antinomie kann auch hier nur in ei­ ner von Fall zu Fall erfolgenden, immer selbständigen und auf strengste Sach­ forschung begründeten Intuition gegeben werden, die auch ihrerseits eine letzte logische Einstellung auf den Gegenstand ist.

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3. Die formale Geschichtslogik.

schaft und Wesenwille, bald Gesellschaft und Will kürwille das Gefüge be­ stimmen, um die Ausdrücke von Tönnies zu gebrauchen.48 Und es kann noch ganz andere Formen als die von Tönnies konstruierten geben wie etwa künstlerische und wissenschaftliche Schulzusammenhänge oder mystische Geistesgemeinschaften oder Zusammenschweißungen durch Gewalt, die aber dann auch ein typisches Gemeingefühl ausbilden. All das bildet ja den Hauptstoff und die tägliche Uebung des Historikers, der hierfür die feinste Empfindlichkeit und die abgewogenste Kunst der Darstellung von Fall zu Fall ausbilden muß. Der Psychologe und der Soziologe kann ihm hierbei sehr wertvolle Dienste leisten durch schematische Erkenntnisse der Art und der Gesetze, in denen dieses Urphänomen der historischen Welt sich äußert, sich wandelt und verwickelt oder auflöst und zerfasert. Aber das Urphänomen selbst kann weder der Psychologe noch der Soziologe erklären, da es beide selber schon voraussetzen müssen, wenn sie sich nicht etwa an die un­ mögliche Aufgabe machen wollen, es entweder aus lauter von vornherein isolierten und zufällig in Berührung kommenden Einzelbewußtseinen oder umgekehrt aus mystischen Entitäten eines vor und ohne Individuen gedachten Gemeingeistes zu erklären. Beides wäre ein fundamentaler Fehler, da es beides nicht gibt: ein nicht schon zugleich fremdes Bewußtsein in sich tragendes Einzelbewußtsein und ein nicht aus und in Individuen bestehendes und sich bildendes Gesamtbewußtsein. Nur der Erklärungsfanatismus, für den es in sich bewegte lebendige Urphänomene nicht geben darf, kann glauben, hier dem Historiker mit einer rationellen oder mystischen, nomina­ listisch-aggregierenden oder mystisch-hypostasierenden Erklärungstheorie zu Hilfe kommen zu können, während das Phänomen selbst in seiner unge­ heuren individuellen Mannigfaltigkeit zunächst dem Historiker und seinem erschauenden Blick gehört und Psychologe wie Soziologe nur die allgemeinen Schemata und Gesetze der Aeußerungen des Phänomens zusammen­ stellen können. Damit entfallen alle aus solchen angeblichen Hilfeleistungen oder Erhebungen der Historie zur Wissenschaft erst entspringenden Kriterien über individualistische und kollektivistische Geschichtsanschauung und alles, was damit zusammenhängt. Es ist der Historiker, der dem Psychologen und Soziologen die Urphänomene der Geschichte I zeigt und nicht umgekehrt. Für die beiden letzteren bleibt an eigenen Problemen und an Hilfeleistungen für den Historiker dabei genug übrig, wovon später noch zu handeln sein wird20). 20) Ueber das Verhältnis der Historie zu psychologischen und soziologischen Gesetzen s. weiter unten. Hier ist nur zu erinnern an Schleier machers Lehre von der nur 48

Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (1 887),

v. a.

S. 97-1 42:

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Kapitel

1.

Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

Der Begriff eines Gemeingeistes ist nun freilich nur möglich unter Zu­ hilfenahme eines weiteren grundlegenden Begriffes der Historie, des Be­ griffes des Unbewußten. Der aus tausend individuellen Handlungen zusam­ menrinnende und wieder sie durch Tradition und Vererbung bestimmen­ de, in seinen ersten AnHingen überhaupt kaum aufhellbare Gemeingeist setzt ein Bewußtsein außerhalb des aktuellen Bewußtseins des Individuums voraus, ähnlich wie das Individuum selbst in dem Wunder des Gedächtnis­ ses ein außeraktuelles Bewußtsein voraussetzt. Aber auch von dem Begrif­ fe der Entwicklung aus, von der sich erst allmählich klärenden Durchset­ zung und Tragweite der Tendenzen oder Strebungen aus wird der Begriff unvermeidlich, wie wir später noch näher hervorheben müssen. Schließ­ lich ist auch innerhalb jedes Einzelindividuums selbst die ungeheure Masse seiner Voraussetzungen, Instinkte und Strebungen unbewußt oder halbbe­ wußt, so daß man die Momente des vollbewußten Handelns geradezu als Ausnahmszustände betrachtet hat. Hierin wurzelt die Hegelsche Unterschei­ dung des "An-sieh-seienden" und des "Für-sich-Seienden",49 wo die volle Deckung beider viel I leicht nie eintritt oder vielleicht erst dem lange hinter­ her den Wirkungszusammenhang erst überschauenden Historiker aufgeht. Jedenfalls sind es seltene Genies, wenn innerhalb des historischen Handelns jeweils nach der einen oder anderen Seite überwiegenden Mischung des Universalen und Individuellen in jedem historischen Vorgang und jedem Kulturgebiet,50 auch an Tönnies "Gemeinschaft und Gesellschaft"2, 1 91 2; das letztere Buch ist ganz charakte­ ristisch dialektisch, nicht kausalwissenschaftlich konstruiert. - Die letzte Entscheidung über die hier vorliegende Frage kann freilich weder Psychologie noch Soziologie ge­ ben noch Historie, sondern die allen zugrunde liegende erkenntnistheoretische Unter­ suchung über die Erkenntnis des Fremdseelischen, die wie alle Erkenntnistheorie mit metaphysischen Annahmen eng verbunden werden muß. Aber hier hande!t es sich um die Logik, d. h. um die logische Bearbeitung und Formung des Gegebenen. Die Logik aber ist von der Erkenntnistheorie, der Theorie von der Realbeziehung zwischen Be­ wußtsein und Bewußtseinsgegenstand, scharf zu scheiden, wenn man nicht alles durch­ einander bringen will. Es ist die Fatalität des "kopernikanischen" Elementes in Kant, daß dadurch diese Unterscheidung zwar nicht unmöglich, aber sehr verdunkelt und er­ schwert wird und daß der Schein einer völligen und restlosen Erzeugung des Gegen­ standes durch bloßes Denken entsteht. Darauf wird im 3. Kap. zurückzukommen sein.

49 50

"Zweites Buch. Wesenwille und Willkür". Ab der dritten Auflage 1 920 spricht Tön­ nies statt von "Willkür" von "Kürwille", vgl. die dritte Auflage, S. 69-1 01 . Zu diesem Grundgedanken Hege!s vgl. Georg Wilhe!m Friedrich Hege!: System der Wissenschaft, 1 . Theil: Die Phänomenologie des Geistes (1 807) . Vgl. Friedrich Danie! Ernst Schleiermacher: Schleier machers Werke, 2. Band (1 9 1 3), Güterlehre. Lezte Bearbeitung [1 8 1 6/1 7] (Einleitung), S. 561-570.

3. Die formale Geschichtslogik.

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die Deckung beider annähernd bewußt wird. Mi t diesem Begriffe des Un­ bewußten arbeitet die Historie überall, und er unterscheidet gerade die ent­ wicklungsgeschichtliche moderne Historie von der pragmatistischen, alles auf Reflexion und vereinzelbare Motive stellenden Historie der Aufklärung. Darin liegt auch die Unmöglichkeit einer Geschichte der Gegenwart, da uns Tragweite und Bedeutung, Kraft und Dauer unserer Strebungen nicht be­ wußt ist. Das kann allein erst der Erfolg und die spätere Ueberschau lehren, wenn auch die einen hier jetzt schon klarer und schärfer sehen können als die andern. Auf solchem Sehen beruht dann wieder das Handeln des Poli­ tikers oder sonstwie gerichteten Führers, des Propheten und Dichters, die freilich eben damit die Tendenzen verstärken und vielleicht erst zum Siege bringen. Dieses Unbewußte des Historikers hat mit der Psychologie minde­ stens zunächst wenig zu tun. Denn es ist nicht der schwierige Begriff des psychologischen Unbewußten, sondern die tausendfach von der Historie bestätigte Tatsache, daß unsere Handlungen, Gefühle, Instinkte, Strebun­ gen und Entschlüsse viel mehr Voraussetzungen in sich tragen als wir wis­ sen und eine viel größere oder ganz andere Bedeutung für das Ganze und die Dauer haben, als uns selbst bewußt war. Es ist nicht Bewußtlosigkeit, sondern Ueberschießen des Gehaltes über das aktuell Bewußte und Zurück­ gehen des Bewußten in unbekannte Tiefen, die sich erst dem die ganzen Auswirkungen überschauenden Historiker annähernd offenbaren und ihm immer neue Fragen stellen. Wo solche Fragestellungen möglich geworden sind, da sagt man dann mit Recht, daß ein Zeitalter "historisch" geworden sei, und da wird man auch insbesondere erst das Verhältnis zwischen Einzel­ individuen und Totalität übersehen können, das in einem bestimmten Falle vorliegt. Die Psychologie, die diese Dinge behandeln will, muß selbst bei der Historie in die Schule gehen, nicht umgekehrt.c In dem3 problematischen Verhältnis von Gesellschaft und Individuen kommt nun aber noch einmal, nur jetzt an einen anderen Ort herüberge­ glitten, das Problem der Originalität und ursprünglichen Gesetztheit zum Vorschein. Zweifellos sind alle Einzelmenschen dem überindividuellen Zusam­ menhang einverleibt und aus ihm in Vererbung und Ueberlieferung gespeist, aber es bleibt dabei wie im ganzen so im Einzelwesen ein Moment der Ori­ ginalität und ursprünglichen individuellen Anlage, das nicht auflösbar ist. Diese persönliche Originalität hat nun aber jene Kraft umwandelnder und bestimmender Einflüsse auf das Ganze, die nicht bloß etwas Gegebenes ist, sondern die wir vor allem in ihrer überraschenden und unberechenbaren Produktivität beobachten. Es ist das Element des Schbpftrischen, das nicht mit der individuellen Gesetztheit und Besonderheit sich erledigt, sondern aus ihr die großen umwandelnden Anstöße hervorbringt, die nicht das ein­ zige, aber ein besonders wichtiges Thema des Historikers sind. Es liegt dem Anscheine nach in jedem Einzelmenschen, kann aber durch alle Grade über­ wiegender Passivität bis zur gewaltigsten Stoßkraft anwachsen. Das bedeu­ tet die entscheidende Rolle des Neuen, des in den vorangehenden Elemen­ ten Noch-nicht-Enthaltenen, das aber bei ihrem Zusammentritt sich durch­ setzt und in die Wirklichkeit mit beständiger Vermehrung des Wirklichen neue Gebilde, Kräfte, Anfänge hineinsetzt. Es ist das keine Aufhebung des Kausalitätsbegriffes; denn alles das vollzieht sich ja unter dem Anstoß und der Vereinigung I von allerhand Bedingungen und Ursachen, und der nachfühlende Erforscher kann den ganzen kausalen Vorgang selber in sich nacherleben. Aber es ist ein grundsätzlicher Unterschied gegen den naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriff, der auf die Aequivalenz von Ursache und I Wirkung, auf quantitative Gleichungen gestellt ist, während die historische Kausalität auf Ungleichung, auf Verstehen des Vor­ ganges des Neuen und der Wirklichkeitsvermehrung eingestellt ist. Der Ra­ tionalismus der Naturwissenschaften geht auf die möglichste Identität, das Verständnis der Historie auf die unerrechenbare Neuheit und Tatsächlichkeit der Produktion. Will man den Begriff der Rationalität auf das erstere einschränken, dann ist die Historie irrational. Will man das nicht, so muß man den Begriff des Logischen so er­ weitern, daß er das zweite mit in sich aufnimmt. Hier liegen die größten Schwierigkeiten aller Logik, vor allem der heutigen. Aber diese weitergehenden Schwierigkeiten können auf sich beruhen gegenüber der unzweifelhaften Tatsache, daß jede Versenkung in historische Tatbestände zu dieser irrationalistischen Logik des Neuen und Schöpferischen führt. 93

94

Troeltsch spielt hier auf die deutsche Ü bersetzung des von John Stuart Mill ver­ wendeten Ausdrucks "moral sciences" durch Jacob Schiel an. Schiel hatte in der ersten vollständigen deutschen Ü bersetzung von Mills "A system of logic, ratio­ cinative and inductive, being a connected view of the principles of evidence, and the methods of scientific investigation, 2 volumes" (1 843) im 2. Band ("Zweiter Theil'') den Titel des Sechsten Buches "On the logic of moral sciences" mit "Von der Logik der Geisteswissenschaften oder moralischen Wissenschaften" übersetzt (S. 433). Im weiteren Text stand für "moral sciences" dann nur noch "Geisteswis­ senschaften". Vgl. John Stuart Mill : System der deductiven und inductiven Logik, 2 Theile (1 862/1 863). Vgl. z. B. Eduard Spranger: Lebensformen (1 9 1 4; 1 921 ; 1 922), hier das Vorwort zur dritten Auflage von 1 922, S. XIII: "Es scheint mir nur ein Unterschied des wissenschaftlichen Sprachgebrauches, wenn Rickert den Namen ,Psychologie' auf jene sinnfreie Wirklichkeitswissenschaft einengt, die ich als Psychologie der Ele­ mente bezeichne und ebenso wie er zur Naturwissenschaft rechne. Ich forde­ re das Wort Psychologie für die Wissenschaft vom sinnerfüllten Erleben zurück,

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Kapitel I. Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

Selbstverständliches ist. Wenn es für den vorwissenschaft l lichen Alltags­ standpunkt in der Tat richtig ist, daß das Beste an der Geschichte der von ihr erweckte Enthusiasmus ist und daß die Kenntnis der Geschichte erwei­ terte Lebenserfahrung im Dienste unserer Zwecksetzungen ist, dann muß das auch in der Wissenschaft - in der Historie selbst, die diese Erfahrungs­ erweiterung vornimmt, und in der Philosophie, die aus dieser Erweiterung die Folgerungen zieht - zum Ausdruck kommen. Darin ist es daher auch be­ gründet, daß alle Geschichtsphilosophen auf irgendeine Weise den Ueber­ gang zur Ethik vollziehen. Für Herder war die Geschichte Entfaltung und Begründung der Humanität, die dann in der Ethik weiter entwickelt werden mußte.95 Für Kant und Fichte war die Ethik geradezu der Zielgedanke, von dem aus die empirische Historie als ein auf diese ethischen Ziele durch die geheimen Gesetze der Natur und der Freiheit zugleich hinbewegter Verlauf erschien.96 Schleier macher sah in der philosophisch gedeuteten Geschich­ te das Bilderbuch der Ethik und in der kulturphilosophischen Güter-Ethik das Regelbuch der Geschichte.97 Hegels Ethik war das Selbstverständnis des welthistorischen Prozesses als I Gesamtentfaltung der Vernunft und stellte von da aus den Rechts- und Vernunfts staat in das Zentrum der Güterlehre, um daran dann die Werte des absoluten Geistes in Kunst, Wissenschaft, Re­ ligion und Philosophie anzugliedern.98 Die anglo-französischen Positivisten betrachteten die Erkenntnis der Naturgesetze der Geschichte als Grundlage für die von der gegenwärtigen Intelligenz und Werteinsicht zu schaffende Utopie der neuen Gesellschaft, in welcher das Glückstreben sich organisie-

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und weil dieses Stück wertbezogener Wirklichkeit immer in überindividuelle, aber gleichfalls wirkliche und wirkende Kulturzusammenhänge hineingelagert ist, des­ halb nenne ich die vom Einzelsubjekt aus gesehene Wertlehre auch heute noch gei­ steswissenschaftliche Psychologie." Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch­ heit (1784-1 791 ; [1 870]); ders.: Briefe zu Beförderung der Humanität (1 793-1 797; 1 81 0) . Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte i n weltbürgerlicher Absicht (1 784; 1 91 2); Oohann Gottlieb Fichte] : Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1 806) . Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Schleiermachers Werke, 2. Band (1 9 1 3), Kap. "VIII. Ethik 1 81 6 (Einleitung und Güterlehre 1)", § 1 08, S. 549: "Sit­ tenlehre und Geschichtskunde bleiben immer für sich selbst gesondert; für einan­ der sind sie die Geschichtskunde das Bilderbuch der Sittenlehre, und die Sittenleh­ re das Formelbuch der Geschichtskunde." Vgl. auch die fast gleichlautende For­ mulierung Troeltschs unten, S. 348. Vgl. v. a. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1 821 ; 1 833).

4. Die materiale Geschichtsphilosophie.

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ren und vollenden könne. All das liegt in der Natur der Sache. Dem haben sich auch die Historiker nicht entziehen können, sobald sie an große und umfas­ sende Stoffe gingen. Der eine steuert auf eine Ethik des Nationalismus, der andere auf eine solche künstlerischer Selbstkultur, wieder andere auf ökono­ misch-soziale Idealzustände los. Fast keiner ist ohne Pathos, und das Pathos hat seiner Natur nach einen I ethischen Gehalt, der in Gedanken und Begriffe muß übergeführt werden können. Wer freilich das Pathos sich völlig abgewöhnt hat, kommt, wenn er Geist hat, in die Nähe des Mephistopheles, wenn er keinen hat, in die Wagners; jedenfalls hat er das Faustische im Menschen erstickt. Mit diesem Gegensatz von Faust, Mephisto und Wagner ist aber auch schon die Weltanschauungsbedeutung der Geschichte in ihrem materialen Sinn genügend erleuchtet und bedarf nur mehr weniger Worte. Der Glaube an übermenschliche, ewige Werte in der Geschichte, an die Ziele des Geistes, die in aller Arbeit um des Lebens Notdurft und organisatorische Sicherung doch erst den Sinn des so befestigten Lebens zeigen, und dann die lebendige Anschauung von diesen Werten in den großen Bildern der Geschichte: das ist eine grundlegende Bedeutung für die Weltanschauung. Das ist auch allgemein anerkannt und beinahe selbstverständlich. Freilich weniger allgemein anerkannt ist die Einsicht, daß solche Bejahung der historisch erworbenen Werte lediglich Glaube und Entscheidung des Wille ns, nicht wissenschaftlicher Beweis ist, daß die Deutung des Verlaufes aus diesen Werten das Wagnis einer I Konstruktion und Umformung der chaotischen Erlebenswirklichkeit zu einem Sinnganzen, nicht einfache beweisbare und abbildbare Wirklichkeit selber ist, daß die Stellungnahme bei einema diese Konstruktion leitenden Gütersystem das Wagnis einer lebens mäßigen Entscheidung und Festlegung ist, bei der man sein Leben auf die Karte seiner Entscheidung setzt. Aber gerade darin ist vielleicht doch die tiefste und letzte Bedeutung der materialen Geschichtsphilosophie zu sehen. Sie beruht auf sachlichster Hingabe und auf persönlichster Entscheidung zugleich. Verantwortung und Schaffenswille können so wieder aus aller Gelehrsamkeit entstehen, die Kräfte, die wir vor allem brauchen. Und in dieser Verdeutlichung der a

A· dem

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Kapitel l. Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

Freiheit als der höchsten menschlichen Kraft schließt sich dann auch die materiale Geschichtsphilosophie wieder mit der formalen zusammen, nach­ dem sie über deren engere und rein empirische Ziele weit hinausgegangen ist.

as.

Das reale Verhältnis von Natur und Geschichte.o

bSoweit wäre die logische und sachliche Selbständigkeit des Gebietes, das wir nun nach Heranziehung der materialen Geschichtsphilosophie als das a-a

A: 4.

b-b [Variante endet S. 260J A: Die Verwertung alles dessen für den Unterricht ist dann

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freilich eine Sache für sich, die nur der erfahrene Pädagoge beurteilen kann. Im ganzen j edoch erscheint die Sache einfach. Die Wirkung ist eine doppelte. Die erste ist die auf die Auswahl des Stoffes, die natürlich von irgendeiner mate­ rialen Auffassung des Ertrages und Sinnes der Geschichte aus bestimmt sein muß. Doch kann davon hier nicht weiter die Rede sein, da ja überhaupt nur von der Notwendigkeit solcher inhaltlichen Stellungnahme, nicht von ihrem Gehalt selbst die Rede war. Aber daß jede solche Auswahl und Akzentuierung von der höchsten Bedeutung für die Weltanschauung ist, ja vielfach geradezu mit ihr zu­ sammenfällt, ist völlig klar und um so klarer, jemehr das Ü berzeugungs- und Be­ kenntnismäßige solcher Stellungnahme erkannt und vom Unterricht selbst mit Wärme betont ist. Die zweite Wirkung geht auf den Geist und Sinn des Unter­ richts überhaupt, indem sie die Hervorhebung der starken subjektiven Bedingtheit und der Umformung I aller bloßen Realität in den Geschichtswissenschaf­ ten klarmacht und dabei insbesondere das Element des Momentanen, Unmittel-

5. Das reale Verhältnis von Natur und Geschichte.

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historisch-ethische bezeichnen dürfen, gesichert. Aber, wie dieses ganze Problem bei der modernen geistigen Lage vorwiegend aus dem Verhältnis zu den Naturwissenschaften entspringt, so bleibt in dieser Hinsicht doch noch ein Rest. Mit der bloßen logischen Abgrenzung der beiderseitigen Me­ thoden gegeneinander ist doch die immer wieder von der gegenständlichen Wirklichkeit her sich aufdrängende Schwierigkeit nicht überwunden: sie liegt in der Winzigkeit und Flüchtigkeit der historischen Welt gegenüber der ungeheuren Raum- und Zeitausdehnung der Natur. Die Geschichte samt ihrer biologischen Vorgeschichte erscheint demgegenüber doch immer wieder wie eine völlig fremdartige, verschwindend kleine Enklave, flüchtig wie der Hauch des Atems auf einer gefrorenen Glasscheibe. Und hat man diesen Größenunterschied vor sich samt der gewaltigen Festigkeit, Rationalität und Geschlossenheit der naturwissenschaftlichen Methode, dann scheint doch immer wieder die Methode des Ungeheuren die des Winzigen zu verschlingen, und man fragt sich von neuem, ob nicht die selbständige und mündige historische Methode doch eine Selbsttäuschung menschlicher Hoffart oder menschlichen Glaubensbedürfnisses seP4a). I 34a) Dieser Eindruck bleibt doch auch bei dem an sich sehr viel Richtiges enthaltenden Buche Fried. Gotd's, Die Grenzen der Geschichte, 1 904, I übrig. Er verweist für die Lösung dieser Frage auf die Metaphysik99, ohne aber eine Andeutung zu geben, baren und Schöpferischen in der Geschichte betont. Wie das methodisch in wis­ senschafdicher Weise geschehen könne, darüber hat Th. Litt in seinem Buche über "Geschichte und Leben" so klar und scharfsinnig Auskunft gegeben, daß ich dem nichts hinzuzufügen habe. [Absat:d Die eigendiche Hauptschwierigkeit für den Schüler besteht in etwas, was an sich außerhalb des Problems selber liegt, in dem Verhältnis dieser Einsichten zu der Weltanschauung und Methode der Naturwissenschaften. Aber diese Schwierigkeit ist eine Schwierigkeit nicht bloß für den Schüler, sondern auch für den Lehrer, ja für uns alle überhaupt. Da ist nur zu sagen, 99

Vgl. Friedrich Gotd: Die Grenzen der Geschichte (1 904), S. 1 4 1 : "Vom Boden der Erfahrungswissenschaft aus müsste man also die Grenzen der Geschichte in der Tat als Grenzen unserer Erkenntnis respektieren. Grenzen, die sich nur bei Stra­ fe eines Selbstbetruges überschreiten lassen. Die Metaplzysik allein dürfte es wagen, den Weg aus der empirischen Wirklichkeit heraus zu suchen." "Auch die Formel für die Unlösbarkeit unseres Problems läge zum Greifen nahe. Vom Boden der Er­ fahrungswissenschaft aus ist dieses Problem aus dem einfachen Grunde unlösbar, weil die Gren­ zen der Geschichte dort Zu suchen wären, wo die empirische Wirklichkeit ihren Anfang nähme. Wir können aber von der Erfahrung, die für ihren Teil das schlechthin Gegebene schon voraussetzt, unmöglich einen Aufschluss darüber verlangen, wie, wann und wo diese Voraussetzung selber erst in Kraft tritt."

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Kapitel l. Ueber das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie.

Zunächst kann man darauf ja antworten, was je und je von den Idealisten darauf geantwortet worden ist,b daß mit solcher Theorie des geschichtlichen Lebens keinerlei Geringschätzung oder Vernachlässigung der Naturwissenschaften verbunden sein dürfea, sondern gerade dadurch die gegensätzliche Größe und Bedeutung der Naturwissenschaften ins volle Licht gesetzt werdeb• Sie hättenC das Ideal einer alles umfassenden mathe­ matischen Methode und damit die durchgreifendere und eindrucksvollere Kraft der Rationalisierung. Sie erschlössend zugleich die ungeheure Größe des Universums, der gegenüber aller Anthropomorphismus und Anthro­ pozentrismus immer wieder vergeht. eDas seien gerade die für die Weltan­ schauung entscheidenden Wirkungen der Naturwissenschaften.e Aber dem­ gegenüber habef die Historie ihren zwar viel engeren, aber auch viel le­ bensvolleren Bezirk, der seine eigene Bedeutung für die Weltanschauung habeg• Exaktheit, Klarheit, Notwendigkeit, Berechenbarkeit, Weite, Größe und Schönheit seienh die Eigentümlichkeiten der Naturerkenntnis; das Be­ wegliche, Schöpferische, Verantwortungsvolle, Dramatische, Intuitive und wie er sich diese vorstellt. Auch bezeichnet er seine rein logische Untersuchung leider stets als erkenntnistheoretisch!OO was wohl im Sinne des Neukantianismus als Ersatz für Metaphysik zu nehmen ist. - Die Bezeichnung historisch-ethische Wissenschaften für die Zusammenfassung von entwickelnder Geschichtsdarstellung, soziologisch ver­ gleichender Systematik, systematischen Geisteswissenschaften und Ethik ziehe ich den gangbaren Bezeichnungen "Geisteswissenschaften" (Mill und Dilthey) vor, die bald psychologistisch, bald spiritualistisch verstanden werden und den Anteil der Natur an der Geschichte außer Augen lassen, und "Kulturwissenschaften" (Hermann Paul und Rickert)l01, die bald soziologistisch, bald werttheoretisch aufgefaßt werden. Die Dop­ pelbezeichnung weist zugleich auf den engen Zusammenhang von Sein, Werden und Sollen auf diesem Gebiete hin. Auch der Unterschied gegenüber der gar nicht zu leug­ nenden, aber andersartigen Naturgeschichte und -entwicklung ist damit ausgesagt.

b A: wird c A: haben d A: erschließen A: Das sind gerade auch für die Weltanschauung entscheidende Wirkungen. f A: hat g A: hat h A· sind

a

A' darf

e-e

100

101

Diese Behauptung Troeltschs läßt sich nicht wortwörtlich belegen, vgl. aber ebd., S. 1 5: "Ich will an dem Verhältnisse der Historik zur historischen Geologie zeigen, dass eben doch ein tiefer und scharfer Riss durchjene Gruppe der ,historischen' Disziplinen geht, von durch­ aus grundsätificher Bedeutung. In diesem Sinne suche ich jener Lösung unseres Pro­ blemes, die so selbstverständlich, so unangreifbar scheint, durch Erkenntniskritik beizukommen. " Vgl. v. a. Hermann Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte (1 880; 1 909); Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1 899; 1 9 1 5; 1 921).

5. Das reale Verhältnis von Natur und Geschichte.

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Ethische gehörea der Historie. bSich zwischen beiden Eindrücken zurecht­ zufinden sei ein praktisches Problem, und dessen Lösung sei nicht mög­ lich ohne den Einsatz der persönlichen Entscheidung, die die historische Welt und ihre Verpflichtungen anerkenne und die durch die Einsicht in den Unterschied der beiderseitigen Erkenntnis-Strukturen wissenschaftlich ge­ rechtfertigt sei. In der Hauptsache ist das die Kantische Entscheidung, aber auch Goethe mit seinem großen Blick I auf die Natur hat nicht anders gedacht. Für solcheb Praxis bleibt nichts anderes übrig, als daß wir stets von neuem in der Anschauung der Natur uns von allen menschlichen Ueberhebungen und von aller Vermenschlichung der Gottheit reinigen, daß wir aber der erdrückenden Masse und Wucht der Natur doch wieder den gei­ stigen Gehalt der Geschichte, die erhabene Größe und Freiheit des innerlichen Menschen gegenüberstellen. Es bleibt bei dem Worte Schillers: "Aber Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht".102 Und fragt man, wo es denn dann wohnt, dann mag wieder Schiller antworten: "Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor. Es ist in dir, du bringst es ewig hervor. "c103 >. Entfernt sich eine derartige Lehre von der konkreten Geschichte bis zum Nichtwiederfindenkönnen, so wird die rationalistische Grundtendenz fort­ gesetzt von der Hegefschena Schule, aber in «viel» engere Verbindung mit jener gebracht. Aus dem Wesen des Denkens selbst wird die Fülle des kon­ kreten, auf Recht und Staat, Kunst, Religion und Philosophie hindrängenden Begriffes«, der "objektive und der absolute Geist",» entwickelt und dieser Begriff selber als die treibende, sich selbst realisierende Kraft des gesamten Weltprozesses und seiner Gipfelung in der menschlichen Kultur konstruiert. Auch das ist ein rein rationalistisch, ewig, allgemeingültig be­ gründetes Ideal, das aber als welterzeugende und entwickelnde Kraft be­ weglich gemacht ist und den I Rhythmus seiner Bewegung wiederum nur der logischen Dialektik des sich selber explizierenden Gedankens verdankt. «Darin gerade unterschied sich Hegels Rationalismus bewußt von Schellings intellektualer Anschauung und von der Organologie der historischen Schule. Er wollte ein absolutes, rationell begründetes Wertsystem, das nur eben auch die Eigentümlichkeit hatte, die historischen Individualitäten in logischer Folge, Verknüpfung und Vollendung aus sich heraus zu setzen.» Es soll hier nicht auf die allgemeinen philosophischen bVoraussetzungen «57) Zum Ganzen s. die Kritik von Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1 921 , der ich durchaus zustimme, bes. S. 92-1 01 .» a

In A und A4 nicht hervorgehoben. A4: Unmöglichkeiten einer solchen Theorie hingewiesen werden, sondern nur auf

Ir-b A,

ist, so lange es ein spezifisches Nebeneinander von Gemeinschaften gibt. [.. ] Die­ ses letzthin einige System aller Wirklichkeit ist Menschheit; die zu oberst zu fordern­ de Handlung ist Handlung im Dienste der Wirklichkeit der Menschheit." .

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AA 1 9

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Kapitel II. Ueber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge.

und Gehalte dieser Entwickelungsidee eingegangen werden. Sie hat sehr hohe logische und metaphysische Bedeutung für die Historie, so ferne sie Entwickelung ist. Davon muß später noch eingehend die Rede sein. Aber jetzt handelt es sich nicht um diesen Entwickelungsbegriff, sondern umb die auch hier vorliegende «und durch den dialektischen Entwickelungsbegriff nur verdeckte» Spannung zwischen dem Konkret-Historischen und dem Rational-Begrifflichen. Nimmt man das letztere streng in seinem begrifflichen Sinn und seiner nur logisch bedingten Explika I tion, dann entsteht eine ungeheuerliche Vergewaltigung der wirklichen Geschichte, trotz der tiefen Blicke in das Wesen der konkret-individuellen historischen Gebilde, die He­ gel getan hat. Entnimmt man aber daraus nur die Methode, «einzelnen» historischen I Gebilden ihren «jeweils» einheitlichen begrifflichen Sinn abzugewinnen, «und derart - mit Hegel zu reden - das "Prinzip" des Hel­ lenentums, des römischen Rechtes, des Katholizismus, des Germanentums usw. zu bestimmen,» so werden diese Begriffe sofort zu Individualbegrif­ fen und zerstören jeden Zusammenhang mit einer a priori konstruierbaren, einheitlichen Normalidee der geschichtlichen Werte. So ist es Ranke gegan­ gen, dessen historische Ideen «oder "Tendenzen"2s» zu Individualbegrif­ fen wurden, und der darum jede Epoche unmittelbar zu Gott sein ließ,26 was die Leugnung jeder Vermittlung durch die in allgemeinen Durchgangsstufen sich auseinanderziehende Idee Hegels ist. Der Widerspruch zwischen der rationalen Idee und der individuell-konkreten Geschichte bleibt daher auch bei Hegel trotz der denkbar innigsten Ineinanderziehung bestehen. Gibt man sich hin an die wirkliche Geschichte, so verschwindet die Idee; kon-

25

26

Zu Rankes Begriff der "Tendenzen" vgl. Leopold von Ranke: Ü ber die Epo­ chen der neueren Geschichte (1 888; 1 9 1 7) , v. a. im Ersten Vortrag den Abschnitt: ,,2. Was von den sogenannten leitenden Ideen in der Geschichte Zu halten sei. " (S. 1 8) . Ran­ ke wendet sich hier gegen die Schule Hegels und ihre Ansicht, daß "bloß die Idee ein selbständiges Leben" habe. Dieser "Lehre, wonach der Weltgeist die Dinge gleichsam durch Betrug hervorbringt und sich der menschlichen Leidenschaften bedient, um seine Zwecke zu erreichen, liegt eine höchst unwürdige Vorstellung von Gott und der Menschheit zu Grunde; sie kann auch konsequent nur zum Pan­ theismus führen; die Menschheit ist dann der werdende Gott, der sich durch einen geistigen Prozeß, der in seiner Natur liegt, selbst gebiert. Ich kann also unter lei­ tenden Ideen nichts anderes verstehen, als daß sie die herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhunderte sind. Diese Tendenzen können indessen nur beschrieben, nicht aber in letzter Instanz in einem Begriff summiert werden; sonst würden wir auf das oben Verworfene neuerdings zurückkommen." Vgl. oben, S. 308, Anm. 1 3.

2. Versuche, Historisch-Individuelles u. Allgemeingültiges zu verbinden.

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struiert man aus der letzteren, so verschwindet die reale Gescruchte«s8)>>. aDarin liegt nun aber ein Doppeltes; einmal die Erfüllung der Vernunft mit dem empirischen Gehalt, der aus dem beständigen Umschlagen der Thesis nur scheinbar hergeleitet werden kann, in Wahrheit intuitiv zum voraus in die gegensätzliche Bewegung der Vernunft hineinversenkt worden ist; sodann aber zweitens eine beständige Rationalisierung des Empirisch­ Historischen, insoferne es ganz einseitig und ausschließlich unter dem Ge­ sichtspunkt des in allen Gegensätzen Identischen gesehen und der Verlauf ebenso einseitig unter die bloße Kategorie der logisch sich bedingenden Ge­ gensätzlichkeiten gestellt wird. Es ist eine Empirisierung des Logischen und eine Logisierung des Empirischen, wodurch allein Idee und Geschichte sich treffen können oder genauer: wodurch Hegel in den Stand gesetzt wird, der empirischen Forschung eine I zugleich an jedem Punkt metaphysische und werthafte Deutung zu unterbauen und damit den bei bloß empirischer For­ schung unvermeidlichen Gegensatz von Sinn und Wert, Tatsache und Ideal zu überwinden. Es ist gewiß der großartigste Versuch unser Problem zu lösen und entspringt einer ganz ungewöhnlichen Tiefe und Größe sowohl in der Erfassung des Ideals als in der der Tatsachen. Allein indem dabei doch das Bestreben schließlich überwiegt und siegt, die Fülle des Lebendigen auf eine einheitliche allgemeine Idee zu beziehen, ist das Ergebnis nicht bloß «58) Das ist auch der Grundgedanke der Kritik Diltheys in seiner "Jugendgeschichte Hegels" ABAW 1 9 1 0, jetzt auch WW IV. Eine genauere Untersuchung des Begriffs des Individuellen bei Hegel wäre lohnend. Aehnlich auch Croce, Lebendiges und Totes in der Philosophie Hegels, deutsch 1 9 1 5. Croce denkt bei allgemein Hegelschen Voraus­ setzungen gerade den Begriff des Individuellen radikal durch und hebt damit das System aus den Angeln. Auch kennt er eben deshalb das Hegelsche Ende der Geschichte nicht.» a-a

A, AA: Sein System [A: Es] ist sicherlich ei­ ner der großartigsten Versuche, die Geschichte philosophisch zu begreifen und das Problem des Verhältnisses von realem Geschehen und idealem Maßstab zu lösen, aber seine tiefen historischen Einsichten stammen [A' stammten] nicht aus dem I System, sondern aus dem historischen Tiefsinn Hegels selbst. Das Systern aber zerbricht an der Inkongruenz seiner Bestandteile, des individuell-konkreten Geschehens und des rationellen, allgemeingültigen Maßstabes.

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Kapitel lI. Ueber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge.

das schon erwähnte beständige Auseinanderbrechen von Idee und Realität, sondern vor allem das Versagen an zwei der wichtigsten Punkte unseres Pro­ blems: bei dem Problem des Individuellen und bei dem der Zukunftsgestal­ tung. So großgesinnt und plastisch Hegel das Individuelle zu sehen vermag und betont, so hat es bei ihm doch einen Doppelsinn genau wie seine gan­ ze Konstruktion des Prozesses: es erscheint bald als in sich selbst wertvolle gediegene Konkretion des Absoluten von eigenem Sinn und eigener Be­ deutung, bald als bloßer Durchgangspunkt und Stützpunkt der sich durch alles Individuelle hindurchbewegenden logischen Identität; es wird zur Ma­ rionette und zum Material der List der Vernunft, die gerade die scheinbar nur mit sich selbst beschäftigten großen Leidenschaften zu ihren, nur ihr bekannten Mitteln macht. Dann aber ist das Individuelle, das erst so ge­ waltig und entscheidend schien als Konkretheit, verflüchtigt und zu einer abstrakten Isolierung eines Punktes des Prozesses, zur schlichten Subjekti­ vität geworden. Aus dem gleichen Grunde gibt es dann aber auch kein Pro­ blem der neuen gegenwärtigen Kultursynthese. Gerade weil das Wertvolle, endgültig Maßstäbliche und Allgemeine nur aus der Fülle des Real-Indivi­ duellen gewonnen werden und doch ein zeitlos absolut Allgemeingültiges sein soll, kann es erst nach Vollendung und Erschöpfung der Fülle erkannt werden. Es steht am Schluß einer prinzipiell vollendeten, überschaubaren und auf endgültigem Niveau sich weiter bewegenden Geschichte und kann nur von der Kontemplation des vollendeten Bewußtseins aus erfaßt, nicht als neue individuelle historische Schöpfung in die Zukunft hineingestaltet werden. Erst in der Dämmerung der abgeschlossenen Geschichte kann der begreifende Vogel der Minerva seinen Flug beginnen.27 Der Stills tand der Gegenwart als des erreichten prinzipiellen Niveaus ist der Preis, der für die Versöhnung von I Individualität und Idee hier bezahlt werden mußte, und die ungeheure Paradoxie, in der sich die Unlösbarkeit des so gestell­ ten Problems, die Unmöglichkeit eines absoluten, zeitlos gültigen, aus allem Individuellen sich herauslösenden und zu sich selbst zurückkehrenden Maß­ stabes, symptomatisch verrät. Die innere Notwendigkeit dieses vielgehöhn­ ten Quietismus haben diejenigen nicht begriffen, welche darin nichts als die Stimmung der Reaktionszeit und der preußischen Biedermeier-Periode oder die Selbstverliebtheit des Philosophen in sein System und die Welt­ fremdheit des Theoretikers gegen die reale Welt sahen und triumphierend auf die recht gründlichen folgenden Weltveränderungen verwiesen. Für all solchen Tadel ist Hegel viel zu groß und zu realistisch. Aber sein Probleman27

Variation einer berühmten Formulierung Hege!s. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hege!: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1 82 1 ; 1 833) , S. 21 : "die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."

2. Versuche, Historisch-Individuelles u. Allgemeingültiges zu verbinden.

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satz mit seiner Verbindung des Idealen und Realen, des Individuellen und Allgemeingültigen, des Seins und Sollens zwang ihn unerbittlich zu dieser Konsequenz. Anders war die Allgemeinheit und Zeitlosigkeit des Maßsta­ bes nicht zu wahren. Die Zeit mußte zu Ende sein, wenn der im Zeitlichen verborgene und mit ihm innerlichst amalgamierte Maßstab sichtbar werden sollte. Die Katastrophe des Systems blieb daher auch nicht aus. Sein zeitloser Maßstab schlüpfte wieder in das Konkret-Individuelle, sei es der Ortho­ doxie und Restauration, sei es des Liberalismus und der Revolution, sei es des neuen lebensfrohen Realismus eines Feuerbach oder in die Erlösungs­ hoffnungen des Proletariats. Mit dem Zerfall dieser ihrer höchsten Leistung schien in Deutschland die ganze romantisch-philosophische Problemstel­ lung selbst zerfallen und wurde unser ganzes Problem heillo s verwirrt. Aus­ ländische Einflüsse, eine neue Welle des Aufklärungsgeistes, allerhand Ra­ dikalismen und rein subjektiv interessierte Theorien brachen herein und herrschen bis heute.a Je mehr in der Folge bei solchem Auseinanderfallen die schon berührte Skepsis oder ein rein zufilliges und willkürliches oder auch lediglich konventionelles Ideal und Ausleseprinzip sich zum bewußten oder unbewußten I philosophischen Herrn der Geschichtsforschung aufwarf, um so mehr strebte man freilich wieder zu dem tiefsinnigen Meister historischer Gedankenbauten zurück. Wir haben heute eine Erneuerung des Hegelschen Gedankens unter uns, freilich bis jetzt ohne ihren eigentlichen Nerv, die Dialektik oder apriorische Konstruktion des Geschichts­ verlaufes aus der Idee, die I sein Grund, Ziel und Beurteilungsmaßstab zugleich ist>. Die Objektivität solcher autonomer und insofern a priori gebildeter Maß­ stäbe liegt also«, wenn man sich zur Historie insbesondere wendet,» in zwei Momenten begründet, einmal in einer aufmerksamsten, vorurteilslose­ sten Versenkung in die Tatsachen, in den ganzen Wirkungszusammenhang, dem wir angehören, und sodann in einer Herausbildung von Idealen die­ ses Kulturkreises aus dem tatsächlichen Leben, die sich in der Einstellung auf einen darin aufsteigenden geistigen Gesamtzusammenhang des Lebens weiß, die aber diesen Zusammenhang in allen Krisen neu ergreifen und neu «76) Vgl. v. Hartmann, Die Weltanschauung der modernen Physik2, 1 909, S. 208: "Der Glaube, die bestmögliche Wahl getroffen z u haben und dem natürlichen Sinn durch Her­ aushebung der wesentlichsten Merkmale möglichst nahegekommen zu sein, macht die hypothetischen Elemente der Begriffsbildung aus."87 »

a-a

87

A, AA· Diese Notwendigkeit selber aber ist

Die Hervorhebungen stammen von Troeltsch.

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Kapitel lI. Ueber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge.

hervorbringen muß«77)>>. Jedes Ergreifen ist ein Hervorbringen, das sich als Gehorsam gegen den Genius der Geschichte weiß, wie man I zu sagen pflegt und womit man den nur in solcher Intuition ergreifbaren, niemals begrifflich konstruierbaren inneren Zug des Weltwerdens meint«78)>>. Ge­ wiß wird man für die beschreibende und gliedernde Erfassung eines sol­ chen jeweiligen Gesamtzusammenhanges des Geistes gewisse allgemeine Kategorien anwenden, den Begriff eines Systems der Kultur, der sich aus den Einzelwerten der Familie, des Staates, des Rechtes, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion, der Wirtschaft zusammensetzt. Allein ein solches System ist selbst erst aus der Erfahrung abstrahiert und bedeutet lediglich formale Kategorien, die in jeder konkreten Kultur mit eigentümlichem In­ halt erst erfüllt und überdies in eine ihr eigentümliche innere Synthese gebracht werden. Sie I bilden kein Idealsystem, das aus der Vernunft an sich konstruiert werden könnte und in Annäherung an welches sich das wirkli­ che Geschehen befände, oder dessen Individualisation es wäre, sondern nur Kategorien, in welche das Geflecht des historischen Lebens sich zerlegen läßt und die jedesmal mit einem eigentümlichen und besonderen Inhalt ausgefüllt sind. Sie werden in solchem Geschehen erfüllt, aber nicht indivi­ dualisiert. «In ihnen liegt kein Maßstab, sondern immer erst in dem Ideal, mit dem wir dieses System inhaltlich erfüllen und zur Einheit des Geistes machen.» Hält man aber fest, daß solche Erfüllung für jede Gegenwart aus der lebendigen Versenkung in die Geschichte und der hingebenden Ergrei­ fung ihres jeweils wirkenden Zuges in das Ideale hervorgeht, dann ist das

B 1 81 «77) S. ein Wort des jungen Hegel: ,,(Wolle) Besseres nicht als die Zeit, aber aufs beste sie", Rosenzweig, Hegel und der Staat, 1 920, S. 1 03. 88» B 1 81 «78) Das ist der Sinn von Schillers berühmter Elegie auf Kolumbus.89» 88

89

Vgl. Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat (1 920) , S. 1 03 f. Rosenzweig zitiert ohne konkrete Angabe: "Der bewußte Will e, ,Besseres nicht als die Zeit, aber aufs beste sie' zu sein, stellt dann die Arbeit unter das Formgesetz: die letzten Schlacken des ursprünglichen Erlebnisses, die der Vorstellung vom Staat als Schicksal noch sichtlich anhafteten, aus dem Staatsgedanken auszustoßen und ihn zu ruhiger Ge­ genständlichkeit für die Anschauung zu gestalten. Aus dem Erlebnis des Staats als Schicksals wird die Erkenntnis: der Staat ist Macht." Friedrich Schiller: Kolumbus (zuerst im "Musen-Almanach" 1 796; 1 904) , S. 1 48 f.: "Steure, mutiger Segler! Es mag der Witz dich verhöhnen, / Und der Schiffer am Steu'r senken die lässige Hand - / Immer, immer nach West! Dort muß die Küste sich zeigen, / Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand. / Traue dem leitenden Gott und folge dem schweigenden Weltmeer! / Wär' sie noch nicht, sie stieg' jetzt aus den Fluten empor. / Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde: / Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß."

4. Apriorität und Objektivität einer solchen Kulturs ynthese.

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alle Objektivität, die wir brauchen. Individualität ist ja nicht gleichbedeutend mit Subjektivität. I Objektiver ist in Wahrheit nie ein Beurteilungsmaßstab gewesen, am wenigsten ein solcher, der zwar in der Theorie als ewig, zeitlos und absolut konstruiert wurde, bei der Anwendung aber gar nicht angewendet werden kann, weil er hier erst "individualisiert" oder weil er der unüber­ windlichen I Geistesfeindschaft und Bosheit erst "angepaßt" werden muß oder weil er erst im unendlichen Progreß, also gar nicht, verwirklicht3 werden kann. In der "Individualisation" oder "Anpassung" steckt ja doch die gleiche Subjektivität des Maßstabes, wie die hier grundsätzlich vertretene. Ihr fehlt nur das Eingeständnis ihrer selbst. Der unendliche Progreß aber ist der endgültige Verzicht. Von der richtig verstandenen «Apriorität und» Objektivität ist also die Zeitlosigkeit, Ewigkeit, Allgemeingültigkeit und Absolutheit der Maßstäbe wohl zu unterscheiden. Die erstere ist möglich, die zweite nicht; und wo man die erste auf die zweite zu begründen für nötig hält, verwickelt man die erste in das Schicksal der zweiten. Denn jene zeitlose Unveränderlichkeit als Merkmal wahren Seins und wahrer Geltung, auf welch letztere ja heute viele das wahre Sein zurückzuführen streben, ist der Rest eleatischen Denkens in der abendländischen Welt, wie ja auch die platonischen Ideen bekanntlich unter dem Eindruck dieses eleatischen Axioms gebildet worden sind. Die Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit des Geltens mag für die formale Logik und Mathematik gelten, aber für die Erkenntnis der Erfahrungswis­ senschaften auf dem Gebiet der Natur wie der Geschichte I sowie für die Bildung der kulturphilosophischen Maßstäbe besteht sie nicht und kann sie nicht bestehen. Denn diese Begriffe verändern sich mit der extensiven und intensiven Ausdehnung unserer Erfahrung, auch wenn ihr Gegenstand an sich unveränderlich bliebe. Sie verändern sich aber vor allem deshalb, weil ihr Gegenstand selbst im fluß begriffen ist und eine diesem Fluß entspre­ chende fortwährende Neugestaltung des Denkens verlangt. Dies gilt von der Geschichte I gewiß, vermutlich auch von der Natur und Materie, deren Unveränderlichkeit und lediglich eindeutige Auffassungsmöglichkeit zu den Vorurteilen einer immer noch eleatisch und demokritisch gebundenen Naturwissenschaft gehören mag. I Darüber steht nur dem Naturforscher ein Urteil zu, hier sei nur auf diese Möglichkeit hingewiesen, um die innere Bewegtheit und Veränderlichkeit des Gegenstandes auf dem Gebiete der Geschichte als weniger ungeheuerlich erscheinen zu lassen«79)>>. Unter solchen Umständen wird aber dann begreiflich, daß es echte und wahre Gültig«79) Ich verweise hier wieder auf die mehrfach erwähnten Becherschen Arbeiten.» a

A, AA: angewendet

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Kapitel II. Ueber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge.

keit geben kann, die nicht zeidos und unveränderlich-ewige Gültigkeit, son­ dern die dem jeweiligen Bestand entsprechende und darum nur, soweit wie dieser reicht und dauert, auch allgemeine Gültigkeit ist. Dem Gesamtftusse des Lebens selbst aber kann man mit keiner Wissenschaft beikommen. Er kann nicht ohne Einheit, Zusammenhang und Sinn sein, sonst würde un­ ser Denken nicht seine einzelnen Konstellationen empirisch-wissenschaft­ lich und normwissenschaftlich erfassen und fixieren können. «Das Den­ ken muß also in irgendeinem geheimen Bunde mit dem Realen stehen, mit ihm irgendwie durch einen gemeinsamen Grund beider verbunden sein, bei dem doch Irrtümer des Denkens und Sünden des Willens möglich bleiben.» Aber Einheit und Sinn des Ganzen läßt sich nur ahnen und fühlen,a nicht wissenschaftlich ausdrücken und konstruieren. Nicht aus dem All können wir den einzelnen Moment befestigen, sondern aus den Festigkeiten des ein­ zelnen Momentes können wir das All in seinem Gesamtsinn als ein immer lebendiges und tätiges ahnen. Damit stehen wir dann allerdings beim Letzten, bei dem Gottesgedanken, der als irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken liegt. Jedenfalls gibt I es ohne ihn oder irgendein Analogon zu ihm keine Maßstabbildung. Kennt man für ihn nur die zeidose Unveränderlich­ keit des Immer-sich-selbst-Gleichen, dann werden die Maßstäbe im Ideal I ewig und unwandelbar sein wie die Gottheit selbst, einerlei ob man an die absolute Substanz glaubt oder, wie heute viele vorziehen, an das absolute Gesetz. So oder so ist es rationalistischer Monismus, von dem es keinen Weg zur Vielheit der Wirklichkeit und ihrer Bewegung gibt und von dem aus auch alle Kulturrnaßstäbe zu ewigen Vernunftgesetzen werden, die erst individualisiert oder deren Realisation in die Unendlichkeit des Prozesses verlegt werden muß. Das heißt aber, sie müssen wieder aufgehoben werden, wenn man etwas mit ihnen anfangen will. «In Kants transzendentaler De­ duktion des Kausalitätsmonismus und in dem "Begriff', den die Hegelsche Dialektik auseinanderlegt, steckt ein guter Teil dieses Spinozismus, ebenso in den einfachen Tatsachen und den Reihenbildungen des Positivismus, der trotz allem Empirismus doch auch seinerseits das Denken wenigstens an ab­ solute Tatsachen, die "collection des faits' Unterschied zwischen dem Kausalismus und der Lehre von den Ideen oder Ten­ denzen ist verwischt, und man nennt die letzteren selber oft genug ganz einfach "Kausalitäten", obwohl dieser Ausdruck im Grunde nur für den Zusammen­ hang physischer und physiologischer Einzelvorgänge oder deren Summierun­ gen passt. Die Gesamtanschauung bleibt dabei doch der Organologie verwandt. [Absatz] In der nicht-politischen Geschichte freilich drangen die anglo-franzö­ sischen positivistischen Methoden um die Mitte des Jahrhunderts ein. Wilhe1m Scherer, der vortreffliche Biograph Jacob Grimms, hat in seiner eigenen Sprach­ wissenschaft und Aesthetik ihren Gedanken zu erliegen begonnen und seitdem ist dieser Anschluss, namentlich auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft, im­ mer weiter ausgedehnt worden. Auch in den bereits von der historischen Schu­ le aus der Einheit des Historischen gelösten und doch zugleich völlig historisier­ ten systematischen Geisteswissenschaften lässt sich das beobachten. Die histori­ sche Schule Schmollers ist nicht mehr die alte, sondern ist soziologisch, ethno130

131 133

Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik (1 868), S. 24, § 47: "Denn das in der Geschichte der Menschheit Erarbeitete im Geist, dem Gedanken nach, als sich in sich steigernde Continuität durcharbeitet und nachgelebt haben, heisst Bil­ dung." Ebd., S. 35, § 8 1 . 132 Ebd., S. 37, § 87. Vgl. ebd., S. 38, § 90: "Ein Kreis in diesen Kreisen ist die Menschenwelt und ihre Geschichte; und das geschichtlich Grosse ist ein Sonnenstäubchen in der Theo­ phanie."

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B 307

Kapitel HI. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

des vorigen Kapitels die Rede und wird I am Schlusse dieses wieder die Rede sein müssen. Aber schwer definierbar und unphilosophisch, wie er ist, enthält er doch bis heute noch die Reste der Organologie, gemischt mit solchen der Dialektik und der metaphysischen Individualitätslehre, behält also in verschiedener Form philosophische Gehalte, die ihn über sich selbst wieder hinaustreiben. Es ist die Bedeutung des Lamprechtschen Streitesl34, diese Sachlage scharf beleuchtet zu habenI 50). Zum Verständnis der Bedeutung von Romantik und Organologie für das historische Denken genügt es aber nicht, deren Hauptvertreter zu charak1 50) S. Meinecke, Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, HZ. 1 25 (1 921 ). Ueber die "historische" Nationalökonomie und ihr Schwanken zwischen Hegelscher Dialektik, Comteschem Biologismus, romantischer Organologie, klassischem Rationa­ lismus und moderner Psychologisierung s. Max Weber, Roscher und Knies, Schmollers Jahrbuch 27, 29, 30. Roscher und Knies sind für Weber "anthropologisch verkleidete Mystik" 30, S. 1 1 9 [,135 logisch, geschichtsgesetzlich und verweist auf Mill, Morgan und Spencer. Die re­ ligionsgeschichtliche Forschung eines Usener und Albrecht Dieterich [A: Diet­ rich] drängt auf induktive Entwicklungsgesetze und arbeitet mit dem ethnolo­ gischen und folkloristischen Material, um die grossen Religionen diesen Analo­ gien zu unterwerfen. Die Entwicklungsbegriffe der systematischen Geisteswis­ senschaften werden immer stärker vom Positivismus durchsetzt und immer un­ einheitlicher und fraglicher. Schliesslich hat Lamprecht auch die politische Geschichte in diesen Rahmen hineingezwungen. Alle aber I behalten dabei gewis­ se Züge der alten "mystischen" deutschen Schule bei, auch Lamprecht. Das hat dann freilich alle Entwicklungsbegriffe in Konfusion gebracht und schliesslich gerade das Problem eines spezifisch-historischen, von physikalisch-chemischen und biologischen Evolutionen zu unterscheidenden Entwicklungsbegriffes neu gestellt. [Absat� Das weist darauf hin, dass man die deutsche, wesentlich und dauerhaft doch von der historischen Schule und ihrer romantischen Ursprungs­ atmosphäre bedingte Historie nicht für das allein Mögliche und Normale halten darf. Man muss neben ihrer Uebergeistigkeit und ihrer immer etwas mystischen Entwicklungsidee die realistische und den Naturwissenschaften nachstrebende westeuropäische Historie und Geschichtsphilosophie im Auge behalten. Aber auch innerhalb ihres eigenen ursprünglichen romantischen Horizontes blieb sie nicht ohne scharfen Widerspruch, der ihre innere Problematik lehrreich beleuch­ tet. Es ist der Widerspruch Schopenhauers einerseits, Kierkegaards andererseits. [AbsatV Schopenhauer

A 204

134 135

Vgl. oben, S. 357, Anm. 78. Vgl. Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1 906), S. 1 1 9.

3. Die Organologie der deutschen historischen Schule.

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terisieren und ihre Fortwirkung bis heute aufzuweisen. Zum vollen Ver­ ständnis gehören auch die beiden großen Gegenspieler dieser Denkwei­ se, die selber tief in ihr wurzeln, aber daraus eine den bisher geschilder­ ten Wirkungen entgegengesetzte Konsequenz ziehen: Schopenhauer und Kierkegaard. Und das ist um so nötiger, als beide beständig steigenden Ein­ fluß üben und Schopenhauer insbesondere durch viel Kanäle und in ver­ schiedener Richtung mit Heftigkeit in das heutige, vor allem in das philo­ sophisch reflektierende und das journalistische historische Denken einge­ strömt ist. Schopenhauer' ist ein durch und durch romantischer Philosoph. Er teilt den Aesthetizismus, das Gemeingefühl, adie Allerweltsanregung, die Musikalität" und die exotischen Neigungen der bRomantik. Auf diesem Wege kommt erb nach Indien. Ebenso teilt er die Vitalisierung der Welt und der Dinge durch derenC Zurückführung auf ein kosmisches Bewegungsprinzip, auf den Willen oder das Leben, das ihm an Stelle der Hegelschen Idee und der Schellingschen Identität tritt, sich also der logischen undd werthaften Festlegung durch jene Denker grundsätzlich entzieht und zur alten relativistischene Unbegrenzbarkeit von da aus bestimmt, s. Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung2, 1 906, wozu Max Webers später zu erwähnende grausame Kritik zu vergleichen ist.t43 I Für alle diese Leute existiert die Dialektik überhaupt nicht mehr. Struve versteht die Dialektik geradezu als Konstruktion der Revolution und Aufhebung der Kontinuität, wogegen er die Kantische Lehre von cder Identitä� des Kontinuitäts- und Kausalbegriffes ausspielt und eine realistische Kausalitäts­ forschung fordert. "Dieses Gesetz der Kontinuität « d. h. Kausalitäty, welches die Hegelisch angehauchten Marxisten - nach dem Vorgange Hegels (!) - als sinnlose Tautologie hinstellen und so etwas wie reaktionären Blödsinn nennen, hat kein geringerer a-a

143

A: Spencer oder Darwin

b A: u.

c-c

A: dem Zusammenhang

Vgl. Max Weber: R. Stammlers "Ueberwindung" der materialistischen Geschichts­ auffassung (1 907).

B 316

A 396

A 395, B 3 1 6

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540 B 317

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

gerade die Dialektik das äußerlich am stärksten hervor I tretende und fremd­ artigea Merkmal, aber auch die wissenschaftlich, geschichtstheoretisch und geschichtsphilosophisch am meisten fesselnde Konzeption, die den Schlüs­ sel zu den wichtigsten und fruchtbarsten Anschauungen dieser Denker über die historische Welt darbietet. Es kommt also darauf an, sowohl den festgehaltenen Sinn als auch die gleichzeitige Umbildung der Dialektik bei den Begründern des Marxismus richtig zu verstehen und deren Tragweite für die historische Methode und Erkenntnis zu erfassen, woneben die praktische Bedeutung und Verwertung für die sozialistische Parteibildung hier nicht näher in Betracht kommt. Jab, die wissenschaftlichen Gewinne sind schon bei den Begründern, unter de­ nen Marx eine hohe und große Gelehrtengestalt, Engels ein überaus kombi­ nationsreicher, lebendiger und scharfblickender Beobachter und Entdecker war, schon mehr Nebengewinne und sind in ihrer weiteren I Ausbeutung durch rein wissenschaftliche Forscher immer unabhängiger geworden von als Kant aufgestellt."l44 Dadurchc ist aber der Sinn der Dialektik ganz entstellt, ebenso wie in dem Schema S. 664. Das ist der grundsätzliche Gegensatz eines statischen Den­ kens gegen das dynamische: "In der Starrheit des ,Denkens' liegt aber nicht sowohl sei­ ne Stärke als die Bedingung seiner Möglichkeit eingeschlossen;145 ohne dieselbe kann es eben selbst nicht gedacht werden. Das Veränderliche sowohl wie das Unveränderli­ che der Welt wird durch konstante Begriffe der menschlichen Erkenntnis einverleibt", 687 f. Das ist in der Tat der eigentliche Gegensatz, um den es sich hier überall handelt. Im übrigen sind sachlich die realistischen Korrekturen Struves an der Dialektik wohl begründet und lehrreich.d a A: fremdartigste b A: Das Letztere ist eine viel erörterte wichtige Frage für sich. Für die Sicherstel­ lung der hohen wissenschaftlichen Fortschritte und Gewinne, die im Marxismus für alles historische Denken liegen, kommt sie nicht in Betracht; ja c A: Dabei cl In B, jolgt: - Sonderbare Vorstellungen über die Dialektik bei dem von Spencer herkommenden H Cunow, Die Marxsche Geschichts Gesellschafts u Staatstheo­ rie, Grundzüge der Marxschen Soziologie 1 920/21 ; dazu v Bortkiewicz in Grün­ bergs Archiv 1 922 X 2.

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145

Peter von Struve: Die Marxsche Theorie der sozialen Entwicklung (1 899), S. 680: "Dieses ,Gesetz der Kontinuität aller Veränderung' welches die hegelisch ange­ hauchten Marxisten - nach dem Vorgange Hegels - als sinnlose Tautologie hin­ stellen und für so etwas wie reaktionären Blödsinn ausgeben, hat kein Geringerer als der Begründer der deutschen idealistischen Philosophie Kant aufgestellt." Bei Struve steht hinter "eingeschlossen" ein Doppelpunkt.

4. Die Marxistische Dialektik.

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sozialdemokratischer Dogmatik und parteipolitischer Praxis. Hat man sie aber erst einmal in ihrer relativen Unabhängigkeit erkannt, so ist ihre Frucht­ barkeit eine erstaunliche und die von ihnen geschaffene Problemstellung eine der allerlehrreichsten, die das Jahrhundert hervorgebracht hat. An der Marxistischen Fassung der Dialektik haben freilich alle Mächte der Zeit, die wissenschaftlichen und praktischen, ihren Anteil. Sie ist inso­ fern ein echtes Produkt des Zerfalles der HegeIschen Schule und, wie sich bei der immer stärkeren praktischen Einstellung von selbst ergibt, nicht ent­ fernt so, wie die Lehre des Meisters, ein Erzeugnis einheitlichen, geschlos­ senen und rein aus der Folgerichtigkeit der philosophischen Grundkonzep­ tion hervorgebildeten Denkens. Sie vereinigt die widersprechendsten An­ regungen und stürmt auf den praktischen Zweck los, der ebensosehr die Rache an dem gehaßten feudal-bürgerlichen System als das Mitgefühl mit den Enterbten und I Opfern der modernen sozialen Entwicklung ist, der aber die Theorie als eine seiner wichtigsten Waffen schmiedet und bei dieser Arbeit von einem ungeheuren logischen und wissenschaftlichen Vermögen oft in rein objektive und äußerst interessante Untersuchungen hineingerissen wird. Man kann also nicht erstaunt sein, sehr widerspruchsvolle Gedan­ kenverbindungen, rein praktisch motivierte Theorien und gleichzeitig einen alles organisierenden Durchblick sowie eine außerordentliche Sachkenntnis zu finden. Das eigentlich Bleibende oder besser bleibende Erkenntnisse An­ regende ist dabei die neue Fassung der Dialektik. Aus ihr geht eine eigentümliche Soziologie und Geschichtsphilosophie, ein neuer Begriff vom inneren Zusammenhang aller Kulturgebilde und von der inneren Bewegung der Ge­ schichte hervor; ja auch die größte Leistung des Marxismus, die Entdeckung und Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft selbsta ist nur aus diesen Grundgedanken zu verstehen und hervorgewachsen, hat ihre wichtigste - wissenschaftliche - Bedeutung in diesem Zusammenhang mit einem grundsätzlichen historischen Denken. I Es kommt also zunächst auf die Mischung der Motive an, die aus dem Zerfall der Schule an Marx und Engels herandrangen. Hier scheiden natürlich die orthodox-reaktionären Gestaltungen des Hegelianismus ohne wei a

A: selbst,

B 318

A 398

B 31 7

542

B 319

A 399

B 318

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

teres aus oder haben doch nur die Bedeutung, Marx gegen die theologische und religiöse Seite des Hegelschen Systems noch mehr zu erbittern, als es seine offenbar in der Naturanlage begründete, fast völlige Empfindungslo­ sigkeit für das Religiöse auch ohne das mit sich gebracht hätte. Ebendes­ halb hatte ihm auch Friedrich Straußens "Leben Jesu", das die Scheidung der kirchlich-dogmatischen Anpassungen des Systems von seinem eigent­ lichen kritisch-panentheistischen Geiste eröffnetel46 und damit die Schule in dem wichtigsten Punkte der von ihr geschaffenen Synthese auflöste, we­ nig zu sagen; das war nur wichtig für den vom Wuppertaler Pietismus her­ kommenden und durch Schleiermacher hindurch sich allmählich zur bedin­ gungslosen Kritik hindurcharbeitenden Engels, der als junger Kaufmann sich auf diesem Wege von den Traditionen seiner puritanischen Familie löste157 der natürlichen Gesetze der Wirklichkeit; die wahre Dialektik und Dynamik müsse jedesmal a

157

In A folgt die Fußnote: S. Plenge, Drei Jahre Weltrevolution, Schmollers Jahrbuch XLII 1 9 1 9 und "Revolutionierung der Revolutionäre" 1 9 1 8.

Vermutlich übernimmt Troeltsch den Ausdruck aus Gustav Mayers Einleitung zu: Friedrich Engels, Kar! Marx: Das Leipziger Konzil (1 920/1 921). Hier heißt es S. 786 f.: "Der abstrakte und verhimmelte Ausdruck, wozu eine wirkliche Kollision sich bei Hegel verzerrt, gilt diesem ,kritischen' Kopf für die wirkliche Kollision."

A 408 B 328

552

A 409 B 329

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

erst aus der Analyse der Tatsachen herausgegriffen werden, indem sie bei den allen Differenzierungen zugrunde liegenden einheitlichen Tendenzen einsetzen lernt und dieses Verfahren j edem zusammenhängenden Gesche­ hen gegenüber immer von neuem anwendet. Das sind gewiß gründliche Veränderungen, aber für die historische Konstruktion bleibt doch die in­ tuitiv zusammenschauende und dann durch Spaltung und Versöhnung die Einheit explizierende Logik das einzige Mittel der Erzeugung jener großen Bilder und Allgemeinbegriffe der historischen Welt, die durch keine indukti­ ve Häufung von Parallelen und darauf beruhende Reihenbildung und durch keine allgemeinen psychologischen Gesetze gewonnen werden können. Die echte Analyse zerlegt nie in bloße Einzelvorgänge, um diese dann nach allgemeinen, immer gleichen Naturgesetzen wieder zusammen­ zufügen, sondern stößt überall auf agroße, ganze Perioden beherrschendeo Lebenszusammenhänge, in denen die innere geistige Einheit und Notwen­ digkeit des Geschehens trotz aller Kreuzungen, Wirren und Zufalle begrün­ det ist. Sie bleibt nie in bloßen allgemeinen Formen, Begriffen und Geset­ zen hängen, sondern sieht in diesen immer zugleich den sachlichen Gehalt konkret sich herausbilden. Sie ist und bleibt gegenüber allen bloß formal­ parallelen Reihenbildungen Erfassung des Inhalts und des Konkreten mit­ ten im Gesetz, wodurch sie z. B. dem Comteschen Positivismus und dem Lamprechtschen Psychologismus so sehr überlegen ist. Das ist natürlich trotzdem die Quelle vieler irrtümlicher Generalisationen, aber auch die je­ ner vielen großen und lebendigen Erkenntnisse von Zusammenhang und Struktur des Geschehens, die das Marxistisch geschulte Denken unter den modernen Historikern auszeichnet, so einseitig und monoton diese Kon­ struktionen inhaltlich auch oft beschaffen sein mögen. I Hinreißend tritt diese Leistungsfahigkeit der Dialektik jedenfalls sofort schon in der ersten großen Gesamtdarstellung des universalhistorischen Prozesses zutage, die die beiden Denker in ihrem I feurigen Jugendwer­ ke, dem b"Kommunistischen Manifest"b am Vorabend der 48er Revolution gaben und die für immer der Entwurf ihres geschichtsphilosophischen Ge­ samtdenkens leider geblieben ist. Hier finden wir ohne weiteres die Dreigliederung der Dialektik: den indifferenten Urzustand des Urkommunismus, in dem alle Gegensätze latent und gebunden sind und aus dem sie sich erst durch die Geschlechtssklaverei des Weibes herausent­ wickeln; von da ab die große Periode sich immer steigernder und nach jea -a

A: die großen, ganze Perioden beherrschenden b-h In A nicht heroorgehoben.

4. Die Marxistische Dialektik.

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der Synthese wieder vertiefender Gegensätze, die in den Klassenkämpfen sich aufgipfelt bis zum letzten, höchsten, reinsten und absolutesten Gegen­ satz, dem von Proletariat und Bourgeoisie; schließlich das Ende und die Zukunft, den Umschlag des von der Bourgeoisie durch Beraubung und Aussaugung auf die reine bloße Menschenqualität herabgedrückten Prole­ tariats in den Träger der allgemein menschlichen Humanität, deren Aufrich­ tung daher sein Werk sein wird und in dem Kommunismus der vollendeten Humanität die Klassengegensätze wieder aufhebt, die bis zu seiner Hervor­ treibung durchlaufen werden mußten. Alle Größe und Gewalt dieser Bilder stammt zugleich mit ihrem Eindruck völlig übersubjektiver Notwendigkeiten aus der dialektischen Verarbeitung der massenhaft ausgebreiteten oder angedeuteten Tatsachen. Und wie fein und geistreich ist im einzelnen bei der Charakterisierung der mittleren Klassen­ kampfperiode die dialektische Durcharbeitung! Denn was vom Ganzen des universalhistorischen Prozesses gilt, gilt natürlich auch von jedem Einzelge­ genstand. Marx hat später" in der Mühsal seines Lebens nicht die Zeit zu vielen Einzeldarstellungen gefunden. Doch sind seine beiden kleinen Studien über die französische Revolution von 1 848 ganz und gar in den Geist dialektischer Notwendigkeit und Zusammenschau eingetaucht und haben gerade darin ihren aufreizenden, symbolischen und allgemein-bedeutsamen Charakter. Vor allem aber ist sein Hauptwerk, die Darstellung der modernen ka­ pitalistischen Kulturperiode, ganz und gar auf dieser I Methode aufgebaut. Es beginnt mit der Analyse der Ware und des Tausches als denjenigen Eia

A: hier

B 330

A 410

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B 331

A 41 0, B 331

A 41 1

Kapitel I I I . Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

genrumlichkeiten des auf grenzenlose Tauschwirtschaft statt auf Eigenpro­ duktion und Kundenproduktion gestellten modernen Kulturzustandes, von denen aus sein einheitlicher Trieb und Geist zu erfassen ist, indem die dia­ lektische Einheit, innerhalb deren die Differenz von Käufer und Verkäufer erst entsteht, den einheitlichen Grund unserer ganzen Kultur mit allen ih­ ren beständig steigenden Spannungen bilde3• Die Herauswirtschaftung des Mehrwerts aus dem in aller modernen Ware steckenden tieferen Grunde, aus der Ware Arbeitskraft: das seib darnach das Prinzip unserer Kultur, und aus diesem Prinzip ergeben sich alle Spannungen, Verwicklungen, Entwick­ lungen und Lösungen. Das ergibt ein eindrucksvolles gewaltiges Bild von dem konkret-individuellen Charakter der modernen Kultur und von den mit diesem Charakter gesetzten Notwendigkeiten ihrer Bewegungen, wo­ bei ich die inhaltliche Richtigkeit des Satzes selbst nicht beurteilen will und kann. Aber methodisch ist das großartig und tiefdringend gedacht; welch ein Gegensatz gegen die Methode allgemeiner psychologischer Gesetze, die den Tausch und Erwerbstrieb wie ein allgemeines Naturgesetz behandelt, das I durch die Menschheit hindurchgeht und sich nur gelegenheitsmäßig unter Einwirkung anderer, ebenso allgemeiner psychologischer Umstände modifiziert! All das eist aber das Werk der Dialektik, die das Allgemeine überhaupt nur in individuellen Besonderungen kennt und jeden Umkreis solcher Besonderungen daher auf sein individuellesd Prinzip und Struktur­ gesetz, auf seine Gesamtphysiognomie und seine besondere Bewegungsart, zu analysieren versteht: die Idee des individuellen Gesetzes und der Einheit der Gegensätze und Spannungen in ihm, eine Idee, die kein bloßer Kau­ salitätsbegriff und keine allgemeingesetzliche Psychologie erreichen kannl64l. I 1 64) Eine eindringende Würdigung der Bedeutung der Dialektik bei J. Plenge, Marx und Hege!, 1 9 1 1 , wo die Bedeutung Feuerbachs stark unterschätzt ist, und bei Ham­ macherl58, wo die Dialektik aber nicht ganz in ihrer philosophischen Tiefe erfaßt ist. Von den Schriften der Schule ist hier besonders der Anti-Dühring < 1 878,> lehrreich: die Entgegensetzung der Dialektik, auch einer dialektischen Naturwissenschaft I und Mathematik, gegen die rationalistisch-metaphysisch-mechanistische Naturwissenschaft des Tages, der echten Dynamik gegen die bloße Statik und gegen die nur mechanistisch­ gefaßte unechte Dynamik, s. S. 96-1 1 8; Begriff der Dialektik als Bewegungsbegriff 1 47; a

158

A: bildet b A: ist

c-c

A: aber ist

d A: allgemeines

Gemeint ist: Emil Hammacher: Das philosophisch-ökonomische System des Mar­ xismus (1 909).

4. Die Marxistische Dialektik.

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Aber freilich, die Dialektik ist zugleich gründlich verändert, und es ist ebenso wichtig, sich diese Veränderungen klarzumachen. Sie sind rein philosophisch angesehen furchtbare Verwüstungen ihres ursprünglichen und Negation der Negation als Naturgesetz 1 1 8; Beispiele der Dialektik aus der Kriegs­ geschichte 1 47, der Wirtschaftsgeschichte 21 8; Dialektik als unbewußter Grund aller tieferen Denker auch bei Fourier und Rousseau aufgedeckt 21 8. - Ebenso in Engels' Feuerbach-Buches, 1 9 1 0, S. 1 9, 22, 37, 40-43; S. 45 geradezu die Hegelsche "List der Vernunft" übernommen; S. 4 dialektische Lösung des Problems der Gegenwart; S. 36 die Herauskonstruktion der eigenen Position aus Hegels Dialektik unter Hinblick auf Strauß, Stirner, Bauer, Feuerbach. - Aehnlich im Briefwechsel: II, 235 und 243 die He­ gelsche Methode mystifizierter Realismus; durch Kritik ist an den Punkt zu kommen, wo sie verwendbar ist; II, 364, 426; III, 70 erstes Bekanntwerden mit dem Darwinis­ mus, der sachlich begrüßt, aber als englisch-plumpe d. h. undialektische Methode bezeichnet wird. III, 1 73, 287 Naturwissenschaft und Hege!; auch die Dialektik der Naturphilosophie an sich richtig; III, 382, IV, 1 5 1 Hegel gegen Comte ausgespielt; III, 381-384, 424 Hegels Dialektik; IV, 266 Dialektik gegen Huxley; IV, 344, 361 Dialektik gegen moderne Naturwissenschaft; IV, 435 Hege! und die Mathematik; IV, 492 Dialektik I der Natur. - Engels "Lage der arbeitenden Klassen" S. 299; Kommunismus als dialektische Lösung der Spannung von Bürgertum und Proletariat. - Engels "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur I Wissenschaft": S. 4 Dialektik; S. 7 dialektische Bewegungslogik gegen mechanische Naturwissenschaft; 22, 34-41 , 52-54 die Zukunft als Ergebnis dialektischer Synthese. - Ueber die dialektische Auffassung gerade auch der Naturwissenschaften selbst handelt die Artike!serie von Enrico Leone, "Le seienze naturali nel Marxismo" in der Zeitschrift 11 Divenire Soeiale IV., die Michels "Probleme der Sozialphilosophie" , 1 9 1 4, S. 1 26 f. anführt und exzerpiert. "Die Periode des Immobilismus, in der die Phänomene sowohl des natürlichen Seins als auch des sozialen Lebensa159 zeitlich und räumlich feststehend betrachtet wurden, hat der revolu­ tionistischenl60 Methode in diesen Wissenschaften Platz machen müssen", und zwar "durch das dialektische Prinzip des Widerspruchs"161; also Dynamik gegen Statik, wie ich es früher im Gegensatz gegen Rickert formuliert habe . - Interessant ist in den "Klassenkämpfen in Frankreich", Berlin 1 9 1 1 , S. 24 die Grundcharakteristik: "Mit einem Worte: nicht162 in seinen unmit­ telbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, a

159 161

162

In A folgt: als

Bei Michels folgt hier "als". 160 Bei Michels steht "evolutionistischen". Bei Michels heißt es ",von dem dialektischen Prinzip des Widerspruchs'''. Die Wendung steht im Original (S. 1 26) vor dem von Troeltsch zuerst zitierten Mi­ chels-Passus. Bei Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1 848-1 850 (1 850; 1 91 1), S. 24 großgeschrieben. Alle Hervorhebungen in diesem Zitat stammen von Troeltsch.

A 41 1 , B 332

A 412 B 332

Kapitel I I I . Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

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B 333

A 412

A 413

allein möglichen Sinnes, ihres metaphysisch-logischen Grundes und ihres metaphysisch-ethischen Zieles, ihres doch völlig unentbehrlichen Zusam­ menhangs mit der Analyse des Selbstbewußtseins und ihrer Zusammenbin­ dung von Sein und Wert. Aber rein geschichtstheoretisch angesehen wirken diese Verwüstungen nicht so ungünstig, wie man zunächst glauben möchte. Es wird im Gegenteil bei Marx der rein dynamische Sinn der Dialektik freier von den Fesseln der Metaphysik und der strengen Methodik, und die Erwei­ terung der historischen Triebkräfte durch die ökonomisch-sozialen Verhält­ nisse wirkt als realistische Bereicherung und damit sachlich sogar als Vertiefung. Freilich bleibt des Einseitigen, Gewalt I samen, Tendenziösen und Verbohrten gerade genug, von der Finsternis des gott- und ideenlosen Hin­ tergrundes ganz zu schweigen, auf den dieses aus ökonomischem Realismus, ja Fatalismus und ethischem Revolutionismus gemischte Geschichtsbild auf­ getragen ist. I Welches sind nun aber in genauer Formulierung die Abweichungen von Hegels Dialektik? In Kürze ist zu sagen: die dialektisch-realistische Kontemplation ist ver­ koppelt mit einem revolutionären Naturrecht. Die Dialektik ist entgeistet und naturalisiert. Die Dialektik ist ökonomisiert. Die dialektischen Gegen­ sätze formal-logischer Bestimmtheiten sind in reale Klassengegensätze ver­ wandelt. Diese vier Punkte gilt es zu beleuchten. Das erste ist die Verbindung der rein realistisch-deterministischen Ent­ wicklung mit revolutionärer Prophetie und absoluter Forderung. Es ist ein Punkt, der von größter praktischer Bedeutung geworden ist und dessen tragische Schwierigkeit wir insbesondere heute bei den entgegengesetzten Auslegungen dessen erfahren, was Marx wohl unter der "Diktatur des Prosondern umgekehrt in der Erzeugung einer geschlossenenl63 mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Erzeugungl64 erst die Um l stu'iPartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte." - Vom "Kapital" braucht man in dieser Hinsicht gar nicht zu reden; sein ganzer stets den Modernen so befremdender Einsatzpunkt ist nur von der Dialektik aus zu verstehen, ebenso wie der ganze Aufbau; den Gegensatz gegen den modernen nationalökonomischen Psychologismus, der allge­ meine psychologische Naturgesetze sucht und nur stets den historischen Bedingungen durch Verfeinerungen anpaßt, s. bei Hilferding, Marx-Studien I (1 91 0) die Auseinan­ dersetzung mit Böhm-Bawerk3; ebenso in der erwähnten Abhandlung von Leone. a

163 164

B: Böhm-Bawerck

Im Original folgt ein Komma. Im Original steht "Bekämpfung" statt "Erzeugung".

4. Die Marxistische Dialektik.

557

letariats" sich gedacht haben mag. Die einen sehen darin nur die äußere Sichtbarmachung und endgültige Durchsetzung eines unter der Decke der bisherigen Verhältnisse schon vollendeten Prozesses, die Ueberführung der von innen heraus zur Sozialisierung reif gewordenen Wirtschaft und des zur demokratischen Mehrheit gewordenen Proletariats in die auch äußere Erscheinung I und Herrschaft, die Herausbildung der wahren Mehrheit A 41 3 und der wahren Entwicklungstendenz. Die anderen sehen darin die in einem allgemeinen revolutionären Zusammenbruch der Kulturwelt ermöglichte Herrschaft klassenbewußter Minoritäten, die durch Terrorismus und Zwang hindurch in einer lang dauernden Weltkrisis die stets widerstrebenden und verworrenen Massen schließlich zum klassenlosen Zustande der Gemeinwirtschaft bringen . Heide können sich auf Marx berufen, der über diesen Punkt sich in ein agitatorisch äußerst wirksames Dunkel hüllte und dessen Abneigung gegen alle utopische Phantastik nach beiden Seiten hln nur Andeutungen gab. Die Sache ist aber auch von großer wissenschaftlicher und begrifflich-symptomatischer Bedeutung. Ich habe mehrfach hervorgehoben, daß die Dialektik Hegels sich mit innerer Notwen I digkeit auf den Standpunkt der prinzipiell vollendeten Ent- B 334 wicklung stellen mußte, weil nur aus dem dann erst ersichtlichen Zusam­ menfall von Grund und Zweck die Stufen der Selbstrealisation der Vernunft konstruiert werden konnten. In seiner Dialektik hängt alles an der Erkenntnis des vollendeten Zweckes und der Interpretation der Weltbewegung aus einer logischen Selbstbewegung der Vernunft in der Richtung auf die Realisation dieses mit ihr selbst identischen Zweckes. Beseitigt man diesen Standpunkt einer lediglich kontemplativen Rekonstruktion des tatsächlich vollendeten Prozesses, dann gerät man bezüglich der letzten Ziele in die Ungewißheit eines unendlichen Progresses oder man muß im Sinne relativer Wahrscheinlichkeit die vermutlichen Entwicklungstendenzen der je­ weiligen Gegenwart zu erkennen versuchen, um die mutmaßlich nächste Station zu erraten, in beiden Fällen verliert man die Möglichkeit einer not­ wendigena Konstruktion I des Gesamtprozesses. Das erste war, wie gezeigt, A 414 bei Bruno Bauers "Kritik der Kritik" der Fall, das zweite bei Feuerbachs blassem Kommunismus. Marx hatte als grundsätzlicher, ja fanatischer Re­ volutionär von vornherein keine Lust, bei solchen Bestimmungslosigkeiten oder Allgemeinheiten oder Wahrscheinlichkeiten stehenzubleiben. Er faßte ein unbedingtes Ziel mit ethlscher Absolutheit ins Auge, den Sturz der feudal-bürgerlichen Gesellschaft und Staatlichkeit zugunsten einer klassenund staatslosen Gesellschaft, "worin die freie Entwicklung eines jeden die

a

In A nicht hervorgehoben.

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B 335

A 41 5

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Bedingung für die freie Entwicklung aller165 ist". Die Vieldeutigkeit dieser berühmten Worte verdeckt leicht ihren Sinn. Es ist aber klar, daß das in­ haltlich im Sinne Marxens etwas ganz anderes ist als der Hegelsche, der Dialektik zugrunde liegende Fortschritt im "Bewußtsein der Freiheit"166, welcher letztere den Fortschritt der Einsicht in die innere Notwendigkeit des Weltprozesses und damit die bewußte Einordnung der Individuen in die organischen Einheiten des Staates bedeutet, also die auf eine organi­ sche Staatsauffassung bezogene spinozistische Freiheit. Bei Marx, dem alten rheinischen Liberalen und Demokraten und späteren Freunde der franzö­ sischen Umsturzbewegung, ist es aber die individualistisch-naturrechtliche Freiheit, die nur in einer klassen- und staatslosen, Produktion und Vertei­ lung als Gesamtinteresse behandelnden Gesellschaft realisiert werden könne, nicht in einer bloßen formal-rechtlichen Demokratie des I organischen Staatsgedankens. Dafür setzt er denn auch die ganze Leidenschaftlichkeit einer absoluten Forderung und einer gewaltsamen Durchsetzung ein, nur daß er diesem Gewaltakt und der Verwirklichung des Ideals einen großen vorbereitenden Prozeß realer Ermöglichung unterbauen will. Das aber ist etwas, was aus der ganz relativistisch gewordenen Dialektik sel­ ber nie gewonnen und begründet werden konnte; es stammt aus eigenen Quellen und eigenem Recht, aus einer nicht relativistisch bewegten, son­ dern absoluten und zeitlosen Vernunft. Das zeigt sich denn auch deutlich in der Unmöglichkeit, dieses Zukunftsideal aus der lediglich kritisch und progressiv gewordenen Dialektik abzuleiten, ja auch es nur damit zu verbinden. Er kann den "Umschlag" I aus der bisherigen Geschichtsperiode der dialektischen Klassenkämpfe in die kommende Weltperiode der kampf­ und klassenlosen, jede Individualität frei vollendenden Kultur nur durch die ganz künstliche Konstruktion erreichen, daß die Verelendung des Pro­ letariats dieses auf die bloße Menschenqualität überhaupt- Ueber die endlosen Schwierigkeiten des Verhältnisses von Freiheit und Initiative zur Entwicklung und Notwendigkeit, die sich gleichfalls aus dieser Kombination und dem Verlassen des kontemplativ-fertigen Standpunktes Hegels ergeben s. Struve 703 f., Vorländer, Kant und Marx, und Max Adler, Prinzip oder Romantik 1 9 1 7.c a c

171

172

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A: Dialektik." b B: Schuhmacher In A folgt: An diesem Punkte geht das ganze Problem des Verhältnisses von hi­ storischer Entwicklung und gegenwärtiger Idealsetzung auf, das von einer pro­ gressiv gemachten Dialektik nicht gelöst werden kann, aber auch nicht von einer bloß kausal genetischen Denkweise. Wie ich mir die Lösung denke, zeigt mein Aufsatz " Ü ber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge", H. Z. 1 9 1 7.

Peter von Struve: Die Marxsche Theorie der sozialen Entwicklung (1 899), S. 688: "Der dem orthodoxen Marxismus eigene Begriffsabsolutismus ist im gewissen Sin­ ne das direkte Gegenstück der ,Dialektik'''. Ebd., S. 688: ,,[ .] diese theoretischen Pseudobegriffe sind dem unvermeidlich ir­ reführenden Bestreben erwachsen praktisch-politische Postulate des Sozialismus, d. h. eines sozialen Ideals, in theoretische Begriffe im Dienste einer geschichtli­ chen d. h. kausal-genetischen Betrachtung umzuprägen." Im Original steht hinter "keine Reinkultur der Wissenschaft" ein Doppelpunkt. ..

4. Die Marxistische Dialektik.

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ihm verdanken wollte, die Hegel mystisch und metaphysisch verballhornt habe und die man in ihrem kritischen I und empirischen Sinn als Mittel der Ordnung der Tatsachen wieder herzustellen meinte. So konnte sich die äußerste Schroffheit gegen Hegel mit der engsten Gebundenheit an seine dialektische Methode verbinden, die man arglos und ohne jedes Gefühl für die in ihr liegenden metaphysischen Voraussetzungen auf anorganische, organische und historische Welt anwendete, genau wie der Meister selbst. Deshalb schreckte na Marx und Engels auch nicht vor dem Bekenntnis zur Methode seiner Naturphilosophie zurück, und bezogen sie sich gerne auf Oken und verwandte Naturforscher, interpretierten Darwin und die Mechanisten ohne weiteres in dialektischem Sinne174, in der Meinung, sie lediglich methodisch zu verbessern, aber ihren rein empiristischen und naturalistischen Gedanken selbst nicht zu verändern. Eben deshalb darf das dialektische Naturgesetz im Sinne des Marxismus durchaus nicht mit dem mathematisch-mechanischen oder rein induktiv-generalisierenden der modernen Naturwissenschaft verwechselt werden. Aber ebensowenig darf es mit Hegelschem Idealismus und irgendeiner spiritualistischen Metaphysik in Verbindung gebracht I werden. Der geistig-metaphysische Welthintergrund und die geistig-kulturelle Zwecksetzung sind verschwunden. Die Dialektik ist ohne Seinsgrund und ohne Zusammenhang von Sein und Wert lediglich relativistisch und positivistisch als Verbindungsregel beobachteter Tatsachen zu verstehen, die nach dem Grundsatz der Position, Negation und Negation der Negation oder Reaffirmation sich in unendlicher Kette bewegen. Jedes zu analysierende und zu erkennende besondere Gebiet muß auf sein allgemeines Prinzip vermöge dieser Analyse gebracht werden, und aus dem Prinzip müssen dann die einzelnen Bewegungen, Gegenbewegungen und Zusammenfassungen verstanden werden. Jede von einem solchen Prinzip aus erfaßte Gruppeneinheit muß mit den anderen Gruppeneinheiten nach dem gleichen Grundsatz auf ein umfassenderes und noch allgemeineres Prinzip gebracht werden, und aus dessen Bewegung muß dann ihre Fülle und Folge abgeleitet werden. Die darin liegende Hypostasierung von Allgemeinbegriffen stört diese empiristischen und materialistischen Logiker nicht! Sie empfinden nur den Triumph einer derartig monistisch die Dinge erfassenden und umfassenden Logik und der endlichen Einbeziehung der historischen Wissenschaften in dieses allgemeine Naturgesetz Es ist die berühmte oder berüchtigte Kernlehre des "hi­ storischen Materialismus" von dem "materiellen Unterbau und dem ideo­ logischen Ueberbau."185 Infolgedessen ist dann aber auch die dialektische Entwicklung selbst in ihrem Kerne keine geistige Entwicklung, keine Fol­ ge von sich differenzierenden und versöhnenden Gedankenbestimmungen, was man doch eigentlich allein unter Dialektik sich vorstellen kann und was sie bei Hegel gewesen war, sondern lediglich eine Folge sozialökonomi­ scher Zustände, deren jeder unmittelbar aus dem materiellen Bedürfnis der Lebenserhaltung entsteht und jeder in seinem eigenen Schoße durch Vor­ bereitung einer gegensätzlichen Form der Bedürfnisbefriedigung die näch­ ste Stufe herbeiführt. Der Uebergang von einer Stufe zur andern stellt sich dann als mehr oder minder gewaltsame ökonomisch-soziale Revolution dar, wie denn diese Revolutionen allein die "Lokomotiven" der Weltgeschich­ te seien.186 Die verschiedenen Formen der ideellen Welt dagegen haben keinen unmittelbaren dialektischen Zusammenhang und Fortschritt unter sich, sondern verdanken I diesen und damit den Schein einer eigenen Entwicklung nur mittelbar dem Zusammenhang der ökonomischen Fortschritte und Umwälzungen, denen ihre Gestaltungen folgen, wie die Aenderungen des Schattens den Aenderungen des Lichtes. Das ist natürlich erst recht das Gegenteil der Hegelschen Dialektik, die den Faden der Entwicklung an der religiös-metaphysisch-politischen Idee spann und diese Dialektik auch auf die Natur nur dadurch auszudehnen imstande war, daß ihr die Natur als Entäußerung, unbewußte Verhüllung geistiger Tendenzen und Kräfte I galt. Bei Marx ist umgekehrt der Geist die Selbstentäußerung oder Selbstentfremdung der Natur und spinnt sich der Faden der historischen Dialektik lediglich am Wechsel der ineinander übergehenden, sich auseinander

185

186

Vgl. z. B. Kar! Marx: Zur Kritik der politischen Ö konomie (1 859; 1 9 1 9) , die be­ rühmte Passage des Vorworts, S. LV: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängi­ ge Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungs­ stufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Pro­ duktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Ü berbau erhebt, und welcher be­ stimmte gesellschaftliche Bewußtseins formen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebenspro­ zeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." Kar! Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1 848-1 850 (1 850; 1 9 1 1 ) , S. 90: "Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte."

B 347

A 427

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A 427, B 348

Kapitei lII. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

hervortreibenden technologisch-sozial-ökonomischen Zustände fort. Das ist es, was ich die Oekonomisierung der Dialektik nenne, ihre Verwand­ lung in eine gesetzlich auseinanderfolgende Reihe ökonomischer Zustän­ de, die nicht in ihrem geistigen Gehalte, sondern in ihrer Organisation der Bedürfnisbefriedigung das Prinzip der Bewegung haben. Die agitatorische Wirkung davon liegt auf der Hand: alle Ideologie der Religion, des Staates, der Ethik usw. erscheint von hier aus als Ablenkung des Proletariats von seinen natürlichen Interessen, der ökonomisch-soziale Umsturz als Bürg­ schaft der ideell-kulturellen Vollendung aller, das "falsche Bewußtsein" und die Ideologie der herrschenden Klassen als Heuchelei und Selbstbetrug, al­ le geistigen Schutzwehren gegen den Umsturz und alle von der Oekonomie unabhängigen Werte, Wahrheiten und Gemeingefühle als ohnmächtige und in ihrer Ohnmacht enthüllte Attrappe. Nur die Ideologie des Proletariats und seine Wissenschaft ist diesem Schicksal entnommen, weil sie auf einem reinen Naturgesetz beruhen und weil sie am Ende der vorläufigen, durch die Selbstentfremdung der Natur getrübten Geschichtsperiode stehen, al­ so mit dem ins Absolute gesteigerten Gegensatz den Umschlag zur wahren Erkenntnis und zu einer glücklicheren Weltperiode bedeuten. Alles das ist denn auch von den Kritikern oft genug hervorgehoben worden. Auch auf die Vieldeutigkeit und Unklarheit der dem sozialen System zugrunde geleg­ ten angeblich allein selbständigen Variablen, der "Produktivkräfte und Pro­ duktionsverhältnisse"187, ist oft hingewiesen worden, die in Wahrheit zwei verschiedene Prinzipien I bedeuten und den Sachverhalt überdies nicht er­ schöpfenI70); ebenso auf die Verallgemeinerung eines spezifisch modernen, 1 70) Ueber diese Formel s. Herkner II6, S. 254, Hammacher 1 60; auch Stammlers Kri­ tik setzt an diesem Punkte ein, wobei ihm Struve a. a. 0. S. 667 f. zustimmt, aber seiner­ seits auf die höchst komplizierte, immer nur von Fall zu Fall feststellbare Wechselwir­ kung von Wirtschaft (produktivkräfte) und Recht (produktionsverhältnisse) hinweist.

187

Vgl. z. B. [Kar! Marx, Friedrich Engels]: Das Kommunistische Manifest (1 848; 1 890), S. 1 3: "Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels

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mit Technik, I Bevölkerungssteigerung und Großstaat zusammenhängen­ den Uebergewichtes der sozial-ökonomischen Elemente über alle anderen, was in dieser Weise von keiner anderen Periode gegolten und darum auch nicht in deren Bewußtsein gelegen habel7ll; nicht minder natürlich auch auf die erfahrungsmäßig vorliegende Andersartigkeit und Selbständigkeit der nicht-ökonomischen Geistesinhalte, wie sie die von Marx völlig miß­ achtete Psychologie und die wirkliche Geschichte zeigen172l. Ja, die Urhe­ ber selbst haben die Methode doch zuletzt nur als Leitfaden und Frage­ stellung bezeichnet und betreffs des ideologischen Ueberbaus, seiner relati­ ven Selbständigkeit, Bewegungsfreiheit und Rückwirkungsfahigkeit immer größere Zugeständnisse gemacht173l• Die Aeußerungen Marxens über die Kunst z. B., die er an dem klassischen Hauptort der Theorie, der Vorrede zur "Kritik der politischen Oekonomie" macht, sind sehr vernünftig;88 aber fallen völlig aus dem System heraus, anderseits sind manche Aeußerungen von Engels ohne weiteres als Verlegenheitsausflüchte erkennbar. a

A: Klassen,

4. Die Marxistische Dialektik.

579

sind diese praktisch für die soziale Bewegung so bedeutsamen Züge ziem­ lich gleichgültig für den historischen Wert. Eine Dialektik, die nicht mehr mit logischen oder logisch verkleideten ethisch-religiösen Gegensätzen arbeitet, ist faktisch überhaupt keine eigentliche Dialektik mehr. Aber das dynamische Element der Dialektik, das von Anfang an ihren historischen Wert vor allem ausmachte, ist in dieser Durchleuchtung der soziologischen Strukturen und ihrer Klassenspannungen erhalten geblieben, ja mehr als das: es ist ganz außerordentlich verlebendigt und konkretisiert worden. Denn es kann kein Zweifel sein, daß ein großer Teil aller Geschichte und aller Ideologien in der Tat mit Klassengegensätzen zusammenhängt, daß die letzteren zum mindesten alles färben oder mitbedingen, erleichtern oder erschweren, befördern oder hemmen, und daß die großen Umwäl­ zungen der Geschichte immer auch mit dem Sinken alter, dem Aufsteigen neuer Klassen zusammenhängen. Das geht bis in Literatur, Kunst und Philosophie hinein, von den Religionen gar nicht zu reden. Auch hier also handelt es sich um neue und höchst bedeutsame Fragestellungen für alle Geschichte179). I 1 79) Daß die Klassengegensätze doch nur in der modernen Geschichte eine so große und alle Ideologie durchfärbende Rolle spielen, zeigt Lindner S. 1 22 f. "Klassenkämpfe begegnen nur bei den198 politisch weiter fortgeschrittenen indogermanischen Völkern als Folge des Genossenschaftstriebes und der I daraus entspringenden ständischen Nei­ gungen." Auf die Antike hat den Marxistischen Gesichtspunkt des I Klassenkampfes angewendet Pöhlmann, Gesch. des antiken Sozialismus und Kommunismus, 1 893 u. 1 901 , der aber zu stark moderne Kategorien einträgt; s. meine "Soziallehren" S. 20 f. Auch Hammacher kritisiert vielfach die Uebertreibung der Herleitung aller Ideolo­ gien aus dem Klassenkampf, Sombart betont das mephistophelische Element in die­ sen Darlegungen Marxens. Interessante Beispiele für das moderne England gibt H. Le­ vy, Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Gesch. der englischen Volkswirtschaft. Die Gewaltsamkeit und übertriebene Generalisation im Mar­ xistischen Klassenbegriff, die immer neuen Differenzierungen innerhalb jeder Klas­ se und die Existenz von klassenmäßig nicht qualifizierbaren Gruppen zwischen den Hauptklassen zeigt lehrreich Rob. Michels "Soziologie des Parteiwesens in der moder­ nen Demokratie", 1 9 1 1 , und "Probleme der Sozialphilosophie" 1 9 1 4; hier bes. S. 204.a a

198

In A folgt: Daß auch noch ganz andere Gegensätze Gesellschaft und Staat be­ stimmen, zeigt das kecke, aber gescheite und lehrreiche Buch von Hans Blüher Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft2, 1 9 1 7/ 1 9. Die Probleme der Gesellschaftsbildung sind eben viel komplizierter als Marx annimmt. -

Dieses Wort fehlt bei Theodor Lindner: Geschichtsphilosophie (1 9 1 2), S. 1 23.

A 432, B 353

B 354 A 433

580 A 433, B 354

A 434 B 355

A 433, B 354

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Man sieht: monistische Dogmatik und historische Theorie treten fort­ während auseinander. Ihre enge Verklammerung ist von höchster Bedeu­ tung für die praktisch-agitatorische Wirkung als Weltanschauung einer re­ volutionären Partei, von sehr viel geringerer für die rein historische Lei­ stung und Methode, die uns hier allein interessieren. Immerhin kommt von der Dialektik und ihrer eigentümlichen ökonomischen Bereicherung her ein großer konstruktiver Zug des soziologisch-geschichtsphilosophischen Den­ kens, der freilich, rein logisch genommen, einer neuen Fassung und Formu­ lierung bedürfte, der aber an sich die große Leistung des Marxismus für die Wissenschaft bedeutet180). Es muß daher das durch diesen konstruktiven Zug entstehende Gesamt­ bild der historischen Dinge noch in Kürze beleuchtet werden. Die Historie hat, wie bei Hegel, einen zentralen Gegenstand, eine grundlegende Einheit der Forschung: das ist die soziologische Gruppe oder das Volk. Nur erscheint die Gruppe bei Marx nicht als vernunftgeeintes Ganzes oder als Staat I und Rechtsinstitution, sondern als ökonomisch bedingte Struktur der Gesellschaft. I Diese Struktur ist überall wesentlich auf dem gleichen Prinzip aufgebaut, soweit es sich um die Zeiten der dokumentierten, arbeitsteiligen und klassenbedingten Geschichte handelt, in welche die kommunistische Prähistorie durch den Bruch des Mutter­ rechtes und die wesentlich ökonomisch bedingte Versklavung des Weibes einmündet. In letzterer Hinsicht haben sich Engels und Marx noch an Morgans urgeschichtliche Forschungen über die Gentilverfassung ange­ schlossen;l99 neuere sozialistische Ethnographen, wie H. Cunow, haben diese heute veraltete Ethnographie dann vor allem unter Spencerschen Anregungen auf den modernen Stand gebracht, aber die konstruktive 1 80) Auch der Grundgedanke bei Hammacher S. 244, der auch für das Folgende S. 258-388 gute Zusammenstellungen und Analysen gibt, vor allem reichliche Zita­ te. S. auch die Bemerkung S. 345: "Marx fehlt der Begriff der intellektualen Anschau­ ung"200, die er doch tatsächlich befolgt, aber für die sein dialektischer Materialismus die Voraussetzung zerstört hat. 199

200

Vgl. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats (1 884) . Das Buch trägt den Untertitel "Im Anschluß an Lewis H. Morgan's Forschungen". Marx hatte von Lewis Henry Morgans "Ancient Society" (1 877) ausführliche Exzerpte erstellt, die Engels nach Marxens Tod in seinem Buch ver­ wertete. Emil Hammacher: Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus (1 909), S. 345: "Die Unebenheit des Marxschen Dualismus kommt in das �stem, weil ihm der Begriffder intellektuellen Anschauungfthlt. "

4. Die Marxistische Dialektik.

581

Einmündung in die Periode des Klassenkampfes natürlich beibehalten.201 Erst an dieser letzteren Periode haftet die eigentümliche Marxistische Konstruktion der soziologischen Struktur: überall ist die Organisation der auf bestimmten technischen Mitteln beruhenden Arbeit derart, daß daraus für die herrschenden Klassen ein ihnen zugute kommender und ihr von der groben, eigentlich physisch produktiven Arbeit befreites Herrendasein er­ möglichender Mehrwert herausspringt. Das ist das allgemeine Prinzip aller soziologischen Strukturen dieser Periode. Erst innerhalb seiner bilden sich dann die individuellen Konkretionen, insoferne die Herauswirtschaftung des Mehrwertes je nach den allgemeinen Umständen und dem Stande der Technik verschiedener Art sein kann. Sie formt sich in Gestalt von Skla­ venarbeit oder von freier Arbeit, unter Ueberwiegen des Gebrauchs- oder des Tauschwertes jeweils ganz verschieden und hat dann auch jedesmal ganz verschiedene ideologische und rechtliche Korrelate. An diesem Faden lassen sich die verschiedenen Stufen der Entwicklung als jedesmal neue einmalige Formationen aufreihen, und durch ihn ist anderseits doch der immer gleiche Grundsatz der Analyse jeder einzelnen gegeben. Es ist im Grunde eine stets die Einheitlichkeit eines Kulturganzen von diesen Ge­ sichtspunkten aus herausfühlende Intuition, deren Allgemeines dann nach Möglichkeit dialektisch im einzelnen expliziert wird, um auf diese Weise das jeweilige Ganze aus seinen konkreten Einzelzügen zu konstruieren. I Marx hat selbstverständlich nicht alle vorhandenen und vorhanden gewesenen Sozialgebilde derart analysieren können. Das wäre bei der Unüberseh­ barkeit der individuellen Bildungen und dem Stande der Quellen so zwecklos, wie es unmöglich ist. I Es handelte sich vielmehr für ihn darum, den Weg von den unübersehbaren Massen des historisch für uns Bedeutungslosen zu den großen, dauernden und die Gegenwart erfüllenden Bildungen zu finden, also um den Begriff einer auf uns zu aufsteigenden, progressiven Entwicklung. Marx ist wie Hegel und fast alle Modernen von einer solchen ins Unbegrenzte aufsteigenden Entwicklung des Ganzen als Ganzem grundlegend überzeugta und mißt sie nach der Steigerung der Produktionskraft, die immer größeren und organisierteren Bevölkerungsmassen ein aus­ kömmliches Leben und Freiheit für Kulturzwecke ermöglicht; daraus ergibt sich dann das eigentlichste Problem des Fortschrittes, die derart mit Hilfe schärfster Klassenteilung gesteigerte und auf Kosten der ausgebeuteten Klasse entwickelte technische Produktivkraft zu erhalten, aber ihren a

201

In A folgt die Fußnote: S. hierzu meine Anzeige von Barths "Soziologie als Ge­ schichtsphilosophie" im "Weltwirtschaftlichen Archiv", 1 9 1 7.

Vgl. Heinrich Cunow: Religionsgeschichtliche Streifzüge 1-4 (1 91 1 ) .

A 435

B 356

582

A 436 B 357

A 436, B 356

B 357

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Nutzeffekt allen Gesellschaftsgliedern gleichmäßig zugänglich zu machen. In diesem Sinne kommt es auch bei ihm zu dem Gedanken der universalhi­ storischen Entwicklung. Auch in deren Konstruktion folgt er weithina sei­ nem Meister Hege!. Er untersucht nicht, wie kausal-induktiv vergleichende Positivisten die parallelen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklungen einzel­ ner Gruppen, die sich dann nur dadurch unterscheiden, wieweit sie alle typi­ schen Entwicklungen durchlaufen oder schon auf unteren Stufen erlahmen, so daß nur einige Elitevölker zur Herausbildungh der letzten gesetzmäßigen Stufen gelangen. Vielmehr faßt er den Fortschritt als einen solchen der Ge­ samtmenschheit, die sich als Ganzes entwickelt, indem aus der großen und trägen Masse einige führende Völker die Menschheitsaufgabe sozusagen re­ präsentativ ergreifen und ihre Lösung dann dem folgenden welthistorisch führenden Volke übergeben. Es ist das Wandern der Fackel des Menschheitsfortschrittes von einem Führervolk zum andern; für diese I Zeiten denkt Marx wie Hegel völlig aristokratischt8t). Die Menschheitsgeschichte ist I ihm daher nicht ein nach überall gleichen Gesetzen anwachsender und sich vereinigender Strom, sondern eine Fuge, wie bei Goethe, wo jeder neue Führer durch den vorhergehenden dialektisch vorbereitet ist. Auch die Aus­ wahl der führenden Völker ist ähnlich wie bei Hege!. Wie dieser Asiaten, Antike, Mittelalter und moderne Welt unterschied und alles übrige beisei­ te ließ, so sind auch für Marx die welthistorischen Wirtschaftsstufen die asiatische, antike, feudale und schließlich die moderne oder kapitalistische. Allein auch in diesem engeren Kreise war es natürlich nicht möglich, jede dieser Stufen eingehend zu analysieren. Marx hat sich bezüglich der drei ersteren mit gelegentlich eingestreuten, übrigens sehr geistreichen und oft ungeheuer treffenden Bemerkungen begnügt. Was er über die Zuordnung 1 81) Engels und Marx sind dementsprechend auch durchaus keine Pazifisten und kei­ ne Schwärmer für die Gleichberechtigung aller Völker, einerlei welche Kulturhöhe sie haben. Engels, der überhaupt etwas Kavaliermäßiges hat, war ein glänzender Mi­ litärkritiker und Marx hat durchaus im Geiste Hegels die Herrschaft der berufenen großen Völker mit scharfem realpolitischen Blick gewollt. Das wird mit Genugtuung als Uebereinstimmung mit dem Rankeschen Geschichtsdenken festgestellt von H. On­ cken, Preuß. Jahrb. 1 91 4.202 Hier hatten eben Marx und Ranke gemeinsamen ideellen Untergrund I in Hegel. Bei Lensch und Renner kehren diese Einstellungen heute sehr stark wieder, bei Lassalle galt sie nicht bloß für die Vorbereitungszeit, sondern über­ haupt. a

202

A: mithin

b A: Heranbildung

Vgl. Hermann Oncken: Marx und Engels (1 9 1 4) .

4. Die Marxistische Dialektik.

583

der ideologischen Korrelate, besonders der Religionen, dabei bemerkt, ist freilich oft auch im übeln Sinne geistreich und gelegentlich: widerspruchs­ voll hingeworfene Apers:us und sophistische Klügeleien, wie etwa die Erklä­ rung der universalen Menschheitsidee des Christentums aus dem allgemein tauschbaren Charakter der Ware seit Eintritt der antiken Tauschgesellschaft und ähnliches. Aber das ist Nebensache. Das Wichtige ist der große Zug und Gang der Dinge. Die asiatische Wirtschaft veranschaulicht er an der indischen Dorfwirt­ schaft mit ihrem Zusammenfall von Agrikultur und Handwerk und ihrem absolut traditionalistischen Wirtschaftsgeiste, woraus sich die geringe Pro­ duktivität und damit die allgemeine Stagnation erkläre. Die antike Wirtschaft faßt er als Steigerung der Produk I tivität durch die Sklavenwirtschaft, A 437 die eben damit eine bis zum Handels-, Wucher- und Steuerkapitalismus auf­ steigende Wirtschaft gestattet, in den herrschenden Schichten keine eigentlichen Klassenunterschiede, sondern nur den Gegensatz von Gläubigern und Schuldnern kennt und schließlich an dem Versiegen der Sklavenwirtschaft und der Arbeitsscheu der alten Herrenschichten zugrundegeht, d. h. in traditionalistische Naturalwirtschaft sich zurückbildet. Die feudale Wirtschaft ruht auf eben dieser von der Spätantike zunächst übernommenen und mit ihr geteilten Naturalwirtschaft auf, I bildet aber aus ihr durch Um- B 358 wandlung der freien Bauern in Hörige und Leibeigene die Großgrundwirtschaft aus, die die Produktivität in der unter diesen Verhältnissen allein möglichen Weise steigert, und neben der sich die auf der freien Arbeit beruhende gewerbliche Stadt als zweites Mittel der Produktions steigerung allmählich verselbständigt. Aus der Zersetzung der feudalen Wirtschaft, aus der Masse der durch Bauernlegen proletarisierten Bauern und der Masse der durch Sprengung der Zünfte von ihren Arbeitsmitteln getrennten und zu bloßen Verkäufern ihrer Arbeitskraft werdenden Handwerker, aus der diese Massen in organisierter Arbeit ausbeutenden Akkumulation von Kapital, das seinerseits teils aus Grundrente, teils aus Handelsgewinn stammt: aus alle dem geht die moderne Periode, der moderne gewerbliche Kapitalismus hervor, die Periode also, wo die Besitzer der Produktionsmittel und der freie Lohnarbeiter den bestimmenden Menschentypus bilden. Damit ergibt sich eine märchenhafte bProduktions- und Bevölkerungssteigerungh, eine totale Umwandlung der ganzen Kultur, die grundsätzliche, nicht mehr auf Ei­ genproduktion und Kundenproduktion beruhende Tauschgesellschaft, die auf den abstrakten Warencharakter und die Massenware, sowie auf Technik und Maschine aufgebaute moderne Zivilisation, deren Fortschritte und Leiden allen bekannt sind, wenn auch ihre letzten Gründe den meisten vera

A: erklärt

b-b A: Produktionssteigerung

584

A 438

B 359

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

borgen bleiben.203 Der Analyse dieser Gesellschaft, ihrer führenden Völker, ihrer Produktion und ihres Geistes hat Marx allein die volle Kraft gewid­ met, doch auch hier, ohne über den mächtigen Torso eines gigantischen Planes hinauszukommen. Dieses sein Bild I der modernen Welt ist viel dar­ gestellt und viel kritisiert wordena, so daß hier ein Eingehen auf die unend­ lich schwierigen und verwickelten Dinge nicht nötig ist. Es kommt ja auch nur auf die Stellung dieses Ganzen in der allgemeinen Entwicklung und auf die Methode der Zusammenschau an, die hier im Grundsatz die gleiche ist wie überall und die Lassalle in einem Briefe an Marx geradezu mit einem Kapitel der Phänomenologie, Hegels berüchtigt schwierigem und abstrak­ tem Jugendwerke, verglich.204 Das "Kapital" ist eine äußerst erleuchtende und scharfsinnige Analyse der modernen Kultur von dem ökonomischen Zentrum ihrer spezifischen Arbeits- und Produktionsverfassung aus, keine allgemeine nationalökonomische Theorie: das ist die Hauptsache. I Es schil­ dert, freilich unter starker Betonung der negativen Seiten, den Aufschwung, den Fortschritt, die Leiden und das kommende Ende der modernen Kultur. Dieses Ende aber ist kein Untergang der Kultur überhaupt, sondern der Be­ ginn und die Voraussetzung der neuen Menschheitsepoche, die Fortführung der im Kapitalismus erworbenen Produktivität unter gleicher Beteiligung al­ ler an ihren Früchten. Der dazu führende Umschlag wird die unvermeid­ liche Weltrevolution sein, von der Marx nicht zweifelt, daß sie, unhaltbare und überkünstliche Verhältnisse beseitigend, den wahren Fortschritt und das wahre Glück aller bedeuten wirdb• In Afolgt die Fußnote: Sehr interessante Bemerkungen bei Plenge, Die Revolutio­ merung der Revolutionäre, 1 9 1 8, S. 53-88. b A: wird, darin der Widerpart Nietzsches, der, mit ähnlicher konstruktiver Kraft ausgestattet, in all diesen Dingen die beginnende Selbstauflösung der abendlän­ dischen Kultur ohne Wiederaufstieg und Rettung zu erkennen meinte a

203 204

Vgl. Kar! Marx: Das Kapital, 3 Bände (1 867-1 894) . Gustav Mayer (Hg.) : Der Briefwechsel zwischen Lassalle und Marx (1 922). Vgl. den Brief Lassalles an Marx vom 1 1 . September 1 860, S. 327 f.: "Schließlich muß ich Dir mit der Frage endlich auf den Pelz gehen, wann denn endlich die Fort­ setzung Deines nationalökonomischen Werkes erscheinen wird. [. . .] Ich habe Dir meine Meinung darüber noch mcht entwickelt, und werde dies auch erst dann aus­ führlicher tun, wenn es weiter vollendet sein wird. Nur das will ich Dir hier in Kür­ ze sagen, daß es mich wahrhaft zur Bewunderung hingerissen hat. In bezug auf seine Schreib- und Darstellungsweise hat es natürlich den Fehler seiner Vorzüge. Es ist durchgängig gehalten wie die schönsten Kapitel der HegeIschen Phänomenologie. Aber es ist deswegen auch für das große gebildete Publikum fast unverständlich schwer."

4. Die Marxistische Dialektik.

585

Innerhalb der sozialistischen Parteiliteratur haben diese universalhistori­ schen Bilder freilich wenig Wirkung gehabt. Sie ist wesentlich mit der Apolo­ getik und Verbesserung der Analyse des Kapitalismus beschäftigt, und auch das wesentlich unter dem Gesichtspunkt ihres Zusammenhangs mit den revolutionär-idealen3 Forderungen sowie mit dem Problem des Uebergangs aus dem Kapitalismus in die Zukunftsgesellschaft. Dabei werden nach und nach, wie bereits anfangs bemerkt, die philosophischen Fundamente ausge­ wechseltb. So ist es in historischer Hinsicht nur zu wenigen ernsthaften Lei­ stungen gekommen. Die "Geschich­ te des Sozialismus in Einzeldarstellungen"205, die bei der zweiten Auflage in selbständige Werke aufgelöst wurde, enthält viel lehrreiche Arbeiten, na­ mentlich von Bernstein, hat aber doch ein enges Thema und ist nicht ei­ gentlich historisch gedacht. Das interessanteste Problem der Marxistischen Geschichtsphilosophie, die Unterbau-Ueberbaulehre, ist fast nur als Kampf­ mittel gegen die Religion gebraucht worden, wie Kautskys gegen alles Re­ ligiöse völlig verständnislosen Untersuchungen zur Entstehung des Chri­ stentums zeigen.206 Die prähistorisch-ethnologischen Grundlagen hat der: Ethnologe H. Cunow im Sinne der fortschreitenden Wissenschaft revidiert und dabei auch der Religionsgeschichte Beachtung geschenkt. Aber diese besteht lediglich in der Einführung der Spencerschen Geistertheorie, der Verwandlung der Religion in Reflexe der Gesellschaftsbildung, wobei z. B. die Propheten Israels ganz ausfallen und der israelitische I Monotheismus einfach zum Spiegelbild der Davidischen Reichsbildung wird; die Empor­ hebung von Naturgottheiten über den Geister- und Ahnenglauben erfolgt in dem Maße, als Naturkräfte für den ökonomischen Prozeß wichtig wer-

a A: revolutionäridealen b A: ausgewechselt; die Kombq nation von Jung-Hegelschem materialistischem Radikalismus und französischer Klassenkampftheorie wird dem Kantischen Dualismus einer kausalen Entwicklung der Geschichte und eines Sozialideals der rationalen Freiheit angenähert, die Dialektik vielfach als nur zeitgeschichtlich bedingte Scholastik preisgegeben und gar nicht mehr verstanden c In Afolgt: treffliche

205 206

Vgl. Eduard Bernstein, u. a.: Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen (1 895-1 898). Drei Bände erschienen. Die Reihe blieb unvollständig. Vgl. Karl Kautsky: Der Ursprung des Christentums (1 908) .

B 360

A 439

586 A 440

A 439, B 360

A 440 A 440, B 360

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

den usw182). Das Verhältnis der Kunst zum Unterbau hat Hausen I stein in einem sehr interessanten, aber auch sehr subjektiven Buch behandelt;207 an ein so charakteristisches Problem wie etwa das Verhältnis der Musik zum "Unterbau", an welchem als einem äußersten Fall die Frage hätte sehr lehr­ reich und entscheidend geklärt werden können, hat niemand183) gedacht. Vollends über die Stellung der Philosophie in diesem Verhältnis ist kein ernsthaftes Buch erschienen; die Arbeit von Eleutheropulos ist kein sol­ ches.208 Die sozialistische Literatur ist gewiß nicht ohne Geist, aber jeden-

1 82) S. "Theologische oder ethnologische Religionsgeschichte?", Ergänzungshefte zur "Neuen Zeit", Nr. 8, 1 909/10. Hier der für all diese Wissenschaft charakteristische Satz S. 76: "Wenn209 die Arbeiterschaft eingeführt werden soll in das schwierige Gebiet der Religionsgeschichte, dann darf man verlangen210, daß diese Einführung streng auf der Ba­ sis der materialistischen Geschichtsauffassung erfolgt, nicht aber in der Weise, daß die orthodox-dogmatische Theologie ausgetrieben wird durch die freisinnig-spekulative Theologie"; als das letztere erscheint aber jede Lehre, die der Religion einen selbständi­ gen geistigen Gehalt und irgendwie eine Initiative in der geschichtlichen Entwicklung zuschreibt. Der gleiche Gedanke in desselben Verfassers I "Religionsgeschichtlichen Streifzügen", Feuilleton der Neuen Zeit 1 9 1 0 u. 1 9 1 1 . 1 83) Einen einzelnen Punkt aus diesem Problem hat Bücher behandelt in seinem bekannten Buche "Arbeit und Rhythmus"4, 1 909. Hier zeigt sich in der Tat ein en­ ger Zusammenhang, der nun freilich nicht ökonomisch begründet ist, sondern umge­ kehrt in einem noch nicht ökonomischen Charakter der Arbeit! Bei der späteren Dif­ ferenzierung zeigt sich dann die Heterogenität der in dem ursprünglichen, dem Spiel verwandten Charakter der Arbeit vereinigten Geisteskräfte; von dem ökonomischen Monismus bleibt nichts übrig.b

a

A: irgendwo

b In A folgt Interessant ist es übrigens, damit zu vergleichen, wie Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1 9 1 8, Mathematik, Physik, Musik, Kunst und Re­ ligion einer Epoche in innere Verbindung bringt, die den "Geist" sehr selbstän­ dig den materiellen Lebensbedingungen gegenüberstellt und die Gesellschafts­ formen schon selbst vom "Geiste" mitbestimmt sein läßt.

207 208 209 210

Vgl. Wilhelm Hausenstein: Die Kunst und die Gesellschaft (1 9 1 6) . Abroteles Eleutheropulos: Wirtschaft und Philosophie oder Die Philosophie als die Lebensauffassung der jedesmaligen Gesellschaft, 2 Bände (1 898/1 901). Bei Cunow heißt es "aber wenn" (Kleinschreibung nach Strichpunkt). Bei Cunow nicht hervorgehoben.

4. Die Marxistische Dialektik.

587

falls ohne den historischen Geist des Meisters, und ist dogmatisch überall gebunden 1 85) S. Hammacher S. 412 ff., auch weiter oben.

B 361

A 441

B 360

A 441 , B 361

588

B 362

A 442

B 363

A 442, B 363

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

te von Beloch, an die Studien über antiken Sozialismus und Kommunismus von Pöhlmann, auch an den unverkennbaren Marxistischen Einschlag in Delbrücks großer I Kriegsgeschichte sei nur nebenbei erinnert, weil sie wie viele andere Arbeiten nur mehr nebenher von dieser philosophischen Me­ thode berührt sind. Der Dialektik am nächsten steht Tifnnies, selbst Nationalökonom und Philosoph zugleich. Als Philosoph steht er der Marburger Schule nahe und hat wie diese die monistische Neigung zu einer dialektischen Ueberleitung aus dem Geiste in die Materie und aus der Materie in den Geist, womit sich die Ablehnung von Hegels eigentlicher Metaphysik und vor allem seiner konservativen ethisch­ politischen Zielsetzung wohl verträgt; vor allem aber ist dieses abstrakte Gedankengefüge bei ihm erfüllt mit einer überaus lebendigen und reichen historisch-psychologischen Anschauungsfülle. So denkt er im Sinne der Dialektik grundlegend an den I gesamten Lebensprozeß der Geschichte, wenn er die Urformen der Geschichte in der "Gemeinschaft" und dem "Wesenwille n", dem Ueberwiegen des Instinktiv-Gemeinschaftlichen und Organischen über alles bewußte und zweckhafte Verhalten sieht, darauf eine Periode der "Gesellschaft" oder des "Willkürwillens", der bewußten und berechneten Gestaltung aller Gruppeneinheit und aller Kultur mit dem Gipfel im modernen Kapitalismus folgen läßt und von hier aus den Ausblick auf eine Synthese von Wesenwillen und Willkürwillen im Sozialismus eröffnet. Entscheidend ist ihm für die genauere Konstruktion die Einsicht, "daß nicht in erster Linie politische Verhältnisse, noch weniger geistige Strömungen - wissenschaftliche, künstlerische, ethische - die treibenden Faktoren der sozialen Bewegungen sind, so stark sie auch dazu mitwirken, sondern die groben materiellen Bedürfnisse, Empfindungen und Gefühle des wirtschaftlichen, ,täglichen' Lebens, die sich je nach den sozialen Lebensbedingungen, also in verschiedenen Schichten und Klassen verschieden, gestalten: daß diese relativ unabhängige Variable auch auf die politischen Verhältnisse und die geistigen Strömungen bestimmend einwirkt, durch deren Rückwirkungen sie fortwährend gefördert, aber auch gehemmt, immer in bedeutsamer Weise modifiziert wird." Das dürfte wohl die treffendste Formulierung der neuen Einsichten sein, die sich zum großen Teil gerade von Tönnies Buche über "Gemeinschaft I und Gesellschaft" seit 1 887 immer breiter durchgesetzt haben186). Näher bei Hegel und Marx, aber ferner von der Dialektik steht Plen­ ge. Er erkennt die letztere nur für einzelne Strecken und Zusammenhän­ ge der Wirklichkeit an, nicht als Weltgesetz, vielmehr sucht er den allge1 86) Erst 1 9 1 2 konnte eine zweite Auflage erscheinen; hier

4. Die Marxistische Dialektik.

589

meinen Zusammenhängen mehr durch eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen Kulturformen und Ideenentwicklungen in der I Weise der vergleichenden Biologie nahezukommen, ebenso wie er die Ideologien des ethisch-sozialen Ideals nicht aus der geschichtlichen Entwicklung durch ökonomische Ableitung dialektisch herausdeduziert, sondern für freie per­ sönliche Bildungen in niemals restlos definierbarem Zusammenhang mit der materiellen Entwicklung erklärt. Aber seine Bilder von den historischen Zusammenhängen, die er bei derartiger Vergleichung gewinnt und neben­ einander stellt, sind nicht mit der psychologistisch-kausalen Methode ge­ schaffen, sondern sind "Lebensbegriffe" , geschaute Totalitäten und dyna­ mische Werdezusammenhänge im Sinne einer intellektualen Anschauung. Er schlägt daher auch einen neuen Namen für dieses Verfahren vor: die makroskopische Methode. In dem Namen steckt der Gegensatz gegen die mikroskopische Kausalitätslehre des "Reflexionsstandpunktes"; es ist also im Grunde doch der alte Hegelsche Gegensatz, den auch Marx beibehalten hat; indem er ihn einer "orthoskopischen" Behandlung entgegensetzt, löst er die "statische" Betrachtung in eine dynamische auf. Daß in diesen ma­ kroskopisch geschauten Totalitäten dann gleichfalls die ökonomisch-soziale s. S. X f. 211 Außerdem hat Tönnies Hobbes, den Vater der naturrechtlich-rational ge­ dachten Gesellschaftslehre historisch behandelt212 und seine methodischen Begriffe in zahlreichen Abhandlungen auseinandergesetzt. aSein Hauptbuch steht in der Mitte zwi­ schen einem teleologischen Schema der Universalgeschichte und einer vergleichenden Soziologie. Daher stammen auch manche Schwankungen. Neuestens gibt es von ihm eine "Kritik der öffentlichen Meinung", 1 922a. a-a

211

212

A: S. hierzu meinen Aufsatz "Konservativ und Liberal" in "Christliche Welt", 1917

Vgl. die zweite Auflage von Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (1 9 1 2), Vorrede, S. X f.: "Ferner aber ist die Einsicht ein notwendiges Element des ,wissenschaftlichen Sozialismus', daß nicht in erster Linie politische Verhältnisse, noch weniger geistige Strömungen - wissenschaftliche, künstlerische, ethische die treibenden Faktoren der sozialen Bewegungen sind, so stark sie auch dazu mit­ wirken; sondern die groben materiellen Bedürfnisse, Empfindungen und Gefühle des wirtschaftlichen, ,täglichen' Lebens, die sich je nach den sozialen Lebensbe­ dingungen, also in verschiedenen Schichten oder Klassen verschieden gestalten; daß diese relativ unabhängige Variable auch auf die politischen Verhältnisse und die geistigen Strömungen bestimmend einwirkt, durch deren Rückwirkungen sie selber fortwährend gefördert, aber auch gehemmt, immer in bedeutsamer Weise modifiziert wird." Vgl. v. a. Ferdinand Tönnies: Thomas Hobbes (1 896; 1 9 1 0; 1 9 1 2) .

A 443

590

B 364

A 443, B 364

A 444

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Grundlage die relative Invariable ist, aber allerdings in den verwickeltsten, jedesmal von Fall zu Fall erst aufzuhellenden Beziehungen zu den geistigen Kräften steht, das gehört auch bei ihm zu den entscheidenden Grundzü­ gen der Methode, von der aus er bis jetzt eine Fülle der anregendsten und scharfsinnigsten Einzelbeobachtungen, aber noch I kein großes zusammen­ fassendes Werk gegeben hat. Dafür tritt bei ihm 3andererseits die Richtung auf die Zukunftsgestaltung und die Ethika stärker hervor, als bei irgend einem anderen. Vorwiegend dem Programm und der wissenschaftlichen Prophe­ tie sich widmend, empfindet er sich in dieser Hinsicht als Nachfolger und idealistischen Ueberwinder von Karl Marx 1 8 7) . I 1 87) Außer den schon genannten Arbeiten: Gründung und Geschichte des Cridit mobi­ für, 1 903; bes. Die Zukunft in Amerika, 1 9 1 2; dann: 1 789 und 1 9 1 4, die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, 1 9 1 5. Dazu kommt die Grundlegung seiner eigentlichen Theorie, begonnen in Brauns Annalen Bd. IV: "Wirtschaftsstufen und Wirtschaftsent l wicklung", auch selbständig Berlin 1 9 1 6, und "Grundlegung der vergleichenden Wirtschaftstheorie" Bd. V, selbständig Berlin 1 9 1 7; die dabei vorausgesetzteBiologie 2. Die historischen: Röm. Agrargesch. 1 89 1 ; Agrargesch. im Handwörterb. d. Staatswissensch.; Die protestant. Ethik und der Geist des Kapitalismus, Archiv XX (lI), XXI (lII) , I XXX (XII), XXXI (XIII); Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, ebd. 41-44. - Ich darf bei dieser Gelegenheit auch auf mein Buch "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen", 1 9 1 2, hinweisen, dasa der großen wesentlich ideologisch-dogmatischen Darstellung des Chri­ stentums, die Harnack gegeben hat, eine wesentlich bsoziologisch-realistisch-ethische, zur Seite stellth . In A folgt: in der Hauptsache einer von Rickert stark beeinflußten Methode der intellektualen Anschauung und Dynamik bei gleichzeitig möglichster Material­ sättigung folgt und die Marxistische Fragestellung überall in Anwendung bringt, allerdings mit dem Ergebnis der grundsätzlichen Selbständigkeit des Religiösen neben dem Ö konomisch-Sozialen bei sehr starker Wechselwirkung. Ich versu­ che damit nach b-b A: soziologisch-realistisch-ethische zu begründen a

219

Max Weber: U eber einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1 91 3), S. 254: "Immer muß vielmehr das ,Verstehen' des Zusammenhangs noch mit den sonst gewöhnlichen Methoden kausaler Zurechnung, so weit möglich, kontrolliert wer­ den, ehe eine noch so evidente Deutung zur gültigen ,verständlichen Erklärung' wird." S. 26 1 : "Wogegen sich die Soziologie aber auflehnen würde, wäre die An­ nahme: daß ,Verstehen' und kausales ,Erklären' keine Beziehung zueinander hät­ ten, so richtig es ist, daß sie durchaus am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit beginnen, insbesondere die statistische Häufigkeit eines Sichver­ haltens dieses um keine Spur sinnhaft ,verständlicher' macht und optimale ,Ver-

4. Die Marxistische Dialektik.

597

Wenn derart einiget9t) aus der Volkswirtschaftslehre herkommende Denker und Forscher das moderne historische Denken I am stärksten angeregt und fortgebildet haben - und das wird man von den Genannten sagen können -, so danken sie das nicht der Nationalökonomie als solcher und auch nicht der Einfügung der Rücksicht auf das Oekonomische, die ohnedies längst in fortwährendem Steigen begriffen war, sondern eben jener engen Verbindung des Oekonomischen und Philosophischen, die von Marx unter­ nommen worden ist, und die bei Marx selbst aus der Verbindung des radikalen Junghegelianismus mit der französischen Klassen I historie ursprünglich hervorgegangen ist, um dann erst nachträglich die eigentliche Wirtschaftslehre in sich aufzunehmen. Dabei ist dann die anHingliche und eigentlicha zusammenhaltende logische Idee der Dialektik 1 91) Sie sind natürlich auch unter den Nationalökonomen eine Ausnahme und in Wahrheit bSoziologen, oder - im älteren Stile, _b Geschichts- und Kulturphilosophen. cOekonomische Kenntnisse geben heute ein gutes Sprungbrett für solches Denken'. Wenn ich Schmoller in diesem Zusammenhange nicht nenne, so soll das keine Unterschätzung seiner gewaltigen Leistung sein; allein diese ist in ihrem soziologisch­ geschichtsphilosophischen Bestandteil sehr eklektisch und folgt hier mehr Spencer als Marx und Hegel; auch interessiert ihn das Ueberbauproblem wenig, er denkt vielmehr an eine Konkurrenz verschiedener psychologischer Triebe und deren Ausgleichung, wenn auch die technisch-ökonomischen Grundformen "in gewissen großen220 Umrissen der Struktur" stets sich als bedingend zeigen, Grundriß 1 901 , I, 227. Auch ein so feiner kulturphilosophischer Kopf wie Heinrich Dietzel gehört nicht hierher, weil er wesentlich dogmatisch die Begriffe sozi ! aler Formen und das von ihnen gedeckte empirische Material genau bestimmt, aber gerade die entwicklungsgeschichtlichen Probleme nicht liebt; s. seinen Rodbertus und die "Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und Kom­ munismus" in Zeitschr. f. Gesch. u. Lit. der Staatswiss. I und V, die äußerst klärend wirken.

a c-c

220

A: eigentliche J:r.b A: Soziologen oder, im älteren Stile, A: Das Wichtige dabei ist nur, daß ökonomische Kenntnisse heute ein gutes Sprungbrett für solches Denken geben. Immerhin gibt es außer ihnen noch an­ dere, die ich nur nicht näher kenne

ständlichkeit' als solche garnichts für die Häufigkeit besagt, bei absoluter subjekti­ ver Zweckrationalität sogar meist gegen sie spricht." Bei Gustav Schmoller: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1 . (1 901), S. 227, heißt es: "groben".

A 450 B 370

A 451

A 450, B 369

B 370

598

Kapitel I I I . Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

allerdings zertrümmert worden. aDie wissenschaftlichen Elemente des Marxismus sind in die Soziologie überge­ gangen und haben dieser vor allem das Unterbau-Ueberbau-Problem als wichtigste Aufgabe eingefügt. Man bezeichnet dieses Problem infolgedes­ sen heute geradezu als das der KultursoziologieI91a). Das universalgeschicht­ liche Moment dagegen spielt nur in der praktisch-revolutionären Propagan­ da heute noch eine Rolle als Lehre von der Welterlösung durch Uebergang von der Herrschaft der Bourgeoisie zu der des Proletariats, bis der damit ein­ tretende Rückgang der Produktion und die Dezimierung der vom Kapitalis­ mus aus dem Boden gestampften Bevölkerungsmassen auch diese Lehre wi­ derlegt haben wird. Das Schicksal des echten Hegelianismus hat sich hier im Grunde wiederholt. Die große Idee der Dialektik vermag die Historie unge­ heuer zu beleben und die Methode zu verfeinern und zu vertiefen. Aber ihre monistische Metaphysizierung der Historie ist nicht zu behaupten, weder in der spiritualistischen noch in der ökonomischen Fassung. Ihre universalhi­ storische Leistung, die bereits von der Organologie abgeschwächt worden B 370

1 9 1 a) Das ist die Bedeutung der Abh. von Alfred Weber, Prinzipielles zur Kultursozio­ logie, Archiv f. Sozialwiss. 47, 1 920. a-a

A: Weder ihre einseitig spiritualistische, noch ihre ebenso einseitige ökono­ misch-materialistische Fassung hat sich behauptet. Ihr ganzer Monismus und die diesem Monismus zugrunde liegende sei es spinozistische sei es materiali­ stische Metaphysik ist zerbrochen, das Verhältnis des geschichtlichen Gesche­ hens zum Weltgrund und zu absoluten Menschheitszielen verdunkelt. Die trei­ benden Kräfte der Geschichte erscheinen als mannigfache, aufeinander nicht re­ duzierbare, aus verborgenem Grunde auftauchende und vorbereitete Strebun­ gen, deren innere Einheit jedesmal eine nur funktionelle und keine substanziel­ le ist und deren Bewegung nicht als geradlinig auf ein absolutes Ziel gerichteter Fortschritt betrachtet werden kann, sondern nur auf großen Jahrtausendstrecken einzelne Sinngebilde und Seinszusammenhänge von relativem Wert in beständi­ gem Kampf mit brutalen und stumpfen niederziehenden Gewalten verwirklicht. Aber geblieben ist der eigentliche Kerngedanke der Dialektik, die intellektuale Anschauung von Totalitäten und Werdezusammenhängen, die Individualität al­ ler großen und kleinen historischen Gebilde, in der sich ein Kosmisch-Allgemei­ nes konkretisiert, die Kontinuierlichkeit und Dynamik der Entwicklung, der die Psychologie und Kausalität allein nicht gewachsen sind, die innere Verwebung des historischen Werdens mit einem Streben nach letztem Sinn und Gehalt. Das sind die Dinge, die, wie nunmehr klar sein wird, nicht nur dem Instinkt und der Begabung des Historikers allein überlassen bleiben können, wenn auch sein in­ tuitives Genie - ein solches einmal vorausgesetzt - hierbei die Wege bahnt. Sie verlangen nach philosophischer Klärung und Begründung. [Ende des Aufsatzes: Über den Begriff einer histonschen Dialektik. 3. Der Marxismus]

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

599

ist, ist vollends zur Soziologie, freilich zu I einer auf nicht-kausale und nichtpsychologistische Methoden aufgebauten Soziologie, geworden. Solche So­ ziologie ist ein sehr bedeutendes Hilfsmittel aller Geschichte und eine be­ ständige Offenhaltung des vergleichenden Blickes auf die Gesamtfülle des Historischen, aber selber keine Geschichte, auch keine Universalgeschichte. Das Wesen der letzteren bedarf neuer und selbständiger Grundlegungen.a

as.

B 371

Die historische Dynamik des Positivismus.a

Der Marxismus bedeutete einen außerordentlich wirksamenb Vorstoß des historischen Denkens in die konkrete Wirklichkeir:; er erschloß A: Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus [Überschrift] I Jede religionsphilosophische und ethische Untersuchung führt unter heutigen Verhältnissen auf den Begriff einer universalen Entwicklungsge­ schichte der Menschheit, der Begriff einer solchen Universalgeschichte auf den eines Maßstabes zur Beurteilung der Entwicklungshöhe und des in ihr enthaltenen Wertes, der Begriff eines solchen Maßstabes aber, der nur aus dem Wesen der Entwicklung selbst hergeleitet werden kann, auf den methodisch-abstrakten Begriff der Entwicklung selbst, in dem Sein und Bewegung, Notwendigkeit und Freiheit, ursächliche Reihe und Zweck, allgemeine Tendenz und Individuum eng miteinander verknüpft sind. Es ist der Begriff einer spezifisch historischen Dynamik mit ihrer beständigen Erzeugung und Verschmelzung der Gegensätze, ihrem immer flüssigen Ineinander aller Einzelheiten und ihrem untrennbaren Durcheinanderspielen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieser Begriff erweist sich auch für den empirischen Historiker als einer seiner wichtigsten Zentralbegriffe, für den er freilich zunächst nur seinen "historischen Sinn" und seine intuitive Begabung zur Verfügung hat. [Absatz] Geht man der Erzeugung dieses Begriffes der Entwicklung und Dynamik des Historischen nach, so stößt man natürlich in erster Linie auf Hegel und die Vorgänger seiner Denkweise. Hier ist dieser Begriff der Dynamik als "Dialektik" logisch und metaphysisch rationalisiert und in einen scharfen Gegensatz zu der Kausalitätslogik des bloßen "Reflexionsstandpunktes" gestellt. Alles Nähere muß hier vorausgesetzt werden. Nach dem Zusammenbruch des HegeIschen Systems blieb die I Dialektik herrsehend in unzähligen umgebogenen, unbewußten und halbbewußten Gedanken­ gängen bis heute, vor allem aber wurde sie bedeutungsvoll fortgesetzt und dem modernen Realismus angepaßt durch den Marxismus!). [Absatz] b A: wirksamen, auf scharfsinnige Theorien gestützten c A: Wirklichkeit, in eine antispiritualistische und antiid eologische Auffassung der Geschichte

A1 A3

1) Die hier angedeuteten Gedanken habe ich näher ausgeführt in "Die Bedeutung der

A4

a-a

A4

600

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

insbesondere im weitesten Umfang ihre Abhängigkeit von den technischen und wirtschaftlichen Naturgrundlagen. Aehnliches hatten bereits Voltaire und Montesquieu samt ihren Nachfolgern, dann Möser und Heeren, schließlich auch einzelne Historiker der Romantika auch ihrerseits schon unternommen, aber ohne die umfassende Grundsätzlichkeit, die scharfe Analyse sozialökonomischer Tatsachen und Begriffe und vor allem ohne die synthetischen und genetischen Mittel der dialektischen Methode. Dieseb blieb im Marxismus der Ausdruck eines dynamischen Denkens, das Kollektiv-Einheiten und Entwicklungsübergänge erkenntnismäßig zu fassen und in der inneren Einheit und Lebendigkeit zugleich zu erhalten wußte. Eben deshalb hat der Marxismus das abstrakte, unvermittelte, mechanistische oder rein empirisch-induktive Denken der modernen naturwissenschaftlichen Methode oder der Kausalität grundsätzlich I und bewußt immer abgelehnt. Darin blieben Marx und Engels mit Hegel immer einig, von Lassalle gar nicht zu reden angesehen wissen will und dar­ an alle Folgerungen aus dem spezifisch deutschen politischen Denken knüpft, Gesch. a

225

226

In A folgt Immerhin scheint mir Dilthey den Gegensatz nicht scharf genug her­ vorzuheben und auch den gemeinsamen Ausgangspunkt der westlichen und deutschen Theorien bei Voltaire nicht scharf genug als solchen zu erkennen.

Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1 821 ; 1 833), S. 246-254, §§ 1 82-1 88; Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1 789 bis auf unsere Tage, Band 1 (1 850; 1 921), S. 40: "Auch der Organismus der Gesellschaft geht aus dem Bedürfnis der einzelnen Per­ sönlichkeit hervor, und auch sie dient ihrer Bestimmung, der vollen und harmo­ nischen persönlichen Entwickelung. Allein während der Staat für diesen Zweck die einzelnen zur persönlichen Einheit zusammenfaßt, ordnet die Gesellschaft sie als einzelne dem einzelnen unter. Während daher der Staat die Erreichung der menschlichen Bestimmung durch die Einheit will, setzt die Gesellschaft dieselben durch den einzelnen. In der Gesellschaft ist es daher das Verhältnis des einzelnen if/m anderen einzelnen, das die Grundlage aller Entwickelung bildet." Die hier zitier­ te Ausgabe wurde von Troeltschs Schüler Gottfried Salomon herausgegeben. Der korrekte Titel der Abhandlung lautet: "Die deutsche Idee von der Freiheit" (1 9 1 6) -+ KGA 1 2.

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

607

heit ist I erst eine Folge der zahllosen Verwebungen und Verwicklungen. Die staatliche Ordnung ist nur eine unter den Wirkungen dieser Verwebungen neben anderen und keineswegs die wichtigste, ja von den zufälligen und jeweiligen Interessen, Erwerbsverhältnissen und Gesamdagen der Individuen abhängig. Der historische Gegen I stand muß also in erster Linie als GeseIlschaft verstanden werden und kann überhaupt nur als solche naturwis­ senschaftlich zerlegt und wieder aufgebaut werden, während jene Hegelsche Lehre entweder zur Staats mystik oder zur juristischen Dogmatik führt. So erscheint also hier der zentrale Gegenstand ausschließlich als Gesellschaft und ist erst als solche, wenn die scheinbare politische und juristische "Entität" oder "qualitas occulta" beseitigt ist, ein Objekt der Wissenschaft, während der Staat zu einer der wechselnden Formungen der Gesellschaft wird und darin sein Wesen hat. Insofern wird die naturalistische Theorie geradezu als soziologische gegenüber der politischen, staatsmystischen, übergeistigen bezeichnet. Nur mit dem Gesellschafts-, nicht mit dem Staatsbegriffe ist die ganze kausal aufbauende und von den Einzelelementen her erklä­ rende Methode verträglich; und, wenn auch das eigentliche Problem der Gesellschaft in dem Rätsel ihrer geistigen und organischen Einheit liegt, so ist doch eben gerade das das Problem und das Rätsel, nicht die Voraus­ setzung und die Erklärung. Der soziologische, auf eine allgemeine Theorie der Gesellschaft und ihrer Entwicklungsgesetze aufgebaute Begriff der Ge­ schichte wird damit selbstverständlich, und die Gesetze der vergleichenden Soziologie werden zu Gesetzen und Formeln des Geschichtsverlaufes, die aus jenen Gesetzen angeblich resultierende ideale Gesellschaftsform zum ethischen Ziel der Geschichte. Ebenso ist es von hier aus verständlich, wenn sich die neue Lehre mit Vorliebe "kausafgenetisch" nennt, gerade als ob die dialektische Lehre nicht auch den Entwicklungsbegriff in den Mittelpunkt gestellt hätte. Aber beide Entwicklungsbegriffe sind in der Tat so völlig verschieden, daß es zu ver­ stehen ist, wenn die von der naturwissenschaftlichen Kausalitätsidee Aus­ gehenden in der Dialektik überhaupt keine Kausalität, sondern die fortdau­ ernde Mystik des Wunders sehen. Die kausalgenetische Methode setzt die gegenseitige Beziehung kleinster Elemente, kleinster Natur- und Geisteselemente oder kleinster I psychischer Elemente, aufeinander voraus und baut d. Altertums I, 3. Auf!. 1 910. a

A: Grundbegriffe

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A 11

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

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A 13 B 379

alles relativ Dauernde wie alle Veränderungen auf diese kleinsten Wechsel l wirkungen auf. E s gibt keine Identität, die sich darin ausschüttet und in die das Einzelne zurückkehrt und die dadurch erst die Notwendigkeit und den Zusammenhang verbürgt, und ebenso keine logische Rhythmik und Regel dieser Bewegung vom Allgemeinen zum Einzelnen und umge­ kehrt. Es gibt nura die kleinsten, erst der analysierenden Wissenschaft zu­ gänglichen Wirkungen, aus denen sich die relativ zusammenhängenden und dauerhaften Komplexe aufbauen, und die Summierung kleinster Verände­ rungen, durch deren Gesamtwirkung sie sich verändern und gegebenenfalls schließlich in eine andere Dauerform umbilden. Daß das Allgemeine, Kol­ lektive, Ueberindividuelle oder "Ensemble" zunächst im Vordergrunde steht, wird natürlich auch hier als Eigentüm­ lichkeit der Historie anerkannt;b aber gerade das gilt es nur als ersten Ein­ druck und als aufzulösende Schwierigkeit zu betrachten, nach Analogien der Biologie, und, wenn möglich, der Physik zu behandeln. Jene Verände­ rungen haben daher ihr eigentliches und letztes Verhältnis zum Allgemei­ nen nur darin, daß sie sich nach immer wiederkehrenden, durch den Ver­ gleich festzustellenden Regelmäßigkeiten in jedem relativen Dauerkörper vollziehen und daß die Veränderungen sich in Regelmäßigkeiten sum­ mieren, die es ermöglichen, typische Reihenfolgen der relativ durchgreifen­ den und umwandelnden Gesamtveränderungen aufzustellen. Statistik und Vergleichung ersetzen die genaue Analyse und das Experiment, die hier leider nicht möglich sind. So kommt es in Wahrheit zur Entwicklung nur im Sinne der Erklärung des scheinbar Einheitlichen und scheinbar Kata­ strophalen aus der Summe kleinster Wirkungen und zu einer Bildung von bloßen Reihenfolgen der Veränderungen, die sich stets wiederholen und darum eine sichere Gliederung der vergangenen Geschehnisse sowie eine Vorausberechnung der Zukunft gestatten; auch kann man derart unbekann­ te Strecken aus der Analogie des sonstigen Geschehens und seiner Geset­ ze rekonstruieren, allzu auffallende und sonderartige Ueberlieferungen kri­ tisch auf das nach allgemeinen Gesetzen Mögliche zurückführen, ein Ver­ fahren der historischen Kritik, das oft vor den größten Gewalttaten nicht zurückschreckt und I die intuitive Konstruktion des "verstehbaren" individuellen Zusammenhangs I ersetzt. Freilich wenn diese Reihenfolgen zu einem Entwicklungsgange der Gesamtmenschheit auf ein letztes Ziel hin zusammengefaßt werden, so ist, da die Menschheitsentwicklung sich nicht mit anderen vergleichen und nicht als Spezial fall einer allgemeinen Reihen­ bildung behandeln läßt, die Methode in Wahrheit verlassen und in eine

a

In A nicht hervorgehoben.

b A: anerkannt,

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

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mehr oder minder teleologische Geschichtsphilosophie hinübergeirrt. Das bildet dauernd eine der großen Schwierigkeiten der naturalistischen Ge­ schichtstheoretik, hindert sie aber nicht die Teleologie zu verachten und die Notwendigkeit zu preisen. Von einer eigentlichen apriorischen Notwen­ digkeit kann bei alledem allerdings nicht die Rede sein, es sind immer nur empirische Generalisationen. Aber da der Wahn der Freiheit oder spontanen Neueinsetzung schöpferischer Kräfte in diesem Gedankenbild der Dinge überhaupt keine Wurzel und Möglichkeit hat, so können seine Reihen und Regelmäßigkeiten ebensogut als Notwendigkeiten angesprochen werden. Der Determinismus ist nicht metaphysisch konstruiert, aber praktisch selbstverständlich. Ebenso ist die Entstehung wirklich neuer historischer Mächte ausgeschlossen, auch in dem Sinne, daß die Gesamtvernunft nur durch eine neue und höhere Selbstoffenbarung als Neues wirke. Bei der Dialektik konnte innerhalb der Einheit der Gesamtvernunft durch deren Antagonismen und Synthesen lebendige Bewegung und Bildung von Lebendig-Neuem stattfinden. Hier gibt es nur immer neue Kombinationen feststehender Grundelernente, wie das ja auch die Ueberzeugung der eigent­ lichen Naturwissenschaft von der Körperwelt ist, aber diese Kombinationen können so überraschende und von den vorhergehenden abweichende Gestalten und Verwickelungen annehmen, daß sie wie etwas Neues erschei­ nen194). I Und ebenso wie mit dem Begriff des Neuen steht es mit dem nahe verwandten der Individualität. Die dialektische Dynamik wandelte das Ganze der historischen Vernunft jeweils zu einem neuen individuellen Ausdruck, der Wert und Sinn des Ganzen auf eigene Weise I in sich trägt. Die kausale Evolution kennt hier nur Verwickeltheiten unendlicher Einzelheiten, die lediglich praktisch der kausalen Analyse Präzisionsgrenzen setzen, aber an sich das Individuelle als Zusammensetzung begreiflich zu machen 1 94) Man s. die Erschütterung, die John Stuart Mill aus der Einsicht in diese Konsequenz erwächst und wie er sich aus ihr nur durch die Einsicht in die Modifikabilität der objektiv-notwendigen Zusammenhänge und Lagen durch das seine Anpassung vollziehende Subjekt einigermaßen herauszieht, Autobiographie, deutsch Stuttgart 1 874 S. 1 1 5; ähnlich spricht Comte sehr bezeichnend von einer fatalite modifiable, Systeme de politique positive II 427.227

227

Unter "fatalite modifiable" versteht Comte "das veränderbare Schicksal", das im­ mer widersprüchlich sei. Vgl. Auguste Comte: Systeme de politique positive, tome 2d (1 852) , S. 427: "Chez la plupart des penseurs actuels, trop etrangers a cette im­ mense preparation, toute fatalite modifiable reste aussi contradictoire qu'elle de­ vait le sembier".

A 14

B 380

A 1 3, B 379

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A 1 4, B 380

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vermächten 1 95}. I Unter diesen Umständen ist dann selbstverständlich auch die Theorie der großen Individuen als vorzugsweiser Offenbarer und Ge­ schäftsführer der Vernunft ausgeschlossen; sie sind nur das Sichtbarwer­ den der kleinsten Veränderungen bei dem Reifwerden der Umschichtun­ gen. Das Problem "Kollektiv- oder Individualgeschichte?" ist im Grunde 1 95) Hierüber sehr scharf Bourdeau3, L'histoire et les historiens, Paris 1 888 S. 1 65;228 über die Präzisionsgrenzen, die mit der Verwickeltheit der Wissenschaften steigen und bei der Historie am größten sind, s. Comte, Cours VI Les:on 58; sehr charakteristisch ist ein Verehrer Lamprechts in seiner Polemik gegen Kant, K. R. Brotherus, Kants Phi­ losophie der Gesch., Helsingfors 1 905. "Die individualistische Methode kann nun ein­ mal nicht von Begründungen außerhalb der empirischen Wirklichkeit frei sein" d. h. es muß alles Individuelle aus empirischen Einzelheiten nach allgemeinen Gesetzen zu­ sammengesetzt werden können; s. meine Anzeige HZ. 97 S. 567.229 231 232

233

Vgl. oben, S. 445, Anm. 1 06) . Johann Adolf Goldfriedrich: Die historische Ideenlehre in Deutschland (1 902), S. 1 47: "Die Seele, dieser zufällige Ausdruck ersetzt durch einen wissenschaftli­ chen, d. h. der eine innerhalb der relationsphilosophischen Grenzen bleibende Realdefinition enthält, ist also, und ebenso alles als real Gesetzte, Relationskapa­ zität. Nun, wir können die Dinge anordnen in einer Reihenfolge, worin die Re­ lationskapazität von der größten Dürftigkeit, dem Minimum, dem relativen Null­ punkt, anwächst bis zum größten Reichtum, dem Maximum, dem relativ Unendli­ chen. [00'] und die größte Relationskapazität besitzt der soziale, der geschichtliche Mensch." Ebd., S. 1 58: "Die Erklärung hört gerade hier auf deshalb, weil hier der Faden der Synthese, während er, bisher offenbar, jetzt durchs Hirn läuft und uns so eine Strecke lang verborgen ist, hier so viele Verschlingungen so schnell und so fest ein­ geht, daß wir, wenn er nun wieder heraustritt, die Windungen der Verknotungen weder mit dem Auge, noch mit der Hand entwirren können; - während beides beim Herdenmenschen möglich wäre."

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

meinsamkeit, Wechselwirkungsfahigkeit und Unveränderlichkeit der körper­ lichen wie physischen Grundelemente stamme?, verfällt einem vornehmen Agnostizismus oder wird der Philosophie zugewiesen, die meist nur ein an­ derer Name für jenen ist.

Das sind die allgemeinen Grundzüge der naturwissenschaft l lich auf den Kausalitätsbegriff aufgebauten Historie. Aber sie ist in alledem doch sehr verschiedener Einzelgestaltungen fähig und offenbart ihre wirklichen Pro­ bleme wie ihre relative Fruchtbarkeit erst, wenn man diesen sich zuwendet. Sie wird in Wahrheit immer komplizierter und, je mehr sie den wirklich hi­ storischen Problemen gerecht zu werden versucht, um so mehr nimmt sie < 1 95a) S. Andreas Walther, Das Kulturproblem der Gegenwart, 1 92 1 , und P. Rühlmann, Die Kulturpropaganda, 1 920. Die Verbindung des deutschen Idealismus mit dem Ma­ chiavellismus ist dabei ein paradoxes Problem für sich, dem Meinecke nachzugehen begonnen hat s. HZ. 1 23, Die Lehre von den Interessen usw.234 Etwas grob hat bereits Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in 0., 1 921 , das Problem behandelt. - Zum Ganzen s. auch Henri Berr, Synthese histoire, 1 9 1 1 , eine Zusammenfassung der Arbeiten der von ihm geleiteten Revue de Synthese Historique (seit 1 900), und Histoire traditionelle et synthese historique, 1 921 . Er unterscheidet histoire d'erudition, histoire narrative oder histoire historisante u. histoire synthetique.235 Die letztere ist allein wirklich wissenschaftliche Geschichte und trägt die oben erwähnten Züge der Uni­ versalgeschichte. Immerhin ist unter dem Einfluß Bergsons das schöpferische und te­ leologische Moment stärker herausgehoben.> 234 235

Gemeint ist Friedrich Meineckes Aufsatz "Die Lehre von den Interessen der Staa­ ten im Frankreich Richelieus" (1 921) . Vgl. Henri Berr: La synthese en histoire (1 91 1), "Premiere partie: Les deux de­ gres de la synthese: synthese erudite et synthese scientifique", S. 5-42; Henri Berr: L'histoire traditionnelle et la synthese historique (1 921), S. lU-X.

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A 15

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

immer feinere und immer historischer empfundene Berichtigungen in sich auf. Den Ausgangspunkt der Erhebung der Historie zur Naturwissenschaft bildet der Graf aSaint-Simotf'. Seine Werke sind freilich so verworren wie sein Leben. Klar ist nur, daß er von der Geschichtsschreibungb Voltaires und sei­ ner Schule, vor allem Humes, den er für den größten bisherigen Historiker hält, herkommt. Auch Bacon, dessen Programm schon Voltaire auszufüh­ ren meinte, ist für ihn eine große Autorität, wie er denn überhaupt die naturB 384 wissenschaftlich orientierte "anglo-französische" I Wissenschaft für das ein­ zig Mögliche hält und nur eben Geschichte und Ethik auf die Höhe dieser "positiven" Wissenschaft zu bringen bestrebt ist. Voltaire nun hatte, wie be­ reits mehrfach bemerkt, den historischen Gegenstand als Gesellschaft er­ faßt, freilich bei ihm beseelt und vereinheitlicht durch den "Geist" der Kul­ tur, der Nation und der Rasse. Croce ist boshaft genug, diese dem deutschen Idealismus verwandte Denkweise bei dem großen Spötter und Gegner Bos­ suets, mit dem er in Wahrheit doch rivalisiert und dem er darum vielfach folgt, auf eine säkularisierte Einwirkung der christlichen Geistes- und Inner­ lichkeitsidee zurückzuführen. Aber allerdings hat dann bereits der am eng­ lischen Psychologismus wesentlich geschulte Voltaire selbst diesen "Geist" sofort wieder in allerhand psychologisch-pragmatische Einzelkausalitäten unter starker Betonung der materiellen Interessen aufgelöst und war seine aufgeklärte Vernunftgewißheit gänzlich abgeneigt, eine wirkliche Entwick­ lung dieser Geistesformationen aufzusuchen; er sah nur Annäherung oder Abfall gegenüber dem Vernunftideal, dessen erste wirkliche Durchführung ihm seine kirchen feindliche, das Bürgertum emporhebende, reich werdenA 1 6 de und kunstgeschmückte I Gegenwart warl96). In seiner Schule, besonders B 385 bei Hume, ist der psycho I logisierende Pragmatismus und die Erklärung aus materiellen Interessen nur immer stärker betont worden. Dem EntA 1 6, B 384

1 96) S. B. Croce, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie 1 9 1 5 S. 2 1 3 f. Ueber die Steigerung des Pragmatismus bei Hume s. Goldstein, Die empiristische Geschichts­ auffassung David Humes, 1 903. Auf konservative, ja reaktionäre Neigungen bei dem Philosophen Voltaire weist Sakmann hin "v. als Philosoph" in Archiv für syst. Philos. XVIII 1 905, bes. seine Stellung zu den qualitates occultae S. 1 84 ff.236; zu ihnen gehört a-a

236

In A nicht hervorgehoben: St. Simon

b A: Geschichtschreibung

Vgl. Paul Sakmann: Voltaire als Philosoph (1 905), S. 1 84: "Diese wissensch4iliche Skepsis konstatiert ein Dunkel, das nicht gelichtet werden kann vor allem über den erkenntnistheoretischen und den p.rychopf?ysischen Problemen."; S. 1 87: "Besteht doch alles aus okkulten Qualitäten und wissen doch die größten Physiker nichts besseres."

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

61 5

wicklungsgedanken haben sich dabei aber nur einzelne wie Turgot, aus dessen gelegent­ lichen Bemerkungen das berühmte Drei-Stadien-Gesetz stammt,237 und der auch der esprit des nations218• Ueber die Vorgänger in der Entwick­ lungsidee S. die 47. Vorlesung von Comtes Cours de phil. pos. 1 907 Bd. IV. aBei ComteO ist nur Montesquieu mit übrigens sehr starken Einschränkungen und vor allem Turgot­ Condorcet genannt, bei denen jedoch die Dogmatisierung der Aufklärung als Endziel und der Herausfall des Mittelalters aus dem Fortschritt getadelt wird. Den zeitgenössi­ schen Nationalökonomen wird jede Bedeutung für die Entwicklungsidee bestritten als dogmatischen Rationalisten. Von Voltaire selbst ist bei Saint-Simonb und Comte wenig die Rede, doch S. Cours V 367, 382, 390; die Erfassung des historischen Gegenstan­ des als systeme socil�taire ist bereits selbstverständlich geworden und wird ganz im all­ gemeinen auf den Eindruck der Revolution zurückgeführt. Dagegen wird vielfach Fer­ guson, ein Ausläufer der englischen Voltaireschule und Verfasser einer Weltgeschichte I der Kultur,239 genannt. Uebrigens ist auch bei Comte - und hier noch mehr als bei Voltaire - der Zusammenhang mit Bossuets universalgeschichtlicher Idee und seinen Begriffen von geistiger Einheit und teleologischen Gesetzen betont, S. VI 1 66: die "letzte große Inspiration des Katholizismus"240. In der Tat dürften die an Teleologie und geistige Einheit der Dialektik erinnernden Sätze auf Bossuet und die christlich­ aristotelische Ueberlieferung zurückgehen, ganz ähnlich wie das auch bei Leibniz der a-a

237 238

239

240

A: Hier

b A, B: St. Simon

Vgl. Anne-Robert Jacques Turgot: Plan de discours sur l'histoire universelle (1 808). Vgl. Benedetto Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie (1 91 5), S. 21 3. Croce weist hier auf die Ausdrücke hin, "die Voltaire vorzugsweise verwen­ det, und deren Gebrauch er sogar im theologisierenden Bossuet bemerkt: I'esprit des nations, I'esprit du temps". Die erste vollständige italienische Ausgabe der zunächst in Zeitschriften publizierten Aufsätze erschien erst 1 9 1 7 unter dem Titel "Teoria e storia della storiografia". Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society (1 767) , deutsch zuerst als "Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft" (1 768); zweite deutsche Übersetzung unter dem Titel "Abhandlungen über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft" (1 904) . Auguste Comte: Cours de philosophie positive, tome 6e (1 842; 1 908), S. 1 66 f.: "Quant a la participation de notre grand Bossuet a cette pn!occupation initiale de la saine philosophie politique, elle est plus evidente et moins contestee [... ] ; on sent, au reste, qu'elle ne pouvait nattre alors qu'au sein du catholicisme, dont elle con­ stitue la derniere inspiration capitale, puisque l'instinct negatif empechait ailleurs toute juste appreciation quelconque de l'ensemble de l'evolution humaine."

B 385

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B 386

ihm eng verbundene Condorcet, der den Aufstieg des Intellekts vom Aber­ glauben zur positiven Wissenschaft als psychologisches Gesetz des Fort­ schritts bestimmte, genähert.241 Montesquieu schließlich hatte wenigstens den Versuch einer vergleichenden und relativierenden Betrachtung der Völkertotalitäten gemacht und diese dabei sehr eng in I ihren anthropogeogra­ phischen Zusammenhang hineingestellt, woran eine kausale Entwicklungs­ lehre wenigstens anknüpfen konnte.242 Hier, vor allem bei dem von ihm sehr hoch geschätzten Condorcet, setzte der geistvolle Graf Saint-Simon3 ein, ein Herrenmensch der alten Klasse, der das philanthropische Problem der Revolution aufnahm und es mit dem Liebhaberwissen eines am anglo­ französischen Empirismus und modernen Naturforschern gebildeten En­ zyklopädikers zu lösen unternahm. Seine Leidenschaft ist dabei die evolu­ tionistische Reihenbildung, die Tatsachen und Beobachtungen ordnet nach dem Grade der Verwandtschaft, der steigenden Entwickelung, der Annäherung an die positive Wissenschaft und nach dem Ertrage für eine wissenschaftlich begründete utilitarische Gesellschaftsethik. Kausale und teleologischeb Elemente sind in diesem Aufbau der geistigen Entwick pung in Wahrheit freilich noch eng verknüpft. Doch soll nach Saint-Simonc die Reihenbildung lediglich auf genauer Beobachtung der Kausalität beruhen, und der Zweck erst aus der Kenntnis oder Ueberschau über die kausale Reihe sich ergeben als Anpassung der Le­ benden an die durch die Sachlage gegebenen Zweckmöglichkeiten, eine von Fall ist.d Sehr zu bemerken ist, daß damit der Ausgangspunkt der deutschen und fran­ zösischen Geschichtsphilosophie doch ein gemeinsamer ist: Voltaire und Reste des christlich-aristotelischen Denkens.

A, B: St. Simon b A: ideologische a

241

242

A, B: St. Simon cl In A folgt: Über Comtes Stellung zur deutschen Geschichtsphilosophie und historischen Schule s. später. c

Vgl. Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet: Esquisse d'un tableau hi­ storique des progres de l'esprit humain (1 795) , deutsch erstmals 1 796 unter dem Titel "Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes". Charles de Secondat Montesquieu: De l'esprit des loix (1 748; 1 871), S. 273-296 (Uvre XIX), deutsch erstmals 1 753.

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

617

da ab bei dieser Richtung immer wiederkehrende Selbsttäuschung. Auch ist sich der Graf mit Stolz bewußt, mit dieser Reihenbildung oder Generalisation innerhalb des gemeinsamen anglo-französischen Rahmens den alten von Descartes stammenden logizistischen Geist des Franzosenturns wieder zu Ehren zu bringen.243 Damit steigert sich natürlich noch die Meinung, man habe es bei diesem allgemeinen Reihengesetz mit einem reinen Natur­ gesetz zu tun. Aber in Wahrheit bricht dann doch wieder der im Grunde te­ leologische Charakter der Reihenbildung hervor, wenn Saint-Simona immer wieder von dem Hauptergebnis und Ziel der Entwicklung spricht, von der modernen Gesellschaft, die ihm das "soziale System"244 im Sinne Voltaires ist als die einheitliche Zusammenwirkung von Wirtschaft, Industrie, positiver Wissenschaft, Kunst, Politik, Militär- und Unterrichtswesen, wobei ihm die materielle Produktion und das Eigentumsrecht der eigentlich entschei­ dende Kern des Ganzen ist und mit jedem Fortschritt der positiven Wis­ sen l schaften immer mehr wird. Das ist einer der scharfen Blicke des Grafen, der für die französische Historie von großer Bedeutung wurde. Belehrt durch den Verlauf der Revolution, die bei rasendem Wechsel politischer Ver­ fassungen die ökonomisch-rechtliche Struktur des Bürgertums und damit derb Gesellschaft erhielt, glaubte er in den genannten Elementen die Grundlage aller Gesellschaft sehen zu müssen. Und wie ihm die moderne und Zukunftsgesellschaft diese Struktur aufzuweisen scheint, so glaubte er ein ähnliches "soziales System" auch für alle Gesellschaftsformen der Vergangenheit annehmen zu dürfen, damit also den zentralen historischen Gegenstand in der Gesellschaft und in deren Strukturgesetz gefunden zu haben. Tiefere Probleme sah er in diesem "Strukturgesetz" nicht; es beruhte ihm auf einer immer wiederkehrenden und sicher beobachteten "Coordination des faits"245 und das genügte für a

243 244 245

A, B: St. Simon

b A: die

Vgl. Claude-Henri de Saint-Simon: Memoire sur la science de l'homme (1 8 1 3; 1 876), den Abschnitt: "Gloire pour la nation fran

259

260

Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1 883) , S. 1 32-1 34. Dilthey bezieht sich hier (S. 1 33, Anm. 1 ) nicht direkt auf Franz Josef Gall sondern ' auf Eduard Hitzigs "Untersuchungen über das Gehirn" (1 874) . Vgl. Wilhelm Dilthey: Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen (1 9 1 4) , S . 374: "Hobbes ist der erste Denker, der i n der modernen Zeit diese Weltansicht durchgeführt hat, und zwar in den Schranken des materialistischen Dogmas." Für Dilthey ist Hobbes "Comtes Vorgänger", weil für Comte die Anwendung des ma­ terialistischen Dogmas "auf die menschliche Gesellschaft und deren Zusammen­ hang nach Kausalgesetzen" wichtig gewesen sei.

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

625

Von diesen Voraussetzungen aus ist die neue zu so großen Triumphen bestimmte Geschichtsanschauung streng bestimmt. Sie ist naturgemäß "Soziologie'(200), Theorie vom Wesen der Ge I seIlschaft, die mit der Familie und ihren physiologisch bestimmten Gemeinsamkeiten beginnt, zur Horde und von da zum militärisch-rechtlichen Staate und von diesem zu den nationalen Kulturgesellschaften und zu der endgültigen, aus dieser sich ergebenden Menschheitsgesellschaft aufsteigt. Stets steht die Gemeinschaft und ihre Entwicklung im Mittelpunkt. Es fehlt also dieser Auffassung der Geschichte weder an Größe und Weitea, noch an Sinn für die besondere Eigentümlichkeit ihres Gebietes. Eben deshalb kann sie auch nicht einfach von der Physiologie her, die für Comte mit Biologie und Psychologie identisch ist, in Angriff genommen werden, sondern hat sie eigenen Gegenstand und Methode, eben die empirisch zu konstatierenden soziologisch-geschichtlichen Tatsachen und Gesetze, die ganz einfach ein Reich neuer Tatsachen sind wie die Biologie gegenüber der Chemie . Aber bei all dieser I 200) Comte führt ausdrücklich das neue Wort ein IV 1 32 als gleichbedeutend mit physique sociale, als partie complementaire de la philosophie naturelle qui se rapporte a l'etude positive de l'ensemble des loix fondamentales propres aux phenomenes sociaux.261 Die letzteren sind also keine psychologischen, sondern eben sozial-physikalische. Erkenntnistheorie und Psychologie sind bei Comte als nicht zum Reich der positiven Tatsachen gehörend ausgeschlossen, wie auch Fouillee, Mouvement positiviste S. 8 hervorhebt. An die Stelle der Psychologie treten die "soziologischen Tatsachen" oder Phänomene, deren Feststellung kein Problem ist. "Verstehen" und "Einfühlen" oder "Deuten" machen keine I Sorge und erfordern weder Psychologie noch Erkenntnistheorie noch Metaphysik.262 Das ist wichtig für später. a

261

262

A: Betonung

Vgl. Auguste Comte: Cours de philosophie positive, tome 4e (1 839; 1 908), S. 1 32, Anm. 1 zur Einordnung des Begriffes "sociologie": "Je crois devoir hasarder, des a present, ce terme nouveau, exactement equivalent a mon expression, dej a intro­ duite, de pf?ysique sociale, ahn de pouvoir designer par un nom unique cette partie complementaire de la philosophie naturelle qui se rapporte a l'etude positive de l'ensemble des lois fondamentales propres aux phenomenes sociaux." Deutsche Ü bersetzung: Auguste Comte: Soziologie, 1 . Band (1 907), S. 1 84 f., Anm. 1 . Den Bänden eins bis drei der deutschen Ausgabe entsprechen die Bände vier bis sechs der französischen Ausgabe. Vgl. Alfred Fouillee: Le mouvement positiviste (1 896) , Introduction, S. 8-10.

B 394

A 24, B 393

B 394

626 A 25

B 395

A 26

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

konkreten Besonderheit ist doch auch sie wesentlich wissenschaftliche Theorie, für die die im gewähnlichen Sinn so genannte Geschichte, d. h. die Feststellung und Erzählung der Tatsachen, nur als Material und dann wieder als Beispiel in Betracht kommt. Im Verhältnis zu dieser aus den Tatsachen abstrahierten Theorie, ist die darstellende Geschichte selber nur angewandte Wissenschaft und daher verhältnismäßig bedeutungslos. Die historische Theorie dagegen, die berühmte "histoire sans noms"263, ist die Lehre von Bildungs- und Bewegungsgesetzen der Geschichte nebst einem allgemeinen Ueberblick über die Entwicklung vom theologisch-mystischen Stadium zum modernen positiv-rationalistischen. Das Individuelle und Empirische kommt nur, dann allerdings sehr exakt, als Material der Konstruktion in Betracht, hat keinen Wert in sich selber. Glänzende Darsteller wie Taine mägen dann die Theorie auf die Einzeldarstellung anwenden und dabei den Glanz literarischer und individualisierender Kunst leuchten lassen; aber das ist für die Hauptsache sekundär, da der Gehalt der Geschichte nicht im Individuellen, sondern in dem aus den gesetzlichen Reihen erkennbaren und dadurch beherrschbaren Fortschritt zur positiven Periode liegt. Also im I Grunde wieder die Behandlung der darstellenden Geschichte als Sammlung von Beispielen und als Gegenstand literarischer Kunst, während die eigentliche Geschichte sich auf die aus den Tatsachen destilli erte Theorie der Geschichte zurückzieht, ein ganz ähnliches Verhält­ nis wie das zwischen theoretischer und angewandter Physik. Darin äußert skh die grundsätzliche Gleichgültigkeit einer solchen naturgesetzlichen Konstruktion von allgemeinen Gesetzen gegen das Individuelle, indes es bei Hegels analoger Unterscheidung zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtsdarstellung sich um einen viel engeren, ja wesentlichen Zusammenhang des Allgemeinen mit dem Individuellen handelt, indem jenes erst an diesem anschaulich wird und diese Anschauung den Sinn der Historie bildet. Bei Comte bezieht sich die konkrete Anschauung dagegen erst auf die aus der Gesetzeserkenntnis herauszugestaltende Zukunftsordnung. Eine Kontemplation des Allgemeinen im Individuellen hat überhaupt keinen Sinn in seinem System. I Die Frage ist also nach den Grundbegriffen und Ergebnissen dieser exakt und empirisch, nicht metaphysisch und intuitiv begründeten Theo­ rie der Geschichte. Der Zentralbegriff ist natürlich auch hier der der Kulturgesellschaft. Es handelt sich also um das We­ sen dieser Gemeinschaftskärper und des sie bewirkenden sozialisierenden 263

Vgl. z. B. Auguste Cornte: Cours de philosophie positive, torne Se (1 841 ; 1 908), S. 8 bzw. die deutsche Ausgabe: Auguste Cornte: Soziologie, 2. Band (1 907), S. 10.

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

627

Prinzips sowie um die gesetzlichen Reihen ihrer Veränderungen, die ohne weiteres als stufenweiser Fortschritt geordnet werden. Das ist der Sinn der beiden bekannten Prinzipien der Statik und Dynamik der Gesellschaft, wobei wieder daran zu erinnern ist, daß für Comte beide Bezeichnungen der Mathematik entstammen und wie auf die sozialen Körper so nacha auf alle anderen, astronomische, physikalische, chemische und physiologische, angewandt werden müssen201). Beides ist I eng aufeinander bezogen. Aber es ist klar, daß im Grunde die Statik des umschriebenen und fixen Körpers überwiegt, wie in Comtes ganzer positiver Wissenschaft überhaupt:b trotz der großen Ausdehnung, die der Darstellung der Dynamik oder Menschheitsentwicklung gegeben ist. In ihrem spezifisch soziologischen Verständnis entsprechen beide Kategorien überdies den aufeinander bezogenen Ideen der Ordnung und des Fortschrittes, wobei wiederum für den vor allem nach Ordnung strebenden und darin mit dem Katholizismus rivalisierenden Denker die Ordnung unzweifelhaft das wichtigere ist. Auch bleibt Comte trotz allem Drängen auf realistische Betrachtung aller Einzel­ gebilde aus ihrem jeweiligen Ort und Zusammenhang heraus bei dem fixen Aufklärungsideal eines allein vernunftgemäßen Idealzusammenhangs der sozialen Ordnung, das er nur nicht aus metaphysischen I Ideen, sondern aus der realistischen Zusammenschau aller Bedingungen begründen 201) So ausdrücklich IV, 1 67; aber auch schon I, 1 8. Das ist überaus wichtig für den nicht historischen, sondern naturwissenschaftlichen Sinn dieser Ausdrücke. Sie gehen durch alle Wissenschaften hindurch, sind ein positives oder exaktes allgemeines Weltgesetz: une distinction vraiment fondamentale, ... radicalement applicable, par sa nature, a des phenomenes quelconques et surtout a tous ceux que peuvent presenter les corps vivants ... L'etat statique et dynamique de chaque sujet d'etudes positives erklärt werden. "Le veritable esprit scientifique represente toujours les conditions de la liaison et celles de l'avancement comme originairement identiques IV 6". Eben deshalb lösen sich die Fortschrittsstufen nicht einfach in bloßer Folge ab, sondern geht jeder Fortschritt aus notwendigen Antagonismen hervor IV 1 9 f V 1 6. Die endgültige Synthese I ist eine inevitable conciliation finale IV 6272, aber diese Synthese vollendet nur, was im Keim des Anfangs lag "suivant notte grand aphorisme sur la preexistence ne­ cessaire, sous forme plus ou moins latente, de toute disposition vraiment fondamentale, en un etat quelconque de l'humanite" V 54. - Die Nachfolger Comtes haben das Drei­ Stadiengesetz aus eben diesen Gründen verworfen, die "Entwicklung" lieber auf den Sondersttängen der einzelnen die Gesellschaft konstituierenden Elemente aufgesucht und über den Gedanken einer allgemeinen und einheitlichen Wertsteigerung skeptisch gedacht, auch die Maßstäbe einer solchen Wertbeurteilung unsicher gefunden; s. Barth S. 206 bis 243; Mill dagegen a. a. 0. 75 bewundert vor allem dieses Gesetz und die 269

270 271

272

Vgl. Auguste Comte: Cours de philosophie positive, tome 6e (1 842; 1 908), S. XXVI; bzw. die deutsche Ausgabe: Auguste Comte: Soziologie, 3. Band (1 91 1 ) , S . XXXI I . Vgl. Auguste Comte: Soziologie, 3. Band (1 9 1 1), S. XXXI I : Hier heißt es "meiner" statt "seiner". Vgl. Auguste Comte: Cours de philosophie positive, tome 5e (1 841 ; 1 908), S. 22 f.: "De nos jours meme, qu'est-ce reellement, pour un esprit positif, que ce tene­ breux pantheisme dont se glorifient si etrangement, surtout en Allemagne, tant de pro fonds metaphysiciens, sinon le fetichisme generalise et systematise, enveloppe d'un appareil doctoral propre a donner le change au vulgaire?" Vgl. August Comte: Cours de philosophie positive, tome 4e (1 839; 1 908), S. 6; bzw. die deutsche Ausgabe: Auguste Comte: Soziologie, 1 . Band (1 907), S. 8. Bei Comte heißt es: "Aber der gegenwärtige Zustand der politischen Welt" sei von "dieser unvermeidlichen letzten Aussöhnung" ("cette inevitable conciliation finale'') noch weit entfernt.

637

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

oder Intellektes schon im Anfang und bei der Herleitung der zentralen Be­ wegung aus dem Gesetze dieses Geistes. Denn nicht nur ist Comtes Geist eben nicht der Weltgeist, sondern rein und ausschließlich der Geist einzelner anthropologischer aSubjekte. Dieser" Geist ist ebenso rein und ausschließlich bloßer Intellekt, formales Vermögen der Erkenntnis von empirischen Gesetzen im Dienst praktischer Lebenszwecke, völlig leer, ohne eigene Tiefe und Gehalt in Religion, Kunst, Staatlichkeit und individueller Persönlichkeit, darum am Anfang theologischer Aberglaube und am Ende Nützlich­ keitsprinzip. Er hat keine Bewegung, die aus seinem inneren Gehalte flösse, sondern nur eine solche, die aus dem Generalisationsbedürfnis und aus der praktischen Anreizung von außen her folgt; Comte muß sogar die eigentliche Hauptleistung des religiösen Zeitalters, die organisierende Kraft des Katholizismus oder Christentums dem Abstieg der Religion, dem bereits hier eingetretenen Uebergewicht des wissenschaftlich-metaphysischen Ele­ mentes, zuschreiben, da er ein religiöses selbständiges Lebenselement für sich überhaupt nicht kennt, übrigens so wenig wie ein künstlerisches. So gut beobachtet daher auch das Gesetz bder spezifischenb Entwicklung ist, es ist nur das Gesetz der Entwicklung zu den positiven Na­ turwissenschaften unter Aus I scheidung aller weiteren Entwicklungstriebe und -ziele und unter Leugnung jeder metaphysischen Tiefe und Einheit, in der diese verschiedenen Gehalte verbunden wären. Aber der Anklang an die Dialektik verschwindet noch mehr, sowie man die Methode der Feststellung aller dieser Gesetze ins Auge faßt. Sie sind dann auf einmal nicht mehr aus dem Wesen und der Selbstanschauung des Geistes hergeleitet, sondern aus rein empirischer "Koordination" bestehender Tatsachen. weit überbot. Ursprünglich Ingenieur und Erfinder von starker Eigen­ willigkeit konstruierte er das Weltganze aus seinem "synthetischen" Gesetze der Bewegung des Homogenen zum Heterogenen, das er aus den em­ bryologischen I Forschungen K. E. von Baersa296 auffing und durch immer neue Anpassungen zum Schlüssel aller Erkenntnis überhaupt machte. Auch einem ganz unverständlichen Postulat", daß nämlich die "Anti thesis undenkbar und doch richtig" sein müsse,297 gelesen und dann sofort abgebrochen zu haben. Carlyle, der Vertreter deutscher Philosophie in England, war ihm wegen seines Idealismus tief antipathisch; seine und Goethes Lehre von der Resignation erklärte er für einen Ver­ stoß der Unwissenheit gegen das Naturgesetz der Entwicklung! Ebd. 1 59 f. Sein Be­ wunderer Gaupp erkennt die Parallele zu Hegel und den entscheidenden Unterschied S. 1 54: "Darinb unterscheidet sich Spencers Entwicklungslehre von der eines Schelling und Hegel, mit denen sie auf den ersten Blick soviel Verwandtes zu haben scheint, daß Sp. nirgends den Boden der Wissenschaft verläßt,C daß alle seine Denksymbole der Art sind, daß sie sich schließlich in Ausdrücke der sinnlichen Erfahrung « Ir auflösen lassen"298. Ein ähnliches Urteil und auch die Andeutung einer gewissen Anregung durch "Hegels und Okens Kosmogenien" II 3 1 6 bei Spencer selbst. a c

296 297

298

A, B: Bärs b A: darin In Afolgt: daß er nirgends mit Begriffen operiert, die metaphysischer Natur sind und deshalb eine wissenschaftliche Verifikation nicht zulassen, sondern

Vgl. v. a. Karl Ernst von Baer: Ü ber Entwickelungsgeschichte der Thiere, 2 Bände (1 828/1 837). Herbert Spencer: Eine Autobiographie, Band 2 (1 905) , S. 1 40: "Der Eindruck, den ich von Hegel empfangen habe, ist der, daß er seine Theorie mit einem ganz un­ verständlichen Postulat beginnt. Wenn dies ein legitimes Verfahren sein soll, so ist allerdings auch zu billigen, daß bei weiterer Argumentation ebenso verfahren wer­ de. Auch kann man sich dann dabei bescheiden, wenn Hegel behauptet, eine The­ sis erscheine notwendig, die Antithesis undenkbar und dennoch sei die Antithesis richtig." Otto Gaupp: Herbert Spencer (1 897), S. 1 54 f.: "Darin unterscheidet sich eben Spencers Entwicklungslehre grundsätzlich von der eines Schelling und Hegel, mit denen sie auf den ersten Blick so vieles Verwandte zu haben scheint, dass Spencer nirgends den Boden der Wissenschaften verlässt, dass er nirgends mit Begriffen operiert, die metaphysischer Natur sind und deshalb eine wissenschaftliche Verifi­ kation nicht zulassen, sondern dass alle seine Denksymbole der Natur sind, dass sie sich schliesslich in Ausdrücke der sinnlichen Erfahrung auflösen lassen."

A 53

656

B 423 A 54

Kapitel I I I . Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

sein Grundbegriff ist daher die Dynamik des Geschehens, aber natürlich in dem der Dialektik völlig entgegengesetzten Sinne einer bloßen beständigen Andersverteilung der Materie. Daß aus bestimmten Verteilungsweisen der Materie das Bewußtsein als Anpassung der inneren an die äußeren Bedin­ gungen hervorgeht, ist bei ihm ebenso wie bei Comte - beide sind dabei von Gall ausgegangen - kein Materialismus, da ja das innere Wesen der Ma­ terie völlig unbekannt ist. Auch das Verhältnis von Denken und Sein macht ihm wenig Beschwerden, da ja das Bewußtsein und die Bewußtwerdung der Materie um ihre Bewegungen und das richtige Denken die endgültige An­ passung der psychischen Bewegungen an die materiellen, der inneren Bedin­ gungen an die äußeren ist, also eine Art Abspiegelungstheorie. Schließ­ lich ist ihm auch das Verhältnis von Sein und Wert und damit der teleolo­ gische Charakter der Entwicklung kein allzu schwieriges Problem, insofern die Aggregate des Seins in ihrem Kampf ums Dasein durch Anpassung sich steigern und durch Auslese und Zuchtwahl die schwächeren Aggregate aus­ merzen, also in der aggregierenden Periode des Weltgeschehens die Geset­ ze des Seins von selbst die Wertsteigerung bewirken, während freilich die Zersetzungsperioden dann diese zum Gleichgewichtszustand ausgegliche­ nen Aggregate wieder verfallen lassen, bis wieder Neubildungen eintreten. Statt des allzu zuversichtlichen Wortes "Fortschritt" gebraucht er daher lie­ ber den neutralen, den Abstieg mit einschließenden Ausdruck "Evolution". Es kommt ihm mehr auf die Gesetzlichkeit der Veränderung als auf ein Ziel des Werdens an, eine ganz folgerichtige Wirkung der naturalistischen Grundidee. Immerhin genießen wir den Zufall, in einer aggregierenden Periode und damit im Zuge des naturgesetzlichen Fortschrittes zu leben, und da kann der sich anpassende Lebenswille die erkannten Gesetze zu zweckmäßiger Gestaltung I der Gesellschaft verwen­ den. Auch ihm ist die fatalite modifiable selbstverständlich. Idealen solcher Modifikation gibt sich daher auch Spencer für seine Gegen I wart hin und entnimmt dabei als Sprößling einer alten Nonkonformistenfamilie die Maß­ stäbe dem freilich völlig verdiesseitigtena und industrialisierten Individualis­ mus des Puritanertums und des englischen Liberalismus. Unter diesen Um­ ständen ist es auch für ihn selbstverständlich, daß die Eingliederung der ge­ schichtlichen Welt in den gesetzlichen Naturprozeß wie der Höhepunkt und die Probe des Systems so die Voraussetzung jeder wirkungskräftigen Re­ form und Weiterbildung ist. Auch die Auffassung der geschichtlichen Welt als Theorie von der Gesellschaft übernimmt er, und seine dem Cours Com­ tes parallele Reihe der Principles legt darauf so großen Wert, daß er die ei­ gentlich naturwissenschaftlich-anorganischen Themata, die ihm an sich sehr a

A: verdiesseiten

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

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viel näher liegen, gar nicht ausführt, sondern die positive oder, wie er lieber sagt, die "synthetische" Methode auf die organische Welt, Biologie, Individualpsychologie und Soziologie oder Geschichte, anwendet. Dabei nimmt wiederum die unvollendet gebliebene Soziologie weitaus den größten Raum ein. Hier galt es den größten Widerstand zu überwinden und die Praxis zu unterbauen. Einerlei wieviel er dabei mittelbar und unmittelbar Comte verdankte oder wieviel auf Rechnung der allgemeinen wissenschaftlichen Atmosphäre kam217), jedenfalls hat auch er die Geschichte auf die Theorien der Sozio­ logie begründet und diese in Statik und Dynamik gegliedert, in welche Theorie alle empirischen und individuellen Besonderheiten der Historie als jeweilige Verwickeltheiten eingetragen und aus der sie wenigstens im Grundsatz kausal restlos erklärbar werden. Das kam bei ihm vor allem der Statik zugute. Als Lehre von der Bildung und den Wandelungen des sozialen "Aggregates", das, indem es zur Integration oder zum festen Zusammenhang aufgezüchtet wird, zugleich in seiner inneren Struktur die gegenseitige Steigerung der Individualität oder die Differenzierung bewirkt, I nimmt I sie die Dynamik bereits in sich selber auf. Das entspricht ja auch nur dem allgemeinen Naturgesetz Spencers. So gewinnt sie einen viel reicheren und beweglicheren Gehalt als bei Comte. Die äußere Anpassung an das Milieu, die inneren Bedingungen in einer vom Geisterglauben zur Wissenschaft aufsteigenden Intelligenz, die regelnden und härtenden Strukturformen des Staates, der Religionsgemeinschaft und der Sitte, die alle diese Strukturformen in ihren Dienst zwingende wirtschaftlich-technische Arbeit, die Bindegewebe der Sprache, der Kunst und Literatur, die gegenseitigen Verwebungen und Beeinflussungen dieser Strukturformen und ihrer Funktionen, schließlich und vor allem der anpassende und auslesende, emporzüchtende und organisierende Kampf ums Dasein: alles das gehört in das Gebiet der so verstandenen Statik hinein. In alledem ist zugleich klar, daß die bereits von Comte gebrauchte Analogie der Gesellschaft und des Tierkörpers 2 1 7) Vgl. Essays: Scientific, Political and Speculative II 1 901 den Aufsatz "Reasons for Dissenting from Comte" und Autobiographie II 3 1 0 den Brief an H. G. Lewes299• Sp. unterschätzt seine Angeregtheit durch Comte, waren doch Lewes und George Eliot, übrigens die Uebersetzerin von D. F. Strauß, seine nächsten Freunde. 299 Vgl.

Herbert Spencer: Eine Autobiographie, Band 2 (1 905), S. 3 1 0. Spencer schreibt in dem Brief an Lewes: "Ich hatte allerdings unrecht mit der Behauptung, daß Comte die Geisteswissenschaft verwirft; ich hätte sagen sollen, er bekenne sich nicht zur subjektiven Analyse des Geistes."

A 55, B 424

A 54, B 423

658

A 56, B 425 A 55, B 424

A 56 B 425

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

hier geradezu zur Einerleiheit oder besser zur Anwendung desselben Entwicklungsgesetzes auf beide geworden ist. Inzwischen war die Zelle entdeck�OO und die Theorie der biologischen Funktionen viel weiter ausgebildet worden. Das veranlaßte Spencer, die Gesetze der biologischen Einheit oder des tierischen Zellenaggregates auf die soziale Einheit menschlicher Individuen zu übertragen und hierfür die biologischen Gesetze lediglich dementsprechend zu modifizieren. Die Analogisierung ist sehr geschickt und mitunter anregend, hat auch in der beide Male be­ stehenden Notwendigkeit, die Mannigfaltigkeit zu organisieren, große und kleine Anpassungen nach innen und außen zu vollziehen, die Konkurrenz kämpfender Gruppen zu bestehen, zweifellos einen gewissen inneren Grund2 1 8). Allein sie ist für I Spencer doch I mehr als Analogie, sie ist 21 8) Auf ein sehr vernünftiges Maß beschränkt Sp. selbst die Analogien System VII (Deutsch 1 887) S. 1 7 1 . Man könne nur das Lebewesen im allgemeinen, nicht ein be­ stimmtes mit der Gesellschaft analogisieren, auch nur Organe mit Organen, Funktio­ nen mit Funktionen. "Keine weitere Analogie als diejenige, welche durch die wechselsei­ tige Abhängigkeit der Körperteile, die bei bei den gleichermaßen zu beobachten ist, not­ wendig bedingt wird."301 Daher sein Widerspruch gegen Plato und Hobbes.302 Allein er hat sich an diese Formel nicht gehalten, die ja auch in der Tat seinem tyrannischen und all I umfassenden Weltgesetz nicht genügen und das Psychologisch-Historische in weitem Maße frei lassen würde. Für das letztere s. den Satz S. 1 72: "Nehmen wir nun diesen Unterbau (der biologischen Analogie) weg, die (historisch- I soziologischen) In­ duktionen werden auf eigenen Füßen zu stehen wissen"303. Aehnlich bemerkenswert ist seine Antwort auf den Einwurf, daß er bei den Tieren die zentralisierte Organisati­ on zum Maßstab nehme, bei den Menschen dagegen die3 ethisch begründete Anarchie des liberalen Individualismus S. 1 80: "Bei den Tieren (weil stets im Kampf ums Da­ sein) bleibt der Maßstab der Ueberlegenheit stets durchaus derselbe; bei Gesellschaften a

300 301

302

303

A: eine

Vgl. Matthias Jacob Schleiden: Beiträge zur Phytogenesis (1 838) . Herbert Spencer: Die Principien der Sociologie, 2. Band (1 887), S . 1 7 1 : "Hier sei es mir gestattet, noch einmal ausdrücklich zu betonen, dass es keine weitere Ana­ logie zwischen einem Staatskörper und einem lebenden Körper gibt als diejenige, welche durch die wechselseitige Abhängigkeit der Körpertheile, die bei beiden glei­ chermaassen zu beobachten ist, nothwendig bedingt wird". Ebd., S. 1 69 f.: "Die Auffassung von Hobbes kommt einer vernünftigen Ansicht nur in einem Punkte etwas näher. Ebenso wie Plato betrachtet er die sociale Or­ ganisation nicht als etwas Natürliches, sondern als etwas Künstliches, wie er denn auch besonders den Begriff von einem Gesellschaftsvertrag vertheidigt". Ebd., S. 1 72: "Nehmen wir nun diesen Unterbau weg: die Inductionen werden auf eigenen Füssen zu stehen vermögen."

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Fortsetzung des gleichen Naturgesetzes auf der Stufe lediglich größerer Verwicklung. So kommt es zu den bekannten entsetzlichen Mischungen biologischer und historischer Exzerpte und zur Ersetzung der historisch nachfühlbaren und verstehbaren Zusammenhänge durch den Fatalismus eines bloßen allgemeinen kosmischen Naturgesetzes. Damit ist Comtes besondere soziologische Methode mit ihrem Ausgehen vom "Ensemble" endgültig jeder Mystik beraubt, indem jetzt das Ensemble zwar gleichfalls das Hauptproblem ist, aber zugleich auch endgültig im Sinne der bloßen Aggregation aufgelöst ist. Ist derart die Statik bereits in Dynamik, wenn auch in eine ganz me­ chanische Dynamik aufgelöst, so ergibt sich daraus ein ungeheures Hin­ und Widerspiel bewegter, wandelbarer und sich beständig beeinflussender und bekämpfender Sozialgebilde, deren gegenseitiger Zusammenhang, Rei­ hung und Abfolge schwer gesetzlich zu bestimmen ist. Spencer verwirft deshalb Comtes allzu einfaches Drei-Stadiengesetz und überhaupt die Dy­ namik als Konstruktion des Gesetzes der Menschheitsentwicklung. Schon sein sehr gebrochener Teleologismus, der an die Evolution überall die Dis­ solution anreiht, macht eine so zuversichtliche Einstellung auf das Ganze unmöglich. Er verfolgt daher lieber einzeln die Strukturelernente der Ge­ sellschaft im Wechsel ihres Aufbaus und ihrer Funktionen, in ihrer Erzeugung neuer Organe aus neuen Funktionen, dem I Aussterben alter funktionslos gewordener Organe sowie im Funktionswechsel bereits fertiger, ur­ sprünglich anderen Zwecken dienender Organe durch die ganze Prähistorie, Ethnographie und Historie hindurch. Auf eine selbständige Ausarbeitung der Entwicklungsgesetze des Ganzen, I der Comte zwei Bände gewidmet hatte,304 verzichtet er. a Immerhin strebt doch auch er bis zu einem gewissen Grade nach einem Schema der Menschheitsentwickiung, das aus seinem synthetischen Grundgesetz abgeleitet werden könnte. So versucht er zunächst wenigstens Klassifikationen der Sozialgebilde und gewinnt aus ihnen schließlich wenigstens eine allgemeine Zielrichtung des emporzüchtenden Prozesses, von der er freilich immer nur im Zusammenhang der Einzeldarstellungen handelt, die aber doch eine grundlegende und immer wiederkehrende Bedeutung hat. Es ist die berühmte Lehre von dem Fortgang aus dem despotisch-abergläubisch-militaristischen Zwangs staat zum industriell­ wissenschaftlich-pazifistischen Freiheitsstaat mit vielen Zwischengliedern und Spielarten. Den Anfang bilden organisationslose zufällig gemischte Horden, ein labiles Gleichgewichtssystem der Beziehungen. Durch den Kampf ums Dasein und den damit verbundenen Militarismus entsteht mit dem Patriarchalismus der Familie die erste Integration der Gesellschaft; und von hier aus sind die regulierenden Strukturformen im Cerimonialsystem der vergesellschaftenden Umgangsformen, im Aufbau der staatlichen Macht und des gesetzlichen Rechtes sowie in der religiösen Selbstsank­ tionierung des ganzen Systems durch den fortgebildeten Ahnenkult und Geisterglauben zu begreifen. Erst mit der Ausdehnung und Festigung dieses den Gesamtumfang des Lebens und Denkens bestimmenden Militarismus beginnt innerhalb seiner die Differenzierung als Arbeitstei­ lung und mit dieser ein immer stärkeres Hervortreten der zunächst von Weibern und Sklaven besorgten wirtschaftlichen Arbeit, bis diese durch die Entwicklungsstufen der Sklavereib der Hörigkeit, der Zünfte, der Volkswirtschaft hindurch sich zum freien Arbeits- und Handelssystem emporarbeitet, zum grundsätzlichen Industrialismus wird und durch die mit ihm verbun I denen Ideen des Vertrags, der Freiheit, I der Gerechtigkeit, der wissenschaftlichen Kritik und technischen Rationalität den Lebensstil ganz ebenso durchgreifend bestimmt wie einst der Militarismus. Nur wo diese Differenzierung eintritt und das Staatsganze sich ihr anpaßt, wird die Gefahr der Altersstarre vermieden, die so häufig die Folge der militaristisch und bureaukratisch verhärteten Integrationen ist. Natürlich sind die führenden Beispiele dieser Entwicklung England und Amerika, wenngleich Spencer auch für diese Länder eine gefährliche Welle des militaristisch-bureaukratisch-imperialistischen Rückfalles emporsteigen a

In A kein Absatz.

b A: Sklaverei,

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sieht. Er hofft aber auf eine Ueberwindung dieses Rückfalles nach schwerer Weltkrisis. Dann erst wird auch der Raum frei werden für die Vollentfaltung des industrialistischen Ideals, für das eine ererbte Anpassung des Gefühls und der Ideenwelt an die neuen freiheitlichen und gerechten Gesamt­ verfassungen ebenso nötig ist wie die Ausmerzung der diese Anpassung nicht vollziehenden Gruppen im Kampfe. Dieses Zukunftsideal, das also auch seinerseits nicht ganz der utopischen Züge entbehrt, begründet dann schließlich3 die aus der Geschichte zu entwickelnde Ethik, die sein letztes Werk war und die doch auch nur als ein Ideal auf Frist, d. h. für die noch zu erwartende Dauer der Integration und Evolution, zu betrachten ist. Es ist klar, daß hierbei die Anklänge an die teleologisch-dialektischen Gedanken Comtes mindestens der Absicht und dem Anschein nach aus­ gemerzt sind. Doch das ist in Wahrheit nur Schein. Ja, gerade je mehr die Dynamik schon in die Statik selbst hineingetragen ist, um so stärker treten wirklich und eigentlich dialektische Begriffe hervor219). Auch hier haben wir ein teleologisches Entwicklungsprinzip vor uns wenigstens für die Dauer der Integrationsperiode, die auf dem I Zusammenfall der Neuverteilung des Stoffes mit dem ihm innewohnenden Luststreben beruht. Auch hier eine Verschmelzung I der Gegensätze, durch die hindurch sich der Zweckinhalt der Periode verwirklicht, daher auch hier ein Dreitakt der Perioden von der indifferenten Mischung des Anfangs zu den Gewaltgebilden des Militarismus und von da schließlich zur Harmonie der Freiheit. Aehnlich wie der Marxismus vor den Gegensatz seiner Klassenkampfperiode und des schließ2 1 9) Auch von Fouillee anerkannt, Mouvement S. 3: "Hegel, Spencer et Comte tendent a se reconcilier ... Les306 vrais principes de l'evolution viennent donc se confondre avec ceux d'une dialectique a lafois reelle ef idielle3°7, telle que la reva le philosophe allemand." S. 268 "La dialectique de Hegel peut etre ainsi mise d'accord avec l'evolutonisme de Spencer."308 Näheres bei Winter in der Revue de metaph. et morale, Sept. 1 894. Die Parallele von "reell und ideell" kommt dabei freilich auf Rechnung Fouillees.309 a

306 307 308 309

A: seinerseits

Im Original bei Alfred Fouillee: Le mouvement positiviste (1 896), Livre premier, S. 3 kleingeschrieben. Im Original nicht "ideelle", sondern "rationelle". Ebd., S. 268: "C'est en ce dernier que consiste l'evolution veritable, et la dialectique de Hegel peut etre ainsi mise d'accord avec l'evolutionnisme de Spencer." Vgl. ebd., S. 3, den Hinweis Fouillees auf Winter. Der Titel von Maximilien Win­ ters Aufsatz lautet: "A propos d'une nouvelle conception de la philosophie des sciences" (1 894) .

A 59 B 428

A 58, B 427

662

A 60

B 429

A 60, B 429

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

lichen Sozialismus den Morganschen U rkommunismus310 gesetzt hat, so setzt Spencer vor den mit Henry Maine angenommenen Gegensatz von Sta­ tus und Kontraktlll den anfänglichen indifferenten Mischzustand; und ähn­ lich wie bei Hegel der Maßstab und das Einheitsprinzip der gegensätzlichen Stufen der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit als der Erkenntnis des Allgeistes ist, so dien ta für Spencer der Fortschritt im Genuß der individuel­ len Freiheit innerhalb eines harmonischen Ganzen für den gleichen Zweck. Er denkt völlig anders als Comte über das inhaltliche Ergebnis der Entwick­ lung und verachtet dessen Pedantokratie und die dem Katholizismus nach­ gebildete Organisation. Aber in der Methode befolgt er doch eine ähnliche Mischung einer rein naturalistisch-kausalen Denkweise, die nur Andersver­ teilungen der Materie kennt, mit einem Idealismus, der die Einheit und das Strebensziel wie die treibende Kraft und Voraussetzung des geschichtlichen Werdens bedeutet. Und damit man die Bruchstellen recht deutlich erken­ ne, wird ausdrücklich gelehrt, daß die von älteren Tendenzen geschaffenen sozialen Gebilde später in den Dienst ganz neuer Zwecksetzungen gestellt werden können, von denen man freilich nicht weiß, woher sie kommen kön­ nen, und nur erfährt, daß sie unbewußt unter der Hülle der älteren Formen sich gebildet haben. Also der klare Grundsatz der Heterogonie der Zwecke, wie Wundt ihn später lehrt . Was Grausamkeit, Gewalt und Aberglaube unter tausend Schrecken und Greueln geschaffen habenb, das kann von der individualisierten und ethisierten Kultur benützt werden. Dadurch werden die Greuel der militaristischen Periode erträglich, und sogar an den blöden Ahnen- und Geisterglauben kann die religiöse Ehrfurcht I wahrer Frömmig­ keit anknüpfen, indem sie diese Gebilde in Symbole für edlere und bessere metaphysische Empfindungen verwandelt, ja sich als unbewußt schon in je­ nen uranfänglich latent gewesen empfin I det220). Es ist das alte und sich im­ mer wiederholende Schauspiel, das die naturalistische Geschichtstheorie bei 220) S. System VIII 29()313 und 31 5. Das ist sehr zu beachten. a

310 313

A: gilt

b A: hat

Vgl. Lewis Henry Morgan: Ancient society (1 877) . 3 1 1 Vgl. Henry James Sumner Maine: Ancient law (1 861). 312 Vgl. oben, S. 1 88, Anm. 1 8. Vgl. Herbert Spencer: Die Principien der Sociologie, 3. Band (1 889), S. 290: "Nun ist aber Eines wohl zu beachten. Während diese unbarmherzige Zucht der Natur, ,mit blutigen Zähnen und Klauen', für die Entwickelung des empfindenden Le­ bens durchaus wesentlich war, lässt sich hieraus die Nothwendigkeit ihrer Fortdau­ er durch alle Zeiten und bei allen Geschöpfen noch keineswegs ableiten. Die durch und für diesen allgemeinen Kampf entwickelte höhere Organisation braucht nicht

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

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so großen und edlen Denkern bietet; sie ist bewußt und unbewußt durch­ setzt mit dem Gedanken ihres Gegenspielers, mit den Motiven der dialek­ tischen Methode und der ethisch-metaphysischen Zielsetzung, kann aber beides aus ihren eigenen Voraussetzungen nicht oder nur durch grobe Wi­ dersprüche und Oberflächlichkeiten gewinnen. Immerhin ist doch auf diese Weise auch bei Spencer ein bedeutendes Bild der historischen Welt entstan­ den. Die Analysen des militaristischen und des industrialistischen Gesamt­ zustandes enthalten vortreffliche, wenn auch einseitige Beobachtungen, in denen sich der geschulte Beobachter und der scharfe Blick des Naturfor­ schers nicht verleugnet, wenn man auch im allgemeinen wird sagen müssen, daß sein historisches Feingefühl und Interesse gering ist221). I 221) Er wiederholt beständig, daß die Geschichte toter Menschen völlig gleichgültig sei (Autobiographie I 1 72) und lehnt damit die Lektüre von Carlyles Cromwell ab. Auch tote Völker wie Griechen und Römer sind ihm uninteressant 24 f.: "Hätten Griechenland und Rom niemals existiert, wir wären in unserer Lebensführung genau dort, wo wir heute sind"314. Von Historikern interessierten ihn nur Grote und Buckle,31s im übrigen sind seine Freunde und sein Umgang nur Naturforscher. Seine Soziologie arbeitet vor allem mit Reiseberichten, die er durch Sekretäre exzerpieren läßt.316 Auf die historischen Vorgänge seiner Zeit nimmt er in seiner sehr breiten Autobiographie kaum die leiseste Rücksicht. Auf seinen Reisen in Italien usw. versichert er für das Historische sich ganz und gar nicht zu interessieren, höchstens für etwaige Bestätigungen seiner soziologischen Gesetze Ebd. 11 1 1 0 ff.; die dortige Kunst betrachtet er lediglich unter dem Gesichtspunkt der Naturtreue und der Ansprache an das Gefühl. Künstler aus ihrer Zeit verstehen wollen heiße, meint er, ihre Fehler entschuldigen! Den sehr andersartigen Standpunkt Mills in dessen Rektoratsrede hält er für eine Beeinträchtigung der Naturwissenschaften. S. auch sein Urteil über die Historiker 11 1 49: "Die Historiker sind in der Geschichte ihrer Könige, Hofintriguen, internationalen Kämpfe, Siege und Niederlagen, die allerdings nicht vorherzubestimmen waren, gefangen; ... sie übersehen aber I die wechselseitigen Beziehungen in den Strukturen, welche sich während

314 315 316

nothwendig für immer in demselben Sinne verwendet zu werden: die daraus ent­ sprungene Kraft und Intelligenz kann noch zu vielen anderen Zwecken dienen, welche zuletzt die ausschliesslichen Zwecke werden können. Die Jahrtausende un­ aufhörlichen Kampfes, welche die Kräfte und Fähigkeiten aller niederen Lebens­ formen zur Entwickelung brachten, haben dem höchsten Geschöpfe als Erbteil eine Ausrüstung überliefert, die es nun ausser zur Tödtung und zur Vermeidung des Getödtetwerdens noch zu zahllosen anderen Aufgaben verwerthen kann." Herbert Spencer: Eine Autobiographie, Band 2 (1 905), S. 25. Spencer war mit George Grote und Henry Thomas Buckle persönlich bekannt. Vgl. ebd., S. 1 2 f. Ebd., S. 1 05-1 07, S. 1 63.

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A 61

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664 A 6 1 , B 430

B 430

Aber Teleologie und Dialektik, die so eng zusammengehören, da ohne irgendeine Art von Dialektik die tatsächlichen Gegensätze nicht in der Ein­ heit des Zweckes verschmolzen und vermittelt werden können, gehen gera­ de bei diesem durch und durch dynamischen System noch weiter bis in den innersten Kern der ganzen Theorie überhaupt. Der Begriff des Kampfes ums Dasein setzt den auswählenden und emporstrebenden Willen voraus und trägt diesen mit jenem Kampfe bis in die Materie hinein. Der Begriff der Anpassung und der Entstehung neuer Organe aus neuen Funktionen setzt eine prästabilierte Harmonie zwischen dem strebenden Willen und sei­ ner Umwelt voraus. Ja, die letzte Grundlage des Entwicklungsbegriffes, die Labilität eines gegebenen Urzustandes, mit dem Gleichgewicht und dem Streben einer Aufhebung dieses Gleichgewichtes zugleich ausgestattet, ist schon selbst ein durch und durch dialektischer Begriff. Nur so ist der not­ wendige immer neue Uebergang von der Homogenität zur Heterogenität der von ihnen beschriebenen Vorgänge vollzogen haben"317 oder II 1 55: "Alla das hi­ storische Gerümpel, welches nicht im mindesten den Zusammenhang der sozialen Phä­ nomene berührt und noch weniger zur Erkenntnis der bestmöglichen allgemeinen Le­ bensführung beitragen kann."b318 In seinem Alter zeigt der grundwahrhaftige Mann immerhin eine sehr viel unbefangenere Hin l gabe an das wirkliche geschichtliche Leben II 301 ff. - Die Verwertung der historischen Literatur ist dabei völlig unkritisch, hält sich an gebräuchliche und zugängliche Darstellungen, ohne jede Frage nach den Quel­ len und der Art der Erhebung des Tatbestandes aus den Quellen. Daß schon hier die Probleme des historischen Verstehens akut werden, davon hat er kein Gefühl. Er be­ handelt diese Bücher wie die Berichte der Naturforscher über ihre Beobachtungen und Experimente, nur daß er im letzteren Falle immerhin zu einiger Kritik befahigt ist. a

317

318

A: all

b A: kann".

Ebd., S. 1 49: Ein Biograph, so Spencer, "könnte in eine Linie mit jenen Histori­ kern gestellt werden, welche in der Geschichte ihrer Könige, Hofintriguen, interna­ tionalen Kämpfe, Siege und Niederlagen, die allerdings nicht vorherzubestimmen waren, befangen, das Dasein einer Gesellschaftswissenschaft in Abrede stellen: da­ bei übersehen sie die wechselseitigen Beziehungen in den Strukturen, welche sich während der von ihnen beschriebenen Vorgänge unmerklich vollzogen haben." Ebd., S. 1 55: "Er [Youmans] sah ein, daß es eine viel größere Förderung mensch­ licher Wohlfahrt bedeutet, die Beziehungen zwischen dem ausgeprägten kriegeri­ schen Typus und der untergeordneten Stellung der Frau, zwischen einer despoti­ schen Regierungsform und einem Ueberwiegen des Zeremoniells im gesellschaft­ lichen Verkehr, [. ] festzustellen - als all das historische Gerümpel kennen zu ler­ nen, welches nicht im mindesten den Zusammenhang der sozialen Phänomene berührt und noch weniger zur Erkenntnis der bestmöglichen allgemeinen Lebens­ führung beitragen kann." ..

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

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und von dieser wieder zur ersten und so fort überhaupt zu verstehen. Und wie der Fortgang ein dialektisch durch die Einheit der Gegensätze vermittel­ ter ist, so ist auch die gleichzeitige Einheit und Bewegtheit, die gegenseitige Förderung von Integration und Differenzierung, ein dialektischer Gedanke. Freilich führt Spencer alle diese Gesetze statt auf die Idee auf die Materie, statt auf das Denken des Welt I geistes auf die tatsächliche Beschaffenheit der Dinge zurück und kommt damit zu immer neuen Schwierigkeiten und Widersprüchen. Sein Materialismus und Positivismus verwandelt sich ihm aber eben deshalb zu seinem Erstaunen unter seinen eigenen Händen in Spiritualismus und Idealismus. Das Gefühl der derart übrig bleibenden Dunkelheiten ist es, das ihn veranlaßt hat, die in alledem sich auseinander­ legende Einheit als das berühmte "Unerkennbare" zu bezeichnen, das bei ihm im Grunde dieselbe I Funktion ausübt wie die Substanz bei Hegel und das bei ihm ganz ähnlich wie bei Hegel die Versöhnung der Wissenschaft und der Religion bewirkt222). Beide Male steht im Hintergrund ein durch dialektische Gegensätze in Bewegung gesetzter Spinozismus, bei Hegel ein gnostisch und spekulativ, bei Spencer ein agnostisch und empiristisch ge­ wendeter Spinozismus. 222) Das war ihm immerhin ein Herzensanliegen, Autob. II 46 "Ich wollte mich nicht dem Verdacht aussetzen, ich vertrete eine durchaus materialistische Deutung der Dinge. So entstand der erste Teil: das Unerkennbare"319. Auch sein Utilitarismus schloß moralischen Rigorismus nicht aus;a er wollte ihn geradezu gegen Mills "Opportunismus" noch fester aus der allgemeinen Natur der Entwicklung begründen, aus einem Wahrscheinlichkeitsurteil in ein Naturgesetz verwandeln ebd. 52320 . - Der dialektische Charakter seiner Entwicklungsidee war ihm selbst nicht verborgen: "Es ist mir ein neues Kraftgesetz eingefallen: die allgemeine Gültigkeit des R1!Jthmus. Derselbe ist eine notwendige Folge des Antagonismus einander wi­ derstreitender Kräfte. Dieser Rhythmus gilt ebenso von den Aetherschwingungen als a

319

320

A: aus,

Ebd., S. 46: "Ich wollte mich nicht dem Verdachte aussetzen, ich vertrete eine durchaus materialistische Deutung der Dinge. So entstand der erste Teil, ,Das Un­ erkennbare'." Ebd., S. 52: "Die opportunistische Philosophie dagegen, welche Glückseligkeit als das zu erreichende Ziel anstrebt, mißt der Moral keinen andern Zweck bei, als die Ergebnisse menschlichen Handelns erfahrungsgemäß zu verallgemeinern und der Lebensführung eben durch jene empirischen Verallgemeinerungen eine Richt­ schnur zu geben. Meine Ansicht aber ist, daß es Aufgabe der Moral im eigentli­ chen Sinne, d. h. der Wissenschaft der richtigen Lebensführung, sein soll: festzu­ stellen, wie und warum diese oder jene Lebensweise schädlich oder nützlich ist."

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B 431

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B 432

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

In dem frommen England wurde für die große Oeffentlichkeit dieser "Agnostizismus" das eigentliche Problem der Spencer l seh en Lehre; für die Wissenschaft dagegen entfaltete sein Evolutionismus die außeror­ dentlichsten Wirkungen. Er ist durch zahlreiche Kanäle auch in Deutschland siegreich eingedrungen, vor allem auch in die Historie und in die philosophische Auffassung der Historie. Insbesondere die Prähiauch von den Aktionen und Reaktionen des sozialen Lebens" ebd. II 1 3321. Sehr cha­ rakteristisch ist der Satz IX 1 08 "Die zu Tage tretenden Veränderungen sind gewöhn­ lich nur das Differenzergebnis aus dem Widerstreit des Strebens nach Integration und Disintegration"322 . S. auch VIII 290 und 31 5: die Unbewußtheit der unter der Hülle der staatlichen Machtorganisation aufsteigenden, von ihr geschaffenen und doch sie spren­ genden Arbeitsorganisationen; IX 1 93 f.: die Unbewußtheit, mit der schon im primiti­ ven Geisterglauben die Ahnung der absoluten Weltenergie enthalten ist, um sich später durch allerhand Widersprüche hindurch zu der Ehrfurcht vor dem "Unerkennbaren" zu entwickeln. So erhält IX 1 98 "das Universum eher ein spiritualistisches als ein mate­ rialistisches Aussehen"323. Das alles ist Rückbildung des Naturalismus in Dialektik, aber ohne innere Ausgleichung. 321

322 323

Ebd., S. 1 3: "Es ist mir ein neues Kraftgesetz eingefallen [...] : ,Die allgemeine Gül­ tigkeit des Rhythmus'; dieselbe ist eine notwendige Folge des Antagonismus einan­ der widerstrebender Kräfte. Dieser Rhythmus gilt ebensowohl von den Aether­ schwingungen" . Vgl. Herbert Spencer: Die Principien der Sociologie, 4. Band (1 897), S. 1 88: Statt "Disintegration" steht hier "Desintegration". Ebd., S. 1 98: ,, [...] so verleiht diese Nothwendigkeit, in der wir uns befinden, unse­ re auf die äussere Energie bezüglichen Gedanken in Ausdrücke der inneren Ener­ gie zu kleiden, dem Universum wahrlich eher ein spiritualistisches als ein materia­ listisches Aussehen".

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

667

storie, Mythographie und Ethnologie, Soziologie und Sittengeschichte, die Anschauung von den psychologischen Entwicklungen des primitiven Geistes sind ganz und gar von seinem Evolutionismus durchtränkt, auch wenn sie in Voraussetzungen und Ergebnissen stark von ihm und seinem mitunter philiströsen Doktrinarismus abweichen. Tylors "Primitive Culture of Mankind" bleibt bei allen Einseitigkeiten ein höchst anregendes aMeisterwerk und hat eine ganze große Schule hervorgerufen. Einea sozialökonomisch-soziologische Enzyklopädie wie Schmollers "Grundriß der Nationalökonomie" ist ganz auf Spencerscherb Methode aufgebaut, wenn auch für die eigentlich historische Zeit dann noch andere Gedanken und Methoden eingreifen223). Aber die Hauptwirkun­ gen sind ganz allgemeine Anregungen überhaupt. Die Aufsuchung der Kontinuitäten und Identitäten, die Erklärung aus Summierungen und Anpassungen, die Skepsis gegen alles Schöpferisch-Unmittelbare geht auf diese Evolutionstheorien zurück2241, I nicht minder die Vorliebe für biologische und insbesondere darwinistische Analogien. Der letzteren hat sich auch die politische Geschichtsschreibung vielfach bemächtigt, sei es in den bekannten rabiaten Formen der Rassenhistorie, sei es in den feineren der Geopolitik eines Kjellen.327 Trotzdem aber bleibt es doch auch I hier und hier erst recht ein Charakterzug dieser gesetzlichen und psychologisch-typisierenden Historie, daß sie im wesentlichen nur auf die Prähistorie anwendbar ist, von der nur die Allgemeinheiten überhaupt erkennbar sind, wo die Einzelheiten überhaupt einer konkreten Analyse nicht unterworfen werden können und wo kein wesentliches Interesse an den individuellen Hervorbringungen haftet, weil sie zu den heutigen historischen Werten und Idealen eine nur sehr mittelbare Beziehung haben, wo vielleicht überhaupt die psychische Konstitution einfacher und gleich­ mäßiger ist als in den Kulturzeitaltern. Dagegen ist kein einziges großes Werk der dokumentierten Geschichte auf diesen Grundsätzen aufgebaut, weil sie den Verwickeltheiten, der Produktivität und der Ideenfülle des eigentlich historischen Lebens nicht gewachsen sind. Nur im Trüben der 224) So eröffnet Fouille e in seiner "Esquisse" die Darstellung der Griechen mit dem Protest gegen Renan, es gebe kein "miracle grec"328; Geographie und Ethnographie lösen dies Wunder auf.

a

327

328

329

1 20329• Diese Charakteristik muß aber schon für die positivistischen Geschichts­ philosophen im Grunde selber gelten. A: Rassen-Historie

Vgl. z . B. Rudolf Kjellen: Die Großmächte der Gegenwart (1 9 1 4; 1 9 1 5). Die schwedische Originalausgabe erschien bereits 1 905 in zwei Bänden unter dem Ti­ tel "Stormakterna". Alfred Fouillee: Esquisse psychologique des peuples europeens (1 903), S. 1 : "Quoi qu'en ait pu dire un jour Ernest Renan, revant sur l'Acropole, il n'y a point eu de ,miracle grec'''. Vgl. Max Weber: Roseher und Knies und die logischen Probleme der histori­ schen Nationalökonomie (1 906), S. 1 20: "Der Bruch in der erkenntnistheoreti­ schen Grundlage ist bei Knies wie bei Roseher durch jene verkümmerten und nach der anthropologisch-biologischen Seite abgebogenen Reste der großen He­ gelsehen Gedanken zu erklären, welche für die Geschichts-, Sprach- und Kultur­ philosophie verschiedener [ ] einflußreicher Richtungen so charakteristisch war." ...

5. Die historische Dynamik des Positivismus.

669

Prähistorie läßt sich mit diesen groben Angeln fischen. Kein Zweifel, daß die Theorie Spencers mit ihrer konstruktiven Gewalt­ samkeit und dem Ausschluß aller spontan-schöpferischen Kräfte und Syn­ thesen des Geistes den Höhepunkt des Naturalismus in der Historie bedeu­ tet. Eben dadurch mußte sie aber auch die Kritik erwecken, und zwar auch bei solchen, welche die allgemeine Voraussetzung des Kausalitätsbegriffes als des einzigen Organs wissenschaftlicher Erkenntnis und damit die posi­ tive Denkweise selbst keineswegs preiszugeben gewillt waren. Solche gibt es ja auch bis heute nur erst ganz wenige. Eine lückenlose, jedes Folgende aus dem Vorhergehenden restlos herleitende Kausalität scheint auch heute noch den meisten der einzige Sinn der Entwicklungsidee zu sein. Aber das wurde doch aus den geschilderten Theorien klar, daß mit dieser einfachen Erweiterung der Biologie zur Historie oder der Assoziationspsychologie zur als Trost und Gegengewichta• Im Ideal übereinstimmend mit Hegel (364) mißt er psycho­ logistisch gebildete Kausalitätsreihen, durch die jede Stufe zu einem bestimmten geistigen Typus verurteilt ist, an diesem "aus der Gesamtentwicklung entlehnten Maßstabe" (34P5� .b Ueberdies empfindet er in dem Einbruch der geistigen Welt durch die Ap­ per l zeptionen und Synthesen hindurch in die wesentlich assoziative Primitivität einen tiefen Dualismus, der ihm die Vollkultur "durch das stets in irrationale Tiefen hinabrei­ chende seelische Geschehen" 473360 ähnlich erscheinen läßt wie Eucken. Hier ist die Grenze der Leistungsfahigkeit der Wundtschen Begriffe überall erreicht, aber als solche nicht erkannt. Man s. vor allem das Urteil über Goethe, der "das ganze Wesen der Naturforschung, überhaupt das Wesen des modernen Geisteslebens verkannt" habe S. 462361• Das spätere Buch v's, Die Stetigkeit im Kulturwandel 1 908 kehrt zu schärferer Betonung des psychischen Mechanismus zurück, verschluckt die Apperzeption in der Assoziation, den Fortschritt im Mechanismus. Das Ergebnis ist die 444 f. Auf Comte und Spencer bezieht sich Wundt natürlich fortwährend. 240) S. hierzu von der psychologischen Seite Kruegerd, Entwicklungspsychologie, der die völlige Abwesenheit jeder Wirkung auf die Psychologie konstatiert und auch seinerseits Wundt noch zu mechanistisch findet,J78 obwohl das schließlich doch auch von a

377

378

A: usw.,

b-b In A nicht hervorgehoben.

c

A: beziehe

d A, B: Krüger

Ebd., S. 393: "Gegen diesen Gedanken wäre, falls er sich bloß auf eine letzte religi­ öse Idee bezöge, die selbst jenseits aller historischen Betrachtung läge, schließlich nichts einzuwenden." Vgl. Felix Krueger: Ü ber Entwicklungspsychologie (1 9 1 5), v. a. S. 1 48: "Von ent­ wicklungstheoretischer Vergleichung ist bei alledem so wenig die Rede, daß z. B. Wundt in seiner Logik der Geisteswissenschaften, wo er durchweg von der gegen­ wärtigen wissenschaftlichen Lage ausgeht, der Soziologie genetische Fragestellun­ gen überhaupt nicht zuspricht."

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B 459

A 92, B 459

700 B 460

Kapitel UI. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Lamprechtb, I der der deutsche Taine heißen darf, wenn auch seine Gesetzes­ begriffe reichlich anders konstruiert sind und Lamprecht den literarischen seiner eigenen "Entwicklungspsychologie" gilt". Von der historischen Seite s. die Kri­ tik bei F. Graebnerb, Die Methoden der Ethnologie, Heidelberg, 1 91 p79; bekannt ist die Kritik von H. Paul in seinen "Prinzipien der Sprachgeschichte", c1 880, der um der Komplexionen willen lieber bloß von Kulturwissenschaft als von (psychologisch durch­ führbarer) Geisteswissenschaft reden will-b A: mit aller In Afolgt: Ja, die logisch und erkenntnistheoretisch weniger belastete und darum weniger abstrakte Psychologie hat unter dem Zwang der Gegenstände diesem Bestandteil immer noch mehr ungewollte Rechnung getragen als der an sich das geistige und ethische Leben tiefer und selbständiger würdigende Logizismus. d In A folgt: in diesen Abhandlungen gesuchten Grundbegriff der Historie, dem e In Afolgt die Fußnote: Vgl. H. Z. 1 1 9, S. 385. f-f A: am reichsten und lebendigsten g A: bleibt

a-a c

B 468

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B 469 A 382

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

das Ideelle nur mehr vom erfahrungsmäßigen Standpunkt aus induktiv in Entstehung und Wandelung zu erforschen unternahm, aber darin dann doch Durchbrüche und Einbrüche aus dem Reiche einer unbewußten Geistesentwicklung erkannte und diese Annahme wohl oder übel mit der physiologischen und assoziationistischen Psychologie zu vereinigen strebte. Hier ist namentlich der jüngere Fichte charakteristisch. Auf der einen Seite blieb der Begriff des psychophysischen Parallelismus, der im Ergebnis alles Bewußtsein naturalisiert, auf der anderen der Begriff des Unbewußten, der die dialektischen Wandelungen und Auftriebe in seinem Dunkel birgt, die Nabelschnur, die die Systeme mit ihren Müttern vereinigte. Dort scheute man vor allem den "Nativismus" als unwissenschaftliches Wunder und erklärte alle verwickelten Bildungen offen oder I verhüllt assoziationistisch. Hier scheute man die Anerkennung einer zweifachen Methode und verlegte die Entwick I lung in eine teleologische Kausalität des Unbewußten. Hegels "Phänomenologie des Geistes" verwandelte sich in empirische, erklärende, beschreibende und verstehende Psychologie, und die letztere näherte sich dem Problem der ersteren in dem Maße an, als die "verstehende" Psycho­ logie von der genetischen Kausalerklärung sich unabhängig machte und jenes fabelhafte moderne Vermögen der Einfühlung und psychologischen Nachkonstruktion entwickelte, das in seiner Spannweite, Universalität und Biegsamkeit mehr als irgend etwas anderes den modernen Geist charakterisiert243) •

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243) Vgl. einige der bedeutendsten ganz verschiedenartigen Werke: E. v. Hartmann, Die moderne Psychologie, 1 901 ; R. Reiniger, Das psychophysische Problem, 1 9 1 6; K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 1 9 1 9; William Stern, Person und Sache, 1 906/1 8. Jaspers deutet selbst an, daß er Hegelsa "Phänomenologie" auf den Boden der Psychologie versetzt,391 Stern knüpft an die Entelechie an.392 a

A: die

391 Vgl. Kar! Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (1 9 1 9), Einleitung, S. 1 1 :

"Schließlich werden wir uns umsehen, ob und wo eine systematische Psychologie der Weltanschauungen geleistet worden ist. Ich kenne nur einen großartigen Ver­ such: Hegels Phänomenologie des Geistes. Aber dieses Werk will viel mehr als eine bloße Psychologie der Weltanschauungen. Es entwickelt die Gestalten des Geistes bis zum absoluten Wissen, es ist selbst Ausdruck einer Weltanschauung. Im ein­ zelnen für unseren Zweck bloßer Betrachtung sehr ergiebig, sehr lehrreich, ist es als Ganzes uns doch nicht Vorbild, vielmehr selbst Objekt. Wir verwenden es für einzelne Probleme als Steinbruch, wertvolles Baumaterial zu holen." 392 Vgl. William Stern: Person und Sache, 2. Band (1 9 1 8) , Abschnitt "A: Das Zielstre­ ben der Persönlichkeit (Entelechie-Lehre)", S. 1 5-92.

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus.

715

Es ist klar, daß für die Bildung des Entwicklungsgedankens die immer noch am Anschaulichen haftende Psychologie mehr ergab als der sehr ab­ strakte, eigentlich nur die teleologische Bewertung, nicht aber den Begriff des Werdens selbst verbürgende Kritizismus, und daß innerhalb der Psy­ chologie wiederum die rein experimentelle, allgemeingesetzliche und kau­ salgenetische sehr viel weniger ergab als die verstehende und einfühlende Psychologie, welch letztere schließlich immer mit Anlagen, Dispositionen, höheren Wertgebilden zu rechnen hat und in den fluß ihres Werdens nach­ verstehend und sinnhaft deutend eintauchen muß. So ist es von der ersteren aus über Wundt, Fouillee und Guyau nicht hinausgekommena. Dahingegen wurdeb von der Seite der antimechanistischen, verstehenden und die Sinnzu­ sammenhänge aufsuchenden Psychologie her die ganze Fülle der in ihr ver­ steckten logischen und metaphysischen Probleme wieder befreit und in steigendem Maße I die in Psychologie und Logizismus Cyerwandelten Prinzipien der Dialektik und Organologie wieder aus ihrer Erstarrung und Einschrumpfung mehr oder minder gelöst worden, nicht ohne den inzwischen erreichten empirischen und kritischen Sinn als Ausgangspunkt fest­ zuhalten.d Das Ergebnis von alledem ist dann doch, daß auch von dem neuen empirischen Standpunkt aus sich die alte Unterscheidung I der Methoden in eine diskursive, analytische und genetisch zusammensetzende und eine intuitive, synthetische, das bewegte Ganze erfassende in den ver­ schiedensten Formen erneuerte und mit dem Dualismus der Methoden sich auch eine Scheidung in der metaphysischen Wirklichkeitsgrundlage

a

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B 470

A' hinausgekommen; wo sie die Fesseln des alles erklärenden Kausalitätsbe­

griffes sprengte und sich nur auf empirisches Aufnehmen und Beschreiben be­ schränkte, ist sie zur reinen Skepsis geworden, wie das in der bestrickendsten und erschütterndsten Weise Anatole France und in strengerer und gehaltenerer Weise doch auch Dilthey zeigt b A: ist c-c A: verwandelte Phänomenologie Hegels d In Afolgt Gleichzeitig machten auch rein aus ihren eigenen Problemen heraus die Naturwissenschaften und die Kausalitätsbegriffe gewisse innere Krisen durch, die mit einer derart vertieften und verlebendigten Anschauung vom geschichtli­ chen Seelenleben wenigstens eine Art Berührung hatten.!)

1) Dafür besonders charakteristisch H. Maier, Die Psychologie des emotionalen Denkens 1 908 und die feine Skizze von E. Spranger, Zur Theorie des Verstehens und zur gei­ steswissenschaftlichen Psychologie, Volkelt-Festschrift 1 9 1 8. Von Husserl und Bergson wird in diesem Aufsatz noch die Rede sein müssen.

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

verband244). Der Geist erschien gegenüber der bloßen Milieutheorie oder der damit immer verwandter werdenden ökonomischen Erklä­ rung wieder als die treibende Kraft, die als Wertwelt die physische und psychische Naturhaftigkeit zu gestalten strebt. Die Philosophie wurde wieder Geistesphilosophie, die die gesetzliche Natur von dem aus ihr und dem naturhaften Seelenleben sich losringenden Geistesgehalte unterschiedb• Indem aber so der Geist vor allem als kämpfender, der Natur entgegengesetzter erschien, wurde zugleich die Unmöglichkeit immer klarer, ihn und sein Werden allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen wie jeneC; ja auch der Versuch, die Gesetze des Werdens des Geistes auf die seiner logischen Selbstbewegung I zurückzuführen und zu beschränken, erschien gegenüber der erfahrungsmäßigen Buntheit, Widerspruchs fülle, praktischen Gerichtetheit und Irrationalität nicht wieder als möglich. Der Begriff der Individualität innerhalb des Stromes eines natürlich-geistigen Werdens und jedesmal individueller Wert- und Sinnzusammenhänge trat ganz anders grundlegend heraus als in Hegels dialektischem Monismus . Die Geistesphilosophie wurde so zur Lebens­ philosophie, die im Geiste den aus der Natur hervorbrechenden und seine innere Füll e offenbarenden grenzenlosen Lebensstrom vor allem empfindet und anschaut. Damit ist ein leidenschaftlich ergriffenes neues Ziel in das moderne philosophische Denken eingetreten, zum guten Teil unter Mitwirkung philosophisch angeregter, aber nicht schulphilosophisch exakter Köpfe. dGeistes- und Lebensphilosophie wurden dabei bald mehr vom psychologisch verstehenden, bald mehr vom neukantisch transzendentalen Standpunkt aus behandelt. Schließlich erwuchs daraus wieder eine neue Metaphysikd. Die Gegensätze und Schwierigkeiten, die aus diesen verschiedenen Herkünften und Interessen sich ergeben, erfüllen 244) Diese Methodenscheidung tritt in allen hier genannten Werken zutage, besonders interessant bei dem Kritizisten Reiniger S. 21 8, 223-228, 248. a In A folgt jetzt aber b InA folgt und nicht auch, wie einst Hegel, die ganze Natur in nachfühlbare Sinn­ bewegung auflöste cA: jenen d-d A: Rationalistische Geistesphilosophie und irrationalistische Lebensphilosophie gingen dann schließlich mannigfach ineinander über. Vom Kritzismus und Lo­ gizismus her öffnet sich doch immer mehr der Weg zu einer selbständigen und damit der echten Historie zugewendeten Geistesphilosophie, vom Psychologis­ mus her ergiebt sich die überwiegende Fassung des Geistes als Leben und irra­ tional anschauliche Bewegtheit

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus.

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das heutige Denken und kämpfen um einen einheitlichen Austrag. Die Bewegung auf diese Ziele ist, wie sie von dem wieder nach Konzentrierung I und Freiheit strebenden modernen Leben überall verlangt wird, eine internationale245) . 245) Vgl. J. Goldstein, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart 1 9 1 1 ; K. JoeIa, Die philosophische Krisis der Gegenwart 1 9 1 4; T. K. Oesterreich, Internationale Strömungen in der Philosophie der Gegenwart, Intern. Wochenschr. 1 3, 1 91 9. JoeIb sieht wesentlich den Gegensatz von Kritizismus und Psychologismus, weniger die gemeinsame Grundlage.393 a

A, B: Joel

b A, B: Joel

c

B: Russel

393 Vgl. Karl JoeI: Die philosophische Krisis der Gegenwart (1 9 1 4) , u. a. S. 35: "Zwei

Schlachtreihen stehen sich heute auf dem Felde des Geistes gegenüber: die Ver­ fechter der Macht des Denkens und die Verfechter der Macht des Lebens, des Seins überhaupt." 394 Vgl. Bulletin of the Berkeley Baptist Divinity School (1 922-1 923) , S. 28: "Theolo­ gy in the Nineteenth Century", Seminar von Professor John William Johnson. 395 Ebd., S. 30: "Contemporary Tendencies in Philosophy" (professor Prall). "A sur­ vey of the most important recent tendencies in philosophy with especial reference to the teachings of Bergson, James, Bosanquet, Royce, Russell, Alexander, Santa­ yana." 396 Vgl. Albert Verwey: Europäische Aufsätze (1 9 1 9) , v. a. S. 1 80 f.: "Irre ich mich, oder gab es neben Ranke, der den deutschen Gedanken so stark erfasste, nicht andere grosse Geister, die den europäischen Gedanken vor allem fühlten: Heine z. B., um keinen geringeren Namen zu nennen, und um auch einen Geschicht­ schreiber anzuführen, keinen kleineren als Michelet? Ich weiss nicht, ob mir Ran­ kes Geschichte der deutschen Reformation mehr Bewunderung ablockt als Mi­ chelets Geschichte der Französischen Revolution. Ich weiss nicht, ob ich Heines Liebe zur Menschheit Goethes zarter Empfindung für jedes Ding vorziehe. Doch ganz gewiss muss, wie Heine neben Goethe, so Michelet neben Ranke genannt

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Damit gewinnt nun auch ader Entwicklungsbegriffa neue Voraussetzun­ gen und neue Bedeutung. Es ist dies auch allenthalben in der Historie zu empfinden. Sie ist sich ihrer methodischen Eigentümlichkeit gegenüber den Naturwissenschaften freudiger und lebhafter bewußt, verfeinert ihre Kunst des psychologischen Ver I stehens, breitet den Kreis des historischen Le­ bens über eine immer breitere Wertwelt aus und ist immer eifriger dem Verständnis des Werdens zugewandt. Vor allem aber entspringen aus dem neuen Vertrauen zu einer intuitiven Erfassung des historischen Gesamtle­ bens bei den bedeutenden Köpfen neue Durchblicke durch den universal­ historischen Prozeß, die bder Krisis des europäischen Geistes vom Ende des Jahrhunderts entsprechenb. Freilich ist bei der Natur dieser Dinge die­ se intuitive Logik der Entwicklung logisch noch wenig geklärt und sind je­ ne Durchblicke dementsprechend sub jektiv sehr verschieden. Deshalb läßt sich auch die Schematisierung der neuen Geistes- und Lebensphilosophie, vor allem die ihrer Auswirkung im historischen Denken, nicht weiter trei­ ben, als hier geschehen ist. Man kann nur jetzt beim Rückblick auf die gan­ ze Periode seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts sagen, daß trotz aller Zer l splitterung doch ein gewisser Grundzug durch sie hin­ durchgeht, und daß dieser Grundzug den immer neuen Versuch einer Ver­ einigung positivistisch-realistischer und idealistisch-spekulativer Elemente bedeutete. Die enge Verbindung der Philosophie mit der Historie, die das beginnende 1 9. Jahrhundert dcharakterisiert hatted, erscheint von neuem als Wesen der modernen Philosophie und des modernen, seine Vergangenheit immer neu verarbeitenden Geistes. a-a

A: der Zentral begriff der Historie, der Entwicklungsbegriff,

b-b A: weder mit dem verblichenen Humanitarismus oder Intellektualismus der ge­

wöhnlichen Fortschrittsidee noch mit den welthistorischen Ausweitungen natio­ naler Ideale, weder mit der französischen liberalen Revolutionsglorie noch mit der angelsächsischen Zivilisation der Unabhängigkeit und technischen Kultur oder der Macht-Metaphysik des Bismarckischen Reiches, zusammenfallen, die auch nicht hellenischen Klassizismus oder mittelalterliche Romantik zur Sub­ stanz des geschichtlichen Lebens machen c A: bedeutet; das ist bald mehr von der Psychologie, bald mehr von der Er­ kenntnistheorie unternommen worden und hat sich dann von diesem Boden aus schließlich wieder verselbständigt, das heißt, nach metaphysischer Begründung und Erweiterung gestrebt d-d A: charakterisierte

werden, und sicherlich fühlten nicht Ranke und Goethe, sondern Michelet und Heine diesen Blitzstrahl der modernen Zeit."

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Alle s Weitere gehört den individuellen Problemlösungen an, zu denen ich nunmehr übergehe, um jede für sich allein ohne Auflösung in den allge­ meinen gedanklichen Prozeß zur I Darstellung zu bringen. Man wird dann auch erkennen, wie reich und originell das heute so vielgeschmähte moderne Denken doch eigentlich ist. Der Bahnbrecher ist hier3 Hermann Lotze , me und lange unterschätzte Vermittler einer streng durchgeführten Allge­ setzlichkeit mit einer aus souveränen und erlebnishaften Werturteilen ge­ schöpften Teleologie, gleicherweise ein Gegner des mechanistischen wie des spiritualistischen Monismus und insbesondere abgeneigt gegen die H e­ gelsche Verehrung bloßer Formen, aus deren dialektisch-notwendiger Folge dem einzelnen erst Stellung und Sinn innerhalb des Ganzen zukomme. Lotze war endlich wieder reiner Pluralist wie Leibniz und Herbart, und unterschied als aufeinander nicht reduzierbare Prinzipien die realen Grundelemente des Seienden, die naturgesetzlieh formulierbaren Aufeinanderbezogenheiten des Wirkens und die autonom im Gefühl zu bejahenden Werte. Seine Vermittelung bestand daher nicht, wie esb oft geschah und geschieht, in der bloßen erkenntnistheoretischen Abwehr ma­ terialistischer Konsequenzen des naturwissenschaftlichen Denkens oder in der Identifizierung von Kausalität und Finalität, sondern in der aus jenem grundsätzlichen Pluralismus folgenden Bestreitung aller Vorstellungen, als ob die Erkenntnis csich auf genetisch-kausale Probleme beschränken& müsse und könne, als ob durch gesetzliche Reihenbildung von außen her die Zusammen I setzung alles Großen und Komplizierten erschöpfend begriffen werden könne, schließlich als ob Bedeutung und Sinn irgend eines Gebildes aus dem bloßen Ort innerhalb solcher durch Vergleichung gebildeter Reihen erschlossen und festgestellt werden könne. Er sah vielmehr die ge­ gebenen und individuellen Elemente des Seins als völlig irrationale Setzung an, erkannte in den naturgesetzlieh darstellbaren Formen ihrer Wechselwirkung geradeso eine gegebene Gesetzlichkeit der Auswirkung und WechA: - wenigstens in Deutschland, im Ausland ging der Fortschritt mehr aus der Psychologie selbst hervor b A: so c-c A: eine reine und ausschließlich genetisch-kausale sein a

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selwirkung des Seienden und beurteilte die Werthöhe der Entwicklungen nach nicht minder unab I hängigen und unableitbaren Gültigkeiten der Gefühlswerte. Sofern er eine Einheit dieser geschiedenen und stets vorauszusetzenden Prinzipien annahm, fand er sie in der aus der Deutung ihrer bewußtseins-immanenten Gegebenheit erwachsenden Metaphysik, die in Gott den Grund und die Möglichkeit der Wechselwirkung, der Seins-Einheit und der Entwicklung auf sein sollende Ziele hin erschloß und postulierte. Erst auf diese Weise gab es für ihn einen Grund und Kern der Wirklichkeit, aus dessen inneren Bewegungen und sinnvollen Entwicklungen die Form der gesetzlichen Wechselwirkung und einheitlichen Verknüpfung alles Seienden entfloß, wobei die Gesetze dieser Verknüpfung sich selbst mit den inne­ ren Wandlungen des in ihnen sich auswirkenden Substrates wandeln kön­ nen. Das letztere ist insbesondere für das historische Denken von der aller­ größten Bedeutung: es sondert eine innere, nur metaphysisch erfaßbare, wertbestimmte Bewegung des Lebens von den naturgesetzlich erfaßbaren und erforschbaren Einzelbewegungen und Einzelverknüpfungen, eine Be­ wegung, die nicht eine logisch notwendige, unwandelbar und allgemeingül­ tig aus dem Begriff der Naturgesetzlichkeit folgende Vorschrift für alles Sei­ ende, sondern eine mit der Veränderlichkeit des wirkenden Seins selbst ver­ änderliche und nur mit dieser Einschränkung allgemeine und notwendige Form seiner Wechselwirkung ist. Leider kommt dieser wichtige Gedanke nur in seiner Metaphy­ sik398 zum vollen Ausdruck, während seine LogiP99 ihn lediglich andeutet und der daraus folgenden Doppelheit der allgemeinen Begriffe, dem Un­ terschied der statisch-exakten und der dynamisch-intuitiven Begriffe, trotz I großer Feinheiten und trotz erfreulicher Zurückhaltung gegen jeden absolu­ ten Rationalismus der allgemeinen Gesetze doch nicht hinreichend gerecht wird. Um so deutlicher tritt die Folge davon in den geschichtstheoretischen Teilen seines "Mikrokosmus" zutage.400 Hier herrscht überall ein spezifisch historisches Denken vor, weil überall Lotzes Metaphysik die eigentliche letzte Grundlage ist. Die Historie zieht sich aus dem Werden der Natur auf unserem Planeten hinüber in das Wer­ den der I Lebewesen und der Menschen, worin Lotze bewußt Herders 397 398 399 400

Vgl. z . B. Hugo de Vries: Die Mutationstheorie, 2 Bände (1 901/1 903) . Vgl. z. B. Hermann Lotze: System der Philosophie, 2. Theil (1 879; 1 9 1 2). Vgl. z . B. Hermann Lotze: System der Philosophie, 1. Theil (1 874; 1 880; 1 9 1 2) . Die geschichtstheoretischen Teile finden sich überwiegend i m 3. Band (1 864; 1 880) des Werkes.

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Vorbild folgt und trotz alles sonstigen Gegensatzes auch mit Fichte, Schel­ ling, Hegel und Schleiermacher tatsäch lich übereinstimmt. Dabei sind die einzelnen Elemente und einzelnen Gebilde des Seins, zu denen auch die Seelen gehören, stets individuell in dem metaphysischen und romantischen Sinne des Wortes: irrationale Setzungen, die innerhalb aller allgemeinen Verknüpfungen und Gesetze doch erst das wahrhaft eigentliche, einmalige und lebendige Wirkliche darstellen. Mit dieser Betonung der Individualität ist dann auch der üblichen Menschheits- und Fortschrittstheorie der Nerv durchschnitten, die Menschheit in verschiedene historisch-individuelle Kul­ turkreise zerteilt, innerhalb dieser wieder in individuelle Einzelgeister auf­ gelöst und das geschichtsphilosophische Interesse von dem Endzustand der Menschheit aabgelöst. Gibttt es einen Gesamtsinn der Menschheitsge­ schichte, so nimmt an diesem nicht erst die letzte Generation vollbewuß­ ten Anteil, sondern die durch den Tod geläuterte und zum Ziel ihres in­ dividuellen Daseins gelangende Seele. Sind aber derartb die in dem N etz­ werk der Wechselbeziehung die wirkenden Punkte bildenden individuellen Geister das Entscheidende, dann kann die kausal-genetisch-soziologisch­ psychologische Erklärung des Werdens nur die Formen der Wechselwir­ kung, aber nicht die wirkenden Kräfte selbst erläutern und klarstellen . So wichtig und unentbehrlich sie zum Verständnis ist, so sehr sie Bedingungen und Formen darbietet, unter denen der Geist sich äußert und die seine Offenbarungs- und Durchbruchsmöglichkeiten positiv und negativ bestimmen: die eigentlichen Aeußerungen des Geistes gehen doch nicht aus diesen gesetzlichen Bedingungen und Wirkungsweisen, sondern aus dessen geheimnisvoller eigener innerer Bewegung hervor. Hier zeigt sich ein Bruch zwischen Seele und I Geist, zwischen Soziologie und Psychologie einerseits, geschichtlichem Werden andrerseits; und an die Erläu­ terung dieser Bruchstelle schließen sich die schon erwähnten Theorien von der Wandelbarkeit und Kontingenz auch der Naturgesetze, die soziologischen und psychologischen eingeschlossen, an. Die Naturgesetze sind keine logischen Gesetze; die Logik fordert nur, daß es Naturgesetze gebe, I ohne ihre Abhängigkeit von den in ihnen sich äußernden, schließlich nur metaphysisch zu bestimmenden Kräften zu bestreiten. Es ist ein etwas anderer Gedanke als Hegels Unterscheidung von kausaler Reflexionslogik und Dialektik, eine nähere und tiefere Ineinanderschiebung und Verbindung beider, aber doch, wie Lotze selbst wohl weiß, eine Annäherung an diesen Gedanken. Fragt man dann aber schließlich nach den Begriffen, in denen dieses eigentliche Werden der schöpferischen Kräfte erfaßbar wird, so kommen für Lotze die autonomen Werte zu ihrer vollen und durchgreifenden a-a

A: abgelöst; gibt

b A: durch

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Geltung. Jene historischen Kräfte sind erfaßbar nur als Bewegung auf sein­ sollendea Werte und Ziele hin, als "Triebkräfte" oder "Bildkräfte",401 als "Ideen" und ,,Tendenzen'',402 die aus innerer Notwendigkeit auf ein System logischer, ethischer, religiöser, sozialkultureller Werte hindrängen. Im Sein schlummert eine Idee oder Bildkraft, die sich zu den Reichen der Natur und der Lebewesen, in­ nerhalb der Menschheit zu den großen Kulturwerten entfaltet und deren Entfaltungsprozeß sich kausal nur beschreiben, aber nicht erschöpfend er­ klären läßt. Den jeweiligen, die Bewegungen zur Einheit zusammenfassen­ den inhaltlichen Sinn stellt aber stets nur das eigene Lebensgefühl fest oder, soweit ein solches noch nicht erreicht ist, das Lebensge­ fühl des Betrachters, das eine jeweils autonome und erlebnishafte, aber zu­ gleich nach Allgemeingültigkeit strebende Wertbeurteilung ist. Von hier aus formen sich die historischen Entwicklungsbegriffe, die eben damit gänzlich außer- oder übermechanische sind. Lotze selbst bringt diese Schau der sinn­ vollen Entwicklungseinheiten, die zugleich mit der mechanischen Durch­ setzungsform innerlich zusammenhängen müssen, gerne unter ästhetische a

A: sein sollende

401 Vgl. bei Hermann Lotze: Mikrokosmus, 2. Band (1 864; 1 880) die Formulierung

S. 1 25: "Ist jedoch einmal der bildende Trieb durch eine Summe von Ablenkun­ gen bis zur Wasserscheide zwischen seinem eigenen Gebiet und dem des benach­ barten Maximum getrieben, so wird er nun nicht mehr durch die Kraft der äußern Umstände, sondern durch seinen eignen Fall, seine eigne Beschleunigung, die wie­ der ein sicheres Gleichgewicht der Kräfte sucht, vällig über sich selbst hinausge­ führt, und es entstehen Bildungen nach einem neuen, wieder constanten Typus, der ebenso wie der frühere eine Wurzel der allgemeinen Formgleichung ist." 402 Vgl. z. B. ebd., S. 6: Indem "die ausdeutende Ansicht der Natur", so Lotze, "es aufgibt, die Entstehung der ursprünglichen Anordnungen zu erklären [".] mäch­ te sie [".] durch den andern Nachweis entschädigen, daß wenigstens nicht eine zerstreute Vielheit beziehungsloser Einzelheiten, sondern die Einheit einer bedeu­ tungsvollen Idee jenes erste Gegebene bilde, einer Idee, deren unbedingter Werth es verdient, zum tiefsten und festesten Grunde der Welt gelegt zu sein". Vgl. zu­ dem ebd., S. 273: Dort führt Lotze aus, daß sich auch die "Tendenz" der Seele, "nur in einem unabgebrochenen mechanischen Zusammenhange realisiere, aber sie sei "doch nicht ein passives Erzeugnis desselben. Denn obwohl die Seele nicht [.,,] antworten kann, bevor sie angeregt und gefragt ist, so ist doch der Inhalt ihrer Antworten ihr Eigenthum und drückt in jedem Augenblick das aus, was sie nach der innerlichen Consequenz ihrer Natur auf diese bestimmten Anregungen zu er­ wiedern, auf dieser bestimmten Stufe ihrer Entwicklung auszugestalten hatte. Das Integral dieser successiven Aeußerungen ist die ursprüngliche Tendenz der Seele".

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Kategorien und versäumt es, rein logische für diesen Zweck zu bilden. Er nennt sie gerne "ästhetische Gerechtigkeit"403 als Entsprechung des tatsächlichen Verlaufes zu einem sinnvollen Zweck, darin mit Kants teleologischer Urteilskraft sich berührend, oder I stellt die Dynamik dem Mechanismus häufig gegenüber wie die "Melodie" dem "Akkord"404: jedenfalls auch hier eine grundsätzliche Unterscheidung der kausal-genetischen von der intuitiv­ dynamischen, mit den Werturteilen eng zusammenhängenden Me I thode, welch letztere er mit ästhetischen Kategorien bezeichnet, aber als Erkenntnis meint. Lotze selbst zieht aus diesen tiefgreifenden Sätzen nicht ganz die Folge­ rungen, die man erwarten sollte. Er wagt noch nicht, wie später sein Schü­ ler Windelband, die Kombination des Individualitäts- und Wertbegriffes zur genaueren Bestimmung der historischen Begriffe und nähert vor allem das System der historischen Werte schließlich auf Grund ihrer angenomme­ nen Allgemeingültigkeit doch wieder allzusehr der alten Menschheits- und Fortschrittsidee. Er verzichtet zwar auf die Darstellung des universalhisto­ rischen Prozesses als undurchführbar und beschränkt sich auf die Darstel­ lung der Einheit und des Fortschrittes auf dem Gebiete der mittelmeerisch­ europäischen Kultur. Aber das wesentlich doch nur deshalb, weil ihm der europäische Geist erst der Durchbruch der universalen Vernunft ist, genau wie bei Hegel, und weil er daher diesen an Stelle der Menschheit setzen zu dürfen glaubt, sobald nicht vom Gattungs-, sondern vom Idealbegriff des Menschen die Rede ist. Und auch innerhalb dieses engeren Ganzen werden doch alle Entwicklungen als Durchsetzung allgemeiner Vernunft­ anlagen des Schönen, Wahren und Guten betrachtet, die dann auf ihrem Wege durch die Jahrtausende als eine gleichartige und zu einheitlichem Ziel emporstrebende Aufwärtsbewegung behandelt wird. Sie gipfelt in der "mo­ dernen Humanität"40S , die trotz aller Mängel und Unsicherheiten doch die Verwirklichung des Wertsystems der Vernunft an sich ist. Es ist der gemäßig403 Vgl. z. B. ebd., S. 265 f.: "Gingen daher die verschiedenen Vermögen der Seele

nicht alle eines aus dem andern, sondern zum Theil nur neben einander aus der Tiefe ihrer Natur hervor, so bemerkten wir doch, daß ihr Beieinandersein einen zusammenstimmenden Accord bildete, und daß diese Natur der Seele, um ihres vollen Wesens wille n, nicht die eine jener Thätigkeiten entfalten kann, ohne, wie einer poetischen Gerechtigkeit gemäß, einen mehr oder minder großen Antheil der übrigen hinzuzufügen." 404 Ebd., S. 1 56: "Ja nicht einmal eine Melodie ist ein richtiges Bild dieses Lebens; denn auch ihre Wendungen innerhalb der festen Leitern harmonischer Accorde werden der Seele abgenöthigt durch fremde Reize, die der Weltlauf ihr in den Weg wirft." 405 Als Zitat nicht nachgewiesen.

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te und humane Liberalismus unserer Großväter, mit starker Orientierung am literarisch-humanistisch-klassizistischen und am naturwissenschaftlich­ logischen Fortschritt, nicht ohne Gefühl für die Gefahren, die diese Kultur bei der Unsicherheit ihres sozialen Unterbaues bedrohen, ein Liberalismus, der überdies mit einer theistischen Religiosität als seiner historischen Wur­ zel noch klar und deutlich verknüpft ist und darin ein stark humanisiertes Christentum festhält246). Darin I ist es wohl auch begründet, I daß sich bei 246) Vgl. Mikrokosmus IP 1 878, IIP 1 880. aDazu die schon öfter erwähnte Logik und Metaphysik. Einzelbelege HZ 1 22, S. 390 fa. a-a

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A: Individualität: II 1 , 29, 66, 69, 1 69; S. 1 75: Die allgemeinen Gesetze, die doch zugleich "die unterschiedliche Mannigfaltigkeit der individuellen Gestaltung I gestatten"406, also der Gegensatz von "Gesetz und Gestalt". - Die "Bild­ kräfte" als Entwicklungsprinzipien der Gestalten vom Wert aus bestimmt: II 1 25, 1 33, 1 36; 273 "ursprüngliche Tendenzen"407 an Goethes Urphänomene erin­ nernd und der Unterschied von mechanischer "Erklärung" und historisch-teleo­ logischer "Deutung". - Die spezifisch historische Dynamik II 6, 56408; III 282 "organische Betrachtung"409 ; II 274 "Auch in den tiefsten Gründen der geisti­ gen Entwicklung findet sich daher die Konsequenz eines notwendigen Zusam­ menhanges, aber diese Konsequenz trägt nicht das Gepräge mathematischer Gesetz­ lichkeit, sondern das einer ästhetischen Gerechtigkeit, nur in der Art der Folge­ richtigkeit, nicht in der Strenge und Festigkeit ihrer Gebote von jener verschie­ den. Denn während das mathematische Gesetz nur die Wechseleinflüsse gleich­ artiger Ereignisse unmittelbar bestimmt, verkettet die ästhetische Gerechtigkeit

406 Hermann Lotze: Mikrokosmus, 2. Band (1 858; 1 878), S. 1 75: Lassen sich, so fragt

Lotze, "einzelne bestimmte Züge, charakteristische Gewohnheiten des Wirkens angeben, die, in allen Menschenseelen wiederkehrend, sie zu einem zusammenge­ hörigen Ganzen verbinden, in den einzelnen aber in unendlich verschiedenen Gra­ den vorhanden die unbeschreibliche Mannigfaltigkeit der individuellen Gestaltung gestatten?" 407 Vgl. oben, S. 722, Anm. 402. 408 Hermann Lotze: Mikrokosmus, 2. Band (1 858; 1 878), S. 56: "Die Reihe der Weltau­ genblicke kann daher nicht eine Vielheit von Momenten sein, in deren jedem sich der Eine Sinn der Welt nur auch erhält; sie muß vielmehr eine Kette sein, deren je­ des Glied mit allen andern in der Einheit eines Planes zusammenhängt." 409 Hermann Lotze: Mikrokosmus, 3. Band (1 864; 1 880), S. 282: "Aber nachdem wir auch in ihren geschichtlichen Wandelungen eine gesetzliche Stetigkeit des Fort­ schrittes zu entdecken glaubten, haben wir in dem Namen und der Vorstellung geistiger Organismen ein Mittel gefunden, auch ihnen doch eine größere Selbstän­ digkeit ihres Daseins und ihrer Entwicklung zuzuschreiben, als ihrer Natur zu­ kommt."

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das für unsere begriffliche Vergleichung Ungleichartige, aber zum Ganzen einer Idee dennoch notwendig Zusammengehörige . ... Eine allgemeine Statik und Me­ chanik des Inhaltes geht in der Welt der anderen Statik und Mechanik voran, die sich nur auf Gräßenveränderungen dieses Inhalts bezieht. Ihre Gebote traten uns in dem geistigen Leben in der allgemeinen Tendenz entgegen, die nur als der treibende Grund einer Entwicklung fühlbar wird"410. Das ist Mathematik und Goethesche Morphologie. III 370 und II 265 die "poetische Gerechtigkeit". II 1 56 Melodie und Akkord. - Die Andeutung zweier Methoden, einer naturgesetzlichen und intuitiven: II 59 "die Wirklichkeit im Großen Poesie, Prosa nur die beschränkte und zufällige Ansicht der Dinge"41t; 258-26 1 Anschauung und Durchschauung der Dinge vom Standpunkt Goethes und Annäherung unseres Denkens daran in einzelnen Augenblicken, das gewöhnliche Denken mechanistisch; II 275 doppel­ te Mechanik und Statik; II 29 1 zwei Tendenzen, eine allgemeingesetzliche und eine auf das lebendige, organische Ganze gehende. - Die Veränderlichkeit der Naturgesetze als Folge der Veränderung des inneren Substrates: II 54, 59412, 125 4 1 0 Hermann Lotze: Mikrokosmus, 2. Band (1 858; 1 878), S. 274 f.: "Auch in diesen

tiefsten Gründen der geistigen Entwicklung hndet sich daher die Consequenz ei­ nes nothwendigen Zusammenhanges; aber diese Consequenz trägt nicht das Ge­ präge mathematischer Gesetzlichkeit, sondern das einer ästhetischen Gerechtig­ keit, nur in der Art der Folgerichtigkeit, nicht in der Strenge und Festigkeit ih­ rer Gebote von jener verschieden. Denn während das mathematische Gesetz nur die Wechseleinflüsse gleichartiger Ereignisse unmittelbar bestimmt, verkettet die ästhetische Gerechtigkeit das für unsere begriffliche Vergleichung Ungleichartige, aber zu dem Ganzen einer Idee dennoch nothwendig Zusammengehörige. [.. ] Eine allgemeine Statik und Mechanik des Inhaltes geht in der Welt der andern Sta­ tik und Mechanik voran, die sich nur auf die Größenveränderungen dieses Inhal­ tes bezieht. Ihre Gebote werden uns in der Betrachtung der Natur in Gestalt je­ ner thatsächlichen Gesetze der Wechselwirkung bemerkbar, welche die rechnende Theorie nicht machen, sondern nur anerkennen kann; sie treten uns in dem geisti­ gen Leben in der allgemeinen Tendenz entgegen, die uns als der treibende Beweg­ grund seiner ganzen Entwicklung fühlbar wird." 411 Ebd., S. 59: "Wo dagegen unsere Sehnsucht nach einem Ueberblicke begehrt und nach einer Aufklärung über die Ahnungen und Hoffnungen, die ins Unendliche gehen, da müssen wir uns erinnern, daß hier leicht das Abenteuer zur Wahrheit werden kann, und daß die Wirklichkeit im Großen Poesie ist, Prosa nur die zufäl­ lige und beschränkte Ansicht der Dinge, die ein enger und niedriger Standpunkt gewährt." 412 Ebd., S. 59: "Von unbedingter und ewiger Geltung dürfen neben diesem Sinne der Welt nur jene allgemeinsten, noch auf kein bestimmtes Wirkliche bezogenen Ge­ setze sein, ohne deren Herrschaft in keiner denkbaren Wirklichkeit eine Folgerich­ tigkeit irgend einer Art bestehen würde; veränderlich dagegen ihrem Begriffe nach sind alle die abgeleiteten Gesetze, die aus der Anwendung jener höchsten Regeln .

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der Sprung413, 267, III 1 5, 364 das Wunder414; hierin liegt die Verbindung, die Goethe und Hegel verschmäht oder verkannt hatten. - Seele und Geist, psycho­ logische Gesetze und Entstehung neuer seelischer Inhalte: II 1 08, 1 43, 1 53, 273 "obwohl die Seele nicht rückwirkend antworten kann, bevor sie gefragt wird, so ist doch der Inhalt der Antworten ihr Eigentum"415, III 71 Soziologie als Mecha­ nik der Gesellschaft und Spontaneität der in diesem Netzwerk sich bildenden In­ halte;416 II 269 mechanistische und verstehende Psychologie, II 465417. - Spon-

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auf die Natur des Geschaffenen entsprungen sind. Sie werden vergehen mit dem Untergange dieser Schöpfung, aber so lange diese Schöpfung besteht, werden sie für uns freilich die unwidersprechlichen und sicheren Hülfsmittel ihrer Erkennt­ niß bilden." Die Rede vom "Sprung" ist bei Lotze nur indirekt nachgewiesen. Vgl. ebd., S. 1 24 f., wo Lotze über die allmähliche "Entwicklung der Racen durch äußere Ein­ flüsse" schreibt: "Aber es könnte bei längerer Dauer solcher Einflüsse ein Punkt erreicht werden, an welchem der organisirenden Kraft ihre Selbsterhaltung leichter wird, wenn sie die ursprüngliche Form ganz aufgibt und in eine neue überspringt, eine solche nämlich, die in der allgemeinen Gleichung des Organismus ebenso wie jene nicht nur als Möglichkeit, sondern als bevorzugte Möglichkeit enthalten war, weil in ihr, wie in jener, die bildenden Triebe wieder ein stabiles, zu beständiger Wiedererzeugung fähiges Gleichgewicht gefunden haben." Vgl. Hermann Lotze: Mikrokosmus, 3. Band (1 864; 1 880), S. 363 f. Dort heißt es mit Bezug auf die "heilige Schrift": "Das Wunder lag daher nicht als Widerspruch außer der Einrichtung der Natur, sondern war die selbst natürliche Bethätigung einer größeren Macht, die örtlich und zeitlich ungewohnt in den Wirkungskreis kleinerer Kräfte tritt." Hermann Lotze: Mikrokosmus, 2. Band (1 858; 1 878), S. 273: "Denn obwohl die Seele nicht rückwirken und antworten kann, bevor sie angeregt und gefragt ist, so ist doch der Inhalt ihrer Antworten ihr Eigenthum und drückt in jedem Augen­ blick das aus, was sie nach der innerlichen Consequenz ihrer Natur auf diese be­ stimmten Anregungen zu erwiedern, auf dieser bestimmten Stufe ihrer Entwick­ lung auszugestalten hatte." Hermann Lotze: Mikrokosmus, 3. Band (1 864; 1 880), S. 71 : "Eine Mechanik der Gesellschaft thäte uns Noth, welche die Psychologie über die Grenzen des Indivi­ duum erweiterte und den Gang die Bedingungen und die Erfolge der Wechselwir­ kungen kennen lehrte, die zwischen den innern Zuständen vieler durch natürliche und gesellige Verhältnisse verknüpfter Einzelnen stattfinden müssen." Hermann Lotze: Mikrokosmus, 2. Band (1 858; 1 878), S. 465 ("Schluß") : "Diese le­ bendige Wirklichkeit war der Gegenstand unserer Betrachtung; in ihr suchten wir den Menschen auf und die Stellung, die in ihr seine eigenthümliche Natur im Ge­ gensatz zu den ebenso eigenthümlichen Naturen anderer Wesen einnimmt. Aber fast nur verneinend ist diese Betrachtung zu ihrem Ziele gekommen; wie ausge­ dehnt auch der Einfluß allgemeiner gesetzlich wirkender Bedingungen auf die Ent-

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taneität und Autonomie der Werturteile 11 69 f.418, 1 70, 111 1 40. Rückbildung der individuellen Tendenzen auf allgemeine Anlage und vernunftgemäße Hu­ manitätsziele; In 1 86 die immer gleiche Natur des Geistes.419 - Aus der Logik2 1 880 notiere ich die interessante Auseinandersetzung mit der Dialektik Hegels 1 70-1 73 mit der Bezeichnung der I Dialektik als emanatistischer Logik,42o die später Lask wiederholte,421 und den Verzicht auf logische Bewältigung des Problems, das nur "mit den Mitteln sachlicher Erkenntnis" behandelt werden könne;422 über das Irrationale in aller Werdens- und Bewegungslogik 1 94, 520 f., 573 f., 582 f.,423 über die Doppelheit der Methoden, einer erklärenden und einer -

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wicklung des menschlichen Daseins sich fand, es fand sich zugleich, daß er nie ausreicht, diese Entwickelung zu erklären ohne Bildungsanlagen der eigenthüm­ lichsten Art, die er in dem menschlichen Wesen antrifft, aber nicht ihm erst aner­ zeugt." Ebd., S. 70 f. : "Wenn es irgend ein philosophisches Vorurtheil gibt, dessen Ver­ nichtung uns recht von Herzen angelegen sein müßte, so ist es gewiß diese Ver­ kennung des eigentlichen Ortes, an welchem der Werth der Dinge zu suchen ist, diese Vergötterung ruhender Formen, allgemeiner Urbilder, bedeutungsvoller Ty­ pen, diese beständige Beschäftigung mit den Mitteln, die zu einem lebendigen Ge­ brauch bestimmt sind, ohne über dies folgenlose Tändeln damit jemals zu einem wirklichen entschlossenen Gebrauch derselben hinauszukommen." Hermann Latze: Mikrokosmus, 3. Band (1 864; 1 880), S. 1 85: "Aus der immer gleichen Natur des Geistes als ihrer gemeinsamen Wurzel entspringend sind die verschiedenen Keimtriebe, aus deren Entfaltung das Ganze der menschlichen Bil­ dung erwächst, stets zugleich lebendig gewesen." Hermann Lotze: System der Philosophie, 1. Theil (1 874; 1 880), S. 1 70: "Die Clas­ sification entspricht ferner der ersten Form der Urtheile, der kategorischen; wie in diesen das Subject seine Prädicate einfach hatte annahm oder verlor, so erscheint hier der gesetzgebende höchste Begriff für sich allein als der Hervorbringer aller seiner Arten, als die Quelle, aus welcher sie emaniren". Vgl. Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte (1 902), S. 56-67, den Ab­ schnitt: "Hegels emanatistische Logik". Hermann Latze: System der Philosophie, 1 . Theil (1 874; 1 880), S. 1 69 f.: "Ebenso behauptet die natürliche Classification nur dies: jede Gruppe zusammengehöriger Mannigfaltigkeiten, und, da alles zusammengehört, zuletzt das ganze Reich des Wirklichen und des Denkbaren müsse als ein System von Reihen angesehen wer­ den, in denen Begriff auf Begriff in bestimmter Richtung aufeinander folgt; aber diese Richtung selbst und das höchste in ihr treibende Princip aufzusuchen, über­ läßt sie den Mitteln der sachlichen Erkenntniß." Ebd., S. 520: "Kein Naturgesetz bestimmt, daß die Massen unseres Planetensy­ stems sich überhaupt bewegen und daß ihr Lauf nach dieser und nicht nach einer andern Richtung des Himmels gehen oder daß die Beschleunigung, die sie ein­ ander durch ihre Anziehung ertheilen, diese Größe haben mußte, welche sie hat,

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anschaulich-spekulativen, mit ausdrücklicher Beziehung auf Hegels analoge Un­ terscheidung S. 1 83 f., "dialektische oder teleologische Notwendigkeit" im Unter­ schied von der psychologischen 545 f.424; relative Anerkennung der Tendenz der Hegelschen Dialektik neben der empirisch-kausalen Erklärung als letztes Wort der Lotzeschen Logik 608425; der Sprung von der mechanistischen Psychologie zur Hervorbildung inhaltlicher, besonders logischer Werte aus ihr 593, 551426 und nicht eine andere; ist nun deswegen das System der mechanischen Wahrhei­ ten nutzlos und ein leeres Gerede [ .. ], weil es alle diese Anfange der Bewegung an­ derswoher erwartet und nur innerhalb der bereits wirklichen Bewegung jede ein­ zelne Phase mit jeder andern nothwendig zu verbinden lehrt?" Ebd., S. 574: "Die Wahrnehmungen führen uns nicht eben das verbunden vor, was in dem System des Vorstellbaren verwandtschaftlich coordiniert nebeneinander steht, noch ist ihr ganzer Verlauf ein periodisch sich wiederholender Vorüberzug der Gattungen, Ar­ ten und Unterarten in jener Ordnung, in welcher die Classification sie absteigend auf einander folgen läßt; in verschiedenen Punkten des Raums gleichzeitig, in ver­ schiedenen Zeitpunkten nach einander, finden wir die heterogensten Elemente je­ nes Reiches der Inhalte als Erscheinungen verbunden: gibt es in diesem Wechsel Gesetze, so sind sie völlig anderer Art als jene logischen, in deren Betrachtung wir uns bisher bewegten." Ebd., S. 582: "So oft wir erzählend von irgend einer räumli­ chen Bewegung sprechen, drücken wir schon nicht mehr die Wahrnehmung, son­ dern eine Hypothese über sie aus". 424 Ebd., S. 545: Die Leistungen, so Lotze, "durch welche die psychologische An­ schauungsweise der Gegenwart den Ansichten der Vorzeit sehr weit überlegen ist", erklären nicht "die neuen Rückwirkungen, zu denen jeder so entstandene Zu­ stand die Seele veranlaßt, und die eben nicht berechenbare Ergebnisse von Grö­ ßenverhältnissen zusammentreffender Bedingungen sind, die vielmehr mit einer andersgearteten, sagen wir: mit einer dialektischen oder teleologischen Nothwen­ digkeit von dem Sinne oder der Idee abhängen, zu deren Verwirklichung die Seele bestimmt ist." 425 Hermann Lotze: System der Philosophie, 1. Theil (1 874; 1 880), S. 608: Ü ber die Versuche Hegels, die "Deutschland einst begeisterten", sei die Gegenwart, so Lot­ ze, sehr nüchtern zur Tagesordnung übergegangen. Lotze beschließt das Buch mit folgendem Satz: "Aber im Angesicht der allgemeinen Vergötterung, die man jetzt der Erfahrung um so wohlfeiler und sicherer erweist, je weniger es noch Jeman­ den gibt, der ihre Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit nicht begriffe, im Angesicht dieser Thatsache will ich wenigstens mit dem Bekenntniß, daß ich eben jene vielge­ schmähte Form der speculativen Anschauung für das höchste und nicht schlecht­ hin unerreichbare Ziel der Wissenschaft halte, und mit der Hoffnung schließen, daß mit mehr Maß und Zurückhaltung, aber mit gleicher Begeisterung sich doch die deutsche Philosophie zu dem Versuche immer wiedererheben werde, den Welt­ lauf zu verstehen und ihn nicht blos zu berechnen." 426 Ebd., S. 551 : "Aber dies ist es eben, was deutlich werden muß, daß die geistigen .

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den Fachhistorikern im ganzen sehr wenig Bezugnahme auf Lotze findet. Seine formale Geschichts I theoretik ist zu fein und zu philosophisch, um viel beachtet zu werden, sein universalhistorischer Aufriß steht der durch­ schnittlichen Auffassung noch zu nahe, um aufzuregen247). Sehr viel tiefer im Naturalismus ist der zweite große Vermittlungs­ versuch stecken geblieben, der Eduard von Hartmanns. Er hat stets von der alten formalen Logik aus die modernen exakten und mathematisch­ quantifizierenden Naturwissenschaften als deren erstes und wichtigstes Ergebnis angesehen, das zwar einer metaphysisch-idealistischen Deutung unterworfen werden könnea, das aber in dieser Deutung doch den einzigen ganz festen Punkt darbieteb• Er ging daher stets von dem Weltbild eines von allgemeinen Gesetzen beherrschten, völlig qualitätsfreien und nur Intensitätsunterschiede kennenden Atomismus als dem einzigen ganz sicheren "Ding an sich" aus und gewann erst von da aus die qualitative, 247) Aehnlich Ranke, der sich für Lotze besonders interessierteC (Brief an Rankes philosophischen Hauptfreund Heinrich Ritter 20. XI. 1 853, Zur eigenen Lebensgeschichte, herausgegeben von Dove 1 890, S. 359421) undd Brief an König Max 1 859, ebd. 305: "Ueber die Frage, ob die Kulturvölker wieder sinken werden, ob Europa seinem Verfall entgegengeht, kann man nur eine mehr oder minder persönlich motivierte Ansicht ha­ ben. Ich bin nicht der Meinung, daß dem so sei. Ich sehe zu viel Lebenselernente und großartiges frisches Bestreben, daß ich einen Verfall einzelner Zweige des Lebens oder auch einzelner Völker für möglich halte, nicht eine Dekadenz des Ganzen ... Be­ hüte uns Gott nur vor neuen sozialen Revolutionen."428 a

A: kann

b A' darbietet

c

A: interessierte,

cl A: im

Vorgänge, auf denen alles Denken beruht, keinerlei Aehnlichkeit mit dem physi­ schen Geschehen haben, nach dessen Analogien solche Klagen sie modelliert se­ hen möchten." 427 Vgl. Leopold von Ranke: Zur eigenen Lebensgeschichte (1 890), S. 359: "lch bitte Dich, mir mit altem Vertrauen und so ausführlich motiviert wie möglich Deine Meinung zu schreiben (besonders über Lotze) ." 428 Der zitierte Brief Rankes an König Max 11. von Bayern datiert vom 26. November 1 859. Die korrekte Seitenangabe ist 405: " Ü ber die Frage z. B., ob die Culturvöl­ ker wieder sinken werden, ob Europa seinem Verfall entgegengeht, kann man nur eine mehr oder minder persönlich motivirte Ansicht haben. Ich bin nicht der Mei­ nung, daß dem so sei. Ich sehe so viel Lebenselernente und großartiges frisches Bestreben, daß ich einen Verfall einzelner Zweige des Lebens oder auch einzelner Völker für möglich halte, nicht eine Decadenz des Ganzen oder einen Ruin dessel­ ben. Der Gegensatz selbst zwischen den conservativen und liberalen Tendenzen der Welt scheint mir mehr Leben in sich zu schließen, als Gefahr. Behüte uns Gott nur vor neuen socialen Revolutionen."

A 392

A 392, B 477

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organisierte und schließlich die menschlich-historische Welt als Produkt besonderer Verwicklungen und Synthesen, in denen alles Qualitative aus besonderen I Konfigurationen des Quantitativen erst entsteht. Immerhin aber hatte er doch einen überaus starken Eindruck von den Zweckmä­ ßigkeiten der biologisch-historischen Welt und von der Unmöglichkeit, die Verwicklungsstufen als Entwicklungsstufen zu konstruieren ohne Einführung des Zweckbegriffes,a damit des geistig-seelischen Elementes in die Welt der Atome und ihrer Bewegungsgesetze. So hat er, methodisch ähnlich wie Wundt, wenn auch in der inhaltlichen Bestimmung des Zweckes der geistigen Welt stark von ihm abweichend, den Kern der Atome I als geistartige, unbewußte Willenskraft und die Entwicklung der Natur zu den "höheren Individualitätsstufen"429, wie er die biologisch-historische Welt ge­ genüber den Atomen zu nennen liebt, als Emporstreben des unbewußten Wille ns zu einer komplizierteren und bewußteren Erfassung und Durchsetzung seiner selbst betrachtet. Unter diesen Umständen zog es ihn begreiflicherweise trotz allem doch frühzeitig zur Hegeischen Dialektik hin, in der er ein solches teleologisches Prinzip bedeutsam entwickelt, aber zugleich von der kausalen Naturwis­ senschaft bedenklich emanzipiert sah. Seine Erstlingsschrift wandte sich demgemäß mit scharfer Kritik gegen die Dialektik, besonders gegen ihrenb Hauptpunkt, die Scheidung von Verstandes- und Vernunfterkenntnis, und innerhalb der letzteren besonders gegen die Ausschaltung des Satzes vom Widerspruch. Sein Standpunkt war dabei ausgesprochenermaßen der des "induktiven Empirismus"430 d. h. der Naturwissenschaften. Doch hatte dieser Empirismus schon damals die Eigentümlichkeit, auch die geistige Welt und das Willensleben neben der Körperwelt und ihren Gesetzen als primäre Tatsachen aufzufassen und sich daher die Aufgabe einer aus Induk­ tion hervorgehenden Metaphysik zu stellen, in welcher dies e Tatsachen mit den naturwissenschaftlichen zusammen auf ein einheitliches Prinzip und a

A: Zweckbegriffes und

b A: den

429 Vgl. zu diesem Ausdruck z. B. Eduard von Hartmann: Die moderne Psychologie

(1901), S. 1 97: "Das Wollen ist jederzeit Summationsphänomen aller Atomwollun­ gen, aber nicht bloss dies sondern noch mehr als dies; es kommt nämlich auf jeder Individualitätsstufe noch ein Plus von Wollen hinzu, das dem Eigenwillen (im en­ geren Sinne) dieser Individualitätsstufe entspricht". 430 Vgl. Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten, 1 . Theil (1 869; 1 904), bes. den programmatischen Satz auf dem Titelblatt: "Speculative Resultate nach induc­ tiv-natunvissenschaJtlicher Methode".

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seine "Entwicklung" zurückgeführt werden könnten. Dieses Prinzip ist das berühmte "Unbewußte", das an Stelle des Hegelschen "Geistes" tritt. Dieser Aufgabe hat er dann eine reiche Lebensarbeit gewidmet, die in der "Weltanschauung der modernen Physik" und der "Kategorienlehre", sowie in der beide verbindenden "Philosophie des Unbewußten" I gipfelt und von diesem Gipfel aus in die großen kulturphilosophischen Disziplinen der Ethik, Aesthetik und Religionsphilosophie auseinandergeht. I Die so zustandegekommene Metaphysik ist freilich ein seltsamer Mythos: das Bild einer unaussagbaren, absolut monistischen Wesenheit, die die beiden Attribute des blinden, irrationalen und stets beweglichen Willens, sowie des unbewußten logisch-rationalen Naturgesetzes in jedem Punkte in sich trägt; das Wesen läßt bei jeder vom Willen grundlos und unbegreiflich veranlaßten Weltschöpfung den blinden Willen auf das sein Streben ein­ schränkende und bestimmende Naturgesetz stoßen, woraus zunächst die Welt der bloß quantitativ verschiedenen Atome als raumbildender Willens­ zentren hervorgeht und durch naturgesetzliche Verwicklungen und Synthesen dieser Atome dann die ganze qualitative, organische und historische Le­ benswelt emporgetrieben wird. Die Triebkraft des Weltprozesses ist die blinde Unersättlichkeit des Will e ns und dann auf den höheren Stufen die Einsicht des logischen Elementes in den Widerspruch einer solchen Selbstrea­ lisation des blinden und ziellosen Willens. Damit setzt das logische Denken dem Willen Ziele und zwar das Ziel, den durch die Weltschöpfung begangenen Widerspruch wieder rückgängig zu machen, den logischen Widersinn der Weltsetzung durch immer gesteigerte Enthüllung der damit gesetzten weiteren Widersprüche und durch immer neue Lösung dieser Widersprüche in höheren Vereinheitlichungen und Synthesen schließlich wieder aufzuheben. Der Weltprozeß löst also wie bei Hegel ein logisches Problem und steigt durch die immer vollkommenere Lösung immer neuer Widersprüche empor, auch das eine Annäherung an die Hegelsche Entwicklungslehre. Aber das logische Problem besteht für v. Hartmann nicht in der Selbstent­ faltung der Tiefen des Weltgeistes zum Zweck endgültiger und beseligender Selbsterkenntnis, sondern in der Wiederbeseitigung des logischen Fehlers der ursprünglichen Weltsetzung; und die Widersprüche und Gegensätze sind daher nicht das zur Selbstentfaltung selbst gehörende Mittel der Her­ vorholung des Reichtums , sondern die von außen herantre-

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tende Aufforderung, durch Beseitigung der Widersprüche den Weltprozeß wieder I rückgängig zu machen. Nur eine Stufe in diesem Prozeß der Rück­ gängigmachung ist daher die Effloreszenz der physikalischen Atome zu der Welt des Lebens und der Geschichte auf unserer Erde. Die von der popu­ lären Sprache als beseelt bezeichneten Wesen sind nichts als Entwickungsstufen dieses Prozesses, I kausal-verständliche Kombinationen kleinster Le­ bewesen, in deren Kombination als Produkt der Synthese sich auch erst das organisierende Einheitsprinzip oder Ich dieser Gebilde erzeugt, freilich nur mit dem kleinsten Teil seiner Komponenten und seiner Tätigkeiten ins Be­ wußtsein fallend. In Wahrheit sind vielmehr alle diese "Individualitäten" Er­ scheinungsformen, Selbstzerteilungen und Wiederzusammenballungen des unbewußten Willens, der dann in den höheren, zum bewußten Denken vor­ dringenden Individuen als die Quelle aller Widersprüche, Unruhen und Täu­ schungen erkannt und daher von dem denkend-bewußten Teil der geistigen Entwicklung wieder vernichtet wird durch die Erkenntnis der widerspruchs­ losen monistischen Welteinheit. Unter diesen Umständen ist die pessimisti­ sche Deutung des Weltprozesses selbstverständlich. Die Leere des Anfangs, des bloßen Naturgesetzes und des inhaltlosen Willens, muß am Schluß in der Leere des Ergebnisses zum Vorschein kommen. Alles, was dazwischen liegt, kann nur Selbsttäuschung über diese Leere sein, die aus dem Eifer ent­ steht, an der Auflösung der Widersprüche zu arbeiten, und noch nicht weiß, daß die Auflösung in Wahrheit das Nichts ist. Es ist klar, daß dieser Entwicklungsbegriff wesentlich auf die Erklärung der teleologischen Elemente der Biologie zugeschnitten ist und allenfalls auf die Hervortreibung der monistischen Erkenntnis aus den Bewegungen der menschlichen Intelligenz. Für die wirkliche menschliche Geschichte bleibt bei der Leugnung jeder wirklichen Qualität und Individualität, aller positiven Werte und aller schöpferischen Freiheit nur der Pessimis­ mus übrig, der bei Schopenhauer die Geschichte überhaupt überflüssig und sinnlos gemacht hatte. Wenn v. Hartmann im Unterschiede von Schopenhauer den Geschichtsprozeß trotzdem als eine positiv wertvolle Entwicklung beschreibt und ihn von den ersten Regungen des Bewußtseins bis zur erlösenden Selbstauflösung desselben I in einem sinnvollen Zweckzusammenhang aufsteigen läßt, so kommt das davon, daß er in unwill kürlicher Nachbildung Hegels die pessimistische Enderlösung wie ein positives Gut und die ganze Kulturentwicklung als dieser höchsten Gotteserkenntnis zustrebend beschreibt. Ja, in der wirklichen Durch­ führung seiner Kulturphilosophie behandelt er den Geist, der ja immer neue Widersprüche löst, ähnlich wie ihn die Dialektik behandelt I hatte. Aber freilich enthüllt sich das sofort als Schein oder Verwirrung. Was bei Hegel Lebensfülle in logischer Bewegung ist, das ist bei Hartmann

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Illusion, in logisch-naturwissenschaftlicher Selbstwiderlegung" begriffen. Demgemäß ist auf diese Weise für ein tieferes Geschichtsdenken auch wenig herausgekommen. Außer der Betonung des Unbewußten, die allerdings für alle historischen Einheitsbegriffe wesentlich, bei v. Hart­ mann aber ganz mythologisch behandelt ist, und der Erweiterung des europäischen Gesichtskreises in der Richtung auf die indische Weisheit, die aber ohne jede konkrete Anschauung und Kenntnis des Ostens ist, wird man aus v. Hartmanns Geschichtsphilosophie nichts gewinnen können. Lediglich der europäischeb Horizont ist verlassen und die Zentralstellung des Christentums ist aufgegeben, was vielfach Nachfolge gefunden hat. Aber die Würdigung der pessimistischen Kulturen bleibt rein doktrinär; an Scharfblicke wie bei Nietzsche ist nicht zu denken. Was Schopenhauer - freilich sehr gegen seinen Will en - der Historie geben konnte, das liegt bei Nietzsche, nicht bei Hartmann, weshalb auch die beiderseitigen Abkömmlinge wenig voneinander wissen wollen. Nicht einmal die kultur­ kritischen und asketischen Zusammenbrüche und Neubildungen innerhalb des europäischen Kulturprozesses wird man bei ihm tiefer gewürdigt finden; das Christentum ist ihm wesentlich eine Häufung von Denkfehlern und logischen Mißverständnissen und bestimmt, durch die Philosophie des Unbewußten ersetzt zu werden. Den Pessimismus genießt man reiner bei Schopenhauer, wo er dann auch grundsätzlich atheistisch und geschichtsfeindlich ist. Auch zeigen v. Hartmanns kulturphilosophische Analysen der Gegenwart einen merkwürdig philiströsen Konservatismus, einen Fortschritt ohne Ziel und I Werte, einen provisorischen Idealismus, der sich an alle, in Deutschland momentan geltenden, konventionellen idealen Gehalte klammert, aber ihre endliche Selbstvernichtung in Aussicht nimmt. Auch weiterhin hat die pessimistische Geschichtsphilosophie nichts Originelles und Förderndes gebracht. Deussenc, Arthur Drews und manche andere sind alles, nur keine Historiker; höchstens der feine Leopold Ziegler gibt eindringende Analysen, die aber dann mit dem Pessimismus nichts mehr zu tun haben. Soweit würde man glauben dürfen, nur eine pessimistisch umgebogene Seitenbildung zu Wundt vor sich zu haben und I müßte man v. Hartmann eigentlich, wie diesen, in den Zusammenhang der naturwissenschaftlichen Historie stellen. Aber dafür ist bei ihm doch die metaphysisch-spekulative Ader zu stark und ist die Geschichte zu sehr unter rein teleologischen Ge­ sichtspunkten gedacht, bei denen sich zwar die gleichzeitige Auflösbarkeit in Kausalität für ihn von selbst versteht, aber doch auf die psychologischen und soziologischen Naturgesetze der Geschichte so gut wie ganz verzichtet a

A: Widerlegung

b A: europazentrische

c

B: Deußen

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ist. Sie interessieren ihn überhaupt nicht. Statt dessen interessieren ihn die in der Bewegung des Unbewußten verborgenen, erst durch ihre Wirkung im Bewußtsein rekonstruierbaren darum scheinbar so irrationalen Bewegun­ gen des Geistes. Beachtet man aber das, so treten doch recht bedeutsame Züge in v. Hartmanns Geschichtsdenken hervor, vor allem die Einsicht in den engen Zusammenhang des Begriffes der historischen Zeit mit dem des Wertes oder Zweckes und dem des kontinuierlichen Werdens. Das diskursi­ ve endliche Denken bleibt immer an der Raumbeziehung und Raumanalo­ gie hängen, zerlegt die Kontinuität des Raumes und vor allem die der Zeit durch künstlich gebildete Differentiale, mit denen es an den Gedanken des Werdens heranwill , aber doch in Wahrheit nicht herankommt. Das wirkli­ che echte Werden ist nur intuitiv erfaßbar, gerade so wie die Welteinheit selbst, deren unbegreifliche innere Sinneinheit und Werdezusammenhang in all den einzelnen, uns zugänglichen Ausschnitten durch die unüberwindlichen Reste und Widersprüche aller bloß diskursiven Rationalisierung sich uns zur I Empfindung bringt. Im U nbewußten und seinen Werdezusammenhängen steckt ein anderer Begriff der Zeit als in dem kausal-räumlichen Denken der Naturwissenschaft. So stehen wir also schließlich trotz allen Protestes doch wieder vor der Zweiheit der Hegel­ schen Methoden, dem abstrakten, diskursiven, vereinzelnden und künstlich beziehenden Verstandes denken und der die Antinomien des Werdens in der Einheit einer bewegten Werde fülle überwindenden "Intuition". Die Bezie­ hung des Werdens auf den (nicht notwendig bewußten) Zweck oder Sinn, die innere Einheit der Gegensätze, die überzeitliche Zeit der Entwicklung kommen derart mit dem starken Hegelschen und Schellingschen Untergrun­ de wieder zutage, und der Pantheismus nähert sich ebendamit wieder dem Theismus mit seiner Einheit I des Lebens im lebendigen göttlichen Gei­ ste. Und wie man rückwärts an Hegel, so wird man vorwärts an Bergson erinnert. Hartmannsa Lehre von der Freiheit als Selbstbestimmung des Gei­ stes bstimmt mit seinemb kausalen Determinismus in Wahrheit eben nicht zusammen, und der Ursprung der diese Selbstbestimmung erregenden geia

A: Nur bleibt freilich, namentlich dem letzteren gegenüber, die Behauptung, daß

Verstand und Intuition dasselbe Ding sehen und bearbeiten, daß das intuitive Ganze nur eben im einzelnen für das kausal-reflexive Denken sich in kausal ver­ knüpfte Differentiale verwandelt, daß also Gegenstand und Methoden beide Ma­ le im Grund dasselbe sind. Das ist dann der Rückfall in den deterministischen Naturalismus seiner Ausgangspunkte. Aber auch dann ist v. Hartmann immer noch zu sehr wirklicher Idealist, um eine solche Betrachtungsweise restlos durch­ zuführen. Seine b-b A: fällt mit dem

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stigen Antriebe bleibt im Grunde auch bei ihm ein Geheimnis und Wunder. Sie stammen nach ihm aus der die Sammelindividuen höherer Ordnung ge­ staltenden "Individualfunktion"431, die ihrerseits unräumlich ist und die Ge­ setze der Erhaltung der Energie eben deshalb nicht adurchbrechen braucht: S. 31 8: "Die Brüderlichkeit der Menschen und ihre Independenz in diesen höchsten Verhältnissen von allen natürlichen Bedingungen des Daseins." "Hier ist die innere Frei­ heitjedem durch den Glauben zugänglich"539. Daher auch die Neigung" den deutschen Staat und die deutsche Kultur aus einem liberalisierten Protestantismus abzuleiten, die in dem ganzen Kreise herrscht. Von einem Atheismus der Massen ist noch nicht die Rede. Beziehungen auf soziale und ökonomische Kausalität s. Einl. S. 65. S. 82, 87 "die wirksamsten Arten der Abhängigkeit sind die aus dem wirtschaftlichen Leben und die aus dem kirchlichen Leben entspringenden"540; S. 1 80 f., 21 8, 263, 451 f., 454 von neu­ en Klassen;541 ähnliches in allen Arbeiten häufig. Doch führt sich das mehr auf I Comte als Marx zurück. Vom letzteren findet sich « aus dem NachlaßY nur der Begriff des Ka­ pitalismus ("die Bestie'') gelegentlich übernommen WW 11 245542. Im allgemeinen gilt: "Die Erlebnisse sind bedingt durch die gesellschaftlichen Veränderungen und die Fort­ schritte der Wissenschaft."543 - Ueber die gleichartige Stellung zu diesen Dingen in sei­ nem ganzen Kreise s. das feine Buch von 0. Westphal, Welt- und Staatsauffassung des a

A: Neigung,

539 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1 883), S. 3 1 8: "In dem

540 541

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543

erhabensten Gedanken, der über den Zusammenhang dieser geistigen Welt je ge­ dacht worden ist, verknüpften sich die einfach großen Vorstellungen von dem Reiche Gottes, der Brüderlichkeit der Menschen und ihrer Independenz in ihrem höchsten Verhältnisse von allen natürlichen Bedingungen ihres Daseins; [...] aber diese innere Freiheit war nur für den Weisen erreichbar, hier dagegen war sie je­ dem durch den Glauben zugänglich." Ebd., S. 87: "Die zwei wirksamsten Arten von Abhängigkeit dieser Art sind die aus dem Wirthschaftsleben und dem kirchlichen Leben entspringenden." Ebd., S. 454: "Und jetzt erschien auch an dieser Wende der intellektuellen Ent­ wicklung als Träger der neuen Richtung eine neue Klasse von Personen: der Kleriker machte dem Literaten, dem Schriftsteller oder auch dem Professor an einer der von Städten oder aufgeklärten Fürsten gegründeten oder neugestalteten Universi­ täten Platz." Wilhelm Dilthey: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehn­ ten Jahrhundert (1 892/1 893; 1 9 1 4), S. 245: "Innerhalb des wirtschaftlichen Ge­ bietes hat das natürliche System die furchtbare Konsequenz des Kapitalismus her­ vorgebracht. Das bewegliche Kapital ist innerhalb der modernen Rechtsordnung ganz so wie einst innerhalb der Ordnung des römischen Imperiums unbegrenzt in seiner Macht. Es kann fallen lassen, was es will, und ergreifen, was es will. Es gleicht einer Bestie mit tausend Augen und Fangarmen und ohne Gewissen, wel­ che sich wenden kann, wohin sie will." Als Zitat nicht nachgewiesen.

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Von der stets wesentlich historisch genommenen Theologie aus gelangte er zu allgemeinen historisch-philosophischen Studien, und da hielt ihn der mit seinen Ausgangspunkten nahe verwandte Geist der deutschen klassisch­ romantischen Epoche ab ei der daraus erwachsenen großena Historie und Philologie eines Ranke, Niebuhr, Boeckh, Savigny, Grimm, Bopp dauernd fest. Er wurde selbst zu ei­ nem historischen Kopfe von ungewöhnlicher Feinheit, Universalität und Kenntnisfülle, und seine wesentlich ideologische Geschichtsauffassung trat zugleich auf Grund ihrer Schätzung des Individuellen, Unterbewußten, Irra­ tionalen und Vielspältigen als Lebensphilosophie gegenüber der abstrakten I Geistesphilosophie eines Kant und Hegel in einen scharfen Gegensatz, der ihn dauernd zum Feinde insbesondere des Hegeischen Monismus der Wer­ te wie des dialektischen Rationalismus seiner Methode gemacht hat. Aber sein Doppelinteresse als Historiker und Philosoph ließ ihn nicht bei der rei­ nen Historie, sondern zwang ihn auf den historischen Erkenntnisvorgang das Licht der philosophischen Reflexion zu werfen, und das um so mehr, deutschen liberalismus 1 9 1 9, der gleichfalls den bürgerlichen Charakter dieses Den­ kens S. 293 und die Erledigung der Wirtschafts- und Massenprobleme durch den Hin­ weis auf den Staat betont S. 293544, auch den überwiegend geistesgeschichtlichen Cha­ rakter S. 242 und 284. Hier auch ein Kapitel über D. als Vertreter einer "dualistischen Kultur", d. h. als einer Staat und Geist sondernden und den Geist überordnenden.545 Aehnlich Haym und Erdmannsdörffer, während Duncker, Droysen und Treitschke den Geist in den Staat einsaugen. - Weiteres in der Gedächtnisrede von Ed. Spranger, Ber­ lin, Borngräber o. J.; B. Erdmann, Abh. der Berliner A. W 1 9 1 3546; dazu der Aufsatz von B. Groethuysen in Deutsche Rundschau 1 9 1 3; eine D.-Bibliographie im Archiv für Gesch. d. Ph. XXV S. 1 54547• a-a

A: und die daraus erwachsene große

544 Otto Westphal: Welt- und Staatsauffassung des deutschen liberalismus (1 9 1 9),

S. 293: "Die Emanzipation des dritten Standes war die folgenreichste innere lei­ stung der Revolution von 1 789. Man erkennt ihre Wirkung auch auf das deut­ sche Gesellschaftsleben, wenn man mit dem Typ des deutschen Bürgers, wie ihn Goethe im Wilhelm Meister wiedergibt, denjenigen vergleicht, der sich in den Preußischen Jahrbüchern ausspricht. Hier wie dort erscheint er im Gegensatz zum Adel." 545 Ebd., S. 236-248: "Der Begriff einer dualistischen Kultur (Dilthey)". 546 Gemeint ist Erdmanns 1 9 1 2 erschienene "Gedächtnisrede auf Wilhelm Dilthey". 547 Hans Zeeck: Im Druck erschienene Schriften von Wilhelm Dilthey (1 9 1 2) .

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als auch er die naturalistische Bedrohung der Historie tief empfand. Hier fand er sich nun im Gegensatze zu Hegel und allen verwandten Denkern, fühlte er sich als Verehrer der Unmittel I barkeit des Lebens und wollte von dieser aus den Weg zur Theorie bahnen. Dieser Gegensatz, zusammentreffend mit dem damals aufsteigenden naturwissenschaftlichen und metaphy­ sikfeindlichen Empirismus, machte ihn von vornherein geneigt, den anti­ rationalistischen Empirismus der Engländer aufzusuchen und seine sachliche deutsch-idealistische Schätzung des Geistes und seiner Geschichte auf den methodischen Boden der englischen empirischen Bewußtseinsanalyse und Psychologie zu stellen. Das ist es, was er fortan die kritische oder er­ kenntnistheoretische, in Wahrheit psychologische Methode nannte, die mit Kants transzendentalem Kritizismus wenig genug zu tun hat267). Mill und Schleiermacher zu verbinden, das war die große Paradoxie seiner ge­ danklichen Wendung und damit wollte er den auch bei Droysen noch zu vermissenden philosophischen, bewußtseinskritischen und methodischen Unterbau schaffen. Von da aus mußte er sich auch dem Höhepunkt der westlichen Geschichts­ philosophie nähern, Comte. Von ihm hat er mehr als von Kant die Gegnerschaft gegen alle Metaphysik übernommen, insofern erst die volle Auflösung der Metaphysik die Voraussetzung für ein rein historisch-empirisch­ individualisierendes Denken sei und insofern die historische Welt selbst lediglich mit rein empirisch begründeten Allgemeinbegriffen zu schematisieren und lediglich kausal-genetisch zu begreifen sei. Von ihm hat er ins­ besondere I den allgemeinen Aufriß des universalhistorischen Prozesses, insoferne dieser in der Schöpfung der Metaphysik aus Mythos und Reli267) Völlig klare Bemerkungen gegen den Kantischen Transzendentalismus als letzten Rest der Metaphysik i n Einleitung I 509, 51 8548• 548 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1 883) , S. 51 8: "Und

dieses Bewußtsein der Schranken unserer Erkenntniß, wie es aus dem geschichtli­ chen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, ist ein anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts das metaphysische Bewußtsein ohne Geschichte war." 549 Erich Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1 920), S. 255: "Dav. Friedr. Strauß charakterisierte nicht eben liebevoll die Schleiermacherbiographie als ,echt Trendelenburgsche Arbeit, fleißig, in gewissem Sinne gründlich, aber zerfa­ sert, zergrübelt, peinlich, ohne einen Hauch zusammenschmelzender Phantasie. Dazu viel zu parteiisch eingenommen für den Mann'''.

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gion und dann in der Wiederauflösung der Metaphysik, der Freisetzung der empirisch-gesetzlichen Natur- und Geschichtserkenntnis und der da­ mit möglichen Selbstorganisation der Gesellschaft auf wissenschaftlicher Grundlage bestehe. Aber die eigentliche Grundlage seiner Lehre war doch Mill und dessen Psychologismus. Von ihm übernahm er den Grundsatz der Bewußtseins-Immanenz als Ausgangspunkt, die psychologische Aufsu­ chung der Allgemeinbegriffe, mit denen wir die Natur zum Zweck der Berechnung und I Beherrschung ordnen, und derjenigen Allgemeinbegriffe, mit denen wir die geschichtlich-gesellschaftliche Welt - so sagt er stets statt bloß: historische Welt - schematisieren, erklären und ordnen können. Die Analyse der Bewußtseinsinhalte zeigt uns eine "Außenwelt", die uns nur mit­ telbar bekannt ist und die die Regelmäßigkeiten des Naturgeschehens der In­ duktion offenbart, aber auch eine "Innenwelt", die als unser eigenes Leben uns unmittelbar bekannt ist und aus der Fülle des unmittelbaren Erlebens heraus auch unmittelbar verstanden wird. Aehnlich hat ja auch Wundt den Ausgang von Mill s Bewußtseinsanalyse genommen, um dann freilich Natur­ wissenschaften wie Geschichte in einer sowohl von Mill als Dilthey ganz abweichenden Weise mit Hilfe einer substruierten Metaphysik zu konstruie­ ren. Dilthey dagegen bleibt rein in der Sphäre des unmittelbaren Erlebens und der aus diesem selbst heraus sich aufdrängenden Deutungen. So ist ihm die reale Existenz der Außenwelt kein metaphysischer Schluß, sondern eine unmittelbare Erlebnisgewißheit; auch die Einheit des erlebenden Ich ist ihm kein metaphysisch zu begründender oder abzulehnender Satz, sondern eine Lebensgewißheit, womit er von vornherein der phänomenalistischen Zerlegung und Zersetzung sowohl der Realität der Natur als des Ich ent­ geht. So will er auch die geistig-gesellschaftliche Welt aus einem reinen Empirismus des Erlebens verstehen und sieht darin die wissenschaft­ liche Aufgabe erschöpft: die Grundlage der dann einsetzenden Praxis. Von Schleiermacher und Humboldt bleibt die Individualitätslehre, die Herme­ neutik, die Zerlegung der geschichtlichen Welt in verschiedene Wertgebiete, das ethische Ideal der Totalität dieser in der Kultur zusammengefaßten, aus der Ge I schichte empfangenen Wertgebiete, aber ihre Metaphysik wird ver­ worfen, von anderer, schärfer durchgebildeter Metaphysik gar nicht zu reden268). Eben deshalb nannte er auch I seine historische Theorie in seinem ersten diesem Gegenstand gewidmeten Buche nicht, wie er erst wollte, nach dem Vorbild Kants "Kritik der historischen Vernunft", sondern lieber nach dem Mills "Einleitung in die Geisteswissenschaften". In der Einleitung zu 268) S . die sehr wichtigen Erklärungen gegen Schleiermacher als Metaphysiker 1 1 3 1 , 1 73; e r habe seiner Philosophie leider keine "psychologische Grundlegung" gegeben; "so verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitsträmung der Naturphiloso-

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diesem Buche erklärt er in der Versöhnung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, von Empirie und Idealismus Lotze zu afolgen, aber" dabei dessen entwicklungsbegriffliche Konstruktionen aus dem Werte und der den Wert auswirkenden Melodie der Geschichte als verschwommene Sentimentalitäten zu vermeiden.550 Wir werden gleich sehen, welches die Folgen dieser Vermeidung gewesen sind. Das grundlegende Buch ist unvollendet geblieben. Es gibt nur den Grundgedanken und die historisch-kritische Vorbereitung in der Schilderung der Entstehung und Wiederauflösung der Metaphysik, also die Geistesgeschichte Europas bis zu Nominalismus, Renaissance und Refor­ mation. Die Fortsetzung liegt nur in zersplitterten Aufsätzen und immer neuen Anfängen vor, zunächst in der Fortsetzung der historisch-kritischen Grundlegung, wobei die Entstehung der modernen Psychologie und Histo­ rie den entscheidenden Kern bildet, und dann in dem Versuch zur wieder aufzunehmen, vorliegt. Eine Einheit der Universalgeschichte aus dem Sinn und Zweck der Geschichte zu konstruieren, hat er seit seinem Anschluß an den Positivismus, diesen selber damit aus sich selbst berichtigend, grundsätzlich und dauernd abgelehnt. Alle historischen Gegenstände seiena Sinngebilde, die nur aus ihrem immanenten Zweckwollen verständlich und darstellbar seienb; aber der Zweck und Sinn der Gesamtgeschichte seic unerkennbar, und seine Behauptung würde 280) Vgl. Schlosser, Preuß. Jahrb. IX 1 862, S. 409, 41 2; ferner die in Bd. 11 der Ges. Schriften 1 91 4 vereinigten Abhandlungen über die Entstehung des modernen Menschen; die Einleitung; Dichtung und Erlebnis2 1 907; Das 1 8. Jahrhundert und die geschichtliche Welt, Deutsche Rundschau 1 90 1 . Groethuysen 89-92. Vor allem wichtig ist hier der Aufbau, S. 98 ff. Freilich fehlt auch hier noch die Hauptsache: "Die nähere Bestimmung der Begriffe "historische Kontinuität", "historische Bewegung", "Genera­ tion", "Zeitalter", "Epoche" seien erst in der Darstellung des Aufbaues der Geisteswis­ senschaften möglich", wozu er nicht mehr kam, 1 1 1 583. a

A: sind

b A: sind

c

A: ist

583 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaf­

ten (1 9 1 0), S. 1 1 1 : "Die nähere Bestimmung der Begriffe ,historische Kontinuität', ,historische Bewegung', ,Generation', ,Zeitalter', ,Epoche' ist erst in der Darstel­ lung des Aufbaus der Geisteswissenschaften möglich." 584 Vgl. Eduard Spranger: Lebensformen (1 9 1 4; 1 92 1 ; 1 922) .

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das empirische Geschehen, das Hervorwachsen der Ereignisse aus den Handlungen der Individuen, aus den Kreuzungen und Mischungen der verschiedensten Tendenzen zum Ablauf einer abstrakten Idee oder zum Marionettentheater machen. Wirkliche Universalgeschichte gibt es daher nur als Lehre von den I Gesetzen der Historie, als Psychotypik I und Parallelismus der Verläufe, was alles aus vergleichender Induktion festgestellt werden muß, und also nur einen Rahmen und ein allgemeines Schema für die konkreten Einzelentwicklungen darbietet. Aber bei diesen letzteren angelangt schlägt nun der Gedanke um. Einzelne Entwick­ lungsreihen 585 lassen sich nämlich allerdings nach Dilthey in einem Hegels Intuition ähnlichen Sinne behandeln. Ihnen liegen in Gemeingeist und Uranlage unauflösliche Grundtriebe zugrunde, und mindestens in bezug auf die wissenschaftliche Entwicklung des Geistes, die in enger Wechselwirkung mit den politisch-sozialen Formungen steht, läßt sich ein Faden oder Rückgrat der unendlich beweglichen und sich kreu­ zenden Entwicklung finden. Es ist unverkennbar, daß ihm auch hier das Vorbild Comtes vorschwebt, nur mit Hegelschen Gedanken stark vermischt und von der naturalistischen und utilitarischen Einseitigkeit befreit. In diesem Sinne war dann das Ziel seines Strebens doch eine Entwicklungsgeschichte wenigstens des europäischen Geistes. In der "Einleitung" und in den berühmten, jetzt im zweiten Bande der Werke gesammelten Abhandlungen über Wesen und Entstehung des modernen Menschen liegt das Bild vor, das er zu zeichnen wußte. Diesea Entwicklung verläuft in der Entstehung und Wiederauflösung der Metaphysik, die dabei mit den grundlegenden Organisations formen stets im Zusammenhang steht. Aus den Nebeln des Mythos und der Religion entstand einst die Metaphysik, gesellschaftlich gespiegelt in der griechischen Polis, dem römischen Weltreich und der christlichen Kirche. Mit Nominalismus, Renaissance und Reformation zerbrach die Metaphysik, a

A: Die

585 Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen­

schaften (1 9 1 0), S. 83 f.: "Die geistige Welt als Wirkungszusammenhang".

B 526 A 449

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Kapitel lII. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

um der exakten Naturwissenschaft und dem Empirismus des Erlebens oder der Psychologie Platz zu machen. Aus diesem letzteren geht I immer mehr der Grundzug der modernen Kultur hervor: das historische Selbstverständnis in den Geisteswissenschaften mit darauf begründeter bewußter Sozialgestaltung, während die alten Bedürfnisse der Metaphysik außerwissenschaftlich im religiösen und künstlerischen Gefühl befriedigt werden und die philosophische Metaphysik, soweit sie noch vorkommt, zur privaten Lehrmeinung und Lebensattitüde wird. Das Zeitalter von Renaissance und Reformation bot den Empirismus des inneren Erlebens I noch in stark theologischen und humanistischen Formen dar. Das von den Naturwissenschaften beherrschte Zeitalter der Barockphilosophie schuf die konstruktive Psychologie des "natürlichen Systems"586, die Aufklärung mischte konstruktive und echt empirische Psychologie, der Sturm und Drang bereitete in Klassik und Romantik die Unterlage einer wirklichen und vollen Psychologie des Erlebens, woraus dann die historische Schule und die entwicklungsgeschichtlich bestimmte Metaphysik hervorgegangen sinda, um der modernen historischen Bildung und der Gestaltung von Staat und Gesellschaft aus dem historischen Bewußtsein heraus Platz zu machen. Daraus muß alle Philosophie und alle Kultur der Zukunft hervorgehen.

Also wenigstens die europäische Entwicklung hat eine Idee, einen Sinn und geistigen Zweckgehalt. Freilich bewegt sich seine Entwicklung an dem Faden der wissenschaftlichen Methode und ihres Zusammenhangs mit der Gesellschaftsgestaltung, bis zuletzt eine Nachwirkung Comtes; nicht an dem Faden einer inneren Wandlung und Kontinuität der geistigen Substanz wie bei Hegel. Diltheyb glaubte mit diesem Positivismus den realen Lebensbedürfnissen der Neuzeit Rechnung tragen, die im deutschen Idealismus liegende Metaphysik verabschieden zu müssen. So war Ergebnis und Ziel der Geschichte eine Methode des Wissens und der Bildung samt ihrer Wirkung auf Staat und Gesellschaft! Aber eine Methode, die auf Erlebnis und Anschauung beruht und die daher wirken sollte wie eine inhaltliche Philosophie. Es ist der Historismus, die historische Bildung, die lebendige Empfindung und Anschauung der historischen Welt als Totalität, in der sich die einzelnen Werte und historischen Ergebnisse zur Einheit des Lebens ausgleichen, l ohne Fülle und a

A: ist

b A: Er

586 Wilhelm Dilthey: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehn­

ten Jahrhundert (1 892/1 893; 1 9 1 4) .

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. B

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Verschiedenheit zu verlieren281). Mit diesem Historismus ist I eine Staats- und Gesellschafts281) Ueber den Historismus gute Bemerkungen bei 0. Westphal a. a. 0.587 und gute Formeln dafür bei Groethuysen 85. S. 87: "Die Geschichte erhält eine neue Würde. Die Historiker und Denker haben eine neue Attitüde des Geistes realisiert: das geschichtliche Bewußtsein. Dies erfaßt alle Phänomene der geistigen Welt als Produkte des geschichtlichen Bewußtseins."s88 269: "Ueber die in der Bedingtheit des menschlichen Geistes begründete Zuversicht, in einer der Weltanschau l ungen die Wahrheit allein ergriffen zu haben, erhebt sich das geschichtliche Bewußtsein. Es lehrt uns verstehen, wie der Mensch, das was er sei und was er solle, erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrtausende erfahrt und das nie in allgemeingültigen Begriffen, sondern immer nur in den lebendigen Erfahrungen, welche aus der Tiefe seines ganzen Wesens entspringen."589 Das sind nur Zusammenziehungen Diltheyscher Sätze. Damit ist auch ein neuer Begriff der Humanität erreicht, der von dem um das Altertum konzentrierten der Klassik sich unterscheidet als Totalität alles Relativen . 587 Vgl. Otto WestphaI: Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus

(1 9 1 9), S. 303-306 "Grenzen des Historismus", z. B. S. 304: "Kunst und Wissen­ schaft sollten nicht ihren Zwecken entfremdet und politischen Instinkten dienst­ bar gemacht werden; sondern der idealistische Wille war es, der die Einheit ihrer Zwecke setzte, und der diese Einheit so sehr in Forderung umsetzte, daß er nicht merkte, wie wenig sie ihm noch Erlebnis war. Es handelt sich um eine allgemeine innere Richtung des Jahrhunderts, den voluntaristisch-rationalistischen Historis­ mus. Das liberale Denken begegnet sich etwa mit der großen Gebärde der Histori­ enmalerei. Auch sie lebte ganz von dem Höhenzug des Willens, auch in ihr spann­ ten sich verschiedene idealistische Forderungen, Forderungen bestimmter Inhalte und bestimmter Formen, zu einem Gesamtausdruck zusammen, der oft von einer strengen Leere beherrscht erscheint." 588 Bernhard Groethuysen: Wilhe1m Dilthey (1 9 1 3), S. 85: "Lag nicht in dem ge­ schichtlichen Bewußtsein selbst das Moment, welches ermöglichte, den Zusam­ menhang der Lebensergebnisse der klassischen Zeit ,mit unseren heutigen Auf­ gaben herzustellen, dem Bleibenden in ihnen eine erneute Wirkung in der Ge­ genwart zu schaffen?' War nicht hier in dem Verständnis der geschichtlichen Er­ scheinung das Moment gegeben, das das Bedingte und das Partikulare der einzel­ nen Denkleistung in seinem Widerspruch mit ihrer Funktion in dem Ganzen des Lebenszusammenhanges aufhob, in der Anschauung der geistig-geschichtlichen Welt"; S. 87: ",Die Geschichte erhielt eine neue Würde', die Historiker und Den­ ker haben eine neue Attitude des Geistes realisiert: das geschichtliche Bewußtsein. ,Dies erfaßt alle Phänomene der geistigen Welt als Produkte der geschichtlichen Entwicklung'. " 589 Ebd., S. 269: " Ü ber die in der Bedingtheit des menschlichen Geistes gegründete

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

lehre verbunden, die aus dem Zuge der erkannten historischen Tendenzen und aus dem Bewußtsein des historischen Besitzes hervorgeht, die Stärke der Staatsordnung mit dem kulturellen Gehalt der Bildung verschmilzt, also ungefähr die nationalliberale Politik aus der Zeit der Reichsgründung. In dem Gefühl dafür, daß diese Abzweckung sehr spezifisch deutsch ist, wollte er innerhalb der europäischen Entwicklung zuletzt auch die des deutschen Geistes der Neuzeit besonders darstellen. Zur Ausführung kam es nicht mehr282). Dilthey ist der geistreichste, feinste und lebendigste Vertreter des Historismus. Er war für ihn noch nicht Skepsis und Relativismus , da ja seine allgemeine Philosophie durchaus der Realitätsgewißheit Rechnung trug und nur die historischen Werte einer einheitlichen Idee nicht unterworfen werden konnten, sondern zur Fülle und Totalität des grenzenlos Verschiedenen und Lebendigen wurden. Es war für ihn nach seiner eigenen Erklärung auch kein greisenhaftes Epi­ gonenturn, da die Unmittelbarkeit des Erlebens alle Säfte und Kräfte der Geschichte in lebendigen Kreislauf bringen sollte283). I Es war auch nicht antiquarische Gelehrsamkeit und Kritik, da der in der Geschichte lebende Sinn und Gehalt dabei immer im Vordergrunde stand. Es war in Wahrheit die Umbildung der Goethe-Hegelschen Epoche zu der des Bismarckischen und auf Realität gerichteten Deutschen Reiches, die edelsten Kräfte von beidem verbunden. I Die relativistische Skepsis, der Zug zum Tragischen und Unproduktiven, der darin lag, wurde erst von der nächsten Generation 282) Nach brieflicher Mitteilung an mich; es sollten drei Bände werden.590 283) Groethuysen 73 zitiert ein Wort von 1 866: "Wir sind eben durchaus nicht, wie man uns einreden möchte, Epigonen jener großen Zeit, sondern I unser Auge ist un­ verwandt der Zukunft entgegengerichtet, den ungeheuren intellektuellen, politischen und sozialen Begebenheiten entgegen, zu denen alles hindrängt. "591

Zuversicht, in einer der Weltanschauungen die Wahrheit allein ergriffen zu haben, erhebt sich das geschichtliche Bewußtsein. Es lehrt uns verstehen, wie der Mensch das, was er sei und was er solle, erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrtausende erfährt ,und nie bis zum letzten Wort, nie in allgemein gültigen Begriffen, sondern immer nur in den lebendigen Erfahrungen, welche aus der Tiefe seines ganzen Wesens entspringen'." 590 Ein entsprechender Brief Diltheys an Troeltsch ist bisher nicht gefunden worden. 591 Bernhard Groethuysen: Wilhelm Dilthey (1 9 1 3), S. 73: ",Wir sind eben durchaus nicht, wie man uns einreden möchte, Epigonen jener großen Zeit, sondern unser Auge ist unverwandt der Zukunft entgegen gerichtet, den ungeheuren, intellektuel­ len, politischen und sozialen Begebenheiten entgegen, zu denen alles hindrängt. '"

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empfunden. Freilich erzählen seine Schüler, daß der greise Dilthey selbst schon zuletzt solchen Anwandlungen nicht unzugänglich gewesen sei284). Der Einfluß der Diltheyschen Theorie auf die historische Facharbeit hat sich naturgemäß vor allem auf die Literatur- und Geistesgeschichte erstreckt, im übrigen die Betonung der Geistesgeschichte neben der politischen verstärkt. Hier sind Misch, Unger, Nohl, Frischeisen-Köhler, in vieler Hinsicht auch die George-Schule seine Nachfolger. Vor allem aber traf er so sehr den Nerv des modernen historischen Denkens, daß eine ganze Reihe von Forschern als gleichgesinnt und gleichgerichtet von innen heraus bezeichnet werden müssen. earl Justi bedeutet die Kunstgeschichte, U sener und Wilamowitz-Moellendorffa die Philologie, Harnack die Theolo­ gie des Historismus Der Begriff des Anschaulich-Individuellen in aller Hi­ storie beruht auf einem Erleben individueller Wirklichkeit, die wohl in Kategorien gefaßt, aber aus diesen Kategorien selbst nicht erst erzeugt wird. bUnd ein Gleiches ist dann doch auch von den Kategorien der Natur schwer fernzuhalten". Vor allem bedeutet das absolut geltende Wertsystem in seiner Verwirklichung eine derartig enge Verbindung von Sein und Wert, ein eigentliches Wachstum I der Geisteswelt, daß hier von einer bloßen Beziehung kausaler Prozesse auf Wertideen gar nicht mehr die Rede sein kann. Nicht ohne Grund wiederholt Windelband mehrfach Hegels Wort, daß die wer­ denden endlichen Geister die Wohn- und Wirkungsstätte des unendlichen Geistes seien. So kann Windelband sich auch als Genosse des Kampfes um einen geistigen Lebensinhalt fühlen, den Eucken "mit edler Leiden­ schaft"640 kämpfe, wenn er selbst freilich auch an dieser Leidenschaft nicht allzuviel Anteil hat und von dem realen Kampf zwischen Körper- und See­ lennatur einerseits und aufsteigendem Geistesleben anderseits gerne in die Distanz transzendentaler Betrachtung "als ob" zurücktritt. Es ist eben nicht möglich, die Besonderheit des historischen Lebens gegen den Naturbegriff, die Lebendigkeit der Gestalt gegen die Abstraktheit der Gesetze, die Wert­ bezogenheit geschichtlichen Lebens gegen die wertfreie Abstraktion der Naturgesetze durchzusetzen, ohne in der Geschichte etwas von der abso­ luten Bewegung des Lebens selbst zu ergreifen und zu bejahen. Man mag mit noch so viel Recht die kategoriale Formung, Verdichtung, Konstruk­ tion der wissenschaftlich darstellbaren historischen Gegenstände betonen, wie dies Windelband gegen I über Diltheys bloßem Erleben und Verstehen tut, aber es bleibt doch in menschlich-wissenschaftlichen Begriffen das eige­ ne, erlebte und aus der absoluten Wirklichkeit stammende Leben. Das wahA: metaphysisch, d. h. aus der Verarbeitung der Erfahrung durch ein vereinheit­ lichendes und letzte Axiome suchendes Denken, gewonnen waren b-b A: Und wenn hier im Ü berwiegend-Historischen die absolute Wirklichkeit durchscheint, so muß das in der zwar viel abstrakteren, aber doch auch Realität aussprechenden überwiegenden Gesetzeswelt doch auch irgendwie der Fall sein a-a

640 Ebd., S. 1 65: "Es ist alle Hoffnung, daß der gute Kampf um einen geistigen Le­

bensinhalt, wie ihn z. B. Eucken mit edler Leidenschaft kämpft, zum Siege führe."

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

835

re Problem sitzt unverkennbar in der Vereinigung dieser beiden Gesichts­ punkte, einer Vereinigung, die Windelbands transzendentale Grundstellung dann doch wieder nicht gestattete oder doch, sobald sie vollzogen war, wi­ derrief298) Geht man tiefer in die Einzelheiten, so wird man sagen dürfen, daß der Kritizismus bei Windelband nicht bloß stark verändert, sondern in wesentlichen Punkten geradezu aufgelöst ist. Der Grundgedanke Kants, daß die transzenden l tale Apperzeption als Ausdruck der Einheit des Bewußtseins die lückenlose Notwendigkeit und kausalmonistische Geschlossenheit der Erfahrungserkenntnis verlange, und daß daher die Kritik die Möglichkeit oder die Voraussetzungen einer derartigen "wissenschaftlich verstandenen Erfahrung" zu erweisen habe, womit diese letztere in Natur- und Seelenleben zu einem strengen raum-zeitlichen Kausalzusammenhange wird: dieser Grundgedanke ist aufgehoben. Es bleibt nur der andere von der absoluten rationalen Gefordertheit der Ideen oder Werte, den daher auch Windelband für den eigentlichen Hauptgedanken erklärt, im Sinne Lotzes zum System der Werte macht und mit diesem primär auf die historische Welt bezieht. Dabei ist zu bedenken, daß Lotze selbst hierbei von der Nachwirkung der hi­ storischen Schule und von dem Vorbild Hegels geleitet war, wie die Schlußworte seiner Logik deutlich sagen.64t Damit wird dann aber das schon bei Kant recht schwierige Verhältnis der teleologischen Ideen und der schaf­ fenden Freiheit zu den rein kausal verstandenen Raum- und Zeitdingen noch schwieriger, ja die letztere Lehre in ihrer Kantischen Form überhaupt unhaltbar. Das Apriori wird nicht mehr aus der Apperzeption abgeleitet und an seinem traditionell-logischen Bestande veranschaulicht wie bei Kant, •

298) S. Präludien 11, Ueber gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie (urspr. 1 897) S. 1 ff.; Erneuerung des Hegelianismus, ebd. 1, 290 ff., sowie bes. "Nach 1 00 Jahren" I, 1 47 ff. Die Beziehung auf Latze trat im mündlichen Verkehr sehr stark hervor, sie ist auch in den prinzipiellen Essays entscheidend I, 284, 1 62, 1 55642; die Beziehung auf Eucken I, 1 65, die "Wohnstätte usw." I, 283643 u. 287. 641 Vgl. Hermann Latze: System der Philosophie, 1. Theil (1 874; 1 880) , S. 608. Die

Passage ist zitiert oben, S. 728, Anm. 425. 642 Wilhelm Windelband: Nach hundert Jahren (1 9 1 5) , S. 1 55: "In der reinen Logik

und in der Methodologie kann man schon seit langem, seit Lotze und Sigwart, die prinzipielle Berücksichtigung der Formen und Aufgaben des historischen Den­ kens neben dem naturwissenschaftlichen beobachten: in der Erkenntnistheorie ringt das gleiche Bestreben mit steigendem Erfolge nach Anerkennung." 643 Wilhelm Windelband: Die Erneuerung des Hegelianismus (1 9 1 0; 1 9 1 5), S. 283: "Darum ist die Geschichte das wahre Organon der Philosophie: hegelsch zu reden, der objektive Geist ist die Wohnstätte des absoluten Geistes."

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Kapitel IlI. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

sondern aus den vorliegenden Fachleistungen der Wissenschaft abgeleitet, I unter denen die Naturwissenschaften bei dem gemeinsamen Ursprung der modernen Philosophie und der modernen Naturwissenschaften aus der Ma­ thematik verhältnismäßig leicht dem Verfahren Kants sich fügten, während die in einem ganz andern philosophischen Klima gewachsenen Geschichts­ wissenschaften - wenigstens in der von Lotze, Dilthey und Windelband vor­ ausgesetzten Gestalt der deutschen historischen Schule - sehr viel schwerer zu einem einhelligen Apriori kommen und ganz unkantische Begriffe wie den der Individualität und Struktur mit sich bringen. Sobald man aber der­ art verfährt, bei den Naturwissenschaften auf ihre konstruktiven Einheitsbe­ griffe Rücksicht nimmt und daneben die ganz anders gefügte Historie stellt, kommt der ganze streng einheitliche, aus der transzendentalen Deduktion entwickelte Kantische Begriff des Apriori ins Wanken. Er wird entweder I zu einer Reihe von verschiedenen Hypothesen und Formvoraussetzungen, die erst durch ihre Fruchtbarkeit gerechtfertigt werden müssen, wie das bei Simmel der Fall ist, oder er fordert als seine eigene Voraussetzung erst eine phänomenologische Analyse der Gebilde des wissenschaftlichen Instinktes und der unwillkürlichen Schau, wie das Husserl als vorbereitende Aufgabe vor jede Transzendentallogik stellt. Und noch mehr als das Apriori wird der bei Kant mit ihm unlösbar verschwisterte Phänomenalismus der äußeren und vor allem inneren Erfahrung mit alledem erschüttert. Wie es zu den undiskutabeln Voraussetzungen der empirischen Historie gehört, daß sie in der Bewegung des historischen Lebens und in den Entwicklungen der gei­ stigen Gehalte etwas vom Absolut-Wirklichen ergreift, so kann in Windel­ bands Theorie die Kantische Verkoppelung von Raum und Zeit und die ein­ fache Phänomenalität der historischen Zeit nicht aufrecht erhalten werden. Er hat demgemäß beides ausdrücklich preisgegeben und die Frage nach der Möglichkeit gleichzeitigen Bestehens menschlich-subjektiver Denkformen und absoluter Realität im selben Erkenntrusakt geradezu schließlich mit dem Hinweis auf die Identitätslehre beantwortet. In diesem Sinne spricht er schließlich sogar von einer "Metaphysik des Geistes"644 , die jeder Erkennt­ nis der historischen Entwicklung zugrunde liege. Damit ist ein - allerdings sehr wenig verdeutlichter - Anschluß an Leibniz, an Schelling, Fichte und Hegel, schließlich an Lotze mit vollem I Bewußtsein ausgesprochen, aber auch - gerade um der Historie will en - der Kantianismus grundsätzlich 644 Als Formulierung nicht wörtlich nachgewiesen. Bei Wilhelm Windelband: Nach

hundert Jahren (1 9 1 5) , ist nicht von "Metaphysik des Geistes", sondern von "Me­ taphysik des Wissens" die Rede. Vgl. die Formulierung S. 1 6 1 : "Die ,Metaphysik des Wissens' - so hat Kant mit Hume die kritische Philosophie genannt - ist auch eine Metaphysik der Dinge."

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

837

überschritten. Und erst durch diese entscheidenden Auflösungen im einzel­ nen wird die Zusammenfassung von Sein und Wert, von Gegebenem und Aufgegebenem, von Idee und Wachstum möglich, durch welche die Um­ wandlung des bloß erkenntnistheoretischen Kritizismus in eine inhaltliche Kulturphilosophie bei ihm charakterisiert ist299). I 299) Die Erschütterung des Kantischen Apriori tritt nicht so deutlich hervor, wie sie müßte. Immerhin ist die Rektoratsrede, die durch den Aufsatz "Logik" in der Kuno-Fischer-Festschrift2 1 907 wesentlich erläutert wird, nicht aus dem Kantischen Apriorismus, sondern aus der allgemeinen Logik entwickelt und ist der Begriff eines "selektiven", I durch "den "jeweilsa vorschwebenden Erkenntniszweck bestimmten" Apriori645 eine völlige Verlassung des Kantischen Apriori. Auch die Gewinnung des Apriori statt aus der Analyse des Selbstbewußtseins aus den historisch entfalteten Wissenschaften ist eine solche und als solche erkannt, Prä!. 1, 281-284. - Dazu kommt, daß mit dem Wandel der wissenschaftlich-methodologischen Begriffe auch eine Veränderlichkeit des Apriori zugegeben wird, Prä!. II, 252646; 1, 1 55647• Unerschüttert bleibt im Grunde nur der rationale Aprioricharakter der Werteb: "Die ethische Seite des Kritizismus ist nur vom Apriorismus aus möglich", Festschrift 202648• - Präziser ist die Auflösung des Phänomenalismus und der Kantischen Raum-Zeit-Lehre formuliert, a-a

A: "den jeweils

b In A nicht hervorgehoben.

645 Das Zitat läßt sich bei Wilhelm Windelband weder in der "Logik" (1 904) noch in

"Geschichte und Naturwissenschaft" (1 894; 1 9 1 5) wörtlich nachweisen, vgl. aber "Logik" (1 904) , S. 1 80-1 82. 646 Wilhelm Windelband: Ü ber Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben (1 9 1 5), S. 252: "Gerade die Methoden, mit denen wir heute die Natur denken, beruhen in keiner Weise auf dem unbefangenen und von selbst gegebenen Auffassen des na­ türlichen Menschen, sondern sie enthalten ihren wesentlichen Grundzügen nach die Formen eines abstrakten Denkens, welches selber eines der allergrößten Er­ gebnisse der intellektuellen Arbeit des Menschen in seiner Geschichte bedeutet: und sie sind in ihrem Wesen und Werte nicht zu verstehen, wenn man sie nicht als ein solches Erzeugnis der historischen Arbeit begreift." 647 Wilhelm Windelband: Nach hundert Jahren (1 91 5), S. 1 55: "Diese große neue Tat­ sache der Existenz einer historischen Wissenschaft verlangt nun von der kritischen Philosophie in erster Linie eine Erweiterung des kantischen Begriffs vom Wissen: die Historie fordert neben der Naturforschung ihr Recht in der theoretischen Leh­ re. Auch ihr Wesen und ihr Erkenntniswert will, ihrer wirklichen Arbeit gemäß, verstanden und beurteilt werden." 648 Wilhelm Windelband: Logik (1 904), S. 1 82: "Die Folge davon aber war die, daß mit der Empirisierung des Kritizismus dessen ethische Seite, die nur vom Apriorismus aus möglich ist, in derselben Weise verkümmerte, wie es schon bei Schopenhauer der Fall gewesen war."

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Um so brennender wird die Frage nach dem methodischen Charakter und den sachlichen Ergebnissen des unter diesen Umständen zustande kom­ menden Entwicklungsbegriffes. Hier wird man nun aber in der Hauptsache schwer enttäuscht. Grundsätzlich gibt auch Windelband nichts anderes als den bekannten neukantischen Entwicklungsbegriff, die Kombination von Kausalität und Idee oder, in seiner Sprache, absoluten Werten, d. h. die Beurteilung der in der Zeit ablaufenden Kausalitätsreihen I und der in ihnen entstehenden Sinngebilde an einem Wertsystem menschheitlicher Normal­ vernunft, eine Auffassung des psychologischen Kausalprozesses, als ob er dem allgemeinen, apriorisch feststehenden Menschheitszwecke diene. "Die Menschheit schafft sich aus den über den Planeten zerstreuten Völkern und Rassen selbst als selbstbewußte Einheit. Das ist ihre Geschichte. "649 Unter den drei Kulturgruppen, der Prä!. I, 1 63650 und vor allem die Heidelb.-Akad.-Rede "Ueber Sinn und Wert des Phäno­ menalismus" 1 907, bes. 23-26; hier ist der Einfluß Bergsons unverkennbar. Auch die "Einleitung in die Philosophie" 1 91 4 zieht Sein und Erkennen, Leben und Kategorien in die Identität schließlich zusammen und läßt als Kantischen Grundgedanken nur die Spannung zwischen Sein und Sollen, Gegebenem und Kulturschäpfung übrig, zu welch letzterer auch die Naturwissenschaften als Versuch der geistigen und technischen Na­ turbeherrschung gehören. - Wie schwankend hier aber alles ist, sieht man aus der Be­ handlung der Individualität. Sie ist einmal Prä!. I, 1 59 positivistisch-phänomenalistisch "einmaliger, individueller Verknüpfungspunkt der generellen Normbegriffe"651, dann Ding an sich I, 263 ff. und metaphysisch-romantisch verstanden.652 649 Vgl. Wilhelm Windelband: Einleitung in die Philosophie (1 9 1 4), S. 347: "So findet

die Menschheit sich verstreut in Völkern und Rassen über den Planeten, und dar­ aus schafft sie sich selbst als selbstbewußte Einheit. Das ist ihre Geschichte." 650 Wilhelm Windelband: Nach hundert Jahren (1 9 1 5), S. 1 63: "So stellt die Lehre von der Entwicklung - das ließe sich auch an Kants Ethik und Religionsphilosophie aufweisen - die parallele Behandlung von Raum und Zeit, wie sie die transzenden­ tale Ä sthetik eingeführt hat, unausweichlich in Frage." 651 Ebd., S. 1 59 f.: "Erst in dem großen Sinne, womit Schleiermacher die Ethik lehrte, den ganzen Umfang des historischen Lebens zu umspannen und begrifflich zu be­ meistern, fand sie auf diesem unermeßlich erweiterten Arbeitsfelde auch das Ver­ ständnis der lebendigen Inhalte, welche als einmalige, individuelle Verknüpfungs­ punkte der generellen Norm-Beziehungen neben diesen selbst in ihrer Eigenart den Gegenstand allgemeiner und notwendiger Wertung ausmachen." 652 Wilhelm Windelband: Fichtes Geschichtsphilosophie (1 9 1 5), S. 263: "Das Einzel­ persönliche ist auf dem ethischen Gebiet das Irrationale, ebenso wie der intelligi­ ble Charakter in den Bereich des unerkennbaren Ding-an-sich geflüchtet werden mußte."

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zentralamerikanischen, ostasiatischen und mittelmeerischen, sei die dritte, die ihrerseits das semitische und arische Moment verbunden, im Griechentum die Grundlagen der Wissenschaft und im Römerturn die des Staates geschaffen hat, der wert I vollste und entscheidende Kristallisationspunkt in der Vereinheitlichung des Menschengeschlechtes. Sie sei heute schon zur atlantischen Gesamtkultur der Zukunft fortgeschritten und habe zur Tatsache der Vereinheitlichung auch das Bewußtsein der Einheit als Aufgabe hinzugefügt. Der Entwicklungsbegriff ist also auch hier nur aufs Ganze der Menschheit bezogen, rein teleologisch genommen und durch die Be­ ziehung des realen Geschehens auf apriorische Werte gebildet300l• eina logisches Problem des Flusses und Werdens selbst, der Erfassung des Rhythmus auch in den kleineren, in sich zusammenhängenden Strecken, der nachzeichnenden Konstruktion der "Struktur", also das eigentliche Problem der Historie, besteht hier nicht. Aber mit der Sorg­ losigkeit, die alle die hier genannten, doch recht bedeutenden Denker an diesem Punkte charakterisiert, bindet sich I Windelband in seiner praktischhistorischen Arbeit durchaus nicht an diese leblos abstrakten Begriffeb. In seiner Geschichte der Philosophie spricht er, die Menschheit vergessend, lediglich von Europa, bezeichnet er als die Aufgabe die Auffindung eines immanenten Werdetriebes der Probleme selbst und des organischen Zusam­ menhangs der Philosophie mit dem Geiste der Zeitalter, wobei die Abhängigkeit dieses immanenten Entwicklungstriebes von rein tatsächlichen kultu300) Noch ganz zuletzt in den Nachlaß-Vorlesungen "Geschichtsphilosophie" 1 9 1 6 und der Einleitung S. 347-356. Die Strenge des Kausalitätsbegriffes, des Geschehens in der Zeit nach allgemeiner Regel hat er dabei stets aufs schärfste betont und sich stets von neuem Mühe gegeben, das Zusammensein des kausalen psychologisch-genetischen Prozesses mit der "Ausballotierung" der den Normen und Werten entsprechenden Vorgänge zu vereinigene s. z. B. "Normen und Naturgesetze" in Prä!. 1.653 Doch hat er später dem Begriffe der Schöpfung, der Setzung des Neuen, der Individualkausalität größere Bedeutung eingeräumt. Ich habe darüber viel mündlich mit ihm diskutiert; er war den Einwänden sehr zugänglich, fürchtete aber davon die Auflösung aller Wissenschaft. a A: Ein b In Afolgt und kombiniert er sie überdies gelegentlich mit ganz andersartigen c A: vereinigen,

653 Als Zitat bei Wilhe1m Windelband: Normen und Naturgesetze (1 9 1 5) nicht nach­

gewiesen, vgl. aber ebd., S. 63 und 67 f.

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

rellen und soziologischen Lagen sowie von individuellen Besonderheiten ih­ rer Träger fein gegen die Grundrichtung abgewogen werden3ot). Also lauter Begriffe, I die mit jenen kahlen Formulierungen nicht entfernt gedeckt sind. Damit kommt es dann auch zu ganz anderen Fassungen des europäisch-universalhistorischen Prozesses, als die vorhin wiedergegebene ist: die Griechen, in Plato ver­ treten, sind die Lebendigkeit und Jugendfrische der Kultur, während die Moderne, in Kant vertreten, die Altersreife und Altersdifferenzierung, das Ueberwiegen der Kritik über die Produktion bedeutet. Den bevorstehen­ den sozialen Revolutionen und der Amerikanisierung sieht er geradezu, wie Jacoba Burckhardt, lediglich mit Grauen entgegen als einem Zusammen­ sturz der ganzen Kultur. Der Wahnsinn Hölderlins wird ihm das Symbol des Schicksals des modernen Menschen, der scheitert an dem Widerspruch des antiken Ideals geschlossener vollmenschlicher Kultur und des moder­ nen arbeitsteiligen Fachmenschentums und übermäßig ausgebreiteten intel­ lektuellen Wissens: also die Tragödie der Kultur3°2). Anderseits, wo er sich die freilich sehr naheliegende Frage stellt, wie so grundsätzlich individuelle Lebensgebilde auf rein rationale und allgemeingültig-formale Vernunftwer­ te überhaupt bezogen werden können, da verweist er auf Schleiermachers 301) In dem Bericht über die Gesch. d. Philos., Fischer-Festschrift und Lehrbuch S. 1 1 f1i54. 302) S. Prä!. I, 1 45, 253 f.65S, Einleitung 356656. a

A, B: Jakob

654 Wilhe1m Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1 892; 1 900;

1 903; 1 9 1 6), S. 1 1 : "Denn aus den Vorstellungen des allgemeinen Zeitbewußtseins und aus den Bedürfnissen der Gesellschaft empfängt die Philosophie ihre Proble­ me, wie die Materialien zu deren Lösung." Windelbands "Lehrbuch" trug in der 1 . Auflage (1 892) und der 2. Auflage (1 900) noch den kürzeren Titel "Geschichte der Philosophie". 655 Wilhelm Windelband: Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick (1 91 5), S. 253 f.: "Die Unmöglichkeit, in der sich das moderne Individuum befindet, den gesamten Gehalt der allgemeinen Kultur in seiner Bildung zur lebendigen Einheit zu bringen, ist also der letzte Grund für die elegische Versenkung in das klassische Altertum, worin Hölderlins tragisches Geschick sich besiegelte. Und das ist nun in der Tat eine tiefe Einsicht in das Wesen des modernen Lebens. Diese Unmöglich­ keit ist eine Tatsache. So unendlich verzweigt, so vielfältig, so widerspruchsvoll ist unsere Kultur geworden, daß das Individuum unfähig ist, sie vollständig in sich aufzunehmen. " 656 Wilhe1m Windelband: Einleitung in die Philosophie (1 9 1 4), S. 356: "Oder richten wir andererseits unsern Blick auf das öffentliche Leben, so sehen wir überall und

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

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Ethik mit ihrer Konstruktion der Individualisierungen der Vernunft in Kul­ turtendenzen und entsprechenden Gemeinschaften oder auf Hegel, dessen Weltgeist in Wahrheit "der historische Menschengeist in der Entwicklung seiner inneren Wertbestimmungen"657 sei. Oder er erklärt gelegentlich seinen Anschluß an Fichtes die Dialektik vorausnehmende Konstruktion der inneren I Bewegungen des Geistes durch die Stufen der Indifferenz, der Entzweiung und der organischen zur Nation ausgebildeten Vollpersönlichkeit hindurch303). Alles lauter rein metaphysische Begriffe, die methodisch­ logisch dem Transzendentalismus, inhaltlich-sachlich dem Kantischen Ver­ nunftideal total widersprechen, und die doch auch mit keinerlei Strenge und Genauigkeit auf die Arbeit der Fachhistorie bezogen sind. Das Problem der historischen Logik ist nur von der Konstituierung des Gegen­ standes aus wirklich angegriffen. Der Entwicklungsbegriff geht in All I gemeinheiten, Widersprüchen und Unsicherheiten völlig zugrunde. Und doch kommt man erst bei dem Fortschritt von dem ersten Problem 303) Prä!. I, 1 59658 , 268659• im steigenden Maße die unvermeidliche Notwendigkeit der assoziativen lebens­ formen, welche in ihrer Massenwirkung die Individualität brachlegen und die Per­ sönlichkeit töten. Es wird nicht umsonst in unserer Zeit so viel von Persönlich­ keit geredet: man spricht am liebsten und am häufigsten von dem, wonach man sich sehnt, weil es einem fehlt. Alle Welt klagt, daß die Originale aussterben und die Eigenarten verkümmern. Alles bekommt in unserer Zeit einen Zug ins Große; aber dies Große ist nur das Quantitative. Diese Abstreifung und Vergewaltigung des Persönlichen ist vom Standpunkt dessen, was das Wesentliche der Geschichte ausmacht, der gefährlichste aller Rückschritte: er droht uns in die primitiven Zu­ stände der persönlichkeitslosen Sozialität zurückzudrängen." 657 Als Zitat bei Wilhelm Windelband nicht nachgewiesen. 658 Vg!. oben, S. 838, Anm. 651 . 659 Wilhelm Windelband: Fichtes Geschichtsphilosophie (1 91 5), S. 267: "Durch den historischen Prozeß vollzieht sich an der Menschheit im Ganzen, in Völkern und Zeitaltern, dasselbe, was das Individuum zu einer geistigen Persönlichkeit macht. In beiden Fällen arbeitet sich die Vernunft aus blindem Gegebensein zu bewuß­ ter Gestaltung heraus. Wie die Naturbedingungen der Individualität in dem phy­ sischen Organismus und in seinen Beziehungen zu seiner Umwelt gegeben sind, wie sie aber erst durch die bewußte Klarheit der Arbeit des Willens an sich selbst zur Erfassung und Gestaltung der Persönlichkeit erhoben werden müssen, so gilt es auch von der geschichtlichen Menschheit überhaupt, daß sie aus dem Natur­ zustande des Vernunftinstinktes durch Selbstentzweiung und Selbstzerstreuung, durch alles Elend und alle Sünde des Streites hindurch zur bewußten Selbsterfas­ sung und Selbstgestaltung kommen muß."

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A 408, B 559

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Kapitel

III.

Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

zum zweiten an das schlagende Herz der Historie heran, das era aus der Fachleistung der Historie herausfühlen wollte. Starke Verbreitung und Wirkung hat diese von Windelband doch nur skizzierte Geschichtstheorie erst durch Heinrich Rickert berlangt, der erst jetzt in diesem Zusammenhang ganz verstanden werden kannb• Da zeigt sich denn sofort, daß Windelbands Lehre unter den Händen dieses scharf­ sinnigsten, einseitigsten und intolerantesten Systematikers alle ihre Akzente verschoben hat. Ihre Widersprüche sind getilgt, ihre anregungsreiche Breite ist in schroffste Enge zusammengezogen, vor allem ihr Geist selber total verändert. Kam Windelband von Lotze und durch Kuno Fischers Vermittlung von Hegel her, so kam Rickert von Mach und Avenarius her und hat niemals den Drang zu eigener historischer Darstellung und Forschung empfunden. Was er empfunden hat, und zwar mit steigendem Entsetzen, das war vielmehr der moderne Kausalitätsmonismus und der völlige Relativismus eines durchgängigen Funktionalzusammenhanges der dem Bewußtsein gegebenen physischen und psychischen Erscheinungen, der grenzenlose "Herakliteische Fluß" der bewußtseinsimmanenten Er­ fahrung. Naturwissenschaften, Biologie, Psychologie, Geschichte schienen ihm alle auf diesem gleichen uferlosen und ziellosen Fluß zu treiben. Demgegenüber bedurfte er eines "Parmenideischen Prinzips" der ewigen Vernunftwahrheit, und darin scheint ihm das eigentliche Hauptproblem der Philosophie heute wie einst zu liegen. Er begann also, wie Dilthey, mit dem äußersten, an Hume und Mill ge I mahnenden und durch die modernen Radikal-Empiristen gesteigerten Positivismus. Was er ihm ent­ gegensetzte, das war grundlegend die Kantische Wertlehre in ihrem Windelbandschen Verständnis, der scharfe Gegensatz von Seins erkenntnis und I Wertgeltungslehre und die Entfaltung der letzteren zu einem komplizierten System der rein aus dem formalen Wesen der Vernunft entfalteten Werte. Das letztere stammt bei ihm eben deshalb nicht, wie im Grunde doch bei Windelband, aus der Geschichte, sondern aus inneren formalen Spannungen der Vernunft selbst und mißt vielmehr seinerseits erst die Geschichte und den Kulturprozeß an seinen rein formalen, aber auch absoluten und zeitlosen Maßstäben. Das ist der Parmenideische Punkt seines Systems und ersetzt alle Metaphysik, die a A: man b-b A: erlangt. Aus eben diesem Grunde gingen diese ganzen Untersuchungen von einer Darlegung und Kritik seiner Theorie aus. Aber sie muß nun an dieser Stelle noch in ihrem Zusammenhang mit den anderen bisher geschilderten Systemen ideengeschichtlich oder problemgeschichtlich beleuchtet werden

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

843

außerdem mit rücksichtsloser Energie aus dem ganzen System vertrieben wird. Er nähert sich darin wieder dem alten Kant und den Marburgern, deduziert aber mit Windelband das Ganze aus dem Wertsystem, um statt der frei in sich selber schwebenden Kantischen Analyse einen festen, wenn auch nur formalen Ausgangspunkt zu haben. Die Brücke von diesem System rationaler Wertgeltungen zu dem relativistischen Getriebe der Seins- oder Erlebniswirklichkeit wird dadurch geschlagen, daß unter diesen Werten der Vernunft auch der Erkenntniswert enthalten ist und dazu ver­ pflichtet, die instinktiv in der Verarbeitung und Ordnung der Erlebniswelt betätigten apriorischen Formelemente zu einer Systematik der Erkenntnis des Seienden auszubauen. Dieses System macht apriorisch zunächst die allgemeine Voraussetzung der kausalmonistischen Verknüpftheit der Wirklichkeit und erteilt dann insbesondere den weiter diese Wirklichkeit formenden methodologischen Erkenntnisprinzipien den Charakter der Objektivität durch ihre Beziehung auf besondere gesollte Erkenntniswerte. aDamit ist gerade aus der Daseinserkenntnis selbst das Sollen oder der verpflichtende Wert deduziert und kann von hier aus Sollen und Wert zum System der Werte entwickelt werden304). Wendet I man sich von da aus zurück zu den Seinswissenschaften, so zerfallen diese nach der allgemeinen Grundspaltung der Logik in individualisierendes und generalisierendes Denken auch ihrerseits in zwei methodisch getrennte, aber jederzeit parallele Hauptgebietea. So kommt es bzu der wichtigenb Spaltung zwischen der naturwissenschaftlich-gesetzlichen und der historisch-individualisierenden Methode, durch welche beide die vorgefundene, im allgemeinsten Sinne kausalmonistisch zu verstehende Erlebniswirklichkeit dem jeweiligen Erkenntniszweck entsprechend umgeformt und das irrationale heterogene Kontinuum der Erfahrung verbegrifflicht, gesondert, gespalten I und 304) Diesen Gedanken hat dann Münsterberg in seiner "Philosophie der Werte" breit ausgeführt. Auf darstellende und entwickelnde Historie verzichtet er freilich ganz. Es gibt für ihn nur praktische Willensstellungen zur Historie. Aber diese sind dann nicht bloß persönliche Attitüden, sondern ein Leben in der Notwendigkeit der Vernunft und ihren 24 Werten. 660 A: Damit sind dann diese methodologischen Prinzipien unter sich geteilt und gespalten nach den verschiedenen Erkenntniszwecken, die aus dem Wesen der Vernunft sich ergeben b-b A: vor allem zu der wichtigsten a-a

660 In seiner "Philosophie der Werte" (1 908) entwickelt Hugo Münsterberg,

S. 81-481 , ein System von acht Wertgruppen zu je drei Werten.

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A 41 1 , B 561

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

jeweils eigentümlich geformt wird. An diesem Punkte kann adie ganzea Windelbandsche Lehre von dem Unterschiede des naturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftli­ chen Erkennens aufgenommen werden. Es wird nur der bei Windelband belassene Rest von Anschaulichkeit der Geschichte getilgt und auch von den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaften scharf gesagt, daß sie nicht ein Sein, sondern geltende Begriffe aussagen; und es wird die letzte Objektivität dieser Begriffe ganz ausschließlich begründet auf ihre Beziehung zu jenemb System geltender Werte, nicht auf ihr wie immer verkürzendes und umbildendes Nachzeichnungsverhältnis zum realen Leben. Es ist eine seltsame, aber äußerst scharfsinnige Mischung von absolutem Rationalismus formaler Wertgeltungen, radikalem Positivismus der Erlebniswirklichkeit, pragmatistisch und pluralistisch umgebogener Transzendentallogik und grundsätzlich vorausgesetztem Kausalitätsmo­ nismus30S), begründet auf die Lehre von der Immanenz der Erfahrung in einem völlig abstrakten, gleichfalls nur geltenden Bewußtseinssubjekt. Daß die Psychologie in einem solchen System keine Rolle spielen I darf, ist selbstverständlich; sie würde, vor alle m im Sinne Diltheys als verstehende Psychologie genommen, in Metaphysik und Intuition zurückschleudern und die formallogische Orientierung verwirren. Sie ist daher rein und restlos den Naturwissenschaften zu übergeben. In diesen allgemeinen Rahmen ist also die Windelbandsche Geschichts­ theorie eingespannt. Sie konnte hier wohl ihren Platz finden und breit 305) Vgl. zum Ganzen coben S. 1 50 ff! sowie Rickerts Aufsätze im Logos IV 1 9 1 3, Vom System der Werte (Rickert betrachtet diesen Aufsatz als zentral und zitiert ihn häufig an entscheidender Stelle), ferner die Kritik an Jaspers IX, 1 920, Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte; ganz zuletzt sein System der Philoso­ phie 1 92 1 . a-a c-c

A: dann nun auch die weitere b A: einem A: H. Z. 1 1 9, S. 373-389; 1 1 6, S. 8-1 3;1i62

661 Vgl. Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

(1 896/1 902; 1 9 1 3; 1 921), Abschnitt IX. S. 404-465: "Die irrealen Sinngebilde und das geschichtliche Verstehen". 662 Ernst Troeltsch: Ü ber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge (1 91 6), in die­ sem Band S. 292-387; ders.: Ü ber den Begriff einer historischen Dialektik. Win­ delband-Rickert und Hegel (1 9 1 9) , in diesem Band S. 4 1 6-483.

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

845

und scharfsinnig ausgesponnen, ja durch weitere Gedanken bereichert werden, wie es die starke Betonung der relativ nomothetischen und relativ-idiographischen Begriffe, d. h. der ganzen Schicht historischer, aus der Vergleichung gefundener Allgemeinbegriffe I unzweifelhaft ist. Auch die Betonung der besonderen Art der historischen Kausalität als einer nicht allgemeine Gesetze befolgenden, sondern im Einzelfall einmalige Wirkungen setzenden "Individualkausalität" ist von großer Bedeutung; damit wird das "Neue" und "Schöpferische" in der Historie möglich, wenn man auch finden mag, daß eine solche Individualkausalität in Wahrheit den ganzen rationalistischen Rahmen sprengt306). Aber darauf 306) Ueber diese vor allem der Aufsatz in der Sigwart-Festschrift über den psychophysischen Parallelismus,663 eine sehr wichtige Studie. Nähere Ausführung bei seinem Schüler Sergius Hessen, "Individualkausalität". Die Bedenken Windelbands dagegen Präl. II, 9 1 f.664 - Die Schrift von Hessen seia wie sehr oft Schülerschriften, äußerst lehrreich für den Sinn der Lehre des Meisters. Hier wird Rickerts Lehre der Cohens als "transzendentaler Empirismus" dem "transzendentalen Rationalismus" gegenübergestellt;665 der a

A: ist,

663 Heinrich Rickert: Psychophysische Causalität und psychophysischer Parallelismus

(1 900), S. 8 1 : "Sowohl das allgemeine Caus alprincip, d. h. der Satz, dass alles Gesche­ hen seine Ursache hat, als auch jedes allgemeine Causalgeset-\) ein Begriff, den wir sorgfältig von dem des allgemeinen Causalprincips unterscheiden müssen, setzt individuelles Wirken voraus, das, was es auch sein mag, mehr als blosse Succession sein muss, denn es wäre sonst erstens der Zusammenhang eines individuellen kör­ perlichen mit einem individuellen geistigen Vorgang wieder kein Problem, und fer­ ner wäre auch nicht recht einzusehen, wie sonst die Begriffe des allgemeinen Cau­ salprincips und irgend eines Causalgesetzes mehr als Succession enthalten sollten: das eine dehnt ja nur den Begriff der individuellen Causalität über alle Wirklichkeit aus, und in dem andern wird das einer Vielheit von individuellen Causalitätsver­ hältnissen Gemeinsame zusammengefasst. Beide Begriffe würden also ohne die Voraussetzung individueller Causalverbindungen, die mehr als Succession bedeu­ ten, nicht gedacht werden können." 664 Wilhelm Windelband: Normen und Naturgesetze (1 9 1 5), S. 91 f.: "Worin soll denn - so müssen wir nämlich fragen - die Notwendigkeit bestehen, womit bei dem ,Wirken' unabhängig von aller Gesetzmäßigkeit die Ursache ihre Wirkung be­ stimmt? Weshalb - m. a. W - soll diese Wirkung dieser Ursache eindeutig zuge­ ordnet sein?" 665 Sergius Hessen: Individuelle Kausalität (1 909) , S. 5: "Der transzendentale Rationalis­ mus, dessen typischer Vertreter H Cohen ist, verknüpft die apriorische Allgemein­ heit mit der gattungsmässigen." S. 6: "Ganz anders der transzendentale Empirismus. Dieser trennt beide Gebiete, das des Apriori und das der Empirie, möglichst scharf von einander."

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

kommt es hier nicht an. Entscheidend ist vielmehr die Verkoppelung der Windelbandschen Geschichtslogik mit einer absolut rationalen Geschichts­ philosophie der objektiven Wertgeltung, wobei die letztere die erstere bedeutend überschattet. Aber sie wird nicht nur überschattet, I sondern in ihrem eigentlich historischen Gehalte stark verkürzt. Rickert tadelt bei Windelband, daß er von Naturgesetzen und Geschichtsgestaiten rede, also der Anschauung immer noch einen viel zu breiten Raum einräume; an Stelle der Gestalten müßten wirkliche, rein logisch auflösbare Begriffe, wenn auch andere als die der Naturwissenschaften treten. 666 Er tadelt ferner, daß Windelband dem bloßen historischen Sinn sich zu sehr hingegeben, das Sein, soweit es uns interessiert, nicht völlig in Werte aufgelöst habe und damit schließlich in der Historie ein Ineinander von Sein und Wert, ein lediglich anschaubares Wachstum erstere seia eine "Transponierung des modernen empiristischen Gedankens ins Tran­ szendentale", S. 8 u. 97667. Ueber die notwendige relative Sterilität des grundsätzlich antimetaphysischen Denkens S. 83668. Am Schluß heißt es dann S. 1 5 1 : "Der positivisti­ sche Zug vermag also die Ungeheuer des Erlebnisses, der Intuition, der unmittelbaren Anschauung nicht zu überwinden. Er kann sie wohl aus dem Reiche der Wissenschaft verbannen. Desto mächtiger aber versammeln sie sich an ihrer Grenze!"b669 S. "Indiv.­ Kaus., Studien zum transzendentalen Empirismus" 1 909, Beiheft der Kant-Studien Nr. 1 5. Uebrigens sucht Hessen Rickerts Individualkausalität doch wieder auf die allgemein­ gesetzliche zu reduzieren. a

A: ist

b A: Grenze."

666 Vgl. Heinrich Rickert: Wilhe1m Windelband (1 91 5), S. 28: "Auch wo es galt, die

logische Struktur der Geschichtswissenschaften aufzudecken, wollte er den ästheti­ schen Zauber nicht ignorieren, der auf den großen historischen Darstellungen al­ ler Zeiten ruht, und sprach von ,Gestalt' im Gegensatz zum Gesetz, wo gerade der Anschein, als sei der Historiker der Anschauung hingegeben wie der Künstler, am sorgfaltigsten abzuweisen war, weil alles auf die logische Struktur des historischen Begriffts ankam, der im Gegensatz zur anschaulichen Gestalt steht." 667 Sergius Hessen: Individuelle Kausalität (1 909), S. 97: "Was den Begriff der Persön­ lichkeit als einen individuellen Begriff betrifft, so bedeutet er wieder eine Ü bertra­ gung des positivistischen Begriffs des Ichs, als einer ,praktischen relativ-konstan­ ten Einheit', wie ihn etwa Avenarius und Mach bestimmt haben, ins Transzendenta­ le." 668 Ebd., S. 83: "Steril ist gewiss unser Begriff, aber nur insofern, als die Erkenntnis­ theorie insofern überhaupt steril ist, als sie nach den Grenzen der Erkenntnis fragt und allen metaphysischen Konstruktionen den Boden entzieht." 669 Ebd., S. 1 5 1 : "Der ,positivistische Zug' vermag also nicht die Ungeheuer des Er­ lebnisses, der Intuition, der unmittelbaren Anschauung zu überwinden."

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

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zurückbehaltena habe, das notwendig I in die Metaphysik zurückführen müsse und bei Windelband tatsächlich dahin geführt habe. Er tadelt vor allem das Uebergewicht des rein historischen Interesses über das Systematische, das Windelband unfähig gemacht habe, den Herakliteischen Fluß ganz zu überwinden und die festen Parmenideischen Positionen zu gewinnen. 67o Das ist deutlich genug. Es zeigt, daß gerade für den hier gesuchten Begriff der Entwicklung bei Rickert grundsätzlich nichts zu holen ist, also noch sehr viel weniger als bei Windelband selbst. Er erkennt das in ihm liegende Problem überhaupt nicht an. Auf die Beziehung der historischen Totalitäten auf das absolute Wertsystem und damit auf feste kritische Position gegenüber dem Erfahrungsstrom kommt es an, nicht auf nachfühlendes Verstehen desselben: "Das heterogene Kontinuum des Erfahrungsstromes verdient keine Schonung!"671 Hier gibt es nichts als strengen Aufweis der in der Zeit verlaufenden Kausalitätsreihen, aus deren Mischung und Verflechtung die historischen Sinngebilde erwachsen, und die Messung des jeweils tatsächlich vorliegenden und von den histo­ rischen Epochen und Individuen geglaubten Sinnes am sein-sollenden oder geltenden des absoluten Wertsystems. Jeder Versuch, Sein und Wert, Wachstum und Sinnverwirklichung zusammenzuschauen, führe zu den a

A: gelehrt

670 Heinrich Rickert: Wilhelm Windelband (1 9 1 5), S. 29 f.: "Windelband sah zu deut­

lich das relative Recht all der verschiedenen in der Geschichte hervorgetretenen Mo­ tive und die Wandelbarkeit aller Geistesgebilde, um das absolute Unrecht der Ver­ gangenheit in einem fertigen System zu behaupten. Der Systematiker muß nun ein­ mal ,intolerant' sein, und das widerstreitet dem Wesen des Historikers, der, um mit Ranke zu reden, nicht das Frühere zugunsten des Späteren ,mediatisieren' darf [...] . Die Philosophie ist eine Wissenschaft, und keine Wissenschaft darf hoffen, jemals mit ihrer Arbeit zu Ende zu kommen. Zugleich wird aber der Systematiker der Philosophie stets nach einem Ende und Abschluß streben, und ihm bleibt daher gar nichts anderes übrig, als es zu ignorieren, daß er ein historisch bedingtes Individu­ um ist. Er muß die Geschichte gerade dann vergessen können, wenn er selbst Ge­ schichte machen will. Dem Historiker ist ein solches Vergessen für immer versagt, und falls er wie Windelband zugleich nach einem System sucht, wird er daher um so notwendiger bei etwas Unabgeschlossenem und Unfertigem stehen bleiben, je größer er als Historiker ist." 671 Vgl. Heinrich Rickert: Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte (1 920/1 921), S. 24: "Das heterogene Kontinuum des bloßen ,Erlebnis­ stroms' verdient keine Schonung."

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Kapitel 111. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

völlig unwissenschaftlichen intuitiven Methoden und zu der Verschmelzung bei der in dem dunklen und verworrenen Begriff des Lebens, das Sein und Wert verschlingt und statt einer deutlichen Sonderung von Tatsachen und Soll-Idealen beide zusammen in der I animalischen Lebensbewegung untergehen läßt. Der Begriff des Lebens ist ihm lediglich schlechte, jene Unterschiede verwischende Metaphysik und seit Hegel ein unerträglicher Modebegriff, der neuerdings wieder der allein klaren und wissenschaftsge­ mäßen Wertgeltungslehre von Dilettanten entgegengestellt werde. "In dem Lebenssumpf der Modephilosophie gibt es ofta nur noch Froschperspekti­ ven. "672 Mit dem Lebensbegriff, mit der Metaphysik und der Psychologie ist ebenb auch der Entwicklungsbegriff beseitigt. Kein Wunder, daß mit dem Entwicklungsbegriff auch jede Andeutung seines naturgemäßen Ergebnisses, jedes Bild I vom universalgeschichtlichen Prozeß abwesend ist. An Stelle von alledem tritt die "unwirkliche", aber geltende Notwendigkeit des Wertsystems. Alle Wissenschaft und Objektivität liegt in der apriorischen Form und die einzigen apriorischen Formen sind der Kausalitäts-, der Individualitäts- und der Wertbegriff307). I 307) Man sehe hierzu besonders den Nachruf "Wilh. Windelband" Tübingen 1 9 1 5, und die Kritik über Jaspers, Logos IX, S. 33, 24. Vom historischen Verstehen heißt es dort S. 38: "Kann man Wirkliches überhaupt ,verstehen', falls Verstehen in Gegen­ satz gebracht wird zum Erklären? Verstehen wir nicht vielmehr nur unwirkliche Gebilde des Wertes und des Sinnes."673 Das sagt alles: an ein Verstehen und Nachfühlen des Wachs­ rums darf gar nicht gedacht werden. Oder über die Enrwicklung heißt es Logos IV, 299: "Durch dene Enrwicklungsgedanken scheint alles unsicher und schwankend zu werden. Und doch hat seine Anwendung eine unverrückbare Grenze, wenn wir daran denken, daß alles sich enrwickeln kann außer der Enrwicklung selbst. Was als Voraussetzung jeder Enrwicklung zu gelten hat, ist der Enrwicklung entzogen und zeigt daher auch a

In Afolgt (dieses "oft" ist ein Zeichen von Besinnung)

b A: aber

c



die

672 Ebd., S. 33. 673 Ebd., S. 38 f.: "Kann man bloß Wirkliches überhaupt ,verstehen', falls verstehen

in Gegensatz gebracht wird zum erklären? Verstehen wir nicht vielmehr nur un­ wirkliche Gebilde des Wertes und des Sinnes?"

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

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Bei den Historikern hat Rickert viel Glück gehabt. Er konnte sie nicht positiv beeinflussen, indem er ja nur ihr tatsächliches Verfahren logisch zu redigieren schien. In bezug auf die Erzeugung des "historischen Gegenstandes" hat er das auch musterhaft getan, wenn man von der allzugründlichen Austilgung der An­ schauung absieht. Allein das letztere kümmerte, weil praktisch unmöglich, die Historiker wenig, ebensowenig wie seine Unfruchtbarkeit in bezug auf den Entwicklungsbegriff und sein für den Historiker ganz fernliegendes Wertsystem. Hier hatten und haben sie ihre angestammten Methoden und ihr übereinkömrnliches Wertsystem auch ohne ihn. Freilich haben viele mit richtigem Instinkt, wenn auch unzweifelhaftem Mißverständnis des Gedankens der Sinntotalitäten in dem Ganzen eine gerade eben nicht historische Teleologie gewittert. Die lautesten Bewunderer haben vermutlich das Ganze überhaupt nur als I Bundesgenossen in ihren Verlegenheiten gegenüber Lamprecht und der Soziologie empfunden und die weiteren Zusam­ menhänge überhaupt nicht verstanden oder beachtet. Die dritte Hauptfigur der Schule ist Max Weber, einer der mächtig­ sten deutschen Menschen und der umfassendsten, zugleich methodisch einen übergeschichtlichen Charakter."674 Das ist natürlich das Wertsystem. Gegen alle Theorien der Entwicklung, die Wert und Sein zusammenziehen und das Wachstum dieses Ineinander anschauen oder nachkonstruieren, wendet er sich in seinem neuesten, schneidenden Buche "Die Philosophie des Lebens, Darstellung und I Kritik der Modeströmungena unserer Zeit" 1 920. Trotz alledem prophezeit hier Rickert die Erneuerung Hegels,67s woran ich meinerseits nicht glaube. a

A: Werdeströmungen

674 Heinrich Rickert: Vom System der Werte (1 9 1 3), S. 299: "Und doch hat seine

Anwendung eine unverrückbare Grenze, wie leicht einzusehen ist, wenn wir daran denken, daß alles sich entwickeln kann mit Ausnahme der Entwicklung selbst. Was als Voraussetzungjeder Entwicklung zu gelten hat". 675 Vgl. Heinrich Rickert: Die Philosophie des Lebens (1 920), Vorwort S. IV: "Darf ich trotzdem an dieser Stelle eine Vermutung über die Zukunft äußern, so geht sie dahin, daß wir am Ende der Philosophie des bloßen Lebens stehen. [...] Was die reine Lebensphilosophie dann ablösen wird, läßt sich ebenfalls nur vermuten. Doch sieht es manchmal so aus, als ob Gedanken Hegels immer größeren Einfluß erhielten. "

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

strengsten Gelehrten des Zeitalters. Durch die Begriffsschärfe und Institu­ tionenkunde der Jurisprudenz, dann durch den praktischen Realismus und die Weltweite der Sozialökonomie hindurchgegangen, wurde er schließlich zum Philosophen, und zwar zum Geschichts- und Kulturphilosophen. Als solcher nahm er vor allem das Marxistische Problem auf, um es um- und fortzubilden. Er sah darin frühzeitig eine der Grundlagen der Kultur- und Geschichtsbetrachtung. Aber wie jene Theorie bei Marx ihre grimassenhaf­ te Härte einer bestimmten Philosophie, der Feuerbachschen Umstülpung Hegels, verdankte, so ging Webers Um- und Fortbildung auch ihrerseits auf die philosophischen Grundlagen aus. Diese gewann er in einem I engen Anschluß an den Neukantianismus und vor allem an die Rickertsche Geschichtslogik, womit der Marxistische Zwang des Materialismus beseitigt und die "materialistische" Methode rein zu dem Problem des Verhältnis­ ses zwischen dem dominierenden ökonomisch-soziologischen und den übrigen Elementen der Kultur wurde. Was er dabei von Rickert außer der allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundlage übernahm, war freilich lediglich die geschichtslogische Theorie von der Konstituierung des histori­ schen Gegenstandes, während er dessen eigentliche Geschichtsphilosophie, die Erteilung der Objektivität durch Beziehung auf das geltende System ab­ soluter Werte, rundweg ablehnte. Er sah darin mit Recht eine Verkoppelung zweier ganz verschiedener Aufgaben und glaubte die Objektivität völlig, ja allein gewahrt durch die unbefangene Analyse der jeweiligen Sinngehalte und durch die Strenge der Kausalitätsforschung in betreff der sich zu ihnen verknüpfenden und mischenden Vorgangsreihen. Mit dieser Beschränkung hat er die Theorie aber nicht bloß übernommen, sondern weitergebildet. Er ersetzte Rickerts Lehre von der Individualkausalität, die auch ihm nicht gefiel, im Anschluß an Mill I und v. Kries durch die Theorie der objektiven Möglichkeiten und adäquaten Verursachungen, d. h. der Analogieschlüsse aus sonstigen, sicher beobachteten Motivationsverhältnissen;676 damit 676 Vgl. Max Weber: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen

Logik (1 906) , S. 1 88: "Die Theorie der sogenannten ,objektiven Möglichkeit', um welche es sich hier handelt, beruht auf den Arbeiten des ausgezeichneten Physiolo­ gen v. Kries und die gebräuchliche Verwendung dieses Begriffs auf den an v. Kries sich anschließenden oder ihn kritisierenden Arbeiten in erster Linie kriminalisti­ scher, in zweiter anderer juristischer Schriftsteller, speziell Merkel, Rümelin, Liep­ mann, und neuestens, Radbruch. " S. 1 89, Anm. 31 : "Den Gegensatz seiner Theo­ rie gegen diejenige J. St. Mill s hat v. Kries selbst (a. a. 0. S. 1 07) in m. E. durchaus überzeugender Weise dargelegt. Darüber siehe weiter unten. Richtig ist nur, daß auch Mill die Kategorie der objektiven Möglichkeit erörtert und dabei gelegentlich auch (s. Werke, deutsche Ausg. v. Gomperz, III S. 262) den Begriff der ,adäquaten Verursachung' gebildet hat."

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

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wollte er der theoretisch anerkannten grundsätzlichen Lückenlosigkeit des gesetzlichen Kausalzusammenhangs aller Einzelvorgänge und der aus ihnen sich bildenden komplexen Gebilde zugleich mit der prakti­ schen Undurchführbarkeit des Kausalitätsmonismus gerecht werden. Vor allem aber hat er die wichtige Schicht der relativ-nomothetischen und relativ-idiographischen Begriffe, also der historischen Gesetzes-, Typen-, Stufenbegriffe geklärt, indem er hierfür die Lehre von der "idealtypischen" Begriffsbildung einführte. Alle solchen komparativen Verallgemeinerungen seien keine reinen und abstrakten Gattungsbegriffe der überall vorkom­ menden Merkmale, sondern Bezeichnungen der allgemeinen Richtung durch den charakteristischsten, die Sache am meisten ausdrückenden, also idealen Fall. So müsse man Wirtschaftsstufen, wie Feudalismus, Handwerk oder Kapitalismus, aber auch breite Geistesmächte wie Christentum und Renaissance usw. charakterisieren, wobei der anschaulich-individuelle ideale oder auch extreme oder reine I Fall das Ganze vertreten und auf seine tausend Variations- und Verdünnungsmöglichkeiten hin abgestimmt werden müsse. Wie seine Stammwissenschaft, die Sozialökonomie, nach seiner Auffassung wesentlich mit solchen Begriffen arbeitet, so fiel diesen Begriffen schließlich sein stärkstes Interesse und seine intensivste Arbeit zu. Er untersuchte durch die ganze Weltgeschichte hin die sozialökono­ mischen Gebilde und ihren jeweiligen Zusammenhang mit den übrigen Kulturelementen, dabei nach allgemeinen, sorgfältig definierten Stufen und Typen strebend, aber auch innerhalb jeder Stufe die Sondergebilde zugleich individuell erfassend. Sein Hauptziel bei diesen Untersuchungen war: den Sondercharakter der abendländischen Kultur, ihrer sozialen und geistigen Probleme zu erleuchten. Er beruht ihm auf der Verbindung des griechischen Rationalismus, der ursprünglichen Siedlungsbedingungen und geographischen Verhältnisse, der freien Arbeit und des konstruktiv­ organisatorischen arbeitsteiligen Geistes der abendländischen Staa I ten und ihrer Gesellschaft. Dabei galt es natürlich wieder, die einzelnen Glieder dieser Verbindung und ihre Zusammenschmelzung vergleichend zu erläutern und genetisch zu erklären. Er nannte dieses Verfahren Soziologie und hat durch diese Soziologie eines der gewaltigsten und lehrreichsten Bilder des universalhistorischen Bestandes geschaffen, ohne jede ge­ schichtsphilosophische Konstruktion und Sinndeutung des Prozesses, rein als Abgrenzung und Erklärung der tatsächlichen Gebilde mit Hilfe des vergleichend-idealtypischen und individualisierend-historischen Denkens. Die Wirkung dieser Leistung wird sich erst voll entfalten, wenn der gesamte Nachlaß vorliegt. Dagegen hat er in eigentlich historischer Darstellung und Konstruktion konkreter Entwicklungszusammenhänge sich wenig betätigt. Er hat dafür nur theoretisch die Forderung der Aufsuchung

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

strenger und reiner Kausalzusammenhänge erhoben und jede intuitive, in den inneren Gang sich einfühlende und aus Werdetrieben konstruierende Darstellung als Rückfall in Dialektik, emanatistische Logik, Romantik und historische Schule schroff abgelehnt. Praktisch durchführen konnte er freilich in seinen seltenen, aber durch prachtvolle Anschaulichkeit, Macht der Phantasie und feinfühlige Erfassung der leisesten psychologischen Be­ wegungen ausgezeichneten Darstellungen - sie sind abgesehen von seiner I Agrargeschichte meist eingestreut in die soziologischen Studien - diese im Grunde positivistisch-neukantische Theorie nicht. Er arbeitet dann, wie andere auch, mit anschaulichen Gesamtbildern, inneren Kontinuitäten und nur intuitiv erfaßbaren Werdezusammenhängen, denen die Individuen mit schärfster Rücksicht auf ihre Besonderheiten und ihre mitunter sehr eigenwilligen Motivationszusammenhänge doch wesentlich eingegliedert sind. Ich habe diesen Umstand bereits früher hervorgehoben. Aber so viel ist für unser hier verfolgtes Hauptproblem aus alledem al­ lerdings klar: für den Entwicklungsbegriff, seine besondere Logik und be­ sondere metaphysische Tiefe hat auch er nichts übrig. Ja, er schließt ihn geradezu schroff und bewußt aus. Er beschränkt alle historische Forschung streng auf die Bildung von Kausalitätsreihen und macht hier zwischen Naturkausalität und historischer Kausalität I keinen Unterschied, außer dem oben genannten, der praktischen Schwierigkeit gegenüber der enormen Ver­ wickeltheit der Historie entspringenden. Ganz so hat auch Comte gedacht. Weber macht dem Begriff nur insoweit Zugeständnisse, als er von der Me­ thode der "objektiven Möglichkeiten", also im Grunde der Kausalbetrach­ tung, aus zugänglich ist. Danach sind Entwicklungslinien Konstruktionen der wissenschaftlichen Phantasie, die von den in einer Situation liegenden Möglichkeiten ausgehen und nach Analogie der Erfahrung oder allgemei­ ner Beobachtungen oder auch Gesetze die adäquate, d. h. wahrscheinlichste Verursachungsreihe aufsuchen, um diese Vermutungen dann an den Einzel­ heiten des wirklichen Verlaufes zu kontrollieren. Die außerhalb der derart festgestellten Wahrscheinlichkeit liegenden Ursachen und Wirkungen nen­ ne man dann Zufälle oder Hemmungen der "Entwicklungstendenz"677. Es 677 Vgl. Max Weber: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen

Logik (1 906), S. 205 f.: "Es handelt sich um eine isolierende und generalisierende Abstraktion, nicht um Wiedergabe eines faktisch stattgehabten Ablaufs von Vor­ gängen, wenn wir z. B. Eduard Meyer von Fällen sprechen hören, wo (S. 27) .A1les auf einen bestimmten Erfolg hindrängt': gemeint ist damit doch, logisch korrekt formuliert, lediglich, daß wir kausale ,Momente' feststellen und gedanklich isolie­ ren können, zu welchen der erwartete Erfolg als im Verhältnis der Adäquenz ste­ hend gedacht werden muß, weil relativ wenige Kombinationen jener isoliert her-

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ist das in der Tat die Aufdeckung eines der logischen Kunstgriffe, mit Hil­ fe deren Entwicklungslinien praktisch konstruiert werden. Aber das wirkli­ che Eindringen in die innere Dynamik, Spannung und Rhythmik des Ge­ schehens, in das Ineinander von Sein und Wert und dessen Wachstum, ist damit grundsätzlich ausgeschlossen. Das führt nach Weber notwendig zu Metaphysik und Romantik, gegen die er trotz allema persönlichen ethischen Idealismus die Abneigung des Positivisten hat. Der schärfste Ausdruck dieser Verwerfung ist die grund I sätzliche Trennung von kausaler Gegebenheit und gesolltem Werte, die niemals im Wachstum und in der Wertverwirklichung zusammengeschaut werden dürfen, weil das letztlich immer in Hegelsche Metaphysik oder ähnliches führen würde. Hierin empfindet er wie Rickert und der ganze Neukantianismus, gibt dem aber einen schrofferen Ausdruck als irgendeiner der andern und verschmäht überdies vor allem jede wissenschaftliche Begründung der dem Gegebenen und Werdenden entgegenzuhaltenden, persönlich bejahten Werte. Er steht Hegel und der historischen Schule schärfer und klarer gegenüber als irgendeiner der bisher Genannten, selbst als Rickert, der in seiner Wertgeltungslehre wenigstens den Wahrheitsgehalt der Hegelschen Idee bewahrt zu haben I glaubt. Aber er vertritt in dieser scharfen Abscheidung doch zugleich einen starken eigenen Typus historischen Denkens, äußerst exakt und universal in Vergleichung und Kausalitätsforschung und zugleich ohne jeden Historismus und Relativismus wenigstens in seinen entscheidenden persönlichen Positionen, die er mit einer durch keine Wissenschaft gehemmten Leidenschaft bejahte und zu vertreten liebte. Das gibt dann eine auch von Rickert sehr verschiedene Gesamtposition. Wertfreie, reine Kausalitätsforschung im Sinne der Windelband-Rickertschen Logik des historischen Gegenstandes und wissenschafts freie, von jedem Geltungsrationalismus und jeder Me­ taphysik, auch jeder Religion und Spekulation befreite Wertposition: das ist es, was dem klaren Denker ziemt. Im ersten strenger Rationalismus, der alle Heftigkeit persönlicher Stellungnahme und Verwertung mit eiserner Disziplin ausschaltet, im zweiten heroischer Skeptizismus, der ohne Religion und Metaphysik die persönlich bejahten Werte setzt, aus ihnen und nach ihnen die gegenwärtige Wirklichkeit gestaltet, die Charakterstärke unerschrocken a

A: allen

ausgehobenen mit anderen kausalen ,Momenten' vorstellbar sind, von welchen wir nach allgemeinen Eifahrungsregeln ein anderes Ergebnis ,erwarten' würden. Wir pfle­ gen in Fällen, wo die Sache für unsere ,Auffassung' so liegt, wie es E. Meyer mit jenen Worten beschreibt, von dem Vorhandensein einer auf den betreffenden Er­ folg gerichteten ,Entwicklungstendenz' zu sprechen."

B 569

A 419

854

B 570

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

betätigt, aber der wissenschaftlichen Erklärung nichts präjudiziert und mit ihr keinerlei Mischung eingeht. Aehnlich, nur weniger wille nsmächtig, fan­ den wir es bei A. Riehl und bei F. A. Lange. Die ihn leitenden außerwis­ senschaftlichen Werte waren der Glaube an die Menschenwürde, woraus er die Demokratie als relativ gerechteste und sittlichste Staatsordnung folgerte, und der Glaube an Deutschlands politische Zukunft und Größe. Der Ver­ suchung, diese Werte in Entwicklungslinien hineinzudeuten, hat er in der Tat völlig widerstanden, I Wissenschaft und Ueberzeugung stets absolut ge­ trennt. Und wenn man dem entgegnen könnte, daß ja der echte Entwick­ lungsbegriff als Erfühlen der inneren Werdebewegung solche Vermischung gar nicht fordere, sondern ein einheitlich intuitiver Erkenntnisakt mit spe­ zifischem Evidenz- und Realitätsgefühl sei, wobei die persönliche Stellung immer noch eine besondere Aufgabe bleibe, so kommt darauf wieder der eigentliche und tiefste Grund der Verwerfung zutage: die Ablehnung jeder Metaphysik, die neukantische Beschränkung aller objektiven Erkenntnis auf geltende Formen. I Max Weber ist von allen Neukantianern in bezug auf die Historik am meisten zum Positivismus übergegangen, ähnlich wie Riehl in bezug auf die Naturlehre. Man wird auch in der Tat darin die konsequentere Ausfül­ lung des von Kant leergelassenen Platzes der Historik sehen müssen als in den Versuchen, eine solche aus seiner praktischen Philosophie hervor­ zuquälen und der Symmetrie halber dann gar noch auch Kants Naturlehre letztlich aus ihr herzuleiten, womit man doch schließlich immer irgendwie in den Hegelianismus hinübergerät. Allerdings hat Weber dem Positivismus energisch eine transzendentallogische und insoferne idealistische Grund­ legung gegeben und die historische Welt ungleich reicher, tiefer lebendi­ ger und beseelter gesehen. Aber er hat doch mit ihm letztlich die Sozio­ logie als wichtigstes Mittel der historischen Erkenntnis betrachtet und mit ihm die soziologischen Gebilde wesentlich kausalgenetisch aus den gesetz­ lichen Verbindungen elementarer Bestandteile hergeleitet, wenn auch sein historischer Kausalitätsbegriff der objektiven Möglichkeit und sein Geset­ zesbegriff des Idealtypus das eigentlich Historische dabei viel stärker zur Geltung zu bringen erlaubt und für den konkreten Gang der einzelnen geschichtlichen Verläufe selbst die Rickertsche Methode der individualisie­ renden3 Begriffsbildung anerkannt wird. Ja, er hat den Positivismus beina­ he übertrumpft, indem er die der deutschen Philosophie entstammenden teleologisch-evolutionistischen Momente desselben gänzlich ausmerzte und die persönliche, stellungnehmende Wertbejahungb (die von jener lediglich

a

A: individualisierenden, wertbeziehenden

b A: Wertbeziehung

6. Die Entwicklungsidee des historischen Realismus. C

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faktischen "Wertbeziehung" scharf zu scheiden ist) 678 als völlig außerwis­ senschaftliche, praktisch dafür um so bedeutsamere Angelegenheit I völlig und ausschließend neben die kausale Wissenschaft stellte308l. I 308) Vgl. H. Z. 1 20, 447-449679 und meine beiden Nachrufe in der Frankfurter Ztg. und in der Deutschen Allg. Ztg., sowie den von Schulze-Gävernitz Frankf. Ztg., 7. April 1 920. Die oben berührten Theorien der Entwicklung in den "Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik", Archiv f. Soz.-Wiss. XXII, zweite Hälfte, und vor allem in einer der letzten Schriften "Wissenschaft als Beruf', München 1 9 1 9, und der neuen Einleitung zu den Religionssoziologischen Aufsätzen" I (fübingen 1 920), S. 1-1 6. Auch für ihn ist "Verstehen" kausales a

A: Studien

678 Vgl. Max Weber: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen

Logik (1 906), S. 1 74 f.: "Man hat allen Ernstes den von H. Rickert sehr klar ent­ wickelten Gedanken, daß die Bildung des ,historischen Individuums' durch ,Wert­ beziehung' bedingt werde, dahin verstanden oder dadurch zu ,widerlegen' ver­ sucht, daß diese ,Wertbeziehung' identisch sei mit einer Subsumtion unter generel­ le Begriffe : ,Staat', ,Religion', ,Kunst' etc. [. . .) Dies sind merkwürdige Mißverständ­ nisse dessen, was unter einer ,Wertbeziehung' verstanden ist und allein verstanden werden kann. Ein aktuelles ,Werturteil' über ein konkretes Objekt oder die theore­ tische Aufstellung ,möglicher' Wertbeziehungen desselben heißt doch nicht, daß ich dasselbe unter einen bestimmten Gattungsbegriff: ,Liebesbrief, ,politisches Gebilde', ,ökonomische Erscheinung' subsumiere. Sondern das ,Werturteil' heißt: daß ich zu ihm in seiner konkreten Eigenart in bestimmter konkreter Art ,Stei­ lung nehme' und die subjektiven Quellen dieser meiner Stellungnahme, meiner da­ für entscheidenden ,Wertgesichtspunkte', sind doch erst recht nicht ein ,Begriff und vollends ein ,abstrakter Begriff, sondern ein durchaus konkretes, höchst in­ dividuell geartetes und zusammengesetztes ,Fühlen' und ,Wollen' oder aber, un­ ter Umständen, das Bewußtsein eines bestimmt und wiederum konkret gearteten ,Sollens'. Und wenn ich nun aus dem Stadium des aktuellen Bewertens der Ob­ jekte in dasjenige der theoretisch-interpretativen Ü berlegung der moglichen Wertbe­ ziehungen trete, also aus den Objekten ,historische Individuen' bilde, so bedeutet dies, daß ich die konkrete, individuelle und deshalb in letzter Instanz einzzgartige Form, in welcher sich - um zunächst einmal eine metaphysische Wendung zu brau­ chen - ,Ideen' in dem betreffenden politischen Gebilde (z. B. dem ,Staat Fried­ richs des Großen'), der betreffenden Persönlichkeit (z. B. Goethe oder Bismarck), dem betreffenden Literaturprodukt (dem ,Kapital' von Marx) ,verkörpert' haben oder ,auswirken', mir und anderen interpretierend zum Bewußtsein bringe." 679 Gemeint ist Ernst Troeltsch: Ü ber den Begriff einer historischen Dialektik. 3. Der Marxismus (1 9 1 9) , in diesem Band S. 536--598, die angegebenen Seitenzahlen S. 593-595.

B 571

A 420, B 571

A 421

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Die Folge davon ist dann freilich, wie bereits gezeigt, daß damit auch dem Entwicklungsbegriff jeder Boden entzogen ist. Um so dringender war es Erklären, und zwar nach den Grundsätzen der "objektiven Möglichkeit", insbesonde­ re gilt das auch vom "Verstehen" soziologischer Gebilde, die aus primären Elementen nach diesem Prinzip in ihren verschiedenen Arten müssen erklärt werden. Zwischen beiden darf keinerlei Kluft befestigt werden, wie etwa Husserls Phänomenologie will; gar alle Reden von Volksseele und ähnlichem sind pure Romantik. In dieser Hinsicht hatte Weber wirklich selbst innere Verwandtschaft mit dem spröden Individualismus des Calvinismus und mit dem Erklärungsbedürfnis des anglo-französischen Positivis­ mus, wenn auch seine Begriffe viel feiner und phantasiereicher sind; s. vor allem den für seine ganze Soziologie wichtigen Aufsatz: Ueber einige Kategoriena, Logos IV, bes. S. 261 f680 . - Die Scheidung solcher Kausalerkenntnis und der persönlichen Wertset­ zungen bekämpftb das schon erwähnte Buch v. Kahlers, Cyom Standpunkt der George­ Schule aus'. Weber verweist sehr gereizt diese Philosophie des Schauens und Erkennens in das Kino oder den Konventikel, Religions-Soz. 1 4681. dieser Gedanken herauszustellen. Dabei beschränkt er sich zunächst, wie Kant selbst, auf den Naturbegriff. Er I kommt dabei freilich zu dem Ergebnis, daß dieses Apriori bei seiner Angewiesenheit auf den Erfah­ rungsstoff und dem schließlich stets positiven und vorläufigen Charakter aller sog. Naturbegriffe und Naturgesetze keine geschlossene und fertige Systematik der Natur hervorbringe, I sondern nur die autonome Vernunft3 1 0) Kant, Sechzehn Vorlesungen4 1 9 1 8, erstmals 1 903. "Es gilt, die ganzen Kernge­ danken, mit denen Kant ein neues Weltbild gegründet hat, in das zeitlose Inventar des philosophischen Besitzes, - und wenigstens annäherungsweise wird ein solcher auch zeitlich bedingten Wesen erwerbbar sein (!) - einzustellen", S. 1687. 686 Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1 892; 1 905; 1 907), Vor­

wort, S. VIII: " Ü ber jener Naturgefangenheit unseres empirischen Daseins steht seit Kant die Autonomie des Geistes: das Bewußtseinsbild der Natur, die Begreif­ lichkeit ihrer Kräfte, das, was sie für die Seele sein kann, ist die Leistung der Seele selbst. Nun aber hat die Fesselung des Ich durch die Natur, vom Geiste gesprengt, sich in eine solche durch den Geist selbst transformiert: indem die Persönlichkeit sich in die Geschichte auflöste, die doch die Geschichte des Geistes ist, schien die Notwendigkeit und Ü bergewalt, von dieser ihr gegenüber geübt, doch noch im­ mer Freiheit zu sein - in Wirklichkeit aber ist auch die Geschichte als ein Gege­ benes, als eine Realität, als eine überpersönliche Macht keine geringere Vergewal­ tigung des Ich durch ein Außer-ihm." 687 Georg Simmel: Kant (1 904; 1 9 1 8), Vorwort, S. I: "Es gilt ausschließlich, diejenigen Kerngedanken, mit denen Kant ein neues Weltbild gegründet hat, in das zeitlose Inventar des philosophischen Besitzes - und wenigstens annäherungsweise wird ein solcher auch zeitlich bedingten Wesen erwerbbar sein - einzustellen".

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erzeugung immer neuer kategorialer Hypothesen bedeute, die dann durch die Fruchtbarkeit der Anwendung erst bestätigt werden müssen, und die nur in einem Prozeß unendlicher Annäherung an das wirkliche, metaphysisch begründete Ineinander von Stoff und Form begriffen seien. Apriorisch sei lediglich die Voraussetzung eines solchen Ineinander und das Streben nach einer dieses Ineinander ausdrückenden Gesetzmäßigkeit überhaupt sowie das immer neue Streben nach Gesetzesbildung; die Gesetze selbst seien ver­ gängliche und annähernde Formulierungsversuche: eine Anschauung, die mir zutreffend erscheint. Auch darin hat Simmel durchaus recht, wenn er die von Kant gesuchte Wissenschaft als ein sich selber tragendes System der Seinswissenschaft, vor allem der Naturwissen­ schaft, bezeichnet und die praktische Philosophie Kants grundsätzlich als unverbundene Lehre für sich selbst daneben stellt. Die wirkliche Verbin­ dung müsse erst gefunden werden, da sie bei Kant nur in dem gemeinsa­ men Charakter der autonomen und souveränen Gesetzgebung beim tran­ szendentallogischen und beim praktisch-ethischen Subjekt aufleuchte, aber gerade das Verhältnis dieser beiden Subjekte zueinander in völligem Dunkel lasse, ja an dem heiklen Punkt der Freiheitslehre geradezu sich in die dun­ kelsten Widersprüche verirre. Es seien bei Kant zwei völlig verschiedene Ich-Begriffe, ein theoretisch-logisches Ich, das in Wahrheit nur eine andere Form für die logische, alles vergesetzlichende Einheitsfunktion sei, und ein praktisch-ethisches Ich, das in Wahrheit das individualitätslose allgemeine Menschheitsideal mit dem Charakter der Freiheit oder der Fremdheit gegen j eden Kausalzusammenhang sei. Aus beiden Begriffen könne ganz unmög­ lich eine einheitliche Gesamtanschauung entstehen; sie seien nur formell aufeinander abgestimmt, schlössen sich aber inhaltlich aus, ganz abgesehen davon, daß die Individualitätslosigkeit I der praktisch-ethischen Vernunft mit dem wirklichen Bestand des sittlichen Lebens schlechterdings sich nicht vereinigen lasse. Auf diese wichtigen und schwierigen Fragen brauch ta hier nicht weiter eingegangen werden, auch nicht darauf, daß I Simmels eigene Lösung des Ichproblems in diesem Buche noch viel ungenügender ist und in den angestammten Relativismus völlig zu­ rückfallt, wie er denn überhaupt bezüglich des Ich-Begriffes nie über starke Schwankungen hinausgekommen ist. Entweder geht er vom Ich aus, um es a

A' kann

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sofort in einzelne psychische Erscheinungen aufzulösen und diese Erschei­ nungen mit allen übrigen zusammen in den grenzenlosen fluß der Erlebnis­ wirklichkeit aufzulösen, oder er geht von der Urtatsache dieses Flusses aus, um die psychischen Erscheinungen als dessen Bestandteile aufzuweisen, wo­ bei sich dann der letzte Kern des Ich lediglich als logisches Subjekt und als individuelle Zentrierung seiner Erlebnisreihe heraushebt. Aber diese Sub­ stanzlosigkeit hat er mit der ganzen Moderne gemein, die von Positivismus und Psychologie herkommt . Hier ist nur die Konsequenz seiner Kantauf­ fassung für die Historik hervorzuheben. Und diese ist zunächst der klare Ausschluß jeder Art von Historik, wie sie Kant selbst und die Neukantianer geschaffen haben, vor allem der Marburger Lösung, aber auch der Rickert­ sehen. Von einer Beziehung kausaler Reihen auf absolut geltende formale Werte als Wesen der Geschichte kann nach ihm gar nicht die Rede sein. Soll die Historik von transzendental-logischen Voraussetzungen aus entwickelt,a der positivistische Relativismus und Realismus des unmittel­ baren, reinen Erlebens auch auf diesem Gebiete durch den Rückgang auf apriorisch-logische Formung überwunden werden, so müsse diese Formung ganz neu und selbständig aufgesucht und aus der historischen Fachleistung als deren meist unbewußte und fast immer ungeordnete Voraussetzung herausdestillie rt werden. Es handele sich um das I Apriori oder die Aprioris der eigentlichen Historie selbst, die nicht in Werten, sondern in eigentüm­ lichen Formungen des Geschehens zu einem Bilde werdender Geschichte bestehen können, und die als völlig andersartige neben den Aprioris der Naturwissenschaft ungestört einhergehen können. Damit kommt er auf die eigentlichsten Grundbegriffe der historischen Dynamik. Damit ist die Bahn erst wirklich frei gemacht, für die Historie das gleiche zu unternehmen, was Kant für die Natur I wissenschaften erstrebt hat, d. h. eine dem unmittelbaren Erleben und Erinnern gegenübertretende transzendental-Iogischeb Theorie der historischen Formung aufzustellen. Das erste ist der eigentliche Stoff, das zweite die gestaltende Form, aber Stoff und Form sind in jeder historischen Gegenständlichkeit schon so unlösbar durchdrungen wie bei den Naturgegenständen. Es ist of­ fenkundig die Vereinigung der Probleme, die Dilthey und Windelband beschäftigt haben. Das geschieht in der stark veränderten Neuauflage seiner "Probleme der Geschichtsphilosophie", deren dritte Auflage dann a

A: entwickelt und

b A: transzendentallogische

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863

höchst charakteristisch Stefan George, "dem Dichter und Freund"688, gewidmet ist3! !). Jetzt heißt es gleich in der Vorrede: "Der Befreiung, die Kant vom Naturalismus gebracht hat, bedarf es auch vom Historismus"689. Kant habe von den zwei Vergewaltigungen, die den modernen Menschen bedrohen: durch die Natur und die Geschichte, die eine aufgehoben. Nun bedürfe es auch noch der Befreiung von der zweiten, so ferne sie die Seele zu einem bloßen Schnittpunkt I sozialer, durch die Geschichte 31 1) Zweite Auflage 1 905, dritte 1 907. Verhältnis zur Psychologie (3. Aufl.) S. 4690 , 90, 1 53; sie wird auch von Simmel mit schlagenden Gründen als Grundlage der Historik abgelehnt. Aber die Gründe sind ganz anders als bei Rickert. Nicht weil die Psychologie eine Naturwissenschaft ist, sondern weil eine verstehende Psychologie, im Sinne Diltheys, selbst schon die historischen Aprioris in sich trägt. Im übrigen bleibe es eine Eigentümlichkeit der menschlichen Historie, daß hier "Geist zum Geist spricht". Die Theorie des Individuellen ist jetzt bei Simmel die romantisch-substanzielle, aber ohne Verfolgung dieser Substanzialität in die Metaphysik und ohne Ausgleichung mit dem sonst bei ihm herrschenden bloßen Funktionalismus. - Simmel selbst hat die skeptischen Konsequenzen wohl bemerkt, alles Folgende ist der Kampf gegen sie. Journalistisch-rücksichtslos sind sie entwickelt bei Theod. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen 1 9 1 9 unter stärkster Annäherung an Schopenhauer und Nietzsche. Doch soll dann der Geschichte als Dichtung eine erlösende Bedeutung zukommen. Das Buch hat den Strindberg-Preis.691 688 Vgl. Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1 892; 1 905; 1 907) ,

Deckblatt: "Stefan George dem Dichter und dem Freunde." 689 Ebd., Vorwort, S. VIII: "Der Befreiung, die Kant vom Naturalismus vollbracht hat, bedarf es auch vom Historismus." 690 Vgl. ebd., S. 4: "Bevor ich die psychologische Tatsächlichkeit als die Substanz der Geschichte weiter verfolge, muß das methodische Verhältnis zwischen Psycholo­ gie und Geschichte vorläufig festgelegt werden. Daß alle Vorgänge, die uns in her­ gebrachtem Sinne des Historischen interessieren, seelische Vorgänge sind, ist un­ leugbar. Auch Vorgänge an der Materie, wie die Erbauung der Peterskirche oder die Bohrung des Gotthardtunnels interessieren den Historiker ausschließlich als Investierungen seelischer Ereignisse, bzw. als Durchgangspunkte von wille nsmäßi­ gen, intellektuellen oder Gefühlsreihen. Allein das Interesse an einem psychischen Vorgang ist noch kein psychologisches Interesse. Für die Psychologie ist ein Vor­ gang wesentlich, bloß weil er seelisch ist; an seinen Inhalt, den die seelische Ener­ gie trägt, als solchen knüpft sie kein Interesse. [...] Die Geschichte ist so gewisser­ maßen ein Mittleres zwischen der logischen, der reinen Sachbetrachtung unserer seelischen Inhalte - und der Psychologie, der rein dynamischen Betrachtung der seelischen Bewegungen von Inhalten." 691 Theodor Lessing war im Jahr 1 92 1 der erste Träger dieses 1 920 gestifteten Preises für deutschsprachige Literatur.

B 578 A 427, B 577

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sich hinspinnender Fäden gemacht und ihre ganze Produktivität in eine Verwaltung der Gattungserbschaft aufgelöst habe. Wie die Befreiung der Natur gegenüber in der Einsicht liegt, daß der ganze Naturbegriff eine transzendentallogische Schöpfung des Subjektes ist und nur durch es und in ihm besteht, I so sei nun auch die Befreiung vom Historismus, den Simmel wesentlich als positivistisch-darwinistisch-soziologische Genese versteht, in der analogen Befreiung des Subjektes enthalten. Der "historische Realismus"692 sei überwunden, sobald man weiß, in welchem Umfang und mit welcher inneren Notwendigkeit jedes Geschichtsbild ein Erzeugnis des auslesenden, gruppierenden und konstruierenden Denkens ist. Soweit es sich dabei um die menschliche Geschichte insbesondere handelt, sei freilich deren unmittelbar erlebbare und verstehbare seelische Realität der entscheidende Stoff, aber schon im Verstehen und Erleben selbst seien die historischen Kategorien wirksam wie im Anschauen der Natur die Formen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Keine Historie könne die Unendlichkeit und das Gewühl der wirklichen Vorgänge wiedergeben. Wie schon die einfachste Erinnerung und einfachste Bewußtwerdung des Erlebnisses sei auch sie Auslese, Verdichtung, Verkürzung, Ergänzung und Deutung. Schon überhaupt das Verstehen des fremden Subjektes selber sei ganz für sich allein ein viele apriorische Voraussetzungen einschließender Grundvorgang. Wie kann man überhaupt von einem fremden Subjekte wissen? Ist aber das gesichert, dann kommena erst die eigentlich historische Gestaltung bewirkenden a

In Afolgt die

692 Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1 892; 1 905; 1 907), Vor­

wort, S. VII: "Den Gegenstand dieses Buches bildet das Problem: wie aus dem Stoffe der unmittelbaren gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen. Es will zeigen, daß diese Umbildung eine radikale­ re ist, als das naive Bewußtsein anzunehmen pflegt. Damit wird es zu einer Kri­ tik des historischen Realismus, für den die Geschichtswissenschaft ein Spiegelbild des Geschehenen ,wie es wirklich war' bedeutet; er scheint damit keinen geringe­ ren Irrtum zu begehen als der künstlerische Realismus, der die Wirklichkeit abzu­ schreiben meint, ohne zu bemerken, wie völlig schon dieses ,Abschreiben' die In­ halte der Realität stilisiert. [ ... ] Dem historischen Realismus gegenüber, für den das Geschehen sich ohne weiteres und höchstens mit quantitativer Zusammendrän­ gung in der Historik reproduziert, soll das Recht erwiesen werden, im Kantischen Sinne zu fragen: Wie ist Geschichte möglich ?"

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Kategorien der Auslese, der Individualität, der Totalität, der Sinnbeziehung, die alle von der logischen Aktivität und Themasetzung des Subjektes ausgehen und doch zugleich die objektivste Erfassung der hiermit zum Ganzen verwebten Kausalzusammenhänge einschließen. All das ist den Windelband-Rickertschen Sätzen sehr ähnlich, nur freier aus dem Bestand der historischen Facharbeit herausgeholt, weniger einseitig aus dem bloßen logischen Gehalt der Individualitätsbegriffe herausgepreßt. Auch bezüglich des Relativ-Historischen, zu dem er vor allem jetzt die Soziologie I rechnet, kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie Rickert und Windelband, nur mit etwas loserer logischer Begründung; die Individualität alles Historischen sei dadurch nicht bedroht, da diese ja doch der Boden und der Stützpunkt sei, an dem alle Gesetze sich erst betätigen können. Aber wesentlich über beide hinaus geht er in der I Analyse des Entwicklungs- oder Strukturbegriffes. Dieser Begriff ist ihm als Auslese der Vorgänge zur Reihenbildung und als Formung dieser Reihen zu inneren Einheiten, nachfühlbaren Bewe­ gungszusammenhängen, Rhythmen und Perioden, als Rückgang auf Keime und Entwicklungstendenzen, als Zusammenfassung zu Gesamtbildern, als Rückgriff auf das Unbewußte, als Interpolation und Ergänzung des sonst Unverständlichen geradezu der Grundbegriff aller Historie, der schon im gewöhnlichsten psychologischen Verstehen drinsteckt, der bei den historischen Gesetzen zwischen allgemeinen Kausalgesetzen und individuellen Entwicklungseinheiten unterscheiden macht und der vollends für alle Wert- und Sinnbeziehung des Historischen entscheidend ist. Damit stünden wir endlich vor dem überall gesuchten Begriffe. Er ist für Simmel das wichtigste Apriori der Historie. Persönlichkeiten, Gruppen und Völker, Kultur- und Sachzusammenhänge können letztlich nur durch ihn historisch angeschaut und im Anschauen verstanden werden. Aber welches ist nun das Verhältnis dieser Formung zur Realität? Das ist und bleibt zu­ letzt die Hauptfrage, da eine einfache Deckung von Formung und Realität in der Historie noch weniger behauptet werden kann als in den Naturwis­ senschaften. Hier sind nun Simmels Aussagen freilich recht schwankend und unbestimmt, und zeigt sich, daß er in dem ganzen Buche mehr den Hi­ storismus brechen wollte durch Aufweis der subjektiven Bedingtheit seiner ganzen Begriffsbildung, als ihn positiva einstellen durch Aufweis seines Ver­ hältnisses zum Realen und seiner Leistung für Gegenwartsverständnis und Gegenwartsgestaltung. Unter diesen Umständen ist die positive Bedeutung für das Verständnis des historischen Entwicklungsbegriffes doch schließlich gering. Er sei keine einfache Nachzeichnung des Erlebten und Erfahrbaren, a

A: richtig

B 579

A 429

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B 580

A 430

A 431 , B 581

A 430, B 580

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sondern eine radikale Umformung nach Erkenntnisbedürfnissen des Sub­ jektes, ein Werk der transzendentalen Gegenstandserzeugung in noch viel höherem I Grade als die Begriffe der exakten Naturwissenschaft. Er stehe in der Mitte zwischen den allein exakten Kausalitätsreihen, die er als sein Material voraussetzt, tönt, färbt, gliedert und gestaltet, und der Metaphysik, in die I er mit seinem Gefühl für eine in ihm erfaßte innere Bewegung der Sache selbst ausmünden müsse. Man sieht: er ist nach beiden Seiten hin sehr unsicher abgegrenzt. Nach der Seite der exakten Kausalität bleibt er daran gebunden, diese nirgends zu durchbrechen, sondern stets als sein Material vorauszusetzen. Nach der Seite der Metaphysik bleibt er unfähig, wirklich in eine absolute Realität vorzustoßen, die in ihm durchschimmert, da alle Me­ taphysik nach Simmels jetzt noch festgehaltener Meinung ein freies Spiel souveränster Phantasie und freier Wertung ist. Es ergibt sich also ein para­ doxes Resultat: der Entwicklungsbegriff ist vollste Subjektivität, aber doch nicht ganz ohne Objektivität, da er doch sein Material nie ganz aufheben darf, sondern zu ihm passen muß. Er habe3 kein materiales, abbildendes Verhältnis zu seinem Erlebensstoff, aber ein "funktionales" oder, wie Simmel an anderer Stelle nicht viel deutlicher sagt: "Seine Subjektivi­ tät ist durch ein ideelles oder, wenn man will , teleologisches Verhältnis zu der ihr ganz heterogenen gelebten Wirklichkeit in einer begrenzten Latitüde festgelegt"312l!b693 I Das sind interessante Ansätze einer wirklichen Logik des Entwicklungsbegriffes und ist tief aus dem Verfahren der positiven historischen Wissen­ schaft geschöpft. Aber es ist auch nicht mehr. Eine Befreiung vom Histo­ rismus insbesondere ist das nur, wenn man unter dem letzteren Spencers 3 1 2) Der Entwicklungsbegriff wird leider nicht besonders behandelt, sondern steckt als Hauptgedanke in allen drei Teilen: im ersten als Kern des psychologischen Aprioris der Geschichte, des Deutens und Verstehens; im zweiten als Gegenstück der histori­ schen Kausalitäts- und Induktionsgesetze; im dritten als Ausdruck der metaphysischen Wertbeziehung. Der Aufbau des Buches ist überhaupt locker und stammt aus der Ide­ enwelt der ersten Periode. Die HauptsteIlen sind im ersten Teil S. 1 8 f., 28, 38-41 , 55; im zweiten 99, 1 1 1-1 1 3, 1 20; im dritten 1 20, 1 30, 1 59-1 62, 1 78. Daneben ist dann aber nicht zu übersehen, daß der Kausalitätsbegriff doch für die eigentliche Wissenschaft a

A: hat

b A: festgelegt!" Danachfolgt Fußnote 3 12).

693 Vgl. Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1 892; 1 905; 1 907),

S. 58: "Die ,Subjektivität' der historischen Formung bedeutet also keineswegs eine willkürliche Anwendung ihrer Begriffe, sondern diese ist durch ein ideelles, oder, wenn man will, teleologisches Verhältnis zu der ihr ganz heterogenen gelebten Wirklichkeit in eine begrenzte Latitude festgelegt."

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soziologischen Evolutionismus, also Simmels eigene Anfangsposition, ver­ steht und mit der Verwandlung der Historie in ein ziemlich freies Phantasie­ spiel neben der allein exakten, aber unergiebigen und nirgends durchführder Hauptbegriff bleibt (1 31 f.) , daß die Qua/itates occu/tae im Entwicklungsbegriff als be­ denklich bezeichnet werden (1 69)694, daß er eigentlich Metaphysik seia und darum wie diese selbst nur "als ob" gelten könne (1 54), daß er "keine Nachzeichnung des Wirkli­ chen, sondern frei und relativ beliebige Schöpfung" sei (176)695. Das Körnchen Objek­ tivität in seiner überwiegenden Subjektivität s. S. 56 f.696 Das Buch ist eben nicht nur im Aufbau, sondern auch im Sinne zwiespältig. - Starke Selbstberichtigungen enthal­ ten die späteren Vorträge "Das Problem der historischen Zeit" (Vortr. der Kantgesell­ schaft 1 2) 1 9 1 6, wo gerade nicht die mechanische Kontiguität der Vorgangsreihen, sondern die innere Sinnverbindung als Träger der historischen Zeitanschauung I erscheint und die Objektivität dieser Zeiterfassung jetzt offen metaphysisch begründet wird. Ferner "Vom Wesen des historischen Ver l stehens" (Vortr. des Zentralinstituts f. Erziehung) 1 9 1 8, wo jetzt der Entwicklungsbegriff als solcher in seiner zentralen Bedeutung hervorgehoben und als ein Apriori bezeichnet wird, das auf der metaphysischen Ent­ sprechung des empirischen Ich mit dem Alleben begründet und insoferne intuitiv und antimechanistisch ist, mit der mechanischen Gleichungs-Kausalität gar nichts mehr zu a

A: ist

694 Vgl. ebd., S. 1 69: "Wie man den Organismen gegenüber zu mehr oder weniger

mystischen ,Entwicklungstrieben' gegriffen hat, so treten in historischen Darle­ gungen, mindestens die wahrhaft erklärenden Wechselwirkungen der Elemente er­ gänzend, Wandlungen und Entwicklungen wie ein selbstverständliches Wachstum auf, als ob ein gewisser Rhythmus von Entfaltung und Niedergang, von Selbstbe­ hauptung und Abirrung von vornherein in der in sich beschlossenen Einheit der Subjekte angelegt wäre." 695 Vgl. ebd., S. 1 76: "Der erkenntnistheoretische Idealismus, den diese Blätter vertre­ ten, setzt sich gegen die Ideologie, wie sie der Materialismus prinzipiell und vor der Einengung auf das wirtschaftliche Motiv bekämpft, in keinen geringeren Gegen­ satz als dieser. Denn jene ist tatsächlich ein erkenntnistheoretischer Realismus, ihr ist Geschichte als Wissenschaft nicht eine besonders geistige Formung der Wirk­ lichkeit nach den Gestaltungskategorien unseres Erkennens, sondern eine Nach­ zeichnung des Geschehens, wie es wirklich ist - nur daß ihr dieses ,Wirkliche' ein Metaphysisch-Geistiges ist." 696 Vgl. ebd., S. 56 f.: "Wenn ich vorhin von dem ,subjektiven Faktor' sprach, so gilt hierbei nicht nur die Reserve, die die Wissenschaft gegenüber dem Spielraum der künstlerischen Phantasie bewahrt; sondern, von der Frage des Mehr oder Weni­ ger ganz abgesehen, bedeutet der ,subjektive Faktor' von vornherein keine belie­ big schaltende Willkür und Zufälligkeit. Und zwar ist es eine allertiefste und allge­ meinste Bedingtheit unserer geistigen Weltformung, die dem vorbeugt."

B 581 A 431

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

baren Kausalitätsforschung zufrieden ist. Dies3 wäre dann das eigentlichste Wesen der Mo­ derne: naturalistische Gebundenheit und Entschädigung dafür durch souve­ ränes Phantasie spiel des Aesthetentums. So hat es Simmel an anderen Orten selbst gekennzeichnet, zwischen denen das Leben ausschwingend seine eigene Spannweite und Möglich­ keitsfülle genießeb• So kam es zu den geistvollen Monographien über Kant, B 587 Schopenhauer- I Nietzsche, Goethe und Rembrandt, denen er gerne eine In A folgt die Fußnote: Höchst erleuchtend ist ein Blick auf Paul Bourget, Essais de psychologie contemporaine und Nouveaux Essais etc. Paris 1 888 und 1 889. All das war bei den Franzosen als Konsequenz des Positivismus, Psychologismus und Rela­ tivismus schon vorgebildet und viel pointierter empfunden: die Leere und Ab­ hängigkeit des Ich zugleich mit dem Kult des Ich und dem Bedürfnis, aus bei­ dem wieder herauszukommen. Lehrreich ist der Vergleich zwischen Simmel und der Art, wie Maurice Barres sich durch Traditionalismus und Nationalismus zu befreien suchte; s. das ausgezeichnete Buch von E. R. Curtius, M. B. und die gei­ stigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Bonn 1 921 . Die Probleme des modernen Historismus sind überall die gleichen und in Frankreich grund­ sätzlich als solche längst empfunden S. 226. Vgl. auch meine Absolutheit des Xentums und die Religionsgeschichte2 1 903. Nur die Angelsachsen leiden nicht oder viel weniger an diesem Relativismus; für sie ist Geschichte Philologie, im übrigen Propaganda oder Beiles letlres, s. A. C. Bouquet, Is Christianiry the final re­ ligion? London 1 921 und die dort verzeichnete Literatur. " The Anglo-Saxon takes more naturalIY to missionary enterprise than to the examination ofbelief', pu. b A: genießt a

713 Alan Coates Bouquet: Is christianity the final religion? (1 921), S. 1 . Vgl. oben,

S. 1 76, Anm. 4) .

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solche über Beethoven hinzugefügt hätte, wenn das technisch möglich gewesen wäre. Und zwar sind diese Monographien nun ganz unabhängig von psychogenetisch-kausaler Erklärung, vom historischen Apparat im gewöhnlichen Sinne. Sie sind Wesensschau, auf den metaphysischen und zeitlosen Gehalt dieser Geister gerichtet, der doch sich völlig individuell und historisch bedingt aus dem Prozeß der Kultur herauskristallisiert, ein Gedanke, bei dem Husserl unzweifelhaft im Hintergrunde steht. aNur leicht ist dabei ihr allgemeiner Hintergrund angedeutet. Ausa der besonderen Stellung in der Grundantinomie des Prozesses zwischen Leben und Lebensformung erwächstb ihre jeweilige Wesens formel. Rembrandt zeigt das Ueberwiegen des Lebens über die Form, das im Gegensatz gegen das antike und romanische Ueberwiegen der Form über das Leben das Wesen des Germanismus ist;C Kant die äußerste intellektualistische Verfestigung der Form gegen das Leben in Naturwissenschaft und Moral bei gleichzeitigem Vorbehalt der Irrationalität des Lebens selbst; Goethe die unerhört glückliche Deckung von Lebensantrieb und Formgestaltung, wodurch er zum Typus des Allgemein-Menschlichen und der gesund-harmonischen Entwicklung wird; Schopenhauer die Befreiung des Lebens von aller Form und Begrenzung und damit das tiefste Geheimnis des eigentlich-primären, organisch-animalischen Lebensstromes, dem er dann frei l lich mit einer pessimistischen absoluten Metaphysik entgegentrat, während Nietzsche völlig immanent die seltenen Aufgipfelungen des Lebens nach dem Maße ihrer Intensität bejahte und damit dem dionysischen Rausch zum Schaden der apollinischen Klarheit verfiel. Jeder einzelne zeigt mehr oder minder rein die Entwicklung seiner Wesens formel, was sie eben gerade zu den großen Menschen macht, alle zusammen die Entwicklung der im Lebensgrunde einer glücklichen Epoche liegenden geistigen Formungsmöglichkeiten, die ihrerseits wieder untereinander durch eine schwer formulierbare Einheit des Ueberindividuellen, Allgemein-Persönlichen verbunden dsein mögend. Das Marxistische Problem, das Simmel in den Anfängen stark interessiert hatte, ist in diesen Büchern ganz zurückgetreten, obwohl er nicht verkennt, daß in allem Oekonomisch-Soziologischen starke geistige Ein I schläge enthalten sind, und daß andrerseits die soziologischen Bedingungen bis in die Intimitäten des höchsten geistigen Lebens hineinreiA: In bezug auf sie kommt wieder die transzendentallogische Voraussetzung und Methode in Betracht, die für den sie selbst erst hervortreibenden allgemeinen Lebensprozeß nicht oder noch nicht durchführbar ist. Aber sie sind dabei doch in den Prozeß hineingestellt und aus ihm nicht erklärt, aber verstanden. Ja, aus b In Afolgt: geradezu c A: ist: d-d A: sind

a-a

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chen. Allein die ökonomisch-soziologischen Formungen beherrschen doch nur die jeweiligen Massen- und Durchschnittsinteressen. Von ihnen aus gesehen, ist die moderne Welt allerdings die Welt der Verstandesmäßigkeit und Rechenhaftigkeit, der Objektivierung der Mittel an Stelle der Zwecke, der Arbeitsteilung und veräußerlichenden Zersplitterung des Lebens, der gegenüber erst die genannten Heroen eine vorübergehende Zusammen­ fassung von Leben und Form bedeuten. Es ist ihnen nicht auf die Dauer und nur für einen kleinen Kreis gelungen, wie das ja auch nur der Tragödie der Kultur entspricht31 S).a I

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3 1 5) S. Kant und Goethe, Zur Geschichte der modernen Weltanschauung 1 9 1 6; Goethe 1 9 1 3; Schopenhauer und Nietzsche 1 907; Rembrandt 1 9 1 7. Auch Rodin hätte er wohl gerne ähnlich verarbeitet; heimlich blickt sein Germanismus stets nach Frank­ reich. Auf die beiden mittleren hat Simmel selbst « mündlichY hohes Gewicht gelegt als auf seine Hauptbücher. Der Entwicklungsbegriff tritt namentlich in dem "Goethe" sehr stark hervor. Er erscheint ganz als metaphysischer Begriff S. 3714, 8 f., und zwar als synthetischer Gegensatz gegen die analytisch-mechanistische Behandlung des Wahr­ nehmungsgebietes 5 t 715• Das transzendentallogische Problem dieses Begriffes wird I

a

A: entspricht, deren Begriff Simmel offenbar vor allem von diesen Erscheinun­ gen der unmittelbaren Gegenwart abstrahiert hat. [Esfolgt Fußnote 3 1 5)J

714 Georg Simmel: Goethe (1 9 1 3) , S. 3: "Dies eben bezeichnet den Menschen, dessen

Leben eine Entwicklung aus dem inneren Zentrum heraus ist, nur bestimmt durch die Kräfte und Notwendigkeiten seiner selbst und bei dem das fertige Werk nur das von selbst sich ergebende Produkt, aber nicht der Zweck ist, der das Tun von sich abhängig machte." 715 Ebd., S. 5 1 : "In der größten Einfachheit und Entschiedenheit ist damit das Prinzip festgelegt, mit dem Goethe sein Verständnis der gesamten Natur aufbaut und das sich als ein völlig selbständiges neben jene, in traditionellem Sinne wissenschaft­ liche Methoden stellt. Man kann es als das im eminenten Sinne ,synthetische' be­ zeichnen. Auf der einen Seite steht die Erkenntnis der ,Elemente', die physika­ lisch-chemische Wissenschaft, die prinzipiell im Gebiet der reinen Erscheinung verharrt, Erscheinung durch Erscheinung erklärt; denn ,Naturgesetze' ebenso wie ,Energien' sind hier nichts als die Formeln für die zwischen den Erscheinungen be­ stehenden Verknüpfungen, und auch die letzten Elemente der Analyse, mag man sie als Atome oder anders bezeichnen, stehen prinzipiell - wenn auch für unsere Sinne nicht realisierbar - innerhalb des Wahrnehmungsgebietes."

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Nun läßt sich das Ganze übersehen. Der Kern ist der historische Entwicklungsbegriff.a Aus Spencerisch-Darwinischem Evolutionismus und

A 439

nur mehr gestreift: "logisch schlecht greifbare Kategorie" S. 21 8716; "nicht kontrollierbare Methodeb aber gewisser Instinkt, der in sehr verschiedenen und je in sich einheitlichen Phänomenen eines ablaufenden Lebens ein Identisches, sich Erhaltendes her­ auszuerkennen glaubt" 230717; sein Verhältnis zur Chronologie ist das einer "zeitlosen, nur sinnhaften Ordnung" 235718; Subjektivität und Zeitlichkeit des Lebens gegenüber der Zeitlosigkeit und Geltung der aus ihm herausgesetzten Inhalte (vgl. Husserl) 252 f.; "Einheit innerhalb des Empirischen, ... die nicht in Begriffen zu fixieren, sondern nur in einer inneren, gefühlsmäßigen Anschauung zu vergegenwärtigen ist", "dunkle Vorstellung des noumenalen Absoluten"7t9, "transzendentale Tiefe, in der dies Letzte der Per-

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In Afolgt Er ist die treibende Kraft der Transzendentallogik und der Metaphysik Simmels zugleich, der letzte Untergrund seiner verstehenden Psychologie und seiner Konstruktionen und Formungen des Erlebnisstoffes. In der beständigen Reibung zwischen Erlebnis und Formung ist als gemeinsamer Untergrund bei­ der die Metaphysik bei ihm schließlich völlig deutlich durchgebrochen. b A: Methode, a

716 Ebd., S. 21 8: "Vielleicht liegt hier ein allgemeines Schicksal der Menschheit, das

sich nur an ihren höchsten Exemplaren besonders verdeutlicht, weil wir sie als die ,höchsten' eben auf Grund von Leistungen zu nennen pflegen, die meistens der Zeit nach, mindestens aber dem Sinne nach jenseits der Jugendlichkeit liegen; daher stammt wohl das seltsam Ergreifende, das so oft die Jugendbildnisse der großen Menschen für uns haben. Sie mögen sich nachher zu dem unerhörtesten Schaffen und Wirken erhoben haben - mit irgendeiner Einbuße, irgend einer Ver­ einseitigung, irgend einer Temperatursenkung ist es erkauft, obgleich sie das, was sie verloren haben und um ihrer Leistungen wille n verlieren mußten, eigentlich gar nicht als Wirklichkeit besaßen, aber doch auch nicht als bloße abstrakte Mög­ lichkeit; sondern unter jener, logisch so schlecht greifbaren Kategorie, in der das lebendige Wesen seine Zukunft schon als Gegenwart besitzt, in der seine ungelö­ sten, vielleicht nie zu lösenden Spann kräfte es schon als eine Wirklichkeit beson­ derer Art umschweben." 717 Ebd., S. 230 f.: "Diese Schwierigkeit greift tief in jegliche geschichtliche Nach­ zeichnung eines individuellen Lebens ein, aber unser tatsächliches Verfahren über­ windet sie, zwar nicht mit kontrollierbarer Methode, aber durch einen gewissen Instinkt, der in sehr verschiedenen und je in sich einheitlichen Phänomenen eines ablaufenden Lebens ein Identisches, Sich-Erhaltendes herauszuerkennen glaubt." 718 Ebd., S. 235: "In der Zeitfolge seiner Lebensepochen, nicht etwa nur seiner Ü ber­ zeugungen, drückt sich eine zeitlose, nur sinnhafte Ordnung aus." 719 Ebd., S. 256: Goethe hat, so Simmel "schon eine Einheit innerhalb des Empiri­ schen, wie wir andern sie erst in der dunkeln Vorstellung jenes noumenalen Abso­ luten in uns suchen müssen."

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positivistischer Erklärung aller Komplikationen, wobei die Soziologie zum wichtigsten Erkenntnismittel wurde und die mehr allgemeinbegrifflich und metaphysisch gefarbten Entwicklungsformeln der Historiker bloß den Wert I provisorischer Annäherungen an die Exaktheit hatten, hat er sich zunächst durch die transzendentallogische Unterscheidung der erlebensmäßigen Erfahrungsmasse und der historischen Formung befreit. Aber sofort riß ihn sein ruheloser Denktrieb wieder in die innere Bewegung der großen Gesamtentwicklung hinein, und da wurde sie ihm zum "Leben", zum Prozeß an sich, zur funktionalen Beweglichkeit und Flüssigkeit, zum grenzenlosen irrationalen Kontinuum, zum beständigen Mehr-leben­ Wollen mit all seinen Organisationen, Anpassungen und Verdichtungen, denen die Auflösungen und Zerstreuungen in ewigem Kreislauf wieder folgen. Insoferne ist dieser Lebensbegriff zunächst nichts anderes als Schopenhauers Metaphysik des Willens zum I Leben, zweck- und ideenlos wie dieser und alle Zwecke stets erst durch nachträgliche Rationalisierung und Intellektualisierung des unbewußten Strebens gewinnend. Aber aus dieser vitalen Lebenslinie heraus erfolgen in den Entscheidungen des vom kausalen Zwange freien, allein die absolute Wirklichkeit darstellenden Augenblickes beständig Achsendrehungen zur Idee, zur Heraussetzung sönlichkeit bei allen Menschen überhaupt wohnt" 25672° . - Sein Verhältnis zum Mar­ xismus in Philos. d. Geldes721 u. Probl. der Gesch.-Phil., zuletzt "Konflikte" S. 8. Hier rückt Nietzsche immer mehr über Spencer und Marx vor. 720 Ebd., S. 256: "Zweifellos vertieft es das Goethesche Bild in der richtigen Richtung,

wenn man alle Äußerungen seines Lebens, auch die intellektuellen, die ethischen, die rein personalen, auf den Generalnenner des Künstlertums zurückführt - aber die letzte Instanz ist damit noch nicht erreicht. Nur daß diese freilich nicht in Be­ griffen zu fixieren, sondern nur in einer inneren, gefühlsmäßigen Anschauung zu vergegenwärtigen ist. Und zwar nicht nur wegen der transzendentalen Tiefe, in der dies Letzte der Persönlichkeit bei Goethe, wie bei allen Menschen überhaupt wohnt, sondern weil es sich bei ihm, dem unspezialistischsten aller Menschen, noch mehr als bei allen anderen gegen jede Benennung seiner Färbung wehrt, die unvermeidlich etwas Einseitiges und Exklusives wäre." 721 Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1 900; 1 907), S. VIII: "In methodischer Hinsicht kann man diese Grundabsicht so ausdrücken: dem historischen Materia­ lismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß der Einbeziehung des wirtschaft­ lichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wer­ tungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen er­ kannt werden."

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zeitlos gültiger, aber jedesmal individueller und wachstümlicher Sinngehalte, die dann aus eigener innerer logischer oder werthafter Folgerichtigkeit sich auf größere oder kleinere Strecken durchsetzen und entfalten, beständig im Kampfe mit dem vitalen Leben, aus dem sie hervorgehen und das sie für ihre Durchsetzung als Material voraussetzen. Damit sind in die Schopenhauersche Lehre die Kantisch-Husserlschen Elemente der vom Vitalen und Psychologischen sich ablösenden, apriorisch gültigen Ideenwelt aufgenommen und ist Nietzsches Versuch einer positiven Umdeutung Schopenhauers aus dem bloß psychologisierenden und an Quantitätsun­ terschieden hängen bleibenden3 Tasten zu einer metaphysischen Theorie geklärt, die aus dem Naturhaften und Vitalen in das Apriorisch-Gültige und Geistige, aus dem Mehr-leben-Wollen in das Mehr-als-Ieben-Wollen hinüberleitet. b Daraus ergibt sich dann freilichC die Notwendigkeit, diesen Dua­ lismus wieder zurückzunehmen in einen einheitlichen Untergrund, der das Leben in seiner Doppelbedeutung als vitales und ideelles Leben wieder in eine Einheit zusammenfaßt und I der die Immanenz der die vitale Linie beständig transzendierenden ideellen Gehalte in dieser selbst behauptet. Es ist das dieImmanenz der Transzendenz gesicherter Werte, I die dem platonischen Ideenreich gleichen, verbinden: also ein Problem, das dem der Simmelschen Immanenz der Transzendenz sehr ähn­ lich ist, aber vermöge der phänomenologischen Sicherstellung eines allge­ meinen und zeidosen Wertsystems viel entschlossener angegriffen werden kann. Nune sind es nicht mehr einzelne Achsendrehungen und Inseln inner­ halb des Vitalprozesses, die dieser, rätselhaft genug, aus sich selbst heraus­ setzt, sondern Einbrüche eines zeidosen Systems der Werte oder des gött­ lichen Geistes in den Lebensstrom. In diesen freiströmenden biologischen Elementen und ihrer Verbindung mit dem Ideenreich liegt das Wesen seines Entwicklungsbegriffes, aber auch ein Husserl völlig fremdes Interesse und Verfahren. Dementsprechend ist Schelers Hauptwerk eine Ethik, die wie die Kants eine allgemeine Norm aufstellen will und überhaupt in Kants Ethik die ein­ zige grundlegende ethische Leistung der modernen Philosophie anerkennt. Aber auf Grund einer eingehenden Gefühls-, Gesinnungs- und Willensphä­ nomenologie wird für die Ethik die "Kopernikanische Wendung" Kants und mit ihr der allerdings in der Ethik besonders störende, rein formale Charakter ebenso beseitigt, wie Husserl beides für die theoretische Seins­ erkenntnis beseitigt hat. Aus der Analyse der "puren Selbstgegebenheit sitt­ licher Werte und Wertverhältnisse"739 entsteht ein Wertsystem, das dem Schleiermachers, Hegels und Euckens nicht unähnlich ist und eben damit der katholisch-augustinischen Ethik sich nähert. Alle diese Systeme beruhen ja gemeinsam auf der antiken Güterethik, und es bedurfte nur einer schärfe­ ren Trennung von Werten und Gütern sowie einer schärferen normativen Zuspitzung, um Schelers Systematik zu schaffen. Die inhaltliche Gestaltung dieser Norm werden wir gleich bei dem Bilde des universalhistorischen Pro­ zesses kennenlernen; sie ist dann freilich sehr paradox trotz aller Wesens­ schau. Zunächst aber interessiert uns die von da ausgehende Beziehung auf die methodische Auffassung der Historie und vor allem der hi­ storischen Entwicklung. Hier hören die phänomenologischen Analysen leia-a

A: jetzt

b A: eingeht:

c

739 Als Zitat nicht nachgewiesen.

A: Nur

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903

der ganz auf I und tritt an deren Stelle ein sehr eklektisches und geniales Zusammenwerfen der verschiedensten Methoden. Ganz natürlich! I Denn die Historie stellt nur die Beziehung des wechselnden Geschehens auf die Norm dar. So finden wir es ja auch bei den Marburgern, nur daß Scheler viel bunter und moderner und mit feinerem Gefühl für das Historische seinen Weg geht. Zunächst freilich ist jene Beziehung in der Hauptsache der schlichte Weltregierungs- und Vorsehungsglaube, der aus der Analyse des Gottesgedankens und religiösen Aktes phänomenologisch geschöpft wird. Die Verfehlungen gegen die Norm sind in Täuschungen über die Norm, wobei eine komplizierte Lehre vom Unterschied der Täuschungen und der Ur­ teilsirrtümer entwickelt wird, oder in dem rebellischen, zum Ressentiment gegen alles Große und Adelige neigenden Willen der Menschen begründet, wobei der Sündenfall aus dem Wesensbegriff des Menschen phänomeno­ logisch gefolgert wird. Aber abgesehen von diesen Störungen drängt die natürliche Vernunft wesensgemäß auf ein einheitliches und absolutes System der Wahrheiten und Werte sowie auf eine diese Werte darbietende or­ ganisierte Menschheitseinheit hin, womit der Begriff der Kirche schon als natürliches Postulat der Vernunft entsteht. Aber mit diesen altmodischen Bestimmungen ist die Sache nicht erledigt, Scheler verbindet damit zugleich die modernsten und paradoxesten. So knüpft er gerne das Menschentum an die vormenschliche biologische Entwicklung an und löst sehr originell das Problem der Sonderart, Einheit und Entstehung des Menschentums. Das alles gibt es gar nicht. Die Scheidung von Mensch und Tier ist völlig unsicher. Der Mensch entsteht erst, wo der religiöse Akt mit all seinen Konsequenzen in ihm entsteht. Das hebt dann die Einheit des Menschenbegriffes, die verhaßte Gleichheit, die Humanitäts-, Fortschritts- und Persönlichkeitsidee der Aufklärung endgültig auf, befreit von allen Problemen der Ethnologie, bei der man nie weiß, ob man es mit Menschen oder Tieren zu tun hat, und gewährt einen freien Anschluß an alle Lieblingsgedanken Nietzsches. Ob es zur Einheit der Norm und der Menschheitskirche paßt, davon ist nicht weiter die Rede. Sodann wird Raum geschafft für den Begriff der Individualität, der "unvertretbaren Besonderheit"74o. Die Gunst der sehr verschiedenen Umstände erlaubt einzelnen Teilen I der Menschheit einzelne Teile des 740 Vgl. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik

(1 9 1 3/1 9 1 6) , z. B. S. 556: "Es wird von einem Prinzip vertretbarer Solidarität zum Prinzip der unvertretbaren Solidarität. Die Einzelperson ist für alle anderen Einzel­ personen nicht nur ,in' der Gesamtperson und als deren Glied mitverantwortlich als Vertreter eines Amtes, einer Würde oder sonst eines Stellenwertes in der SOZi­ alstruktur, sondern sie ist es auch, ja an erster Stelle als einzigartiges Personindividuum und Träger eines individuellen Gewissens im früher bestimmten Sinne."

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Normbesitzes sehr ver I schieden stark und glücklich auszubilden, wodurch sie zu unersetzlichen Vorbildern und klassischen Autoritäten in bestimmten Dingen werden. Auch wird es dadurch zur Aufgabe der Menschheit und Menschheitskirche, alle diese kostbaren Sondererwerbe zu vereinigen und zur gegenseitigen Ergänzung und Zusammenarbeit zu sammeln. So wird es möglich, einzelne Teile der Geschichte herauszuheben, die Vereinigung von Morgen- und Abendland in Aussicht zu nehmen und den Gedanken der Individualität in den der Tradition und Autorität hinüberzubilden. Ge­ legentlich geht freilich der Individualitätsgedanke noch weiter und bedeutet dann die von den allgemeinen Normen nicht erfaßbaren, feinsten und in­ timsten, nur durch Individualnormen bestimmten Gebilde, ein deutliches Zeichen dafür, wie wenig der eigentliche Begriff des Individuellen in seinen Konsequenzen erfaßt ist. Es ist eben gerade nicht der Logik der Historie zu­ grunde gelegt, sondern in sie nur sozusagen eingeflickt. Für das eigentlich Historische seien soziologische Kategorien wichtiger, das Individuelle sei im Grunde nur Gott bekannt. Scheler gibt sich daher für diese Dinge mit Vorliebe als Soziologe. Schließlich aber und vor allem nimmt er in diese gan­ ze Denkweise noch die moderne Lebensphilosophie von Nietzsehe, Dilthey und Bergson auf und erkennt er darin geradezu den mächtigsten Fortschritt der modernen Philosophie neben der Husserlschen Phänomenologie.741 Er zeigt von hier aus Verständnis für den Unterschied der Evolution und Ent­ wicklung, für den Begriff der historischen Zeit und Kontinuität; in einer tiefsinnigen Abhandlung über die Phänomenologie der Reue entwickelt er den Gedanken der beständig vorwärts und rückwärts greifenden zeugen­ den Macht der Historie.742 Aber mit den eigentlich Husserlschen und nor­ mativen Elementen seines Denkens ist das nirgends von ferne ausgeglichen. Statt dessen behauptet er sofort ähnlich wie Simmel eine immanente Not­ wendigkeit der Kultur, durch ihren Apparat und ihre Objektivierung sich selbst zu ersticken, den tragischen Charakter der Geschichte, den er mit der Selbstzerstörung der Natur durch Energiezerstreuung und Wärmetod parallel setzt. In beiden Fällen I könne die Erhaltung des Lebens nur durch 741 Vgl. Max Scheler: Versuche einer Philosophie des Lebens (191 5), v. a. S. 226 f.:

"Von der genaueren, strengeren - und deutscheren Art des Verfahrens, in der eine vom Erleben der Wesensgehalte der Welt ausgehende Philosophie jüngst im ,J ahrbuch für Philosophie und Phänomenologie' (H. Niemeyer, Halle 1 9 1 3) eini­ ge Früchte ihrer Arbeit kürzlich dargeboten hat, haben wir hier mit Absicht ge­ schwiegen, obzwar wir von ihr und auf ihrem Boden erst die volle Nutzung auch der großen Antriebe erhoffen, die Fr. Nietzsehe, Dilthey und Bergson unserem Denken erteilt haben." 742 Vgl. Max Scheler: Reue und Wiedergeburt (1 921).

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Zufuhr neuer Kräfte an die nur scheinbar geschlossenen Systeme erfolgen. Das Wunder und die Erlösung allein halten das Leben im Gang und wenden damit den Menschen zugleich auf den höchsten Wert hin. Das Entscheidende bleibt also I immer die durch göttliche Tat zu verwirklichende und die natürliche Einsicht vollendende Norm, die in den Lebensstrom sukzessive hereinbricht. Die Stelle in der Geschichte, wo sich dieses Postulat am klarsten erfüllt, zu finden, ist daher die eigentliche aHauptaufgabe: esa ist die Vereinigung von Vernunft, Kultur, Volkstum, Lebensordnung und Religion, die das Mittelalter zeigt, und von diesem Zentrum aus ist die Geschichte zu verstehen. So kommt es trotz aller Unsicherheiten des Entwicklungsgedankens bei Scheler doch zu dem Bilde eines universalhistorischen Prozesses, das recht interessant ist, wenn es auch mehr den phänomenologisch gedeuteten In­ stinkten dieses katholischen Nietzsehe als den Normbegriffen der Husserl­ sehen Schule zu verdanken ist323). I 323) Vgl. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik 1 9 1 6 (Abdruck aus Jb. f. Philos. u. phän. Forschung I u. 11) ; Vom Ewigen im Menschen I, 1 92 1 ; Abhandlungen und Aufsätze 1 9 1 5; Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle 1 9 1 3. Seine Kriegsbücher743 können hier außer Betracht bleiben. Unverkennbar ist der starke Anschluß an die traditionalistische und romantische Restaurationsidee der bFranzosen; auchb an die älteren Slawophilen ist zu erinnern, siehe die äußerst interessanten "Drei Essays" von Kirejewski, deutsch 1 92 1 , der freilich nun gerade die römische Kirche und ihren Lateinergeist verantwortlich macht für den unseligen Intellektualismus und revolutionären Individualismus des bürgerlichen, d. h. modernen Europa; hier kommt die Erlösung aus dem davon noch wenig berührten Russenturn und seiner Kirche. - Kritisches bei Jonas Cohn, Recht und Grenzen des Formalen in der Ethik, Logos VII, und Dietrich Kerler, a-a A: Hauptaufgabe. Es b-b A: Franzosen. Z. B. Joseph de Maistre in seinen Soirees de SI. Pitersbourg 4. AuA, 1 842, hat die ganze Ressentimenttheorie 11, 1 32: Les philosophes (vu ceux qu'on a nommes de la secte) ditestenl sans exception tous les distinctions dont ils ne jouissent pas744 (übrigens schon ein Gedanke Vicos, Croce G. v., S. 85), oder im Examen de la phiL de Bacon, Oeuvres 1 884, S. 455 das Kulturideal: D'oll vient la preeminence marquee du 1 7Cme siede? De I'heureux accord des trois elements de la superioriti moderne, la religion,

743 Gemeint sind folgende Bücher Schelers: "Der Genius des Krieges und der deut­

sche Krieg" (1 91 5), "Die Ursachen des Deutschenhasses" (1 9 1 7), "Krieg und Auf­ bau" (1 9 1 6) . 744 Joseph de Maistre: Les soirees de Saint-Petersbourg (1 821 ; 1 842), S. 1 32: "Les philosoph es (ou ceux qu'on a nommes de la sorte) [ . ] detestent sans exeption toutes les distinctions dont ils ne jouissent pas". .

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Der Mensch ist darnach, wie bei Nietzsehe die Sackgasse der biologischen Evolution, das kranke Tier, das nur mehr in geistiger Richtung sich höher entwickeln kann und damit seine animalische Kraft aufzehrt. Der hi­ storische Mensch, auf den es allein ankommt, entsteht an verschiedenen Punkten, und zwar jedesmal erst durch den Durchbruch des Gottesbewußt­ seins, worin er - das zeigt einen grundsätzlichen Unterschied gegen Nietz­ sehe - die Kraft hat, die niederziehenden Schwächen seiner übergeistigen und zugleich doch den Geist durch eine ungeheure I Werkzeugs- und Ap­ paratsanhäufung erstickenden Entwicklung zu überwinden. Erst der religiM. Scheler und die impersonalistische Lebensanschauung 1 9 1 7. Auf den letzten Kern des Problems, das Verhältnis der ontischen Werte zum historischen Denken geht keine Kritik ein. - In Zusammenhang mit der expressionistischen Zeitströmung wird Husserl und Scheler gebracht bei Worringer, Künstlerische Zeitfragen, 1 921 a.

A 394 a

la science ef la chevalerie ef de la suprematie accordie aupremier. 745 Auch an die Atmosphä­ re der früheren Lamennais [A: LammennaisJ, des Kardinals Newman und des Briefwechsels von Adam Müller und Gentz746 ist hierbei zu denken, während ein Vergleich mit Chateaubriand den enormen Fortschritt in der Verwissenschaftli­ chung dieser dereinst von der Restauration geborenen Gedanken zeigt. Auch ein Vergleich mit Barres ist lehrreich, der um des vom Historismus erlösenden Na­ tionalismus willen Mittelalter und Katholizismus in den Vordergrund rückt,147 während Scheler die gleiche Erlösung durch eine Verschmelzung von Platonismus und Katholizismus I sucht. Auch A' 1 92 1 : "Wo ist die neue Bildperspektive, der Durchbruch in eine neue Di­ mension der Daseinswiedergabe legitimer zu Hause: in den expressionistischen Bildern oder in dem ganzen Umkreis der phänomenologischen Forschung?" (S. 27) ; "Deutungsbücher wie die von Gundolf, Bertram und Scheler sind größe­ re und zeitlebendigere Kunstwerke als die, die heute auf Leinwand gemalt wer­ den" (25)748

745 Joseph de Maistre: Examen de la philosophie de Bacon (1 884) , S. 455: "D'ou vient

la preeminence marquee du dix-septieme siecle, surtout en France? De l'heureux ac cord des trois elements de la superiorite moderne, la religion, la science et la chevalerie, et de la suprematie accordee au premier." 746 [Friedrich Gentz, Adam Heinrich Müller] : Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller (1 857). 747 Vgl. Ernst Robert Curtius: Maurice Barres und die geistigen Grundlagen des fran­ zösischen Nationalismus (1 921), S. 1 26-1 48. 748 Wilhelm Worringer: Künstlerische Zeitfragen (1 921), S. 25: "Müssen wir wirklich darüber erschrecken, daß Deutungsbücher wie die von Gundolf, Bertram oder Scheler größere und zeitlebendigere Kunstwerke sind als die, die heute auf Lein­ wand gemalt werden?"

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öse, gottsuchende Mensch ist der Anfang der Geschichte, welcher Anfang eben damit ein metaphysisches und kein historisches Problem ist. Von die­ sem Anfang aus ergibt sich auch das Gesetz der Geschichte: sie steigt auf, wo das religiöse Bewußtsein sich auf sein wahres Objekt, den geistigen und universalen Gott, richtet; sie steigt ab, wo es sich auf innerweltliche Gü­ ter und Seins stücke, auf Gottes-Surrogate und Götzen, richtet, ein von Au­ gustin und Malebranche entnommener Gedanke. In einer solchen Verkeh­ rung der Wertordnung besteht der zu postulierende Sündenfall, aber er läßt die Tendenz zur Wiederherstellung der rich I tigen Ordnung daneben bestehen. Das Religiöse ist also Triebkraft und Ziel der Entwicklung. Diese religiösen GrundeinsteIlungen sind auch bedingend für die jeweilige soziologische und ökonomische Gestaltung, die freilich, einmal vollzogen, dann die weitere geistige Entwicklung in ihre Banden schlägt, zum Heil, wenn die religiöse Entwicklung normal war und demgemäß eine normale Gesellschaftsordnung hervorgebracht hat, zum Unheil, wenn sie abnorm war und dementsprechend eine zerrüttete und ständig gefährdete, niederziehende und verweltlichende Gesellschaftsordnung hervorgebracht hat. Auf die normale Gotteserkenntnis arbeitet nun aber schon ein natürlicher Trieb des Bewußtseins hin, der damit die Voraussetzung und den Unterbau für die göttliche O ffenbarung und Erlösung in der die Einheit der Menschheit schaffenden Kirche bewirkt. Zu dieser Höhe des Unterbaus gelangt der na­ türliche Trieb mit dem Hellenentum, das vermöge seiner dionysischen Elemente allen Wahrheitsgehalt des Orients, auch des indischen, in sich auf­ genommen hat und erst mit Sokratik und Stoizismus dem tödlichen Ra­ tionalismus und egalitären Subjektivismus verfällt. Auf dem Unterbau des Hellenentums erhebt sich dann die göttliche Erlösungsstiftung der Kirche. Aber die eigentliche Normalkultur geht auch aus der Kirche erst auf dem Boden der neuen nordischen Völker hervor. Das Mittelalter als Vereinigung kirchlicher, germanischer und antiker Elemente ist erst die volle und eigentliche Normalkultur, drückt sich demgemäß auch in einer normalen ständischen Gesellschaft aus, wo Priester, Mönche, Ritter, Bauern und Gewerbe harmonisch zusammenwirken und auch noch eine geistig freie, künstlerische Boheme I ihren Platz findet. Es ist seigneurale, künstlerische und erotische Kultur unter dem ausgleichenden, heilenden, vereinigenden und stabi­ lisierenden Schutz der Kirche. Hier findet alles, Krieg und Liebesideal, Per­ sönlichkeit und Autorität, Weltlust und Himmelsbürgerschaft, Besitz und Opfer, Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, Lebensderbheit und mystische Sub­ limität, seinen Zusammenhang und seine Vereinigung, zugleich Ausdruck in reich gegliederter sozialer Ordnung. Wenn es dann von dieser Höhe herab zu der tiefen Entartung in dem modernen I bürgerlich-protestantischdemokratisch-kapitalistischen Lebensstil gekommen ist, so erklärt sich das

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aus dem großen, von Nietzsche entdeckten Gesetz des Ressentiments der Schwachen und Gernegroßen gegen Adel, Autorität und Kraft. Freilich war es ein arger Irrtum Nietzsches, dieses Gesetz auf die Entstehung des Chri­ stentums anwenden zu wollen. Es trifft vielmehr lediglich zu auf die Entstehung des modernen Liberalismus, Protestantismus und Ra­ tionalismus, die für Scheler wie einst für de Bonald749 völlig in der Wur­ zel identisch sind. Auch ist das Nietzschesche Gesetz im Grunde für ihn dasselbe wie das Malebranchesche, insofern der Kern alles Ressentiments die Empörung gegen den wahren Gott und die Schaffung von Surrogaten ist. Ressentiment ist also die bürgerliche rationale und ethische Autonomie; sie ist die Scheinform eines verdrängten Gotteshasses. Ressentiment ist der Kosmopolitismus gegen die gottgewollten engeren Kreise der Familie, des Vaterlandes und vor allem des Standes; die soziale Nivellierung kehrt sich gegen Adel, Ritterlichkeit und Priestertum. Ressentiment ist die allgemei­ ne Menschenliebe, gegründet auf Selbstsucht und Selbstflucht, weil die Per­ sönlichkeit keine innere Fülle und innere Differenzierung mehr besitzt. Res­ sentiment ist aber auch die moderne Arbeitswut, die nur das arbeitslose Einkommen des Seigneurs beneidet und zu der der Kampf gegen Vorrech­ te und Erbgut samt der ganzen, auf einzelner Eigenleistung beruhenden Gleichheit hinzukommt. Ressentiment ist ferner die ganze Subjektivierung der Werte, die zur Anarchie des individuellen Beliebens oder zur kahlen Gattungs- und Vernunftmoral Kants führt, wie denn überhaupt Kants Haß gegen die geschichtliche und inhaltliche Welt die Rache des Gelehrten und Büchermenschen an einer reicheren Welt ist. Ressentiment ist schließlich die Erhebung des Nützlichkeitswertes über die Lebenswerte überhaupt, womit sich der moderne Sklaven I aufstand der Moral vollendet und gegen "jede höhere Genußfähigkeit und Genußkraft"750 revoltiert. All das stammt aus Spätmittelalter, Renaissance und vor allem Reformation. Luther und Des­ cartes wachsen aus einer Wurzel, Angelsachsentum und Calvinismus haben den Bürgergeist vollendet, dem offenbar I vor allem der Haß Schelers gilt. Im Weltkrieg sieht er die Katastrophe des Bürgergeistes und die Anbahnung 749 Vgl. Louis Gabriel-Ambroise Vicomte de Bonald: Theorie du pouvoir politique et

religieux, 3 Bände (1 796) . 750 Max Scheler: Das Ressentiment i m Aufbau der Moralen (1 9 1 5), S . 237 f.: "Der

moderne Asketismus bekundet sich darin, daß der Genuß des Angenehmen, auf das alles Nützliche bezogen ist, eine fortwährende Verschiebung erfährt soweit, daß schließlich das Angenehme dem Nützlichen untergeordnet wird. Auch hier ist das Ressentiment gegen die höhere Genußfähigkeit und Genußkunst, der Haß und Neid gegen das reichere Leben, das immer auch eine reichere Genußfähigkeit ist, das treibende Motiv des modernen Arbeits- und Nützlichkeitsmenschen." -

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der Umkehr zu einem neuen Mittelalter. Das weitere wird eine Art inne­ rer Dialektik des Bürgergeistes selbst besorgen. Seine Rechenhaftigkeit wird die Geburtenzahl beschränken und seine neben dem Geschäft wahllos und achtlos betätigte Erotik wird Gesundheit und Vitalität erschüttern. Damit werden dann die fruchtbareren und erotisch sorgsameren alten Schichten der "muthaften und gläubigen Lebenseinstellung"751, der seigneurale und bäuerliche, zugleich religiös-konservative Typus wieder in die Höhe kom­ men und die Herrschaft gewinnen. Gleichzeitig sieht er erlösende Kräfte in der Jugendbewegung, in Nietzsche und der neuen Lebensphilosophie, ferner in dem "erstaunlichen Vorbild einer innerlichen und letzten Unab­ hängigkeit vom Kapitalismus, das Stefan George und sein Kreis gibt"752, schließlich auch in den Wandelungen des Unternehmertypus zum Verwalter öffentlicher Gesamtinteressen, wie sie Rathenau vertrete.753 Gerade aus die-

751 Max Scheler: Die Zukunft des Kapitalismus (1 9 1 5), S. 398 f.: "Diesem ,angsthaf­

ten', ,rechenhaften' Typus steht der ,gläubige', der ,vital vertrauensvolle' und ,mut­ hafte' Typus gegenüber. Sage ich der ,gläubige', so denke ich nicht etwa an die An­ gehörigen des orthodoxen Kirchenglaubens. Es ist ja eben ein bestimmter Vital­ typus, von dem hier als Einheit die Rede ist, und der sich als solcher niemals decken kann mit einer bestimmten realen historischen Gemeinschaft; der sich also in allen Arten und Formen der Gemeinschaft, freilich in sehr verschiedenem Ma­ ße, findet. Freilich besteht die unbestreitbare Tatsache, daß die religiös-gläubigen katholischen und protestantischen Volksschichten, und unter ihnen wieder die ka­ tholischen voran, nicht den gleichen Rückgang der Geburtenziffer aufweisen wie die ungläubigen; und es besteht die Tatsache, daß eben diese Schichten relativ un­ kapitalistischen Geistes sind." 752 Ebd., S. 408 f.: "Nach dem erstaunlichen ethischen Vorbild einer inneren und letz­ ten Unabhängigkeit vom Kapitalismus, das Stefan George und sein Kreis zuerst in einer Zeit gaben, da die öffentlichen Verhältnisse noch weit ungünstiger als heute lagen - wir, die diesem Kreise ferne stehen, reden hier nicht von seiner Kunst formieren sich gegenwärtig eine ganze Reihe analoger, von den geistigen Grund­ haltungen starker Persönlichkeiten zusammengefaßter Gemeinschaftsbildungen in Kunst und Wissenschaft, in denen diese neue Kulturgesinnung still und lautlos sich heranbildet." 753 Max Scheler: Der Bourgeois (1 9 1 5) , S. 3 1 8 f.: "Auch die geistvolle Wendung W Rathenaus, der die Gesamterscheinung vom geistigen Standort des Unterneh­ mers ansieht, es sei gar nicht zu fragen, wie der Staatsmann zum rechnenden Bourgeois und geschäftlichen Unterhändler für die besitzende Klasse geworden sei, sondern wie sich langsam der Gewerbetreibende und Kaufmann mit einer Art ,staatsmännischer' Gesinnung gegenüber seinem Geschäfte und Unternehmen er­ füllt habe und dieses wie ein selbständig wachsendes uns forderndes Wesen anse­ hen gelernt habe, gibt die Antwort nicht."

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sen modernsten Kräften werdea unter gleichzeitiger Vertiefung und Verin­ nerlichung der Kirche zur spirituellen Welt- und Friedensautorität der neue Vitaltypus kommen324) . I A 397, B 6 1 2

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324) Der Einfluß dieser Konstruktionen ist nicht gering. Sombart hat in seinem "Bour­ geois"754 und in der Neuauflage seines Kapitalismus ihnen starken Einfluß einge­ räumt,755 allerdings hinzugefügt, daß die gewaltige Größe des Mittelalters auf der Win­ zigkeit seiner Verhältnisse beruhte. Aehnliche Gedanken bei Hermann Bahr, Expres­ sionismus 1 9 1 6; auch bei Paul Ernst, Erdichtete Gespräche, 1 921 , nur daß hier der Positivismus von dieser Ressentimenterklärung ausgeschlossen wird, da er eine Forde­ rung ehrlicher Vernunft sei. E. R. Curtius in seiner sehr lehrreichen Analyse des fran­ zösischen Geistes zeigt den gleichen Einfluß des Hasses gegen Aufklärung, Bürgertum und Autonomiegedanken.756 Auch in der Georgeschule sind ähnliche Töne gegen Bür­ gertum, Protestantismus und moderne Wissenschaft nicht selten. Man wird vermut­ lich immer mehr Derartiges hören. Hans Driesch hat Bergson, Russellb und Scheler für die größten lebenden Philosophen erklärt.c757 - Recht lehrreich ist ein Vergleich mit dem gleichfalls auf Husserlscher Methodik beruhenden Buche von Kurt Hildebrandt I "Norm und Entartung des Menschen" und "Norm und Verfall des Staates" 1 921 . Hier ist Platons Hellenentum die I Norm i m Sinne Georges. Auf jede universalhistorische a c

A: wird

b A: Russel In A folgt: Wie ein wirklicher Historiker darüber denkt, ersieht man aus dem überhaupt recht bedeutsamen Aufsatz Meineckes "Die deutsche Geschichts­ wissenschaft und die modernen Bedürfnisse". Preußen und Deutschland 1 9 1 8, S. 462-47 1 . Er wendet sich scharf gegen Schelers "Genius des Krieges", der das Sammelbecken aller oben angedeuteten Theorien ist.758

754 Vgl. Werner Sombart: Der Bourgeois (1 9 1 3), S. 525, Anm. 436: "Siehe den glän­

755

756 757 758

zenden Aufsatz von Max Sehe/er, Ü ber Ressentiment und moralisches Werturteil. 1 9 1 2." Vgl. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, 2. Band, 2. Halbband (1 9 1 7), S. 923, Anm. 1: "Siehe die vortrefflichen Ausführungen über die Anglisierung des deutschen Geistes in dem Buche von Max Sehe/er, Der Genius des Krieges. 1 9 1 4." Vgl. Ernst Robert Curtius: Maurice Barres und die geistigen Grundlagen des fran­ zösischen Nationalismus (1 921). Diese Aussage ist in den Schriften Hans Drieschs nicht nachgewiesen. In Meineckes Aufsatz "Die deutsche Geschichtswissenschaft und die modernen Bedürfnisse" (1 9 1 8) findet sich kein expliziter Hinweis auf Scheler. Vgl. aber fol­ gende Passage, S. 467: "Der Philosoph, der in ein paar Wochen eine neue Philo­ sophie des Krieges zusammen zimmert, obgleich ihm das Phänomen des Krieges vorher kaum etwas bedeutet hat, kann erstaunlich einschlagen. Freilich muß er dann die modernen Sprachmittel beherrschen, die durch künstliche Aufwirbelung und Zerstäubung der Worte es dahin bringen, daß ein paar Tropfen von Gedan­ ken ein ganzes Glas mit ihrem Schaum füllen."

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So endet auch diese dritte aSchule apriorisierenden Formdenkenso bei der Metaphysik, insbesondere da, wo sie auf die Grundbegriffe der Historik einzugehen hat. Aus der phänomenologischen Analyse entsteht durch Hy­ postasierung umfassender, übrigens reicher und tiefer ethischer Werte eine Art Platonismus der Wertideen. Dieses Ideenreich wird auf einen biologischen Lebensstrom bezogen, der in der Weise Nietzsches, Bergsons, Simmels, letztlich Schopenhauers gedacht ist. Das Problem ist dann die Herausbildung der "Teilhabe" der aus dem Lebensstrom auftauchenden Geister an dieser Ideenwelt oder umgekehrt des Durch- und Einbruches der Ideenwelt in den Lebensstrom. Das ist der Sinn der Entwicklung, wie er sich hier darstellt: ein an sich entwicklungsloses Ideensystem wird in einem endlos strömenden, kontinuierlichen, immer mehr lebenwollenden Lebensstrom angeeignet und ausgebreitet. Der Vorgang erscheint zunächst unter der Voraussetzung des Sündenfalls und des einheitlichen, die Menschheit umfassenden Erlösungszieles als ein von der göttlichen Vorsehung geleiteter, in die alles assimilierende Weltkirche ausmündender, universalhistorischer Prozeß. Aber unterhalb dieses schließlich nur aus der Offenbarung voll erkennbaren Prozesses vollzieht sich ein ihm entgegenkommender und in ihn einmündender natürlicher Prozeß. Auf ihn finden dann jene Probleme der Teilhabe oder des Ein- und Durchbruches ihreb Anwendung, und hier erst kommen die uns in unserem Zusammenhange interessierenden Probleme wirklich zur Behandlung. Es geht dabei ziemlich kraus und bunt zu. Das Ganze ist eine seltsame Mischung von Scharfsinn, Tiefsinn und Leichtsinn, bietet aber doch eine Reihe sehr bedeutender Gedanken. Zunächst wird der ganze von der Phänomenologie erarbeitete anti­ psychologistische Begriff des Wesens und der Wesensschau im Sinne jener Achsendrehung des bloßen Lebens zum geistig erfüllten I Leben verwendet, wie wir es ähnlich bei Simmel sahen. Dann aber wird daraus der überpsychologische Begriff der Person hergeleitet und mit ihm die Spontaneität I des Ichs, das aus diesem Strome auftaucht und in seinem UnterbewußtseinC an dem ganzen Ideengehalt des göttlichen Geistes der Möglichkeit nach partizipiert, ein Gedanke, der an Leibniz und Malebranche erinnert. Alle sinnlichen Wahrnehmungen und Berührungen sind nur Aktualisierungen Konstruktion ist verzichtet. Es wird nur der bürgerlich-demokratisch verseuchten Ge­ genwart die Norm vorgehalten und die Erlösung von einem neuen Genie erwartet, das die Norm wieder erfolgreich verleibt. a-a

A: Kantschule

b A: erst ihre eigentliche

c

A: Unterbewußten

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A 400

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dieses in der Person schlummernden Allwissens, woraus sich insbesondere die sonst völlig unbegreifliche und die Voraussetzung aller Historie bilden­ de Erkenntnis der fremden Iche erklärt. Die Hauptfrage aber ist, wie es aus dem Lebensprozeß heraus zu diesen Aktualisierungen oder Ach­ sendrehungen kommen könne. Sie wird damit beantwortet, daß das von den wesentlich praktisch zu verste­ henden Bewegungen und Wendungen des psychophysischen Apparates und des vitalen Strebens herkomme, das bald hierhin, bald dorthin führe und je­ desmal nur die an dies praktisch-vitalea Interesse anknüpfbaren Stücke der Ideenwelt wecke, daß diese aber, an einem solchen Punkt geweckt, die Ten­ denz haben, aus eigener innerer Logik weiterzuwirken und sich auszubrei­ ten. Das Leben und der psychophysische Apparat wirkt also als Auslesemit­ tel, das aus der Fülle der möglichen Ideengehalte gerade diesen und jenen aktualisiert, ein Gedanke, der an Bergsonsche psychologi­ sche Theorien anklingt. Daher kommt in der menschlichen Geschichte die individuelle Verschiedenheit in Maß, Umfang und Intensität der hier oder dort sich bildenden Kulturgehalte und bei jedem das Bestreben, sich aus sei­ ner ideellen Tiefe auszubreiten und zur allumfassenden Systematik zu wer­ den. Aus diesem Streben und der Ergänzungsbedürftigkeit dieser jedesmal unvollständigen Kulturgehalte stammt die Tendenz auf eine menschheitli­ che Gesamtkultur, die freilich erst in der Weltkirche eine feste Stütze und Organisation empfängt. Auch versteht man so die ganz verschiedene Vertei­ lung der Höhepunkte und die Wiederherabziehung erreichter Kulturhöhen in das bloß vitale Leben, demb stets ein praktisch-eudämonistischer Ratio­ nalismus und Individualismus entspricht, sobald es Verstand genug hat, sich selbst zu denken und gegen den I Höhenzug zur Ideenwelt abzusperren. Die Geschichte ist demgemäß die beständige Wandelung der in ihren Akten aus jenem geistigen Wertreich ge­ speisten Iche, die doch zugleich als endliche Wesen auf dem Erlebnisstrom des vitalen I Daseins treiben, welcher letztere durch die Mittel der äußeren und inneren Sinnlichkeit je nach den vitalen Anlässen zu dem ersteren als zu einer transzendenten Welt des Zeitlos-Gültigen und Ontisch-Wesenhaften die Wege öffnet. Daß damit die Simmelschen Gedanken vom individuellen Gesetz und der Tragödie der Kultur sowie der Nietzschesche Aristokra­ tismus und Antiintellektualismus verbunden sind, haben wir schon gesehen. Es ist eine Kombination von Malebranche, Bergson, Simmel und Nietzsche, die hier auf die Phänomenologie aufgepfropft ist. Auch an Euckens Gegen­ satz von Seelenleben und Geistesleben erinnert manches. Zugleich ist die Wundtsche Apperzeptionslehre und Theorie der Heterogonie der Zwecke a

A: praktische vitale

b In Afolgt: dann

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aus einem pseudokausalen Erklärungsprinzip in den Durchbruch der geisti­ gen Welt in die vitale verwandelt und die platonische Lehre von der Teilhabe psychologisch verdeutlicht. aus3 der Be­ rührung von Leben und Idee entsteht die Entwicklung, im Kerne der Idee selbst gibt es keine. Sie bewegt sich an der Peripherie, aber nicht im göttlichen Wesen selbst; Hegels Dialektik war ein pantheistischer Irrtum. Freilich ist es nicht immer ganz leicht, beides zu scheiden, eine rationalistische Erstarrung des Lebensprozesses auszuschließen und anderseits die Lebensbewegung und Individualisierung nicht in die Ideenwelt eindringenb zu lassen. Wo Scheler, der Gelehrte spricht, strebt er nach strenger Scheidung; wo Scheler, der Essayist sich tummelt, verschmilzt beides und entsteht ein in Paradoxien schwelgendes Gemälde, das dem Entwurfe Nietzsches von einer welthisto­ rischen Psychologie recht ähnlich ist und in der Zusammenschmelzung des Nietzscheschen Uebermenschentums mit mittelalterlichem Katholizismus und Patriarchalismus seinen besonderen Glanzpunkt hervorbringt325). I

Die Leistungen des akategorialen Apriorismusa für die Historik sind also ganz außerordentlich verschiedenartig. Sie zeigen in dieser Verschiedenartig­ keit nur die Schwierigkeit des ganzen Problems und die Unmöglichkeit, gera­ de den Entwicklungsbegriff von den Kantischen Voraus­ setzungen aus zu erfassen. Alle münden, wo sie sich ihm nähern, in der Me­ taphysik. Bei Simmel und Scheler geschieht das nur am klarsten und gedan­ kenreichsten. Aber schließlich haben ja auch Riehl und Windelband bei He­ gel geendet. Bei den mehr psychologisch gerichteten Denkern wie Eucken,

a-a

würdig,762 und sie vermehren zugleich das solidarische Gesamtgut des sittlichen Kosmos" A: Neukantianismus

762 Ebd., S. 592 steht anstelle des Kommas ein Strichpunkt.

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A 402

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Nietzsehe und Dilthey war das auch von ihrem Standpunkt aus geschehen. Und hatte nicht schon Lotze den Entwicklungsbegriff nicht der Logik, son­ dern der Metaphysik zugewiesen, die in ihm die Bewegung auf die Werte als den letzten Kern des Realen hin weniger denkt als glaubt? Und hatte nicht E. v. Hartmann das mit Gesetzen und Werten geladene, die Entwicklung ei­ gentlich bewirkende Unbewußte nur durch eine Metaphysik des Unmittelbaren in seiner Kategorienlehre ergriffen? Wenn schon doch alles hier endet, dann muß man auch hier gleich anfangen und das Problem von vornherein I von der Metap�sik aus anpacken können. Freilich, den Zu­ gang zu dieser selbst muß man sich nach all den feinen Durchbildungen mo­ derner Psychologie und Erkenntnistheorie entschlossen durch ein eigenes und neues Erkenntnisprinzip öffnen, durch die Intuition oder das grundle­ gende Apers:u, womit man sich in einer Art gewaltsamer Kraftanstrengung in den inneren Gang und Strom des Werdens versetzt und dieses sozusa­ gen von innen heraus nachfühlend, genial und prinzipiell versteht.a Es ist al­ so eine Metaphysik, die unter dem Einfluß der modernen Atmosphäre von vornherein auf Entwicklung eingestellt ist. Die psychologischen und empirisch-erkenntnistheoretischen Einsichten müssen dann dem so er­ faßten Ganzen erst nachträglich sorgfältig und kunstvoll eingefügt werden. Dasb ist eine Intuition, die mit dem Husserlschen Erschauen der einzelnen apriorischen Wesensgesetze nichts zu tun I hat, sondern von vornherein auf das Ganze, auf das Reale und auf die Bewegung geht, ein Unterschied, der frei­ lich heute oft nicht beachtet wird. Derartige Gedanken und Forderungen ha­ ben sich heute in einem überaus starken Maße durchgesetzt und erfüllen die neu aufstrebende Jugend. Sie sind der Kern in der heutigen "Revolution der Wissenschaft"326).761 Sie versprechen vor allem eine Ueberwindung des skep326) Eine kritische Uebersicht vom Standpunkt einer grundsätzlich antimetaphysi­ schen und atheistischen Ethik gibt Dietrich Kerler, Die auferstandene Metaphysik, 1 921 . In BI folgt mit FIIßnotenzeichen: 1 .) Ü ber die Bewegung auf dieses Ziel vom deut­ schen Idealismus über den Positivismus zur Lebensphilosophie hin s Th Litt, Erkenntnis u Leben 1 923. Doch ist die Entwickelung hier wesentlich unter deut­ schen Gesichtspunkten gesehen, wo der Positivismus die Normalphilosophie des deutschen Idealismus ablöst. Unter universalem Gesichtspunkt ist der Posi­ tivismus gerade darin parallel zu dem sehr viel später gekommenen deutschen Idealismus. b A: Es a

763 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft (1 921)

-+

KGA 1 3.

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tischen und technischen Historismus aus ihm selbst heraus, unter Beibehal­ tung seines eigentlichen großen Grundgedankens. Es ist leicht zu sehen, daß das die alten Gedanken der beiden Antipoden Hegel und Schopenhauer in neuer, von der Technik und Systematik ihrer Lehren gelöster Form sind. aDie alten Feindea schmelzen jetzt zusammen, wie schon bei Nietzsche. Diese neue Form ist ihnenb trotz aller Herantastungen an beide Lehren und trotz der Nietzsche-Schopenhauerschen Neigungen nicht in dem alten deutschen Heimatlande, sondern in Italien und Frank­ reich zuteil geworden. Hier ha­ ben Croce und Bergson, vielleicht weil ihre Heimatländer den Positivismus noch viel radikaler erschöpft und bis zu den letzten Konsequenzen durchlebt haben, der Philosophie und vor allem dem histo I risch-philosophischen Denken neue Horizonte und Methoden eröffnet. Von ihnen muß zuletzt noch die Rede sein. I Der Neapolitaner Benedetto Croce, einer der vornehmsten und charaktervollsten Denker der Gegenwart, der philosophische Erzieher des jungen Italiens und nach dem Weltkrieg Unterrichtsminister des Königreiches,764

332) S. Historiographie 2 1 3781, 258782, 268. a

A: sei",

780 Benedetto Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie (1 9 1 5),

S. 267 f.: In diesen Tagen, so Croce, "während ich diese Seiten schrieb, ist mir ein geschichtliches Werk eines Historikers (ich wähle einen Fall unter vielen), eines rei­ nen Historikers, in die Hand gekommen, und gleich am Anfang habe ich da die folgenden Worte gelesen, die mir wie meine eigenen klingen: ,Mein Buch beruht auf der Meinung, daß die deutsche Geschichtsforschung, ohne auf die wertvollen Ueberlieferungen ihres methodischen Betriebes zu verzichten, doch wiederum zu freierer Regung und Fühlung mit den großen Mächten des Staats- und Kulturle­ bens sich erheben müsse, daß sie sich, ohne Schaden zu nehmen an ihrem eigen­ sten Wesen und Zwecke, mutiger baden dürfe in Philosophie wie in Politik, ja daß sie erst dadurch ihr eigenstes Wesen entwickeln könne, universal und national zu­ gleich zu sein'." Vgl. dazu den entsprechenden Nachweis Croces in der Anmer­ kung: "Friedrich Meinecke, Weltbiirgerlum und Nationalstaat, Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München und Berlin, Oldenbourg, 1 9 1 1 , 2. Aufl., Vor­ wort, p. VI." 781 Benedetto Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie (1 9 1 5), S. 2 1 3: "Bei Voltaire wird man u. a. (besonders im Siede) das Mißtrauen bewundern, das er allem Geschwätz der Höflinge [ ] entgegenbringt, die Verleumdungen auszu­ hecken und die Handlungen der Staatsmänner und Monarchen bösartig [ ..] zu in­ terpretieren gewöhnt sind. Das kommt davon, daß die Historiographie der Aufklä­ rung, obgleich sie die pragmatische Richtung beibehielt, ja die Pragmatik auf die Spitze trieb, sie in einer anderen Hinsicht hob und vergeistigte; wie man schon aus den Ausdrücken hat schließen können, die Voltaire vorzugsweise verwendet, und deren Gebrauch er sogar im theologisierenden Bossuet bemerkt: l'esprit des nations, l'esprit du temps. Was dieser esprit sei, blieb wohlverstanden im Unbestimmten; ihn in die idealen Bestimmungen des Geistes in seiner Entwicklung aufzulösen, und die verschiedenen Epochen oder verschiedenen Nationen als die Träger bestimm­ ter Rollen im Geistesdrama zu begreifen, war in folge des Mangels an einer Grund­ lage in der Zeitphilosophie ausgeschlossen, in welche jene neuen Worte, jene neu­ en Begriffsentwürfe einen unbeachteten Widerspruch brachten." 782 Ebd., S. 258: "Wir aber, die wir während der j ahrhundertelangen Entwicklung der Historiographie niemals absolute Rückschritte gefunden haben, werden uns von ...

.

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A 41 3

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schärfer wiedergebende Aeußerungen. Danach I ist jede Konstruktion des Geschehens gerade eben keine objektiv, aus dem Gang der Idee folgende Gliederung, sondern eine die jeweilige Gegenwart deutende und von ihr aus gesehene Selbstverständigung. Alle Geschichte ist eigentlich Gegenwart und Deutunga aus der Gegenwart und für die Gegenwart. Die Gliederun­ gen können dabei nur faktische Unterschiede der einander folgenden In­ dividualitäten, nicht logische und notwendige Bestimmungen der Abfolge sein. Nur aus dem faktischen Verhältnis, nicht aus dem begrifflich notwen­ digen Ort läßt sich so die Gegenwart verstehen, deren Fixierung gegen das Nächstvorausgehende eigentlich die einzige Aufgabe der Geschichte ist. Es ist bei einem so feinen und scharfen Kopf der Mühe wert, zu notieren zumeist mit seinen eigenen Worten -, wie er unter diesen Voraussetzungen die Gegenwart sieht. Natürlich bietet für dieses eigentliche Denken Cro­ ces die Analyse ihrer Kunst und ihres ästhetischen Geistes dabei den Aus­ gangspunkt und nicht die Historiographie. Die zeitgenössische Kunst sei sinnlich, unersättlich in der Gier nach Genüssen, durchzogen von trüben Versuchen zu einer mißverstandenen Aristokratie, die bald wollüstig, bald grausam, bald herrschsüchtig ist. Daneben zeige sie oft einen Hang zum Mystizismus, der ebenso wollüstig und egoistisch ist. Sie sei ohne Glauben an Gott und ohne Glauben an das Denken, skeptisch und pessimistisch, zu­ gleich meisterhaft imstande, solche Seelenzustände wiederzugeben. Sie rufe aber; wenn sie erst in ihren tieferen Motiven und ihrer Genesis verstanden sei, eine Tätig I keit hervor, die zwar die Kunst nicht tadeln oder verdammen, aber das Leben energischer auf eine gesündere und tiefere Moralität hinlen­ ken werde. Sie werde die Mutter einer vornehmeren Kunst und damit auch einer vornehmeren Moralität sein. Sie werde den autonomen, erst liberalen, dann sozialen Grundsatz beibehalten, aber ihm eine gesündere und idealere Auswirkung geben. Es liegt nahe, diese Charakteristik mit der Schelers zu vergleichen, die halb ähnlich, halb entgegengesetzt ist. Man sieht dann, wie a

A: Deutung,

der polemischen Heftigkeit gegen die positivistische und naturalistische Richtung, die unsere gegenwärtige oder jüngste Gegnerin ist, nicht so weit hinreißen lassen, daß wir das, was sie Eigenes und Wesenhaftes hatte und worin sie wirklich einen Fortschritt bedeutete, aus den Augen verlieren; und wir werden es ablehnen, Ver­ gleiche zwischen Romantik und Positivismus anzustellen, und durch Abwägen der beiderseitigen Verdienste die Ueberlegenheit jener ersten über den zweiten darzu­ tun; denn wir wissen wohl, daß solche Schulmeister- und Examinatorenleistungen in der Geschichte nicht zulässig sind, wo das, was begrifflich später kommt, trotz des gegenteiligen Anscheins notwendig über dem steht, aus dem es hervorgegan­ gen ist."

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wichtig die allgemeinen philosophischen Voraussetzungen für alle Historie sind333). Im übrigen wiederholt sich die vorsichtige Nüchternheit solcher Charakteristik auch in den Analysen einzelner führender Persönlichkeiten, die keineswegs, wie man zunächst meinen könnte, moni l stisch-ästhetisch als einheitliche Gestalt charakterisiert werden, sondern die streng nach der Hierarchie des Aesthetischen, Logischen und Praktischen zerteilt und nach jeder dieser Seiten besonders analysiert werden. Die Einheit ist die logische Folge dieser Betätigungen, nicht ihr mystisches Zusammenfallen in der Gestalt 351) Charakteristisch Xenopol, S. 1 24: Le tout c'est la continuite de la matiere et de l'esprit; la partie, c'est le developpement de ce dernier. Pour eIre logique, il faut partir du tout, pour formuler les principes qui regissent la partie, et non conclure par a

A: allgemeinen,

821 Im Original: "Kausalkettenbetrachtung". 822 Im Original steht das Anführungszeichen erst vor "allgemeinen". 823 Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1 9 1 2), S. 466: "So

hat namentlich die Entwicklung in unserm Sinne, soviel ich sehen kann, weder for­ mal noch materiell Beziehungen zu der biologischen Entwicklung irgendwelches organischen Körpers. Und sehr hüten wir uns davor, statt von ,Entwicklung' von einem allgemeinen ,Fortschritt' zu sprechen: Wir beschreiben Tatsachen, aber wir werten sie nicht". 824 Die Formulierungen sind bei Schumpeter nicht nachgewiesen. Vgl. zu dieser Ab­ grenzung v. a. ebd., "Siebentes Kapitel. Das Gesamtbild der Volkswirtschaft", S. 463-548.

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Kapitel UI. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

genauer bestimme. So denken im Grunde schon Hegel, Schelling, E. v. Hart­ mann, Wundt, Xenopol und Bergson. Bei den drei ersten läuft der Gedanke allerdings darauf hinaus, die Entwicklung des Universums unter die For­ meln der menschlichen Entwicklung zu bringen, bei den drei letzteren um­ gekehrt darauf, die menschliche Entwicklung unter die der physikalischen und biologischen zu bringen. Aber der Gedanke einer kosmischen Entwicklung besteht und sicher l lich im allgemeinen nicht zu Unrecht. Auch ist es logisch verlockend, die menschliche Historie derart auf eine Logik der Welt­ entwicklung und damit auf ein letztes und allgemeinstes logisches Prinzip zu begründen. Das Verfahren gilt heute vielfach fast für selbstverständlich. Insbesondere die Spencersche und neu-Humesche Schule faßt den Ent­ wicklungs begriff so allgemein, daß er zu einer Weltformel wird. Allein bei der genaueren Durchführung solcher Konzeptionen führt dann doch kein Weg zu den wirklichen Besonderheiten der eigentlichen Geschichte d. h. der menschlichen. In Wahrheit ist jener allgemeine Evolutionsbegriff, soweit er sich von den I Hegelschen Gedanken gelöst hat, über­ haupt kein Entwicklungs-, sondern ein bloßer Veränderungsbegriff, der die wirkliche Entwicklung, die Entfaltung eines individuellen Ganzen aus eige­ nen in seiner Anlage liegenden Triebkräften, mit den bloßen Anhäufungen oder Kumulationen oder Schein-Entwicklungen auf eine Stufe stellt, der das Beharrende und die Tatsache der Neuentstehung oder den Sprung und vor allem die Sonderart des Geistes und des geistigen Werdens gegenüber den bloßen Assoziationen und Dissoziationen nicht beachtet, auch Aufstieg und Abstieg, Gutes und Böses gemeinsam der Entwicklungsformel unter­ stellt. Das heißt: das in Wahrheit Entwicklungslose, von rein kausalen, physi­ kalischen und chemischen Veränderungs- und Verschmelzungs formeln Bevoie d'analogie, du plus petit au plus grand825 Im übrigen ist auch bei Rickert die Ten­ denz, die individualisierende Logik durch das ganze Universum hindurch der allgemein­ gesetzlichen parallel gehen zu lassen, in dem gleichen Motiv begründet und kommt mit seiner faktischen Sonderbedeutung des Individuellen auf dem Boden der menschlichen Geschichte, die Rickert im Grunde der romantischen Metaphysik und der Praxis des Historikers entnimmt, vielfach in Konflikt. Im Grunde ist schon Schelling damit vor­ ausgegangen, dem Hegel und Croce scharf widersprechen, dann vor allem Spencer. Ge­ gen solche Auflösung der Logik der menschlichen Geschichte in die der kosmischen s. außerdem besonders v. Gottl, Die Grenzen der Geschichte 1 904. 825 Alexandru-Dimitrie Xenopol: La theorie de l'histoire (1 899; 1 908), S. 1 24: "Le

tout, c'est la continuite de la matiere et de l'esprit; la partie, c'est le developpement de ce dernier. Pour etre logique, il faut partir du tout, po ur formuler les principes qui regissent la partie, et non conclure, par voie d'analogie, du plus petit au plus grand."

8. Historie und Erkenntnistheorie.

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herrschte zum Wesen der Entwicklung und das, was echte Entwicklung ist, zum Zufall machen352). Derartige I phan I tastische und sinnzerstörende Aus352) Sa. Max Rosenthal, Tendenzen der Entwicklung und Gesetze, Vierteljahrsschrift für wiss. Phil., 34, 1 9 1 0. Die Tendenzen sind hier von vorneherein lediglich die von der Statistik aufweisbaren Richtungen und sind praktisch-brauchbare Formeln für relativ dauernde Reihen von Tatbeständen, die an sich aus den kausalen Wechselwirkungen fest begrenzbarer kleinster Elemente resultieren, aber wegen der Kompliziertheit bis in diese letzten Gründe nicht verfolgt werden können. - Aus der Atmosphäre von Ernst Mach insbesondere stammt L. M. Hartmann, Ueber historische Entwicklung. Sechs Vorträge zur Einleitung in eine historische Soziologie, 1 905. Hier wird von vorneherein jedes "metaphysische und psychologische Vorurteil"826 ausgeschaltet, also Gott, das Ich, die Freiheit, die Initiative geistiger Kräfte und jeder Zielgedanke, aus dem immer nur animistische Allgemeinbegriffe als überindividuelle Zusammenhänge und Vordatierungen der Bewußtseinsanpassung an gegebene Verhältnisse schon in das Geschehen selbst hervorgehen. Alle s erklärt sich aus Kampf ums Dasein, Selektion und Anpassung der körperlichen Vorgänge (samt denb ihnen zugeordneten psychischen KorrelatenC) aneinander. Ent I wicklung ist der tatsächliche Verlauf der Veränderungen und die Richtung, welche dieser faktisch nimmt. Daß sie tatsächlich in der Richtung auf,fortschreitende Vergesellschaftung, Produktivität und Differenzierung" verläuft, ist eben darum nicht mehr als reine Tatsache. Verliefe sie umgekehrt zum Chaos oder zur Zusammenhangslosigkeit, so wäre eben das die "Entwickelung". Nur deshalb könne es heißen: "In dieser Dreieinigkeit muß der gesamte Inhalt der historischen Entwickelung verlaufen, während ihre Form durch direkte Anpassung und Auslese bedingt ist" S. 62827. Durch diese Tatsache oder diesen Zufall erweist sich die Marxistische Lehre als wesentlich berechtigt. Ideologie, Ziele, Zwecke, Wünsche, auch die Moral sind Anpassungsformen des Bewußtseins an die bereits vollzogene Entwicklung und haben auf diese keine Einwirkung. "Die Geschichtswissenschaft schleppt zu ihrem Nachteil das menschliche Bewußtsein als schwere Bürde mit sich"828 S. 7! d "Es ist selbstverständlich, daß die Anhänger dieser Auffassung, die nicht durchaus passend als ,materialistische Geschichtsaufa

A: 0

b A: der

c

A: Korrelate

d A: 7.

826 Vgl. Ludo Moritz Hartmann: Ü ber historische Entwickelung (1 905), S. 1-1 4: "Er­

ster Vortrag: Das metaphysische und das psychologische Vorurteil". 827 Ebd., S. 62: "In dieser Dreieinigkeit: fortschreitende Vergesellschaftung, fortschreitende

Produktivität, fortschreitende Differenzierung, muß der gesamte Inhalt der historischen Entwickelung enthalten sein, während ihre Form durch direkte Anpassung und Auslese bedingt ist." 828 Ebd., S. 7: "Dagegen herrscht [ ... ] trotz des Entwicklungsgedankens in der Ge­ schichtswissenschaft, die zu ihrem Nachteile gegenüber den anderen Wissenschaf­ ten das menschliche Bewußtsein als schwere Bürde mit sich schleppt, noch durch­ aus der Fetischismus, der den bewußten Willen als letzte Ursache des einzelnen Geschehens betrachtet."

B 663, A 271 A 270, B 662

B 663

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

wirkungen des Entwicklungsbegriffes sind unmöglich; will man, einem all­ gemeinen Eindruck in der Welt folgend diese Kumulationen trotzdem

A 271 B 664

fassung' bezeichnet wird, von den gegnerischen Argumenten, die aus der Psychologie ge I wonnen werden, nicht getroffen werden können, wenn ... in sehr vielen Einzelfällen nachgewiesen wird, daß bestimmte menschliche Hand I lungen, welche wirtschaftliche Folgen hatten, ganz anders als durch den wirtschaftlichen Zweck, sei es durch religi­ ösen Fanatismus oder durch nationale Begeisterung oder durch ethische Ideen motiviert sind. Alle diese Einwendungen beziehen sich auf ein Gebiet, dasfiir den Forscher '?f'nächst gar nicht in Betracht kommt, solange er sich eben mit den menschlichen Handlungen und ihrem Zusammenhang und nicht mit der Motivation, d h. mit der Frage beschäftigt, wie sich die menschlichen Handlungen im Bewußtsein widerspiegeln ... Die Motivierung dieser Handlun­ gen ist irrelevant" S. 30 fS29. Dieser "Empirismus" scheint mir das volle Gegenteil aller Empirie zu sein. - Gleichfall s aus Wien stammt das sehr besonnene und kritische Buch des Botanikers J. v. Wiesner, Erschaffung, Entstehung, Entwicklung, 1 9 1 6, dessen Er­ gebnisse oben im Text verwertet sind. Für die Sonderart der Geschichte hat freilich auch er wenig Sinn. Er weist sie von vorneherein der Phylogenie zu und diskutiert sie nur in der Form, die Lamprecht ihr gegeben hat, während er von Hegel und Schelling meint, "diese Anfänge der Geschichtsentwickelung hätten830 in ihrer zu allgemeinen und zu spekulativen, der tatsächlichen Begründung noch entbehrenden Fassung keine 829 Ebd., S. 30 f.: "Es ist selbstverständlich, daß die Anhänger dieser Auffassung,

die nicht durchaus passend als ,materialistische Geschichtsauffassung' bezeichnet wird, von den gegnerischen Argumenten, die aus der Psychologie genommen wer­ den, nicht getroffen werden können, weder wenn mit ethischem Pathos die Selbst­ verständlichkeit betont wird, daß der wirtschaftliche Egoismus nicht die einzige psychologische Triebfeder der menschlichen Handlungen ist, noch auch wenn in sehr vielen Einzelfällen nachgewiesen wird, daß bestimmte menschliche Handlun­ gen, welche wirtschaftliche Folgen hatten, ganz anders als durch den wirtschaftli­ chen Zweck, sei es durch religiösen Fanatismus oder durch nationale Begeisterung oder durch ethische Ideen, motiviert sind. All diese Einwendungen beziehen sich auf ein Gebiet, das für den Forscher zunächst gar nicht in Betracht kommt, solan­ ge er sich eben mit den menschlichen Handlungen und ihrem Zusammenhange und nicht mit der Motivation, d. h. mit der Frage beschäftigt, wie sich die mensch­ lichen Handlungen im Bewußtsein widerspiegeln. [...] Wenn man beim Menschen vom Kampfe ums Dasein oder auch von Anpassung spricht, so darf ebensowe­ nig, wie bei der Pflanze oder beim Tiere, an den Wunsch, gewisse dem Individuum nützliche Ziele zu errreichen, gedacht werden, sondern nur an die Tatsache, daß gewisse Handlungen das Individuum geeigneter machen, schädlichen Einflüssen der Umgebung zu widerstehen oder sich durch Elemente der Umgebung zu stär­ ken, während die Motivierung dieser Handlungen irrelevant ist." 830 Bei Julius von Wiesner: Erschaffung, Entstehung, Entwicklung und über die Gren­ zen der Berechtigung des Entwicklungsgedankens (1 9 1 6), S. 1 93, steht hier: "ha­ ben".

8. Historie und Erkenntnistheorie.

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zur Entwicklung machen, so ist das nicht durch die diese Gebiete beherr­ schende Logik, sondern nur durch metaphysische und religiöse Deutungen möglich, wie das E. v. Hartmann und Lotze, jeder auf seine Weise, getan haben.a Soll daher schon der historische Entwicklungsbegriff einem allgemeine­ ren logischen Prinzip unterstellt werden, so bleibt nur die Biologie übrig. Al­ lein auch hier ist es wieder nur ein bestimmter Punkt innerhalb ihrer, an dem allein der Entwicklungsbegriff ernstlich in Frage kommt, die Ontoge­ nie, da es bei dieserb allein sich um gesetzlich darstellbare, die individuelle Einheit des Ganzen hervorbringende und auswirkende Veränderungen han­ delt. Der Streit um die rein mechanistische oder vitalistisch-entelechische I oder psychovitalistische Auffassung der Ontogenie kann hier auf sich beruhen. Die Hauptsache ist, daß die historischen Entwicklungen nicht der Ontogenie, sondern der Phylogenie analog sind. Für diese aber, also für die Herausbildung der verschiedenen Arten aus ontogenetischen Anfängen, ist ein Gesetz bis heute nicht gefunden, das wirklich eine Entwicklung bedeutete. Die von der Biologie ausgehenden Logiker pflegen darum die menschliche Geschichte als Teil und Fort I setzung der Phylogenie zu betrachten und dann hier begreiflicherweise noch weniger ein solches Gesetz zu finden. So glauben Driesch und Wiesner die Geschichte wesentlich als bloße Kumulation und Scheinentwicklung, d. h. als Häufung von Veränderungen be­ trachten zu dürfen, wobei Driesch nur offen läßt, daß spätere Forschungen tieferen Wurzeln geschlagen" 1 95. Für rue Ethik verweist er als etwas ganz Außerhisto­ risches und Außernaturwissenschaftliches auf Kant.831 Jedenfalls hat W. das Verruenst, den Entwickelungsbegriff genau bestimmt zu haben, indem er ruesen als auf eine indivi­ duelle Totalität, auf ein nachweisbares Gesetz der Folge und eine innere Zielstrebigkeit bezogen betrachtet und davon alles übrige mit Driesch als bloße Veränderung, Kumu­ lation oder Pseudo-Entwicklung unterscheidet, indem er ihn ferner von der sprungwei­ sen Entstehung als einer innerhalb ihrer und auch sonst stattfindenden wichtigen Er­ scheinung unterscheidet und Entwicklung mit Wiederauflösung unter einen gemeinsa­ men Begriff zu fassen warnt. Im übrigen ist sie selber ihm ein bis heute unauflösliches Geheimnis, dem man nur durch Deskription nahe kommen könne und das er durch Metaphysik nicht wie Driesch auflösen möchte. a

In A kein Absatz:

b

A:

ihr

831 Vgl. ebd., S. 21 8-228: "Bemerkungen über das Verhältnis der Ethik zur Entwick­

lung". In den Schlußbemerkungen heißt es dann S. 244: "In bezug auf Ethik wur­ de der Standpunkt Kants vertreten, daß es nur eine menschliche Ethik gebe und im Tierreiche nicht einmal rue ersten Anfange einer Ethik nachweislich sind".

A 272

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B 665

A 273 A 272, B 665 A 273

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

vielleicht - etwa im Unterbewußten - ein solches Gesetz finden könnten, das den Gesetzmäßigkeiten der Ontogenie vergleichbar wäre. Im übrigen verweist er das Problem aus der Logik hinaus in die deren Gesetze und In­ halte ausdeutende Metaphysik, wo die in der Erfahrung und ihrer Logik sehr fragliche Bedeutung der historischen Entwicklung in den Gedanken einer le­ bensjenseitigen inneren Bewegung des I göttlichen Willens zum Wissen und zur Wissenseinheit, sozusagen in die Wissens-Biologie des absoluten Ich, aufgenommen wird. All ein all das ist dann doch - logisch genommen - eine Unterwerfung der Historie unter die ihr ganz fremdartige Biologie und besonders unter das für sie in der Tat ganz unmögliche Ideal der Aufhellung der Ontogenie, wie sie auf den Arbeiten von K. E. v. Baersa832 bis heute beruht. Man kann von vorneherein sagen, daß auf diesem Wege allerdings an die Geschichte nicht heranzukommen ist. Das Eigentümliche der Historie besteht in dem Auf­ tauchen der Geist- und Wertwelt und ihren individuellen, reiche Konsequenzen aus den Ansätzen entfalten­ den Auswirkungen, überhaupt in dem logisch-teleologischen Charakter der die Einzelheiten verbindenden und durchwaltenden Sinn-Zusammenhänge oder Tendenzen. Darauf bezieht sich in ihr der Entwicklungsbegriff. Daher schließt er hier auch Selbständigkeit und Unberechenbarkeit der in diesen Zusammenhängen handelnden Individuen und den Kampf wie die engste Verwachsung mit der bloß naturhaften Unterlage des geistigen Lebens ein. Das alles ist mit der Biologie ganz unvergleichbar und schließt ganz ande­ re logische Prinzipien ein353). Gerade dieser Umstand hatte I die älteren, I 353) S.b Hans Driesch "Logische Studien über Entwickelung", Abhc. der Heidelberger Akad., 1 9 1 8 und das Problem der Geschichte, Annalen der Natur l philos. VII: Zusam­ menfassungen und Auszüge aus den großen Werken Ordnungslehre 1 9 1 2, Wirklich­ keitslehre 1 9 1 7 und Philosophie des Organischen 1 909, 2. Auf!. 1 92 1 . Auch er geht für die Geschichte von der Biologie und innerhalb dieser von dem einzig klaren Entwick­ lungsfall, der Ontogenie, aus. Sie bildet den vierten Fall der logisch möglichen Entwick­ lungsbegriffe, von denen die drei ersten mechanische Veränderungen einer zählbaren Mannigfaltigkeit bei Erhaltung des Ganzen, also Kumulationen, sind, während der vier­ te ein unräumliches Agens, die Entelechie, voraussetzt. Ob es in der Phylogenie "eine" Entwicklung gibt, sei bis heute noch nicht zu sagen, aber möglich. Noch weniger sei a

A: Bär, B: Bärs

b A: Siehe

c

A' Abhh

832 Vgl. z . B. Kar! Ernst von Baer: Ü ber Entwickelungsgeschichte der Thiere, 2 Bände

(1 828/1 837).

8. Historie und Erkenntnistheorie.

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vom modernen Naturalismus weniger gebundenen Denker dazu geführt, vielmehr umgekehrt, diese, sei es logische, I sei es teleologische, Bewegtheit das von der Historie bis jetzt zu sagen, wenn auch nicht unmöglich.833 Es könnte ein­ mal "eine" Entwicklung im Unterbewußten noch nachgewiesen werden. Neuerdings ist er auf dem Gebiete der Wissenschaft und Moral eine solche anzunehmen geneigt; das setzt dann eine suprapersonale, die persönlichen einbefassende Entelechie oder ein Psychoid der Menschheit voraus.3 So kann man natürlich niemals zum Verständnis des in der Historie I befolgten Entwicklungsbegriffs kommenb. "Es gibt wirklich nichts Evolutionistisches, das sich auf die Generationen der Menschheit als solche bezöge. Wenigstens ist bis jetzt nichts nachgewiesen."834 Evolutionistisch erklärbar seien auch in der Geschichte nur die Individuen, die geschichtlichen Bildungen aber nur als Ku­ mulationen von derart erklärbaren Individuen. "Staats- und Rechtsphilosophie im Sinne HegeIs ist daher nur Philosophie zweiter Klasse. Sie verhält sich zur Philosophie der (psychologisch erklärbaren) Handlung wie Geologie zur Physik und Chemie"835 Annalen VII 2 1 2 f. Das ist trotz aller ontogenetischen Entelechien und Vitalismen in allem übrigen genau die Stellung des Positivismus. Dem entsprechend schätzt Driesch den philosophischen Wert der Geschichte als sehr gering ein. Historische Bildung kanne praktisch nützlich sein, retardiere aber meistens den Fortschritt. "Aller wirkliche Fortschritt ist nicht historischc"836 222. "Man kann aus der Geschichte die größten Persön­ lichkeiten streichen, die Weltanschauung, die Philosophie wird dadurch nicht berührt. Die stammt aus der Naturwissenschaft. Von einer philosophischen Gleichwertigkeit der Geschichte und der Naturwissenschaften ist gar keine Rede"837 223. Den Schluß In A folgt: Von der Historie nimmt er nur Buckle, Taine und Lamprecht ernst, meint aber, daß auch sie nur Kumulation in der Historie nachgewiesen hätten, die ein Bestandteil der Phylogenie sei. b A: kommen, welches immer die Verdienste des scharfsinnigen Denkers um der Biologie sein mögen c A: nicht-historisch a

833 Vgl. z. B. Hans Driesch: Logische Studien über Entwicklung (1 91 8), S. 4-1 7. 834 Hans Driesch: Das Problem der Geschichte (1 908) , S. 21 3 f.: "Wenigstens ist

nichts in diesem Sinn sicher erwiesen." 835 Ebd., S. 21 6: "Sogenannte ,Staats-', oder ,Rechtsphilosophie' im Sinne Hegels ist

daher nur Philosophie zweiter Klasse. Sie verhält sich zur Philosophie der Hand­ lung wie Geologie zur Physik und Chemie." 836 Ebd., S. 222: "Aller wirklicher Fortschritt ist nicht-,historistisch'." 837 Ebd., S. 223: "Aber man mag aus der Geschichte selbst die größten Persönlichkei­ ten streichen - die Weltanschauung, die Philosophie würde dadurch nicht berührt, oder doch höchstens in soweit, als jene Persönlichkeiten selbst zu ihrem Ausbau beitru­ gen. Von einer philosophischen Gleichwertigkeit der Geschichte mit der Natur­ wissenschaft ist gar keine Rede."

B 666 A 274

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Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

des Geistes nun ihrerseits zu verallgemeinern und zur Weltformel zu ma­ chen oder den so schwierigen Begriff überhaupt nicht der Logik, sondern den kunstvollen Verknüpfungen der Metaphysik zuzuweisen, die ihn dann aus Verbindungen von Seinserkenntnissen, logischen Regeln und ethischen Postulaten herstellt. Allein, das erste scheitert an den Naturwissenschaften bildet ein scharfer Angriff auf die humanistisch-historische Bildung, die mit dem "Ewi­ gen" gar nichts zu tun habe, aber auch nichts mit dem Praktischen. Rickert wird ge­ lobt, weil er wenigstens nichts von "einer" Entwicklung in der Geschichte wissen will, im übrigen wird sein Buch als bedenkliche Galvanisierung der überlebten historischen Bildung abgelehnt.8J8 Die späteren Arbeiten zeigen allerdings eine etwas achtungs- und hoffnungsvollere Betrachtung der Geschichte und preisen Jac.a Burckhardts Weltgesch. Betr. als bedeutendstes geschichtstheoretisches Buch, Wirkl. 332 f.839; der Grund ist Burckhardts vermeintliche Abneigung gegen Staat und Macht.b Da ergeben sich dann Anklänge an Schopenhauer, S. Wirkl. 334, 1 73 ff., 1 06. Vom Staate heißt es: "Einzelstaat ist also ein durch den Inhalt gewisser Bücher geregeltes seelisches Verhalten einer Zahl von Einzelmenschen; sie haben den Inhalt dieser auf sie zurückwirkenden Bücher so gewollt, wie er ist" 204840! Man wird dem scharfsinnigen und originellen Denker nicht zu nahe treten, wenn man sagt, daß ihm die empirisch-historische Forschung ebenso A, B: Jak. b In A folgt: Damit tritt die Entwickelung des Wissens als irdische Spur einer in der Menschengeschichte vielleicht wirkenden suprapersonalen Entwickelungseinheit stärker hervor und nimmt die Geschichte I auf in die Entwickelung des Geistes zu einer Art Nirvana oder Gottesreich, das grundsätzlich nicht von dieser Welt ist. a

A 274

838 Ebd., S. 225: "Seit ungefähr 400 Jahren wird die gesamte Bildung und Erziehung

Europas von Geschichte und Philologie beherrscht. Das mag anfangs berechtigt gewesen sein; jetzt ist es nicht mehr berechtigt"; S. 226 f.: "Rickerts Buch ist von vielen Historikern und Philologen mit großer Freude aufgenommen worden [ . ] . Der erste meiner Gründe zur Veröffentlichung dieses Sonderaufsatzes ist die fe­ ste Überzeugung, daß eine Stärkung der geschichtlichen Disziplinen durch jenes Buch zu Ungunsten der Naturwissenschaften geradezu einen kulturellen Schaden bedeuten würde, und daß dieser Möglichkeit durch nichts besser entgegengearbei­ tet werden kann als durch den Nachweis, daß gerade die zentralen Gedankengän­ ge des Buches durchaus haltlos sind." Mit Rickerts Buch sind - vgl. S. 21 9-225 von Drieschs Aufsatz - "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" gemeint. 839 Vgl. Hans Driesch: Wirklichkeitslehre (1 9 1 7), S. 332 f. Driesch zitiert dort aus Ja­ cob Burckhardts "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", jedoch ohne explizite Wer­ tung. 840 Ebd., S. 204 f.: "Einzelstaat also ist". .

.

8. Historie und Erkenntnistheorie.

977

und das zweite stimmt mit der Einfachheit I des praktischen historischen Verfahrens nicht überein, wie das ja auch von der Metaphysik Drieschs gilt. Der letztere ignoriert die empirisch-historische Forschung vollständig und hält sich nur an Taine und Buckle, Lamprecht und Breysig, indem er alle sonstige Historie für Erbauungsbücher erklärt. Annähernde Entwicklung gibt es bei ihm nur auf dem Gebiete des Wissens und allenfalls der Moral, von wo aus er dann gleich in seine Metaphysik des jenseitigen "Gottes- oder Wissensstaates"841 überspringt. Allein für wirkliche Empirie liegen die Dinge ganz anders. Die in der Historie den Entwicklungseinheiten zugrunde liegenden Tendenzen sind an sich völlig anschaulich und klar und bedürfen und ertragen keine Erläuterung aus ganz allgemeinen, die entferntesten Dinge verknüpfenden Spekulationen. Sie geben umgekehrt allen metaphysischen Annahmen erst ihrerseits die Unterlage und das Material, wenn man überhaupt zu jenen fortschreiten will. Die Frage ist wirklich ganz einfach lediglich die, wie diese anschaulich, aus dem Leben aufgenommenen Bilder zugleich Erkenntnis realer Zusammenhänge sein können und nicht bloß subjektiv und praktisch bedingte Verkürzungen und Zusammenschauungen. Das ist aber eine Frage, die sich lediglich von dem Boden der empirisch­ historischen, auf das Menschliche bezogenen Forschung aus lösen läßt. Damit soll die Möglichkeit, die historische Entwicklung in eine kosmi­ sche einzureihena an sich gar nicht bestritten werden. Aber aus dieser Ein­ reihbarkeit ergibt sich nichts für die Logik des historischen Entwicklungs­ begriffes selbst. Die Idee des kos I mischen Fortschrittes mag den Weg von der Emporhebung des organischen Lebens aus dem anorganischen, des menschlichen aus dem biologischen und des Geistig-Uebermenschlichen unbekannt als widerwärtig ist. Nicht umsonst erklärt er seinen Anschluß an einen Dok­ trinär wie F. W Foersterb• 842 a

A: einzureihen,

b A, B: Förster

841 Als Formulierung bei Driesch nicht nachgewiesen. Vgl. aber S. 331 seiner "Wirk­

lichkeitslehre": "Gerade an dieser Stelle mag nun noch Einiges über das Verhältnis des (echten entwicklungshaften) Staates, des Gottesstaates, wenn wir so wollen, zu den besonderen Rechtsausprägungen, welche ,die' (erfahrungsmässigen, auf Häu­ fung und gewissen bIossen Ganzheitszügen ruhenden) Staaten genannt werden, gesagt sein." 842 Ebd., S. 334: "Was sich aber für die Ethik als einem Gefüge von Vorschriften aus einer wahrhaft ,rationalen' Lehre von dem Einen Staat und den einzelnen Staaten ergibt, das hat in unseren Tagen - sehr im Gegensatz leider zum ,Geist' der Zeit ­ keiner in solcher Klarheit und Vollkommenheit geschaut wie F. W. FOTster."

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A 276

A 275, B 667 B 668

A 275, B 668

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oder Ewigen aus dem Bloß-Menschlichen zeigen und entspricht damit si­ cherlich einem gewissen Eindruck der Dinge. Aber für die Erkenntnis der Historie selbst nützt das gar nichts. In ihr erscheint der Fortschritt immer nur als Glaube und Pflicht des Handelnden zu höherer Erhebung, wodurch eben diese Erhebung selbst zustande kommt. Aber über den empirischen Verlauf und den Zusammenhang, vor allem auch über die jeweils konkret zu schaffenden, aus der bisherigen Entwicklung zu schöpfenden gegenwärtigen Kultursynthesen selbst ist damit gar nichts gesagt354). Ebenso I wenig hilft der Gedanke der bloßen kosmischen Kontinuierlichkeit und der Samm­ lung kleinster Wirkungen in unendlichen Zeiträumen. Einerlei, wie weit eine solche Kontinuierlichkeit auch schon für die außermenschliche Wirklichkeit lückenlose Geltung hat, in der Historie ist die Frage, in welchen Zusammen­ hängen diese Kontinuierlichkeit konkret sich äußert und ist ihre Erklärung aus bloßen kausalen Summierungen kleinster Veränderungen in unendli­ chen Zeiträumen einfach ausgeschlossen. Die Frage ist vielmehr bei ihr, worauf die in ihren Tendenzen und Ideen erkennbare, in logischen Kon­ struktionen darstellbare Kontinuierlichkeit konkret beruhe und wie man dieser Kontinuierlichkeit habhaft werde, da sie aus bloßen Summierungen und bloßen Kausalmethoden nicht zu gewinnen ist35S). Ebensowenig hilft zu diesem Ziel der Gedanke der Reihenbildung, sei es daß man mit ihm einfach die in den Tatsachen liegenden Reihen bloß abzubilden glaubt, sei es daß man sie teleologisch deutet, als ob sie einen Sinn I oder Zweck ver­ wirklichten, sei es daß man gar in ihnen die "Evolution" wie eine Kraft 354) S. Hermann Siebeck, Zur Religionsphilosophie, 1 907. Der Titel ist unpassend. Es sind drei sehr feine Betrachtungen über Fortschritt und Ent l wicklung, denen ich zustimme, die aber die Einordnung der konkreten Historie in diese Gedanken noch ganz freilassen. Das aber ist erst das eigentliche Problem. 355) S. F. Ratzela, Die Zeitforderung in den Entwicklungswissenschaften, Annalen der Naturphilosophie I 1 902. Er verweist vor allem auf die Geologen Hutton und Lyell und auf Darwin. Er sieht aber selbst, daß darin kein positives organisierendes Prinzip enthalten ist, wie es das Leben und die Geschichte verlangen, fügt daher den "äußeren Variationen" die "inneren" hinzu, zu denen dann die "Mutationen" gehören. Er unter­ scheidet geschichtliche Bewegung durch äußere Variationen und geschichtliche Entwicklung durch innere843 und verlangt für die erstere "kausale Gesetze", für die zweite bloß "em­ pirische". Dann hätte nach R. der ganze Streit um die Gesetze in der Geschichte keinen a

A: Retzal

843 Vgl. Friedrich Ratzel: Die Zeitforderung in den Entwickelungswissenschaften

(1 902), S. 341 . Ratzel betont hier, "daß wir heute nur von einem einzigen allgemei­ nen inneren Entwickelungsgesetz sprechen dürfen: dem der Variation."

8. Historie und Erkenntnistheorie.

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d. h. im Grunde wie eine Gottheit sich auswirkend denkt. Es mag ja nahelie­ gend scheinen, neben den allgemeinen die Zeit grundsätzlich aufhebenden Gesetzen der Physik und Chemie das Universum als Sukzession qualitativer Zuständlichkeiten zu denken und diese Sukzession in Reihen darzustellen. Aber ganz abgesehen von den sich daran anschließenden, soeben angedeu­ teten Fragen, sind doch die Reihen des Alters und der Größe der Gesteine oder Erdschichten oder der biologischen Arten oder der Lebensalter der In­ dividuen etwas völlig anderes als die Reihe, die sich etwa in Entstehung und Ausbildung des Kapitalismus mit allen möglichen Verfilzungen, Knickungen und Neu-An I sätzen darstellt. Oder vielmehr das letztere ist überhaupt keine Reihe, sondern eben eine menschlich-historische Entwicklung, die nur nach den oben entwickelten Grundsätzen sich darstellen läßt. Eine einfache Abbildung und nachträgliche Deutung der empirisch vorfindbaren, sukzessiven Tatsächlichkeiten liegt hier eben gerade nicht vor und eben deshalb ist es die Frage, wie ein solches Entwicklungsbild zu verstehen sei, ob es ein logisches Arrangement oder, wofür es sich zumeist selbst hält, ein aus dem Gang der Dinge herausgeschauter innerer Zusammenhang sej356). I Sinn mehr, S. 340 f.844 356) Ganz kindlich Alexandera Brückner, Ueber Tatsachenreihen in der Geschichte, Dorpater Festrede 1 886. - Von dem Reihenbegriff aus, den er aus dem Wesen des Kosmos als Reihe von faits de succession allgemein konstruiert, erfaßt auch Xenopol den Entwicklungsbegriff. Danach soll streng sukzessions-kausalb ohne jede Einmischung von Werten und Zwecken die Reihenfolge der individuellen, sich immer stärker komplizierenden Tatsachen vom Geschichtsforscher wiedergegeben werden. Auf einmal aber verwandelt sich die darin sich ausdrückende Evolution in eine treibende Bewegungskraft, wird hypostasiert zu einer Art Gottheit, die mit Hilfsmitteln des Mechanismus, des Kampfes ums Dasein, des Milieu usw. arbeitet und mit diesen Mitteln den Aufstieg von der anorganischen Welt zur organischen, von da zum Menschen und von da zum Geist in großen Sprüngen bewirkt!C In der Geistesgeschichte bewirke die Evolution mit Hilfe der Tendenzen auf das Wahre, Schöne und Gerechte die Verwirklichung a

A, B: Alex

b A: sukzessionskausal

c

A: bewirkt.

844 Ebd., S. 340: "Der ganze Streit um die Gesetze der Geschichte wäre übrigens zu

vermeiden gewesen, wenn die Gegner sich über den Sinn dieses Begriffes klarer gewesen wären und die Gesetze der geschichtlichen Entwickelung von den Geset­ zen der geschichtlichen Bewegungen auseinander gehalten und außerdem den Un­ terschied zwischen kausalen und empirischen Gesetzen beherzigt hätten, den am schärfsten Paul Barth in seiner Bedeutung für diese Frage hervorgehoben hat." 845 Vgl. Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1 9 1 2), v. a. "Siebentes Kapitel. Das Gesamtbild der Volkswirtschaft", S. 463-548.

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B 670

A 277

Kapitel III. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

Wenn derart eine Zurückführung auf allgemeine logische Prinzipien der kosmischen Entwicklung zu nichts führt, so scheint es geraten, sich an die Praxis der Historiker zu halten, die im Verkehr mit dem Objekt und unter dem Zwang des Objekts die Anschmiegung der Erkenntnis und der Dar­ stellungs form an den Fluß des Geschehens leichter findet als die logische Theorie. In I der Tat hat es hier die Historie, die heute fast auf jeder Sei­ te das Wort "Entwicklung" gebraucht, zu einer sehr feinen Kunst dieser Anschmiegung gebracht, die auf den verschiedenen Gebieten, je nachdem es sich um Staat, Wirtschaft, Kunst, Religion, Wissenschaft oder Gesell­ schaft handelt, recht verschiedene Mittel verwendet und jedesmal größte Intimität mit dem Gegenstande verlangt. Darin sind die Heimlichkeiten der historischen Disziplinen begründet, von denen Jakob Grimm gerne redet. Aber dieses Verfahren der Belauschung der historischen Praktiker hat für unsern Zweck doch nur begrenzte Bedeutung, genau wie das bei analoger der Ideale der fortschrittlichen sozial gesinnten Bourgeoisie als Weltzweck! "On consi­ dere l'evolution, non plus comme une question de procede ou de methode, mais bien comme la manifestation d'une force naturelle"846 2 1 2. In der Entwickelung des Geistes d. h. in der menschlichen Geschichte benutzt die Evolution die Ideen als Mittel, aber nicht die flüchtigen und kleinen, sondern "les idees les plus stables, celles de charactere general objectiv. Nous voila donc arrives, par un raisonnement des plus rigoureux Cl) , a cette importante conclusion que l'evolution de l'humanite se fait sm le terrain des idees generales objectives, idees qui donnent naissance a I des faits sociaux"847 221 . - Ueber Rickerts Ersetzung des Entwickelungsbegriffs durch den Reihenbegriff s. aoben 235239"848. Bei ihm ist die Entwicklung "Wertverwirklichung" in Reihen individual-kausal verbundener Tatsachen. Alles Interesse liegt dann an der Beziehung der historischen Entwicklungswerte auf die überhistorischen absoluten Werte. a-a

A: HZ. 1 9 1 8

846 Alexandru-Dimitrie Xenopol: La theorie de l'histoire (1 899; 1 908), S. 21 2: "Nous

pensons que cette discussion est inutile, aussitöt qu'on considere l'evolution, non plus comme une question de procede ou de methode, mais bien comme la mani­ festation d'une force naturelle." 847 Ebd., S. 220 f.: "L'evolution qui a besoin d'un terrain d'une certaine consistance pour pouvoir exercer son action modificatrice, ne saurait choisir celui des idees in­ dividuelles, dont l'existence est ephemere; il faudra necessairement qu'elle agisse sur les idees les plus stables, sur celles de charactere general objectif. Nous voila donc arrives, par un raisonnement des plus rigoureux, a cette importante conclu­ si on que /'evolution de I'humanite sefait sur le terrain des idies generales oljectives, idees qui donnent naissance a desfaits sociaux." 848 Im vorliegenden Band S. 432-439.

8. Historie und Erkenntnistheorie.

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Fragestellung von der naturwissenschaftlichen Praxis gilt357). Die von den empirischen Forschern gebrauchten Kategorien stammen ursprünglich alle selber aus der Philosophie. Sie wurdena dann in der Praxis der Forschung empirisiert und verselbständigt, verfeinert und verwandelt und vermögen durch gegenseitigen Zusammenhang und fruchtbare Anwendung sich schließlich bis zu einem gewissen Grade selbst zu tragen, wobei den Naturwissenschaften die Mathematik ein festes Rückgrat gibt, das der Hi­ storie fehlt und immer fehlen wird. So hat die Historie sich heute sicherlichb bis zu einem gewissen Grade verselbständigt. Aber bei allen Schwierigkeiten und Widersprüchen, allen größeren Synthesen und Einpassungen in einen Gesamtzusammenhang kommt dann doch der ursprüngliche philosophi­ sche Untergrund zum Vorschein. Bei der Historie insbesondere ist dieser Untergrund auch in der empirischen Arbeit recht fühlbar, sobald sie über die Regeln der Quellenkritik I und der Rekonstruktion der einfachen Tatsachen hinausgeht. Dann beginnt der geschichtstheoretische Streit, dann zeigen sich die Unterschiede der nationalen Philosophien, wo in Deutschland die Organologie, in Frankreich der Soziologismus überall durchblickt; dann zeigt sich die Nachwirkung des Naturrechts in fast allen westeuropäischen und die gründliche Ausrottung des Naturrechts in fast allen deutschen Dar­ stellungen. Daran hat auch der nachspekulative, moderne historische Realismus nichts geändert. Gerade er wirft eine Menge philosophischer Fragen auf, die er aus sich selber und seiner bloßen Praxis erst recht nicht beant­ worten kann. I So sind also die Kategorien der Historie und insbesondere der Entwicklungsbegriff zwar in der selbständig gewordenen Handhabung bedeutend geklärt und befestigt worden, aber doch aus dieser allein nicht zu abstrahieren. Es muß immer noch die selbständige Ueberlegung des Wesens der historischen Tatsachenwelt und der historischen Methode hinzukommen. Was hierbei erreicht werden kann, ist Cam Anfang dieses AbschnittsC 357) S. dazu das Vorwort zu Rothackers d"Einleitung usw."d Das Buch zeigt aber auch deutlich die Uferlosigkeit eines solchen Verfahrens: "Vielleicht zeigt ein genialer Logiker dereinst 600 verschiedene wissenschaftliche Zielsetzungen!"849 S. IV. a

A: werden

b A: gewiß

c-c

A: oben

d-d A: "Einleitung in die Geisteswissenschaften" 1 1 920.

849 Vgl. Erich Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1 920), Vorwort, S. IV: "Sodann scheint mir a priori durch nichts bewiesen zu sein, daß im System

der Vernunft nur die 1 oder 2 oder 3 Möglichkeiten der wissenschaftlichen Ziel­ setzung, die wir sowohl faktisch kennen, als auch zu deduzieren pflegen, angelegt seien. Vielleicht entdeckt ein genialer Logiker dereinst 600!"

A

278

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277, B 670

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A 278, B 671

Kapitel IlI. Ueber den hist. Entwickelungsbegriff und die Universalgeschichte.

kurz umschrieben worden. Weiter wird man mit rein logischen Erwägun­ gen wohl überhaupt nicht kommen können, wenn man gleichzeitig die Ab­ leitung des historischen Entwicklungsbegriffes aus einer allgemeinen über­ geordneten Logik der kosmischen Entwicklung und dann etwa gar noch aus den a priori im Wesen der Logik liegenden Möglichkeiten für untunlich hält358). Die Aufgabe ist dann eine doppelte: einerseits die Herausarbei­ tung eines klaren Bildes der gegenwärtigen soziologischen Lebensordnung, ihrer vorwärtsstrebenden, ihrer absterbenden und ihrer beharrenden Kräfte, ihrer Begründung in praktisch-materiellen und in psychologischen Verhältnissen, kurz ihrer eigentümlichen Struktur, von der jeder Einzelne ein Teil ist; anderseits die Konzentration, Vereinfachung und Vertiefung der geistig-kulturellen Gehalte, die die Geschichte des Abendlandes uns zugeführt hat, und die aus dem Schmelztiegel des Historismus in neuer Geschlossenheit und Vereinheitlichung hervorgehen müssen. Diese doppelte Aufgabe vereinigt sich dann in dem Bestreben von Wissenschaft, Bildung, Philosophie, Schule und Literatur, jene beiden Größen in der der Gegenwart und Zukunft entsprechenden Weise aufeinander zu beziehen, dem I ideologischen Gehalt einen neuen soziologischen Leib zu schaffen das Verhältnis erscheint hier als ununterbrochene Ausbildung desselben Gebäudes, des­ sen Grundstein, Mauer und Dach noch dasselbe geblieben sind ... Aber in Ansehung der Verfassung ist es ganz anders; hier haben Altes und Neues das wesentliche Prinzip nicht gemein. "al02 a

In A folgt Die Konsequenzen für sogenannten "staatsbürgerlichen" Unterricht liegen auf der Hand. Es ist eine der sonderbarsten Vorstellungen, daß römische und athenische Gesellschafts- und Verfassungsgeschichte wegen ihrer "Einfach­ heit" ein besonders gutes Erziehungsmittel seien. Ein Beispiel des hier ausge­ sprochenen Gedankens ist Oskar Wende, Leitfaden der Staatsbürgerkunde für technische Fachschulen, 1 9 1 9; da ist alles Kulturell-Geistige grundsätzlich der Historie überwiesen und für die soziologische Lebensordnung auf die praktische Anschauung zurückgegangen.

102 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Ge­

schichte (1 837; 1 840; 1 907), S. 87: "Es ist daher in Ansehung der Vergleichung der Verfassungen der früheren welthistorischen Völker der Fall, daß sich für das letzte Prinzip der Verfassung, für das Prinzip unsrer Zeiten, sozusagen, nichts aus den­ selben lernen läßt. Mit Wissenschaft und Kunst ist das ganz anders; z.B. die Phi­ losophie der Alten ist so die Grundlage der neueren, daß sie schlechthin in dieser enthalten sein muß und den Boden derselben ausmacht. Das Verhältnis erscheint hier als eine ununterbrochene Ausbildung desselben Gebäudes, dessen Grund­ stein, Mauern und Dach noch dieselben geblieben sind. In der Kunst ist sogar die griechische, so wie sie ist, selbst das höchste Muster. Aber in Ansehung der Verfas­ sung ist es ganz anders, hier haben altes und neues das wesentliche Prinzip nicht gemein."

A 48

1 09 8

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Kapitel I V. Ueber den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte.

und den soziologischen Leib mit einer neuen und frischen Geistigkeit, einer neuen Zusammenfassung, Anpassung und Umbildung der großen historischen Gehalte zu beseelen. Wie man das machen soll und kann, dafür gibt es dann freilich keine Anweisung. Das ist schöpferische Tat und Wagnis der an eine Zukunft Glaubenden, derer, die von keiner Gegenwart sich einlulle n oder zerbrechen lassen, sondern in jeder Gegenwart zum mindesten die Aufgabe einer solchen Kombination nach dem Maß ihrer Kräfte und Möglichkeiten glauben und behauptena. Dazu gehören gläubige und mutige Menschen, keine Skeptiker und Mystiker, keine rationalistischen Fanatiker und historisch Allwissenden. Das kann nicht das Werk eines Einzelnen sein. Es ist naturgemäß das Werk vieler, zunächst in der Stille, in der eigenen Persönlichkeit und dann im weiteren Kreise. Erst aus solchen Kreisen wird das neue Leben kommen und von verschiedenen Punkten her I sich zusammenleben. Das wirksamste wäre ein großes künstlerisches Symbol, wie es einst die Divina Comedia und dann der Faust gewesen ist. Allein das sind glückliche Zufalle, wenn einer Epoche solche Symbole geschenkt werden, und sie kommen meist erst am Ende. Es muß auch ohne sie gehen, und noch dürfen wir, wo der Weltkrieg die ganze bisherige Epoche in den Schmelztiegel geworfen hat, derartiges überhaupt nicht von ferne erwarten. Die Aufgabe selbst aber, die immer für jede Epoche bewußt oder un­ bewußt bestand, ist für unseren Lebensmoment ganz besonders dringend. Die Idee des Aufbaues heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen. bAuf ihr muß die gegenwärtige Kul­ tursynthese beruhen, die das Ziel der Geschichtsphilosophie ist. Davon soll, soweit es im Vermögen eines Einzelnen steht, der nächste Band handeln.b I

Biogramme

Acton, Lord John Emerich Edward Dalberg (1 0. Januar 1 834 - 1 9. Juni 1 902). Hi­ storiker und Politiker. 1 843 Ausbildung am St. Mary's College in Oscott, 1 848 Privat­ studium in Edinburgh, 1 850 v. a. bei Ignaz von Döllinger in München Studium des römisch-katholischen Kirchenrechts und der Kirchengeschichte, 1 856 Mitglied der bri­ tischen Delegation bei der Krönung Alexander H. von Rußland in Moskau, 1 859-1 866 liberaler Abgeordneter im Unterhaus, Mitarbeiter der liberal-katholischen Monatszeit­ schrift "The Rambler", 1 859 als Nachfolger John Henry Newmans Herausgeber des Blattes, 1 862 Umbenennung der Zeitschrift in "The Horne and Foreign Review", 1 863 Teilnahme an der von Döllinger einberufenen Versammlung katholischer Theologen in München, 1 869 Erhebung in den Adelsstand und Mitglied des Oberhauses, 1 872 Verlei­ hung des Dr. phil. h. c. durch die Universität München, 1 888 des Doctor Legum durch Cambridge und 1 889 des Doctor of Civil Law durch Oxford, 1 895 Regius Professor of Modern History in Cambridge. Troeltsch rezensierte erstmals 1 898 eine Schrift Lord Actons. Adler, Max (1 5. Januar 1 873 - 28. Juni 1 937). Jurist, Soziologe und Politiker. 1 89 1 Studi­ um der Rechtswissenschaften in Wien, 1 896 Promotion zum Dr. jur., danach Rechtsan­ walt in Wien, 1 903 Gründung des Vereins "Die Zukunft" (erste Wiener Arbeiterschule) zusammen mit Otto Bauer, Karl Renner und Rudolf Hilferding, 1 904-1 925 gemein­ sam mit Rudolf Hilferding Herausgeber der "Marx-Studien. Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus", 1 907 Mitbegründer der "Soziologischen Gesellschaft" in Wien, 1 9 1 8 Mitglied des Wiener Arbeiterrates, 1 9 1 9-1 921 sozialde­ mokratischer Abgeordneter im Niederösterreichischen Landtag und 1 9 1 9 Habilitation und Privatdozent für Gesellschaftslehre an der Universität Wien, 1 920-1 923 Abgeord­ neter im Wiener Gemeinderat für Wien-Floridsdorf, 1 921 a. o. Professor für Soziologie in Wien, 1 928-1931 Mitherausgeber der Zeitschrift "Der Klassenkampf. Halbmonats­ schrift Sozialistischer Politik und Wirtschaft". Auerbach, Erich (9. November 1 892 - 1 3. Oktober 1 957) . Romanist. Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg i. Br., München und Heidelberg, Oktober 1 9 1 3 Promotion zum Dr. jur. in Heidelberg, seit Ostern 1 9 1 4 Studium der Roma­ nischen Philologie in Berlin, 1 9 1 4-April 1 9 1 8 Kriegsdienst, danach Fortsetzung des Studiums, 1 9 1 9-1921 Senior des Romanischen Seminars in Berlin, 1 921 Promotion zum Dr. phil. in Greifswald, 1 922 Staatsexamen für das höhere Lehramt, 1 923 Vo­ lontär in der Preußischen Staatsbibliothek Berlin, April 1 927 dort planmäßiger Biblio­ thekar, dann Bibliotheksrat an der Universitätsbibliothek Marburg, 1 929 Habilitation für Romanische Philologie in Marburg, 1 930 Lehrstuhlvertretung und Ernennung zum

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o. Professor der Romanischen Philologie in Marburg, 1 935 Entlassung aus "rassischen Gründen", 1 936 Emigration in die Türkei und Professur an der Universi tät Istanbul, 1 948 Ruf an die Pennsylvania State University, 1 949 Professor in Princeton, 1 950 Beru­ fung an die Yale University in New Haven. Er gehörte seit 1 9 1 8 zu Troeltschs engstem Schülerkreis, nahm an zahlreichen Seminaren teil und verdankte Troeltsch die Anre­ gung, sich mit der Philosophie Giovanni Battista Vicos zu beschäftigen. Auerbach war auch anwesend bei der Trauerfeier für Troeltsch am 3. Februar 1 923 im Wilmersdorfer Krematorium. Baeumker, Clemens (1 6. September 1 853 - 7. Oktober 1 924). Philosoph. Seit 1 872 Stu­ dium der Philosophie, Philologie und katholischen Theologie in Paderborn und Mün­ ster, 1 877 Promotion zum Dr. phil. in Münster, 1 880 Gymnasiallehrer in Münster, 1 883 o. Professor der Philosophie in Breslau, 1 900 in Bonn, 1 903 in Straßburg als Nachfol­ ger -> Wilhe1m Windelbands, 1 9 1 0 in München. Wie Troeltsch korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Barres, Maurice (1 9. August 1 862 - 4. Dezember 1 923) . Schriftsteller, Politiker und Journalist. 1 883 zunächst Studium der Rechtswissenschaften in Paris, 1 888 erste Erfol­ ge als Schriftsteller mit der Veröffentlichung seines Romans "Sous l'oeil des Barbares", 1 889-1 893 Parlamentsabgeordneter für den Wahlkreis Nancy als Anhänger des natio­ nalistischen, rechtskonservativen und antiparlamentarischen Generals Georges Boulan­ ger, 1 894-1 895 Gründer und Herausgeber der nationalistischen und antidemokrati­ schen Zeitschrift "La Cocarde", 1 898 während der Dreyfus-Affare Anhänger der "Anti­ dreyfusards", 1 906 Aufnahme in die Academie fran Jacob Burckhardts in Basel, dann Ü bersiedelung nach München und Fortsetzung der kunsthistorischen Studien in der Münchener Glyptothek, 1 884-1 887 mehrere Studienreisen nach Italien, Juni 1 887 Konversion vom jüdischen Glauben zum Protestantismus und Taufe in der evangelischen Kirche in Venedig, 1 887 Rückkehr nach Mannheim, in den Winterhalbjahren 1 888/89, 1 889/90 und 1 890/91 weitere Reisen nach Athen, Konstantinopel, Ägypten, Palästina, Syrien und Rom, Mai 1 894 Privatdozent für Geschichte und Kunstgeschichte in Heidelberg, Juni 1 897 a. o. Pro­ fessor, 1 903 in Göttingen, Oktober 1 904 o. Professor in Kiel, 1 907 Vorsitzender des Schleswig-Holsteinischen Kunstvereins, April 1 9 1 1 als o. Professor wieder in Heidel­ berg, 1 9 1 3 Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Heidelberg, 1 929 Emeritie­ rung. Er war bereits vor der Jahrhundertwende einer der engsten Freunde Troeltschs in Heidelberg. 1 91 2 und 1 9 1 9 wurde Neumann ebenso wie Troeltsch zum Mitglied des

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"Gesamtvorstandes" des "Dürerbundes" gewählt. Neumann erhielt ein Freiexemplar des Historismus-Bandes. Nach Troeltschs Tod verfaßte Neumann eine umfangreiche Würdigung seines verstorbenen Freundes. Niebuhr, Barthold Georg (27. August 1 776 - 2. Januar 1 831). Historiker und Diplo­ mat. 1 794 Studium der Klassischen Sprachen und der Rechte in Kiel, 1 796 Privatse­ kretär des dänischen Finanzministers Graf Schimmelberg in Kopenhagen, 1 797 Sekre­ tär der königlich-dänischen Hofbibliothek, 1 798 Studium der Agrar- und Naturwissen­ schaften, der Botanik und Mathematik in Edinburgh, 1 800 Eintritt in den dänischen Staatsdienst, 1 804 Direktor der dänischen Staatsbank, 1 806 Eintritt in den preußischen Staatsdienst als Geheimer Staatsrat, Reform der preußischen Staatsfinanzen und Direk­ tor der Seehandlung, 1 81 0 Ausscheiden aus der Regierung, Ernennung zum Hofhisto­ riographen und Vorlesungstätigkeit an der Berliner Universität, Wahl zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1 81 3 Rückkehr in die preußische Finanz­ verwaltung, 1 8 1 6 preußischer Gesandter am Vatikan in Rom, 1 823 Venia legendi und Dozent für Altertumswissenschaften an der Universität Bonn, 1 824 Ernennung zum preußischen Staatsrat. Nohl, Herman (7. Oktober 1 879 - 27. September 1 960). Pädagoge, Philosoph. 1 898 Studium der Philosophie, Geschichte und deutschen Literatur in Berlin, dort 1 904 Promotion bei -+ Wilhelm Dilthey, 1 908 Habilitation bei -+ Rudolf Eucken in Jena, 1 9 1 9 a. o. Professor in Göttingen und Mitbegründer der Jenaer Volkshochschule, 1 920 o. Professor in Göttingen für Praktische Philosophie, 1 922 Berufung auf das neuge­ schaffene Ordinariat für Pädagogik in Göttingen, 1 937 zwangsemeritiert, 1 945 Wieder­ einsetzung in sein Amt, 1 947 Emeritierung, 1 945-1 960 Herausgeber der Zeitschrift "Die Sammlung". Nohl und Troeltsch standen in Briefkontakt. Oesterreich, Traugott Konstantin (1 5. September 1 880 - 28. Juli 1 949). Philosoph. Studium der Astronomie, Physik, Mathematik, Philosophie und Psychologie in Berlin, 1 905 Promotion zum Dr. phil. in Berlin, anschließend Privatgelehrter, 1 91 0 Habilita­ tion für Philosophie und Psychologie in Tübingen, hier 1 923 a. 0. , 1 945 o. Professor. Seit 1 9 1 5 empfahl Troeltsch Oesterreich mehrfach für eine philosophische Professur. Beide waren Mitglied der Kant-Gesellschaft. Troeltsch rezensierte 1 9 1 6 einen philoso­ phischen Vortrag Oesterreichs über religiöse Erfahrung in der "Theologischen Litera­ turzeitung" . Oncken, Hermann (1 6. November 1 869 - 28. Dezember 1 945) . Historiker. Seit 1 887 Studium der Philosophie, Philologie und Geschichte in Berlin, Göttingen und Hei­ delberg, 1 891 Promotion zum Dr. phil. in Berlin und wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Haus- und Zentralarchiv Oldenburg, 1 895 Habilitation, 1 898 Privatdozent für Ge­ schichte in Berlin, 1 904 außerdem Lehrer an der Königlichen Kriegsakademie in Berlin, 1 905 Austauschprofessor in Chicago, 1 906 o. Professor in Gießen, 1 907 in Heidelberg, 1 923 in München, 1 928 in Berlin, 1 935 Emeritierung. 1 9 1 5 publizierten Troeltsch und Oncken gemeinsam in dem Sammelwerk "Deutschland und der Weltkrieg" und waren seit 1 9 1 7 Mitglieder im "Volksbund für Freiheit und Vaterland". 1 920 betätigten sie sich

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als Preisrichter bei einem wissenschaftlichen Preisausschreiben der Kant-Gesellschaft. Beide standen auch in Briefkontakt. Ott, Emil (1 0. Dezember 1 878 - 6. Januar 1 943) . Evangelischer Theologe. Seit 1 902 im badischen Kirchendienst (1 906-1 9 1 1 in Heidelberg), 1 904 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig, 1 921 Pfarrer in Wiesbaden. Ott studierte bei Troeltsch und hörte im Winterse­ mester 1 899/1 900 die Vorlesungen über Dogmengeschichte und im Sommersemester 1 906 über Religionsphilosophie. 1 9 1 1 setzte sich Troeltsch sehr kritisch mit Otts Dis­ sertation auseinander, als dieser sich an der Theologischen Fakultät Heidelberg habili­ tieren wollte. Ott schrieb 1 924 einen Nachruf auf Troeltsch. Otto, Rudolf (25. September 1 869 - 7. März 1 937) . Evangelischer Theologe. Seit 1 888 Theologiestudium in Erlangen und Göttingen, 1 898 Promotion, 1 899 Habilitation in Gättingen, 1 904 a. o. Professor für Systematische Theologie in Göttingen, 1 9 1 4 o. Pro­ fessor in Breslau, 1 9 1 7 in Marburg, 1 929 Emeritierung. Otto und Troeltsch waren Mit­ glieder der "Freunde der Christlichen Welt" und standen in Briefkontakt. Nach dem Ersten Weltkrieg waren Troeltsch, Otto und Martin Rade Mitglieder der Verfassungge­ benden Preußischen Landesversammlung und politisch für die DDP in Preußen aktiv. Troeltsch besprach 1 9 1 8 in den "Kant-Studien" Ottos Buch über "Das Heilige". Paul, Hermann (7. August 1 846 - 29. Dezember 1 921). Germanist. Studium der germa­ nischen und romanischen Philologie in Berlin und Leipzig. Promotion 1 870 in Leipzig bei Friedrich Zarncke, 1 872 Habilitation, 1 874 a. o. Professor in Freiburg i. Br., 1 877 o. Professor, 1 893 in München, 1 9 1 6 Emeritierung. Troeltsch rezensierte 1 921 sein Buch "Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaften". Plenge, Johann (7. Juni 1 874 - 1 1 . September 1 963). Nationalökonom und Soziologe. Studium der Volkswirtschaft in Leipzig und Heidelberg, 1 898 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig bei � Karl Bücher, 1 903 Habilitation in Leipzig, 1 903-1 905 Forschungs­ aufenthalt in den USA, 1 909 a. o. (Titular-)Professor in Leipzig, 1 9 1 3 o. Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften in Münster, 1 920 Begründer und Leiter des staatswissenschaftlichen Unterrichtsinstituts in Münster, dort 1 923 Honorarprofessor und Leiter des Forschungsinstituts für Organisationslehre und vergleichende Soziolo­ gie, 1 935 Zwangsemeritierung. Seit 1 9 1 5 standen Plenge und Troeltsch in Briefkontakt. 1 9 1 7 besprach Troeltsch ausführlich Plenges 1 9 1 6 erschienenes Buch " 1 789 und 1 9 1 4. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes". Rachfahl, Felix (9. April 1 867 - 1 5. März 1 925) . Historiker. 1 886 Studium der Geschichts-, Staats- und Rechtswissenschaften in Breslau und Berlin, 1 890 Promotion zum Dr. phil. in Breslau, danach weitere Studien in Berlin, v. a. bei � Gustav Schmoller, und Breslau, 1 893 Habilitation für Mittlere Geschichte in Kiel, 1 898 a. o. Professor in Halle, 1 903 o. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte in Känigsberg, 1 907 o. Professor für Neuere Geschichte in Gießen, 1 909 in Kiel, 1 9 1 4 i n Freiburg i . Br. Rachfahl auf der einen, Max Weber und Troeltsch auf der anderen Seite führten 1 909/ 1 0 eine polemisch akzentuierte Debatte um die Plausibilität der "Weber-Troeltsch-These" und die Bedeutung religiäser Orientierung bei der Entstehung der Moderne.

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Radowitz, Joseph von (1 9. Mai 1 839 - 1 6. Januar 1 9 1 2). Diplomat. 1 86 1 im diplomati­ schen Dienst Preußens in der Gesandtschaft in Konstantinopel, 1 862 Legationssekre­ tär in China und Japan, 1 864 Geschäftsführer des Generalkonsulats in Shanghai, 1 865 Wechsel zur preußischen Botschaft in Paris, im Krieg 1 866 Ordonnanzoffizier des Prin­ zen Friedrich Karl von Preußen, 1 867 in der Gesandtschaft in München, 1 870 Gene­ ralkonsul in Bukarest, 1 872 Referent für orientalische Angelegenheiten im Auswärti­ gen Amt, 1 875 Vertreter des erkrankten deutschen Botschafters in St. Petersburg, 1 879 kommissarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt, 1 880 Verwalter der Botschaft in Paris, 1 882 Botschafter in Konstantinopel, 1 89 1-1 908 Botschafter in Madrid. Ranke, Leopold (seit 1 865) von (21 . Dezember 1 795 - 23. Mai 1 886) . Historiker. Seit 1 8 1 4 Studium der evangelischen Theologie und Philologie in Leipzig, 1 8 1 7 Promotion zum Dr. phil., 1 8 1 8 Licentiat in Theologie und Geschichtslehrer am Gymnasium in Frankfurt an der Oder, 1 825 a. o. Professor für Geschichte in Berlin, 1 832 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1 834 o. Professor in Berlin, 1 87 1 Emeritie­ rung. 1 858 Gründungsmitglied und erster Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bereits als Student las Troeltsch Rankes "Weltgeschichte" . Rathenau, Walther (29. September 1 867 - 29. Juni 1 922) . Industrieller, Politiker und Publizist. Studium der Chemie und Physik in Straßburg und Berlin, 1 889 Promotion zum Dr. phil. in Berlin. Seit 1 899 Mitglied des AEG-Vorstands, seit 1 907 des AEG­ Aufsichtsrats, seit 1 9 1 5 dessen Präsident, während des Krieges Leiter der Kriegsroh­ stoffabteilung im preußischen Kriegsministerium, 1 9 1 9 Mitglied der DDP, als Sachver­ ständiger Teilnahme an der Friedenskonferenz 1 9 1 9, an der Konferenz von Spa 1 920 und an der Vorbereitung der Londoner Konferenz 1 92 1 , von Juni bis Oktober 1 921 Wiederaufbauminister und von Januar 1 922 bis zu seiner Ermordung Reichsaußenmi­ nister. Im April 1 922 schloß Rathenau mit der russischen Delegation in Genua den Rapallo-Vertrag. Über die Mitgliedschaft in der "Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4", im De­ mokratischen Klub und anderen politischen Gruppen hinaus unterhielten Rathenau und Troeltsch enge persönliche Kontakte. Troeltsch rezensierte 1 922 Rathenaus Buch "Von kommenden Dingen" ausführlich in der "Vossischen Zeitung". Im Juni 1 922 wur­ de Rathenau in Berlin von rechten Republikgegnern ermordet. Troeltsch hielt die Ge­ denkrede bei der Trauerfeier der Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4. Ratzel, Friedrich (30. August 1 844 - 9. August 1 904). Geograph. Ab 1 866 Studium der Naturwissenschaften in Karlsruhe und Heidelberg, 1 868 dort Promotion mit einer Arbeit aus der Zoologie, danach Studienreisen nach Italien, Ungarn, Nord- und Süd­ amerika und Tätigkeit als Reiseschriftsteller, 1 87 1 Studium der Geographie in München, 1 875 Habilitation für Geographie in München, 1 876 a. o. Professur an der Technischen Hochschule in München, 1 880 o. Professor, 1 886 in Leipzig, 1 904 Emeritierung, Mit­ glied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Reiswitz, Johann Albrecht Freiherr von (8. Juli 1 899 - 25. Juli 1 962) . Historiker. Nach dem Kriegsdienst seit 1 9 1 8 Studium der Philosophie, Biologie und Medizin in Berlin, August 1 922 Promotion zum Dr. phil. in Berlin bei Troeltsch, nach Studienreisen auf

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Biogramme

dem Balkan 1 936 Habilitation in München, 1 942 Universitätsdozent in München, 1 948 apl. Professor für Südosteuropäische Geschichte. Renan, Eroest (27. Februar 1 823 - 2. Oktober 1 892). Orientalist, Religionshistoriker und Schriftsteller. 1 838 Studium der katholischen Theologie, Philosophie und Philolo­ gie im Seminar Saint-Nicolas-du-Chardonnet in Paris, 1 841 im Seminar von Issy, 1 843 im Priesterseminar von St. Sulpice in Paris, 1 845 Austritt kurz vor der Subdiakonatswei­ he, 1 860/61 Orientaufenthalt im Auftrag der französischen Regierung, 1 862 Berufung zum Professor für semitische Sprachen am College de France, 1 863 unter dem Sturm der Entrüstung über sein Buch "La Vie de Jesus" Amtsenthebung, 1 870 Rehabilitie­ rung, o. Professor für orientalische Sprachen am College de France, 1 878 Mitglied der Academie Fran