Kritische Film- und Literaturedition: Perspektiven einer transdisziplinären Editionswissenschaft 9783110684476, 9783110684605, 9783110684735, 2022936766

The age of digitalization is opening up new opportunities for editing, modeling (of media genres), and presentation that

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German Pages 326 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Einführung
I. Theorie und Methodologie
Perspektiven einer transdisziplinären Editorik am Beispiel Literaturedition/Filmedition
Die Un-Ordnung der Dinge
Grenzbegehungen eines audiovisuellen Editionskonzeptes
Varianz in Literatur und Film
Zur Edition strikt inkrementeller Flows in Dokumenten: Text und (tonloser) Film
II. Archivpraxen und Kritische Filmografie
Philologische Aspekte der Filmarchivierung im Bundesarchiv
Werk-Netze Berlin Alexanderplatz
Namen – Credits – Autorschaft
III. Edition von Präskripten
Texte ‚behind the scenes‘
Zur Problematik der Edition von Filmskripten
IV. Digitale Filmeditorik
Zur konzeptuellen Modellierung kritischer Filmeditionen
Zur Entstehung von F. W. Murnaus Tabu: Die Edition der Outtakes
V. Sprache und Musik in der Filmedition
‚Hinaussynchronisiert‘
Den Unterschied macht die Forschung: ein Doppelplädoyer für das kritische Edieren von Ufa-Sprachversions- und NS-Vorbehaltsfilmen
Zum Umgang mit dem filmmusikalischen Erbe des deutschsprachigen Kinos
Anschriften
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Kritische Film- und Literaturedition: Perspektiven einer transdisziplinären Editionswissenschaft
 9783110684476, 9783110684605, 9783110684735, 2022936766

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Herausgegeben von Winfried Woesler

Band 51

Kritische Film- und Literaturedition Perspektiven einer transdisziplinären Editionswissenschaft Herausgegeben von Ursula von Keitz, Wolfgang Lukas und Rüdiger Nutt-Kofoth Redaktionelle Mitarbeit: Ulrich Rummel

De Gruyter

ISBN 978-3-11-068447-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068460-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068473-5 ISSN 0939-5946 Library of Congress Control Number: 2022936766 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin / Boston Satz: Ulrich Rummel, Düsseldorf Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt

Einführung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   1 I. Theorie und Methodologie Rüdiger Nutt-Kofoth Perspektiven einer transdisziplinären Editorik am Beispiel Literaturedition/Filmedition  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  11 Franziska Heller Die Un-Ordnung der Dinge. Digitalisierungs(ge)schichten: Medientheoretische Aspekte der digitalen Edition von analogen Filmen  .  .  .  .  .  .  31 Jürgen Keiper Grenzbegehungen eines audiovisuellen Editionskonzeptes  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  49 Ursula von Keitz, Wolfgang Lukas Varianz in Literatur und Film. Ein Versuch  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  57 Karl-Heinrich Schmidt, Frederik Schlupkothen, Britta Reppel, Laura Rehberger Zur Edition strikt inkrementeller Flows in Dokumenten: Text und (tonloser) Film  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   87 II. Archivpraxen und Kritische Filmografie Michael Hollmann Philologische Aspekte der Filmarchivierung im Bundesarchiv  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 119 Anna Bohn Werk-Netze Berlin Alexanderplatz. Perspektiven der Vernetzung mit Normdaten und Identifikatoren beim Online-Zugang zu Filmen  .  .  .  .  .  .  .  .  129 Natascha Drubek-Meyer Namen – Credits – Autorschaft. Politik und Gender als Aspekte des kritischen Filmografierens  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 165

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Inhalt

III. Edition von Präskripten Katrin Henzel Texte ‚behind the scenes‘. Regiebuch und Drehbuch im Kontext von Film- und Dramenedition  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 191 Kathrin Nühlen Zur Problematik der Edition von Filmskripten  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 203 IV. Digitale Filmeditorik Fabian Etling Zur konzeptuellen Modellierung kritischer Filmeditionen. Eine Annäherung am Beispiel der Varianzen im überlieferten Material zu D. W. Griffiths The Girl and Her Trust  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 225 Karin Herbst-Meßlinger Zur Entstehung von F. W. Murnaus Tabu: Die Edition der Outtakes. Eine transdisziplinäre Online-Publikation der Deutschen Kinemathek  .  .  .  .  .  .  .  251 V. Sprache und Musik in der Filmedition Klaus S. Davidowicz ‚Hinaussynchronisiert‘. Die Ausblendung der Shoah und jüdischer Lebenswelten in deutschen Synchronfassungen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 275 Chris Wahl Den Unterschied macht die Forschung: ein Doppelplädoyer für das kritische Edieren von Ufa-Sprachversions- und NS-Vorbehaltsfilmen  .  .  .  .  .  293 Stefan Schmidl, Timur Sijaric Zum Umgang mit dem filmmusikalischen Erbe des deutschsprachigen Kinos. Ein neues Feld der historisch-kritischen Editionspraxis  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 307 Anschriften  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 319

Einführung

Der vorliegende Band diskutiert Ansätze und Möglichkeiten, die kritische digitale Filmedition als methodisch reflektierte Praxis für eine Neu- sowie zugleich für eine erweiterte Zugänglichmachung des filmischen Erbes zu entwickeln. Dabei werden editorische Methoden aus den Nachbardisziplinen, insbesondere der Literatur, aber auch der Theater- und Musikwissenschaft sowie der Medientechnik und Informatik, daraufhin befragt, inwieweit sie transdisziplinär für die Filmeditorik anschlussfähig sind. Die wechselseitige Problematisierung der je disziplinären editorischen Spezifika soll die Reflexion von Gemeinsamkeiten und Unterschieden fördern und damit einen Prozess einleiten, der die Editorik insbesondere der Film- und Literaturwissenschaft miteinander ins Gespräch bringt und darüber hinaus Anstöße zur Entwicklung einer transdisziplinären Editorik gibt. Die kritische Edition literarischer Texte ist eine jahrhundertealte Tätigkeit, während diejenige von Filmen sich erst in den Anfängen befindet. Das hat auch mit dem historischen Aufkommen der Objekte von Literatur- und Filmwissenschaft zu tun. Literarische Texte gibt es seit mehreren tausend Jahren, Filme erst seit knapp mehr als 100  Jahren. Die Sicherung des kulturellen Erbes in Form von Editionen betrifft aber beide Arbeitsgebiete. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die kritische Filmedition an dem Modell der in der germanistischen Literaturwissenschaft in den letzten 200 Jahren entwickelten ‚Historisch-kritischen Ausgabe‘ orientiert hat. Wichtige Grundfragen der germanistischen Editionswissenschaft betreffen gleichermaßen die editorische Filmwissenschaft, etwa die Frage nach der Herstellung/Rekonstruktion des Texts/Films, nach dem Umgang mit Fassungen, der Darstellung von Varianz, der Beschreibung der Überlieferung oder die Frage der Kommentierung. Zudem gibt es innerhalb des Überlieferungskomplexes eines Films eine Reihe an Dokumenten textueller Art, insbesondere die aus der Filmperspektive als ‚Präskripte‘ bezeichenbaren Drehbücher, aber etwa auch Entwürfe zu solchen Präskripten. Für diese würden Verfahrensweisen der historisch-kritischen Literaturedition in mancher Hinsicht Anwendung finden können. Zugleich prägen die ganz anderen medialen Rahmenbedingungen der Überlieferung von Literatur und Film den jeweiligen editorischen Zugriff. Die Herstellung von Handschriften und Drucken unterliegt gegenüber derjenigen von Filmen z. T. ganz differenten Bedingungen. Grundfragen der literaturwissenschaftlichen Editionswissenschaft wie die nach dem Verantwortlichen (Autor) und die damit einhergehenden Leitbegriffe von Autorisation und Authentizität stellen sich für die Filmedition ganz anders. Hinzu kommt der Aspekt des aktuellen historischen Medienwandels. (Historisch-)Kritisches Edieren befragt Werke des Filmerbes in der digitalen Ära in anderer Weise, als es bis-

https://doi.org/10.1515/9783110684605-001

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Einführung

her überwiegend der Fall war. Es bereitet die Ergebnisse dieser Befragung in einer spezifischen Form auf und hat folgende basale Prämissen zur Grundlage: Film ist ein lineares zeitbasiertes Medium, dessen Herstellung –  Präproduktion, Produktion und Postproduktion – Ergebnis kollektiver Arbeitszusammenhänge ist, in denen jeweils bestimmte ästhetische und technische Entscheidungen getroffen wurden. Diese Entscheidungen in Stoffentwicklung und Drehvorbereitung, im Drehprozess, in Montage und Kopierung haben sich in verschiedener Art und Weise abgelagert, haben verschiedene Arten von Dokumenten hervorgebracht, die ihrerseits in einem Überlieferungszusammenhang stehen. Der einzelne Film ist somit als Werkkomplex zu begreifen, zu dessen Bestandteilen sowohl – urheberrechtlich gesprochen – die vorbestehenden Werke wie z. B. Drehbücher als auch sämtliche a posteriori, d. h. nach Fertigstellung und Erstveröffentlichung vorgenommenen Änderungen gehören. Die Medienentwicklung der letzten Jahre bietet für eine solche (Neu-)Betrachtung einen günstigen Zeitpunkt. Fragen eines kritisch editorischen Umgangs mit dem filmischen Erbe stellen sich deshalb in anderer Form als bisher, weil die digitale Technologie und die Hypertextualität Möglichkeiten bereithalten, die in analogen Umgebungen, sei es im Buch oder mit der 35-mm-Kopie oder auch mit dem Digital Cinema Package (DCP) als materiellen Trägern und medialen Rezeptionsdispositiven, nicht möglich sind. In der gegenwärtigen Film- und Fernsehkultur sind zudem Bewegtbilder zunehmend entortet oder – anders ausgedrückt – örtlich entspezifiziert. Ihre Wahrnehmung findet im Kino, im Wohnzimmer, aber zunehmend auch jenseits dieser Orte statt. Ebenso ist die Rezeption weniger ein temporär strukturiertes soziales Ereignis, d. h. verknüpft mit einer Kinoaufführung oder Fernsehaufführung zu einer bestimmten Zeit. Wir können Filme in digitaler Form, zugänglich über Internetplattformen, auf dem Smartphone, Tablet oder Laptop, betrachten. Ihre Titel sind gelistet, ansteuerbar und landen, von Servern abgerufen, über Internetleitungen auf dem heimischen Bildschirm. Mit der Verlagerung ins Netz werden zudem genuin kuratierte bzw. redaktionell verantwortete Programme zu digitalen archivalischen Online-Formen, deren Zugangsweisen für den Nutzer grundsätzlich anders organisiert sind als die Programme von Kinos und linearem Fernsehen. Es sind katalogartige Oberflächen entstanden, aus denen die Betrachter als User digitaler Endgeräte eine Auswahl treffen können. Das Versprechen, sein eigener ‚Kurator‘ zu sein und nach Interesse auswählen zu können, leitet die Geschäftsstrategie der Video-on-demand-Plattformen, die ihr Angebot zumeist gemäß grober Genre-Klassifizierungen strukturieren, die allgemein geteilt werden (wie z. B. Kinderfilm, Science-Fiction, Komödie etc.). Diese die Distribution und Rezeption von Filmen spürbar verändernde Entwicklung der letzten ca. 10 Jahre, die eben auch neue Nutzererwartungen und -bedürfnisse und eine bestimmte Art von Ansprache bzw. Adressierung generiert, hat – mit Verzögerung und in geringerem Maße als die aktuelle Produktion – auch das historische filmische Erbe erfasst. Mit anderen Worten, kritisches digitales Edieren bringt grundsätzlich die Rezeptionsseite, also das Archiv, Editoren und Nutzer, in eine andere Beziehung zueinander. Im Kino herrschen die Zeitlichkeit und Logik der Projektionsmaschine, der sich das Publikum für die Vorführdauer eines Films überlässt. Die im Rahmen der kritischen Edition vorgenommene Öffnung eines gegebenen Films hin auf seine Voraussetzungen,

Einführung

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Entwicklungs- und Produktionsetappen ebenso wie seine historische Kontextualisierung sistieren die Zeitlichkeit der Maschine zugunsten von Optionen, die den Film als offenes, fluides audiovisuelles Konstrukt in Erscheinung treten lassen. Neu-Zugänglichmachung und vor allem auch Bereithalten von Werken des filmischen Erbes jenseits von Aufführungen im Kino oder auf spezialisierten Festivals, auf der Basis restaurierter Filmfassungen, erfolgten in den vergangenen zwei Jahrzehnten dominant über die DVD. Diese ist freilich hinsichtlich ihrer Programmierung und damit auch ihrer Gebrauchsdimensionen ein eher buchförmiges Medium, das seinen Inhalt in Kapitel und Unterkapitel gliedert und diese Gliederung meist linear sowohl für das Hauptprogramm als auch für das sog. Bonusmaterial strukturiert. In aller Regel gibt es kaum Verknüpfungsmöglichkeiten der verschiedenen Tracks. Material- und fassungssensible Editionen, wie z. B. diejenigen der edition filmmuseum,1 der arte-Edition und von Hyperkino bei absolut medien,2 von transit Classics oder Universum,3 international z. B. die Reihe Film & Text des Filmarchivs Austria,4 die Editionen der Criterion Collection,5 des British Film Institute6 oder der Reihe der Cineteca Bologna,7 ermöglichen zwar einen vertieften Umgang mit historischen Filmen oder Filmen der jüngeren Vergangenheit aus den internationalen Archiven, indem sie nötiges Wissen zum historisch adäquaten Verständnis älterer Filme zur Verfügung stellen – das betrifft sowohl kulturelles Wissen als auch ästhetisches Wissen sowie Wissen um Herstellungspraktiken. Jedoch orientieren sich diese Editionen nach wie vor dominant an der Trennung von Hauptfilm und Bonusmaterialien. Ansätze zur Überwindung dieser Praxis finden sich bislang nur vereinzelt – und konnten bedauerlicherweise aufgrund einschränkender medientechnischer Realisierung (mittels proprietärer Softwarelösungen) nicht modellbildend werden.8 Die Hoffnungen richten sich somit vermehrt auf Online-Formate, die potentiell nicht nur problemlose Zugänglichkeit und Nutzerfreundlichkeit, sondern vor allem auch eine verbesserte Nachhaltigkeit versprechen.

Die Beiträge dieses Bandes Unser Band nähert sich seinem Thema in fünf Rubriken. Eine erste ist theoretischen und methodischen (Vor-)Überlegungen gewidmet. Der Eröffnungsbeitrag von Rüdiger Nutt-Kofoth entwickelt programmatisch Perspektiven einer transdisziplinären Editorik und erörtert sowohl grundlegende Gemeinsamkeiten als auch Differenzen zwischen Literatur- und Filmeditorik. Inter- bzw. plurimediale Werkkomplexe, die das 4 5

Vertriebsort dieser Reihe, an der elf internationale Filmarchive beteiligt sind, ist Köln. Vertriebsort dieser Reihe ist Berlin. Vertriebsort ist München. Vertriebsort ist Wien. Gegründet 1984 als Joint Venture der Firmen Janus Films und Voyager Company. Vertriebsort ist New York City. 6 Vertriebsort ist London. 7 Vertriebsort ist Bologna. 8 Als Beispiel sei hier die von Enno Patalas und Anna Bohn besorgte kritische DVD-Studienfassung von Metropolis genannt, herausgegeben vom Filminstitut der Universität der Künste Berlin, 2005, die einen Teil ihrer Materialien nur über die Spezialsoftware DVD@ccess verfügbar macht. 1 2 3

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Einführung

Zusammenwirken beider editorischen Teildisziplinen erfordern, bieten ein ideales Objekt, um im Anschluss deren jeweilige Aufgaben, Methoden und Herausforderungen zu diskutieren. Am Beispiel des Berlin-Alexanderplatz-Werkkomplexes werden vor allem grundsätzliche Aspekte der Autorisation problematisiert. Franziska Heller widmet sich in ihrem Beitrag medientheoretischen Aspekten und insbesondere der Frage, wie mit der Remediation von analogen Filmen in digitalen editorischen Wiederaufnahmen ‚Geschichte‘ konstruiert wird und welche Erfahrungs- und Erkenntnisräume damit eröffnet werden. Herstellung und Vertrieb des Mediums DVD haben filmrestauratorisches und quellenphilologisches Wissen zur Grundlage, aber es stellt sich die Frage nach der Autorisierung der Edition und nach der Äußerungsinstanz der „verräumlichten“ Darbietung eines Filmwerks; die „Un-Ordnung“ resultiert aus dem oft nicht transparenten Netz von beteiligten Faktoren wie Überlieferungslage und Material, Archiven, Kuratoren, Geräteproduzenten, Finanzierungsinstanzen sowie Einflussnahmen von Erinnerungs- und Kulturpolitiken, was insbesondere Konsequenzen für Forschung und Lehre mit Artefakten hat, die sich häufig einer Bestimmung der historischen Referenzmaterialien entzogen haben. Jürgen Keiper benennt seinerseits zunächst zentrale Voraussetzungen einer kritischen Editionspraxis für den Film, wie u. a. eine systematische und standardisierte filmografische Bestandsaufnahme auf (inter)nationaler Ebene, wie sie erst seit kurzem überhaupt möglich ist. Er diskutiert sodann den für den Film spezifischen, seinem „Doppelcharakter“ als industriellem Produkt und Kunstwerk geschuldeten Fassungspluralismus und schlägt für dessen adäquate Dokumentation im Rahmen einer Edition das der Informationswissenschaft entnommene Life-cycle-Konzept der Ontologien vor, das die unterschiedlichsten Ausprägungen eines gegebenen Films in einem einheitlichen Datenmodell zu beschreiben erlaubt. Die Entstehung unterschiedlicher Typen von Varianz im Zuge des filmischen Produktionsprozesses und deren editorische Behandlung bilden den Gegenstand des Beitrags von Ursula von Keitz und Wolfgang Lukas. Gegenüber der Literatur erweist sich die Varianzproblematik beim Film als erheblich komplexer, nicht allein aufgrund seiner sich über drei völlig unterschiedliche Produktionsphasen – Präproduktion, Produktion (Dreharbeiten) und Postproduktion – erstreckenden Herstellung. Im Zusammenhang damit sind auch etablierte Begrifflichkeiten und Kategorien wie die der Autorschaft, des Originals oder der Fremd- und Überlieferungsvarianz (und deren Relation zueinander) neu zu überdenken. Den Abschluss dieser ersten Rubrik bildet der dokumenttheoretische Beitrag von Karl-Heinrich Schmidt, Frederik Schlupkothen, Britta Reppel und Laura Rehberger. Ausgehend von der Tatsache, dass textliche Buchstabenfolgen ebenso wie filmische Bildfolgen auf „strikt inkrementell rezipierende Beobachter“ ausgelegt sind, werden die jeweiligen Inhaltsarchitekturen ‚text‘ und ‚video‘ vergleichend untersucht und Kriterien für die Leserlichkeit bzw. Betrachtbarkeit einer Text- bzw. Filmedition formuliert. Dabei wird ein der digitalen Dokumententheorie entnommenes abstraktes, weder text- noch filmspezifisches Begriffsinstrumentarium genutzt. Die zweite Rubrik widmet sich Archivpraxen und kritischer Filmografie als weiteren Voraussetzungen jeglichen filmeditorischen Handelns. Michael Hollmann diskutiert

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aus der Sicht des Bundesfilmarchivs die Frage, inwieweit bei der Film­archivierung philologische Aspekte überhaupt zum Tragen kommen (können), und erblickt im digitalen Medienwandel die Bedingung und Chance eines neuen ‚philological turn‘. Denn nicht nur lässt sich die Komplexität der Überlieferungssituation durch die Entkoppelung von Sicherungsmedium (nunmehr einheitlich digital) und analogen, im Einzelnen sehr heterogenen originalen Trägermedien deutlich reduzieren, sondern auch sämtliche analogen Ausgangsmaterialien, die bislang – war eine vorführbare Kopie einmal erstellt – ihrem materiellen Schicksal überlassen wurden, können jetzt pro­ blemlos gesichert werden. Zugleich wird damit das Ziel der Filmarchivierung von der Herstellung einer zwar vorführfähigen, in philologischer Hinsicht freilich nur zu oft unbefriedigenden neuen Fassung, die das überlieferte filmische Werk nunmehr repräsentiert, auf die digitale Sicherung sämtlicher relevanten Materialien verschoben – die Konstitution von Fassungen obliegt nun nicht mehr dem Archiv. Den Regeln und Konventionen bibliothekarischer Metadatenerfassung widmet sich Anna Bohn und kritisiert eine nach wie vor herrschende Fixierung auf die schrifttextliche Überlieferung, was zu einer unangemessenen Verzeichnung filmischer Werke führe. Demgegenüber zeigt sie auf, wie auf der Basis einer Definition von ‚Werk‘ als Entität im Kontext eines Entity-Relationship-Modells semantischer Datenmodellierung ganz unterschiedliche Arten von Werken – textuelle, auditive oder audiovisuelle – als gleichwertige Entitäten betrachtet werden können. Am Beispiel des Berlin-Alexanderplatz-Werkkomplexes erprobt sie zudem die Anwendbarkeit der soziologischen Akteur-Netzwerk-Theorie auf filmische Werke, die dergestalt als „Knotenpunkte [eines] Wissensnetzwerks“ erscheinen, und formuliert Empfehlungen für die Verwendung von Normdaten und Identifikatoren im Hinblick auf wissenschaftliche multimediale Editionen. Natascha Drubek-Meyer widmet sich in ihrem Beitrag Problemen des kritischen Filmografierens, wobei sie auf das häufige Phänomen rekurriert, dass in Filmvorspännen explizierte Stab- und (teils auch) Darstellerinnen- bzw. Darstellerangaben nicht oder nur unvollständig die tatsächliche Beteiligung von Filmschaffenden an der Produktion wiedergeben. Häufig war und ist dies politisch instruiert – so in den 1930er/40er Jahren aus rassistischen Gründen mit der Tilgung jüdischer Filmschaffender aus europäischen Stablisten – oder sexistisch, indem etwa die autorschaftliche Beteiligung von Frauen an einem Filmwerk bzw. deren genaue Rolle verleugnet wurde. Hier eröffnet sich für die kritische Edition ebenso wie schon für die korrekte archivalische Film-Katalogisierung ein durch Gender-, Minoritäten- und Migrationsforschung zu inspirierendes Aufgabenfeld, was Drubek-Meyer an den Beweisfilmen zum Holocaust aus den 1940er Jahren exemplifiziert. Die Beiträge der dritten Rubrik befassen sich mit der Edition der papierenen (präskriptiven) Dokumente aus der Vorproduktion. Katrin Henzel vergleicht in ihrem Aufsatz Texte ‚behind the scenes‘ das Verhältnis von Regiebüchern aus der Theaterpraxis und Drehbüchern. Drama und Drehbuch werden dabei als Textsorten aufgefasst, die sich gleichermaßen erst in einer Inszenierung und Aufführung realisieren und als solche präskriptiv sind. Mit der Differenzierung verschiedener paratextueller Elemente im Dramentext (sowohl textimmanenter Peritexte als auch textexterner Epitexte) stellt sich

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Einführung

die Frage nach parallelen Strukturen in Drehbüchern, was wiederum Folgen für deren adäquate Darstellung in Editionen hat. Dabei plädiert Henzel dafür, den intermedialen und hybriden Charakter von Drama und Film zu berücksichtigen. Kathrin Nühlen setzt sich in ihrem Beitrag Zur Problematik der Edition von Filmskripten kritisch mit bestehenden Varianten der Veröffentlichung von Drehbüchern auseinander, die als vorbestehende Werke zu Filmen genuin nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren bzw. sind. Häufig bleibt bei Veröffentlichungen der philologische Status des Textes unklar. Im Rahmen von Produktionsstudien stellen Drehbücher elementare Quellen für die Rekonstruktion künstlerischer Entscheidungsprozesse bei der audiovisuellen Realisation eines Films dar, wissenschaftliche Editionen böten zudem eine wichtige Grundlage zur Erforschung der sich wandelnden Modi des Schreibens für den Film als einer zunehmend normativ gehandhabten „Technik“. Die vierte Rubrik widmet sich ganz spezifisch den theoretischen Konzepten und Methoden der digitalen Filmeditorik und diskutiert diese anhand von Beispielmaterial aus der Stummfilmära. Ausgehend von der Feststellung, dass für die formale Repräsentation von Kategorien und Begriffen des „filmischen Diskursuniversums“ nach wie vor adäquate Modelle fehlen, prüft Fabian Etling zunächst die Eignung von eta­ blierten Modellen standardisierter Metadatenerfassung wie FRBR und EN 15907. Am Beispiel von David W. Griffiths The Girl and Her Trust (1912) entwickelt er sodann ein Editionsszenario speziell im Hinblick auf die Erstellung eines prototypischen Variantenapparats, der Fassungsvergleiche anhand der Analyse der Einstellungssegmente und Bildkader ermöglicht. Karin Herbst-Messlingers Beitrag zur digitalen Edition der Outtakes von Tabu rekonstruiert zunächst die bewegte Entstehungsgeschichte von Murnaus letztem Film, dessen Premiere im März 1931 der Regisseur nicht mehr erlebt hat. Die im Beitrag vorgestellte, von der Deutschen Kinemathek besorgte Online-Edition der Outtakes, d. h. jener umfangreichen Materialien, die für die Endfassung von Tabu nicht verwendet wurden, jedoch (was selten genug vorkommt) überliefert sind, bietet einen höchst anschaulichen Einblick in Murnaus künstlerische Entscheidungen. Indem sie nicht nur die Totalität der überlieferten Outtakes ediert, sondern diese darüber hinaus modellhaft verknüpft mit dem Drehbuch, das Murnau am Set benutzte, sowie mit den Tagesberichten, die den gesamten Drehprozess für den Nutzer nachvollziehbar machen, stellt diese Online-Edition eines der raren Beispiele einer historisch-kritischen Filmedition dar. Die fünfte und letzte Bandrubrik erörtert schließlich spezielle Herausforderungen, die Sprache und Musik der Filmedition stellen. Klaus S. Davidowiczs Beitrag zu den deutschen Synchronfassungen internationaler Spielfilme in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg geht den aus politischen Gründen teils gravierenden Verfälschungen filmischer Inhalte nach, die sich der Strategie von Verleihern verdankten, das deutsche Publikum in den 1950er Jahren nicht mit den Verbrechen des Holocausts und des Zweiten Weltkrieges zu konfrontieren. Dies gilt insbesondere für US-amerikanische Kriegsfilme, aber auch für Filme aus den 1950er bis 1970er Jahren, in deren Mittelpunkt jüdische Lebenswelten stehen. Ein besonders augenfälliges Beispiel ist Sidney Lumets The Pawnbroker (USA 1964), dessen deutsche Fassung um 15 Minuten gekürzt und dessen Rückblendenstruktur massiv verstümmelt wurde. Verantwortlich

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Einführung

für die Verfälschungen und Verstümmelungen waren – wie hier – häufig Akteure, die bereits in der NS-Zeit im Filmgeschäft tätig gewesen waren. Chris Wahl kritisiert den bislang vor allem nach kommerziellen Erwägungen erfolgenden Modus der Re-Edition von Werken des filmischen Erbes, die keineswegs ausschöpfen, was mit digitaler Technologie möglich wäre. Am Beispiel zweier Filmgruppen, den Multilinguals, d. h. Mehrsprachenversionstonfilmen der frühen Tonfilm­ ära, und den sog. Vorbehaltsfilmen aus der Zeit der NS-Diktatur, weist Wahl auf die bestehenden Defizite sogenannter kritischer Editionen hin und empfiehlt anhand von zwei Filmen aus beiden Gruppen eine vertiefende Editionspraxis, die sowohl in der Lage wäre, philologisch exakt die Fassungsvarianzen abzubilden, als auch zitierende Verwendungsweisen von Filmsequenzen in anderen Filmen transparent zu machen. Den Band beschließt der Beitrag von Stefan Schmidl und Timur Sijaric zu den editorischen Herausforderungen im Umgang mit dem filmmusikalischen Erbe. Während Klangeditionen von Filmmusik kanonischer Werke durchaus existieren, sei es in Gestalt von Neueinspielungen oder originaler bzw. re-masterter Soundtracks, hat sich die textuelle Edition von Filmmusik bislang noch kaum etabliert, auch da, wo originales Notenmaterial überliefert ist. Anhand von drei Beispielen aus der im Filmarchiv Austria aufbewahrten Sammlung von Filmmusikpartituren, die die Autoren in der neugegründeten Reihe Filmmusik in historisch-kritischen Editionen edieren, werden die Kriterien für eine wissenschaftliche Aufbereitung dieser Quellen diskutiert und die sich damit ergebenden neuen interpretatorischen Perspektiven auf das filmische Erbe aufgezeigt. Der vorliegende Band wurde durch eine interdisziplinäre Tagung gleichen Titels vorbereitet, die vom 17. bis 19. Januar 2019 in der Berliner Akademie der Künste von den Unterzeichnenden durchgeführt wurde. Die Tagung wurde vom Wuppertaler DFG-Graduiertenkolleg 2196 „Dokument – Text – Edition. Bedingungen und Formen ihrer Transformation und Modellierung in transdisziplinärer Perspektive“ und der Kommission für allgemeine Editionswissenschaft der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition ideell und finanziell unterstützt. Für die weitere finanzielle Förderung der Tagung ist der Akademie der Künste, Berlin, und der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam, zu danken. Ulrich Rummel hat höchst umsichtig und sorgsam die Redaktion mitbetreut und den Satz für den vorliegenden Band hergestellt. Ihm gilt ein besonderer Dank. Potsdam/Wuppertal, im Dezember 2021 Ursula von Keitz, Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth

I. Theorie und Methodologie

Rüdiger Nutt-Kofoth

Perspektiven einer transdisziplinären Editorik am Beispiel Literaturedition/Filmedition

Wenn ein Beitrag verspricht, über Methoden und Begriffe eines Wissenschaftsgebiets nachzudenken, kann er nicht umhinkommen, dieses Wissenschaftsgebiet selbst möglichst präzise zu benennen. Und schon hier beginnt für die veranschlagte Thematik der erste Klärungsbedarf, der keineswegs nur dadurch erzeugt ist, dass das Wissenschaftsgebiet das Attribut ‚transdisziplinär‘ trägt. Diese Charakterisierung macht wohl eine zusätzliche Befragung notwendig. Doch liegt ihr schon eine andere, grundsätzlichere zugrunde. Diese ist zwar schon allein durch die – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften –‚unpräziseren‘, weil im Wesentlichen nicht empirisch oder experimentell, sondern argumentativ gegründeten Geisteswissenschaften notwendig, weist für den Fall der Editorik jedoch eine zusätzliche Ebene auf, die sich durch den je spezifischen Status, der dem editorischen Feld zugewiesen wird, generiert. Diese Spezifik nimmt der vorliegende Beitrag zum Ausgangspunkt, um in vier Frageschritten sein Thema schlaglichtartig zu beleuchten. Nach der Grundfrage (1) Was ist eine transdisziplinäre Editorik? stellt sich die Frage nach ihren Inhalten: (2) Was sind Aufgaben und Methoden der Editorik in transdisziplinärer Perspektive? Diese Frage soll anschließend am Beispiel der in diesem Band im Vordergrund stehenden disziplinären Objekte exemplifiziert werden: (3) Was sind gemeinsame und was sind divergente Elemente der editorischen Film- wie der editorischen Literaturwissenschaft? Schließlich sollen diese durch ihre je eigentümlichen medialen Bedingungen gekennzeichneten Objekte auf eine Reformulierung editorischer Verständnisse hin bedacht werden, also (4) Welche Herausforderungen stellen intermediale und plurimediale Werkkomplexe an die Editorik?

1. Was ist eine transdisziplinäre Editorik? Fast schon notorisch ist der bis in die Gegenwart nicht vereindeutigte Status der ­Editorik.1 Schon die divergierenden Namensgebungen für dieses Gebiet in der Ger­ manistik – nämlich Editionstechnik, Editionsphilologie, Editionswissenschaft, Textologie – zeugen in ihren je unterschiedlichen Akzentsetzungen von differenten Wertigkei Siehe zu dieser Fragestellung ausführlicher Rüdiger Nutt-Kofoth: Philologie, Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft. In: Die Herkulesarbeiten der Philologie. Hrsg. von Sophie Bertho und Bodo ­Plachta. Berlin 2008, S. 25–44, bes. S. 25–35. – Überlegungen zur disziplinären Einordnung der Editorik bei dems.: Germanistische Editorik: disziplinärer Kern, disziplinäre Peripherie? Zum wissenschaftssyste­ mischen Ort des Editorischen und zu dessen disziplininterner Wertigkeit in Positivismus und Geistes­ geschichte. In: Interdisziplinarität und Disziplinenkonfiguration: Germanistik 1780–1920. Hrsg. von Marcel Lepper und Hans-Harald Müller. Stuttgart 2018 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik. 8), S. 107–123, hier bes. S. 121–123.

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https://doi.org/10.1515/9783110684605-002

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ten: Sie schwanken zwischen Handwerk (Editionstechnik), Spezialteil der Philologie (Editionsphilologie), fachübergreifendem Wissenschaftsgebiet mit interdisziplinärer Ausrichtung (Editionswissenschaft) und eigenständigem, der interpretierenden Literaturwissenschaft vorgeschaltetem Arbeitsgebiet (Textologie). Und selbst die Frage des Verhältnisses von Teildisziplin und Disziplin und ihrer Benennung ist für den lange Zeit am häufigsten verwendeten Terminus ‚Editionsphilologie‘ nicht gänzlich geklärt, weil ‚Philologie‘ nicht nur historisch immer wieder mit ‚Editionsphilologie‘ in eins gesetzt wird. So erklärt Hans-Ulrich Gumbrecht ‚Philologie‘ in seinem wirkungsmächtigen Buch von 2003 Die Macht der Philologie als die „Identifizierung und Wiederherstellung von Texten der Vergangenheit“ und stellt eine solche Philologie zugleich in „eine gewisse Distanz [...] zu dem intellektuellen Raum der Hermeneutik und der Interpretation als hermeneutisch geprägtem Umgang mit Texten.“ Diese Philologie verstehe sich als ein „geduldiges Handwerk mit den Schlüsselwerten Sachlichkeit, Objektivität und Rationalität“.2 Eine extensive Definition von ‚Philologie‘ aus dem gleichen Jahr hat dagegen Axel Horstmann vorgelegt, die noch weit über den umfassenden germanistischen ‚Philologie‘-Begriff hinausgreift: Die Aufgaben der P[hilologie] als Wissenschaft reichen von der Ermittlung des authentischen Wortlauts literarischer Werke und ihrer (kritischen) Edition über die Analyse, Erklärung und Deutung der Texte in ihren jeweiligen geistes-, kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen bis hin zur Erforschung der geistigen Entwicklung und Eigenart eines ganzen Volkes und seiner Kultur auf der Grundlage seiner Sprache und Literatur. Die P[hilologie] berührt sich insofern mit Sprach- und Literaturwissenschaft sowie mit Geschichte und Philosophie, aber auch mit Poetik und Rhetorik und bildet damit eine Kern- und Schlüsseldisziplin der Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt.3

Beide Philologie-Verständnisse hat mit historischer Perspektive dann Nikolaus Wegmann schon 1994 als je eigenständige Zuschnitte von Wissenschaftsfeldern mit ganz differenten Schwerpunktsetzungen beschrieben: Der engere Begriff steht für eine Philologie, die nahe am Text bleibt, die sich konzentriert um Variantensammlung, Echtheitskritik, Stellenkommentar, Lexikographie und kritische Apparate, die litterärhistorische Literaturlisten erstellt oder biographische Forschung betreibt. Der weitere Begriff dagegen bezieht sich auf eine Philologie, in deren Mittelpunkt die Exegese bzw. die Interpretation steht und die entsprechend unscharf von Literaturgeschichte und Literaturkritik getrennt ist.4 Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt/Main 2003, S. 12 f. 3 A[xel] Horstmann: Philologie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Mitbegründet von Walter Jens. In Verbindung mit Wilfried Barner u. a. Unter Mitwirkung von mehr als 300 Fachgelehrten. Bd. 6: Must–Pop. Tübingen 2003, Sp. 948–968, hier Sp. 948. – Die ältere Version: A[xel] Horstmann: Philologie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitwirkung von mehr als 1200 Fachgelehrten. In Verbindung mit Günther Bien u. a. hrsg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer. Völlig neubearb. Ausgabe des ‚Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‘ von Rudolf Eisler. Bd. 7: P–Q. Darmstadt 1989, Sp. 552–572. 4 Nikolaus Wegmann: Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Mit Beiträgen von Uwe Meves u. a. Stuttgart, Weimar 1994, S. 334–450, hier S. 342. 2

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Solche nebeneinanderstehenden Zugriffe auf disziplinäre Entitäten am Beispiel der Philologie sind auch deshalb nicht nur Muster für die Unschärfe von Disziplinenkonfigurationen im Bereich der Literaturwissenschaften, sondern sie betreffen auch die beiden anderen in diesem Band vertretenen Disziplinen. Jedenfalls ist es sprechend, dass in beiden Fächern analog betitelte Einführungen vorgelegt worden sind. Für die Filmwissenschaft ist dies Klaus Kanzogs Einführung in die Filmphilologie von 1991,5 die eher einen extensiven Philologie-Begriff vertritt, dessen Spannweite Martin Koerber 2013 zwischen den „Methoden und Modellen der Textwissenschaft“ und „denen der Denkmalpflege“ situiert hat.6 In der Musikwissenschaft erschien 1987 der Band Musikphilologie von Georg Feder mit dem überwiegend auf das Editorische verweisenden Untertitel „Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik“,7 dem wiederum 2017 der mit gleicher Zielrichtung agierende, nun ausschließlich auf Editorisches zielende handbuchartige Sammelband Musikphilologie von Bernhard R. Appel und Reinmar Emans8 gefolgt ist. Die Namensgebung der Disziplinen ist daher zum einen immer mit einer Inhaltsdifferenzierung verbunden, zum anderen aber nicht davor gefeit, durch synonyme oder eben nur pseudosynonyme Bezeichnungen Verständigungsschwierigkeiten in der Taxonomie der Wissenschaftsordnung herbeizuführen. Um dem für die hier in Rede stehende disziplinäre Frage wenigstens ein Stück weit zu entgehen, sei im Folgenden eine im Vorigen noch nicht genannte, bisher auch nicht klassifikatorisch benutzte Bezeichnung verwendet, nämlich ‚Editorik‘. Das soll nun nicht noch weiter verwirren, sondern dient allein dem heuristischen Verfahren, eine von den Implikationen der vorgenannten Namen unabhängige Benennung verwenden zu können, um das veranschlagte Thema – zumindest vorerst – vorannahmenärmer betrachten zu können. Die verschiedenen Bezeichnungen für das editorische Feld segmentieren nun aber nicht nur die Wissenschaftsgebiete in je unterschiedlichem Maße, sondern sie kreuzen sich mit weiteren Schnitten durch die Ordnung der Wissenschaft. Die jüngere Wissenschaftsforschung hat nämlich hinsichtlich der Disziplinensystematik darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen ‚Disziplin‘ als abgrenzbarem größeren Wissensgebiet und ‚Fach‘ als durch Institute, Studiengänge und Curricula an Universitäten etablierter Organisationseinheit unterschieden werden sollte.9 Diese Differenzierung ist schon ­allein deshalb wichtig, weil es seit den 1990er Jahren einige wenige Studiengänge zur Klaus Kanzog: Einführung in die Filmphilologie. Mit Beiträgen von Kirsten Burghardt, Ludwig Bauer und Michael Schaudig. München 1991 (diskurs film. 4); 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. 1997. 6 Martin Koerber: Bewegte Bilder. Filmarchiv und Filmedition. In: Im Dickicht der Texte. Editionswissenschaft als interdisziplinäre Grundlagenforschung. Hrsg. von Gesa Dane, Jörg Jungmayr und Marcus Schotte. Berlin 2013 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 12), S. 225–232, hier S. 227. 7 Georg Feder: Musikphilologie. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Edi­ tionstechnik. Darmstadt 1987 (Die Musikwissenschaft). 8 Musikphilologie. Hrsg. von Bernhard R. Appel und Reinmar Emans. Laaber 2017 (Kompendien Musik. 3). 9 Siehe dazu Heinz Heckhausen: „Interdisziplinäre Forschung“ zwischen Intra-, Multi- und Chimären-­ Disziplinarität. In: Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie. Hrsg. von Jürgen Kocka. Frankfurt/Main 1987, S. 129–145, bes. S. 129–131. – Sebastian Manhart: Disziplin, Fach und Studiengang. Grundbegriffe der Disziplingeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 13, 2007, S. 14–20. – Ders.: In den Feldern des Wissens. Studiengang, Fach und disziplinäre Semantik in den Geschichts- und Staatswissenschaften (1780–1860). Würzburg 2011 (Wittener kulturwissenschaft­liche Studien. 9), bes. S. 71–123 (Kapitel „Disziplinen als semantische Felder“). 5

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Editorik mit unterschiedlichen Bezeichnungen gibt bzw. gegeben hat. Vom Anfang der 1990er Jahre bis Mitte der nuller Jahre des 21. Jahrhunderts gab es in Osnabrück einen Aufbaustudiengang „Editionswissenschaft“. An der FU Berlin war bis vor Kurzem noch der gleichnamige weiterbildende, 2003 auf den Weg gebrachte Master-Studiengang gelistet, allerdings wurden schon seit einiger Zeit keine Studienplätze mehr angeboten. Aktuell existieren an der Universität Heidelberg ein Master-Studiengang „Editionswissenschaft und Textkritik“ (seit 2008) sowie an der Universität Wuppertal ein Master „Editions- und Dokumentwissenschaft“ (seit 2010), in Bern wiederum ein Master „Editionsphilologie“ (seit 2011). Von 1996 bis 2002 bestand zudem an der LMU München das Graduiertenkolleg „Textkritik“, an der Universität Wuppertal läuft seit 2016 das Graduiertenkolleg „Dokument – Text – Edition“. Des Weiteren existieren an mehreren Universitäten interdisziplinäre editionswissenschaftliche Zentren, und in Heidelberg gibt es seit 1994 das als eingetragener Verein firmierende ‚Institut für Textkritik‘. Ohne jeden Zweifel gehören all diese auf divergente Fachnamen zielenden Einrichtungen zu einem einzigen Wissensfeld, nämlich dem der Editorik. Auffällig ist nun, dass alle genannten Einrichtungen und die mit ihnen annoncierten Fächer traditionelle Fachgrenzen überschreiten und mindestens innerhalb der Geistesund Kulturwissenschaften Brücken schlagen, wenn nicht sogar – was die jüngeren unter diesen betrifft – ausdrücklich hin zur Medientechnologie/Informatik oder zu den Digital Humanities. Damit aber ist für das editorische Feld eine interdisziplinäre Grundhaltung festzustellen, die wiederum den disziplinären Status der Editorik grundsätzlich neu zu befragen geeignet ist. Das interdisziplinäre Agieren der Editorik lässt sich jedenfalls schon seit mehr als 30 Jahren an ihren zentralen Periodika und Reihen feststellen, etwa editio, Text. Kritische Beiträge, Beihefte zu editio, Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft, Editionen in der Kritik, Arbeiten zur Editionswissenschaft, Bausteine zur Geschichte der Edition oder Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik und das digitale Rezensionsorgan RIDE – A Review Journal for Digital Editions and Resources, die alle innerhalb jedes Bandes oder bandweise wechselnd Beiträge aus verschiedensten Disziplinen versammeln. Doch stellt sich die Frage, ob diesem bisherigen Nebeneinander der wissenschaftlichen Diskussion unter einem je spezifischen Dach nicht ein zusätzlicher Mehrwert innewohnt, der aus dem Nebeneinander ein strukturelles Mit- und Ineinander entstehen lässt, also den Weg von der Interdisziplinarität zur Transdisziplinarität als einer neuen Qualität des editorischen Wissenschaftsgebiets weist. Die Wissenschaftsforschung hat diese Differenzierung von Interdisziplinarität10 und Transdisziplinarität in den letzten Jahrzehnten jedenfalls eingehender bedacht, auch wenn die terminologische Situation noch im Jahr 2011 von Hubert Laitko als „sehr unübersichtlich“ bezeichnet wurde.11 Transdisziplinarität muss dabei allerdings gerade eben nicht als ein bloßes Überschreiten der „institutionellen und epistemischen Grenzen der Wissenschaft“ hin zur „Kooperation von Wissenschaftlern und Prakti Zu den verschiedenen Verständnissen von Interdisziplinarität s. den Überblick von Hans-Harald Müller: Was war eigentlich Interdisziplinarität – und was ist aus ihr geworden? Wissenschaftshistorische Vor­ überlegungen. In: Interdisziplinarität und Disziplinenkonfiguration 2018 (Anm. 1), S. 9–19. 11 Hubert Laitko: Interdisziplinarität als Thema der Wissenschaftsforschung. In: Lifis online (veröffentlicht am 26.10.2011), https://www.leibniz-institut.de/archiv/laitko_26_10_11.pdf, S. 11 (gesehen 3.4.2020). 10

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kern“ ­verstanden werden, wie sie bei Laitko oder Philipp W. Balsiger konzipiert ist,12 sondern – hilfreicher für unseren Fall – als qualitatives Kennzeichen einer wissenschaftssysteminternen Problemlösungsstrategie (wobei das zu behandelnde Problem allerdings nicht innerwissenschaftlich entstanden sein muss). Voraussetzung ist dann eine ganz bestimmte thematische Konstellation, damit Transdisziplinarität mit Jürgen Mittelstraß als ein „Forschungs- und Wissenschaftsprinzip“ greifen kann, nämlich, dass es „dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird.“ Im Gegensatz zu der auf einer „konkrete[n] Zusammenarbeit auf Zeit“ beruhenden Interdisziplinarität meint Transdisziplinarität nun eine „Koopera­ tion“, die „zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung führt.“13 Mittelstraß beurteilt diese durch Transdisziplinarität erzeugte wissenschaftssystematische Ordnung allerdings vorsichtig abwägend, ja fast schon ambivalent, wenn er Transdisziplinarität als „ein integratives, aber kein holistisches Konzept“ charakterisiert: „Sie löst Isolierungen auf einer höheren methodischen Ebene auf, aber sie baut nicht an einem ‚ganzheitlichen‘ Deutungs- und Erklärungsmuster.“14 Insofern hebt sie nach Mittelstraß auch die bestehenden Fächer und Disziplinen nicht auf 15 und sei überhaupt „in erster Linie ein Forschungsprinzip, kein oder allenfalls in zweiter Linie, wenn nämlich auch die Theorien transdisziplinären Forschungsprogrammen folgen, ein Theorieprinzip.“16 Zu erproben wäre nun in der Tat, unter welchen Gesichtspunkten die Editorik als transdisziplinäres Wissenschaftsfeld zu konfigurieren wäre – und dann allerdings durchaus auch, ob sich nicht doch zumindest Ansätze einer transdisziplinären Theoriebasis ausmachen ließen. Eine solche inhaltliche Füllung dürfte allerdings durchaus eine prospektive Entwicklung einleiten können, die man als Redisziplinarisierung des ursprünglichen transdisziplinären Wissenschaftsfelds beschreiben könnte. Dies lässt sich analogisieren zu der Rückführung von Interdisziplinarität in Disziplinarität, wie sie zusammenfassend bei Rico Defila und Antonietta Di Giulio in drei neue Möglichkeiten differenziert wird: nämlich als ‚Komplexes Forschungsgebiet‘ (z. B. Umweltforschung oder Verhaltensforschung)‚ als ‚Grenzwissenschaft‘ (z. B. physikalische Chemie oder Biochemie) oder als ‚Querschnittswissenschaft‘ (z. B. Kybernetik).17 Die Editorik ließe sich auf einer solchen Skala am ehesten als Querschnittswissenschaft verstehen. Dies würde zudem der Charakterisierung entsprechen, die Siegfried Scheibe für dieses Wissenschaftsfeld unter dem von ihm vertretenen Verständnis als ‚Textologie‘ 1987 Laitko 2011 (Anm. 11), S. 14 (dort auch die Zitate); Philipp W. Balsiger: Transdisziplinarität. Systematisch-vergleichende Untersuchung disziplinenübergreifender Wissenschaftspraxis. München 2005 (Erlanger Beiträge zur Wissenschaftsforschung), S. 184 f. 13 Jürgen Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanz 2003 (Konstanzer Universitätsreden. 214), S. 10 und 9. 14 Mittelstraß 2003 (Anm. 13), S. 10. 15 Vgl. Mittelstraß 2003 (Anm. 13), S. 10. 16 Mittelstraß 2003 (Anm. 13), S. 11. 17 Vgl. Rico Defila, Antonietta Di Giulio: Interdisziplinarität und Disziplinarität. In: Zwischen den Fächern – über den Dingen? Universalisierung versus Spezialisierung akademischer Bildung. Hrsg. von Jan-Hendrik Olbertz. Opladen 1998 (Schriften der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft), S. 111–137, hier S. 116 f. 12

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vorgeschlagen hat: „Die Textologie ist ein eigenständiges Forschungsfeld, das in seinen theoretischen und praktischen Grundlagen interdisziplinär ist.“18 2013 erschien zudem ein Sammelband, der im Untertitel „Editionswissenschaft als interdisziplinäre Grundlagenforschung“ markierte.19 Ob hinter solchen Postulaten der editorischen Interdisziplinarität tatsächlich ein transdisziplinäres Wissenschaftsgebiet der Editorik sichtbar gemacht werden kann, wäre nun zu eruieren. Jürgen Mittelstraß’ zusammenfassende Konturierung von Transdisziplinarität und ihrer zukünftigen Wirkung kann dafür als Maßstab dienen: Disziplinäre Kompetenzen bleiben […] die wesentliche Voraussetzung für transdisziplinär definierte Aufgaben, aber sie allein reichen nicht mehr aus, um Forschungsaufgaben, die aus den klassischen Fächern und Disziplinen herauswachsen, erfolgreich zu bearbeiten. Das wird [...] in Zukunft zu neuen Organisationsformen führen, in denen die Grenzen zwischen den Fächern und Disziplinen blaß werden.20

Wenn man die Editorik also in dieser Hinsicht befragen will, um so jene Spannung von disziplinübergreifender Wirkmächtigkeit und etwaiger Redisziplinarisierung auszuta­ rieren, wird der Maßstab zumindest ein transdisziplinär verfügbarer Kern von Methodik und Terminologie sein müssen – also in Mittelstraß’ Formulierung der Charakter als ‚Forschungsprinzip‘. Die Theorieelemente vorerst nicht zum Angelpunkt der Fragestellung zu machen ist nicht nur wegen der nachrangigeren Platzierung in Mittelstraß’ Transdisziplinaritätskonzept sinnvoll, sondern auch deshalb, weil eine umfassendere Theorie der Editorik bisher nicht existiert. Selbst Herbert Kraft hat den Untertitel seiner ersten editorischen Abhandlung von 1973 Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition in seinen weiter ausgearbeiteten Monografien zur Editorik nicht wieder aufgenommen.21 Das ‚Vorerst‘ ist allerdings ernst zu nehmen, denn genau am Vorhandensein einer konsistenten Theoriegrundlage wird sich der Status der Editorik in der Verschiebung von Disziplinärem über Interdisziplinäres zu Transdisziplinärem bis möglicherweise hin zu Re-Disziplinärem letztlich bemessen lassen.

Siegfried Scheibe: Zum Verhältnis der Edition/Textologie zu den Gesellschaftswissenschaften. Mit einem Anhang: 25 Thesen zur Textologie. In: Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswis­ senschaft. Berlin 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 1), S. 45–53, hier S. 51 (zuerst in Weimarer Beiträge 33, 1987, S. 158–166). – Diese Vorstellung hat sich auch in der zugehörigen Einführung niedergeschlagen: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motsch­ mann: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988. – Siehe auch die Erläuterung bei Bodo Plachta: Textologie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Jan-Dirk Müller. Bd. 3: P–Z. Berlin, New York 2003, S. 611 f. 19 Im Dickicht der Texte 2013 (Anm. 6). Zudem hat die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition ihre Plenartagung in Bern 2012 unter das Thema ‚Internationalität und Interdisziplinarität‘ gestellt; s. dazu den Tagungsband: Internationalität und Interdisziplinarität der Editionswissenschaft. Hrsg. von Michael Stolz und Yen-Chun Chen. Berlin, Boston 2014 (Beihefte zu editio. 38). 20 Mittelstraß 2003 (Anm. 13), S. 12. 21 Herbert Kraft: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition. Bebenhausen 1973. – Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billmann. Darmstadt 1990; Ders.: Dass. Zweite, neubearb. und erweiterte Auflage mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt/Main u. a. 2001. 18

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2. Was sind Aufgaben und Methoden der Editorik in transdisziplinärer Perspektive? Die Editorik hat sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten ganz wesentlich in den Literaturwissenschaften weiterentwickelt, und die germanistische Literaturwissenschaft war dabei sowohl für den Bereich der älteren als auch für den Bereich der neueren Literatur ein Motor.22 In Wechselwirkung mit den unterschiedlichen Akzentuierungen der interpretierenden Literaturwissenschaft hat die germanistische Editorik Anteil an der Erweiterung der textuellen Erkenntnisinteressen um materielle und mediale Komponenten.23 Dies betrifft aber nicht nur die Textobjekte der Literaturwissenschaft, sondern sämtliche Überlieferungen der Geistes- und Kulturwissenschaften, ja mindestens aller auf Texten basierenden Disziplinen (also z. B. auch der Rechtswissenschaft), letztlich aber auch etwa die der bildlichen oder gegenständlichen Kunstwissenschaft. Die editorische Brücke von der Literaturwissenschaft zu Letzterer hat 2009 Paul Eggert mit seinem Buch Securing the Past: Conservation in Art, Architecture and Literature geschlagen,24 und die Filmwissenschaft lässt sich ohne Zweifel vollumfänglich einbeziehen, wie Anna Bohns zweibändige, mit vergleichenden Blicken zur Denkmalpflege, Archivwissenschaft, Kunstwissenschaft und Editionswissenschaft operierende Aufarbeitung Denkmal Film von 2013 deutlich macht.25 Was so als Bewahrung des Vergangenen im Terminus der ‚Konservierung‘ gefasst ist, beschreibt in der Tat eine der wesentlichen Aufgaben der Edition: die Sicherung ihrer Objekte bzw. der auf ihnen platzierten textuellen oder ikonischen Zeichen. Neben der Sicherung ist eine andere dieser Aufgaben die Wiederverfügbarmachung für eine neue Rezeption. Des Weiteren gehört zu diesen Aufgaben noch die Erschließung für den vom Entstehungszeitpunkt des Werkes in der Regel historisch weit entfernten gegenwärtigen Rezipienten. Das lässt sich ru­ brizieren als editorische Aufgabentrias von (1) Darlegung der Überlieferung, (2) kritischer Herstellung von Fassungen und Präsentation ihrer Genese, (3) kommentierender Erschließung durch entstehungsgeschichtliche und wort-/bild-/zeichenreferenzierte sowie sachbezogene Erläuterungen. Benannt sind damit die archivalische, die kon­ Siehe Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Frankfurt/Main u. a. 2011; Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 3., ergänzte und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2013. – Siehe auch die Überblicke bei Rüdiger Nutt-Kofoth: Editionsphilologie. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. 3 Bde. Hrsg. von Thomas Anz. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2007, S. 1–27; Ders.: Editionswissenschaft. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hrsg. von Jost Schneider unter redaktioneller Mitarbeit von Regina Grundmann. Berlin, New York 2009, S. 109–132. 23 Siehe dazu etwa Rüdiger Nutt-Kofoth: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio 20, 2006, S. 1–23; Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio. 32); Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Anne Bohnenkamp. Berlin, Boston 2013 (Beihefte zu editio. 35); Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski: Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation. Eine Einführung. In: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Hrsg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski. Berlin, Boston 2014 (Beihefte zu editio. 37), S. 1–22. 24 Paul Eggert: Securing the Past: Conservation in Art, Architecture and Literature. Cambridge 2009. 25 Anna Bohn: Denkmal Film. Bd. 1: Der Film als Kulturerbe, Bd. 2: Kulturlexikon Filmerbe. Wien, Köln, Weimar 2013; zur Frage von Denkmalpflege, Konservierung und Restaurierung ebd., Bd. 1, S. 49–60, und Bd. 2, S. 57–62. 22

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stituierende und die kommentierende Funktion der wissenschaftlichen Edition. Diese drei dürften die Grundpfeiler auch einer disziplinenübergreifenden Praxeologie der Editorik bilden, denn die Editorik teilt sich wie kaum ein anderer Bereich der Geistesund Kulturwissenschaften in die Teile (A) Methodik und Theorie der Edition sowie (B) Praxis der Herstellung von Editionen. Der Editorik sind beide Elemente also ganz wesentlich inhärent, und insofern gilt für sie schon immer, was Steffen Martus und Carlos Spoerhase 2009 für ein Forschungsprogramm zur „Praxeologie der Literaturwissenschaft“ entworfen haben: Die universitären Disziplinen sind nicht nur mehr oder weniger effiziente und effektive Vermittlungsinstanzen von Fachwissen, sie sind auch komplexe Sozialisationsräume, in denen prozedurales und implizites Praxiswissen vermittelt wird.26

Die fachwissenschaftlichen Sozialisationsräume der editorischen Germanistik haben nun über zwei Jahrhunderte eine rege Methodendiskussion erlebt. Sie spiegelt das eben skizzierte Aufgabenspektrum in unterschiedlicher Breite je nach ihren Zielsetzungen. Daher sei von der germanistischen Perspektive aus eine transdisziplinäre Befragung als ein erster Versuch gestattet. Folgende Alternativen können sich in transdisziplinärer Perspektive auftun, wobei im Folgenden mangels fehlender editorischer Begrifflichkeit häufig von Text gesprochen wird, dies in transdisziplinärer Perspektive aber Bild und Ton miteinschließt:27 (1) Rekonstruktion vs. Überlieferungstreue: Diese Alternative verhandelt den Grad der Wertschätzung von originär kritischer bzw. textkritischer Arbeit, und zwar im Hinblick auf die Rekonstruktion verlorener Originale bis hin zur Konjektur oder Emendation fehler- bzw. schadhafter Stellen in erhaltenen Überlieferungsträgern. In der mediävistischen Germanistik entsprächen dem die Pole von Lachmann’schem textkritischen Rekonstruktionsverfahren und dem überlieferungskritischen bzw. textgeschichtlichen Editionsverfahren. In der Filmwissenschaft gibt es dazu eine vergleichbare Diskussion um die Frage der Rekonstruktion.28 (2) Textkonstitution vs. Überlieferungsreproduktion bzw. Edition vs. Dokumentation: Diese Alternative bezieht sich auf die Grundfrage, ob eine – notwendigerweise Entscheidungen des Editors erzwingende – Textherstellung aus der Überlieferung grundsätzlich gestattet sein soll oder ob auf diese zugunsten der textkritisch sehr zurückhaltenden Wiedergabe des Überlieferten bzw. der Präsentation des unbearbeiteten Überlieferungsbefunds verzichtet werden soll. Eine Fortführung meint dann die Reduzierung der Edition auf die Befundswiedergabe in Abbildung und raummimetischer Transkription in ihrer Funktion als Lesehilfe im Gegensatz zu Steffen Martus, Carlos Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germa­ nistik. Mitteilungen 35/36, 2009, S. 89–96, hier S. 96. 27 Erläuterungen von Editionstypen im Zusammenhang mit der Geschichte der Editorik bei Plachta 2013 (Anm. 22), S. 11–45. 28 Siehe Bohn 2013, Bd. 2 (Anm. 25), S. 95–127, mit einer Reihe von Beispielen zu unterschiedlichen Objekten der filmwissenschaftlichen Rekonstruktion. – Überlegungen zur medienspezifischen Übertragung der philologischen Textkritik – insbesondere auf das Objekt ‚Film‘ – bei Klaus Kanzog: Der ‚richtige Text‘: Universaler Anspruch – unterschiedliche Wege. Ein mediengeschichtlicher Exkurs. In: editio 18, 2004, S. 56–68. 26

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allen weiterführenden editorischen Leistungen, sodass weder die Textgenese dargeboten noch ein edierter Text zur Verfügung gestellt wird oder Erläuterungen hinzugegeben werden. Diese Alternative spiegelt sich zudem in dem von Klaus Kanzog 1970 entworfenen Konzept einer selbständigen, der historisch-kritischen Ausgabe vorgeschalteten sog. Archiv-Ausgabe.29 Analogisiert werden kann dazu in der Filmwissenschaft die Diskussion um das Verfahren der Restaurierung.30 (3) Text vs. Textgenese: Diese Opposition beschreibt den Grad der Wertschätzung einer fassungsorientierten, auf einen Lesetext ausgerichteten Edition31 im Verhältnis zu solchen Editionen, die die Textgenese in den Vordergrund stellen und jede Heraushebung einer Fassung aus dem entstehungsgeschichtlichen Prozess als verzeichnende Privilegierung einzelner Elemente der Gesamtgenese verstehen. In der editorischen Neugermanistik werden diese Pole durch die traditionellen Editionen mit Text-Apparat-Aufteilung im Gegensatz zu den streng textgenetischen Editionen, die auf das Angebot eines sog. edierten Textes ganz verzichten, repräsentiert.32 Für die Filmwissenschaft gibt es den Vorschlag einer nach ‚textus‘ und ‚apparatus‘ aufgeteilten historisch-kritischen Filmedition, die zugleich den durch die Art und Weise der Filmproduktion und -distribution entstehenden unterschiedlichsten Typen an Fassungen gerecht werden sollte.33 Je nach Editionszielsetzung kann der eine oder andere dieser methodischen Zugriffe die jeweilige Edition gestalten. Mitprägend können aber auch spezielle theoretische Annahmen sein, wie etwa die Vorstellung, ein Entwurf sei kein Text (Reuß) oder ein Fragment besitze keine Vorstufen (Kraft), was entscheidende Auswirkungen auf die Frage der Textkonstitution bei entsprechender Überlieferung hat.34 Solchen breiten Diskussi Klaus Kanzog: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theo­rie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München 1970, S. 15–29 (Kapitel „Die Archiv-Ausgabe“ und „Die historisch-kritische Ausgabe“); wiederabgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur ­Geschichte der Edition. 1), S. 335–344; zur Aufnahme von Kanzogs Vorschlag für die Printedition s. Hans Zeller: Die Faksimile-Ausgabe als Grundlagenedition für Philologie und Textgenetik. Ein Vorschlag. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 80–100; editorisch realisiert z. B. in der Printausgabe: Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearbeitet von Gerhard Schmid. Wiesbaden 1981 (Manu scripta. Faksimileausgaben literarischer Handschriften. 1). 30 Siehe etwa den Überblick bei Ursula von Keitz: Historisch-kritische Filmedition – ein interdisziplinäres Szenario. In: editio 27, 2013, S. 15–37, hier S. 17–20 (Abschnitt: „Zur Debatte um das filmische ‚Original‘“), und das Kapitel „Editionsphilologie und Filmrestaurierung“ in Bohn 2013, Bd. 1 (Anm. 25), S. 61–64, sowie das disziplinenvergleichende Kapitel „Original“, ebd., Bd. 2, S. 185–219. 31 Eine Analogisierung von Fassung letzter Hand eines literarischen Werks und Director’s Cut eines Films als dem herausgehoben und vollständig dargebotenen Rezeptionsangebot einer Edition bei Kurt Gärtner: Philological Requirements for Digital Historical-Critical Text Editions and Their Application on Critical Editions of Films. In: Celluloid Goes Digital. Historical-Critical Editions of Films on DVD and the Internet. Proceedings of the First International Trier Conference on Film and New Media, October 2002. Ed. by Martin Loiperdinger. Executive Editors: Bernd Elzer and Andrea Haller. Trier 2003 (Filmgeschichte International. 12; mit ergänzenden Abbildungen auf einer zugehörigen CD-ROM), S. 49–54, hier S. 51. 32 Für die Filmedition ist die Darstellung der Genese seltener spezifisch bedacht worden; etwa bei Klaus Kanzog: Darstellung der Filmgenese in einer kritischen Filmedition. In: editio 24, 2010, S. 215–222. Siehe hierzu auch den Beitrag von Ursula von Keitz und Wolfgang Lukas im vorliegenden Band. 33 Siehe Natascha Drubek-Meyer, Nikolai Izvolov: Textkritische Editionen von Filmen auf DVD. Ein Diskussionsbeitrag. In: montage/av 16, 2007, H. 1, S. 183–199. 34 Siehe Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10, 2005: Text ∙ Werk, S. 1–12, hier S. 7: „Ein Entwurf ist keineswegs selbst schon ein Text, noch (wie man sich das so vorzustellen pflegt) ent29

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onen, wie sie in der germanistischen Editorik geführt worden sind, sind aber für den je praktikablen editorischen Zugriff zwei wesentliche, auch einschränkende Rahmenbedingungen gesetzt. Das ist zum einen die Überlieferungslage zu einem Werk oder Text, die je nach Sachlage den möglichen editorischen Zugriff begrenzt, weil er auf die Art des Überlieferten appliziert werden muss. Und das ist zum anderen das jeweilige zu edierende Objekt selbst, das in seiner medialen Gegebenheit und seiner originären Funktionalität je unterschiedliche editorische Aufbereitungen erfordern wird. So werden etwa ein Gedicht, ein Brief, ein Arzneibuch, eine Rezeptsammlung, eine Urkunde, ein juristischer Text, eine Partitur oder eben ein Film eine je unterschiedliche, nicht zuletzt auch durch die jeweiligen fachlichen Interessen bewirkte Editionspräsentation verlangen können. Gerade aber die differenten Objekte der jeweiligen Fächer machen für eine transdisziplinäre Editorik eine Befragung ihrer Konzepte und Termini nötig, was sich am Beispiel von Literatur- und Filmedition besonderes gut exemplifizieren lässt.35 Für die Filmedition sind die folgenden Überlegungen allerdings insofern noch tentativ, da die Filmwissenschaft den Ausgabentypus einer kritischen Edition bisher kaum praktisch umgesetzt hat,36 was nicht zuletzt mit den technischen Möglichkeiten zu tun hat, die sich erst mit dem Vorliegen der DVD vehement änderten.37

hält er einen solchen [...]. | [...] Enthalten Entwurfshandschriften mehr oder weniger zahlreiche Unter- und Überschreibungen, Einfügungen, Streichungen, Restitutionen, Nicht-Entscheidungen und Unentscheidbarkeiten, kurz: eine Menge Unordnung, so zeigt sich im Unterschied dazu am Text, daß dessen Begriff primär eine ordnende und geordnete Einheit meint. Der poetische Text – er markiert das Moment der Einheit im Begriff der Literatur – ist seiner topologischen Verfaßtheit nach strikt linear organisiert, ein Buchstabe steht, unterbrochen nur von den Markierungen der Zeile der formalen Einheiten (Absatz, Kapitel u. s. w.), neben dem anderen“. – Herbert Kraft: Um Schiller betrogen. Pfullingen 1978, S. 35: „Vertritt das Fragment das Werk, indem es seine Vorstufe ist, gibt es keine Vorstufen des Fragments. Die ästhetische Qualität von Werkcharakter verlangt als Ort in der Ausgabe den ‚Text‘; für fragmentarische Werke folgt daraus, daß eine Trennung von Text und ‚Varianten‘ (‚Lesarten‘) unzulässig ist.“ – Siehe auch Rüdiger Nutt-Kofoth: Konzepte der Fragmentedition und ihre Probleme. In: Fragment und Gesamtwerk. Relationsbestimmungen in Edition und Interpretation. Hrsg. von Matthias Berning, Stephanie Jordans, Hans Kruschwitz. Kassel 2015, S. 13–27, hier S. 16–20; Ders.: Editorische Axiome. In: editio 26, 2012, S. 59–71, hier S. 65 f. 35 Siehe die Bemerkungen zur fehlenden editorischen Terminologie der Filmwissenschaft bei Anna Bohn: Ästhetische Erfahrung im (Um-)Bruch. Perspektiven kritischer Filmedition am Beispiel von Metropolis und Panzerkreuzer Potemkin. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hrsg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 115–127, hier S. 115: „Eine vordringliche Aufgabe stellt die Ausarbeitung einer Terminologie der Filmedition auf Basis eines interdisziplinären Vergleichs mit den etablierten Editionswissenschaften dar“; und S. 126: „Unverzichtbare Grundlage für die Ausarbeitung einer Theorie der Filmedition bildet die Definition der Begrifflichkeit aus interdisziplinär vergleichender Perspektive.“ 36 Zu nennen wäre etwa die von Enno Patalas und Anna Bohn besorgte Edition von Metropolis, Regie: Fritz Lang (1927), DVD-Studienfassung, Projektträger: Universität der Künste, Institut für zeitbasierte ­Medien, Berlin 2005 (DVD als Medium kritischer Filmeditionen); diese Edition ist durch neue Material­ funde ­überholt, s. dazu Fritz Langs Metropolis. Hrsg. von der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen. Mit Beiträgen von Bernard Eisenschitz u. a. Mit über 600 Abbildungen. München 2010, erschienen anlässlich der Aufführung der nach dem Materialfund in Buenos Aires vervollständigten Fassung von Metropolis bei den 60. Internationalen Filmfestspielen Berlin und der Ausstellung „The Complete ME­TROPOLIS“ der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen vom 21.1. bis zum 25.4.2010. – Hinzuweisen ist zudem auf F. W. Murnaus ‚Tabu‘. Die Edition der Outtakes, https://www. deutsche-kinemathek.de/de/sammlungen-archive/sammlung-digital/murnaus-tabu (gesehen 4.6.2021). 37 Siehe erste Überlegungen zur wissenschaftlichen Filmedition auf diesem Datenträger von 2003, die sich allerdings trotz des Sammelbandtitels nur gelegentlich auf das historisch-kritische Editionsmodell beziehen: Celluloid Goes Digital. Historical-Critical Editions of Films on DVD and the Internet 2003 (Anm. 31).

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3. Was sind gemeinsame und was sind divergente Elemente der editorischen Film- wie der editorischen Literaturwissenschaft? Die beiden Fächer können deshalb als hilfreiche Beispiele dienen, weil sie in ihrem Kern große Gemeinsamkeiten und zugleich wesentliche Differenzen aufweisen. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass ihre Objekte zu einem überwiegenden Teil fiktionalen Charakter aufweisen, also dass es sich um nicht-faktuale Artefakte, um Kunstwerke handelt – was freilich nicht heißt, dass die Edition historischer Dokumentarfilme prinzipiell nicht ähnliche editorische Probleme aufwirft. Der Entstehungsprozess eines Kunstwerks verläuft vielfach über verschiedene Fassungen. Insofern sollte auch die kritische Edition diese Fassungen sämtlich präsentieren. Hinzu kommt, dass Kunstwerke sehr häufig Bezüge zu anderen Kunstwerken oder zu Faktualem aufweisen, die im Sinne von Quellen, Folien, Motiven, Zitaten, Anspielungen etc. in der Edition nachgewiesen werden sollten. Beide Elemente – die werkinternen Verhältnisse (Fassungen) und die werkexternen Verhältnisse (Referenzen) – sind also Kerne der Literatur- wie der Filmedition. Die Differenzen zwischen beiden Editionstypen sind aber nun etwas ausführlicher zu bedenken. Ihnen sei unter folgenden Aspekten ansatzweise nachgegangen: (a) Objekt, (b) Konzept und (c) Rezeption. Das (a) editorische Objekt der Film- wie der der Literaturedition ist schon aufgrund seiner jeweiligen Medialität different. Das scheint banal, hat aber auf die Edition entscheidende Auswirkungen. Denn während die Literaturedition bis vor Kurzem ganz selbstverständlich im Buch im Sinne einer rein textuell-analogen Edition erfolgte, seit den 1970er Jahren allerdings zunehmend unter Hinzufügung von Abbildungen der autorisierten Manuskripte, seltener auch der autorisierten Drucke, muss die Edition von (Audio-)Visuellem grundsätzlich im audiovisuellen Medium erfolgen, also heute als digitale Edition. Ist das Digitale für die Literaturedition seit Neuerem zwar ebenfalls zunehmend ein Medium der Präsentation, muss das indes nicht zwangsweise so sein; so sind hybride Formen, die Analoges und Digitales für je bestimmte Elemente der Edition nutzen, zurzeit das gängige Editionsformat der Literaturedition, soweit sie auf das digitale Medium setzt. Als Hybridedition kann die Filmedition sinnvoll nur dann erscheinen, wenn sie statische Elemente, also Fotos oder Text (etwa des Drehbuchs), beinhaltet.38 Dann allerdings würde sie Vor- und Beiprodukte im Analogen wiedergeben können, während in der hybriden Literaturedition in der Regel ein Hauptbestandteil der Edition (auch) in Buchform erscheint, nämlich der edierte Text als die zur bevorzugten Rezeption textkritisch hergestellte Fassung des Werks. Die Medialität des editorischen Objekts bestimmt also – in transdisziplinärer Perspektive gesehen – entscheidend das Medium der Edition. Deswegen wird die Filmedition über die Frage von analoger, hybrider oder digitaler Edition, die die Literaturedition gegenwärtig umtreibt, gar nicht erst lange diskutieren müssen. 2003, als die DVD gerade erst als Medium der Filmedition zur Verfügung stand, wurde die Medienkombination als Editionsmodell begrüßt; Stephan Dolezel: Methodological Standards of Historical-Critical Editions of Historical Film Sources Held at the IWF. In: Celluloid Goes Digital 2003 (Anm. 31), S. 55–60, hier S. 60: „I hope that the edition’s future will be an elegant combination of disc and book.“

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Zur Kategorie des Editionsobjekts gehört z. B. auch die Frage nach der Art und Weise, wie dieses Objekt den Rahmen, die Grenze der Edition setzt. In der historisch-kritischen Literaturedition bildet das Einzelwerk im Regelfall nämlich nicht den Gesamt­ rahmen der Edition, sondern höchstens den des Teilbandes. Den Rahmen bildet der Autor, dessen Gesamtwerk in aller Regel historisch-kritisch ediert wird.39 Im Gegensatz zum literarischen Werk gibt es für das filmische Werk die Kategorie ‚Autor‘ so jedoch nicht. Stattdessen ist am Film eine ganze Palette an je teilverantwortlichen Personen beteiligt, etwa der Regisseur, der Produzent, der Drehbuchschreiber, dann aber z. B. auch die Schnittleitung, die Kameraleitung, die Tonleitung, die Szenografie, um jenseits der Schauspieler nur einige Verantwortlichkeiten zu nennen. Welche dieser personellen Funktionen auch immer den Fokus einer Gesamtwerk-Edition bilden würde, sie würde jedenfalls zu je unterschiedlichen Perspektiven auf Filmgeschichte führen, wenn man nur etwa eine Alfred-Hitchcock- von einer Romy-Schneider- oder eine Michael-Ballhaus-Gesamtwerkedition unterscheiden wollte. Den Rahmen der Filmedition wird also eher das Einzelwerk als der Autor und dessen Gesamtwerk bilden. Das hat nun aber auch Konsequenzen für (b) das Konzept der Edition. So ist für die neugermanistische Literaturedition eine der tragenden Kategorien diejenige der Autorisation. Sie löste diejenige des kaum oder nur schwer zu ermittelnden Autorwillens ab und gilt in der Klassifikation der autorisierten Textträger als objektivierbarere Zuschreibung, weil sie sich nicht auf den vermuteten oder zu erschließenden, sondern auf den in der Überlieferung materialisierten Autorwillen bezieht.40 Siegfried Scheibe hat zwei Arten von Autorisation unterschieden, die persönliche (etwa durch die autoreigene Handschrift gekennzeichnete) Autorisation und die gesellschaftliche oder kollektive (also durch Mitwirkung des Autors oder eine entsprechende Beauftragung etwa bei von Dritten hergestellten Abschriften oder Drucken bestätigte) Autorisation.41 Die Kategorie der Autorisation begrenzt nun die in der kritischen Edition zu berücksichtigenden Textträger. Nichtautorisierte Textträger, z. B. sämtliche postumen Drucke, haben für die Edition keine Bedeutung – bis auf den Ausnahmefall, in dem sie als Stellvertreter verlorener autorisierter Textträger fungieren. Über diese Funktion der Relevanzzuschreibung von Textträgern für die Edition spielt die Autorisation dann auch innerhalb des für die editorische Neuphilologie zentralen Konzepts des Textfehlers eine Rolle. Hans Zeller hat den Textfehler nämlich als „ein stellenweises Aussetzen der Autorisation“ definiert.42 Daher kann die Emendation des Fehlers als Restitution von Autorisation verstanden werden.

Eine der eher wenigen Ausnahmen im Bereich der literaturwissenschaftlichen historisch-kritischen Edition bildet die Reihe: Exempla critica. Historisch-kritische Einzelausgaben zur neueren deutschen Literatur. Hrsg. von Bodo Plachta. Tübingen (ab 2013: Berlin, Boston) 2004 ff. (bisher 4 Bde.). 40 Vgl. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45–89, hier S. 55 f. 41 Siegfried Scheibe: Editorische Grundmodelle. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer (Redaktion). Berlin 1991, S. 23–48, hier S. 26. 42 Hans Zeller: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5, 1975, H. 19/20: Edition und Wirkung. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, S. 105–126, hier S. 118. 39

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Wenn Autorisation als Zuschreibungskriterium für eine bestimmte Textqualität daher letztlich immer auf den Autor zurückverweist, kann das Kriterium für Werke, denen der eine zentrale geistige Urheber fehlt, nicht mehr greifen.43 Die Filmedition kann zwar nach den je partiellen Urhebern ihres zu edierenden Objekts, des Films, fragen (etwa – mit urheberrechtlicher Perspektive – Regisseur, Drehbuchautor, Komponist, Produzent), wird aber zumindest aus der Kategorie der einen ‚persönlichen Autorisation‘ kein hinreichendes Auswahlkriterium für die Aufnahme von Fassungen in die ­Edition generieren können (Ausnahme vielleicht: Director’s Cut); und auch die sog. kollektive oder gesellschaftliche Autorisation kann in ihrer ebenfalls auf einen einzelnen Autor bzw. Urheber zurückverweisenden Konstruktion nicht weiterhelfen. Festzustellen ist also, dass ‚Autorisation‘ in transdisziplinärer Perspektive eine ­problematische editorische Kategorie ist.44 Zu überlegen wäre daher durchaus, ob die Hinterfragung von Autorisation und die Ersetzung dieses Konzepts durch dasjenige der Authentizität für eine transdisziplinäre Editorik kompatibler sein könnten.45 Andere konzeptionelle Fragen wären ebenfalls zu bedenken, von denen hier nur die Frage der Abgrenzung von Fassungen und ihrer editorischen Präsentation noch berührt werden soll. Dass literarische Werke grundsätzlich in Fassungen überliefert sind, gehört zu einer der älteren Erkenntnisse der neugermanistischen Editorik. Insofern bietet auch der kritisch konstituierte Text als herausgehobenes Rezeptionsangebot eben nur eine dieser Fassungen an. Wie die anderen zu präsentieren und durch welche Merkmale sie voneinander und von kleineren textgenetischen Einheiten abzugrenzen sind, ist ein bisher ungelöstes Problem. Der von Hans Zeller und Jelka Schilt vorgelegte Vorschlag, Motivstabilität und Motivwandel zum Kriterium von Fassungseinheit bzw. Fassungswechsel (oder auch Werkeinheit bzw. Werkwechsel) zu machen, hat sich jedenfalls nicht wirklich durchgesetzt.46 Für die Filmedition dürften aber zunächst noch ganz andere Kriterien in Betracht gezogen werden, wie sie aus der je zeitgenössischen Filmtechnik und den verschiedenen Märkten, die gleichberechtigte Fassungen her Drubek-Meyer/Izvolov 2007 (Anm. 33), S. 186 f., schlagen daher statt der an die Autorfunktion gebundenen neuzeitlichen die autorlosen Teile der mittelalterlichen Überlieferung und ihre editorische Aufarbeitung in der Literaturedition als Vergleichsebene vor. 44 Der Vorschlag, „bei der Bestimmung der Autorisation für den Film nicht das Konzept der Autorintention oder der Autorisation durch Urheberschaft heranzuziehen, sondern das juristisch relevante Kriterium der Publikation“ (Bohn 2013, Anm. 25, Bd. 2, S. 291), trifft nicht den vorgenannten Begriffsrahmen von Scheibe und hebt daher das zugrundeliegende Autor/Urheber-Problem beim Film nicht auf. 45 Siehe für die Literaturedition Rüdiger Nutt-Kofoth: Der ‚echte‘ Text und sein Autor. Ansätze zu einem funktionalen Authentizitätsbegriff vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte von ‚Autorisation‘ und ‚Authentizität‘ in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 51–63. – Für die Filmwissenschaft hat Bohn 2013 (Anm. 25), Bd. 2, S. 246, Authentizität nicht als Ersatzkonzept für Autorisation verstanden, sondern verwendet Letztere als Hilfsmittel für Erstere: „In Anlehnung an die editionsphilologische Bestimmung der Authentizität übernehme ich das Konzept Autorisation zur Präzisierung des Konzepts Authentizität für den Film.“ 46 Hans Zeller, Jelka Schilt: Werk oder Fassung eines Werks? Zum Problem der Werkdefinition nach Fassungen am Beispiel von Conrad Ferdinand Meyers Gedichten. In: Zu Werk und Text 1991 (Anm. 41), S. 61–86, bes. S. 77–84. 43

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vorgebracht haben, herrühren.47 Ob etwa historisch nicht unübliche Aufnahmen mit verschiedenen Kameras und leicht versetzten Einstellungen verschiedene Fassungen generieren oder solche durch anderssprachige Zwischentitel sowie ihre visuelle Gestaltung entstehen können, müsste bedacht werden,48 denn aus der jeweiligen Zuschreibung kann eine je unterschiedliche Form der editorischen Darstellung – als Volltext, als referenzierte Variante etc. – abgeleitet werden. Angerissen werden soll aber noch die Frage, in welcher Form (c) die Rezeption der editorischen Erkenntnisse erfolgen soll. Sie schlägt sich im Typus der Ausgabe nieder, für die die Germanistik die – idealtypisch zu verstehenden – Modelle der historisch-­ kritischen Ausgabe, der kritischen Ausgabe, der Studienausgabe und der Leseausgabe entwickelt hat.49 Den so differenzierten, in der Realität aber durchaus in Mischformen vorkommenden Ausgabentypen liegt eine auf ein je vermutetes Leserinteresse zugeschnittene Präsentationsform des editorischen Materials zugrunde, die Differenzen in Vollständigkeit (z. B. Variantendarbietung) und Genreform (z. B. interpretationshaltigere Kommentarinhalte) aufweist. Für die Filmedition sind solche Editionstypendifferenzierungen bisher nur in Ansätzen vorhanden, wohl aber drei nutzerorientierte Ausgabemodi der historisch-kritischen Filmedition vorgeschlagen worden.50 Dagegen dürfte ein weiteres Kriterium für die Filmedition eine Rolle spielen, das die Literaturedition in dieser Form nicht kennt, das aber z. B. für die musikwissenschaftliche Edition immer eine bedeutende Rolle gespielt hat. Gemeint ist die sog. Praxisorientierung, also die direkte Nutzung der Edition für die konkrete Aufführung einer in der Edition konstituierten Fassung. So versteht die Musikedition ihren edierten Notentext als Vermittler zwischen Komposition und Aufführung.51 Auch der Film lebt von der medialen Präsentation. In diesem Sinne hat Ursula von Keitz als ein Ziel der Filmedition erklärt, „durch (methodisch kontrollierte und in genauesten Filmprotokollen dokumentierte) Fassungsvergleiche von weltweit verstreuten archivalischen Materialien eine spielbare, i. e. projizierbare […] Videofassung herzustellen“.52 In transdisziplinärer editorischer Perspektive trifft der Spagat zwischen wissenschaftlicher Dokumentation und (ab)spielbarer Aufführungsfassung als Leistungsspektrum der Edition jedenfalls in ganz unterschiedlichem Maße auf das je fachspezifische Leitinteresse wie den objekt­ spezifischen Charakter zu und kann auch zu Differenzen im Zugeständnis an den Grad des wissenschaftlich Vertretbaren führen.53 Zur Frage von Fassungen und Varianten in der Filmüberlieferung s. das Kapitel „Fassung und Variante“ in Bohn 2013 (Anm. 25), Bd. 2, S. 351–398. Siehe auch die als Vorarbeit zu einer Typologie der Versionen von Film verstandene Listung bei Drubek-Meyer/Izvolov 2007 (Anm. 33), S. 189–193. 48 Siehe hierzu auch von Keitz 2013 (Anm. 30), S. 22–26. 49 Siehe Dirk Göttsche: Ausgabentypen und Ausgabenbenutzer. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 37–63. 50 Siehe von Keitz 2013 (Anm. 30), S. 33 f. 51 Siehe etwa Helga Lühning: Vorwort. In: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis. Hrsg. von Helga Lühning. Tübingen 2002 (Beihefte zu editio. 17), S. VII f., hier S. VII: „Der Notentext bzw. seine Edition vermittelt zwischen der Komposition und der Aufführung.“ 52 Von Keitz 2013 (Anm. 30), S. 15 f. 53 Das kann auch für die literaturwissenschaftliche Edition zutreffen. So haben Editoren der Marburger Büchner-Arbeitsstelle das fragmentarische Drama Woyzeck je nach Ausgabentyp unterschiedlich vorgelegt, nämlich in der historisch-kritischen Ausgabe ohne eine die Fassungen notwendigerweise kontaminierende Spieltextfassung, in der Studienausgabe aber sehr wohl mit einer solchen – kritisch ausgezeichneten – 47

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Dass die Spezifität des Objekts allemal die Art der Edition wesentlich mitbestimmt, soll nun zum Abschluss an einem Phänomen erörtert werden, das die Gewinne einer transdisziplinär verstandenen Editorik jenseits eines in seinem Mehrwert schon nicht zu unterschätzenden fachübergreifenden editorischen Elementenbaukastens besonders schlagend vorführen kann, nämlich am Phänomen des plurimedialen Werks.

4. Welche Herausforderungen stellen intermediale und plurimediale Werkkomplexe an die Editorik? Wenn mit Intermedialität bzw. seinem engeren Verständnis nach Uwe Wirth der ­Anteil und damit die Verschränkung verschiedener Medien an einem Kunstwerk gemeint ist – also etwa Musik, Bewegtbild und Sprache am Film, Sprachtext (Liedtext oder ­Libretto), Notentext (Komposition) und Ton (Gesang) an Lied oder Oper, Operette bzw. Musical –, ist die Werkgesamtheit und ihre Realisierung nur als Summe ihrer medialen Teile möglich, als „Medienkombination“ im Sinne „multimediale[r] Kopplungen“.54 Folglich sollte die Edition auf diese mediale Gemengelage mit einem gleichgewichtigen editorischen Augenmerk auf alle medialen Elemente reagieren. Die intermediale Werkeinheit als das zu edierende Objekt erfordert also eine dieser Spezifik angemes­ sene Editionsform. Man könnte sie als eine intermedial bewusste Edition klassifizieren, was zunächst noch keine Aussage über das je spezifische mediale Format der kritischen Edition selbst bedeuten muss. Werden schon bei solchen Werkstrukturen Fragestellungen einer transdisziplinär orientierten Editorik sichtbar, werden diese gänzlich unumgänglich, wenn man nun den spezifischen Fall des plurimedialen Werkkomplexes betrachtet. Diesen möchte ich vom intermedialen Werk (also etwa Lied oder Oper), dessen einzelne Fassungen jeweils ein Zusammenspiel verschiedenmedialer Elemente darstellen, insofern absetzen, als innerhalb des plurimedialen Werkkomplexes nun je medial differente Werkfassungen realisiert sind.55 Solche plurimedialen Werkkomplexe Fassung, um z. B. Theaterdramaturgen eine aufführbare Fassung anzubieten; Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hrsg. von Burghard Dedner, mitbegründet von Thomas Michael Mayer. Bd. 7,1: „Woyzeck“. Text. Hrsg. von Burghard Dedner und Gerald Funk unter Mitarbeit von Per Röcken; Bd. 7,2: „Woyzeck“. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Hrsg. von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise, Ingrid Rehme, Eva-Maria Vering und Manfred Wenzel; beide: Darmstadt 2005; ‚Emendierter Text‘ Bd. 7,2, S. 1–32, die Begründung S. 237 f.; Georg Büchner: Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael Mayer hrsg. von Burghard Dedner. Stuttgart 1999, ‚Lese- und Bühnenfassung‘, S. 5–40; die Begründung S. 201–208. 54 Uwe Wirth: Intermedialität. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – ­Institutionen. 3 Bde. Hrsg. von Thomas Anz. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 254–264, hier S. 255, zur Differenzierung des weiten und des engen Begriffs der Intermedialität s. ebd., S. 262 f. – Wirths enger Intermedialitätsbegriff entspricht damit dem Phänomenbereich der Medienkombination bei Rajewski, die diesen von den beiden weiteren Phänomenbereichen des Medienwechsels und der intermedialen Bezüge unterscheidet; Irina O. Rajewski: Intermedialität. Tübingen, Basel 2002, S. 15–18. 55 Eine solche Differenzierung von mehrmedialem Werkkomplex und verschiedenmedialen Werkfassungen könnte auch geeignet sein, eine Lösung für das Dilemma zu bieten, dass Klaus Kanzog seinen Regelvorschlag „Unterschiedliche Medien übermitteln jeweils eigene Werke, auch wenn diese Werke den gleichen Titel tragen“ für Autoren, die für den literarischen Text und den daraus entstandenen Film verantwortlich sind (am Beispiel von Peter Handkes Die linkshändige Frau), gleich wieder in Frage gestellt hat; Klaus Kanzog: Strukturierung und Umstrukturierung in der Textgenese. Versuche, Regeln für die Konstituierung eines Werkes zu finden. In: Zu Werk und Text 1991 (Anm. 41), S. 87–97, hier S. 87.

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finden sich z. B. dort, wo literarische Autoren die Transformation ihres ursprünglich literarischen Werks in andere Medien betreiben. Seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und der Verfügbarkeit von Film und Rundfunk nutzen literarische Autoren solche Möglichkeiten immer wieder. Als knapp skizziertes Beispiel soll Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz dienen.56 Der literarisch epochemachende, erste deutschsprachige Großstadtroman, dessen Erzählverfahren im Übrigen schon von der zeitgenössischen Rezeption an als ‚filmisch‘ beschrieben wurde,57 erschien 1929, für das zum Herbst 1930 vorliegende Hörspiel verfasste Döblin selbst das Skript, und für den 1931 unter der Regie von Phil Jutzi herausgekommenen Tonfilm mit Heinrich George in der Hauptrolle fungierte Döblin neben Hans Wilhelm als Autor des Drehbuchs.58 Döblin begleitete zudem die Dreharbeiten. Für den gesamten plurimedialen, nämlich aus mindestens je einer textuell-literarischen, einer auditiven und einer audiovisuellen Fassung bestehenden Werkkomplex lassen sich unterschiedlichste Bezüge zwischen den jeweiligen Fassungen und ihren Vorstufen sowie Prätexten bzw. (bewegt)bildlichen Folien oder Bezugspunkten herstellen. Eine intermedial anzulegende Edition dieses Gesamtzusammenhangs müsste nun vor allem die Bezüge zwischen den verschiedenen Elementen des plurimedialen Werkkomplexes Berlin Alexanderplatz aufzeigen. Ich habe einen solchen Editionstyp an einem anderen Ort als eine relationale Edition zu klassifizieren versucht.59 Im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags soll nun nur der Medienteil Film innerhalb dieses plurimedialen Werkkomplexes näher interessieren60 – und zwar ausschließlich in seinem Beispielscharakter für Fragestellungen einer transdisziplinären Editorik. Die Sachlage ist ausführlich dargelegt bei Rüdiger Nutt-Kofoth: Plurimedialität, Intermedialität, Transmedialität. Theoretische, methodische und praktische Implikationen einer ­Text-Ton-Film-Edition von Alfred Döblins Berlin-Alexanderplatz-Komplex (1929–1931). In: Aufführung und Edition. Hrsg. von Thomas Betzwieser und Markus Schneider. Berlin, Boston 2019 (Beihefte zu editio. 46), S. 183–194. – Siehe auch den Beitrag von Anna Bohn im vorliegenden Band. 57 Siehe schon Herbert Ihering in seiner Kritik des Alexanderplatz-Films im Berliner Börsen-Courier am 9.10.1931: „In Döblins Roman ist die Filmform vorgezeichnet. Er war, übertrieben gesagt, ein geschriebener Film“; zit. nach Berlin Alexanderplatz. Drehbuch von Alfred Döblin und Hans Wilhelm zu Phil Jutzis Film von 1931. Mit einem einführenden Essay von Fritz Rudolf Fries und Materialien zum Film von Yvonne Rebhahn. München 1996 (FILMtext. Drehbücher klassischer deutscher Filme), S. 228 f., hier S. 228. Siegfried Kracauer sieht in Döblins Alexanderplatz-Roman in seiner Filmkritik in der Frankfurter Zeitung am 13.10.1931 „halb und halb ein Filmmanuskript“; zit. nach ebd., S. 232–234, hier S. 233. – Siehe dann Ekkehard Kaemmerling: Die filmische Schreibweise. In: Materialien zu Alfred Döblin ‚Berlin Alexanderplatz‘. Hrsg. von Matthias Prangel. Frankfurt/Main 1975, S. 185–198. 58 Zunächst waren offenbar auch andere Konstellationen der Drehbuchschreiber erprobt worden; s. Peter Jelavich: Berlin Alexanderplatz. Radio, Film, and the Death of Weimar Culture. Berkely, Los Angeles, London 2006 (Weimar and Now: German Cultural Criticism), S. 211 f., und Eggo Müller: Adaption als Medienreflexion. Das Drehbuch zu Phil Jutzis Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin und Hans Wilhelm. In: Das Drehbuch. Geschichte, Theorie, Praxis. Hrsg. von Alexander Schwarz. München 1992 (diskurs film. 5), S. 91–115, hier S. 97. 59 Rüdiger Nutt-Kofoth: Grundfragen der Audio-Edition am Beispiel des Hörspiels Die Geschichte vom Franz Biberkopf (Alfred Döblin, Alfred Braun, Max Bing) von 1930. In: Kritische Audio-Edition. Hrsg. von Anke Bosse, Wolfgang Lukas und Rebecca Unterberger. Berlin, Boston 2022 (Beihefte zu editio), in Druckvorbereitung. 60 Überblicke dazu finden sich bei Gabriele Sander: Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1998 (Nachdruck 2010), S. 226–244, und Stefan Keppler-Tasaki: Filmskripte 1920–1941. In: Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Sabina Becker. Stuttgart 2016, S. 232–243, hier S. 239–242. 56

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Die Verschränkung der medialen Elemente im Berlin-Alexanderplatz-Werkkomplex zeigt sich besonders an Bild- und Bewegtbild. Diese stellen schon Quellen oder Folien des literarischen Textes, des Romans, dar, nämlich in der Form des Fotobuchs Berlin von Mario von Bucovich, zu dem Döblin das Vorwort beisteuerte (1928),61 und von Walter Ruttmanns die Montage als Prinzip nutzendem Stummfilm Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927),62 den Leo Kreutzer – anstelle von Jutzis Romanverfilmung – als den eigentlichen „Film zum Buch Berlin Alexanderplatz“63 bezeichnet hat. Dem Film von Jutzi ist wiederum als textuelles Element das Drehbuch von Döblin und Hans ­Wilhelm vorgeschaltet.64 Das Drehbuchtyposkript ist zudem teilmedienspezifisch konfiguriert, indem es – der zeitgenössischen europäischen Tonfilmkonvention entsprechend 65 – mit seiner Raumaufteilung auf die Gegebenheiten des zu diesem Zeitpunkt noch in den Entwicklungsjahren befindlichen Tonfilms reagiert, nämlich mit der Spaltentrennung von links platzierten Geräuschbeschreibungen und Figurenreden (Tonebene) und rechts notierter Einstellungsgröße, Kamerabewegung sowie Figurenposition und -aktion etc. (Bildebene). Die kritisch textkonstituierende Präsentation des Drehbuchtexts kann also – im Gegensatz zur reinen Abbildung und raummimetischen Transkription – nach dem Verfahren der Wiedergabe von struktureller Räumlichkeit (im Unterschied zu akzidenteller Räumlichkeit) erfolgen, wie es für solche Fälle von Herbert Kraft für die Literaturedition am Beispiel der Edition von Schillers Fragmenten entwickelt worden ist.66 Mario v. Bucovich: Berlin. Geleitwort von Alfred Döblin. Berlin 1928 (Das Gesicht der Städte. Hrsg. von C. O. Justh); Döblins Text auf S. VII–XII. – Zur Bedeutung der Fotografie für Berlin Alexanderplatz, auch im Zusammenhang mit Bucovichs Fotobuch, s. etwa Ellen Strittmatter: Bildpoetik und Bildpolitik. Alfred Döblin und das Medium Fotografie. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 60, 2016, S. 141–185, hier S. 172–181. 62 Siehe dazu etwa Dagmar von Hoff: Berlin Alexanderplatz. Masse, Medien und Medialität bei Alfred Döblin. In: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Berlin 2011: Massen und Medien bei Alfred Döblin. Hrsg. von Stefan Keppler-Tasaki. Bern u. a. 2014 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte. 107), S. 289–311, hier S. 304–310. – Matthias Christen: „Es heißt jetzt Dinge machen, die gesprochen werden, die tönen“. Alfred Döblins Berliner Großstadtsymphonien und ihre cinematographische Konkurrenz. In: Moderne in der deutschen und der tschechischen Literatur. Hrsg. von Klaus Schenk. Tübingen, Basel 2000, S. 119–144, hier S. 126–136. 63 Leo Kreutzer: Stadt erzählen. Roman Film Hörspiel Berlin Alexanderplatz. In: Elmar Buck, Leo Kreutzer, Jürgen Peters: Die schöne Leiche aus der Rue Bellechasse. Einiges über Schreiben Spielen Filmen. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 87–105, hier S. 97. 64 Typoskript, Archiv der Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin; weitere Typoskripte: Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main, und das Handexemplar Heinrich Georges im Heinrich-George-Archiv, Berlin; einzelne Blätter mit handschriftlichen Ergänzungen Döblins im Deutschen Literaturarchiv Marbach. 65 Vgl. Müller 1992 (Anm. 58), S. 99. 66 Siehe dazu das Kapitel zur „Räumlichkeit als ein[em] Theorem der Fragmentedition“ in Kraft 2001 (Anm. 21), S. 132–146, Zitat im Kapiteltitel S. 132, zur strukturellen und akzidentellen Räumlichkeit dort S. 135. Umgesetzt in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 11: Demetrius. Hrsg. von Herbert Kraft. Weimar 1971; Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Bd. 12: Dramatische Fragmente. In Zusammenarbeit mit Klaus Harro Hilzinger und Karl-Heinz Hucke hrsg. von Herbert Kraft. Weimar 1982. – Die vorliegende Edition des Drehbuchs von Berlin Alexanderplatz (Berlin Alexanderplatz Drehbuch 1996, Anm. 57) entspricht diesem Räumlichkeitsprinzip in weitem Maße. 61

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Kann für die textuellen Komplexe der medialen Werkfassung Film von Berlin ­ le­xanderplatz also etwa auf bestimmte Verfahren der Literaturedition zurückgegrifA fen werden, problematisiert der Blick auf den Film Grundfragen der transdisziplinären Editorik. Die Frage etwa nach dem Autor und der damit verknüpften Autorisation stellt sich hier in besonderer Weise. Denn zum einen ist Döblin Mitverfasser des Drehbuchs und war zudem auch bei den Dreharbeiten anwesend, nahm zum anderen aber für die endgültige Filmfassung neben Regisseur Phil Jutzi und Produzent Arnold Preßburger wohl kaum eine besonders herausragende Position ein. Dagegen scheint der Hauptdarsteller Heinrich George nachhaltig Einfluss ausgeübt zu haben, dessen Stellenwert sich auch im Werbeplakat zum Film spiegelt, das George als Franz Biberkopf dominant präsentiert.67 Die Kategorie der Autorisation, die innerhalb des plurimedialen Berlin-Alexanderplatz-Komplexes hilfreich auf den Roman, das Hörspielskript und das Drehbuch angewandt werden kann, greift also kaum oder zumindest mit deutlich geringerer Aussagekraft für den realisierten Film (und im Übrigen auch für das realisierte Hörspiel). Doch gibt es dann wieder ein besonderes Kennzeichen von Autorisation, das im Film auftaucht, nämlich Döblins – im Drehbuch noch nicht entworfener – Cameo-Auftritt in Minute 79, also kurz vor Ende des 84-minütigen Films.68 In der Halbtotale-Einstellung der Szene auf dem Gerichtskorridor, die nach der Verkündung des Urteils gegen Reinhold wegen des Mordes an Mieze und des Freispruchs von Biberkopf spielt, quert im Hintergrund Alfred Döblin als „beschwingter, selbstsicher lächelnder Herr“69 mit Unterlagen im Arm das Bild. Innerdiegetisch könnte Döblin hier die Rolle des ärztlichen Gutachters spielen, wie das Gespräch der Figuren im Vordergrund nahelegt.70 Zugleich verweist die Art und Weise, in der Döblin gegen Ende des Films auftritt, auf eine jenseits der Diegese und letztlich noch jenseits des Mediums Film liegende Ebene, nämlich auf die des Autors oder Urhebers des gesamten Berlin-Alexanderplatz-Werkkomplexes. Das Autorschaftsmerkmal ist zudem noch durch die Döblin in dieser Szene begleitende Person verstärkt, die wegen des tiefsitzenden Hutes nicht leicht zu identifizieren ist, bei der es sich aber vermutlich um Hans Wilhelm handelt.71 Beide Drehbuchautoren kreuzen also in der Gerichtsszene das Bild im Hintergrund, und zwar hervorgehoben in besonders heller Ausleuchtung im Verhältnis zu den handlungstragenden Figuren im Vordergrund. Dass Döblin dabei noch Papiere bei sich trägt, indiziert ihn zugleich als schreibenden Autor, eben des Drehbuchs (mit Hans Wilhelm), des Hörspielskripts und des Romans. Auch dies ist also ein Autorisationsmerkmal im Gestus: ‚Heureka, dies ist der Schluss des Ganzen, und ich hab’s so verfasst.‘ Und bezeichnenderweise findet sich dieses Merkmal geistiger Urheberschaft in der spätesten aller medialen Fassun Vgl. Jelavich 2006 (Anm. 58), S. 222 f., Abb. des Filmplakats ebd. S. 224. – George hat offensichtlich die Realisierung des Films nachdrücklich vorangetrieben und auch selbst den Kontakt zu Produzent Preßburger hergestellt; vgl. Yvonne Rebhahn: „Nur der veränderte Autor kann den Film verändern“. In: Berlin Alexanderplatz Drehbuch 1996 (Anm. 57), S. 210–223, hier S. 215 f. 68 Berlin Alexanderplatz. Regie: Phil Jutzi. Produktion: Allianz-Tonfilm 1931. DVD: Arthaus Premium / Kinowelt 2008. 69 Stefan Keppler-Tasaki: Alfred Döblin. Massen, Medien, Metropolen. Würzburg 2018 (Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte. 14), S. 120. 70 Vgl. Keppler-Tasaki 2018 (Anm. 69), S. 122. 71 So jedenfalls Keppler-Tasaki 2018 (Anm. 69), S. 120. 67

Perspektiven einer transdisziplinären Editorik am Beispiel Literaturedition/Filmedition

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gen des Berlin-Alexanderplatz-Werkkomplexes. Es kann zudem für den plurimedialen Werkkomplex als ein Exempel für Jörg Roberts „leitende These“ verstanden werden, dass derartige Werk(komplex)e mit einem inhärenten „Verweis die eigenen medialen Konstitutionsbedingungen“ reflektieren können und so „Intermedialität […] zum Ort poetologischer Selbstbeschreibung“ werden kann.72 Wie auch immer man letztlich diese Implementierung von Autorisation im vorliegenden Fall bewerten mag, sie bleibt jedenfalls sehr auffällig. Und sie macht zumindest für das Beispiel Berlin Alexanderplatz deutlich, dass Döblin als Autor des Romans und der textuellen Vorformen von Hörspiel und Film sehr begründet als Rahmengeber des so abgegrenzten Berlin-Alexanderplatz-Werkkomplexes fungieren kann. Das heißt aber auch, dass die Spannweite der verschiedenmedialen Fassungen dieses plurimedialen Werkkomplexes auf die Arbeit bzw. Mitarbeit des ursprünglichen literarischen Autors begrenzt bleibt. Damit sind zugleich spätere mediale Realisierungen des Berlin-Alexanderplatz-Stoffes, etwa Rainer Werner Fassbinders 14-teilige Serie von 1980,73 ausgeschlossen, weil sie als nicht zum plurimedialen Werkkomplex gehörende – autorferne – Adaptionen eines Teils dieses ursprünglichen Werkkomplexes, hier als ohne jede Beteiligung Döblins entstandene Filmadaption Fassbinders von Döblins Roman, zu verstehen sind. Inwieweit eine solche editorische Rahmensetzung schon geeignet ist, die Funktion ‚Autor‘ zugunsten der Funktion ‚Werk‘ aus medienübergreifender Perspektive abzuschwächen, ja tendenziell abzulösen und trotzdem das Kriterium der Autorisation nicht ganz aus den Augen zu verlieren, müsste mindestens für solche Fälle über die Fachgrenzen weiter diskutiert werden. Eine transdisziplinäre editorische Perspek­ tive wäre dabei nicht nur hilfreich, sondern ganz eigentlich eine Voraussetzung. Denn Trans­disziplinarität ist ja – um es mit Mittelstraß noch einmal zu sagen – genau dort von­nöten, „wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird.“74 So könnte ein Arsenal an editorischen Theorie- und Methodenbausteinen entstehen, die an den je disziplinären Interessen und deren je spezifischen editorischen Objekten orientiert bleiben, aber auf den jeweiligen Grad ihrer disziplinenübergreifenden Anwendbarkeit geprüft und so in Hinblick auf ihre jeweilige Reichweite innerhalb einer transdisziplinären Editorik verortet würden. Dieser Band – so ist zu hoffen – mag auch dazu ein Prolegomenon bilden.

Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014 (Einführungen Germanistik), S. 75, s. auch ebd., S. 28. 73 Ein Überblick dazu bei Sander 1998/2010 (Anm. 60), S. 245–256. 74 Mittelstraß 2003 (Anm. 13), S. 10. 72

Franziska Heller

Die Un-Ordnung der Dinge Digitalisierungs(ge)schichten: Medientheoretische Aspekte der digitalen Edition von analogen Filmen

Die interdisziplinäre Perspektive zwischen Literatur-, Editions-, Film- und Medienwissenschaft lässt Spannungsfelder in der Entwicklung der theoretischen Reflexion hervortreten. Bereits das Konzept der Tagung, aus deren Diskussionen der vorliegende Beitrag hervorgegangen ist, hebt die Differenzen hervor: „Während sich die literaturwissenschaftliche Editionsphilologie nach wie vor am Modell der in den letzten 200  Jahren entwickelten ‚Historisch-kritischen Ausgabe‘ orientiert, stehen die AV-­ Medien in der Entwicklung solcher Instrumentarien erst am Anfang.“1 Speziell unter den Vorzeichen jüngerer Medienentwicklungen gewinnt die Frage nach einem interdisziplinären Dialog weiter an Gewicht: „Im Zeitalter der Digitalisierung eröffnen sich der Editionspraxis jenseits von Buch und linearem Film neue Möglichkeiten der ‚Text‘-Aufbereitung, (mediengenerischen) Modellierung und Präsentation, die unterschiedliche Nutzerszenarien (für Wissenschaft, Studium und Vermittlung) berücksichtigen.“2 Die von der Tagungsleitung zu Recht aufgeworfenen editionswissenschaftlichen Fragestellungen nach „der Herstellung/Rekonstruktion des ‚Textes‘/Films, nach Umgang mit Fassungen, der Darstellung von Varianz, der Beschreibung der Überlieferung oder [...] nach der Kommentierung“3 sind meines Erachtens aus medienwissenschaftlicher Sicht in besonderer Weise in einem medienarchäologischen und rezeptionsästhetischen, zumal wahrnehmungstheoretischen Horizont zu reflektieren. Damit wenden sich meine Überlegungen den medientheoretischen und medienästhetischen Implikationen zu, die sich in der Frage nach Präsentationsformen sowie in der Berücksichtigung von Kontexten und Szenarien der Nutzung bei der digitalen Edition von ehemals analogen Filmen konkretisieren. Die folgenden Überlegungen verstehen sich insofern als methodologischer und wissenschaftstheoretischer Beitrag, der gerade kein Übertragungsmodell versucht, wie sich Begriffe aus der Editionswissenschaft und vor allem aus der Philologie auf Film­ editionen transferieren lassen. Hier haben Autorinnen wie Natascha Drubek, Ursula von Keitz und Anna Bohn sehr verdienstvolle Arbeit geleistet.4 Meine Ausführungen beschäftigen sich vielmehr mit einem Problemkatalog, der aus der angekündigten me Ursula von Keitz, Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth: [Programmflyer zur Tagung Kritische Filmund Literaturedition]. Berlin 2019. 2 Von Keitz/Lukas/Nutt-Kofoth, Programmflyer 2019 (Anm. 1). 3 Von Keitz/Lukas/Nutt-Kofoth, Programmflyer 2019 (Anm. 1). 4 Natascha Drubek-Meyer, Nikolai Izvolov: Textkritische Editionen von Filmen auf DVD. In: montage/ av 16, 2007, H. 1, S. 183–199; Anna Bohn: Denkmal Film. Bd. 1: Der Film als Kulturerbe, Bd. 2: Kulturlexikon Filmerbe. Wien, Köln, Weimar 2013, bes. S. 341–398; Ursula von Keitz: Historisch-kritische Filmedition – ein interdisziplinäres Szenario. In: editio 27, 2013, S. 15–37. 1

https://doi.org/10.1515/9783110684605-003

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Franziska Heller

dienspezifischen geschichts- und wahrnehmungstheoretischen Perspektive resultiert und sich weitergehend in dem größeren Diskurskomplex um die Konzeptionen von Film, (Kunst-)Werk, ästhetischer Erfahrung, Populärkultur, Unterhaltungsindustrie und Geschichte verortet. Hier kommt in besonderer Weise der systematische Zusammenhang zum Tragen, der bereits zwischen Editionspraktiken und der Formierung von Literaturgeschichte besteht und an dieser Stelle auch für die (Re-)Konstruktion von Filmgeschichte gilt. Im Zusammengehen von Film und digitalen Formen als Medien der Präsentation und des Zugangs treten insofern die schon bei der Literatur bestehenden zentralen Fragen nach dem Umgang mit der Materialität, nach der Übertragung von ästhetischen Eigenschaften und nach den Formierungen der Rezeptionserfahrung (in bestimmten Nutzungskontexten) noch stärker in den Vordergrund. Denn man hat es mit der Remediation5 eines audiovisuellen, zeitbasierten Mediums zu tun. Deshalb sind in besonderer Weise die Aspekte des vielschichtigen medialen Charakters von digitalen Filmeditionen zu bedenken; und dies erst recht, wenn man Filme ediert, die ihrerseits bereits eine (komplexe) Produktions- und Überlieferungsgeschichte in der analogen Domäne aufweisen, welche dann wiederum in digitalen Formaten und Strukturen ‚rekonstruiert‘ wird. Als medienanalytische Fragestellung formuliert: Wie wird in digitalen editorischen Wiederaufnahmen von analogen Filmen ‚Geschichte‘ im Modus des Digital-Medialen konstruiert? Welche Erfahrungs- und Erkenntnisräume werden eröffnet? Hierbei kommt ein weiterer wichtiger Aspekt zum Tragen: die Alltäglichkeit und Habitualisierung unseres digitalen Mediengebrauchs und -konsums, der sich in den letzten 25 Jahren entwickelt hat. Deshalb wäre die obige Fragestellung dahingehend zu ergänzen: Wie ist angesichts der Medienerfahrungen der letzten 25 Jahre in der sich entwickelnden digitalen Kultur die Dimension des Filmhistorischen – zumal kritisch – zu konzipieren? Angesichts dieser Ausgangsfragen werde ich zunächst Diskurse, die im Kontext der genannten Komplexe wichtig für mein Verständnis des Verhältnisses zwischen ‚Edi­ tion‘ und ‚Film‘ sind, als Netz von Aspekten entwickeln und ein clusterförmiges Denkmodell für die Medialität filmischer Editionen vorschlagen. Im Sinne dieser Perspektivierung gehe ich konzeptionell von der engen Verwebung unterschiedlicher Schichten des Medialen aus, die das jeweilige Konstrukt des Historischen nachhaltig beeinflussen. Letzterer Effekt ist eng verknüpft mit den Herausforderungen, die aus der Zirkulation und Migration von Bewegtbildern in andere historische Medienumgebungen resultieren. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der DVD als eines populären Editionsmediums in der Transitionsphase von analoger Produktion und Distribution zur digitalen Domäne profiliert. Die spezifische Rolle der DVD begreife ich in einer methodologischen Anlehnung an Foucaults Perspektive auf die Ordnung der Dinge in einer Abwandlung als Un-­ Ordnung; eine Un-Ordnung mit medienhistorisch wirksamen Eigenschaften: Die prägende Phase des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts als ein Feld aus Praktiken einer Un-Ordnung zu verstehen soll die besondere technologische und zeitliche Dynamik der Vgl. grundsätzlich das bekannte Prinzip nach Jay David Bolter, Richard Grusin: Remediation. Cam­ bridge/MA 1999.

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Medienumgebungen, unter deren Vorzeichen historische Filme aus dem Archiv in den letzten zwei Jahrzehnten sichtbar, zugänglich und kontextualisiert wurden, beschreibbar machen. Ich diskutiere die hier zu Tage tretenden Besonderheiten im Kontext von Überlegungen aus der Literatur- und Geschichtswissenschaft, welche sich mit den Konsequenzen der Nutzung(sformen) von digitalisierten bzw. medial reproduzierten Quellen auseinandersetzen. Meine theoretischen Diskussionen konkretisiere ich in der Folge mit einem Erfahrungsbericht aus der Lehr- und Forschungspraxis, um dann abschließend als kurzes Fazit Fragen für die weitergehende Debatte zu entwerfen.

Im Zeichen medialer Schichtungen und Transitionen: Problemkomplexe, begriffliche Netze und Cluster Meine ersten theoretisch-methodischen Überlegungen widmen sich der netzartigen Verbindung von Begriffskomplexen, die kunstpolitische und auch grundsätzliche wissenschaftstheoretische Diskussionen herausfordern. Konkret geht es um die Vernetzung der Ebenen, welche Filme – zumal ehemals analoge Filme – zu einer Herausforderung digitaler Editionen werden lassen. Zu den Problemkreisen gehören: –– die sich historisch wandelnden technisch-industriellen Produktions- und Reproduktionsweisen des Films und die damit zusammenhängenden Distributionsstrukturen, welche wiederum mit unterschiedlichen Medienentwicklungen verzahnt sind. In dem Prinzip der Reproduzierbarkeit liegt – über Walter Benjamin hinausgehend – auch praktisch das Problem zugrunde, die Bestimmung eines ‚Originals‘ beim Film vornehmen zu können (zu den diskursiven und methodologischen Folgen s. unten); –– die ebenso sich historisch wandelnden apparativen Zugangs- und Aufführungssituationen von Filmen bzw. die Bedingungen der Rezeption und Erfahrung eines Films; –– die grundsätzliche phänomenal-unmittelbare Wirkungsdimension von Bewegtbildern – in Zeit und Raum; das heißt, die Funktionsweise von Bewegtbildern, sowohl Vorstellungs- als auch Wahrnehmungsbilder zu vermitteln, stets gebunden an einen präsentischen Wahrnehmungseindruck – im Moment des Ablaufens der Bildzusammenhänge; –– die überformenden kunstpolitischen und disziplinären Diskurse, die auch die methodischen Herangehensweisen und Voraussetzungen prägen. Wie bereits angedeutet, verkompliziert sich dies mit der Prekarität der Festlegung eines ‚Originals‘ beim Film. Der Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger spricht gar von häufig zu beobachtenden Mechanismen einer ‚Rhetorik des Originals‘, welche eher ein ‚Set von Praktiken‘ ausmache.6 Dies bedeutet: Eine bestimmte Filmrolle, eine bestimmte Filmkopie oder ein Negativ wird über den pragmatischen Zusammenhang zum ‚Original‘, erhält nur über den jeweiligen Kontext seine historisch-referentielle Bedeutung. Die Filmhistorikerin und Digitalkulturwissenschaftlerin Giovanna Fossati hat auf diese Weise den Auswahlprozess etwa einer Filmversion oder einer speziellen Vinzenz Hediger: The Original is Always Lost. Film History, Copyright Industries and the Problem of Reconstruction. In: Cinephilia. Movies, Love and Memory. Hrsg. von Malte Hagener und Marijke De Valck. Amsterdam 2005, S. 133–147, hier S. 137; in Bezug auf DVD-Editionen s. ebd., S. 139 und S. 144.

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Filmrolle als ‚Original‘ in einem pragmatisch orientierten Ansatz theoretisiert. Dabei hebt sie hervor, dass das konzeptuelle Framework eines einmal festgelegten ‚Originals‘ als Referenz dann ganze Rekonstruktionsvorhaben strukturiert und prägt.7 All diese Ebenen beeinflussen als zusammenwirkendes Cluster8 die besondere Produktions-, Überlieferungs- und eben auch die Präsentations- bzw. Aufführungsproblematik von Filmen. Speziell letztere hat Auswirkungen auf die Sichtweise und das Verständnis von dem, was man als (medien-)historischen Kontext versteht. Dies ist schon oberflächlich zu beobachten bei der begrifflichen Unterscheidung zwischen Film- und Kino­geschichte. Weiterhin kommt die enge Verzahnung von Geräte- und Medientechnologieentwicklungen sowie von ökonomisch-kommerziellen Interessen einer Unterhaltungsindustrie zum Tragen. Unter diesen Vorzeichen finden Filmwerke und ihre Überlieferung in ganz unterschiedlichen Medienformaten (TV, Video etc.) statt, was Ursache zahlreicher Varianzen in Dramaturgie, Montagezusammenhängen und audiovisueller Ästhetik (Bildqualitäten o. ä.) ist.9 Aber je nach Überlieferungslage und pragmatischen Zusammenhängen können diese Ausprägungen des Films Quellen für restauratorische und editorische Bemühungen werden.10 Von den Folgen des grundlegenden Prinzips des Kopierens bereits in der analogen Domäne (Kameranegativ, Intermediate Positiv, Intermediate Negativ, Vorführ-Positiv etc.) im Aufnahme-, Produktions- und Entwicklungsprozess bis hin zur Vervielfältigung global vertriebener Distributionskopien sei an dieser Stelle gar nicht ‚en détail‘ die Rede; hier soll allein der Hinweis genügen, dass all die kursorisch aufgeführten Herausforderungen auf die Bedeutung der DVD als populärkulturelle Praxis in der sich entwickelnden digitalen Medienkultur deuten, weil hier Grundlagen unseres Verständnisses von digitaler Filmkultur und -rezeption gelegt und die angesprochene Problematik in Phänomenen historiografisch wirksam konkretisiert wurden. Jede Restaurierung kreiert nach Fossati ein eigenes Dispositiv. Sie beschreibt auch die Spannung zwischen konzeptuellem und materiellem Artefakt bei der Frage nach dem filmischen Original: „‚The original‘ can indeed be one of the possible conceptual artifacts (e. g. the director’s cut or the film shown to the audience) or one of the possible material artifacts (e. g. the original camera negative or the only existing fragment of a projection print recovered by the archive)“; Giovanna Fossati: From Grain to Pixel. The Archival Life of Film in Transition. Amsterdam 2009, S. 106 f. Weiterhin weist David N. Rodowick, unter Rekurs auf Nelson Goodman, auf die schwer zu klärende Frage von Original und Kopie hin: Film habe einen hybriden, ambivalenten Status; für die Identität von autografischen Kunstwerken sei entscheidend, dass sie an ihre physische Identifikation gebunden sind und damit auch an die Idee eines physischen Erzeugnisses des Künstlers (etwa bei einem Gemälde). Allografische Künste sind hingegen zweistufig, da der Künstler eine Notation entwirft, auf deren Grundlage das Kunstwerk in verschiedenen Realisationen von ihm emanzipiert aufgeführt werden kann. Zentrales Beispiel ist die Musik, in der die Komposition als kreativer Akt getrennt sein kann vom performativen Akt des Kunstwerks – auf der Grundlage des Notationssystems. Bereits der analoge Film mit seinem Prinzip der technischen Reproduzierbarkeit verortet sich zwischen den beiden Kategorien, da er mehrstufig funktioniert. Dies verkompliziert sich angesichts der Wandlung der Form der Reproduzierbarkeit; David N. Rodowick: The Virtual Life of Film. Cambridge/MA etc. 2007, S. 14 f. 8 Vgl. Franziska Heller: Update! Film und Mediengeschichte im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit. Paderborn, München 2020, zum Begriff des Clusters bes. Kap. 3.9.2. 9 Vgl. Joseph Garncarz: Filmfassungen. Eine Theorie signifikanter Filmvariation. Frankfurt/Main 1992; Chris Wahl: Sprachversionsfilme aus Babelsberg. Die internationale Strategie der Ufa 1929–1939. München 2009. 10 Vgl. hierzu ausführlich den pragmatischen Ansatz von Fossati 2009 (Anm. 7). 7

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DVD als Medium und populärkulturelle (historische) Praxis der Transition Grundsätzlich gilt: Wenn man sich mit der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte von Filmen beschäftigt, bewegt man sich meist im Bereich einer breiter aufzufassenden Mediengeschichte und flüchtigen Unterhaltungsindustrie und -technologie. Dies rückt methodologisch die Frage nach den jeweiligen Gebrauchs- und Funktionsweisen von Bewegtbildern in unterschiedlichen soziohistorischen Kontexten und vor allem in unterschiedlichen formierend wirksamen, technologisch varianten Medienumgebungen in den Mittelpunkt. Hier manifestieren sich häufig nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die ästhetische Erscheinung sowie den dramatisch-textuellen Inhalt. Jede Medienumgebung, in die ein Film migriert, kreiert unterschiedliche multimediale paratextuelle und produktionstechnische Quellen, welche im Rahmen einer wiederum medialisierten Vermittlung der rekonstruktiven Bemühungen ihrerseits ein mediales Produkt historiografisch wirksamer Zusammenhänge ausbilden können. Besonders fallen hier seit Ende der 1990er Jahre sogenannte filmhistorische Dokumentationen mit ihrer Darstellung von (digitalen) Restaurierungs- und Rekonstruktionsprozessen ins Auge. Allerdings stellt schon die Genrebezeichnung keinen standardisierten Begriff dar. Solche ‚Dokumentationen‘ zirkulieren bei ‚älteren‘ Filmen häufig als kontextualisierende ‚Bonusmaterialien‘ auf digitalen Trägern wie der DVD (mit ihrem wichtigen historischen Vorläufer der Laserdisc). So hat im allgemeinen Sprachgebrauch speziell die DVD als Träger und Zugangsmedium zu Filmen in der historischen Transitionsphase den Begriff der ‚Edition‘ unter einem ökonomisch-kommerziellen Interesse geprägt.11 Der Medienwissenschaftler Matthias Christen hat schon 2011 die DVD als „bewegliche[s] Archiv“ untersucht und „DVD-Editionen als Schnittstellen von Filmwissenschaft, Philologie und Marketingstrategien“ begriffen. Dabei ordnet er DVD-Editionen verschiedenen Paradigmen zu, nach denen diese historisches Wissen vermitteln: dem ökonomischen und dem philologischen Paradigma. Doch schon Christen muss eingestehen, dass diese Distinktion nicht mit absoluter Trennschärfe zu halten ist. Er kommt zu dem Schluss, dass filmrestauratorisches und quellenphilologisches Wissen zum Zwecke der Vermarktung eingesetzt werde.12 Aber genau aus diesem Grund halte ich es für entscheidend, den weit verbreiteten Phänomenen, die sich mit der DVD zu Anfang des 21. Jahrhunderts als nicht standardisierte Praktiken etablierten, in ihrer Ausbildung von Diskurs- und Erwartungsschemata Rechnung zu tragen.13 In den nicht normierten Praktiken der Digitalisierung von

Vgl. die schillernden, nicht standardisierten ‚Labels‘ etwa einer ‚Collector’s Edition‘, einer ‚Special Edition‘, einer ‚Deluxe Edition‘: s. zu „eine[r] kurze[n] Geschichte der Anreicherung“ und zu „­Special Edition Features“ Jan Distelmeyer: Das flexible Kino. Ästhetik und Dispositiv der DVD & Blu-ray. ­Berlin 2012, S. 66–102, Zitate hier S. 66 und S. 71. 12 Matthias Christen: Das bewegliche Archiv. DVD-Editionen als Schnittstelle von Filmwissenschaft, Philologie und Marketingstrategien. In: Orte filmischen Wissens. Filmkultur und Filmvermittlung im Zeit­ alter digitaler Netzwerke. Hrsg. von Gudrun Sommer, Vinzenz Hediger und Oliver Fahle. Marburg 2011, S. 93–108. 13 Mit der DVD gingen darüber hinaus zahlreiche Veränderungen in der Rezeptionssituation (zu Hause vs. in der Kino-Öffentlichkeit) einher; s. Barbara Klinger: Beyond the Multiplex. Cinema, New Technologies and the Home. Berkeley, Los Angeles 2006. Siehe hinsichtlich historiografischer Wirksamkeit Heller 2020 (Anm. 8). 11

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Filmen (der tatsächlichen Überführung [= Scannen]14 von Bild und Ton) sowie in der digitalen Aufbereitung des Filmzugangs und der digital-audiovisuellen Herstellung von historischen Kontexten wurden ‚im Wildwuchs‘ Vorstellungen nachhaltig geprägt, was digitaler Umgang mit Film bedeutet, wie digitale Filmkultur auszusehen hat – aber auch umgekehrt: Was bedeutet digital im Kontext von Filmkultur und ihrer Geschichte? In dieser speziellen Zeitperiode wurden Digitalisate (der Filme selbst sowie auch von historischen non-filmischen Quellen) produziert, die unter Umständen die Grundlagen für (zukünftige) Editionen leg(t)en. Diese Periode der Un-Ordnung hat wichtige Diskurs- und Wahrnehmungstopoi hervorgebracht und habitualisiert.

Die Perspektive der Un-Ordnung In Anlehnung an Foucaults Werk Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines adaptiere ich den deutschen Titel des Werks für meinen Argumentationszusammenhang methodologisch und modifiziere ihn zugleich. Es geht mir darum, die Un-Ordnung – im Modus der Popularisierung – paradoxerweise als Prinzip der Etablie­ rung von (historischen) Wissens-, medialen Erfahrungs- und Erwartungscodes in der Transitionsphase von analogem zu digitalem Film zu modellieren. Wenn man grundsätzlich den Fokus auf die „Ordnung der Dinge“ richtet, geraten Phänomene in den Blick als ein „‚System von Elementen‘, […] bei denen die Ähnlichkeiten und Unterschiede erscheinen können“.15 Dabei wird notwendigerweise innerhalb des ordnenden Systems die Schwelle bestimmt, „oberhalb derer es einen Unterschied und unterhalb derer es Ähnlichkeit gibt“.16 Damit geraten die fundamentalen Codes einer Kultur in den Blick, die „ihre Wahrnehmungsschemata […] beherrschen“.17 Es „handelt sich […] um eine Untersuchung, in der man sich bemüht, festzustellen, […] nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat“.18 Ich greife die Überlegungen Foucaults in mehrfacher Hinsicht konzeptuell auf. Dabei richte ich den Fokus auf An-Ordnungen von popularisierten Wissensschemata und befrage sie auf ihre (medialen) Konstruktions- und prägenden Erwartungsformen hin. Dies wird gedacht in Form einer digital-räumlichen Anordnung, bei der der Begriff vom Filmwerk als auch der Begriff von Geschichte/Geschichtlichkeit als schichtartige Cluster begriffen werden, deren unterschiedliche Bedeutungshorizonte kopräsent sind und – je nach Perspektive – situativ und pragmatisch in einem konkreten Funktions-, Interessens- und Gebrauchszusammenhang sowohl das filmische Werk als auch dessen historischen Kontext entwerfen. Ganz konkret kann man exemplarisch die Überlegungen zur Bedeutungs- und Wissensgenerierung im Räumlichen auf die DVD oder Blu-ray-Disc beziehen. Nach Distel­meyer nehmen DVDs und Blu-ray-Discs in besonderer Weise eine verräumli Vgl. Begriffsdiskussion und -präzisierung bei Lev Manovich: The Language of New Media. ­Cambridge­/­MA, London 2001, sowie Heller 2020 (Anm. 8), bes. Kap. 2. 15 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. 10. Aufl. Frankfurt/Main 1991, S. 22, Hervorhebung von F. H. 16 Foucault 1991 (Anm. 15), S. 22. 17 Foucault 1991 (Anm. 15), S. 22. 18 Foucault 1991 (Anm. 15), S. 24, Hervorhebung von F. H. 14

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chende Inszenierung des Zugangs zu einem Film vor,19 sie können zudem die historische Kontextualisierung medialisiert-gestalterisch vermitteln. Ich verstehe insofern das Netzwerk aus Akteuren, Institutionen und soziokulturellen und ästhetischen Praktiken ebenfalls als ein Feld der Un-Ordnung, das in der konkreten Räumlichkeit von Phänomenen – den zirkulierenden Filmeditionen – in medialisierter sowie zugleich unterhaltungsindustriell eingebundener Form Vorstellungen von Filmgeschichte vermittelt.20 Dies ist mit der Feststellung des Historikers Pierre Sorlin zu verbinden: „Die ­Geschichte existiert nirgendwo anders als in dem Diskurs, der sie spricht. Sie nimmt verschiedene Formen an, je nach den Mitteln ihrer Überlieferung“.21 So sind die ­populären digitalen Editionen von Filmen als räumliche Prinzipien der Konstruktion von Filmgeschichte zu sehen, die eine komplexe Fragestellung aufwerfen: Wer stellt in einer solchen räumlichen Anordnung eigentlich die ‚Äußerungsinstanz‘ des entworfenen Diskurses dar?22 Wie entsteht – durch welche medienästhetischen und diskursiven Mittel – ein Effekt von ‚Autorisierung‘ des vermittelten Geschichtskontexts eines Films bei den Rezipientinnen und Rezipienten bzw. den Nutzerinnen und Nutzern? Man denke hier allein an die Vielzahl von DVD-Labels, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts für die Zirkulation von Filmen sorgten. Unter anderem geprägt von unterschiedlichen nationalen Märkten und Rechtslagen, entstand eine geografisch-­ regionale Ausdifferenzierung der Exempel. Aus medienwissenschaftlicher Sicht ist an dieser Stelle grundsätzlich in einer Tradition der Semio-Pragmatik von Roger Odin nach binnenstrukturellen und vor allem ästhetischen Effekten der medialen Anordnung DVD zu fragen, welche seitens der Rezipientinnen und Rezipienten die (An-)Erkennung einer Autoritätsinstanz über die dargestellten historischen Zusammenhänge und die Verlässlichkeit der edierten Filmversion zur Folge haben. Die zeitliche Dynamik der ständigen Wandlung und Überschreibung einer digitalen Medienkultur, die sich schon in den letzten 25 Jahren beobachten ließ, macht einen weiteren zentralen Aspekt der Un-Ordnung aus; gerade weil sie das Bild, das Gefüge einer ‚Filmgeschichte‘ nur für einen Moment, situativ anordnet. Attraktivität und Aktualität etwa einer digitalen Restaurierung, der Rekonstruktion einer spezifischen Fassung und der entsprechenden audiovisuellen Kontextualisierung23 können schon nach nur zwei Jahren deutlich an ‚Wert‘ in einer digitalen Kultur der ständigen ‚Verbesserung‘ der Technologien verlieren.24 Ich habe dies an anderer Stelle als kulturin Vgl. Distelmeyer 2012 (Anm. 11), bes. S. 139–140 und S. 151–183. Eine solche Herangehensweise an die populären Editionsphänomene einer Unterhaltungsindustrie in der Transitionsphase begreife ich mit dem Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser, einem Interpreten Foucaults, als Medienarchäologie. Vgl. Heller 2020 (Anm. 8), bes. Kap. 3. 21 Pierre Sorlin: Ist es möglich, eine Geschichte des Kinos zu schreiben? In: montage/av  5, 1995, H.  1, S. 23–37, hier S. 25. 22 Aus philologischer Perspektive diskutieren dies auch anschaulich etwa Drubek-Meyer/Izvolov 2007 (Anm. 4). 23 Etwa in Form der sogenannten filmhistorischen Dokumentation, die den spezifischen digitalen Restaurierungsprozess filmisch vermittelt und zugleich häufig im ökonomischen Diskurs rechtfertigt, warum man Varianten ausgeschlossen hat. 24 Die wiederholten Restaurierungsbemühungen und nachfolgenden Editionsgeschichten von Filmen wie Münchhausen (1943) oder Metropolis (1927) – letzterer das prominenteste, meistzitierte Exempel der deutschen Filmrestaurierungsgeschichte – zeugen davon. Vgl. Heller 2020 (Anm. 8), bes. Kap. 6.12 s­ owie Kap. 7.9. 19 20

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dustrielles Prinzip des ‚Update!‘25 entwickelt und ausführlich dargestellt, wie sich in einer solchen Gemengelage medienhistoriografische Wirksamkeit von Phänomenen, von rekonstruierten Filmversionen, von Editionen entfaltet; eine Form der aisthetischen Geschichtsbildmodellierung, die sogar auf nicht-mediale geschichtliche Kon­ stellationen bezogen werden kann.26 Dies zeitigt, wie bereits eingeführt, methodische Konsequenzen und fordert eine Diskussion heraus, was man als historisch, zumal kritisch-konstruktiv, in einem solchen Umfeld mit Blick auf die Filmgeschichte bezeichnen kann. So gilt es, die jeweilige Ordnung verzeitlicht und damit pragmatisch in den jeweiligen situativen Netzwerken zwischen Technologie, Industrie und Unterhaltungskultur zu begreifen. Exemplarisch kann man verschiedene analytische Problemhorizonte ausmachen, die aus der medienhistorischen Situation der Transition entspringen. Diese wirken sich maßgeblich verzeitlichend aus und machen deutlich, wie sehr die konkrete Rezeptionssituation und der -zeitpunkt für die historische Verortung relevant sind: –– Wie schon eingangs dargestellt, gab (und gibt es bisher) keine Standardisierung der Digitalisierung für Bewegtbilder. –– Ebenso war in der thematisierten Periode keine Standardisierung der Darstellungs-, Präsentations- und Kommentierungsweisen noch der Verknüpfungsformen von histo­rischen Kontextualisierungen vorhanden; weder von filmischen noch nicht-­ filmischen Quellen. –– Die Frage, was man als Quelle für die historische Filmforschung begreift (und welche Narrative der Geschichtsschreibung sich daran anschließen), hat seinerseits bereits eine lange Geschichte der Methodendiskussion – spätestens seit der in den 1970/80er Jahren ausgerufenen ‚New Film History‘. –– Wie vor allem Jan Distelmeyer hervorgehoben hat – und Ähnliches formuliert auch Andreas Fickers in der Forderung einer digitalen Hermeneutik (s. u.) –, gilt es etwa bei dem Dispositiv DVD resp. dann Blu-ray-Disc und Video-on-Demand,27 die besondere Ästhetik der Menü- und Interfacegestaltung und -struktur als historiografisch wirksame Navigationsräume analytisch mitzuberücksichtigen. Diese generieren – ebenfalls nicht standardisiert – Modalitäten der historischen Erkenntnisbildung und -erfahrung.28 –– Das oft nicht transparente und nachvollziehbare Netz der beteiligten Faktoren (z. B. Überlieferungslage von Materialien) und der Akteure wie beteiligten Archiv­ netzwerke, Kuratorinnen und Kuratoren, Geräteherstellerinnen und -hersteller, Postproduktions-/Restaurierungsfirmen, DVD-Produzentinnen und -produzenten, Förderungs- und Finanzierungseinrichtungen und Einflussnahmen geopolitischer

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Heller 2020 (Anm. 8). Vgl. Heller 2020 (Anm. 8), bes. Kap. 6. Vgl. Distelmeyer 2012 (Anm. 11); erweiternd Heller 2020 (Anm. 8). Vgl. Heller 2020 (Anm. 8).

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Erinnerungs- und Kulturpolitiken29 bestimmt eine Edition in Gestaltung und Bildwie Tonästhetik maßgeblich.30 Vor dem Hintergrund der hier aufgeführten Punkte lässt sich Gert Mattenklotts ebenfalls an Michel Foucault angelehnte Formulierung von Werkausgaben als „Dispositive[n] der Macht“31 noch wesentlich breiter und zeitlich-situativ gebundener fassen. Die Folgen dieser sinngebenden, wirkmächtigen Anordnungen kulturellen Wissens lassen sich dann insbesondere anhand von Kanonisierungen etwa bestimmter Autoren oder Werkausgaben unter dem Vorzeichen eines bestimmten Starvehikels beobachten, was nicht selten zu Umdeutungen und zeitlichen Rekonfigurationen der historischen (Produktions-)Zusammenhänge führt. Beispiele sind etwa digitale Editionen, in denen Stumm- und Tonfilmfassungen von ein und demselben Film aus heutiger Sicht in einem bestimmten Verhältnis zueinander veröffentlicht werden. Bemerkenswert ist hier, dass meist die eigentlich historisch früheren Stummfilm-Versionen auf den DVD-Editionen als ‚archivarischer Bonus‘ – da weniger heutigen Sehgewohnheiten entsprechend – den Tonversionen beigegeben werden. So liefert das Schaffen von Charlie Chaplin gleich mehrere interessante Beispiele. Im Fall der DVD-Edition von The Gold Rush (MK2/ Warner Bros. Home 2003) wird dies etwa augenscheinlich. Die ältere Stummfilmfassung aus dem Jahr 1925 wird auf der DVD tatsächlich als ‚Archivversion‘ angeboten und hierarchisch untergeordnet als Zusatzbeigabe inszeniert. Die Tonfilmfassung von 1945, die ebenfalls unter der Regie von Charlie Chaplin entstand, stellt den prominenten Hauptfilm der Edition dar. Unter etwas anderen Vorzeichen ist ein zweiter Fall aus Chaplins umfangreichem Schaffen zu sehen: 1915 drehte der Regiepionier Cecil B. DeMille eine prestigeträchtige Verfilmung des bekannten Carmen-Stoffes von Prosper Mérimée; ein Stoff, der in seiner nahen Verwandtschaft – auch zur Oper – für melodramatische Hochkultur steht. Charlie Chaplin schuf noch im selben Jahr eine Parodie, die detailgetreu die rurale ‚Mise-en-scène‘ von DeMilles Film kopierte. Diese wurde allerdings dann ­Opfer von Chaplins Spiel- und Zerstörungswut im Dienste des Slapsticks: Dekorative Knob­ lauchzehen etwa wurden gefährliche Wurfgeschosse. Ein vergleichendes Sehen von DeMilles Film mit Chaplins nachfolgender Version hat nicht nur extrem humoris­ tisches Potenzial, es eröffnet auch zahlreiche Reflexionsmöglichkeiten – nicht zuletzt über Genrefragen. Allerdings ist in einer vom Starvehikel Chaplin geleiteten jüngeren DVD-Edition die Strukturierung einer Sichtung in der Chronologie von Vor- und Nach Dies ist auch nachhaltig beeinflusst von der jeweils nationalen Rechtelage; vgl. hierzu grundsätzlich Claudy Op den Kamp: The Greatest Films Never Seen. The Film Archive and the Copyright Smokescreen. Amsterdam 2018. 30 In Anschluss an den Filmhistoriker Paolo Cherchi Usai haben Flückiger/Heller/Op den Kamp/Pfluger versucht, dieses Netzwerk methodisch unter dem Begriff ‚archival pragmatics‘ zu fassen, um die Entstehungsbedingungen von Restaurierungen, Rekonstruktionen und Editionen von Filmen in ihrem situativ gegebenen netzwerkartigen Gefüge beschreibbar zu machen; Barbara Flückiger, Franziska Heller, Claudy Op den Kamp, David Pfluger: „Digital Desmet“: Translating Early Applied Colors. In: The Moving Image 16, 2016, H. 1, S. 106–124, sowie Paolo Cherchi Usai: Early Films in the Age of Content; or, ‚Cinema of Attractions‘ Pursued by Digital Means. In: A Companion to Early Cinema. Hrsg. von André Gaudreault, Nicolas Dulac und Santiago Hidalgo. Chichester 2012, S. 1024–1068, hier S. 1036. 31 Gert Mattenklott: Ästhetische Erfahrung und Edition. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hrsg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 1–8, hier S. 6. 29

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bild verdreht: In der nicht weiter kontextualisierten Edition von Chaplins Carmen-Parodie (Great Movies 2012) taucht der eigentliche Referenzfilm von DeMille, dessen Kenntnis fast notwendig für das komische Verständnis von Chaplins Film ist, nur als Bonusmaterial auf, angekündigt und ersichtlich auf dem Cover lediglich über eine kleine Promotionsvignette. Es ließen sich noch viele weitere Beispiele bei anderen Filmemacherinnen und Filmemachern und in anderen historischen Konstellationen finden. Aus Platzgründen verweise ich hier beispielhaft auf das breite Korpus der Studie von Jan Distelmeyer zum „Dispositiv der DVD“32 sowie auf meine Detailanalysen von verschiedenen Ausgaben im Band Update!33 Es bleibt mir an dieser Stelle als Zwischenfazit die besondere methodologische Perspektive zu betonen: In der Praxis der digitalen Edition wurden Film(fassungen) digitalisiert, gegebenenfalls digital in Bild, häufig gar in Ton und Montagezusammenhang etwa in einer hypothetischen Version rekonstruiert34 und im Medium der DVD mit anderen filmischen wie nicht-filmischen Quellen, die ihrerseits digitalisiert wurden, räumlich über Menüstrukturen verknüpft; zuweilen sogar noch ergänzt mit dem Angebot einer anderen Filmfassung, die aber meist hierarchisiert zusätzlich als Supplement, als ‚Bonus‘, angeboten wurde. Gleichzeitig wurden audiovisuelle Mittel – Bild, Ton (etwa auch ‚Voice-Over‘), Montagezusammenhänge – sowie andere filmische Formate und Genres (wie das der Dokumentation oder des Essays) zur Kontextualisierung und Kommentierung verwendet. In der Un-Ordnung der Praktiken der DVD-Editionen kam und kommt es deshalb auf die Gebrauchsformen und Funktionszusammenhänge – etwa in Forschung und Lehre35 – an, wie diese vielschichtig wirksam digitalisierten Materialien zu Quellen filmanalytischer und historischer Wissensproduktion geraten.

Digitale Hermeneutik und das Präsenzproblem der audiovisuellen Quellen Interessanterweise verbindet Gert Mattenklott aus literatur- und editionswissenschaftlicher Sicht die Frage nach Status und Behandlung von Quellen in der historischen Forschung mit Aspekten der technischen Reproduktion und der speziellen Bedeutung von ästhetischer Erfahrung. Mattenklott argumentiert im Horizont von Textausgaben, macht aber in seinen Bemerkungen auf etwas aufmerksam, was bei dem synästhetisch-präsentisch wirkenden (Unterhaltungs-)Medium Film und den entsprechenden historischen transmedialen Paratexten meines Erachtens umso mehr zu berücksichtigen ist – auf mehreren Ebenen: auf dem Niveau der Selektion eines Werks für die aufwendigen, kostspieligen Digitalisierungen der zugänglichen (analogen) Filmmateri Distelmeyer 2012 (Anm. 11). Heller 2020 (Anm. 8); weitere Beispiele auch bei Drubek-Meyer/Izvolov 2007 (Anm. 4) und Bohn 2013 (Anm. 4), bes. Bd. 2. 34 Der Umgang mit Filmfragmenten stellt ein weiterhin offenes Problemfeld dar, da, im Gegensatz zu anderen Künsten, fragmenthafte Formen beim Film weniger akzeptiert sind. Vgl. hierzu Bohn 2013 (Anm. 4), bes. Bd.  2, S.  297–314. Unter den Vorzeichen medienspezifischer Attribute und der oft nachhaltigen unterhaltungsindustriellen Einbindung wird beim Film in heutigen Editionen zumeist ein möglichst zusammenhängendes, ästhetisch erfahrbares Werk erstellt (das man vage als das Pendant einer literarischen Lesefassung beschreiben könnte). 35 Vgl. auch verschiedene Beiträge in: Celluloid Goes Digital. Hrsg. von Martin Loiperdinger. Trier 2003. 32 33

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alien;36 auf der Ebene der Edition mit entsprechend titulierten ‚Bonusmaterialien‘, die den historischen Kontext und – im besten Fall – die Quellen der digitalen Bearbeitung transparent machen.37 Mattenklotts Aussagen scheinen für solche Funktionsweisen einer Unterhaltungsindustrie, die historische Filmwerke in die allgemeine, aber auch in die akademische Zirkulation einspeist, adaptierbar: Eine Hypothese darüber, ob eine Quelle als […] Variante oder Fassung zu gelten hat, wird durch die Aufmerksamkeit für ihre ästhetischen Qualitäten […] gelegentlich sogar entschieden. Was aber hier über Textbilder und im Blick auf literarische Quellen gesagt wird, lässt sich in Analogie ohne weiteres auf die Quellen anderer Künste übertragen. Ästhetische Erfahrung, was immer sie von anderen Formen der Erfahrung und des Wissens unterscheiden mag, ist auf die sinnliche Präsenz ihres Gegenstandes unter einem entscheidenden Aspekt am jeweiligen Ort und der jeweiligen Zeit ihrer Wahrnehmung durch ihre Rezipienten bezogen. Von ihr ist abhängig, was der Aufmerksamkeit für wert befunden […] wird.38

Der Film – zumal seine digitale Reproduktion und Kontextualisierung – unterliegt in vielfältiger Weise der besonderen Formierung von sinnlich-präsentischen Eindrücken. Dies gilt für die Ebene der ästhetischen Erfahrung der audiovisuellen Eindrücke sowie zugleich für die mediale Form des Zugriffs über digitale Träger, die ihrerseits eine eigene Ästhetik der Anordnung von digitalisierten Quellen entwickeln. Die Berücksichtigung der ästhetischen Dimension bei Editionen rückt nach Mattenklotts literaturwissenschaftlichen Ausführungen gerade aber die bedeutungsstiftende Rolle der technischen Entwicklung der Medien in den Vordergrund (wodurch Mattenklott auch den Textualismus in der Kulturwissenschaft erschüttert sieht).39 In seinen Beschreibungen gewinnen nun die Digitalisierung und die zeitliche Dimension der Technologien – in der Frage ihrer Beständigkeit als potenziell langjährige, stabile Quellen für Wissen – an besonderer Bedeutung: „In Reichweite digitalisierter Text- und Bildherstellung sowie ihrer noch kaum zu ermessenden Konsequenzen für Gestalt, Präsenz, Speicherung und Tradierung ihrer Produktion treten wesentliche Charakteristika von Darstellungsformen allererst ins Bewußtsein, deren Überleben über unsere Zeit hinaus ungewiß ist.“40 Für den Film wirkt die technische Entwicklung, die Transition von analog zu digital, hier fast wie ein ‚Brandbeschleuniger‘ der zeitlichen Dynamik: Denn was bereits, wie eingangs angedeutet, in den analogen Produktions- und Reproduktionsprinzipien von Film(streifen) als Problem der Bestimmung eines Originals angelegt ist, wird unter den beschriebenen Vorzeichen der Digitalisierung potenziert und dynamisiert. Filmwissenschaftliche Untersuchungen mit Interesse am historischen Erkenntnisgewinn, die mit DVD-Editionen in den letzten 20 Jahren gearbeitet haben, hatten es also mit analogen (dann digitalisierten) Artefakten zu tun, die sich in vielfältiger Weise einer apriorischen Bestimmung der historischen Referenzmaterialien entzogen haben. Um Vgl. hierzu Franziska Heller, Barbara Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen. Retrodigitalisierung und Filmwissenschaft. In: montage/av 19, 2010, H. 2, S. 139–153. 37 Etwa in Form von Archivfotos der Produktion, historischen Werbematerialien, Partituren, Zensurkarten. 38 Mattenklott 2007 (Anm. 31), S. 2, Hervorhebung von F. H. 39 Mattenklott 2007 (Anm. 31), S. 2. 40 Mattenklott 2007 (Anm. 31), S. 3. 36

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nur eine Auswahl der Formierungen anzudeuten: Was wurde als analoges ‚Original‘ bestimmt – abhängig von dem, was überhaupt überliefert war? Wie wurde das analoge Material in Bild und Ton wann mit welchem Interesse digitalisiert und bearbeitet? In welchen digitalen Formaten wurde es distribuiert? Welche medialisierten und ihrerseits räumlich-ästhetisch angeordneten und inszenierten Kontextualisierungen prägten zusätzlich die Wahrnehmung eines derart edierten Werks? Wenn also Mattenklott über die Geschichtlichkeit seiner Disziplin nachdenkt und in diesem Sinne „eine eigene Editionsforschung als Filiale der Wissenschaftsge­ schichte“ 41 skizziert, so ist dies aus meiner Sicht ebenso für die Film- und Medienwissenschaft produktiv weiter zu denken, vielleicht sogar notwendigerweise aufzugreifen. Meines Erachtens wäre bei historisch bewussten filmanalytischen Fragestellungen die nachdrücklichere Verwendung und Berücksichtigung eines, wie ihn auch Mattenklott für die Literatur ins Spiel bringt, performativen Werkbegriffs sinnvoll – speziell im Zeichen der Digitalisierung. Es geht hier um einen performativ-pragmatischen Werkbegriff, der nicht nur Film als Aufführung(sereignis) in einem konkreten Projektions- und Aufführungskontext begreift; es wäre darüber hinaus zusätzlich eine Bedeutungsschicht des Begriffs zu denken, welche die jeweils ästhetisch-sinnliche Erscheinungsform sowie zugleich die jeweilige digitalisierte Fassung und Edition als Zeugnis eines medientechnologischen und soziokulturellen Moments versteht; dies geprägt von der jeweils aktuellen Medienumgebung als Bedingung der Kontextualisierung und des vermittelten Bildes von geschichtlichen Zusammenhängen. Das gesamte Ensemble präsentiert sich als transmediales Konstrukt. Ich verstehe an dieser Stelle transmediale Prinzipien in Anlehnung an Ausführungen zu digitalen (Erinnerungs-)Kulturen von Vivien Sommer42 und Anna Reading43 als das schichtartige Zusammendenken der analogen und digitalen Prinzipien von Film, die gemeinsam, im gegenseitigen Zusammenspiel der einzelnen medialen wie außer­ medialen Register, ein Verständnis von historischen Kontexten modellieren. Eine solche transmediale Komponente findet sich in einer Variante bei dem Zeit- und Digitalhistoriker Andreas Fickers, wenn er als methodologisches „Update“ das Konzept einer „digitale[n] Hermeneutik“44 entwirft und dabei „Ontologische Wandlungen: Von ‚Quelle‘ zu ‚Dokument‘ zu ‚Daten‘“ untersucht. Dabei rückt er die spezielle Hybridität der Situation zwischen noch analog vorhandenen Quellen und Digitalisaten (unterschiedlichster Medien und Texte) in den Mittelpunkt, in der sich Historiker momentan bewegen würden.45 Ein kurzer praxisorientierter Exkurs: Auf den Film bezogen wurde die interagierende Hybridität zwischen der analogen und digitalen Domäne in der Archivpraxis ganz Mattenklott 2007 (Anm. 31), S. 4. Vivien Sommer: Mediatisierte Erinnerungen. Medienwissenschaftliche Perspektiven für eine Theoretisierung digitaler Erinnerungsprozesse. In: (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse. Hrsg. von Gerd Sebald und Marie-Kristin Döbler. Wiesbaden 2018, S. 53–79, bes. S. 56–58. 43 Anna Reading: Gender and Memory in the Globital Age. London 2016, hier bes. S. 50 f. 44 Andreas Fickers: Update für die Hermeneutik. Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur digitalen Forensik? In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History. Online-Ausgabe 17, 2020, H. 1, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2020/5823, DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1765, Druckausgabe: S. 157–168; hier zitiert nach der Online-Ausgabe (gesehen 9.7.2020). 45 Fickers 2020 (Anm. 44). 41 42

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konkret, als sich Sammlungsinstitutionen in den beginnenden 2000er Jahren damit herausgefordert sahen, nun nicht mehr nur analoge Materialien katalogisieren und lagern zu müssen. Vielmehr galt es vermehrt, etwa zunächst aus digitalen Restaurierungsprojekten stammende Daten und digitale Elemente zu verarbeiten. Je mehr dann auch die aktuelle Filmproduktion digital wurde, desto nachdrücklicher verlagerten sich die Verwaltungs- und Sicherungsaufgaben auch auf ‚Digital-born‘-Produktionen.46 Die Sammlungen und damit die archivierenden Workflows wurden hybrid. Dies bedeutete die Gestaltung von parallelen Arbeitsabläufen sowohl in der analogen Domäne (in den noch vorhandenen Sammlungen aus dem letzten Jahrhundert) als auch in der digitalen; darüber hinaus wurde die Einbindung unterschiedlichster Kompetenzen – etwa aus Filmtechnik-, Geräte-, Materialgeschichte und IT/Computer Science – erforderlich. Nicht zuletzt wurden Katalogsysteme und -kategorien prekär, die eigentlich bis dahin anhand der analogen Filmgeschichte und ihrer Produktionsweisen (z. B. der Beschreibung von Manifestationen/Elementen/Kopien/Filmrollen) entwickelt wurden. Für den Filmhistoriker zeitigt dies in vielfacher Weise Konsequenzen – mit den unterschiedlichen Digitalisaten als Quellen zu arbeiten. Andreas Fickers beschreibt die Herausforderungen einer solchen hybriden Situation für den Geschichtswissenschaftler eindrücklich: Sich in dieser Übergangsphase oder „Trading Zone“ zwischen unterschiedlichen „Communities of Practice“ und epistemologischen Traditionen (etwa zwischen Geistes- und Computerwissenschaften oder Data Sciences) zu bewegen erfordert ein erhöhtes Maß an Selbstreflexivität sowie die Bereitschaft, sich in kritisch-hermeneutischer Tradition mit der Realität geschichtswissenschaftlicher Praxis im digitalen Zeitalter auseinanderzusetzen.47

Mit Blick auf den Film und seine Digitalisate und Editionsformen gilt vor diesem Hintergrund umso mehr: „‚Quellen‘ haben […] immer doppelten Verweischarakter: einmal auf das in ihnen zum Ausdruck Kommende, zum anderen auf den Entstehungs- und Produktionskontext.“48 Was Fickers hier beschreibt, trifft auf vieldeutige und -schichtige Weise auf Digitalisate von analogen Filmen zu. Es schließt an meine verzeitlichende Perspektive und die entsprechenden methodischen Konsequenzen an: die Einsicht in die Notwendigkeit, einen performativen, wenn nicht gar pragmatischen Werkbegriff verstärkt zu verwenden, der die jeweiligen Funktions-, Gebrauchs- und Wahrnehmungszusammenhänge des jeweiligen Digitalisats, welches zur Quelle des Erkenntnisgewinns wird, transparent macht. Fickers macht in diesem Kontext auf epistemologische Verschiebungen aufmerksam: Werden im Zuge von Retrodigitalisierungsmaßnahmen aus Archivdokumenten Digitalisate, so findet ein erneuter ontologischer Wandel statt, der das Konzept des „Originals“ aus epistemologischer Sichtweise problematisch macht. Aber auch „digital born“-Daten sind keineswegs statisch, sondern zeichnen sich durch ihre relationale und dynamische Natur aus.49 Vgl. Franziska Heller: Digitale Langzeitsicherung: Nachhaltige Verfügbarkeit und Verwertbarkeit von (digitalen) Filmen – Praxen, Erfahrungen, Probleme (2000–2017). In: www.diastor.ch. Hrsg. von Barbara Flückiger 2017, https://diastor.ch/digitale-langzeitsicherung/ (gesehen 24.8.2020). 47 Fickers 2020 (Anm. 44). 48 Fickers 2020 (Anm. 44). 49 Fickers 2020 (Anm. 44). 46

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Selbst wenn, wie mehrfach betont, Fickers die historische Forschung und Datenproduktion vor Augen hat (und nicht zwingend die Medien- und Filmgeschichte), so sind seine Hinweise zur epistemologischen Verschiebung fast noch schlüssiger auf die Situation der Filmdigitalisierung zu übertragen – ganz konkret auf den Scanprozess von fotochemischen Filmstreifen mit Bild und Ton: „Raw data is an oxymoron“.50 Mehrere vor allem an der Universität Zürich angesiedelte Forschungsprojekte haben dies in verschiedenen Testreihen zum Scannen und zur Herstellung von sogenannten ‚Rohdaten‘ bei der Filmdigitalisierung erforscht. Grundsätzlich und kursorisch zusammengefasst, geht es um die Analyse der Situation, in der man fotochemische Filmstreifen digital abfotografiert und damit die audiovisuellen Informationen in Daten umwandelt. Es handelt sich hier um eine Abbildungsproblematik, in der fotochemische und digitale Bildgebung, Geräteindustrie und -entwicklung,51 Transport- und Sensortechnologie sowie kulturelle Praktiken und Wahrnehmungstheorie aufeinandertreffen.52 Deshalb möchte ich in einer Modifikation der Feststellungen von Andreas Fickers formulieren: Digitale Quellenkritik als Teil der digitalen Hermeneutik – hier verstanden im Sinne einer medientheoretischen, -ästhetischen und -analytischen Datenkritik – muss sich deshalb sowohl mit den archiv- als auch den impliziten geschichts- wie wahrnehmungstheoretischen Fragen beschäftigen, welche durch veränderte Logiken der Speicherung, Präsentation und Nutzungsweisen entstehen. Diese drängen neue Heuristiken des Suchens sowie Methoden der Analyse und Interpretation von Digitalisaten auf.53 Dazu zählt eben auch, wie schon oben mit Rekurs auf Distelmeyer und dessen Analysen zum Dispositiv von DVDs ausgeführt, die medienästhetische Untersuchung von Menüstrukturen und Interfaces. Diese verräumlichend wirkenden Strukturen und die interaktiven Nutzungsoptionen verbinden sich mit der sinnlichen Präsenz der filmischen Digitalisate zu einem ästhetisch wirkenden editorischen Dispositiv. Meines Erachtens werden Filmeditionen und die Etablierung eines Bewusstseins ihrer besonderen Historizität damit zu kämpfen haben, dass Filme in ganz unterschiedlichen Dispositiven eine eindrückliche Präsenz in unserem Alltagsraum einnehmen. Der Historiker Pierre Sorlin formulierte das Problem einst wie folgt: Im Unterschied zur Gesellschaftsgeschichte kann die Geschichte des Kinos kein Gedächtnis in absentia sein, denn die Filme bleiben bestehen. Durch Fernsehen und Video gehören sie zu unseren täglichen Zerstreuungen, und ihre materielle Fortdauer markiert die unüberwindliche Distanz, die das, was nicht mehr ist, die Vergangenheit, von dem trennt, was noch existiert.54

Geoffrey Bowker bzw. Lisa Gitelmann/Virginia Jackson, zit. nach Fickers 2020 (Anm. 44). An dieser Stelle sei angemerkt, dass die meisten Filmscanner bzw. deren Weiterentwicklungen in den 2000er Jahren nur auf moderne Filmmaterialien ausgerichtet waren, sie waren nicht für den Umgang mit historischen Materialien konzipiert. Dies hat zahlreiche gravierende Konsequenzen für die Abbildbarkeit und damit Überlieferung etwa von Farbspektren oder generell überhaupt für den Filmtransport im Gerät. 52 Zu den konkreten Projekten sowie zu dem dort entwickelten methodischen Framework der ‚archival pragmatics‘ s. Flückiger/Heller/Op den Kamp/Pfluger 2016 (Anm. 29) sowie Forschungsresultate auf www. diastor.ch und Weiterführungen auf https://blog.filmcolors.org/ (Blog des ERC Advanced Grant for Color Research; beide gesehen 7.9.2020). 53 F. Heller in Modifikation von Fickers 2020 (Anm. 44). 54 Sorlin 1995 (Anm. 21), S. 27. 50 51

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Sorlins Feststellung gewinnt umso mehr an Brisanz vor dem Hintergrund omnipräsenter digitaler Medien und Dispositive in unserem Alltag, die eine besondere Erfahrung von Gegenwart und Präsenz einfordern und produzieren.

Konkretisierungen: Praktische Erfahrungen Um die theoretischen Ausführungen abschließend zu veranschaulichen und die Implikationen der digitalen Edition von analogen Filmen zu konkretisieren, möchte ich, bevor ich zum Fazit komme, noch ein paar kurze Beispiele aus der Forschungs- und Lehrpraxis vorstellen. Meine Ausführungen sind vor dem Hintergrund einer mehrjährigen Tätigkeit in verschiedenen anwendungsorientierten Projekten zur Digitalisierung von Archivfilmen (AFRESA, DIASTOR) zu sehen.55 Hier fiel schon die notwendige trans- und interdisziplinäre Forschungsumgebung auf, da Gerätetechnik und -industrie, physikalische Chemie, digitales Imaging, Restaurierungspraxis und -theorie, Denkmalpflege, Filmgeschichtsforschung, Filmästhetik und Bild- und Wahrnehmungstheorie aufeinandertrafen. Diese Realität der Zusammenarbeit war nachhaltig geprägt von den finanziellen Rahmenbedingungen und auch kommerziell-industriellen Gesichtspunkten, da man sich immer noch im Horizont einer Filmindustrie bewegte. Die methodologische selbstreflexive Herausforderung lag in der Beschreibbarkeit dieser Mechanismen: Es ging um die Horizonte der theoretischen Fassbarkeit aller Variablen, die sich letztendlich dann in der Erscheinungsweise von Filmeditionen jeweils konkretisieren. Unter anderem führten die Forschungen zu dem bereits erwähnten methodischen Framework einer archivarischen Pragmatik, die explizit auch die industriellen und kommerziellen Aspekte mitberücksichtigen kann.56 Vor diesem Hintergrund haben sich meine theoretischen Überlegungen als Beitrag zu einer Reflexion von Editionspraktiken allgemein und den tatsächlichen Praxisformen am Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelt. Nur so ist vielleicht zu verstehen, warum die Bedeutung einer sich vor allem populärkulturell verortenden digitalen Editionspraxis von Film profiliert wird. Die Erkenntnisse wurden durch Erfahrungen in der Lehre ergänzt. Ich habe wiederholt Lehrveranstaltungen zum Problembereich ‚Filmgeschichte – Digitalisierung  – digitale Präsentations- und Veröffentlichungspolitiken – Fassungen und Versionen‘ durchgeführt. So habe ich an verschiedenen Universitäten mit medien- oder filmwissenschaftlichen Instituten Einblicke erhalten, wie wenig die Problematik in der filmwissenschaftlichen (Lehr-)Praxis präsent war. Es war selten das Bewusstsein vorzufinden, dass Filme und deren ästhetische Attribute in Bild und auch Ton sowie die narrative Struktur – ‚Film als Text‘ verstanden – aufgrund der spezifischen Produktions- und

Vgl. https://diastor.ch/ (gesehen 7.9.2020). Flückiger/Heller/Op den Kamp/Pfluger 2016 (Anm. 30).

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Distributionsbedingungen immer schon, wie Chris Wahl schreibt, „versionenhaft“ 57 waren und immer noch sind – und dies mehr denn je.58 Um die Symptome dieser Kultur augenscheinlich werden zu lassen, seien geneigte Leserinnen und Leser an dieser Stelle dazu angeregt, im Selbstversuch verschiedene Kataloge und Verzeichnisse von Mediatheken, etwa von medienwissenschaftlichen Instituten, daraufhin zu prüfen, wie dort die jeweiligen digitalen Bestände verzeichnet sind; ob dort die ‚Editionen‘ – analog zu Angaben des Erscheinungsjahrs und der Herausgeberschaft eines Buches – mit Jahreszahl und Herausgeber beziehungsweise einer Autorisierungsinstanz ausgewiesen sind. Oder noch einfacher für den Selbstversuch zu Hause, sollte man noch physische Träger wie DVDs und/oder Blu-ray-Discs zu einem Filmklassiker besitzen: Wie würde man eine DVD als Quelle bibliografieren? Ist bei allen digitalen Editionen eine Jahreszahl der Veröffentlichung festzustellen? Weiß man, aus welchem Jahr das Digitalisat stammt und welche der unter Umständen zahlreich genannten involvierten Akteure, Produktions- und Vertriebsfirmen man als verantwortliche Urheber/Herausgeber anzugeben hat? Das Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich, das sich durch einen filmhistorischen Schwerpunkt auszeichnet und über eine hervorragend ausgestattete Media- und Videothek verfügt, hat als Behelf für eine erste Sensibilisierung der Nutzung auf ihrer Website die einführende Kategorie ‚Wertvolle DVD-Labels‘ etabliert, um die einzelnen Firmen/Labels in ihren Qualitäten und spezifischen inhaltlichen Ausrichtungen zumindest oberflächlich zu systematisieren. Damit wird eine zusätzliche institutionalisierte Informationsplattform gegeben, die sich von den meist nicht standardisierten Internetwebsites und Foren, die sonst Editionen rezensieren und einstufen – häufig durchwirkt mit technophilen Fandiskursen –, zumindest institutionell abhebt.59 Die Probleme der Orientierung und Quellentransparenz spitzen sich noch zu, wenn der Zugriff über Streaming-Plattformen erfolgt. Wie sich dies in Zukunft in der Lehre im deutschsprachigen Raum etwa ohne physischen Träger ausnimmt, ist gerade auch in Covid-19-Zeiten Gegenstand ganz aktueller Debatten – allerdings auch mit nachhaltigen juristischen Implikationen. Zugleich sind die alltäglichen Medienerfahrungen der Studierenden nicht zu unterschätzen: Die Erwartungen an die digitale Medien- und Filmkultur sind geprägt von dem Mythos der omnipräsenten, instantanen Verfügbarkeit. Schon bei ersten Veranstaltungen an einer Schweizer Universität mit dem Ansatz, DVD-, Blu-ray-Editionen in Hinblick auf ihre Struktur und Ästhetik in den kritischen Mittelpunkt stellen zu wollen, entfaltete sich bei den Studierenden zunächst Unverständnis über das Problemfeld. Die kulturellen Gewohnheiten, jederzeit und überall (vor allem dann auch von zu Hause aus) auf die Filme zugreifen zu können, erwiesen sich bereits 2015 als extrem dominant: So schlug einem schon zu jenem Zeitpunkt das Argument entgegen, dass kein Umgang mehr mit physischen Trägern erfolge. Auf Filme werde primär online – auch über illegale Plattformen – zugegriffen. Und selbst die Organisation von gemeinsam Wahl 2009 (Anm. 9), S. 10 und 23. Das heißt, in filmwissenschaftlichen Praktiken findet nur bedingt Niederschlag, was sich in theoretischer Hinsicht in einem Feld aus einer Reihe von Arbeiten verortet; u. a. deutschsprachig Wahl 2009 (Anm. 9); Garncarz 1992 (Anm. 9); Bohn 2013 (Anm. 4), Bd. 2, bes. S. 351–398. 59 Vgl. Heller 2020 (Anm. 8), bes. Kap. 7, und Distelmeyer 2012 (Anm. 11). 57 58

Die Un-Ordnung der Dinge. Digitalisierungs(ge)schichten

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angesetzten Sichtungsterminen bestimmter Editionen erwies sich als Herausforderung: Die Praktiken der nicht-ortsgebundenen (auch analytischen) Rezeption und Filmerfahrung waren schon zu habitualisiert.60 In der Lehre führte diese Gemengelage zu Missverständnissen: Mehrfach ergab sich das Problem, insbesondere bei Bildanalysen, dass sich die gesehenen Referenzbilder nachhaltig unterschieden. So entbrannte je nach gesehener Version und Edition oder je nach verwendetem Rezeptionsdispositiv und dessen technischer Einstellung (Computerscreen, Beamerprojektion, TV-Bildschirm) eine angeregte, auch kontroverse Diskussion; so etwa geschehen in der Auseinandersetzung mit der Gestaltung des filmischen Raums in der expressiven Exposition von Brian De Palmas Dressed to Kill (1980). Bekanntermaßen hat auch der Kultfilm Taxi Driver (1976) von Martin Scorsese im Kontext seiner Restaurierungs- und Editionsgeschichte auf DVD zu Debatten in der Archivcommunity geführt. Neben weiteren frappanten Eingriffen bei einer ersten Digitalisierung waren es unter anderem Eingriffe in die Farbdramaturgie und in die Bildausschnitte, die signifikante Variationen bei den digitalen Veröffentlichungen des Films erzeugten, welche gewichtige Konsequenzen in der Überlieferung der Ästhetik und semantischen Dimension ikonischer Szenen zur Folge hatten. Eine Auseinandersetzung mit der Editionsgeschichte von Filmen in der (beginnenden) digitalen Kultur ist darüber hinaus wichtig für die Zukunft der wissenschaftlichen Forschung: Wenn immer mehr Filme und Filmbilder etwa in Zusammenhängen von digitalen Annotations- und Analysetools, Datenbanken oder weiteren Werkzeugen im Bereich der medienwissenschaftlichen Digital Humanities zum Einsatz kommen, so gilt es umso mehr, sich die Herkunft, den Quellenstatus der verwendeten Bilder und Töne sowie die sich entfaltenden historiografisch wirksamen Räume von Verknüpfungszusammenhängen zu vergegenwärtigen.

Fazit Der transdisziplinäre Ansatz der diesem Band zugrundeliegenden Tagung, der zur ­Abhilfe in den offensichtlichen Differenzen zwischen literaturwissenschaftlicher Editionspraxis und -theorie im Vergleich zu Formen der Edition von Filmen anregen ­sollte, hat mich zu einem vielleicht in diesem Kontext ungewöhnlichen, da medientheore­tischen Beitrag animiert; dies unter dem Vorzeichen, dass uns mit der Entwicklung von digitalen Medientechnologien und digitalen Kulturpraktiken gerade für den Film neue transmediale Potenziale zur Verfügung zu stehen scheinen. Für mich gab der interdisziplinäre Dialog Anlass, den populären Begriff von DVD-Editionen von analogen Filmen, so wie er sich Es lohnt sicherlich auch, die Arbeit der Forschenden mit Blick auf den Umgang mit ‚Onlinevideotheken‘ als sogenannten „Quasiarchive[n]“ zu betrachten. Vgl. weiterführend Guido Kirsten, Fabian Schmidt: Von Schwarzen Raben und anderen Netzwerken. Filmdistribution in der Schattenwelt des Internets – ein Bericht. In: montage/av 26, 2017, H. 1, S. 59–80, die über ‚Invite-only‘-Archive unterhalb des Wahrnehmungsschirms der Öffentlichkeit schreiben; „Quasiarchive“, welche als geschlossene (Geheim-)Gemeinschaften dezentral und am Rande der Legalität den Zugang zu „einer beachtlichen Zahl filmhistorisch relevanter Werke“ bieten (ebd., S.  59). Im Horizont meiner Fragestellung wäre ein solches Dispositiv kritisch zu befragen, wenn Kirsten/Schmidt schreiben, dass „die Netzwerke die Chance [bieten], historisch relevantes Material in qualitativ hochwertigen Digitalisaten nicht nur zu bewahren, sondern ihren Mitgliedern auch ohne Mühe zugänglich zu machen“ (ebd., S. 79, Hervorhebung von F. H.).

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in den letzten 25 Jahren im Zeichen der beginnenden digitalen Medienkultur ent­wickelt hat, medien-, geschichts- und wahrnehmungstheoretisch zu reflektieren. Ich habe in der Modifikation von Michel Foucaults wissenschafts­geschichtlich-kritischem Ansatz die fehlenden Standardisierungen der Praktiken, die industriellen, technologischen und rasanten zeitlichen Dynamiken sowie die Schwierigkeiten der Theoretisierung von Funktionsweisen der beteiligten Felder als Prinzipien der Un-Ordnungen modelliert. Es ging mir darum, die Un-Ordnung – im Modus der Popularisierung – paradoxerweise als räumliches Prinzip der Etablierung von (historischen) Wissens-, medialen Erfahrungs- und Erwartungscodes in der Transitionsphase von analogem zu digitalem Film zu profilieren. In multipler Weise wurden hier Ordnungen eta­bliert, die vielschichtig Ähnlichkeiten und Unterschiede (etwa zwischen Filmfassungen ­und -­versionen, zwischen den Registern analog und digital ) konstruieren und damit medienhistoriografische Wirksamkeit entfalten. Meinen Ausführungen ist weniger daran gelegen, die Un-Ordnungen aufzulösen; vielmehr geht es darum, die Erkenntnisse daraus produktiv für die Zukunft weiterzudenken: Dies bedeutet etwa eine noch stärkere Entwicklung der Transparenzmodi von Digitalisierungsprozessen und eine Verständigung über die epistemischen Bedingungen der neuen medialen Räume, in denen historisch-kritisches Wissen generiert wird; und dies in Bezug auf ein Medium, das zum einen dem Prinzip der technisch-­ (unterhaltungs-)industriellen Reproduzierbarkeit verpflichtet ist, zum anderen nicht von der Vermittlung sinnlicher Präsenzeindrücke als ästhetischer Dimension abzulösen ist. Diese Problemkomplexe verkomplizieren sich bei der Edition in einer digitalen Medienumgebung; zumal, wenn noch mit anderen, auch non-filmischen Quellen historische Kontextualisierungen vorgenommen werden. Die jeweils aktuelle, reproduzierende Medienumgebung muss als medial-verräumlichende Bedingung der Kontextualisierung und des vermittelten Bildes von geschichtlichen Zusammenhängen nachdrücklicher ins Bewusstsein geraten. Das gesamte Ensemble ist als transmediales (Geschichts-)Konstrukt zu begreifen. Meine Ausführungen verstehen sich deshalb als ein Plädoyer, Problem- und Diskurskreise, die in der zentralen historischen Transitionsphase a­ nalog-digital zu Tage treten, bei Entwürfen einer historisch-kritischen Edition als Teil einer Mediengeschichte von Filmen mitzudenken.

Jürgen Keiper

Grenzbegehungen eines audiovisuellen Editionskonzeptes

Archivarische Übungen Am Beginn steht eine Paradoxie für eine Perspektive: Lässt sich für den Film eine kritische Editionspraxis analog der für die Literatur praktizierten ableiten? Wohl eher nicht – und trotzdem gilt es daran festzuhalten. Die folgenden Argumentationen sind daher der Versuch, dieser Paradoxie zu begegnen und den Rahmen einer kritischen Editionspraxis auszuloten. Doch gehen wir zurück zu den Anfängen, genauer zu den Voraussetzungen einer kritischen Editionspraxis im Filmbereich. Diese liegen auf Seiten der Archive. Dass wir überhaupt eine Überlieferung von audiovisuellen Werken besitzen, ist den frühen Filmarchiven zu verdanken, gemeinhin der National Film Library, der Film Library des Museum of Modern Art, der Cinémathèque Française und dem Reichsfilmarchiv. Auch Sammler spielten wohl schon damals eine Rolle, doch liegt die Trias von Akquise, Archivierung und Zugangsmöglichkeit eindeutig bei den Archiven, wie das Sammeln und Bewahren, die konservatorische Pflege und Restaurierung ohnehin als Ausgangspunkte jeglicher editorischen Praxis begriffen werden können. Dass sich die originären Filmarchive freilich erst in den 1930er Jahren herausbildeten, war oft den Vorbehalten gegenüber dem neuen Medium geschuldet. Es mangelte nicht an frühen Initiativen, auch seitens der Archive.1 Und auch das Selbstverständnis der dann entstandenen frühen Filmarchive war bekanntermaßen durchwachsen. Archivierung und Zugänglichmachung standen damals in einem berechtigten, aber nicht auflösbaren Widerspruch. Dieser manifestierte sich historisch in Gestalt von zwei Protagonisten, nämlich Ernest Lindgren2 von der britischen National Film Library und Henri Langlois von der Cinémathèque Française. Lindgren verfolgte den archivarischen Ansatz der Sicherung des Erbes, während Langlois die Filme des Archivs als Erfahrungsschatz und Diskursmedium nutzen wollte. Rückblickend muss man freilich konstatieren, dass eine bessere Ausstattung der Archive dem Dissens sicher viel von seiner Schärfe genommen hätte. Aber dieser Konflikt und die darunter liegenden Prämissen archivarischer Arbeit, nämlich primär die Akquise und die Sicherung, illustrie­ ren, wie weit entfernt die eher konzeptionellen Fragestellungen aus dem Wissenschaftsraum und der Rekonstruktionspraxis bis heute sind. Insbesondere Letztere nahm in Einzelprojekten Bezug auf komplexe Quellen- und Materiallagen und sah sich mit Vgl. David Francis: From Parchment to Pictures to Pixels Balancing the Accounts: Ernest Lindgren and the National Film Archive, 70 Years On. In: Journal of Film Preservation 71, 2006, H. 7, S. 23. 2 Erwähnenswert ist hier insbesondere auch die Rolle seines ‚Preservation officers‘ Harold Brown. 1

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unterschiedlichsten Fassungen konfrontiert, die in mühsamer editorischer und restauratorischer Arbeit zusammengefügt werden mussten. Aber es blieben Einzelprojekte, im besten Falle weithin sichtbare Leuchttürme wie die verschiedenen Rekonstruktionen von Fritz Langs Metropolis. Für eine systematische Forschung aber waren Einzelprojekte nur bedingt hilfreich. Die Filmarchive waren jung und hatten zahlreiche, oft essentielle Probleme zu bewältigen. Es bedürfte daher einer systematischen Modernisierung der Archivkonzepte und damit einhergehend einer grundsätzlichen, strukturellen Lösung, um der babylonischen Fassungsvielfalt entgegenzutreten. Strategisch sinnvoll wäre im Sinne einer Annäherung an Editionsvorhaben als erster Schritt überhaupt erst einmal eine Bestandsaufnahme des physisch vorhandenen audio­ visuellen Kulturerbes: wünschenswert international, erstrebenswert auf europäischer Ebene und notwendig im nationalen Rahmen. Zu wissen, was wo wie existiert, ist die Grundvoraussetzung jeglicher editorischen Praxis. Dies bezieht sich übrigens nicht nur auf den Film, sondern auch auf filmbegleitende Materialien wie z. B. die Dokumente der Prüfinstanzen. Speziell für den Filmbereich müsste man ergänzen: Auch was man verloren hat, sollte man wissen. Das Anfang der 1990er Jahre im Rahmen des Media-Programms der EU etablierte Projekt LUMIERE hatte zwar die Restaurierung zentraler Filme des europäischen Erbes im Fokus, aber aus guten Gründen wurde erst einmal eine europäische Bestandsaufnahme, die Joint European Filmography (JEF), in Angriff genommen. Die JEF ist nie publiziert worden, sie scheiterte. Aber sie hat die spezifischen Defizite zahlreicher europäischer Filmarchive sichtbar gemacht, insbesondere die solitären Konzepte der Filmdokumentation. Damit war sie zugleich der Ausgangspunkt für weitere Initiativen auf europäischer Ebene. Wenn mangels einheitlicher Standards noch nicht einmal eine europäische Filmographie aufgebaut werden kann, dann braucht es zumindest erst einmal diese Standards, um überhaupt den zweiten und dritten Schritt gehen zu können. Diese Überlegungen waren zuvorderst beim Deutschen Filminstitut (DIF) und bei Mari Sol Pérez Guevara (Europäische Kommission) angesiedelt, welche diese Entwicklung vorantrieben. Man muss sich die damalige Situation der Archive immer wieder vor Augen halten: Unterschiedlichste Erfassungen, unterschiedliche Kopienlängen und unterschiedlichste Datenbanksysteme machten einen Informationsaustausch und erst recht eine systematische Erforschung der Bestände nicht möglich. Ziel war daher zunächst die standardisierte Erfassung von Filmen. Sie sollte die Grundlage bereitstellen, um überhaupt zu wissen – oder wissen zu können –, was in den eigenen Archiven vorhanden ist und wie sich europäische Archive wechselseitig besser unterstützen können. Im Ergebnis kam es zu einem Standardisierungsprozess, der auf europäischer Ebene verbindlich festgeschrieben wurde. Das Europäische Komitee für Normung (Comité Européen de Normalisation)3 übernahm das Mandat, und das Deutsche Institut für Normung (DIN) koordinierte die Definition des Standards. Es handelt sich um einen Erfassungsstandard für filmographische Informationen,4 der auf einem Konzept European Committee for Standardization, www.cen.eu (gesehen 20.5.2020). Siehe EN 15744 und EN 15907 auf filmstandards.org (gesehen 20.5.2020).

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aus dem Bibliotheksbereich, nämlich den Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR)5 fußte. Im Kern ermöglichte dieses Datenmodell endlich die systematische Unterscheidung unterschiedlichster Fassungen eines Filmes und legte damit den Grundstein für eine strukturierte Aufarbeitung der Bestände seitens der Archive. Dass sich mit der finalen Definition eines Standards (2010) zunächst einmal nichts änderte, war schnell erkennbar. Die Umstellung von Datenbanksystemen, insbesondere aber eine komplette Sichtung und Neubewertung von umfangreichen Archivbeständen wären notwendig gewesen, um diesen Standard auch zu einem Erfolgsmodell zu machen. Trotzdem hat er sich mittlerweile in unterschiedlichsten Ausprägungen etabliert und damit erst die Grundlage geschaffen, um seitens der Archive strukturiert auf die Anforderungen der Editionswissenschaft eingehen zu können. Von der International Federation of Film Archives (FIAF) sind dann 2016, also sechs Jahre nach Veröffentlichung des Standards, entsprechende Leitlinien6 publiziert worden. Die Leitlinien konkretisieren den Standard im Detail und machen redaktionelle Vorgaben. An den Filmarchiven ist es also nun, ihre Dokumentation strukturell umzustellen und damit der Editionswissenschaft den Raum zu eröffnen, systematisch arbeiten zu können. In Deutschland realisierten zunächst die Deutsche Kinemathek, dann auch das DIF (das heutige DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum) und das Bundesarchiv dieses Modell. Seitens der Kinemathek sind die einzelnen Fassungen auch in den Webpräsentationen jetzt explizit genannt.7 Doch selbst wenn die Dokumentation nun strukturell umgestellt wurde, ändert sich ja noch nicht das explizite Wissen innerhalb der Dokumentation, sondern nur deren Strukturierung. Es bedürfte also darüber hinaus vergleichender Analysen von Fassungen, um überhaupt eine kritische Analyse und Bewertung der Überlieferung vornehmen zu können. Nicht wenige, die von singulären Untersuchungen absehen wollen und stattdessen das große Ganze im Blick haben, favorisieren computergestützte Analysen. Basierend auf Scans der unterschiedlichen Fassungen ließen sich relativ leicht überhaupt erst einmal Unterschiede identifizieren. Diese in einem zweiten Schritt zu bewerten und zu einem sinnvollen Ganzen zu reorganisieren wäre dann die Aufgabe ausgewiesener Spezialisten. Aber dies wäre – selbst im bescheidenen nationalen Rahmen – ein Mammutprojekt, im europäischen Kontext eher eine Wunschvorstellung. Insofern hat die Standardisierung der Filmerfassung wichtige Voraussetzungen geschaffen, eine editorische Praxis professionell zu unterstützen: nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Siehe https://www.ifla.org/files/assets/cataloguing/frbr/frbr-deutsch.pdf (gesehen 20.5.2020). https://www.fiafnet.org/pages/E-Resources/Cataloguing-Manual.html (gesehen 20.5.2020). 7 Vgl. als Beispiel etwa die Beschreibung zu Subjektitüde von Helke Sander, https://dffb-archiv.de/dffb/ subjektituede, im Archiv-Projekt der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, dffb-archiv.de (beide gesehen 20.5.2020). 5 6

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Ein Original ist ein Original ist ein Original Nicht wenige Archivare schmunzeln, wenn ein Film oder ein Fragment entdeckt wird. Entdecken setzt Suchen voraus, doch in der Regel ist es eher die systematische Aufarbeitung von Bekanntem wie Unbekanntem, die zu mehr Information führt. So wenig Amerika entdeckt wurde, so wenig werden Filme entdeckt. Der Fund auf dem Dachboden bleibt die romantisch gefärbte Ausnahme. Also bleibt die systematische Aufarbeitung die zentrale Aufgabe archivarischer Arbeit. An ihrem Ende steht die möglichst vollständige Dokumentation, die Anreicherung und Kontextualisierung von Wissen zu dem archivierten Objekt und die Herstellung von relevanten Bezügen. Die Rekonstruktion eines Filmes, die Wiederherstellung einer ästhetischen Erfahrung wiederum bleibt ein Ausnahmeprojekt seitens der Archive. Zu groß ist der Rechercheaufwand, zu aufwendig die Rekonstruktion und eskalierend oft die Rechteklärung, als dass all dieses Alltag werden könnte. Daher bleibt dieses Feld eher Kooperationen von Rechteinhabern, Archiven und Filmwissenschaftlern überlassen. Was sich seitens der Literatur erfolgreich etablierte, die textkritische Editionswissenschaft, bleibt für den Film in letzter Konsequenz ein wagemutiges und kostspieliges Unterfangen. Zu hinterfragen wäre allerdings, wieweit jenseits einer Rekonstruktion von ästhetischer Erfahrung, die historisch eh nicht einholbar ist, pragmatischere Formen von wissenschaftlicher Dokumentation zielführend sind. Dieser Argumentation folgend, hat sich das Konzept der Studienfassung etabliert. Letztlich handelt es sich hierbei um eine inhaltlich begründete Zusammenstellung von audiovisuellem Material und Sekundärmaterialien (Fotos, Zensurentscheide, Inhaltsangaben, Filmfragmente u. Ä.), die um editorische Hinweise ergänzt werden.8 Folgt man der Idee einer Studienfassung, stellt sich aber auch für solch eine kritische Filmedition die Frage nach dem Bezugspunkt. Entscheidet man sich für die Fassung der Uraufführung, die allgemein distribuierte Fassung oder berücksichtigt man die geschnittenen Fassungen, basierend auf den Entscheidungen der lokalen Filmprüfstellen bzw. der Film-Oberprüfstelle? Bezieht man noch internationale Fassungen mit spezifischen Schnitten ein, so wird die hohe Komplexität des Filmbereichs sichtbar. Aufgrund dieser Heterogenität entsteht eine Vielzahl von Rekonstruktionsoptionen, wie das Beispiel von Metropolis zeigt. Ausgehend von der jetzt bei der F. W. Murnau-Stiftung vorliegenden Fassung könnte auch die originale amerikanische Fassung rekonstruiert werden. Als dritte Fassung könnte die gekürzte, ummontierte und umgetitelte zweite deutsche, die eigentliche Verleihfassung rekonstruiert werden.9

Siehe hierzu Anna Bohn: Ästhetische Erfahrung im (Um-)Bruch. Perspektiven kritischer Filmedition am Beispiel von Metropolis und Panzerkreuzer Potemkin. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hrsg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 115–127. 9 Erläuterung seitens der Universität der Künste Berlin zur Studienfassung von Metropolis, https://www. udk-berlin.de/universitaet/fakultaet-gestaltung/institute/institut-fuer-zeitbasierte-medien/filminstitut/ metropolis-studienfassung/ (gesehen 20.5.2020). 8

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Abb. 1: ‚Life cycle‘ des Films Mädchen in Uniform, Ausschnitt, © Andrea Dirsch-Weigand, 2003.

Im Filmbereich haben wir es also mit mannigfaltigen Ausprägungen eines Filmes zu tun, die je nach Kontext – räumlich wie zeitlich – gänzlich unterschiedlich ausfallen können. Auch dies ist ein Grund, den Begriff und das Konzept einer Originalfassung

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zu verwerfen und stattdessen die Fassungen explizit zu attribuieren. Diese sollten also grundsätzlich räumlich und zeitlich verortet werden, z. B. in Gestalt einer ‚deutschen Uraufführungsfassung‘. Diese Fassungspluralität, die ja dem Doppelcharakter des Films als industrielles Produkt und Kunstwerk geschuldet ist, wirft für ein Editionskonzept zwei grundsätzliche Fragen auf. Zum einen erfordert sie plausible Kriterien, anhand deren die Entscheidung zur Fassungspriorisierung überhaupt getroffen werden soll, zum anderen stellt sich die Frage, ob Konzepte aus der Informationswissenschaft diese Zusammenhänge nicht adäquater beschreiben können. So gelten Ontologien als probates Konzept zur Beschreibung der unterschiedlichsten Ausprägungen eines Films. Damit kann der gesamte Lebenszyklus (‚life cycle‘, s. Abb. 1) angemessen beschrieben werden. Ontologien, also formalisierte Darstellungen von komplexen Zusammenhängen, können als Grundlage dienen, um entsprechende Veränderungen eines Films über die Zeit in einem Datenmodell zu beschreiben, und bilden zugleich die Grundlage für ein semantisches Web, wie es von Tim Berners-Lee skizziert wurde.10 Jenseits der Datenmodelle bleiben aber die Studienfassungen mit einer Fassungspriorisierung das probate Mittel zur Visualisierung. Hat man eine Fassung identifiziert, auf die man sich beziehen möchte, so wird auch diese oft mit Leerstellen, unterschiedlichem Ausgangsmaterial und einer Entscheidung hinsichtlich der Musik (bei ‚Stummfilmen‘) versehen sein. Was aber auf der Strecke bleibt, ist die Dimension ästhetischer Erfahrung. Nun kann man einer Studienfassung nicht etwas anlasten, was nicht ihre Intention war. Allerdings sollte dieser Anspruch auch gar nicht erst definiert werden: Ausgehend von der Überlegung, dass in einer wissenschaftlichen Edition Fehlstellen weder beseitigt noch ergänzt werden dürfen, ohne dass dies einer historischen Falsifizierung gleichkäme, werden in der Studienfassung Brüche in der Überlieferung ausgestellt und in ihrem zeitlichen Verlauf sinnlich erfahrbar gemacht. Die dem überlieferten Torso fehlenden etwa 30 Minuten sind im zeitlichen Verlauf als graue Flächen gegenwärtig.11

Hier wird nun ein doppelter Widerspruch sichtbar. Einerseits sollen Fehlstellen nicht ergänzt werden, doch genau dies passiert – wenn auch mit einem grauen Bild. Zudem wird diese Ergänzung explizit mit dem Anspruch einer sinnlichen Erfahrung verknüpft. Exakt dieses Verfahren empfinde ich als problematisch, weil es von der unmittelbaren Vorstellung ausgeht, dass eine graue Fläche so etwas wie Nichtinformation verkörpert. Anna Bohn legitimiert dieses Verfahren als Analogon zu dem in der Kunstwissenschaft etablierten Umgang mit ‚Lacunae‘ (‚Verstehenslücken‘): Heutzutage ist in der kunstwissenschaftlichen Restaurierung nicht die sogenannte ‚Ergänzung‘ oder ‚Komplettierung‘, sondern die Konservierung des Torsos als Fragment ohne imaginative Ergänzungen gängige Praxis.12

Tim Berners-Lee, with Mark Fischetti: Weaving the Web. The Original Design and Ultimate Destiny of the World Wide Web by Its Inventor. San Francisco 1999. 11 Bohn 2007 (Anm. 8), S. 119. 12 Bohn 2007 (Anm. 8), S. 119. 10

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Das Konzept, ‚nichts‘ zu zeigen, wird also für den Film übersetzt in das Zeigen einer grauen Fläche. Nicht die schwarze Fläche, die noch am ehesten dem visuellen Pendant von ‚Nichts‘ entspricht, wird eingesetzt, sondern das scheinbar ‚neutrale‘ Grau. Hieran wird aber die Grenze dieses Konzeptes sichtbar. Insofern wäre der Anspruch einer Studienfassung zu radikalisieren, nämlich gar nicht erst den Anspruch einer ästhetischen Erfahrung, die eh nicht rekonstruierbar ist, einlösen zu wollen. Dies bliebe dann – wenn überhaupt – der Restaurierung vorbehalten.

Whose Public Sphere? Miriam Hansen hat in ihrer viel beachteten Studie zur Kultur des frühen Kinos13 besonders den Rezeptionsraum hervorgehoben. Sie betont die Einheit von Publikum, Raum und Seherfahrung und führt damit Walter Benjamins Überlegung fort, dass die kollektive Rezeption ein zentrales Merkmal des Filmes ist. Diese Grundannahme berührt zunächst jede Form der historischen Rekonstruktion – und führte ja recht geradlinig zu den Aufführungen von rekonstruierten Fassungen in großen Häusern mit aufwendiger Musikbegleitung. Ob damit der Erfahrungsraum, zumal der historische, wiederhergestellt werden kann, sei dahingestellt, aber zumindest wird eine Einheit ‚rekonstruiert‘. Dieser Rezeptionsraum des Kinos, das Rezeptionsensemble des Films, ist dabei grundverschieden zu dem der Literatur, und die Frage bleibt im Raum, wie denn dieser Struktur bei einer Studienfassung Rechnung getragen werden kann. Auch vor diesem Hintergrund bleibt die DVD ein Surrogat, und entsprechend sollte sie auch konzipiert sein: als Quellensammlung mit editorischen Anmerkungen und nicht als Rekonstruktion einer verlorenen Erfahrung.

Resümee Audiovisuelle Editionskonzepte bleiben eine besondere Herausforderung. Sie sind einerseits mit einem Medium konfrontiert, dessen Doppelcharakter von industrieller Warenform und künstlerischem Produktionsprozess eine angemessene Herangehensweise erfordert. Darin haben sie wenig gemein mit den literarischen Produktionen und ihren historischen Veränderungen. Andere Bedingungen erfordern auch andere Konzeptionen, und so bleibt die Frage, wie man audiovisuelle Editionsmodelle angemessen konzipiert. Jenseits von fachwissenschaftlichen Rekonstruktionen erscheinen dabei die Studienfassungen, die filmhistorische und editorische Kompetenz verbinden, als angemessene Lösung. Doch gilt dies nur, solange eben nicht die Konzepte der Literaturwissenschaft übertragen werden. Sollten Prämissen definiert werden, so würde für mich die Dokumentation von Differenz anstelle der Rekonstruktion von Identität an erster Stelle stehen. Die Mannigfaltigkeit von Filmversionen sollte ebenso sichtbar werden wie deren nationale und internationale Verwendung. Dafür müsste man sich von dem Konzept des Originals Miriam Hansen: Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film. Cambridge/MA, London 1981.

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verabschieden. Nichts spricht dagegen, sich auf die Uraufführungsfassung eines Landes zu beziehen, aber vieles spricht dafür, die Bandbreite der Fassungen auch zu benennen und idealiter auch zu zeigen. Zu zeigen bedeutet aber auch, die wissenschaftliche Argumentation, die wissenschaftliche Dokumentation einfließen zu lassen. Hier bieten sich nicht nur Texte an, sondern auch avancierte Modellierungen wie das ‚Life-cycle‘-Konzept der Ontologien. Und zu zeigen bedeutet in diesem Kontext paradoxerweise auch, den Film als Material zu betrachten. Eine Studienfassung dient der Untersuchung und der Dokumentation, nicht der Rekonstruktion einer verlorenen Seherfahrung. Diese wäre – wenn sie denn überhaupt zu leisten wäre – die Aufgabe der Restaurierung.

Ursula von Keitz, Wolfgang Lukas

Varianz in Literatur und Film Ein Versuch

In diesem Beitrag möchten wir den Versuch eines Brückenschlags zwischen (literaturwissenschaftlicher) Editionsphilologie und Filmwissenschaft wagen, indem wir nach der Anwendbarkeit zentraler, für die Text-Editorik entwickelter Begriffe und Konzepte auf die Film-Editorik fragen. Wir tun dies am Beispiel des Phänomens der Varianz, deren Verzeichnung und Darstellung bekanntlich ein konstitutiver Teil des sog. kritischen bzw. historisch-kritischen Editionsformats ist. Wir gliedern unseren Beitrag in zwei Teile und diskutieren zunächst einige grundlegende Begriffe und Kategorien, um uns im Anschluss anhand der einzelnen Phasen der filmischen Produktion mit den vielfältigen und komplexen Möglichkeiten filmischer Varianz zu beschäftigen.

1. Begriffsklärungen 1.1. Typen von Varianz: Entstehungs-, Überlieferungs-, (Veröffentlichungs-)Release-Varianz; Autor-/Fremdvarianz Grundlegend in der Text-Editorik ist die Unterscheidung zwischen sog. Entstehungs­ varianz und Überlieferungsvarianz; erstere wird dabei im Allgemeinen mit Autor-, ­letztere mit Fremdvarianz gleichgesetzt. Erstmalig explizit formuliert von Johann ­Jakob ­Bodmer und Johann Jakob Breitinger, den beiden Zürcher Aufklärern und Heraus­gebern der ersten ‚historisch-kritischen‘ Ausgabe avant la lettre eines modernen ­Autors – Martin Opitz’ Lobgedichte (Zürich 1745) –,1 wurde diese Differenz konstitutiv für das disziplinäre Selbstverständnis der neuphilologischen Editorik, die sich – freilich erst geraume Zeit später, nämlich seit etwa Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhun­derts – in Abgrenzung von der mediävistischen und altphilologischen Editorik ­herausbildete. Während letztere in aller Regel nicht über autographe bzw. autorisierte Originale verfügt, somit lediglich das Phänomen der überlieferungsbedingten Fremdvarianz kennt, sind solche für erstere potentiell überliefert; seit Herausbildung der modernen

Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger: Vorrede der Herausgeber. In: Martin Opitzens von Boberfeld Gedichte. Von J. J. B. und J. J. B. besorget. Erster Theil. Zürich 1745; wiederabgedruckt in: ­Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S.  1–6. Zur Geschichte der neuphilologischen genetischen Editorik s. Hans Zeller: Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20.  Jahrhundert. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 5), S. 143–207.

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https://doi.org/10.1515/9783110684605-005

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Autorfunktion,2 mit der dem individuellen künstlerischen Schöpfungsprozess eine ganz neue Aufmerksamkeit und Wertschätzung zuteilwurde, kann zudem (hand-, später auch maschinenschriftliches) genetisch relevantes Material – Vorstufen, Entwürfe, Paralipomena etc. – mitüberliefert sein. Bodmer und Breitinger dachten ihrerseits nur an die verschiedenen zu Lebzeiten autorisierten Druckausgaben, deren Varianten sie erstmalig mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verzeichneten. Ihr Interesse am Entwicklungsprozess des Textes speiste sich auch noch nicht aus einem chronologischen und genuin genetischen, vielmehr aus einem aufklärerisch-didaktischen Interesse, dem eine kunstnormative und teleologische Konzeption zugrunde lag: Der zufolge befindet sich das Autorsubjekt – und mit ihm sein Werk – in einem Entwicklungsprozess hin zu einem Optimum. Als Textgrundlage für eine Edition konnte somit nur die Ausgabe letzter Hand in Frage kommen, allerdings waren nun die überwundenen Etappen dieses Vervollkommnungsprozesses – mithin die verworfenen Varianten der früheren Druckausgaben – von Belang. Erst mit dem Historismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sämtliche geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen erfasst, bildet sich ein Interesse an der ‚Textgeschichte‘ im engeren Sinn heraus, die nun auch die Phase vor dem Erstdruck umfasst und somit handschriftliches Material aus dem Nachlass inkludiert. Damit einher geht ein historisch neuartiges Interesse für das Unfertige, für die „stammelnden Versuche […], das rechte Wort […] zu finden“,3 kurzum: für den ‚verborgenen Autor‘ jenseits bzw. vor der Schwelle seiner mit der Erstpublikation vollzogenen, öffentlichen Selbstpräsentation. Nach einem ersten Versuch im Rahmen von Goedekes historisch-kritischer Schiller-Edition, der in diesem Zusammenhang die bis heute (auch in digitalen Editionen) bemühte Formel vom Einblick in die „geheimste Gedankenwerkstatt“ 4 eines Autors geprägt hat, wird in den 1920er Jahren die Verzeichnung genetischer Varianz als unerlässlicher Bestandteil aller neuphilologischen Editionen, die den Anspruch auf das ‚historisch-kritische‘ Format erheben, normativ festgeschrieben.5 Die Art der editorischen Vermittlung und Verzeichnung solch genetischer Information kann stark variieren und hat in den letzten hundert Jahren ganz verschiedene Modelle hervorgebracht: mit oder ohne eigenen kritischen genetischen Apparat, der seinerseits unterschiedlich realisiert sein kann (linear oder spatial, als Treppen- oder Kolumnenapparat etc.);6 mit oder ohne eigene genetische Wiedergaben und Visualisierungen; mit oder ohne Beigabe der genetischen Dokumente in Faksimile-Reproduktion. Etwa: Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/Main 1988, S. 7–31; Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein ­philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne. Tübingen 2001. 3 Karl Goedeke: Vorwort. In: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer von Karl Goedeke. Theil 15,2: Nachlaß (Demetrius). Hrsg. von Karl Goedeke. Stuttgart 1876; wiederabgedruckt in: Dokumente 2005 (Anm. 1), S. 30–32, hier S. 31. 4 Goedeke 1876/2005 (Anm. 3), S. 30 f. 5 Siehe etwa Georg Witkowski: Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke (1921); wiederabgedruckt in Dokumente 2005 (Anm. 1), S. 70–77. 6 Siehe u. a. Hans Zeller: Die Typen des germanistischen Varianten-Apparats und ein Vorschlag zu einem Apparat für Prosa. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105, 1986, Sonderheft, S.  42–69; Wolfgang Lukas: Archiv – Text – Zeit. Überlegungen zur Modellierung und Visualisierung von Textgenese im 2

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So weit in aller Kürze einige Stichworte zur Text-Genetik. Demgegenüber verhält es sich beim Film in mehrfacher Hinsicht anders, und dies wiederum aus verschiedenen Gründen. Es gilt zunächst die Begriffe ‚Entstehungs-‘ und ‚Überlieferungsvarianz‘ für Konzepte einer (historisch-)kritischen Filmedition auf filmspezifische Phänomene und Prozesse hin zu differenzieren und sie in Relation zu literarischen Praktiken zu setzen. Tritt bei letzteren Entstehungsvarianz üblicherweise in zwei Phasen auf, vor und potentiell nach der Erstveröffentlichung (im Falle späterer Fassungen), so müssen wir beim Film mehrere Phasen unterscheiden: Entstehungsvarianz tritt sowohl in der Phase der Präproduktion, der textuell-schriftlichen, ‚papierenen‘ konzeptuellen Phase des filmischen Konstituierungsprozesses, auf – mit Filmskripten in verschiedenen Entwicklungsstufen bis zum drehreifen, abgenommenen Shooting Script, aber auch z. B. mit Varianten von szenographischen Entwürfen, Kostümentwürfen oder Kompositionen für die Filmmusik; sie tritt sodann in der Phase der Produktion selbst – beim Dreh – oder/ und schließlich in der Phase der Postproduktion – Montage, Synchronisation und Tonmischung bis hin zur Kopierung – auf. Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zur Literatur besteht darin, dass der sog. First Release seinerseits nicht punktuell, auf das Ereignis der Uraufführung bezogen, sondern durativ, als synchrone Phase der Erstauswertung eines Films im Kino aufzufassen ist. Zu den ‚genuinen‘ Materialien und somit zum Bereich der Entstehungsvarianz gehören mithin auch erhaltene zeitgenössische Verleihkopien, die potentiell den Status von eigenen Fassungen besitzen (s. dazu unten). Während indes vom Präproduktionsprozess in durchaus literaturanaloger Weise genetische Vorstufen7 in Form von Drehbüchern, Szenographie- und Kostümentwürfen oder Musikpartituren existieren, ist dies bei filmisch-bildlicher Varianz aus der Produktionsphase eher selten der Fall (s. hierzu unten Punkt 2). Stattdessen kann die Überlieferungsvarianz eine große Rolle spielen: Letztere ist zumal bei Filmen aus den ersten gut 50 Jahren der Filmgeschichte, also von ca. 1890 bis 1945 gegeben. Vielfach sind hier keine Originale, d. h. genuine Materialien überliefert, sondern primär Materialien aus späteren Generationen: sog. generische Materialien wie Duplikat-Negative, ferner archivalische Sicherungsstücke und später gezogene Verleihkopien. Somit scheint die Situation der der antiken und mittelalterlichen Literatur zu ähneln, wo wir fast ausschließlich kopiale Überlieferung antreffen. Allerdings existieren auch hier relevante Unterschiede. Von großer Bedeutung, und somit als eigener Begriff anzusetzen, ist beim Film die Release-Varianz, die sowohl vor als auch nach dem First Release auftreten kann – je nachdem ist sie somit Teil der Entstehungs- oder der Überlieferungsvarianz. Im Zusammenhang damit sind gegenüber der Situation in der Text-Editorik Status und Rolle

analogen und digitalen Medium. In: Textgenese in der digitalen Edition. Hrsg. von Anke Bosse und ­Walter Fanta. Berlin, Boston 2019 (Beihefte zu editio. 45), S. 23–49, hier S. 32–40. 7 Ein – analytisch sehr lohnendes – Beispiel ist etwa die Stoffentwicklung von Stanley Kubricks Shining (USA 1980), vgl. Ursula von Keitz: The Shining – Ein Stoff gefriert. Zu Stanley Kubricks Adaption von Stephen Kings Roman. In: Stanley Kubrick. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Filmmuseum und Deutschen Architekturmuseum. Hrsg. vom Deutschen Filmmuseum. Frankfurt/Main 2004, S. 184–197; englische Fassung: Dies.: The Shining – Frozen Material. In: Stanley Kubrick 2004 (s. o.), 2nd ed. 2012, S. 184–197; ein weiteres Beispiel wären die in vier Mappen gesammelten Entwürfe und Varianten von Erich Kästners Drehbuch zu Münchhausen (D 1943, J. v. Baky), Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Erich Kästner, Bestand „Dramatisches“.

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der Autorschaft – und damit auch des Originalbegriffs8 – grundsätzlich zu problematisieren, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist das Autorindividuum in aller Regel durch ein künstlerisches Autorenkollektiv zu ersetzen, welches seinerseits in Bezug auf die formale Urheberschaft einem historischen Wandel unterworfen war (und ist); zum anderen treten auch nicht-künstlerische Instanzen varianzgenerierend auf. Das Wert- und Ideenensemble, das filmgenetische Prozesse determiniert, verändert sich nicht zuletzt auch bezüglich der Zuweisung von Verantwortlichkeiten für die (letzt-)gültige ästhetische Form eines Films: Wie Jürgen Kasten und Claus Tieber beschrieben haben,9 unterliegt etwa die Stellung und Autorität von Drehbuchautorinnen bzw. -autoren als Urheberinnen bzw. Urheber im per definitionem arbeitsteiligen Prozess der Filmproduktion historisch tiefgreifenden Veränderungen, die maßgeblich auch von Verrechtlichungsprozessen flankiert sind. Innerhalb des Studiosystems gilt dies mindestens auch für die Regie, die sich z. B. in der klassischen Studioproduktion der 1930er und 1940er Jahre in den Hollywood-Studios oder bei der Ufa auch an einem Studiostil zu orientieren hat, der die künstlerische Freiheit durchaus begrenzt. Neben Produzenten, die traditionell etwa ein hypostasierter Publikumsgeschmack, die eigene Firmenpositionierung im Markt sowie kommerzielle Überlegungen (vor allem aber auch Zeitregime) leiten, nehmen in totalitären Systemen auch politische Akteurinnen und Akteure oder Institutionen Einfluss auf die Stoffentwicklung und spätere ästhetische Gestalt eines Films. Dementsprechend breit kann das Wertespektrum sein, dem sich letztlich ästhetische oder narrative Entscheidungen auf dem komplexen Weg von der Idee zur Uraufführungsfassung eines Films verdanken. Und selbst dann hören, wie schon die frühe Filmgeschichte zeigt – Erich von Stroheims Greed (USA 1923) ist ein besonders krasses Beispiel10 – Transformationen keineswegs auf. Um die Komplexität filmischer Varianzverhältnisse medienspezifisch adäquater fassen zu können, muss die für die Text-Editorik übliche Ineinssetzung von Entstehungs- mit Autorvarianz also modifiziert werden im Sinne einer  „durch die historischen Produktions- oder Distributionsverhältnisse“11 bedingten Varianz, was nicht als Hierzu Martin Koerber: Zur Problematik des Originals in der Filmrestaurierung. In: Auf der Suche nach dem Filmischen. Hrsg. von Georg Haberl, Brigitte Mayr, Michael Omasta und Gottfried Schlemmer. Wien 2002, S. 177–188; Ders.: Bewegte Bilder. Filmarchiv und Filmedition. In: Im Dickicht der Texte. Editionswissenschaft als interdisziplinäre Grundlagenforschung. Hrsg. von Gesa Dane, Jörg Jungmayr und Marcus Schotte. Berlin 2013 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 12), S. 225–232; Ders.: Was gilt das Originalnegativ im Filmarchiv. In: Unikat – Index – Quelle. Erkundungen zum Negativ in Fotografie und Film. Hrsg. von Cornelia Kemp. Göttingen 2015, S. 211–230; ferner Ursula von Keitz: Historisch-kritische Filmedition – ein interdisziplinäres Szenario. In: editio 27, 2013, S.  15–37, hier S. 17–20; Anna Bohn: Denkmal Film. Bd. 2: Kulturlexikon Filmerbe. Wien u. a. 2013, S. 185–219. 9 Jürgen Kasten: Film schreiben. Eine Geschichte des Drehbuches. Wien 1990; Claus Tieber: Schreiben für Hollywood. Das Drehbuch im Studiosystem. Berlin u. a. 2008. 10 „Greed bestand ursprünglich aus 42 Filmrollen, was einer Laufzeit von 8–10 Stunden entsprach. ­Stroheim wollte seinen Film in 2 Teilen herausbringen. MGM verlangte massive Kürzungen für den Verleih. Der Regisseur und Produzent Rex Ingram kürzte den Film auf 10  Rollen (Laufzeit: etwa 145  min.). 1999 erschien die von Rick Schmidlin erarbeitete restaurierte Fassung des Films. Das geschnittene Material aus Greed gilt als verloren, denn MGM hatte es nach Abschluss des Schnitts einschmelzen lassen, um das wertvolle Silbernitrat zurückzugewinnen. Schmidlin konnte einen Teil der ursprünglichen Gestalt des Stummfilms dank einiger hundert Szenenfotos rekonstruieren, die er in der Margaret Herrick Library in Los Angeles gefunden hatte. Das Ergebnis ist eine 243-minütige Fassung, die Stroheims originale Inszenierung und Montage nachvollziehbar macht.“ Zit. nach: Pressetext von Arte, 29.9.2005. 11 Von Keitz 2013 (Anm. 8), S. 27. 8

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technisch-materiale Kontingenz, sondern als Produkt intentionaler Änderungen zu verstehen ist. Denn es sind auch Fremdinstanzen jenseits des künstlerischen Autorenkollektivs – staatliche Zensurbehörden, der Produzent/die Produktionsfirma (sofern er/ sie nicht zum Autorenkollektiv gerechnet wird) oder der kommerzielle Verleih –, die hier varianzgenerierend auftreten und dergestalt zweite bzw. mehrere Originale verantworten, für welche u. U. die Entkopplung von der ursprünglichen Autorschaft auch vertraglich geregelt sein kann. In Bezug auf diesen Typ nicht-überlieferungsbedingter Fremdvarianz besitzt der Tod des bzw. der Autoren somit auch nicht den Status jener zentralen Zäsur, wie dies im Bereich der Text-Editorik der Fall ist. Verleih- bzw. produzentenbedingte Release-Varianz umfasst z. B. die Tatsache, dass von vornherein (auch) für den internationalen Markt produziert wurde, somit verschiedene Originalversionen existieren, inländische und (z. T. mehrere) Exportfassungen hergestellt wurden, was bereits beim generischen Material (i. e. Negativ) zu Buche schlägt, indem etwa am Set von mehreren Kameras gleichzeitig mehrere Negative derselben Einstellung entstanden. So bediente sich dieser Praxis etwa Friedrich Wilhelm Murnau bei Faust. Eine deutsche Volkssage (D 1926; s. Abb. 1).

Abb. 1: Potenzierte Entstehungsvarianz: vier Kader aus Murnaus Faust, Take 1 und Take 2, links jeweils Kamera 1, rechts Kamera 2 (aus: Die Sprache der Schatten: Friedrich Wilhelm Murnau und seine Filme – das Meisterstück: Faust. Dokumentarfilm von Luciano Berriatúa. Bonusmaterial zu: F. W. Murnau: Faust. Eine deutsche Volkssage (1926). Restaurierte Fassung. Hrsg. von der Murnau-Stiftung in Kooperation mit der Filmuniversität Babelsberg. München: Universum-Film 2014).

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Zudem sind Fassungsvarianten zumeist auch durch Konzessionen an die jeweilige fremde Rezipientenkultur gekennzeichnet. So ist z. B. die US-amerikanische Fassung von Martin Bergers Film Kreuzzug des Weibes (D 1926), die unter dem Titel ­Unwelcome Children verliehen wurde, keineswegs nur durch übersetzte Zwischentitel charakterisiert, sondern wurde vom amerikanischen Importeur durch den Ausschnitt einer ganzen Episode und die Veränderung der Figurenkonstellation gegenüber der deutschen Fassung auch narrativ signifikant modifiziert;12 zeitgenössisch wurde dies als co-autor­ schaftlicher Eingriff im Vorspann auch expliziert.13 In der frühen Tonfilmära trat ab 1929 und etwa bis Mitte der 1930er Jahre das Phänomen der Mehrsprachenversionsfilme (‚multilingual films‘) auf, bei denen bereits beim Dreh – am gleichen Ort (d. h. im selben Studio) mit identischem Setting, aber mit anderen Schauspielerensembles und verschiedenen Regisseuren – parallel verschiedene Fassungen hergestellt wurden.14 War eine Szene abgedreht, so wurden Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller sowie Regieperson gewechselt und die jeweils anderssprachige Version gedreht.15 Historische Medienwechsel und technisch-ökonomische Innovationsschübe können ihrerseits Anlass und Quelle für dergleichen produktions- bzw. ­distributionsbedingte Release-Varianz werden. Die Übergangsphase vom Stummfilm zum Tonfilm z. B. brachte eine regelrechte genetische ‚Variantenkultur‘ hervor. Nicht nur wurden originär als Stummfilm gedrehte Filme nachvertont, indem der Orchesterscore aufgezeichnet wurde und die Kopien eine Tonspur erhielten (wobei zuweilen auch Geräusche oder kurze Dialoge zu hören waren).16 Es wurden, wie bei Raoul Walshs The Big Trail (USA 1930), gleichzeitig zwei originäre Fassungen in verschiedenen Materialformaten gedreht, einmal auf 70 mm Fox Grandeur Widescreen und einmal auf 35 mm.17 Ein herausragendes Beispiel ist auch Alfred Hitchcocks Blackmail (GB 1929), der in ein- und demselben Jahr einmal komplett als Stummfilm und – aus Gründen der vorausgesetzten besseren Vermarktbarkeit in dieser ‚tönenden‘ Frühphase – noch einmal als Tonfilm gedreht wurde. In einer gemeinsamen Edition, auf DVD (Arthaus 2006) vorliegend, lassen sich die signifikanten Transformationen von Blackmail insbesondere hinsichtlich des Timings und Schauspielstils studieren, die der zeitgenössische Medienwechsel nach sich gezogen hat. Dergleichen Phänomene werfen freilich die spannende – hier nicht weiter zu diskutierende – Frage auf, ob man noch von einer Fassung sprechen Vgl. Ursula von Keitz: Sittenfilm zwischen Markt und Rechtspolitik: Martin Bergers Kreuzzug des ­Weibes und seine amerikanische Fassung Unwelcome Children. In: Geschlecht in Fesseln. Sexualität zwischen Aufklärung und Ausbeutung im Weimarer Kino 1918–1933. Redaktion: Malte Hagener. München 2000, S. 139–154. 13 In den Credits heißt es: „edited by J. W. McConaughy“. Zit nach: Unwelcome Children. 16-mm-Kopie des George Eastman House, Rochester/N. Y. 14 Siehe hierzu den Beitrag von Chris Wahl in diesem Band; ausführlich Ders.: Sprachversionsfilme aus Babelsberg. Die internationale Strategie der Ufa 1929–1939. München 2009, sowie Babylon in ­Film-Europa. Mehrsprachen-Versionen der 1930er Jahre. Redaktion: Jan Distelmeyer. München 2006. 15 Vgl. hierzu etwa die deutsche und die amerikanische Fassung von Anna Christie (USA/D 1929, Regie: Jacques Feyder bzw. Clarence Brown). 16 Vgl. etwa die Nadelton-Fassung von Sergej M. Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin von 1930, die der Komponist Edmund Meisel erstellte. Sie enthält kurze Dialoge und Geräusche, die Zwischentitel wurden entfernt. 17 Zur wechselvollen Format-Geschichte dieses Films vgl. Dave Kehr: Grandeur still evident in 1930’s ‚The Big Trail‘. In: Chicago Tribune, 17.6.1988, https://www.chicagotribune.com/news/ct-xpm-1988-06-178801090052-story.html (gesehen 4.8.2021). 12

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kann oder vielmehr von einem neuen und eigenen Werk ausgehen muss; die beiden Blackmail-Filme würden dergestalt, wie tendenziell auch die Mehrsprachenversionsfilme, einen ‚Werkkomplex‘ bilden.18 Von entscheidender Bedeutung ist ferner das Phänomen zensurbedingter ­Release-Varianz. Als populäres Massenmedium war der Film von Anfang an sehr viel mehr durch Zensur bedroht als etwa die Literatur; es gab Eingriffe in Gestalt von Schnittauflagen, allerdings waren diese, wie beispielsweise in Deutschland die Epoche vor Einführung des sog. Reichslichtspielgesetzes im Mai 1920 zeigt, regional unterschiedlich, sodass keine einheitlichen Distributionsverhältnisse herrschten; ein und derselbe Film konnte also in Berlin und in München in verschiedenen Fassungen laufen, wie die in zeitgenössischen lokalen Amtsblättern veröffentlichten Schnittauflagen für ein und denselben Titel zeigen.19 Spätere Veröffentlichungen nach dem Zeitraum des First Release fassen wir unter dem Begriff des ‚Re-Release‘. Fassungskonstitutive Varianz kann sich grundsätzlich sowohl auf die inhaltliche als auch die technisch-materiale Ebene beziehen. Zu den inhaltlichen Varianzen, die im Zuge eines Re-Release entstehen, gehören gekürzte oder erweiterte Fassungen, die nach der Erstveröffentlichung in Umlauf gebracht werden. Hier muss nun unterschieden werden: Handelt es sich, wie etwa bei Blade Runner,20 um einen Director’s Cut oder Final Cut, der vom Autor bzw. Autorenkollektiv verantwortet wird (bzw. autorisiert ist) und nacheinander in verschiedenen Versionen auf den Markt gebracht wird?21 Dann liegt eine Autor- und Entstehungsvarianz vor, vergleichbar etwa einer Ausgabe letzter Hand bzw. der zweiten ‚klassischen‘ Fassung von Goethes Werther oder der zweiten spätrealistischen Fassung des Grünen Heinrich von Gottfried Keller – allerdings mit dem signifikanten Unterschied, dass die Text-Autoren diese Varianz erst nach der Erstpublikation produzieren, während die Film-Autoren eine neue Schnittfassung mit dem bereits vorhandenen (beim First Release nicht veröffentlichten) Material herstellen. Neu oder nachgedreht wird nicht, aber es findet eine zweite oder mehrfache, vom Autorenkollektiv durchgeführte bzw. von diesem autorisierte Postproduktion statt. Anders verhält es sich im Falle eines von der Produktionsfirma initiierten, nichtautorisierten bzw. postumen Re-Release, z. B. für das Fernsehen bereitgestellte (häufig gekürzte) Fassungen von Kinofilmen. Dergleichen rein überlieferungsbedingte Fassungen besitzen für die filmphilologische ‚Textkritik‘ im Allgemeinen keine Relevanz, auch wenn sie gleichwohl filmhistorisch relevant sein können (und dies nicht Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Autorschaft, Werk, Medialität. Editionstheoretische Annäherungen an pluriautorschaftliche und plurimediale Werkkomplexe – mit einem germanistischen Blick auf das Phänomen Oper/Libretto. In: Perspektiven der Edition musikdramatischer Texte. Hrsg. von Thomas Betzwieser, Norbert Dubowy und Andreas Münzmay unter Mitarbeit von Markus Schneider. Berlin, Boston 2017 (Beihefte zu editio. 43), S. 25–38. 19 Vgl. Herbert Birett: Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme. Entscheidungen der Filmzensur 1911 bis 1920. Berlin, Hamburg, München, Stuttgart. München 1980. 20 Der First Release von Ridley Scotts Blade Runner war 1982; der auf einer von dem Filmrestaurator Michael Arick 1989 aufgefundenen Arbeitskopie des Films basierende, von Arick in Absprache mit Scott erarbeitete Director’s Cut kam 1992 ins Kino. 2007 erschien der von Ridley Scott erarbeitete Final Cut mit neuen und erweiterten Szenen, verbesserten Spezialeffekten und verbesserter Tonqualität. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Blade_Runner (gesehen 1.4.2021). 21 Die 2012 erschienene BluRay enthält insgesamt fünf Blade-Runner-Fassungen in einer ‚Ausgabe‘, ­darunter auch die Arbeitskopie (s. Anm. 20). 18

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nur dann, wenn von Filmen nur noch die TV-Fassungen existieren und kein genuines bzw. generisches Material mehr vorhanden ist). Varianzen auf der paratextuellen Ebene können sich im Fall der Zweitveröffentlichung eines Films, d. h. eines Re-Release qua Neu-Lizenzierung ergeben, der auf der hinsichtlich des Schnitts fassungsgleichen Herstellung neuer Verleihkopien mit den erhaltenen, genuinen generischen Ausgangsmaterialien beruht; deren Herstellung ist dann nicht mehr vom Erstverleih verantwortet, sondern vom neuen Lizenznehmer; ihr Vorspann enthält ein anderes Verleihlabel, gegebenenfalls werden Credit- und Castangaben auch in einer neuen Typographie produziert. Neben der inhaltlichen kann aber auch materielle Release-Varianz im Zuge des Überlieferungsprozesses entstehen.22 So wurden zum einen aufgrund von technischer Abnutzung des Materials durch Vorführung, Schadensbildung durch Lagerung etc. vielfach Umkopierungen nötig: Filme auf genuinen Trägermaterialien wurden auf neue Träger umkopiert (von Nitrozellulose zu Acetatzellulose), was zu veränderter Bilddichte, aber auch zu Formatvarianzen oder Varianzen der farblichen Textur führen konnte (z. B. von originalem frühen Tonfilm-Bildformat 1,17:1 zu Academy Ratio 1,33:1; von Academy Ratio zu 70 mm, wie im Falle eines Re-Release von Victor Flemings Gone with the Wind, USA 1939/1967 f., mit 6-Kanal-Magnettonspur, der Umkopierung von Technicolor auf Mehrschichtenfilm etc.). Neben der Umkopierung kommt zum anderen auch die technische Bearbeitung des genuinen Materials (in der analogen Domäne z. B. Reinigung oder Regenierung von Verleihkopien mit Bildschäden) vor, aber auch das Phänomen des sog. Digital Remastering (faktisch ein Restaurierungsverfahren), im Zuge dessen im Unterschied zur einfachen technischen Überholung neue Fassungen entstehen, deren Bild- und/oder Tonqualität sich von der des Originals unterscheiden. Dies ist etwa bei dem 2004 auf DVD neu veröffentlichten Science-Fiction-Film THX 1138 von George Lucas (USA 1971) der Fall: Das ursprüngliche Negativ des Films war stark angegriffen und in einigen Szenen wegen der hochgradigen Verschmutzung und Körnigkeit des Bildes ungeeignet für eine Konvertierung in das digitale Format: Mithilfe von verschiedenen Negativen aus den Reserven von Warner Bros. und Lucasfilm unterzog man den Film zuerst einer internen Restaurierung, in der die verschiedenen Negative zusammengeschnitten wurden. Lucas’ Firma Industrial Light and Magic retuschierte den Schmutz und die Kratzer, reparierte das Negativ digital und führte die Farbgradation für den Film durch. Anschließend wurde bei Lowry Digital Images die Schärfe der Details so verbessert, dass sie intensiver wirkten. Außerdem wurde die Körnung des Materials ­reduziert.23

Neben diesen Arbeiten auf der Bildebene, i. e. hier insbesondere der Bearbeitung ihrer Oberflächentextur (Körnigkeit des genuinen, generischen Kodak-Farbmaterials von 1971), gelang es Lucas zudem, seinen Kinoerstling als Director’s Cut (in einer Laufzeit von nun 85 gegenüber ehedem 83  min.) herauszubringen, indem er die für den First Release ursprünglich von Warner Bros. gekürzten Szenen wieder einfügte. Ver Hierzu auch Koerber 2015 (Anm. 8); Bohn 2013 (Anm. 8), Bd. 2, S. 66–70. https://de.wikipedia.org/wiki/THX_1138 (gesehen 5.8.2021).

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gleicht man diese Praxis eines autorschaftlich verantworteten Re-Release, der sowohl technisch-materiale als auch inhaltlich-narrative Variantenbildung umfasst, mit literarischen Praktiken, so kommt das Resultat einer zweiten Fassung und damit einer weiteren (vermutlich letzten) Entstehungsvarianz gleich; der Ausgabe- bzw. Veröffentlichungsmodus wurde allerdings transformiert, da bei der neuen Fassung von THX 1138 keine auf 35-mm-Film ausbelichtete Version publiziert, sondern diese Version ausschließlich auf DVD veröffentlicht wurde. An dieser Stelle wird ein ganz entscheidender Unterschied bezüglich der Frage deutlich, welche Art von Varianz eigentlich eine Fassung konstituiert. Während die Text-Editorik sich traditionellerweise auf den lexikalischen Bestand, also den sog. ‚linguistischen Text‘ konzentriert hat und Varianten, die den sog. ‚material text‘ (sensu Shillingsburg) 24 bzw. ‚Materialtext‘ (sensu Kondrup) 25 betreffen – also etwa Varianz auf der Ebene der Medialität (z. B. Zeitschriften- vs. Buchdruck) und Materialität (z. B. Typographie und Layout betreffend) –, erst seit jüngerer Zeit diskutiert,26 besitzt die Materialität für den Film eine sehr viel größere Relevanz: In dem Maße, wie dergleichen Umkopierungen oder Neubearbeitungen bzw. Überarbeitungen immer auch Folgen für die bildliche Darstellung bzw. auch Tonqualität besitzen, konstituieren sie zumindest potentiell eine neue und variante Fassung, die editorisch relevant ist. Wie die genannten Beispiele von Umkopierungen zeigen – schlagend etwa bei der 70-mm-Fassung von Gone With the Wind 27 – müssen dabei keineswegs autorschaftlich verantwortete, künstlerisch-ästhetische Intentionen zuschreibbar sein. Hier waren allein kommerzielle Faktoren entscheidend – ob im Bildkader oben Köpfe oder unten Hälse in Nahaufnahmen abgeschnitten waren oder nicht, war offenbar nicht von Relevanz, obwohl das Kader- bzw. Bildformat entscheidend für die Bildkomposition ist. Was demgegenüber Gebrauchsspuren auf dem genuinen Trägermaterial betrifft, so können sie, wie der Fall des generischen Materials von THX 1138 zeigt, so gravierend sein, dass sie durchaus Auswirkungen auf den Bildinhalt und damit die Semantik des Films zeitigen (ebenso wie die genuine Grobkörnigkeit der Bildschicht Auswirkungen auf die Wiedergabe und Wahrnehmbarkeit einzelner Bildelemente hatte); in der Regel ist die Semantik des Werks nicht affiziert, dergleichen Gebrauchsspuren konstituieren Peter L. Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 101 (u. a.). 25 Johnny Kondrup: Materialtext und Textur. In: (un)documented. Was bleibt vom Dokument in der ­Edition? Hrsg. von Mira Berghöfer, Anne-Elisabeth Beron, Fabian Etling, Gianna Hedderich, Melanie ­Stralla und Anne Wilken. Berlin, Bosten 2020 (Beihefte zu editio. 48), S. 1–20. 26 Siehe Text. Kritische Beiträge 11, 2006: Edition & Typographie, und Typographie & Literatur. Hrsg. von Rainer Falk und Thomas Rahn. Frankfurt/Main 2016 (Text. Kritische Beiträge. Sonderheft); ferner Rüdiger Nutt-Kofoth: Text lesen – Text sehen: Edition und Typographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78, 2004, S.  3–19; Ders.: Schillers Zeitschriften als ­Herausgeber-Werke und ihre ‚materiale‘ Repräsentation in der Edition. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio. 32), S. 145–157; Thomas Rahn: Gestörte Texte. Detailtypographische Interpretamente und Edition. In: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Hrsg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski. Berlin, Boston 2014 (Beihefte zu editio. 37), S. 149–172. 27 Originalfassung in Technicolor, Academy Ratio-Format 1,33:1; hierzu etwa Scott Higgins: Ordnung und Fülle. Technicolor-Ästhetik im Studiosystem Hollywoods. In: Glorious Technicolor. Hrsg. von Connie Betz, Rainer Rother und Annika Schaefer. Berlin 2015, S. 48–71. 24

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somit zwar keine neue Fassung, besitzen allerdings semiotischen Status, d. h. sie haben in jedem Fall indexikalischen Zeichenwert im Hinblick auf die Rezeption, und sind somit im Rahmen einer kritischen Edition durchaus auch relevant.28 1.2. Makro-, Meso-, Mikrogenese; absolute vs. relative Chronologie Eine weitere wichtige textphilologische Unterscheidung ist hier zunächst die zwischen Textgenese zum einen und Entstehungsgeschichte zum anderen. Während Erstere die reine textimmanente Chronologie und Logik des Produktionsprozesses unter Abstraktion von textexternen Faktoren meint, bezeichnet die Letztere genau diese äußeren, vor allem biographischen, aber auch überindividuell historischen etc. Umstände der Produktion. Natürlich sind beide Ebenen faktisch miteinander verknüpft, eine externe Zäsur kann z. B. einen Wechsel in der Konzeption eines Werks auslösen. Im Bereich des Films besitzen dergleichen externe Faktoren der Produktions- und Distributionsverhältnisse, wie oben bereits erwähnt, ungleich größere Relevanz. Sie werden in der Filmwissenschaft im Feld der Produktionsstudien recherchiert und dokumentiert, wobei dementsprechend unterschiedliche Quellen im Fokus stehen. So verdankt sich die Tonfassung von Blackmail keineswegs einer (bloß) biographischen Zäsur bei Hitchcock, sondern war das Ergebnis eines den gesamten Produktionsrahmen erfassenden Einschnitts, der Implementierung des Tonfilms. Ein anderer, sich über insgesamt vier Jahre hinziehender Fall aus diesem Zeitraum ist die Stoffentwicklung und Produktionsgeschichte von Jacques Feyders Daybreak (USA 1931), dessen Drehbuch auf der Novelle Spiel im Morgengrauen von Arthur Schnitzler von 1927 beruht. Bereits kurz nach Erscheinen der englischen Übersetzung der Novelle noch im Jahr 1927 wurde der Stoff als Stummfilm bei MGM entwickelt, blieb – nachdem Schnitzler die Rechte nach längerem Zögern Ende 1928 an MGM verkauft hatte – mit Einführung des Tonfilms jedoch offensichtlich längere Zeit liegen, erfuhr zahlreiche Modifikationen und wurde schließlich unter Einbeziehung neuer Autorinnen und Autoren als Romantic Comedy produziert.29 Zur Entstehungsgeschichte von Friedrich Wilhelm Murnaus Tabu. A Story of the South Seas (USA 1931) etwa gehören die wechselnden Rollen, die Robert J. Flaherty bei der Produktion einnahm.30 Aber beide Ebenen, ihre jeweiligen Einheiten und diskontinuierlichen Einschnitte – filmimmanente genetische Stufen (im weitesten Sinn) im einen, chronologische Abschnitte in der Produktion im anderen Fall – sind dennoch nicht a priori deckungsgleich und somit zunächst einmal prinzipiell voneinander zu unterscheiden. Hierzu auch Koerber 2015 (Anm. 8), S. 212, der die filmphilologische Relevanz zeitgenössischer Kopien hervorhebt, da sie Informationen enthalten „über den Stand der Technik zum Zeitpunkt ihrer Herstellung, indem sie uns zahlreiche, meist unbewusst in das Filmerlebnis einfließende Wahrnehmungen von Kornstruktur, Silbergehalt und Farbtreue der Emulsion oder den Frequenzumfang der Tonaufzeichnung oder über die Präzision des Bildstands bestimmter Kameramodelle und Kopiermaschinen erlaubt, die wir nach einer gewissen Praxis von Seh- und Hörerfahrungen für die Zeichen von Authentizität halten, die sie ja auch tatsächlich sind.“ 29 Vgl. Ursula von Keitz, Wolfgang Lukas: Plurimediale Autorschaft und Adaptionsproblematik. SPIEL IM MORGENGRAUEN (1927) und DAYBREAK (1931). In: Arthur Schnitzler und der Film. Hrsg. von Achim Aurnhammer und Barbara Beßlich. Würzburg 2010, S. 209–242. 30 Vgl. den Beitrag von Karin Herbst-Meßlinger in diesem Band, S. 251–271. 28

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Was nun die editorische Rekonstruktion der Genese betrifft, so geschieht diese immer auch in Funktion des gewählten Betrachtungsausschnitts. Je nachdem, ob man den gesamten Entstehungsprozess vom ersten bis zum letzten Dokument in den Blick nimmt oder stattdessen nur bestimmte Teile des Werks oder einzelne Stellen, operiert man mit je verschiedenen Einheiten, die es chronologisch zu ordnen gilt. In der Text-Editorik hat sich die Differenzierung verschiedener genetischer Perspektiven bzw. Dimensionen eingebürgert, nämlich die der Makro- und Mikrogenese, denen man als mittlere Betrachtungsebene noch die Mesogenese hinzufügen kann.31 Die Begriffe sind nicht ontologisch fest definiert, sondern relativer Art und können somit pro Werk und individueller Überlieferungssituation neu festgelegt werden. Eine mögliche und sinnvolle Definition sowohl für die Text- als auch für die Film-Genetik ist etwa die folgende: –– Die Makrogenese nimmt als Bezugsrahmen das gesamte Werk, definiert als Summe aller seiner Fassungen (incl. Vorarbeiten), und wählt als Betrachtungseinheit die textgenetischen Dokumente, die im Prozess der Entstehung produziert werden und deren chronologisch-genetische Ordnung sie sich zur Aufgabe setzt: also etwa die erwähnten Schritte von der ersten Notiz über einen Entwurf und über diverse Niederschriften bis hin zur Reinschrift und zum Druck. Beim Film könnten das analog die in allen drei Produktionsphasen jeweils hervorgebrachten textuellen (Exposé, Drehbuch, diverse Skripte), graphischen (Skizzen zur Szenografie, zu Kostümen etc., aber auch Musik-Partituren) oder filmischen Dokumente (die Menge der gedrehten Takes, die Arbeitskopie für den Schnitt, der ‚final cut‘) sein, die das gesamte ‚dossier génétique‘ konstituieren. Der Text bzw. Film wird auf dieser ersten, makrogenetischen Betrachtungsebene nicht weiter segmentiert. –– Die Mesogenese wählt als Betrachtungseinheit größere Segmente des Werks (Akte, Szenen, Kapitel etc.) und beobachtet deren Transformation als Ganzes, ohne auf die Wort- bzw. Einstellungsebene zu gehen: Das betrifft zum einen die Frage, welche Werkteile wann, in welcher Reihenfolge produziert und wie oft sie etwa umgearbeitet wurden; zum anderen das Phänomen von Umstellungen, etwa die Verschiebung einer ganzen Szene bzw. eines ganzen Aktes an eine andere Stelle, oder auch eine Neusegmentierung, etwa beim Drama die Umarbeitung von einem Drei- in einen Fünfakter (vgl. die mesogenetischen Darstellungen zu Goethes Faust, Abb. 2, und Schnitzlers Fräulein Else, Abb. 3). –– Erst die Mikrogenese schließlich betrachtet die Entwicklung kleinster Einheiten: Sätze, Teilsätze, Wörter in den Textdokumenten, Einstellungen bzw. Sequenzen oder Szenen in den filmischen Dokumenten.

Siehe Rüdiger Nutt-Kofoth: Zur Terminologie des textgenetischen Felds. In: editio 30, 2016, S. 34–52.

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Abb. 2: Aus: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Historisch-kritische Edition. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis unter Mitarbeit von Gerrit Brüning, Katrin Henzel, Christoph Leijser, Gregor Middell, Dietmar Pravida, Thorsten Vitt und Moritz Wissenbach. Version 1.2 RC. Frankfurt/Main, Weimar, Würzburg 2019, Genese / Faust I, URL: http://v1-2.faustedition.net/genesis_faust_i (gesehen 17.1.2021).

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Abb. 3: Visualisierung der mesogeneti­schen Entwicklung von Fräulein Else, rekonstruiert gemäß isolierbaren Handlungssequenzen: Nach einem ersten Plan, der von der zentralen Nackt­szene als Nucleus der Novelle ausgeht, arbei­tet Schnitzler im Folgenden weitgehend entlang dem narrativ-syntagmatischen Plot. – Bislang nicht publi­ zierte Darstellung, erstellt im Rahmen der Edition: Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905–1931). Hrsg. von Wolfgang Lukas, Michael Scheffel, Andrew Webber und Judith Beniston in Zusammenarbeit mit Thomas Burch. Wuppertal, Cambridge, Trier 2018 ff.

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Zumal im Bereich der Mikrogenese wird ein weiterer Aspekt relevant, der wiederum mit dem je gewählten Betrachtungsausschnitt zu tun hat: Eine eindeutige genetische Rekonstruktion der Änderungsoperationen ist – wenn überhaupt – in aller Regel zunächst nur punktuell, d. h. pro syntagmatische Textstelle möglich, wo in der Regel auf der Basis (topo)graphischer Merkmale die paradigmatische Serie der verworfenen Textstufen erhoben werden kann. Anders sieht es aber aus, wenn man den Anspruch hat, zwei oder mehrere solcher Änderungsakte in genetische Relation zueinander zu setzen: In welcher Reihenfolge hat der Autor seine handschriftlichen Änderungen in einem Entwurf angebracht? Hat er vom Anfang bis zum Ende (bezogen auf das Dokument) bzw. von oben nach unten (bezogen auf die Seite) gearbeitet? Das muss logischerweise nicht notwendig der Fall sein, bleibt somit Spekulation – es sei denn, es lassen sich eindeutig verschiedene Materialschichten, Grund- und Änderungsschicht(en), jeweils mit anderem Schreibstoff geschrieben, isolieren. Reinhold Backmann, Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe von Franz Grillparzer, hat 1924 in einem prominenten Aufsatz, der als Gründungsdokument der neuphilologischen Text-Genetik gelten kann, als erster dieses Problem unter der (terminologisch etwas missverständlich so benannten) Opposition ‚absolute‘ vs. ‚relative Chronologie‘ beschrieben und diskutiert.32 Ein Gutteil der theoretischen Diskussionen und praktischen Umsetzungen im Rahmen von historisch-kritischen Editionen des letzten halben Jahrhunderts drehte sich um die Frage, inwieweit es möglich ist, genetische Aussagen jenseits der atomisierten Einzelstelle zu treffen, indem man Syntagmen von größerer Extension in den Blick nimmt. Diese Frage betrifft insbesondere die Binnenvarianz innerhalb eines gegebenen genetischen Dokuments. Beim Film kann diese Frage vergleichbar im Bereich der papierenen Präproduktion oder im Bereich der Postproduktion, die an einem Gesamtdokument, der (rohgeschnittenen) Arbeitskopie, vorgenommen wird, relevant werden. Auf der Ebene der Produktion indes stellen die Variantenparadigmata der beim Dreh entstehenden (durchnummerierten) Takes pro Einstellung einen simplen Fall von sog. ‚absoluter Chronologie‘ dar. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass der Textautor mit einer Änderung die ursprüngliche, ersetzte Variante für ungültig erklärt; wenn er eine frühere Variante wieder einsetzt, muss er seinen Tilgungsakt widerrufen. Beim Regisseur ist dies nicht der Fall: Produziert wird beim Spielfilm klassischerweise eine Serie von Takes, und die Regie wählt am Set für die Muster den besten (gegebenenfalls auch hier noch ein, zwei Alternativen) aus (die Selektionspraktiken beim Dokumentarfilm sind andere, hier dominieren die Auswahlakte in der Postproduktion, d. h. im Montageprozess); im Jargon der Text-Editorik könnte man die verschiedenen Takes somit als ‚temporäre Alternativvarianten‘ bezeichnen. Das Verwerfen eines Takes, unmittelbar nachdem er gedreht wurde, würde einer ‚Sofortänderung‘ entsprechen. Zur sog. ‚relativen Chronologie‘ gehört das Phänomen der korrelierten Änderungsoperationen, die in genetischer Hinsicht in einer Relation der ‚kompositorischen Syn-

Vgl. hierzu Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese analog und digital: Ziele, Standards, Probleme. In: Text­ genese in der digitalen Edition. Hrsg. von Anke Bosse und Walter Fanta. Berlin, Boston 2019 (Beihefte zu editio. 45), S. 3–21, hier S. 10–13; Lukas 2019 (Anm. 6), S. 32–40.

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chronie‘ stehen33 – wobei der Begriff der Synchronie hier nicht notwendig temporal, sondern primär (kompositions)logisch zu verstehen ist. Damit werden korrelierte Änderungsakte bezeichnet, die als logisch zusammengehörig interpretiert werden können, sei es aus formal-syntaktischen – die sog. ‚gebundene Variante‘ (‚variante liée‘) –, sei es aus materiellen und/oder inhaltlichen (semantischen, ästhetischen etc.) Gründen – der von Hans Zeller so benannte ‚(Korrektur- bzw. Änderungs-)Verband‘.34 Der erste Fall, z. B. eine Tempusänderung an einer gegebenen Stelle, die durch eine ebensolche an einer anderen Stelle nach sich gezogen wird, ist durch die Grammatik erzwungen, somit bedeutungslos und genetisch irrelevant, weil ihrerseits nicht Produkt einer Wahl. Ein vergleichbarer Fall könnte in der klassisch-narrativen filmischen Produktion dann gegeben sein, wenn etwa durch eine Versetzung der Kameraposition mit Bruch der 180-Grad-Regel ein Nachdreh erforderlich wird, um die räumliche Continuity zu wahren. Verstöße gegen die Continuity werden hingegen z. B. im Experimentalfilm als künstlerisch motivierte und somit bedeutungshaltige Abweichungen interpretiert. ‚Anschlussfehler‘ anderer Art (z. B. die motivliche Konsistenz störende, im Bild falsch platzierte Objekte o. ä.) gehören gleichfalls in dieses Feld. Korrekte sprachliche Syntax und korrekte Bild-Continuity stellen diesbezüglich funktional äquivalente Prämissen dar. Fälle von kompositionslogisch miteinander korrelierten Änderungsoperationen jenseits der formalen Zwänge der Continuity kann es dann natürlich im Bereich der Postproduktion geben – rekonstruierbar wären sie allenfalls auf der Basis eines überlieferten Schnittprotokolls bzw. -berichts.

2. Filmisch-genetische (Entstehungs-)Varianz nach den einzelnen Teilphasen der Produktion Nachfolgend betrachten wir noch einmal im Zusammenhang die in den einzelnen Phasen des filmischen Produktionsprozesses entstehenden, je unterschiedlichen Varianzphänomene und illustrieren sie anhand von Beispielen – u. a. Filmeditionen, die solches genetisches Material bereits bieten. Genetische Entstehungsvarianz sei definiert als die Menge jener Varianzen, die im Zuge der gesamten Produktion von den Anfängen bis zum noch autorschaftlich verantworteten Release (definiert im oben erläuterten Sinne eines synchronen Zeitraums) hervorgebracht werden. Wir orientieren uns zu diesem Zweck an einer idealtypischen Genese eines Films in der analogen Domäne. Die Skizze strebt eine Systematik an, erhebt aber angesichts der Komplexität der filmischen Produktion keinen Anspruch auf die vollständige Erfassung sämtlicher Möglichkeiten von Varianzproduktion in Spielfilmen.

Nach Alfredo Stussi: Introduzione agli studi di filologia italiana. Bologna 1994, S. 186 f. Hierzu Lukas 2019 (Anm. 6), S. 34 f. 34 Hans Zeller: Bericht des Herausgebers. In: C. F. Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15 Bde. Bern 1958–1996, Bd. 2. Bern 1964, S. 5–113, hier S. 101. 33

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2.1. Vorproduktion Stellen wir uns zunächst hypothetisch eine solche idealtypische Genese im Textbereich vor: Ein Autor mag mit einem groben Plan bzw. einer Skizze, Notizen o. Ä. beginnen, dann einen bzw. mehrere Entwürfe anfertigen, die im Anschluss in den Arbeitshandschriften ausformuliert werden, womit die Phase der Niederschrift und der eigentlichen Textausarbeitung einsetzt. Am Ende stehen die Reinschrift als Druckvorlage und schließlich der Erstdruck. Wie der Produktionsprozess im Einzelnen jeweils verläuft, ist pro Autor und/oder Werk individuell und verschieden. Klassifikationsvorschläge und Definitionen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und eine konsensuelle Terminologie sind aus diesem Grund nur im Ansatz vorhanden.35 Jede (historisch-)kritische Edition steht gleichwohl vor der Aufgabe, das Kontinuum des Produktionsprozesses auf einer ersten, makrogenetischen Ebene in diskontinuierliche, qualitativ unterschiedliche Etappen zu gliedern, welchen sich bestimmte textgenetische Text- und/oder Dokumentsorten zuordnen lassen. Absolute Vergleichbarkeit zum Film besteht hinsichtlich der ‚papierenen‘ Vorproduktion, d. h. der im schriftlichen Medium realisierten Drehbuchentwürfe, die sich je nach Entwicklungsstand in verschiedene genetische Typen und Subgenres klassifizieren lassen:36 also etwa von der ersten groben Handlungsskizze (Exposé) über ein Treatment oder Rohdrehbuch, das primär die Ebene der narrativ-syntagmatischen Sukzession der Ereignisse inclusive der Figurenreden entwirft, bis hin zum fertigen Continuity-Drehbuch (Shooting Script), das zusätzlich Aspekte der (audio)visuellen Auflösung fixiert, etwa in Gestalt eines (bis in die 1970er Jahre gebräuchlichen) Zweispalten-Drehbuchs für Handlung und visuelle Auflösung bzw. für Bild und Ton für den Tonfilm. Welche genetischen Text-/Dokumentsorten jeweils existieren, ist pro Werk individuell verschieden. So wird bei Jean-Marie Straubs Film Klassenverhältnisse (BRD 1984) etwa die makrogenetische Folge im Bereich der Vorproduktion durch die verschiedenen überlieferten Drehbuchtypen: handschriftliche Fassung – Typoskript – Regiebuch mit handschriftlichen Einfügungen, definiert. Einen besonders komplexen genetischen Prozess hat das Drehbuch zu Kubricks Shining durchlaufen,37 wie – was dieses Beispiel auch erhellt – bei adaptierten, d. h. präexistenten Stoffen die Drehbuchgenese nicht nur textlich methodisch anders verfährt, sondern sich im Allgemeinen auch insgesamt aufwendiger gestaltet als bei der Entwicklung von Originalstoffen. In dem Maße, wie die einzelnen genetischen Skriptsorten mit unterschiedlichen logischen Segmentierungen arbeiten – etwa im Treatment die Einteilung in ‚Bilder‘, im fertigen Shooting Script dann die visuelle Auflösung in ‚Einstellungen‘ pro ‚Bild‘ –, können sie auch ein je spezifisches ‚typographisches Dispositiv‘ ausbilden.38 So liegt Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die Critique génétique. Bern 1999 ­(Arbeiten zur Editionswissenschaft.  4), S.  293 f. u. a., beispielsweise grenzt ‚Entwurf‘ von ‚Arbeitshandschrift‘ bzw. ‚brouillon‘ ab; Roger Lüdeke: [Art.] Entwurf. In: Kompendium der Editionswissenschaft. Hrsg. von Anne Bohnenkamp u. a., http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD1/frame_edkomp.html (gesehen 1.4.2021), hingegen behandelt sie als Synonyme. 36 Siehe hierzu auch den Beitrag von Katrin Henzel in diesem Band. 37 Vgl. von Keitz 2004 (Anm. 7). 38 Nach Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 69), S. 119–133. 35

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bei F. W. Murnaus Faust. Eine deutsche Volkssage (D 1926) eine Zweispalten-Logik (Abb. 4), bei Tabu (Abb. 5) hingegen eine Vierspalten-Aufteilung vor. Die linke Spalte von Faust zitiert den jeweiligen Drehort an, während die rechte die Handlung paraphrasiert sowie Text und Platzierung der Zwischentitel angibt. Die Continuity von Tabu führt Drehdatum und Szenennummer, Einstellungsnummer, „Temporary Slate No.“ und Handlungsskizze mit Einstellungsgröße auf. Der Vergleich zwischen Faust und der Continuity von Fritz Langs Metropolis (D 1927) belegt, dass das zweispaltige Layout (Abb. 5) seinerseits eine je unterschiedliche Semantik besitzen kann. Ganz offenbar ist die logische Struktur bzw. die Semantik der Spalten nicht festgelegt, die Schreibweisen differieren je nach Autorin bzw. Autor.

Abb. 4: F. W. Murnau: Faust. Eine deutsche Volkssage (1926). Aus dem Drehbuch von Hans Kyser („Manuskript“: Regieexemplar für Murnau). Restaurierte Fassung. Hrsg. von der Murnau-Stiftung in Kooperation mit der Filmuniversität Babelsberg, Bonusmaterial. München: Universum-Film 2014.

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Abb. 5: F. W. Murnau: Tabu. Edition der Outtakes. Hrsg. von der Deutschen Kinemathek/Museum für Film und Fernsehen (Bernd Eichhorn, Karin Herbst-Meßlinger, Martin Koerber, in Zusammenarbeit mit Franziska Latell, Daniel Meiller u. a.). Berlin 2012.

Die Genese in der Vorproduktion spielt sich wie erwähnt nicht nur im textuellen, sondern auch im bildlichen – zweidimensionalen oder dreidimensionalen plastischen – Bereich ab. Neben dem Drehbuch gibt es nontextuelle Vorarbeiten, Entwicklungsstufen der Szenographie, des Kostümbilds und der Musik, 3-D-Modelle für Architektur oder bestimmte Requisiten.39 Eine weitere wesentliche genetisch relevante Etappe der filmischen Vorproduktion besteht in der Auswahl der Darstellerinnen und Darsteller. Casting­ prozesse, dokumentiert etwa in Probeaufnahmen (wie sie z. B. von Marlene Dietrich für ihre Rolle als Lola Lola in Der blaue Engel existieren), ergeben teils genetisch sehr reiches Variantenmaterial.

Die von Anna Bohn und Enno Patalas verantwortete DVD-Studienfassung von Metropolis (hrsg. von der Universität der Künste, Filminstitut, Berlin 2005) bietet in sog. „Galerien“ zahlreiches genetisches Material dieser Art.

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Abb. 6: Fritz Lang: Metropolis. Drehbuch von Thea v. Harbou. DVD-Studienfassung. Hrsg. von der UdK Berlin, Filminstitut (Anna Bohn u. a.). Berlin 2005.

2.2. Produktion Im Entstehungsprozess eines literarischen Textes stellt der Schritt von den Vorarbeiten – Notizen, Skizzen, Entwürfe o. Ä. – zur eigentlichen Niederschrift eine wichtige Zäsur dar. Jetzt zählt das einzelne Wort, während der Entwurfsmodus oft qualitativ anderen Charakter besitzt: Er kann durch unvollständige Syntax, durch Alinearität, durch raffende Erzählweise oder auch durch metatextuelle Kommentare gekennzeichnet sein. Im Falle ausgeprägter Alinearität können nonverbale Zeichen wie etwa die Spatialität, also die Verteilung von Textstücken im sog. Schriftraum, größere Bedeutung besitzen. Tendenziell können Entwürfe analogen präskriptiven Charakter besitzen wie ein Drehbuch. Erst mit dem Wechsel zum sog. Niederschriftsmodus sprechen wir auch von Fassungen als den „vollendete[n] oder nicht vollendete[n] Ausführungen eines Werks“,40 Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1–44, hier S. 17.

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durch welche dieses zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. während einer bestimmten Zeitspanne repräsentiert wird . Beim Film wird dieser Schritt mehrheitlich erst durch den Medienwechsel von der Schrift zu Bild und Ton vollzogen, von der Vor- zur eigentlichen Produktionsphase. Was jetzt zählt und gilt, sind die gedrehten Einstellungen, analog zu den einzelnen Wörtern eines literarischen Textes. Abgesehen von der Figurenrede haben in einem filmischen Drehbuch die einzelnen verwendeten Wörter, insofern sie eben präskriptiven und somit metakommunikativen Status besitzen, in aller Regel nur einen indirekten künstlerischen, d. h. selbstreferenziellen Eigenwert. Ausnahmen bilden natürlich sprachlich elaborierte Drehbücher, die tendenziell poetischen Charakter besitzen und somit eine Grenze zur Literatur darstellen: Ein bekanntes Beispiel hierfür sind etwa das Drehbuch von Paul Schrader zu Martin Scorseses Taxi Driver (USA 1976)41 oder das jüngst als ein Stück Literatur veröffentlichte (Roh-)Drehbuch von Elfriede Jelinek zu einem (niemals realisierten) Film mit dem Titel Eine Partie Dame.42 Betrachten wir nun also vergleichend die textuelle Niederschriftsphase und die filmische Produktionsphase. Da gibt es zunächst einen zentralen Unterschied. Denn die chronologische Abfolge der gedrehten Einstellungen und Szenen ist sehr viel mehr von pragmatischen und kontingenten textexternen – ‚Text‘ nun im weiten, multimodalen semiotischen Sinn des filmischen Gesamttexts – Faktoren determiniert, als dies beim literarischen Werk der Fall ist. So wird in der Regel nach Schauplätzen und Dekorationen gedreht, also sämtliche Handlungen, die an einem gegebenen Schauplatz sich ereignen, in einer paradigmatischen Serie, unabhängig von deren Position im narrativen Syntagma. Ein Text-Autor hingegen, das ist freilich trivial, ist hier völlig frei, er kann entlang der narrativen Sukzession des Plots sich vorarbeiten oder umgekehrt mit dem Ende oder einer bestimmten Handlungssequenz anfangen. Während also etwa die Chronologie der Ausarbeitung einzelner Szenen von Goethes Faust einen potentiellen Aussagewert im Hinblick auf die genetische Produktionslogik besitzt (vgl. Abb. 2), gilt Analoges für die Produktion von Murnaus Faust nicht. Die Tatsache, dass alle Szenen, die in Innenräumen spielen – Studierzimmer, Hörsaal, Zimmer der sterbenden Frau –, zu einem gemeinsamen Zeitpunkt entstanden (Abb. 7), verdankt sich allein textexternen, pragmatischen Faktoren. Mag somit die in Drehplänen oder Drehtagebüchern dokumentierte Chronologie interessant sein in anderer Hinsicht, einen genetischen Aussagewert im eigentlichen, die interne Entwicklungslogik des Werks betreffenden Sinn besitzt sie in aller Regel nicht, da sie im Drehbuch zugrunde gelegt ist und dieses wiederum als Referenzmedium fungiert.

Paul Schrader: Taxi Driver. London 1990. Elfriede Jelinek: Eine Partie Dame. Drehbuch. Hrsg. von Wolfgang Jacobsen und Helmut Wietz. Berlin 2018.

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Abb. 7: Faust. Drehplan, untergliedert nach Ateliers und Datum (erste maschinenschriftliche Seite des Drehbuchs). Restaurierte Fassung. Hrsg. von der Murnau-Stiftung in Kooperation mit der Filmuniversität Babelsberg, Bonusmaterial. München: Universum-Film 2014.

In der Produktionsphase selbst werden nun grundsätzlich folgende zwei Typen von Varianz relevant: 1. Varianz in Relation zum Drehbuch: Es können etwa vorgesehene Einstellungen gestrichen, umgestellt oder inhaltlich modifiziert werden. Das kann dann entweder in einem eigenen Text- und Dokumenttyp (Beispiel: der Clerk’s Report von Tabu) oder im Regiebuch selbst dokumentiert, gleichsam protokolliert werden, womit das Drehbuch den Status der präskriptiven Textsorte verlässt und sich zum Post Shoot­ ing Script wandelt (Beispiel: Klassenverhältnisse).43 2. Varianz zwischen den einzelnen Takes pro gedrehter Einstellung: Diese Varianzen, die auf der Ebene einzelner Einstellungen produziert werden, können sämtliche ­Aspekte Vgl. Klaus Kanzog, Klaus Volkmer: Work in Progress. Filmgenetische Analyse der Zeichenstruktur und Rhetorik in den Anfangssequenzen von „Klassenverhältnissen“ anhand nicht verwendeter Takes. In: ­Danièle Huillet, Jean-Marie Straub: Klassenverhältnisse. Doppel-DVD mit Zusatzmaterial. München 2007 (Edition Filmmuseum. 11), DVD Nr. 2.

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der ‚histoire‘ und des ‚discours‘ betreffen: inhaltlich-diegetische Aspekte des Dargestellten wie variante inhaltliche Füllung hinsichtlich der vorfilmischen Objekte, also etwa variante Schauspielhandlungen in Rede und/oder Gestik oder auch variante Requisiten zum einen; zum anderen Aspekte des ‚discours‘, also der filmischen Darstellung wie Varianzen in Bezug auf Länge und Größe der Einstellung, Kameratypen, -position und -bewegung, Lichtsetzung etc. etc. Das gegenüber dem (späteren) Original variante Material, das dergestalt in der Phase der filmisch-bildlichen Hauptproduktion entsteht, umfasst die Menge der entweder beim Dreh selbst oder unmittelbar danach, jedenfalls vor der Postproduktion verworfenen Einstellungen, die sog. Outtakes, jene Materialien also, die (in der analogen Domäne mit ihrer Negativ-/Positiv-Prozesslogik) originär nicht als ‚Kopierer‘ (d. h. als derjenige Negativ-Take, von dem ein Positiv gezogen wird) definiert wurden. Nur in den seltensten Fällen werden sie archiviert, in aller Regel aber entsorgt. Ein Grund hierfür ist zweifellos, dass sie – im Unterschied zu autographen Entwurfs- oder Arbeitshandschriften – ganz offenbar nicht jene Aura besitzen, die sie zu Spuren eines künstlerischen Schöpfungsprozesses werden lassen. Denn diese Sorte von Varianz wird nicht von einem Künstlerindividuum allein verantwortet, sondern von einem Kollektiv, das am Set verschiedenste Aushandlungsprozesse vollzieht und auf ein hypostasiertes dramaturgisches ‚Optimum‘ hinarbeitet, in das alle zusammenwirkenden kinematographischen Faktoren (Schauspiel, Licht, Kameraposition und -perspektive, Tonaufnahme ...) eingehen. Insofern solche Outtakes überliefert sind, können sie nun auf ihren genetischen Gehalt hin befragt werden, den sie nämlich nicht per se besitzen. In der Editionsphilologie hat sich anstelle der traditionellen, die Verbesserung von ‚Fehlerhaftem‘ implizierenden Rede von ‚(Autor-)Korrekturen‘ die neutralere Bezeichnung ‚Textänderung‘ oder ‚Revision‘ durchgesetzt.44 Denn relevant ist in diesem Zusammenhang nicht die Autor­ perspektive, aus der freilich jede Änderung eine ‚Verbesserung‘ oder ‚Korrektur‘ von Fehlerhaftem bzw. Schlechtem darstellen mag, sondern die neutrale Editorperspektive. Damit wurde eine semantische Differenzierung möglich in genetisch relevante Revisionen einerseits und echte Fehlerkorrekturen andererseits, etwa Verbesserung von Schreib- oder Tippfehlern. Weder das Verbessern von grammatischen Fehlern noch das verdeutlichende Nachzeichnen defizitärer oder fehlender Graphen besitzt hingegen irgend­eine genetische Relevanz, weil sie den Textbildungsprozess nicht vorantreiben.45 Wenn dergleichen in einer Edition verzeichnet wird, dann nicht aus genetischen, sondern allein aus dokumentarischen Gründen. Mit solchen Fehlern vergleichbar scheint der Fall zu sein, wenn ein Take wegen eines Patzers – ein Schauspieler, der stolpert Siehe Rüdiger Nutt-Kofoth: Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zum Problem der Synonyme in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Hrsg. von Gunter Martens. Berlin, Boston 2013 (Beihefte zu editio. 36), S. 113–124. Vgl. auch Scheibe 1971 (Anm. 40) und Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963 (2. Aufl. 1969), Kap. II.: Textveränderungen, S. 37–70. 45 Siehe Klaus Hurlebusch: Editionsprinzipien. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck u. a. Hrsg. von Horst Gronemeyer u. a. (Hamburger Klopstock-Ausgabe). Abt. Addenda. Bd. II: Klopstocks Arbeitstagebuch. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 1977, S. 173–225, hier S. 196–202, Kap.: Typologische Änderungsbefunde und ihre Termini. 44

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oder sich verspricht, ein falsches bzw. fehlendes Requisit o. Ä. – wiederholt wird. In dem eben genannten Sinne haben K.  Kanzog und K.  Volkmer in ihrer genetischen ­„Pilotstudie“ 46 zu Straubs Klassenverhältnissen nur eine Auswahl der Takes, nämlich die genetisch relevanten, die einen semantischen Aussagewert besitzen, dokumentiert. Die Faust-Edition (London 2014) hingegen zeigt gerade auch die fehlerhaften Takes; sie besitzen dort allerdings einen anderen Stellenwert, im Rahmen eines dokumentarischen Essays nämlich, der solche Fälle als Kuriosa und zu Zwecken der Illustration anführt, nicht im Rahmen einer kritischen Edition. Genetischen Aussagewert sensu proprio besitzen hingegen Einstellungsvarianten, die Einblicke in ästhetische Entscheidungsprozesse von Regie bzw. Produktion gewähren. 2002 brachte Warner auf zwei DVDs die kritische Edition von George Cukors A Star Is Born (USA 1954) heraus. Das ‚Bonusmaterial‘ ist auf DVD 2 abgelegt und umfasst u. a. drei verschieden gedrehte Varianten der Szene, in der die Protagonistin Esther (Judy Garland) nächtens in einer bereits geschlossenen Bar, begleitet von einer kleinen Jazzband mit befreundeten Musikern, das Lied singt, das zum Ausgangspunkt ihrer Karriere werden wird, „The Man that Got Away“ (Abb. 8). Garland nahm den Song am 4.9.1953 zunächst ohne Bild vorab auf, und Cukor drehte zwischen dem 21. und 29.10.1953 insgesamt vier verschiedene szenische Fassungen mit dem Playback ihres Gesangs in über 40 Takes.

Abb. 8 a–d: Vier Kader aus den (Einstellungs-)Varianten der Gesangsszene „The Man that Got Away“ aus A Star Is Born, synchron zu Strophe I, Zeile 3 und 4, „The winds grow colder / suddenly you’re older“: a. Garland in rosa Bluse und grauem Rock, halbnah neben dem Pianisten sitzend; b. Garland in hellbraunem Kleid, nah/groß; c. Garland halbnah im hellbraunen Kleid; d. Garland in blauem Kleid mit weißem Kragen und gepunkteter Schleife, amerikanisch, ans Klavier gelehnt stehend; a–c sind Aufnahmen in Widescreen Technicolor, d im schlussendlichen Filmformat Cinemascope mit deutlich stärkerer Farbsättigung (Bonusmaterial zur restaurierten Fassung von Ron Haver, 1983. DVD: Hamburg 2002). Klaus Kanzog: Darstellung der Filmgenese in einer kritischen Filmedition. In: editio 24, 2010, S. 215–222, hier S. 217.

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Die 2007 vorgelegte Studienausgabe zu Straubs/Huillets Klassenverhältnisse enthält eine „filmgenetische Analyse der Zeichenstruktur und Rhetorik“ von K. Kanzog und K. Volkmer, die anhand der Anfangssequenzen die finale Fassung mit den Outtakes am Beispiel von vier ausgewählten Einstellungen vergleicht, wobei jeweils eine auswertende Interpretation angeboten wird. Den Charakter der Studienausgabe erhält diese Edition erstens durch die doppelte Beschränkung auf einige wenige Beispiele genetischer Varianz, wobei die zu den ausgewählten Einstellungen produzierten und überlieferten Variantenparadigmen ihrerseits nur selektiv wiedergegeben werden. Als Studienaus­ gabe präsentiert sie sich zweitens und insbesondere mit dem Versuch einer interpretatorischen Auswertung des genetischen Materials. Diese besteht ihrerseits zum einen in der Analyse einzelner Einstellungen hinsichtlich ihrer rhetorischen ­Funktion: So wird das Eingangsbild als „Insinuatio“ klassifiziert, oder die 24. Einstellung dient der Einführung eines „[l]eitende[n] Affektzeichen[s]“. Zum anderen werden die schließlich gewählten Takes interpretiert, wobei die Idee der „beste[n] Wahl“ aus dem Paradigma der produzierten Varianten leitend ist: So kommt etwa in der 1. Einstellung der Koffer „am markantesten ins Bild, und Karl Roßmanns Abgang ist von stärkster Energie“; in der 2. Einstellung galt es darum, „die günstigste Perspektive zu finden“, im gewählten Take für die 24. Einstellung „kommt die Aggressivität des Oberkassierers am stärksten zum Ausdruck“.47 Sowohl Selektion als auch auswertende Analyse dienen nicht dem übergeordneten Ziel einer umfassenden (historisch-kritischen) Dokumentation der Überlieferung, sondern dem didaktischen Ziel, „Wahrnehmungen zu trainieren und den Blick für das spezifisch Filmische zu schärfen“.48 Reiches Material zum Studium bietet auch die von Martin Koerber u. a. herausgegebene Online-Edition der Outtakes von Murnaus letztem Film Tabu. In mehrfacher Hinsicht unterscheidet sich diese Edition, die im vorliegenden Band in einem eigenen Beitrag vorgestellt wird,49 nun sehr deutlich noch einmal von den Studienausgaben. Sie kann als erste – und bislang auch einzige – ihrer Art als historisch-kritische Film­ edition gelten. Dies begründet nicht nur der außerordentlich ausführliche Editorische Bericht, der unter systematischer Auswertung von Korres­pondenzen sowohl die Entstehungs- bzw. Produktions- als auch die Überlieferungsgeschichte detailliert nachzeichnet, sondern auch der Anspruch, das überlieferte genetische Material – insgesamt über 17 500 Meter – zusammen mit den beiden überlieferten Textquellen – Drehbuch (Continuity Script) und Drehtagesbericht (Clerk’s Report) – in Vollständigkeit zu edieren (die Textdokumente sowohl im Faksimile als auch im Neusatz) und zu erschließen. Als zentrale Referenzgröße für die editorische Ordnung des überlieferten Materials fungiert die Einstellung, und zwar nicht die des fertigen Films, sondern die im genetischen Material – entweder in den Filmen selbst oder im Drehbuch bzw. Drehtagesbericht – mit einer Nummer verzeichneten Einstellungen. Damit wird eine aposteriorische und potentiell teleologische Perspektive vom fertigen Produkt auf das Vorstufenmaterial vermieden. Überliefertes filmisches Material, das zwar eindeutig auf das Werk beziehbar, aber keiner dieser Einstellungen zuordenbar ist, umfasst sei Kanzog 2010 (Anm. 46), S. 219–222. Kanzog 2010 (Anm. 46), S. 222. 49 Beitrag von Karin Herbst-Meßlinger, S. 251–271. 47 48

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nerseits unterschiedliche Takes: solche, die echte Outtakes sind und sich auf einen Take im fertigen Film beziehen, und solche, bei denen dies nicht der Fall ist – im letzteren Fall handelt es sich um zusätzliche Einstellungen, die ursprünglich nicht vorgesehen waren, während der Arbeit produziert und dann aber nicht weiterverwendet wurden und somit eine Art ‚filmischer Paralipomena‘ darstellen. Die Synthese von syntagmatischer und paradigmatischer Rezipierbarkeit wird nun dadurch ermöglicht, dass pro Einstellung sämtliche überlieferte Outtakes zusammen mit dem Take des fertigen Films zu einem Clip zusammenmontiert wurden – diese Clips, insgesamt 782 an der Zahl, stellen gewissermaßen das funktionale Äquivalent eines genetischen Kolumnenapparats dar und ermöglichen die paradigmatische (‚vertikale‘) Lektüre der einzelnen genetischen Varianten; eine syntagmatische (horizontale und inkrementelle)50 Lektüre entlang des Plots ist nur über das Continuity Script möglich, da die Reihenfolge der Clips der Chronologie des Drehs folgt. Auf diese Weise wird die produktionsgeschichtliche Perspektive auf das Material der fiktionsimmanent-narrativen in gewisser Weise hierarchisch übergeordnet. Die durchgehende Synchronisierung von Text und Bewegtbild wird dadurch erzielt, dass auch in den Textdokumenten die Einstellung und nicht die Seite als zentrale navigatorische Einheit fungiert. Diese ausschließlich filmische Perspektive auf die Textdokumente beschert freilich den Nachteil, dass Drehbuch und Drehtagesbericht in der Konsequenz nicht als ‚Buch‘ und als autonome Textdokumente von vorn bis hinten durchgelesen werden können. 2.3. Postproduktion Die Postproduktion zerfällt ihrerseits wiederum potenziell in zwei Teilphasen: zunächst die Montage als Arbeit an den gedrehten Einstellungen und Herstellung eines Rohschnitts bis zum Feinschnitt. In einer weiteren Postproduktionsphase werden in der Stummfilmepoche Zwischentitel einmontiert. Im Anschluss an den Negativschnitt und die Kopierung können weitere materielle Bearbeitungen des Filmbandes vorgenommen werden, etwa durch Färbungen des Filmbandes (Toning oder Tinting), im Experimentalfilm auch z. B. durch Abtragen von Materialschichten (sog. Scratching). In der Tonfilmepoche begleitet den Postproduktionsprozess die Tonmischung und Synchronisierung von Bild und Ton, ehe im Kopierprozess Bild und Synchronton (als Licht- oder Magnetton) auf einem Träger verbunden werden. Die getrennten Ausgangsmaterialien werden gesichert und sind vielfach auch überliefert. Die Postproduktion ist die zweite Quelle für Outtakes, die jedoch, anders als die Produktions-Outtakes, die immer Takes einer gegebenen Einstellung betreffen, sowohl kleinere als auch größere Einheiten (wie Szenen) umfassen können. Anders jedoch als Einstellungsvarianten, die beim Dreh entstehen und nicht kopiert, stattdessen zumeist entsorgt (bzw. in der digitalen Domäne als Outtake-Dateien gegebenenfalls gelöscht) werden, zeigen viele DVD-Editionen (auch neuerer Filme), dass Outtakes, also verworfene Varianten, die erst während der Postproduktion eines Films entstanden (bis hin Siehe zu dieser Begrifflichkeit den Beitrag von Karl-Heinrich Schmidt, Frederik Schlupkothen, Britta Reppel und Laura Rehberger in diesem Band, S. 87–115.

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zu für die finale Fassung ganz gestrichenen Szenen), durchaus gesichert wurden und überliefert sind. Der Mehrwert, den eine DVD-Edition, wie schon anhand einiger Beispiele gezeigt, dank der Integration von Varianten gegenüber der Kino-(Verleih- bzw. First-Release-)Fassung eines Films darstellt, verdankt sich gerade nicht selten Sequenzen, die z. B. gemäß stilistischer oder kommerzieller Überlegungen in der Kino- oder (bei TV-Produktionen) Sendefassung eines Films nicht enthalten sind oder waren. Hier ist zuvörderst das neuere Phänomen der ‚extended versions‘ von Filmen zu nennen, die mit dem Medienwechsel vom Kinofilm zum Homeformat DVD oder BluRay dem Publikum ein zusätzliches Angebot machen und so dem Film eine zweite Auswertungsbzw. Rezeptionsmöglichkeit mit Neuigkeitswert bescheren. Typisch sind etwa Re-Release-Praktiken, die seit den 1980er Jahren beispielsweise die Rezeption von Wolfgang Petersens Das Boot (BRD 1981) flankieren. Die Kinofassung des Films hatte ursprünglich eine Laufzeit von 143 Minuten; die verschiedenen, ca. 290 Minuten langen Fernsehfassungen von Das Boot wurden seit 1985 im Bildformat 4:3 als Dreiteiler, seit 1987 als Sechsteiler ausgestrahlt und seit 2004 auf DVD (Länge: 200 min.) vertrieben. Der von Columbia gemasterte Director’s Cut (Länge: 208  min.) der englischen Fassung erschien 1999 im Bildformat 16:9 bei eurovideo; 2018 brachte Bavaria Media diese Fassung nochmals auf BluRay heraus; im selben Jahr veröffentlichte die WDR media group den Film schließlich, gleichfalls auf BluRay, nochmals in der ursprünglichen Serienform (Länge: 308  min.) im Bildformat 16:9. Im Kontext des Medienwechsels dieser Produktion vom Kino über das Fernsehen zur DVD und BluRay erscheint dies als potenzierte Re-Aktualisierungsgeste oder schon fast als Gedächtnisarbeit, was nicht nur durch die audiovisuelle Qualität der mehrfach oscarnominierten Produktion, sondern zumal durch den historischen Stoff legitimiert sein dürfte. Auch wenn Wolfgang Petersens Rolle in diesem langen Prozess nicht im Einzelnen rekonstruierbar erscheint, handelt es sich faktisch um Entstehungsvarianz, die nicht von einer Fremdinstanz produziert wurde, sondern durch die Produktionsinstanz Bavaria/WDR bzw. deren affiliierte Firmen als entscheidenden Akteuren in den Überlieferungsprozess eingespeist wird. Ein Beispiel hingegen für das Entstehen zweier Varianten im Zuge der Ersetzung der längeren durch eine (dramaturgisch eher schwächere) kürzere Version in der ­Sendefassung ist eine Szene aus dem BBC-Vierteiler North and South (GB  2004, ­Brian Percival) nach dem Roman von Elizabeth Gaskell. Der Textilunternehmer John Thornton macht der Pastorentochter Margaret Hale einen Heiratsantrag, den diese ablehnt. Der Dialog besteht gemäß einem klassischen Spannungsbogen aus einer konversationellen Einleitung, steigert sich zur Erklärung von Liebe und Heiratswunsch, empörter Zurückweisung, vehementer Replik und endet in gegenseitiger Enttäuschung und Scham. Der szenische Raum ist klein, er besticht durch stark entsättigte Farben, es herrscht diffuses Licht, die Einstellungsgrößen (im 16:9-Bildformat) bewegen sich, dem TV-Modus entsprechend, zwischen amerikanisch/halbnah und nah/groß. In einer auf DVD mitedierten, nicht-finalen Fassung der Szene dauert das Einleitungsgespräch, in dessen Verlauf sich die Erregung beider Figuren im Schlagabtausch bis zum Liebesgeständnis Thorntons immer mehr steigert, deutlich länger, und damit gewinnt

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auch die sich steigernde emotional-affektive Temperatur beider mehr Raum, die Vorwürfe und gegenseitigen Missverständnisse erscheinen besser motiviert.51 Dem Produktions- wie Postproduktionsprozess verdanken sich auch, wie dies schon eine geübte Praxis während der Stummfilmepoche gewesen ist,52 verschiedene filmische Schlussvarianten. Um ein neueres Beispiel zu zitieren: Die US-amerikanische Verleihversion von Joe Wrights Pride and Prejudice (F/GB 2005) nach dem Roman von Jane Austen enthält eine (auf der DVD mitedierte) Coda, eine kurze Szene, in der Darcy Elizabeth Bennet nach der Hochzeit im Park von Pemberley mehrfach küsst und sie verzückt „Mrs. Darcy“ nennt – am Ende wird hier mithin dem Paar für das US-­ Kinopublikum ein Intimitätsgrad attribuiert, der in der europäischen Fassung unnötig erscheint, zumal schon alles gesagt ist und hier Mr. Bennet das letzte Wort – und Lachen – in der Romantischen Komödie hat: „If any young men come for Mary or Kitty [die beiden noch ohne Partner verbliebenen seiner fünf Töchter], for heaven’s sake, send them in. I’m quite at my leisure.“53 An dieser Stelle wird auch noch einmal der oben erwähnte Aspekt der ‚relativen Chronologie‘ relevant. Bei der Montage können Einstellungen als solche zwar nicht mehr verändert werden, sie können aber gekürzt, umgestellt, gestrichen werden. Und hier wird nun das Phänomen von genetisch-produktionslogisch miteinander korrelierten Änderungsakten auftreten: In dem Maße, wie der Schnittrhythmus in der einen Sequenz geändert wird, wird er u. U. auch in der anderen Sequenz geändert. Bestandteil einer Edition könnte dies aber wohl nur dann werden, wenn ein Dokument überliefert ist, das diesen Arbeitsprozess dokumentiert, etwa ein Schnittprotokoll. Ansonsten handelt es sich dann um einen Akt der Interpretation, die nicht mehr Aufgabe einer Edition ist, sondern den die Editoren den Benutzern überlassen müssen. Die folgende Tabelle versucht eine abschließende Zusammenstellung der unterschiedenen Varianztypen und -quellen:

North and South (BBC 2004, Brian Percival). BBC Worldwide 2005. 4 Tle., 2 DVD, Bonusmaterial auf DVD 2. 52 Vgl. zu den verschiedenen Schlüssen von Georg Wilhelm Pabsts Die freudlose Gasse (D 1925) Jan-Christopher Horak: Der Fall Die freudlose Gasse. Eine Rekonstruktion im Münchner Filmmuseum. In: Früher Film und späte Folgen. Restaurierung, Rekonstruktion und Neupräsentation historischer Kinematographie. Hrsg. von Ursula von Keitz. Marburg 1996, S. 48–65. 53 Pride and Prejudice (GB 2005, Joe Wright). DVD. Universal Studios 2006. US-Release, Schlussszene ebd. 51

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Entstehungsvarianz Präproduktion: Buch: • Exposé • Treatment (Rohdrehbuch) • Drehbuch • Shooting Script • Continuity Script Szenographie: • Graphiken zu Filmräumen • Skizzen zu Drehorten • Fotos realer Locations Kostümbild: • Graphiken zu den Kostümen der Darsteller Musik: • Kompositionsskizzen • Arrangement/Instrumentierung • ausgeschriebene Partitur Produktion: Buch: • Drehbuch von Regie, Kamera, Aufnahmeleitung, Darstellerinnen und Darstellern etc. (verschieden annotiert) • Post Shooting Script (in der Regel der Regie, annotiert) Filmbild (analog): • Kameranegativ (Take 1–n jeder Einstellung) • ‚Kopierer‘ und Outtakes Ton (analog): • Lichttonnegativ (Take 1–n jeder Einstellung) • ‚Kopierer‘ und Outtakes • Magnetband (Take und Outtakes) Gesicherte szenische Varianten auf Einstellungs-, Szenenund Sequenzebene: • z. B. mit unterschiedlicher Farbdramaturgie der ­Objektfarben oder Lichtfarben Postproduktion: Bild- und Tonmontage: • Arbeitskopie (Rohschnitt) • Abnahmeversion (Feinschnitt) und Outtakes (entfernte Einstellungen, Szenen etc.) • Ton: Vormischung, Endmischung von Sprache, Musik und Geräuschen (Re-)Release-Varianz • verschiedene Fassungen qua Kameraposition ­(resultierend aus zwei oder mehr Kameranegativen jeder Einstellung) • verschiedene Sprachfassungen

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• unterschiedliche Schlüsse bei Inlands- und Export­ versionen • (uneinheitliche) Zensurfassungen • spätere Editionen bzw. Re-Release-Versionen: Director’s Cut oder Final Cut Überlieferungsvarianz • Negative und Positive auf nicht-genuinen materialen Trägern • Kopien, die nicht mehr zeitgenössisch zum First Release sind (nicht-originäre Bildinformation z. B. infolge falscher Umkopierung, verändertes Bildformat, unvollständige oder fehlende Tonspuren) • inhaltliche Varianzen: Kürzungen bei TV-Fassungen • veränderte Vorspänne infolge von Neu-Lizenzierungen von Verleihen • Fassungen von verschiedenen nicht zeitgenössischen Restaurierungen

Karl-Heinrich Schmidt, Frederik Schlupkothen, Britta Reppel, Laura Rehberger

Zur Edition strikt inkrementeller Flows in Dokumenten: Text und (tonloser) Film

1. Einleitung: Text und Film Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurde der ‚Text‘-Begriff auf sehr unterschiedliche mediale Phänomene bezogen, auch auf solche, die, naiv betrachtet, zunächst nicht nach Text aussehen. Beispielsweise wurden auch Filme als Texte aufgefasst. Ein prominentes Beispiel dafür liefert Edward Branigan,1 der in seinem seit Jahrzehnten aufgelegten und vielfach übersetzten Klassiker Narrative Comprehension and Film definitorisch schreibt: I will define a „text“ as a certain collection of descriptions of an artifact where the artifact must be one that materializes a symbol system, and the descriptions that are offered of it must be sanctioned by a society. Thus a „text“ is more than the material of an artifact and more than the symbols materialized; a text is always subject to change according to a social consensus about the nature of the symbols that have been materialized.2

In einer Fußnote zum ersten Satz im obigen Zitat heißt es zusätzlich: „My definition of a text is meant to rule out, for example, such objects as trees and tables, as well as a book being used to patch a hole in the roof.“3 Im Anschluss an Branigan und diesen zugleich hinter sich lassend wird im Weiteren zunächst die Unterscheidung zwischen einer Inhaltsarchitektur ‚text‘ und einer Präsentationsform ‚Buch‘ aufgenommen, um hier analog zwischen der Inhaltsarchitektur ‚video‘ und einer Präsentationsform ‚Film‘ mit zu ‚Buch‘ vergleichbarem ‚frontmatter‘ und ‚backmatter‘ in Vorspann und Abspann zu unterscheiden.4 Dies wird hier nicht ausgearbeitet, sondern nur zur Erläuterung des Titels und der Ausführungen in diesem Aufsatz genutzt, da mit ‚Text‘ und ‚Film‘ zwei im Allgemeinen nicht gleichartig verwendete Wörter gepaart werden. Mit dieser Paarung wird an den Sprachgebrauch im 20.  Jahrhundert angeschlossen, wobei zum Erscheinungsdatum des vorliegenden Beitrags zukünftige Konventionen nicht vorhergesagt werden können: Stabil bleibt jedoch die Annahme, dass das Wort ‚Text‘ im Allgemeinen keine Präsentationsform bezeichnet. Beispielsweise wird „Bitte schick mir Deinen Text!“ anders aufgefasst als Edward Branigan: Narrative Comprehension and Film. London 1992 (Sightlines Series), z. B. S. 87 und S. 88. 2 Branigan 1992 (Anm. 1), S. 87. 3 Branigan 1992 (Anm. 1), S. 246. 4 Wenn man das Inhaltmodell für Bücher, wie es etwa die Dokumentenbeschreibungssprache DocBook vorsieht, auf Filme überträgt, indem man in diesem Inhaltsmodell das Wort „book“ durch „film“ ersetzt, entsteht bis auf die sogenannten Navigationselemente ein vollkommen plausibles Inhaltsmodell für Filme. Siehe auch https://tdg.docbook.org/ (gesehen 14.11.2020). 1

https://doi.org/10.1515/9783110684605-006

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„Bitte schick mir Dein Buch!“ – in der ersten Aufforderung wird die Präsentationsform freigestellt. Analog dazu wird in der Regel „Bitte schick mir das Video!“ von „Bitte schick mir den Film!“ oder „Gucken wir heute Abend einen Film?“ unterschieden. An dieser Stelle lassen wir Branigan sprachlich hinter uns, weshalb im Weiteren terminologisch wesentlich mit den Inhaltsarchitekturen ‚text‘ und ‚video‘ gearbeitet wird.5 Die jeweils zugehörigen Präsentationsformen ‚Buch‘ („Hast Du das Buch in der Erstausgabe gelesen?“) und ‚Film‘ („Hast Du den Film im ‚director’s cut‘ gesehen?“) kommen im Weiteren zwar vor, werden aber hauptsächlich mediengeschichtlich als (materiell realisierte oder realisierbare) Präsentationsform unterschiedlicher Produktions- und Rezeptionskulturen angesehen. Obwohl in Büchern Bewegtbilddaten realisiert werden können (z. B. das Daumenkino in der Mediengeschichte) und Texte in Filme integriert werden (und speziell in Stummfilmzeiten auch außerhalb von Vorspann und Abspann viel bewirken konnten, s. u.), werden sie erst mit der Medienkonvergenz, wie sie sich auch im World Wide Web zeigt, gleichwertig nutzbar6 – auch das motiviert die gemeinsame Behandlung in diesem Dokument. In der weiteren Argumentation werden für Folgen von Buchstaben, wie sie zum Beispiel einem Datentyp ‚string‘ zugeordnet sind, und Folgen von Einzelbildern, wie sie im klassischen Film anschaulich zu finden sind, editorisch relevante Eigenschaften herausgearbeitet und in ihren Unterschieden gekennzeichnet. Für die beide Folgenarten konstituierenden Elemente wird im Anschluss an Goodmans Symboltheorie ein grundsätzlicher Schnitt gemacht zwischen solchen Zeichendarstellungen, die als Token auf einen Type beziehbar sind, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist.7 Diese grundlegende Differenz wird, ergänzt um ein Leserichtungskonzept, dann bezogen auf editorisches bzw. restauratives Handeln im Hinblick auf die Einzelzeichen einer Tokenfolge bzw. Bildfolge. Letztere können beide die beobachterrelative Eigenschaft der ‚strikten Diese beiden Inhaltsarchitekuren sind ursprünglich als Multipurpose Internet Mail Extensions (MIME) spezifizierte Kategorien zur Differenzierung von Medientypen. Siehe https://www.iana.org/assignments/ media-types/media-types.xhtml (gesehen 25.10.2020). In diesem Aufsatz wird nicht hinausgegangen über einen Textbegriff, der mit der Vergabe von MIME-Types kompatibel ist. Im Ergebnis heißt das: Nur das kann ein Text sein, was im MIME-Type „text“ seine Vorzugsarchitektur hat. Wenn ein Text anderswo auftaucht, z. B. in einem Gemälde oder in einem Zwischentitel eines Stummfilms (s. u.), ändert das nichts, da diese Texte in den MIME-Type „text“ übersetzbar und dann als solche behandelbar sind, mit geeigneten Methoden (Schrifterkennung) auch automatisiert. Ein üblicher Film außerhalb von Vorspann und Abspann ‚ist‘ hier also a priori kein Text. Dies gilt auch für erweiterte Textbegriffe, wie sie zum Beispiel Posner vorschlägt: „Wenn etwas ein Artefakt ist und in einer Kultur nicht nur eine Funktion (einen Standardzweck), sondern auch eine (kodierte) Bedeutung hat, so nennen wir es ‚Text dieser Kultur‘“; https://www.semiotik.tu-berlin.de/fileadmin/fg150/Posner-Texte/Posner_Was_ist_Kultur.pdf, S.  21 (gesehen 30.1.2021). Posner bringt a. a. O. das Beispiel einer von Stöckelschuhen verursachten Folge von Geräuschen. Dies führte im Kontext dieses Aufsatzes im Falle einer Aufzeichnung ggf. zu einem „­audio“-Dokument, ist aber dann kein Text, wenn nicht eine Übersetzungsvorschrift in eine Textarchitektur genutzt werden kann (z. B. bei „Morseschritten“). Ein metaphorischer Gebrauch bleibt davon natürlich unberührt. 6 Vgl. etwa bei dem Verweisen auf Teile eines Videos: „In order to make video a first-class object on the ­World Wide Web, one should be able to identify temporal and spatial regions“; https://www.w3.org/2008/01/ media-fragments-wg.html#scope (gesehen 12.9.2020); Hervorhebung von den Verfassern. 7 In diesem Aufsatz wird in diesem Sinne „Type“ zur Bezeichnung einer Menge von „Token“ verwendet; vgl. dazu inhaltlich auch Christian Stetter: System und Performanz. Symboltheoretische Grundlagen von Medientheorie und Sprachwissenschaft. Weilerswist 2005, S. 78. Das Wort „Type“ findet sich zudem als Suffix bei „MIME-Type“. Ferner gibt es noch das deutsche Wort „Typ“ in umgangssprachlicher Normalbedeutung. 5

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Inkrementalität‘ aufweisen, die im Weiteren definitorisch eingeführt wird und letztlich besagt, dass in einer Buchstabenfolge und einer Bildfolge eine Beobachtung ‚Stück für Stück‘ und im strikten Falle sogar ohne Überlappung erfolgen kann. Dies führt wiederum zu einer Differenzierung in strikt inkrementelle Leserlichkeit für eine Tokenfolge und strikt inkrementelle Betrachtbarkeit für eine Bildfolge. Beide Eigenschaften decken alle Dokumententeile ab, die den Inhaltsarchitekturen ‚text‘ und ‚video‘ (hier beschränkt auf den tonlosen Fall) genügen und damit einen Gutteil dokumentenbasierter kultureller Überlieferung ausmachen. Kann für solche Dokumententeile schließlich eine Vorzugsanordnung der Folgen angenommen werden, zeigt sich im editorischen Handeln ihrer (Wieder-)Herstellung sogar eine strukturelle Parallelität der auf Text und Bild anzuwendenden Prüfmittel. Insgesamt führt der genaue editorische Blick auf die textliche und filmische Überlieferung hier zu einer gemeinsamen, aber auch differenzierenden Begrifflichkeit für Text- und Filmedition. Der gewählte Ausgangspunkt, dass textliche Buchstabenfolgen und filmische Bildfolgen auf strikt inkrementell rezipierende Beobachter8 ausgelegt sind, liefert insbesondere definierbare Kriterien für die Leserlichkeit einer Textedition und Betrachtbarkeit einer Filmedition. Diese Kriterien werden hier nicht auf spezielle editorische Projekte angewendet, sondern allgemein formuliert und dienen der Theo­ retisierung editorischer Praktiken. Dazu wird wiederum ein gemeinsames Begriffs­ instrumentarium genutzt, das gerade nicht textspezifisch oder filmspezifisch ist. Dieses Instrumentarium liefert hier die (digitale) Dokumententheorie. Im Folgenden findet sich zunächst eine Einführung in „(Strukturierte) Dokumente vom Typ ‚text‘“ (Abschnitt 2). Auf dieser Grundlage werden in Abschnitt 3 unter dem Titel „Dokumentenverarbeitung und Leserlichkeit“ erste Bedingungen der Informationsentnahme aus Dokumenten formuliert. Eine für Texte im weiteren Verlauf der Argumentation zugrunde gelegte Entnahmebedingung („Strikt inkrementelle Leserlichkeit“) wird in Abschnitt  4 eingeführt und auf Dokumente angewendet, deren Inhalt in sogenannten ‚Textflows‘ abgebildet werden kann. In Abschnitt  5 wird die für die Lesung von Textflows wesentliche Nutzung von Type-Token-Beziehungen ausgearbeitet. In Abschnitt 6 werden dann für spezifische Lesungen mehrere Richtungsvorgaben zugelassen, um darauf aufbauend in Abschnitt 7 zu erläutern, dass auch bei nutzbaren Type-Token-Beziehungen Leserichtungen vollkommen freigegeben werden können, wenn auf strikte Inkrementalität verzichtet wird; dies korreliert im Allgemeinen mit der sogenannten Monolithizität eines Segments. Mit den bis zu diesem Punkt eingeführten Mitteln können dann in Abschnitt 8 strikt inkrementell betrachtbare (Teil-)Dokumente, wie sie sich in (tonlosen) Filmen zeigen, analog zu ‚Textflows‘ (mit denselben Konzepten) als ‚Dynamic Imageflows‘ gekennzeichnet werden. In Abschnitt 9 werden in einem zusammenfassenden Beispiel strukturierte Dokumente mit Teildokumenten, die auch auf Einstellungen und größeren Einheiten aufbauen, behandelt. In Abschnitt 10 folgt eine Zusammenfassung des Erreichten mit einem Ausblick.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

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Aus Gründen der Darstellungsökonomie unterliegt die nachfolgende Argumentation mehreren Einschränkungen. Man könnte mit denselben begrifflichen Mitteln auch statische Bildfolgen (wie im Comic), welche aus sogenannten ‚image‘-Architekturen bestehen, behandeln. Dies unterbleibt hier, da der nötige Platz nicht vorhanden ist und dies auch nicht zum thematischen Schwerpunkt des vorliegenden Bandes gehört. Einzelne Dokumententeile vom Typ ‚image‘ werden nur im Rahmen einer Gegenüberstellung zu Dokumententeilen vom Typ ‚text‘ und ‚video‘ angesprochen und spielen ansonsten nur eine illustrative Rolle. Ferner bleiben Dokument(-teile) vom Typ ‚audio‘ vollständig unbehandelt. Schließlich werden hier nicht solche Fälle behandelt, in denen eine visuelle Ausgabe einer Notation genügt, also etwa ein Video, das wie die Aufführung einer Partitur funktioniert.9

2. Strukturierte Dokumente vom Typ ‚text‘10 Zur Begriffsbildung wird ein Dokument zunächst als Informationsobjekt für einen menschlichen Beobachter,11 das als Einheit ausgetauscht und genutzt werden kann, angesehen. Dokumente können strukturiert oder unstrukturiert sein. In unstrukturierten Dokumenten macht das Dokument keine beobachterunabhängigen Vorgaben für die Identifikation eines Teildokumentes (wie bei vielen Photographien); bei strukturierten Dokumenten ist genau dies der Fall (wie bei einem Textdokument mit einer als solche auch erkennbaren Überschrift oder bei Zeilen in einem zeilenorientierten Text; s. u. in diesem Abschnitt). Für die Begriffsbildung zu strukturierten Dokumenten nutzen wir das grundsätzliche Architekturmodell zur Verarbeitung von Dokumenten in der ISO-Norm  8613 Office Document Architecture (ODA) and interchange format.12 Innerhalb dieser Norm werden zunächst zwei Sichtweisen auf die Form eines Dokuments unterschieden, welche seine ‚Inhaltsstücke‘ (in der Norm: ‚content portions‘) organisieren: –– die logische Sicht (‚logical view‘) und –– die Layoutsicht (‚layout view‘). Die logische Sicht beschreibt die strukturelle Organisation der Inhaltstücke in (gegebenenfalls rekursiven) Teil-Ganzes-Beziehungen. So besteht z. B. ein Buch aus mehreren Dies scheint uns besser in einem Zusammenhang untergebracht, in dem solche Aspekte gemeinsam mit ‚audio‘-Dokumenten behandelt werden. Im Goodman’schen Sinne werden im Weiteren also nur ‚Symbolschemata‘ behandelt. Siehe auch Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt/Main 1995, S. 128–137. 10 Teile dieses Abschnitts wurden in deutscher Sprache veröffentlicht in Karl-Heinrich Schmidt, Gilles Bülow, Fabian Etling, Frederik Schlupkothen: Edition von Texten. Eine verweisbasierte Sicht. In: Annotieren, Kommentieren, Erläutern. Aspekte des Medienwandels. Hrsg. von Wolfgang Lukas und Elke Richter. Berlin, Boston 2020 (Beihefte zu editio. 47), S. 67–95, und in englischer Sprache in Frederik Schlupkothen, Karl-Heinrich Schmidt: ‚Commentary‘ and ‚Explanatory Note‘ in Editorial Studies and Digital Publishing. In: Annotations in Scholarly Editions and Research. Functions, Differentiation, Sys­ tematization. Hrsg. von Julia Nantke und Frederik Schlupkothen. Berlin, Boston 2020, S. 351–371. 11 ‚Beobachter‘ beziehen sich in diesem Abschnitt auf Menschen (unabhängig vom Geschlecht; siehe Anm. 8); später wird der Begriff des Beobachters auch auf künstliche Referenzsysteme, wie z. B. Optical-Char­ acter-Recognition-(OCR)-Systeme, erweitert. 12 ISO/IEC 8613-2. Information technology – open document architecture (ODA) and interchange format – document structures. Standard, International Telecommunication Union (ITU), Helsinki, März 1993 (ITU-T Recommendation T.412), hier S. 4. 9

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Kapiteln, die jeweils in Abschnitte unterteilt werden können, in denen gegebenenfalls weitere Abschnitte oder Absätze als logische Einheiten vorkommen. Die Layoutsicht beschreibt die Organisation der Layoutbestandteile eines Dokuments für eine Präsentation der Inhaltsstücke auf einem Ausgabemedium; z. B. ist ein Buch in Seiten unterteilt, auf denen Überschriften von Kapiteln und deren Absätze verteilt werden können. Gemeinsam sind beiden Sichten die genannten Inhaltsstücke, die verschiedene Inhaltsarchitekturen aufweisen können. Für flächige Ausgaben sind dies oft Volltexte, Bilder oder Bewegtbilder, deren Datenformat zum Beispiel jeweils durch einen eigenen MIME-Type gekennzeichnet werden kann. Eine logische Struktur eines spezifischen Dokuments wird in einer Baumstruktur modelliert. Dazu sind in ISO/IEC 8613-2 verschiedene Typen für die Knoten definiert worden: –– ‚document logical root‘, –– ‚composite logical object‘, –– ‚basic logical object‘. Die logische Dokumentenwurzel (‚document logical root‘) ist das allen anderen logischen Objekten übergeordnete logische Objekt und beinhaltet eine unbestimmte Anzahl und Kombination von ‚composite‘ und ‚basic logical objects‘. Ein ‚composite logical object‘ ist selbst einem ‚composite logical object‘ oder der logischen Dokumentenwurzel untergeordnet. Es beinhaltet wiederum eine unbestimmte, aber von 0 verschiedene Anzahl und Kombination von ‚composite‘ oder ‚basic logical objects‘. Ein ‚basic logical object‘ ist ein finaler Knoten der Baumstruktur zur Aufnahme der Inhaltsstücke und nimmt selbst keine weiteren logischen Objekte auf. Die strukturelle Tiefe einer logischen Sicht auf ein Dokument ergibt sich allein durch die Anzahl der ‚Zwischenebenen‘ zwischen der Dokumentenwurzel und seinen ‚basic logical objects‘. Abb. 1 (s. u.) zeigt links eine mögliche logische Dokumentenstruktur, die im Folgenden mit konkreten Dokumenten verbunden wird. Analog dazu lässt sich eine Baumstruktur für ein Layout erzeugen (s. Abb. 1, Mitte). Die Layout- und die logische Struktur können aufgrund ihrer Unabhängigkeit voneinander variieren. Beide haben aber, wie in Abb. 1 skizziert, die Inhaltsstücke gemeinsam, die sich in einem Layoutprozess auf die ‚basic objects‘ der Layoutstruktur verteilen. Als erstes Diskussionsbeispiel nutzen wir den folgenden Fünfzeiler, der dem ‚christlichen Fisch‘ zugrundeliegt: Ιησοῦς Χριστός Θεοῦ Υἱός Σωτήρ Mit einem abgekürzten Rahmen wird daraus zunächst das in Listing 1 gezeigte TEI13-Dokument, welches der in Abb. 1 skizzierten Struktur genügt. Lou Burnard, Syd Bauman: TEI P5: Guidelines for electronic text encoding and interchange. 2.8.0. 06-apr-2015. Technical Report, TEI Consortium. April 2015.

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...

... Ιησοῦς Χριστός Θεοῦ Υἱός Σωτήρ

Listing 1: Kodierung einer logischen Dokumentenstruktur als TEI-Instanz.

Hier folgen der ‚document logical root‘ () zunächst zwei ‚composite logical objects‘ ( und ). Das -Element enthält weitere Elemente als ‚composite logical objects‘: und . Als ‚basic logical objects‘ folgen fünf auf . Makronavigatorisch, d. h. auf die Wahl eines Teils des Strukturbaums des Dokuments bezogen, können damit unterhalb von fünf Zeilen angesteuert werden. Die den ‚basic logical objects‘ zugeordneten Inhaltsstücke beschreiben (hier fünf) ‚Textknoten‘, die aus einer Sequenz von zulässigen ‚textlichen Zeichen‘ (Buchstaben, Whitespace, aber auch Zahlen, diversen Sonderzeichen etc.) bestehen. Textknoten sind immer vom MIME-Type ‚text‘ und werden in einer z. B. von einem Editor angenommenen Inhaltsarchitektur geschrieben, die minimal durch einen Zeichensatz definiert ist,14 aber auch weiteren Einschränkungen unterliegen kann (s. u.). Mikronavigatorisch, d. h. auf das ‚Lesen‘ in den Inhaltsstücken bezogen, können diese z. B. in der Ordnung ihrer Buchstaben in Zeilenordnung von einem geeigneten Beobachter als griechischer Text oder etwa bei Vorliegen eines Akrostichons auch in Spaltenordnung gelesen werden.

3. Dokumentenverarbeitung und Leserlichkeit Neben der Beschreibung von Dokumenten ist auch ein Architekturmodell für die Dokumentenverarbeitung von der Überführung einer logischen Dokumentenstruktur in eine Layoutstruktur bis hin zu einer finalen Ausgabe erforderlich. Ein solches allgemeines Architekturmodell findet sich ebenfalls in ODA.15 Hier ist die logische Struktur eines Dokuments das Ergebnis eines ‚Editing‘-Prozesses, der die Dokumentenerzeugung und -‍überarbeitung sowohl hinsichtlich seiner logischen Struktur als auch der Erstellung Im XML-Kosmos ist ein einzelner ‚character‘ letztlich eine atomare Texteinheit gemäß der Spezifikation ISO/IEC 10646. Dies ist die von ISO verwendete Bezeichnung des Unicode-Zeichensatzes; er wird in der ISO als Universal Character Set (UCS) bezeichnet. 15 Vgl. insbesondere ISO/IEC 8613-2, 1993 (Anm. 12), S. 12–15. 14

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der Inhaltsknoten beschreibt. Der ‚Layout‘-Prozess transformiert die logische Struktur und ihre Inhaltsknoten in geometrisch beschreibbare Objekte, die wiederum als Ergebnis eines anschließenden ‚Imaging‘-Prozesses auf einem materiellen Substrat, wie z. B. Papier oder Bildschirm, dargestellt werden können (s. u.). Zur Weiterführung des obigen Beispiels in Listing 1 zeigt Abb. 1 zunächst eine mögliche Abbildung des den Fünfzeiler enthaltenden Teilbaums der gegebenen TEI-Struktur auf eine zeilenorientierte Layoutstruktur durch einen Layoutprozess. Vorgegebene logische Komponenten können im Layout Bedingungen unterworfen werden: Z. B. werden die fünf Zeilen in Abb. 1 in einen gemeinsamen Layoutcontainer gezwungen, welcher seinerseits die gemeinsame linksbündige Ausrichtung der Zeilen sicherstellen soll. logische Struktur

Layoutstruktur

Visualisierung

Darstellungsprozess

Layoutprozess

1 2



3 4 5 1 1

2

3

4

2

3

4

5

5 document logical/layout root

basic logical/layout object

composite logical/layout object

content portion

Abb. 1: Möglicher Layoutprozess und mögliche visuelle Darstellung für den Fünfzeiler.

Das Architekturmodell wurde zwar wesentlich in Hinblick auf die Verarbeitung von Textdokumenten konzipiert, funktioniert jedoch allgemein. So wie reine Textdokumente nur aus ‚Textdaten‘ bestehen, bestehen reine Videodokumente nur aus ‚Videodaten‘. Typischerweise beschreiben die Inhaltsstücke von Videodokumenten Bewegtbilddaten, die gegebenenfalls eine ‚Einstellung‘ als eine für einen Beobachter zusammengehörige Folge von Einzelbildern ergeben. Ein solches Dokument unterliegt ebenso einer Layout- und einer logischen Struktur. Der Layoutprozess definiert dabei die Serialisierung der Inhaltsstücke für einen Ausgabestrom zur Darstellung auf einem Player. Die logischen Teile bilden oft wiederum zusammengehörige größere Segmente wie z. B. eine aus mehreren Einstellungen bestehende Sequenz oder eine einen Dialog repräsentierende alternierende Folge von Schuss und Gegenschuss (vgl. auch Abschnitt 9). Zur Einführung eines filmischen Beispiels, das den in diesem Band16 prototypisch behandelten Film The Girl and Her Trust nutzt, nehmen wir aus diesem Film ebenfalls fünf ‚content portions‘, hier die nach zwei einleitenden Texttafeln (vgl. Abschnitt 9) positionierten ersten fünf raumzeitlichen Einstellungen E3, E4, E5, E6 und E7.17 Vgl. den Beitrag von Fabian Etling in diesem Band. Im Unterschied zu dem Akrostichon kann der Filminhalt hier nicht vollständig repräsentiert werden. Die folgende inhaltliche Zusammenfassung muss genügen. Grace und Jack arbeiten in einer Telegraphie- und Bahnstation. Mit einem Zug kommt eine Geldsumme ($ 2000) zur Station, die in Verwahrung genommen wird. Mit diesem Zug kommen auch zwei Vagabunden, die mitbekommen, wo dieses Geld in der

16 17

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Karl-Heinrich Schmidt, Frederik Schlupkothen, Britta Reppel, Laura Rehberger

­ iese fünf Einstellungen verteilen sich auf zwei (im Gesamtaufbau des Films längere) D ­Sequenzen, die in der Layoutstruktur alternierend ineinandergeschnitten sind; dabei gehören E3, E5 und E7 zur ersten Sequenz des Films (‚In Grace’ Arbeitsraum‘), E4 und E6 zu einer zweiten Sequenz (‚In Jacks Arbeitsraum‘). Von diesen Einstellungen sind in Abb. 2 wie im Film alternierend angeordnet fünf zugehörige Standbilder zu sehen: Grace (im ersten Einzelbild aus E3 mit einem fremden Verehrer) und der sie ebenfalls verehrende Jack (zusammen mit dem unbekannten Verehrer im Einzelbild aus E4 und mit Grace im dritten Einzelbild aus E5) arbeiten in einer Telegraphie- und Bahnstation; Jack lässt sich in der mittleren Einstellung E5 dazu hinreißen, Grace zu küssen, und wird sofort in sein Büro zurückverwiesen (E6); Grace bleibt nachdenklich zurück (E7).18

Abb. 2: Standbilder der ersten fünf raumzeitlichen Einstellungen von The Girl and Her Trust.

Unabhängig von der Nutzung einer spezifischen Dokumentensprache muss der Layoutprozess hier also für die Alternanz der Einstellungen sorgen; die Darstellung jeweils eines Einzelbildes für einen Beobachter erfolgt für die Dauer seiner Projektion auf einer Fläche, klassisch der Kinoleinwand. Eine erste allgemeine Anforderung für den Layoutprozess formuliert, wie die ‚content portions‘ der logischen Struktur den ‚basic layout objects‘ der Layoutstruktur zugeordnet werden: Def. 1: Ein (Teil-)Dokument heißt in Dokumentenordnung layoutiert, wenn die zugehörige Menge von ‚content portions‘ einer Menge von ‚basic layout objects‘ so zugeordnet werden kann, dass diese in Dokumentenordnung (räumlich und/oder zeitlich) geordnet sind. Für elektronische Dokumente im XML-Kosmos genügt der Default bei der Positionierung von Layoutobjekten mittels CSS dieser Anforderung.19 Station verwahrt wird. Nachdem Jack die Bahnstation verlassen hat, um andernorts etwas zu erledigen, versuchen die Banditen, in die Station einzudringen. Das gelingt ihnen teilweise, so dass sie des Geldes habhaft werden, aber nicht Grace gefährden können, die sich in ihrem Arbeitszimmer eingeschlossen hat und noch erfolgreich um Hilfe telegrafiert. Der telegrafische Hilferuf von Grace führt dazu, dass eine Lokomotive von einer anderen Station losgeschickt wird, um ihr zu helfen. Der von seiner Erledigung zurückkehrende Jack trifft auf diese Lokomotive und führt die Rettung an. Die Banditen werden gestellt und Jack bekommt final einen Kuss von Grace, die er seit Beginn des Filmes begehrt. 18 Die Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Sequenzen erkennt man in Abb. 2 in den fünf Standbildern daran, dass die an Position 1, 3 und 5 und zur ersten Sequenz gehörenden Standbilder einerseits und die an Position 2 und 4 angeordneten und zur zweiten Sequenz gehörenden Standbilder andererseits jeweils ähnliche Hintergründe haben. 19 Dieser Default findet sich als ‚normal flow‘ z. B. in https://www.w3.org/TR/CSS2/visuren.html#normal-flow (gesehen 13.10.2020).

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Zur Edition strikt inkrementeller Flows in Dokumenten: Text und (tonloser) Film logische Struktur

Layoutstruktur

Layoutprozess





Visualisierung

Darstellungsprozess 3 5 2 4 1

1 1

2

3

4

4

2

5

t

3

5 document logical/layout root

basic logical/layout object

composite logical/layout object

content portion

Abb. 3: Alternanter filmischer Layoutprozess und seine visuelle Darstellung.

Für die fünf Inhaltsstücke der logischen Zeilenobjekte des Fünfzeilers in Listing 1 findet sich in Abb. 1 eine Layoutierung in Dokumentenordnung – erkennbar an den die Ordnung erhaltenden gestrichelten Pfeilen. Im filmischen Beispiel in Abb. 3 liegt dagegen mit der alternierenden Positionierung von E3, E5 und E7 einerseits und E4 und E6 andererseits keine Übernahme der Dokumentenordnung vor – wiederum erkennbar an den die Ordnung erhaltenden gestrichelten Pfeilen. Allerdings bleiben die lokalen Ordnungen in den beiden Sequenzen bestehen. Man kann also schwächer formulieren: Def. 2: Ein (Teil-)Dokument heißt gemäß basaler Anordnung layoutiert, wenn die zugehörige Menge von ‚content portions‘ einer Menge von ‚basic layout objects‘ so zugeordnet wird, dass die Ordnung aller ‚basic logical objects‘ unter ihrem ‚compos­ ite logical object‘ erhalten bleibt. Damit können ‚content portions‘ wie im empirisch wichtigen Falle der filmischen Alternanz neu angeordnet werden, ohne dass z. B. die vorgegebene sequentielle Ordnung in der logischen Struktur verloren geht. Für einen menschlichen Beobachter eines Text- oder Videodokuments, dem der Inhalt als Ergebnis des Darstellungsprozesses auch in der layoutierten Reihenfolge angeboten werden soll, ist weiterhin zu verlangen: Def. 3: Ein Layout eines (Teil-)Dokuments heißt für einen Beobachter ordnungstreu darstellbar, wenn die zugehörige Menge von ‚content portions‘ in einer Darstellung vom Beobachter in der räumlichen und/oder zeitlichen Ordnung des Layouts gelesen oder betrachtet werden kann. Für die fünf Inhaltsstücke der logischen Zeilenobjekte des Fünfzeilers in Listing 1 findet sich in Abb. 1 eine ordnungstreue Darstellung in der total geordneten Folge von Rechtecken, wie sie von den Layoutobjekten (in Layoutsprachen oft ‚Blöcke‘ oder ‚Areas‘ genannt)20 festgelegt sind. Für die fünf in Abb. 2 gezeigten raumzeitlichen Einstellungen aus The Girl and Her Trust erfolgt die ordnungstreue Darstellung durch entsprechendes Abspielen der zugehörigen Einzelbilder in der layoutierten Reihenfolge in einem Player. So beispielsweise in CSS (https://www.w3.org/TR/CSS2/box.html#box-model) oder in der Extensible Stylesheet Language (XSL; https://www.w3.org/TR/xsl11/#area_model; beide gesehen 25.10.2020).

20

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Eine gemäß basaler Anordnung erfolgende Layoutierung und ordnungstreue Darstellung als solche stellen auch gemeinsam nicht sicher, dass ein Beobachter die Inhaltstücke eines Dokumentes auch ‚angemessen‘ beobachten kann. Dies kann schon an Überlappung scheitern. Dem kann man definitorisch wie folgt begegnen: Def. 4: Ein (Teil-)Dokument heißt in einer Entnahmesituation s für einen Beobachter leserlich, wenn für eine Layoutierung eine ordnungstreue Darstellung in s existiert, auf welcher die zugehörigen Inhaltsstücke vom Beobachter vollständig und korrekt erschlossen werden können. Die Entnahmesituation ist auf Empfängerseite ein Teiläquivalent der Äußerungssituation21 in der (oralen) Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Leserlichkeit zur informationellen Entnahme heißt also, dass in einer (Entnahme-)Situation ein Beobachter, der z. B. für Textdokumente auch ein OCR-System sein kann, alles (nach Maßgabe eines Vollständigkeitskriteriums) richtig (nach Maßgabe eines Korrektheitskriteriums) in einer Darstellung auch wahrnehmen kann.22 Eine Lesung muss nicht in der Ordnung des Layouts erfolgen – dies kann sogar unerwünscht sein: Eine in der Ordnung eines Layouts erfolgende Lesung der Darstellung eines mehrstimmigen Musikdokuments führte zum Beispiel gegebenenfalls zum Verlust von Synchronisationsinformation zwischen Haupt- und Begleitstimme.

4. Strikt inkrementelle Leserlichkeit in Textflows Für einen Beobachter ist es oft wünschenswert, dass er für ein Dokument wie in ­Listing 1 die Inhaltsstücke ‚perlschnurartig‘ ansehen (‚lesen‘) kann. Dies ist oft auch Autorenabsicht. Wie weit eine Edition gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Autorenabsicht einem solchen antizipierten Leserwunsch allgemein entgegenkommen kann, ist a priori nicht zu entscheiden und bedarf typischerweise einer Diskussion des Einzelfalls. Neben allgemeinen Erwägungen aus der Editionspraxis23 soll nun versucht werden, für solche Diskussionen Kriterien anzugeben. Strebt eine Edition eine ‚in einem Zug‘ leserliche Form an, impliziert dies grundsätzlich die Erfüllung einer weiteren Anforderung: Def. 5: Ein (Teil-)Dokument heißt für einen Beobachter in einer Entnahmesituation s inkrementell leserlich, wenn für eine Layoutierung eine ordnungstreue Darstellung existiert, auf welcher die zugehörigen Inhaltsstücke vom Beobachter in einem Lesevorgang in s vollständig und korrekt erschlossen werden können. Es wird hier nicht unterschieden zwischen Lesungen, bei denen ‚Stück für Stück‘ gegebenenfalls mit Überlappungen ‚von vorne nach hinten‘ oder aber mit unterschiedlichen Vgl. Keith Devlin: Logic and Information. Cambridge 1991, S. 218–220. Für ‚übliche‘ Textdokumente legen diese Kriterien nur eine erwartbare Entzifferung (zum Beispiel bei einem Schulkind für die Bewertung eines ‚Schleichdiktats‘) fest. Zu den Kriterien allgemein vgl. Karl-Heinrich Schmidt: Texte und Bilder in maschinellen Modellbildungen. Tübingen 1992, S. 79–81. 23 Siehe dazu für Volltextdokumente auch die Anmerkungen in Gunter Martens: Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie. In: Poetica 21, 1989, S. 1–25, insbesondere S. 23–25. 21 22

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Startpunkten schließlich alles erfasst wird. Speziell für die Darstellung von Textdokumenten ist für die mikroskopische Struktur eines Lesevorgangs (auch im Unterschied zur Betrachtung statischer Bilder) zusätzlich zu kennzeichnen, dass für textliche Einzelzeichen in den Textknoten in einer Darstellung eine einmalige Traversierung im Rahmen einer Lesung auskömmlich sein und in diesem Sinne sogar eine strikte Inkrementalität des ganzen Lesevorgangs gegeben sein kann.24 Dies kann mit obigen Definitionen dadurch erzwungen werden, dass für jedes einzelne Textzeichen ein Element in der logischen Struktur vorgesehen wird. Im Beispiel des Fünfzeilers ermöglichen dann die Textknoten in Listing 1 einem Beobachter jeweils eine strikt inkrementelle Lesung, mit der die Inhaltsstücke insgesamt ‚in einem einzigen Zug‘ aufgenommen werden können. Def. 6: Ein (Teil-)Dokument heißt für einen Beobachter in einer Entnahmesituation s strikt inkrementell leserlich, wenn für eine Layoutierung eine ordnungstreue Darstellung existiert, auf welcher die zugehörigen Inhaltsstücke vom Beobachter in s in einem überlappungsfreien Lesevorgang vollständig und korrekt erschlossen werden können. Menschliche Beobachter ‚lesen‘ selten strikt inkrementell; speziell für Textdarstellungen gilt sogar: „Die Augen tasten keineswegs jeden Buchstaben, nicht einmal jedes Wort ab.“ 25 Die hier behandelten Lesevorgänge sind nicht auf die tatsächliche Zeichenwahrnehmung eines (menschlichen) Beobachters bezogen, sondern liefern Kennzeichnungsmittel, die nun für eine definitorische Auszeichnung von Textflows genutzt werden können. Def. 7: Ein (Teil-)Textdokument heißt für einen Beobachter in einer Entnahmesituation s in einen normalen Textflow abbildbar, wenn es in s in Dokumentenordnung layoutierbar ist und die zugehörigen nichtleeren Textknoten, von denen wenigstens einer zwei Zeichen enthält oder zwei jeweils wenigstens ein Zeichen enthalten, in einer ordnungstreuen Darstellung vom Beobachter strikt inkrementell leserlich sind. Solche tatsächlichen Darstellungen eines für einen Beobachter in einen normalen Textflow abbildbaren Dokumentes nennen wir informell einen (normalen) Textflow für diesen Beobachter. Ist die Beobachtermenge nicht relevant, sprechen wir nur von einem (normalen) Textflow.26 Eine Abbildung in einen normalen Textflow erzeugt als Ergebnis eines Imag­ingProzesses auf einem materiellen Substrat (Papier oder Bildschirm) einen für den an Für eine Zusammenfassung einer algebraischen Analyse des Zusammenspiels von Objekteigenschaften am Beispiel eines Buches und (Lese-)Ereigniseigenschaften vgl. Manfred Krifka: Wie man in fünfzehn Jahren einige semantische Probleme löst. In: Ringvorlesung Linguistische Fehlargumentationen, HU Berlin am 14.5.2003, URI: http://amor.cms.hu-berlin.de/~h2816i3x/Talks/TimeSpanScope.pdf (gesehen 16.6.2020), insbesondere S. 4. Diese Analyse zeigt auch, dass ‚Lesen‘ in der Ereignisanalyse hinsichtlich seiner Inkrementalität einer besonderen Behandlung bedarf, der hier Folge geleistet werden soll. 25 Sabine Groß: Schrift-Bild. Die Zeiten des Augenblicks. In: Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Hrsg. von Georg Christoph Tholen und Michael O. Scholl. Weinheim 1990, S. 236. 26 Es ist an dieser Stelle alternativ möglich, allgemein einen normalen Visualflow zu definieren und davon einen spezifischen normalen Textflow abzuleiten. Dies unterbleibt hier aus Gründen der Darstellungsökonomie. 24

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genommenen Beobachter leserlichen Text als ‚Materialtext‘.27 Es wird oft viele Materialtexte – variiert zum Beispiel durch Umbruchänderungen bei Veränderungen des Darstellungsfensters – für einen normalen Textflow geben können, von denen gegebenenfalls auch nur wenige tatsächlich realisiert werden. Die obige Definition ist streng in folgender Hinsicht: Ein Textdokument mit zwei identischen Textknoten, die in der Layoutierung vertauscht werden, wird nicht in einen normalen Textflow abgebildet. Die grundlegende Ordnung in der logischen Struktur darf nicht verändert werden.28 Die Reihenfolge in der logischen Struktur bleibt eine Invariante; diese kann ein Beobachter im Falle von reinen ‚Textdokumenten‘ oft auch aus dem normalen Textflow erschließen.

5. Spezifische Lesungen mit Type- und Richtungs-Vorgabe Die in Abschnitt 4 angenommene Erschließung in einer Lesung ist auf die Zeichenidentifikation eines Beobachters bezogen. Diese Beobachterseite muss für in diesem Sinne erfolgreiche Lesungen zu einem gegebenen spezifischen (Teil-)Dokument ‚passen‘. Eine Modellierung dieser Beobachterseite betrifft damit die Adäquatheit derjenigen Instanz, die speziell einen ‚Text‘ aus seiner Verankerung in einem ‚Trägermaterial‘ löst und nach Kondrup für den Übergang vom ‚Materialtext‘ zum ‚Realtext‘ zuständig ist.29 Mit anderen Worten: Mit Leserlichkeit sind für spezifische Dokumente Annahmen über Beobachter verbunden, die in einem Editionsprozess für historische Beobachter und Zielbeobachter der Edition unterstellt werden. Um dies in einer Basismodellierung explizit zu machen, wird – zunächst für normale Textflows – beobachterseits eine Lesebasis angenommen, die die Type-Token-Differenz benutzt, um die Anforderungen der Vollständigkeit und Korrektheit zu prüfen. In diesem Sinne wird als Kriterium für die Erfüllung der Vollständigkeit und Korrektheit einer Lesung eines Textflows eines spezifischen Dokuments beobachterseits –– eine Menge von Types angenommen, denen beim Lesen –– Token in einer optional vorzugebenden Leserichtung30 –– in einem n-dimensionalen Darstellungsraum, n > 0, in gegebenenfalls mehreren Teilen wie ‚Zeilen‘ (‚lines‘) als Formvorgabe zuzuordnen sind.31 Mit Shillingsburg behandeln wir hier ‚Materialtext‘ als „union of linguistic text and document: a sign sequence held in a medium of display“; Peter Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 101. 28 Dies entspricht wiederum dem Standardpositionsschema ‚normal flow‘ in CSS; vgl. Anm. 20. 29 Die Angabe eines Realtextes für einen gegebenen Materialtext kann als ein ‚inverses Problem‘ angesehen werden, wobei auch nach Kondrup „ein Text sich desto leichter aus seiner materiellen Verankerung in einem Dokument lösen lässt und auf ein anderes – auch in ein anderes Medium (etwa beim Vorlesen) – transferiert werden kann, je linearer und geordneter er ist. Vice versa kommt der Spatialität oder Topographie umso mehr Bedeutung zu, je größer der Entwurfcharakter eines Textes ist: je mehr Unterstreichungen, Hinzufügungen, alternative Varianten vorhanden sind“; Johnny Kondrup: Text und Werk – zwei Begriffe auf dem Prüfstand. In: editio 27, 2013, S. 1–14, hier S. 9. 30 Für eine Spezifikation von horizontalen und vertikalen Lesemodellen s. insbesondere Unicode Standard Annex Nr. 9 und 50: http://unicode.org/reports/tr9/ ; http://unicode.org/reports/tr50/ (gesehen 25.10.2020). 31 In dieser Basis-Modellierung auf Grundlage der Type-Token-Beziehung ist im Beobachter keine (gegebenenfalls introspektive) Komponente für die Frage vorgesehen, ob Wissen für ‚bessere‘ Lesungen fehlt. Es bleibt auch offen, wie und unter welchen Bedingungen in einer Lesebasis komplexere Navigationsmittel integriert werden können. 27

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Für den beispielsweise auf einem Bildschirm erkennbaren Textflow von Ftext,t1 = „Hallo Welt“, der von einem Beobachter B von links nach rechts (‚ltr‘: left-to-right) einzeilig (‚l‘: line) vollständig und korrekt gelesen werden kann, ist in diesem Sinne eine beobachteradäquate dreistellige Lesebasis Lbase gegeben mit (1)

Lbase(B, Ftext,t1) = ({a, e, l, o, t, H, W} ∪ S, ltr, (l)).

Dabei ist hier die nichtleere Menge S (für ‚Space‘) ein Vorrat von Typen für Weißraum. Nimmt man für die in (1) gegebene Lesebasis erweiternd an, dass ein Beobachter auch den Zeichensatz ‚Latin-1‘ anwenden kann und darauf vorbereitet ist, dass ein Text in mehr als einer Zeile stehen kann (‚l+‘), er also ‚Zeilenwechsel‘ beherrscht, ist auch (2)

Lbase(B, Ftext,t1) = (Latin-1, ltr, (l+))

für B eine auskömmliche Lesebasis. Alternativ können oft auch Einheiten wie ein (beliebig definiertes) Wort als Basis­ elemente für Beobachter adäquat sein, wie in (3)

Lbase(B, Ftext,t1) = ({Hallo, Welt} ∪ S, ltr, (l))

oder – mit der Zusatzannahme, dass speziell wenigstens eine Zeile auftreten muss, aber auch zwei Zeilen auftreten können (‚l, l?‘) – in (4)

Lbase(B, Ftext,t1) = ({Hallo, Welt} ∪ S, ltr, (l, l?)).

Der hier implizit vollzogene Übergang von einem ‚Alphabet‘ zu einem ‚Wörterbuch‘ bleibt im Weiteren unausgearbeitet, da schon mit Ersterem das „fundamentale Artikulationsschema der Alphabetschrift“ bereitgestellt ist, gegen das auf der untersten Artikulationsebene Korrektheit oder Abweichung jeder alphabetschriftlichen Artikulation geprüft werden kann. Auf dieser Basis werden mittels der orthographischen Register höherrangige Artikulationsschemata wie Wörterbücher oder Grammatiken möglich. Die können ihrerseits als Kontrollinstanzen einem alphabetschriftlichen Text entgegengestellt werden, und sie werden so in der literalen Praxis auch an jeden Text eines halbwegs verbindlichen Öffentlichkeitsgrades herangetragen.32

Nicht nur Texte im umgangssprachlichen Sinne werden von den bisherigen Definitionen abgedeckt. Abb. 4 zeigt einen Textflow ‚wie der Ochse zieht‘ (also ein sogenanntes ‚Boustrophedon‘) und visualisiert mit seiner speziellen Leserichtung das erste Cantorsche Diagonalverfahren. Die Leseordnung der Zahlen führt zu dem mathematischen Kern, dass die Menge der rationalen Zahlen ℚ und die Menge der natürlichen Zahlen ℕ gleichmächtig sind: Es werden offenbar alle natürlichen Zahlen (in den Klammern) beim ochsenweisen Ziehen über die Bruchdarstellungen verbraucht und es sind auch keine anderen Zahlen als die natürlichen Zahlen zum zählenden Ziehen erforderlich. Es Vgl. Stetter 2005 (Anm. 7), S. 11. Das Zitat ebd. geht unmittelbar weiter mit: „Das Telos eines Mediums, das auf einem digitalen Grundschema aufbaut und dessen Gebrauch durch den normativen Bezug auf weitgehend digitalisierte Schemata wie alphabetschriftliche Wörterbücher und ebensolche Grammatiken bestimmt ist, liegt in der Eindeutigkeit von Schreibweisen.“

32

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gibt damit eine bijektive Abbildung zwischen der Menge der rationalen Zahlen und der Menge der natürlichen Zahlen. In der Darstellung unterstützt der Textflow ein ‚Hineinlesen‘ so, dass man beim Verfolgen der Pfeile den Sachverhalt begreift.

Abb. 4: Das erste Cantorsche Diagonalverfahren.33

Die strikt inkrementelle Lesung des Textflows ist hier auch inhaltlich signifikant, da eine schon gelesene rationale Zahl aus ℚ bei einer anderen Bruchdarstellung derselben rationalen Zahl kein weiteres Mal gezählt werden darf. Die Lesebasis für den in Abb. 4 skizzierten Textflow muss die Menge aller Bruchdarstellungen enthalten: (5)

Lbase(B, Ftext,Cantor) = ({–ba | a ∈ ℤ ∧ b ∈ ℤ \ {0}} ∪ S ∪{(,),∙,→}, boustrophedonCantor, (l)).

Mit der Angabe der Bruchdarstellungen in der Lesebasis wird auch noch einmal verdeutlicht, dass es bei den Lesebasen nicht um die ‚Bedeutung‘ der zu lesenden Zeichen geht. Die Angabe von ℚ statt der Bruchdarstellungen wäre fehlerhaft.

6. Spezifische Lesungen in mehrere Richtungen Im Gegensatz zu den bisherigen Beispielen kann auch eine größere Freiheit bei der Auswahl der Leserichtungen für den Beobachter angemessen sein. Dies gilt etwa für das in Abschnitt 2 eingeführte und in Abb. 5 dargestellte Akrostichon. Hier ist zunächst für einen Beobachter das griechische Alphabet, z. B. gemäß ‚ISO/IEC 8859-7‘, bei Zeilenvorgabe in Leserichtung ‚ltr‘ auskömmlich.

Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Cantors_erstes_Diagonalargument (gesehen 25.10.2020).

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Abb. 5: Akrostichon mit umrahmten kleinbuchstabigen Identifikationsmöglichkeiten durch einen Beobachter B bei eingeschränkten Lesebasen.

Für den horizontalen Textflow der ersten fünf Zeilen (‚l[1..5]‘) von Ftext,t2 seien als Lesebasen zunächst alternativ festgelegt: (6) (7)

Lbase(B, Ftext,t2) = (ISO/IEC 8859-7, ltr, (l[1..5])), Lbase(B, Ftext,t2) = ({Ἰησοῦς, Χριστός, Θεοῦ, Υἱός, Σωτήρ}, ltr, (l[1..5])).

Diese beiden Basen unterscheiden sich darin, dass zum einen wieder ein (neugriechischer) Zeichensatz, zum anderen ein Teil eines griechischen Lexikons mit Akzenten vorgegeben wird. Bei der zweiten Basis kommt es nur dann zu einer vollständigen und korrekten Lesung, wenn der Beobachter die Vorgabe ohne Rücksicht auf die vorgegebenen diakritischen Zeichen anwenden kann. Es wird also eine zusätzliche Beobachterleistung unterstellt, die gegebenenfalls einer annotierenden Rechtfertigung bedarf (s. u.). Der horizontale Textflow der ersten drei Zeilen werde nun als Ftext,t3 auch von rechts nach links (‚rtl‘: right-to-left) und dabei von unten nach oben (‚l[3..1]‘) gelesen. Dazu seien folgende Änderungen der Lesebasen vorgenommen: (8) (9)

Lbase(B, Ftext,t3) = ({ι, χ, θ, υ, ς}, ltr, (l[1..3])), Lbase(B, Ftext,t3) = ({ι, χ, θ, υ, ς}, rtl, (l[3..1])).

Mit den letzten beiden Basen ist jeweils keine vollständige Lesung des gesamten Textdokuments möglich. Es ergibt sich mit dieser Einschränkung aber, dass eine Lesung von Ftext,t3 mit (8) und eine Lesung von Ftext,t3 mit (9) zu demselben Ergebnis führt, wie man den blauen Umrahmungen in Abb. 5 entnehmen kann.34 Ein ‚Umschalten‘ auf die Großbuchstaben {Ι, Χ, Θ, Υ, Σ} erlaubte in Abb. 5 die spezifische Suche des Akronyms „ΙΧΘΥΣ“ z. B. mit: (10) Lbase(B, Ftext,t4) = ({Ι, Χ, Θ, Υ, Σ}, ltr, (l[1..5])). Mit solchen und anderen zusätzlichen Einschränkungen kann man ab dieser Stelle etwa die Suche nach Palindromen unterschiedlichen Typs in gegebenen Textdokumenten starten. Schon die Wahl der Lesebasis präformiert dabei, wie ‚sinnvoll‘ die zu findenden Palindrome sein können.

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Zu demselben Leserergebnis, allerdings mit der Möglichkeit der zusätzlichen Identifikation des Akronyms als Akrostichon in der ersten vertikalen Buchstabenspalte c1, führte die Beschränkung auf die Großbuchstaben {Ι, Χ, Θ, Υ, Σ} bei einer vertikalen Leserichtung (‚ttb‘: top-to-bottom) in Spaltenorientierung (‚c‘: column):35 (11) Lbase(B, Ftext,t4) = ({Ι, Χ, Θ, Υ, Σ}, ttb, (c[1..7])). Behandelt man nun abschließend das vollständige in Abb. 5 dargestellte Dokument Dichthys als reines Textdokument und ordnet man dem Beobachter für dieses Dokument die Kenntnis der griechischen Buchstaben allgemein und mit der Lesebasis aus (11) die vertikale Verwendbarkeit der angegebenen Großbuchstaben zu, ergibt sich als eine mögliche Lesebasis für das nunmehr ganze Dokument: (12) Lbase(B, Dichthys)  =  (ISO/IEC 8859-7, ltr, (l[1..5])) ⊕ ({Ι, Χ, Θ, Υ, Σ}, ttb, (c[1..7])). Das ‚⊕‘-Zeichen stehe hier (ohne weitere Analyse seiner möglichen Eigenschaften) nur für eine geeignete gemeinsame Nutzung der Summanden; dabei sei es nicht erlaubt, die fünf Großbuchstaben der zweiten Komponente zu ersetzen durch ‚ISO/IEC 8859-7‘, die ja in diesem Zeichensatz enthalten sind (sonst bliebe bei der Beobachtermodellierung der ‚Suchauftrag‘ innerhalb dieses Zeichensatzes unterspezifiziert). Insgesamt ist in (12) minimal das eingefangen, was man von einem Sucher des Akrostichons (und seinen Permutationen) in griechischen Texten als editorseitig auch modellierbare Lesebasis erwarten kann. Da die im vorangegangenen Absatz gemachten Bemerkungen für die Editorrede in einer Edition des Beispieldokuments nützlich sein können, sollten allgemein in Lesebasen noch optionale Kommentarbereiche vorgesehen werden, mit denen die jeweiligen Festlegungen erläutert werden können. Mit C = „Diese Lesebasis ist illustrativ. Es genüge hier ein neugriechischer Zeichensatz, um nicht in einen altgriechischen Zeichensatz einführen zu müssen. Das ‚⊕ ‘-Zeichen stehe hier nur für…unterspezifiziert).“ ist eine Kommentierung der gesamten Lesebasis von Dichthys gegeben. Manchmal ist auch eine Kommentierung nur eines Summanden angeraten, zum Beispiel ein Kommentar C’ im zweiten Summanden mit C’ = „Das Wort ΙΧΘΥΣ in einer einelementigen Menge{ΙΧΘΥΣ} lieferte für die Suche des Akrostichons eine minimale Lesebasis; mit {Ι, Χ, Θ, Υ, Σ} werden hier alle Auswahlen aus und alle Reihenfolgen von ‚Ι‘, ‚Χ‘, ‚Θ‘, ‚Υ‘, ‚Σ‘ zugelassen.“ Es ergibt sich: (13) Lbase(B, Dichthys, C)  =  (ISO/IEC 8859-7, ltr, (l[1..5])) ⊕ ({Ι, Χ, Θ, Υ, Σ}, ttb, (c[1..7]), C’). Diese Lesebasis repräsentiert einen Teil des editorseitig unterstellten Beobachterwissens für eine Nutzung des Dokuments Dichthys. Es handelt sich damit um Modellierun Die Leserichtung ‚ttb‘ ist hier nur für das Beispiel geschaffen und verweist nicht auf ‚writing-mode‘-­ Diskussionen etwa in CSS (vgl. https://www.w3.org/TR/css-writing-modes-4/; gesehen 25.10.2020).

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gen, die wenigstens teilweise durch Kommentare gerechtfertigt werden sollten. Eine Kommentarsystematik wird hier nicht diskutiert. Die Möglichkeit, Lesebasen allgemein zu schätzen, ist entscheidend für einen Editionsprozess, wenn in diesem Beobachtermodelle für die Ermittlung der Form eines Dokuments explizit oder implizit ins Spiel gebracht werden.36 Dies ist immer dann der Fall, wenn Rezeptionsfähigkeiten der historischen oder mit der Edition adressierten Lesekultur eines Dokumentes im Editionsprozess Entscheidungskriterien für die Ermittlung der Form liefern. Ersetzt man einen einzelnen Textflow durch Mengen von Textflows, können für ganze zugehörige Text-Korpora Lesebasen auf Basis von ‚character sets‘, Wortlisten etc. angegeben oder generiert werden, um wiederum vollständige und korrekte Lesungen zu spezifizieren. Speziell Auszüge aus Wortlisten einer Lesebasis können in Registern genutzt werden. Da Erzeuger eines Dokumentes inklusive Schreiber oft auch Beobachter des von ihnen erzeugten Dokuments sind, umfasst die Modellierung der Beobachterseite in solchen Fällen auch die Erzeugerseite. Dann kann eine Lesebasis Lbase auch eine Schreibbasis Sbase sein. Beide repräsentieren aber stets unabhängig von ihrer Gleichheit und Ungleichheit Annahmen eines Editors.

7. Spezifische Lesungen ohne Richtungsvorgaben Für die Illustration des Cantorschen Diagonalverfahrens in Abb. 4 und für das Dokument Dichthys in Abb. 5 ist die Angabe der Leserichtungen wichtig für die angestrebte Lesung und damit gegebenenfalls auch für die angestrebte Verständlichkeit. Dies ist aber in vielen (auch alltäglichen) Situationen nicht der Fall und wird nun behandelt. Die Nutzung der Type-Token-Beziehung für die Etablierung von Vollständigkeit und Korrektheit in den Lesebasen ist nicht nur auf ‚character sets‘ und Wortlisten beschränkt, sondern auch problemlos auf nicht-linguistische Komponenten anwendbar, wie das folgende Beispiel zeigt:

Die Differenzierung zwischen ‚Ermittlung‘ und ‚Vermittlung‘, wie sie Höpker-Herberg und Zeller speziell für die Edition von Texten vornehmen (s. Elisabeth Höpker-Herberg, Hans Zeller: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil der historisch-kritischen Ausgabe? In: editio 7, 1993, S. 51–61, speziell S. 53), wird hier auf die Differenz von Form und Inhalt von Dokumenten erweitert. Die Ermittlung einer Form zielt auf ‚Leserlichkeit‘; die Vermittlung eines Inhalts bezieht sich auf die oft in Annotationen erfolgenden Leistungen eines Editors zur Unterstützung der ‚Lesbarkeit‘.

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Abb. 6: Verbotszeichen mit textlicher Ergänzung.37

Abb. 6 illustriert nicht nur ‚nicht-linguistische‘ Komponenten, sondern zeigt außerhalb des Zusatzzeichens auch beispielhaft, dass eine strikt inkrementelle Type-Token-Steuerung einer Lesung, in der nach einem klassifizierten Zeichen immer ein unklassifiziertes gelesen werden muss, nicht die Lesung in einer vorgegebenen Ordnung zur Folge haben muss. Dies erlaubt grundsätzlich die Freigabe der Leserichtungen und stellt die Reihenfolge der vom Beobachter zu klassifizierenden Bestandteile gegebenenfalls in dessen Belieben. Eine Lesebasis braucht deshalb auch allgemein nicht dreistellig zu sein, da auf die Angabe der Leserichtung verzichtet werden kann. Zur Illustration bestehe für das obige Verkehrszeichen eine Lesebasis wieder aus zwei Komponenten, um folgende Aufgaben abzudecken: Das Zusatzzeichen bedarf in der ersten Komponente eines geeigneten Zeichensatzes zulässiger Zeichen (dies sei wieder ‚Latin-1‘), die auch wie gehabt strikt inkrementell gelesen werden sollen; das Vorschriftzeichen werde gelesen auf Basis der Zeichen in der Straßenverkehrsordnung ohne Richtungsvorgabe. Beide Schilder können mit der folgenden Lesebasis dann ohne weitere Vorgaben gelesen werden (das ‚⊕‘-Zeichen sei also hier kommutativ):38 (14) Lbase(B, DAutoverbot)  =  (Latin-1, ltr, (l+)) ⊕ (Vorschriftzeichen nach Anlage 2 zu § 41 Absatz 1 StVO, (c)). Die Festlegung eines Segmentes ohne Richtungsvorgabe für einen Beobachter begründet in der Dokumentenverarbeitung oft die Behandlung dieses Segmentes als ‚monoli­ thisch‘ in dem Sinne, dass eine Fragmentierung des Segmentes in allen Darstellungen möglichst unterbleiben soll.39 Dies ist eine typische Anforderung an die Darstellung von Bildern und auch Videos – aber auch Tabellen oder Teile von Tabellen sind oft Nach http://www.fb10.uni-bremen.de/khwagner/grundkurs1/images/vzeichen10.gif (gesehen 13.10.2020). In der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) ist festgelegt, dass höchstens drei Verkehrszeichen an einem ‚Pfosten‘ – einer Spalte – befestigt werden dürfen. Darunter dürfen normalerweise maximal zwei Vorschriftzeichen gemäß Anlage 2 zu § 41 Absatz 1 StVO verwendet werden; https:// de.wikipedia.org/wiki/Bildtafel_der_Verkehrszeichen_in_der_Bundesrepublik_Deutschland_seit_2017 (gesehen 13.10.2020) zeigt eine Visualisierung dieser Zeichen. 39 Die Beschreibung von dargestellten Bereichen eines Dokuments als ‚monolithisch‘ folgt der Terminologie im Fragmentierungsmodul von CSS3; s. https://www.w3.org/TR/css-break-3/ (gesehen 13.10.2020). 37 38

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Kandidaten für eine monolithische Behandlung, wenn man sie zum Beispiel ‚auf einer Seite‘ haben will. Einzelbilder und Videos werden in flächigen Ausgaben im vorgesehenen Darstellungsbereich oft gleich behandelt; entsprechend oft sind Einzelbilder zum Beispiel als ‚Keyframes‘ auch als Ersatz für die Einbindung von (gegebenenfalls nicht auffindbaren oder nicht abspielbaren) Videosegmenten in Markupsprachen vorgesehen. In der Film­ edition gibt es mit dem verschollenen Stummfilmklassiker Um Mitternacht ein Beispiel einer aus Standbildern erzeugten filmischen  (!) Rekonstruktion des Films.40 Mit solchen Unternehmungen hört die Nutzung der monolithischen Verwandtschaft zwischen Objekten vom MIME-Type ‚image‘ und Objekten vom MIME-Type ‚video‘ aber im Allgemeinen auch schon auf: ‚Hinter‘ dem Darstellungsbereich sind Videos über die Zeitachse fragmentierbar, so dass zwar der Darstellungsbereich für die Einzelbilder monolithisch sein kann, nicht aber die in diesem gezeigte Bildfolge. Für die beobachterseitige Betrachtung der Einzelbilder ist dann eine Richtungsfreigabe mit Verzicht auf strikte Inkrementalität leicht möglich; dagegen wird die Betrachtung der Bildfolge für denselben Beobachter oft einer strikten Inkrementalität unterworfen.

8. Strikt inkrementelle Betrachtbarkeit in Dynamic Imageflows Ein Dynamic Imageflow41 bezieht sich im Weiteren auf die Darstellung eines Teildokuments, das in einem geeigneten Abspielgerät mit ‚Bewegtbildeffekt‘ einem Betrachter in einem monolithischen Segment dargestellt werden kann – wie die in Abb. 7 gezeigten vier Streifen von oben nach unten mit jeweils vier Einzelbildern in einem Zootrop.

Abb. 7a–b: Vier zootropische Teilstreifen und ein Zootrop.42 Rick Schmidlin: London After Midnight [Film]. Atlanta: Turner Classic Movies 2002. Die Namensgebung auch zur Unterscheidung von einer statischen Bildfolge geht zurück auf John A. Bateman: Multimodal analysis of film within the GeM framework, https://doi.org/10.5007/2175-8026.2013n64p49, insbesondere S. 67. Eine filmtheoretisch motivierte Analyse des ‚moving image‘ auch mit dem hier verwendeten zootropischen Beispiel findet sich in Kap. 5 von John A. Bateman, Karl-Heinrich Schmidt: How films mean. New York London 2011 (Routledge Studies in Multimodality Series). 42 Die zootropischen Teilstreifen links finden sich unter https://de.wikipedia.org/wiki/Einzelbild_(Film). Das Bild rechts stammt aus http://www.zeno.org/Brockhaus-1911/A/Zootrop?hl=zootrop (Zenodot Verlagsgesellschaft mbH, public domain). Eine Animation eines Zootrops findet sich unter https://andrew. wang-hoyer.com/experiments/zoetrope/ (alle gesehen 20.9.2020). 40 41

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In diesem historischen Beispiel landet der Dynamic Imageflow direkt auf dem Auge des Betrachters. Bei einer Filmpräsentation findet sich dagegen der Dynamic Imageflow als Ergebnis eines geeigneten Imaging-Prozesses auf einem materiellen Substrat (Bildschirm, Leinwand). Beides erzeugt für einen angenommenen Beobachter ein auf Ebene der Bildfolge strikt inkrementell betrachtbares Teildokument. Dazu wird hier festgelegt: Def. 8: Ein (Teil-)Dokument heißt für einen Beobachter in einen normalen Dynamic Imageflow abbildbar, wenn es gemäß basaler Anordnung layoutierbar ist und die zugehörigen ‚content portions‘, von denen es mindestens eine für wenigstens zwei Einzelbilder oder mindestens zwei mit wenigstens jeweils einem Einzelbild gibt, in einer vollständigen und ordnungstreuen monolithischen Darstellung vom Beobachter in der von den ‚content portions‘ vorgegebenen Reihenfolge strikt inkrementell betrachtbar sind. Die ins Definiens aufgenommene ‚Normalität‘ liefert zusätzlich zu den anderen Anforderungen einen Container für den hier (auch aus Platzgründen) nicht erfolgenden Einbau weiterer Bedingungen, z. B. von Anforderungen der menschlichen Wahrnehmung.43 Ein Thaumatrop ist in diesem Zusammenhang ein Beispiel für den Minimalfall von nur zwei zur Darstellung zu bringenden Einzelbildern, für das zur Normalität des Dynam­ ic Imageflows die beobachterseitige Sicherstellung des Nachbildeffektes gehört. Eine Veränderung der Reihenfolge der ‚content portions‘ und der in diesen gegebenenfalls vorgesehenen Reihenfolge zur Darstellung der Einzelbilder ist grundsätzlich ausgeschlossen. Im Beispiel einer GIF-Animation darf also in eine vorgegebene Reihenfolge der Einzelbilder nicht eingegriffen werden. Eine GIF-Animation ist auch ein Beispiel für die Möglichkeit eines Dynamic Imageflows außerhalb des MIME-Types „video“. Ferner ist mit der Forderung der Vollständigkeit die Möglichkeit etwa von Zeitraffern bei einer Abbildung in einen normalen Dynamic Imageflow ausgeschlossen. Im Unterschied zu Textflows mit ihrer ‚strikt inkrementellen Leserlichkeit‘ (s. Definition 6) erfolgt hier eine Beschränkung auf ‚strikt inkrementelle Betrachtbarkeit‘, da allgemein kein Korrektheitskriterium für das Beobachten von Einzelbildern in Form einer Type-Token-Relationierung für eine Beobachtermenge angenommen werden kann. Gibt es ein solches Kriterium – etwa bei filmischen Textdarstellungen –, ist gegebenenfalls auch eine strikt inkrementelle Leserlichkeit gegeben.44 Allerdings ist diese hier zusätzlich der von den ‚content portions‘ vorgegebenen Ordnung der Einzelbilder unterworfen, da man nicht wie auf einer Buchseite vorspringen und dann ‚zurück­gucken‘ kann. Das editorische Umschalten zwischen Betrachtbarkeit und Lesbarkeit ist vom Editor fallweise und beobachterrelativ festzulegen. Im Beispiel in Abb. 7 ist in diesem Sinne ein ‚Galopp-Alphabet‘ analog zu einer konventionellen Laufschrift denkbar, das für die Dies betrifft etwa die Möglichkeit der Bewegungswahrnehmung; s. wiederum Bateman/Schmidt 2011 (Anm. 41), S. 132. 44 Mit ‚Leserlichkeit‘ und ‚Betrachtbarkeit‘ wird hier terminologisch im Deutschen eine Differenz aufgenommen, die man im Englischen mit einer Differenzierung zwischen ‚read (a text)‘ und ‚watch (a video)‘ repräsentieren kann. 43

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abgebildeten Phasen in den vier obigen ‚Galoppstreifen‘ eine Klassifikation als Token erlaubte, so dass in allen vier passend hintereinander gefügten Streifen S1, S2, S3 und S4 eines Dokuments DZootrope ein Galopp in Token dargestellt würde. Dies muss aber der Editor in einer beobachteradäquaten Lesebasis angeben, um diesen Type-Bezug als „grundlegende Eigenschaft symbolischer Darstellungen“ auch explizit zu machen.45 Macht er das nicht, gibt es keine entsprechenden Types, so dass sich in einer ‚Lese‘-­ basis des Dynamic Imageflows im Beispiel des obigen DZootrope eine leere Menge in der ersten Komponente findet: (15) Lbase(B, DZootrope) = (ø, ltr, (l[1..4])). Ein solcher Verzicht auf eine Type-Vorgabe für die dargestellten Zeichen in einem (Teil-)Dokument führt zur Annahme einer nutzerseitigen ‚Betrachtung‘ als editorischem Ziel. Terminologisch schlagen wir hier ferner vor, bei einer Aufarbeitung eines Dokuments zur beobachterrelativen Verbesserung der Betrachtbarkeit von Einzelbildern von ‚Restauration‘ zu sprechen. Unabhängig von der Type-Token-Relationierung der Einzelbilder kann im Dynamic Imageflow eine Vorzugsanordnung vorliegen, die für eine gegebene Bildmenge oft auch ermittelt werden kann. Im Beispiel in Abb. 7 könnte diese etwa aus dem Bildinhalt gefolgert werden, so dass bei genügender editorischer Befassung mit diesen Streifen und genügender Betrachtbarkeit der Einzelbilder etwa eine Vertauschung zweier Bilder in den 16 Bildern der vier Streifen reparabel ist. Diese Arbeit erfolgt dann auf der Ebene der (hier nicht weiter strukturierten) Bildfolge. Aber selbst die editorische Formarbeit auf Folgenebene zur Erstellung strikt inkrementeller Betrachtbarkeit fällt bei gegebener Betrachtbarkeit der Einzelbilder aus, wenn die Einzelbilder keine oder nicht ausreichende Hinweise auf eine Anordnung geben. Als Beispiel findet sich in Abb. 8 ein Kunstwerk namens Motion Picture von Peter Tscherkassky, das zu einem einzelnen Kader des frühen Lumière-Films La Sortie des Ouvriers de l’Usine Lumière à Lyon angefertigt wurde. Zur Erzeugung schreibt Tscherkassky:46 I marched into the darkroom and mounted fifty 16 mm strips of unexposed film stock onto the wall, vertically covering a surface of 50 × 80 cm in total. Onto this blank cinematic canvas I projected a single frame from Workers Leaving the Lumière Factory (1895) by the brothers Lumière. I processed the exposed filmstrips and subsequently arranged them on a light table to form a 50 × 80 cm duplicate of the original Lumière frame. I then edited the filmstrips together, starting with the first strip on the left, and proceeding to the right.

Wie bei dem obigen Akrostichon mit der senkrechten Verfolgbarkeit von Buchstaben finden sich hier also in einer ‚ttb‘-Richtung Folgen von Einzelbildern in 50 ‚Spalten‘ S1 bis S50. Diese 50 vertikalen Bildfolgen gibt es einmal als Artefakt mit einem Lichtkasten, so wie in Abb. 8 repräsentiert, so dass die Bildmenge ohne Richtungsvorgabe betrachtet werden kann wie der Einzelkader des frühen Lumière-Films. Des Weiteren gibt Stetter 2005 (Anm. 7), S. 77. Das folgende Zitat ist entnommen aus https://www.kunst-der-vermittlung.de/dossiers/fruehes-kino/ bildbeschreibung-motion-picture/ (gesehen 13.12.2020).

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es aber auch eine auf strikt inkrementelle Betrachtung zielende Ausgabe, die die aus den hintereinandergesetzten Spalten erzeugte Bildfolge – das entsprechende Dokument heiße hier DMotionPicture – als ‚Dynamic Imageflow‘ abspielbar macht. Ein entsprechendes Imaging von DMotionPicture erlaubt es dem normalen menschlichen Beobachter nicht, die Anordnungsinformation der anderen Repräsentation zu ersetzen: Die zweidimensionale ‚Puzzle-Lösung‘ geht verloren. Es gibt damit zwar wieder zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Beobachtung wie bei dem Beispiel des Akrostichons in Dichthys; die zweite funktioniert allerdings für sich wie eine willkürliche Folge (und eben nicht wie ein Akrostichon). Im Unterschied zu DZootrope geben die Einzelbilder in DMotionPicture als solche keinerlei Randbedingungen für die Nachbarbilder her; einzig die Zusatzinformation des benutzten Lumière’schen Filmbildes erlaubt eine Zuordnung eines Bildes zu einer Stelle in der Bildfolge und damit für diese editorisches Handeln in der Formermittlung. Aus der gegebenen Bildmenge ohne Kenntnis des zugrundeliegenden Filmbildes selbst folgt keine Vorzugsordnung.

Abb. 8: Peter Tscherkasskys Visualisierung seines Kunstwerks Motion Picture.47

Mit freundlicher Genehmigung von Peter Tscherkassky. Das Bild in Abb. 8 findet sich zum Download unter http://www.tscherkassky.at/inhalt/films/dieFilme/MotionPicture.html (gesehen 13.12.2020).

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Dies zeigt sich auch bei der Modellierung der Lesebasis von DMotionPicture. Mit dem obigen Statement des Künstlers zum ‚Making-of‘ ist es zunächst naheliegend, auf die Vorgabe von Types ganz zu verzichten.48 Zur entsprechenden editorischen Begründung kann in einem Kommentar C auf den oben zitierten Tscherkassky’schen Text verwiesen bzw. dieser direkt aufgenommen werden: „Tscherkassky schreibt zur Entstehung dieses Films: ‚I marched […]‘“.49 Für die Folge der Einzelbilder ergibt sich mit diesem Hintergrundwissen in Analogie zu DZootrope als Lbase für DMotionPicture: (16) Lbase(B, DMotionPicture, C)  >  (ø, ttb, (S[1..50])). In der dritten Komponente wird festgelegt, wieviel verschiedene inkrementell zu betrachtende Bildfolgen als Formstücke gegeben sind. Beobachteradäquat und damit einer Lesebasis angemessen ist dies aber nur, wenn wie bei den Zeilen in Dichthys bzw. DZootrope diese Formstücke für den Beobachter auch identifizierbar sind. Sind sie das nicht, muss diese Formvorgabe gestrichen werden. Mit Streichen der Formvorgabe ist aber auch die Angabe zur Leserichtung zu modifizieren. Mit der für Bewegtbilddaten naheliegenden Nutzung einer temporalen Achse in positiver Richtung (‚t+‘) zur Ordnung der Bilder ergibt sich so: (17) Lbase(B, DMotionPicture, C)  =  (ø, t+, (l)). Das Tripel „(ø, t+, (l))“ repräsentiert immer noch eine Lesebasis für einen Beobachter B von DMotionPicture, dem C zum besseren Verständnis zugänglich gemacht werden kann. Dass dieses Tripel fast nichts modelliert, folgt daraus, dass auf Einzelbildebene wieder wie beim Zootrop keine Zuordnung zu Types erwartet wird: Dies zeigt die erste Komponente des Tripels. Zusätzlich sind aber auch auf der Ebene der Bilderfolge für B keine Formstücke identifizierbar, wie nun auch die dritte Komponente des Tripels zeigt. Im Ergebnis wird sowohl für das zuvor behandelte DZootrope als auch für DMotionPicture mit Angabe der leeren Menge als Type-Token-Vorgabe auch auf die Möglichkeit eines Realtextes verzichtet. Glaubt ein Editor, einen Realtext vorsehen zu können (etwa als geheime oder bisher übersehene Botschaft), ist wenigstens an diesem Teil der Lesebasis für DZootrope oder DMotionPicture eine Änderung der Modellierung vorzunehmen. Ansonsten verweisen die jeweiligen Lesebasen darauf, dass ‚nur‘ eine strikt inkrementelle Betrachtung seitens eines Beobachters bei der Befassung mit den zugehörigen Dokumenten möglich ist.

Natürlich ist für Beobachter dieser Bildfolge im Sinne der bisherigen Argumentation eine Zerlegung der Einzelbilder in eine Menge von Mengen von Kopien denkbar. Diese Zerlegung könnte sogar für eine Type-Token-Steuerung eines Lesevorganges genutzt werden, wenn für jedes Bild beobachterseits wie bei Buchstaben angegeben werden kann, zu welchem ‚Kopiertyp‘ es gehört. Hier greifen dann wieder editorische Entscheidungen: Geht es hier nur um eine Serialisierung einer Bildermenge – oder ist mehr im Spiel? Letzteres führte im Extrem gegebenenfalls sogar zur Möglichkeitsannahme von geheimen Botschaften. 49 Dieser Kommentar liefert gleichzeitig einen Verstehenshintergrund, dem man gegebenenfalls auch das Bild hinzufügen sollte. 48

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9. Zur Edition strukturierter Dokumente mit Inhalt vom Typ ‚text‘ und ‚video‘ Das Zootrop in DZootrope und das Kunstvideo in DMotionPicture wurden hier als nicht weiter strukturierbare Dokumente behandelt. Viele ‚video‘-Segmente enthalten aber auch Analoga zu den in Abschnitt  2 angesprochenen Volltextstrukturen wie Paragraphen oder Kapitel, so dass im Bewegtbilddatenbereich diese Analoga als Einstellungen und diese wiederum gruppierende Makrostrukturen – wie z. B. Szenen oder Sequenzen (s. u.) – editorisch berücksichtigt werden können. Diese Makrostrukturen unterliegen einer medienspezifischen Logik und werden insbesondere bei der Erzeugung filmischer Narrationen auch reichhaltig genutzt.50 In der editorischen Arbeit kommt man damit zur Strukturebene eines Bewegtbilddatensatzes. Diese Arbeit unterscheidet sich medienspezifisch von der Arbeit auf Einzelbildern dadurch, dass Nachbarschaftsfragen unterschiedliche Rollen spielen. Die Nachbarschaft von Einstellungen kann grundsätzlich auch limitiert werden durch inhaltliche Bezüge, die kein visuelles Korrelat haben – im Unterschied zur editorischen Arbeit innerhalb der Bildfolge einer Einstellung, wo das editorische Handeln auf visuelles Passen an der richtigen Stelle in einem (normalen) Dynamic Imageflow zielt. Dieses ist nur beim ersten bzw. letzten Bild einer Einstellung gegebenenfalls nicht durch Bilder ‚davor‘ bzw. ‚dahinter‘ limitiert. Nachdem bisher ‚text‘- und ‚video‘-Architekturen weitgehend getrennt betrachtet wurden, wird nun zur beispielorientierten Argumentation noch einmal ein beide Architekturen verwendendes Dokument behandelt mit dem schon eingeführten Stummfilm The Girl and Her Trust aus der Frühzeit der Filmgeschichte. Dieser Film von Griffith aus dem Jahre 1912 ist überliefert als Dokument mit (meist)51 140 Einstellungen, die aus vier unterschiedlichen Typen bestehen. Diese vier verschiedenen Typen sind: 1. Eine ‚Titeleinstellung‘ von einem Typ-1. Dieser Typ ist im ‚frontmatter‘ instanziiert. – Diese Instanz ist in dem von Griffith gewählten Layout für The Girl and Her Trust entsprechend an die erste Einstellungsposition E1 des Gesamtdokuments gebracht (s. Abb. 9a).

Abb. 9a: Eine Titeleinstellung.

Narrative Strukturen finden sich detailliert in Bateman/Schmidt 2011 (Anm. 41) analysiert; deskriptive Strukturen finden sich analysiert in Karl-Heinrich Schmidt: Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (III): Deskriptive Syntagmen. In: Kodikas/Code 31, 2008, S. 137–189. 51 Zu den Differenzen vgl. den Beitrag von Fabian Etling in diesem Band, S. 225–250. 50

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2. Eine ‚Schlusseinstellung‘ von einem Typ-2. Dieser Typ wird im ‚backmatter‘ instanziiert. – Diese Instanz wird in dem von Griffith gewählten Layout des Beispielfilms entsprechend an das Ende des ganzen Dokuments in Einstellung E140 gebracht (s. Abb. 9b).

Abb. 9b: Eine Schlusseinstellung.

3. Textinsertionen mit intendierter Type-Token-Steuerung von einem Typ-3 im Hauptteil (‚bodymatter‘) des Films. Für diesen Typ muss man gegebenenfalls zwischen einem generischen Teil und einem spezifischen Teil differenzieren. – Im Beispielfilm gibt es neun Textinsertionen in den Einstellungen E2, E12, E36, E43, E65, E78, E94, E97 und E106. Der Text nebst den graphischen Elementen mit der Linie oben und den Logos unten gehört zum generischen Dokumententeil (in Analogie zu einer Folienpräsentation zeigt sich hier sozusagen der Folienmaster); der Rest ist jeweils spezifisch mit einem jeweils eigenen Text. Die Einstellung E2 des Beispielfilms ist in Abb. 9c abgebildet. generisch spezifisch generisch Abb. 9c: Eine Textinsertion.

4. Einstellungen vom Typ-4 im Hauptteil des Films, deren Inhalt aus photographischen Abbildungen von raumzeitlichen Sachverhalten besteht. – Dies sind im Beispielfilm alle unter Punkt 1–3 nicht genannten Einstellungen von E1 bis E140, insgesamt 129 Stück. Die ersten fünf Einstellungen dieses Typs E3, E4, E5, E6 und E7 sind in Abb. 2 dargestellt; der in diesen ersten Einstellungen entstandene Konflikt zwischen Grace und Jack findet sich in den beiden letzten Einstellungen dieses Typs in E138 und E139 in einem Happy End gelöst (s. Abb. 9d).

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Abb. 9d: Raumzeitliche Einstellungen.

Es kann grundsätzlich noch weitere Typen geben, aber für den Beispielfilm und für die Zwecke dieser Arbeit genügt dieses Inventar, um einen editorischen Handlungsraum zu skizzieren. Die insgesamt 140 Einstellungen des Beispielfilms können theoretisch auf 140 ∙ 139 ∙ 138 ∙ … ∙ 2 ∙ 1 = 140! (‚140 Fakultät‘) verschiedene Arten und Weisen layoutiert werden. Wir haben schon zwei Einstellungen, die am ‚Anfang‘ und ‚Ende‘ ihre Vorzugsposition haben und die enthaltenen sonstigen Einstellungen als der Präsentationsform ‚Film‘ zugehörig indizieren. Damit reduziert sich die Menge der möglichen Layouts immerhin um 140 ∙ 139 (knapp 20.000) Möglichkeiten. Wir haben es aber immer noch mit 138! möglichen Filmen The Girl and Her Trust zu den verbleibenden ‚inhaltlichen‘ Einstellungen zu tun. Das ganze Dokument DTheGirl sei ohne Überlappung aufteilbar in DTheGirl.frontmatter mit E1 und DTheGirl.backmatter mit E140 sowie den Hauptteil DTheGirl.body. Wie schon in der Vorbemerkung erläutert, werden hier genuine Bildarchitekturen vom Typ ‚image‘ nicht behandelt. Deshalb wird hier auch auf den generischen Teil der Einstellungen vom Typ-3, die graphische Elemente enthalten, nicht eingegangen. Für die Angabe der Lesebasis bleibt das Teildokument DTheGirl.body mit der angegebenen Einschränkung für den Typ-3 zu untersuchen. Für dieses sei wiederum ein ‚zu lesender‘ Teil DTheGirl.body.txt und ein ‚zu betrachtender‘ Teil DTheGirl.body.vid unterschieden. Die spezifischen Texte in den Einstellungen vom Typ-3 können analog zum Zusatzzeichen in dem Verkehrszeichen in Abb. 6 einzeln mit ‚Latin-1‘ und insgesamt in der gegebenen Reihenfolge im Film gelesen werden: (18) Lbase(B, DTheGirl.body.txt)  > (Latin-1, t+, (E2, E12, E36, E43, E65, E78, E94, E97, E106)). Einstellungen vom Typ-3 sind über Inhaltsargumente oft leicht einzuordnen. Sie stehen ferner als textliche Einfügung oft (aber grundsätzlich nicht immer) für sich allein in einer filmischen Struktur und bauen selbst keine weiteren Strukturen auf. So ist es auch bei The Girl and Her Trust, so dass die obige Modellierung genügt. Die Einstellungen vom Typ-4 haben in Analogie zu den vorangehenden Filmbeispielen aus Editorsicht a priori keine Type-Token-Vorgabe. Im Unterschied zu den beiden bisherigen Bewegtbilddatenbeispielen mit der einen zyklisch einsetzbaren Bildfolge für das Zootrop und den 50 Filmstreifen in DMotionPicture ist man für die ­Angabe

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von editorischen Randbedingungen für die 129 Einstellungen in DTheGirl.body.vid hier aber noch nicht am Ende. Die verbleibenden Einstellungen befinden sich für einen Editor in einem sehr großen Layoutraum, der nun aber zusätzlich durch logische Strukturierung der Einstellungen (genau wie bei Texten) starken Einschränkungen unterworfen werden kann. Allgemein genügen Dokumententeile, die den Typ-4 eines filmischen Dokuments instanziieren, erwartbar einer medienspezifischen Syntagmatik mit raumzeitlicher Semantik. Eine logische Struktur auf den Einstellungen vom Typ-4 kann oberhalb der ‚basic logical objects‘ narrativ basal52 mehrere (mindestens zwei) Einstellungen als Szenen und Sequenzen zu geordneten Repräsentationen raumzeitlicher Einheiten zusammenfassen. Szenen haben dabei eine sowohl räumlich als auch zeitlich zusammenhängende Diegese; Sequenzen haben auch eine räumlich zusammenhängende Diegese, weisen aber diegetisch wenigstens eine zeitliche Lücke auf.53 Im Strukturbaum eines filmischen Dokuments fungieren beide als ‚composite logical objects‘, die gegebenenfalls auch noch ineinander geschnitten werden können, ohne dass ihre Ordnung aufgegeben wird (s. auch Definition 2). Für die 129 Einstellungen von The Girl and Her Trust, die den Typ-4 instanziieren, lassen sich bis zu einer abschließenden Verfolgungsjagd zehn Sequenzen klassifizieren, die im Layout ineinander geschachtelt werden. Mit der mathematischen Partitionsfunktion P(n) kann man für eine gegebene positive ganze Zahl n angeben, wieviel Möglichkeiten es gibt, diese in positive ganze Summanden zu zerlegen. Das ist aber auch genau das, was man tut, wenn man für eine gegebene Anzahl von Einstellungen sich überlegt, wie viele Möglichkeiten der Kombinationen von Einzeleinstellungen, Szenen oder Sequenzen es basal gibt. Wenn man nun die Anzahl von Einstellungen vom Typ-4 schätzen kann – aus welchen Gründen (Drehbuchfragmente, genauere Angabe verbotener Bildfolgen auf Zensurkarten etc.) auch immer –, hat man eine Vorgabe für ihre möglichen Kombinationen in der Montage, die sehr restriktiv werden kann. Um dies auch kombinatorisch anschaulich zu machen, sei ein Beispiel mit kleinen Zahlen durchgerechnet. Ein Film mit 10 Einstellungen vom Typ-4 hat grundsätzlich 10! = 3.628.800 verschiedene Layouts. Es gibt ferner P(10) = 42 verschiedene Partitionen und damit im basalen Falle 42 verschiedene Möglichkeiten der Verteilung auf Einzeleinstellungen, Szenen und Sequenzen. Die unterstellte Zerlegung hat nun großen Einfluss auf die Menge der möglichen Lösungen, wenn man die Montage rekonstruieren will. Besteht der ganze Film nur aus einer einzigen Szene oder Sequenz, gibt es auch nur ein (Default-)Layout. Nimmt man von den P(10) = 42 verschiedenen Partitionen die fünf ‚Zweierzerlegungen‘ von 10, um etwa einen in der Überlieferung gesicherten Dialog filmisch zu rekonstruieren, liegen völlig unabhängig von inhaltlichen Überlegungen (!) bei (5 + 5) zwei gleich große Szenen oder Sequenzen vor, und der Film hat nur noch 10! / (5! ∙ 5!) = 252 verschiedene mögliche Layouts; bei (6 + 4) ergeben sich analog nur noch 210, bei (7 + 3) nur noch 120, bei (8 + 2) nur noch 45 verschiedene Layouts. Der Fall (9 + 1) bedeutet, dass eine alleinstehende Einstellung vor, zwischen oder hinter die anderen neun Einstellungen, die in einer einzigen Szene Vgl. Bateman/Schmidt 2011 (Anm. 41), S. 212. Für formale Definitionen vgl. Bateman/Schmidt 2011, S. 295–297.

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oder Sequenz gebunden sind, positioniert wird. Dafür gibt es dann nur noch zehn Möglichkeiten. Editorisch ist damit die Arbeit auf der Strukturebene eines Films gegebenenfalls sehr starken Randbedingungen unterworfen. Dies rückt die editorische Arbeit an strukturierbaren Einstellungsfolgen oberhalb der Einstellungsebene in eine Nachbarschaft zur editorischen Arbeit an strukturierten Volltexten, sofern dabei wie bei Texten „höherrangige“,54 z. B. grammatische Analysen durchgeführt werden.55

10. Zusammenfassung und Ausblick In diesem Beitrag wurden von Beobachtern ‚strikt inkrementell‘ auszuwertende Dokumententeile mit editorischem Fokus untersucht. Dazu werden Tokenfolgen und Bildfolgen gekennzeichnet in einer Weise, die es erlaubt, Folgeneigenschaften gleichartig, die Folgenelemente aber in ihren Unterschieden zu behandeln. Die Folgeneigenschaften beziehen sich auf Textflows und Dynamic Imageflows: Erstere stellen Content des MIME-Types ‚text‘ dar; das zughörige editorische Handeln ist grundlegend gesteuert von Type-Token-Beziehungen mit dem Ziel einer strikt inkrementellen Leserlichkeit. Letztere stellen Content vom MIME-Type ‚video‘ dar; das zugehörige editorische Handeln kann auch gesteuert sein von Type-Token-Beziehungen (zum Beispiel bei filmischen Textinsertionen) mit dem Ziel strikt inkrementeller Leserlichkeit, muss aber häufig auch ohne irgendeine Type-Token-Vorgabe auskommen. In diesem Fall ist die editorische Tätigkeit auf Bildebene ‚restaurativ‘ auf die Betrachtbarkeit in einer Bildfolge ausgerichtet. Für diese wiederum ist das editorische Handeln ausgerichtet auf strikt inkrementelle Betrachtbarkeit in einer Vorzugsanordnung, wenn eine solche vorausgesetzt werden kann. Lassen sich für Bildfolgen zudem Einstellungen gruppieren speziell auf Basis ihrer raumzeitlichen Diegese, greifen für diese Einstellungen und ihre Anordnung gegebenenfalls zusätzliche Randbedingungen, die editorische Wahlen auf Strukturebene analog zur Inanspruchnahme von höherrangigen orthographischen Registern mit Wörterbüchern oder Grammatiken (vgl. Abschnitt  5) für Texte stark limitieren können. Insgesamt wird strikte Inkrementalität als eine zentrale Kategorie editorischen Handelns identifiziert, die sowohl in der textlichen als auch filmischen Überlieferung die editorischen Ziele der Leserlichkeit bzw. Betrachtbarkeit bestimmt. Damit bekommt auch die (in der Vorbemerkung dargestellte) Branigan’sche Intuition in der Behandlung von ‚Film‘ als ‚Text‘ eine Präzisierung. Betrachtet man nun Editionen unter dem Gesichtspunkt der Sicherstellung menschlicher Informationsentnahme aus (hinsichtlich ihrer Form möglichst verbürgten) ­historischen Dokumenten, ist eine Hypothese der Autoren, dass es für viele flächig auszugebende Dokumente nicht viele Vorgaben zur Informationsentnahme gibt. Für den flächigen Fall der Darstellung eines Dokuments auf einer Druckseite (CSS-­Medientyp ‚print‘) könnte es gut sein, dass man mit inkrementeller Betrachtbarkeit und (strikt) inkrementeller Leserlichkeit als editorischem Ziel auskommt. Für die ersten drei Stetter 2005 (Anm. 7), S. 11. Im Beitrag von Fabian Etling in diesem Band wird für den Beispielfilm The Girl and Her Trust ein editorisches Procedere auch auf der Strukturebene (speziell für die dortige Einstellung E45) durchdekliniert.

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Zur Edition strikt inkrementeller Flows in Dokumenten: Text und (tonloser) Film

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­ IME-Types ‚text‘, ‚image‘ und ‚video‘ kommt für den Bildschirm (CSS-Medientyp M ‚screen‘), wie behandelt im tonlosen Fall, noch strikt inkrementelle Betrachtbarkeit dazu. Unter Voraussetzung einer zeitgemäßen Diskussion56 aller Medientypen sollte vorsichtshalber auch noch eine Untersuchung akustischer Medientypen (wie ‚speech‘) erfolgen. Im Rahmen des an der Bergischen Universität Wuppertal und der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel angesiedelten Graduiertenkollegs 2196 „Dokument – Text – Edition“ laufen dazu die ersten empirischen Untersuchungen. Wir danken den Kollegen im Kolleg, die dies als Antragskollektiv ermöglicht haben.

Vgl. https://drafts.csswg.org/mediaqueries-4/#media-types (gesehen 15.9.2020).

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II. Archivpraxen und Kritische Filmografie

Michael Hollmann

Philologische Aspekte der Filmarchivierung im Bundesarchiv

Die Frage nach einer Philologie der Filmarchivierung ist nicht neu. Nicht zuletzt Anna Bohn hat 2013 mit ihrem wichtigen Werk Denkmal Film einen nahezu umfassenden Überblick über die vielfältigen Aspekte vorgelegt, die sich mit diesem Fragenkomplex verbinden, und gleichzeitig das Spektrum der Antworten aufgefächert, die von den unterschiedlichen Disziplinen der Kulturwissenschaften im weitesten Sinne des Wortes gegeben werden.1 Erfreulicherweise räumt Anna Bohn – anders als noch 1991 Klaus Kanzog in seiner Einführung in die Filmphilologie2 – auch den spezifisch archivischen Fragestellungen von der Sicherung der Überlieferung über Fragen der Restaurierung, Konservierung und Kopierung bis hin zu Fragen der Bereitstellung und Publikation einen breiten Raum ein. Dabei wird deutlich, wo und in welcher Weise die Archivierung von Film anderen Rahmenbedingungen und Anforderungen zu folgen hat als die für die klassischen Archive deutlich im Vordergrund stehende Archivierung von schriftlichem Kulturgut. In den jüngeren Veröffentlichungen zur Archivierung von Film spielen dagegen philologische Aspekte eine eher untergeordnete Rolle.3 Das soll nicht bedeuten, dass die ureigenen Fragen der Philologie nach dem Gegenstand der Archivierung – die Frage nach dem Film als Archivgut, seiner Stellung im Überlieferungskonzept der verschiedenen filmbewahrenden Institutionen – im archivischen Alltag bedeutungslos wären und völlig ausgeklammert würden. Im Gegenteil wird traditionell vor der archivischen Sicherung ein nicht unerheblicher Aufwand für die Auffindung und den Abgleich von Sicherungsvorlagen betrieben. Mit großer, durchaus philologischer Sorgfalt wurden über Jahrzehnte Versionen und Fassungen miteinander verglichen, eine dem ‚Original‘4 möglichst nahekommende Rekonstruktion erstellt und anschließend auf einen sicheren analogen Informationsträger ausbelichtet. Dieser Praxis, die sich von der klassischen Archivierung insbesondere schriftlicher Unterlagen deutlich unterscheidet, ist bislang auch das Bundesarchiv gefolgt, das als nationales Filmarchiv im Rahmen des Deutschen Kinematheksverbunds insbesondere die Aufgabe der materiellen Sicherung der Filmüberlieferung übernommen hat.5 Wäh Siehe dazu Anna Bohn: Denkmal Film. 2 Bde. Wien, Köln, Weimar 2013. Siehe Klaus Kanzog: Einführung in die Filmphilologie. Mit Beiträgen von Kirsten Burghardt, Ludwig Bauer und Michael Schaudig. München 1991 (diskurs film. Münchener Beiträge zur Filmphilologie. 4). 3 Siehe dazu etwa den Sammelband: Filmarchivierung. Sammeln, Sichern, Sichten, Sehen. Hrsg. von Manfred Rasch und Astrid Dörnemann im Auftrag des Arbeitskreises Filmarchivierung. Düsseldorf 2011. 4 Zur Komplexität des Original-Begriffs siehe Bohn 2013 (Anm. 1), Bd. 2, S. 185–219. 5 Siehe dazu Michael Hollmann: Das Bundesarchiv und die Sicherung des nationalen Filmerbes. In: Forum. Das Fachmagazin des Bundesarchivs 2016: Filmarchivierung im digitalen Zeitalter, S. 5–13. 1 2

https://doi.org/10.1515/9783110684605-007

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Michael Hollmann

rend das Bundesarchiv sich bei der Sicherung von analogem Archivgut – also Akten, Fotos, Tonquellen u. a. m. – selbstverständlich auf das Archivgut beschränkt, das auf unterschiedlichen Wegen als Archivgut des Bundes in seine Obhut gelangt ist, wurde bei der Sicherung von Filmen immer auch auf Material zurückgegriffen, das in anderen Archiven oder Kinematheken verwahrt wird. Das Spektrum der Einbeziehung von Material anderer Archive reicht dabei von der Ersetzung beschädigter oder verderbter Passagen durch die in anderen Exemplaren besser überlieferten parallelen Filmteile bis hin zum nahezu vollständigen Verzicht auf die weitere Verarbeitung des eigenen zugunsten fremden Materials. Ein Beispiel für eine so weit gehende Verwendung von Materialien anderer Archive stellt aus Sicht des Bundesarchivs der am 17. Dezember 1927 in Nürnberg (inoffiziell) uraufgeführte Film Luther. Ein Film der deutschen Reformation von Hans Kyser dar. Da die drei im Bundesarchiv verwahrten Fassungen von sehr schlechter technischer Qualität waren, zog das Bundesarchiv für die Restaurierung weitere und deutlich bessere Materialien aus dem Niederländischen Filmmuseum in Amsterdam und dem Deutschen Filminstitut in Frankfurt hinzu und rekonstruierte auf dieser Basis unter Nutzung der zeitgenössischen Zensurkarten die Fassung, die im Jahr des Reformationscentenariums 2017 in der Berliner Passionskirche erstmals präsentiert werden konnte. Das Sonntagsblatt betitelte seinen Bericht über die „Wieder-Uraufführung“ bezeichnenderweise mit der Überschrift „Auferstanden aus Kopien“.6 Als paradigmatisches Beispiel für die rekonstruktive Herstellung einer synthetischen Fassung eines Film beschreibt Anna Bohn in Denkmal Film die Rekonstruktion des ebenfalls 1927 uraufgeführten Films Metropolis von Fritz Lang als den Versuch, „eine annähernd vollständige Fassung des Films zu rekonstruieren“ und sich so „der verlorenen deutschen Originalfassung anzunähern“.7 Dabei stellt sich dann die aus archivarischer Sicht zu verneinende Frage, ob bei einer solchen Annäherung tatsächlich von einer Rekonstruktion, also einer Wiederherstellung eines verlorenen oder beschädigten Originals, gesprochen werden darf. Luther und andere auf diese Weise hergestellte ‚Rekonstruktionen‘ wurden anschließend im Bundesarchiv durch die Herstellung eines ‚Sicherungspakets‘ archivisch gesichert. Zu einem solchen Paket gehören zwei ‚Sicherungsstücke‘, im Idealfall das Originalnegativ und ein davon abgezogenes Duplikatpositiv, sowie als Benutzungsstücke ein analoger Film als Kopie des Originalnegativs und ein Video als Kopie des Duplikatpositivs. Nach Möglichkeit sind diese Sicherungsstücke räumlich getrennt und unter den für die jeweilige Materialart optimalen Klimakonditionen aufzubewahren. Da in der archivischen Praxis ideale Bedingungen nur sehr selten vorkommen und die Überlieferungslage in der Regel eher kompliziert ist, hat Egbert Koppe in seiner Darstellung des Filmsicherungskonzepts des Bundesarchivs nicht weniger als vierzehn Varianten aufgelistet.8 Sonntagsblatt. Evangelische Zeitschrift für Bayern, 17.1.2017, https://www.sonntagsblatt.de/artikel/ kultur/auferstanden-aus-kopien-der-skandal-lutherfilm-von-1927 (gesehen 30.3.2020). 7 Siehe Bohn 2013 (Anm. 1), Bd. 2, S. 403 f. 8 Vgl. dazu Egbert Koppe: Das Filmsicherungskonzept des Bundesarchivs. In: Filmarchivierung 2016 (Anm. 5), S. 91–100. 6

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Am Ende dieses Sicherungsprozesses steht für gewöhnlich ein vorführbarer Film und damit das aus Sicht der Nutzer gewünschte Ergebnis. Aus archivfachlicher Sicht ist eine derartige Sicherung von Archivgut allerdings in mehrfacher Hinsicht selbst dann unbefriedigend, wenn kein externes Material in die Rekonstruktion und Sicherung einbezogen wurde. Zunächst einmal wird bei der ‚Rekonstruktion‘ von Film nicht – wie das sonst gewöhnlich im Umgang mit Kulturgut der Fall ist – das Original wieder instandgesetzt, eben rekonstruiert, sondern es wird im einfachsten Fall eine Sicherungskopie erstellt. Eine tatsächliche Rekonstruktion von materiell gefährdeten Filmen ist aus naheliegenden technischen Gründen ohnehin nicht möglich. Das Bundesarchiv unternimmt zwar das in seinen Möglichkeiten Stehende, um die Originale so lange wie irgend möglich zu erhalten; ein zeitlich unbegrenzter Erhalt der Originale ist für die chemisch labilen Filmmaterialien aber noch weniger denkbar als im Bereich des Erhalts schriftlicher Unterlagen. Insgesamt gilt die ernüchternde Feststellung, dass Archivgut nahezu aller Materialtypen in seinem Bestand in einem Maße gefährdet ist, dass es unmöglich sein wird, alle Filme, Akten, Bilder usw. im Original zu erhalten; im besten Falle kann es gelingen, hochwertige Kopien herzustellen und zu erhalten, um wenigstens die Inhalte für die Zukunft zu sichern. Die Herstellung einer Sicherungskopie bzw. eines Sicherungspakets ist allerdings nur in dem Fall ‚einfach‘, wenn ein Film im Bundesarchiv eineindeutig in nur einer Fassung ohne Kopien, Schnittreste und andere Materialen überliefert ist. Schon das Vorhandensein mehrerer Kopien macht die Angelegenheit kompliziert, weil nun Vollständigkeit, Zustand und Qualität abgeglichen werden und – wie bereits beschrieben – unter Verwendung von Teilen aller Materialien etwas Neues entsteht, bei dem die Beziehung von Original und Kopie zwar dokumentiert wird, für den Nutzer aber nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar ist. Wenn während des Rekonstruktionsprozesses qualitätsverbessernd eingegriffen wird, steigert das die Komplexität weiter. Wie weit das gehen kann, beschreibt wiederum Anna Bohn am Beispiel des 1925 uraufgeführten Films Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein.9 Auch nach der Herstellung eines Sicherungspakets werden die originalen Materialien unter möglichst guten Klimabedingungen weiter gelagert und nur dann kassiert, wenn der Fortschritt des Materialzerfalls eine weitere Aufbewahrung sinnlos erscheinen lässt oder bei Nitrozellulosefilmen das Material einen kritischen Zustand erreicht hat. Die Bedeutung der Ausgangsmaterialien tritt allerdings hinter die ihrer Kopien zurück. Das hat naheliegende Gründe, da die Ausgangsmaterialien nicht wirklich öffentlich präsentiert, sondern nur am Schneidetisch im Bundesarchiv angesehen werden können. Ernstliche juristische Probleme entstehen gegebenenfalls dann, wenn eine Rekonstruktion auf Materialien basiert, die sich in unterschiedlichen Rechtebeständen befinden. Wem in solchen Fällen welche Eigentums-, Nutzungs- und Verwertungsrechte zustehen, ist mitunter nicht leicht festzustellen. Unter Umständen kommen zu den ursprünglichen Rechten der Filmschaffenden und der Eigentümer neue Rechte derjenigen Siehe Bohn 2013 (Anm. 1), Bd. 2, S. 376–387.

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Bearbeiter hinzu, die im Rahmen eines höchst kreativen Prozesses einen Film rekonstruiert haben, indem sie Materialien miteinander verglichen, Entscheidungen hinsichtlich der Bildauswahl und der technischen Bearbeitung getroffen und so gegebenenfalls ein Werk eigenen Rechts geschaffen haben. Trotz aller archivfachlichen Vorbehalte war das beschriebene Verfahren der Sicherung einer zuvor gegebenenfalls ‚rekonstruierten‘ Fassung lange der einzig gangbare Weg. Solange Film nur auf analogem Film gesichert werden konnte, war es einfach unumgänglich, all die oben beschriebenen Entscheidungen zu treffen, wenn am Ende des Prozesses ein vorführbarer Film stehen sollte. Im Gefolge des digitalen Wandels eröffnen sich aber auch für die Filmarchivierung gänzlich neue Perspektiven. Zwar wird vielfach bedauert, dass der analoge Film im Verschwinden begriffen ist,10 die Digitalisierung hat aber in nur wenigen Jahren in die Produktion neuer Filme ebenso schnell und umfassend Einzug gehalten wie in die Bearbeitung und Kopierung ursprünglich analoger Filme. Selbst dort, wo Filme am Ende des Sicherungsprozesses noch auf analogem Film ausbelichtet werden, geschieht dies in aller Regel heute unter Nutzung digitaler Aufnahme-, digitaler Bild- und Tonbearbeitungs- und schließlich digitaler Ausbelichtungstechnologie. Für die Archive im Allgemeinen und das Bundesarchiv im Besonderen eröffnet die digitale Technik vielfältige neue Möglichkeiten in den Bereichen der Übernahme, Bearbeitung, dauerhaften Speicherung und Bereitstellung von Filmen. Mit dem Zwang zur Ausbelichtung auf ein analoges Trägermaterial entfallen in all den genannten Bereichen auch viele in den Eigenheiten des analogen Films begründete Einschränkungen. Seit der Entstehung des Films haben die Medien der Bildaufzeichnung eine rasante und keineswegs kontinuierlich-lineare Entwicklung mitgemacht. Von Beginn an war die Palette der von den Archiven und Filmotheken zu übernehmenden Materialien extrem heterogen; halbtonige Stummfilme (Teilton-Filme) waren ebenso zu übernehmen wie Farb-Ton-Filme auf jeweils sehr unterschiedlichen Filmformaten. Mit der Videotechnologie wurde die analoge Aufzeichnungstechnik durch eine Technik erweitert, deren Erzeugnisse nur noch durch die Vermittlung einer Maschine als Bild erkannt werden konnten. Die aus dieser Entwicklung resultierende technische Diversität der filmischen Überlieferung stellt die filmbewahrenden Institutionen schon seit Langem vor erhebliche technische Herausforderungen. Wie waren die auf so unterschiedlichen Medien aufgezeichneten Filme zu sichern, ohne die auratische Qualität des Originalmediums aufs Spiel zu setzen? War das überhaupt möglich? Die Unterschiedlichkeit der Archivierungsansätze der verschiedenen Archive und Kinematheken zeigt, dass hier nie ein wirklich übergreifend gültiges Konzept entwickelt wurde. Also standen diese Institutionen immer vor der doppelten Herausforderung, den unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Aufzeichnungsmedien bei der Aufbewahrung der Ausgangsmaterialien gerecht werden und gleichzeitig für jede Technologie auch die spezifischen technischen Apparate bereithalten zu müssen. Das Bekenntnis des Schwedischen Filminstituts bringt diese Entwicklung auf den Punkt: „Today, film is made and screened digitally. Analogue film technology is on its way out. If future generations are to be able to access our Archival Film Collections, from the late 19th century to the 21st century, they must be digitized“; https:// www.filminstitutet.se/en/learn-more-about-film/our-digitization/about-digitization/ (gesehen 22.9.2019).

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Mit der Entscheidung für die digitale Sicherung hat sich diese Situation für das Bundesarchiv entscheidend verändert und vereinfacht. Der Verzicht auf die dauerhafte Archivierung eines Films auf genau dem Medium, auf dem er dem Bundesarchiv angeboten wurde, fällt umso leichter, als bereits seit einigen Jahren der Zwischenschritt zwischen dem Originalfilm und seiner Sicherung grundsätzlich digital erfolgt. Es liegt also nahe, in diesen Fällen gegebenenfalls auf die Ausbelichtung auf Film oder die Rückwandlung digitaler Signale in Videoformate zu verzichten und die Sicherung grundsätzlich auf die dauerhafte Speicherung qualitativ hochwertiger Digitalisate zu beschränken. Der Einwand, dass digitale Speichermedien wie Disketten, Bänder oder Festplatten nur von bedingter Haltbarkeit sind, ist zwar grundsätzlich berechtigt, mit der Eta­ blierung von komplexen Speicherarchitekturen allerdings wirksam entkräftet, in denen Digitalisate mehrfach redundant gesichert und im Bedarfsfall auch technisch migriert werden. Diese Technologie muss das Bundesarchiv ohnehin aufbauen, da nicht zuletzt im Bereich des Films schon seit geraumer Zeit Filme nur mehr im Ausnahmefall auf analogen Trägern und genuin digitale Filme eben fast ausschließlich auf Datenträgern angeboten werden. Für die Bereiche der Foto- und Tonaufzeichnungen gilt das in gleicher Weise; allein bei den schriftlichen Aufzeichnungen verläuft die Entwicklung nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen deutlich langsamer. Im Ergebnis wird auf mittlere Sicht für das Bundesarchiv die Notwendigkeit unterschiedlicher Aufbewahrungsmethoden und damit z. B. unterschiedlich klimatisierter Magazine entfallen; alle Filme werden einheitlich digital gesichert. Aus archivischer Sicht stellt diese Reduzierung von Überlieferungskomplexität einen wichtigen Fortschritt dar. Der Prozess der Anbietung und Übernahme gestaltet sich unter diesen Voraussetzungen deutlich einfacher – immer vorausgesetzt, die Filmproduzenten finden sich bereit, dem Bundesarchiv ihre Filme in der notwendigen technischen Qualität anzubieten.11 Schon heute werden dem Bundesarchiv unterschiedlichste digitale Datenträger zur Verfügung gestellt, die nach der Übernahme der Filme in das digitale Archiv des Bundesarchivs den Anbietern zurückgegeben werden; für die anbietenden Personen, Institutionen oder Firmen, die in der Vergangenheit immer über die mit der Anbietung von Filmen auf analogen Trägern verbundenen Kosten geklagt haben, übrigens ein wesentlicher Aspekt. Während genuin digital produzierte und angebotene Filme im Bundesarchiv ‚einfach nur‘ im digitalen Archiv in ihrer von den Urhebern intendierten Form gesichert werden müssen, stellt sich die Situation bei den zum Teil schon seit Jahrzehnten im Bundesarchiv verwahrten und bislang noch nicht gesicherten Filmen durchaus differenzierter dar. Mit der Sicherung auf analogem Film war bislang immer auch der Zwang verbunden, eine vorführfähige Fassung herzustellen, indem das vorhandene Material gesichtet, bewertet und zu einem Film ‚montiert‘ wurde. Dabei mussten gegebenen Die Bereitschaft der abgabepflichtigen Regisseure und Produzenten, dem Bundesarchiv hochwertige Kopien ihrer Filme zu überlassen, war in den vergangenen Jahrzehnten sehr unterschiedlich ausgeprägt und führte bisweilen zu – nicht selten ergebnislosen – Diskussionen über einzuhaltende Mindestqualitäten. Dies hing nicht zuletzt mit den damit verbundenen hohen Kosten für einen analogen Film zusammen. Das Bundesarchiv nährt die Hoffnung, dass sich dieses Problem mit der Verwendung digitaler Träger, die nach der Übernahme zurückgegeben werden, zumindest reduziert.

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falls nicht nur inhaltliche Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl und Reihung von Szenen getroffen werden, sondern es mussten vor der Ausbelichtung Schäden behoben und in der Regel auch Farbe und Ton des Films technisch bearbeitet werden, damit das Ergebnis eine für die Vorführung geeignete Qualität besaß. Gleichzeitig trat dieses Ergebnis vielfältiger Entscheidungen quasi das Erbe aller im Bundesarchiv vorhandenen Materialien zu diesem Film an. Die Ausgangsmaterialien spielten fortan in der Regel keine Rolle mehr; sie wurden unter Inkaufnahme des damit verbundenen Verlusts nicht in die weiteren Sicherungsmaßnahmen einbezogen und somit sich selbst, d. h. dem Materialzerfall überlassen. Mit dem Übergang zur digitalen Archivierung wird das Bundesarchiv auch hier sein Vorgehen verändern. Künftig werden alle relevanten12 Materialien, also auch Varianten und Schnittreste, digitalisiert und über die Herstellung einer vorführbaren Fassung hinaus gesichert – eine wesentliche Voraussetzung für den ‚philological turn‘ in der Filmarchivierung. Auch in Bezug auf die Benutzung von filmischem Archivgut bietet die Digitalisierung erhebliche Vorteile. Dass eine im Übrigen ohne Qualitätsverluste hergestellte digitale Kopie wesentlich leichter ‚verliehen‘ und vorgeführt werden kann, bedarf längst keiner ausführlichen Begründung mehr. Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle nur der Umstand, dass mit der Bereitstellung – sei es zur Nutzung am ‚digitalen Schneidetisch‘ im Archiv oder zur Vorführung im Kino – kein Materialverschleiß mehr verbunden sein wird. Archivierung von Film im Bundesarchiv heißt also zusammenfassend, dass künftig alle relevanten Ausgangsmaterialien in unbearbeiteter Form in den Magazinen so lange aufbewahrt werden, wie die Chemie der analogen Materialien dies zulässt; zerfallende und zerfallene Filme werden selbstverständlich kassiert. Die Sicherung und Bearbeitung sowie die Bereitstellung für die Sichtung und Vorführung werden künftig grundsätzlich digital erfolgen; Ausbelichtungen auf analoges Filmmaterial werden in Zukunft eine seltene und hinsichtlich der damit verbundenen Aufwände und Kosten besonders zu begründende Ausnahme darstellen. Ein wesentlicher Unterschied zur bisherigen Praxis wird aber vor allem darin bestehen, dass nicht mehr jeder Film, der digital gesichert wird, im Bundesarchiv den Prozess bis hin zur Herstellung einer vorführfähigen Fassung durchlaufen wird. Vielmehr wird die hochauflösende und unkomprimierte Digitalisierung aller relevanten Materialien in der Regel auch schon den Endpunkt der archivischen Sicherung darstellen. Zwar müssen auch künftig die Ausgangsmaterialien für die Digitalisierung zum Teil aufwendig und personalintensiv vorbereitet werden, mit der Auswahl und der technischen Bearbeitung der Materialien entfallen aber nicht weniger personalintensive Arbeitsschritte; die somit frei werdenden Kapazitäten wird das Bundesarchiv in die bedeutende Erhöhung der Zahl der gesicherten Filme investieren. Grundsätzlich wird es zukünftig den Nutzern des Bundesarchivs obliegen, auf der Grundlage der durch das Bundesarchiv gesicherten digitalen Materialien vorführfähige Fassungen zu erstellen oder durch externe Dienstleister erstellen zu lassen. Das Als ‚relevant‘ sollen dabei alle Materialien angesehen werden, die nicht allein Kopien anderer Materialien sind.

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Bundesarchiv wird selbst nur noch dann vorführfähige Fassungen erarbeiten, wenn es sich selbst an der Herausgabe kritisch edierter Filme beteiligt, sei es als Ausfluss seines eigenen gesetzlichen Auftrags zur Zugänglichmachung von Archivgut etwa im Bereich von Wochenschauen13 oder sei es als Kooperationspartner im Rahmen von mit anderen Institutionen gemeinsam verantworteten historisch-kritischen Filmeditionen. In jedem Fall wird das Bundesarchiv sich auf die Digitalisierung, Bearbeitung und Herausgabe seiner eigenen Bestände beschränken; Editionen, bei denen Materialien aus verschiedenen Archiven einbezogen werden sollen, gehören künftig nicht mehr zu den vom Bundesarchiv zu erbringenden Leistungen.14 Soweit die Rechtesituation dies zulässt, wird das Bundesarchiv diese Filme auch online zugänglich machen. Gemessen an der bisherigen Praxis kann dies als Reduzierung der gewohnten Dienstleistungen des Bundesarchivs interpretiert werden. Das Bundesarchiv strebt allerdings mit der Verbreiterung der archivalischen Materialbasis letztlich das genaue Gegenteil an. Dabei wird der Vorteil nicht nur darin bestehen, dass unter dem Strich viel mehr Filme wieder zur Vorführung gebracht werden können und sollen, sondern auch die Qualität der Vorführfassungen wird letztlich gesteigert. Um dies zu verdeutlichen, sei ein kurzer Exkurs in die Überlieferung und Archivierung von Literatur eingeschoben. In einem seiner schönsten Gedichte beschreibt Conrad Ferdinand Meyer 1882 unter dem Titel Der römische Brunnen einen Brunnen im Garten der Villa Borghese in Rom, der ihn bei seinem Rom-Besuch im Jahre 1858 ganz offensichtlich nachhaltig beeindruckt hat: Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht.15

Bei der zitierten und in Lesebüchern und Anthologien vielfach abgedruckten Fassung aus dem Jahr 1882 handelt es sich allerdings um die siebte Fassung. Seit der ersten Fassung aus dem Jahr 1860 hat Meyer den Text immer weiter verdichtet und am Ende ein lyrisches Meisterwerk geschaffen. Der Nachvollzug der Entstehungsgeschichte gibt § 3 Abs. 1 BArchG lautet: „Das Bundesarchiv hat die Aufgabe, das Archivgut des Bundes auf Dauer zu sichern, nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten. Es gewährleistet den Zugang zum Archivgut des Bundes unter Wahrung des Schutzes privater oder öffentlicher Belange. Dies kann auch durch Digitalisierung und öffentliche Zugänglichmachung im Internet geschehen“; Gesetz über die Nutzung und Sicherung von Archivgut des Bundes, Bundesarchivgesetz (BArchG) vom 10.  März 2017, BGBl. I, S. 410. 14 Im Gegensatz zum Bundesarchiv steht diese Option allerdings filmwissenschaftlichen und kinemathekarischen Einrichtungen durchaus offen. 15 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 1: Text. Hrsg. von Hans Zeller. 2. Aufl. Bern 1997 (zuerst 1963), S. 170; s. auch Apparat und Kommentar in ebd., Bd. 3: Apparat zu den Abteilungen III und IV. Hrsg. von Hans Zeller. 2. Aufl. Bern 1997 (zuerst 1967), S. 242–256. 13

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einen intensiven Eindruck in einen mehr als 20-jährigen Gestaltungsprozess, dessen einzelne Etappen jeweils für sich ein Werk repräsentieren, das im von der Zentralbibliothek Zürich verwahrten Nachlass selbstverständlich archiviert wird, obwohl und gerade weil auch in Zukunft nur die letzte Fassung abgedruckt und vorgetragen werden wird.16 Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Überlieferungssituation vieler Filme mit den genannten Literaturbeispielen durchaus vergleichbar ist. Viele Regisseure haben ihre Werke – so wie Conrad Ferdinand Meyer sein Gedicht – im Laufe der Jahre selbst und zum Teil mehrfach neu gefasst. Und für viele Filme ist die Überlieferungssituation – wie bei Nibelungenlied und Process – aus sehr unterschiedlichen Gründen derart gestört, dass selbst die in ein und demselben Archiv verwahrten Materialien eine intensive Sichtung und Bewertung erfordern, um am Ende zu einer vorführbaren Fassung zu gelangen. Der Übergang zur digitalen Archivierung auch von Filmen eröffnet in Bezug auf eine philologischen Ansprüchen gerecht werdende Filmkonstitution wichtige Optionen. Bislang wurde im Zuge der Filmsicherung in der Regel aus den vorliegenden Materialien ein im Grunde neuer Film montiert und anschließend als eine Art Pseudo­ original archiviert, während die Ausgangsmaterialien den Gesetzen der Natur folgend weiter zerfallen. Eine Sicherung von bei der Konstitution des ‚Archiv-Films‘ nicht verwandten Materialien fand in der Regel nicht statt. Auch wenn der Auswahl- und Bearbeitungsprozess durch das Bundesarchiv dokumentiert und somit transparent gehalten wurde, reversibel war er nicht. Die einzige Option bestand darin, die Ausgangsmaterialien in einem weiteren Sichtungs- und Bearbeitungsprozess erneut zu einem anderen Ergebnis zu kombinieren, das aber für sich ebenfalls wieder nicht reversibel war. Hier schafft die digitale Archivierung Abhilfe, weil künftig alle relevanten Materialien digitalisiert und unbearbeitet gesichert werden, so dass sowohl der Prozess der Auswahl als auch der der technischen Bearbeitung jederzeit revidiert werden können. Erstmals können damit die Anforderungen der historisch-kritischen Methode auch im Bereich der Filmarchivierung und Filmedition uneingeschränkt zur Geltung kommen. Das entspricht auch der inneren Logik des Archivs, dessen Aufgabe eigentlich darin besteht, Überlieferungen zu sichern und nicht selbst zu konstituieren. Mit der archivischen Konstitution von ‚Archiv-Filmen‘ hat das Bundesarchiv eine Verantwortung für die Überlieferungsbildung übernommen, die eigentlich nicht in seine Kompetenz fällt. Dagegen ist es sehr wohl seine Aufgabe, der Filmwissenschaft und den Kinematheken möglichst viel Material auf gesicherter Basis zur Verfügung zu stellen. Vergleichbar etwa dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach wird das Bundesarchiv sich künftig auf die Übernahme von Filmen in seinem Zuständigkeitsbereich17 Das Beispiel ist nur eines von vielen literarischen Werken, deren moderne Druckveröffentlichungen das Ergebnis wissenschaftlich verantworteter Textkritik sind. Stellvertretend sollen hier das in 34 vollständigen oder fragmentarischen Handschriften überlieferte Nibelungenlied oder der Roman Der Process von Franz Kafka genannt werden, bei dem die Literaturwissenschaft zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Kapitelreihenfolge gelangt ist. 17 Zum Überlieferungsprofil des Bundesarchivs im Bereich Film siehe Hollmann 2016 (Anm. 5), S. 9 f.: Die Film-Bestände des Bundesarchivs stammen überwiegend aus folgenden 3 Bereichen: 1. Filme, die von 16

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und deren archivische Sicherung konzentrieren. Wie das Literaturarchiv wird es sich gegebenenfalls an der Edition von Filmen z. B. im Rahmen von thematischen Projekten von der Edition einzelner herausragender Filmwerke bis hin zur Herausgabe ganzer Œuvres beteiligen; in der Regel wird diese Aufgabe aber externen Partnern zufallen, die im Rahmen ihrer filmwissenschaftlichen oder kinemathekarischen Arbeit Filme aus den Beständen des Bundesarchivs vorführbar machen und selbst vorführen oder edieren wollen.18 Die Aufgabe des Bundesarchivs wird im Wesentlichen darin bestehen, die Materialien in digitaler Form zur Verfügung zu stellen.

anbietungspflichtigen Stellen des Bundes produziert wurden und somit unter die anbietungspflichtigen Unterlagen fallen, 2. Filme aus dem Besitz des früheren Deutschen Reichs und der DDR, die in den Besitz des Bundes übergegangen sind, 3. Filme, die aufgrund § 21 Filmfördergesetz als Belegstück angeboten werden müssen. Darüber hinaus übernimmt das Bundesarchiv Filme von Privatpersonen auf der Grundlage privatrechtlicher Vereinbarungen, wenn diese Werke von Bedeutung für die nationale Filmgeschichte sind. 18 Die Idee der historisch-kritischen Filmedition ist nicht neu. Siehe dazu Natascha Drubek-Meyer, Nikolai Izvolov: Textkritische Editionen von Filmen auf DVD. Ein Diskussionsbeitrag. In: montage/av 16, 2007, H. 1, S. 183–199, und Ursula von Keitz: Historisch-kritische Filmedition – ein interdisziplinäres Szenario. In: editio 27, 2013, S. 15–37.

Anna Bohn

Werk-Netze Berlin Alexanderplatz Perspektiven der Vernetzung mit Normdaten und Identifikatoren beim Online-Zugang zu Filmen

1 . Einleitung 2020 feierte der unter Regie von Burhan Qurbani gedrehte Spielfilm Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin seine Uraufführung. Der Film ist eine moderne freie Adaption des Romans von Alfred Döblin und verlegt die Geschichte in das zeitgenössische Berlin. Das Drehbuch zum Film schrieb Burhan Qurbani gemeinsam mit Martin Behnke. Die Hauptfigur des Romans, Franz Biberkopf, heißt im Film Francis (dargestellt von Welket Bungué): ein Flüchtling aus Guinea-Bissau, der nach seiner Flucht von Afrika nach Europa in Berlin ein ehrliches Leben führen will, jedoch in die Fänge eines Drogenhändlers gerät. Die Neuverfilmung Berlin Alexanderplatz von 2020 ist die (bis dato) dritte filmische Adaption des Romans. Die Tatsache, dass Verfilmungen sich einer literarischen Vorlage bedienen, gibt aus der Perspektive der vorwiegend mit dem gedruckten Werk befassten Editionswissenschaft Anlass, den selbständigen Werk-Charakter der mit einem Medienwechsel verbundenen Adaptionen literarischer Werke wie Literaturverfilmungen oder Hörspiele infrage zu stellen.1 Die von einer Hegemonie des literarischen Werks ausgehende Konzeption eines Werks ist auch in den von Traditionen des Printmediums geprägten Bibliothekswissenschaften verbreitet. In bibliografischen Regelwerken zeigt sich dies u. a. in der Dominanz literarischer Autorschaft bei der Bestimmung eines Werkes und der Tatsache, dass die Mindeststandards der Erschließung primär an Erfordernissen schrifttextlicher Werke ausgerichtet sind. So werden etwa bei den in kollektiver Urheberschaft geschaffenen Film-Werken die maßgeblich bei der Schöpfung eines Werks Mitwirkenden der Funktionen ‚Produktion‘ oder ‚Regie‘ im Unterschied zu den als ‚geistige Schöpfer‘ bezeichneten Verfasser/innen eines schrifttextlichen Werks nicht als Kernelemente der Erschließung begriffen und zählen daher nicht zum Mindeststandard der Erfassung.2 Rüdiger Nutt-Kofoth: Plurimedialität, Intermedialität, Transmedialität. Theoretische, methodische und praktische Implikationen einer Text-Ton-Film-Edition von Alfred Döblins Berlin-Alexanderplatz-Werkkomplex (1929–1931). In: Aufführung und Edition. Hrsg. von Thomas Betzwieser und Markus Schneider. Berlin, Boston 2019 (Beihefte zu editio. 46), S. 183–194, hier S. 184: „Ist das aus dem Buch hergeleitete Hörspiel noch Teil desselben Werks oder ein eigenes anderes Werk? Und die gleiche Frage gilt für die Verfilmung des Buches.“ 2 Siehe die Erfassungshilfe EH 04 für Werknormdatensätze für einen Film, eine Hörfunk- oder Fernsehsendung in der Gemeinsamen Normdatei GND vom Stand 3.12.2020: „Filme und Fernsehsendungen gehören zu den gemeinschaftlichen Werken nach RDA 6.27.1.3. Für diese wird der normierte Sucheinstieg, der das Werk repräsentiert, im Regelfall dadurch gebildet, dass zum bevorzugten Titel des Werks der normierte Sucheinstieg für den hauptverantwortlichen bzw. erstgenannten geistigen Schöpfer hinzutritt. Filme und Fernsehsendungen sind hier allerdings unter dem Stichwort ‚Bewegtbildwerke‘ als Ausnah1

https://doi.org/10.1515/9783110684605-008

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Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass die in den Anwendungsrichtlinien des bibliothekarischen Regelwerks Resource Description and Access (RDA) für Deutschland, Österreich und die Schweiz getroffenen Festlegungen, Filme hätten keinen geistigen Schöpfer, nicht nur in Spannung zum Urheberrecht stehen, „sondern auch in Widerspruch zu den Konventionen filmografischer Verzeichnung und zur Notwendigkeit, minimale Angaben zur Erschließung von Filmwerken zu erfassen, die eine eindeutige Identifizierung von Werken im Rahmen eines automatisierten Datenaustauschs“ ermöglichen.3 Filme werden darüber hinaus in bibliothekarischen Regelwerken häufig ex negativo bestimmt als Abweichung vom Standard Buch bzw. Text als ‚Sondermaterialien‘ oder ‚Nichtbuchmaterialien‘ (NonBook Materials) oder ‚nicht-textuelle Materialien‘.4 Die folgende Darstellung geht von informationswissenschaftlichen Grundlagen aus, in denen das Konzept ‚Werk‘ als Entität im Kontext eines Entity-Relationship-Modells semantischer Datenmodellierung definiert ist und unterschiedliche Arten von Werken – textuelle, auditive oder audiovisuelle – als gleichwertige Entitäten betrachtet werden. Grundsätzlich gilt, dass der als Adaption eines literarischen Werks bezeichnete Medienwechsel vom Roman zum Film automatisch ein neues Werk erschafft. Klaus Kanzog stellte im Hinblick auf die Rekonstruktion von Filmen „Regeln für die Konstituierung eines Werkes“ auch mit Blick auf die „neuen Medien“ auf und formulierte am Beispiel von Theodor Fontanes Roman Effi Briest und den verschiedenen Verfilmungen die Regel: „Unterschiedliche Medien übermitteln jeweils eigene Werke, auch wenn diese Werke den gleichen Titel tragen. / Fontanes ‚Effi Briest‘ und die vier Verfilmungen des Romans sind also fünf Werke in zwei deutlich voneinander zu unterscheidenden Medien.“5 Auch Martha Yee weist in ihren Bestimmungen des Werks darauf hin, men genannt, insofern hier der normierte Sucheinstieg i. d. R. nur aus dem bevorzugten Titel, ggf. ergänzt durch sonstige identifizierende Merkmale, besteht. Hörfunksendungen werden analog behandelt. / Dabei ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass es für Filme einen geistigen Schöpfer geben kann. So ist im Anhang I die Beziehungskennzeichnung ‚Filmemacher‘ für einen geistigen Schöpfer auf Werkebene vorgesehen und definiert als ‚eine Person, eine Familie oder eine Körperschaft, die für die Erstellung eines unabhängigen oder privaten Films verantwortlich ist. Ein Filmemacher ist individuell verantwortlich für das Konzept und die Ausführung aller Aspekte des Films.‘ / Gemäß RDA  I 2.1 D-A-CH gilt jedoch: Die Beziehungskennzeichnung ‚Filmemacher‘ wird nur dann verwendet, wenn die Funktionen Drehbuch, Regie, Produktion, Kameraführung und Schnitt in derselben Hand liegen. Die verantwortliche Person gilt dann als geistiger Schöpfer“; EH-W-04: GND-Erfassungshilfe Filme, Hörfunk- und Fernsehsendungen. Stand 3.12.2020, Deutsche Nationalbibliothek. https://wiki.dnb.de/pages/viewpage.action? pageId=106927515 (gesehen 8.4.2021). Die bibliothekarische Beziehungskennzeichnung ‚­Filmemacher‘ trifft für die überwiegende Mehrzahl veröffentlichter Filmwerke nicht zu. Das Regelwerk bezieht sich also auf einen sehr eng begrenzten Sonderfall und zeigt hierin deutliche Anleihen an eine aus schrifttextlichen Traditionen stammende Vorstellung eines alleinigen geistigen Schöpfers. Die Erfassung der für ein Filmwerk maßgeblichen Funktion ‚Regie‘ ist für die überwiegende Mehrzahl der Werke daher nicht verpflichtend, sondern wird lediglich empfohlen, während die für die Filmherstellung maßgebliche Funktion ‚Produktion‘ weder verpflichtend zu erfassen ist noch empfohlen wird. 3 Anna Bohn: Agent 007 im Visier von RDA und FRBR. Perspektiven internationaler Standardisierung für das Katalogisieren von Filmen. In: Strategien für die Bibliothek als Ort. Festschrift für Petra Hauke. Hrsg. von Konrad Umlauf, Klaus Ulrich Werner, Andrea Kaufmann. Berlin, Boston 2017, S. 317–340, DOI: https://doi.org/10.1515/9783110481037-021. 4 Siehe z. B. Deutsche Nationalbibliothek: Regeln für die alphabetische Katalogisierung von Nichtbuchmaterialien RAK-NBM. Leipzig u. a. 2008. – Jean Weihs with Shirley Lewis: Nonbook Materials. The Or­ ganization of Integrated Collections. Third Edition. Ottawa/Ontario 1989. 5 Klaus Kanzog: Strukturierung und Umstrukturierung in der Textgenese: Versuche, Regeln für die Konstituierung eines Werkes zu finden. In: Zu Werk und Text: Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried

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dass Adaptionen eines Werks in einem neuen Medium ein neues Werk generieren.6 An anderer Stelle erläutert Yee, dass Bewegtbildwerke (Moving Image Works) keine textuellen Werke oder Musikwerke sind und die Transformation eines textuellen Werks oder Musikwerks in ein visuelles Werk notwendigerweise ein neues Werk erschafft.7 Die Verfilmungen nach literarischen Vorlagen sind selbständige intellektuelle oder künstlerische Schöpfungen; somit sind sie gemäß bibliografischen Klassifizierungsmodellen wie den Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR) als eigene Werke zu bestimmen. Im Rahmen semantischer Datenmodellierung gemäß konzeptioneller Entity-Relationship-Modelle wie z. B. IFLA Library Reference Model 8 sind Filmwerke als Entität ‚Werk‘ zu betrachten und müssen als solche eindeutig identifizierbar sein.9 Die Entität ‚Film-Werk‘ als Nukleus eines Wissensnetzwerks im Kontext des Online-Zugangs zu Filmen steht im Folgenden im Fokus der Betrachtung. Die Begrifflichkeit von Netzwerk und Werk-Netz lehnt sich an die soziologische Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) an.10 Laut Bruno Latour und der ANT besitzt die soziale Landschaft eine flache ‚netzwerkförmige‘ Topografie. Mit der Netzwerkmetapher beschreibt Latour die Gesellschaft als Zirkulationsnetz: „Die Gesellschaft ist nicht das Ganze, ‚in dem‘ alles andere eingebettet ist, sondern das, was ‚durch‘ alles zirkuliert, was Verbindungen kalibriert und jeder Entität, die sie erreicht, eine Möglichkeit der Kommensurabilität anbietet.“11 Das Konzept des Netzwerks und Werk-Netzes übertrage ich auf das Film-Werk, welches unter den Bedingungen des Online-Zugangs auf Abruf zirkuliert. Zunächst soll die Ausgangssituation dargestellt werden: Einführend wird der Netzwerk-Charakter des Films in den Aspekten Genese, Aufführung und Überlieferung schlaglichtartig beleuchtet und daran anschließend die sich rasant verändernde Marktent-



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Scheibe und Christel Laufer (Redaktion). Berlin 1991, S. 87–97, hier S. 87. Siehe dazu auch Bohn 2016 (Anm. 3), S. 323. Zur Relevanz des Konzepts Werk für den Film s. Anna Bohn: Denkmal Film. Bd. 1: Der Film als Kulturerbe. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 43–46. Mittlerweile gibt es fünf filmische Adaptionen des Romans. Martha Yee: What Is a Work? In: The Principles and Future of AACR. Proceedings of the International Conference on the Principles of Future Development of AACR. Toronto, Ontario, Canada, October 23–25, 1997. Hrsg. von Jean Weish. Ottawa, Chicago 1998, S. 62–104, hier S. 83: „Do not consider two items to be the same work if the particular way in which the intellectual or artistic activity is expressed has changed in order to adapt it to a new medium of expression. Examples would be the novelization of a film, the dramatization of a novel, an etching based on a painting, or a free transcription of a musical work.“ Martha Yee: FRBR and Moving Image Materials: Content (Work and Expression) versus Carrier (Man­ ifestation). In: FRBR and Moving Image Materials: What It Is and How It Will Affect Our Retrieval Tools. Hrsg. Arlene G. Taylor. Westport/Conn. 2007, S. 117–129, hier S. 119, https://escholarship.org/uc/ item/60t54503 (gesehen 17.3.2021): „I have argued elsewhere that moving image works are essentially visual works, not textual or musical works, and that the transformation of a textual or musical work into a visual work necessarily creates a new work.“ IFLA LRM: International Federation of Library Associations and Institutions: IFLA Library Reference Model. A Conceptual Model for Bibliographic Information. Pat Riva, Patrick Le Boeuf, and Maja Žumer. August 2017 Revised after world-wide review. Endorsed by the IFLA Professional Committee. As amended and corrected through December 2017, https://www.ifla.org/publications/node/11412?og=54 (gesehen 14.3.2021). Krisztian Balog: Entity-Oriented Search. Cham 2018 (The Information Retrieval Series. 39), S. 4, https:// doi.org/10.1007/978-3-319-93935-3 (gesehen 29. März 2021): „Entities need to be uniquely identifiable.“ Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. 5. Aufl. Frankfurt/Main 2019, S. 229 und 416. Latour 2019 (Anm. 10), S. 415. Siehe auch Anm. 8.

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wicklung im Zeichen des Online-Zugangs zu Filmen skizziert. Ausgehend hiervon soll die Bedeutung der Normdaten und Identifikatoren am Beispiel der Verfilmungen des Romans Berlin Alexanderplatz dargelegt werden. Im nächsten Schritt sollen Empfehlungen für die Verwendung von Normdaten und Identifikatoren für den Zugang zu Filmen und die multimediale Edition gegeben und Perspektiven für den Datenaustausch mit anderen audiovisuellen Communities aufgezeigt werden. Das Potential der Vernetzung mit Identifikatoren veranschaulicht die Vision Berlin Alexanderplatz im Ausblick. Werke des Films sind Knotenpunkte dieses Wissensnetzwerks, in welchem Akteure – Personen und Organisationen – miteinander und mit dem Filmwerk in Beziehung stehen. Im Unterschied zu literarischen Werken sind Filmwerke in der überwiegenden Mehrzahl kollektive Schöpfungen, bei deren Entstehung eine Vielzahl von Akteuren mitwirkt und dabei unterschiedliche Funktionen im Schaffensprozess ausübt wie Regie, Drehbuch, literarische Vorlage, Kamera, Produktion, Schauspiel, Musik oder Schnitt, um nur einige herausragende Funktionen aus der Fülle von Stabangaben (‚Credits‘) von Filmen zu nennen. Auch Organisationen, Ereignisse und Orte sind als Entitäten Teil des Wissensnetzwerks zu einem Filmwerk und stehen mit diesem in Beziehung. Der Beitrag untersucht, welche Anforderungen sich für die wissenschaftlich fundierte Film­ edition aus der Online-Zugänglichmachung von Filmen ergeben. Im Folgenden soll dies auf einen wesentlichen Punkt reduziert dargestellt werden, nämlich auf den Einsatz von Identifikatoren und Normdaten zu Filmwerken. These ist, dass Normdaten und Identifikatoren für Filmwerke für den Online-Zugang zu Filmen im Video-Stream und damit auch für neue Formen der kritischen Filmedition eine wesentliche Rolle spielen. Im Folgenden sei dies exemplarisch anhand der Verfilmungen des Romans Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin aus den Jahren 1931, 1980 und 2020 verdeutlicht. Der Großstadtroman Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf von Alfred Döblin erschien im Oktober 1929 im S. Fischer Verlag in Berlin. Der Roman nahm bereits in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen eine Ausnahmestellung als „multimedial vermarkteter Weltbestseller“12 ein und markiert das Zentrum eines Werk-Netzes, das Rüdiger Nutt-Kofoth unter Bezugnahme auf Harro Segeberg13 und – aus der Perspektive der Autorschaft Döblins betrachtet – als einen „pluri- oder mehrmedialen Werkkomplex[ ]“14 beschrieben hat. Die früheste filmische Adaption des Romans Berlin Alexanderplatz kam unter der Regie von Phil Jutzi und produziert von der Allianz-Tonfilm G.m.b.H. bereits 1931 in die Kinos. Alfred Döblin ist gemeinsam mit Hans Wilhelm Autor des Manuskripts zum Film, das den Titel Berlin – Alexander­ platz. Ein Film nach dem Roman von Alfred Döblin 15 trägt. Döblin hatte 1930 auch Walter Filz: Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ erscheint. Sendung: 7.2.2019, Sendereihe: SWR Zeitwort, https://www.ardaudiothek.de/zeitwort/07-02-1929-alfred-doeblins-roman-berlin-alexanderplatz-erscheint/60018250 (gesehen 18.3.2021). 13 Harro Segeberg: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914. Darmstadt 2003, S. 85. 14 Nutt-Kofoth 2019 (Anm. 1), S. 184; Zitat im Original kursiv. 15 Berlin Alexanderplatz. Drehbuch von Alfred Döblin und Hans Wilhelm zu Phil Jutzis Film von 1931. Mit einem einführenden Essay von Fritz Rudolf Fries und Materialien zum Film von Yvonne Rebhahn. München 1996 (FILMtext. Drehbücher klassischer deutscher Filme. 3); Eggo Müller: Adaption als Medienreflexion. Das Drehbuch zu Phil Jutzis Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin und Hans Wilhelm. In: Das Drehbuch. Geschichte, Theorie, Praxis. Hrsg. von Alexander Schwarz. München 1992 (diskurs film. 5), S. 91–115, hier S. 98. 12

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bereits an der Funkfassung Die Geschichte vom Franz Biberkopf mitgewirkt, die von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft m.b.H. produziert wurde und ursprünglich für den 30. September 1930 zur Sendung in der Funk-Stunde vorgesehen war, dann aber u. a. unter politischem Druck kurzfristig abgesetzt wurde.16 Das Hörspiel wurde 1930, als ‚Versuchsaufnahme‘ gekennzeichnet, auf Wachsplatten aufgezeichnet und ist auf Schellackplatten überliefert. Es wurde erstmals 1957 im RIAS Berlin gesendet, versehen mit einer zweieinhalbminütigen Einführung Über die Produktion von Hörspielen in den 30er Jahren, gesprochen von Lore Braun, die 1930 in der Rolle der Eva am Hörspiel mitgewirkt hatte.17 Das Hörspiel ist in digitalisierter Form unter dem Titel Döblin, Alfred – Die Geschichte vom Franz Biberkopf – RRG, 1930 aktuell auf Soundcloud abrufbar.18 Die ARD-Hörspieldatenbank und die Archive der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verzeichnen zudem ab 1958 mehrere weitere Hörspiele, die auf dem Roman Berlin Alexanderplatz basieren: eine Produktion des Hessischen Rundfunks von 1958 (Regie: Fränze Roloff, Walter Richter in der Rolle des Franz Biberkopf), eine Produktion des Sender Freies Berlin mit dem Norddeutschen Rundfunk von 1962 (Regie: Hans Lietzau; Günter Pfitzmann spricht den Franz Biberkopf), eine Neuinszenierung vom 11. August 1963 im Berliner Rundfunk der DDR (Regie: Hans Krötzsch, mit Willi Narloch als Franz Biberkopf) sowie eine Neuinszenierung von 2007, produziert vom RBB in Kooperation mit dem SWR und dem Verlag Patmos BR (Regie: Kai Grehn; mit Andreas Leupold in der Rolle des Franz Biberkopf).19 Die erste Hörspiel-Produktion der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft m.b.H. (RGG) von 1930 ragt aus der Reihe späterer nach der literarischen Vorlage Döblins geschaffener Hörspiele insofern heraus, als Döblin selbst 1930 an der Produktion mitwirkte, bei der Heinrich George in der Rolle des Franz Biberkopf zu hören ist. Auch für die Verfilmung 1931 besetzte Regisseur Phil Jutzi die Hauptrolle mit Heinrich George; die Dialog-Regie oblag Karlheinz Martin. Jahrzehnte später griff Rainer Werner Fassbinder den Stoff des Romans für seine Fernsehverfilmung auf, die als 14-teiliger Mehrteiler vom 12. Oktober bis 29. Dezember 1980 im WDR erstmals ausgestrahlt wurde. Günter Lamprecht spielte die Hauptrolle des Franz Biberkopf. Rainer Werner Fassbinder führte nicht nur Regie, sondern Alfred Döblin: Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hörspiel. In: Ders.: Drama, Hörspiel, Film. München 1988 (Werkausgabe in Einzelbänden) [textidentisch mit der Ausgabe Olten 1983], S. 273–317; Peter Jelavich: Berlin Alexanderplatz. Radio, Film, and the Death of Weimar Culture. Berkeley, Los Angeles, London 2006 (Weimar and Now: German Cultural Criticism. 37), S. 119, verweist auf den am 1.10.1930 in Der Nationalsozialist erschienenen Artikel Grober Unfug im Rundfunk und zitiert aus den im Bundesarchiv überlieferten Archivdokumenten des Überwachungsausschusses der Funkstunde Berlin vom 1.  Oktober 1930, in denen von „Angstpsychose“ und Diskretion „bei der gegenwärtigen ungeklärten politischen Lage“ die Rede ist. Jelavich folgert, die Absetzung des Hörspiels sei indirekt eine Reaktion auf den nationalsozialistischen Wahlerfolg bei der Reichstagswahl am 14. September 1930: „Ironically, the Nazis were unaware that they already had scored a success the previous evening, since the political panic resulting from their electoral gains – the ‚fear psychosis‘ evidenced by the reactions to Ebermeyer’s radio play – had induced the Radio Hour to cancel the broadcast of Döblin’s work. The Story of Franz Biberkopf was thus, indirectly and unbeknownst to them, the Nazis’ first victim on the airwaves.“ 17 Über die Produktion von Hörspielen in den 30er Jahren. Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt. Archiv­ nummer 2884510. Dauer: 2’38. Rednerin: Lore Braun. Aufnahmedatum: 19057. Produzent: RIAS Berlin. 18 Berlin Alexanderplatz. Hörspiel produziert von der Reich-Rundfunk-Gesellschaft (1930) auf Soundcloud, https://soundcloud.com/onny-1-1/d-blin-alfred-die-geschichte (gesehen 6.4.2021). 19 Zu den Ursendungen s. Döblin 1988 (Anm. 16), S. 559, und ARD-Hörspieldatenbank, Berlin Alexanderplatz, https://hoerspiele.dra.de/kurzinfo.php?seite=1&key=esd&sort=desc&SID (gesehen 15.2.2021). 16

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schrieb auch das Drehbuch, das er 1980 in einem Arbeitsjournal zum Film publizierte. Fassbinder bemerkte dazu in seinem einführenden Text Die Städte des Menschen und seine Seele: „Buch und Film haben nichts zu tun miteinander. Jedes, auch der Film von Jutzi, gewiß, sind voneinander unabhängig eigene Kunst.“ 20 Die Verfilmungen begründen als filmische Adaptionen eines literarischen Werks durch den Medienwechsel wiederum für sich gesehen eigenständige Werke und werden damit Teil eines Berlin-Alexanderplatz-Werk-Netzes, ebenso wie die Hörspiele. Rüdiger Nutt-Kofoth spricht im Hinblick auf die Adaptionen von Berlin Alexanderplatz von einem Werkkomplex und weist auf Unterschiede zur Edition literarischer Werke hin: „Die Leitkategorie ‚Autor‘ als Grenze der Edition würde ganz oder teilweise ersetzt werden durch diejenige des ‚Werks‘. Letztere wiederum würde medienübergreifend zu fassen sein und sich als plurimedialer Werkkomplex generieren.“ 21 Ein grundlegender editorisch-konzeptioneller Unterschied der Filmedition im Vergleich zur Textedition besteht in der Tat in der Ablösung der Leitkategorie ‚Autor/in‘ bzw. ‚geistige/r Schöpfer/in‘ zugunsten des ‚Werks‘, das beim Film – im Gegensatz zum literarischen Werk – in der Regel in kollektiver Urheberschaft entsteht. Somit ist auch das Konzept der Autorisation in Bezug auf die Filmedition komplexer als in der textorientierten Editionswissenschaft.22 An die Stelle der Autorisation durch die (meist alleinige) Urheberschaft beim literarischen Werk tritt die juristische Autorisation beim Film-Werk. In der Herstellung und Verwertung von Filmen wird die rechtliche Grundlage der Autorisation in der Regel vertraglich fixiert. So ist z. B. das Recht, die finale Gestalt des Films (Endschnitt) zu autorisieren, dem beim Film herausragende Bedeutung zukommt, von der Vertragsgestaltung abhängig; es kann bei dem bzw. der Regisseur/in oder bei dem bzw. der Produzent/in liegen. Nach traditioneller Rechtsprechung steht das Urheberrecht am Filmwerk dem bzw. der Regisseur/in zu. Es können aber auch andere maßgeblich Mitwirkende einer Filmproduktion unter Umständen als Miturheber/innen gelten, wie z. B. die Gewerke Kamera, Filmmusik, Ton, Filmschnitt oder Produktion.23 Die Urheber/innen eines Filmwerks können ihre Rechte durch Vertrag an Dritte übertragen. Beim Film ist daher die juristische Autorisation von der Autorisation durch die Urheberschaft zu unterscheiden. Die Tatsache, dass Filme in der Regel in kollektiver Urheberschaft unter Mitwirkung einer Vielzahl von Gewerken geschaffen werden, verdeutlicht die zentrale Bedeutung der Entität ‚Werk‘ als Knotenpunkt eines schöpferischen Netzwerks in der Filmedition. Auf der Ebene des Werks stehen die (bislang) drei filmischen Adaptionen des Romans Berlin Alexanderplatz als selbständige, voneinander unterschiedliche Werke miteinander in Beziehung, da sie auf derselben literarischen Vorlage basieren. Die Verfilmung von 1931 nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als Alfred Döblin nicht nur als Autor der literarischen Vorlage, sondern auch als Mitautor des Drehbuchs zum Film Rainer Werner Fassbinder: Die Städte des Menschen und seine Seele. Einige ungeordnete Gedanken zu Alfred Döblins Roman ‚BERLIN ALEXANDERPLATZ‘. In: Der Film BERLIN Alexanderplatz: ein Arbeitsjournal von Rainer Werner Fassbinder und Harry Baer. Frankfurt/Main 1980, S. 6–9, hier S. 7. 21 Nutt-Kofoth 2019 (Anm. 1), S. 185. 22 Zum Begriff der Autorisation in der Filmrestaurierung und Filmedition s. Anna Bohn: Denkmal Film. Bd. 2: Kulturlexikon Filmerbe. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 290–293. 23 Vgl. Wolfgang Brehm: Filmrecht. Das Handbuch für die Praxis. 2., überarb. Aufl. Konstanz 2008, S. 67 f. 20

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figuriert.24 Im Folgenden sei innerhalb des Werk-Netzes Berlin Alexanderplatz das einzelne Filmwerk gesondert betrachtet und das Netzwerk seiner Entstehung, Aufführung und Überlieferung skizziert.

2. Der Film im Netzwerk seiner Genese, Aufführung und Überlieferung Die Aufführungs- und Distributionsgeschichte eines Films erweitert das bei der Genese des Werks gesponnene Netzwerk handelnder Personen und Organisationen. Sie beginnt mit Ereignissen wie etwa einer (Welt-)Uraufführung auf einem Festival (Festi­ valpremiere), in dessen Kontext ein Film von der Filmkritik rezensiert und gegebenenfalls mit Preisen ausgezeichnet wird. Findet der Film einen Verleih, dann folgt der Verleihstart in den Kinos. Vor dem Verleihstart wird der Film einer Zulassungsbehörde vorgelegt, um ihn gemäß gesetzlichen Bestimmungen des Jugendschutzes für eine bestimmte Altersfreigabe zu prüfen. Die Systeme der Alterskennzeichnung sind in der Regel länderspezifisch und beziehen sich auf die zur Prüfung vorgelegte Fassung eines Werks. In Deutschland bewertet die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft die Filme und versieht sie gemäß den Bestimmungen des Jugendschutzes mit Alterskennzeichnungen. So wurde der Film Berlin Alexanderplatz (2020) von der FSK mit einer Alterskennzeichnung ‚ab 12 Jahren‘ versehen. Für die Zulassung in einem bestimmten Land oder für ein bestimmtes Zielpublikum bzw. eine Altersgruppe werden Filmwerke häufig bearbeitet und gekürzt. Die Existenz varianter Fassungen bzw. Versionen eines Werks ist daher eher die Regel als die Ausnahme. Ein Filmwerk gelangt also in varianten Fassungen zur Aufführung, darunter z. B. Inlandsfassung (domestic cut), Auslandsfassung (international cut), Director’s Cut oder Extended Cut. Diese Fassungen werden wiederum in verschiedenen Ausgaben bzw. Editionen verfügbar gemacht: Sie werden im Kino, im Video-Stream oder im Fernsehen gezeigt sowie auf Trägermedien wie DVD und Blu-ray herausgegeben. Der unter Regie von Burhan Qurbani gedrehte Spielfilm Berlin Alexanderplatz startete am 16. Juli 2020 im deutschen Verleih und war aufgrund der pandemiebedingten Schließungen nur kurzzeitig im Kino zu sehen. Ab 26. November 2020 erschien er auf DVD und Blu-ray und ist seit einiger Zeit auch als Video-Stream online abrufbar. Bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises 2020 wurde der Film fünfmal ausgezeichnet: Filmpreise in Gold erhielten Yoshi Heimrath für die beste Kamera/Bildgestaltung, Dascha Dauenhauer für die beste Filmmusik, Silke Buhr für das beste Szenenbild und Albrecht Schuch für die beste männliche Nebenrolle. Mit dem Filmpreis in Silber als Bester Spielfilm wurden die Produzenten Leif Alexis, Jochen Laube und Fabian Maubach ausgezeichnet. Für die Vermarktung des Films und für Empfehlungssysteme beim Online-Zugang per Video-Strea­ming spielen Auszeichnungen und Kritiken eine herausragende Rolle. So können z. B. Auszeichnungen in dem Beitrag zum Film in Wiki Berlin Alexanderplatz, Drehbuch 1996 (Anm. 15). Neben den filmischen Adaptionen sind darüber hinaus seit 1930 Adaptionen des Romans als Hörspiele in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gesendet bzw. archiviert worden, die wiederum für sich gesehen den Charakter eigenständiger Werke haben und auf dem Roman bzw. dem 1930 unter Mitwirkung von Döblin verfassten Manuskript zum Hörspiel und/oder späteren Drehbuch-Adaptionen basieren.

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pedia oder in der Filmdatenbank Internet Movie Database (IMDb) unter der Kategorie ‚Awards‘ abgerufen werden.25 Nominierte und/oder preisgekrönte Filme bilden beim Online-Zugang in VideoStrea­ming-Portalen häufig eigene Rubriken und dienen als Kriterien für die Auswahl von Filmen. Informationen zu Nominierungen und Preisen sind daher nicht nur für die Aufführungsgeschichte eines Werks, sondern auch für seine Vermarktung sowie für Empfehlungssysteme relevant. Bei schwieriger Überlieferungslage oder mangelhaftem Erhaltungszustand muss ein Film unter Umständen restauriert oder rekonstruiert und neu ediert werden. Ein Beispiel für die Re-Edition einer digital restaurierten Fassung in unterschiedlichen Zugangsformen – auf Trägermedien sowie im Video-Stream – ist der unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder für die Ausstrahlung im Fernsehen gedrehte Mehrteiler Berlin Alexanderplatz. Auf 16-mm-Filmmaterial in 13  Teilen und einem Epilog gedreht, wurde Berlin Alexanderplatz 2007 von der Fassbinder Foundation mit Förderung der Kulturstiftung des Bundes restauriert. Die Edition wurde auf Blu-ray und DVD ediert 26 und war 2020 zeitlich befristet in der Mediathek des Fernsehsenders ARTE im Video-Stream abrufbar.27 Im Münchener Verlag Schirmer/Mosel erschien 2007 begleitend zur restaurierten Fassung ein Bildband Berlin Alexanderplatz. Rainer Werner Fassbinder. Im Unterschied zur abgeschlossenen Form der Edition auf einem Trägermedium wie z. B. einer Filmkopie zur Vorführung im Kino oder einer optischen Disc wie DVD bzw. Blu-ray zur Sichtung im Heimkino handelt es sich bei einer Online-Edition im Internet um eine prinzipiell offene Form der Edition, die mit Informationen im Netz verknüpft und umfangreich kontextualisiert werden kann. Die Online-Edition ist von ihren Möglichkeiten der Vernetzung von Informationen und Kontexten auch dann als offene Form zu bezeichnen, wenn Maßnahmen des Digital Rights Management bzw. der Authentifizierung den Zugang zu den Filmwerken einschränken. Der Netzwerkcharakter des Films wird durch den Online-Zugang weitaus umfangreicher und deutlicher sichtbar, als dies bei einer Edition auf einem Trägermedium der Fall ist, denn bei der Online-Edition eines Films ist das Werk Knotenpunkt eines virtuellen Wissensraums und zentraler Bestandteil einer weitverzweigten Informations­infrastruktur. Das Filmwerk markiert somit einen zentralen Knotenpunkt, der auf der Ebene des Werks das Clustern varianter Fassungen und die Vernetzung diverser Ausgabeformen des Films bzw. der Manifestationen ermöglicht. Über Werk-zu-Werk-­Beziehungen stellt das Filmwerk zugleich einen Netzwerk-Knoten dar und ist selbst Teil eines größeren Werk-Netzes, in welchem die Verfilmungen mit der literarischen Vorlage verbunden sind. Im Zeichen der digitalen Transformation und Abrufkultur verstärkt sich der Trend zum Online-Zugang zu Filmen. Es stellt sich auch die Anforderung, Informationen zur Siehe dazu die Liste der Auszeichnungen zur Verfilmung Berlin Alexanderplatz (2020) auf IMDb, https:// www.imdb.com/title/tt6470924/awards?ref_=tt_awd (gesehen 5.4.2021). 26 Fassbinder Berlin Alexanderplatz Remastered. Edition Arthaus. 6 DVD. Erscheinungsdatum 21. Oktober 2010. Bestell-Nummer: 505689, EAN 4006680080666. – Fassbinder Berlin Alexanderplatz. Edition Arthaus. 4 Blu-ray. Erscheinungsdatum 6. Juli 2017. EAN 4006680079271; Bestell-Nr. 505550, EAN 4006680079271. 27 Berlin Alexanderplatz. Regie: Rainer Werner Fassbinder. ARTE Mediathek, https://www.arte.tv/de/videos/ RC-019442/berlin-alexanderplatz/RC-019443/berlin-alexanderplatz/ (gesehen 15.6.2020).

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Verfügbarkeit von Filmen unabhängig von ihrer Erscheinungsform – ob auf Trägermedien oder online – im Netz finden zu können. Die (wenigen) kritischen Filmeditionen wurden lange Zeit – u. a. auch aus rechtlichen Gründen – vorwiegend in einer abgeschlossenen Form auf Medienträgern wie DVD oder Blu-ray Disc veröffentlicht. Im Zuge der disruptiven Veränderungen des Filmmarktes ist der Online-Zugang zu Filmen per Video-Streaming in wachsendem Umfang die dominante Form der Zugänglichmachung. Daher sei die Marktentwicklung im Folgenden kurz skizziert.

3. Digitale Transformation und Abrufkultur Die pandemiebedingte zeitweilige Schließung von Kinos 2020 wirkt als Katalysator einer ohnehin bereits überaus rasant verlaufenden, umwälzenden Veränderung, die sich gegenwärtig auf dem Filmmarkt vollzieht. Eine wachsende Zahl von Menschen geht dazu über, Filme und Fernsehserien online per Video-Stream anzusehen. Die von der Filmförderungsanstalt FFA bei der GfK in Auftrag gegebenen Marktstudien zeigen auf dem Markt des Home-Videos eine anhaltende Verlagerung in Richtung des Online-­ Zugangs zu Filmen.28 2019 hatte der Home-Entertainment-Markt für Filme und Serien das beste Ergebnis seit Erfassung der Marktdaten erzielt und 2,28 Mrd. Euro Umsatz erreicht, was einem Plus von 12 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach. Innerhalb von zehn Jahren konnte der digitale Markt seinen Anteil von einem Prozent im Jahr 2009 auf 69 Prozent im Jahr 2019 steigern. Die Zahlen belegen eine kontinuierliche Verlagerung hin zum Online-Zugang. In Zeiten der pandemiebedingten Einschränkungen seit 2020 waren bzw. sind die Kinos in zahlreichen Ländern der Welt aufgrund der Vorgaben des Infektionsschutzes und des Abstandhaltens (Social Distancing) zeitweise geschlossen. Die Sichtung von Filmen im Video-Stream boomt und entwickelt sich zusehends zur dominanten Form des Zugangs zu Filmwerken. Angesichts der sich verändernden Nutzergewohnheiten definierte Chuck Tryon in seinem 2013 erschienenen Buch On-Demand Culture die aufkommende Abrufkultur als eine Kultur, die dem Publikum neue Formen des unverzüglichen Zugangs zu Filmen und Fernsehsendungen liefert.29 Die rasanten technologischen Entwicklungen des Online-Zugangs zu Filmen verändern die Erwartungshaltungen der Konsumenten, die zunehmend voraussetzen, Filme per Klick in wenigen Schritten im Netz finden und zeitsouverän abrufen zu können. Hierfür ist es erforderlich, schnell und unkompliziert zu ermitteln, wo, in welchem Format und zu welchem Preis ein Filmwerk online zugänglich ist. Ein Angebot, das nicht leicht oder nicht schnell genug gefunden wird, ist nur bedingt nutzerfreundlich und kann im Wettbewerb möglicherweise nicht bestehen. Die leichte Auffindbarkeit von Informationen zu Filmwerken und der Filmwerke selbst als audiovisueller ‚Content‘ spielt eine herausragende Rolle.

FFA, GfK: Der Home-Video-Markt im Jahr 2019. In: FFA Filmförderungsanstalt. Videoergebnisse. ­https://www.ffa.de/videoergebnisse.html (gesehen 16.3.2021). 29 Chuck Tryon: On-Demand Culture. Digital Delivery and the Future of Movies. New Brunswick, New Jersey, London 2013, S. 1: „an emerging ‚on-demand-culture,‘ one that provides viewers new forms of immediate access to movies and television shows“. 28

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Informationen zur Verfügbarkeit von Filmen leicht zugänglich zu halten stellt sich als Anforderung umso mehr, als der Konkurrenzkampf auf dem Markt des ­Video-Streaming hart ist. An der Schwelle zum Jahr 2020 wurde der Krieg der Video-Streaming-Anbieter ausgerufen, das Schlagwort ‚Streaming Wars‘ machte in der internationalen Medienberichterstattung die Runde. In schneller Folge starteten global operierende Hollywood-Major-Studios und Medienunternehmen wie Disney, Warner Media oder Apple eigene Video-Streaming-Portale. Im November 2019 ging Disney+ in den USA an den Start und ist seit März 2020 in Deutschland, Österreich, der Schweiz und weiteren europäischen Ländern verfügbar. Ebenfalls im November 2019 startete Apple seinen Video-Streaming-Service Apple TV+. WarnerMedia lancierte im Mai 2020 in den USA das Video-Streaming-Portal HBO max. In Deutschland startete Ende Juli 2020 das deutsch-französische Portal Sooner.30 Somit macht eine wachsende Zahl von Video-Streaming-Dienstleistern den etablierten Unternehmen wie Netflix, Amazon und zahlreichen weiteren Video-Streaming-Portalen Konkurrenz. Die Landschaft des Online-Zugangs zu Filmen gestaltet sich fluide; es ist schwer absehbar, welche Anbieter sich langfristig auf dem Markt behaupten werden. Sowohl die Zahl der Video-Streaming-Anbieter als auch die der weltweit produzierten Filme und Fernsehserien wächst stetig, darunter auch Eigenproduktionen von Stream­ing-Dienstleistern. Daher stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie leicht die Inhalte in einem schier unübersichtlichen Meer von Angeboten gefunden werden können. Für die Auffindbarkeit von Filmen spielt die Vernetzung von Daten zu Filmwerken eine zunehmend wichtigere Rolle. Angesichts der steigenden Zahl von Streaming-Services und der Zersplitterung des Marktes stellt sich für Filminteressierte die Herausforderung, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Werke wo, in welcher Bildund Tonqualität und zu welchen Konditionen abrufbar sind. In Bezug auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Filmen in Forschung und Lehre stellt sich beim Zugang darüber hinaus die Frage, ob eine zuverlässige Fassung des Films im Online-Zugang vorliegt und ob diese nachhaltig verfügbar und zitierfähig ist. Handelt es sich bei einem online abrufbaren Video um ein legales Angebot oder eine illegale Raubkopie eines Films? Um welche Fassung des Werks handelt es sich, und wer hat die Edition verantwortet? Angesichts der vielfach unübersichtlichen Marksituation werden Dienste von Aggre­ gatoren-Plattformen immer populärer. Suchportale, sogenannte Streaming-Führer (‚Streaming-Guides‘) und Aggregatoren-Portale agieren als Vermittler beim Zugang zu Filmwerken. Solche Streaming-Suchmaschinen mit sprechenden Namen wie ‚Wer ­streamt es?‘,31 Just Watch (s. Abb. 1),32 Reelgood 33 oder Streamcatcher.de 34 prüfen die Verfügbarkeit von Titeln bei gängigen kommerziellen Video-Streaming-Portalen und werden bei der Suche nach Filmen und Fernsehserien zwischengeschaltet.35 32 33 34

Sooner, https://sooner.de/ (gesehen 27.3.2021). Wer streamt es?, https://www.werstreamt.es/ (gesehen 27.3.2021). Just watch, https://www.justwatch.com/de (gesehen 27.3.2021). Reelgood, https://reelgood.com/ (gesehen 6.4.2021). Neben Streamcatcher, https://www.streamcatcher.de/, s. auch weitere Portale wie Vodster, http://www. vodster.de/, oder Yidio, https://www.yidio.com/ (gesehen 27.3.2021). 35 Chris Lindahl: How to Find a Movie: These Apps Are Making Sense of Your Streaming Platforms. From 30 31

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Abb. 1: Screenshot JustWatch, Suche nach Berlin Alexanderplatz, https://www.justwatch.com/de/Film/Alexanderplatz (gesehen 3.4.2021).

Charakteristisch für die Suchportale ist, dass sie als Ausgangspunkt den Titel eines Werks samt Vorschaubild und Daten der filmografischen Beschreibung präsentieren und von der Werkebene ausgehend aufzeigen, welche Ausgaben bzw. Manifestationen des Werks verfügbar sind, ob auf Trägermedium, im Streaming-Portal eines Dienstleisters oder im Kino (s. Abb. 1: Just Watch: Berlin Alexanderplatz). Die Suchportale bieten neben der Titelsuche und dem Preisvergleich teilweise auch das Filtern von Suchergebnissen nach Genre, Anbieter, Sprache, Erscheinungsjahr oder nach Kostenmodell bzw. Art des Zugangs wie z. B. Abo, Leihen, werbefinanziert etc. Die Nutzer/ innen zahlen für diese kostenlosen Dienste in der Regel mit ihren Daten: Nutzerdaten zu Filmvorlieben und Konsumverhalten werden für datengetriebenes Filmmarketing (‚data-driven movie marketing‘) ausgewertet.36 Die Analyse der Daten liefert der Filmindustrie Informationen, wie relevante Zielgruppen für Inhalte erreicht werden können. Sogenannte Intermediäre bzw. Medienintermediäre agieren zunehmend als Vermittler zwischen Nutzern und Anbietern der stetig wachsenden Flut audiovisueller Inhalte. Auch Bibliotheken nehmen vermehrt eine Rolle als Intermediäre ein, die InformatioReelGood and JustWatch to Dabby and TiVo, everyone wants to be your app. In: Indiewire, 31.3.2021, https:// www.indiewire.com/2021/03/how-to-find-a-movie-streaming-platforms-1234627033/ (gesehen 3.4.2021). 36 Vgl. Anna Bohn: Vom Kampf der Streaming-Anbieter. In: Filmexplorer, Forum: 2020 – Focus Online Streaming, 25.2.2020, https://www.filmexplorer.ch/forum/2020-focus-online-streaming/vom-kampf-derstreaming-anbieter-anna-bohn/ (gesehen 16.3.2021).

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nen vermitteln, aber die Inhalte nicht mehr besitzen.37 Mit dem Begriff ‚Intermediäre‘ werden allerdings meist Suchmaschinen (wie z. B. Google), Multimediaplattfomen (wie z. B. YouTube, Instagram oder Soundcloud) und Netzwerkplattformen (wie z. B. Facebook) bezeichnet.38 Die Landesanstalt für Medien NRW beschreibt die Rolle der Informationsintermediäre so: Informationsintermediäre sind im digitalen Raum vielfach zwischen Rezipientin beziehungsweise Rezipienten und Information geschaltet. Sie erfüllen demnach eine vermittelnde Funktion. Dabei schaffen sie ein jeweils personalisiertes Angebot für die Nutzerin bzw. den Nutzer. Dieses Angebot ist für die allgemeine Öffentlichkeit nicht einsehbar. Algorithmische Systeme kuratieren zunehmend die jeweilige mediale Wirklichkeit jedes Individuums.39

Auch bei der Vermittlung von Informationen durch Informationsintermediäre spielt die Entität ‚Werk‘ beim Online-Zugang sowohl für das Auffinden als auch für die Analyse von Daten eine zentrale Rolle. Aus den Abrufzahlen und dem Nutzerverhalten lassen sich Informationen etwa zur Popularität bestimmter (Werk-)Titel oder genrespezifische Vorlieben der Nutzenden gewinnen, die von Intermediären kommerziell genutzt ­werden. Wo sind nun allerdings Filme der Filmgeschichte im Netz zu finden? Sind sorgfältig edierte, restaurierte oder rekonstruierte Editionen von Filmen im Video-Stream überhaupt zugänglich? Falls sie abrufbar sind, können sie leicht gefunden und identifiziert werden? David Steinitz skizzierte in seinem Artikel Streaming Wars in der Süddeutschen Zeitung vom 30. November 2018 die Situation so: „Vom Preis abgesehen, wird es auch immer schwerer, einen bestimmten Film zu finden, wenn man ihn sucht. Manche Titel bekommt man weder bei Netflix noch bei Amazon, die, gerade was Filmklassiker angeht, nicht allzu gut aufgestellt sind. Als richtige Filmarchive für Cineasten taugen beide bislang nicht.“ 40 In den Video-Streaming-Portalen der global operierenden Streaming-Dienstleister waren vor der Pandemie 2020 vor allem neuere Filmproduktionen zu finden, sofern die vertraglich vereinbarten Verwertungsfenster dies zuließen. Die mangelhafte Verfügbarkeit von Filmklassikern bzw. von Filmen der Filmgeschichte im Video-Stream hat unterschiedliche Gründe. Ein Grund besteht darin, dass Filme für eine zeitlich und räumlich befristete Verwertung lizenziert werden. Für eine begrenzte Form der Lizenzierung Zu Bibliotheken als Intermediäre s. Michael Knoche im Interview mit Klaus Kempf: Werden die klassisch sammelnden Bibliotheken zu Exoten? Gespräch mit Klaus Kempf von der Bayerischen Staatsbi­ bliothek, 29.3.2021, https://biblio.hypotheses.org/2356 (gesehen 30.3.2021). 38 Vgl. Jan-Hinrik Schmidt, Lisa Merten, Uwe Hasebrink, Isabelle Petrich, Amelie Rolfs: Zur Relevanz der Online-Intermediären für die Meinungsbildung. März 2017. Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg, S. 9 f., https://www.hans-bredow-institut.de/de/publikationen/zur-­relevanzvon-online-intermediaeren-fuer-die-meinungsbildung (gesehen 30.3.2021). 39 Landesanstalt für Medien NRW und iRights.Lab: Auf dem Weg zu Vielfalt und Teilhabe im Online-Diskurs? (Forschungsmonitor Informationsintermediäre 5, 20.3.2020. Realisiert von iRights.Lab), S. 2, https://www. medienanstalt-nrw.de/publikationen/auf-dem-weg-zu-vielfalt-und-teilhabe-im-online-diskurs.html (gesehen 12.10.2021). Zum Zusammenhang von Nachrichtenkonsum und Intermediären s. Michael Scharkow, Frank Mangold, Sebastian Stier, Johannes Breuer: How social network sites and other online intermediaries increase exposure to news. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of Amer­ ica, 27.1.2020, https://www.pnas.org/content/117/6/2761 (gesehen 27.3.2021). 40 David Steinitz: Online-Videotheken. Streaming Wars. In: Süddeutsche Zeitung, 30.11.2018, https://www. sueddeutsche.de/kultur/online-videotheken-streaming-wars-1.4233661 (gesehen 16.3.2021). 37

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eignet sich eher eine Edition in geschlossener Form auf Trägermedien; so werden bislang Filme für die Veröffentlichung auf DVD oder Blu-ray in einer bestimmten begrenzten Auflagenhöhe lizenziert. In Mediatheken oder auf Video-Streaming-­Portalen sind Filme dagegen häufig nicht dauerhaft online abrufbar, sondern lediglich für eine bestimmte, zeitlich begrenzte Dauer der Lizenzierung verfügbar. Einige kommerzielle Video-Streaming-Anbieter haben nur eine kleine kontinuierlich erneuerte Zahl von Filmen im Angebot; so bietet z. B. das Video-Streaming-Portal MUBI eine kuratierte zeitlich begrenzte Auswahl von Filmen. Ganz im Gegensatz zu den Geschäftsmodellen kommerzieller Video-Streaming-Dienstleister, die aufgrund zeitlich und räumlich befristeter Lizenzierungen stärker auf den kontinuierlichen Wechsel von Angeboten zielen, streben wissenschaftliche Bibliotheken und Bildungseinrichtungen beim Zugang zu audiovisuellen Inhalten in Forschung und Lehre danach, ein nachhaltiges Angebot anzubieten, das langfristig verfügbar und nachhaltig referenzierbar ist. Die mangelnde Verfügbarkeit von Filmen der Filmgeschichte im Video-Stream liegt teilweise darin begründet, dass ein großer Teil des analogen Filmerbes bislang nicht restauriert oder digitalisiert vorliegt. Die Arbeit der sorgfältigen Restaurierung und Digitalisierung von Filmen, mit der eine kritische Filmedition in der Regel verbunden ist, ist kosten- und arbeitsintensiv und erfordert nicht selten die Zusammenarbeit verschiedener Einrichtungen und die Einwerbung zusätzlicher Fördermittel. Wenn sich auch aktuell im Zeichen des pandemiebedingten zeitweiligen Stopps von Filmproduktionen oder des harten Konkurrenzkampfs um exklusive Filmtitel einige global operierende Video-Streaming-Dienstleister wie Netflix stärker für den Erwerb internationaler Filmklassiker engagieren und verstärkt Titel der Filmgeschichte für den Online-Zugang lizenzieren,41 so bleibt die mangelnde Verfügbarkeit zahlreicher bedeutender Werke der Filmgeschichte im Video-Stream eine Tatsache. Werke des Film­ erbes, die in restaurierter oder rekonstruierter Fassung digital vorliegen oder kritisch ediert werden, sind aus den o. g. Gründen im Video-Stream bislang (noch) nicht oder nicht leicht zu finden. Sie wurden in der Vergangenheit und werden auch gegenwärtig vornehmlich auf Medienträgern veröffentlicht oder sind nur befristet zeitlich zugänglich z. B. in Mediatheken öffentlich-rechtlicher Fernsehsender.

4. Auf der Suche nach Berlin Alexanderplatz Für die Auffindbarkeit von Filmen im Netz spielt die Vernetzung der Daten eine zentrale Rolle. Bei der Suche nach Berlin Alexanderplatz im World Wide Web geben Suchma Netflix lizenzierte 2020 eine Kollektion von Animationsfilmen des japanischen Studios Ghibli. Siehe Pa­trick Frater: Netflix Secures International Rights to Studio Ghibli Animated Films. In: Variety, 19.1.2020, h­ ttps:// variety.com/2020/digital/asia/netflix-carry-iconic-studio-ghibli-anime-hayao-­miyazaki-1203473100/ (gesehen 16.3.2021). Zudem erwarb Netflix durch eine Partnerschaft mit dem französischen Vertrieb mk2 2020 Lizenzen französischer Filme der Nouvelle Vague sowie weitere Produktionen; insgesamt 50 Filme von Regisseuren wie Francois Truffaut, Charles Chaplin, Jacques Demy, Alain Resnais, David Lynch, Emir Kusturica, Michael Haneke, Xavier Dolan, Steve McQueen und Krzysztof Kieslowski. Siehe Manori Ravindran: Francois Truffaut, Charlie Chaplin, David Lynch Titles Hit Netflix. In: Variety, 20.4.2020, https://variety.com/2020/film/global/francois-truffaut-charlie-chaplin-­d avid-lynch-netflix-francemk2-1234585202/ (gesehen 27.3.2021).

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schinen Auskunft. „Berlin Alexanderplatz“ ist als Suchbegriff mehrdeutig; der Begriff bezeichnet nicht nur den Titel eines Romans und die nach dieser Vorlage geschaffenen Filme oder Hörspiele, sondern ebenso einen Ort oder den Namen einer S-Bahn-Station. Zur Disambiguierung gleichlautender Begriffe bietet z. B. Wikipedia eine Begriffsklärungsseite, darunter auch zu „Berlin Alexanderplatz“, welche neben dem Roman u. a. die drei filmischen Adaptionen aus den Jahren 1931, 1980 und 2020 auflistet.42 Die Wikipedia-Artikel zu den Verfilmungen liefern neben dem Text grundlegende filmografische Angaben in tabellarischer Form. So listet der Wikipedia-Artikel zur Neuverfilmung Berlin Alexanderplatz von 2020 u. a. folgende filmografischen Angaben unter der Kategorie ‚Film‘: „Originaltitel: Berlin Alexanderplatz; Produktionsland: Deutschland, Niederlande; Originalsprache: deutsch; Erscheinungsjahr: 2020“.43 Strukturierte Daten hinter den Artikeln von Wikipedia stellt zudem Wikidata bereit, die frei zu bearbeitende Wissensdatenbank, die zur Unterstützung von Wikipedia gestartet wurde. In Wikidata wird ein Filmwerk jeweils mit einem eindeutigen Identifikator gekennzeichnet. Eine Google-Suche nach einem Film mit dem Titel „Berlin Alexanderplatz“ im Jahr 2021 führt zu einem Wissensfeld mit Informationen zur Neuverfilmung Berlin Alexanderplatz von 2020 (Abb. 2). Bereits 2012 führte Google den Wissensgraphen – ‚Google Knowledge Graph‘ – ein.44 Eine Suche nach Personen, Orten, Organisationen oder Dingen führt seither zu Wissensfeldern, von Google ‚Knowledge Panels‘ genannt. Diese Knowledge Panels sollen ermöglichen, einen schnellen Überblick über Informationen zu einem Thema zu gewinnen. Dazu werden im Web verfügbare Inhalte unterschiedlicher Quellen von Google ausgewertet. Die Wissensfelder stellen maßgebliche Daten zu einer Entität in Form einer kastenartigen Präsentation auf der rechten Bildschirmseite verknüpft dar. Sie sind dynamisch und verändern sich bei Suchanfragen, wenn neue Informationen im Netz zugänglich sind. Die Suche nach einem Film in Google führt in dem Google Knowledge Panel in einer Box auf der rechten Seite des Bildschirms grundlegende Informationen zusammen: Neben Bildern werden einige beschreibende Metadaten wie Titel, FSK-Alterskennzeichnung, Erscheinungsjahr, Genre und Laufzeit des Films angeführt. Unmittelbar darunter sind Informationen zum Abruf platziert: „Jetzt Ansehen“ (im vorliegenden Beispiel Abb. 2 mit Netflix-Icon); „Schon gesehen?“ sowie „Merkliste“ für die Markierung persönlicher Vorlieben. Auch Bewertungen der Filme aus Portalen mit Angabe der Skala werden von Google in Auswahl präsentiert. Es handelt sich um Bewertungen (Ratings) aus Portalen wie z. B. Kino-Zeit oder Filmstarts oder von Google-Nutzern („Dieser Film gefiel 73 % der Nutzer“). Unter den Bewertungen ist jeweils eine kurze Inhaltsangabe des Films zu finden, deren Quelle nicht immer angegeben ist;45 in vielen Fällen jedoch als Quelle Wikipedia Wikipedia, Berlin Alexanderplatz, Begriffsklärungsseite https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin_ Alexanderplatz (gesehen 29.3.2021). 43 Wikipedia, Berlin Alexanderplatz (Film), https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin_Alexanderplatz_(Film) (gesehen 29.3.2021). 44 Vgl. Amit Singhal: Introducing the Knowledge Graph: things, not strings. 16.5.2012, https://www.blog. google/products/search/introducing-knowledge-graph-things-not/ (gesehen 16.3.2021). 45 Die Tatsache, dass Google die Quellen des Wissenfeldes nicht immer ausweist, kritisierte Dario Taraborelli, Forschungsleiter bei der Wikimedia Foundation, in der Washington Post: „It undermines people’s abil­ ity to verify information and, ultimately, to develop well-informed opinions“; Caitlin Dewey: Internet Culture. You probably haven’t even noticed Google’s sketchy quest to control the world’s knowledge. In: The 42

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Abb. 2: Google Knowledge Panel Berlin Alexanderplatz, https://www.google.com/search?client=­firefoxb-e&q=berlin+alexanderplatz (gesehen 9.4.2021). Das Beispiel der Übersetzung „Direktor“ legt nahe, dass das Wissensfeld auf automatisierte Übersetzungen aus dem Englischen zurückgreift. Das angezeigte ­Cover-Bild stammt zudem nicht von der Verfilmung 2020, sondern von R. W. Fassbinders Verfilmung 1979/80.

Washington Post, May 11, 2016, https://www.washingtonpost.com/news/the-intersect/wp/2016/05/11/ you-probably-havent-even-noticed-googles-sketchy-quest-to-control-the-worlds-knowledge/ (gesehen 9.4.2021).

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ausweist. Unter der Inhaltsangabe sind weitere Daten aufgeführt, die das Filmwerk näher beschreiben, darunter Erscheinungsdatum in Deutschland, „Direktor“ (gemeint ist Regisseur),46 Musik komponiert von, Drehbuch, Produzenten. Stabangaben (Besetzung) mit Bild und Name der Schauspieler/innen und ihrer Rollenbezeichnung laden zum Browsen ein. ‚Bewerten und Rezension schreiben‘ – ‚Was hältst du von diesem Film?‘ soll die Nutzenden animieren, eine Rezension zu verfassen, die öffentlich gepostet wird. Die Rubrik ‚Wird auch oft gesucht‘ präsentiert weitere im Zusammenhang stehende, häufig vorkommende Suchanfragen. Die prominente Platzierung von Informationen zur Verfügbarkeit des Films bei kommerziellen Anbietern wie z. B. Netflix und von Bewertungen macht deutlich, dass die von Google gewählte Präsentationsform als Wissensfeld von kommerziellen Interessen geleitet ist und nicht allein der Information der Nutzenden, sondern ebenso dem Marketing von Produkten und Sammeln von Daten zu Nutzervorlieben dient. Google greift auf Wissensdatenbanken zurück, die Daten zu Werken und anderen Entitäten strukturiert präsentieren. Filme und Fernsehserien werden durch die Darstellung in Form von Wissensgraphen oder Wissensfeldern von Nutzer/innen leichter gefunden und zusätzlich mit Informationen verknüpft präsentiert. Für die Vernetzung von Daten und die Visualisierung in Wissensdomänen und Darstellungen in Form von Wissensgraphen auf der Grundlage semantischer Datenbanken spielen Entitäten wie ‚(Film-)Werk‘ und ‚mitwirkende Personen‘ eine entscheidende Rolle. Grundlegend für die Vernetzung von Daten ist die Anforderung, Werke eindeutig zu identifizieren und von anderen Werken zu unterscheiden.

5. Identifizierung und Disambiguierung von Werken: GND – Wikidata – ISAN – EIDR Angesichts der riesigen Zahl an audiovisuellen Ressourcen weltweit stellt sich beim Online-Zugang sowohl zu Filmwerken selbst als auch zu Informationen über Filme die Anforderung, die Werke des Films und Fernsehens weltweit eindeutig identifizieren zu können. Gleichlautende Titel sind ein häufiges Phänomen bei audiovisuellen Werken.47 Es gibt zudem oft mehrere unterschiedliche Filmwerke, die nach der Vorlage eines literarischen Werks gedreht wurden. Neben dem Originaltitel eines Films und abweichenden Titeln wie z. B. Verleihtiteln in anderen Sprachen sind daher weitere unterscheidende Eigenschaften wie etwa Land der Produktion (Ursprungsort des Werks) und bei Kinofilmen das Jahr der Veröffentlichung bzw. bei Fernsehproduktionen das Erstsendedatum (Ursprungsdatum des Werks) sowie maßgebliche am Werk beteiligte Personen und Institutionen für eine eindeutige Identifizierung und Unterscheidung eines Werks von anderen Werken relevant. Das maßgebliche System zur eindeutigen Unterscheidung von Werken mit Hilfe von Normdaten und Identifikatoren ist im deutschsprachigen Bi Das Beispiel der Übersetzung „Direktor“ legt nahe, dass das Wissensfeld auf automatisierte Übersetzungen aus dem Englischen zurückgreift. 47 Vgl. Anna Bohn: Film-Metadaten. Standards der Erschließung von Filmen mit RDA und FRBR im internationalen Vergleich und Perspektiven des Datenaustauschs. Berlin 2018 (Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft.  431), S.  64, https://doi.org/10.18452/19220 (gesehen 16.3.2021). 46

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bliothekswesen die Gemeinsame Normdatei (GND), im internationalen Bibliothekswesen die Virtual International Authority File (VIAF). Daten aus der GND und weiteren Systemen des weltweiten Bibliothekscommunity werden in die VIAF importiert. 5.1. GND – Gemeinsame Normdatei In der Editionswissenschaft ist die Nutzung von Normdaten und Identifikatoren bereits etablierter Standard; so werden digitale Editionen beispielsweise mit den Normdaten der Gemeinsamen Normdatei GND verknüpft. Auf den Mehrwert beim Einsatz von Normdateien in der Textedition insbesondere hinsichtlich der Personennormdaten hat u. a. Peter Stadler hingewiesen.48 Roland Kamzelak hat für die Textedition am Beispiel der Werke Harry Graf Kesslers dargelegt, dass die GND-Nummer die verlässlichste Identifikation im deutschsprachigen Raum sei und diese daher „unbedingt zum Pflichtfeld aller Metadaten gehören“ solle.49 Zwar gibt es in den deutschsprachigen Bibliotheken mit der Gemeinsamen Normdatei GND ein etabliertes System der Normdaten, das auch Werktitel beinhaltet, doch sind Normdaten zu Filmwerken in der GND bislang unterrepräsentiert.50 In der Film­ edition und beim Online-Zugang zu Filmen finden GND-Normdaten zu Filmwerken bis dato kaum Verwendung. Dies mag teilweise in der unzureichenden Datenlage der Werktitel begründet liegen: In der GND sind derzeit in der Systematik ‚15.3 Film‘ zum Stand 3. März 2021 insgesamt lediglich 5477 Werktitel verzeichnet; in der Systematik ‚15.4 Rundfunk, Neue Medien‘ nur 1368 Werktitel.51 Zu vielen Filmen sind also gegenwärtig keine Normdaten der GND vorhanden.52 In der Gemeinsamen Normdatei hat der Film Berlin Alexanderplatz von 1931 die GND-Identifikationsnummer 4427495-6, die Fernsehsendung von 1980 hat die GND-Nummer 4287540-7, während die Neuverfilmung 2020 zum Zeitpunkt der Abfrage in der GND (noch) nicht vorhanden war.53 Das Normdatensystem Virtual International Authority File VIAF kennt indessen den Werktitel der Neuverfilmung Berlin Alexanderplatz von 2020 bereits als Import von Normdaten der Library of Congress. Der VIAF-Identifikator des Werktitels lautet 77161329863652131671, der zugehörige Permalink: http://viaf.org/viaf/77161329863652131671. Die Tatsache, dass der Film Peter Stadler: Normdateien in der Edition. In: editio 26, 2012, S. 174–183, https://doi.org/10.1515/­ editio-2012-0013 (gesehen 27.3.2021). 49 Roland Kamzelak: Digitale Editionen im semantic web. Chancen und Grenzen von Normdaten, FRBR und RDF. In: „Ei, dem alten Herrn zoll’ ich Achtung gern“. Festschrift für Joachim Veit zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Kristine Richts und Peter Stadler für den Virtuellen Forschungsverband Edirom. München 2016, S. 423–435, hier S. 427, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-233392 (gesehen 16.3.2021). 50 Vgl. Bohn 2018 (Anm. 47), S. 68 und 71. 51 Stand der Abfrage 3.3.2021 über Web GND Eurospider nach Systematik ‚15.3  Film‘, http://gnd.eurospider.com/s?q=&s=&p=1&e=u&i=&sm=m&so=r&sswd=15.3, und nach Systematik ‚15.4 Rundfunk, Neue Medien‘, http://gnd.eurospider.com/s?sswd=15.4&q=&e=u&i=sfA&sm=m&so=r (beide gesehen 7.4.2021). 52 Die Verf. entwickelt im Auftrag der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ein Projekt, das darauf zielt, Normdaten zu Filmwerken aus vorhandenen Datenbeständen semi-automatisch zu generieren. Der Arbeitstitel der Projektentwicklung lautet: „Vernetzte Normdaten zu Filmwerken (GND – Wikidata – audio­ visuelle Communities – Forschung)“. 53 Datum der Abfrage: 4.3.2021. 48

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Berlin Alexanderplatz aus dem Jahr 2020 über ein Jahr nach seiner Uraufführung und ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine deutsche Koproduktion handelt und der Film bereits auf Trägermedien in zahlreichen Bibliotheken ausleihbar ist, noch keinen Werktitel in der GND erhalten hat, verdeutlicht Defizite bei den Werktiteln für Filme in der Gemeinsamen Normdatei. Die Werktitel zu Filmen in der GND werden bislang nicht systematisch oder automatisch nach Erscheinen eines Werks und seiner Zugänglichmachung in Bibliotheken erfasst. Ob ein Filmwerk als Werktitel in die GND Aufnahme findet, ist das Ergebnis intellektueller Erschließung und individueller Entscheidung einer in der GND-Kooperative zur Aufnahme von Normdaten autorisierten Person. Die Aufnahme eines Werks geschieht – wenn überhaupt – häufig erst dann, wenn das Filmwerk in Printpublikationen behandelt wird und nicht bereits zum Zeitpunkt des Erwerbs unterschiedlicher Ausgaben des Werks und ihrer Aufnahme in die Kataloge von Bibliotheken. Eine Ausnahme bildet das am Deutschen Literaturarchiv Marbach und an der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar angesiedelte DFG-Projekt Werktitel als Wissensraum, das für einen ausgewählten Teilbereich des Genres ‚Literaturverfilmung‘ darauf zielt, filmische Adaptionen zu Werken der deutschen Literatur in der GND zu erfassen. Seit 2020 werden im Rahmen des Projekts zu 4369 Werken der deutschsprachigen Literatur systematisch die in Beziehung stehenden Werke wie Verfilmungen und Vertonungen in Form von Normdaten erfasst und mit dem Ausgangswerk verknüpft.54 Die in die GND eingebrachten Werktitel können frei nachgenutzt und unabhängig von kommerziellen Interessen von Bibliotheken und anderen Kultureinrichtungen verwendet werden. Grundlage für die bibliothekarische Erfassung von Werktiteln bildet das internationale bibliothekswissenschaftliche Regelwerk Resource Description and Access (RDA). Ein Identifikator für ein Werk ist gemäß diesem Regelwerk als Kernelement der Erschließung bestimmt und zu erfassen.55 Im Hinblick auf den Datenaustausch stellt sich die Anforderung, maßgebliche universale eindeutige Identifikatoren für Filmwerke zukünftig in den Normdaten der Bibliotheken wie der GND zu berücksichtigen. Erste Voraussetzungen, um eindeutige universale Identifikatoren der Filmindus­trie und Wikidata-Q-Identifier in die Gemeinsame Normdatei GND einzubinden, sind bereits geschaffen. Der von Ines Kolbe vom DFG-Projekt Werktitel als Wissensraum des Deutschen Literaturarchivs Marbach gemeinsam mit der Verf. als Vertreterinnen der AG Audiovisuelle Ressourcen beim Standardisierungsausschuss im Jahr 2020 dem GND-Ausschuss unterbreitete Vorschlag, künftig Identifikatoren für Werke aus dem kontrollierten Vokabular der Library of Congress ‚Standard Identifier Source Code‘ 56 als externe Identifikatoren für die GND für Werknormsätze57 zuzulassen, darunter DLA Marbach: Projekt Werktitel als Wissensraum, https://www.dla-marbach.de/bibliothek/projekte/ werktitel-als-wissensraum/ (gesehen 6.4.2021). 55 Zur Referenz in RDA s. Original RDA Toolkit RDA 6.8. sowie RDA-Toolkit Identifier for work. IRI: http://rdaregistry.info/Elements/w/P10002 (gesehen 6.4.2021). 56 Library of Congress Standard Identifier Source Code, https://www.loc.gov/standards/sourcelist/standard-­ identifier.html (gesehen 11.4.2021). 57 Bereits vorher waren externe Identifikatoren für Personen und Körperschaften zugelassen, neu ist die Zulassung für Werknormsätze (Tu-Sätze) der GND. 54

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maßgebliche Identifikatoren für Filmwerke wie ISAN (International Standard Audio­ visual Number),58 EIDR (Entertainment Identifier Registry) und Wikidata, wurde bereits umgesetzt.59 Seit März 2021 sind im GND-Erfassungsleitfaden ELF für das Feld ‚Sonstige Standardnummern‘ die Änderungen zu externen Identifikatoren eingearbeitet. Somit sind Identifikatoren aus der Liste ‚Standard Identifier Source Code‘ auch für GND-Werktitel zugelassen. Diese Änderung eröffnet für die GND-Werktitel im Bereich Film und Fernsehen die Möglichkeit, eindeutige universale Identifikatoren der Filmindustrie wie ISAN und EIDR oder von Filmdatenbanken wie IMDb oder Filmportal sowie Wikidata in die Normdatensätze der GND aufzunehmen. Darüber hinaus können nun auch eindeutige Identifikatoren für Musikwerke wie ISWC (International Standard Musical Work Code) eingebunden werden.60 Während allerdings der GND-Erfassungsleitfaden die Aufnahme der externen Identifikatoren ORCID (Open Researcher and Contributor ID) und ISNI (International Standard Name Identifier) ausdrücklich empfiehlt, wird bislang eine solche Empfehlung für die relevanten externen Identifikatoren für Werke nicht ausgesprochen, weder für Filmwerke (ISAN oder EIDR) noch für Musikwerke (ISWC). 5.2. Wikidata Ungleich größer als die Anzahl der Normdaten zu Filmen und Fernsehserien in der GND ist die Zahl der Werke, die in Wikipedia mit eigenem Eintrag erfasst sind. Hinter Wikipedia liegt die Wissensdatenbank Wikidata, in der die Werke mit einem Identifier mit weiteren strukturierten Daten verzeichnet sind. Im Unterschied zur GND, in der Normdaten von dazu autorisierten Personen der GND-Kooperative erfasst werden, erstellen freischaffende Wikidata-Autor/innen und Bots die Einträge in Wikidata. Wikidata hat sich als allgemeines, freies, nutzerbasiertes und weltweit gepflegtes System der Identifizierung von Werken etabliert. Aufgrund der nutzergetriebenen freien Erfassung und Ergänzung von Einträgen in Wikidata sind die Daten nicht wie in der GND normiert; die nutzergetriebene Erfassung bietet indessen auch Vorteile gegenüber der GND, denn hinter Wikidata und Wikipedia steht eine weltweit agierende Nutzercommunity, die weitaus größer als die bibliothekarische Community der GND-Kooperative ist und erheblich mehr strukturierte Daten generiert. Die Datengrundlage zu Filmwerken in Wikipedia und Wikidata ist daher sowohl quantitativ als auch qualitativ besser als die der Film-Werktitel in der GND. Ein weiterer Vorteil im Hinblick auf den internationalen Markt des Zugangs zu Filmen ist die Mehrsprachigkeit von Wikidata. In Bezug auf Filmwerke sind z. B. Originaltitel und Verleihtitel häufig in zahlreichen wei ISAN https://isan.org/ (gesehen 6.4.2021). Die Empfehlung an den GND-Ausschuss lautete: „Laut GND-Erfassungsleitfaden (Sonstige Standardnummern 024) wird das MARC21 Feld 024 für Standardnummern anderer Datenbanken benutzt. Aktuell ist das Feld 024 beschränkt auf die Anwendung in Datensätzen Personen und Körperschaften; es könnte auf Werke ebenso angewandt werden. Zugelassen sind alle Nummern aus den Systemen der LOC ‚Standard Identifier Source Code‘. Die Liste enthält u. a. EIDR, ISAN und Wikidata. Validierung: Das Feld 024 ist fakultativ und wiederholbar“; E-Mail der Verf. vom 28.7.2020 an Sarah Hartmann, Deutsche Nationalbibliothek. 60 Siehe den GND-Erfassungsleitfaden (ELF), PICA3 Feld 024, Sonstige Standardnummern, https://wiki. dnb.de/pages/viewpage.action?pageId=50759357 (gesehen 27.3.2021). 58 59

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teren Sprachen hinterlegt. Quantitativ sind darüber hinaus – wie bereits erwähnt – mehr Filmwerke in Wikipedia und Wikidata enthalten als in der GND; die Datensätze sind darüber hinaus qualitativ umfangreicher und besser strukturiert. In einem Wikidata-­ Datensatz zu einem Filmwerk sind häufig weitere Identifikatoren eingebunden, da­ runter globale eindeutige Identifikatoren der Filmindustrie wie Entertainment Identifier Registry (EIDR) und International Standard Audiovisual Number (ISAN) oder Identifikatoren kommerzieller Filmdatenbanken wie Internet Movie Database (IMDb). Die Wikimedia Foundation hat den Vorteil bibliothekarischer Normdateien erkannt und richtete den Bearbeiter/innen in Wikipedia die Möglichkeit ein, Normdaten wie die GND oder die Virtual International Authority File (VIAF) in die Artikel einzubinden. Ziel des Wikidata-Projekts ist es, Verknüpfungen zwischen Normdaten aus Wikidata und Dokumenten aus Wikipedia herzustellen.61 Der Hauptnamensraum der Wissensdatenbank Wikidata ist eine Sammlung von Objekten (Items), die jeweils mit dem Präfix Q und einer Zahl gekennzeichnet werden und gemäß den vom W3C publizierten Empfehlungen und Beispielen guter Praxis für Daten im Netz (‚Data on the Web Best Practices‘) 62 als Identifikatoren von Daten im Internet unter Nutzung von HTTP oder HTTPS als URI (Uniform Resource Identifier), also global eindeutigen Identifikatoren, referenziert werden und als solche abrufbar sind. In Wikidata ist der Autor Alfred Döblin ein Objekt mit der Identifikationsnummer Q57389,63 die Verfilmung Berlin Alexanderplatz aus dem Jahr 1931 hat den Identifikator Q4892355 64 und der Film aus dem Jahr 2020 den Identifikator Q67400758 mit dem zugehörigen Uniform Resource Identifier https://www.wikidata.org/wiki/Q67400758.65 In dem zur Wikidata-QID gehörigen Datensatz zum Film Berlin Alexanderplatz (2020) sind neben strukturierten Daten zur filmografischen Beschreibung sowie zu Nominierungen und Auszeichnungen auch externe Identifikatoren wie z. B. ISAN, EIDR und Google Knowledge Graph enthalten, ebenso solche von Filmdatenbanken wie Filmportal, IMDb oder Streaming-Dienstleistern wie Netflix. 5.3. ISAN – International Standard Audiovisual Number Die Filmindustrie nutzt eindeutige Identifikatoren wie International Standard Audiovis­ ual Number (ISAN) und Entertainment Identifier Registry (EIDR) für die Organisation ihrer Datenworkflows und den weltweiten Vertrieb von Filmen. Sie ermöglichen eine eindeutige Identifizierung und Differenzierung von anderen Werken bzw. varianten Filmfassungen. Siehe Jakob Voß, Susanna Bausch, Julian Schmitt, Jasmin Bogner, Viktoria Berkelmann, Franziska Ludemann, Oliver Löffel, Janna Kitroschat, Maiia Bartoshevska, Katharina Seljuzki: Normdaten in Wikidata. 3.6.2014. (Version 1.0), https://hshdb.github.io/normdaten-in-wikidata/normdaten-in-wikidata.html (gesehen 16.3.2021). 62 Data Identifiers. In: W3C: Data on the Web Best Practices. W3C Recommendation 31  January 2017, https://www.w3.org/TR/2017/REC-dwbp-20170131/ (gesehen 29.3.2021). 63 Wikidata: Alfred Döblin (Q57389), https://www.wikidata.org/wiki/Q57389 (gesehen 27.3.2021). 64 Wikidata: Berlin-Alexanderplatz (Q4892355). 1931 drama film directed by Phil Jutzi, https://www.­ wikidata.org/wiki/Q4892355 (gesehen 27.3.2021). 65 Wikidata: Berlin Alexanderplatz (Q67400758) 2020 film directed by Burhan Qurbani, https://www.­ wikidata.org/wiki/Q67400758 (gesehen 27.3.2021). 61

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ISAN ist ein globales Nummernsystem und Metadatenschema für die eindeutige und persistente Identifizierung von audiovisuellen Werken sowie deren Versionen bzw. Varianten. Zunächst von und für die audiovisuelle Industrie entwickelt, wurde der Standard 2002 als ISO 15706 („Information and documentation – International Standard Audiovisual Number [ISAN]“) 66 publiziert. 2006 folgte die Erweiterung um den Standard ISO 15706-2, der die Identifizierung von Versionen bzw. varianten Fassungen von Werken ermöglicht.67 ISAN dient dazu, Werke zu identifizieren, nicht deren Publikationen oder Rechteinhaber.68 Hierin liegt ein Unterschied zur ISBN (International Stand­ ard Book Number), die als internationale Standard-Nummer nicht allein für Bücher, sondern mitunter auch für Ausgaben von Filmen auf Kaufmedien wie DVD oder Bluray vergeben wird. Im Unterschied zur ISBN bezieht sich ISAN nicht auf die Ausgabe eines Werks, sondern dient dazu, das Werk eindeutig zu identifizieren; somit bleibt die Identifikationsnummer ISAN unveränderlich und unabhängig von diversen Formaten eines Werks. Die ISAN-Identifikationsnummer eines Werks kann über die Webseite der ISAN-Agentur recherchiert werden: https://web.isan.org/public/en/search?isan. Die ISAN-ID ist allerdings nicht frei zugänglich, sondern nur für registrierte Mitglieder und kostenpflichtig. Da das vollständige Datenset nicht offen angezeigt wird, eignet sich die Webseite von ISAN nicht zum Recherchieren der ISAN, wenn die Einrichtung nicht registriert ist. Alternativ kann die ISAN-ID über eine Abfrage des Werks in Wikidata oder EIDR recherchiert werden. ISAN wird nicht nur von der Filmindustrie, sondern auch von Kulturerbe-Einrichtungen verwendet. Das nationale Filmarchiv Frankreichs – Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC) – registriert beispielsweise in Kooperation mit der französischen ISAN-Agentur Agence Française ISAN seit 1. Januar 2017 alle vom CNC geförderten Filme mit einer ISAN.69 Das CNC schafft dadurch Grundlagen für effizientes Datenmanagement von Filmen in unterschiedlichen Nutzungszusammenhängen, da­ runter auch für den Zugang zu Filmen in Video-Streaming-Portalen. Die Bibliothèque nationale de France (BnF) bindet ISAN systematisch in die Normdaten zu Werken ein. Im Katalog der BnF beinhaltet der Datensatz zur Person des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder Verweise auf die von ihm als Regisseur gedrehten Filmwerke, darunter Berlin Alexanderplatz.70 Im Datensatz zum Film-Werk Berlin Alexanderplatz wiederum ist der Identifikator ISAN für das Werk enthalten: 0000-0004-4946-000B-Y-0000-0000-9. Die BnF beteiligt sich darüber hinaus im Sinne ihrer Metadatenstrategie auch aktiv an der Schaffung und Pflege der Identifikatoren für Personen wie ISNI (International Standard Name Identifier) und bindet ISNI in ihre eigenen Daten ein. Im Dezember 2020 publizierte die BnF ein Strategiepapier zum Einsatz von Identifikatoren, in dem https://www.iso.org/standard/28779.html (gesehen 6.4.2021). https://www.iso.org/standard/35581.html (gesehen 6.4.2021). 68 „The ISAN identifies works, not publications (unlike ISBN for books) nor right holders“; ISAN: What is ISAN?, https://www.isan.org/about/ (gesehen 27.3.2021); ISAN User Guide. Version 2.4 vom 5.9.2016, http://www.isan.org/docs/isan_user_guide.pdf (gesehen 14.3.2021). 69 ISAN/CNC. L’inscription ISAN est obligatoire pour tous les projets et travaux soutenus par le CNC à compter du 1er  janvier 2017, 5.1.2017, https://www.france-isan.org/news-actualites-1.html (gesehen 16.3.2021). 70 Siehe den Eintrag zu Rainer Werner Fassbinder im Katalog der BnF: https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/ cb119022942 (gesehen 16.3.2021). 66 67

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auch Identifikatoren für Filmwerke ISAN und EIDR Erwähnung finden. Durch Nutzung der Identifikatoren zielt die BnF u. a. darauf, die leichte Verbreitung der Ressourcen zu fördern, die Provenienz von Ressourcen nachvollziehbar zu machen, das Potential der Vernetzung von Ressourcen innerhalb der BnF sowie mit Dritten zu verbessern und die Sichtbarkeit und Auffindbarkeit der Ressourcen sowie die Interoperabilität zu gewährleisten.71 Während ISAN zu den Identifikatoren zählt, bei denen die BnF prüft, ob sie Verantwortung übernehmen wird, gehört EIDR zu den Identifikatoren, die die BnF zwar in ihre Datenflüsse integriert, für die sie sich aber nicht engagiert. In der Filmindustrie zählen die Identifikatoren International Standard Audiovisual Number (ISAN) und Entertainment Identifier Registry (EIDR) zu den maßgeblichen internationalen Systemen. 5.4. EIDR – Entertainment Identifier Registry EIDR (Entertainment Identifier Registry) ist ein System universaler eindeutiger Identifikatoren für Ressourcen im Bereich Film und Fernsehen für Werke sowie deren Expressionen und Manifestationen. Die Registrierung von EIDR basiert auf dem ISO-Digital-Object-Identifier-Standard DOI.72 EIDR wurde 2010 für die automatisierte Maschine-zu-Maschine-Kommunikation entwickelt und dient dem effizienten Datenaustausch beim Workflow der digitalen Verwertung von Filmen.73 Gegründet als indus­trielle Non-Profit Vereinigung, sind dem Standard neben Hollywood-­MajorFilmstudios wie Sony Pictures, The Walt Disney Studios oder WarnerMedia auch Video-Streaming-Portale wie Netflix sowie Unternehmen der Medien-, Kommunikations- und Software-Branche wie Google als Board Members beigetreten.74 Zu den ‚Promoters‘ zählen u. a. Apple, Microsoft und Paramount, zu Beiträgern (‚Contributors‘) Fernsehsender wie PBS und Medienanalyse-Firmen wie Ampere Analysis. Partner (‚Partners‘) sind u. a. das Digital Object Identifier System doi, Filmarchive und Bibliotheken wie das British Film Institute (BFI), die Library of Congress (LOC) und die Technische Informationsbibliothek Hannover (TIB). Zum Stand 2020 waren über 2,2 Millionen Identifikatoren in EIDR enthalten.75 Der EIDR-Standard definiert auf der obersten Ebene das filmische Werk mit einer EIDR-ID, der Datensatz der Werk-Ebene wird auch als „EIDR Base Object Data“ bezeichnet bzw. als „Level 1: Title Level (Abstraction) – a work in its most general form, including movies, episodes, and TV specials.“ 76 Auf der mittleren Ebene identifiziert eine multiple EIDR-Edit-ID die verschiedenen Schnittfassungen eines Werks, die „edits“ genannt werden („Level 21: Edit and Clip Level (Performance) – creative

BnF: Politique identifiants de la Bibliothèque nationale de France: déclaration de principes. Dezember 2020, S. 4, https://www.bnf.fr/fr/politique-identifiants-bnf (gesehen 16.2.2021). 72 EIDR, https://eidr.org/ (gesehen 6.4.2021). 73 Zu den folgenden Ausführungen s. auch Bohn 2018 (Anm. 47), S. 27 f. 74 EIDR Members, https://www.eidr.org/eidr-members/ (gesehen 27.3.2021). 75 Kip Welch: New Platform + New Use Cases for Entertainment ID Registry (EIDR). July 2, 2020, Time Code 2 min. 00 sec. bis 3 min.15 sec., https://www.eidr.org/video/ (gesehen 8.4.2021). 76 EIDR 2.6 Data Fields Reference. v2.2a 2020/07/10, https://www.eidr.org/documents/EIDR%202.6%20 Data%20Fields%20Reference.pdf (gesehen 8.4.2021). 71

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changes to a work“).77 Eine dritte Ebene bildet die EIDR-Manifestation-ID. Sie identifiziert spezifische Ausgabeprodukte, die jeweils mit der Edit-ID verknüpft werden („Level  3: Manifestation Level (commonly Digital) – technical representations and encodings, including language versions (‚subs and dubs‘).“) 78 Diese Ausgabeprodukte können spezifische Dateien sein oder eine Kombination von Sprachen auf parallelen Tonspuren beinhalten und/oder technische Parameter wie z. B. Auflösung. Der EIDR-Identifikator der Filmindustrie zielt darauf, die Filme und Filmfassungen für die internationale Verwertung in verschiedenen Sprachen und gegebenenfalls veränderten Fassungen eindeutig zu identifizieren. Die beschreibenden Metadaten werden dabei auf Mindeststandards beschränkt, die ausreichend sind, um Titelaufnahmen zu unterscheiden. Ein weiteres Leitprinzip ist, dass das Datenmodell den automatisierten Abgleich – das Matching – unterstützen soll, insbesondere um die Registrierung von Dubletten zu vermeiden. In dem Beziehungsfeld (‚Relationships‘) wird die Zugehörigkeit eines Datensatzes zu einem übergeordneten Werk wiedergegeben, z. B. sind variante Schnittfassungen bzw. Expressionen eines Werks über die Beziehungskennzeichnung ‚isEditOf‘ mit der Werk-Ebene verknüpft; die Staffeln einer Fernsehserie sind mit der Beziehungskennzeichnung ‚isSeasonOf‘ mit dem übergeordneten Datensatz der Serie verknüpft, Episoden mit der Beziehungskennzeichnung ‚isEpisodeOf‘. EIDR und ISAN sind seit 2019 interoperabel,79 zwischen EIDR und ISAN existiert ein Mapping.80 Die Datenbank von EIDR ist im Unterschied zu ISAN frei zugänglich; eine EIDR-ID für ein Werk kann daher online recherchiert – und dabei gegebenenfalls auch die ISAN-ID ermittelt – werden unter der Webseite https://ui.eidr.org/search. Eine Suche nach Berlin Alexanderplatz in der Suchmaske von EIDR führt zu den drei Verfilmungen des Werks: zu dem unter der Regie von Phil Jutzi gedrehten Film von 1931 (Abb. 3),81 zum Film von 2020 (Regie: Burhan Qurbani) 82 sowie zur Fernsehserie Berlin Alexanderplatz von Rainer Werner Fassbinder (Produktionsjahr 1979; Erstsendung: 1980).83 In der URI enthalten ist jeweils die Identifikationsnummer zu dem Werk, im Falle der Verfilmung von 1931 die EIDR ID: 10.5240/6406-1788-8079-2362-F1C 3-C. In dem EIDR-Datensatz können auch abweichende Titel (‚Alternate Titles‘) enthalten sein. Außerdem sind u. a. die Angaben zu Produktionsfirma, Erscheinungsdatum des Werks und Land der Produktion enthalten, dazu weitere Identifikatoren anderer Datenbanken und Firmen, wie z. B. Wikidata, ISAN und IMDb. Der Datensatz beinhaltet EIDR: Introduction to the EIDR Data Model. Mysteries Revealed. V05 2017/02/08, https://eidr.org/documents/Introduction_to_the_EIDR_Data_Model.pdf, S. 3 (gesehen 7.4.2021). 78 EIDR: Introduction to the EIDR Data Model. Mysteries Revealed. V05 2017/02/08, https://eidr.org/documents/Introduction_to_the_EIDR_Data_Model.pdf, S. 3 (gesehen 7.4.2021). 79 EIDR and ISAN interoperability, https://www.eidr.org/standards-and-interoperability/ (gesehen 29.3.2021). 80 ISAN & EIDR metadata schema mapping. Version 1.0. Genf: ISAN, 12. Dezember 2012, http://www. isan.org/docs/ISAN-EIDR_Metadata_Schema_Mapping.pdf (gesehen 22.3.2021). 81 EIDR Base Object Data Berlin Alexanderplatz 1931, URI: https://ui.eidr.org/view/con­ tent?id=10.5240/6406-1788-8079-2362-F1C3-C (gesehen 1.4.2021). 82 EIDR Base Object Data Berlin Alexanderplatz 2020, URI: https://ui.eidr.org/view/con­ tent?id=10.5240/879C-B88C-D10A-03F7-796D-Y (gesehen 1.4.2021). 83 EIDR: Base Object Data Berlin Alexanderplatz 1980, https://ui.eidr.org/view/content?id=10.5240/4433590D-6CFD-68A2-819B-1 (gesehen 6.4.2021). 77

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Abb. 3: Ausschnitt EIDR Base Object Data Berlin Alexanderplatz (1931), EIDR ID 10.5240/6406-1788-8079-2362-F1C3-C, Screenshot https://ui.eidr.org/view/content?id=10.5240/6406-1788-8079-2362-F1C3-C (gesehen 13.8.2021).

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eine begrenzte Zahl von Stabangaben wie Regie sowie vier Schauspieler nach der Reihenfolge der Nennung im Titelvorspann. Es handelt sich dabei um ein Mindestset von Daten, das geeignet ist, ein Werk eindeutig zu identifizieren und von anderen Werken zu unterscheiden. Die Vorteile der Einbindung des Identifikators EIDR für das Datenmanagement einer Kulturerbe-Einrichtung verdeutlicht das Beispiel des British Film Institute (BFI). Das BFI registriert sämtliche abendfüllenden Filmwerke, die in Großbritannien im Kinoverleih starten, mit einem EIDR-Identifikator als Teil des regulären Geschäftsgangs im Workflow der Dokumentation. Durch die Nutzung des EIDR-Identifikators und der EIDR-REST-API 84 konnten auch die in den Datensätzen enthaltenen alternativen Identifikatoren abgerufen und genutzt werden, um die eigenen Daten anzureichern. Die nachträgliche Registrierung aller in der BFI-Datenbank enthaltenen britischen Spielfilme mit dem Identifkator EIDR ermöglichte, eine nationale Filmografie zu erstellen. Das BFI bezog die Metadaten unter strategischen Gesichtspunkten in die Planungen für den Fünfjahresplan 2017 bis 2022 ein und definierte die Anreicherung von Metadaten der neu erstellten nationalen Filmografie als eine Priorität. Die Metadaten der Filme stehen für Big-Data-Analysen zur Verfügung, z. B., um ein detailliertes Bild von Geschlecht und ethnischer Diversität der Filmschaffenden vor und hinter der Kamera zu gewinnen. So lassen sich Forschungsfragen wie z. B. die Frage nach den produktivsten Regisseurinnen der nationalen Filmografie des BFI visualisieren. Die Daten sind daher geeignet, als Grundlage nicht nur für die Forschung, sondern auch für andere Bereiche zu dienen, etwa die Kulturpolitik oder Filmförderung. Die Daten können ebenso als Grundlage für die Einrichtung von personalisierten Empfehlungssystemen dienen. Das Beispiel des BFI verdeutlicht die Vorteile der Einbindung von Normdaten zu filmischen Werken.

6. Vernetzung mit Identifikatoren – Empfehlungen für die Filmedition Die EU-Kommission publizierte im Rahmen ihrer Strategie zur digitalen Transformation Shaping Europe’s digital future am 16. April 2019 die Empfehlung, audio­ visuelle standardisierte Kennungen (Identifikatoren) für audiovisuelle Inhalte zu nutzen: Da immer mehr Inhalte produziert werden und online verfügbar sind, besteht ein zunehmender Bedarf, diese Inhalte zu identifizieren und nachzuverfolgen. Audiovisuelle Standardkennungen (Identifikatoren) bieten die Lösung, um Rechteverwaltung und digitalen Vertrieb zu vereinfachen sowie Content leichter auszutauschen und auffindbar zu machen – für die professionelle Nutzerschaft wie für Fans gleichermaßen.85

Die EU-Kommission identifizierte ISAN und EIDR als wichtige Akteure, um Produzenten, Händlern, Rundfunk- und Fernsehanstalten und Anbietern von Onlinediensten bei der Automatisierung von Arbeitsabläufen zu helfen. Zeitgleich gaben EIDR und REST steht für REpresentational State Transfer, API für Application Programming Interface. Damit wird eine Programmierschnittstelle zur Kommunikation zwischen Client und Server in Netzwerken bezeichnet. 85 European Commission: A step forward towards Standard Identifiers to simplify audiovisual content ex­ change. 16.4.2019, https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/news/step-forward-towards-standard-identifierssimplify-audiovisual-content-exchange (gesehen 27.3.2021). 84

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ISAN-International Agency (ISAN-IA) bekannt, einen gemeinsamen Registrierungsdienst in Betrieb genommen zu haben.86 Um Normdatensysteme für die Filmedition produktiv zu nutzen, stellt sich die Anforderung, bei der Edition eines Filmwerks oder filmbegleitender Dokumente zukünftig die Normdaten als Werktitel in der GND systematisch zu erfassen oder diese in die Edition einzubinden.87 Maßgebliche globale eindeutige und persistente Identifikatoren wie ISAN und/oder EIDR 88 sollten zudem als externe Identifier in den GND-Normdatensatz zu einem Filmwerk standardmäßig eingebunden werden, ebenso wie die Wikidata-ID. Die Einbindung externer Identifikatoren ist eine Voraussetzung für den domänenübergreifenden Datenaustausch und ermöglicht die Kontextualisierung von Werken, z. B. durch Vernetzung mit weiteren Informationen, Archivdokumenten und Beständen. Durch die Vernetzung der Daten anderer Domänen mit der GND und Einbindung externer Identifikatoren können Bibliotheken, Filmarchive, öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalten und andere Kulturerbe-Institutionen, die Filmwerke und/oder kontextualisierende Informationen oder Bestände beherbergen, das Kulturgut vernetzt zugänglich machen und verbesserte Sichtbarkeit erlangen. Angesichts der wachsenden Konkurrenz kommerzieller Video-Streaming-Dienstleistungen könnten damit die Vorteile der Sammlungen von Filmen in Bibliotheken, Archiven und Museen und die Titelbreite und Vielfalt des Angebots besser vermittelt werden. Filmwerke eignen sich aufgrund der Tatsache, dass eine Vielzahl von Personen, Körperschaften und schöpferischen Gewerken an der Herstellung beteiligt sind, in herausragender Weise für die Verknüpfung und Vernetzung von Informationen. Eine Anreicherung von Daten ermöglicht die Verknüpfung zu Beständen nicht nur innerhalb einer Einrichtung, sondern eröffnet darüber hinaus Möglichkeiten für die Vernetzung von Daten und Inhalten über die Grenzen der Institutionen hinweg. Eine solche Vernetzung bietet Kultureinrichtungen die Perspektive zur enormen Ausweitung des Angebots und wäre insbesondere im Hinblick auf mit wissenschaftlichem Anspruch erarbeitete Filmeditionen von großem Interesse, da sie ermöglicht, kontextualisierende Materialien zu einem Filmwerk aus unterschiedlichen Filmerbe-Einrichtungen virtuell zusammenzuführen. Idealerweise sollten neben den Werk-Normdaten und maßgeblichen universalen Identifikatoren zu Werken ebenso die an dem Werk mitwirkenden Personen mit der wichtigsten Normdatei des deutschsprachigen Raums, der GND, sowie mit dem International Standard Name Identifier (ISNI) verknüpft werden. ISNI wurde von der Internationalen Organisation für Normung als ISO 27729 entwickelt,89 ist mit der Virtual International Authority File (VIAF) interoperabel und führt Metadaten verschiedener Domänen zusammen – darunter Daten aus der Musikindustrie, Literatur, Filmindustrie etc. Darüber hinaus sollte der Identifikator ORCID (Open Researcher and Contributor ID) für Personen genutzt werden, die maßgeblich für die wissenschaftliche Rekon­ struktion oder Restaurierung eines Filmwerks verantwortlich zeichnen. Dies ermöglicht, die Eigenschaften einer restaurierten Fassung oder Rekonstruktion zu kennzeich Interoperable Audiovisual Standard Identifiers. Obtain both EIDR & ISAN IDs with a single registration, http://standard-ids.org/ (gesehen 27.3.2021). Siehe dazu das Projekt der Verf. (Anm. 52). 88 Vgl. Bohn 2018 (Anm. 47), S. 88. 89 https://www.iso.org/standard/44292.html (gesehen 6.4.2021). 86 87

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nen. Eine solche Beziehungskennzeichnung kann neben weiteren Angaben wie z. B. Titel der varianten Fassung zur Disambiguierung varianter Fassungen (Expressionen) eines Werks dienen. ORCID ist interoperabel mit International Standard Name Identifier (ISNI) zur eindeutigen, persistenten und globalen Identifizierung von Personen oder Organisationen. Zwischen GND-Normdaten und ORCID existiert durch die Verlinkung der Autorenidentifikation ebenso bereits eine Brücke.90 Grundsätzlich lässt sich als allgemeines Desiderat formulieren, dass ein Filmwerk bereits zu Beginn seiner Entstehung, möglichst bereits bei der Beantragung von Fördermitteln, mit einem eindeutigen Identifikator versehen werden sollte. Daher sollte die Filmförderung an die Bedingung geknüpft werden, den Film mit einem Identifikator zu registrieren, der geeignet ist, das Filmwerk in seinem ganzen Lebenszyklus der Verwertung zu begleiten, von der Genese des Werks über seine Zugänglichmachung und Distribution bis hin zur langfristigen Archivierung. Filme bilden Knotenpunkte des Wissens in einem im Laufe ihrer Entstehungs-, Aufführungs- und Überlieferungsgeschichte stetig wachsenden Netzwerk. Durch die Einbindung von Identifikatoren bei der Suche nach dem literarischen Werk Berlin Alexanderplatz von Döblin in Bibliotheks- und Bestandskatalogen von Kulturerbe-­ Einrichtungen könnten künftig auch sämtliche im Bestand befindliche Ausgaben eines Werks, die auf Trägermedien erschienen oder im Video-Stream verfügbar sind, verknüpft mit den jeweiligen Film-Werken bzw. deren literarischer Vorlage angezeigt werden. Eine Online-Edition, die darauf zielt, Bezüge zwischen Werken vernetzt anzuzeigen, bedarf als Grundlage der eindeutigen Identifizierung und Disambiguierung der nach der Romanvorlage neu geschaffenen Werke, sowohl der filmischen Werke als auch der diversen Hörspiel-Adaptionen. Auf diese Weise können die Adaptionen im Rahmen einer multimedialen Edition mit den Vorstufen des Werks vernetzt auffindbar gemacht und in die Online-Edition eingebunden und die Daten im Netz domänenübergreifend ausgetauscht werden. Für die wissenschaftlich fundierte Filmedition sollten entsprechend die FAIR-Data-Prinzipien Anwendung finden: Auffindbarkeit (Findabil­ ity), Zugänglichkeit (Accessibility), Interoperabilität (Interoperability) und Nachnutzbarkeit (Reusability).91 Die Beachtung der FAIR-Prinzipien beinhaltet, Filmeditionen durch Nutzung von Identifikatoren für Filmwerke leicht auffindbar und zugänglich zu machen. Um die Referenzierbarkeit und Auffindbarkeit der Forschung zu Filmen zu verbessern, sollte als Standard der mit dem Gegenstand Film befassten wissenschaftlichen Publikationen zudem gelten, in der Filmografie die eindeutigen Identifikatoren der analysierten oder zitierten Filmwerke anzugeben, also z. B. eine EIDR-ID oder einen VIAF permalink, falls vorhanden. Kroon u. a. weisen in ihrem Whitepaper The Power and Promise of Identification darauf hin, dass die Angabe der DOI im Literaturver Siehe dazu Sarah Hartmann, Heinz Pampel: GND und ORCID: Brückenschlag zwischen zwei Systemen der Autorenidentifikation. In: Bibliotheksdienst 51, H. 7, 16.6.2017, DOI: https://doi.org/10.1515/bd2017-0062 (gesehen 6.4.2021). 91 GO-FAIR.org. FAIR Principles, https://www.go-fair.org/fair-principles/ (gesehen 16.3.2021). – M. D. Wilkinson u. a.: The FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship. In: Sci. Data 3:160018 doi: 10.1038/sdata.2016.18, 2016, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4792175/ (gesehen 29.3.2021). 90

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zeichnis eine eindeutige und maschinenlesbare Referenzierung der verwendeten Literatur ermöglicht und umgekehrt auch dazu dient, wissenschaftliche Forschung zu bestimmten eindeutig referenzierten Quellenmaterialien auffindbar zu machen: „Using DOIs in academic citation provides an unambiguous reference to the source material. The DOI citations also work in the reverse direction to provide cited-by references, indicating where and how often each piece of source material is referenced by third parties.“ 92 Kroon u. a. führen als Beispiel die medienwissenschaftliche Dissertation Celluloid love: audiences and respresentations of romantic love in late capitalism von Benjamin de la Pava Velez an, die 111 DOI-Referenzen in der 42-seitigen Bibliografie beinhalte.93 Die Einbindung von Identifikatoren und Normdaten in Filmografien wissenschaftlicher Publikationen ermöglicht z. B., durch Datenanalysen zu ermitteln, zu welchen Film-Werken geforscht wird, und diese Forschungsliteratur vernetzt mit dem Werk auffindbar zu machen. In Bezug auf die Film-Metadaten erfassen (Film-)Archive, Bibliotheken, Museen, öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten und die Filmindustrie Daten zu der Ebene ‚Werk‘. Es ist ein Desiderat, die Daten künftig auszutauschen. Eine Voraussetzung hierfür ist, filmische Werke und ihre varianten Fassungen eindeutig zu identifizieren und voneinander zu unterscheiden. Normdaten zu Filmwerken sind ein Schlüssel zur Vernetzung von Daten im Semantic Web. Sie können zum Aufbau innovativer Informationsdienstleistungen genutzt und für multimediale Editionen eingesetzt werden, z. B., um die Sichtbarkeit dieser Editionen im World Wide Web zu steigern oder um neue Formen der Edition zu realisieren, etwa um die Genese eines Werks zu veranschaulichen, um unterschiedliche Vorstufen eines Werks und kontextualisierende Materialien aus Kulturerbe-Einrichtungen verschiedener Länder virtuell vernetzt zu präsentieren und kritisch zu kommentieren. Darüber hinaus können sie dazu dienen, im Rahmen multimedialer Editionen die Werke und Fassungen mit den ihnen zugrundeliegenden literarischen Vorlagen zu vergleichen, unterschiedliche Fassungen zu kollationieren und in der kritischen Edition zu visualisieren. Zum konzeptionellen Aspekt des Netzwerks bemerkte Bruno Latour, das Wort ‚Netzwerk‘ beschreibe nicht einfach Dinge in der Welt, die die Form eines Netzes annehmen, sondern eine Art der Untersuchung (‚mode of inquiry‘), die immer neue Elemente, die vordem unsichtbar waren, für den Untersuchenden sichtbar macht: „In network, it’s the work that is becoming foregrounded, and this is why some suggest using the word worknet instead.” 94

Richard W. Kroon, Raymond Drewry, Andrea Leigh, Stephen McConnachie: The Power and Promise of Identification. The Benefits of Universal Identification and the 21st Century Audiovisual Archive. Whitepaper. 2019, S. 24 f., https://www.eidr.org/assets/The-Power-and-Promise-of-Identification.pdf (gesehen 29.3.2021). 93 In der publizierten Fassung der Dissertation sind DOI-Angaben im Literaturverzeichnis enthalten, EIDR-Identifikatoren sind in der Filmografie jedoch nicht angegeben; die Angaben der Filmografie in Appendix 1 sind reduziert auf eine Jahreszahl und einen englischsprachigen Titel; Benjamin de la Pava Velez: Celluloid love: audiences and representations of romantic love in late capitalism. PhD thesis, The London School of Economics and Political Science (LSE) 2017. DOI: https://doi.org/10.21953/ lse.5oi7jyg00b67. http://etheses.lse.ac.uk/3602/ (gesehen 11.4.2021). 94 Bruno Latour: Networks, Societies, Spheres: Reflections of an Actor-Network Theorist. In: International Journal of Communication 5, 2011, S. 796–810, hier S. 799 und 802. 92

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7. Vision Berlin Alexanderplatz – ein Ausblick In einer Welt vernetzter Daten führt die Suche nach Berlin Alexanderplatz auf dem Portal einer Kulturerbe-Einrichtung zu einer Darstellung als Wissensgraph: Ausgehend von dem Roman sind die nach der literarischen Vorlage geschaffenen Verfilmungen und Hörspiele vernetzt dargestellt, Bildsymbole (Icons) symbolisieren dabei die unterschiedlichen Typen von Werken – ein aufgeschlagenes Buch den Roman, eine Filmklappe den Film, ein Lautsprecher das Hörspiel. Die Filmwerke sind mit Vorschaubild, Originaltitel und dem Jahr der ersten Veröffentlichung gekennzeichnet; die Hörspiele mit Titel, Jahr der ersten Ausstrahlung und Kürzel der Rundfunkanstalten, die als Produzenten agierten. Die domänenübergreifende Nutzung der GND-Werk-Normdaten gestattet, die unterschiedlichen nach literarischer Vorlage von Alfred Döblin geschaffenen Hörspiele und Filme eindeutig zu identifizieren und für die Nutzerschaft domänen- und institutionenübergreifend in Kulturerbe-Einrichtungen und in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten auffindbar zu machen. Somit ergibt eine Suche nach Berlin Alexanderplatz als Ergebnis ein Netz von Werken: neben dem Roman sind drei Verfilmungen von 1931, 1980 und 2020 sowie fünf unterschiedliche Hörspiel-Produktionen aus den Jahren 1930, 1958, 1962, 1963 und 2007 vernetzt präsentiert. Die Werk-Netze lassen sich auf unterschiedliche Weise grafisch darstellen und über einen Zeitstrahl abbilden. In der Ansicht als Zeitstrahl ist die Verfilmung von 1931 unter der Regie von Phil Jutzi mit dem Datum der Erstaufführung angezeigt. Die zeitgenössischen Filmkritiken in Zeitungen und Zeitschriften sind als Volltexte abrufbar. Über einen Globus lässt sich die weltweite Distribution des Films 1931 visualisieren, lassen sich Kino­starts, Zulassungsdokumente und Aufführungsorte finden. Eine automatisierte Suche mit Normdaten unter Anwendung von Verfahren der Named Entity Recognition fördert Informationen zur Aufführungsgeschichte in digitalisierten Quellen weltweit zutage: darunter Annoncen des Kinoprogramms, Adressen der Kinopaläste in Adressbüchern und Fotografien der Kinopaläste in Wikipedia und Kulturerbe-Einrichtungen. Beim Klick auf die Verfilmung 1931 öffnet sich das Netzwerk des Films: Die maßgeblich an der Schöpfung des Werks Beteiligten sind namentlich und mit ihrer Funktion im Film genannt und als Vorschaubild angezeigt, neben den Drehbuchautoren Alfred Döblin und Hans Wilhelm z. B. der Regisseur Phil Jutzi und der Produzent Arnold Pressburger. Die Personen sind jeweils mit den Normdaten der GND und über die GND auch mit ISNI und Wikidata verknüpft. Die Darsteller/innen und ihre Rollen werden namentlich und durch Standfotos aus dem Film als Bild repräsentiert, darunter Heinrich George (Franz Biberkopf), Maria Bard (Cilly), Margarete Schlegel (Mieze) oder Bernhard Minetti (Reinhold). Die biografischen Informationen speisen sich aus Quellen wie Wikipedia, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Deutschen Historischen Museum mit der LeMO-­ Datenbank, dem Filmportal oder der Deutschen Kinemathek Berlin – Museum für Film und Fernsehen.95 Zur Nutzung der GND im Archiv der Akademie der Künste Berlin s. Heiko Hübner: Wozu Normdaten? In: Journal der Künste 8, 2018: Sonderheft Archiv, S. 81.

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Für wissenschaftlich interessierte Nutzer/innen bietet sich die Option, nach Archivquellen zu einem Werk in einer Vielzahl von Archiven weltweit zu suchen, etwa unter Rückgriff auf das Bundesarchiv Deutschland und weitere Archive im Archivportal D, die Deutsche Digitale Bibliothek oder die Filmarchive des internationalen Verbands FIAF (Fédération internationale des archives du film / International Federation of Film Archives). Die Suche in den in- und ausländischen Archiven fördert neben überlieferten zeitgenössischen Film- und Tondokumenten auch filmbegleitende Materialien zutage, darunter Drehbuch, Zensurkarten zum Film, Werkfotos oder Standfotos, Werbematerialien wie Filmplakate, Aushangfotos oder Trailer zum Film oder Archivdokumente zur Produktionsgeschichte. Die Dokumente zur Genese des Hörspiels Die Geschichte vom Franz Biberkopf von 1930 geben Einblick in die Mediengeschichte der ersten Jahre des Rundfunks, der Funk-Stunde Berlin und des neuen Genres Hörspiel vor dem zeithistorischen Hintergrund der späten Weimarer Republik in den Jahren des erstarkenden Nationalsozialismus und erlauben eine Spurensuche nach den Gründen, die 1930 zur kurzfristigen Absetzung des Hörspiels aus dem Radioprogramm führten. Soweit die rechtlichen Grundlagen es gestatten, sind die Archivdokumente in der multimedialen Edition frei zugänglich, darunter solche aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Bundesarchiv Deutschland, der Deutschen Kinemathek Berlin oder der Akademie der Künste Berlin. Bei urheberrechtlich geschützten Werken ist die Ansicht der Voll­ texte über authentifizierten Zugang durch vorherige Registrierung für wissenschaftliche Nutzung möglich. Eine multimediale Edition der Verfilmung von 1931 erlaubt, aus dem Film heraus die Vorstufen des Werks anzuwählen und von einer Szene des Films zu der entsprechenden Stelle im Drehbuch und zur literarischen Vorlage zu gelangen. Die Vorstufen des Werks sind in der multimedialen Edition vernetzt abrufbar, darunter das Manuskript zu Berlin Alexanderplatz aus dem Nachlass Döblin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, das als Digitalisat in der virtuellen Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne in Marbach zugänglich ist, ebenso wie die Digitalisate der überlieferten Exemplare des Drehbuchs zum Film in den Sammlungen der Deutschen Kinemathek Berlin, des DFF – Deutsches Filminstitut und Filmmuseum Frankfurt a. M. und dem Heinrich-George-Archiv der Akademie der Künste Berlin. Die multimediale Edition bietet an ausgewählten Stellen mit dem Time-Code des Films verknüpfte Kommentare zur Genese des Werks. Die Figurenkonstellationen des Ro­mans von 1929, des Hörspiels von 1930 und der Verfilmung von 1931 sind jeweils als Netzwerke visualisiert und miteinander zu vergleichen. Grundlage bildet die Datenanalyse auf Basis automatischer Texterkennung, Bilderkennung und Spracherkennung der digitalisiert vorliegenden Werke. Die Montage-Technik des Romans mit seinen Versatzstücken aus der zeitgenössischen Realität von 1928 ist in der multimedialen Edition an ausgewählten Stellen sichtbar: Die in den Roman montierten Versatzstücke aus Musik, Reklame, Radio, Zeitungen oder Anspielungen auf historische Ereignisse und Persönlichkeiten sowie Zitate aus religiösen Texten lassen sich dank maschinengestützter Suche in zeitgenössischen Quellen zurückverfolgen. Die Topografien des Romans Berlin Alexanderplatz von 1929, des Hörspiels von 1930 und der Verfilmung von 1931 sind mit Hilfe eines digitalisierten zeitgenössischen

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Stadtplans von Berlin im virtuellen Raum vernetzt präsentiert, die Schauplätze von Roman, Hörspiel und Verfilmung werden mittels Textstellen, Fotografien, Tondokumenten, zeitgenössischen Schlagern und Filmausschnitten in einer Zeitreise multimedial erfahrbar. Weiterführende Literatur ist vernetzt angezeigt, so z. B. Döblins Berlin. Literarische Schauplätze von Michael Bienert.96 Eine App bietet die Möglichkeit, eine Zeitreise von dem Berlin an der Schwelle zu den 1930er Jahren hin zum Berlin des Jahres 2020 zu unternehmen und die Schauplätze des Romans und der ersten Verfilmung 1931 mit der Stadtlandschaft der Verfilmung 2020 virtuell zu begehen. „Aber die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und seine Füße. Man muß die Welt sehen können und zu ihr hingehn.“ 97 Identifikatoren ermöglichen die Vernetzung von Daten und Inhalten sowie das Zirkulieren von Informationen im weltweiten Netz. Die systematische Nutzung von Identifikatoren und Normdaten für Filmwerke ist ein erster grundlegender Schritt hin zu neuen Formen der vernetzten Online-Edition von Filmen im Semantic Web.

Filmografie –– Berlin – Alexanderplatz (1931). Regie: Phil Jutzi. Dialog-Regie: Karlheinz Martin. Drehbuch: Alfred Döblin, Hans Wilhelm. Literarische Vorlage: Alfred Döblin (Roman); Kamera: Nicolas Farkas. Schnitt: Géza Pollatschik. Musik: Allan Gray. Darsteller/innen: Heinrich George (Franz Biberkopf); Maria Bard (Cilly); Margarete Schlegel (Mieze); Bernhard Minetti (Reinhold); Gerhard Bienert (Klempner-Karl); Albert Florath (Pums); Paul Westermeier (Gastwirt Hentschke); Jakob Tiedtke (Gast bei Henschke); Hans Deppe (Gast bei Henschke); Julius Falkenstein (Geschäftemacher) u. a. Produktion: Allianz-Tonfilm GmbH (Berlin). Produzent: Arnold Pressburger. Prüfung/Zensur: FSK-Prüfung (Deutschland): 5.9.1970, 36086 [2.  FSK-Prüfung]. Uraufführung (Deutschland): 8.10.1931, Berlin, Capitol. GND-ID: 4427495-6. EIDR-ID: 10.5240/6406-1788-8079-2362-F1 C3-C. EIDR-URI: h­ ttps://ui.eidr.org/view/content?id=10.5240/6406-17888079-2362-F1C3-C (gesehen 7.4.2021). Wikidata-ID: Q4892355. Wikidata-­ URI: https://www.wikidata.org/wiki/Q4892355 (gesehen 7.4.2021). Filmportal: https://www.filmportal.de/film/berlin-alexanderplatz_d0458cc947a34bd393410cccefbe28f0 (gesehen 3.4.2021). –– Berlin Alexanderplatz (1979/1980). Regie: Rainer Werner Fassbinder. Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder. Literarische Vorlage: Alfred Döblin (Roman). Kamera: Xaver Schwarzenberger. Schnitt: Juliane Maria Lorenz, Rainer Werner Fassbinder. Musik: Peer Raben. Darsteller/innen: Günter Lamprecht (Franz Biberkopf); Hanna Schygulla (Eva); Barbara Sukowa (Emilie „Mieze“ Karsunke); Gottfried John (Rein Michael Bienert: Döblins Berlin. Literarische Schauplätze. Berlin 2017. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Kassel 1948, S. 25.

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hold Hoffmann) u. a. Produktion: Bavaria Atelier GmbH (München-Geiselgasteig) im Auftrag von Westdeutscher Rundfunk (WDR) (Köln), Radiotelevisione Italiana (RAI) (Rom). Produzent: Günter Rohrbach (Gesamtleitung), Peter Märthesheimer. Länge: 869 min. bei 25 b/s. GND-ID: 4287540-7. EIDR-ID: 10.5240/25E8-DFD5-E73EC038-744D-U. EIDR-URI: https://ui.eidr.org/view/content?id=10.5240/25E8DFD5-E73E-C038-744D-U (gesehen 7.4.2021). Wikidata-ID: Q705694. Wikidata-URI: https://www.wikidata.org/wiki/Q705694 (gesehen 7.4.2021). Filmportal:  https://www.filmportal.de/film/berlin-alexanderplatz-14-teile_e4094bdb65b84e708ebd87ba3c66cbaa (gesehen 3.4.2021). –– Berlin Alexanderplatz (2020). Land: Deutschland, Niederlande, 2020. Spielfilm. Regie: Burhan Qurbani. Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke. Literarische Vorlage: Alfred Döblin (Roman). Kamera: Yoshi Heimrath. Schnitt: Philipp Thomas. Musik: Dascha Dauenhauer. Darsteller/innen: Welket Bungué (Francis/Franz); Jella Haase (Mieze); Albrecht Schuch (Reinhold); Joachim Król (Gangster-Boss Pums); Annabelle Mandeng (Eva); Nils Verkooijen (Berta); Richard Fouofié Djimeli (Ottu); Thelma Buabeng (Amera); Faris Saleh (Masud); Mike Davies (Bantu). Produktionsfirma: Sommerhaus Filmproduktion GmbH (Ludwigsburg) in Co-Produktion mit Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF)/ARTE (Mainz); Lemming Film BV (Amsterdam). Produzent: Leif Alexis, Jochen Laube, Fabian Maubach. FSK-Prüfung (DE): 16.3.2020, 198035, ab 12 Jahre / feiertagsfrei. Uraufführung (DE): 26.2.2020, Internationale Filmfestspiele Berlin, Wettbewerb. Kinostart (Deutschland): 16.7.2020. EIDR-ID:10.5240/879C-B88C-D10A-03F7-796D-Y. EIDR-URI: https://ui.eidr. org/view/content?id=10.5240/879C-B88C-D10A-03F7-796D-Y (gesehen 6.4.2021). Wikidata-ID: Q67400758. Wikidata-URI: https://www.wikidata.org/ wiki/Q67400758 (gesehen 7.4.2021). Filmportal: https://www.filmportal.de/film/ berlin-alexanderplatz_b8f84eaebd1a411ca48be96c87cf98ac (gesehen 3.4.2021). fsk Berlin Alexanderplatz, https://www.spio-fsk.de/?seitid=2737&tid=469&Vers=1&FGID=5585 (gesehen 3.4.2021). Hörspielverzeichnis98 –– Die Geschichte vom Franz Biberkopf. (RRG 1930). Produktion: Reichs-Rundfunk-Gesellschaft mbH. Datum: 30.9.1930. Abstract: Die für 30.9.1930 angesetzte Ursendung fand nicht statt; ausschlaggebend waren wohl rundfunkpolitische und künstlerische Gründe. Erhalten blieb der für die Sendung vorgesehene Schallplattensatz (gekennzeichnet mit ‚Versuchsaufnahme‘, jedoch im RGG-Katalog nicht als solche ausgewiesen); die hier vorliegende Fassung wurde erstmals in den 1950er Für Auskünfte zu den Datenbanken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) danke ich folgenden Personen und Institutionen: Andreas Rühl, Deutsches Rundfunkarchiv (DRA); Sönke Treu, Geschäftsbereich Content / Output / Wissenschaft und Forschung / NDR Retro / Archiv, Norddeutscher Rundfunk; Tobias Fasora, HA Information, Dokumentation und Archive des Südwestrundfunks und des Saarländischen Rundfunks; Anja Opitz, Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), Archive und Dokumentation; Petra Witting-Nöthen, Westdeutscher Rundfunk Köln, Dokumenta­ tion und Archive; Sabine Jansen, Hessischer Rundfunk Unternehmensarchiv.

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Jahren von Sendern der ARD ausgestrahlt. Eine von Wolfgang Weyrauch bearbeitete Fassung des Döblin-Textes wurde am 29.9.1958 vom HR ausgestrahlt (Regie: Fränze Roloff; mit Walter Richter als Biberkopf), eine mittels des Tondokumentes erstellte Fassung am 29.8.1962 vom NDR (Regie: Hans Lietzau, mit Hans Pfitzmann in der Titelrolle), eine andere Fassung wurde am 11.8.1963 von der Berliner Welle (DDR) ausgestrahlt (Regie: Hans Knötzsch; Willi Narloch als Franz Biberkopf). Vorgesehene Sendung: Funk-Stunde Berlin und Ostmarken-Rundfunk Königsberg; 30.9.1930, 20 Uhr 35.99 Dauer: 77 Min. 15 Sec. Autor: Alfred Döblin. Tonträger im DRA Frankfurt (Deutsches Rundfunkarchiv). Sprecher/innen: Heinrich George (Franz Biberkopf), Hilde Körber (Mieze), Hans-Heinrich von Twardowski (Reinhold), Oskar Ebelsbacher (Meck), Robert Aßmann (Lüders), Ludwig Donath (Herbert), Lore Braun (Eva), Walter Werner (Pums), Gerhard Bienert (Klempnerkarl, Lotte Dewis (Cilly), Cläre Selo (Toni), Max Bing (Der Tod), Manfred Fürst (Sprecher), Gillis van Rappard (Sprecher). Regie: Max Bing. Komponist: Walter Goehr. Aufnahmedatum: 30.9.1930. Aufnahmeort: Berlin. Bemerkungen: Text: Manuskript der Berliner Funkstunde (im DRA); gedruckt in: A. Döblin: Drama Hörspiel, Film. (Hrsg. von E. Kleinschmidt). Olten 1983, S. 273 ff. (mit editorischem Nachwort S.  557 ff.); zur Absetzung s. Der Deutsche Rundfunk, Heft 41, 1930, S.  62. Entstehungsart: Eigenproduktion. Produktionsnummer: Bln 131/50. Produzent: Reichs-Rundfunk-Gesellschaft RGG. Produzent: Funk-Stunde. Verbreitung. Sender: RIAS. Datum: 5.10.1957. / Sender: SR. Datum: 6.11.1958. / Sender: NDR 3. Datum: 14.2.1959. / Sender: SWR. Sendedatum: 17.11.1973; Wiederholung 10.8.2003. Bemerkungen: Verbreitung Anlass: zum 125. Geburtstag von Alfred Döblin. / Sender: BR. Datum: 10.8.2003. / Sender: WDR. Datum: 20.6.2007. / Sender: NDR. Datum: 27.6.2007. Trägerinformation. Labelcode/-name: W030 Funkstunde Berlin. Bestellnummer: Bln 131/50. Materialart/Geschw.: Platte 78 U/min. Bemerkungen: Original-Etikett überklebt mit DRA-Etikett; Label-Farbe: weiß; Plattensatz gekennzeichnet mit „Versuchsaufnahme“; Alte DRA-Nr. 4000457. Audio-Raumdarstellung: Mono. Matrizennummer: Bln 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150. Katalognummer: 2016. Alte Nummer: DRA: C457. Digitalisierte Fassung online verfügbar unter Soundcloud https://soundcloud.com/onny-1-1/d-blin-alfred-die-geschichte (gesehen 30.3.2021). –– Über die Produktion von Hörspielen in den 30er Jahren. DRA 1957. Archivnummer: 2884510. Bestand: Tonträger DRA Frankfurt (Deutsches Rundfunkarchiv). Dauer: 2’38. Abstract: Ein Teil der Produktionen wurde auf Wachsplatten aufgezeichnet / Fast das gesamte damalige Programm bestand aus Live-Sendungen / Bedeutung Platzierung bei den damaligen Mikrofonen / Über Döblins Hörspiel „Die Geschichte vom Franz Biberkopf“. Rednerin: Lore Braun. Schauspielerin; Mitwirkende am Döblin-Hörspiel. Aufnahmedatum: 1957. Produzent. RIAS Berlin. –– Berlin Alexanderplatz. Hörspiel nach dem gleichn. Roman von Alfred Döblin (HR 1958). Produktion: Hessischer Rundfunk 1958. Erstausstrahlung: 29.9.1958. ARD-Hörfunkdatenbank. Datum: 19.2.2021. drahfdb1: K001021806.

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­ auer: 59’26. Literarische Vorlage: Alfred Döblin. Autor / Bearbeitung (Wort): D Wolfgang Weyrauch. Autor: Alfred Döblin. Regie: Fränze Roloff. Sprecher/innen: Walter Richter (Franz Biberkopf); Helga Mietzner (Minna); Sigurd Lohde (Meck); Hans-Otto Hilde (Lüders); Bernd M. Bausch (Pums); Siegfried Wischnewski (Reinhold); Gerda Skopnik (Fränze); Katja Kessler (Cilly); Maria Offermanns (Trude/ Eva); Lieselotte Bettin (Nelly); Lorley Katz (Rosa); Herbert Mensching (Wischow); Dagmar Altrichter (Sonja); Hermann Menschel (Tod); Gerd Fricke; Wolfgang Speir; Albert Lösnau; Thomas Fabian; Klaus Boltze; Alf Tamin; Ulrich Haupt. Aufnahme: 18.9.1958–22.9.1958. Produktionsnummer: 2310-000081.0000-000 (Eigenproduktion). Produzent: Redaktion Hörspiel (Hessischer Rundfunk); Auftraggeber: Rundfunkanstalt Hessischer Rundfunk. –– Berlin Alexanderplatz. Hörspiel nach dem Roman von Alfred Döblin (SFB/NDR 1962). Produktion: Sender Freies Berlin / Norddeutscher Rundfunk 1962. Archiv­ nummer: F839525. Erstausstrahlung: 29.8.1962. Laufzeit: 67’15. Aufnahme: 29.6.1962. Berlin (SFB). Redakteur: Heinz Schwitzke. Regie: Hans Lietzau; Wolfgang Wölfer. Autor: Alfred Döblin. Komponist: Kurt Neuser [Heuser?]. Sprecher/ innen: Günter Pfitzmann (Franz Biberkopf); Gerda Blisse (Lina); Gudrun Genest (Kriegerwitwe), Brigitte Grothum (Sonja/Mieze); Ronald Dehne (Junge); Wolfgang Lukschy (Reinhold); Hellmuth Bergmann (Wirt); Wolfgang Gruner (Meck); Franz Nicklisch (Lüders); Alexander Welbat (Herbert); Edeltraut Elsner (Eva); Walter Gross (Pums); Reinhard Kolldehoff (Klempner-Karl); Gundel Thormann (Cilly); Werner Stock (Hoppegartner); Günter Bein (Emil); Gerda Schöneich (1. Automobil); Ewald Wenck (2. Automobil); Hans Lietzau (Der Tod); Herbert Baneth (Kellner); Heinz Gies (Arzt); Christine von Trümbach (Krankenschwester); Werner W. Malzacher (Gast); Gerhard Schinschke (Wachtmeister); Fritz Eberth (Vernehmer); Georg Armin (Streife); Hilde Sessack (Toni); Käte Jöken-König (Weiblicher Gast); Richard Süssenguth (Männlicher Gast); Ina Brosow; Ellen Malecek; Johanna Behrendt; Ingeborg Oberreich; Harry Schöpp; Ewald Spurfeld; Werner Fiedler. Vokalist: Horst Friesecke. –– Berlin Alexanderplatz. (Rundfunk der DDR 1963). Archivnummer: 3000518. Bestand: Tonträger DRA Babelsberg (Deutsches Rundfunkarchiv). Dauer: 73’02. Erstsendung: 11.8.1963. Urheber: Alfred Döblin (Literarische Vorlage). Sprecher/innen: Willi Narloch (Franz Biberkopf); Gina Presgott (Sonja/Mieze); Hans-Joachim Hanisch (Reinhold); Horst Kube (Lüders); Genia Lapuhs (Eva); Fred Düren (Der Tod). Regie: Hans Knötsch. Regieassistenz: Horst Gosse. Technische Realisierung: Jutta Kaise (Ton), Gunhild Baudach (Schnitt). Aufnahmedatum: 11.8.1963. Aufnahmeort. Berlin, Funkhaus Nalepastraße. Urheberschaft: Deutschland. Produktion. Entstehungsart: Eigenproduktion. Produktionsnummer: HSP368. Produzent: Rundfunk der DDR. Auftraggeber: Hauptabteilung Dramaturgie Produktion (Rundfunk der DDR) [Programmbereich]; Auftraggeber: Hörspielabteilung (Rundfunk der DDR) [Redaktion]. Verbreitung: Sender: Rundfunk der DDR. Programmkennung. Berliner Welle. Datum: 11.8.1963. Verbreitungstyp: Erstausstrahlung. Daten der Wiederholungsausstrahlungen im Rundfunk der DDR: 28.11.1967. 27.6.1977. 13.8.1978.

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–– Die Geschichte vom Franz Biberkopf. (SWR/BR/rbbPatmos 2007). Archivnummer: D078036. Gesamtdauer: 1:21:44; Teil 1 Dauer: 41:17; Teil 2 Dauer: 40:27. Autor: Alfred Döblin (Literarische Vorlage); Kai-Uwe Kohlschmidt. Komponist/in: Tarwater. Sprecher/innen: Otto Mellies (Sprecher); Andreas Leupold (Franz Biberkopf/ Hiob); Andreas Schmidt (Reinhold); Jule Böwe (Mieze); Arta Adler (Stimme und Tod); Dieter Mann (Hoppegartner / Einer / 2.  Stimme); Astrid Meyerfeldt (Eva); Milan Peschel (Pums); Sven Plate (Meck); Detlef Bierstedt (Lüders); Rolf Zacher (Richter); Brigitte Grothum (Witwe); Florian Martens (Zweiter); Till Hagen (Klempnerkarl); Maria Kwiatkowsky (Cilly); Tilla Kratochwil (Tony / Lina); Klaus Herm (Herbert); Bernd Stegemann (Wirt / Wachtmeister); Jörg Steinberg (1. Beamter / Doktor); Leo Vornberger (Junge); Musa Kohlschmidt (Mädchen); Kai-Uwe Kohlschmidt (1. Auto); Sonja Hermann (2. Auto); Thomas Brussig (Berliner Autor als Statist); Tanja Dückers (Berliner Autorin als Statist); Judith Hermann (Berliner Autorin als Statist); Johannes Jansen (Berliner Autor als Statist); Katja Lange-Müller (Berliner Autorin als Statist); Steffen Mensching (Berliner Autor als Statist); Torsten Schulz (Berliner Autor als Statist). Aufnahmedatum: 12.3.2007–30.4.2007. Aufnahmeort: RBB/Berlin: T5; SWR/BAD: FBS 2. Redakteur: Hans Burkhard Schlichting. Regie: Kai Grehn; Nicole Paulsen. Technische Realisierung: Daniel Senger; Bernd Bechtold; Waltraut Gruber; Venke Decker; ZAP. Auszeichnung: Hörspiel des Monats Juni 2007 der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Redakteurin: Juliane Schmidt (Dramaturgie). Redaktion: Hörspiel (Rundfunk Berlin-Brandenburg). Programmbereich: Kulturradio (Rundfunk Berlin-Brandenburg). Erstsendung: 26.6.2007. Programm / Sendeplatz: Kulturradio / Hörspiel. Herkunft: SWR, BR, RBB. Koproduzent: Patmos Verlagshaus. Erstausstrahlung 24.6.2007, SWR2. Reihe/Sendung: SWR2 Hörspiel. Programm: Kulturradio / Hörspiel. Erstsendung rbb: 26.6.2007. https:// www.kaigrehn.de/radio/hoerspiel/die-geschichte-vom-franz-biberkopf/ (gesehen 30.3.2021). Play SRF https://www.srf.ch/audio/hoerspiel/die-geschichte-vom-franzbiberkopf-von-alfred-doeblin-1-2?id=10896189 (gesehen 30.3.2021).

Natascha Drubek-Meyer

Namen – Credits – Autorschaft Politik und Gender als Aspekte des kritischen Filmografierens

Zur Einführung: Eigennamen in der Filmografie Das Ziel dieses Artikels ist, Bausteine einer kritischen Filmografie als Grundlage für historisch-kritische Filmeditionen zu entwerfen. Es geht um die Etablierung der Namen von Filmurhebern und -urheberinnen, d. h. um den Unterschied zwischen Film-­ Credits und der im Vorspann unsichtbaren, jedoch anderweitig belegten Autorschaft. Hier stellt sich auch die praktische Frage, wie aus politischen Gründen oder aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit getilgte Namen in einer wissenschaftlichen Filmografie restituiert werden können. Ihre Erforschung und Aufdeckung ist also auch Aufgabe jeder Filmedition. Als Referenzedition kann sie durch ihre filmografische Qualität auf Fehlzuschreibungen aufmerksam machen, diese korrigieren und nachhaltig auf eine zeitgemäße Filmgeschichtsschreibung wirken. Eine Edition ohne gesicherte Urheber(schaft) ist möglich, aber beschwerlich, da sie quasi in einem luftleeren Raum stattfindet. Dies gilt insbesondere für die Edition von Filmen, deren Autorschaften und kreative Beiträge keine große Stabilität aufweisen. Abgesehen davon, dass das Filmwerk kollektiv ist, sind die Namen der Schöpfer oft uneindeutig, unbekannt, getilgt oder gar gefälscht. Der letztere Fall stellt in dem Zeitraum, aus dem meine Beispiele stammen, keine Seltenheit dar und betrifft bedauerlicherweise Filme, die durch ihre historisch-politische Bedeutung eine wichtige Rolle gespielt haben und bis heute spielen. Neben Fehlattributionen von Filmwerken bei verwaisten Filmen kennt man auch die Praxis der Studios, bestimmte Namen oder Klassen von Namen zu bevorzugen oder aber zurückzudrängen bzw. zu ersetzen. In den 1930/40er Jahren verschwinden aus den europäischen Stablisten jüdische Namen, parallel zur Vertreibung ihrer Träger, von denen viele versuchen in Hollywood (Detlef Sierck kam über die Niederlande in die USA und wurde dort zu Douglas Sirk) und einige in den Filmindustrien Großbritanniens (Adolf Wilhelm Anton Wohlbrück wurde zu Anton Walbrook), Frankreichs oder der UdSSR (Aleksander Ford) Fuß zu fassen, doch viele „ungenannt“.1 Was im deutschen Filmvorspann im Jahr 1933 beginnt, setzt sich in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre im von der deutschen Besatzung unlängst befreiten Osteuropa fort, wenn auch in geringerer und weniger offensichtlicher Weise. Dies kann man am Beispiel ­sowjetischer bzw. polnischer Credits zeigen. Zuweilen überwiegen in diesem Jahrzehnt rassistische Motivationen über den ansonsten im Filmgeschäft üblichen Sexismus, der den Beitrag von Frauen zum Filmwerk in erster Linie als Schauobjekt vor https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Themen/Kuenste/film.html (gesehen 25.3.2020).

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https://doi.org/10.1515/9783110684605-009

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Natascha Drubek-Meyer

der Kamera sieht und systemischen Widerstand gegen die Vorstellung von weiblicher Urheberschaft leistet. Filmografien bestehen in erster Linie aus Eigennamen, die als Zeichen in natürlichen Sprachen eine besondere Stellung haben. Der für die Filmografie ideale Eigen­ name ist unverwechselbar und bezieht sich nur auf eine Person, die er eindeutig bezeichnet und umgekehrt: ein in einer Filmografie zu repräsentierendes Individuum verfügt über einen eindeutigen Namen. Bereits hier wird man widersprechen, denn gerade Künstler und Künstlerinnen verwenden auch Pseudonyme, verfügen also über mehrere Namen. In der Vergangenheit waren in den meisten Kulturen nur bestimmte Name-­PersonBeziehungen eindeutig und stabil, sie bezogen sich überwiegend auf Männer der Mehrheitsgesellschaft, während die Namen der anderen Mitglieder instabil, abgeleitet oder oft sogar aufgezwungen waren. Minderheiten insgesamt wurden oft selbst mit einem diskriminierenden Exonym wie ‚Zigeuner‘, ‚Eskimos‘ oder ‚Indianer‘ versehen. Auch die Eigennamen von Mitgliedern solcher Minderheiten und gesellschaftlichen Gruppen waren und sind stetigen Wandlungen unterworfen. Frauen verloren automatisch ihren Familiennamen in der Ehe; da für eine Karriere im Film ein Namenswechsel abträglich ist, wählten Frauen im Showbiz oder ihre Manager deshalb oft früh Pseudonyme, wie etwa die Schauspielerin Arletty (Léonie Marie Julie Bathiat). Doch gerade in Filmen der 1940er Jahre gibt es den umgekehrten Effekt, wie die Rezeption des amerikanischen Independent-Films Meshes of the Afternoon (USA 1943) zeigt: Seit seiner feministischen Kanonisierung wird die Urheberschaft für den Film Maya Deren zugeschrieben, und dies, obwohl im Vorspann beide Autoren genannt sind, also auch Alexander Hamid. Doch der tschechische Kameramann hatte gerade seinen Namen von Hackenschmied auf Hamid verkürzt, um mit dieser Synkope den germanischen Klang loszuwerden, und damit eine neue Karriere-Etappe in Amerika begonnen. So nimmt er strukturell die ‚feminine‘ Position ein, des Veränderlichen, nicht des Stabilen. Man kann also sagen, dass ein kritisches Filmografieren ohne den Input von Gender, Minority oder (E-)Migration Studies nahezu unmöglich ist. Namen und ihre spezifische Form (etwa das Patronym) sind stets Ausdruck einer Kultur. Sie sind geprägt von Religionen bzw. den ökonomischen Verhältnissen in der Gesellschaft und in der Familie. In manchen modernen Kulturen können Namen frei gewählt werden, so in post-revolutionären Gesellschaften, in denen ein neuer Name einen neuen Menschen verspricht: Während sein Bruder, der Kameramann Mosze Kaufman, nur den Vornamen zu Michail wechselte, änderte David Kaufman seinen Namen zu Denis (in der russischen Schule, die er in Białystok besuchte), um dann zu Dziga Vertov (dem schwirrenden Kreisel der Filmavantgarde) zu werden. Inspiration sind Deckund Kampfnamen der Revolutionäre: Ul’janov wurde zu Lenin, Bronštejn zu Trockij und Džugašvili zu Stalin. Sheila Fitzpatrick demonstriert die Gestaltung einer – auch im bürokratischen Sinne – neuen Persona am Beispiel der Sowjetunion der 1920er Jahre, als religiös, klassenbedingt oder ethnisch markierte Namen abgelegt wurden. Sie geht auch auf die Folgen ein: Die zuvor zur Namenswahl Ermunterten geraten im

Namen – Credits – Autorschaft

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Spätstalinismus in gefährliche Situationen des ‚Aufdeckens‘ der alten als der ‚wahren‘ Namen, mit deren Hilfe versteckte ‚Volksfeinde‘ und ‚Agenten‘ aufgespürt werden.2

Zu den Beispielen: Propaganda- und Beweisfilme aus den 1940er Jahren Die von mir gewählten Beispiele zeigen, dass die Instrumentarien der kritischen Filmo­ grafie sowohl durch die Filmgattungen als auch die Filmproduktionskulturen, in denen die Filme entstehen, bestimmt sind. Die Dispositive der Filmzensur oder verbale Aufzeichnungen zu Filmaufnahmen wie etwa die detaillierten Montagelisten eines Film­ offiziers der Roten Armee3 im Vergleich mit dem eher pauschalen Affidavit eines Mitglieds des US Signal Corps im Jahr 1945 differieren und erfordern nicht nur eine film-, sondern auch kulturwissenschaftliche Ausbildung der Editoren und Filmografen, die in Archiven Kataloge erstellen.4 Die konkreten Beispiele stammen aus dem Bereich des Dokumentarfilms und der Chronik, die sich besonders gut dafür eignen, Filmografien auf die härteste Probe zu stellen: Bei den vorliegenden Fällen handelt es sich um Filme, die 1944–1946 gemacht wurden. Im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs wurden auf beiden Seiten der Front verstärkt Kriegsverbrechen des Feindes thematisiert bzw. audiovisuelle Gegenmaßnahmen ergriffen – sowohl zu Propagandazwecken als auch im Vorgriff auf das juristische Nachspiel des Zweiten Weltkriegs. Losgetreten durch den deutschen Film Im Wald von Katyn. Dokumentarische Bildstreifen (1943), wurde zu Beginn des Jahres 1944 im Film Tragedija v Katynskom lesu / Tragödie im Wald von Katyn (UdSSR, Zentrales Studio der Dokumentarfilme, Moskau: CSDF) eine Exhumierung zu Beweiszwecken gezeigt.5 Im Sommer 1944, als die ersten Konzentrationslager entdeckt wurden, steigert sich die mediale Aufrüstung mit dem Ziel, in der Repräsentation von deutschen Lagern die Oberhand zu gewinnen. Dokumentarfilme spielen die Hauptrolle, da sie auf deutscher Seite entweder über die Wahrheit der deutschen Vernichtungslager, die sich vor allem in Osteuropa befanden, hinwegtäuschen wollen oder aber – auf alliierter Seite – schwer vorstellbare ‚Atrocities‘ erstmalig in einem Film zeigen und so belegen. Im Juli 1944 wird in Lublin das erste deutsche KZ von einer alliierten Armee befreit und gefilmt; bekannt wird es unter dem Namen Majdanek. An diesem Ereignis sind ein knappes Dutzend Kameraleute aus Polen und der UdSSR beteiligt. Im November 1944 findet die Premiere des Films Majdanek – cmentarzysko Europy / Majdanek – Friedhof Europas am Vorabend eines Kriegsverbrecherprozesses in Lublin statt. Im Januar 1945 folgen die Vgl. Sheila Fitzpatrick: Tear Off the Masks! Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia. Princeton 2005, S. 20 und S. 263 ff. 3 Eine Edition von sowjetischen Montagelisten (russ.: montažnyj list) der Kriegszeit hat besorgt Valerij Fomin: ‚Plačte, no snimajte!..‘. Sovetskaja frontovaja kinochronika 1941–1945 gg. Montažnye listy frontovych operatorov. Materialy k biografijam. Moskau 2018. Die DVD hierzu ist im Russischen Staatsfilm­ archiv erhältlich. Er ordnet die Listen jeweils bestimmten Themen oder zum Teil auch chronologischen Abschnitten zu. 4 Dies erklärt die Problematik nicht-englischsprachiger (bzw. nicht am Hollywoodmodell orientierter) Filmkulturen in Crowd-Sourcing-Datenbanken wie IMDb (Internet Movie Database). Das Übertragen von Namen in Vorspannen in das amerikanische System des Crediting führt zu Ungenauigkeiten und Übersetzungsfehlern (s. u.). 5 Die UdSSR bemühte sich darum, die Fabrikation deutscher Schuld in Katyn′ filmisch zu bekräftigen. 2

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sowjetisch-polnischen Dreharbeiten im befreiten Auschwitz, und erst ab Frühjahr 1945 die ‚liberation films‘ der Westalliierten in Ohrdruf, Belsen, Dachau usw. Ich habe auch deshalb dieses Filmkorpus gewählt, weil es aufgrund der quasi-­ juridischen Bedeutung dieser und ähnlicher ‚Filmdokumente‘6 hier stärker als etwa in Spielfilmen darauf ankommt, wer die Wahrhaftigkeit von Filmbildern wie garantiert. Und an genau dieser Stelle kommt der Eigenname ins Spiel, der als Mittel zur Identifizierung der Referenzhaftigkeit von Filmmaterial dient – so etwa hinsichtlich eines Augenzeugen, der mit einer Kamera dokumentiert und dessen Identität und Funktion zum Zeitpunkt der Aufnahme nachprüfbar ist, z. B. eines Soldaten. Dies war der Fall bei den amerikanischen KZ-Befreiungsaufnahmen der US-Armee, für die in der zweiten Hälfte des Jahres 1945 Affidavits erstellt wurden. In den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen ähnelt die (spätere) sowjetische Gestalt der Generierung von Glaubwürdigkeit im Vorspann der Beweisfilme; doch das echte Affidavit eines Kameramanns der Roten Armee beruht auf der Praxis der signierten Montagelisten im versiegelten und in das Filmstudio geschickten Filmkanister, unterschrieben vom Kameramann oder später auch vom jeweiligen Leiter der Filmgruppe. Von Bedeutung ist, dass in beiden Fällen die Filmleute Offiziere oder Soldaten waren. Allerdings wurden, anders als im Fall der Westalliierten, die KZ-Befreiungsfilme der Roten Armee – erstellt im CSDF – unter den Bedingungen eines noch nicht gewonnenen Krieges gemacht; daher hatte hier nicht die Enthüllung der Wahrheit, sondern die Propagandafunktion Priorität. Hinzu kam der in einem Rundbrief des Leiters des ­Dokumentarfilmstudios vom 8.9.1943 erteilte Auftrag, „materielle Beweise deutscher Verhöhnung sowjetischer Bürger“ und „den Schaden, der dem sowjetischen Volk zugefügt wurde“, zu dokumentieren, also Bildbeweise zu liefern, die juristisch tragen konnten.7 Ursula von Keitz skizziert die juristische Rolle von Filmaufnahmen im internationalen Kontext. Sie weist zunächst auf den wenig bekannten Umstand hin, dass in den USA bereits 1915 Filme als Beweismittel zugelassen waren, und erwähnt die „seit 1943 auf sowjetischem Territorium geführten Kriegsverbrecherprozesse“, um sich sodann den Filmen des US Army Signal Corps zu widmen.8 Hier kann ich bei den Umständen der Erprobung eines sowjetisch produzierten Films als Beweismittel und filmischer Anklageschrift ansetzen, die erstmals im November 1944 stattfand. Meist wird eine solche Verwendung des Filmmediums mit den in Lüneburg (ab 17.9.1945) und in Nürnberg (ab November 1945) gezeigten Filmen verbunden. Der sowjetische Kameramann und Reporter Roman Karmen war am russischen Film für Nürnberg federführend beteiligt. Von Keitz zitiert Karmens späteren Artikel (der sich in erster Linie auf seinen Film über das Gerichtsverfahren bezieht): „In diesem Film beschuldigten, bewiesen und verurteilten wir genau wie das Gericht“ – wie es Die einschlägigen Begriffe ‚kinodokument‘ und ‚dokument filmowy‘ finden sich in den russischen und polnischen KZ-Befreiungsfilmen entweder im Titel oder im Vorspann. 7 Valerij Fomin: Kino na vojne. Dokumenty i svidetel’stva. Moskau 2005, S. 757 und 749. Eine Übersetzung dieses Dokuments findet sich bei Natascha Drubek: Filme über Vernichtung und Befreiung. Die Rhetorik der Filmdokumente aus Majdanek 1944–1945. Wiesbaden 2020, S. 421 f. 8 Ursula von Keitz: Die provozierte Erinnerung. ‚Szenen‘ des Holocausts im Justizfilm. In: Mediale Transformationen des Holocausts. Hrsg. von Ursula von Keitz und Thomas Weber. Berlin 2013, S. 141–172, hier S. 147. 6

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scheint, hatte Karmen dieses „performative[...] zu-Gericht-Sitzen“ 9 bereits 1944 entwickelt, als in Lublin ein Film ein Volksgericht begleitete, in dem das KZ-Endkommando von Majdanek zum Tode verurteilt wurde.

Abb. 1: Von den Kameraleuten Gaj Aslanov und Arkadij Levitan unterschriebene Montageliste vom 5. bis 10.10.1942 (Überschrift: „Frontovaja magistral′ “).10

Die Premiere in Lublin ist der erste – und offensichtlich experimentelle – Einsatz eines ‚Atrocity‘-Films in einem juristischen Kontext, er zielte auf eine Beeinflussung der Lubliner Bevölkerung und der Teilnehmer an diesem Sonderstrafgericht (SSK= Specjalne Sady Karne), das den Charakter eines Volksgerichts hatte. Diese speziell für ein polnisches Publikum gemachte Schnittversion unterscheidet sich in einigen grundlegenden Merkmalen von späteren Filmen, die Majdanek-Sequenzen verwenden, gerade auch von der russischsprachigen Version, die bereits im Januar 1945 (von der Öffentlichkeit kaum beachtet) in Moskau eine Woche im Kino Novosti dnja lief.11 Ich gehe davon aus, dass der Moskauer Durchlauf ein Test für den internationalen Kriegs Von Keitz 2013 (Anm. 8), S. 147. Die Montagelisten wurden mir freundlicherweise von Valerij Fomin zur Verfügung gestellt. 11 Vgl. Jeremy Hicks: First Films of the Holocaust. Pittsburgh 2012, S. 172. 9

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verbrecherprozess in Nürnberg war. Der wichtigste Unterschied ist, dass das „lebendige Zeugnis“12 in Moskau noch zu sehen, aber nicht mehr im Originalton (wie noch in Lublin) zu hören ist, in Nürnberg fallen die lebendigen Zeugen Majdaneks völlig weg.

Der Name in der für den Gerichtssaal in Nürnberg abgefilmten Urkunde Als Nazi Concentration Camps in Nürnberg ein Jahr nach dem Prozess in Lublin im Gerichtssaal des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs projiziert wurde, löste der Film als Prima-facie-Beweismittel und „an explanation what the words concen­ tration camp imply“ im Gerichtssaal eine Betroffenheit aus, die durch Dokumente und Zeugen nicht hätte erreicht werden können.13 Dies stand im Gegensatz zum Majdanek-Film, der im Westen vor April 1945 nicht zu sehen war; im August 1944 verhielten sich die westlichen Medien bereits gegenüber den Pressemeldungen über das KZ Majdanek zögerlich, da sie sie als unglaubwürdig qualifizierten.

Abb. 2: US-amerikanisches Affidavit vom 7.10.1945.

Von Keitz 2013 (Anm. 8), S. 142. „On November 29, 1945, only a week into the trial, the IMT [International Military Tribunal] prosecution introduced an hour-long film titled ‚The Nazi Concentration Camps‘. When the lights came up in the Pal­ ace of Justice all assembled sat in silence. The human impact of this visual evidence was a turning point in the Nuremberg trial. It brought the Holocaust into the courtroom“; https://encyclopedia.ushmm.org/ content/en/article/we-will-show-you-their-own-films-film-at-the-nuremberg-trial (gesehen 25.3.2020).

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Auch die für die amerikanischen Filme Verantwortlichen machten sich Sorgen um die Plausibilität des Gezeigten – schließlich waren Bilder von sog. ‚Muselmännern‘ der Endphase noch kein Nachweis deutscher Schuld, da im Film Täter überwiegend fehlen und erst eine Beziehung zwischen den auf der Anklagebank Sitzenden und den KZs hergestellt werden musste. Auch galt das Filmmedium aufgrund der technischen Möglichkeiten der Manipulation durch Montage als unzuverlässig. Daher beginnt der am 29.11.1945 in Nürnberg vorgeführte Film Nazi Concentra­tion Camps (1945) mit einem paratextuellen Kuriosum, das die Bedeutung des für ein Rechtssubjekt stehenden Namens augenfällig macht: eine mit der Kamera abgelichtete Urkunde mit einer handschriftlichen Signatur des Regisseurs, die bestätigt, dass der nachfolgende Film nicht von ihm manipuliert wurde. Indem Lt. George C. Stevens das Papierdokument, das dem Dokumentarfilm (im Vorspann heißt es: „Official Documentary Report“) vo­ rangestellt wird, unterschreibt, entsteht ein signiertes Exemplar der Filmaufnahmen, das qua Unterschrift physisch mit dem Leiter der Filmaufnahmen vor Ort verbunden ist. Es ist freilich auch nur wieder eine Abbildung eines Namenszugs, nicht die Präsentation einer realen Urkunde vor dem Filmpublikum, und es sagt auch nicht genug über den Schnitt aus. Und doch glauben wir diesem Affidavit, da wir im Fall der US-Armee heute davon ausgehen, dass das Grauen, das sie in deutschen KZs vorgefunden und gefilmt hat, keine Inszenierung war. Doch jeder Zeuge braucht einen weiteren Zeugen, der seine Aussage bestätigt. Daher folgt in Nazi Concentration Camps der Stevens-Urkunde ein weiteres Affidavit von Lt. E. R. Kellogg, US Navy, der am 27.8.1945 vor Captain John Ford (!) wiederum einen Schwur ablegt, dass nichts an den Bildern retuschiert oder verändert wurde.14 Wir erfahren aus diesem Dokument, dass Kellogg ein Fachmann ist, da er von 1929–1941 für die Filmfirma 20th Century Fox gearbeitet hat.15 Auch der Name des späteren amerikanischen Hauptanklägers im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Robert H. Jackson steht auf dem Dokument. Abgesehen davon, dass Stevens und Ford Offiziere der US-Armee waren, sind sie auch bekannte ‚Namen‘ aus der Filmgeschichte, ähnlich wie andere Regisseure, die bei KZ-Film-Projekten als Experten herangezogen wurden, auch um die Glaubwürdigkeit dieser ungewöhnlichen Filme zu bestätigen: Billy Wilder (Death Mills 1945, mit Hanuš Burger) und Alfred Hitchcock (für das von Sidney Bernstein Anfang 1945 initiierte, jedoch unvollendete britische Filmprojekt German Concentration Camps Factual Survey). Auch die sowjetische Delegation führte einen Film vor, mit dem Titel Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov / Filmdokumente über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46; Leitung: Vladimir Bol’šincov, Schnitt: Elisaveta Svilova).16 Ähnlich wie der Ende November 1945 Zu den amerikanischen Filmvorführungen in Nürnberg vgl. von Keitz 2013 (Anm. 8), S. 147. Nazi Concentration Camps, „United States War Department, Washington D. C. Certificate and Affidavit“, ausgestellt am 2.10.1945; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1000785 (gesehen 25.3.2020). 16 Кинодокументы о зверствах немецко-фашистских захватчиков (1623,9 m; CSDF; Nr. 6820). Die Aufnahmen der im Vorspann Genannten aus Lublin und Majdanek kamen von Karmen, Solov’ev und Michail Posel’skij. Der Film kann hier angesehen werden, wobei keine Garantie besteht, dass es sich um die Version von 1945 handelt: https://www.youtube.com/watch?v=RKgnIdUCQkA (gesehen am 25.3.2020). 14 15

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im Gerichtssaal gezeigte US-Film enthält auch der sowjetische Film ein Affidavit (datiert auf den 21.12.1945), doch hier bürgt nicht der Leiter der Aufnahmen, sondern es bürgen die Kameraleute Aleksandr Voroncov, Rafail Gikov, Roman Karmen, Kenian Kutub-Zade, Evgenij Dobroniickij, Ivan Panov, Michail Posel’skij, Vasilij Solov’ev, Mark Trojanovskij und andere. Dieses Dokument und weitere Details (etwa zu den Originalen in der Filmothek des CSDF) werden noch einmal bestätigt vom Direktor des CSDF, Bol’šincov. Hier fällt auf, dass einige Kameraleute, die im Film selbst erwähnt werden (wie etwa Georgij Popov), für die Urkunde nicht herangezogen wurden. Während das US-Dokument von einem Ministerium ausgestellt wurde, war es im Fall des sowjetischen Schriftstücks ein staatliches Filmstudio.

Abb. 3: Erstes Sowjetisches Affidavit oder ‚Svidetel’stvo‘ (wörtlich: Bezeugung) in den Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov (1945/46).

Textkritische Methoden in der Filmografie Die Untersuchung der Namen und Titel kann man im Kontext der Editionsphilologie dem Bereich der Recensio als kritischer Sichtung aller erreichbaren und erschlossenen Überlieferungsträger zuordnen. Sie betrifft jedoch auch andere Stufen wie die Heuristik (das Sammeln der Textzeugen), da zuweilen bestimmte Filmtitel unter anderen Namen katalogisiert wurden und sich am Ende der textkritischen Prozedur herausstellt, dass die Stelle des Urhebers (Regisseurs) zweifelhaft wird oder leer bleibt, was eine Konjektur nach sich zieht, die entscheidet, wer denn nun die genuine Regisseurin oder der Drehbuchautor eines Films ist.

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Wenn die Varianten im Hinblick auf ihr Entstehen untersucht werden, können Namen und Titel bereits unterscheidend eingesetzt werden, manchmal geht es lediglich um das Hinzufügen eines weiteren Namens. Dabei entsteht ein Stammbaum (Stemma) der Fassungen, die in einer Kollation verglichen werden; sie kann synoptisch erfolgen und ebenfalls mit Autorennamen ausgestattet werden. Der Vorteil hierbei besteht darin, dass wir mit bestimmten Namen auch ein Gesamtwerk mitdenken, so haben wir bei einem Namen wie Aleksander Ford oder Roman Karmen deren filmisches Œuvre im Auge. Diese aus den Namen gewonnene Information steht dann in direktem Zusammenhang mit der Recensio, da bestimmte Fassungen ausgeschlossen oder aber eindeutig zugeordnet werden können. Dies mündet dann direkt in die Examinatio (‚Überprüfung‘) der Filmfassungen, in der zudem eine qualitative Analyse der Fassungen (Poetik und Rhetorik) erfolgt – etwa im Hinblick auf die im Vorspann (falls erhalten) genannten Urheber. Auch bei der kritischen Überprüfung aller Filmfassungen werden klassische Korrekturverfahren verwendet, d. h. zum ersten die Emendatio oder Berichtigung von Fehlern, die in der Recensio oder Examinatio erkannt worden sind, zum zweiten die Konjektur (lat. coniectura, ‚Vermutung‘) als Wiederherstellung verlorener Namen. So entsteht eine historisch-kritische Filmografie, die Fehler im Vorspann oder auch in Katalogen, Druckwerken und Datenbanken korrigiert. Aufgrund der Resonanzräume von Eigennamen wird eine Untersuchung und Interpretation des Films ermöglicht, die aus Vermutungen bezüglich fehlender Dokumentation eine ‚coniectura palmaris‘ macht, eine Konjektur, die nicht an den Haaren herbeigezogen ist, sondern auf der Hand liegt.

Die getilgten Namen in Vorspann und Filmografie der Majdanek-Filme Das mindestens eineinhalb Stunden lange, im RGAFKD-Archiv in Krasnogorsk bei Moskau lagernde Filmmaterial aus Lublin/Majdanek stellt eine wertvolle Bild- und Tonquelle dar und enthält viele Szenen, die in den zwischen 15 und 27 Minuten langen Filmfassungen von 1944/45 fehlen. Aufgrund der Verarbeitung in diesen Propa­ gandafilmen der Kriegszeit wurde dieses Filmmaterial jedoch seither als unzuverlässige Quelle vernachlässigt. Abgesehen vom Vorstoß der deutschen Dokumentarfilmer Irmgard und Bengt von zur Mühlen sind mir keine kritischen Auseinandersetzungen mit dem Material in einer Dokumentation bekannt.17 Der Prozess der Produktion von Filmchroniken und Frontspezialnummern wurde bisher weitgehend außer Acht gelassen.18 Eine textkritische Edition des Materials in synoptischer Form könnte hier Abhilfe schaffen. Bisher fehlt auch ein Einbezug der medienpragmatischen Aspekte (Zielpublikum) und der mehrfachen Zensurprozeduren, die die verschiedenen Namen in den Filmografien bedingen und den Cutterinnen bzw. den Redakteurinnen späterer Fassungen eine Urheberschaft zuschrieben; so taucht der Name Irina Setkina auf einem Zensurdokument das erste Mal 1949 auf.19 Dies war Das Ehepaar Irmgard und Bengt von zur Mühlen hatte dieses Material in den 1980er Jahren im Dokumentarfilm Majdanek 1944 – Opfer und Täter (BRD 1986) verwendet. 18 Vgl. Drubek 2020 (Anm. 7), Kap. 8: Film-Vorschriften und Zensur: das unterdrückte Zeugnis und ‚organisierte‘ Zeugen, S. 434 ff. 19 „Kopie der Montageliste“ („Kopija montažnogo lista. Komitet po delam kinematografii pri SNK SSSR. Upravlenie po kontrolju za kinorepertuarom“, 12.10.1949). 17

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das Jahr, als antisemitische Kampagnen im Ostblock auch in Filmkreisen und -studios ihr Unheil anrichteten. In diesem Kontext der öffentlichen Hetze gegen Sowjetbürger jüdischer Herkunft verschwanden aus den Vorspännen bzw. anderen öffentlichen Namensnennungen nicht-slawische Eigennamen, die das Publikum ‚missverstehen‘ konnte – d. h. solche mit germanischen Anteilen, die entweder als ‚feindliche‘ deutsche Namen oder als jüdische aufgefasst wurden. Dies waren Namen wie die der aus Warschau stammenden Majdanek-Kameraleute: Wohl, die Brüder Forbert (einer von ihnen hatte zudem den Vornamen Adolf) oder auch der Regisseur Ford und seine Frau Mińska-Ford, die ebenfalls aus einer Warschauer Familie assimilierter Juden stammte. Mir stellte sich bereits bei der textkritischen Arbeit an den Filmografien also die Frage, ob die Majdanek-Filmfassungen, die wir heute in den großen Archiven und im Internet finden, mit denjenigen von 1944/45 übereinstimmen. Die Beantwortung dieser Frage scheint ohne die gründliche Durchführung einer textkritischen Untersuchung nahezu unmöglich. Es ist notwendig, diese Arbeit nach einer Ortung der Fassungen und ihrer Recensio durchzuführen. Dies können m. E. nur die beteiligten Archive leisten. Meine Analyse der heute im Umlauf befindlichen polnischen und russischen Kopien (aus dem FINA Warschau, Krasnogorsk, Imperial War Museum) und des Katalogs in Krasnogorsk bei Moskau führte bisher zu dem Ergebnis, dass die Filmfassungen, die 1944/45 in Lublin als Propagandafilm bzw. in Moskau als Spezialnummer zu Maj­ danek liefen, vermutlich nicht mehr existieren. Sie wurden von späteren Umschnitten überlagert, ohne dass diese Anpassungen im (heute öffentlich zugänglichen) Katalog ausgewiesen wurden. Verkürzte, aber auch inhaltlich veränderte Titel sind Spuren dieser ‚Redaktion‘ der Filme noch im Jahrzehnt ihrer Herstellung. Einstweilen habe ich vorläufige Filmografien für die beiden historischen Fassungen auf Polnisch und Russisch vorgelegt,20 die aus einem kritischen Abgleich der Vorspänne, Quellen (primär und sekundär) und dem Hinzuziehen der Informationen aus den Montagelisten gewonnen wurden. Die Titel lauteten: –– Polnische Version: Majdanek – cmentarzysko Europy (Polen, UdSSR 1944, 35 mm), Produktion: Filmproduktionsgesellschaft der Polnischen Armee unter Beteiligung des Zentralen Dokumentarfilmstudios Moskau, Premiere: 26. November 1944, L ­ ublin; –– Russische Version: Majdanek. Kino-dokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin / Filmdokumente über die ungeheuerlichen Verbrechen der Deutschen im Vernichtungslager Majdanek in der Stadt Lublin (UdSSR 1944), Produktion: Zentrales, mit dem Roten Banner ausgezeichnetes Dokumentarfilmstudio Moskau, Premiere: 4.–12. Januar 1945. Eine ‚synoptische‘ Filmografie dieser Fassungen ergäbe folgenden Stab. Namen, die in keinem Vorspann genannt werden, sind in spitze Klammern gesetzt, rekonstruierte Namen fett. Die durchgestrichenen Namen revidieren Fehlzuordnungen bzw. Funktionsänderungen:

In Krasnogorsk unter der Registrierungsnummer 10856 katalogisiert: http://rgakfd.ru/ (gesehen 25.11.2018).

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Regie:21 Aleksander 〈und Olga〉 Ford, 〈Roman Karmen〉,22 Jerzy Bossak, Irina Setkina Regieassistenz: Olga Mińska, Ludmiła Niekrasowa und Ludwik Perski Schnitt in Lublin: Aleksander Ford, 〈Ljudmila Nekrasova〉23 Kommentar („Text“):24 Jerzy Bossak Sprecher: Władysław Krasnowiecki Kameraleute: 〈Evgenij Efimov〉, Adolf 〈und Władysław〉 Forbert,25 Roman Karmen, 〈Igor’ Komarov〉,26 Oleg Samucevič,27 〈Vladimir Šnejderov〉, Avenir Sof’in, Viktor Štatland, Stanisław Wohl „Regisseur des Schnitts“ in Moskau: A. Ford 1944, 〈Irina Setkina – u. U. erst 1949〉 Ton: S. Sienkiewicz, Viktor Kotov [u. U. erst 1949] Musik: Sergej Potockij 〈und/oder David Štil’man〉28 Besetzung: Anonymus 1 und 2 als der tschechische Kommunist Ludwig Tomasek/ Tomášek aus Wien Neue Attributionen von Autorschaft in dieser Urheberrekonstruktion sind die von Roman Karmen, der sonst nur als Majdanek-Kameramann angeführt wurde, der aus dem RGAKFD-Katalog gewonnene David Štil’man und Olga (Mińska-)Ford als Ko-Regisseurin. Die Drehbuchautorin Mińska-Ford, die gemeinsam mit ihrem Mann seit den 1930er Jahren an zahlreichen Filmen gearbeitet hatte, meist auch als Regieassistentin, ist identisch mit der Person, die im polnischen Vorspann – ausnahmsweise – als „Regieassistentin Olga Mińska“ angeführt ist, da sie sonst gewöhnlich unter Olga Ford oder auch, nach dem Krieg, Fordowa figuriert. Bei den beiden historischen Majdanekfilm-Versionen von 1944/45 kann man weder von einem Film ausgehen, wie viele Lexikoneinträge, Handbücher und Filmgeschichten es tun,29 noch von zwei völlig voneinander unabhängigen Filmen, da die maßgebliche Urheberschaft für beide Filme bei vier Personen liegt: dem sowjetischen Kameramann „Schnitt des Regisseurs A. Ford“ steht im polnischen Vorspann der FINA. Realisierung („Realizacja“) A.  Ford steht auf einer polnischen Ankündigungskarte, abgebildet auf dem Handzettel von Jeanpaul Goergen: Die Welt in Waffen: Befreite Konzentrationslager: Wochenschauen. Vortrag am Zeughauskino Berlin, 27. Januar 2015. 22 „Autor-Regisseur und Leiter der Aufnahmen“ ist die übliche Beschreibung von Karmens Funktion, die jedoch in diesem Fall fehlt; allerdings wird durch seine Montagelisten seine Autorschaft bestätigt. 23 Ich ordne die russische Cutterin Nekrasova (poln. Schreibung: Niekrasowa) aufgrund der Aussage Bossaks aus dem Jahr 1981 dem Schnitt zu, auch wenn sie unter Regieassistenz im polnischen Vorspann steht, wie auch ihr Mann, Perski. In der russischen Version ist sie nicht gelistet. 24 Auf der von Goergen reproduzierten Karte vom 1.11.1944 für die polnische Version heißt es „literarische Redaktion“; Goergen 2015 (Anm. 21). 25 Während im (polnischen) Vorspann Władysław Forbert fehlt, erwähnt Hicks 2012 (Anm.  11), S.  159, umgekehrt seinen Bruder Adolf Forbert nicht. Vermutlich drehten beide Forberts im Januar auch in ­Auschwitz, ein Umstand, der später verschwiegen wurde. W. Forbert erwähnt in dem Film Man med kamera (Dänemark 1995) seiner Tochter Katja Forbert Petersen keines der KZs. 26 Da er aus Weißrussland stammte, findet man auch die Schreibung Igar (Aleksandr Derjabin: Sozdateli frontovoi kinoletopisi. Biofil’mografičeskij spravočnik. Moskau 2016, S. 429). 27 Dieser Sowjetbürger figuriert nur im polnischen Vorspann, und zwar in der polnischen Schreibung ­Olgierd Samucewicz. Auf der Webseite des Film Polski wird er als Assistent des Regisseurs (Ford) angeführt: http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?film=421255 (gesehen 25.3.2020). 28 Im Krasnogorsker Katalog ist er als Urheber einer Version angegeben, die kürzer ist als die von Potockij. 29 „Majdanek: Burial Sites in Europe. Aleksander Ford & Irina Setkina. Studio of the Polish Army. Soviet Union/Poland. 1944“; Jean-Michel Frodon: Cinema and the Shoah. An Art Confronts the Tragedy of the Twentieth Century. New York 2010, S. 249. 21

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und Reporter Roman Karmen, dem polnischen Regisseur Aleksander Ford und seiner Partnerin Olga Mińska-Ford (Regie) und Jerzy Bossak (Text). Alle vier Autoren waren jüdischer Herkunft, die drei letzteren hatten den Zweiten Weltkrieg – ähnlich wie der aus Łódź stammende Artur Brauner, mit dem Ford eine Freundschaft verband – in der Sowjetunion überlebt. Allerdings wird keiner dieser Namen in Bezug auf die russische Version angeführt. Immer wieder figuriert in der westlichen Sekundärliteratur stattdessen als Urheberin des russischsprachigen Majdanek-Films Irina Setkina: „Majdanek (1944) lists Irina Setkina as the director (only Soviet cameramen were credited).“ 30 Oder in dieser Form: „The two films edited by Irina Setkina and Aleksander Ford lay the groundwork“,31 die man als anachronistisch qualifizieren kann, da nach meinen letzten Forschungen der Schnitt der Premierenfassung von Ford in Moskau im Oktober 1944 gemacht wurde (deshalb wird er im polnischen Vorspann auch als „Regisseur des Schnitts“ bezeichnet) und spätere Fassungen von Setkina erstellt wurden.32 In Arbeiten, die Miron ­Černenko33 und Stuart Liebman34 folgen, handelt es sich u. U. um ein Missverständnis bei der Übersetzung des Credits „Regisseurin des Schnitts.“ Zu diesem spezifisch russischen Begriff führen A. Heftberger und K. Perlman aus: If one translates it as ‚director of editing‘ it is analogous to director of photography, a role that in English we would simply call „editor“, as in the person who collaborates with the director in the realisation of the film’s form. However, if one translates it as „director by editing“ or „directing through editing“ or „director-editor“, one gets something else: the unique role performed in the making of compilation films. This role has been performed by a number of women in the Soviet montage era and since (including Shub, Svilova and Brik […]). It involves finding stories and creating a film’s form through the process of editing footage found in archives or sent to the edit suite by a range of camera people working at a distance. The editor designs and realises the story by structuring and narrating the flow of disparate footage, potentially shot for many other purposes. For women in the Soviet montage era, there was also an additional skill required: that of structuring and narrating films to meet the sometimes shifting and highly charged requirements of censors.35

Allerdings verwendet auch der Kenner der russischen Terminologie Jeremy Hicks die abgekürzte Bezeichnung „Setkina’s film.“ 36 Marek Haltof: Polish Film and the Holocaust. Politics and Memory. New York, Oxford 2012, S. 212. Haltof bezieht sich hier auf Liebman. 31 John J. Michalczyk: Filming the End of the Holocaust. Allied Documentaries, Nuremberg and the Liber­ ation of the Concentration Camps. London, New York 2014, S. 58. 32 Unter Umständen 1949. Vgl. Drubek 2020 (Anm. 7), S. 326; ich beziehe mich auf Fords private Korrespondenz mit Janina Wieczerzyńska; auf ihren Brief, der ihm die Geburt des gemeinsamen Sohns mitteilt, antwortet er ihr am 17.10.1944, dass er wegen des Majdanekfilms nach Moskau fliegen müsse. 33 Miron Černenko: Krasnaja zvezda, želtaja zvezda. Kinematografičeskaja istorija evrejstva v Rossii. 2000, http://gazeta.rjews.net/Lib/Tchernenko/miron.html (gesehen 25.3.2020). Diese Zahl der erlaubten jüdischen Namen erwies sich als beweglich, entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen der sowjetischen Regierung. 34 Stuart Liebman: La libération des camps vue par le cinéma: L’exemple de Vernichtungslager Majdanek. In: Les cahiers du Judaisme 15, 2003, S. 54–79. 35 Karen Pearlman, Adelheid Heftberger: Editorial: Recognising Women’s Work as Creative Work. In: Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 6, 2018: Women at the Editing Table. Revising Soviet Film History of the 1920s and 1930s. Ed. by Adelheid Heftberger and Karen Pearlman, DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2018.0006.124 (gesehen 25.3.2020). 36 „The Sovietizing tendency was strongest in Setkina’s film“; Hicks 2012 (Anm. 11), S. 160. 30

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Das Fräuleinwunder in der sowjetischen Dokumentarfilmproduktion der 1940er Jahre

Abb. 4: „Die von der Front angereisten Kameraleute R. Gikov und I. Gutman übergeben der CSDF-Mitarbeiterin in Moskau ihr Filmmaterial“ (Montagelisten und Filmkanister; Abb. Website des digitalen ‚Museums‘ des CSDF: https://csdfmuseum.ru, gesehen 25.3.2020).

Beim Durchsehen der Filmografien von sowjetischen Dokumentarfilmen der 1940er Jahre fiel mir ein unerwarteter Anstieg der Zahlen weiblicher Namen in den Spitzenpositionen bei Produktionen des CSDF auf, wo die Frontchroniken zu Wochenschauen und Spezialnummern zu Katyn′ oder Majdanek geschnitten wurden. Und gerade diese heiklen Titel figurierten nun unter Setkina, Slavinskaja, Svilova. Diese Namen waren mir jedoch nicht in einer Urheberfunktion bekannt, sondern gehörten russischen Schnittmeisterinnen, deren kaum dokumentierten Karrieren wir ein Heft der Zeitschrift Apparatus gewidmet haben.37 Bedeutete dies tatsächlich ein Schwinden der Diskriminierung von Frauen? Die Gender Studies-Forscherin ­Anastasia Khodyreva fasst es in ihrem Artikel über heutige Cutterinnen in Russland so zusammen: The star system and the worldwide ubiquity of the auteur approach enhances the visibility of principle actors, directors and producers […]. In contrast, editors such as Anna Mass do not appear in the films’ promotional activities, while, I argue, perform a role of „virtual“ Women at the Editing Table 2018 (Anm. 35), http://www.apparatusjournal.net/index.php/apparatus/issue/ view/9 (gesehen 25.3.2020).

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co-directors (ibid.), deploying their creative sensibilities to produce intuitively nuanced film assemblages (ibid.).38

Dies alles spiegelt sich in den Filmografien: Frauennamen können dort meist nur als Schauspielerinnen ein volles und nachhaltiges filmografisches Leben entwickeln. Doch diesem Beruf kommt keine Urheberrolle zu, wie im Übrigen auch nicht den Cutterinnen und Kameraleuten.39 Man könnte sich also über die Vielzahl weiblicher Autorinnen am CSDF freuen, wäre der Hintergrund nicht ein trauriger, und zwar einer des aufziehenden Antisemitismus, in der UdSSR getarnt als ‚Antikosmopolitenkampagne‘.40 Ein instruktives Beispiel ist Elizaveta Svilova, deren Name in den 1940er Jahren in den Vordergrund tritt – im Gegensatz zu dem ihrer jüdischen Kollegen wie etwa Roman Karmen oder ihres Mannes und kreativen Partners Dziga Vertov. Vertov hat zu diesem Thema – vermutlich 1946/47 – ein Gedicht verfasst, das mir von Luis Felipe Labaki zur Verfügung gestellt wurde: Parodie auf die „Sympathisanten“ und „Tröster“ Alles ist gut, glücklicher Dziga. Alles läuft gut. Ihre Methode lebt. Ehefrau Liza Hat sie auf andere übertragen. Sei es ein Film. Sei es eine Skizze. Sei es Vojtechov oder sei es Karmen. Überall Ihr Stil, überall Ihre Handschrift. Und es besteht kein Grund zur Sorge. Alles ist gut. Die Nöte sind vorbei. Es begeistert der Film Auschwitz. Und Svilovas Gericht der Völker, Und ihr (zusammen mit Rajzman) gemachtes Berlin.41

Luis Felipe Labaki weist darauf hin, dass der KZ-Befreiungsfilm Auschwitz: Kinodokumenty o čudoviščnych prestuplenijach germanskogo pravitel’stva v Osventsime / Filmdokumente über die ungeheuerlichen Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz (1945) als einziger nicht mit einem weiteren Autornamen versehen ist,42 als wolle Vertov darauf hindeuten, dass er in diesem Film am stärksten seine eigene ‚Handschrift‘ sehe. Oder wollte er sogar eine Ko-Autorschaft signalisieren? Bei den anderen Filmen sind Urhebernamen genannt: Svilova bzw. Svilova und Julij Rajzman im Fall des monumentalen Dokumentarfilms Berlin (1945), für den nahezu 40 Kameraleute Aufnah Anastasia Khodyreva: In the Fictional Shadow of Post-Production? The Silenced Creative Commu­ nity and Gender Hyper(in)visibility Among Film Editors in Contemporary Russia. In: Apparatus. Film, ­Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 7, 2018: Women Cutting Movies. Editors from East and Central Europe. Ed. by Adelheid Heftberger and Ana Grgic, DOI: http://dx.doi.org/10.17892/ app.2018.0007.108 (gesehen 25.3.2020). 39 Vgl. hierzu Bemühungen, diesen Beruf durch Preise auf Festivals aufzuwerten; Khodyreva 2018 (Anm. 38). Allerdings liegt die Crux hier doch eher im Urheberrecht. 40 Vgl. hierzu Frank Grüner: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953. Köln 2008. 41 Aus einem Dziga-Vertov-Gedicht der zweiten Hälfte der 1940er Jahre; RGALI: f. 2091, op. 2, ed. chr.232, l.54 (Datierung durch Labaki, meine Übersetzung aus dem Russischen). 42 E-Mail-Korrespondenz mit L. F. Labaki vom Dezember 2018. 38

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men geliefert haben (wobei auch hier wieder in einigen Verzeichnissen die Schnitt­ meisterin Svilova zum ‚Schutz‘ des nicht-slawischen Namens auf die Urheberebene gehievt wird). Auf der Internetseite des Produktionsstudios CSDF (Moskau), auf der in den letzten Jahren verdienstvollerweise ein digitales ‚Museum‘ mit wertvollen filmografischen Daten aufgebaut wurde, steht heute jedoch, dass Rajzman Regisseur war und dass E. Svilova, I. Setkina, T. Lichačeva den Schnitt besorgt haben.43 Allerdings erhielten Rajzman und Svilova gemeinsam den Stalinpreis erster Klasse, zusammen mit anderen Personen, die nicht im Vorspann genannt wurden, so etwa Semen Stojanovskij, der im April 1945 fiel, und Leon Mazrucho – beide jüdischer Herkunft. Svilova und Vertov verband bei ihren Filmarbeiten eine lebenslange Ko-Autorschaft. Karen Pearlman, John MacKay und John Sutton sprechen bei dem Filmemacherpaar sogar von einer ‚verteilten Kognition‘,44 die im gemeinsamen Sichten und Schnitt des Materials bestand: Writing about documentary editing and cognition, Pearlman (2018: 312) describes collaboration as a „process of distributing cognition between director and editor. The director’s mind is now extended through and with the editor, as hers is extended through and with the material that she has sorted to optimize her cognitive interaction with its possibilities.“ In other words, describing Svilova as part of the distributed cognitive system that made the work adds to the strength of that system, which includes Vertov sometimes as editor and always as director.45

Kam es durch solche Ko-Autorschaften zum Aufstieg der Cutterin in der Hierarchie der Filmindustrie der 1940er? Wohl kaum, der Grund ist prosaischer. Khodyreva skizziert die historische Veränderung der Bedeutung der Filmberufe, vom sowjetischen Fall des ‚Cutter-Blicks‘ des Avantgarde-Regisseurs 46 hin zum Schnitt als ideologischer Redaktion: https://csdfmuseum.ru/films/26-берлин (gesehen 25.3.2020). Ähnlich ist im russischen Wikipedia-Artikel zum Justizfilm Sud narodov / Gericht der Völker (1946) die Rede vom „Autor und Leiter der Aufnahmen Karmen“: https://ru.wikipedia.org/wiki/Суд_народов_(фильм) (gesehen 25.3.2020). Svilova wird manchmal als „Regisseur“ (Режиссёр) bezeichnet, was sich jedoch wieder auf die „Regie des Schnitts“ bezieht: https://csdfmuseum.ru/films/81 (gesehen 25.3.2020). 44 „The distributed cognition framework postulates that the work of mind is not exclusively taking place inside individual brains. Rather, complex cognitive processes are distributed across ‚material, symbolic, technological, and cultural artifacts and objects as well as other people‘“; Karen Pearlman, John MacKay, John Sutton: Creative Editing: Svilova and Vertov’s Distributed Cognition. In: Women at the Editing Table 2018 (Anm. 35), DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2018.0006.122 (gesehen 25.3.2020). 45 Pearlman/MacKay/Sutton 2018 (Anm. 44), der Verweis im Zitat bezieht sich auf Karen Pearlman: Doc­ umentary Editing and Distributed Cognition. In: A Cognitive Approach to Documentary Film, edited by C. Brylla and M. Kramer. Basingstoke 2018, S. 303–319. 46 „The historical Soviet school of film production which became famous during the era of Dziga Vertov, Lev Kuleshov or Sergei Eisenstein was characterised by what Batalova called ‚directors with editorial gaze‘ (Batalova 2017). What she meant is that while drafting the film conceptually and by directing the shooting, directors used to think simultaneously about the montage. According to my interviewees, editing used to be just one of the compulsory courses in the film-directing curriculum: it was seen as a skill of a director him/herself. That is why there is an opinion that earlier directors did not need addition­ al (creative) agencies to assemble raw shots into a film (Savchenko 1960). Instead, directors needed a ­careful technician to produce ‚skleika‘ to a pre-designed plan“; Khodyreva 2018 (Anm. 38, ‚skleika‘ heißt Montage), die Verweise im Zitat beziehen sich auf ein Gespräch der Autorin mit Cutterin Julia Batalova am 26.11.2017 in Moskau und auf Igor’ Savčenko: O montaže [1960], In: Iskusstvo Kino 12, 2012, http://kinoart.ru/archive/2001/12/n12-article3 (gesehen 1.4.2020). 43

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Later, in Soviet times authorship in arts, including cinema, was limited or restricted, and editors became a tool of ideology (Savchenko 1960). In my view, when crafting ­propaganda-charged art, an editor has politically responsive creative agency, which is why the opinion that ­editing was only a matter of technical skill can be challenged (this challenge, however, remains ­outside the scope of this essay). All in all, the historical politics of film industry ­seemed to be attuned to the political status quo and to the understanding of visual culture (films) as ideo­ logical machinery, which removed the need for open-ended art. As a result, under the specific­ ity of Soviet spatio-temporality, editors’ creative agency stagnated, and editing was reframed as a vital, but technical skill.47

Auf historische Namensmanipulationen im Vorspann geht Khodyreva jedoch nicht ein. Auch wenn wir im Archiv des Studios einen Hinweis darauf fänden, dass Svilova ein vorgeschobener slawischer Frauenname ist, der vom Studio gewählt wurde, um etwaige Kritik oder gar Interventionen und daraus folgende Karrierebrüche der Direktoren abzuwehren, erscheint es doch allzu gewagt, Vertov als Miturheber des Auschwitz-Films anzugeben; dies einfach deshalb, weil er weder im Vorspann noch in anderen bisher bekannten Quellen verzeichnet ist. Und doch kann man über solche Konjekturen per analogiam ernsthaft nachdenken. Eine Hypothese sind sie allemal wert, wenn sie zu einer Diskussion, wie die ‚verteilte‘ Urheberschaft kreativer Paare in Filmografien abgebildet werden kann, führen könnte. Dies würde nicht nur zu einer größeren Gerechtigkeit bei der Behandlung der Geschlechter führen, sondern auch die tatsächliche Autorschaft von Filmwerken genauer repräsentieren, die sowohl für die Wissenschaft als auch für die Gesellschaft von Bedeutung ist. Sie kann zu einem Entdecken oder einem Einschluss eines Namens in die Filmgeschichte führen, gar den Kanon verändern oder auch juristische Konsequenzen haben. Hier ist ein ideologiekritischer Ansatz vonnöten, den nur wenige Forscher, die sich mit den KZ-Befreiungsfilmen befassen, systematisch vertreten; auch nicht Miron Černenko in seinem verdienstvollen Buch Roter Stern, gelber Stern. Die Filmgeschichte der Juden in Russland 48 oder die Forschungsgruppe um Valérie Pozner, die die beachtliche Ausstellung Filmer la guerre: Les Soviétiques face à la Shoah, 1941–1946 kuratiert hat. Černenko betreibt zwar Ideologiekritik, doch bleibt diese ohne Auswirkung auf seine filmografischen Angaben, die die sowjetischen ‚Bereinigungsaktionen‘ nur dokumentieren, nicht verbessern – wie etwa im Fall des Filmmaterials, das bei der Befreiung Rostovs von Sologubov, Kairov, Aslanov und Levitan gedreht wurde und das sich der Kameramann Georgij Popov aneignen wollte. Obgleich Popov 1942 durch das Militärtribunal der NKVD-Truppen verurteilt wurde, hört man 1946 seinen Namen im sowjetischen Filmbeitrag zu den Hauptkriegsverbrecherprozessen (zusammen mit Levitan und Sologub) aus den Lautsprechern im Gerichtssaal von Nürnberg.49 Pozner wiederum Khodyreva 2018 (Anm. 38), der Verweis im Zitat bezieht sich auf Savčenko 2012/1960 (Anm. 45). Černenko 2000 (Anm. 33). 49 Černenko 2000 (Anm. 33) nennt in seiner Liste sowjetischer Erwähnungen des Genozids in den deutsch besetzten Gebieten der UdSSR die Nr. 114 des Sojuzkinožurnal (1941) Ne zabudem, ne prostim (O z­ verstvach fašistov v g. Rostove-na-Donu) / Wir vergessen und verzeihen nicht. Über die Bestialitäten der Faschisten in Rostov am Don. Diese Nummer sei ein halbes Jahr später „ohne Veränderungen“ als Sojuzkino­žurnal Nr. 27 (1942) wiederholt worden, jedoch mit anderen filmografischen Angaben – Černenko führt diesen Austausch der Namen kommentarlos an: Der Regisseur S. Gurov (geb. Goldstein, seine Biografie findet sich auf der CSDF-Seite) wird in der späteren Version des Materials aus dem befreiten Rostov durch „I Set47 48

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bemüht sich um faktografische Präzision, thematisiert die politisch bedingte Fehlerhaftigkeit der Filmografien jedoch nicht als methodologisches Problem. Eine Ausnahme stellt Jeremy Hicks dar,50 dessen slawistisches Knowhow für philologische Fragen sensibilisiert ist. Allerdings geht auch er nicht auf die Politisierung der Vorspänne ein – und diese wächst in der Nachkriegszeit enorm und hat systemische Auswirkungen.

‚Numerus Clausus‘ für jüdische Namen im Vorspann des Majdanek-Films? Da in den 1940ern zahlreiche Filme einen quasi-juristischen bzw. zuweilen kriminologisch bedeutsamen Charakter haben, wird die Verantwortung für sie also auf unbelastete Namen abgeschoben – diese gehören meist Filmarbeiterinnen, die zuvor keinen ‚claim to fame‘ hatten. Allgegenwärtig erscheint der Einsatz des Namens Irina Frolovna Setkina(-Nesterova), die in einigen Darstellungen nicht nur als „Regisseur (des Schnitts)“ des Majdanekfilms, sondern auch des Katyn′films genannt wird. Diese zweifelhafte Ehre der Zuschreibung solcher Propagandastreifen findet im Produktionsstudio statt, ist also eine Antizipation von Zensurmaßnahmen bzw. ihr Umgehen; Setkina wurde sicher nicht um ihre Meinung hierzu gefragt. Ein Film, der mit dem (Deck-)Namen Irina Setkina versehen ist, kann die Zensur leichter passieren als ein Film von Roman Lazarevič Karmen, dessen Signatur unter sowjetischen Izvestija-Artikeln während des Kriegs auch schon einmal in das russische Karpov abgeändert wurde – ein frappanter Fall von Anonymisierung, es sei denn, es hätte einen R. Karpov gegeben, der das ­Honorar eingesteckt hätte.51 Beispiele für diese Form des vorauseilenden Gehorsams auf Seiten der Medienmacher – seien es Zeitungsredakteure oder Produktionsstudios – finden sich in der Zeit des Spätstalinismus häufig und ähneln dem Ritual der öffentlichen Selbstkritik und Denunziation, die vor allem von Juden gefordert wurde. Kurios ist zugleich, dass der Name Setkina in keinem einzigen der Majdanek-­ Vorspanntitel, die ich sichten konnte, auftaucht. Da Majdanek in der Filmografie ihres Werks auf der Seite des CDSF fehlt,52 kann man vermuten, dass sie erst 1949 für den Umschnitt hinzugezogen und seitdem kreditiert wurde. Hier kann man Miron Černenkos Begriff des ‚Numerus Clausus‘ der Erwähnungen jüdischer Sowjetbürger im Film ab Ende 1941 anwenden.53 Dass angesichts des Eisernen Vorhangs westliche Forscher die dejudaisierten Vorspänne in ihre Filmografien übernahmen, ist nicht erstaunlich, doch wieso hat diese Angaben auch später, als die Archive sich öffneten, niemand korrigiert? Offensichtlich wirkt hier das Gesetz der Trägheit des sowjetischen Kanons, der die Filmografien festgeschrieben hat und weiterhin einige Autorität ausstrahlt. Setkina ist nicht Ko-Autorin Karmens oder Fords wie im Fall des vier Jahrzehnte währenden Gespanns Vertov-Svilova, sondern eine Cutterin, die die Aufnahmen ver-



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kina“ ersetzt. Die Produktionsgeschichte der Befreiungsfilme dieser Stadt Ende 1941 wäre eine eigene Untersuchung wert. Popov arbeitete mit „unehrenhaften Tricks, die die Versendung des Filmmaterials“ seiner Kollegen vereitelten, um zum „einzigen Autor und Monopolisten der Aufnahmen im befreiten Rostov“ zu werden; zitiert aus einem Schreiben Mark Trojanovskijs vom 1.2.1942 in Fomin 2005 (Anm. 7), S. 178. Hicks 2012 (Anm. 11). Vom Casus ‚Karpov‘ berichtet Karmens Sohn, Aleksandr Karmen, in: Izvestija, 29.11.2006, https://iz.ru/ news/319448 (gesehen 25.3.2020). https://csdfmuseum.ru/names/16-ирина-сеткина-нестерова (gesehen 25.3.2020). Černenko 2000 (Anm. 33).

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schiedener Urheber, die zum Teil auch Kameraleute waren (wie Karmen), bearbeitet hat. Und nicht nur das: Mit größter Wahrscheinlichkeit musste sie eine der bereinigten, d. h. verstümmelten Schnittvarianten der späten 1940er Jahre in Moskau liefern, die von der Zensur im Kontext der Antikosmopolitenhetze betroffen ist. Da sie im Hinblick auf diesen Film als Werkzeug dieser im Studio angefertigten Zensur, als „tool of ideology“ 54 wirkte, kann sie nicht als urhebende ‚Regisseurin‘ im westlichen Sinne verstanden werden. Ihre Arbeit ist vergleichbar mit den Bach-Übertragungen Busonis, doch niemand würde Bachs Ciaccona für Violine BWV 1004 als ‚Busonis Chaconne‘ bezeichnen.

Emendatio mit Hilfe von Spezialquellen: Das Beispiel der sowjetischen Montageliste (‚montažnyj list‘) In meiner Forschung zu den Majdanekfilmen habe ich Typen von Quellen erschlossen, die die Erfordernisse einer historisch-kritischen Filmografie neu beleuchten. Im Fall der polnischen Version des Films genügte nicht der Abgleich der Vorspänne, der Namen in den Archivkatalogen bzw. von öffentlich zugänglichen Datenbanken bzw. Sekundärquellen wie Memoiren, sondern ich musste zu Primärquellen greifen, die größtenteils nicht veröffentlicht sind. Es handelt sich zum einen um – als ursprünglich geheim eingestufte – Montagelisten des Majdanek-Drehs, der sich über mehrere Wochen des Sommers 1944 hinzog. Zum anderen waren dies Interviews mit Bossak ab 1969 im Verbund mit nicht-öffentlichen Dokumenten.55 Ein Studium der Gesamtheit seiner offiziellen Lebensläufe und Egodokumente – ebenfalls aus einem ehemaligen Geheimarchiv – kann darüber aufklären, wie es dazu kam, dass ab den 1970er Jahren Bossak zum Ko-Autor des Maj­ danek-Films aufsteigen konnte. Als Autoren der polnischen Version führen einige Filmgeschichten A. Ford und J. Bossak an – so etwa Richard M. Barsam, aber auch Miron Černenko.56 Wie ich in meinem Buch zu den Majdanekfilmen zeige, geht die (Selbst-)Zuschreibung einer führenden Rolle auf Bossak selbst zurück und stammt erst aus der Zeit, als A. Ford emigriert und in Polen eine ‚persona non grata‘ geworden war.57 Aus in einem Militärarchiv lagernden Quellen kann man die Aneignung von Urheberschaftsanteilen an dem ersten Befreiungsfilm zu Ungunsten beider Fords nachvollziehen. Bossak schreibt in einem Lebenslauf, „Ford ist nie in Majdanek gewesen, hat nicht an der Regie und am Ton teilgenommen, ist nur zweimal in den Schneideraum gekommen, den Schnitt hat

Khodyreva 2018 (Anm. 38), den ukrainisch-sowjetischen Regisseur I. Savčenko 2012/1960 (Anm. 46) zitierend. 55 Es handelt sich um Lebensläufe Bossaks im Ordner „Czołówka“ („Filmspeerspitze“) am Zentralen Militärarchiv CAW-WBH (Centralne Archiwum Wojskowe – Wojskowe Biuro Historyczne) in Warschau, die mir von Konrad Klejsa in digitaler Form zur Verfügung gestellt wurden, wofür ich ihm zu großem Dank verpflichtet bin. 56 Richard M. Barsam: Nonfiction film. A critical history. Bloomington 1992, S. 268; Černenko 2000 (Anm. 33). 57 „Jerzy Bossak credited himself with the on-location work“, bemerkt Haltof 2012 in knapper Form, ohne auf die Problematik einzugehen (Anm. 30), S. 212. Wie Filip Gańczak gezeigt hat, musste Ford Polen 1969 aufgrund eines Holocaust-Filmprojekts mit Atze Brauner verlassen; dargestellt in Drubek 2020 (Anm. 7), S. 351. 54

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Ludmiła Niekrasowa besorgt.“ 58 In dieser Schilderung der Nichtbeteiligung Fords fehlt jedoch die Angabe zur nicht unerheblichen Aufgabe der Regie der Dreharbeiten vor Ort, die nicht auf Bossaks Konto gehen kann, der 1944 – abgesehen davon, dass er für den „Text“ zuständig war und als dessen Autor im frühesten Vorspann genannt ist – auf dem Filmset ein blutiger Anfänger war. Daher muss entsprechend der Stab-Logik Olga Mińska-Ford zur Ko-Regisseurin nachrücken. Dies ist eine Konjektur, die jedoch gut zu begründen ist, u. a. dadurch, dass Mińska-Ford mit dem Großteil des Film-Teams bereits vor dem Krieg zusammengearbeitet hat.59

Abb. 5: Vom Filmgruppenleiter Bol’šakov signierte Montageliste zu Kaspijcy (1943) mit Stempel „­ SEKRETNO“ („GEHEIM“).

Während Bossak hochstapelte,60 ging in dieser Wahrnehmung männlicher Urheberschaft eines KZ-Films die Rolle der Regieassistentin Olga Mińska-Ford vollends un Bossak, Lebenslauf, 16.11.1981, S. 3; s. Anm. 54. Zu weiteren Details, die Olga Mińska-Fords Urheberschaft nahelegen, vgl. Drubek 2020 (Anm. 7), S. 73, 343, 352–375. 60 Offensichtlich teilte Bossak, der in den 1960er Jahren – nach seinem Kompilationsfilm Requiem dla 500 tysięcy / Requiem für 500 000 über das Warschauer Ghetto von 1962 – als Spezialist für den Holocaust-Dokumentarfilm galt, diese Selbsteinschätzung als führender Maj­danekfilm-Urheber auch seinen westlichen Kollegen mit, die diese in ihre Filmgeschichten aufnahmen, wie etwa Barsam 1992 (Anm. 56). Hier schien es niemanden zu stören, dass 1944 Bossaks auf einen universalistischen Internationalismus abonnierte marxistische Ideologie einer der Gründe war, dass in den Majdanekfilmen kein jüdisches Schicksal den Genozid beleuchtete. 58 59

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ter  – dies begann mit dem aktuellen Bruch ihrer Ehe aufgrund einer außerehelichen Beziehung A. Fords mit Janina Wieczerzyńska, die er in der UdSSR kennengelernt hatte und die während der Majdanek-Dreharbeiten sein Kind 61 erwartete. Es kam jedoch nicht zur Scheidung, und Mińska-Ford arbeitete bis in die 1950er Jahre an Fords Seite als seine Drehbuchautorin und ständige Assistentin – bis sie im Film Piątka z ulicy Barskiej / Die Fünf aus der Barskastraße (Polen 1954) in dieser Funktion von Fords Schüler Andrzej Wajda abgelöst wurde. Dieses Beispiel zeigt zugleich, wie tief man zuweilen in die Biografien und Karriereverläufe der Urheber einsteigen muss, um das Ziel einer (ideologie)kritischen Filmografie zu erreichen – und dass man sich nicht scheuen darf dies zu tun, wenn es um weibliche Karrierografien geht, die so oft von den männlichen abhängen.

Urheberschaft und Verantwortung: Anonymisierte Filme und getilgte Namen Die überlieferten Majdanekfilm-Fassungen, die heute zugänglich sind, erwähnen mit keinem Wort und zeigen mit keinem Bild, dass sich die von der Roten Armee im Sommer 1944 entdeckten deutschen ‚Todesfabriken‘ im Osten Polens vorrangig auf jüdische Opfer richteten. Der amerikanische Filmforscher Stuart Liebman empfand diesen Umstand als unerhört und verfasste einige Artikel über die sowjetisch produzierten Majdanek-Filme, die den Grund in dem erstarkenden Antisemitismus erblickten.62 Jer­emy Hicks griff Liebmans Linie auf, fand jedoch im Archiv von Krasnogorsk ­Majdanek-Filmmaterial, in dem der Genozid an den Juden dokumentiert wird. Als ich begann, das archivierte Material weiter zu untersuchen, stellte ich fest, dass es ein polnisches Zeugnis eines ehemaligen Mitglieds eines Sonderkommandos jüdischer Zwangsarbeiter, die bei der ‚Enterdung‘ eingesetzt wurden, enthielt. In unserem Kontext stellt sich die Frage, wer dieses im Sommer 1944 absolut unikale Zeugnis mit Ton aufnahm und wer dafür verantwortlich ist, dass es dann in den Filmen nicht zur Verwendung kam. Im Krasnogorsker Archiv haben sich 19 Majdanek-Rollen erhalten. Sie enthalten auch das Material, das in keine der veröffentlichten und überlieferten Versionen der 1940er Jahre eingegangen ist. In Krasnogorsk sind diese eineinhalb Stunden unter der Registrierungsnummer 10856 katalogisiert. Als Studio wird das CSDF angeführt, kein Regisseur genannt und als Kameraleute Sof’in, Štatland, Solov’ev, Wohl und Forbert – Letztere transliteriert als Vol’t und Farbert, was bedeutet, dass diese Namen nicht aus einem (entfernten) Vorspann oder schriftlichen Dokumenten wie Montagelisten stammen, sondern aus einer mündlichen Mitteilung oder einer phonetischen, jedoch fehlerhaften Niederschrift in kyrillischer Schrift. Nicht aufgeführt wird hier Karmen, denn aus der Sicht des CSDF bzw. des Archivs handelte es sich in erster Linie um archivierte ‚stock footage‘, die nicht mit dem Namen Karmen versehen werden musste. Karmen wurde nach dem in Nürnberg gezeigten Film – quasi nachträglich – doch indirekt die Autorschaft für den Majdanek-Film zuerkannt, denn Gestaltung und Text stimmen zum Teil wortwörtlich mit dem Film für das Gericht überein – was jedoch Vgl. die literarische Biografie von Michał Danielewicz: Ford. Reżyser. Warschau 2019, S. 201. Liebman 2003 (Anm. 34).

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fehlt, ist der abstrakte marxistische ‚Überbau‘, der offensichtlich von Bossak stammte, der – trotz seinem slawischen Pseudonym (sein Geburtsname war Burger-Naum) – in den Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov auch nicht in den Vorspann gelangen konnte. Auch im Vorspann des russischen Majdanek-Films vom Januar 1945 kamen die polnischen Kameraleute nicht vor, ihre sowjetischen Kollegen waren jedoch in der polnischen Fassung von November 1944 überwiegend namentlich genannt. In den jeweiligen Katalogen der nationalen Filmotheken und Archive werden diese und andere Versäumnisse manchmal berichtigt, so dass sich konkurrierende Filmografien ergeben, die des Vorspanns, die der Archivkataloge bzw. die von öffentlich zugänglichen Datenbanken. Oft sind es auch unterschiedliche nationale Filmografien, die sich jedoch auf den gleichen Film zu beziehen scheinen. Hier stellt sich die prinzipielle Frage: Wie kann man eine nachhaltige Emendatio erreichen?

Slawische Namen, Dopplungen und Verschmelzungen Selbst in KZ-Filmen geht es nicht immer nur ernst zu – vor allem wenn Filmoffiziere der Roten Armee auf Wiener Schmäh treffen. Im archivierten Filmmaterial vom August 1944 gibt es zwei Versionen derselben Zeugenaussage – und zwar mit verschiedenen Österreichern, die beide den ehemaligen Majdanek-Häftling und Kommunisten L. Tomášek darstellen. Offensichtlich handelte es sich um den Versuch der Majdanek-Filmleute, eine Vorgabe von oben zu erfüllen, die ‚richtigen‘ Überlebenden zu filmen. Das sollten weder sowjetische Kriegsgefangene sein noch Juden, sondern Kommunisten oder zumindest Arbeiter aus aller Herren Länder und darunter sollte auch ein slawischer Name sein. Und so kam es zur Generierung der Persona Tomášek, der als Wiener Tscheche vor dem Krematorium auf Deutsch erklären sollte, was ein KZ ausmacht – ehemalige Häftlinge ‚proben‘ die Rolle des Kommunisten slawischer Abstammung. Obwohl wir es hier mit einem ‚Filmdokument‘ zu tun haben, also einem Dokumentarfilm, ist Tomasek/ Tomášek ein fiktiver Name. Die echten Namen der Figuren auf der Leinwand kennen wir nicht, sie sind nirgends dokumentiert.63 Später sollte den Namen der Mitglieder des Filmteams Ähnliches zustoßen. Dass kein einziger Name des polnischen Teams in den russischen Vorspännen von 1945 und 1946 vorkommt, hält Hicks für einen „ungerechten Lapsus.“ 64 Das Auslassen der nicht-slawischen Namen der Kameraleute Wohl und der Brüder Forbert, von denen einer den 1945/46 denkbar unpassenden Namen Adolf trug, hat jedoch bei einem nach Nürnberg geschickten Film Systemcharakter; man wollte keine ‚germanischen‘ Namen auf der Leinwand während eines Tribunals gegen die Deutschen sehen oder hören (die Namen der Kameraleute wurden nämlich teilweise vom Sprecher vorgelesen, so etwa Sof‘in, Štatland und Karmen bei den Majdanek-Aufnahmen).

Vgl. Drubek 2020 (Anm.  7), Kap. 8.7. und 8.9. In einem kyrillischen Dokument von 1944 lautet der Name Томасек. 64 Hicks 2012 (Anm. 11), S. 159. 63

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Natascha Drubek-Meyer

Es sind auch nicht alle sowjetischen Kameraleute, die mit Hilfe der Montagelisten zugeordnet werden können, im russischen Vorspann vertreten.65 Ende der 1940er Jahre – als nicht-slawische Namen Misstrauen erregten – wurde Karmens Urheberschaft durch die ‚Erweiterung‘ der Stabliste durch den unauffälligen Namen Svilova eingeschränkt. Die Nichtnennung geschieht in einem Kontext der zunehmenden Dejudaisierung – oft in einem Zug mit der linguistischen Degermanisierung – von Vorspännen nach Kriegsende, die u. U. ganz mechanisch ablief. Ein Herausstreichen und Löschen von Namen durch verschiedene Zensurmechanismen ist gerade gegen Ende der 1940er Jahre, als der ‚Numerus Clausus‘ immer tiefer sank, gang und gäbe. Der Wirbel der Namensbereinigung zog sogar Karmens Rivalen Viktor Štatland in die Tiefe, der zwar nicht jüdischer Herkunft war, jedoch 1951 im Rahmen der ‚Kampagne gegen Kosmopolitismus und Katzbuckeln vor dem Westen‘ auch auf die schwarze Liste kam und vorerst keine Filmaufnahmen für die Regierung mehr machen durfte.66 In den 1970er Jahren wiederum versuchte Bossak die Hierarchie der Namen in der Filmografie umzustellen und in der offiziellen polnischen Erinnerung wurde Olga Ford getilgt bzw. mit Janina Wieczerzyńska zu einer Person verschmolzen.67 Wir haben zu Anfang gesagt, dass die Funktion eines Namens in einer Filmografie ist, den Beitrag der Künstlerinnen und Künstler zu benennen wie auch ein Individuum eineindeutig zu bezeichnen und umgekehrt: Neben diesem Anspruch hat aber jeder Mensch auch ein Recht auf seine Identität, die sich u. a. in seinem eigenen Namen ausdrückt; wenn zwei Menschen sich einen Namen teilen müssen, kann dies fatale Folgen haben, sowohl im künstlerischen Bereich wie auch im realen Leben. Dass dies vermieden wird, kann man von einer kritischen und damit ethischen Filmografie und Filmwissenschaft erwarten. Diese Fälle zeigen, dass keinem Vorspann vorbehaltlos Glauben geschenkt werden kann – es sei denn, man will die Enteignung der Autorschaft fort- und in einer Filmografie kritiklos festschreiben. Die Suche nach dem wahrhaftigeren Namen und seine Restitution hat daher auch immer eine politische und ethische Dimension. Bei politisch Verfolgten kommt sie einer Rehabilitierung gleich.

Fazit und Ausblick Im Film ist es leicht, Namen der Urheber und des Stabs zu fälschen, es genügt, einen neuen Vorspann herzustellen. Filme, die zu dem Zeitpunkt, den ich untersuche, gemacht wurden, sind in dieser Hinsicht besonders anfällig, da Namen falsch, uneindeutig, unbekannt oder getilgt sein können. Die KZ-Filme wurden direkt von der politischen Entwicklung des von der Roten Armee befreiten Ost- und Mitteleuropa beeinflusst – denn die Befreiung Polens, des ‚Protektorats Böhmen und Mähren‘ und von Teilen der UdSSR von der deutschen Besatzung bedeutete für viele, die versucht hatten, diese zu überleben oder ihre Familie zu retten, ein neues Purgatorium: Die Mitarbeit an So stammen etwa die Luftaufnahmen von Vladimir Šnejderov (laut seiner Montageliste Nr. 1052 vom 13.8.1944). Aufnahmen des Badehauses mit Gaskammer machte u. a. I. Komarov als Štatlands Hilfskameramann. Vgl. Montagelisten 1020, 1021 in Fomin 2018 (Anm. 3), S. 415. 66 Vgl. Drubek 2020 (Anm. 7), S. 429 f. 67 „‚Es gibt keine Olga Mińska‘, sagt Jakub Ford lachend, ‚das war ein Pseudonym meiner Großmutter aus der Kriegszeit‘“; Danielewicz 2019 (Anm. 61), S. 258. 65

Namen – Credits – Autorschaft

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NS-Filmwerken wurde ebenso geahndet (Tschechoslowakei), wie die Schilderung des Genozids durch jüdische Autoren zunehmend unterdrückt wurde (Polen, UdSSR, dort auch als Unterdrückung der geplanten Schwarzbuch-Publikation von I. Ehrenburg und V. Grossman). Dies geschah nicht in der Form einer Aussonderung der Filme selbst, sondern der Änderung des Titels und der Tilgung von Namen. Man kann dies kaum als Zensur bezeichnen, denn diese Anpassungen wurden oft durch die Medienproduzenten wie etwa das Filmstudio selbst vorgenommen, das sich vor Angriffen schützen wollte. So kommt es in der UdSSR vor allem ab 1945 dazu, dass Cutterinnen, denen bis vor kurzem keine Urheberschaft zugestanden wurde, Verantwortung zugeschrieben wird, künstlerische und politische. Während die Namen Vertov (Kaufman) und Karmen (Korenman) untergehen, erleben die Namen von Svilova und Setkina einen Auftrieb. Sie werden unter der Bezeichnung ‚Regisseur‘ eingeführt, um den originalen Beitrag der nicht genehmen jüdischen Namen unkenntlich zu machen. Dies sind – zuweilen vorübergehende – Manipulationen der Studioleitung, nicht der Cutterinnen selbst. Oft schlägt sich in den scheinbar freiwilligen Rücktritten von einer Autorschaft nicht nur die Wirkung einer Ideologie wie des sowjetischen Antisemitismus nieder, sondern auch diejenige einer (ungerechten) Bezichtigung oder einer Verfolgung. Die Rolle einer kritischen Filmphilologie ist mithin, im Rahmen der Vorbereitung einer Edition für eine wahrhaftige und ausgewogene Identifikation von Urheberschaft zu sorgen, die sich – in Abweichung vom produzentengenerierten Titelvorspann und den Archivkatalogen – in einer Rekonstruktion von Autorschaft für die historisch-­kritische Edition niederschlägt. In totalitären Kulturen, in denen Ideologien regieren bzw. Verfolgung und Terror auch den Kreativen droht, ist also mit der politisierten Gestalt von Filmografien zu rechnen, die oft schon mit im Studio selbst angefertigten ‚fake data‘ arbeiten. Auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen ­Filmografie wird man im Bereich der Emendatio auch Schritte machen müssen, die vom gewohnten Pfad abweichen. Idealerweise wäre hierfür ein digitales Forum zu finden, in dem sich sowohl die Emendation als auch die Konjektur in der Form einer internationalen Diskussion abspielen können.

III. Edition von Präskripten

Katrin Henzel

Texte ‚behind the scenes‘ Regiebuch und Drehbuch im Kontext von Film- und Dramenedition

Bei Drama und Film handelt es sich um Kunstformen, die mindestens zwei Merkmale teilen. Das eine Merkmal ist, dass sie für die Auf- bzw. Vorführung gedacht sind, sie also einen performativen Charakter besitzen.1 Dabei wirken sie synästhetisch, gerade auch indem sie gleichermaßen verschiedene Medien miteinander kombinieren.2 Besonders diesen Aspekt hat die Literaturwissenschaft hinsichtlich des Dramas lange Zeit ignoriert und stattdessen einseitig den autorisierten Dramentext – je nach Editionsprinzip, vorrangig als Ausgabe letzter Hand oder editio princeps – wahrgenommen.3 Entsprechend war beziehungsweise ist noch immer der Dramenautor auch für Editionen, insbesondere die Textkritik, die unangefochtene Autorität. Editoren entscheiden sich meist für eine Fassung und haben sich dabei auch zu fragen, welche weiteren Texte oder Textzustände – etwa Zensurfassungen oder konkrete Bühnenbearbeitungen, aber auch Regieblätter u. a. – in der Edition zu berücksichtigen und wo zu platzieren sind.4 In der Filmwissenschaft besteht die Textpräferenz in dieser Härte fachbezogen nicht; allerdings ist die Filmedition aufgrund ihres modernen Gegenstandes eine verhältnismäßig junge Disziplin, die in ihren theoretischen Überlegungen stark von der literaturwissenschaftlichen Editionswissenschaft geprägt wurde.5 Aufführungen sind „körperlich vollzogene Handlungen im Raum […], die von mindestens einem anderen wahrgenommen werden“; Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012 (Edition Kulturwissenschaft. 10), S. 54. Diese sind „nicht vollkommen durchzuplanen, zu steuern und zu kontrollieren“, es folgt daraus „ihre prinzipielle Unvorhersehbarkeit“; ebd., S. 56. Unter dem Begriff des Performativen versteht Fischer-Lichte „bestimmte symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken“; ebd., S. 44. 2 Werner Wolf spricht hierbei von Plurimedialität, die er „als die offensichtlichste Form werkinterner Intermedialität“ ansieht, „sei es als additive Kombination oder als Verschmelzung“; Werner Wolf: Intermedialität: Konzept, literaturwissenschaftliche Relevanz, Typologie, intermediale Formen. In: Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität. Zur Beziehung zwischen Literatur und anderen Medien. Hrsg. von Volker C. Dörr und Tobias Kurwinkel. Würzburg 2014, S. 11–45, hier S. 29. 3 Noch viel eindringlicher zeigt sich das Problem der einseitigen und ahistorischen Wahrnehmung von Literatur als Schriftkultur im Bereich der mediävistischen Literaturwissenschaft, da „[m]ittelalterliche Lyrik – und zum Teil auch Epik – keine Leseliteratur ist“, wir demnach eine „Kulturkonservierung ex post“ betreiben; so Thomas Bein: Leerstellen edieren? Überlegungen zur Einbindung von Performanz in Editionen mittelalterlicher Literatur. In: editio 32, 2018, S. 82–92, hier S. 85. 4 Noch immer dominiert in Drameneditionen die Entscheidung, andere Fassungen und/oder Varianten in Auswahl und dabei als Zusatzmaterial zu veröffentlichen und damit zu marginalisieren. 5 Sichtbar wird dies beispielsweise an einem ähnlichen Aufbau von Filmeditionen, die auf DVD veröffentlicht werden: Für die Neu-Edition der restaurierten Fassung orientiert sich die filmwissenschaftlich-­ philologische Praxis an der Uraufführungsfassung eines Films. Andere Fassungen werden dabei nicht selten als Bonusmaterial behandelt, sie stehen in der Regel nicht gleichberechtigt neben der ‚Hauptfassung‘. 1

https://doi.org/10.1515/9783110684605-010

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Bei editorischen Entscheidungen, Drameneditionen betreffend, wird häufig übersehen, dass der Dramentext in abstracto zwar eine zentrale, dennoch nur eine von mehreren Stationen auf dem Weg zur Realisierung des Stücks im Theater ist.6 Stattdessen sind neben dem Autor eben auch andere Instanzen zu berücksichtigen wie Regisseur, Schauspieler usw. Es ist also anstelle eines autorbezogenen vielmehr ein „kollektiver Produktionsprozeß“ anzunehmen und, so Gerhard Seidels Wunsch bereits 1991, künftig auch „editorisch abzubilden“.7 „Denkbar [war] es schon“ für ihn, „daß künftige Bemühungen auf diesem Gebiet zu einer Theater-Philologie führen, die von der Film-Philologie einiges zu lernen hätte.“ 8 Neben dem performativen Charakter verbindet Film und Drama daher als zweites wesentliches Merkmal die in vielen Stationen der Kunstrealisierung als Kollektiv zu denkende Autorschaft, die Editionen in der Literatur-, Theater- wie Filmwissenschaft vor besondere Herausforderungen stellt. Hier kann die Loslösung von der Autorzentriertheit für eine kritische Film- wie Dramenedition gleichermaßen lohnen. Welche möglichen Konsequenzen dies für präskriptive9 ‚Aufführungstexte‘ und deren Darbietung und Einbindung hat, soll im Folgenden diskutiert werden. Denn mit dem Wechsel vom Text zur Aufführung/Realisierung auf der Bühne oder am Set sind Probleme verbunden, da auch nicht-textuelle Aspekte wenigstens teilweise erfasst und derart beschaffen sein müssen, dass sie für die jeweilige Aufführung beziehungsweise Produktion rekodiert werden können. Gleiches gilt auch vice versa für Texte, die der Realisierung auf der Bühne oder vor der Kamera nachfolgen und damit keinen präskriptiven, sondern referenzierenden,10 verschriftenden Charakter haben. Ausgehend vom Regiebuch für Theateraufführungen11 soll hier der Versuch unternommen werden, bestehende Genres präskriptiver Art zueinander sowie mit denjenigen aus dem Bereich des Films ins Verhältnis zu setzen, um daraus resultierende Konsequenzen für Terminologie wie Konzeption kritischer Film- und Drameneditionen zu skizzieren.

Vgl. auch Joachim Veits Überlegungen zur Einbindung der Inszenierungspraktiken in Musikeditionen; Joachim Veit: Inszenierungsprobleme oder Probleme durch Inszenierung? Musikedition am Scheideweg. In: editio 32, 2018, S. 22–38. 7 Gerhard Seidel: Der ‚edierte Text‘ als Repräsentation und Reduktion des Werkes. Zur Wahl der Textgrundlage bei Brecht. In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.–22.  März 1990, autor- und werkbezogene Referate. Hrsg. von Martin Stern unter Mitarbeit von Beatrice Grob, Wolfram Groddeck und Helmut Puff. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 1), S. 209–213, hier S. 213. 8 Seidel 1991 (Anm. 7), S. 213. Hervorhebung K. H. 9 ‚Präskriptiv‘ wird hier in seiner Bedeutung als ‚normgebend‘, ‚vorschreibend‘ verwendet, jedoch immer auch unter der Prämisse, dass im Kontext von Performativität ein gewisser Grad an Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit der Aufführung einhergeht; s. dazu Fischer-Lichte 2012 (Anm. 1). Im Filmkontext spricht Klaus Kanzog von „Texte[n] für Filme“ und schreibt ihnen „gegenüber der Filmgenese (von den Takes zur Montage und späteren Eingriffen) eine eigene textgenetische Bedeutung“ zu; Klaus Kanzog: Einführung in die Filmphilologie. München 1991 (Diskurs Film. 4), S. 18. 10 Bezogen auf den Film Kanzog 1991 (Anm. 9), S. 17–20. 11 Damit ist nicht erneut beabsichtigt, der Filmeditionswissenschaft eine rein literaturwissenschaftliche Perspektive aufzuzwingen. Vielmehr trägt die Vorgehensweise dem Umstand Rechnung, dass die Verfasserin selbst aus der Literaturwissenschaft kommt und dort beobachtete Defizite für die Dramenedition Anlass für transdisziplinäre Sichtweisen bieten, die für beide Bereiche fruchtbar sein dürften. 6

Texte ‚behind the scenes‘

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1. Präskriptive Texte im Kontext der Dramenaufführung Regeln12 zur Umsetzung eines Dramas auf der Bühne lassen sich allgemein als Bühnenoder Regieanweisungen bezeichnen und gehören zum sogenannten Nebentext.13 Diese theater-funktionalen14 Regeln sind entweder im Dramentext selbst zu finden und in Anlehnung an Genettes Paratexttheorie als Peritexte15 zu kategorisieren. Oder aber sie sind außerhalb des Dramentextes und zumeist nachträglich zur ersten Lesetextausgabe entstanden und fungieren dann als Epitexte.16 Peritexte kommen im Kontext des Haupttextes vor, der in den meisten Fällen den Lesetext der Erstausgabe darstellt, aber auch eine autorisierte Bühnenfassung (das Zensurexemplar eingeschlossen) sein kann. Ihnen allen ist gemein, dass sowohl Text als auch Peritext in der Regel vom Autor stammen oder wenigstens autorisiert sind. Bei Regieanweisungen außerhalb des dramentextlichen Umfelds ist die Lage komplexer, da hier teils sehr unterschiedliche Typen mit teils sehr unterschiedlichen Urhebern und Adressaten zu finden sind. Diese Epitexte lassen sich nach aktuellem Kenntnisstand17 in folgende Typen18 untergliedern: Regieblatt (inklusive Stellskizze), Regiebuch, Rollenbuch und Rollenheft, Inspizientenbuch, Buch für den Bühnendienst, Buch für Bühnenmusik. Insbesondere die letzten drei genannten Epitextvarianten lassen sich womöglich theatergeschichtlich und regionalspezifisch noch weiter differenzieren. Einzig für das Regieblatt lässt sich der Autor im Regelfall als Urheber identifizieren, alle anderen präskriptiven Texte der Dramenaufführung liegen in der Verantwortung eines Regisseurs oder dessen Assistenz (Regieassistent oder für den Fall des Buchs für Bühnenmusik entsprechend Bühnenmusikleiter). In Abhängigkeit von autoren- und zeitgebundenen Besonderheiten können die Urheber wie auch weitere Akteure am Theaterset in einer Person zusammenfallen, üben aber jeweils andere Funktionen aus. Dies macht eine Kategorisierung insgesamt so schwierig.19 Auffällig ist, dass nun im Bereich der Aufführung der Regisseur zur zentralen Instanz aufsteigt und den Autor ablöst. Geht man von der eben in Erwägung gezogenen Trennung von Dramenautor und Regisseur als Normalfall aus,20 so wird deutlich, dass neben den Peritexten (und da oft in Die Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich auf einen von mir zum Regiebuch publizierten Beitrag, sodass im Folgenden nur die groben Linien nachvollzogen werden sollen; Katrin Henzel: Epitextuelle Bühnenanweisungen unter besonderer Berücksichtigung des Regiebuchs. In: editio 32, 2018, S. 63–81. 13 Vgl. Henzel 2018 (Anm. 12), S. 65. 14 Der Terminus der theater-funktionalen Bühnenanweisungen stammt von Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Aufl. München 2001, S. 36 u. ö. 15 Eine Ausnahme bilden Regieanweisungen, die nicht theater-funktional, sondern für die Interpretation des Textes unabdinglich sind und somit als Textbestandteil gelten können; Pfister 2001 (Anm. 14), S. 36–39; Henzel 2018 (Anm. 12), S. 65. Zu Peri- und Epitexten allgemein bzw. ausgehend von Prosatexten s. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/Main 2001, bes. S. 12–15. Zu Paratexten als Bestandteil von Genettes umfassender Transtextualitätstheorie s. Ders.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/Main 1993, S. 9–18. 16 Vgl. Henzel 2018 (Anm. 12), S. 65 f. und 69 f. 17 Als Basis für diese Kategorisierung dient der Theaterbestand des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar; vgl. Henzel 2018 (Anm. 12), S. 70. 18 Als Übersicht zusammengefasst in Henzel 2018 (Anm. 12), S. 76, Tabelle 1. 19 Für eine präzise systematische Bestimmung fehlt es derzeit noch an empirischen Studien. 20 Siehe Henzel 2018 (Anm. 12), S. 76, Tabelle 1. 12

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Auswahl) in der Regel aber nur die autorisierten Epitexte (Regieblätter) problemlos Eingang in Editionen erhalten (Tab. 1). Das ist gewissermaßen dem Regisseur gegenüber unfair, der für die Aufführung verantwortlich zeichnet und damit die Grundlagen der Dramenrezeption jenseits des Lesedramas bestimmt. Das editorische Festhalten an der Autorinstanz kann zudem auch als inadäquater Umgang mit den Dramen selbst gewertet werden, die so lediglich auf ihre Textkomponente reduziert werden. (in der Regel) autorisierte Peri- (1) und (in der Regel) nicht-autorisierte Epitexte Epitexte (2) (Auseinanderfallen von Autor- und Regie­ instanz) –– theater-funktionale Regieanweisung im Dramentext, zumeist Erstausgabe (1) –– theater-funktionale Regieanweisung in Bühnenfassung inkl. Zensurexemplar (1) –– Regieblatt inkl. Stellskizze (2)

–– –– –– ––

Regiebuch Rollenbuch, -heft Inspizientenbuch Buch für Bühnendienst

(in der Regel) Aufnahme in Dramen­ (in der Regel) keine Aufnahme in Dramen­ editionen editionen Tab. 1: Gegenüberstellung autorisierter und nicht-autorisierter Paratexte im Kontext der Dramenedition.

Verschiedene Fragen und Probleme gehen mit dieser editorischen Praxis einher: –– Die Dichotomie erscheint zumindest aus texttheoretischer Sicht nicht plausibel und inkonsequent. Das Festhalten am Autor als Autoritätsinstanz mag bei anderen literarischen Gattungen funktionieren, doch das Drama zeichnet sich eben als Kunstform mit performativem Charakter aus. –– Die Inszenierung ist also zwingender Bestandteil des Kunstwerks. Jede Aufführung gilt als singulär. Ein Drama in reiner Textform, d. h. losgelöst von jeder Inszenierung und Aufführung, ist (mit Ausnahme des Lesedramas) ein unvollständiges Kunstwerk. In einer Dramenedition müsste dieser Aspekt noch stärker berücksichtigt werden, statt von Lesedramen als normgebender Form einer Edition auszugehen. –– Die Dichotomie ist auch aus der Perspektive der Urheberschaft und der Autorinstanz fragwürdig. Die Notwendigkeit einer expliziten Autorisierung von Probenaufzeichnungen ist bei einem Dramenautor und Regisseur wie beispielsweise Brecht, dessen Stücke außerdem in Kollektivarbeit und durch Aufführungen stetig weiterentwickelt wurden, nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Nicht-autorisierte Mitschriften, die für nachfolgende Inszenierungen wiederum präskriptiven Charakter haben, kann man nicht als zweitrangig gegenüber den autorisierten behandeln. Dies ist gerade von der Brecht-Forschung an verschiedener Stelle betont worden,21 lässt sich ohne Weiteres aber auch auf andere Dramenautoren, ihre Arbeitsweise und Aufführungen übertragen. Welche Folgen dies für die Konzeption einer Dramenedition haben kann, soll am Ende dieses Beitrags skizziert werden. Zunächst stellt sich die Frage, Hierzu ausführlich Seidel 1991 (Anm. 7); Bodo Plachta: Der ‚Stückschreiber‘ als Regisseur. Editorische Konsequenzen aus Brechts Regiearbeit am Galilei. In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung 1991 (Anm. 7), S. 197–208; bereits zusammengefasst in Henzel 2018 (Anm. 12), S. 77, Anm. 49.

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wie es sich mit vergleichbaren Peri- und Epitexten im Kontext des Films und der Filmedition verhält.

2. Präskriptive Aufführungstexte im filmischen Kontext Ist es überhaupt gerechtfertigt, bei Filmen und Filmeditionen von Texten und Paratexten zu sprechen, oder stellt dies nicht vielmehr eine einseitige, da literaturwissenschaftlich orientierte Sichtweise dar? – Beide Positionen lassen sich bezüglich des Films und Fernsehens finden, wobei das Festhalten am Textbegriff besonders verbreitet scheint. So formuliert Jonathan Gray unter Berufung auf Roland Barthes: „One can hold a roll of film or a tape of a television program, but that is the work alone – the text is only experienced in the act of consumption.“ 22 Gerade in Anlehnung an Genettes Paratexttheorie hat sich der Textbegriff in der Filmwissenschaft möglicherweise noch verfestigt.23 Dennoch soll analog zum Text des Buches auch der Film als Text behandelt werden […]. Der Film ‚als singulärer Text‘ unabhängig vom Trägermedium Zelluloid, Magnetband oder Disc folgt bestimmten (zum Beispiel narrativen) An/Ordnungen, die denen der Literatur (unabhängig vom Trägermedium!) nicht unähnlich sind. […] Erst […] mit der Rezeption […] spielen die medialen Bedingungen des Lesens eines Buches (eines ‚sekundären‘ Mediums) oder die Situation der technisch-apparativen Konstitution der Filmrezeption (eines ‚tertiären‘ Mediums) eine wichtige Rolle. Was also für den Vergleich paratextueller Strukturen und Funktionen als ‚Beiwerk des Buches‘ und ‚Beiwerk des Films‘ herangezogen werden kann, sind Formen und An/Ordnungen literarischer und filmischer Texte im Zusammenhang mit den jeweiligen An/Ordnungen […] und deren medialen Bedingungen […].24

Joachim Paech argumentiert also ganz ähnlich und nutzt wie Gray gleichermaßen den Textbegriff bezogen auf den Film unter Loslösung von dessen Materialität. Das entspricht aus literaturwissenschaftlicher Sicht der Unterscheidung in Text und Dokument.25 Aus transdisziplinärer Perspektive ist diese Begriffsverwendung allerdings nicht gänzlich unproblematisch, da sie den Film so auf ein Merkmal – die vorrangig narrative Struktur – reduziert und zugleich einander widersprüchliche Definitionen des Textes zu vereinen sucht, was wiederum für Modellbildungen nicht ohne Folgen bleiben kann. Denn wie soll man sauber diesen Textbegriff von jenem trennen, der Texte Jonathan Gray: Show Sold Separately. Promos, Spoilers, and Other Media Paratexts. New York, London 2010, S. 30. 23 Zum Beispiel wird von Alexander Böhnke in Bezug auf das Filmbild der in der Filmwissenschaft gebräuchliche Paratextbegriff ausgeweitet: „Warum sollte man nicht weitergehen und auch das Filmbild als Paratext lesen? Ich will damit nicht sagen, dass auch jedes Filmbild Paratext ist, sondern dass auch Filmbilder diese Funktion übernehmen können, zumindest sollte man diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen“; Alexander Böhnke: The End. In: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Hrsg. von Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek. Unter Mitarbeit von Natalie Binczek. Berlin 2004, S. 193–212, hier S. 200. Damit argumentiert er ganz im Sinne Genettes, der bei der Ordnung in Texte und Paratexte stets deren Wandelbarkeit betont. 24 Joachim Paech: Film, programmatisch. In: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen 2004 (Anm.  23), S. 213–223, hier S. 213 f. 25 „To see the text fundamentally as a function of the document helps to recognize afresh that in all transmission and all editing, texts are and, if properly recognized, always have been constructs from documents“; Hans Walter Gabler: Theorizing the Digital Scholarly Edition. In: Literature Compass 7,2, 2010, S. 43–56, hier S. 51. 22

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im Film (Zwischentitel, Dialogtitel im Stummfilm, Credits usw.) 26 umfasst? Es soll im Folgenden daher vom obigen filmbezogenen (Para-)Textverständnis Abstand genommen werden zugunsten einer Modifikation von Genettes Theorie. Fündig wird man hier in der Medienwissenschaft,27 die seit jeher den Text zugunsten des Medienbegriffs herabgestuft hat (Text gilt hier als ein Medium unter vielen) 28 und nur folgerichtig auch den Paratextbegriff zur Paramedialität modifiziert hat, so beispielsweise durch Uwe Wirth in Bezug auf das Hörbuch und noch konsequenter bei Urs Meyer am Beispiel der Werbung, indem dieser die gesamte Genette’sche Transtextualitätstheorie mit ihren Teiltheorien in eine Transmedialitätstheorie umwandelt.29 So lassen sich dann auch für den Film Paramedien sauberer voneinander trennen, indem sich das Regiebuch, das Drehbuch und andere Textmedien entsprechend als textuelle Epimedien bezeichnen lassen (wohingegen z. B. ein Trailer ein audiovisuelles Epimedium darstellt). Das Drama ist für die Aufführung gemacht, jede Aufführung ist als singuläres Ereignis zu würdigen. Der Film hingegen zeichnet eine Aufführung auf, mit entsprechenden Arbeitsschritten und Bearbeitungsprozessen, die weniger simultan ablaufen als bei der Dramenaufführung. Es ist also sinnvoll, die Paramedien des Films innerhalb des Produktionsprozesses in zeitlich voneinander getrennte Gruppen zu unterscheiden: in präskriptive mit „protomedialem Textstatus“ und solche, die dem Dreh nachgelagert sind und der „Literarisierung“ 30 bzw. „Reliterarisierung“ oder der „Revisualisierung“ dienen oder den Film „in seine Entstehungs-, Wirkungs- und Rezeptionszusammenhänge einbetten“.31 Die erstgenannte Gruppe erfüllt also die gleichen Funktionen wie die peritextuellen Bühnenanweisungen für das Drama. In einer Übersicht (Tab. 2), die auf der maßgeblichen Klassifikation von Alexander Schwarz 32 beruht und um Aspekte, die Klaus Kanzog und Anna Bohn ins Feld geführt haben, erweitert wurde,33 sind Dieser Form widmet sich Alexander Schwarz in einem Kapitel seiner Untersuchung des Drehbuchs; ­Alexander Schwarz: Der geschriebene Film. Drehbücher des deutschen und russischen Stummfilms. München 1994 (Diskurs Film. Bibliothek. 6), Kap. 4, bes. S. 83–90. 27 Auch Alexander Schwarz plädiert dafür, beide hier verhandelten Bereiche – Film- und Literaturwissenschaft – als Medienwissenschaften zu verstehen; Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 7. 28 „Literatur ist ein Medium (im semiotischen Sinn), das durch eine Vielzahl technischer und institutioneller Dispositive übermittelt wird und wurde“; Wolf 2014 (Anm. 2), S. 13. 29 Uwe Wirth: Akustische Paratextualität, akustische Paramedialität. In: Das Hörbuch. Hrsg. von Natalie Binczek und Cornelia Epping-Jäger. München u. a. 2014, S. 215–229; Urs Meyer: Transmedialität (Intermedialität, Paramedialität, Metamedialität, Hypermedialität, Archimedialität): Das Beispiel der Werbung. In: Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Hrsg. von Urs Meyer, Roberto Simanowski und Christoph Zeller. Göttingen 2006, S. 110–130. 30 Kanzog 1991 (Anm. 9), S. 12. Der Terminus schließt in seiner ganzen Bedeutung auch Vorarbeiten zum Film mit ein (vgl. ebd.). 31 Kanzog 1991 (Anm. 9), S. 18. Einen Sonderfall in der Gruppe der Texte zu Filmen stellt das ‚Buch zum Film‘ dar, das zu Dokumentationszwecken und als Souvenir für die Zuschauer eingerichtet wird (vgl. ebd.). 32 Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 104–107. Die Grundlage für Schwarz’ Klassifikation bildet das von Klaus Kanzog entwickelte Modell, das bereits eine Erweiterung durch Michael Schaudig erfahren hatte; Klaus Kanzog: [Art.] Drehbuch. In: Sachwörterbuch des Fernsehens. Hrsg. von Helmut Kreuzer. Göttingen 1982, S. 48–51; Michael Schaudig: Literalität oder Poetizität? Zum Textstatus von ‚Filmtexten‘. In: Das Drehbuch. Geschichte, Theorie, Praxis. Hrsg. von Alexander Schwarz. München 1992 (Diskurs Film. 5), S. 9–15. Bei dieser Erweiterung kam es (notwendig) auch schon zu terminologischen Verschiebungen. 33 Kanzog 1991 (Anm. 9), S. 18 f.; Anna Bohn: „Das Negativ der Zeit“. Grundfragen audiovisueller Überlieferung und kritischer Edition am Beispiel der Sammlung Dziga Vertov und Digital Formalism. In: Maske und Kothurn 55,3, 2009, S. 149–167. 26

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idealtypisch Grundformen der textuellen Epimedien aufgeführt. Idealtypisch deshalb, weil Schwarz und Bohn sich konkret auf die frühe Phase des Films beziehen, für späterfolgende hingegen vergleichbare systematische Untersuchungen noch ausstehen. Wie auch beim Regiebuch des Theaters besteht für das Film-Regiebuch und andere textuelle Epimedien keine einheitliche Terminologie, grundsätzlich unterliegen sie alle historisch, kulturell wie individuell bedingten Faktoren in Abhängigkeit zur Werkgenese.34 vorstrukturierende/präskriptive Epimedien Epimedien mit Referenzfunktion –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––

Notizen Exposé Treatment Rohdrehbuch Drehbuch Regiebuch/Produktionsdrehbuch/ ‚final-shooting-script‘ Drehplan Montagelisten (Kostümskizzen) (Szenographieentwürfe)

–– ‚post-shooting-script‘ –– historische Schnittanweisungen –– produktionstechnische Schnittprotokolle und Dialoglisten –– Zensurdokumente, Zulassungskarten von Stummfilmen (mit notierten Zwischentiteln für Zensurakten) –– ‚reader’s script‘ (für Produktions­ gesellschaften) –– Rezensionen, Berichte von Zeitzeugen –– medienwissenschaftliche Filmprotokolle

Verlagerung von dominant narrativen zu Informationsdefizite durch Verschriftung dominant deskriptiven Epimedien (wie bei Regieanweisungen im/für das Drama) Tab. 2: Grundformen textueller Epimedien des Films.

Die Auflistung ist von oben nach unten zu lesen, beginnend mit den grob skizzierenden textuellen Epimedien (Exposé), die innerhalb der Filmgenese der eigentlichen Filmrealisierung vorgelagert sind und somit am Anfang des gesamten Prozesses stehen. Mit jeder Stufe hin zum Film nimmt die Informationsdichte zu, es folgen speziellere und zunehmend ausformulierte, dichtere Informationen. Das Treatment kann dabei als „Ausarbeitung des Exposés“ 35 gesehen werden, in ihm sind die „raum-zeitliche Struktur fixiert und die Figurenkonstellation […] festgelegt.“ 36 Das Rohdrehbuch kann als „ausführlichere Fassung des Treatments“ 37 gesehen werden. „Im fertigen Drehbuch […] ist die produktionsreife Stufe erreicht.“ 38 Das Regiebuch stellt das ausdifferenzierteste textuelle Epimedium innerhalb dieser Prozessreihe dar. Insbesondere hierbei Es geht hier also nicht um Vollständigkeit, sondern um das Modell selbst. Schwarz verweist auf die noch heute gut auf andere Filme als den Stummfilm (seinen Untersuchungsgegenstand) anwendbare Terminologie, da sich aufgrund einer weitgehend ähnlichen Praxis auch im Tonfilm kaum Neuerungen für Schreibkonventionen ergeben haben; Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 27. Dem ist entgegenzuhalten, dass in der Tonfilmära bis in die 1960er Jahre hinein die Continuity Scripts zweispaltig verfasst sind (d. h. schreibpraktisch in Bild- und Tonebene getrennt wurde und die Szenenbeschreibungen hoch differenziert waren). 35 Schaudig 1992 (Anm. 32), S. 12. 36 Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 104. 37 Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 105. 38 Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 105. Auch Klaus Kanzog unterscheidet das Rohdrehbuch vom Drehbuch, während Michael Schaudig beide Begriffe als Synonyme verwendet und das Drehbuch im Sinne Kanzogs als Regiebuch bzw. Produktionsdrehbuch bezeichnet. 34

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gibt es autoren- wie epochenbedingt sehr unterschiedliche Typen.39 Das Regiebuch beinhaltet eine „exakt ausformuliert[e] Handlungsführung“ samt Szenenfolge und Dialog.40 Es „enthält zudem bereits eine intentional vorformulierte Deskription von Architekturräumen (dem jeweiligen ‚Set‘), Kamerastrategie und Montage“.41 Genetisch ist das Regiebuch auch dahingehend interessant, als neben den genannten Details „auch Anmerkungen des Regisseurs eingearbeitet [werden], die beim Lesen der vorangegangenen Stufen notiert wurden.“ 42 Daneben gibt es – wie bei den Dramenaufführungen auch – kleinere Schriftmedien, die sich nicht in eine konkrete Stufe innerhalb der Werkgenese einordnen lassen, wie etwa der Drehplan „seit der Tonfilmzeit“.43 Oft ist die Grenze von Schrift- zu Bildmedien fließend; angedeutet werden soll dieser Umstand mit den in Klammern aufgeführten Kostümskizzen44 und dem ‚story board‘, „in dem skizzenhaft-graphisch die mise-en-scène der Einstellungen perspektivisch sowie von der Größenordnung und der Raumverteilung her festgehalten wird.“ 45 In der rechten Spalte der Übersicht sind, wie schon erwähnt, die textuellen Epimedien aufgeführt, die Klaus Kanzog als „Texte zu Filmen“ 46 bezeichnet hat und die entweder als produktionstechnische Protokolle oder Korrekturwerkzeuge dienen, dokumentarischen Charakter 47 haben oder als wissenschaftliche Erschließung einzuordnen sind. Hierunter wurden auch die Zensurdokumente geordnet, wenngleich sie Einfluss auf die in der linken Spalte zu findenden präskriptiven textuellen Epimedien haben. Die Zensurdokumente werden hauptsächlich der Stummfilmphase zugeschrieben und sind damit eigentlich nicht fester Bestandteil einer verallgemeinerbaren Filmproduktion. Andererseits gehören sie für Alexander Schwarz zwingend in den Kontext des Textgeneseprozesses, da sie „eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion der Zensur­ eingriffe bzw. der Kriterien, denen sich bereits der Autor/die Autorin des Drehbuchs stellen mußte“, darstellen.48 Auffällig ist bei genauerer Betrachtung der präskriptiven und nachgelagerten textuellen Epimedien des Films bezüglich deren Berücksichtigung in Editionen ein zu Drameneditionen gegenläufiger Trend: Texte, die nach der eigentlichen Filmproduktion entstehen, erscheinen sehr viel häufiger in Filmeditionen als präskriptive Medien. Dabei sind jedoch (wie schon Klaus Kanzog betont) für die Filmgenese die präskriptiven Medien die relevanten. Weiterhin lässt sich vermuten, dass zwar auch das Drehbuch (bzw. Regiebuch) in nicht nachbereiteter Fassung zunehmend von Interesse ist und publiziert wird, aber die einzelnen Vorstufen und Skizzen, die sich im Sinne der ‚critique 41 42 43 44 39 40

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So kann es sich auch mit dem Drehbuch decken; Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 105. Schaudig 1992 (Anm. 32), S. 12. Schaudig 1992 (Anm. 32), S. 12. Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 105. Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 105. Vgl. Bohn 2009 (Anm. 33), S. 161. Ein ähnliches Problem der Zuordnung zu Schrift- oder Bildmedium ergibt sich für die Dramen mit der Stellskizze. Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 105. Kanzog 1991 (Anm. 9), S. 19 (ohne Hervorhebung auf S. 18). Anna Bohn fasst diese als „Sekundärquellen“ zusammen und zählt hierunter „historische Schnittanweisungen, Zensurdokumente, Rezensionen oder Berichte von Zeitzeugen“; Bohn 2009 (Anm. 33), S. 157. Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 65. Im Kontext des russischen Stummfilms spricht man von Montagelisten, sie bilden das Pendant zu den deutschen Zulassungskarten; ebd., S. 64.

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génétique‘ als ‚avant-textes‘ bezeichnen lassen, eben bisher nicht auf großes Interesse zu stoßen scheinen. Dies ist, wie Kathrin Nühlen beschreibt, dem Umstand geschuldet, dass „Historisch-kritische Ausgaben zu Filmtexten eher die Ausnahme [bilden]; pu­ bliziert werden meist ausgesprochene Lesetexte oder Protokolle der fertigen Filme mit z. T. beigegebenen Materialien, wie Kritiken, Essays, Abbildungen von Plakaten etc.“ 49 Die Herausforderung besteht also darin, präskriptive textuelle Epimedien in ihrer Einzelentstehung wie auch im Kontext der gesamten Filmgenese zu edieren. Die Frage der Autorisierung stellt sich im Gegensatz zu den Regieanweisungen für das Drama eher marginal. Welche Schlüsse sich daraus für die film- wie die dramenspezifische Editionswissenschaft ziehen lassen, soll abschließend skizziert werden.

3. Terminologische Konsequenzen für die Dramen- und die Filmedition In beiden Bereichen, in der dramen- wie in der filmbezogenen Editionswissenschaft, bedarf es hinsichtlich präskriptiver Medien grundlegender und transdisziplinärer Neuüberlegungen. Zum einen fehlt es an einer Übersicht über das Material selbst. Für die epitextuellen Regieanweisungen im Theaterbereich lässt sich als Forschungsdefizit konstatieren, dass sowohl eine Übersicht über Bestände in Archiven und Sammlungen fehlt wie auch eine historisch differenzierende Terminologie zur Bestimmung dieser Bühnenanweisungen. Ähnlich stellt sich die Situation im Filmbereich dar. Eng damit zusammen fällt die nötige Klärung des Verhältnisses dieser Paramedien für den ‚eigentlichen‘ Editionsgegenstand Drama und Film. Welcher Erkenntnisgewinn verbindet sich für den Nutzer mit der Einbindung von Regie- und Drehbüchern in Editionen? – Diese Frage lässt sich nur erörtern, wenn man die ganz spezifischen Eigenheiten beider Künste beachtet: Für Drameneditionen lässt sich hierbei einfordern, dem Aufführungs- und Inszenierungscharakter von Dramen wie auch den damit verbundenen Arbeitsbedingungen im Kollektiv stärker gerecht zu werden. In Drameneditionen wird, wie erwähnt, noch immer zu sehr vom (Lese-)Text herkommend gedacht. Für die Filmwissenschaft wiederum stellt sich aus meiner Sicht vor allem die adäquate Darstellung der medienübergreifenden Genese als Herausforderung dar. Da so viele verschiedene Medien und Mischformen berücksichtigt werden müssen und die Arbeitsprozesse sehr komplex sind, besteht möglicherweise für die Regie- und Drehbücher und ihnen verwandte Formen und Vorstufen die Gefahr, sie (wie schon bisher) eher zum Zusatzmaterial herabzustufen. Vorerst sollen hier erste Schlussfolgerungen hinsichtlich der Terminologie vorgestellt werden. Den Autorbegriff gilt es klarerweise beizubehalten, ihn aber stärker von der Werkgenese zu trennen, indem Fragen der Autorisierung nicht an den Autor, sondern an das Medium geknüpft werden. Diese Ideen „wider die Autorzentriertheit in der Edition“50 hat bereits Hans Walter Gabler für die kritische Edition allgemein formuliert und Überlegungen angestellt, anstelle von Autorität und Autorisierung als bestehenden Kathrin Nühlen: [Rez.] Arthur Schnitzler: Filmarbeiten. Drehbücher, Entwürfe, Skizzen. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Hans Peter Buohler, Philipp Gresser, Julia Ilgner, Carolin Maikler und Lea Marquart. Würzburg 2015 (Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg. 4), 647 S. In: editio 30, 2016, S. 256–264, hier S. 262, Anm. 26. 50 Hans Walter Gabler: Wider die Autorzentriertheit in der Edition. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2012, S. 316–348. 49

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Leitbegriffen der Editionswissenschaft auf Konzepte wie Foucaults Autorfunktion51 zu setzen. Der reale Autor hat für Gabler zwar Autorität über die Dokumente, nicht aber über die Texte.52 Insofern gilt es nicht den Autor erneut zu ‚eliminieren‘, sondern sich bei textkritischen Entscheidungen von ihm zu emanzipieren. In Bezug auf Autorenkollektive und Teams am Set wie hinter der Bühne scheint mir dies ein sehr plausibles Argument. Der Textbegriff sollte im Gegensatz zum abstrakten und stabilen Werkbegriff ein offener und dynamischer sein, wie ihn dynamische Modelle – etwa von Gunter Martens53 – definieren. Nach diesen Konzepten sind Varianz und Variabilität als Grundeigenschaft von Texten zu verstehen.54 So verknüpft Gabler Text und Autorbegriff wie folgt: Texte [sind] aus Sprache geschaffen, aus der heraus sie potentiell immer auch anders sein können. Autorschaft auszuüben heißt, Texte aus dem Variabilitätspotential von Sprache heraus zu gestalten. Systemisch verstanden ist Variabilität demzufolge sowohl Ausdruck der Autonomie von Texten wie Zeichen einer Autorfunktion, die ihnen über Varianz einbeschrieben und daran abzulesen ist.55

Dies ist ein interessanter Punkt für die Eigenheiten bei der Dramenproduktion, bei der sich permanent Änderungen in den Proben vollziehen und Sprache hier nicht selten pragmatischen Gegebenheiten – beispielsweise in Abhängigkeit von der Schauspielbesetzung – untergeordnet wird. Texte zu schreiben ist etwas anderes als sie dann zu ‚performen‘. Textvalidität wäre dann, um noch einmal Gabler zu bemühen, aus den Texten selbst heraus zu bestimmen. Dem dienten Merkmale der Autorfunktion. Die Autorfunktion ist jeder als Text gestalteten Sprache inhärent. Sie ist somit auch aus jedem Moment des Textentwerfens, der Textgestaltung und der Textvermittlung heraus bestimmbar. Dies gilt auch dort, wo wir ganz unmittelbar auf Spuren der realen Autoren treffen, wenn wir ihnen etwa in Entwurfshandschriften sogar gleichsam physisch, oder wenigstens in ihren Schriftspuren, begegnen.56

Für die Erforschung und Rekonstruktion von Genese scheint es lohnend, zugehörige editorische Konzepte noch oder wieder oder allgemein stärker an Literatur-, Film- und Medientheorien zu binden, wie es hier mit Genettes Paratextualitätstheorie versucht wurde, um damit ein Beschreibungsinstrumentarium zu erhalten und Vergleichbarkeit auf transdisziplinärer Ebene zu schaffen. Diese Theorien gilt es dann für den eigenen Editionsgegenstand zu erweitern. Hinsichtlich der Klärung des Genese-Begriffs lassen sich Fragen zur Offenheit und Geschlossenheit eines Kunstwerks neu diskutieren, da dies an einem konkreten Editionsgegenstand erfolgt und somit abstrakte Begriffe und Konzepte auf den Prüfstand kommen. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 198–229. 52 Gabler 2012 (Anm. 50), S. 329. 53 Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 165–201. 54 So Gabler 2012 (Anm. 50), S. 333. 55 Gabler 2012 (Anm. 50), S. 333. 56 Gabler 2012 (Anm. 50), S. 345. 51

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Gerade für den Film ist die Vorstellung eines Originals verbunden mit der Suche nach Authentizität besonders fragwürdig. Ursula von Keitz macht dies an folgenden Faktoren deutlich: Ursachen für mehr als eine Fassung eines Films können u.a. zwei gleichzeitig mit zwei Kameras am Set gefilmte Negative, zwei nacheinander gefilmte Negative, Veränderungen durch das Autorenkollektiv im Verlauf des Postproduktionsprozesses oder nach ‚pre-screenings‘, Eingriffe der Zensur, an verschiedenen Marktbedingungen orientierte Auslandsfassungen, divergierende Inlandsfassungen (Schwarz-Weiß vs. Kolorierung sowie auch unterschiedliche Kolorierung) oder Neufassungen sein, die bei sehr großem oder sehr geringem Erfolg eines Films bei der Erstauswertung vorgenommen wurden. Alle diese Faktoren relativieren den Begriff des filmischen ‚Originals‘.57

Es findet also keine Suche nach einem fiktiven Urzustand statt (wie bei einem Arche­ typ),58 sondern es wird ein bestimmter Zustand des Films bewusst ausgewählt. Zwei Punkte werden deutlich, von denen auch die Literaturwissenschaft lernen kann: Zum einen können gerade Regie- und Drehbücher helfen, diesen jeweils gewählten Zustand (sowie die nicht gewählten) besser abzubilden. Denn, wie Ursula von Keitz betont, ist der Film wie kaum ein anderes Medium von der konkreten Aufführungssituation abhängig und insofern nicht wiederholbar.59 Gerade Dreh- und Regiebücher können hier manch wichtiges Detail zur technischen Realisierung liefern. Zum anderen ist Editionsarbeit immer Hermeneutik und erfordert Transparenz der Arbeitsweise und der editorischen Entscheidungen.

4. Konzeptionelle Konsequenzen für die Dramen- und die Filmedition Was lässt sich nun zur Konzeption von Dramen- und Filmeditionen ableiten? Wünschenswert sind insbesondere digitale Editionen, die den intermedialen als auch den Hybridcharakter der genannten Künste berücksichtigen. Denkbar ist dann je nach Editionsgegenstand das gesamte Spektrum von einer Gesamtedition bis hin zur Edition eines einzelnen Dreh- oder Regiebuchs.60 Als reizvoller zu bewerten sind jedoch die Gesamteditionen, die die Genese des Werks darstellen und somit auch die Bedeutung unscheinbarer Regieanweisungen, etwa in Entwürfen und Skizzen, herausstellen. Die von Klaus Kanzog 2007 besorgte kritische Edition zu Klassenverhältnisse 61 Ursula von Keitz: Historisch-kritische Filmedition – ein interdisziplinäres Szenario. In: editio 27, 2013, S. 15–37, hier S. 17. 58 Siehe auch von Keitz 2013 (Anm. 57), S. 18. 59 Von Keitz 2013 (Anm. 57), S. 22. 60 Die (zumeist in Buchform erfolgende) Publikation einzelner Drehbücher ist weit verbreitet und in der Regel dem Interesse am Autor oder einem als ‚klassisch‘ geltenden Film geschuldet. Bekannt ist hier insbesondere die von der Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin und dem Hamburgischen Centrum für Filmforschung CineGraph verantwortete FILMtext-Reihe Drehbücher klassischer deutscher Filme, z. B. Berlin-Alexanderplatz. Drehbuch von Alfred Döblin und Hans Wilhelm zu Phil Jutzis Film von 1931. Hrsg. von Helga Belach und Hans Michael Bock. München 1996 (edition text + kritik. FILMtext). Angereichert sind die Ausgaben mit Bildmaterial (Filmsequenzen, Drehbuchseiten), es handelt sich aber nicht um kritische Editionen, sondern um reine Leseausgaben, die sich je nach Aufbereitungsgrad zwischen ‚post-shooting-script‘ und Filmbuch bewegen. 61 Klassenverhältnisse. Regie: Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Drehbuch: Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, nach dem Romanfragment Der Verschollene von Franz Kafka. BRD/Frankreich: Ja57

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liefert wichtige Impulse, auf denen sich aufbauen lässt. Hier wird bereits durch die noch immer unübliche Bereitstellung des Drehbuch-Entwurfs (in der handschriftlichen Fassung), des Regiebuchs (als endgültiger Drehfassung in Typoskriptform mit handschriftlichen Anmerkungen und Skizzen) sowie des Drehplans (Typoskripts) – allesamt von Danièle Huillet stammend und in einem ROM-Bereich (mit weiteren Materialien) abgelegt – der Entstehungsprozess als Forschungsgegenstand deutlich aufgewertet. Als zweites Beispiel sei die von Anna Bohn und Enno Patalas erarbeitete Studienfassung von Metropolis 62 genannt. Diese hält ein Archiv bereit, in dem neben visuellen Epimedien (Stand- und Werkfotos, aber auch Architektur-, Kostümskizzen sowie Plastiken, die jeweils mit Metadaten versehen sind) auch textuelle Epimedien präskriptiver (Drehbuch) wie nachstrukturierender Art (Zensurkarten) enthalten sind und sich mittels DVD@ccess anschauen lassen. Ein wichtiger Schritt für kritische genetische Filmeditionen könnte nun darin bestehen, die (wie in den beiden genannten Beispielen) als faksimiliertes Material beigefügten Medien durch stellenweise Verknüpfung untereinander noch stärker in den Geneseprozess interaktiv einzubinden. Ursula von Keitz hat für einen Fassungsvergleich als mögliche Visualisierungsform eine Splitscreen-Darstellung vorgeschlagen.63 Dies wäre für die Verbindung von Film und Drehbuch vielleicht auch eine Option, bei der weitere Features wie das Einblenden eines Kommentars oder Apparats hilfreich sein könnten. Wichtig ist, dass Regiebücher, Drehpläne und andere präskriptive Epimedien des Films in die Editionen aufgenommen und dabei nicht zum ‚Bonusmaterial‘ herabgestuft werden.64 Hierfür muss der Status des Dokuments zurückgestuft werden zugunsten einer Aufwertung im Dokument enthaltener Medien (Texte, Zeichnungen u. a. m.), die für die Werkgenese die Puzzleteile bilden. In diesem Kontext muss abschließend noch einmal auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, einzelne Dreh- und Regiebücher 65 und andere (vorrangig) präskriptive Epimedien des Films hinsichtlich ihrer Genese als auch ihres Status innerhalb einer gesamten Werkgenese genauer unter die Lupe zu nehmen, d. h. zu erschließen und idealerweise auch zu edieren, um darauf aufbauend Modelle einer genetischen Gesamtedition breitenwirksam zu erproben. Erst parallel dazu lässt sich dann eine dazugehörige Terminologie aufbauen, die den empirischen Befunden Rechnung trägt.



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nus Film und Fernsehen/HR/NEF Diffusion, 1984. Fassung: Doppel-DVD mit Zusatzmaterial. Film & Kunst GmbH in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum und dem Filmmuseum München, 2007, 122’ (Edition Filmmuseum. 11). Metropolis. Regie: Fritz Lang. Drehbuch: Thea von Harbou. Deutschland: Universum-Film AG (Ufa), 1927. Fassung: DVD-Studienfassung mit Quellenmaterial. Universität der Künste Berlin, Filminstitut, 2005, 144’. Ich danke Anna Bohn für die Bereitstellung dieser Fassung. Von Keitz 2013 (Anm. 57), S. 35. Sie bezieht sich dabei auf den Stummfilm und wählt als Grundeinheit die Einstellung. Für eine Lösung jenseits der Rubrik ‚Bonusmaterial‘ plädiert auch von Keitz 2013 (Anm. 57), S. 16. Alexander Schwarz hat hier Grundlagenarbeit geleistet, indem er Drehbücher deutscher und russischer Stummfilme zwischen 1906 und 1930 systematisch erforscht hat; Schwarz 1994 (Anm. 26), S. 8. – Für Anregungen und weitergehende Hinweise auf dem Gebiet der Drehbuchforschung möchte ich Ursula von Keitz und Klaus Kanzog herzlich danken.

Kathrin Nühlen

Zur Problematik der Edition von Filmskripten

„Das Drehbuch selbst ist schon der Film.“ 1 – Diese Einschätzung dürfte so manche kritische Gegenstimme provozieren. Unbestreitbar ist, dass Skripte einen unmittelbaren Einblick in den filmischen Herstellungs- und Schaffensprozess gewähren und somit eine einzigartige Quelle für produktionsästhetische sowie plurimediale Untersuchungen von Autor/innenwerkstätten bilden. In der im Kollektiv organisierten Filmherstellung muss ein Modus für die erfolgreiche Zusammenarbeit aller beteiligten Personen vorherrschen, vom Autor/von der Autorin über den Regisseur/die Regisseurin bis zum Kameramann /zur Kamerafrau und den Schauspieler/innen, was sich auch in der Skript­ entwicklung widerspiegelt. Für die editionswissenschaftliche Erschließung stellt das immense und vielfältige textgenetische Material von Drehbüchern eine Herausforderung dar, zumal die Grundidee der ‚critique génétique‘ auch die Einbeziehung sämtlicher genetischer Aufzeichnungen anstrebt. Dadurch wird das Anliegen der sich konsolidierenden Drehbuchforschung 2 unterstützt, nicht nur das Produkt, den realisierten Film, zu beachten, sondern insbesondere die vorausgehenden grundlegenden Arbeitsschritte und Vorstufen sowie den Prozess des Skriptschreibens zum wissenschaftlichen Gegenstand zu machen. Im Folgenden wird eine kritische Reflexion verschiedener Skripteditionen geboten sowie, basierend auf der statistischen Auswertung eines Stummfilmverzeichnisses, die Bedeutung der Skriptverfasser/innen näher beleuchtet. Anschließend werden am konkreten Beispiel des wegweisenden Stummfilms Der Student von Prag (D 1914), der auf Grundlage eines Exposés von Hanns Heinz Ewers entstand, die Aspekte der Skript­edition einerseits und von Arbeitsweisen des Filmautors andererseits anschaulich zusammengeführt.

Ein Querschnitt durch 100 Jahre Skripteditionen Seit 1920 wurde eine Vielzahl von mehr oder weniger beachteten Skripten in unterschiedlichen Medien veröffentlicht, wobei die Wiedergabemodi der Ausgaben ebenso heterogen sind wie die vielfältigen und längst nicht ausdefinierten Begriffe für die verschiedenen Stadien des textlichen Herstellungsprozesses (u. a. Exposé, Treatment,

Jean-Claude Carrière: Über das Geschichtenerzählen. 2. Aufl. Berlin 2002, S. 10. Vgl. u. a. den Aufbau des Netzwerks Drehbuchforschung unter der Federführung von Jan Henschen, Florian Krauß, Alexandra Ksenofontova und Claus Tieber mit einem Auftaktworkshop im November 2019 an der Freien Universität Berlin.

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https://doi.org/10.1515/9783110684605-011

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‚final-­shooting script‘ oder ‚post-shooting script‘, Regiebuch, Storyboard, Filmerzählung und Filmmanuskript).3 Steven Price untersuchte bereits 2010 in seiner Monographie The Screenplay. ­Authorship, Theory and Criticism 4 eine Reihe von Drehbucheditionen auf ihre Nützlichkeit für wissenschaftliche Fragestellungen. Sein Fazit ist ernüchternd: Häufig fehlt eine klare Deklaration der publizierten Skripte, und für den Rezipienten/die Rezipientin ist unklar, welche ‚Textversion‘ oder welches ‚Stadium‘ vorliegt, von welcher Hand bzw. welchen Händen das Skript verfasst wurde, ob ein editorisches Konstrukt mehrere Skriptniederschriften vermischt oder ein Protokoll den Film zusammenfasst und in die künstliche Drehbuchform bringt. Die im Folgenden stichprobenweise vorgenommene Durchsicht von Skripteditionen von den Anfängen bis heute bestätigt die aus editionswissenschaftlicher Sicht defizitäre Darstellung von Skripten, wobei auch Einführungen zur Entstehungsgeschichte des Skriptes mit einer Übersicht zum überlieferten ­Material und Aufbewahrungsort wünschenswert wären.5 Die Erschließungstiefe, mit der ein Skript dargestellt wird, ist letztlich abhängig von der Ausgabenart und der adressierten Leser/innenschaft, also ob es sich beispielsweise um eine Edition mit historisch-kritischem Anspruch oder lediglich um ein rein belletristisches Anliegen handelt. Trotzdem sollte es verbindliche Gütekriterien geben, die für alle Editionen gelten. Die editionswissenschaftlichen Prinzipien verlangen eine möglichst transparente und überprüfbare Textkonstituierung, was folglich auch für die Textsorte ‚Filmskript‘ gilt. Zu den Maximalanforderungen würden eine diplomatische Umschrift und Faksimilebeigabe sowie die Einbeziehung der inter- und intragenetischen Varianten zählen. Dies entspräche einer idealen editionswissenschaftlichen Grundlagenarbeit für weitere literatur- und filmwissenschaftliche Untersuchungen und Fragen aller Art an das Skript bzw. an den Skriptkomplex. In der Regel liegen verschiedene Filmtexte in unterschiedlichen Stadien vor, da die genetische Arbeit daran traditionell erst mit dem Postproduktionsprozess des Films abgeschlossen ist.6 Die Transkription des Skripts sollte neben dem Textsyntagma auch sämtliche autoreferenzielle Anmerkungen berücksichtigen und die editorischen Richtlinien zur Orientierung für die Rezipient/innen offenlegen. Editor/inneneingriffe sind zu vermeiden und ansonsten unbedingt zu markieren, d. h. die Orthographie und Interpunktion werden originalgetreu übernommen und u. U. kommentiert. Diese umfassenden, ressourcen- und arbeitsintensiven Anforderungen an eine Skript­edition sind allerdings auf ihren praktischen Nutzen hin zu hinterfragen, da selbst hochqualitative editionswissenschaftliche Aufarbeitungen von weitaus anerkannteren Textsorten, wie Dramen oder Romanen, mitunter wenig benutzt werden.7 Substantielle In diesem Aufsatz wird hauptsächlich auf den weiten und neutral verstandenen Begriff ‚(Film-)Skript‘ zurückgegriffen, um Definitionsmissverständnisse zu vermeiden. 4 Vgl. Steven Price: The Screenplay. Authorship, Theory and Criticism. Basingstoke u. a. 2010, S. 94 ff. 5 Vgl. Kathrin Nühlen: Filmskripte. Literarische Stoffe auf dem Weg zum Medium Film. In: Aufführung und Edition. Hrsg. von Thomas Betzwieser und Markus Schneider. Berlin, Boston 2020 (Beihefte zu editio. 46), S. 277–291, hier S. 291. 6 Vgl. das Konzept der „literature in flux“ nach Claudia Sternberg: Written for the Screen: The American Motion-Picture Screenplay as Text. Tübingen 1997, S. 29. 7 Vgl. hierzu: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Hrsg. von Thomas Bein. Berlin, Boston 2015 (Beihefte zu editio. 39), ins3

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Kriterien für wissenschaftliche Mindeststandards bei der Publikation von Skripten sind in summa ein authentischer, zuverlässig konstituierter Skripttext mit konkreter Angabe der editorischen Richtlinien sowie eine Einordnung des Textes in das spezifische Arbeits- bzw. Entwicklungsstadium im Kontext der Filmproduktion. Die Diskussion, ob Filmskripte zur Literatur zählen oder nicht, wurde vielfach geführt.8 Ihnen wird eine textimmanente Lesefeindlichkeit vorgeworfen, zumindest was das Genusslesen betrifft, denn Skripte sind in der Regel originär nicht für ein Lesepublikum gedacht, sondern als Arbeitsgrundlagen für die Filmproduktion – sapienti sat. Nach Susanne Wehde lassen sich autonome Textsorten als schriftsprachlich ­fixierte Texte definieren, die durch inhaltliche sowie sprachstilistische Merkmale und ihre Form von anderen unterscheidbar sind 9 – eine Definition, die (wenngleich der Autonomiebegriff hier allenfalls für ihre spezifische Form greifen kann) auch auf Skripte anwendbar ist. Verschiedene Vorgaben und Rahmenbedingungen beteiligter Personen und Institutionen, wie u. a. das zur Verfügung stehende Budget, der Regisseur /die ­Regisseurin und die Schauspieler/innen oder die vorgesehene Filmlänge, formen die Textsorte ‚Skript‘ mit. Diese Faktoren üben u. U. einen weitaus stärkeren Einfluss auf die Drehbuchentwicklung aus als ästhetische Gesichtspunkte und Gattungskonventionen, die von einem Einzelautor/einer Einzelautorin bzw. -urheber/-urheberin bei der Textproduktion für den Buchmarkt größtenteils allein gesteuert werden. Um beispielsweise die Standardfilmlänge von 90 Minuten zu erreichen, muss der Stoff im Skript zwangsläufig in eine festgelegte Anzahl an Bildern bzw. Szenen umgesetzt werden. Durch die Verwendung einer wesentlich parataktischen Schreibweise wird eine besondere Atmosphäre beim Rezeptionsvorgang geschaffen. Zudem fordert die Filmskript-Textsorte ihre Leser/ innen auf, filmisch weiterzudenken, gelenkt durch technische Anweisungen. Bereits Kurt Pinthus versuchte mit seinem Kinobuch 10 aus dem Jahr 1913/14 das ‚filmische Denken‘ zu fördern: Eine Avantgarde von 15 jungen Autor/innen, darunter u. a. Max Brod, Walter Hasenclever und Else Lasker-Schüler, entwirft darin ‚Kinostücke‘ in einer filmischen Textform. Die praktische Ausführung blieb jedoch der erzählerischen Technik verhaftet und erinnert an Novellen, was die Textsammlung für die film­industrielle Verwertung unbrauchbar machte. Einzige Ausnahme ist Heinrich Lautensacks Zwischen Himmel und Erde. Ein kinematographisches Spiel in drei Akten – dieses in Bilder gegliederte Szenarium wurde 1913 von Otto Rippert verfilmt. Als erste Buchveröffentlichung einer originären Filmdichtung, die allerdings nie filmisch umgesetzt wurde, gilt Die Pest 11 von Walter Hasenclever aus dem Jahr 1920. Die Textstruktur ist in Akten und Bildern organisiert, wobei sich das Lesen aufgrund der sprachlichen Reduktion und der Vielzahl an Parataxen im Stakkato-Stil mühsam



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besondere: Rüdiger Nutt-Kofoth: Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt? Versuch einer Annäherung aufgrund einer Auswertung germanistischer Periodika. In: ebd., S. 233–245. Vgl. u. a. Douglas Garrett Winston: The Screenplay as Literature. Cranbury 1973; Sternberg 1997 (Anm.  6); Barbara Korte, Ralf Schneider: The Published Screenplay – A New Literary Genre? In: AAA – Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 25, 2000, S. 89–105. Vgl. Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000, S. 119. Kurt Pinthus: Das Kinobuch. Leipzig 1913/14. Walter Hasenclever: Die Pest. Ein Film. Berlin 1920.

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gestaltet. Jürgen Kasten bezeichnet den Text als einen als Drehbuch verkleideten Dramentext.12

Abb. 1: Ausschnitt aus Die Pest von Walter Hasenclever, S. 11 (Anm.11).

Vgl. Jürgen Kasten: Transformative Vor-Schrift. Aspekte einer Funktionstheorie des Drehbuchs. In: Scenario 10. Film- und Drehbuch-Almanach. Hrsg. von Jochen Brunow. Berlin 2016, S. 117–137, hier S. 119.

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Der Kiepenheuer Verlag plante vier Jahre später eine Reihe unter dem Titel Das Drehbuch. Eine Sammlung ausgewählter Film-Manuskripte. Es erschien indes lediglich ein Band: Sylvester. Ein Lichtspiel von Carl Mayer.13 Ernst Angel betont in der Einleitung des Bandes den besonderen Sprachstil und Satzrhythmus von Carl Mayer, der eine atmosphärische und dichterische Wirkung bei der Lektüre erzielt. Intention ist es, den künstlerischen Produktionsprozess, wo er noch ungetrübt ist, darzustellen und ihn dem Publikum näherzubringen, um die Arbeit des Autors zu verdeutlichen. Angel verhehlt nicht, dass es Schwierigkeiten gab, den Text in eine kohärente, lesbare Form zu bringen, geht aber nicht näher darauf ein, welche Anpassungen konkret vorgenommen wurden. Das Buchlayout lässt ungewöhnlich viel Weißraum und präsentiert wenig Text, ähnlich einem Lyrikdruck. Die Einteilung erfolgt in Bildern, und es gibt z. T. Fußnoten mit technischen Erläuterungen. Der Schreibstil ist sehr prägnant und rhythmisch durchwirkt mit Mayers berühmtem „Und!“, das eigene Zeilen einnimmt und so ein ungewöhnliches und dynamisches Leseerlebnis hervorruft. Auch fast 100 Jahre nach diesen ersten Filmtextausgaben werden Skripte unterschiedlicher Façon publiziert. In der zehnbändigen Reihe Scenario. Film- und Drehbuch-Almanach (von 2007 bis 2016 jährlich herausgegeben) wird u. a. jeweils das beste unverfilmte Drehbuch abgedruckt. Im letzten Band von 2016 ist Sayonara ­Rüdesheim ein Heimatfilm 14 von Stephan Falk und Anke Sevenich als solches ausgezeichnet. Außer dem Zusatz „Erste Fassung“ und dem Jahresvermerk „2015“ gibt es keine weiteren Informationen zur Textkonstituierung. Vermutlich handelt es sich um das finale und bereinigte Skript für einen möglichen Drehprozess. Form und Layout weisen den Text optisch als Skript aus. Dazu gehören die fett und in Großbuchstaben gehaltenen durchnummerierten Bildüberschriften mit der Ortsangabe als Stichwort sowie die abgekürzten Angaben für Innen- bzw. Außenaufnahme („I“, „A“) sowie Tag oder Nacht („T“, „N“). Zur raschen Orientierung für den Rezipienten/die Rezipientin sind die Sätze kurz und knapp gehalten, die direkte Rede ist eingerückt und von Leerzeilen umgeben, Sprechernamen werden in Großbuchstaben wiedergegeben. Die wenigen technischen Anweisungen sind in runde Klammern gesetzt, z. B. „CHOR (leise, off)“.15 Auffallend ist, dass häufig Details beschrieben werden, um bestim­mte Stimmungen zu erzeugen: „Ein einzelner Kartoffelchip wird in einen geöffneten Mund geschoben. Eine korpu­lente Hunsrückerin kaut geräuschvoll darauf herum. – Sie sitzt auf einem Sofa und sieht zu einer Frau mit blondierten Strähnen, die, nur halb bekleidet und mit Tattoos an Oberarm und Hüfte, ein hauchfeines Seidenhöschen emporhält.“16 Diese lebendige Beschreibung aktiviert beim Leser/ bei der Leserin umgehend mentale Bilder und Kontexte bzw. soziale Einbettungen und Annahmen über das Milieu, die Bildung und die Sprache der Figuren. Der co-autorschaftliche Arbeitsprozess bei der Skriptentwicklung wird in der Veröffentlichung nicht thematisiert und bleibt ein Darstellungsdesiderat. Sylvester. Ein Lichtspiel von Carl Mayer. Hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Ernst Angel. ­Potsdam 1924 (Das Drehbuch. Eine Sammlung ausgewählter Film-Manuskripte. 1). 14 Stephan Falk, Anke Sevenich: Sayonara Rüdesheim ein Heimatfilm. In: Scenario 10. Film- und Drehbuch-Almanach. Hrsg. von Jochen Brunow. Berlin 2016, S. 222–297. 15 Falk/Sevenich 2016 (Anm. 14), S. 223. 16 Falk/Sevenich 2016 (Anm. 14), S. 225. 13

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Die besten (d. h. für eine LOLA nominierten) Drehbücher eines Jahres sind auf einer Online-Plattform aufruf- und speicherbar, die von der Deutschen Filmakademie betrieben wird. 2017 wurde beispielsweise das Drehbuch Toni Erdmann 17 von Maren Ade mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet. Es ist auf der Akademie-Website im Reader leicht zugänglich und interaktiv zu durchblättern. Allerdings werden auch hier nähere Angaben zur Textkonstitution ausgespart. Es ist freilich unklar, inwieweit die Formatierung und das Layout dem Originalskript entsprechen oder ob eingegriffen wurde, um ein einheitliches Textbild zu schaffen. Neben weiteren Drehbüchern veröffentlichte der Taschen-Verlag 2011 Stanley ­Kubrick’s ‚Napoleon‘: The Greatest Movie Never Made 18 – ein Buch im DIN A 3 Format zu einem Film über den französischen General, der nie gedreht wurde. Für das Skript recherchierte Kubrick zwei Jahre lang, wodurch sich umfangreiches Vorproduktionsmaterial ansammelte, das in der Publikation als Auswahl präsentiert wird: darunter Essays, Fotos, Notizen und Korrespondenz sowie ein Treatment und ein vollständiges Drehbuch als Faksimile. Die Ausgabe versteht sich als Hommage an Kubricks unvoll­ endetes Meisterwerk und will das Material zugänglich machen, um unterschiedliche Einblicke in den Schaffensprozess zu ermöglichen, was der Intention einer dokumentierenden Archivausgabe nahekommt. Aufgrund der abgebildeten Originaldokumente kann sich der Rezipient/die Rezipientin ein individuelles Bild von den Drehvorbereitungen machen. Ähnlich opulent wurde 2018 für die in Deutschland produzierte populäre Serie ­Babylon Berlin eine großformatige begleitende Buchausgabe19 mit goldfarbenem Einband und Lesezeichen publiziert. Mit Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloegten zeichnet ein Männertrio sowohl für Regie als auch Drehbuch der Serie verantwortlich, die mit 38 Millionen Euro als teuerste in Deutschland je produzierte Serie gilt. Die Ausgabe ist mit reichlich Bildmaterial von den Sets und Stills aus dem Film ausgestattet, um das realisierte Produkt zu honorieren und illustrieren. Die kollektive Skriptgenese über einen längeren Zeitraum hinweg und auch die kooperative Regie (i. S. v. Wer zeichnet für was?) werden nicht thematisiert. Naheliegende Fragen bleiben offen: Wie lässt sich in der Praxis zu dritt gleichberechtigt an einem Text arbeiten? Wird eine digitale ‚Arbeitscloud‘ genutzt, zu der jeder Zugriff hat und den Text jederzeit bearbeiten kann? Oder saßen die drei Autoren beisammen, um zu diskutieren und schrieben handschriftlich an dem Skript? – Stattdessen ist ein ‚Serienguide‘ integriert, der im Stil einer Fernsehzeitung den Inhalt der Folgen zusammenfasst, was wiederum den geringen Stellenwert des Skripts gegenüber dem fertigen Produkt unterstreicht. Dagegen gibt bereits Band 3,1 der großen, auf insgesamt 38 Bände angelegten, kommentierten Frankfurter Ausgabe zu Thomas Mann, ihres Zeichens eine kritische Leseund Studienausgabe, neben Gedichten und einem Drama auch den Filmentwurf Tristan und Isolde 20 wieder. Zur Textkonstituierung ist in dem Band vermerkt, dass vom Autor Online: https://issuu.com/deutschefilmakademiee.v./docs/01_toni_erdmann (gesehen 31.3.2020). Stanley Kubrick’s ‚Napoleon‘: The Greatest Movie Never Made. Hrsg. von Alison Castle. Köln 2011. 19 Babylon Berlin. Eine Serie von Achim von Borries, Hendrik Handloegten und Tom Tykwer. Hrsg. von Michael Töteberg. Mit Fotografien von Joachim Gern und Frédéric Batier. Köln 2018. 20 Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hrsg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans 17 18

Zur Problematik der Edition von Filmskripten

209

gestrichene und eingefügte Wörter wie auch rückgängig gemachte Durchstreichungen und vom Herausgeber ergänzte Wörter gekennzeichnet werden. Das Layout des Textes weist keine typischen Skriptmerkmale auf: Es handelt sich um eine Vorstufe, einen im Präsens verfassten Filmentwurf in Prosaform, der eine Zusammenfassung von Handlung und Charakteren gibt. Anscheinend gibt es in dem Entwurf weder gestrichene noch hinzugefügte Wörter – jedenfalls ist keine Textstelle als solche kenntlich gemacht. Ein Faksimile des Originals von Thomas Mann ist zum Vergleich mit dem transkribierten Skripttext nicht abgebildet, dafür wird mit Band 3,2 ein ausführlicher Kommentar beigegeben. Die historisch-kritische Wiener Arthur-Schnitzler-Ausgabe ist offenkundig die einzige ihrer Art, die Filmskripte ediert, nämlich Schnitzlers filmische Entwürfe zu seinem Schauspiel Liebelei.21 Als wissenschaftliche Grundlagenausgabe mit Informationen zur Genese bietet die Edition kritisch erarbeitete Texte, deren Konstitutionsprinzi­pien dargelegt sind. Herausgeber/inneneingriffe werden nachgewiesen, wobei Tippfehler im maschinenschriftlichen Skript stillschweigend emendiert sind. Zudem stellt die Ausgabe zusätzliches filmbezogenes Material in Form der Zwischentitelliste sowie Informationen über die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Werkes zur Verfügung. Die von Schnitzler für einen Liebelei-Film bearbeiteten Typoskripte mit den Siglen F1 und F2 werden durch eine synoptische Darstellung in ihrer Szeneneinteilung gegenübergestellt, um die Varianten zwischen den Fassungen zu verdeutlichen. Alle in den Typoskripten mit Tinte und Bleistift vorgenommenen handschriftlichen Einfügungen, Durch- und Unterstreichungen von Schnitzlers Hand werden in der Umschrift mit ­grauer Unterlegung kenntlich gemacht. Auch die Seitenumbrüche sind gekennzeichnet, der originale Zeilenfall wird jedoch nicht nachgebildet. Da die Typoskripte F1 und F2 gut lesbar sind, werden keine Faksimiles beigegeben. Vergleicht man die originalen Typoskripte mit den konstituierten Texten in der Wiener HKA, fallen jedoch Unterschiede auf: In der synoptischen Wiedergabe der HKA lassen sich die bedeutungstragenden Absätze nicht eindeutig identifizieren, was z. B. auf S.  1120 in der linken Spalte (F1) nach „älterer Lebemann“22 der Fall ist. In der rechten Spalte (F2) auf derselben Seite ist zudem eine handschriftliche Änderung nicht ausgezeichnet: Hier müsste im ersten Satz unter der Überschrift „Erste Abteilung.“ das nachträglich ergänzte Wort „einer“ grau hinterlegt sein. Durch Faksimiles hätte der Leser/die Leserin jederzeit die Möglichkeit, diese und weitere Stellen auf die Zuverlässigkeit des edierten Textes hin zu kontrollieren.

R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Bd. 3,1: Fiorenza, Gedichte, Filmentwürfe. Hrsg. und kritisch durchgesehen von Elisabeth Galvan. Frankfurt/Main 2014. 21 Arthur Schnitzler: Liebelei. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von Peter Michael Braunwarth u. a. 2 Bde. Berlin, Boston 2014. 22 Schnitzler, Liebelei, HKA 2014 (Anm. 21), S. 1120.

210

Abb. 2: Ausschnitt aus den edierten Liebelei-Filmtexten, S. 1120 (Anm. 21).

Kathrin Nühlen

Zur Problematik der Edition von Filmskripten

211

Das Liebelei-Filmtextmaterial wird auch in der von Achim Aurnhammer u. a. herausgegebenen Drehbuchedition zu Arthur Schnitzlers Filmarbeiten 23 transkribiert. Sie bezeichnet sich selbst als kritische Edition und versteht sich als umfassende zuverlässige und kommentierte Leseausgabe, die erstmalig sämtliche Filmskripte Schnitzlers in ihrer letztgültigen Gestalt präsentiert 24 – Faksimiles sind nicht abgebildet und auch auf eine diplomatische Umschrift sowie eine konstante Variantenverzeichnung wurde verzichtet. Die Präsentation der transkribierten Liebelei-Filmtexte erfolgt ebenfalls in einer Synopse. Zwischen der Aurnhammer-Ausgabe und der Wiener HKA gibt es eine Reihe von Abweichungen. Die kritische Leseausgabe vergibt die Siglen E und F für Schnitzlers Filmentwurf und das ausgearbeitete Drehbuch zur Liebelei. (Entzifferungs-)Unterschiede zur HKA sind in der Regel in den Fußnoten vermerkt, so z. B. auf S. 33, Fußnote 9: In Sigle E wird „Andern“ 25 transkribiert, wohingegen in F1 „Anderen“ steht.26 – Des Weiteren werden Überschriften und Nummerierungen in der HKA wie auf dem Originaltyposkript zentriert dargestellt – in der kritischen Edition sind sie dagegen allgemein linksbündig gesetzt. Das Wissen um diese unterschiedliche Darstellungsweise ist bei einer Untersuchung des Skriptlayouts bedeutend, da die spezifisch vorgenommene topographische Verteilung von Graphen auf einem Blatt Papier bereits zu einer besseren bzw. schlechteren Übersicht für den Rezipienten/die Rezipientin und damit zu einer erfolgreichen bzw. weniger erfolgreichen Informationsentnahme beiträgt. – Die kritische Leseausgabe von Aurnhammer zeichnet den handschriftlichen Ersetzungsvorgang des Wortes „der“ auf S. 32 durch ein über der Zeile handschriftlich eingefügtes „einer“ 27 mit Kursivlegung des Wortes aus. Wie bereits erwähnt, versäumt die HKA diese Auszeichnung, obwohl das ihren Darstellungsprinzipien entspräche.28 – Im Originalskript ist nicht eindeutig erkennbar, ob nach dem unterstrichenen Satz „Tanzschule in der einer Wiener Vorstadt“ ein Absatz folgt oder nicht – die Ausgaben interpretieren den Sachverhalt in F2 bzw. F unterschiedlich: Die HKA stellt den Absatz dar,29 die kritische Edition nicht.30 Wiederum wäre ein Faksimile hilfreich, damit sich der Rezipient / die Rezipientin ein eigenes Bild machen kann. Aufgrund dieser Unterschiede zwischen den beiden Editionstypen sowie zwischen den Ausgaben und dem Originaltyposkript, die sich bereits beim Vergleich weniger transkribierter Seiten finden lassen, werden jeweils die Vor- und Nachteile deutlich, wobei keine Edition ihren Anforderungen voll gerecht wird. Als Grundlage für eine literatur- oder filmwissenschaftliche Liebelei-Filmskriptanalyse müssten daher beide Ausgaben bzw. die in der Cambridge University Library aufbewahrten Original­typoskripte zu Rate gezogen werden. Sinnvoll wäre eine Faksimileausgabe der maschinenschrift­ Arthur Schnitzler: Filmarbeiten. Drehbücher, Entwürfe, Skizzen. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Hans Peter Buohler, Philipp Gresser, Julia Ilgner, Carolin Maikler und Lea Marquart. Würzburg 2015 (Akten des Arthur-Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg. 4). 24 Vgl. Schnitzler, Filmarbeiten 2015 (Anm. 23), S. 24. 25 Schnitzler, Filmarbeiten 2015 (Anm. 23), S. 33. 26 Schnitzler, Liebelei, HKA 2014 (Anm. 21), S. 1121. 27 Schnitzler, Filmarbeiten 2015 (Anm. 23), S. 32. 28 Schnitzler, Liebelei, HKA 2014 (Anm. 21), S. 1120. 29 Schnitzler, Liebelei, HKA 2014 (Anm. 21), S. 1120. 30 Schnitzler, Filmarbeiten 2015 (Anm. 23), S. 32. 23

212

Kathrin Nühlen

lichen Skripte mit Entzifferungshilfen zu den handschriftlichen Bearbeitungen Schnitzlers, um eine zuverlässige und aussagekräftige Grundlage vorzulegen. Als allgemeines Fazit der Durchsicht verschiedenster weiterer Skriptausgaben über den Zeitraum eines Jahrhunderts lässt sich die mangelnde Transparenz der Skriptwiedergabe durchgehend konstatieren. In den meisten Fällen ist unklar, um was für eine Textversion bzw. um was für ein Stadium es sich innerhalb der Filmherstellung handelt und inwiefern u. U. vom Herausgeber/von der Herausgeberin oder Editor / Editorin bei der Publikation normalisierend eingegriffen wurde, um die Lektürebedingungen zu verbessern. Es kommt vor, dass dem Rezipienten/der Rezipientin ein artifizielles, verfälschtes Textkonstrukt vorliegt, das in dieser Form nie existiert hat, oder es handelt sich gar um ein Filmprotokoll, das nach dem Film angefertigt wurde. Bei einer Romanpublikation kann der Rezipient/die Rezipientin in der Regel davon ausgehen, dass es sich um eine autorisierte Fassung handelt, bei einem Skript mit multipler Autorschaft und beständig fortlaufender Textgenese ist das anders. Aus diesem Grund müssen die näheren Bedingungen der Textbereitstellung unbedingt erläutert werden. Unmittelbar damit verknüpft ist die Zugänglichmachung einer validen Textgrundlage: „Die Grundlage aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit Texten ist ihre Bereitstellung in zuverlässiger Gestalt. Ermittlung und Präsentation des authentischen Wortlauts sind die Aufgaben von Textkritik und Textedition“ 31 – wobei im Fall der Textsorte ‚Filmskript‘ die getreue Wiedergabe des Layouts als bedeutungstragendes Element zu ergänzen ist, da sich Form und Inhalt nicht voneinander trennen lassen. Ein weiteres Manko stellt wie erwähnt die weitgehende Ignoranz der Ausgaben hinsichtlich der Darstellung des kollaborativen Schreibprozesses von Skripten dar: Welche Hände sind an den jeweiligen Schreibabläufen beteiligt, und wie lassen sich diese kennzeichnen? Arbeiten die Autor/innenen gleichzeitig am Skript oder konsekutiv alternierend, indem die eine den Text des anderen überarbeitet? 32 Oder besetzt jeder einen spezifischen Aufgabenbereich und werden, wie im heutigen ‚tayloristischen‘, teamorientierten Serienentwicklungsprozess üblich, differente kreative Rollen wie die Ausformung des Plots und der Storylines und/oder der Dialogabfassung übernommen?

28 Jahre deutschsprachiger Stummfilm – eine statistische Auswertung Nicht nur die Editionsproblematik der veröffentlichten Skripte, auch die mangelhafte Wahrnehmung der Autorin/des Autors oder der Autor/innenkollektive gegenüber dem Regisseur/der Regisseurin und deren in aller Regel niedriger veranschlagter Stellenwert erschweren die seriöse literatur- und filmwissenschaftliche Analyse von Skripten im Allgemeinen und von (Eigen-)Adaptionen im Besonderen. Die statistische Auswertung 33 der neunbändigen Reihe von Gerhard Lamprecht bzw. der dort verzeichneten Anne Bohnenkamp: Textkritik und Textedition. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. 4. Aufl. München 2001, S. 179–203, hier S. 179. 32 Vgl. zu dieser Problematik des Drehbuchentwicklungsprozesses von Stanley Kubricks The Shining (USA 1980) Ursula von Keitz: The Shining – Frozen Material. In: Stanley Kubrick. Hrsg. vom Deutschen Filmmuseum. Frankfurt/Main 2. Aufl. 2012, S. 184–197. 33 Bei der großen Menge der registrierten Filme konnte aktuell nur stichprobenartig, aber nicht umfassend mit Hilfe von Filmdatenbanken (wie z. B. www.imdb.com; gesehen 31.3.2020) verifiziert werden, ob die 31

Zur Problematik der Edition von Filmskripten

213

deutschen Stummfilme von 1903 bis 1931 liefert interessante Einblicke in die namentliche Nennung von ‚Filmbuchautor/innen‘ bzw. daraus abgeleitet Erkenntnisse über deren Bekanntheitsgrad. Dort sind außerdem die realisierten Adaptionen des Zeitraums unter Berücksichtigung der einzelnen verfilmten Gattungen bzw. Textsorten genannt.34 Skripte von Autor/innen wie z. B. Arthur Schnitzler, die zwar für den Film schrieben, deren Skripte allerdings nicht als Grundlage für einen realisierten Film dienten, werden nicht aufgelistet. Hier hat die Forschung die Autor/innennachlässe zu konsultieren. Von 1903 bis 1931 sind insgesamt ca. 5500 Filme und Tonbilder 35 verzeichnet, da­ runter 762 Adaptionen literarischer Werke, davon sind wiederum lediglich 57 Eigen­ adaptionen – dabei handelt es sich um die seltenen Fälle, in denen der Autor/die Autorin der literarischen Vorlage und des Skripts der Verfilmung identisch sind. Eigenadap­ tionen folgen historisch der Strategie einer „Nobilitierung des Kinos durch Filmstoffe ausgewiesener Schriftsteller.“36 Als erste Adaption wird bei Lamprecht im Jahr 1907 das Schauspiel Die Räuber von Friedrich Schiller genannt, ohne Angabe des Filmbuchautors; Regie führte der Kunstmaler Beyer.37 Die erste Eigenadaption ist drei Jahre darauf Die Wahrheit von Ferdinand Kahn und Wilhelm C. Stücklen unter der Regie von Peter Ostermayr, ,,ein Bühnensketch“.38 Zugleich waren vielseitige Skriptautorinnen wie u. a. Vicki (Hedwig) Baum mit Die drei Frauen von Urban Hell (1928) und Berta Ruck in Kooperation mit Luise Heilborn-Körbitz für die Produktion Ossi hat die Hosen an (1928) im Metier der (Eigen-)Adaptionen erfolgreich tätig. Zum Vergleich: Im Verhältnis zu originären Filmstoffen beruhen 1910 bis 1918 ca. drei bis zwölf Prozent der Filme auf literarischen Vorlagen. In den darauffolgenden Jahren 1919 bis 1929 sind es bereits ca. 13 bis 38 Prozent. Trotz der vermuteten stärkeren formalen Verwandtschaft des Skripts mit der Gattung des Dramas wurden im Untersuchungszeitraum von 1903 bis 1931 eindeutig mehr Erzähltexte als Dramen adaptiert: 551 Romane und Novellen gegenüber 193 Komödien, Lustspielen etc., und nur 18 Gedichte, Versepen, Schwänke und Possen.



34



35

38 36 37

von Gerhard Lamprecht: Deutsche Stummfilme. 1923–1926. Berlin 1967 zusammengestellten Angaben korrekt bzw. vollständig sind. Im Fall des Films Komödie des Herzens (vgl. ebd., S. 331) handelt es sich beispielsweise um eine Adaption der Novelle Maskenball des Herzens von Sophie Hoechstetter, was im Verzeichnis nicht vermerkt ist. Gerhard Lamprecht erhebt mit seinem Verzeichnis keinen Anspruch auf Vollständigkeit und lückenlose Erfassung aller Kriterien, was die verzeichneten Filme betrifft; vgl. Lamprecht 1967 (Anm. 33), S. I. Die Bände verkörpern sowohl einen Leitfaden als auch eine umfassende Vorarbeit für die Geschichte des deutschen Stummfilms. „Von jedem Film ist der Zensurtitel, gegebenenfalls der Untertitel, Verleihtitel und Arbeitstitel angegeben“; Lamprecht 1967 (Anm. 33), S.  III. Zu den weiteren Kategorien gehören u. a. Produktionsjahr, Buch (Verfasser des Filmmanuskripts sowie gegebenenfalls Autor der literarischen Vorlage) und Regie. Oskar Messter führte am 29. August 1903 erstmalig seine Biophon-Tonbilder im Berliner Apollo-Theater vor. Daraufhin wurden Tonbilder bis 1914 in großen Mengen produziert. Es handelt sich um synchron zu einer Grammophonplatte aufgenommene Filme (Playback-Verfahren) u. a. mit Szenen aus Opern, Operetten und Revuen. Vgl. Gerhard Lamprecht: Deutsche Stummfilme. 1903–1912. Berlin 1969, S. I f. „Die außergewöhnliche Fülle der Titel macht ihre Aufzählung in der Reihe der Stummfilme unmöglich, da sie heute im Einzelnen kaum noch zu identifizieren und auseinanderzuhalten sind“ (ebd., S. II). Jürgen Kasten: Film schreiben. Eine Geschichte des Drehbuchs. Wien 1990, S. 26. Vgl. Lamprecht 1969 (Anm. 33), S. 23. Lamprecht 1969 (Anm. 33), S. 58.

214

Kathrin Nühlen

Vor dem Ersten Weltkrieg beherrschten vor allem ausländische Filme aus Frankreich, Italien und Amerika den deutschen Filmmarkt. Die längeren Mehrakter mit anspruchsvollerer Handlung und anfangs einer Länge bis 1000  m lösten die bis zu 400  m langen Einakter nach und nach ab, sodass 1910/11 mit erfolgreichen Filmen aus Dänemark neue Konkurrenz hinzukam.39 Gleichzeitig etablierten sich mit der Zeit ‚Filmstars‘, die den Erfolg eines Films stark beeinflussten. Aus der frühen deutschen Entwicklungszeit sind nur wenige Filme erhalten.40 Bis einschließlich 1910 registriert Gerhard Lamprecht lediglich 113 deutsche Filme, danach stieg die Produktion sprunghaft an: 1911 waren es bereits 168 Filme, 1920 wurde mit 517 Filmen der Höhepunkt erreicht. Anschließend nahm die Stummfilmherstellung in Deutschland wieder rapide ab, bis 1930 – bedingt durch die teure Tonfilmproduktion – nur noch 59 Filme eingetragen sind (s. Tab. 1). Obwohl Filmvorführungen bis 1920 immer populärer wurden und das Interesse beim Publikum anstieg, übertrifft die Zahl der namentlich registrierten Filmbuchautorinnen und -autoren41 erst relativ spät die Zahl der erfassten Filme ohne Autor/in: 1915 haben 177 der insgesamt 327 Filme eine/n explizit erwähnte/n (ermittelte/n) Autor/in, 150 dagegen nicht. Noch ein Jahr zuvor wurde die Mehrzahl der Filme ohne Autor/in angegeben (s. Tab. 1).

Normalfilme (35 mm) haben i. d. R. eine Länge von ca. 3000 m. Vgl. Lamprecht 1969 (Anm. 33), S. III. 41 Die im Stummfilmverzeichnis als unsicher markierten Filmbuchautor/innen werden in der vorgenommenen Auswertung zu der Menge der Filme mit Filmbuchautor/in gezählt, ebenso wie die Verfasser/innen von Gesangs- und Schlagertexten. 39 40

215

1903

7

6

1

0

0

0

0

Adaptierter Schwank, Posse

Adaptiertes Gedicht, Versepos

Adaptiertes Drama

Adaptierter Erzähltext

Adaptionen insg.42

Mit genanntem Filmbuchautor

Ohne genanntem Filmbuchautor

Jahr

Filme, Tonbilder insg.

Zur Problematik der Edition von Filmskripten

0

1904

8

8

0

0

0

0

0

0

1905

6

6

0

0

0

0

0

0

1906

7

5

2

0

0

0

0

0

1907

8

7

1

1

0

1

0

0

1908

19

18

1

0

0

0

0

0

1909

25

23

2

0

0

0

0

0

1910

33

26

7

4

1

3

0

0

1911

168

134

34

6

1

2

3

0

1912

282

215

67

9

5

2

2

0

1913

344

232

112

23

12

11

0

0

1914

263

165

98

13

8

4

1

0

1915

327

150

177

9

7

2

0

0

1916

228

104

124

8

5

2

0

1

1917

241

109

132

23

20

3

0

0

1918

339

196

143

34

32

1

1

0

1919

476

214

262

71

59

12

0

0

1920

517

199

318

68

49

19

0

0

1921

373

110

263

58

50

8

0

0

1922

251

112

139

36

27

9

0

0

1923

233

110

123

34

25

9

0

0

1924

203

78

125

41

31

8

1

0

1925

230

81

149

54

44

10

0

0

1926

194

4

190

58

39

16

0

2

1927

245

10

235

81

54

24

0

4

1928

228

6

222

86

48

35

0

3

1929

184

13

171

39

28

11

0

0

1930

59

6

53

7

6

1

0

0

1931

1

0

1

0

0

0

0

0

Total:

5499

2347

3152

762

551

193

8

10

Tab. 1: Statistische Auswertung von Gerhard Lamprechts Stummfilmverzeichnis.

42

Filme, die einen der folgenden vagen Zusätze enthielten, wurden in der Auswertung nicht als Adaption gewertet: „frei nach“, „freie Bearbeitung“, „Stoff von“, „Schlager von“, „Lied von“, „nach einer Idee von“, „verfilmte Bühnenstücke“, „frei nach Motiven“, „alte Quellen“, „nach Oper“, „nach Libretto“, „nach Aufzeichnungen“, „nach Operette“, „nach Musik-/Liedfilm“, „Handlungsaufriss von“, „in Anlehnung an“, „nach historischen Quellen“, „Fragment nach und ergänzt“, „freie Benutzung von“, „Skizze von“ und „nach Erlebnissen“.

42

216

Kathrin Nühlen

Der Trend, dass die ausgewiesenen Filmbuchautor/innen gegenüber den nicht ausgewiesenen überwiegen, setzt sich in den Folgejahren durch: 1928 sind es beispielsweise 222 Filme mit Autor-/Autorinerwähnung und nur noch sechs ohne Nennung. Nach Jürgen Kastens Einschätzung wurden Filme in den ersten Jahren ohne detaillierten schriftlichen Plan gedreht, was die verbreitete Anonymität plausibel machen könnte. Der Ausarbeitungsgrad war entsprechend der geringen Filmlänge recht kurz, d. h. nicht mehr als zwei bis fünf Seiten.43 Die Pläne wurden meist vom Kameramann/von der Kamerafrau, Schauspieler/von der Schauspielerin oder Regisseur/von der Regisseurin angefertigt, mithin jemandem, der unmittelbar an der Filmherstellung beteiligt war.44 Literarische ­Autor/innen, die ins erhofft profitable Metier des Filmeschreibens wechseln bzw. sich ein zweites Standbein und eine zusätzliche Einnahmequelle sichern wollten, hatten meist Probleme, erfolgreich Fuß zu fassen (u. a. Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Hugo von Hofmannsthal).45 Der erste namentliche Eintrag eines Drehbuchautors im Verzeichnis der deutschen Stummfilme ist der des Schriftstellers Otto Julius Bierbaum, der 1903 den Musiktext für das Tonbild Der lustige Ehemann lieferte. Der zweite Eintrag folgt erst 1906 mit Heinrich Bolten-Baeckers als Verfasser des Drehbuchs und Regisseur des Films Der Hauptmann von Köpenick.46 Die Filmentwürfe literarischer Autor/innen waren für die praktische Handhabung im Produktionsprozess größtenteils ungeeignet: Professionelle Skriptautorinnen und -autoren waren mit zunehmender Filmlänge gefragt, sodass sich in Deutschland bis 1918 der Berufstand der originär für den Film schreibenden Autorinnen und Autoren konstituierte.47 Es galt, überwiegend triviale Stoffe für die Leinwand zu inszenieren, um beim Publikum große Wirkung zu erzielen.48 Ende der 1920er Jahre kam es zu einer ästhetischen und wirtschaftlichen Krise des deutschen Stummfilms, die mit den fantasielosen Drehbüchern begründet wurde.49 Hollywoodfilme eroberten ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verstärkt den deutschen Markt, und mit der Einführung des Tonfilms veränderten sich nochmals die Erzähl- und Darstellungsformen der Skripte.50 Skriptautor/innen standen und stehen im Schatten der Regisseure / Regisseurinnen und Schauspieler/innen, was die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung bei der Filmrealisierung betrifft.51

Vgl. Kasten 1990 (Anm. 36), S. 15. Vgl. Jürgen Kasten: Populäre Wunschträume und spannende Abenteuer. Das erfolgreiche trivialdramatische Erzählkonzept der Jane Bess und anderer Autorinnen des deutschen Stummfilms. In: Das Drehbuch. Geschichte, Theorie, Praxis. Hrsg. von Alexander Schwarz. München 1992 (Diskurs Film. 5), S. 17–53, hier S. 17. 45 Vgl. Kasten 1990 (Anm. 36), S. 86. 46 Vgl. Jürgen Kasten: Von den Filmen berühmter Autoren zum Autorenfilm. Bausteine zur Geschichte des Drehbuchschreibens. In: Drehbuch schreiben. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. von Thomas Pluch und Ernst Gustav. Wien 1990, S. 31–47, hier S. 32. 47 Vgl. Kasten 1990 (Anm. 36), S. 44. 48 Vgl. Kasten 1992 (Anm. 44), S. 25. 49 Vgl. Kasten 1992 (Anm. 44), S. 49 f. 50 Vgl. Kasten 1992 (Anm. 44), S. 50 f. 51 Jürgen Kasten konstatiert, dass es bis 1990 nur drei Bände zu deutschsprachigen Drehbuchautoren gab: zwei Monographien zu Carl Mayer und eine Dissertation zu Thea von Harbou; vgl. Kasten 1990 (Anm. 36), S. 9. Auch Claus Tieber macht auf diesen defizitären Umstand aufmerksam; vgl. Claus Tieber: Schreiben für Hollywood. Das Drehbuch im Studiosystem. Berlin 2008, S. 8. 43 44

Zur Problematik der Edition von Filmskripten

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Die Skripteditionen am Beispiel von Hanns Heinz Ewers’ Der Student von Prag (1913) Ein Schriftsteller, der Anfang des 20.  Jahrhunderts die mühevolle Etablierung des neuen Mediums Film unmittelbar miterlebte und im Gegensatz zu anderen Literat/­ innen für sich zu nutzen wusste, ist der Düsseldorfer Autor Hanns Heinz Ewers (1871–1943). Er war als einer der ersten Autoren früh in der Filmbranche aktiv und verfasste von 1903 bis 1931 13 Skripte. Mehr als zehn seiner veröffentlichten Erzähltexte wurden verfilmt, so z. B. Alraune (1928) unter der Regie von Henrik ­Galeen. Als politisch umstrittener Kosmopolit und Bestsellerautor geriet Ewers mit der Zeit in Vergessenheit, doch der von ihm geschriebene und maßgeblich mitgestaltete Stummfilm Der Student von Prag (August 1913; Regie zusammen mit Stellan Rye; Produktion: Deutschen Bioscop GmbH Babelsberg) behauptet sich als erster deutscher Kunst- und Autorenfilm52 mit internationaler Anerkennung dauerhaft im ­cineastischen Gedächtnis. Ewers’ künstlerische Leistung für die Filmentwicklung wird in nahezu jeder Publikation über die Pionierjahre der Kinematographie in Deutschland gewürdigt. „So wagte ich’s. Ich schrieb ein Stück für den Rollfilm: ‚Der Student von Prag‘ heißt es. […] Es soll ein Prüfstein sein, es soll mir beweisen, daß der Rollfilm – so gut wie die Bühne, große und gute Kunst bergen kann“, so Ewers damals im Fachmagazin Lichtbild-Bühne.53 Die Produktionskosten waren mit 20 000 Mark doppelt so hoch wie bei einem durchschnittlichen Film zu dieser Zeit.54 Der Stoff wurde bis 1935 noch zweimal verfilmt: 1926 nach dem Skript und unter der Regie von Henrik Galeen bei der H. R. Sokal-Film GmbH Berlin,55 drei Jahre später kam eine vertonte Fassung dieses Films heraus;56 schließlich erfolgte 1935 unter der Regie von Artur Robison (Drehbuch von Hans ­Kyser) die Neuadaption bei der Cine-Allianz-Tonfilmproduktion GmbH Berlin. Diese Neuadaption missfiel Ewers, wie er in einer handschriftlichen Notiz vom 8. Dezember 1935 deutlich zum Ausdruck bringt.57 Durch das anhaltende Interesse an dem fantastischen Stoff wurde auch das von Ewers originär für das Medium Film (vermutlich 1913) geschriebene, 19-seitige Exposé mehrfach ediert. Ewers inszeniert sich selbst als reale Person im sog. handschriftlich ergänzten „Vorbild“, was allerdings nicht filmisch umgesetzt wurde:

Der im Januar 1913 herausgebrachte Film Der Andere ist eine Adaption des Stücks von Paul Lindau und daher kein unmittelbarer Autorenfilm in dem Sinne, dass er originär für das Medium konzipiert wurde. Vgl. Wilfried Kugel: Alles schob man ihm zu. Er war ... der Unverantwortliche: das Leben des Hanns Heinz Ewers. Düsseldorf 1992, S. 187. 53 Hanns Heinz Ewers: Der Film und ich. In: Lichtbild-Bühne 23, Berlin, 7.6.1913, S. 39. 54 Vgl. Reinhold Keiner: Hanns Heinz Ewers und der Phantastische Film. Hildesheim, Zürich, New York 1988 (Studien zur Filmgeschichte. 4), S. 25. 55 Ewers war als Berater an der Verfilmung beteiligt; vgl. Bernd Kortländer: Vom ‚Studenten von Prag‘ zu ‚Horst Wessel‘ – Hanns Heinz Ewers und der Film. In: Düsseldorf kinematographisch. Beiträge zu einer Filmgeschichte. Hrsg. von Filminstitut der Landeshauptstadt Düsseldorf. Düsseldorf 1982, S.  137–148, hier S. 144. 56 Vgl. Kugel 1992 (Anm. 52), S. 534. 57 Vgl. Kortländer 1982 (Anm. 55), S. 145. 52

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Vorbild. Alter Friedhof, H. H. E. wandelnd. Er sieht Gräber – liest Inschriften. Balduins Grab. Ev. der Gräfin Grab; er notiert die Namen. – Dann: H. H. E. zuhause, schreibt, spricht mit Regisseur. Aus den Seiten steigen die Figuren auf: Balduin, Margit, Lyd., Scapinelli.58

Nach dem Erfolg auch der Neuverfilmung von 1926 kam 1930 (also zeitgleich mit der Tonfassung) das Buch zum Film heraus: Der Student von Prag. Eine Idee von Hanns Heinz Ewers. Novelle nach dem Film von Hanns Heinz Ewers.59 Ewers äußerte sich im Geleitwort rückblickend60 zum Stummfilm von 1913, dass es der Filmindustrie lediglich um die Befriedigung ökonomischer Interessen gehe. Romane und Theaterstücke seien nur von Interesse, wenn sie beim Rezipienten beliebt sind: „Daher das Wettrennen nach erfolgreichen Stoffen.“ 61 Zur historischen Bedeutung des Films bemerkt er: „Man bedenke, daß damals sich noch kein Dichter und kein Schauspieler von Rang für den Film hergab; man betrachtete das als tief unter seiner Würde. Dieses Eis wurde erst durch mich und Paul Wegener gebrochen; nach unserm Vorgang schlossen in kürzester Frist eine Menge erstklassiger Autoren und Spieler mit der ‚Bioscope‘ Verträge ab.“ 62 1985 gab Helmut Diederichs das transkribierte Exposé von Ewers mit einer soliden Einführung und Informationen zum historischen Hintergrund, zur Produktionsgeschichte und zur zeitgenössischen Rezeption heraus.63 Ewers’ Beziehung zur Filmbranche wird herausgearbeitet, genau wie der fortschrittliche filmische Entwicklungsstand der Formästhetik in Bezug auf die Bildeinstellungen, Trickaufnahmen, Montagetechnik etc. Allerdings ist die Wiedergabe des Exposés nicht authentisch: Es wird lediglich diskursiv erwähnt, dass das ‚Vorbild‘ handschriftlich von Ewers auf dem maschinenschriftlichen Skript am oberen Blattrand der ersten Textseite vorangestellt wird.64 „Gelegentliche handschriftliche Korrekturen und Ergänzungen im Text sind berücksichtigt und werden nicht gesondert angemerkt. Kleinere grammatikalische Fehler wurden stillschweigend berichtigt.“ 65 Von wessen Hand die handschriftlichen Änderungsoperationen stammen, wird nicht näher erläutert, und diese sind eventuell stillschweigend Ewers zugeordnet. Unterstreichungen und gelegentlich auch Satzzeichen sind nicht übernommen. Die Seitenumbrüche bleiben genau wie die von Hand vorgenommenen Markierungen von Textblöcken unmarkiert. 2015 erschien in der Reihe Filme zum Lesen mit Der Student von Prag. Eine Idee von Hanns Heinz Ewers eine weitere, von Reinhold Keiner besorgte Edition von Ewers’ Exposé.66 Die handschriftlichen Ergänzungen und Änderungen auf den Blättern werden grau hinterlegt in den konstituierten Text übernommen und sind so von den maschinen Hanns Heinz Ewers: Der Student von Prag. [1913.] Pag. 2. Aufbewahrungsort: Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Signatur: NL EWERS. 59 Leonard Langheinrich-Anthos: Der Student von Prag. Eine Idee von Hanns Heinz Ewers. Novelle nach dem Film von Hanns Heinz Ewers. Berlin 1930, S. 25–173. 60 Hanns Heinz Ewers: Zum Geleit. In: Langheinrich-Anthos 1930 (Anm. 59), S. 5–21. 61 Ewers 1930 (Anm. 60), S. 8. 62 Ewers 1930 (Anm. 60), S. 13. 63 Helmut H. Diederichs: Der Student von Prag. Einführung und Protokoll. Mit dem Original-Exposé von Hanns Heinz Ewers. Stuttgart 1985. 64 Vgl. Diederichs 1985 (Anm. 63), S. 89. 65 Diederichs 1985 (Anm. 63), ebd. 66 Hanns Heinz Ewers, Leonard Langheinrich-Anthos: Der Student von Prag. Eine Idee von Hanns Heinz Ewers. Kassel 2015 (Filme zum Lesen. 3). 58

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schriftlichen Graphemen auf dem Exposé unterscheidbar.67 Keiner erläutert in seiner Einleitung Ewers’ Engagement für die Kinematographie, anschließend wird die Novelle von Leonard Langheinrich-Anthos wiedergegeben. Der Text folgt der Erstausgabe von 1930, wobei die Textgestalt moderat der neuen Rechtschreibung angepasst wurde und offensichtliche Fehler stillschweigend korrigiert sind. An der Transkription des Filmexposés aus dem Jahr 1913 wurden laut editorischer Notiz keine Anpassungen vorgenommen.68 Zusätzlich gibt es Bildmaterial in Form von Stand- bzw. Szenenfotos aus dem Film Der Student von Prag von 1913. Ein Jahr darauf erschien in der Edition Filmmuseum eine Doppel-DVD mit der restaurierten Fassung des Studenten von Prag in unterschiedlichen Varianten und Laufgeschwindigkeiten sowie u. a. mit dem Ewers’schen Originalskript, dem Programmheft und einem Begleitbuch zu den DVDs, herausgegeben vom Filmmuseum München und dem Goethe-Institut München in Kooperation mit dem ZDF/arte.69 Ewers’ 19-seitiges Skript 70 wird unkommentiert als hochaufgelöstes Digitalisat wiedergegeben. Zwischen dem Exposé und dem realisierten Film existieren zahlreiche Unterschiede. Es gibt u. a. keine Parallelmontage im Film, der Handlungsablauf und die Schauplätze weichen ab, vermutlich um die Produktionskosten zu reduzieren. Bei Ewers sind lediglich elf Inserts vorgesehen, im Film sind es letztlich über 90 (Dialoge, Orts- und Zeitangaben). Vermutlich fügte sie Stellan Rye hinzu, damit der Rezipient/die Rezipientin den Filmplot besser versteht.71 Die DVD stellt somit verschiedene Materialien zusammen, verzichtet allerdings auf eine vergleichende Kommentierung derselben. Als Resümee der verschiedenen Exposé-Editionen des Studenten von Prag ist festzuhalten, dass jede ihren eigenen Schwerpunkt setzt, z. B. auf die Transkription oder auf das Abbilden der Originaldokumente, wobei in keiner alle Informationen zusammenfließen. Erst in der Zusammenschau aller drei Ausgaben erhält der Rezipient/die Rezipientin ein umfassendes Bild des Exposés samt seiner historischen Situierung. Darüber hinaus liegt weiteres Material im Archiv des Düsseldorfer Filmmuseums,72 das nicht ausgewertet wurde, darunter Korrespondenz von Ewers mit dem Rechtsanwalt Hercher (datiert 15.4.1930), aus der Ewers’ Weigerung hervorgeht, den Studenten von Prag als ein Buch niederzuschreiben. Dies übernahm letztlich Leonard Langheinrich-Anthos. Ewers’ Intervention gegen das Erscheinen seines Namens auf dem Bucheinband blieb erfolglos. Er wollte verhindern, dass jemand denke, die Novelle sei von ihm bzw. unter Pseudonym verfasst (vgl. Brief von Langheinrich-Anthos an Ewers, datiert 7.4.1930). Des Weiteren gibt das Nachlassmaterial Auskunft über Bemühungen, den Stoff über zehn Jahre nach Ewers’ Tod nochmals zu verfilmen (vgl. Nachlass von Veit Harlan): Die Witwe Josephine Bumiller-Ewers korrespondiert 1956 bezüglich der Rechtefragen Vgl. Ewers, Langheinrich-Anthos 2015 (Anm. 66), S. 6. Vgl. Ewers, Langheinrich-Anthos 2015 (Anm. 66), S. 5. Die Edition Filmmuseum ist eine gemeinsame DVD-Publikationsreihe von Filmarchiven und kulturellen Institutionen im deutschen Sprachraum. Ziel ist die Verbreitung künstlerisch und historisch relevanter ­Filme in Ausgaben, die sowohl den Möglichkeiten des Mediums DVD als auch den qualitativen Ansprüchen audiovisueller Archive Rechnung tragen. 70 Aufbewahrungsort ist das Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf. 71 Vgl. Keiner 1988 (Anm. 54), S. 25. 72 Ich bedanke mich bei Frank Troschitz aus dem Schriftgut- und Grafikarchiv des Düsseldorfer Film­ museums für die Bereitstellung der Nachlassmaterialien. 67 68 69

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u. a. mit der Allgemeinen Verlags- und Druckerei-Gesellschaft mbH, Abteilung Reimar Hobbing. Unter den Dokumenten im Archiv des Filmmuseums Düsseldorf befindet sich auch ein Drehbuch zum Stoff des Studenten von Prag, das nicht von Ewers verfasst wurde: Er kommentiert den Text allerdings maschinenschriftlich im Dokument und streicht danach die Stellen mit rotem Buntstift an. Dabei achtet er besonders auf Details und angemessenes historisches Kolorit, ordnet syntagmatische Einheiten um und kritisiert z. T. die Erzählreihenfolge. Hinzu kommen zahlreiche dramaturgische Bemerkungen und Änderungsvorschläge, auch kausaler bzw. filmästhetischer und -stilistischer Natur. Durch die Integration von Ewers’ kritischer Rückmeldung in den Skripttext erhält das Schriftstück einen offiziellen Charakter und ist daher vermutlich als Grundlage einer geplanten Neuadaption zu werten.

Desideria im Hinblick auf zukünftige Skripteditionen Nach diesem Streifzug durch verschiedene Arten von Skripteditionen in einem Zeitraum von einem Jahrhundert, einer diachronen Auswertung des Stummfilmverzeichnisses von Lamprecht und des konkreten ‚Fallbeispiels‘ Der Student von Prag wird deutlich, dass die wissenschaftliche Erforschung von Skripten in all ihren Ausarbeitungsformen bzw. -stadien sowie im Kontext ihrer individuell-professionellen Erstellung und filmischen Herstellung nach wie vor ausbaufähig ist. Die Forderung nach transparenten Wiedergabemodi einer Skriptedition, basierend auf nachvollziehbaren Transkriptionsprinzipien, ist als Minimalforderung unantastbar, da sie die darauf aufbauende literatur- und filmwissenschaftliche Interpretation lenkt. Wenn die Textgrundlage beliebig gewählt ist, kann die Analyse nicht auf Reliabilität beruhen, beispielsweise um narratologische Kriterien zu entwickeln und an Drehbüchern zu erproben. Skripte sollten weiterhin zugänglich gemacht werden, doch neben einer verstärkten Sichtbarkeit ist ein Bewusstsein für Authentizität notwendig, um die Texte als wissenschaftliche Untersuchungsgegenstände und gesicherte Grundlagen für die literatur- und filmwissenschaftliche Forschung vollends zu etablieren. Wie es in der Editionswissenschaft längst nicht mehr darum geht, durch kontaminierende Eingriffe den ‚besten‘ Text zu konstituieren, so sollte es auch bei den Skripten darum gehen, einen authentischen Text bereitzustellen – was nicht heißt, dass es zwangsläufig auf eine aufwendige historisch-kritische Ausgabe hinauslaufen muss. Auch das besondere Phänomen des kollaborativen Skriptschreibens wird noch näher zu untersuchen sein. Kaum eine andere Textsorte dürfte über ein solch hohes Maß an genetischen Überarbeitungsstufen verschiedenster Hände verfügen wie ein Filmskript. „Hierbei geht es hauptsächlich um Ausrichtung und Optimierung auf die künftige Inszenierung bzw. die Realisierbarkeit und nicht um die Ästhetisierung des Textes“ 73 – was die Arbeit an einem Drehbuch deutlich von der Produktion einer klassischen Textsorte unterscheidet, da das Skript in erster Linie als pragmatische Arbeitsgrundlage für die Filmrealisierung dient und nicht zum Genusslesen für ein Lesepubli Nühlen 2020 (Anm. 5) S. 279.

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kum gedacht ist – auch wenn es wie erwähnt schon früh verlegerische Intentionen gab, dem durch entsprechend bearbeitete Textausgaben und repräsentatives Bildmaterial entgegenzuwirken. Allerdings ist stets zu differenzieren, inwieweit solche Ausgaben tatsächlich wissenschaftlichen Standards genügen und an welche Leser/innenschaft sie letztlich adressiert sind. Eine Anhebung der Erschließungstiefe zur Erkenntnisgewinnung im arbeitsteiligen und -spezialisierten filmischen Produktionsprozess ist in jedem Fall lohnenswert. Denn auch wenn das Drehbuch nicht mit dem fertigen Film gleichzusetzen ist, da sich das audiovisuelle Produkt schon durch den Medienwechsel von seiner schriftlich fixierten Vorlage unterscheidet, spielt es im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚filmtragende‘ Rolle.

IV. Digitale Filmeditorik

Fabian Etling

Zur konzeptuellen Modellierung kritischer Filmeditionen Eine Annäherung am Beispiel der Varianzen im überlieferten Material zu D. W. Griffiths The Girl and Her Trust

Kritische Filmeditionen stehen in ihrem Funktionsangebot bislang noch hinter den durch historisch-kritische Textausgaben gesetzten Standards zurück. Aus medientechnologischer Perspektive stellt der vorliegende Beitrag die Frage, wie sich die Voraussetzungen zur Erfüllung diesbezüglicher Desiderate schaffen lassen. Der hierzu entwickelte Ansatz wird als elementarer Teilbereich kritischer Editionen exemplarisch für die Erschließung von Varianzphänomenen im überlieferten Material zu D. W. Griffiths The Girl and Her Trust (USA 1912) implementiert. Im Fokus liegt die Beschreibung von editorischen Erkenntnissen im digitalen Datenbestand, welcher die Grundlage für die Herstellung von Publikationen bildet. Hierbei wird deutlich, dass speziell zur formalen Repräsentation der Begriffe des filmeditorischen Diskursuniversums und ihrer Beziehungen ein adäquates Modell fehlt. Für eine Modellierung wird zunächst die Eignung der Standards FRBROO und EN  15907 geprüft, die allerdings für das Beispielszenario als modulare Annäherung an ein ‚konzeptuelles Modell der kritischen Filmedition‘ ergänzt werden müssen. Das Potenzial für die Weiterverarbeitung und Visualisierung der Daten wird abschließend anhand der Realisierung eines prototypischen filmischen Variantenapparats für das Beispielmaterial diskutiert.

1. Einleitung Spätestens seitdem sich die DVD als geeignetes Speicher- und Präsentationsmedium für größere Mengen von Bewegtbilddaten auf dem Markt etabliert hat, wurde mit Überlegungen begonnen, wie sich die für textkritische Editionen1 geltenden Paradigmen auf filmkritische Editionsvorhaben übertragen lassen.2 Die unstrittige Zielvorgabe laute Der Begriff ‚Edition‘ wird hier zunächst, einer allgemein gehaltenen Arbeitsdefinition von Patrick Sahle folgend, im Sinne der „erschließende[n] Wiedergabe historischer [i. e. präexistenter] Dokumente“ verwendet; Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil  2: Befunde, Theorie und Methodik. Norderstedt 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik. 8), S. 138. 2 Vom 21. bis 23. Oktober 2002 fand an der Universität Trier die mutmaßlich erste internationale Konferenz zu diesem Themenkomplex unter dem Titel Celluloid Goes Digital. Historical-Critical Editions of Films on DVD and the Internet statt; s. Celluloid Goes Digital. Historical-Critical Editions of Films on DVD and the Internet. Proceedings of the First International Trier Conference on Film and New Media, October 2002. Hrsg. von Martin Loiperdinger. Trier 2003. An der Universität der Künste in Berlin lief zu dieser Zeit zudem bereits unter der Leitung von Enno Patalas das Forschungsprojekt DVD als Medium kritischer Filmeditionen (2001–2005), aus welchem u. a. die DVD-Edition Studienfassung Metropolis (vgl. auch Anm. 9) resultierte; s. https://www.udk-berlin.de/universitaet/fakultaet-gestaltung/institute/institutfuer-zeitbasierte-medien/filminstitut/dvd-als-medium-kritischer-filmeditionen (gesehen 9.10.2019). 1

https://doi.org/10.1515/9783110684605-012

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te von vornherein, dass die wissenschaftliche Integrität kritischer Filmeditionen den Ansprüchen an historisch-kritische Ausgaben von Texten in nichts nachstehen darf.3 Auch wenn wichtige Aspekte der filmischen Materialität und des ephemeren Ereignisses einer Projektion des Filmmaterials nicht wiedergegeben werden können, so bieten die DVD und Folgetechnologien im Bereich der optischen Datenspeicher sowie webbasierte Anwendungen dennoch erstmals das Potenzial, die diversen Facetten historisch-kritischer Textausgaben für die kritische Edition von Filmwerken umzusetzen.4 Umso verwunderlicher erscheint es, dass Ausgabeprodukte5 kritischer Filmeditionsprojekte zwar zunehmend mehrere abspielbare Fassungen, zumeist jedoch lediglich Aggregationen von Begleitmaterialien anbieten und damit hinter den für die Edition von Texten etablierten Standards zurückbleiben, wie Anna Bohn 2013 feststellt: In der Filmedition gibt es bislang keine den historisch-kritischen Texteditionen vergleichbare Editionen, die den überaus hohen wissenschaftlichen Ansprüchen dieser Editionsform genügen könnten, das gilt insbesondere für die vollständige Dokumentation der Überlieferung oder für die Verzeichnung sämtlicher Varianten und Fassungen eines Films.6

An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert. Auch wenn dies im Einzelfall vielfältige Gründe haben mag, so wird dennoch schon allein aus technischer Perspektive das Potenzial weder von aktuellen Speichermedien (wie z. B. des in Bezug auf Programmierbarkeit und Speicherkapazität gegenüber der DVD noch weitaus leistungsfähigeren Blu-ray-Standards)7 noch von Webanwendungen8 ausgeschöpft, um den Ansprüchen gerecht zu werden. In den vergangenen Jahren wurden von theoretischer Seite einige Vorschläge und offene Desiderate für Ausgabeprodukte kritischer Filmeditionsprojekte formuliert, die allerdings nur in Bruchteilen eine Umsetzung in publizierten Editionen finden.9 So er Vgl. Kurt Gärtner: Philological Requirements for Digital Historical-Critical Text Editions and Their ­Application to Critical Editions of Films. In: Celluloid Goes Digital 2003 (Anm. 2), S. 49–54, hier S. 49 f. 4 Vgl. Gärtner 2003 (Anm. 3), S. 54. 5 Der Begriff ‚Ausgabeprodukt‘ bezeichnet in diesem Beitrag Erzeugnisse, in welche (Teil-)Ergebnisse editorischen Handelns (im Folgenden auch allgemein als ‚Daten‘ bezeichnet) überführt werden. Dies impliziert die Aufbereitung der Daten für die Distribution in einem bestimmten ‚Ausgabemedium‘ (z. B. Druckerzeugnis, elektronische Publikation, Bereitstellung von Informationen über eine Datenschnittstelle etc. – in jeweils beliebig spezifischer Ausprägung) und in einem bestimmtem ‚Ausgabemodus‘ (d. h. Umfang sowie Art und Weise; z. B. als ‚Leseausgabe‘, ‚Studienausgabe‘, ‚Historisch-kritische Ausgabe‘ etc. – wobei über Spezifika dieser Modi hier keine Aussage getroffen wird). Der Begriff schließt immer auch die Annahme ein, dass die Daten i. d. R. in mehrere Ausgabeprodukte überführt werden können, die sich hinsichtlich Ausgabemedium und/oder Ausgabemodus unterscheiden. 6 Anna Bohn: Denkmal Film. Bd. 2: Kulturlexikon Filmerbe. Wien u. a. 2013, S. 350. 7 Ein detaillierter Vergleich der beiden Technologien findet sich beispielsweise bei Ulrich Schmidt: Professionelle Videotechnik. Grundlagen, Filmtechnik, Fernsehtechnik, Geräte- und Studiotechnik in SD, HD, DI, 3D. Berlin, Heidelberg 2009, S. 612–618. 8 Unter dem Begriff ‚Webanwendung‘ werden hier ganz allgemein internetbasierte Anwendungen mit Client-Server-Architektur zusammengefasst. 9 Als Beispiele für Filmeditionen, die mit bestimmten Facetten in die Nähe des Anforderungsprofils kommen, können die DVD-Edition Studienfassung Metropolis (dort: Nutzung der technischen Möglichkeiten des DVD-Standards für die ‚hypertextuelle‘ Verknüpfung von ediertem Film, kritischem Kommentar und Zusatzmaterialien), Veröffentlichungen aus der Reihe der Hyperkino-Editionen wie z. B. Engineer Prite’s Project (dort: u. a. Erschließung durch hypertextuelle Kommentierung) sowie einige Veröffentlichungen aus der Reihe Edition Filmmuseum wie z. B. Berlin, die Sinfonie der Großstadt & Melodie der Welt (dort: u. a. Gegenüberstellung der Abtastungen von unrestauriertem Material über einen Vierfach-Splitscreen – 3

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örtern beispielsweise Natascha Drubek-Meyer und Nikolai Izvolov ein Schema für den Aufbau von ‚textus‘ und ‚apparatus‘ wissenschaftlicher Filmeditionen und diskutieren eine hypertextuelle Realisierung auf dem Medium DVD.10 Ursula von Keitz skizziert an einem konkreten Fallbeispiel den Bedarf an unterschiedlichen Ausgabemodi für Filmeditionen sowie die Anforderungen an deren jeweilige Funktionalität, mit dem Plädoyer für eine Abkehr von der durch Bonusmaterial ergänzten linearen Projektion hin zu einer hypertextuellen, nach individuellen Präferenzen rezipierbaren Organisation der Materialien.11 In ihrem Kulturlexikon Filmerbe bestimmt Anna Bohn die wesentlichen Bestandteile von wissenschaftlichen Filmeditionen.12 Bohn fordert darüber hinaus grundsätzlich die produktive Nutzung von Konvergenzen bei der Verarbeitung von Daten unterschiedlicher Medientypen im medialen Substrat des Digitalen für die Weiterentwicklung der interdisziplinär orientierten Editionswissenschaft im Bereich der ‚digitalen multimedialen Edition‘.13 Unter diesen Begriff fallen im Prinzip auch Editionen von Bewegtbilddokumenten, die in aller Regel durch kontextualisierendes Bild- und Textmaterial ergänzt werden.

2. The Girl and Her Trust – Montagefehler in D. W. Griffiths Biograph Shorts? Als begleitendes Beispiel für die technischen Überlegungen in diesem Artikel soll die US-amerikanische Produktion The Girl and Her Trust dienen, entstanden 1912 unter der Regie von David Wark Griffith (1875–1948).14 Anfang des Jahres 1912 produziert, fällt The Girl and Her Trust in die Spätphase von D. W. Griffiths Arbeit für die Biograph Company (1908–1913).15 Mit knapp 1000 ft Länge handelt es sich, wie bei



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allerdings fix synchronisiert und nur über die Abspielgeschwindigkeit des DVD-Players steuerbar) aufgeführt werden. Siehe Metropolis. DVD-Studienfassung. Hrsg. von der Universität der Künste, Institut für zeitbasierte Medien. Redaktion: Anna Bohn, Enno Patalas. Berlin 2005; Engineer Prite’s Project. DVD Ruscico. Moskau 2012; Berlin, die Sinfonie der Großstadt & Melodie der Welt. DVD. Hrsg. vom Filmmuseum München, Arte, Bundesarchiv-Filmarchiv und Goethe-Institut. 2016 (Edition Filmmuseum. 39). Natascha Drubek-Meyer, Nikolai Ivzolov: Textkritische Editionen von Filmen auf DVD. Ein Diskussions­ beitrag. In: Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 16, 2007, H. 2, S. 183–199. Ursula von Keitz: Historisch-kritische Filmedition. Ein interdisziplinäres Szenario. In: editio 27, 2013, S. 15–37. Dies sind, zusammengefasst, die Verfügbarmachung der Filmwerke in zuverlässiger Gestalt (z. B. als den Überlieferungsträgern treue Fassungen oder als synthetische Rekonstruktion einer idealtypischen Fassung), die Beschreibung der Überlieferungsträger und der Werkgenese, die kritische Darstellung der Varianten, Berichte über Restaurierungsprozesse, die Begründung der editorischen Entscheidungen sowie die Dokumentation weiterer Quellen aus dem Produktionszeitraum des Films. Vgl. Bohn 2013 (Anm. 6), S. 348 f. Anna Bohn: Multimediale Edition. In: Filmedition & Filmvermittlung [Weblog], veröffentlicht am 10.1.2016. URL: https://filmeditio.hypotheses.org/515 (gesehen 9.10.2019). Die Erstveröffentlichung des Films in den USA erfolgte am 28.  März 1912; vgl. Biograph Bulletins 1908–1912. Hrsg. von Eileen Bowser. New York 1973, S.  390. 1915 wurde The Girl and Her Trust durch die Biograph Company erneut veröffentlicht; vgl. Cooper C. Graham u. a.: D. W. Griffith and the Biograph Company. Metuchen / NJ, London 1985, S. 139. Inwieweit dies für die nachfolgend diskutierten Varianzphänomene eine Rolle spielt, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geklärt werden, ist für die technischen Betrachtungen allerdings auch nicht von Bedeutung. Die US-amerikanische Filmproduktionsgesellschaft Biograph, zeitweise auch American Mutoscope and Biograph Company, bestand von 1885 bis 1916; vgl. Gene Fernett: American Film Studios: An Historical Encyclopedia. Jefferson/NC 1988, S. 8–12.

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nahezu allen Biograph-Produktionen dieser Zeit, um einen sog. ‚one-reeler‘ mit einer Laufzeit von ca. 15 Minuten.16 Griffith drehte mit dem Film ein Remake seines eigenen Werks The Lonedale Oper­ ator von 1911, dessen Handlung er in The Girl and Her Trust nuancierter ausgestaltete und mit einem noch spannungsreicheren Ende ausstattete. Bemerkenswert an The Girl and Her Trust sind neben der hohen Menge an Einstellungen insbesondere die intensiv genutzte Parallelmontage sowie eine Sequenz von Close-Up-Einstellungen.17 Das Werk ist damit eines der herausragenden Beispiele für die von Griffith bereits versiert eingesetzten filmischen Erzähltechniken, was sich auch in der äußerst positiven Einschätzung durch das zeitgenössische Publikum widerspiegelt.18 Die Handlung entwickelt sich um die Telegrafistin Grace und den Stationsvorsteher Jack, die beide ihrer Arbeit in einer Bahnstation nachgehen. Nachdem eine Geldsendung per Zug eingetroffen ist, wird diese in einer Truhe verstaut und der Schlüssel in Graces Obhut gegeben. Mit an Bord befinden sich allerdings auch zwei blinde Passagiere, die es auf das Geld abgesehen haben. Als Jack die Station für Besorgungen verlässt, nutzen die ‚Tramps‘ die Gelegenheit und versuchen an den Schlüssel zu gelangen, mit dem sich Grace im Telegrafenraum verschanzt hat. Es gelingt ihr, einen Hilferuf abzusetzen und die Tür gegen die Eindringlinge zu verteidigen, worauf diese sich entscheiden, die Truhe samt der darin eingeschlossenen Beute zu stehlen. Grace wiederum ist nun daran gelegen, die Tramps davon abzuhalten, mit dem ihr anvertrauten Geld zu verschwinden. Ihr Versuch, die Diebe zu stoppen, scheitert – die beiden sind ihr körperlich überlegen, kidnappen sie und ergreifen mit einer Draisine die Flucht. Der gerade zurückkehrende Jack beobachtet dies aus der Ferne und schließt sich der Besatzung einer zur Hilfe eilenden Lokomotive an, worauf eine Verfolgungsjagd auf den Gleisen den Showdown einleitet.19 Wie zahlreiche überlieferte Biograph-Filme aus dieser Zeit findet sich auch The Girl and Her Trust z. B. auf DVD-Kompilationen, die sich entweder der Person D. W. Griffith selbst oder der Entwicklung der Kunstform Film in der frühen Phase der Stummfilmära widmen, sowie auf diversen Videoplattformen im World Wide Web (WWW) wieder.20 Interessiert man sich heute für das Schaffen des einflussreichen Regisseurs während seiner Zeit bei der Biograph Company, so wird, unabhängig von der konkreten Interessenlage und dem wissenschaftlichen Anspruch der Recherche, u. U. ein erster Schritt die Sichtung der filmischen Werke in einer dieser Publikationen sein. Ein Abgleich dieser Quellen zeigt, dass die Reproduktionen des Films – beurteilt am digitalen Bild – sich in Länge, Einstellungsfolge, sichtbarem Bildausschnitt und Im Fachblatt Motography wird die Länge der 1912 in den USA veröffentlichten Filmfassung mit 998 ft angegeben. Vgl. Motography 7, No. 4, April 1912, S. 191. Die hier angegebene Laufzeit entspricht einer Projektionsgeschwindigkeit von ca. 18 Bildern/Sekunde. 17 Vgl. auch Kemp Niver: The First Twenty Years. A Segment of Film History. Hrsg. von Bebe Bergsten. Los Angeles 1968, S. 154. 18 Vgl. Kommentar zu The Girl and Her Trust in: Moving Picture World 12, No. 2, 13. April 1912, S. 136. 19 Eine ausführliche filmwissenschaftliche Einordnung und Analyse des Werks findet sich in: The Griffith Project. Hrsg. von Paolo Cherchi Usai. Bd. 6: Films produced in 1912. London 2002, S. 18–21. 20 Vgl. Internet Archive unter https://archive.org/details/TheGirlAndHerTrust (gesehen 9.10.2019) sowie diverse Uploads auf Videoplattformen wie Youtube, Dailymotion etc. Bezüglich einer DVD-Publikation s. Anm. 23. 16

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Abspielgeschwindigkeit gleichen. Zudem finden sich Verschleißerscheinungen und Defekte jeweils an identischer Position im Filmmaterial wieder. Abweichungen lassen sich lediglich bezüglich Bildkontrast, kompressionsbedingter Qualitätsschwankungen sowie teilweise der Länge von Schwarzfilm zu Beginn und Ende des digitalen Videomaterials feststellen.21 Für die weiteren Betrachtungen soll diese ‚Fassung‘22 von The Girl and Her Trust als Referenzfassung dienen. In der für diese hier stellvertretend zitierten DVD-Publikation23 ist als Quelle der verwendeten Filmmaterialien die Blackhawk Films Collection24 angegeben – sie sei im Folgenden als ‚Blackhawk-Fassung‘ bezeichnet. Einstellungssegmente werden gemäß ihrer in dieser Fassung vorgefundenen Reihenfolge nummeriert. Sieht man diese Fassung des Films aufmerksam an, so ist eine Unstimmigkeit in der Kontinuität der Handlung festzustellen, die aufgrund der vergleichsweise hohen Menge an Einstellungen und der von Griffith hier ausgiebig eingesetzten Parallelmontage unterschiedlicher Handlungsorte nicht unmittelbar als störend wahrgenommen wird. Doch insbesondere mit Kenntnis des gesamten Films ist an Kameraeinstellung und handelnden Figuren sowie anhand des Vergleichs einzelner Bildkader, unterstützt durch Videobearbeitungssoftware, festzumachen, dass ein Segment einer Einstellung aus dem zweiten Filmdrittel sich augenscheinlich komplett zusammenhanglos an wesentlich früherer Stelle im Film wiederfindet. Abbildung  1 skizziert diese Unstimmigkeit in der Schnittfolge. Gegen Ende des ­ersten Filmdrittels zeigt Einstellung E45 vier hektisch diskutierende Männer, von welchen zwei eine bereitstehende Lokomotive besteigen. Erst zu Beginn des letzten Die in diesen Reproduktionen i. d. R. vorhandenen Tonspuren werden für die Untersuchungen im Rahmen dieses Beitrags nicht berücksichtigt. 22 Die Verwendung des Begriffs ‚Fassung‘ greift hier vorerst die strenge Definition von Siegfried Scheibe auf, die jedoch von einer Autorisierung entkoppelt und für beliebige ‚Differenzierungsmerkmale‘ unter Berücksichtigung von deren Anordnung in einem konkreten oder hypothetischen Dokument erweitert wird. Zudem wird erlaubt, die zur Unterscheidung von Fassungen als relevant erachteten Merkmale frei zu bestimmen: Fassungen heißen vollendete oder nicht vollendete Ausführungen eines Werkes, die in der Ausprägung und/oder der Anordnung der für einen Vergleich als relevant bestimmten Merkmale von­ einander abweichen. Ausführungen von Werken sind durch Äquivalenz dieser Merkmale aufeinander beziehbar und durch deren Varianz voneinander unterscheidbar. Vgl. die Definition bei Siegfried Scheibe: Editorische Grundmodelle. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 23–48, hier S. 25. Für eine definierte Menge an Merkmalskategorien sind Fassungen eines Werks somit eindeutig bestimmbar (bezüglich einer Formalisierung s. u., Abschnitte 6 und 7). Der Frage nach der Bestimmung des Werkbegriffs kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. 23 Verwendet wurde hier die DVD D. W. Griffith. Years of Discovery: 1909–1913. Volume One. DVD Film Preservation Associates, Inc. (Produced for DVD by David Shepard. From the Blackhawk Films® Collection. Presented by Flicker Alley.) 2002. 24 Blackhawk Films wurde 1927 als Filmproduktions- und -vertriebsunternehmen gegründet. Ab Ende der 1940er Jahre begann das Unternehmen den Handel mit gebrauchten Filmen und der Vermarktung von 16 mm- und 8 mm-Reproduktionen. Die Blackhawk Films Collection ist derzeit Teil des Academy Film Archive der Academy of Motion Picture Arts and Sciences; vgl. https://www.oscars.org/film-archive/ collections/blackhawk-films-film-preservation-associates-collection (gesehen 9.10.2019). – Es kann davon ausgegangen werden, dass das Material aller bis hierher aufgeführten Quellen aus der Blackhawk Films Collection stammt. Ein Indiz dafür ist u. a. ein im Harvard Film Archive vorliegender 16-mm-Print mit Blackhawk-Firmenlabel im Vorspann, der die gleiche Einstellungsfolge zeigt; vgl. Harvard Film Archiv. HFA Item no. 2170. 16 mm Acetat-Positiv, Länge: 389 ft; gesichtet am 29.3.2018. 21

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Filmdrittels sind in Einstellung E93 diese beiden Männer vor der Lokomotive stehend wiederzusehen: Hier wird ihnen durch zwei hinzueilende Personen ein Papier überreicht, welches sie anschauen. Der darauf folgende Zwischentitel (E94) enthält den Text „WITH RIGHT OVER ALL TRAINS.“ Im Anschluss sind die vier Personen in der auffallend kurzen Einstellung E95 aufgeregt diskutierend vor der Lokomotive stehend zu sehen. E96 zeigt schließlich – nun in veränderter Kameraeinstellung – eine startende Lokomotive.

Abb. 1: Vorgefundene Positionen der Einstellungssegmente in der ‚Blackhawk-Fassung‘.25 Das zusammenhanglos gegen Ende des ersten Filmdrittels positionierte Segment E45 setzt die wesentlich später folgende Einstellung E95 nahtlos fort.

Betrachtet man die Einstellungen E95 und E45 isoliert und in dieser Reihenfolge unmittelbar aneinandergesetzt, so gewinnt man den Eindruck, dass im Anschluss kein einziger Bildkader fehlt, und es erhärtet sich – auch unter Vernachlässigung der sich im Rückblick schon allein durch eine inhaltliche Interpretation ergebenden Argumente – die Vermutung, dass es sich in einem früheren Stadium des Produktionsprozesses bei E95 und E45 um ein zusammenhängendes Segment gehandelt haben könnte. Anhaltspunkte, die eine absichtliche Versetzung des Segments E45 plausibel machen würden – wie etwaige Vor- oder Rückblenden –, existieren an keiner Stelle im Film. Auch für die in E45 abgebildeten Figuren sowie den diegetischen Raum existieren bis dato noch keinerlei syntagmatische Anknüpfungspunkte. Das wirft aus editionswissenschaftlicher Perspektive Fragen auf: Handelt es sich bei diesem in den digitalen Reproduktionen vervielfältigten Phänomen um einen historischen Montagefehler? Resultiert der ‚Fehler‘ aus einem Restaurierungsprozess, und sollte die Stelle daher im Rahmen einer Edition emendiert werden? Für die kritische Auseinandersetzung mit der Stelle sowie die Ausweitung der Datenlage für ein exemplarisches Editionsszenario soll nun zunächst die Überlieferungslage etwas genauer betrachtet werden.

Standbilder und Timecodes aus DVD D. W. Griffith. Years of Discovery 2002 (Anm. 23).

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3. Zur Überlieferungslage von The Girl and Her Trust Die Überlieferungssituation von Materialien aus dieser Phase der Stummfilmära ist u. a. dem Umstand zu verdanken, dass erst ab August 1912 Filmwerke im US-amerikanischen ‚copyright law‘ berücksichtigt wurden. Zuvor wählte man – gewissermaßen als Workaround – die Anmeldung der Werke als Fotografie, wofür man Kopien des Filmmaterials auf lichtempfindlichem Papier anfertigte, was bei Biograph als gängige Praxis für die kompletten Filmrollen durchgeführt wurde.26 Diese sog. ‚Paper Prints‘ wurden an der Library of Congress in Washington, D. C. registriert und gerieten, dort eingelagert, über die Jahre in Vergessenheit. Erst Anfang der 1940er Jahre, nachdem die auf dem chemisch instabilen und leicht entflammbaren Trägermaterial aus Cellulosenitrat vorliegenden Bestände früher Filmwerke sich in immer größerem Umfang selbst zu zersetzen begannen – wenn sie nicht aus Sicherheitsgründen oder zur Materialrückgewinnung bereits gezielt vernichtet worden waren –, erkannte man die historische Bedeutung der Papierkopien und beschloss ein Restaurierungsprogramm, das zu Beginn der 1950er Jahre gestartet wurde und über ein Jahrzehnt in Anspruch nahm.27 Die Papierkopien wurden hierbei mit einem modifizierten Optischen Printer Bildkader für Bildkader abfotografiert und auf 16 mm-Sicherheitsfilm umkopiert.28 Der Eintrag für die Registrierung des Paper Print zu The Girl and Her Trust an der Library of Congress ist mit dem 28. März 1912 auf exakt den Tag datiert, an dem auch der Film in den USA veröffentlicht wurde.29 1939 gingen im Zuge der Auflösung des Filmlagers der Biograph Company alle dort vorliegenden Filmmaterialien in den Besitz des Museum of Modern Art (MoMA) in New York City über – darunter auch ein 35 mm Nitrat-Negativ zu The Girl and Her Trust.30 Das Biograph-Material wurde am MoMA 1944 auf Sicherheitsfilm umkopiert, Maßnahmen zur Restaurierung begannen jedoch erst in den 1970er Jahren.31 Vgl. Kemp Niver: Early Motion Pictures. The Paper Print Collection in the Library of Congress. Hrsg. von Bebe Bergsten. Washington/DC 1985, S. x, und Graham u. a. 1985 (Anm. 14), S. 6. 27 Vgl. Patrick George Loughney: A descriptive analysis of the Library of Congress Paper Print Collection and related copyright materials. Ann Arbor/MI 1988, S. 17 f., und Niver 1968 (Anm. 17), S. 3. 28 Zur Beschreibung der technischen Vorgehensweise sowie der Probleme im Restaurierungsprozess s. Carl Louis Gregory: Ressurection of Early Motion Pictures. In: Journal of the Society of Motion Picture ­Engineers 42, 1944, No. 3, S. 159–169, und Kemp Niver: From Film to Paper to Film. In: The Quarterly Journal of the Library of Congress 21, 1964, No. 4, S. 248–264. – Der 1912 an der Library of Congress eingelagerte, originale Paper Print zu The Girl and Her Trust wird am Packard Campus for Audio-Visual Conservation in Culpeper, Virginia aufbewahrt. Abgesehen von der Auskunft, dass das Material nicht transportfähig ist, konnten im Rahmen dieser Untersuchungen noch keine weiteren Informationen über den Zustand des Objekts in Erfahrung gebracht werden. Für die nachfolgenden technischen Überlegungen ist dessen Berücksichtigung allerdings auch nicht von Bedeutung. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die von Biograph angefertigten Paper Prints geklebte Verbindungsstellen hatten, die sich bei der Aufbereitung des Materials für den Kopierprozess im Zuge der Restaurierung auflösten, so dass diese auseinandergenommen werden mussten – was u. U. einen Ansatz zur Erklärung der im Folgenden geschilderten Phänomene darstellen könnte; vgl. dazu Anthony Slide: Nitrate Won’t Wait. A History of Film Preservation in the United States. Jefferson/NC 2000, S. 66. 29 Vgl. Niver 1985 (Anm. 26), S. 119. 30 Vgl. Loughney 1988 (Anm. 27), S. 43. 31 Der Restaurierungsprozess ist allerdings nach Auskunft des Personals des MoMA Film Study Center noch nicht abgeschlossen (Stand: 27. März 2018), so dass sich in der Sichtungskopie des restaurierten Biograph-Negativs aktuell immer noch ‚provisorische‘ Zwischentitel befinden (Gespräch des Verfassers 26

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Vergleicht man die an der Library of Congress restaurierte Fassung des Paper Print32 und die MoMA-Restaurierung des Biograph-Negativs33 im Hinblick auf die in der Blackhawk-Fassung vorgefundene Einstellungsfolge, so lassen sich einige Abweichungen feststellen (s. auch Abbildung 2): Zur Restaurierung des Paper Print (PP): –– Das Pendant zum in der Blackhawk-Fassung (BF) als Einstellung E45BF bezeichneten Segment E45PP befindet sich in der Restaurierung des Paper Print an der schlüssigeren Position zwischen den Einstellungen E95PP und E96PP.34 –– An Position 45 des Paper Print existiert eine zusätzliche Einstellung E45'PP , die dort diegetisch sinnvoll erscheint und in der Blackhawk-Fassung (sowie auch in der Restaurierung des Biograph-Negativs) nicht vorhanden ist. –– Es liegen allerdings an anderer Stelle im Paper Print offensichtliche Continuity-Fehler vor, die in der Blackhawk-Fassung nicht vorhanden sind. So erzeugen insbesondere die ‚vertauschten‘ Einstellungen E6 und E16 im ersten Drittel eine logische Inkonsistenz im Handlungsverlauf. –– Das Ende des Paper Print weist z. T. starke Beschädigungen auf. Betroffen sind die letzten 20 Einstellungen (ca. 194 ft), wovon der hintere Teil komplett verloren ist (ca. 46 ft).35 –– Es liegen Abweichungen in der Positionierung von Zwischentiteln vor.36 Zur Restaurierung des Biograph-Negativs (BN): –– Bzgl. der Einstellung E45BN liegt die gleiche Unstimmigkeit vor, wie sie für die Blackhawk-Fassung in Abbildung 1 skizziert wurde. Auch sonst deckt sich die Einstellungsfolge mit derjenigen in der Blackhawk-Fassung. –– Die Zwischentitel sind teilweise umpositioniert und/oder rekonstruiert.



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mit Ashley Swinnerton, MoMA Film Study Center, Department of Film, am 27. März 2018). Zum Restaurierungsprozess durch das MoMA, insbesondere in Bezug auf die Rekonstruktion von Zwischentiteln, vgl. die Anmerkungen zur Restaurierung von The Lonedale Operator unter der folgenden URL: https://www.filmpreservation.org/preserved-films/screening-room/the-lonedale-operator-1911 (gesehen 4.9.2019). Library of Congress, Paper Print Collection. Archivsignatur: FLA 5405. 16 mm Acetat-Positiv, Länge: 369 ft; gesichtet am 19.3.2018. Museum of Modern Art, Department of Film, Sichtungskopie zum Stand der Restaurierung des Biograph-Negativmaterials zu The Girl and Her Trust, 35 mm Acetat-Positiv, Länge: 967 ft; wie gesehen am 27.3.2018. Die Nummerierung der Einstellungssegmente für die verschiedenen Filmfassungen bezieht sich immer auf die Bezeichnung der als äquivalent identifizierten Einstellung in der Referenzfassung. Um die Zugehörigkeit eines Einstellungssegments zu einer bestimmten Fassung explizit kenntlich zu machen, wird ein Fassungskürzel als Index angehängt. Bsp.: E45X sei ein Einstellungssegment aus der Fassung ‚X‘, welches als äquivalent mit dem Einstellungssegment E45BF an Position 45 der Blackhawk-Fassung erkannt wurde. Über die Position von E45X in der Einstellungsfolge von Fassung X wird dabei keine Aussage getroffen. Diese (sowie die übrigen aufgeführten) Messwerte wurden, sofern nicht anders gekennzeichnet, durch den Verfasser über das Zählwerk der jeweiligen Sichtungsgeräte bzw. anhand der durch die Institutionen zur Verfügung gestellten Digitalisate ermittelt. Für die folgenden technischen Überlegungen im Rahmen dieses Beitrags wird die Betrachtung der Zwischentitel ausgeklammert, es finden nur Einstellungen mit ‚abbildender Funktion‘ Berücksichtigung.

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Abb. 2: Abfolge der von Varianzphänomenen betroffenen Einstellungssegmente mit ‚abbildender Funktion‘ in den verschiedenen Fassungen im Vergleich.

Vergleicht man für diese drei Fassungen ungeachtet ihrer Positionen in der Einstellungsfolge die Längen derjenigen Einstellungen, welche auf Basis des Bildmaterials als äquivalent identifiziert werden können, so stellt sich heraus, dass Längenabweichungen vorhanden, aber gering sind und diese zumeist nur wenige Bildkader betreffen.37 Zahlreiche positionsgleiche Materialdefekte (z. B. umkopierte Verunreinigungen, Beschädigungen der Emulsion in Negativ- und/oder Positivmaterial) liefern Indizien dafür, dass eine gemeinsame Vorlage als Ursprungsmaterial dieser drei Fassungen vorgelegen haben muss.38

4. Vorüberlegungen zu einem Editionsszenario Gegenstand der weiteren Betrachtungen soll es nun nicht sein, die Überlieferungssituation und die Abweichungen in den Fassungen des oben eingeführten Beispiels exakt aufzuklären, sondern vielmehr einen Ansatz zu entwickeln, mit welchem sich die skizzierten Befunde technisch nachhaltig beschreiben lassen, so dass diese Daten im Anschluss für die Erzeugung von editorischen Ausgabeprodukten eingesetzt werden können sowie die Möglichkeit einer Nachnutzung für zukünftige Untersuchungen gewährleistet ist. Das Beispiel bleibt daher (weitestgehend) auf die vorgestellten Materialien begrenzt, und es werden lediglich die bisher diskutierten Abstammungsverhältnisse und Varianzen berücksichtigt. Als Konsequenz aus der Forderung nach Orientierung an den für historisch-kritische Textausgaben etablierten Standards muss deren vollumfängliches Leistungsspektrum als Maßstab prinzipiell auch für filmkritische Editionsvorhaben angesetzt werden.39 Im Für den direkten Vergleich der Restaurierungen von Paper Print und Biograph-Negativ treten z. B. für 68 der 124 als äquivalent identifizierbaren Einstellungen Abweichungen auf. Die Abweichungen liegen mit Ausnahme von zwei Einstellungen im Bereich von nur 1 bis 24 Bildkadern mit durchschnittlich 4,2 Bildkadern/Längenabweichung (bei einem Modalwert von 1 Bildkader/Längenabweichung und einem ­Median x0,5 von 2 Bildkadern/Längenabweichung). 38 Vgl. Paolo Cherchi Usai, Piera Patat: Tavola rotonda sul progetto Griffith/The Griffith Project: A Round Table. In: Griffithiana 62–63, 1998, S. 4–37, hier S. 31; hier äußern und begründen die US-amerikanischen Filmwissenschaftler Tom Gunning und Russell Merritt ebenfalls die Vermutung, dass Biograph zu dieser Zeit alle zur Vorführung in den Umlauf gebrachten Kopien aus einem einzigen Master-Negativ herstellte. 39 Bezüglich einer Zusammenstellung elementarer Bestandteile historisch-kritischer Texteditionen vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft: Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 3., ergänzte und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2013, S. 14 f. Bei Bohn 2013 (Anm. 6), S. 347–349, wird deren Adaption für die kritische Filmedition erörtert (vgl. auch Anm. 12). 37

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Rahmen dieses Beitrags wird der Fokus für ein ‚Editionsszenario‘ in Bezug auf das Beispielmaterial jedoch exemplarisch auf die Erschließung der einzelnen Überlieferungsträger bzw. Fassungen mit dem Ziel einer vergleichenden Analyse der Einstellungssegmente und Bildkader beschränkt. Die erschlossenen Daten sollen als Grundlage für eine Gegenüberstellung der Digitalisate in Kombination mit einem filmischen Variantenapparat in Ausgabeprodukten genutzt werden können. Damit bleiben hier diverse für eine ‚vollwertige‘ kritische Edition relevante Aspekte unbeachtet, wie z. B. die Berücksichtigung der Materialität der Zeugen oder die Dokumentation weiterer Quellen. In den nachfolgenden Ausführungen wird allerdings deutlich gemacht, wie derartige Informationen ebenfalls in den Datenbestand eingebracht und verwertet werden können. Der technische Ansatz soll dementsprechend generisch angelegt und für das gesamte Leistungsspektrum kritischer Editionen modular erweiterbar sein. Unter der Prämisse, dass digitale Speichermedien konstitutiv für die Realisierung filmkritischer Editionsprojekte sind, sowie mit Blick auf die in Abschnitt 1 aufgeführten Anforderungen an die Ausgabeprodukte muss das Ziel notwendigerweise eine ‚digitale Edition‘ sein. Diese folgt, im Sinne der Annäherung an eine Begriffsbestimmung durch Patrick Sahle, idealerweise dem in ihrer technologischen und medialen Umgebung begründeten ‚digitalen Paradigma‘, als dessen vorrangiges Charakteristikum Sahle den Wandel von der „edition as a media product“ hin zur „edition as a modelled information resource that can be presented in media but is about the abstract representation of knowledge in the first place“ benennt.40 Als Kernaspekt impliziert dies für die folgenden Überlegungen also die Orientierung weg von den Präsentationsformen in spezifischen Medien hin zu den Daten und ihrer konzeptuellen Modellierung.41 Wie Kurt Gärtner in seinen Betrachtungen zur Übertragung philologischer Anforderungen auf kritische Filmeditionen zusammenfassend feststellt, sind die technischen Möglichkeiten für deren Umsetzung zwar grundsätzlich gegeben, jedoch weist er auf zwei Punkte hin, denen besondere Beachtung zu schenken ist. Zum einen führt er als allgemeine Grundvoraussetzung digitaler Editionen die Notwendigkeit einer Datenkodierung an, welche es erlaubt, den jeweils untersuchten Gegenstand adäquat mit den über diesen getroffenen Aussagen zu annotieren. Zum anderen unterstreicht er den Bedarf an einer „kritischen Terminologie“ mit Berücksichtigung „cinematographischer Codes“, wie z. B. Einstellungsparametern oder Aspekten der Montage, als Äquivalent und Ergänzung von Terminologien für textkritische Phänomene.42 Die von Sahle herausgestellten Implikationen des Medienwandels aufgreifend, könnte eine solche Terminologie als möglicher Ausgangspunkt für eine konzeptuelle Modellierung der kritischen Filmedition dienen. Diese beiden Punkte werden nun in Bezug auf das Beispielszenario im Detail betrachtet.

Patrick Sahle: What is a Scholarly Digital Edition? In: Digital Scholarly Editing: Theorie and Practices. Hrsg. von Matthew James Driscoll und Elena Pierazzo. Cambridge/UK 2016, S. 19–39, hier S. 32. 41 Im Folgenden wird ‚Edition‘, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer synonym zu ‚digitale Edition‘ verwendet. 42 Gärtner 2003 (Anm. 3), S. 54. 40

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5. Technische Konzeption Dem digitalen Paradigma folgend ist eine Trennung der Datenebene und der Präsentationsebene anzustreben. Eine von ihrer Präsentation entkoppelte Kodierung begünstigt die Nutzung der Daten als Quelle für multiple Publikations- und Weiterverarbeitungsprozesse. Dieses als ‚Single Source Publishing‘ bezeichnete Prinzip erfordert im Anschluss zwar eine spezifische Aufbereitung der Daten für deren Darstellung entsprechend den jeweiligen Ausgabemodi und -medien, bei Änderung der Parameter eines Ausgabeszenarios müssen zur Aktualisierung des Ausgabeprodukts jedoch lediglich Anpassungen an der Präsentationsschicht vorgenommen werden, während am Datenbestand keine Eingriffe erforderlich sind. Ziel ist es also zunächst, unabhängig von konkreten Ausgabeszenarien die über die untersuchten Materialien und deren Zusammenhänge ermittelten Erkenntnisse auf der Datenseite semantisch zu kodieren. Hierzu muss die Bezugsbildung zu einem Modell erfolgen, welches das sog. ‚terminologische Wissen‘ repräsentiert. Ein Publikationsworkflow setzt anschließend idealerweise auf diesem Modell auf, so dass der Datenbestand seinerseits erweiterbar ist, ohne dass bei dessen Änderung Eingriffe in die Präsentationsschicht notwendig werden. Die Kodierung von Textdaten gestaltet sich aus informationstechnologischer Sicht i. d. R. verhältnismäßig einfach. Als Informationen vom Datentyp ‚String‘43 auf ein digitales Speichermedium übertragene Schriftzeichen lassen sich durch ‚embedded mark­up‘, derzeit meist unter Verwendung von XML-basierten Auszeichnungssprachen, im gleichen Zeichensystem an entsprechender Stelle segmentieren und annotieren. Auf diese Weise können die Datensegmente in nahezu beliebigem Umfang durch weitere Informationen angereichert und mit anderen Informationsressourcen hypertextuell verknüpft werden. Durch Festlegung des Beschreibungsvokabulars in einem sog. Schema bzw. einer Dokumenttyp-Definition ist die Standardisierung von anwendungs- bzw. domänenspezifischen Auszeichnungssprachen möglich. XML eignet sich damit für ein breites Spektrum an Einsatzgebieten im Bereich der Verarbeitung und Publikation vorrangig stringbasierter Daten und wird daher in aller Regel auch für die Kodierung des zentralen Gegenstands textkritischer Editionsvorhaben verwendet.44 Für den digitalen Datenbestand einer Filmedition ist allerdings erwartbar, dass dieser qua Editionsgegenstand multimedial ist und insbesondere Daten vom Medientyp Bildund Bewegtbild umfasst, die in nicht-textbasierten (sog. binären) Formaten vorliegen. Als ‚String‘ werden in der Informatik allgemein und unabhängig von einer konkreten Implementierung Datentypen bezeichnet, deren Wertebereich eine endliche, eventuell leere Folge von Symbolen aus einer endlichen, nicht-leeren Menge von Symbolen (dem sog. ‚Alphabet‘) ist; vgl. Lutz Priese, Katrin Erk: Theoretische Informatik. Eine umfassende Einführung. Berlin 2018, S. 27. Die Datenwerte selbst werden i. d. R. ebenfalls als String bezeichnet. Im XML-Kontext repräsentiert der Datentyp ‚String‘ Sequenzen von Unicode-Zeichen; vgl. https://www.w3.org/TR/xmlschema-2/#string (gesehen 11.3.2020). 44 Gängige ‚dokumentorientierte‘ XML-Auszeichnungssprachen sind z. B. das in den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI) spezifizierte Markup zur Beschreibung philologischer Erkenntnisse über Textdokumente, vgl. https://tei-c.org/ (gesehen 9.10.2019), und XHTML für die Publikation von Hypertext-Dokumenten in elektronischen Medien, vgl. https://html.spec.whatwg.org/multipage/xhtml.html #the-xhtml-syntax (gesehen 9.10.2019). Als Beispiel für ein ‚datenorientiertes‘ XML-Format kann das GPS Exchange Format (GPX) zum Austausch von geografischen Positionsdaten angeführt werden; vgl. https://www.topografix.com/gpx.asp (gesehen 9.10.2019). 43

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Die Anreicherung von Bild- oder Bewegtbilddaten bzw. spatialen oder spatiotemporalen Bild- oder Bewegtbildsegmenten mit weiteren Informationen ist prinzipiell durch den Einsatz einer Form von ‚stand-off markup‘ möglich.45 Die zu annotierenden Daten müssen dazu – ungeachtet der letztendlich eingesetzten Technologie – eindeutig adres­siert und über einen Referenzmechanismus mit der Annotation in Relation gesetzt werden können. Hinsichtlich der Semantik werden im Editionskontext unabhängig von Medientyp und Datenformat der betrachteten Ressourcen oft ähnliche Aussagen zu treffen sein: Findet beispielsweise eine Person, die als Schauspielerin einer Figur in einem Film auftritt, auch im Text eines Begleitdokuments Erwähnung, so könnte es in beiden Fällen von Interesse sein, die entsprechenden Bewegtbild- und Textsegmente mit dem abstrakten Konzept ‚Person‘ zu assoziieren und eine Referenz auf erschließende Informationen zu dieser Person zu hinterlegen, z. B. durch einen Verweis auf das Personenregister der Edition oder einen externen Normdatensatz. Insbesondere der Gegenstand einer kritischen Filmedition sollte daher mediengenerisch und aus multiplen Perspektiven (z. B. Segmentierung der Dokumentstruktur nach materiellen oder logischen Kriterien, Erschließung inhaltlicher Aspekte etc.) im Idealfall in gleicher Weise beschrieben werden können. Dies ist ein starkes Argument für den Einsatz einer Technologie, welche eine von Datenformat und Medientyp abstrahierte, multihierarchische Kodierung dieser Informationen ermöglicht.46 Zur Identifikation und Adressierung von sowohl physischen als auch abstrakten Ressourcen können Uniform Resource Identifier (URIs) vergeben werden.47 Mittels des Resource Description Framework (RDF) lassen sich über die durch URIs repräsentierten Ressourcen und deren Zusammenhänge Aussagen treffen.48 Wird dabei über einen lokalen Datenbestand hinaus auf Ressourcen in verteilt vorliegenden, z. B. über das WWW zugänglichen Datenrepositorien verwiesen, so spricht man von ‚Linked Data‘.49 Die Modellierung des terminologischen Wissens kann mit RDF Schema (RDFS) und der Web Ontology Language (OWL) vorgenommen werden, welche jeweils men Im Gegensatz zu ‚embedded markup‘ handelt es sich bei ‚stand-off markup‘, hier der Definition in den TEI-Guidelines folgend, um „markup that is either outside of the source document and points in to it to the data it describes, or is pointed at by the data that refers to it; or alternatively is in another part of the source document and points elsewhere within the document to the data it describes, or is pointed at by data elsewhere that refers to it“; vgl. https://tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/en/html/SA.html#SASO (gesehen 11.3.2020). 46 Die Struktur wohlgeformter XML-Daten entspricht immer azyklischen gerichteten Graphen, was eine monohierarchische Organisation der in XML-Dokumenten serialisierten Inhalte erzwingt. 47 Vgl. https://tools.ietf.org/html/rfc3986 (gesehen 9.10.2019). Der Begriff ‚Ressource‘ wird dementsprechend im vorliegenden Beitrag „in a general sense for whatever might be identified by a URI“ verwendet. 48 RDF-Aussagen werden stets nach dem Muster x:Ressource_A x:steht_in_Relation_R_mit x:Ressource_B getroffen und auch als ‚RDF-Tripel‘, bestehend aus ‚Subjekt‘, ‚Prädikat‘ und ‚Objekt‘, bezeichnet. Subjekt und Prädikat werden dabei immer, i. d. R. in abgekürzter Form, durch eine URI (eigentlich: IRI, d. h. Internationalized Resource Identifier) denotiert, während das Objekt auch ein sog. Literal (Unicode-String, gegebenenfalls unter Angabe eines Datentyps und der verwendeten Sprache) sein kann. Vgl. https://www.w3.org/TR/rdf-primer/ (gesehen 9.10.2019). Bezüglich einer Implementierung für das Beispielmaterial s. u., Abschnitt 8. 49 Die Grundprinzipien von Linked Data fasst Tim Berners-Lee in einem Artikel unter der folgenden URL zusammen: https://www.w3.org/DesignIssues/LinkedData.html (gesehen 9.10.2019). Bezüglich potenzieller Mehrwerte im Kontext von Editionsprojekten s. u., Abschnitt 9. 45

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gentheoretische Ausdrücke für die formale Spezifikation der Konzeptualisierung von Begriffen (i. e. einstellige Universalien, hier nachfolgend: ‚Konzepte‘) eines zu beschreibenden Systems und deren Zusammenhängen (i. e. zweistellige Universalien, hier nachfolgend: ‚Relationen‘) unter Festlegung eines Vokabulars für diese bieten.50 Solche in der Informatik auch als ‚Ontologien‘51 bezeichnete Modelle werden eingesetzt, um die Semantik von Ressourcen und der zwischen diesen festgestellten Relationen zu kodieren. Die Zuweisung von Konzepten und Relationen ist dabei weder exklusiv, noch muss sie zwangsweise monohierarchisch erfolgen – einer Ressource können theoretisch RDF-Aussagen in beliebiger Anzahl zugewiesen werden, die sich auf disjunkte Modelle völlig verschiedener Wissensdomänen beziehen. So lassen sich z. B. zu einem bestimmten Segment eines filmischen Dokuments in gleichwertiger Weise Aussagen über materielle Befunde, über dessen Rolle in der logischen Struktur einer bestimmten Filmfassung sowie inhaltlich-erschließende Aspekte kodieren, ohne dass diese technisch konfligieren oder einer hierarchischen Ordnung unterworfen werden.52 Ein konzeptuelles Modell für die kritische Edition von Filmen sollte die im Zuge der film- und editionswissenschaftlichen Arbeiten anfallenden Informationen adäquat repräsentieren. Ein allgemeines Modell, vergleichbar mit den Richtlinien der Text Encod­ ing Initiative für die Kodierung von Texten, existiert für den Bereich der editorischen Filmwissenschaft bislang nicht. Für angrenzende Disziplinen liegen jedoch bereits etablierte Beschreibungsstandards vor, deren Weiternutzung, gegebenenfalls durch Kombination und Erweiterung, in einem nächsten Schritt zu prüfen ist.53

6. Evaluation bestehender Modelle Hier gilt es nun zunächst, einen Modellierungsansatz zur Umsetzung des in Abschnitt 4 für das Beispielmaterial skizzierten Editionsszenarios zu finden. Um Abweichungen für Einstellungen und einzelne Bildkader erfassen zu können, müssen neben Beschreibungsmöglichkeiten für filmische Überlieferungsträger vor allem Konzepte für deren Segmentierung sowie für Vergleichskriterien zur Bestimmung von Varianzen vorliegen. Zur Gruppierung von Überlieferungsträgern, die unter gewissen Gesichtspunkten als äquivalent zu betrachten sind, kann sich ferner ein Fassungskonzept als hilfreich Zu RDF Schema vgl. https://www.w3.org/TR/rdf-schema/, als Einstiegspunkt zu den W3C-Spezifikationen für OWL vgl. https://www.w3.org/TR/owl-features/ (jeweils gesehen 9.10.2019). Bezüglich einer Implementierung für das Beispielmaterial s. u., Abschnitt 7. 51 Zur Auffassung des Begriffs ‚Ontologie‘ in der Informatik und einer formalen Definition s. Nicola ­Guarino, Daniel Oberle, Steffen Staab: What Is an Ontology? In: Handbook on Ontologies. Hrsg. von Steffen Staab und Rudi Studer. Dordrecht, Heidelberg, London, New York 2009, S. 1–17. 52 Dieses Verfahren kann sowohl für physisch-reale Objekte (unter Subsumtion digitaler Daten) als auch für theoretisch-abstrakte Konzepte eingesetzt werden. Ein physisches Filmsegment ist somit auf einer gewissen Abstraktionsebene auf die gleiche Art und Weise beschreibbar wie ein Digitalisat, ein genuin digitales Filmsegment oder ein Segment einer hypothetischen Filmfassung. 53 Eine Möglichkeit zur Kombination von Ontologien ergibt sich, wenn zwischen unabhängig voneinander definierten ähnlichen oder identischen Konzepten Äquivalenzrelationen festgestellt werden können. So können z. B. die in der Ontologie Friend of a Friend, vgl. http://xmlns.com/foaf/spec/#term_Person, und die in der Dbpedia-Ontologie, vgl. http://dbpedia.org/ontology/Person, für das Konzept ‚Person‘ definierten Klassen als äquivalent ausgelegt werden (jeweils gesehen 9.10.2019). Zur Möglichkeit der Erweiterung s. u., Abschnitt 7. 50

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erweisen. Zudem sollen die möglichen Relationen zwischen diesen Konzepten explizit formuliert werden können. Im Zuge von Überlegungen zur Implementierung von Linked-Open-Data-Technologien in Filmarchiven wurde für die in der Norm EN 15907 festgelegte Terminologie zur Beschreibung cinematographischer Werke und ihrer Ausprägungen bereits ausdrücklich der Wunsch nach einer Umsetzung als Ontologie formuliert.54 EN 15907 adaptiert das Modell der Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR) für die standardisierte Beschreibung bibliografischer Datensätze. In beiden Standards werden Konzepte für ‚Fassung‘, ‚Werk‘ und ‚Überlieferungsträger‘ sowie deren Relationen untereinander definiert, was eine Prüfung dieser Modelle für den Einsatz in entsprechenden editionswissenschaftlichen Kontexten nahelegt.55 Das durch die International Federation of Library Associations and Institutions ­(IFLA)56 Ende der 1990er Jahre in einer ersten Version publizierte FRBR-Modell dient der Beschreibung von Produkten geistiger bzw. gestalterischer Schöpfungsprozesse mithilfe der vier Kernkonzepte Work („a distinct intellectual or artistic creation“), Expression („the intellectual or artistic realization of a work“), Manifestation („the physical embodiment of an expression of a work“) und Item („a single exemplar of a manifestation“). Expression kann hierbei als Pendant zum oben eingeführten Fassungsbegriff ausgelegt werden (vgl. Anm. 22): Eine Expression realisiert immer genau ein Work („An expression [...] is the realization of one and only one work“) und kann, durch Item exem­plifiziert, in einer oder mehreren Instanzen von Manifestation ausgeformt vorliegen („An expression may be embodied in one or more than one manifestation“).57 2003 wurde durch eine Arbeitsgruppe der IFLA und des Comité international pour la documentation (CIDOC) eine Initiative zur Harmonisierung des FRBR-Modells und des ‚Conceptual Reference Model‘ (CRM)58 des CIDOC gestartet, um Interoperabilität zwischen den beiden Modellen zu schaffen. Die Zusammenführung der Modelle brachte den gemeinsamen Standard FRBROO hervor.59 Analog zum CRM wurde hierbei Vgl. Adelheid Heftberger: Building Resources Together – Linked Open Data for Film Archives. In: Journal of Film Preservation 101, 2019, S. 65–73, hier S. 71. Vgl. http://filmstandards.org/fsc/index.php/EN_15907 (gesehen 9.10.2019). 56 Website: https://www.ifla.org (gesehen 8.10.2019). 57 IFLA Study Group on the Functional Requirements for Bibliographic Records: Functional Requirements for Bibliographic Records. Final Report. Approved by the Standing Committee of the IFLA Section on Cataloguing September 1997. As amended and corrected through February 2009. URL: https://www.ifla. org/files/assets/cataloguing/frbr/frbr_2008.pdf (gesehen 9.10.2019), S. 13. 58 Das für den Museumsbereich entworfene ‚Conceptual Reference Model‘ des CIDOC entstand Mitte der 1990er Jahre mit dem Ziel, die Integration und den Austausch von Informationen über Kulturerbe aus heterogenen Quellen zu ermöglichen, und wurde 2006 als ISO-Standard verabschiedet (aktuell: ISO 21127:2014). Der Fokus des Standards liegt auf der Definition einer Ontologie zur Beschreibung von kulturellem Erbe im Allgemeinen für den Einsatz in Informationsverarbeitungssystemen; vgl. Definition of the CIDOC Conceptual Reference Model. Produced by the ICOM/CIDOC Documentation ­Standards Group, Continued by the CIDOC CRM Special Interest Group. Version 6.2.5, March 2019. Hrsg. von Patrick Le Boeuf u. a. URL: http://www.cidoc-crm.org/sites/default/files/2019-03-26-CIDOC%20 CRM%20b.pdf (gesehen 9.10.2019), S. i. 59 Version 1.0 der FRBR -Definition wurde 2010 publiziert. Bezüglich der aktuellen Version 2.4 vgl. Defini­ OO tion of FRBROO. A Conceptual Model for Bibliographic Information in Object Oriented Formalism. Pre­ pared by Working Group on FRBR/CRM Dialogue. Version 2.4, November 2015. Revised after worldwide review. Endorsed by the IFLA Professional Committee, December 2016. Hrsg. von Chryssoula Bekiari u. a. URL: https://www.ifla.org/files/assets/cataloguing/FRBRoo/frbroo_v_2.4.pdf (gesehen 13.9.2019). 54 55

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durch eine ‚objektorientierte‘ Reformulierung auch für das FRBR-Modell Kompatibilität zu RDF hergestellt, um den Informationsaustausch zu erleichtern und die Nutzung des Standards im Semantic-Web-Kontext zu begünstigen.60 Die Eingliederung in das thematisch deutlich breiter aufgestellte CIDOC CRM weitet die ursprünglich auf die bibliografische Katalogisierung zentrierte Ausrichtung von FRBR hin zur Beschreibung von Kulturerbe im Allgemeinen. So lassen sich die in FRBROO überarbeiteten und feiner aufgegliederten FRBR-Konzepte nun bei Bedarf mit Ereignissen und Prozessen in Relation setzen, die in Raum und Zeit verortet werden können (z. B. Produktion, Vervielfältigung, Bearbeitung, Aufbewahrung). FRBROO übernimmt mit F2 Expression auch das gleichnamige FRBR-Konzept als Oberklasse für geistige und/oder ausgestaltete Realisierungen eines Werks (im Sinne des FRBROO-Konzepts F1 Work) und spezifiziert dies, hier ebenfalls unabhängig von einem Trägermedium, einleitend wie folgt:61 This class comprises the intellectual or artistic realisations of works in the form of identifiable immaterial objects, such as texts, poems, jokes, musical or choreographic notations, movement pattern, sound pattern, images, multimedia objects, or any combination of such forms that have objectively recognisable structures. The substance of F2 Expression is signs.62

Anhaltspunkte dafür, welche ‚Zeichen‘ als Abgrenzungskriterien für F2 Expression heranzuziehen sind, werden im weiteren Verlauf der Definition zwar exemplarisch angeführt, jedoch mit dem Argument wieder relativiert, dass die Wahl derartiger Kriterien letztendlich von den konkreten Anwendungsszenarien abhängig sei: On a practical level, the degree to which distinctions are made between variant expressions of a work will depend [...] on the anticipated needs of users.63

Auch ungeachtet der Offenheit dieser natürlichsprachlichen Definition bieten sich in ­FRBROO keine formalen Möglichkeiten, für F2 Expression durch Zuordnung weiterer Konzepte zu beschreiben, welche Merkmale diese als spezifische Charakteristika aufweist. Das Konzept F2 Expression selbst ist allerdings plausibel in die Hierarchie von CIDOC CRM eingebunden und kann, z. B. mit der Beschreibung einzelner Überlieferungsträger F5 Item 64 in Relation gesetzt, mittels des CRM in einen breiteren Beschreibungskontext eingebettet werden, wodurch FRBROO prinzipiell für eine Modellierung der Überlieferung im Rahmen digitaler Editionen in Betracht kommt. Zudem wird in der FRBROO-Spezifikation explizit die grundsätzliche Möglichkeit betont, das CRM durch den Anschluss zusätzlicher Modelle in gleicher Weise für weitere Wissensdomänen zu ergänzen.65 IFLA 2016 (Anm. 59), S. 14. FRBROO legt für Konzeptklassen Identifikatoren fest, die aus einem Buchstaben gefolgt von einer Nummer bestehen und den Konzeptnamen vorangestellt werden (z. B. F1 Work oder F2 Expression). 62 Auszug aus der ‚Scope note‘ zu F2 Expression. IFLA 2016 (Anm. 59), S. 55. 63 Auszug aus der ‚Scope note‘ zu F2 Expression. IFLA 2016 (Anm. 59), S. 55. 64 Für die exemplarischen Betrachtungen im Rahmen dieses Beitrags wird lediglich F5 Item zur Beschreibung von Informationsträgern verwendet, worunter hier auch die Digitalisate subsumiert werden. ­FRBROO spezifiziert zusätzliche Konzepte für eine weitere Differenzierung, deren Einsatz zur Modellierung insbesondere von filmischen Materialien zu diskutieren wäre (vgl. z. B. F3 Manifestation Product Type, F4 Manifestation Singleton, F53 Material Copy). 65 IFLA 2016 (Anm. 59), S. 14. 60 61

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Der in der Norm EN 15907 formulierte Standard zur Katalogisierung und Indexierung von cinematographischen Werken modifiziert die Kernkonzepte des ­FRBR-Modells mit dem Ziel einer Anpassung an die speziellen Anforderungen filmischer Werke und ihrer Ausprägungen. Als Pendant zum Fassungsbegriff kann hier das Konzept Variant aufgefasst werden, welches – vergleichbar mit dem FRBR-Konzept ­Expression – zwischen dem Konzept eines filmischen Werks (Cinematographic Work) und dessen physischen Ausprägungen auf Vervielfältigungsträgern (Manifestation) steht.66 Das Konzept Variant ist dabei für die Differenzierung von Ausprägungen eines cinematographischen Werks in Bezug auf Veränderungen inhaltlicher Charakteristika vorgesehen, die, allgemein betrachtet, den Inhalt eines Cinematographic Work nicht ‚signifikant‘ beeinträchtigen. Als Beispiele werden kleinere Hinzufügungen, Tilgungen oder Ersetzungen bezüglich des konzeptuellen Inhalts genannt.67 Die Definition des Konzepts Variant bleibt somit ähnlich vage wie die Festlegungen zu F2 Expression in der FRBROO-Spezifikation. Zudem bestehen auch hier keine Möglichkeiten, die prägenden Merkmale für eine ‚Variante‘ mit den Mitteln von EN 15907 genauer zu bestimmen.68 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Beschreibung der Überlieferungssituation sowie der Beziehungen zwischen Werken, ihren Fassungen und Überlieferungsträgern insbesondere mit FRBROO gelingen und für den Einsatz im Kontext digitaler kritischer Editionsprojekte produktiv gemacht werden kann. Eine Beschreibung von Abweichungen zwischen filmischen Überlieferungsträgern, die Bestimmung und Kategorisierung der Abweichungsmerkmale sowie ferner deren Bewertung für die Identifikation von Fassungen ist jedoch allein mit den dort gegebenen Mitteln für das in Abschnitt 4 skizzierte Editionsszenario nicht hinreichend präzise realisierbar.

Das FRBR-Konzept Expression wird in EN 15907 bewusst ersetzt, da der grundlegende Ansatz des Standards die Aufhebung der Trennung der ‚konzeptuellen‘ und der ‚physischen‘ Ebene des FRBR-Modells für cinematographische Werke anstrebt: Der Werkbegriff schließt hier immer auch die Realisierung des Werks in einem physischen Medium mit ein. Vgl. http://filmstandards.org/fsc/index.php/EN_15907_ Cinematographic_Work (gesehen 9.10.2019). Variant bildet hier zudem das Gegenstück zu einem filmischen ‚Original‘, dessen Existenz bereits durch das Cinematographic Work impliziert wird und für welches daher keine separate Beschreibungskategorie vorgesehen ist. 67 Vgl. http://filmstandards.org/fsc/index.php/EN_15907_Variant (gesehen 9.10.2019). 68 Als Hilfestellung für die Katalogisierung cinematographischer Werke liefert das FIAF Moving Image Cat­aloguing Manual (FIAF Manual) u. a. ebenfalls Richtlinien zur Bestimmung von filmischen Fassungen, die allerdings vergleichbar unscharf ausfallen: „If much of the original textual material remains, most of the original footage remains in roughly the same continuity, however abridged, and substantially most of the contributors are the same, the existence of alterations more often than not constitute a Variant, rather than a new Work“; Natasha Fairbairn, Maria Assunta Pimpinelli, Thelma Ross: The FIAF Moving Image Cataloguing Manual. Hrsg. von Linda Tadic. April 2016. URL: https://www.fiafnet.org/images/ tinyUpload/E-Resources/Commission-And-PIP-Resources/CDC-resources/20160920%20Fiaf%20 Manual-WEB.pdf (gesehen 9.10.2019), S. 20. Hier werden als Anhaltspunkte für eine Differenzierung vorrangig Änderungen der Continuity (‚secondary editing‘), textueller Aspekte sowie der gesprochenen Sprache (also z. B. der Zwischentitel) oder Veränderungen bezüglich des Casts oder des in die Bearbeitungsprozesse involvierten Personals aufgeführt. 66

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7. Annäherung an ein konzeptuelles Modell für die kritische Filmedition Zur Modellierung des Beispielmaterials müssen nun die zusätzlich benötigten Konzepte ergänzt und – mit dem Ziel der Einbettung in FRBROO – formal spezifiziert werden. Hier bedarf es für die Erschließung der Kollationierungsergebnisse, wie im vorangegangenen Absatz herausgearbeitet wurde, in erster Linie einer Konzeptualisierung der Lokalisierung und Kategorisierung von Differenzierungsmerkmalen. Diese sollen als Äquivalenz- bzw. Varianzkriterien – gegebenenfalls abhängig von einer spezifischen Forschungsfrage oder Fachperspektive – für den Vergleich herangezogen werden können. Die Schnittstellen zu FRBROO lassen sich einerseits durch die Zuordnung dieser Merkmale zu den entsprechenden Segmenten einzelner Überlieferungsträger sowie andererseits durch eine Verwendung der Merkmale zur Charakterisierung von Fassungen bilden.69 Die Axiomatisierung des terminologischen Wissens wird nachfolgend mittels beschreibungslogischer Ausdrücke vorgenommen. Diese Ausdrücke lassen sich entsprechend in OWL notieren, was eine Explikation der Semantik für die maschinelle Verarbeitung ermöglicht.70 Zur Beschreibung von beliebigen (spatiotemporalen) Bereichen wird zunächst ­fe:Segment als Basisklasse eingeführt. Mit der Relation fe:hasSegment kann ­fe:Segment einem Überlieferungsträger frbr:F5_Item zugeordnet werden.71 (1) frbr:F5_Item ⊑ ∀fe:hasSegment.fe:Segment 72

Beispiel zu (1): Ein Bildkader ist als Segment (ex:Frame9416) eines filmischen Überlieferungsträgers (ex:LOC_FLA5405) identifiziert. RDF-Repräsentation: ex:LOC_FLA5405 fe:hasSegment ex:Frame9416 .73

Die Ausdehnung eines Segments soll beliebig präzise beschrieben werden können (z. B. durch Angabe der räumlichen Abmessungen für Segmente physischer Überlieferungsträger oder wahlweise auch lediglich mittels Timecode und Abspieldauer für Segmente von Digitalisaten). Wie die Angabe der Dimensionierung und des Bezugs Zur Identifikation des jeweils verwendeten Vokabulars wird im weiteren Verlauf des Textes den Bezeichnern von Konzepten und Relationen ein durch einen Doppelpunkt abgetrenntes sog. Namensraum-Präfix vorangestellt. FRBROO-Konzepte erhalten ihrem jeweiligen Modell-Ursprung entsprechend das Präfix frbr bzw. crm. Für die hier neu eingeführten Konzepte wird das Präfix fe verwendet. Konzepte, für welche externe Modelle in Betracht gezogen werden können oder welche an anderer Stelle näher diskutiert werden müssen, erhalten das Präfix ext. Für die in den Beispielen aufgeführten ‚Individuen‘ wird das Präfix ex vergeben. 70 Aus Platzgründen wird hier die kompaktere Notation in Form beschreibungslogischer Ausdrücke bevorzugt und auf eine Notation in OWL verzichtet. Bezüglich der modelltheoretischen Semantik vgl. z. B. Pascal Hitzler u. a.: Semantic Web. Grundlagen. Berlin, Heidelberg 2008, S. 163–175. Beispiele für eine maschinelle Verwertung finden sich in den Abschnitten 8 und 9 dieses Beitrags. 71 Die Nutzung des CRM-Konzepts crm:E92_SpacetimeVolume wurde hier bewusst vermieden, da auch jede zeitliche und/oder räumliche Projektion einer potenziell ‚vierdimensionalen Ausdehnung‘ als Segment beschrieben werden können soll. Auf eine detaillierte Erörterung der Beziehung zwischen ­fe:Segment und crm:E92_SpacetimeVolume wird an dieser Stelle aus Platzgründen verzichtet. 72 Lies: ‚Alle einer Instanz von frbr:F5_Item durch fe:hasSegment zugeordneten Ressourcen sind Instanzen von fe:Segment.‘ 73 Die Angabe der RDF-Daten folgt hier der sog. Turtle-Notation; vgl. https://www.w3.org/TR/turtle/ (gesehen 9.10.2019). 69

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systems im Detail erfolgt, ist hier bewusst freigestellt.74 Es wird daher als abstraktes Konzept ext:Dimensions eingeführt, wobei ausgehend von einem fe:Segment mittels fe:hasDimensions mindestens auf eine Instanz von ext:Dimensions verwiesen werden muss. Ein fe:Segment kann ferner Teil eines weiteren Segments fe:Segment sein. (2) fe:Segment ⊑ ∃fe:hasDimensions.ext:Dimensions ⊓ ∀fe:isPartOf.fe:Segment 75

Beispiel zu (2): Einem bestimmten Segment (ex:Frame9416), welches als Teil eines bestimmten Einstellungssegments (ex:Shot88) identifiziert ist, sind Angaben zu Position und Abmessung (ex:DimFrame9416) zugeordnet. RDF-Repräsentation: ex:Frame9416 fe:hasDimensions ex:DimFrame9416 , fe:isPartOf ex:Shot88 .

In Segmenten lassen sich durch menschliche oder maschinelle Beobachtung u. U. bestimmte Merkmale fe:Feature erkennen und gegebenenfalls anhand eines Zeichensystems typisieren (z. B. Identifikation von Helligkeitsunterschieden als Schriftzeichen und deren Zuordnung zur ASCII-Zeichenkodierung). Das Konzept fe:Feature wird hier ebenfalls vorerst als Basisklasse für typisierbare Merkmale im Allgemeinen eingeführt. Spezifischere Konzepte können dieser als abgeleitete Klassen unterstellt werden, z. B. für Merkmale ‚cinematographischer Codes‘ im Rahmen eines stärker differenzierten Modells für die kritische Filmedition (s. dazu den Ausblick in Abschnitt 9). (3) fe:Segment ⊑ ∀fe:hasFeature.fe:Feature

Beispiel zu (3): Für ein bestimmtes Segment (ex:Shot88) sind bestimmte Merkmale bezüglich der Einstellungsgröße (ex:FieldSize_Shot88) festgestellt. RDF-Repräsentation: ex:Shot88 fe:hasFeature ex:FieldSize_Shot88 .

Für Informationen über Merkmalstypen, z. B. als Grundlage für die Bestimmung von Äquivalenzrelationen, wird das hier nicht weiter spezifizierte Konzept ­ext:FeatureDescriptor als Unterklasse des CRM-Konzepts crm:E55_Type 76 eingeführt. (4) fe:Feature ⊑ ∀crm:P2_hasType.ext:FeatureDescriptor

Beispiel zu (4): Eine konkret festgestellte Merkmalsausprägung (ex:FieldSize_Shot88) wird einem Merkmalstyp (ext:FieldSizeType) zugeordnet, welcher z. B. die in Griffiths Biograph-Filmen vorgefundenen Einstellungsgrößen klassifiziert und ordinal skaliert Für digitale (Bewegt-)Bilddaten bietet z. B. MPEG-7 ein Segmentierungsmodell; vgl. Introduction to MPEG-7: Multimedia Content Description Interface. Hrsg. von Bangalore S. Manjunath. Chichester, West Sussex 2003, S.  116 f. Bezüglich der Eignung zur Beschreibung digitaler multimedialer Objekte des Kulturerbes durch die Kombination von CIDOC CRM und MPEG-7 vgl. Jane Hunter: Combining the CIDOC CRM and MPEG-7 to Describe Multimedia in Museums. Beitrag zur Konferenz „Museums and the Web“ 2002. Boston 2002. URL: https://www.museumsandtheweb.com/mw2002/papers/hunter/ hunter.html (gesehen 9.10.2019). 75 Lies: ‚Jeder Instanz von fe:Segment ist durch fe:hasDimensions mindestens eine Ressource zugeordnet, die Instanz von ext:Dimensions ist, und alle einer Instanz von fe:Segment durch fe:isPartOf zugeordneten Ressourcen sind Instanzen von fe:Segment.‘ 76 Zur Typisierung von Instanzen mit externen Konzepten ist in CIDOC CRM die Klasse crm:E55_Type vorgesehen. Auf diese Weise wird eine Schnittstelle geschaffen, über welche leicht domänenspezifische Vokabulare eingebunden werden können. Die Zuordnung einer Instanz von crm:E55_Type erfolgt über die auf crm:E1_CRM_Entity definierte Relation crm:P2_hasType und ist somit für beliebige CRM­respektive FRBROO-Konzepte möglich. Vgl. IFLA 2016 (Anm. 59), S. 211. 74

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(ext:FieldSize_ls, ext:FieldSize_fs, ext:FieldSize_ms, ext:FieldSize_cu, ...). RDF-Repräsentation: ex:FieldSize_Shot88 crm:P2_hasType ext:FieldSize_cu . Eine frbr:F2_Expression lässt sich nun – auch im Sinne einer rein hypothetischen Fassung – über die Zuordnung einer Menge an Instanzen von fe:Feature beliebig detailliert charakterisieren.77 Dies geht mit der Definition von frbr:F2_Expression gemäß FRBROO-Spezifikation konform, nach welcher deren Ausformung als Menge von ‚Zeichen‘ wesentlich ist (s. Abschnitt 6). Die Kategorisierung sowie die Entscheidung über die Relevanz der Zeichen kann somit vom Nutzungsszenario abhängig gemacht werden. (5) frbr:F2_Expression ⊑ ∀fe:features.fe:Feature

Beispiel zu (5): Eine bestimmte Fassung (ex:PaperPrint) besitzt eine bestimmte Merkmalsausprägung (ex:FieldSize_Shot88).78 RDF-Repräsentation: ex:PaperPrint fe:features ex:FieldSize_Shot88 .

Für den Abgleich der Ausprägungen als relevant erachteter Merkmale muss eine Äquivalenzrelation zwischen Instanzen von fe:Feature etabliert werden können. (6) fe:Feature ⊑ ∀fe:isEquivalentTo.fe:Feature

Beispiel zu (6): Zwei konkrete Merkmalsausprägungen (ex:FieldSize_Shot83, ­ex:FieldSize_Shot88) sind (nach einem gegebenen Messverfahren und gegebenenfalls unter Berücksichtigung der für den jeweiligen Typ spezifizierten Abgrenzungskriterien) als ‚äquivalent‘ identifiziert. RDF-Repräsentation: ex:FieldSize_Shot83 fe:isEquivalentTo ex:FieldSize_Shot88 .

Die Zusammenhänge der in diesem Abschnitt eingeführten Konzepte und Relationen sowie der Schnittstellen zu FRBROO sind in Abbildung 3 zusammengefasst.

Auch in diesem Fall soll sich die (gegebenenfalls hypothetische) Anordnung der Merkmale mittels zugeordneter Instanzen von fe:Segment festlegen lassen. Hierzu wird fe:isFeaturedIn als inverse Relation zu fe:hasFeature eingeführt: fe:isFeaturedIn ⊑ fe:hasFeature−; vgl. Abb. 3. 78 In Biograph-Produktionen wurden aus Zensurgründen z. B. Detailaufnahmen von Waffen für die US-Fassung entfernt, während diese in den Exportfassungen erhalten blieben. Vgl. Cherchi Usai/Patat 1998 (Anm. 38), S. 31. 77

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Abb. 3: Übersicht der in Abschnitt 7 eingeführten Konzepte und Relationen (schwarz) sowie der Schnittstellen zu FRBROO (dunkelgrau). Bezüglich der angedeuteten Unterklassen für das Konzept fe:Feature (hellgrau) s. den Ausblick in Abschnitt 9.

8. Implementierung am Beispiel von The Girl and Her Trust Die im Zuge einer Kollationierung von filmischen Überlieferungsträgern anfallenden Daten lassen sich nun als Instanzen von Konzepten des in Abschnitt 7 definierten Modells bestimmen und in Relation setzen. Listing 1 zeigt das Ergebnis eines Abgleichs der Restaurierung des Paper Print zu The Girl and Her Trust mit der Restaurierung des Biograph-Negativs ausschnittsweise für zwei Bildkader in Form von RDF-Tripeln.79 Als Kriterium für Äquivalenzrelationen wurden hier die Helligkeitswerte der digitalen Einzelbilder herangezogen.80 # ##### Deklaration der Namensräume ##### @prefix ex: . @prefix fe: . @prefix frbr: . @prefix crm: . @prefix ext: .

Die Angabe der RDF-Daten erfolgt hier wieder in der Turtle-Notation (vgl. Anm. 72). Die Relation a steht als Abkürzung der vordefinierten RDF-Relation rdf:type und ordnet Ressourcen als Instanz einer Klasse zu. Das Konzept ext:Dimensions wird hier der Kürze halber durch Literale instanziiert. 80 Die Äquivalenzbeziehung kann in diesem Fall maschinell z. B. durch die Erzeugung von Differenzbildern ermittelt werden. Hierfür ist zuvor eine Normalisierung von Bildausschnitt und Kontrast erforderlich. Zudem müssen für den Vergleich irrelevante Materialfehler erkannt und ignoriert werden. 79

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# ##### Restaurierung Paper Print ##### ex:RestoredPaperPrint a frbr:F5_Item , fe:hasSegment ex:PpFrame9983 , fe:hasSegment ex:PpFrame9987 . ex:PpFrame9983 a fe:Segment , fe:hasDimensions "t=00:07:11.04;dur=1fr;fps=24" , fe:hasFeature ex:Bmp_ppFrame9983 . ex:PpFrame9987 a fe:Segment , fe:hasDimensions "t=00:07:11.08;dur=1fr;fps=24" , fe:hasFeature ex:Bmp_ppFrame9987 . ex:Bmp_ppFrame9983 a fe:Feature , crm:P2_hasType ext:Bitmap . ex:Bmp_ppFrame9987 a fe:Feature , crm:P2_hasType ext:Bitmap . ex:PaperPrint a frbr:F2_Expression , fe:features ex:Bmp_ppFrame9983 , fe:features ex:Bmp_ppFrame9987 . # ##### Restaurierung Biograph-Negativ ##### ex:RestoredBiographNegative a frbr:F5_Item , fe:hasSegment ex:BnFrame5894 , fe:hasSegment ex:BnFrame9952 . ex:BnFrame5894 a fe:Segment , fe:hasDimensions "t=00:05:41.04;dur=1fr;fps=18" , fe:hasFeature ex:Bmp_bnFrame5894 . ex:BnFrame9952 a fe:Segment , fe:hasDimensions "t=00:09:26.12;dur=1fr;fps=18" , fe:hasFeature ex:Bmp_bnFrame9952 . ex:Bmp_bnFrame5894 a fe:Feature , crm:P2_hasType ext:Bitmap . ex:Bmp_bnFrame9952 a fe:Feature , crm:P2_hasType ext:Bitmap . ex:BiographNegative a frbr:F2_Expression , fe:features ex:Bmp_bnFrame5894 , fe:features ex:Bmp_bnFrame9952 . # ##### Äquivalenzrelationen ##### ex:Bmp_ppFrame9983 fe:isEquivalentTo ex:Bmp_bnFrame9952 . ex:Bmp_ppFrame9987 fe:isEquivalentTo ex:Bmp_bnFrame5894 . Listing 1: RDF-Repräsentation der Kollationierung für zwei Bildkader.

Die Verknüpfung mit der modellierten Konzeptualisierung bildet das Ergebnis der Kollationierung semantisch in den Daten ab – es sind an dieser Stelle jedoch keinerlei Informationen über die Möglichkeiten der Darstellung enthalten. Zur Visualisierung des Kollationierungsergebnisses z. B. in Form eines ‚filmischen Variantenapparats‘ müssen die Informationen über Segmente, ihre Anordnung sowie die ermittelten Äquivalenzrelationen in einem weiteren Schritt einem Publikationsworkflow als Datenquelle zur Verfügung gestellt werden. Dies kann in einfachster Form beispielsweise durch die

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Bereitstellung der statischen RDF-Dateien oder unter Verwendung von Datenbanksystemen für RDF-Tripel erfolgen, die je nach Projektarchitektur lokal oder über einen Webserver öffentlich zugänglich gemacht werden.81 Für die Abfrage dieser Datenquelle stehen standardisierte Verfahren zur Verfügung (z. B. HTTP-Protokoll für die Abfrage von Daten aus dem WWW, SPARQL als Abfragesprache für RDF-Datenbanken). Die Aufbereitung der aggregierten Daten für eine Darstellung muss entsprechend den Randbedingungen von Ausgabemedium und -modus durchgeführt werden – sind sowohl die dem Datenbestand zugrunde liegenden Modelle als auch die Spezifikation der zu erzeugenden Ausgabeprodukte bekannt, lässt sich ein solcher Publikationsprozess im Idealfall für bestimmte Ausgabeszenarien unabhängig von den konkreten Daten voll automatisieren.

Abb. 4: Experimentelle Anwendung für die vergleichende Sichtung der Digitalisate und die Visualisierung der Kollationierungsergebnisse in einem kritischen Apparat.

Abbildung 4 zeigt eine experimentelle Anwendung für die vergleichende Analyse der filmischen Zeugen zu The Girl and Her Trust, die auf einer Datenquelle analog zum Beispiel in Listing 1 unter Verwendung des zuvor eingeführten Modells basiert. Die Ausgabe wurde hier mit den offenen Technologiestandards HTML, SVG, CSS und Javascript realisiert und ist damit plattform- und systemunabhängig in Webbrowsern nutzbar.

Sieht man diese Form der Zugänglichmachung des Datenbestands (oder Teilmengen der Daten) bereits als ‚Publikation‘ an, so kann neben den für Editionen ‚gängigen‘ Modi Leseausgabe, Studienausgabe und historisch-kritische Ausgabe auch eine Veröffentlichung der ‚reinen Daten‘ als Open Data bzw. Linked Open Data zum Spektrum der Ausgabemodi hinzugerechnet werden, was insbesondere als Schnittstelle für die maschinelle Rezeption der erarbeiteten Informationen von Bedeutung ist.

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Die Anwendung bietet die folgenden Funktionen (vgl. Nummerierung in Abbildung 4): (1) Die Digitalisate können in eines der Abspielmodule geladen werden. (2) Der Split-Screen erlaubt die parallele Ansicht von Digitalisaten. (3) Für jedes Abspielmodul stehen separate Bedienelemente zur Verfügung. Die Abspielgeschwindigkeit lässt sich beliebig regulieren, zudem ist der schrittweise Bildvor- und -rücklauf auf Ebene der Bildkader möglich. Der Bildlauf beider Abspielmodule kann dabei für eine vergleichende Sichtung synchronisiert werden. (4) Das Kollationierungsergebnis für die ausgewählten Überlieferungsträger wird in den Laufleisten im unteren Teil der Ansicht visualisiert.82 Die dort in stilisierter Form repräsentierten Bildkader liefern Informationen bezüglich ihrer Position in verschiedenen Segmenten (z. B. im gesamten Digitalisat, im Segment des eigentlichen Films sowie im jeweiligen Einstellungssegment). In Bezug auf das Vergleichsdokument zeigen sie über ihre Einfärbung Äquivalenzen und Varianzen an und fungieren gleichzeitig als Hyperlinks zu den ermittelten Parallelstellen.

9. Ausblick Im British Film Institute (BFI) ist ein Nitrat-Positiv von The Girl and Her Trust aufbewahrt, dessen Trägermaterial auf 1918 datiert ist. Im Vergleich mit den hier bereits diskutierten Materialien zeigt die BFI-Fassung ebenfalls eine abweichende Einstellungsfolge (s. Abbildung 5). Die Einstellungslängen des BFI-Materials fallen dazu teilweise deutlich kürzer aus, jedoch liegen keinerlei aus der Montage resultierende Unstimmigkeiten im Handlungsablauf vor, und auch das Einstellungssegment E45' ist enthalten.83 Es ist nicht auszuschließen, dass weder die restaurierten Fassungen des Paper Print und des Biograph-Negativs noch die Blackhawk-Fassung den Film in der Einstellungsfolge zeigen, in der er 1912 veröffentlicht wurde. Die zeitliche Nähe der Datierung des BFI-Materials zur Entstehung des Werks leistet einer solchen Hypothese Vorschub. Ließe sich nachverfolgen, dass das BFI-Material von der britischen Verleihkopie des Films abstammt und diese wiederum der US-amerikanischen Verleihkopie entsprach, so würde dies Argumente dafür liefern, dass die Unstimmigkeiten in der Montage sowohl der Restaurierung des Paper Print als auch des Biograph-Negativs als ‚Fehler‘ zu bewerten sind, für welche bei der Herstellung einer edierten ‚Ansichtsfassung‘, z. B. unter Verwendung des restaurierten Negativmaterials, Emendationen in Betracht zu ziehen wären.84

Die obere Laufleiste ist hier dem linken Abspielmodul, die untere dem rechten zugeordnet. Die Gesamtlänge der Sichtungskopie wurde mit 894 ft gemessen; vgl. British Film Institute. Archivsign.: C-68504. 35 mm Acetat-Positiv (viewing print). Gesichtet am 26. November 2018. 84 The Girl and Her Trust wurde am 26. Mai 1912 für den britischen Markt veröffentlicht. Die Länge dieser Fassung wird mit 989 ft angegeben. Vgl. The Pictures 2, No. 30, 11.5.1912, Titelseite verso. 82 83

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Abb. 5: Abfolge der von Varianzphänomenen betroffenen Einstellungssegmente mit ‚abbildender Funktion‘ in den verschiedenen Fassungen im Vergleich.

Die Zusammenführung und Auswertung von Informationen, die dezentral und unabhängig voneinander in unterschiedlichen Institutionen oder Projekten erarbeitet wurden, ist gerade für die Beantwortung von editionswissenschaftlichen Fragen von großer Bedeutung. Zugangsmöglichkeiten zu diesen Daten über webbasierte, öffentliche Schnittstellen und der Einsatz von Semantic-Web-Technologien erleichtern die Verwertung erheblich.85 Eine formale Modellierung des terminologischen Wissens über die jeweils repräsentierten Erkenntnisse ermöglicht dabei die gezielte Selektion und Aggregation der Daten sowie das maschinell unterstützte Schließen auf gegebenenfalls über mehrere Quellen verteilt vorliegendes ‚implizites Wissen‘.86 Hinsichtlich des diskutierten Materials und der oben formulierten Hypothese könnte z. B. aus zusätzlichen Daten zur Provenienz und zur Anordnung der filmischen Segmente, wie sie für konkrete Überlieferungsträger festgestellt bzw. für eine verlorene Fassung überliefert wurde, eine qualitative Bewertung der identifizierten Varianzen abgeleitet werden. Ausgehend von einer derart erweiterten Datengrundlage ließe sich bei Bedarf leicht eine spielbare Version des Films im Sinne einer ‚virtuellen Rekon­ struktion‘87 erzeugen – z. B. als Annäherung an eine verlorene, aber erschlossene Vorführfassung. Extrapoliert man diesen Gedanken, so würde ein durch eine hinreichend differenzierte Modellierung von Material, Form und Inhalt angereicherter Datenbestand diverse kombinatorische, je nach Grad der Verknüpfung mit ‚projektfremden‘ Datenquellen auch werk- und domänenübergreifende Abfragen erlauben, aus welchen potenziell weitere Erkenntnisse für filmwissenschaftliche Fragestellungen gewonnen werden Das RDF-Format eignet sich hierbei als einheitlicher und offener Technologiestandard für den Datenaustausch. Ein aktuell bereits gängiger Anwendungsbereich ist die Bereitstellung von Normdaten, z. B. durch die Linked Data Services der Library of Congress, vgl. http://id.loc.gov/ (gesehen 9.10.2019), oder die Metadatendienste der Deutschen Nationalbibliothek, vgl. https://www.dnb.de/DE/Professionell/ Metadatendienste/Exportformate/RDF-Vokabulare/rdf_node.html (gesehen 9.10.2019). 86 Eine institutions- bzw. projektübergreifende Implementierung von einheitlichen Beschreibungsmodellen ist nicht erforderlich. Zwischen den als äquivalent betrachteten Informationskategorien der externen und im Editionskontext verwendeten Modelle müssen lediglich Identitätsrelationen bestimmt werden (sog. Ontology Mapping). Dies kann z. B. durch die OWL-Relation owl:sameAs ausgedrückt werden (vgl. Anm. 53). 87 Hier: hypothetische, durch die Untersuchung des überlieferten Materials begründete, digitale Nachschöpfung. Vgl. auch Bohn 2013 (Anm. 6), S. 92 f. 85

Zur konzeptuellen Modellierung kritischer Filmeditionen

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können.88 Im Gegenzug kann eine Edition ihrerseits durch die Bereitstellung der erarbeiteten Forschungsdaten in standardisierter Form unter Explikation des repräsentierten Wissens als Datenquelle für dritte Projekte dienen, ohne dass deren konkrete Erkenntnisinteressen bekannt sein müssen. Grundvoraussetzung ist jeweils die detailliertere Ausarbeitung einer formalisierten Konzeptualisierung insbesondere des filmeditorischen Diskursuniversums. Für den hier entwickelten Ansatz böte sich in einem ersten Folgeschritt die Spezialisierung des Konzepts fe:Feature durch Differenzierung von Unterklassen an. Eine in Abbildung 3 bereits angedeutete Unterscheidung von Merkmalen auf Ebene eingebrachter Information (z. B. optische Dichte des belichteten Filmmaterials oder ‚cinematographische Codes‘ wie Einstellungsgrößen, Kamerabewegungen etc.),89 das Material betreffender Aspekte (z. B. Defekte, Verschleißspuren)90 und inhaltlicher Aspekte (z. B. Identifika­ tion von Figuren, Objekten oder Handlungselementen) würde die kombinatorische oder unabhängige Beschreibung und Verarbeitung der jeweiligen Merkmalsausprägungen für einzelne Überlieferungsträger oder Gruppen von Materialien ermöglichen.91 Während eine konzeptuelle Modellierung für die kritische Filmedition somit einerseits eine Grundlage für die Entwicklung von Anwendungen zur Weiterverarbeitung und Darstellung bieten kann, ergibt sich darüber hinaus die Möglichkeit zur Festigung terminologischer Definitionen: Mit dem hier beschriebenen Ansatz ist z. B. bereits eine formale Aussage über die Auslegung des Fassungsbegriffs unter Einbeziehung (oder expliziter Ausklammerung) bestimmter Merkmale möglich. Der Begriff ‚Fassung‘ ­ließe sich damit sowohl im Sinne einer generischen Definition formulieren – etwa als Formalisierung der hier adaptierten Definition von Siegfried Scheibe (s. Anm. 22) – als auch hinsichtlich des Gebrauchs in einem spezifischen Kontext erläutern.92 Wie in diesem Beitrag exemplarisch für die Erschließung der Varianzen im Material von The Girl and Her Trust demonstriert wurde, lassen sich, unterstützt durch die Modellierung, Voraussetzungen zur Realisierung kritischer Filmeditionen schaffen, deren Ausgabeprodukte den durch historisch-kritische Textausgaben gesetzten Standards Beispiele für Abfragen über ein Konvolut von hinsichtlich entsprechender Form- und Inhaltsmerkmale erschlossenen Filmwerken wären (hier natürlichsprachlich formuliert): ‚Wie verteilt sich die Häufigkeit bestimmter Kameraeinstellungsparameter über die Biograph-Produktionen unter der Regie von D. W. Griffith in den Jahren 1911–1912, bei welchen er mit B. Bitzer an der Kamera zusammenarbeitete?‘ oder ‚In welchen Merkmalen unterscheidet sich die Bildkomposition, wenn Griffith in alternanter Montage Protagonist(en) und Antagonist(en) gegeneinanderschneidet?‘ 89 Dies erfordert z. T. eine weitere Segmentierung innerhalb der einzelnen Bildkader sowie Möglichkeiten zur Identifikation und Klassifikation von Figuren bzw. Objekten im Filmbild und der Beschreibung von deren Relation zum Bildformat. 90 Ein Klassifikationsschema für die Beschreibung von Defekten in audiovisuellen Daten findet sich z. B. in Werner Bailer, Peter Schallauer: An MPEG-7 Extension for Describing Visual Impairments. Beitrag zur Konferenz WIAMIS ’08. Ninth International Workshop on Image Analysis for Multimedia Interactive Services. Klagenfurt 2008. DOI: 10.1109/WIAMIS.2008.22. 91 Die Vorteile, die derartige Beschreibungsmöglichkeiten für den Abgleich und die Analyse auf der Ebene einzelner Items im Rahmen der Arbeit in Filmarchiven bieten könnten, wurden in einem Workshop der LOD-Task Force der FIAF Cataloguing and Documentation Commission am 14./15. Februar 2019 in Berlin herausgearbeitet. Vgl. Heftberger 2019 (Anm. 54), S. 69. 92 Eine Abstraktion von Material- und bestimmten Formmerkmalen könnte sich zudem für die Formalisierung eines Werkbegriffs sowie die Beschreibung von (gegebenenfalls intermedialen) Adaptionsszenarien als produktiv erweisen. 88

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gerecht werden können. In den gewählten Technologien sind dabei bereits einige Teil­ aspekte der eingangs angeführten Desiderate genuin angelegt, insbesondere gilt dies in Bezug auf die Forderungen nach ‚Hypermedialität‘ der Editionsbestandteile und nach Unabhängigkeit von spezifischen Ausgabeszenarien. Während die Adaption bestehender Beschreibungsstandards für die Modellierung der Bestandteile kritischer Editionen stellenweise möglich ist, müssen, wie im Rahmen des hier diskutierten Beispiels skizziert, für spezifische editionswissenschaftliche Anforderungen allerdings zusätzliche Mittel ergänzt werden, was für einzelne Teilbereiche modular erfolgen kann. Die hierzu zunächst mediengenerisch eingeführten Konzepte können durch Bildung von Unterklassen weiter spezifiziert werden, so dass sich das Modell auf einem gewissen ­Abstraktionsgrad in gleicher Weise z. B. auch für die Beschreibung semantisch äquivalenter Phänomene auf Informationsträgern unterschiedlichen Medientyps eignet. Um diesen Ansatz für die kritische Filmedition im Allgemeinen produktiv zu machen, gilt es, das konzeptuelle Modell in nächsten Schritten entsprechend für das gesamte Leistungsspektrum historisch-kritischer Editionen auszubauen. Hierbei bedarf es insbesondere der Formalisierung weiterer für die editorische Filmwissenschaft relevanter Aspekte in Einklang mit den einschlägigen theoretischen Arbeiten.93

Eine Weiterentwicklung des in diesem Beitrag skizzierten Ansatzes ist aktuell im Rahmen eines Dissertationsprojekts durch den Verfasser in Arbeit.

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Zur Entstehung von F. W. Murnaus Tabu: Die Edition der Outtakes Eine transdisziplinäre Online-Publikation der Deutschen Kinemathek

Friedrich Wilhelm Murnaus letzter Spielfilm Tabu (USA 1931) ist aufgrund seiner einzigartigen Überlieferungslage ein besonders aufschlussreiches Fallbeispiel für die Sicherung audiovisuellen Kulturguts sowie für die Anforderungen und Möglichkeiten, die mit dessen Edition verbunden sind. Neben den unterschiedlichen Fassungen des Films existiert ein Bestand von rund 17 500 Metern Filmmaterial: alternative bzw. nicht verwendete Einstellungen des Films, sogenannte Outtakes. Das KUR-Programm zur Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut – eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder – ermöglichte der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und dem Österreichischen Filmmuseum, diese langfristig vom Zerfall bedrohten Nitrofilm-Materialien durch Umkopierung zu sichern und in digitaler Form zu publizieren. Zusätzlich wurden in diese Online-Edition das Drehbuch zu Tabu sowie die ebenfalls erhaltenen Tagesberichte von den Dreharbeiten integriert. Die 2012 zweisprachig – deutsch und englisch – auf der Website der Deutschen Kinemathek1 veröffentlichten Arbeitsergebnisse bieten neue Einblicke in die Werkgenese des Films. Dabei eröffnet die erstmalig systematisch in Verbindung gebrachte Darstellung von filmischem Primärmaterial und schriftlich überliefertem Sekundärmaterial den Internetnutzerinnen und -nutzern einen individuell gestaltbaren Zugang zur Entstehungsgeschichte von Tabu und zeigt damit neue Wege der kritischen Edition audiovisuellen Kulturguts auf. Die drei zentralen und eng miteinander verzahnten Arbeitsbereiche des Projekts, dessen Laufzeit sich über rund dreieinhalb Jahre erstreckte, sollen im Folgenden erläutert werden: die medientechnische Sicherung und Digitalisierung der filmischen Materialien, ihre archivarische Aufbereitung zu aufwendig montierten Filmclips und die auf Methoden der literaturwissenschaftlichen Editionsphilologie beruhende editorische Konzeption dieser Online-Publikation. Zum besseren Verständnis des Projekts folgt hier jedoch zunächst eine Zusammenfassung der Entstehungs- und Produktionsgeschichte von Tabu – A Story of the South Seas, wie der Originaltitel des Films lautet.

www.deutsche-kinemathek.de/de/sammlungen-archive/sammlung-digital/murnaus-tabu (gesehen 7.5.2020).

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https://doi.org/10.1515/9783110684605-013

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Zur Entstehungs- und Produktionsgeschichte von Tabu Mit Filmen wie Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (D 1922) und Der letzte Mann (D 1924) hatte Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931) den Grundstein für seine internationale Karriere gelegt. Doch nachdem er in Hollywood drei Filme – darunter den mit drei Oscars ausgezeichneten Sunrise – realisiert hatte, kam es 1929 zum Bruch zwischen ihm und dem Produzenten William Fox. Gemeinsam mit dem ebenfalls von den Arbeitsbedingungen in Hollywood enttäuschten Dokumentarfilmer Robert  J. Flaherty, der u. a. durch Nanook of the North (USA 1922) berühmt geworden war, ent­wickelte er den Plan, einen unabhängig produzierten Film in der Südsee zu drehen, und gründete zu diesem Zweck die Murnau-Flaherty Productions. Mit Colorart Productions fand sich zudem eine Produktionsfirma, die das Projekt der beiden Filmemacher zu finanzieren bereit war. Der Arbeitstitel des geplanten Farbfilms lautete „Turia“; die Geschichte über die Ausbeutung der Tahitianer durch chinesische Perlenfischer basierte auf einer Idee von Robert Flaherty. Am 11.  Mai 1929 sollte die Produktion beginnen und am 26.  November 1929 abgeschlossen sein. Der erfahrene Segler Murnau erwarb einen Zweimaster, den er „Bali“ nannte, und legte das Kapitänsexamen ab. Im Frühjahr 1929 brach er von Los Angeles nach Tahiti auf; Flaherty machte sich einige Wochen später auf den Weg. Als Murnau am 22. Juli 1929 mit mehrwöchiger Verspätung in Papeete, der Hauptstadt von Tahiti, ankam, musste er erfahren, dass die Produktionsfirma Colorart die vereinbarten Gelder nicht überwiesen hatte.2 Bis in den November zog sich die letztlich fruchtlose Korrespondenz zwischen den Vertragspartnern über die Finanzierung des geplanten Films. Man einigte sich darauf, ihn in Schwarz-Weiß anstatt in Farbe zu drehen und Tonsequenzen für die Nachvertonung in Amerika aufzunehmen, um vor Ort auf Ton-Equipment verzichten zu können. Die geplante Dauer der Produktion und die veranschlagten Kosten auf Tahiti wurden drastisch gekürzt. Im Oktober trafen im Auftrag von Colorart deren Mitarbeiter Wallace Gillis, der Labortechniker Jack Cortissoz und der Kameramann L. Guy Wilky auf Tahiti ein. Die ersten in den überlieferten Tagesberichten verzeichneten Einstellungen von Tabu wurden am 16. Oktober 1929 an einem kleinen Fluss bei Toahotu gedreht. Kurz darauf stand jedoch fest, dass Colorart den „Turia“-Film nicht finanzieren konnte. Mitte November machten Wilky, Gillis und Cortissoz sich auf die Reise zurück in die USA. Als Ausgleich für die ausgebliebenen Zahlungen überließ Wallace Gillis Murnau das mitgebrachte Equipment. Ab diesem Zeitpunkt übernahm dieser die Finanzierung des Projekts. Als Ersatz für den gescheiterten „Turia“-Film entwickelten Murnau und Flaherty eine neue Filmidee: die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Perlentaucher Matahi und der den Göttern geweihten Reri, die kein Mann mehr begehren darf. Zwischen dem 19. November und Anfang Dezember 1929 wurde am Strand der Insel Motu Tapu3 Brief von Rose Kearin an F. W. Murnau, 5.7.1929, Nachlass F. W. Murnau, Deutsche Kinemathek (Personenarchiv). 3 In der Sprache der Maori hat das Wort motu die Bedeutung von ‚Ort‘ oder auch ‚Insel‘, tapu steht für ‚heilig‘ und ‚unantastbar‘. Nach polynesischem Glauben galt die Insel als Ort, der nicht betreten werden durfte. 2

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das Dorf gebaut, das als Kulisse für den Film diente. Gleichzeitig wurden die Hütten von der Filmcrew als Unterkunft genutzt. Ebenfalls auf Motu Tapu drehte Flaherty zwischen dem 11. und dem 21. Dezember verschiedene Einstellungen. Ende Dezember 1929 setzte die Crew die Dreharbeiten in der Nähe von Papeete fort. Etwa zur gleichen Zeit stieß der Kameramann Floyd Crosby zum Team. Er hatte schon früher mit Robert Flaherty zusammengearbeitet und konnte wegen anderer Verpflichtungen nur mit Verspätung in die Arbeit an Tabu einsteigen. In den folgenden drei Monaten zog Robert Flaherty sich, möglicherweise aufgrund technischer Probleme, die er mit seiner Akeley-Kamera hatte, immer mehr von der Kameraarbeit zurück und kümmerte sich stattdessen um das Entwickeln der Negative und das Kopieren der Muster auf Positivfilm.4 An der Entwicklung der Handlung von Tabu arbeitete Flaherty zwar weiterhin mit Murnau zusammen,5 aber die ursprünglich ausgewogene Arbeitsteilung zwischen beiden veränderte sich mit dessen Übernahme der Finanzierung deutlich. Der Film entwickelte sich zu einer reinen Murnau-Produktion mit einer gemeinsam von Flaherty und Murnau verfassten Geschichte. Bis zum März 1930 drehte das Team hauptsächlich auf Motu Tapu. Zum Mythos des Films trugen zahlreiche Unglücksfälle bei, die sich dort während der Dreharbeiten ereignet haben sollen, allerdings nicht belegbar sind. Lotte Eisner beispielsweise berichtet in ihrer Murnau-Biografie, dass zwei Kameras samt Filmmaterial von einer großen Welle vernichtet worden, dass Darsteller auf mysteriöse Weise verletzt worden oder erkrankt seien und dass der Koch der Crew unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen sei.6 Schwierigkeiten anderer Art während der Dreharbeiten schilderte Floyd Crosby: Murnau habe die Bestellung von Filmmaterial immer sehr hinausgezögert und außerdem altes Material, mitunter Reste anderer Produktionen, geordert.7 Zu Zwangspausen kam es auch wegen der Regenzeit oder weil Filmmaterial fälschlich nach Neuseeland anstatt nach Tahiti geschickt worden war.8 Im Mai 1930 traf die Negativ-Cutterin Martha Dresback auf Tahiti ein, mit der Murnau eine Schnittfassung erarbeitete, in der allerdings noch die Special Effects fehlten; diese wurden nachträglich in den USA gedreht. Bis Anfang September 1930 dauerten die Dreharbeiten in der Südsee. Drehorte waren neben Motu Tapu auch Bora Bora, Tautira (im Südosten Tahitis), die Rennbahn in Papeete, das südlich von Papeete gelegene Faa’a, die Gemeinde Punaauia am Westufer von Tahiti sowie die Insel Moorea vor Tahiti. Die letzte in den Tagesberichten verzeichnete Einstellung wurde am Samstag, dem 6.  September 1930 in Faa’a gedreht. In den folgenden Wochen stellten Murnau und Martha Dresback den Schnitt fertig. Anschließend reiste Murnau zusammen mit Robert Flaherty und den anderen Crewmitgliedern auf einem Linienschiff zurück nach Amerika. Am 8. November 1930 traf er in San Francisco ein. Die „Bali“ war in der Südsee geblieben; Murnau hatte vor, dorthin zurückkehren. 6 7 8 4 5

Vgl. Robert Flaherty: Wie Tabu entstand. In: Die Filmwoche, Nr. 22, 27.5.1931. Vgl. Floyd Crosby: The Development of Cinematography. Beverly Hills 1977, S. 17. Lotte H. Eisner: Murnau. Frankfurt/Main 1979, S. 355. Vgl. Crosby 1977 (Anm. 5), S. 36. Vgl. F. W. Murnau: „Liebste Salka, liebster Berthold [...]“, Brief an Salka und Berthold Viertel, ohne Datum (1929), Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Salka Viertel.

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Zunächst aber musste er sich mit der Fertigstellung von Tabu beeilen, weil sein Visum für Amerika nicht mehr lange gültig war. Murnau beauftragte Hugo Riesenfeld, der damals bei United Artists arbeitete, mit der Komposition der Musik und den Ton­ effekten für den Film. Im Dezember 1930 arbeitete Murnau an den Spezialeffekten für jene Szenen von Tabu, in denen ein (künstlicher) Hai zu sehen ist. Spätestens ab Anfang 1931 war Arthur A. Brooks als Cutter vorwiegend am Synchronschnitt beteiligt und führte auch jene Arbeiten am Negativ aus, die Murnaus Änderungen und die Special­Effect-Aufnahmen mit sich brachten. Am 18.  Februar 1931 verkaufte Murnau der Paramount die weltweiten Vertriebsrechte an Tabu für die Dauer von fünf Jahren. Zusätzlich hatte ihm die Produktionsfirma einen Zehnjahresvertrag angeboten. Der Regisseur plante daraufhin zunächst, zur Uraufführung von Tabu am 18. März 1931 nach New York und anschließend für einige Zeit nach Europa zu reisen. Dazu kam es jedoch nicht. Am 11. März 1931 erlag Friedrich Wilhelm Murnau den Verletzungen, die er kurz zuvor bei einem Autounfall in der Nähe von Santa Barbara erlitten hatte. Neben der von Murnau erstellten Schnittfassung von Tabu – der Filmhistoriker Enno Patalas bezeichnete sie als „Pre-Paramount“-Fassung9 −, die in den USA nicht in den Verleih gelangte, entstand 1931 eine darauf basierende Fassung des Films, die von der Paramount verliehen wurde: die sogenannte Paramount-Fassung. Ab 1931 wurde der Film von der Paramount auch in Deutschland vertrieben, allerdings in Murnaus Fassung, die dafür mit deutschen Haupt- und Zwischentiteln versehen wurde. Nach Ablauf des Vertrages über den Vertrieb von Tabu gab die Paramount das gesamte Material an die Murnau-Erben zurück. Die Weltrechte – außer für Schweden – wurden anschließend für fünf Jahre an die Tobis-Cinema Film AG vergeben; nach deren Ablauf wurde der Vertrag um weitere fünf Jahre, bis 1947, verlängert. Die deutsche Verleihfassung von Tabu wurde ab 1938 durch die Degeto-Kulturfilm GmbH vertrieben. Am 1. November 1940 veräußerte Murnaus Bruder Robert Plumpe alle Rechte an Tabu und der „Turia“-­ Geschichte an den amerikanischen Produzenten Samuel Brown, der bei den Dreharbeiten zu Tabu als Flahertys Assistent mitgewirkt hatte. Bevor Tabu allerdings erneut in die amerikanischen Kinos gebracht werden konnte, mussten die Verleiher – Browns Firma Golden Bough in Zusammenarbeit mit der Motion Pictures Sales Corporation – die Vorgaben der Production Code Administration umsetzen. Bereits Ende März 1930 hatte die Motion Pictures Producers and Distributors Association unter dem Vorsitzenden Will Hays eine Sammlung von ‚Don’ts‘ und ‚Carefuls‘ veröffentlicht, um keinen Anlass für den von konservativer Seite erhobenen Vorwurf des Sittenverfalls im US-amerikanischen Film zu geben. Diese als ‚Hays Code‘ oder ‚Production Code‘ bezeichnete Liste wurde ab dem Sommer 1934 konsequent umgesetzt. Die erste Kinofassung von Tabu, die am 18. März 1931 in New York uraufgeführt worden war, konnte noch unbehelligt von den Forderungen des Production Codes realisiert werden. Für die Wiederaufführung durch Golden Bough musste der Film jedoch stark gekürzt werden, bevor er im Januar 1950 das notwendige Zertifikat erhielt. Von den Zensureingriffen betroffen waren u. a. sämtliche Einstellungen, in denen (teilweise) Enno Patalas: Tabu: Takes und Outtakes. In: Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. Hrsg. von Hans Helmut Prinzler. Berlin 2003, S. 231–234, hier S. 231.

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unbekleidete Frauen oder Kinder zu sehen sind, außerdem Aufnahmen eines Tanzes von Reri und Matahi sowie Einstellungen, in denen Reri ihren Kopf in Matahis Schoß gelegt hat. Auf diese Weise überflüssig gewordene Zwischenschnitte fielen zwangsläufig ebenfalls weg. Das Ausgangsmaterial, dessen Golden Bough sich bediente, stammte sowohl aus Murnaus als auch aus der Paramount-Fassung. Insbesondere die Zwischentitel wurden hauptsächlich Murnaus Fassung entnommen. In den Kinos konnte sich die Golden-Bough-Fassung nicht behaupten. 1967 kauften die Erben Murnaus die von Golden Bough erworbenen Rechte an Tabu und der „Turia“-Geschichte für den symbolischen Betrag von einem Dollar zurück. Im Februar 1968 wurde mit einem beglaubigten Schreiben die amerikanische Copyright-Behörde über die Rückübertragung sämtlicher Rechte und Titel an die Murnau-Erben informiert. Die Anerkennung dieses Schreibens durch die Behörde und die juristisch relevante Umschreibung des Copyright-Eintrags blieb jedoch aus. Auf eine 1987 erfolgte Anfrage von Murnaus Erben an die Behörde wurde ihnen mitgeteilt, dass seit dem 3. September 1931 die Paramount Publix Corporation über das Copyright verfügt habe und dass der Eintrag seit dem 31. Juli 1959 auf Samuel G. Brown ausgestellt war. Dessen Rechte liefen erst am 31. Dezember 2006 aus.

Das filmische Material Bei dem Rohfilmmaterial, das während der Dreharbeiten zu Tabu benutzt wurde, handelt es sich um 35-mm-Nitrofilm des Typs Kodak, Eastman Typ  I, Eastman Typ  II, ­DuPont sowie um Material von unbekannten Herstellern. Teilweise stammten die Rollen aus Restbeständen, manche waren aus kurzen Materialresten zusammengeklebt.10 Das Gros der Rollen, die im Rahmen der Edition der Outtakes bearbeitet wurden, weist eine Länge von jeweils rund 200 bis 300 Metern auf. Die kürzeste Rolle ist 24,6 Meter lang, die längste 667 Meter. Entsprechend den Tagesberichten (im englischen Original „Script Clerk’s Report“) wurde das Material zwischen dem 16. Oktober 1929 und dem 6. September 1930 gedreht, die Spezialeffekte (u. a. Szenen mit einem künstlichen Haifisch) wurden im Dezember 1930 in den USA aufgenommen. Die Gesamtmenge des für Tabu gedrehten Materials gibt Robert Flaherty mit 80 000 Metern an,11 in der Pressemappe der Paramount sind 250 000 Fuß genannt, umgerechnet rund 76 000 Meter. Verifizierbar sind diese aus produktionstechnischer Sicht unverhältnismäßig hoch erscheinenden Angaben nicht. In diesen Angaben enthalten waren zwar auch die Materialien, die im fertigen Film schließlich verwendet wurden: 7383 Fuß, das heißt 2250,34 Meter. Unklar ist jedoch, ob auch die nachträglich in den USA gedrehten Aufnahmen dazugerechnet wurden. Auch darüber, wie viel und welches Material Murnaus Bruder Robert Plumpe nach dem Tod des Regisseurs aus den USA und Tahiti nach Deutschland gebracht hat, gibt es keine überprüfbaren Aussagen. Für die Edition der Outtakes wurden insgesamt 16 245,66 Meter Negativ- und Positivmaterial, insgesamt also rund zehn Stunden Filmmaterial bearbeitet. Dabei wurde Vgl. Crosby 1977 (Anm. 5), S. 19. Flaherty 1931 (Anm. 4).

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nicht zu Tabu gehöriges Material im Umfang von 314 Metern ausgesondert. Das für die Edition der Outtakes verwendete Filmmaterial stammt aus dem Österreichischen Filmmuseum, Wien, und dem Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin. Der aus dem Österreichischen Filmmuseum stammende Bestand umfasste ursprünglich 92 Büchsen mit unterschiedlich umfangreichen Rollen, die der Besitzer der Grazer Filmproduktion Alpenfilm, Albin Oswalder-Wandegg, im Mai 1971 dem Österreichischen Filmmuseum übergeben hat. Enthalten sind in diesem Bestand Negativmaterialien (Kamera-Negativmaterial, Dupnegativ) ebenso wie Positivmaterialien. Zu den Positiven liegt nur in wenigen Fällen auch Negativmaterial vor. Im Wiener Bestand sind außerdem drei Rollen enthalten, die im Vorfeld vom Österreichischen Filmmuseum ausgesondert wurden, da sie keinen Bezug zu Tabu erkennen lassen. Weitere fünf Rollen aus dem Bestand sind nicht in die Edition der Outtakes mit aufgenommen worden, weil es sich um Lichttonmaterial handelt, das keine Bildinformationen enthält. Entsprechend enthalten 84 Rollen Tabu-Material. Deren Gesamtumfang beträgt 14 185,76 Meter. Von diesem Material war die Rolle Nr. 81 (150 Meter) nicht auffindbar. Der Umfang des bearbeiteten Materials, das vom Österreichischen Filmmuseum zur Verfügung gestellt wurde, beträgt deshalb 14 035,76 Meter. In die Edition der Outtakes wurde die Rolle Nr. 81 dennoch mit aufgenommen, da eine Schneidetisch-Abfilmung von ihr existiert; daraus resultieren Unterschiede in der Bildqualität zu den besser überlieferten Materialien. Der Bestand aus dem Bundesarchiv-Filmarchiv umfasst acht Büchsen mit Rollen unterschiedlicher Länge und einer Gesamtlänge von 2 059,9 Metern, die bearbeitet wurden. Das Material war ursprünglich von den Erben Murnaus zur Begutachtung ins Deutsche Filminstitut gegeben worden und lagert seither im Bundesarchiv-Filmarchiv. In dem Bestand enthalten sind Negativmaterialien (Kameranegativmaterial, Dup-Negativ), aber auch Positivmaterialien. Zu den Positiven liegt nur in wenigen Fällen auch Negativmaterial vor. Außerdem enthalten sind 434 Meter Material (zwei Rollen), die Anna Chevalier in einer Großstadt, möglicherweise New York, zeigen und einige Jahre nach der Entstehung von Tabu aufgenommen wurden. Dieses Material wurde ausgesondert und nicht in die Edition aufgenommen.

Sicherung und Digitalisierung der Outtakes Mit der Sicherung und Digitalisierung der Outtakes wurde das renommierte Fachlabor L’immagine ritrovata in Bologna beauftragt. Mehr als 16 000 Meter Filmmaterial wurden zunächst auf ihren Zustand hin überprüft und anschließend in Sicherheitsschränken für Nitrofilm zwischengelagert. Im Rahmen der Zustandsdokumentation wurden die Filmbüchsen und ihre Etikettierung sowie die Aufschriften auf den Startbändern fotografiert, um die ursprüngliche Ordnung des Materials festzuhalten. Im nächsten Schritt wurde der Inhalt jeder einzelnen Rolle – Negativ- und Positivmaterial – erfasst. Anhand eines von der Deutschen Kinemathek erstellten Kriterienkataloges wurde der Bildinhalt jeder Einstellung stichwortartig aufgenommen, außerdem die Randnummerierung und die Herstellerinformation zur Datierung des Rohfilms sowie, soweit möglich, die Informationen von den Tafeln, die – ähnlich wie Filmklappen – den Einstellungen vorangestellt sind und auf

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denen die Einstellungsnummer, der Name des Kameramanns und andere Daten verzeichnet sind. Die Anzahl der Einzelbilder für jeden Take wurde erfasst. Schrammen und andere Beschädigungen, Klebestellen sowie teilweise vorhandene Einzeichnungen wurden ebenfalls dokumentiert. Während der technischen Analyse wurde das Material behutsam umgerollt und da­ raufhin untersucht, ob es sich um Negativ- oder Positivfilm handelt. Der überwiegende Teil der Rollen besteht aus Negativmaterial. Hier wurde zusätzlich überprüft, ob das Originalnegativ oder ein Duplikatnegativ, also eine spätere Generation vorliegt. Außerdem wurde die Schrumpfung des Materials gemessen. Sämtliche in diesem Arbeitsprozess gewonnenen Daten wurden tabellarisch zusammengefasst. In der sich anschließenden Arbeitsphase wurde beschädigte oder fehlende Perforation repariert bzw. ersetzt. Nahezu sämtliche Klebestellen wurden geöffnet, von gealtertem Klebemittel befreit und neu geschlossen, in den meisten Fällen nass. In einigen Fällen wurde trocken geklebt und dabei besonders darauf geachtet, dass das Bild nicht von Klebekanten überschnitten wurde. Der generell gute Zustand des Tabu-Materials – er ist darauf zurückzuführen, dass es sich dabei überwiegend um Kameranegativ-Reste handelt, die niemals außerhalb der Kamera gelaufen sind – machte keine weiteren Eingriffe erforderlich. In Vorbereitung der Kopierung wurde für jede Rolle eine Lichtbestimmung durchgeführt, um sicherzustellen, dass jede Szene das für sie geeignete Kopierlicht erhalten würde. Dieser Arbeitsschritt erwies sich für das Tabu-Material als sehr komplex, da es aus Aufnahmen von drei verschiedenen Kameraleuten besteht, die jeweils unterschiedliche Dichten belichtet hatten. Außerdem bestanden die Rollen aus diversen nicht geordneten Materialarten und Materialgenerationen, die zudem auf unterschiedlichem Rohfilm gedreht worden waren. Manche der Rollen sind aus Hunderten von Einstellungen oder Einstellungsfragmenten montiert, die teilweise nur aus wenigen Einzelbildern bestehen. Auch für diese sehr kurzen Fragmente musste jeweils das richtige Licht gefunden werden. Vor dem Kopieren wurde das Material einer Ultraschallreinigung in Hydrofluoräther unterzogen. Mit Rücksicht auf das empfindliche Nitromaterial wurde hierbei mit sehr weichen Schwammrollen und einer auf 80  Bilder pro Sekunde herabgesetzten Geschwindigkeit gearbeitet. Im Interesse eines besseren Bildstands wurde anstatt einer Kontaktkopierung das Verfahren der optischen Schrittkopierung gewählt. Die Randinformationen des Originals wurden mitkopiert, die Kopierung erfolgte nass unter Perchlor­ethylen auf Eastman Duplikatpositiv Typ 2366 bei einer Geschwindigkeit von vier Bildern pro Sekunde. Das so entstandene Duplikatpositiv wurde in einer Auflösung von 2K digitalisiert und in 10-Bit-Log-dpx-Dateien abgelegt. Anschließend wurde digital eine erneute Lichtbestimmung vorgenommen. Diese wurde auf HD-Cam-Band übertragen, die 2K-Rohdaten wurden als weitere Sicherung auf Festplatte ausgespielt. Im Anschluss an die Sicherung und Digitalisierung wurde das Tabu-Material an die Deutsche Kinemathek geliefert: zum einen als Sicherheitsfilm, auf den sämtliche Rollen umkopiert worden waren („Fine Grain“), zum anderen in Form von Digitalisaten der umkopierten Rollen (in einer 2K-Auflösung auf Festplatte, als HD-Cam-Band und als DigiBeta-Band).

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Zum archivarischen und editorischen Konzept Parallel zur Sicherung und Digitalisierung des filmischen Materials fand in der Deutschen Kinemathek die Entwicklung und Umsetzung der archivarischen und editorischen Konzeption statt. Ziel der Edition der Outtakes war und ist es, Murnaus Arbeitsweise an seinem letzten großen Werk in umfassender Weise nachvollziehbar zu machen. Hierfür wurde im Rahmen der kritischen Edition eine kombinierte Darstellung der filmischen Materialien sowie des Drehbuchs zu Tabu („Current Continuity“) und der ebenfalls erhaltenen Tagesberichte von den Dreharbeiten („Script Clerk’s Reports“) auf einer hierfür entwickelten datenbankbasierten Webanwendung und -oberfläche zugänglich gemacht. Als zentrales Ordnungskriterium für diese umfangreichen Materialien fungieren die Einstellungen des Films, die in allen drei Quellen genannt bzw. beschrieben sind. Die mehreren Tausend digitalisierten Einzelteile der Outtakes wurden entsprechend ihren Bildinhalten zu Filmclips montiert, die ebenfalls so weit wie möglich analog zu den Einstellungen des Films benannt und sortiert wurden. Für jede Einstellungsnummer sind außerdem sämtliche jeweils in den anderen Quellen vorhandenen Eintragungen erschlossen. Folgende allgemeine Feldbezeichnungen wurden zur Erfassung der Quellen in der Datenbank festgelegt: „Typ“ (Feld für die Angabe, aus welcher der drei Quellen dieser Edition der angezeigte Datensatz stammt); „Datensatz-Nr.“ (Feld für die im Rahmen dieser Edition vergebenen Bezeichnungen der Einzeldatensätze; die Datensätze zu den Clips wurden entsprechend den Einstellungsnummern benannt). Im Feld „Kommentar“ sind jeweils editorische Erläuterungen zu im Rahmen der Projektarbeit gewonnenen Erkenntnissen über die Quellenmaterialien angegeben. Beispiele hierzu sind in den folgenden Erläuterungen der kritischen Edition der Quellenmaterialien aufgeführt. Auf der Weboberfläche der Edition sind links vom jeweils angezeigten Datensatz zu einem Clip die im Drehbuch und/oder in den Tagesberichten vorhandenen Ergebnisse zu der betreffenden Einstellung aufgeführt und verlinkt. Auf den Ergebnisseiten zu den Clips, dem Drehbuch und den Tagesberichten stehen jeweils zwei Navigationsmöglichkeiten zur Verfügung, um das Material zu sichten bzw. aufzufinden: eine Pfeilnavigation, die an der Reihenfolge der Einstellungsnummern bzw. der Abfolge der einzelnen Seiten der beiden Textkonvolute orientiert ist, und eine Suchbox, mit der sich einzelne Einstellungsnummern finden lassen.

Zur Entstehung von F. W. Murnaus Tabu: Die Edition der Outtakes

Abb.1: Seite aus dem Drehbuch mit Einstellung 19RT.

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Abb.2 Korrespondierende Seite zu Einstellung 19RT aus dem Tagesbericht.

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Abb.3: Frame aus Einstellung 19RT, Take 5 (Kamera: Floyd Crosby).

Die kritische Edition der Quellenmaterialien Die Filmclips Ausgangsmaterial für die im Rahmen der Edition der Outtakes gezeigten 782  Clips war das DigiBeta-Material, das in Form von mov-Dateien in ein Filmschnittprogramm (Final Cut Pro) eingelesen und für das Internet optimiert wurde. Anschließend wurden die digitalisierten Rolleninhalte Einzelstück für Einzelstück voneinander separiert. Die mehreren Tausend Filmschnipsel wurden im nächsten Schritt anhand ihres Bildinhalts und im Abgleich mit der Handlung des fertigen Films − Murnaus Schnittfassung von 1931, die sogenannte „Pre-Paramount“-Fassung − vorsortiert. Material, das keinen Bezug zu Tabu erkennen lässt, wurde aussortiert. In der nächsten Arbeitsphase wurde das vorsortierte Material entsprechend den Einstellungsnummern sortiert, die auf dem Filmmaterial selbst wie auch im Drehbuch und in den Tagesberichten verzeichnet sind. Anhand dieser Quellen sowie der Dokumentation aus Bologna ließen sich zuvor nicht zuzuordnende Aufnahmen (beispielsweise von Wasser oder Himmel) sinnvoll zusammenfügen. Das jeweils zu einer Einstellungsnummer gehörige Material wurde entsprechend den Randnummern in die Reihenfolge gebracht, in der es gedreht wurde. Material, das keine Randnummern aufweist, wurde so weit wie möglich anhand des Bildinhalts sortiert. Material, das sich keiner Einstel-

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lungsnummer zuordnen ließ, wurde unter der Behelfsbezeichnung „Nicht zuzuordnen“ zusammengefasst sowie mit einem den Bildinhalt wiedergebenden Stichwort versehen (z. B. „Fischzug 1“ etc.). Aus den so entstandenen Sammlungen von Filmschnipseln wurde Positivmaterial aussortiert, sofern das jeweils dazugehörige Negativmaterial überliefert ist. Bei Teilen des Positivmaterials, von dem kein Negativ mehr existiert, waren die ursprünglichen Randnummern nicht mitkopiert worden. In diesen Fällen wurde versucht, anhand des Bildinhalts festzustellen, in welcher Reihenfolge es gedreht wurde. Wenn dies nicht möglich war, wurde das Positivmaterial jeweils an das Ende der Clips gesetzt. In jeden Clip wurde – sofern vorhanden – auch das jeweils zu der Einstellung gehörende Material aus dem fertigen Film montiert. Um dieses Material von den Outtakes unterscheidbar zu machen, wurde es durch eine Verkleinerung auf 88 Prozent des Outtake-Materials und einen entsprechend breiten schwarzen Bildrand kenntlich gemacht. Das Material aus dem fertigen Film zeigt nur einen Teil des Ursprungsmaterials: Im Original ist es mit der Tonspur versehen (und lag somit im alten Tonkasch 1,17:1 vor), die für diese Edition entfernt wurde. Betroffen hiervon ist in der Regel der untere und der linke Bildrand (bei Aufsicht/Ansicht). Wenn es nicht möglich war, die zugehörigen Einstellungen aus dem fertigen Film nachvollziehbar in die einzelnen Clips einzupassen, wurden diese Passagen jeweils an den Anfang der Clips gestellt. Fehlende Passagen einer Einstellung wurden durch Schwarzbild (20 Bilder) kenntlich gemacht. Die Zusammensetzung jedes Clips wurde durch das Schnittprogramm automatisch protokolliert; Voraussetzung hierfür war, dass zu Beginn der Arbeit die Timecodes der eingelesenen Bänder manuell für jede Rolle nachgetragen wurden. Diese Informationen liefert das Schnittprogramm in Form einer ‚Edit Decision List‘ (EDL), die exportiert und in andere Schnittprogramme eingelesen werden kann. Auf diese Weise ist es möglich, jeden im Rahmen der Edition der Outtakes erstellten Clip zum Beispiel auch mit dem vorhandenen hochaufgelösten HDCam-Material nachzuschneiden. Die in den Clips versammelten Filmmaterialien weisen zum Teil unterschiedlich große Bildfenster auf. Der Grund hierfür ist, dass das Filmmaterial auf viele Rollen verteilt und zersplittert vorlag und in dieser Form umkopiert werden musste. Leicht unterschiedliche Schrumpfungen und daraus folgende Maschineneinstellungen lassen infolgedessen in den aus den Digitalisaten montierten Clips gelegentlich kleine Formatänderungen erkennen, die unvermeidlich sind. Rund 150 Clips mit Material, das sich keiner Einstellung zuordnen lässt, wurden in der Webanwendung über die Themensuche (Themen in den Clips / Nicht zuzuordnender Clip) sowie über die Freie Suche (Suchbegriff: „nicht zuzuordnen“) auffindbar gemacht. Sämtliche in den Filmmaterialien auftauchenden Personen wurden namentlich erfasst. Für die Mitwirkenden wird der Rollenname angegeben, wenn es sich um Spiel­ szenen handelt; wenn sie als Mitglieder der Crew im Bild auftauchen, sind sie mit ihren Realnamen genannt. Mit den im Rahmen der Edition erschlossenen Tagesberichten und dem Drehbuch zu Tabu wurden nur diejenigen Clips verknüpft, die eindeutig einer der dort genannten Einstellungen entsprechen. Clips, für die das nicht zutrifft, wurden nicht mit den Quellen verknüpft.

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Zusätzlich zu den oben genannten Standardfeldern wurde für die Clips die Feldkategorie „Materialdetails“ für Informationen zu den einzelnen Filmschnipseln festgelegt, aus denen der Clip zusammengesetzt ist (Informationen zur Art des Materials, zur Randnummer, zur Videobandnummer des gesicherten Materials, Timecode zur Gesamtlänge des jeweiligen Schnipsels, Timecodes in/out auf dem jeweiligen Videoband; keine Angaben hierzu werden zu den dem fertigen Film entnommenen Schnipseln gemacht; diese sind jeweils mit dem Kürzel „PreParam“ gekennzeichnet.) Die Schreibweise der Einstellungsnummern wurde überwiegend aus dem filmischen Material übernommen, jedoch um einer besseren Lesbarkeit willen behutsam harmonisiert. Auf Ziffern folgende Buchstaben wurden direkt an die Ziffer angefügt (z. B. „23A“). Auf Buchstaben folgende Buchstaben wurden mit einem Bindestrich angefügt (23A-B). Den Einstellungsnummern vorangestellte Buchstaben wurden mit einem Bindestrich versehen (X-23A). Mehrere Buchstaben vor der Einstellungsnummer wurden unmittelbar aneinandergereiht (PP-41, XX-23). Die Bezeichnungen „RT“ und „Retort“ wurden jeweils hinter die Einstellungsnummer geschrieben (X-23A RT, X-23A Retort); teilweise steht hinter „Retort“ nach einem Leerzeichen eine zusätzliche Ziffer (23A Retort 3). In Fällen, in denen die Tafel im Clip eine andere Einstellungsnummer verzeichnet als das Drehbuch bzw. der Tagesbericht, werden diese Nummern im ersten Bild zum Clip jeweils untereinander aufgeführt: zuerst die Angabe auf der Tafel, darunter in eckigen Klammern die Nummer aus Drehbuch bzw. Tagesbericht. Im Kommentarfeld zum Clip findet sich jeweils eine Erläuterung (zum Beispiel X-X-24A = 24A). Sofern auf der Tafel zu einer Einstellung der Kameramann nicht genannt ist, aber aus den Quellen zum Film hervorgeht, um wen es sich handelt, wird der Name jeweils zu Beginn des Clips unterhalb der Einstellungsnummer angegeben. Wenn eine Einstellung von zwei oder mehr Kameramännern gedreht wurde und die Aufnahmen jeweils mit derselben Einstellungsnummer versehen sind, werden beide Varianten hintereinander gezeigt, und auf jeden Kameramann wird jeweils einzeln hingewiesen. Die Nennung erfolgt jeweils in alphabetischer Reihenfolge. In Fällen, in denen der Name des Kameramanns nicht angegeben ist, jedoch vermutet werden kann, um wen es sich handelt, wurde der Name in eckige Klammern gesetzt und mit einem Fragezeichen versehen, z. B.: 16 / 6D [Robert  J. Flaherty?]. Fälle, in denen der Name des Kameramanns unbekannt ist, sind folgendermaßen gekennzeichnet: [Kamera? / Camera?]. In Fällen, in denen keine Tafel vorhanden ist, das Material jedoch anhand von Drehbuch bzw. Tagesbericht einer Einstellungsnummer zugeordnet werden konnte, wurde diese Angabe übernommen und mit einem Fragezeichen in eckiger Klammer versehen: 6D [?] / Robert J. Flaherty.

Folgende Beispiele lassen sich für die Erkenntnisse anführen, die im Rahmen der Arbeit mit den Outtakes gewonnen und in die Edition mit aufgenommen werden konnten. Zu Aufnahmen von Robert J. Flaherty findet sich auf den Tafeln mehrfach die Notiz „Retort“, die darauf hindeutet, dass es sich bei der Aufnahme um einen Gegenschuss zu der vorherigen handelt. Flaherty benannte teilweise innerhalb einer Einstellungsnummer mehrere unterschiedliche „Retort“-Aufnahmen, die zusätzlich zur Take-Nummer eine weitere Ziffer erhielten. Die ebenfalls auf den Tafeln verwendete Abkürzung „NG“ steht für „No good“.

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Die Angabe „A“ auf einer Tafel weist in der Regel darauf hin, dass eine Einstellung ein zweites Mal, aber etwas „näher“ aufgenommen wurde, zumeist mit einem anderen Objektiv. Steht hinter einer Einstellungsnummer ein „F“ und gibt es von dieser Nummer keine „A“-, „B“-, „C“-, „D“- und „E“-Einstellung, handelt es sich bei der Aufnahme um eine von Robert J. Flaherty gedrehte Einstellung. Auf manchen Tafeln steht neben der Einstellungs- und der Take-Nummer auch der Begriff „Gauze“, teilweise ergänzt durch die Bezeichnung „big“ oder „small“. Diese Angabe verweist darauf, dass für die jeweilige Aufnahme Gaze als Weichzeichner vor das Objektiv gespannt wurde. „Big“ und „small“ bezeichnet vermutlich die Maschengröße des Netzgewebes. Die von Friedrich Wilhelm Murnau nach seiner Rückkehr in die USA gedrehten Szenen mit dem Haifisch-Modell und andere Unterwasseraufnahmen sind weder im Drehbuch noch in den Tagesberichten verzeichnet. Die von ihm vorgenommene Nummerierung dieser Einstellungen auf den dazugehörigen Tafeln lässt sich nicht nachvollziehen, zumal einige der Nummern bereits während der Dreharbeiten verwendet wurden. In einigen dieser Fälle steht neben den Nummern auf den Tafeln ein Datum, bei dem es sich vermutlich um den Drehtag handelt. Für die vorliegende Edition wurden diese Daten ersatzweise als Einstellungsnummern verwendet. Bei den teilweise in das Material – meist auf das erste Bild eines Takes – gekratzten Ziffern handelt es sich vermutlich um eine Nummerierung der Takes, die zur Übersicht beim Schneiden beitragen sollte. Neben fortlaufenden Nummern wurden auch Tafel-Nummern eingekratzt, durchgängig in derselben Handschrift, die sich nicht eindeutig identifizieren lässt; es ist jedoch nicht Murnaus Handschrift. Das Drehbuch zu Tabu („Current Continuity“) Die Deutsche Kinemathek erwarb die im Rahmen der Edition der Outtakes publizierte „Current Continuity“ zusammen mit einer Reihe weiterer Drehbücher zu Filmen von F. W. Murnau 1992 von dessen Erben. Es handelt sich dabei um insgesamt 152 lose Blätter von unterschiedlicher Papierart (im Format 27 cm × 20,5 cm). Der auf dem Deckel verzeichnete Titel „Current Continuity“ deutet zunächst darauf hin, dass das Dokument während der Dreharbeiten zu Tabu dazu diente, die Anschlüsse – das heißt die stimmigen Übergänge zwischen zwei Szenen – zu dokumentieren bzw. zu kontrollieren. Die einzelnen Seiten enthalten im Durchschnitt drei bis fünf mit Schreibmaschine verfasste Beschreibungen von Einstellungen aus Tabu, die mit handschriftlichen Notizen und Ergänzungen versehen sind; der Verfasser des Typoskripts ist nicht bekannt. Aus dem Inhalt der in dem Konvolut enthaltenen Seiten lässt sich schließen, dass die „Current Continuity“ vor allem die Funktion eines Drehbuchs erfüllte, welches nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung in anderer Form für Tabu nicht existiert. Einer der Gründe hierfür liegt in der Kurzfristigkeit, mit der Murnau und Robert Flaherty nach dem Scheitern des „Turia“-Projekts die Handlung von Tabu entwickeln mussten. Insbesondere anhand zahlreicher handschriftlich ergänzter Einstellungen, die zum größten Teil von F. W. Murnau selbst stammen, wird deutlich, dass die Handlung von Tabu in der „Current Continuity“ parallel zu den bereits stattfindenden Dreharbeiten festgehalten und weiterentwickelt wurde. Es ist anzunehmen, dass es sich bei dem vor-

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liegenden Dokument um F. W. Murnaus Arbeitsexemplar handelt. Entsprechend dem Inhalt und der Funktion des Dokuments wird es im Rahmen der Edition der Outtakes als Drehbuch bezeichnet. Die 152 vorhandenen Einzelblätter des Drehbuchs wurden jeweils von beiden Seiten fotografiert und digitalisiert. Bei der Erfassung der Seiteninhalte wurde die vorhandene Archiv-Paginierung übernommen; sämtliche Rückseiten wurden mit der Seitenzahl der Vorderseite erfasst, die um das Kürzel RS ergänzt wurde. Darüber hinaus wurde jede beschriebene Einstellung separat erfasst. Entsprechend sind insgesamt 304 Einzelseiten publiziert, die auf verschiedenen Wegen gesichtet bzw. aufgefunden werden können: Seite für Seite, per Suche nach Seitenzahlen sowie per Suche nach Einstellungsnummern. Angezeigt wird generell zunächst eine verkleinerte Gesamtansicht der Einzel­ blätter, in der jeweils links die Rückseite des vorhergehenden Blattes und rechts die Vorderseite des Folgeblattes miteinander kombiniert sind. In der Originalgröße sowie in der Vergrößerung lassen sich die Seiten in einem separaten Fenster betrachten. Digital erfasst und der Online-Suche zugänglich sind folgende Angaben zum Drehbuch bzw. Inhalte daraus: Datensatznummer (die im Rahmen der Edition vergebenen Bezeichnungen der Einzeldatensätze; sämtlichen Datensätzen zum Drehbuch wurde das Kürzel CON – für „Current Continuity“ – vorangestellt; die darauffolgende mehrstellige Ziffer folgt keiner Paginierung, sondern gibt die Reihenfolge wieder, in der die Datensätze angelegt wurden); Paginierung (Angabe der im Rahmen der Edition vergebenen Seitenzahlen); Paginierung Deutsche Kinemathek (Seitenzahlen, die bei der Archivierung des Drehbuchs in der Deutschen Kinemathek vergeben worden sind; Rückseiten sind hierbei nicht separat erfasst); Überschrift (Überschriften im Drehbuch, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Beschreibung von Einstellungen stehen); Shot No. / Scene No. / Continuity No. / Old Continuity No. / Slate No. / Temporary Slate No. (im Drehbuch verwendete Bezeichnungen von Einstellungsnummern); Footage (Angaben zum verwendeten Filmmaterial); Location (Angaben zum Drehort); Props (Angaben zu Requisiten); Date Shot (entsprechend dem Original wiedergegebene Datumsangabe aus dem Drehbuch); Datum (harmonisierte Schreibweise der Datumsangabe); Action (im Drehbuch vorhandene Beschreibung der Handlung einer einzelnen Einstellung); Bemerkungen (Notizen, Anmerkungen etc. auf dem Dokument; finden sich zu einer Einstellung mehrere Notizen, wurden diese von links nach rechts und von oben nach unten erfasst) sowie Kommentar (für editorische Erläuterungen). Die Feldbezeichnungen wurden in Normalschrift gesetzt, wenn es sich um Kategorien handelt, die im Rahmen der Edition entwickelt wurden. Sie sind kursiv gesetzt, wenn es sich um Kategorien handelt, die aus den Quellen übernommen wurden. In Fällen, in denen keine Daten zu einem der angelegten Felder aufgefunden werden können, wird die Feldbezeichnung nicht angezeigt. Auf der Weboberfläche sind jeweils links von dem angezeigten Datensatz zum Drehbuch die in den Tagesberichten und/oder den Clips vorhandenen Ergebnisse zu der betreffenden Einstellung aufgeführt und verlinkt. Bei der digitalen Erfassung der Drehbuchdaten wurde versucht, typografische Details möglichst originalgetreu wiederzugeben. Dies gilt für den Zeilenumbruch der typografischen Passagen (im Feld „Action“) ebenso wie für Einfügungen und Notizen, deren Handschriftlichkeit durch Kursivierung kenntlich gemacht ist (im Feld „Be-

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merkungen“). Außerdem berücksichtigt wurden Unterstreichungen und Durchstreichungen. Hierbei vorkommende doppelte Striche wurden nicht umgesetzt. Versalien wurden als solche wiedergegeben (wobei diese Schreibweise jedoch an keiner Stelle eine inhaltliche Funktion erkennen lässt). Offensichtliche Rechtschreib- oder Grammatikfehler wurden im Interesse der besseren Verständlichkeit behutsam korrigiert; wo erforderlich, wurden erklärende Ergänzungen in eckigen Klammern eingefügt. Im Original durchgestrichene Stellen wurden mit der vereinheitlichten Schreibweise „xxx“ wiedergegeben, unleserliche Passagen mit dem Symbol [?] erfasst. Handschriftlich mit einem großen Kreuz durchgestrichene Absätze wurden in eckige Klammern gesetzt. Auf die Wiedergabe diverser anderer schreibgrafischer Elemente – darunter zum Beispiel kleine Skizzen, Anstreichungen – wurde verzichtet. Unterschiede bei den Zeilenabständen oder verkleinerte bzw. vergrößerte Abstände zwischen aufeinanderfolgenden Zeichen oder Buchstaben bzw. einzelnen Wörtern wurden nicht erfasst. Auf die Verwendung zusätzlicher Schriftfarben wurde bei der digitalen Erfassung verzichtet, da Unwägbarkeiten bei der Wiedergabe hier unvermeidlich gewesen wären. Die Angabe „[…]“ am Ende des Inhalts der Textfelder „Action“ und „Bemerkungen“ weist darauf hin, dass die Einstellungsbeschreibung oder auch Notizen auf der folgenden Seite des Drehbuchs fortgesetzt werden. Da solche Fortsetzungen auf einer folgenden Seite in der Regel nicht mit einer eigenen Einstellungsnummer versehen sind, wurde in diesen Fällen die Nummer der Einstellung ergänzt, um die es auf der vorherigen Seite geht. Handschriftliche Notizen auf Rückseiten beziehen sich in der Regel nicht auf die Vorderseite desselben Blattes, sondern auf die Vorderseite des darauffolgenden Blattes. Obwohl es sich um eine lose Heftung der Einzelseiten handelt, ergeben sich so – neben den Angaben der Einstellungsnummern – Anhaltspunkte für die Stringenz der Reihenfolge, in der die Seiten abgeheftet und publiziert sind. Im Drehbuch finden sich mit vier unterschiedlich farbigen Stiften eingetragene handschriftliche Bemerkungen, die analysiert und identifiziert wurden: Den größten Teil macht ein dunkelgrauer Bleistift aus, der von F. W. Murnau, David Flaherty sowie den nicht identifizierten Autoren verwendet wurde. Ein Rotstift wurde zur Markierung (thematisch) zusammengehöriger Seiten und zum Vermerk von Notizen verwendet; zuzuordnen ist er Murnau und einem Unbekannten. Ein blauer Stift wurde ausschließlich von Murnau verwendet, ebenso wie ein schwarzer Füller. In einigen Fällen findet sich neben der Beschreibung der Einstellung eine handschriftliche rote Markierung (z. B. zwei dicke Striche); möglicherweise sollte sie dazu dienen, auf einen handschriftlichen Kommentar (u. a. von Murnau) hinzuweisen, der jeweils auf der Rückseite des betreffenden oder des davorliegenden Blattes steht. Die Identifizierung der Handschriften von F. W. Murnau und David Flaherty erfolgte durch einen Abgleich mit eindeutig zuzuordnenden Briefdokumenten aus dem Murnau-Nachlass. Im Kommentarfeld zu einzelnen dieser Seiten wurden Erkenntnisse bzw. Interpretationen zu Details vermerkt: Handschriftliche Durchstreichungen des Schreibmaschinentextes mit einem großen Kreuz beispielsweise markieren vermutlich, dass

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die betreffende Einstellung abgedreht wurde.12 Varianten, bei denen Absätze mit handschriftlichen Linien (gerade oder wellenförmig) durchgestrichen sind, deuten darauf hin, dass die beschriebene Einstellung nicht gedreht wurde. Die Tagesberichte („Script Clerk’s Reports“) Die Tagesberichte zu Tabu sind Teil des sogenannten Murnau-Nachlasses, den die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden, von den Erben Murnaus erwarb und der 2002 als Dauerleihgabe in das Archiv der Deutschen Kinemathek aufgenommen wurde. Bei dem Konvolut von insgesamt 727 losen Blättern handelt es sich um Durchschriften der zwischen dem 16. Oktober 1929 und dem 6. September 1930 handschriftlich ausgefüllten Original-Vordrucke (28 cm × 21,5 cm). Über den Verbleib der Originale ist nichts bekannt. Da diese als „Script Clerk’s Reports“ bezeichneten Formulare unmittelbar während der Dreharbeiten ausgefüllt wurden, spiegeln sie diese genauer wider als die „Current Continuity“. Zwischen den Einstellungsnummern, die jeweils in den schriftlichen Quellen angegeben sind und für die Outtakes verifiziert werden konnten, gibt es keine vollständige Übereinstimmung: Zum Teil sind Angaben zu einzelnen Einstellungsnummern nicht in den Dokumenten überliefert, umgekehrt sind in den Outtakes aber auch Aufnahmen erhalten, die sich keiner schriftlich dokumentierten Einstellung zuordnen lassen. Um auch deren Auffindbarkeit auf der Oberfläche der Datenbank zu ermöglichen, wurde für sie die Behelfsbezeichnung „Nicht zuzuordnen“ verwendet. Für die Edition der Outtakes wurden die 727 vorhandenen Einzelblätter der Tagesberichte fotografiert und digitalisiert. Außerdem wurden die auf den Seiten lesbaren Handschriften analysiert und identifiziert: Zum größten Teil lassen sie sich David Flaherty zuordnen, einige wenige Seiten hat Robert Flaherty ausgefüllt, zwei weitere Handschriften sind nicht identifiziert. Murnaus Handschrift taucht hier nicht auf. Die einzelnen „Script Clerk’s Reports“ dokumentieren vor allem technische Details wie die Anzahl der Takes, die Menge des verfilmten Materials, benutzte Objektive, Drehort und -datum, aber auch verwendete Requisiten. Außerdem finden sich darin Beschreibungen der jeweils gefilmten Szene, die zum Teil aus dem Drehbuch übernommen sind. In Folge der Verwendung von Kohlepapier beim Durchschreiben erscheint die Schrift etwas unscharf. Teilweise sind die Blätter samt Kohlepapier offensichtlich beim Ausfüllen verrutscht, sodass die Angaben außerhalb der dafür vorgesehenen Rubriken stehen bzw. abbrechen. Manche der als Kopien vorgesehenen Blätter wurden um 180 Grad gedreht in die Schreibmaschine eingelegt, teilweise mit der Rückseite nach oben. In solchen Fällen ist auf den Blättern die durchscheinende Beschriftung des Formulars erkennbar. Da die Rückseiten keine Informationen enthalten, wurden sie nicht erfasst. Auf ihnen wurde eine Paginierung vermerkt, die sich an der Abfolge der genannten Drehtage orientiert. Entsprechend orientiert sich auch die Reihenfolge, in der die Tagesberichte erfasst und publiziert sind, an der Abfolge der Drehtage. Zwischen folgenden Wegen der Sichtung bzw. Suche kann gewählt werden: Seite für Vgl. hierzu auch Murnaus Handexemplar des von Carl Mayer verfassten (deutschsprachigen) Drehbuchs von Sunrise/Sonnenaufgang (1927), als Faksimile erschienen Wiesbaden 1971.

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Seite (Pfeilnavigation), Suche nach Einstellungsnummern (Suchbox) und Suche nach Drehtagen (Suchbox). Angezeigt wird generell zunächst eine verkleinerte Gesamtansicht des Dokuments; in der Originalgröße sowie in Vergrößerung lässt es sich in einem separaten Fenster betrachten. Digital erfasst und der Online-Suche zugänglich sind u. a. folgende Angaben zu den Tagesberichten bzw. Inhalte daraus: Datensatznummer (sämtlichen Datensätzen zu den Tagesberichten wurde das Kürzel SCR – für „Script Clerk’s Report“ – vorangestellt; die darauffolgende mehrstellige Ziffer folgt keiner Paginierung, sondern gibt die Reihenfolge wieder, in der die Datensätze angelegt wurden); Paginierung Deutsche Kinemathek (Seitenzahlen, die bei der Archivierung der Tagesberichte in der Deutschen Kinemathek vergeben worden sind, vermerkt auf den nicht publizierten Rückseiten); No. of Takes (Anzahl der gedrehten Einstellungen); Scene No. (im Tagesbericht angegebene Einstellungsnummer); Long Shot / Semi Shot / Medium Shot / Close Up (Angaben zur Einstellungsgröße); Close Up (Feld für Angaben zur Einstellungsgröße); Footage (Angaben zum verwendeten Filmmaterial); Props on Set (Angaben zu Requisiten); Location (Angaben zum Drehort); Date (entsprechend dem Tagesbericht wiedergegebene Datumsangabe); Datum (harmonisierte Schreibweise der Datumsangabe); Costume Details (Angaben zu Kostümen); Action (Beschreibung der Handlung einer einzelnen Einstellung); Bemerkungen (zusätzliche Notizen auf dem Dokument; finden sich zu einer Einstellung mehrere Notizen, sind diese von links nach rechts und von oben nach unten erfasst); Kommentar (editorische Erläuterungen). Die Feldbezeichnungen sind in Normalschrift gesetzt, wenn es sich um Kategorien handelt, die im Rahmen der Edition entwickelt wurden. Sie sind kursiv gesetzt, wenn es sich um Kategorien handelt, die aus den Quellen übernommen wurden. Links vom jeweils angezeigten Datensatz zu einem Tagesbericht sind die im Drehbuch und/oder in den Clips vorhandenen Ergebnisse zu der betreffenden Einstellung aufgeführt und verlinkt. Bei der Erfassung der Tagesberichte wurde grundsätzlich versucht, typografische Details möglichst originalgetreu wiederzugeben. Da das Konvolut ausschließlich handschriftlich ausgefüllt ist, wurde auf die Verwendung von Kursivschrift zur Wiedergabe der Inhalte verzichtet. Lediglich nachträgliche Einfügungen sind durch Kursivierung kenntlich gemacht. Zeilenumbrüche wurden ebenso umgesetzt wie Unterstreichungen und Durchstreichungen. Hierbei vorkommende doppelte Striche wurden nicht umgesetzt. Versalien werden als solche wiedergegeben (eine inhaltliche Funktion lässt diese Schreibweise jedoch an keiner Stelle erkennen). Offensichtliche Rechtschreib- oder Grammatikfehler wurden im Interesse der besseren Verständlichkeit behutsam korrigiert; wo erforderlich, wurden erklärende Ergänzungen in eckigen Klammern eingefügt. Unleserliche Passagen wurden mit dem Symbol „[?]“ erfasst. Auf die Wiedergabe diverser schreibgrafischer Elemente – darunter zum Beispiel kleine Skizzen, Anstreichungen – wurde verzichtet. Der im Feld „Sequence“ häufig vorkommende Kreis um die Ziffern, die für die abgedrehten Einstellungen stehen, wurde ersatzweise mit runden Klammern dargestellt. Vermutlich hat der Kreis die Bedeu-

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tung, dass der betreffende Take für gut befunden und kopiert wurde. Unterschiede bei den Zeilenabständen oder verkleinerte bzw. vergrößerte Abstände zwischen aufeinanderfolgenden Zeichen oder Buchstaben bzw. einzelnen Wörtern wurden nicht erfasst. Auf die Verwendung von Schriftfarben wurde bei der digitalen Erfassung, wie auch im Fall der „Current Continuity“, verzichtet.

Die Online-Edition Die Edition der Outtakes ist in zwei Bereiche gegliedert: Ein ausführlicher, mit zahlreichen Abbildungen ausgestatteter Textteil widmet sich – unter Einbeziehung der im Rahmen des Projekts gewonnenen Erkenntnisse – den produktionsgeschichtlichen Hintergründen von Tabu und den Dreharbeiten, der Verwendung von Tabu-Materialien in anderen Filmen sowie den im Rahmen des Projekts gesicherten filmischen Materialien. Außerdem im Textteil enthalten sind drei editorische Berichte über die Bearbeitung der bereitgestellten Quellenmaterialien. Auf einer datenbankbasierten Web-Oberfläche sind diese Quellen über verschiedene, teilweise kombinierbare Suchfunktionen zugänglich. Über die Themensuche sind sie unter Stichworten wie „Kameramann“, „Drehort“ oder einzelne „Themen in den Clips“ ohne detaillierte Vorkenntnisse übersichtsartig aufrufbar. Die erweiterte Suche erfordert die Eingabe spezifischer Suchbegriffe zu den Themen Einstellungsnummer, Kameramann, Person, Datum und/oder Drehort; durch deren Kombination können Ergebnisse gezielt gefiltert werden. Außerdem ist hier eine Gesamtabfrage der Daten jeweils sortiert nach den einzelnen Quellen möglich. Die freie Suche dient dem Auffinden weiterer Inhalte der Quellen, die nicht über die beiden anderen Sucharten abgedeckt sind. Eine Vergrößerungsfunktion ermöglicht den Nutzerinnen und Nutzern eine detaillierte Betrachtung der Clips ebenso wie der einzelnen Seiten von Drehbuch und Tagesberichten. Anhand dieser komplexen Online-Edition lässt sich die Entstehung von Friedrich Wilhelm Murnaus letztem Werk Tabu studieren: Einstellung für Einstellung, Drehtag für Drehtag. Dabei erweist sich die kombinierte Darstellung von Bewegtbild, Text- und Bildquellen als zukunftsfähiger Ansatz für die Sicherung, Präsentation und Nutzbarmachung audiovisuellen Kulturguts. Mit der Edition der Outtakes wurden die Grundlagen für die weitere wissenschaftliche Erforschung der Werkgenese von Tabu geschaffen. Wie sich gezeigt hat, wird sie inzwischen vielfältig genutzt, international und besonders im universitären Bereich. Der in der Editionsphilologie negativ konnotierte Begriff der ‚Kontamination‘ erfuhr in den vergangenen Jahrzehnten im Zusammenhang mit der Neuedition von Filmen eine Bedeutungsänderung und bezeichnet dort eine – im Interesse beispielsweise einer möglichst vollständigen Rekonstruktion – unvermeidliche und daher zu akzeptierende Vermischung filmischer Materialien aus unterschiedlichen Phasen der Entstehung bzw. der Distribution des Werks.13 Mit der Edition der Outtakes gewinnen im bisherigen Sinne gegenüber einem ‚Original‘ als tendenziell minderwertig betrachtete Filmmaterialien eine neue Bedeutung: Neben der von Murnau autorisierten, in ihre einzelnen Vgl. Anna Bohn: Denkmal Film. Bd. 2: Kulturlexikon Filmerbe. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 399–404 (Kap.: „Kontamination und synthetische Fassung“).

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Einstellungen zerlegten Schnittfassung von Tabu avancieren die Outtakes hier zum eigentlichen Gegenstand der Betrachtung und erweisen sich als kostbare Zeugnisse eines künstlerischen Prozesses, der erst durch sie nachvollziehbar wird.

Beispielansichten aus der Edition Abb. 4–6: Weboberfläche von F. W. Murnaus Tabu: Die Edition der Outtakes: Beispiel einer Einstellung (Nr. 21), deren filmische Materialien (Clips) mit dem Drehbuch (Current Continuity) und den Tagesberichten (Script Clerk’s Report) verknüpft sind. Alle Materialien sind jeweils auch stark vergrößert abrufbar.

Abb. 4: Bildschirmansicht von Einstellung 21 mit Metadaten.

Zur Entstehung von F. W. Murnaus Tabu: Die Edition der Outtakes

Abb. 5: Bildschirmansicht des Drehbuchs mit Einstellung 21 und Metadaten.

Abb. 6: Bildschirmansicht des Tagesberichts von Einstellung 21 mit Metadaten.

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V. Sprache und Musik in der Filmedition

Klaus S. Davidowicz

‚Hinaussynchronisiert‘ Die Ausblendung der Shoah und jüdischer Lebenswelten in deutschen Synchronfassungen

‚Film als Midrasch‘ ist der Überbegriff für ein Forschungsprojekt, das ich seit über zehn Jahren an der Universität Wien im Rahmen der ‚Jüdischen Studien‘ betreibe. Das ­hebräische Wort ‚Midrasch‘ bedeutet so viel wie gelehrter, rabbinischer Kommentar. Wie kann also ein Film ein ‚rabbinischer Kommentar‘ sein? Ich benutze den Begriff Midrasch aber nicht in der strengen Definition als eine rein rabbinische Auslegung, sondern deute ihn auf offene Weise. Seit Jahrhunderten haben jüdische Denker die Welt der Bibel rabbinisch, kabbalistisch oder philosophisch gedeutet. Vor allen Dingen beinhaltet diese jüdische Tradition des Kommentars auch die Freiheit, dass Denker der Gegenwart oder auch Filmemacher ihre eigene neue Sicht entwickeln können. Spielfilme können meiner Meinung nach ein legitimer visueller Kommentar zu den jüdischen Lebenswelten sein, genauso wie mittelalterliche schriftliche Auslegungstraditionen. Auch sie kommentieren mitunter Elemente der Kabbala, deuten biblische Figuren neu oder bürsten die jüdische Geschichte gegen den Strich. Filme sind aber nicht nur moderne Kommentare zur jüdischen Kultur und zu jüdischen Lebenswelten, ihre Bilderwelten prägen auch oft das öffentliche Bild des Judentums bzw. das, was man über das Judentum zu kennen glaubt. Besonders prägende Spielfilme waren z. B. Fiddler on the Roof (Anatevka, USA 1971, R: Norman Jewison), Yentl (USA 1983, R: Barbra Streisand), Schindler’s List (Schindlers Liste, USA 1993, R: Steven Spielberg) und die TV-Serie Holocaust (Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss, USA 1978, R: Marvin J. Chomsky), ganz gleich wie authentisch oder eben nicht authentisch sie sind. All diese Filme haben ihre Wirkung in Deutschland vor allem nicht in der Originalfassung, sondern in der deutschen Synchronfassung entfaltet. So erfuhren die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer, für die Holocaust die erste Auseinandersetzung mit der Shoah gewesen war, durch die erneute Ausstrahlung von 2019, in der man die fehlenden gekürzten Passagen untertitelte, erst, was damals nicht zu sehen und zu hören gewesen war. Umso bedauerlicher ist es, wenn Anspielungen auf das Judentum oder ganze jüdische Figuren in deutschen Synchronfassungen förmlich ‚hinaussynchronisiert‘ werden. Dieses Vorgehen ist Teil einer drastischen Entstellung vor allem amerikanischer Produktionen, die man in der gesamten Geschichte der deutschen Synchrontätigkeit nachverfolgen kann. Dass die Darstellung von Deutschen im Nationalsozialismus und überhaupt der Zweite Weltkrieg bis in die 1980er Jahre oft verfälscht, verändert oder ganz unter den Tisch fallen gelassen wurde, wurde bereits u. a. von Rainer Maria Köppl oder Guido Marc Pruys erforscht.1 Vgl. Guido Marc Pruys: Die Rhetorik der Filmsynchronisation. Wie ausländische Filme in Deutschland zensiert, verändert und gesehen werden. Tübingen 1997; Rainer Maria Köppl: Hitchcock und die IG Farben. Filmsynchronisation als Tanz in Ketten. In: Sprach(en)kontakt – Mehrsprachigkeit –Translation.

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https://doi.org/10.1515/9783110684605-014

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Klaus S. Davidowicz

„Man kann davon ausgehen, dass in jedem Film, der Nationalsozialismus und Deutsche im Zweiten Weltkrieg thematisierte, geschnitten, gefälscht oder zumindest in den Synchrondialogen bagatellisiert wurde.“2 Bekannt sind mittlerweile die entstellenden Synchronfassungen und Kürzungen von Michael Curtiz’ Casablanca (USA 1942) oder Alfred Hitchcocks Notorious (USA 1946). Die deutsche Casablanca-Fassung von 1952 ist aufgrund ihrer grotesken Form schon fast eine sehenswerte Skurrilität. Alle Nazis inklusive Major Strasser (Conrad Veidt) wurden herausgeschnitten (aber im Vorspann wird Veidt angekündigt!), und aus dem tschechoslowakischen Widerstandskämpfer Victor László (Paul Henreid) wird der norwegische Atomphysiker Victor Larsen, Erfinder der ‚Delta-Strahlen‘, was immer die sein mögen. Aber selbst die ungekürzte Neu-Synchronisation der Bavaria von 1975 sorgte für ‚Kult‘, weil sie „Ich seh Dir in die Augen, Kleines“ erfand, in der freien Gestaltung des Trinkspruches „Here’s looking at you, Kid“ (‚Ich trinke auf dein Wohl, Kleines!‘). Besondere Mühe hatte sich die RKO Synchron Abteilung Berlin indes mit Notorious gemacht, denn sie verwandelte Nazis in Südamerika in Heroinschmuggler und nannte den Film daher Weißes Gift. Weniger bekannt ist, dass selbst in der neuen Synchronfassung des ZDF von 1969 die Erwähnung der IG-Farben gestrichen wurde. Der folgende kurze Dialog wurde gekürzt, und auch in allen deutschen DVD-Ausgaben, die die englische Originalfassung haben, fehlt diese Passage: Devlin: Ever hear of the I.G. Farben Industries? Alicia Huberman: I tell you, I’m not interested. Devlin: Farben has men in South America planted there before the war. We’re cooperating with the Brazilian government to smoke them out.3

Auch in dem britischen Spionagefilm The Quiller-Memorandum (Tod in Berlin – Das Quiller-Memorandum, UK 1966, R: Michael Anderson), der im geteilten Berlin des Kalten Krieges spielt, wurden in der deutschen Fassung der Berliner Union-Film unter Karlheinz Brunnemanns Regie aus Neo-Nazis kurzerhand Kommunisten. Durch diesen ‚Kunstgriff‘ wird eine wunderbare Szene, die im Berliner Olympiastadion spielt, vollkommen bedeutungslos. Quillers Auftraggeber Pol (Alec Guinness) erzählt ihm von den Olympischen Spielen 1936 und deutet auf den Balkon, von dem Hitler und andere Nazis zuschauten: „Certain well-known personalities used to stand right up there.“ Später verdeutlicht er die Gefahr durch die Neo-Nazis: Pol: Quite a tough bunch. Nazi from top to toe. In the classic tradition. But not just the remains of the old lot. Oh, no. There’s quite a bit of new blood. Youth. Firm believers. Very dangerous. It wouldn’t do to underestimate them. Oh, quite complex, of course, the overall, difficult to pinpoint. [Pol dreht sich zur ‚Führerloge‘.] Nobody wears a brown shirt now, you see. No banners. Consequently, they are difficult to recognize. They look like everybody else.4 Innsbrucker Ringvorlesungen zur Translationswissenschaft V. 60 Jahre Innsbrucker Institut für Translationswissenschaft. Hrsg. von Lew N. Zybatow. Frankfurt/Main u. a. 2007 (Forum Translationswissenschaft. 7), S. 107–141. 2 Thomas Bräutigam: Lexikon der Film- und Fernsehsynchronisation. Berlin 2001, S. 18 f. 3 Notorious, DVD von Criterion Collection, 00:12:55–00:13:06. 4 The Quiller-Memorandum, DVD von Network, 00:07:24–00:08:00.

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Untermalt von John Barrys leise-bedrohlicher Musik bekommt diese Szene und Guinness’ Monolog im leeren Stadion etwas Unheimliches und verbindet so geschickt die Vergangenheit des ‚Dritten Reichs‘ mit den Neo-Nazis von heute. Diese kleine hervorragende Szene wird in der deutschen Fassung durch den Austausch mit Spionen der ‚anderen Seite‘ aller Wirkung beraubt: Pol: Hier sitzen ziemlich harte Burschen. Ausgezeichnet geschult, die machen uns zu schaffen. Sollen uns an ihnen die Zähne ausbeißen. Diese Spionage-Organisation arbeitet ja nicht nur mit Profis. Es sind auch Leute dabei, die das sozusagen nur nebenberuflich machen. Unsere Aufgabe bekommt dadurch einen besonders gefährlichen Akzent. Und man darf sie auf gar keinen Fall unterschätzen. Es ist natürlich äußerst kompliziert, im Einzelnen dahinter zu kommen, denn die Burschen sind schwer zu erkennen [dreht sich zur ‚Führerloge‘], niemand von denen gibt sich eine Blöße.5

Dass im selben Dialog aus der ‚Knackwurst‘ unsinnigerweise ‚Teewurst‘ wird, ist dann auch schon ‚wurscht‘. Aber auch Hinweise auf den Kampf der französischen Resistance gegen NaziDeutschland wurden oft ausgemerzt. In der deutschen Fassung von Alfred Hitchcocks To Catch a Thief (Über den Dächern von Nizza, USA 1955), die Volker Becker für die Berliner Synchron GmbH gemacht hatte, hören wir folgende Beschreibung der Köchin von John Robie (Cary Grant): Robie: Well, Germaine has very sensitive hands, an exceedingly light touch. Hughson: Yes, I can tell. Robie: She strangled a German general once without a sound. Hughson: What an extraordinary woman.6

Die deutsche Synchronfassung streicht diesen deutlichen Hinweis auf den ResistanceKampf und ersetzt ihn durch eine lächerliche Zirkus-Geschichte: Robie: Germaine hat Fingerspitzengefühl. Ihre äußere Erscheinung täuscht. Hughson: Ja, das spürt man. Robie: Sie hat mal einen ausgebrochenen Löwen eingefangen. Mit bloßen Händen. Hughson: Eine außergewöhnliche Frau.7

Natürlich gibt es auch andere ärgerliche Themen in der umtriebigen deutschen Synchronarbeit, wie die ‚Verblödelung‘ ganzer Kohorten italienischer oder französischer Filme, in deren Folge ernsthafte Italo-Western wie La Collina degli Stivali (Italien 1969, R: Giuseppe Colizzi) zum ‚Comedy-Western‘ Zwei hau’n auf den Putz in der Fassung der Deutschen Synchron mbH von Karlheinz Brunnemann 1978 verunstaltet wurden oder Jean-Paul Belmondo zum primitiven rassistischen Krawallbruder minimierte. Da wird offener Rassismus in deutsche Fassungen hineinsynchronisiert, der in den Originalfassungen völlig fehlt, und es wird ganz klar angenommen, dass es ein deutsches Publikum gebe, das diese Art von Humor lustig findet. In der französischen Filmkomödie Le Petit Baigneur (Der kleine Sausewind, Frankreich 1968, R: Robert Tod in Berlin – Das Quiller-Memorandum, DVD von Crest Movies, 00:07:24–00:08:00. Über den Dächern von Nizza, Blu Ray von Paramount, 00:28:13–00:28:29. 7 Über den Dächern von Nizza (Anm. 6), 00:28:13–00:28:29. 5 6

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Dhéry) sagt André Castagnier (Robert Dhéry) in der westdeutschen Synchronfassung von 1976 (Rainer Brandt Filmproduktion) zu einem schwarzen Reisenden: „Wo waren denn Sie auf Urlaub, Sie sind ja so braun“,8 während in der Originalfassung und der DEFA-Synchronfassung überhaupt kein Dialog stattfindet. Im Krimi Le Marginal (Der Außenseiter, Frankreich 1983, R: Jacques Deray) sagt Kommissar Jordan (JeanPaul Belmondo) in der deutschen Fassung der Rainer Brandt Filmproduktion „Du wirst mich schon noch kennenlernen, du hässlicher schwarzer Affe“9 zu einem Verdächtigen, während er ihn im französischen Original „conard“ (‚Vollidiot‘) nennt. Rainer Brandts Fassungen im sogenannten ‚Schnodderdeutsch‘ wurden legendär, und besonders seine völlig freien Bearbeitungen ganzer TV-Serien wie The Persuaders (Die 2) erfreuen sich leider nach wie vor großer Beliebtheit. Aber auch die Shoah und grundsätzlich das Judentum fielen oft in deutschen Fassungen der Synchron-Schere zum Opfer. Die einfachste Methode ist es natürlich, Filme mit jüdischen Themen erst gar nicht in die Kinos zu bringen. Gerade im amerikanischen Spielfilm gibt es eine ganze Reihe bedeutender filmischer Auseinandersetzungen mit den jüdischen Lebenswelten, die wie Symphony of Six Million (USA 1932, R: Gregory La Cava), Counsellor at Law (USA 1933, R: William Wyler), None Shall Escape (USA 1944, R: André de Toth), Address Unknown (USA 1944, R: William Cameron ­Menzies), Tomorrow, the World (USA 1944, R: Leslie Fenton), King oft he Roaring 20’s: The Story of Arnold Rothstein (USA 1961, R: Joseph M. Newman), Bye Bye Braverman (USA 1968, R: Sidney Lumet) keinen deutschen Verleih gefunden haben. Andere, wie Gentleman’s Agreement (Tabu der Gerechten, USA 1947, R: Elia Kazan) oder The Juggler (Der Gehetzte, USA 1953, R: Edward Dmytryk), kamen erst in den 1960er oder 1970er Jahren kurz in die deutschen Kinos bzw. hatten ihre um Jahrzehnte verspätete Premiere im TV, so Crossfire (Kreuzfeuer, USA 1947, R: Edward Dmytryk, ZDF 1973) oder The Fixer (Ein Mann wie Hiob, USA 1968, R: John Frankenheimer, ZDF 1987). Die wenigen Spielfilme aus den USA, Großbritannien oder Frankreich, die dann doch in die Kinos gekommen sind, wurden oft in der Synchronfassung ‚entjudaisiert‘, anders kann man es nicht bezeichnen. Es bedarf intensiver weiterer Forschungsarbeit, um bei den jeweiligen Beispielen die Verantwortlichen für die Veränderungen bzw. Auslassungen ausfindig zu machen. Manchmal waren es auch die Verleihe der jeweiligen Produktionsgesellschaft, die sich mehr Publikum erhofften, wenn man die ‚armen Deutschen‘ nicht an ihre Vergangenheit erinnerte, und nicht nur die Synchron-Firmen oder die FSK. Besonders interessant wird es dann, wenn ein ehemaliger Regisseur von Nazi-Propagandafilmen wie Alfred Weidenmann die Synchronregie deutscher Fassungen übernahm. Weidenmann, der mit dem Drehbuchautor Herbert Reinecker zusammen 1943 den Propagandafilm Junge Adler gedreht hatte, sollte später mit Reinecker etliche Folgen der ZDF-Krimiserien Der Kommissar, Der Alte und vor allem Derrick drehen. Zuweilen schimmerte in ihren Werken ihre braune Vergangenheit mehr als deutlich durch, wenn man sich ihren berüchtigten Landserfilm Der Stern von Afrika (BRD 1957) oder ihre verfälschte Darstellung von Canaris (BRD 1954) ansieht. Im Folgenden möchte ich einige besonders markante inhaltliche Beispiele herausgreifen, Balduin, der Trockenschwimmer, DVD von Studiocanal, 00:05:20. Der Außenseiter, DVD von EMS, 00:04:20.

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wie man in den deutschen Synchronfassungen von den 1950er bis in die 1990er Jahre das Jüdische ‚hinaussynchronisierte‘. In der Verfilmung von Norman Mailors Roman über den Pazifik-Krieg, The Naked and the Dead (Die Nackten und die Toten, USA 1958, R: Raoul Walsh), gibt es einige jüdische Figuren, so die Soldaten Roth (Joey Bishop) und Goldstein. In der Originalfassung hört man z. B. einige jiddische Ausdrücke und antisemitisch begründete Auseinandersetzungen zwischen den Soldaten. Nichts davon ist in der deutschen Fassung übriggeblieben. Original: This bloke sounds like a real ‚macher‘. Synchro: Er ist wohl ein Leuteschinder. Original: L’Chaim. Synchro: Na denn Prost.10 Original: That’s Wilson, a ‚Meshugenah‘. Synchro: Wer ist denn das, der hat sie wohl nicht alle.11

Dass der jüdische Soldat Roth schon zu Beginn aufgrund seines Jude-Seins diffamiert wird, wird in der deutschen Fassung einfach gestrichen. Sergeant Croft (Aldo Ray) will den Grund für eine Prügelei unter den Soldaten wissen, und Roth erklärt ihm, dass ihn der Soldat Spencer beleidigt habe: „Called me a lousy Jew.“ In der Synchronfassung wird der Antisemitismus in der US-Armee fallen gelassen: „Er hat zu mir feiger Hund gesagt.“ Hier wird also ‚Jude-Sein‘ mit ‚Feigheit‘ gleichgesetzt. Es ist interessant zu sehen, dass bei der Eliminierung der jüdischen Elemente die Macher der Synchronfassung wiederum ihren eigenen Antisemitismus entlarven. Judentum und Feigheit hat in der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland eine lange Tradition. Während des Ersten Weltkrieges wurde unter den deutschen Soldaten die ‚Judenzählung‘ vorgenommen, um zu zeigen, dass die jüdischen Kriegsteilnehmer sich vorm Frontdienst gedrückt hätten. Als man feststellte, dass dies nicht der Fall gewesen war, wurden die Ergebnisse vorerst nicht veröffentlicht. Auch wird im Zusammenhang mit der Shoah der jüdische Widerstand gerne kleingeredet oder wenig erforscht, um das vermeintliche Bild der feigen Lämmer, die sich willenlos zur Schlachtbank haben führen lassen, nicht zu stürzen. So ist es für die Kino-Synchronfassung wohl nur legitim, Judentum durch Feigheit auszutauschen. Am Ende von The Naked and the Dead gibt es eine dramatische Situation an einem Hügel. Roth kann aufgrund einer Beinverletzung nicht weiter klettern. Croft will ihn dazu bringen, einen gefährlichen Sprung zu wagen und ruft: „Come across, you lousy Jew“ (Synchro: „Du willst einfach nicht, du feiger Hund“),12 worauf Roth sichtbar wütend wird und springt. Er stürzt in den Tod. Dass sich Roth so sehr über den Vorwurf der Feigheit aufregt, irritiert in der deutschen Fassung. Der ‚Tough Jew‘ der Originalfassung, der stolze Jude, der keine Beleidigung hinnimmt, wird so in eine endlose Reihe von mitunter lächerlichen Filmfiguren (man denke an Marty McFly in Back to the Future von 1985) gestellt, die sich durch den Vorwurf der Feigheit zu tolldreisten Die Nackten und die Toten, Blu Ray von Polarfilm, 00:07:21–00:07:27. Die Nackten und die Toten (Anm. 10), 00:07:32–00:07:33. 12 Die Nackten und die Toten (Anm. 10), 01:49:22–01:49:24. 10 11

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Taten verführen lassen. Auch der schöne Satz von Hearn (Cliff Robertson) „Two men carried me 18 miles through the jungle, a baptist minister and a wandering jew“ wird völlig entstellt: „Ein paar Männer haben mich 10 Meilen durch den Busch geschleppt, ein Baptisten-Prediger und ein jüdischer Hausierer.“13 Hearn stellt durch die Anspielung auf den ‚ewig wandernden Juden‘ einen klaren Konnex zum Antisemitismus her, mit dem Roth wiederholt konfrontiert wurde. Da der Antisemitismus in der deutschen Fassung nicht vorkam, wird aus Roth „ein jüdischer Hausierer“. Also fügt die deutsche Fassung wiederum ein klar antisemitisch konnotiertes Stereotyp ein, abgesehen von der unsinnigen Verkürzung des Weges. Bereits in der legendären Zeitschrift Filmkritik entlarvte Enno Patalas 1961 in Schneiden für Deutschland die Zensur an der amerikanischen Irwin-Shaw-Verfilmung The Young Lions (Die jungen Löwen, USA, R: Edward Dmytryk), der bei einer Länge von 167 Minuten um rund vier Minuten gekürzt wurde.14 Ein Kriegsfilm mit Überlänge, bei dem nur vier Minuten fehlen? Man könnte fälschlicherweise annehmen, dass hier eventuell irgendwelche Brutalitäten geschnitten wurden, um den Film statt ab 16 ab 12 Jahren freizugeben. Der Film schildert anhand der Schicksale dreier Soldaten, des jüdischen Amerikaners Noah Ackerman (Montgomery Clift), des Broadwaystars Michael Whiteacre (Dean Martin) und des deutschen Soldaten Christian Diestl (Marlon Brando, blondiert), ein breit angelegtes, aber in den einzelnen Szenen doch sehr differenziertes Panorama des Krieges. Die deutsche Kinofassung, die früheren VHS-Ausgaben und TV-Ausstrahlungen sind alle gekürzt, in ihnen fehlen genau zwei Szenen. In späteren DVDs sind sie untertitelt vorhanden. In der ersten gekürzten Szene sehen wir, wie Hauptmann Hardenberg (Maximilian Schell) während des Afrikafeldzuges angesichts verletzter britischer Soldaten befiehlt: „Shoot all wounded. Leave no one alive here. We cannot take prisoners.“15 Die zweite Kürzung betrifft die Befreiung eines Konzentrationslagers durch amerikanische Soldaten am Ende des Films. Man sieht das Innere einer Baracke, überfüllt mit abgemagerten und kranken Menschen. Einer dieser dürren skelettartigen Menschen tritt aus dem Dunkel hervor und geht auf die GIs zu. Diese Bilder wollte man 1958 dem deutschen Publikum offenbar nicht ‚zumuten‘: ein deutscher Offizier, der Gefangene einfach erschießen lässt, und die Bilder der Überlebenden eines KZ. Auch hier entlarven die Streichungen eine faschistoide Geisteshaltung – ‚das tut ein deutscher Offizier nicht‘ und ‚Gräuelpropaganda‘, also weg damit.

Die Nackten und die Toten (Anm. 10), 02:09:10–02:09:16. Enno Patalas: Schneiden für Deutschland. In: Filmkritik 6, 1961, S. 273. 15 Die jungen Löwen, DVD von 20th Century Fox, 01:10:45–01:10:51. 13 14

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Abb. 1: Screenshot The Young Lions, DVD von 20th Century Fox, 0:2:31:18.

Abb. 2: Screenshot The Young Lions, DVD von 20th Century Fox, 0:2:31:23.

Abb. 3: Screenshot The Young Lions, DVD von 20th Century Fox, 0:2:31:33.

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Der vielleicht bedeutendste Spielfilm der 1960er Jahre, der sich mit der Shoah visuell auseinandersetzt, ist die Verfilmung des Romans The Pawnbroker von Edward Lewis Wallant durch Sidney Lumet 1964. Sol Nazerman (Rod Steiger) ist ein Shoah-Überlebender, der früher ein Universitätsprofessor in Leipzig war und jetzt eine kleine Pfandleihe in Harlem betreibt. Seine Frau und seine beiden Kinder wurden ermordet, wodurch er emotional abstumpfte; das von William G. Niederland erforschte ‚Überlebenden-Syndrom‘16 kann man an seiner Figur sehr gut ausmachen. Der Film beschreibt, wie Nazerman durch verschiedene Ereignisse wieder zaghaft und unsicher ein Gefühlsleben aufbaut. Durch ungemein geschickt geschnittene Flashbacks der Vergangenheit wird gezeigt, wie sich die Shoah zunehmend in sein Jetzt hineindrängt. Diese Rückblenden gestaltet Lumet wie unliebsame Erinnerungen, die man zunächst verdrängt. Zuerst sind es nur kurze blitzartige Bilder, dann werden die Rückblenden immer länger und ausführlicher, bis sie überhandnehmen.

Abb. 4: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 00:08:50.

Vgl. William G. Niederland: Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom, Seelenmord. Frankfurt/Main 1980.

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Abb. 5: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 01:23:55.

Abb. 6: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 00:31:01.

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Abb. 7: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 00:31:14.

Abb. 8: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 00:31:07.

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Abb. 9: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 00:31:08.

Abb. 10: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 00:41:53.

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Abb. 11: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 00:42:31.

Abb. 12: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 01:28:22.

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Abb.  13: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 01:28:24.

Abb.  14: Screenshot The Pawnbroker, DVD Artisan, 01:49:49: Der stumme Schrei des Protagonisten Sol Nazerman (Rod Steiger); man hört nur eine Trompete, Vorbild war ein Detail aus Pablo Picassos Guernica (1937).

Conrad von Molo, der während der Nazi-Zeit Propagandafilme wie Stukas oder GPU geschnitten hatte, war mit seiner Aura-Film für die deutsche Fassung verantwortlich. Sie ist um rund 15 Minuten gekürzt. Die für den Film so eminent zentrale Struktur der Rückblenden wurde völlig verstümmelt. Außerdem wurde der Beginn des Films entfernt. Man sieht Nazerman, der bei seiner Schwägerin Bertha (Nancy R. Pollock) und ihrer Familie auf Long Island wohnt, im Garten sitzen. Er hört genervt Berthas Vorschlag zu, endlich einmal für mehrere Wochen nach Europa zu fahren. Sol lehnt angewidert ab: Bertha: The shrines and the old cities. There’s an atmosphere we don’t have here. Schwager: Something mellow. Age lends its own charm. Why, you can almost smell the ­difference. Sol: It’s rather like a stink if I remember.17 The Pawnbroker, DVD von Artisan, 00:06:59–00:07:15.

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Einer der wichtigsten amerikanischen Shoah-Filme, der sich auch mit den psychischen Folgen für die Überlebenden auseinandergesetzt hat, wurde in der deutschen Fassung durch Kürzungen verfälscht und ist bis heute nicht in Deutschland auf DVD erschienen. Auf VHS gab es nur die gekürzte Version, und die vom ZDF 1995 angefertigte vollständige Version ist nur bei den Wiederholungen im ZDF zu sehen. Daher ist im Gegensatz zu dem völlig überschätzten Schindler’s List der aus einer jüdischen Sicht erzählte The Pawnbroker zum Beispiel selten zum Einsatz in Schulen und bei der ­Holocaust-Erziehung in Deutschland gekommen. Eine besonders perfide Methode, Filme mit jüdischen Figuren um ihre Identität zu bringen, ist eine verfälschende Synchronisation. Im französischen Abenteuerfilm Les Aventuriers (Die Abenteurer, Frankreich/Italien 1966, R: Robert Enrico) gibt es die geheimnisvolle junge Laetitia Weiss (Joanna Shimkus), eine Frau ohne Vergangenheit. Sie ist melancholisch und wirkt verloren. Sie arbeitet an Kunstwerken, die sie aus Schrott zusammenbaut. So trifft sie auf Roland (Lino Ventura) und Manu (Alain ­Delon) und begleitet sie auf eine abenteuerliche Schatzsuche, bei der sie tragischerweise getötet wird. Roland und Manu haben von ihr gehört, dass sie nur noch einen kleinen Bruder als Familie hat, der bei ihren Pflegeeltern in Florac lebt. Sie besuchen den Bruder, um ihm Laetitias Anteil zu geben, und erfahren so, warum sie so einsam und ohne Familie war. Es folgt zuerst die deutsche Fassung und dann der Dialog in der von mir übersetzten Originalfassung: Roland: Der Bürgermeister von Florac schickt uns zu Ihnen. Wir hätten von Ihnen gerne eine Auskunft. Sie kennen doch eine Familie Weiss. Thomas: Weiss? Manu: Sie hat im Krieg bei Ihnen gewohnt. Herr Thomas: Ach ja, die Flüchtlinge. Manu: Wissen Sie, was aus ihnen geworden ist? Herr Thomas: Ich glaube, sie wollten in der Stadt etwas besorgen. Die Soldaten haben sie mitgenommen. Sie sind nie wieder zurückgekommen. Frau Thomas: Wie so viele, Monsieur. Manu: Aber die Tochter Laetitia blieb doch bei Ihnen? Herr Thomas: Ja, die blieb hier. Die war nett. Roland: Der Bürgermeister von Florac schickt uns. Er sagte, sie könnten uns etwas über die Familie Weiss sagen. Thomas: Weiss? Manu: Sie sind im Krieg bei Ihnen untergetaucht. Herr Thomas: Ja. Weiss. Manu: Wissen Sie, wo sie sind? Herr Thomas: Die Deutschen nahmen sie fest, als sie in der Stadt spazieren gingen. Man hat sie nie wiedergesehen. Frau Thomas: Es waren Juden. Manu: Aber die Tochter Laetitia blieb hier? Herr Thomas: Ja, die kleine Laetitia war ein liebes Mädchen.18

Die Abenteurer, Blu Ray von Concorde, 01:18:24–01:18:54.

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Die deutsche Fassung der Berliner Synchron GmbH in der Dialogregie von Klaus von Wahl und nach dem Buch von Eberhard Cronshagen verfälscht hier einige wichtige Elemente: die Ermordung der Eltern, die aufgrund des Namens ‚Weiss‘ vermutlich aus dem Elsass oder einem deutschsprachigen Land nach Florac geflohen sind, den Hinweis auf die Deutschen als Täter und auf die jüdische Identität der Familie. „Flüchtlinge wie so viele“, die von „Soldaten mitgenommen“ wurden, hören wir stattdessen in der Synchronfassung. Die Verlorenheit und Trauer einer Shoah-Überlebenden, deren Eltern ermordet wurden, wird hier durch ein paar geschickt verfälschende Synchronzeilen ausradiert, durchgeführt von zwei ehemaligen deutschen Wehrmachtssoldaten. Eher grotesk ist die Auslöschung einer möglichen jüdischen Identität bei der WesternKomödie The Scalphunters (Mit eisernen Fäusten, USA 1968, R: Sydney Pollack). Der Pelzhändler Joe Bass singt zu Beginn: „My mother was a Baptist, boys, my father was a Jew.“ In der deutschen Fassung singt er stattdessen: „Meine Schwester war im Freudenhaus, in einem erster Klasse, und kamen Cowboys in die Stadt, gab’s stets ne tolle …“.19 Die deutschen Verleiher hatten zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch große Pro­ bleme, einen komödiantischen Western zu vermarkten, und machten sowohl in der Werbung als auch im deutschen Titel aus der Comedy einen ernsthaften Western. Und ein harter Trapper wie Burt Lancaster kann doch keinen jüdischen Vater haben, auch wenn es vielleicht einfach nur ein Lied ist … Viel hinterhältiger und durchdachter ist die Auslöschung der jüdischen Identität des David Kessler (David Naughton) in der deutschen Synchronfassung der Horror-Komödie American Werewolf in London ­(American Werewolf, USA 1981, R: John Landis). Der New Yorker Student David wird in England von einem Werwolf gebissen und erwacht in einem Londoner Krankenhaus. Zwei Krankenschwestern unterhalten sich: Alex: His chart says he’s from New York. Susan: Oh, I think he’s a Jew. Alex: What makes you say that? Susan: I’ve had a look. Alex: Seinem Pass nach stammt er aus New York. Susan: Ganz gut gebaut, hm? Alex: Woher willst du das wissen? Susan: Ich hab’ nachgesehen.20

Die deutsche Fassung vertuscht Davids jüdischen Hintergrund und den Hinweis auf die Beschneidung und ersetzt ihn durch einen dümmlichen Sex-Scherz. Später sagt der behandelnde Arzt Dr. Hirsch (John Woodvine): If I survived Rommel, I’m sure I can survive another excruciating evening with Roger ­Matheson.

Mit eisernen Fäusten, DVD von MGM, 00:03:12–00:03:18. American Werewolf, DVD von Universal Pictures, 00:17:14–00:17:18

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Auch der Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg und der Einsatz des Arztes im Feldzug gegen den deutschen Feldmarschall Rommel wird durch einen dümmlichen Scherz ersetzt: Wenn ich hier laufend das Essen in der Kantine überlebe, werde ich auch einen Abend mit Roger Mayer [sic!] überleben, oder?21

Noch 1981 waren jüdische Identität und der Zweite Weltkrieg offensichtlich für deutsche Synchronfirmen ein Problem. Dass später im Film ausgerechnet Nazi-Zombies Davids jüdische Familie in einem Traum ermorden, irritiert dann ohne diese Hinweise in der deutschen Fassung. Wer jedoch aufmerksam ist, kann für einen kurzen Moment den siebenarmigen Leuchter in der Szene entdecken – den konnte man schwerlich ­‚hinaussynchronisieren‘.

Abb.  15: Screenshot American Werewolf, DVD von Universal Pictures, 00:30:56.

Abb.  16: Screenshot American Werewolf, DVD von Universal Pictures, 00:31:11.

Interessant ist auch zu sehen, dass, selbst wenn man die jüdische Identität einer Figur in der deutschen Synchronfassung zulässt, der Dialog dann doch oft ‚entjudaisiert‘ wird. Die zahlreichen Anspielungen auf jüdische Feiern, Feiertage oder jiddische Ausdrücke in einer Sitcom wie The Nanny (USA CBS 1993–1999) sind in der deutschen Fassung American Werewolf (Anm. 20), 00:21:09–00:21:12.

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fast alle eliminiert und teilweise sinnentstellend ersetzt worden. Der „Bris“ (Beschneidung) des Cousins Ira wird zur Hochzeitsfeier des Cousins,22 der „real little Nazi“ zum „komischen Pförtner“,23 die „Bar Mitzvah“ zum „Geburtstag“24 oder zur „GoldenGlobe-Verleihung“,25 der Satz „if he was jewish“ zu „er war leider zu alt“,26 die ­„Hebrew School“ zur „Schulaufführung“.27 Einen umgekehrten Fall, der umso mehr den Antisemitismus der Verantwortlichen entlarvt, gibt es in der beliebten französischen Animationsserie Il était une fois… la Vie (Es war einmal das Leben, Frankreich Procidis 1986, Leitung: Albert Barillé). In der dritten Folge Les sentinelles du corps (Allzeit bereit! Oder Das Abwehrsystem des Körpers) sieht man, wie das Immunsystem als tapfere Armee die Bakterien Staphylokokken vergast. Die Bakterien schnappen nach Luft und rufen auf Jiddisch aus: „Oy vey Gevalt!“28 Allerdings tun sie es nur in der deutschen Synchronfassung, nicht im französischen Original. Nachdem bereits 2018 Fabian Soethof nichts bei den Verantwortlichen, die die Serie immer noch unverändert ausstrahlten, erreicht hatte, berichteten schließlich Ende April 2020 das Online-Magazin Übermedien und Anfang Mai 2020 die Bild-Zeitung darüber.29 Daraufhin wurde auf Netflix diese Dialogzeile gelöscht. Das verantwortliche Synchronstudio Studio Hamburg gibt es nicht mehr, daher sind auch hier weitere Nachforschungen schwierig.

Abb. 17: Screenshot Es war einmal das Leben, DVD von Studio Hamburg Enterprises, DVD 1, 00:07:29.

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Die Nanny, die komplette erste Season, DVD von Sony Pictures, DVD 1, Folge 03, 00:19:24. Die Nanny, die komplette zweite Season, DVD von Sony Pictures, DVD 1, Folge 02, 00:03:58. Die Nanny, zweite Season (Anm. 23), DVD 2, Folge 10, 00:11:28. Die Nanny, zweite Season (Anm. 23), DVD 3, Folge 21, 00:19:37. Die Nanny, zweite Season (Anm. 23), DVD 3, Folge 23, 00:32:00. Die Nanny, zweite Season (Anm. 23), DVD 3, Folge 23, 00:12:46. Es war einmal das Leben, DVD von Studio Hamburg Enterprises, DVD 1, Folge 3, 00:07:29. https://uebermedien.de/48718/es-war-einmal-der-antisemitismus/ (gesehen 7.6.2020). – https://www.bild. de/unterhaltung/tv/tv/es-war-einmal-das-leben-antisemitismus-vorwuerfe-gegen-kinderserie-70387944. bild.html (gesehen 7.6.2020).

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Abb. 18: Es war einmal das Leben, DVD von Studio Hamburg Enterprises, DVD 1, 00:07:29.

Bakterien werden vergast und durch den jiddischen Satz als jüdisch ausgewiesen. Dadurch stellen die Synchronverantwortlichen ihre Gesinnung in eine Reihe mit den Irrlehren des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, wo Jüdinnen und Juden als Bakterien, Schädlinge und Ungeziefer wie Ratten diffamiert und schließlich mit dem Schädlingsgift Zyklon B in den Gaskammern des ‚Dritten Reiches‘ ermordet wurden. Die hier gezeigten Beispiele sind nur eine kleine Auswahl. Bei der ganzen Gemeinheit und Ekelhaftigkeit, mit der jüdische Identität und Kultur in der Synchrontätigkeit ausgelöscht oder verhöhnt wurden, beginnt man sich schon bei kleinen seltsamen Änderungen in den deutschen Fassungen zu fragen, ob dahinter nicht brauner Ungeist steckt. Wieso wird z. B. in der deutschen Synchronisation des Thrillers The Spy Who Came in from the Cold (Der Spion, der aus der Kälte kam, UK 1965, R: Martin Ritt) aus dem Londoner „Battersea General Hospital“ das „East End Krankenhaus“, mitten im traditionell jüdischen Viertel in London? Und wieso wird der harmlose Scherz von Leamas „Think I’d do better as a patient“ zu einer Abwertung des Krankenhauses, in dem er in der deutschen Fassung sagt: „Da geh ich nicht mal als Patient hin“? Pitt: Vacancies for male nurses at Battersea General. Leamas: Think I’d do better as a patient. Pitt: Da ist ein Posten als Krankenpfleger im East End Krankenhaus. Leamas: Da geh ich nicht mal als Patient hin.30

Der Spion, der aus der Kälte kam, DVD von alive, 00:13:53–00:13:58.

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Den Unterschied macht die Forschung: ein Doppelplädoyer für das kritische Edieren von Ufa-Sprachversions- und NS-Vorbehaltsfilmen

Filme gelten in erster Linie als Unterhaltung, die Einsicht in die Notwendigkeit von kritischen Editionen ist daher begrenzt, die Refinanzierungsmöglichkeiten der entsprechenden Investitionen ebenso. Es gibt keine Tradition des kritischen Edierens von Filmen, keine Standards, an denen man sich orientieren könnte. Im Fall der deutschen Filmgeschichte würde man sich oft schon über einfache Editionen freuen, die nicht den Anspruch haben müssten, ‚kritisch‘ zu sein, die aber über das bloße Veröffentlichen hinausgingen. Für solche Editionen gibt es natürlich Beispiele, auch gute, aber diese sind meist den Initiativen Einzelner zu verdanken und nicht einer allgemeinen Einsicht in die Notwendigkeit verbindlicher Mindestanforderungen. Editionen von Filmen erscheinen als DVD oder Blu-ray. Sie enthalten drei verschiedene Arten von Zusatzinformationen (Material, Metadaten, Mitteilungen) und nutzen für diese vier verschiedene Kanäle. Als Material sind verschiedene Fassungen eines Films denkbar, aber auch alle den Hauptfilm begleitenden und rahmenden (Bewegt-)Bilder und Schriftstücke; Metadaten sind hier vor allem technisch, strukturell und deskriptiv, Mitteilungen film- bzw. zeithistorisch, archivarisch und ästhetisch. Als Kanäle zur Verfügung stehen das sogenannte Bonusmaterial, das Booklet, der ­Audio-Kommentar und (auch wenn selten genutzt) der Hypertext, also in den Hauptfilm integrierte Verweise. Auffällig ist, dass ein Spannungsverhältnis besteht zwischen dem, was mit digitaler Technologie möglich wäre, und dem, was tatsächlich gemacht wird. Die meisten Akteure denken in dieser Hinsicht bislang eher konservativ. Es wird sich herausstellen, ob Online-Formate für kritische Editionen überhaupt tauglich oder nicht sogar besser geeignet sind, etwa wegen der Möglichkeit zu verknüpfen und zu aktualisieren, oder ob (kritische) Editionen von Filmen auch in Zukunft auf stabilen, haptischen Trägern veröffentlicht werden, ob die DVD vielleicht sogar nur in und dank dieser Nische weiterexistieren wird. Den Unterschied zwischen kritischen und einfachen Editionen macht schlicht und einfach die Forschung. Kritische Editionen sollten nicht danach ausgerichtet sein, welche Informationen und Materialien den Verkauf am besten anregen, sondern den Forschungsstand angemessen und anschaulich widerspiegeln. Am besten sind sie das Endergebnis eines originären Forschungsprojektes, was allerdings eine intensivere Kooperation zwischen Filmwissenschaft, Filmarchiven, Förderinstitutionen, Rechteinhabern und Verlagen voraussetzt, als sie bislang gängig ist. Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich zwei Beispiele für Gruppen von Filmen und gleichzeitig für konkrete Filme vorstellen, die aus meiner Sicht dringend kritisch ediert gehören. Die Kriterien für diese Auswahl sind Filme, die in stark voneinander abweichenden Versionen existieren, die

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eine besonders interessante oder komplexe Rezeptionsgeschichte haben, zu denen es bereits eine substanzielle Forschung gibt und bei denen sich die Kopien- und Rechte­ lage relativ einfach klären lässt.

1. Fall: Die Sprachversionsfilme der Ufa Sprachversionsfilme (engl.: multiple language versions) waren eine von vielen in der frühen Tonfilmzeit genutzten Möglichkeiten, Filme für ein internationales Publikum zu adaptieren. Der den Live-Ton im Filmtheater ablösende vorproduzierte Filmton besteht aus verschiedenen Elementen: Sprache, Geräusche, Musik und – nicht zuletzt – Stille, wobei einzig die Sprache einer Übersetzung bedarf. Die nun hörbaren Filmdialoge, deretwegen zunächst auch vom ‚Sprechfilm‘ die Rede war, ließen sich aber nicht so einfach austauschen wie die geschriebenen Zwischentitel der Stummfilmzeit. Es wurde daher mit einer ganzen Reihe von Verfahren experimentiert, von denen zwei auch heute noch gängig sind: Synchronisation und Untertitelung. Synchronisationen unterliefen allerdings die gerade gewonnene Einheit von Körperbild und Stimme und waren daher prinzipiell verdächtig, Untertitelungen im damals üblichen chemischen Verfahren ließen an Schärfe zu wünschen übrig (abgesehen davon, dass sie Teile des Filmbilds überlagern). Da schien die Vorstellung, die für den internationalen Markt bestimmten Filme einfach gleichzeitig in mehreren Sprachen zu drehen, gar nicht so abwegig. Um 1930/31 wurden vielerorts Sprachversionsfilme gedreht, ob in Hollywood oder in Europa. Doch es gab ein Studio, dass sowohl an Intensität als auch an Extensität alle anderen überflügelte: die Ufa. Zwischen 1929 und 1939 wurden in Babelsberg von 74 deutschsprachigen Filmen 85 weitere Versionen hergestellt, davon mit Abstand die meisten auf Französisch, gefolgt von Englisch.1 In neun Fällen wurde eine französische und eine englische Version hergestellt. Gedreht wurde Einstellung für Einstellung, immer zuerst die deutsche Version, dann die andere(n). Über viele Jahre gab es in Berlin eine ganze Kolonie von französischen und (meist) britischen Darstellern und Co-Regisseuren bzw. Supervisoren, die die Aufgabe hatten, die deutschen Ausgangsfilme an das jeweilige Zielpublikum anzupassen. In Einzelfällen arbeitete die Ufa mit polyglotten Stars wie Lilian Harvey, die ihre Rolle in mehreren Sprachversionen spielen konnten. Gerade in der Anfangsphase funktionierte das Modell zum Teil hervorragend und sicherte beispielsweise dem Film Die Drei von der Tankstelle (1930, Wilhelm Thiele) eine immense Popularität in Frankreich; Der Kongress tanzt (1931, Erik Charell) wurde – auf Deutsch, Französisch und Englisch gedreht – gar ein Welterfolg. Der Musikfilm war eines der Genres,2 die durch die Einführung des Filmtons überhaupt erst möglich wurden bzw. ihr volles Potential ausfüllen konnten, ob als Musical aus Hollywood oder als Tonfilmoperette aus Babelsberg. Von Letzteren produzierte die Ufa zwischen 1930 und 1933 13 Stück, alle in mindestens einer weiteren Sprachversion. Neben den bereits genannten Filmen Die Drei von der Tankstelle und Der Kongress tanzt fand sich darunter auch Ludwig Bergers Ich bei Tag und Du bei Nacht Eine untergeordnete, wenn auch jede für sich durchaus interessante Rolle spielten die Sprachen Ungarisch, Niederländisch, Spanisch und Italienisch. 2 Vgl. Michael Wedel: Der deutsche Musikfilm. Archäologie eines Genres 1914–1945. München 2007. 1

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(1932), der bis heute für seine selbstreflexive Behandlung des Genres berühmt ist: Die Maniküre Grete und der Nachtkellner Hans teilen sich, ohne voneinander zu wissen, dasselbe Zimmer bzw. Bett in einem Berliner Hinterhaus. Sie schläft darin nachts, er tags. Als sich die beiden zufällig außerhalb ihrer vier Wände kennenlernen und ineinander verlieben (noch immer, ohne zu wissen, dass sie sich ein Bett teilen), halten sie sich gegenseitig für Angehörige einer höheren Klasse. Im Kino um die Ecke läuft derweil ein Film, der vorführt, wie aristokratische und großbürgerliche Liebe funktioniert. Am Ende entdecken Grete und Hans, dass sie beide einfache Leute sind und dass sie sich schon lange ein Bett teilen. Ihrem Glück steht nun nichts mehr im Wege. Die Zimmerwirtin Witwe Seidelbast hat dafür nur einen Kommentar übrig: „Wie im Kino!“. Passend zu dieser – wie eine Illustration von Siegfried Kracauers Essay Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino (1928) daherkommenden – Geschichte singt der damals äußerst erfolgreiche und beliebte Tenor Leo Monosson in Ich bei Tag und Du bei Nacht den Werner-Richard-Heymann-Schlager Wenn ich sonntags in mein Kino geh’, und zwar in allen drei Versionen des Films: auf Deutsch, Französisch und Englisch.3 Alle Fassungen erregten Aufmerksamkeit, sodass es nicht völlig abwegig erschien, als die Ufa in dem Hollywood-Film Girl Without a Room (1933, Ralph Murphy) ein Plagiat erkennen wollte.4 Am 15. Juli 1935 schrieb der Verleihchef der Ufa, Wilhelm Meydam, an den Produktionsleiter Günther Stapenhorst: Paramount hatte bereits aus unserem Film Ich bei Tag ganze Scenen fast wörtlich übernommen.5 Wir konnten aber damals nichts machen, weil uns seinerzeit nachgewiesen wurde, dass die Grundidee und einige sich daraus ergebende Situationen schon vorher in der Literatur erschienen war, bevor die Novelle geschrieben wurde, auf Grund deren wir den Film gemacht hatten.6

Sowohl zu den Sprachversionsfilmen der Ufa im Allgemeinen als auch speziell zu Ich bei Tag und Du bei Nacht gibt es bereits sehr fundierte Forschungsliteratur, auf die man für eine Edition zurückgreifen könnte.7 Als Schriftgutquellen stehen einerseits die Vgl. hierzu das Booklet der von Raoul Konezni herausgegebenen CD Leo Monosson singt seine Filmschlager. Historische Aufnahmen von 1929–1932. Edition Berliner Musenkinder/duophon Records 2008. Vgl. auch den Eintrag: Leo Monosson singt in zehn Sprachen. In: Film-Kurier, 15.8.1931. 4 Die wenigen überlieferten Geschäftsakten der Ufa lassen vermuten, dass Plagiatsfragen in den 1930er Jahren ein ständig diskutiertes Thema waren. Allerdings war die Ufa nicht nur potentielles Opfer, ihr (Sprachversions-)Film Glückskinder (1936, Paul Martin) gilt beispielsweise als Plagiat von It Happened One Night (1934, Frank Capra). 5 Ein gründlicher Vergleich der beiden Filme wäre aufgrund dieser Aussage interessant, die zunächst einmal irritiert, da die beiden Filme auf den ersten Blick so gut wie gar nichts miteinander zu tun haben. In Girl Without a Room teilen sich nicht ein Mann und eine Frau dasselbe Bett, ohne voneinander zu wissen, sondern sie teilen sich denselben Raum, in dem sie gleichzeitig, aber in verschiedenen Betten schlafen. Die Handlung ist nicht in Berlin, sondern in Paris angesiedelt, die Charakterisierung der Stadt, wenn schon, dann ein Plagiat von Sous les toits de Paris (1930, René Clair), nicht von Ich bei Tag und Du bei Nacht. 6 Bundesarchiv Berlin, Signatur: BArch, R 109 I, 5246. 7 Chris Wahl: Sprachversionsfilme aus Babelsberg. Die internationale Strategie der Ufa 1929–1939. ­München 2009; Sabine Hake: Provocations of the Disembodied Voice: Song and the Transition to Sound in Berger’s Day and Night. In: Peripheral Visions. The Hidden Stages of Weimar Cinema. Hrsg. von Kenneth S. Calhoon. Detroit 2001, S. 55–72; Jörg Schweinitz: „Wie im Kino!“ Die autothematische Welle im frühen Tonfilm. Figurationen des Selbstreflexiven. In: Diesseits der ‚Dämonischen Leinwand‘. Neue Perspek­ tiven auf das späte Weimarer Kino. Hrsg. von Thomas Koebner. München 2003, S. 373–392; Corin­na Müller: Tonfilm: Neuer Realismus? Zum Beispiel Ich bei Tag und Du bei Nacht. In: ebd., S. 393–408. 3

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Berichte von Robert Stevenson zur Verfügung,8 der in Babelsberg für den englischen Koproduktionspartner der Ufa, Gaumont British, die Adaptierung der Sprachversionsfilme vornahm und überwachte. Er schrieb darüber regelmäßig Briefe an seinen Chef Michael Balcon, die in den ‚special collections‘ des British Film Institutes erhalten sind. Als er nach mehreren Monaten wieder zurück in London war, hielt er Vorträge über seine Tätigkeit in Deutschland.9 An Balcon schrieb er: For though the German staff are almost all delightful people, by the time they have taken four German takes and four French, they are bored to tears with the shot in question and would like to finish with the English takes in exactly the same way with exactly the same business in the shortest possible time.10

Andererseits gibt es persönliche Erinnerungen, die mehr in einem Starkontext stehen, als dass es sich um Fachinformationen für andere Branchenmitglieder handeln würde. Fernand Gravey, der in Belgien geborene männliche Hauptdarsteller der französischen und englischen Version von Ich bei Tag und Du bei Nacht, bestätigte Stevensons Worte anhand seiner während der zweimonatigen Dreharbeiten gesammelten Erfahrungen. Gleichzeitig sei aber die Arbeit gerade an diesem Film, auch dank des Regisseurs Ludwig Berger, sehr lustig gewesen. Eines Nachts, als wieder einmal alles sehr lange dauerte, habe dieser Punsch geordert, um das Team aufzuwärmen, da man in einer nachgebauten Straßenkulisse auf dem Außengelände beschäftigt war. Als es dann weiter gehen sollte, war der Kameramann angetrunken.11 Die Rechte für den Film in allen drei Versionen liegen bei der Murnau-Stiftung, die die deutsche Version (UA: 18. November 1932 im Ufa-Palast, Hamburg) 2014 schon einmal digitalisiert, allerdings nicht als DVD herausgebracht hat. Für die französische Version À moi le jour, à toi la nuit (UA: 30. Dezember 1932 im Apollo, Paris) hatte ­Bernard Zimmer das Drehbuch von Hans Székely und Robert Liebmann adaptiert (Dia­ loge), während Claude Heymann Co-Regie führte. Die weibliche Hauptrolle spielte wie in der deutschen Version (dort neben Willy Fritsch) die gebürtige Ungarin Käthe von Nagy. Der Film ist zumindest als Positivkopie im französischen Filmarchiv des CNC erhalten. Die englische Version Early to Bed (UA: 27. November 1933), in der neben Fernand Gravey die britische Schauspielerin Heather Angel agierte, liegt dagegen im British Film Institute. Obwohl die Sprachversionen für die Ufa in der frühen Tonfilmzeit ein wichtiges Geschäftsmodell gewesen und obwohl einige der deutschen Ausgangsfilme bereits auf DVD erschienen sind, gibt es bis auf eine Ausnahme keine Ausgabe, die man Edition nennen könnte. Einzig die zum 100. Geburtstag von Marlene Dietrich 2001 von Universum Film GmbH / BMG Video in der Reihe Ufa Klassiker Edition (sic) herausgebrachte Doppel-DVD von Der blaue Engel / The Blue Angel (1930, Josef von Sternberg) enthält Stevenson tat sich später selbst als Regisseur hervor, z. B. von Mary Poppins (1964), in dem Anleihen an die Ufa-Tonfilmoperetten erkennbar sind. 9 Robert Stevenson: A year in German studios. In: Proceedings of the British Kinematograph Society 20, 1933, S. 3–12. 10 British Film Institute, Special Collections, Aileen and Michael Balcon Collection, Stevenson an Balcon, ohne Datum. Signatur: MEB/B/57. 11 Vgl. Fernand Gravey: Vingt-cinq ans de carrière, trente ans d’âge. In: Pour Vous, 13.2.1936, S. 11. 8

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neben der deutschen noch eine fremdsprachige Version und versucht, dieses Phänomen zu veranschaulichen und mit wenigen Worten zu erklären; Letzteres allerdings mit zweifelhaftem Erfolg. In dem spärlich mit Text versehenen und nicht namentlich gezeichneten Booklet heißt es beispielsweise: Zur gleichen Zeit und am Set des „Blauen Engels“ wurde mit Blick auf den amerikanischen Markt auch eine englisch/deutsche Version des Films gedreht. Wegen des oft haarsträubenden Akzents der Darsteller ist jedoch die deutsche Version auch international die beliebtere.

Diese Bemerkung mag oberflächlich gesehen zutreffend sein, ist filmhistorisch aber völlig unbefriedigend, da sie beispielsweise überhaupt keine Antwort darauf gibt, warum die Ufa gleich nach diesem Film weitere englische Versionen für den amerikanischen Markt drehte. Dass The Blue Angel ein Hybrid aus verschiedenen Translationsversuchen darstellt, hinter denen sich eine komplexe Entstehungsgeschichte verbirgt, die sehr viel über diesen Abschnitt der deutschen und europäischen Filmgeschichte aussagt, lässt sich aus dem Booklet-Text nicht einmal erahnen.12 Im Bonusmaterial von DVD 1 kann man in der Chronik nachlesen, wann die zusätzlichen Nachsynchronisationen für den Film stattfanden, aber in welchem Verhältnis sie zu den Gesamtbemühungen um die internationale Version standen, bleibt ein Rätsel. Ebenfalls auf DVD 1 findet sich ein „Vergleich der Versionen“, die Gegenüberstellung im Split-Screen-Verfahren einer Szene aus der deutschen mit der gleichen aus der „englisch/deutschen“ Fassung. Man kann wahlweise den Ton der ersten Version oder der zweiten oder beide gleichzeitig abspielen. Das ist im Prinzip eine sehr schöne Möglichkeit, mit den Sprachversionsfilmen umzugehen, bleibt in diesem Fall allerdings Spielerei, da jegliche Art von Analyse, Erklärung oder Einordnung unterlassen wurde. Anhand vier kurzer Beispiele bezüglich des Films Ich bei Tag und Du bei Nacht möchte ich zeigen, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen die Anpassung eines Ausgangsfilms an verschiedene nationale Publika in den jeweiligen Sprachversionen zu beobachten ist und im Rahmen einer kritischen Edition auszuwerten und darzustellen wäre. Die vier Ebenen betreffen die Sprache-Bild-Beziehung, die Requisiten, die Stimmung bzw. den Humor und den nationalen Kontext. –– Sprache-Bild-Beziehung: In der deutschen Version trällert Käthe von Nagy als ­Grete das Lied Wenn ich sonntags in mein Kino geh’ mit und singt gerade „Auch die nächste Woche ist genauso flau“, als sie eine belegte Brotscheibe von ihrem Frühstücks­tablett nimmt. In der französischen Version macht sie den gleichen Handgriff, singt aber „Que veux-tu plus que ton pain quotidien“ (‚Was willst Du mehr als Dein tägliches Brot‘) und stellt damit einen viel engeren Bezug zu ihrer Geste her. In der englischen Version schließlich nimmt Heather Angel gar kein Brot in die Hand, sondern einen Löffel voll Marmelade und singt dabei: „I am the girl who’s looking for jam“, wobei ‚jam‘ nicht nur die Konfitüre bezeichnet, die sie im Begriff ist zu verspeisen, sondern auch für die Klemme stehen kann, in die sich die Maniküre im Lauf des Films bringt. –– Requisiten: Während der deutsche Filmvorführer im Kino um die Ecke meistens an einem belegten Brot knabbert und eine Thermoskanne bei sich hat, lässt der engli Zu den beiden Versionen vgl. Wahl 2009 (Anm. 5), S. 113–117.

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sche sich lieber Würstchen aus einer Pappschachtel schmecken. Der französische schließlich feilt sich gerne die Nägel oder liest Zeitung und hat auch schon mal eine Flasche Wein im Vorführraum dabei. –– Stimmung bzw. Humor: Sowohl in der englischen als auch in der französischen Version wurde versucht, den Film bei der Adaptation etwas leichter und spritziger zu gestalten. Möglicherweise wollte man in der französischen Version auch kaschieren, dass Willy Fritsch wesentlich glaubwürdiger ein Liebespaar mit Käthe von Nagy bildet als Fernand Gravey. Dafür deckt sie dieser mit einer Salve von Handküssen ein und tollt mit ihr durch die Flure von Sanssouci, wo sich eine zentrale Sequenz des Films abspielt. Doch stellt man der französischen die englische Version gegenüber, liegt der Schluss nahe, dass Gravey in ersterer Zügel angelegt worden waren. So kommt es in der englischen Sanssouci-Sequenz zu einer regelrechten Pantoffel-­ Rallye zwischen ihm und seiner Partnerin Heather Angel, bei der sie völlig ­ekstatisch durch das verwaiste Schloss schlittern. Auch im englischen Programmheft wurde der komische Aspekt ausdrücklich hervorgehoben: „There is plenty of ­charming ­humour in this film“. –– Nationaler Kontext: Die Schlossführung durch Sanssouci, an der das Pärchen Hans und Grete teilnimmt, ist eine offene Hommage an den bekanntesten Preußenkönig, Friedrich  II. bzw. den Großen, dessen berühmtes Flötenspiel dazu genutzt wird, den von ihm verkörperten Mythos zu den Figuren des Films und zur Ufa selbst in Beziehung zu setzen. Der deutsche Schlossführer präsentiert das Ausstellungsstück mit den Worten: „Und hier haben wir nun seine Flöte, sozusagen sein Original­ instrument. Das alles hat er nun gewissermaßen persönlich in der Hand gehabt. Auf dem Notenpult stehen noch die Originalnoten seines musikalischen Lehrmeisters Quantz.“ Der französische Führer lässt das Pult mit den Originalnoten unerwähnt, erklärt dafür, jeder wisse, dass Friedrich nicht nur ein großer Monarch, sondern auch ein hervorragender Flötenspieler gewesen sei. In Deutschland war dies in der Tat allgemein bekannt, in Frankreich vielleicht weniger. Der englische Führer erwähnt schlicht, der König sei ein „accomplished flute player“ gewesen. In der deutschen Version wird aber nicht nur die Originalflöte des Königs gezeigt, sondern auch auf „das berühmte Gemälde von Adolph von Menzel Das Flötenkonzert von Sanssouci“ hingewiesen, dessen Titel mit dem des nicht weniger berühmten – als anti-französisch geltenden – Ufa-Films von Gustav Ucicky aus dem Jahre 1930 identisch ist. Die englische und die französische Version verzichten auf die Präsentation des Gemäldes während der Führung. Merkwürdig ist allerdings, dass die Bibliotheksszene, in der der deutsche Führer die ausschließlich französischsprachige Sammlung mit eigenhändigen Widmungen Voltaires vorstellt, in der französischen Version überhaupt nicht vorkommt. Dafür geht man an anderer Stelle ins Detail: Wird in der deutschen und englischen Version schlicht vom „französischen Ursprung“ bzw. von der „French origin“ des Kronleuchters und der beiden Kamine gesprochen, benennt der französische ‚guide de musée‘ den Stil exakt: Louis XV.

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2. Fall: NS-Vorbehaltsfilme Im Allgemeinen wird der Terminus ‚Vorbehaltsfilm‘ nur für NS-Filme benutzt, die zum Rechteportfolio der Murnau-Stiftung gehören. Diese aktuell 44  Filme, die entweder von der FSK abgelehnt oder – wie etwa Jud Süß (1940, Veit Harlan) – ihr nie vorgelegt oder – wie etwa Der Herrscher (1937, Veit Harlan) – trotz einer Zulassung wieder aus dem Vertrieb zurückgezogen wurden, können nur unter bestimmten Auflagen öffentlich vorgeführt werden. Auf DVD sind sie dementsprechend in Deutschland bisher nicht erschienen. Im Einflussbereich der ehemaligen Alliierten verhält sich das unter Umständen anders, von der Zirkulation über das Internet ganz zu schweigen. Auch wenn die Rechte an Triumph des Willens (1935, Leni Riefenstahl) nicht bei der Murnau-Stiftung, sondern bei der Bundesrepublik Deutschland (als Rechtsnachfolgerin des NS-Staates, der den Film produziert hat) liegen,13 wird er genauso behandelt wie die Vorbehaltsfilme der Murnau-Stiftung und soll demnach hier als solcher bezeichnet werden. Zumindest bei einigen dieser Vorbehaltsfilme wäre der Weg einer kritischen Edition eine Möglichkeit, den bestehenden Ängsten vor einem Missbrauch entgegenzuwirken.14 Außerdem würde er der historischen Forschung zum NS-Film den nötigen Schub geben, da hier im Gegensatz zu anderen Themen der NS-Zeit durchaus noch Nachholbedarf besteht. Triumph des Willens (TdW) ist weniger ein Dokumentarfilm über den Reichsparteitag von 1934, von dem er oberflächlich gesehen handelt (dessen Chronologie er allerdings modifiziert), als ein Dokument des Selbstbildes der Nationalsozialisten, d. h. wie sie gesehen werden wollten und wie ihr ‚Führer‘, der hier im Zentrum steht wie in keinem anderen NS-Film, gesehen werden sollte. Man kann getrost von einer Apotheose Adolf Hitlers sprechen, die in fast schon liturgische Handlungen eingebunden ist. TdW gilt weltweit als der Inbegriff eines Propagandafilms. Kein anderer Film hat unsere Vorstellung vom Nationalsozialismus so sehr geprägt wie dieser, und es gibt sicherlich nur wenige Filme, zu denen so viel Forschungsliteratur publiziert worden ist wie zu TdW, wobei Martin Loiperdingers Studie von 1987 als diesbezüglicher Ankerpunkt bezeichnet werden kann.15 Während zur Entstehung des Films, zu seiner Ästhetik und zu seiner zeithistorischen Kontextualisierung genug Vorarbeiten existieren, aus denen man für eine kritische Edition schöpfen könnte, gibt es zwei Aspekte, die schon bei Loiperdinger Erwähnung finden und die in einer kritischen Edition unbedingt zur Darstellung kommen müssten, allerdings bisher noch einer tiefergehenden Bearbeitung harren:16 die Tatsache, dass

Zur komplexen Rechtethematik im Fall von Triumph des Willens und insbesondere zu der Frage, warum die Bundesrepublik Leni Riefenstahl bis zu ihrem Tod die Auswertung des Films überließ, obwohl diese einen entsprechenden Prozess um die Rechte an dem Film verloren hatte, vgl. Julia Jacobs, ­Philipp Schepp: Triumph des Willens. In: Verbotene Filme. Hrsg. von Thomas Hoeren und Lena Meyer. ­Berlin  2007, S. 167–207. 14 Vgl. zu dieser Thematik auch die instruktive Dokumentation Verbotene Filme (2014, Felix Moeller) sowie die jüngst erschienene Dissertation von Johanne Hoppe: Von Kanonen und Spatzen. Die Diskursgeschichte der nach 1945 verbotenen NS-Filme. Marburg 2021 (Marburger Schriften zur Medienforschung, 84). 15 Martin Loiperdinger: Der Parteitagsfilm Triumph des Willens von Leni Riefenstahl. Rituale der Mobilmachung. Opladen 1987. 16 Zu beiden Aspekten läuft seit kurzem ein Forschungsprojekt an der Filmuniversität Babelsberg, dessen vorläufige Annahmen ich im Folgenden vorstelle. 13

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TdW in verschiedenen Versionen vorliegt,17 sowie sein Ruf als am häufigsten zitierter Film der Geschichte.18 Nicht allzu viele Menschen dürften den Film seit 1935 in voller Länge gesehen haben, doch fast jeder kennt Ausschnitte – oftmals ohne zu wissen, dass sie aus TdW stammen. Einer der ersten Filme, die Footage aus TdW verwendeten, war Der ewige Jude (D 1940, Fritz Hippler), einer der letzten A Hidden Life (USA 2019, Terrence Malick). Riefenstahls Parteitagsfilm fristet seit rund 80 Jahren ein Dasein als Steinbruch für inzwischen teilweise ikonisch gewordene Bilder und Töne, die meist sehr generelle Konzepte wie Nationalsozialismus, Holocaust oder Militarismus zu illustrieren helfen. Diese erinnerungskulturelle Perspektive wäre ein wichtiger Ansatzpunkt für eine kritische Edition, deren Aufgabe darin bestünde, all das herauszuarbeiten, was durch die Zitierwut verdeckt wird. Ob sich in Riefenstahls Nachlass, der jüngst der Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurde, weitere interessante Materialien für die Forschung zu TdW befinden, bleibt abzuwarten. Das Negativ von TdW gilt zwar als verschollen, doch die Lage bei den Positivkopien sieht gar nicht so schlecht aus: Das Bundesarchiv-Filmarchiv hat erst kürzlich von der einzig vorhandenen Nitrokopie zwei neue Duplikat-Negative und davon dann eine neue Kopie auf modernem Material gezogen. Diese Nitrokopie stammt noch aus den Beständen des Staatlichen Filmarchivs der DDR. Genauso wie die im Imperial War Museum (London) archivierte Fassung, die Grundlage einer britischen DVD-Veröffentlichung war, enthält sie die so genannte Reichswehrsequenz: Am fünften und letzten Tag des Reichsparteitags, an dem die Reichswehr ein Manöver zelebrierte, war das Wetter nicht mehr so schön wie zuvor. Riefenstahl hat zeitlebens behauptet, sie habe deshalb die entsprechende Filmsequenz – gegen den Willen Hitlers und des Generalstabs – nicht in Triumph des Willens verwendet, die Aufnahmen seien einfach nicht ansprechend genug gewesen.19 Da die meisten TdW-Materialien im Bundesarchiv auf die in der Library of Congress (USA) archivierten Kopien des Films zurückgehen, die die umstrittene Reichswehrsequenz wiederum nicht enthalten, konnte Martin Loiperdinger, der seine Arbeit vor der Wende anfertigte, sie nicht in sein Einstellungsprotokoll aufnehmen.20 Ob die am 28. März 1935 im Ufa-Palast am Zoo uraufgeführte Premierenfassung diese Sequenz enthielt oder nicht, ist schwer nachzuweisen. Eine zeitgenössische Kritik lässt es vermuten, aber die Zensurkarte ist nicht überliefert; dafür jedoch die Zensurkarte der 16-mm-Fassung des Films (vom 12.  September 1935). Allerdings wird in Vgl. Martin Loiperdinger: Triumph des Willens – VI. Reichsparteigag der NSDAP in Nürnberg, 4.–10. September 1934, Film G 138, Sektion Geschichte/Publizistik, Serie 6, Nummer 4. Göttingen 1989, S. 10 f. 18 Loiperdinger 1987 (Anm. 15), S. 10: „das meistzitierte Werk des Kompilationsfilms“. Allerdings muss man diese Feststellung um alle Arten von Dokumentar- und Spielfilmen sowie andere Formen des bewegten Bildes erweitern. Loiperdingers Aussage wird zwar vielfach kolportiert, aber niemand sah sich bislang bemüßigt, ihr nachzugehen, mit Ausnahme vielleicht von David Bathrick, der dies allerdings in einem sehr kleinen Umfang und mit geringer Konsequenz getan hat. Vgl. David Bathrick: The Afterlife of Triumph of the Will: The First Twenty-five Years. In: Riefenstahl Screened. An Anthology of New Criticism. Hrsg. von Neil Christian Pages, Ingeborg Majer O’Sickey und Mary Rhiel. New York 2008, S. 73–97. 19 Vgl. hierzu Loiperdinger 1989 (Anm. 17), S. 11. Gewissermaßen als Entschädigung drehte Riefenstahl auf dem Reichsparteitag 1935 einen Kurzfilm ausschließlich über die Armee, die seit dem 16. März 1935 Wehrmacht hieß: Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht (1935, Leni Riefenstahl). 20 Martin Loiperdinger: Triumph des Willens – Einstellungsprotokoll. Institut für historisch-sozialwissenschaftliche Analysen IHSA, Arbeitspapier Nr. 10. Frankfurt/Main 1980. 17

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der Reichswehr-Sequenz nicht geredet, und Zensurkarten von Tonfilmen transkribieren ausschließlich Sprache – Hinweise auf Geräusche, Musik oder gar eine Beschreibung der Handlung oder der Bildinhalte gibt es nicht. Jedoch legt die auf der Zensurkarte genannte Gesamtlänge des Films nahe, dass die Reichswehr-Sequenz Bestandteil war. Es ist davon auszugehen, dass die 35-mm-Premierenfassung von Triumph des Willens als Vorlage für die 16-mm-Fassung verwendet wurde und daher ebenfalls die Reichswehr-Sequenz enthielt. In den Vereinigten Staaten sind noch in den 1940er Jahren zwei Kurzfassungen des Films entstanden, die einer näheren Begutachtung harren: Irgendwann zwischen 1940 und 1942 stellte das Museum of Modern Art (MoMA) eine ca. 41 Minuten (statt ca. 102 Minuten) lange Fassung her, die Politikern und Militärs die Möglichkeiten filmischer (NS-)Propaganda demonstrieren sollte. Wie ein internes Papier des MoMA klarstellt,21 handelt es sich bei Luis Buñuels in seiner Autobiographie aufgestellten Behauptung, er habe diese Kurzfassung hergestellt,22 mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um Unsinn; viel eher sei dies die Aufgabe des Technikers der ‚Film Library‘ des MoMA, Edward F. Kerns, gewesen. Die über drei Stunden lange, unter dem Namen The Nazi Plan (1945, George Stevens) bekannte Kompilation von NS-Footage, die während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses vorgeführt worden ist, schließt eine ca. 38 Minuten lange Fassung von TdW ein, die sich allerdings von der MoMA-­Version erheblich unterscheidet. So enthält letztere beispielsweise die Eingangssequenz mit der Ankunft Hitlers in Nürnberg, erstere hingegen nicht. In manchen Fällen sind diese gekürzten Schnittfassungen Vorlage für spätere Zitate gewesen. Uwe Boll bediente sich für seinen Film Auschwitz (2011) beispielsweise bei The Nazi Plan statt bei TdW, was man an der Abfolge der Einstellungen deutlich erkennen kann. Eine weitere Version von TdW wurde 1974 im NDR mit einem 10-minütigen Nachwort von Joachim C. Fest ausgestrahlt und ab 1975 über das Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) vertrieben. Die Variation besteht in einer einzigen Änderung: Die in TdW enthaltenen Nachtsequenzen (die Veranstaltung der SA mit Stabschef Lutze im SA-Lager Langwasser sowie der Appell der Politischen Leiter auf der Zeppelinwiese inkl. Fackelzug zum Hauptbahnhof) sind aneinandergeschnitten, so dass die virtuelle Folge aus Tag-Nacht-Tag-Nacht-Tag (Riefenstahl hatte aus den fünf Tagen des Parteitags drei gemacht) zerstört wird. Warum dies geschehen ist und wer dafür verantwortlich zeichnete, war bislang nicht zu rekonstruieren. Beim NDR ist keine diesbezügliche Dokumentation überliefert. Neben den verschiedenen Versionen von TdW interessieren in diesem Zusammenhang die vielfältigen Wiederverwendungen von einzelnen Einstellungen und Sequenzteilen des Films. Zu diesem Thema habe ich gemeinsam mit Studierenden ein Wiki mit dem Ziel angelegt, eine empirische und quantitative Basis für die medienarchäologische und erinnerungskulturelle Analyse der kontinuierlichen Appropriation von Bildern und Tönen aus dem Film zu schaffen. Unter Zuhilfenahme des 1980 von Martin Loiperdinger erstellten Einstellungsprotokolls des Films ist im Wiki für jeden Film, Ron Magliozzi: An Introduction to Archival Records on Luis Buñuel and the Film Library’s Abridgement of Triumph of the Will at the Museum of Modern Art (draft in progress). New York, Dezember 2009. 22 Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Berlin 1988, S. 249. 21

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in dem Elemente aus TdW entdeckt worden waren, eine Tabelle angelegt, in der wir die Fundstellen im Zielfilm (mit Timecode und Screenshot) und die entsprechende Ausgangssequenz in TdW (mit Timecode und Screenshot) sowie deren Einstellungsnummer nach Loiperdingers Protokoll nebeneinander vermerkten. Zusätzlich enthält die Tabelle zu jedem dieser notierten Zitate ein Feld, in dem eingetragen ist, welche Verfremdungen am Material (Bild oder Ton) vorgenommen wurden. Schließlich gibt es zu jedem Zielfilm eine kurze Ersteinschätzung, was für eine Form von Verwendung vorliegt und wie die Rekontextualisierung des Materials einzuschätzen ist. Aus der Gesamtheit der so gesammelten Daten erhält man einen sehr guten Überblick über die Verwendungsgeschichte des Films, die bestimmte Muster aufzeigt, welche als Basis für weitere Fragestellungen dienen können. Es lässt sich also beispielsweise leicht feststellen, welche Einstellungen aus TdW am häufigsten zitiert wurden und wie sich diese Zitate auf unterschiedliche Produktionsjahre oder -länder verteilen. Die Relevanz einer empirischen Vorrecherche wird hier schnell deutlich, da die am häufigsten zitierten Einstellungen aus TdW ganz kontraintuitiv nicht die bekanntesten und prägnantesten, sondern eher unscheinbare Aufnahmen sind: grüßende Hitlerjugend in der Totalen bei der Ausfahrt aus dem Stadion, ein eine Treppe hinunter marschierender SS-Block. Derzeit sind im Wiki 123 Filme ausgewertet, in denen 3031 direkte Zitate aus TdW dokumentiert werden konnten, von Der ewige Jude (1940, Fritz Hippler) bis zu The House That Jack Built (2018, Lars von Trier). Es sticht dabei sofort ins Auge, dass es im Fall von TdW eine über fast acht Jahrzehnte gleichbleibende Anzahl von Zielfilmen gibt, die diesen Quellfilm zitieren, und dass die Anzahl der einzelnen Zitate in zwei verschiedenen Zeiträumen höher ist als sonst: in den 1940er Jahren wegen Frank Capras Filmreihe Why We Fight und in den 1990er Jahren wegen der hohen Dichte an seriellen Fernsehdokumentationen sowohl in Deutschland (Stichwort: Guido Knopp) als auch auf dem internationalen Markt. Ein Beispiel für eine markante erinnerungskulturelle Epoche, in der auch Leni Riefenstahl mit ihren Filmen eine Renaissance erlebte, wäre dagegen die sogenannte Hitlerwelle der 1970er Jahre,23 die nicht zuletzt in Großbritannien und in den USA grassierte. Zu den relevanten Praktiken der Wiederverwendung von Material aus TdW gehören die typischen Fehldatierungen wie beispielsweise der Schriftzug „Berlin – 1939“ auf Ausschnitten aus Riefenstahls Film in The Four ­Horsemen of the Apocalypse (1962, Vincente Minnelli). Die Relation von inner- und außerfilmischer Erinnerungskultur wird dagegen in einem Film wie Where to Invade next (2015, Michael Moore) thematisiert, der Einstellungen aus TdW mit den Stolpersteinen in Berlin in Beziehung setzt. Das Auffinden der Zielfilme ist natürlich ein Knackpunkt dieser Art von empirischer Vorarbeit. Der ursprüngliche Gedanke, dass Filmzitate eine Rechtefrage sind und daher bei den Rechteinhabern/Verwertern von TdW Listen über die Abklammerungen bzw. Verkäufe existieren müssen, erwies sich nach Kontaktaufnahme mit dem Bundesarchiv/Transit und mit der Leni Riefenstahl Produktion/Horst Kettner als offenbar falsch. Laut dem Filmarchivar Martin Koerber beruht das Zitieren von TdW auf unkontrol Vgl. Peter Wyden: The Hitler Virus. The Insidious Legacy of Adolf Hitler. New York 2001, S. 124–134.

23

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liertem „Wildwuchs“.24 Stattdessen wurden verschiedene Techniken zur Auffindung von Zitaten angewendet: Hinweise aus der Internet Movie Database (IMDb), aus der Fachliteratur, von Kolleginnen und Kollegen sowie gezieltes Sichten wahrscheinlicher Zielfilme gepaart mit einem breiten, vom Zufall geleiteten, kontinuierlichen Fahnden in der Filmgeschichte – dem Instinkt sind tatsächlich schon viele außergewöhnliche und interessante Funde zu verdanken. Die Fundstellen befinden sich in ganz unterschiedlichen audiovisuellen Formaten wie Kino- und Fernsehspielfilmen, Kino-Dokumentarfilmen und mehrteiligen Fernseh-Dokumentationen sowie doku-fiktionalen Hybriden, in experimentellen Kurzfilmen, Internet-Clips, Musikvideos oder in der Videokunst. Es wird also nie eine wirklich vollständige Aufstellung aller Zielfilme und Zitate geben, allerdings scheint eine sehr aussagekräftige Annäherung möglich. Eine Folge dieser Arbeitsmethode ist, dass im Wiki auch negative Funde aufgeführt sind, also vermeintliche Fundstellen von TdW, die sich bei genauer Analyse als Irrtümer herausgestellt haben. In Stanley Kubricks A Clockwork Orange (1971) enthält eine Sequenz beispielsweise sowohl Material, das tatsächlich aus TdW stammt, als auch solches, das nur so aussieht, aber aus einer der Wochenschauen stammt, die parallel zum Riefenstahl-Film während des Parteitags gedreht wurden. Eine weitere wichtige Unterscheidung, die die bisherige Arbeit ergeben hat, ist die zwischen direkten (wörtlichen) und indirekten (sinngemäßen) Zitaten,25 was hier bedeutet: zwischen einkopiertem Footage aus TdW und Einstellungen, die solchen aus TdW eindeutig nachempfunden sind, sich auf diese beziehen und sie kommentieren. Bekannte, wenn nicht berühmte Beispiele sind die indirekten Zitate der Totalen aus TdW, in der Hitler, Himmler und Lutze, unterlegt mit Herbert Windts feierlicher Musik, zur Totenehrung quer durch die Luitpoldarena und durch die Blöcke aus angetretener SS und SA schreiten, in Star Wars (1977, George Lucas) und in Die Blechtrommel (1979, Volker Schlöndorff). Es ist anzustreben, eine klare Grenze zu ziehen zwischen eindeutigen indirekten Zitaten bestimmter Einstellungen und solchen, die lediglich der generellen Ästhetik und Atmosphäre eines bestimmten Films nachempfunden scheinen (auch wenn dies nicht immer ganz einfach ist). Nicht jeder militärische Aufmarsch ist ein indirektes Zitat aus TdW. Ebenfalls unterscheiden muss man zwischen Bild- und Tonzitaten. TdW enthält beispielsweise einige Hitlerreden, aus denen Bruchstücke in anderen Filmen verwendet wurden, die kein Bildmaterial aus TdW enthalten, z. B. in Judgement at Nuremberg (1961, Stanley Kramer), als der von Spencer Tracy gespielte Richter einen Spaziergang über das Reichsparteitagsgelände unternimmt und unter der Kanzel auf der Haupttribüne des Zeppelinfeldes zum Stehen kommt, während extra-diegetisch ein Ausschnitt aus der TdW-Ansprache an die Hitlerjugend eingespielt wird. In Kramers Film erzeugt das eine kraftvolle Resonanz26 zwischen dem konkreten Ort, dem vergangenen Geschehen, über das zu richten, und der Gegenwart, mit der es zu versöhnen ist. Allerdings Persönliches Gespräch mit Martin Koerber am Rande der Tagung „Kritische Film- und Literaturedition“. Vgl. hierzu auch Sabine Moller: Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer. Berlin 2018, S. 77–83. 26 Zum Begriff der Resonanz vgl. Wai Chee Dimock: A Theory of Resonance. In: Publications of the Mod­ ern Language Association of America PMLA 112, 1997, S. 1060–1071; Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016. 24 25

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beruht diese Resonanz auf einer Art historischem Kuleschow-Effekt, da die Ansprache tatsächlich im Stadion, nicht auf dem Zeppelinfeld stattfand, dessen Haupttribüne 1934 auch noch nicht stand. Mit einem verwendungsgeschichtlichen Ansatz lässt sich auch die Herausbildung und Wanderung bestimmter Motive wie beispielsweise „Hitlers Ankunft in Nürnberg“ (das erste ‚Kapitel‘ von TdW) bzw. „Hitler über Deutschland“ (so hieß nicht nur seine Kampagne für die Präsidentschaftswahl 1932, sondern auch ein entsprechender von der NSDAP produzierter Film) verfolgen und analysieren. Sowohl Wahl-Kampagne als auch -Film wurden im Verbund mit einer Ästhetik, die Riefenstahl sich bei ihrem ‚Lehrmeister‘ Arnold Fanck abgeschaut hat, zur Matrix für die Eingangssequenz von TdW, die seitdem in einer Vielzahl von direkten und indirekten Zitaten, welche aufeinander aufbauen und sich aufeinander beziehen, kommentiert worden ist. An indirekten Zitaten wären die Eingangssequenzen von A Foreign Affair (1948, Billy Wilder) und Er ist wieder da (2015, David Wnendt) zu erwähnen. In ersterer ist es nicht Hitler, der nach Nürnberg fliegt, sondern ein Komitee des US-amerikanischen Kongresses auf dem Weg nach Berlin; letztere zeigt die Subjektive von Hitler selbst, wie er – ganz ohne Flugzeug – in der Jetztzeit aus den Wolken in Berlin ‚landet‘. Auffällig bei der Auseinandersetzung mit Hitlers Flug nach Nürnberg in TdW ist die Tatsache, dass der Diktator bei Riefenstahl erst nach der Landung gezeigt wird, als er aus dem Flugzeug steigt. Zuvor sieht man nur das Flugzeug von außen oder Nürnberg aus der Vogelperspektive, der Schnitt ins Innere unterbleibt (ganz im Gegensatz zu dem Film von 1932), die Präsenz Hitlers wird ausschließlich über die Musik angedeutet, eine Komposition von Herbert Windt unter Verwendung von Richard Wagners Meistersingern von Nürnberg und dem Horst-Wessel-Lied.27 In Speer und Er (2005) ­amalgamiert Heinrich Breloer die Filme von 1932 und 1935 zu einer Erinnerungs­ sequenz des auf einer Pritsche in seiner Zelle liegenden Albert Speer, die abwechselnd Footage des Anflugs auf Nürnberg aus TdW und Spielszenen mit Hitler und Speer aus dem Inneren des Flugzeugs zeigt. Auch die anderen Filme, die die TdW-Eingangssequenz direkt zitieren, füllen die angebotene Lehrstelle geradezu zwanghaft und nützen sie für ihr erzählerisches Programm: In dem Dokumentarfilm Mr. Death: The Rise and Fall of Fred A. Leuchter Jr. (1999) reinszeniert Errol Morris, wie der im Titel genannte Spezialist für Exekutionsvorrichtungen 1988 im Auftrag des notorischen Holocaust-Leugners Ernst Zündel nach Auschwitz flog, um den sogenannten ‚Leuchter-Report‘ anzufertigen, der vorgeblich ‚bewies‘, dass dort keine Vergasungen stattgefunden haben können. Die Flugsequenz ist eine Kombination aus TdW-Einstellungen und Aufnahmen des Protagonisten auf seinem Fensterplatz, wodurch, im Gegenschluss, er selbst als Nazi-Propagandist und der Holocaust als ein Ergebnis des Reichsparteitags von 1934 markiert wird. Der australische Kunstkritiker Robert Hughes, der Speer 1979 selbst interviewt hatte, flog für die dem Nazi-Architekten gewidmete Folge seiner Fernsehdokumenta­ Zu Windts Filmmusik vgl. Ben Morgan: Music in Nazi Film: How Different is Triumph of the Will? In: Studies in European Cinema 3, 2006, S. 37–53; Reimar Volker: Verfilmet mir den Meister nicht. Wagner im NS-Film. In: Wagner Kino. Spuren und Wirkungen Richard Wagners in der Filmkunst. Hrsg. von Jan Drehmel, Kristina Jaspers und Steffen Vogt. Hamburg 2013, S. 62–71.

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tionsreihe Visions of Space mit dem Titel Albert Speer: Size Matters (2003) nach Nürnberg und ließ es sich nicht nehmen, sich selbst auf ‚Hitlers Platz‘ zu setzen und mit TdW-Footage gegenzuschneiden. Diesen Ball nahm Sophie Fiennes für The ­Pervert’s Guide to Ideology (2012) auf, in dem der slowenische marxistische Philosoph Slavoj Žižek an verschiedenen Drehorten von berühmten Filmen auftaucht, um diese – quasi von innen heraus – zu erklären. In der TdW gewidmeten Sequenz sieht man ihn auf einem Fensterplatz in einem Flugzeug sitzen, wobei ein Schatten auf seine Stirn fällt, der wie ein Scheitel aussieht. Während man seinen Ausführungen über das Phänomen des Faschismus lauscht, wird fast die komplette Eingangssequenz aus TdW eingespielt. Mein Anliegen war es, anhand von zwei konkreten Beispielen aufzuzeigen, dass die bisherige Praxis des Veröffentlichens oder Edierens von Filmen einer kritischen Dimension bedarf, die nur in einer – stark verbesserten – Zusammenarbeit von Filmarchiven und Filmwissenschaft hergestellt werden kann. Gezeigt werden sollte auch, dass Filme, die in erheblich voneinander abweichenden Versionen existieren und eine besonders interessante oder komplexe Rezeptionsgeschichte haben, für kritische Editionen überaus geeignet sind, geradezu nach ihnen verlangen. Ob sich bezüglich des bewegten Bildes eine ähnliche Editionstradition herausbilden wird, wie wir sie für die Literatur kennen, und wie lange das dauert, bleibt ebenso abzuwarten wie die Antwort auf die Frage, welches das geeignete Medium bzw. Format für solche kritischen Editionen von Filmen wäre.

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Zum Umgang mit dem filmmusikalischen Erbe des deutschsprachigen Kinos Ein neues Feld der historisch-kritischen Editionspraxis

Wissenschaftlich fundierte Editionen von Filmen, die als Bildträger mit entsprechendem Apparat in Form umfangreicher Booklets realisiert werden, sind selbstverständlich dazu bestimmt, in ihrer technischen Wiedergabe erlebt und gewürdigt zu werden. Mit der Herausgabe von Partituren historischer Filmmusik verhält es sich wesentlich komplexer.1 Zuallererst steht ihr der Umstand entgegen, dass die neuere Editionspraxis der Musikwissenschaft auf der Bereitstellung von ‚informiertem‘ Material für Wiederaufführungen historischer Musik baut. Die Eingebundenheit von Filmmusik in das ihr übergeordnete System rechnet allerdings keineswegs mit einer späteren, vom Ursprungsmedium separierten Darbietung. Den Notentext einer somit zugleich ephemeren als auch ewig unveränderbaren Kunst zu edieren hat deswegen lange kein Forschungsinteresse generiert.

Die klangliche Edition von Filmmusik: Ein Überblick Es war daher verständlich, dass sich die Präsentation eines filmmusikalischen ‚Erbes‘ über viele Jahrzehnte lang gerade über den Weg der Wiedergabe vollzog und dieses auditive Vermächtnis damit quasi als Klangerfahrung zugänglich gemacht wurde. Die Form von kommerziell veröffentlichten ‚Original Soundtracks‘ gewährte einen zumindest hörenden Nachvollzug von meistens nur ausgewählten Teilen der Filmmusiken. Dass es sich bei der Mehrzahl ‚historischer‘ Soundtracks, also jener der 1930er, 1940er und 1950er Jahre, nicht zwangsläufig um die tatsächlichen originalen Mitschnitte der eingespielten Filmpartituren handelt, macht die Publikation von Masterbändern umso wertvoller, lässt sich doch hier, abhängig vom qualitativen Grad des Remasterings, die jeweilige Filmmusik transparent in ihrer ursprünglich intendierten Form erleben (mustergültig verwirklicht etwa in der Ausgabe von Franz Waxman’s Musik zu The Bride of Frankenstein, die im Rahmen der Universal Pictures Film Music Heritage Collection als CD erschien).2 Grundsätzlich hat sich jedenfalls Film Score Monthly um die Herausgabe von kritisch erarbeiteten CD-Ausgaben US-amerikanischer Filmmusik der ‚goldenen‘ und ‚silbernen‘ Ära verdient gemacht. Grundlage dieses Textes sind folgende drittmittelgeförderte Forschungsprojekte: Die Wien-Film: Eine umfassende Analyse des Filmstudios 1938–1945 (FWF-Einzelprojekt P 30919), „Die Frau meiner Träume“: Eine historisch-kritische Edition der Filmpartitur (Franz Grothe-Stiftung, München), „Der Engel mit der Posaune“: Eine historisch-kritische Edition der Filmpartitur (Stadt Wien) und Wien im Kulturfilm: Aspekte der audiovisuellen Inszenierung der Stadt 1938–1958 (Stadt Wien). 2 La-La Land Records LLLCD 1508 (2019). 1

https://doi.org/10.1515/9783110684605-016

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Neben der Ausgabe von ‚Original Soundtracks‘ ist die klangliche Auseinandersetzung auch nicht selten über die Vermittlung von Neueinspielungen vollzogen worden. Diese Praxis bindet sich zuallererst an den Namen des Dirigenten Charles Gerhardt (1927–1999), der ab 1968 zahlreiche Platten mit Filmmusik des sogenannten ‚Golden Age‘ des Hollywood-Kinos aufgenommen und mit großem kommerziellen Erfolg veröffentlicht hat. Diese Tonträger wurden zwar – so noch möglich – in Absprache mit den jeweiligen Komponisten ausgeführt, basierten allerdings auf Arrangements von Gerhardt, die dieser auf der Grundlage erhaltenen Notenmaterials schuf. Gerhardts Pionierleistung zog in den 1990er Jahren eine wahre Konjunktur an Einspielungen von Filmmusik nach sich, die sich im Gegensatz zu seinen meist in Suitenform gestalteten Versionen3 mehr um geschlossene Darstellungen partikulärer Partituren bemühten. So hat der australische Dirigent Tony Bremner (* 1939) Gesamteinspielungen ikonischer Filmmusik wie Bernard Herrmanns The Magnificent Ambersons, Maurice Jarres ­Lawrence of Arabia oder Jerome Moross’ The Big Country vorgelegt.4 Ebenso initiativ agierte das amerikanische Plattenlabel Varèse Sarabande, das in den 1990er und frühen 2000er Jahren mit ganzen Werkserien neu interpretierter Filmmusik von Komponisten wie Waxman, Herrmann, Alex North und Jerry Goldsmith hervorgetreten ist. Auch die Labels Prometheus Records (in Belgien) und Intrada (in den USA) haben sich die Herstellung ähnlicher zyklischer Corpora zum Ziel gesetzt und bereits umfangreiche Kataloge entsprechender Titel geschaffen, zum Teil mit innovativen Wegen der Finanzierung: So wurde zuletzt 2019 die Einspielung von Tiomkins Dial M for Murder über ‚crowd-funding‘ zustande gebracht. Stand für diese Aufnahmen authentisches Notenmaterial zur Verfügung, waren andere Versuche mit der Ausgangslage konfrontiert, lediglich drei- oder mehrteilige Particelle heranziehen zu können, anhand derer einstmals die Orchestratoren die Instrumentierung der Partituren vorgenommen haben. Auf dieser Grundlage erarbeitete besonders intensiv das Duo aus dem Dirigenten William T. Stromberg (* 1964) und dem Komponisten John W. Morgan (* 1946) Rekonstruktionen wichtiger Partituren wiederum des klassischen Hollywood-Kinos (in erster Linie für das Label Marco Polo). Eine entsprechende Präsentation von Filmmusik des deutschsprachigen Kinos ist dagegen nur zögerlich bewerkstelligt worden – und wenn, dann vornehmlich auf dem Gebiet der Stummfilmmusik.5 Neueinspielungen späterer Partituren beschränkten sich auf Kompilationen aus dem Gesamtwerk einzelner Komponisten wie Georg Haentzschel, Theo Mackeben, Franz Grothe und Hanns Eisler, meistens immerhin beruhend auf originalem Notenmaterial. 2016 entstand eine Aufnahme einer Auswahl aus Anton Selbst die Präsentationen, die sich auf einzelne Filmpartituren, nicht Komponisten konzentrierten, wie Max Steiner’s Gone with the Wind (veröffentlicht 1974) oder John Williams Star Wars und Close ­Encounters of the Third Kind (veröffentlicht 1978), waren nicht auf Vollständigkeit hin orientiert. 4 1995 initiierte das Label RCA Victor Red Seal unter dem Titel 100 Years of Film Music 1895–1995 eine kurzlebige Reihe an Neuaufnahmen von Partituren unterschiedlichster Filmepochen (u. a. Hans Erdmann, Charlie Chaplin, Tiomkin oder Waxman). Darüber hinaus wären individuelle Einspielungen zu nennen: etwa Hugo Friedhofers The Best Years of Our Lives durch Franco Collura (1978), Franz Waxmans The Bride of Frankenstein durch Kenneth Alwyn (1993) und Bernard Herrmanns The Bride Wore Black durch Fernando Velázquez (2018). 5 Man vergleiche die Einspielungen entsprechender Partituren von Gottfried Huppertz und Edmund Meisel auf Capriccio.

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Profes’ monumentaler Sissi-Trilogie (1955–1957),6 allerdings (wohl aus rechtlichen Gründen) neu orchestriert durch den Hollywood-Veteranen Conrad Pope (* 1951). Sie kann demnach als eine zwar verdienstvolle, aber nicht als historisch informierte Einspielung gelten. Auch die Veröffentlichungen originaler Masterbänder von Filmmusik des deutschsprachigen Kinos sind relativ selten. In diesem Zusammenhang kann beispielsweise auf die CD-Ausgabe von Wolfgang Zellers Serengeti darf nicht sterben verwiesen werden7 sowie auf die vielteilige kompilatorische Reihe Deutsche Filmkomponisten.

Die textuelle Edition von Filmmusik Im Gegensatz zur rein klanglichen Präsentation von Soundtracks in Form von Tonträgern hat sich die historisch-kritisch geleitete Herausgabe filmmusikalischer Notentexte noch nicht etabliert. Einer der Hintergründe dieser Vernachlässigung war sicherlich die ästhetische Geringschätzung seitens der Musikwissenschaft, die der Gattung aufgrund ihrer kommerziellen Orientierung entgegengebracht wurde, jedoch auch die Tatsache, dass es sich bei Filmmusik um eine Formgelegenheit handelt, die – wie oben erwähnt – medial nicht ‚autonom‘ agiert und damit eine Editionsarbeit vor das Problem stellt, der Ebene des bewegten Bildes nicht Genüge tun zu können. Nicht zuletzt waren es aber auch sehr komplexe Quellen- und Rechtslagen, die verhindert haben, dass Filmmusik-Editionen in Angriff genommen wurden. So sind in der Vergangenheit Filmpartituren vor allem im Rahmen von Komponisten-Gesamtausgaben herausgegeben worden (etwa in jenen zu William Walton oder Dmitri Šostakovič), eher aus der Verlegenheit des Anspruchs heraus, das Œuvre eines Komponisten vollständig zu edieren, das eben auch Filmmusik inkludierte, denn aus editorischer Überzeugung.8 So wurde teilweise darauf verzichtet, die Partituren in ihrer Gesamtheit und Ursprünglichkeit zu reproduzieren. Stattdessen wurden Suiten (die sogar neu orches­ triert sein konnten) für den entsprechenden Eintrag in das Werkverzeichnis angeboten. Es muss nicht betont werden, dass eine solche Vorgangsweise keine seriöse Basis für eine analytische Auseinandersetzung darstellt. Zur Verteidigung dieser Entscheidung kann man allerdings das Argument anführen, die Musik könne in dieser Form eher einer Aufführung zugeführt werden. Nur in Ausnahmefällen – wie in Frank Strobels (* 1966) Edition der monumentalen Partitur von Metropolis (Ufa 1926), die sowohl als Urtextausgabe als auch als Aufführungsausgabe vorliegt – gelingt es, beiden Ansprüchen zu genügen. Doch wie gesagt: Um der quellenorientierten Beschäftigung mit der musikalischen Ebene des audio-visuellen Mediums Film eine Basis zur Verfügung zu stellen, gibt es keine Alternative zu historisch-kritischen Ausgaben. Aus diesem Grund wurde die Reihe Filmmusik in historisch-kritischen Editionen initiiert, die im Verlag des Filmarchivs Austria erscheint. Grundlage dieser Reihe bilden Sisi – The Movie Trilogy Suite. Vienna Classics Records VCR 65 361 (2016). Alhambra A 9029 (2015). 8 Als lobenswerte Ausnahme in diesem Zusammenhang muss die Hanns-Eisler-Gesamtausgabe (HEGA) genannt werden, die der Filmmusik des Komponisten eine eigene Reihe innerhalb der Edition widmet, die auf 25 Bände angelegt ist. 6 7

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mehrere Forschungsprojekte (s. Anm.  1), die sich mit entsprechenden Notenkonvoluten des deutschsprachigen Kinos auseinandersetzen, die während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Der Edition zugeführt werden zunächst die Partituren der Filme Der Postmeister, Die Frau meiner Träume und Der Engel mit der Posaune (zu den Produktionsgaben siehe unten). Angedacht ist ferner eine Vertiefung in Bezug auf den Nachkriegsfilm, etwa mit der Herausgabe der Filmmusik von Echo der Berge / Der Förster vom Silberwald (Rondo-Film 1954). Die Ausgaben bewegen sich im traditionellen Schema musikwissenschaftlicher Editionstechnik und beinhalten daher anhand des erhaltenen Materials neu gesetzte Filmpartituren, Quellenbeschreibungen und kritische Apparate ebenso wie umfangreiche wissenschaftliche Einleitungstexte, die sich mit den Filmmusiken sowohl analytisch – dem narratologischen Konzept Guido Heldts folgend9 – als auch kontextuell befassen. Letzterer Aspekt erscheint vor den historischen Ursachen der Entstehung dieser Partituren als besonders sensibler und unabdingbarer Gesichtspunkt, schließlich waren die betreffenden Filme Teile einer Beeinflussungsindustrie unter der Herrschaft verschiedener Ideologien.

Der Postmeister: Fragen nach Varianten und Autorschaft Die textuelle Überlieferung der Musik, die Willy Schmidt-Gentner (1894–1964) für das Melodram Der Postmeister (Wien-Film 1940) komponiert hat,10 besteht aus handschriftlich (mit Tinte) kopierten, in 33  Cues gegliederten Orchester-Einzelstimmen, hergestellt vom Wiener Kopistenbüro Karl Wewerka. Die Disposition ist dabei eng an den Besetzungskonventionen der Wiener Philharmoniker orientiert, jenem prominenten Orchester, das die Partitur für den Soundtrack des Films aufgenommen hat. Eine erste Herausforderung besteht darin, die Stimmen in eine Partitur zu überführen. Dabei verhalten sich die erhaltenen Einzelstimmen zueinander allerdings keineswegs immer kohärent, auch nicht in Hinsicht auf die Musik, wie sie im Film erklingt. Man vergleiche zum Beispiel den Cue Nr. 9 in der Stimme der 1. Violine (Abb. 1). Hier unterscheidet sich der Soundtrack deutlich vom notierten Verlauf durch zwei Kürzungen, die einmal durch Streichung nachvollziehbar sind (Takte 48–54), das andere Mal aber nicht. Die Eintragungen zur Interpretation, die der Orchestermusiker in diesem Abschnitt (vor Takt 16) vorgenommen hat, lassen indes darauf schließen, dass der Cue sehr wohl eingespielt wurde, dann aber dem Musikschnitt zum Opfer gefallen ist. Varianten wie diese führen zu einer Schlüsselfrage, nämlich jener, wie mit alternierenden Passagen umgegangen werden soll: Das Problem der Varianten betrifft wohl mehr als alle anderen Objekte der Editionswissenschaft die Filmmusik, insofern die Textgenese dieser Form einer permanenten Korrektur, Adjustierung und Anreicherung bzw. Beschneidung unterworfen ist. Für die Reihe Filmmusik in historisch-kritischen Guido Heldt: Music and Levels of Narration in Film. Steps Across the Border. Bristol, Chicago 2013; s. dazu auch James Buhler: Theories of the Soundtrack. Oxford 2019, S. 151–186. 10 Zum Film vgl. Christoph Brecht: Filmanalytischer Teil zu Ucickys Wien-Film-Zeit. Spezialist für starke Frauen. In: Christoph Brecht, Armin Loacker, Ines Steiner: Professionalist und Propagandist. Der Kamera­mann und Regisseur Gustav Ucicky. Wien 2014, S. 328–342; Norbert Grob: Der Postmeister. In: Der NS-Film. Hrsg. von Friedemann Beyer und Norbert Grob. Ditzingen 2018, S. 282–288. 9

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Editionen wurde entschieden, dass der finale Musik-Cut des Filmes als sozusagen ‚autorisierter‘ Text der Partitur aufzufassen ist, womit alternierende oder entfallene Cues im apparatus criticus im Anhang der Edition zu finden sind bzw. an betreffenden Stellen Verweise vorhandene Varianten indizieren.

Abb. 1: Willy Schmidt-Gentner, Der Postmeister (D 1940), Cue 9, 1. Violine, Orchesterstimme, Filmarchiv Austria, WiFi-MM-1-0053.

Die Problemstellung der Varianten mag die Sequenz des „Tscherkessentanzes“ im Postmeister anschaulich machen – eine Szene, die in der filmwissenschaftlichen Literatur als Paradebeispiel für die Darstellung eines plakativen ‚aggressiven Voyeurismus‘11 im nationalsozialistischen Kino Beachtung gefunden hat. In musikalischer Hinsicht stellt diese Tanz-Episode einen Grad an dynamischer und koloristischer Intensität dar, der im übrigen Film nicht erreicht wird. Musikalisch verdankt sie sich in erster Linie der Instru­ mentierung, die Schmidt-Gentners regulärer Mitarbeiter Oskar Wagner (1901–1972) vornahm, indem er das Orchester um ein Balalaika-Ensemble samt zwei Banjos und um weiteres Schlagwerk vergrößerte. Der kohärente Eindruck, den Wagners Arrangement erreicht, basiert letztlich auf zwei Varianten des „Tscherkessentanzes“: einer Version ‚A‘ und einer Version ‚B‘ (vgl. Abb. 2 und 3), aus denen sehr wahrscheinlich – letztlich ohne finale Notation – ein Hybrid eingespielt wurde. Die Edition ist demnach gezwungen, diese Synthese zu rekonstruieren und als geschlossene Nummer erstmals textuell zu fixieren.

Laura Heins: Nazi Film Melodrama. Urbana, Chicago, Springfield 2013, S. 34.

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Abb. 2 und 3: Willy Schmidt-Gentner, Der Postmeister (D  1940), „Tscherkessentanz“, Version A und B, 1. Violine, Orchesterstimme, Filmarchiv Austria, WiFi-MM-1-0053.

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Ein weiteres, grundsätzliches Problem betrifft die Frage nach der Autorschaft von Filmmusik, da diese zwangsläufig das Ergebnis einer Gemeinschaftsleistung bildet. Im Falle der Musik des Postmeisters wird eine diesbezügliche Aussage dadurch erschwert, dass im Nachlass von Oskar Wagner ein Curriculum Vitae erhalten ist, in dem er sich als geistiger Urheber nicht nur der Instrumentierungen, sondern auch der Kompositionen Schmidt-Gentners erklärt: Anfang 1937 durch Empfehlung eines Verlegers mit dem Filmkomponisten Willy Schmidt-Gentner bekanntgemacht; als dessen Assistent, richtiger aber Alleinarbeiter dann bis 1942 folgende Filme geschaffen: Peter im Schnee, Liebling der Matrosen, Prinzessin Sissy, Aufruhr in Damaskus, Hotel Sacher (alles vor 1938); (nach 1938) Mutterliebe, Postmeister, Crambambuli, [sic!], Heimkehr, Dreimal Hochzeit, Operette, Wiener Blut, Der liebe Augustin, Ein Leben lang, Späte Liebe, Wien 1910. Schmidt-Gentner wurde durch diese „Mitarbeit“ der große „symphonische“ Filmkomponist. Er erhielt pro Film 30.000 – 40.000  Mark, der „Assistent“ anfänglich pro Film 750 M, später 1000, und erst zum Schluß 1500!12

Anhand des Notenmaterials lassen sich jedenfalls beider Hände nicht trennen, und daher lässt sich auch nicht eine letzte Feststellung über den Inventor der Komposition treffen. Dokumentarische Quellen wie jene Wagners tragen allerdings nicht nur wesentlich zum Verständnis der Abläufe in der Produktion von Filmmusik des deutschsprachigen Kinos bei, sondern geben auch unerwartete Einblicke in die psychische Verfasstheit der beteiligten Kreativen.

Die Frau meiner Träume: Ein musikalisches Äquivalent zu Hollywood Angesichts der Signifikanz des Films als einer der erfolgreichsten Produktionen am Ende des Dritten Reichs ist die Edition von Franz Grothes Filmmusik für Die Frau meiner Träume (Ufa 1944)13 sicherlich jener Band der neuen Reihe, der das meiste Interesse auf sich ziehen wird. Die Grundlage bildet hier das in der Berliner Dependance der Franz Grothe-Stiftung verwahrte Autograf der Filmpartitur, wie es zum Dirigat der Einspielung verwendet wurde. Ein Vergleich mit der gegenwärtig (2020) noch käuflich zu erwerbenden DVD-Version des Films14 weist dabei – an der Stelle des Vorspanns – eine markante Unterschiedlichkeit der Musik im Film und jener der Partitur auf und beweist, dass es sich bei dieser Version um eine Nachkriegsvariante des Films handelt.15 Ein Abgleich mit der ursprünglichen Fassung ist dennoch möglich, da sie dem Editionsprojekt mittlerweile zur Verfügung steht. Dies erleichtert selbstverständlich die Arbeit an der Herausgabe – nicht unwesentlich auch aus der Tatsache heraus, dass die Notation der Musik überaus akkurat vorgenommen wurde.

Oskar Wagner: Curriculum Vitae. Nachlass Oskar Wagner, Wien Bibliothek, ZPH 1583 / 12, o. S. Zum Film s. Friedemann Beyer, Gert Koshofer: Von Frauen als besseren Diplomaten zum letzten Aufgebot. Zur Produktionsgeschichte farbiger Spielfilme in Deutschland (1939–1945). In: Friedemann Beyer, Gert Koshofer, Michael Krüger: UFA in Farbe. Technik, Politik und Starkult zwischen 1936 und 1945. München 2010, S. 154–167; Thomas Brandlmeier: Die Frau meiner Träume. In: Der NS-Film. Hrsg. von Friedemann Beyer und Norbert Grob. Ditzingen 2018, S. 412–421. 14 Black Hill Pictures 9992095. 15 Die Autoren danken Alexander Schatte (Franz Grothe-Stiftung) für diesen entscheidenden Hinweis. 12 13

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Die Edition umfasst die gesamte Musik der Frau meiner Träume, die sich aus zwei großen Revue-Bildern nebst einer zentralen diegetischen Gesangsnummer mit ideologisch lesbarer Ausrichtung16 („Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur grade aus“) zusammensetzt, aber auch zahlreiche nicht-diegetische Cues beinhaltet, die zwar zeitlich kurz bemessen, in ihrer narrativen Funktion allerdings nicht zu unterschätzen und nicht nur deswegen selbstverständlich in die Edition aufzunehmen sind. Insgesamt fällt an Grothes Partitur die Instrumentation auf, für die Alfred Strasser (1895–1967) verantwortlich zeichnete.17 Strassers Orchestrierung ändert sich nämlich nahezu von Cue zu Cue. Dies mag in erster Linie auf die Verfügbarkeit entsprechender Ressourcen zurückzuführen sein, kann aber auch umgekehrt gelesen werden: als künstlerische Forderung, der entsprochen wurde. Der dadurch erreichte Grad an Nuanciertheit rückt die Musik der Frau meiner Träume zusammen mit Anton Profes’ unmittelbar davor entstandener Filmmusik zu Der weiße Traum (Wien-Film 1943) in die Nähe vergleichbarer US-amerikanischer Produktionen und stellt darin eine Ausprägung des generellen Nacheiferns von Holly­ wood-Paradigmen dar, das von deutschen Produktionen während des Nationalsozialismus paradoxerweise praktiziert wurde.18 Die historisch-kritische Herausgabe der Frau meiner Träume gibt dementsprechend Einblick in die Struktur des Kolorits einer überaus differenzierten Filmpartitur, entstanden im vorletzten Jahr des Zweiten Weltkriegs.

Der Engel mit der Posaune: Grundlagen schaffen zur analytischen Arbeit Mit dem dritten Band der Reihe, Der Engel mit der Posaune (Vindobona-Film 1948), wird schließlich die Filmmusik einer der wichtigsten österreichischen Nachkriegsproduktionen mit dezidiert identitätsstiftender Intention ediert.19 Die Herausgabe dieser Partitur soll vor allem aufzeigen, wie mit auditiven Mitteln eine Neudefinition ‚Österreichs‘ vermittelt werden sollte. So spiegelt die wiederum von Schmidt-Gentner komponierte Filmmusik mit ihren Beethoven- und Schubert-Allusionen exemplarisch die Leitästhetik einer Ära, die von ‚klassischer‘ Vergangenheit Legitimation abgeleitet hat. Überhaupt kennzeichnet die Musik des Engels mit der Posaune eine auffällig konnotative Gestaltung, die mit historisch determiniertem motivisch-thematischen Material operiert.

Vgl. Michael Braun: Franz Grothe als Filmkomponist in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Komponisten in Bayern. Dokumente musikalischen Schaffens im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. im Auftrag des Tonkünstlerbandes e. V. im DTKV von Theresa Henkel und Franzpeter Messmer in Zusammenarbeit mit der Franz Grothe-Stiftung. Bd. 64: Franz Grothe. München 2019, S. 73–92, hier S. 91. 17 Vgl. Braun 2019 (Anm. 16), S. 76. 18 Vgl. Eric Rentschler: The Ministry of Illusion. Nazi Cinema and Its Afterlife. Cambridge, London 2002, S. 212. 19 Dazu s. Karin Moser: „Frauen sind da doch wieder anders ...“. Paula Wessely als weibliche Repräsentantin österreichischer Identität und Kontinuität. In: Im Wechselspiel. Paula Wessely und der Film. Hrsg. von Armin Loacker. Wien 2007, S. 310–315. 16

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Stefan Schmidl, Timur Sijaric

Abb. 4: Die Audienzszene aus Der Engel mit der Posaune (A 1948), © Filmarchiv Austria.

Beispielhaft lässt sich dies an der Sequenz andeuten, die die Protagonistin des Films (Paula Wessely) bei ihrer kaiserlichen Audienz vorführt: Als musikalisches Analogon der visuellen Beschwörung Franz Josefs20 setzt Schmidt-Gentner hier Fragmente der Kaiserhymne ein. Ursprünglich war diese Paraphrase in eine umfangreiche musikalische ‚Rahmung‘ eingebettet, von der im späteren Verlauf 32 Takte wieder gestrichen wurden. Erhalten blieb die Einleitung des Cues, ein oktaviertes Tremolo-Ostinato. Damit wurde eine subtile Theatralisierung der Kaiserhymne erreicht, die mit der Visualität der Sequenz korrespondiert. Darüber hinaus finden sich in der Partitur auch Anspielungen auf die glücklose Hymne Deutschösterreich, du herrliches Land21 sowie – am Ende des Films – auf das Horst-Wessel-Lied, um jeweils auf das gescheiterte Österreich der Zwischenkriegszeit und die unheilvolle Entfaltung des Nationalsozialismus hinzudeuten. Alle diese Zitate werden in der Partitur mit Annotationen gekennzeichnet, die auf Erläuterungen ihrer konnotativen Geschichte verweisen. Die herausgegebene Partitur ist auf diese Weise nicht nur die notentextuell gesicherte Ebene eines Films, sondern sie soll auch als ein Dokument der politischen Zeitgeschichte begriffen werden.

Vgl. Stefan Schmidl, Werner Telesko: Der verklärte Herrscher. Leben, Tod und Nachleben Kaiser Franz Josephs I. in seinen Repräsentationen. Wien 2016, S. 105. Vgl. dazu Stefan Schmidl: Anmerkungen zu Österreichs republikanischen Hymnen. In: Salzburgs Hymnen von 1816 bis heute. Hrsg. von Thomas Hochradner. Wien 2017, S. 126–131.

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Zum Umgang mit dem filmmusikalischen Erbe des deutschsprachigen Kinos

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Fazit Eine Filmmusik-Forschung, geleitet durch die editorische Sicherung historischer Grundlagen, beansprucht, interpretatorische Perspektiven zu gewährleisten, die ohne sie nicht möglich sind. Mit der historisch-kritischen Herausgabe von ersten drei Partituren soll diesem Anspruch Genüge getan sein. Ohne Zweifel stellen die in dieser Form vorgestellten Werke nur einen bescheidenen Anteil eines entsprechenden Bestandes an filmmusikalischem Erbe des deutschsprachigen Kinos dar. Dennoch zeigen bereits diese drei Ausgaben Möglichkeiten einer völlig neuen Befassung mit der Formgelegenheit Filmmusik auf, die die Perspektiven neuer Einspielungen ebenso umfasst wie die informierte Bereitstellung von Archivalien zur wissenschaftlichen Aufarbeitung.

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Dr. Anna Bohn, Wissenschaftliche Referentin Stabsstelle Strategische Filmentwicklung, Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Breite Straße 30–36, 10178 Berlin, Deutschland, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Klaus S. Davidowicz, Universität Wien, Institut für Judaistik, Spitalgasse 2 / Hof 7.3, 1090 Wien, Österreich, E-Mail: [email protected] PD Dr. Natascha Drubek-Meyer, Freie Universität Berlin, Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, Deutschland, E-Mail: [email protected] Fabian Etling, Freie Universität Berlin, Universitätsbibliothek, Center für Digitale Systeme ­(CeDiS), Ihnestraße 24, 14195 Berlin, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Franziska Heller, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft, Mansfelder Straße 56 (MMZ), 06108 Halle/Saale, Deutschland, E-Mail: [email protected] Dr. Katrin Henzel, Universitätsbibliothek Kiel, Digital Humanities & Forschungsdaten, Leibnizstraße 9, 24118 Kiel, Deutschland, E-Mail: [email protected] Karin Herbst-Meßlinger, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin, Deutschland, E-Mail: [email protected] Dr. Michael Hollmann, Bundesarchiv, Potsdamer Straße 1, 56075 Koblenz, Deutschland, E-Mail: [email protected] Jürgen Keiper, Stiftung Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin, Deutschland, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Ursula von Keitz, Fakultät 1: Medienwissenschaft – Filmforschung und Filmbildung, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Marlene-Dietrich-Allee 11, 14482 Potsdam, Deutschland, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Lukas, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften – Germanistik, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, Deutschland, E-Mail: [email protected]

https://doi.org/10.1515/9783110684605-017

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Kathrin Nühlen, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften – Germanistik, Projekt „Arthur Schnitzler digital“, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, Deutschland, E-Mail: [email protected] Dr. Rüdiger Nutt-Kofoth, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften – Germanistik, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, Deutschland, E-Mail: [email protected] Laura Rehberger, Bergische Universität Wuppertal, Graduiertenkolleg „Dokument – Text – Edition“, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, Deutschland, E-Mail: [email protected] Britta Reppel, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Elektrotechnik, Informationstechnik und Medientechnik, Campus Freudenberg, Rainer-Gruenter-Straße 21, 42119 Wuppertal, Deutschland, E-Mail: [email protected] Dr. Frederik Schlupkothen, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Elektrotechnik, Informationstechnik und Medientechnik, Campus Freudenberg, Rainer-Gruenter-Straße 21, 42119 Wuppertal, Deutschland, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Stefan Schmidl, Österreichische Akademie der Wissenschaften, ACDH-CH, Vordere Zollamtsstraße 3, 1030 Wien, Österreich, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Karl-Heinrich Schmidt, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Elektrotechnik, Informationstechnik und Medientechnik, Campus Freudenberg, Rainer-Gruenter-Straße 21, 42119 Wuppertal, Deutschland, E-Mail: [email protected] Timur Sijaric, Österreichische Akademie der Wissenschaften, ACDH-CH, Vordere Zollamts­ straße 3, 1030 Wien, Österreich, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Chris Wahl, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Marlene-Dietrich-Allee 11, 14482 Potsdam, Deutschland, E-Mail: [email protected]