Kriminologie – Jugendkriminalrecht – Strafvollzug: Gedächtnisschrift für Michael Walter [1 ed.] 9783428539505, 9783428139507

Mit der Gedächtnisschrift ehren Kollegen und Weggefährten den im März 2014 verstorbenen Kölner Kriminologen und Strafrec

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German Pages 953 Year 2014

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Kriminologie – Jugendkriminalrecht – Strafvollzug: Gedächtnisschrift für Michael Walter [1 ed.]
 9783428539505, 9783428139507

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Kriminologie – Jugendkriminalrecht – Strafvollzug Gedächtnisschrift für Michael Walter

Herausgegeben von Frank Neubacher Michael Kubink

Duncker & Humblot · Berlin

FRANK NEUBACHER/MICHAEL KUBINK (Hrsg.)

Gedächtnisschrift für Michael Walter

Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von C l a u s K r e ß, M i c h a e l Ku bi c i e l , C o r n e l iu s Ne s t l e r F r a n k Ne u b a c h e r, Jü r g e n S e i e r, M i c h a e l Wa l t e r (†) M a r t i n Wa ßm e r, T h o m a s We i g e n d Professoren an der Universität zu Köln

Band 59

Kriminologie – Jugendkriminalrecht – Strafvollzug Gedächtnisschrift für Michael Walter

Herausgegeben von Frank Neubacher Michael Kubink

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0936-2711 ISBN 978-3-428-13950-7 (Print) ISBN 978-3-428-53950-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83950-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das vorliegende Buch war als Festschrift zum 70. Geburtstag bereits ge­ druckt und befand sich beim Buchbinder, als Michael Walter, der zu Ehren­ de, am 7. März 2014, sieben Wochen vor der geplanten Übergabe verstarb. Von seiner schweren Erkrankung hatte er im Juli 2013 erfahren und deshalb erst gezögert, dann aber, nach einem ersten, hoffnungsvollen Behandlungs­ erfolg mit den Planungen für die Festveranstaltung begonnen. Vergebens, die Krankheit war schneller. Es schmerzt, dass dieser als Festschrift konzi­ pierte Band nun als Gedächtnisschrift erscheinen muss und nach Druck­le­ gung lediglich Titel und Vorwort abgeändert werden konnten. Die Michael Walter zugedachten Texte erscheinen daher ausnahmslos in der Form, wie sie von den Autorinnen und Autoren überwiegend im Frühjahr 2013 verfasst wurden – zu einer Zeit also, als niemand etwas von der Erkrankung ahnte. Das erklärt, warum sich manche Autoren direkt an Michael Walter wenden und ihm für die Zukunft bzw. für sein Amt als Justizvollzugsbeauftragter des Landes Nordrhein-Westfalen alles Gute wünschen. Ein wenig mag es tröstlich sein, dass Michael Walter wusste, dass ihm eine Festschrift überreicht werden sollte und dass sehr viele Kolleginnen und Kollegen sowie Weggefährten daran mitgewirkt hatten, um ihn zu eh­ ren. Und es ist nicht wenig, dass er so noch von der wissenschaftlichen Hochachtung und persönlichen Wertschätzung erfuhr, die aus den Beiträgen dieser Schrift sprechen. Er selbst kannte nur das Interview, das mit ihm geführt worden war und das den Beiträgen vorangestellt ist. Er sah es von Anfang an als eine willkommene Gelegenheit für einen persönlichen Rück­ blick und ließ es, auch nachdem seine tödliche Krankheit diagnostiziert worden war, unverändert. Es war ein Zeichen der besonderen Wertschätzung und Verbundenheit mit Michael Walter, dass zahlreiche Autorinnen und Autoren vor rund zwei Jahren so bereitwillig zusagten, sich an einer Festschrift zu seinen Ehren zu beteiligen. Um genau zu sein: Es hätten sicher noch mehr mitgewirkt, wenn der begrenzte Platz, der zwischen zwei Buchdeckeln vorhanden ist, nicht eine Beschränkung erfordert hätte. Die Herausgeber haben deshalb in erster Linie bei jenen Kolleginnen und Kollegen angefragt, die die Kriminologie vertreten, ferner bei Personen, die als Weggefährten bezeichnet werden können; in vielen Fällen ist beides gegeben. Darüber hinaus sollten auch die internationalen Kontakte Michael Walters Berücksichtigung finden. Trotz

6 Vorwort

dieser ordnenden Vorstellungen ist am Ende – sicherlich zum Glück – ein recht bunter Kreis von Autorinnen und Autoren zusammengekommen, die mit Michael Walter die unterschiedlichsten Berührungspunkte aufweisen. Alle waren gebeten worden, sich mit einem Beitrag ihrer Wahl zu betei­ ligen. Dieser sollte einen Bezug zu den Arbeiten Michael Walters haben; eine weitergehende Vorgabe erfolgte jedoch nicht. Die hier versammelten Beiträge decken die gesamte Breite des wissenschaftlichen Schaffens von Michael Walter ab, einschließlich des Themas „Literatur und Kriminalität“ und zahlreicher kriminalpolitischer Bezüge. Wer Michael Walter kannte, weiß, dass er – wie es ein Kollege formuliert hat – „kein Schreibtischkri­ minologe“ war, sondern stets auch auf eine Verbesserung der kriminalpoli­ tischen Verhältnisse abzielte. Seine Tätigkeiten im Rahmen der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, als Vorsitzender des Landespräventionsrates Nordrhein-Westfalen oder zuletzt als Justizvoll­ zugsbeauftragter dieses Landes zeichneten ihn als Mittler zwischen Theorie und Praxis aus. Wenn diese Schrift nun den Haupttitel „Kriminologie – Jugendkriminalrecht – Strafvollzug“ trägt, dann nicht nur, weil damit die Hauptarbeitsgebiete Michael Walters markiert werden können, sondern auch um den begeisterten Lehrer und Mentor zu würdigen, der „seinen“ Schwer­ punktbereich an der Kölner Rechtswissenschaftlichen Fakultät genau so bezeichnete. Und so heißt er noch heute – wie ein Blick in die derzeit geltende Studien- und Prüfungsordnung zeigt. Beim Einsammeln und Bearbeiten der Manuskripte sowie bei der Anfer­ tigung des Inhalts- und des Autorenverzeichnisses haben Ines Staiger und Maria-Magdalena Koscinski, beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Institut für Kriminologie der Universität zu Köln, uns in großartiger Weise unterstützt. Dafür danken wir ihnen. Dank sagen wir auch Karin Kötting, die die Angaben für das Verzeichnis der von Michael Walter betreuten Dis­ sertationen geprüft und zusammengestellt hat, sowie Frau Birgit Müller und dem Verlag für die ausgezeichnete verlegerische Betreuung. Köln, im April 2014

Frank Neubacher und Michael Kubink

Inhaltsverzeichnis Michael Walter in 25 Bildern – Ein Interview. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kriminologie Sibylle Banaschak und Markus A. Rothschild, Köln Neonatizid – eine rechtsmedizinische Herausforderung. . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Rudolf Egg, Wiesbaden Was wirkt bei der Behandlung von (Sexual-)Straftätern?. . . . . . . . . . . . . . . . 37 Ulrich Eisenberg, Berlin Zur Situation und zu den Rechtsfolgen der Tötung unter Einfluss von ­Horror-Videos. Anmerkungen zu einem Einzelfall. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Roland Hefendehl, Freiburg Der lebenswerte öffentliche Raum: Ein Auslaufmodell? Oder worum es bei den Alkoholverboten wirklich geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Johannes Kaspar, Augsburg Kriminologie und Strafrecht – getrennte Welten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Arthur Kreuzer, Gießen Kriminalisierung des dopenden Sportlers?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Michael Kubink, Düsseldorf Die neue Rolle des Kriminologen und seine Sicht auf die Kriminalprä­ vention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Henning Ernst Müller, Regensburg Blei − Ansätze zu einer ökologischen Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Thomas Naplava und Harald Kania, Duisburg/Brühl Der „Praxisworkshop Kriminologische Forschung“. Ein Bericht über inter­ disziplinäre Lehr- und Forschungsprojekte an der Universität zu Köln . . . . 141

8 Inhaltsverzeichnis Frank Neubacher, Köln Mafia und Kriminologie in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Sabine Nowara, Köln Kriminologie – Kriminalpsychologie – Rechtspsychologie . . . . . . . . . . . . . . 185 Hendrik Schneider, Leipzig Kognitive Dissonanz als Präventionsstrategie. Überlegungen zu den Mög­ lichkeiten der Neutralisierung von Neutralisierungstechniken . . . . . . . . . . . . 195 Hans-Dieter Schwind und Jan-Volker Schwind, Osnabrück See-Piraterie als „organisiertes Verbrechen“? Kriminologische Überlegungen vor historischem Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Klaus Sessar, Hamburg Die Kriminologie auf der Suche nach sich selbst. Einige weitere Überlegun­ gen dazu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Thomas Weigend, Köln Echte Verfahrensrechte für angebliche Opfer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Jugendkriminalrecht Werner Beulke, München Die §§ 61–61b, 89 JGG – Bewährungsprobe bestanden?. . . . . . . . . . . . . . . . 259 Frieder Dünkel, Greifswald „Making standards work“. Die „European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures“ (ERJOSSM) und ihr Einfluss auf das Jugendkriminalrecht in Europa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Wolfgang Heinz, Konstanz Die Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht – einige rechtstatsächliche Befunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Heribert Ostendorf, Kiel Jugendstrafrecht – Vorreiter oder Nachahmer des Erwachsenenstrafrechts?. . 319 Lukas Pieplow, Köln Erziehungsgedanke – noch einer. Zum dogmatischen Ertrag historisch-kriti­ scher Analyse im Jugendstrafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Inhaltsverzeichnis9 Angelika Pitsela, Thessaloniki (Griechenland) Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendkriminalrecht in Griechenland. . . . . . . . . . 359 Klaus Riekenbrauk, Düsseldorf Das „Kölner Haus des Jugendrechts“ – kein Modell für die Jugendhilfe. . . 379 Kathrin Sevecke, Maya K. Krischer und Gerd Lehmkuhl, Köln Persönlichkeitspathologie und Psychopathie bei verhaltensauffälligen, delin­ quenten Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Bernd-Rüdeger Sonnen, Hamburg Aktuell, dennoch nicht neu: Die Notwendigkeit einer verbesserten Kommu­ nikation und Kooperation der Akteure im Jugendkriminalrecht. . . . . . . . . . . 411 Franz Streng, Erlangen Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei jugendlichen Straftätern. . . . . . . . . 423 Helena Válková, Prag (Tschechische Republik) Das Jugendstrafrecht in der Tschechischen Republik zehn Jahre nach Verab­ schiedung des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Horst Viehmann, Köln Armutszuwanderung und Jugendkriminalpolitik. Ein Streiflicht (15.04.2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

Strafvollzug Dirk Baier, Christian Pfeiffer und Marie Christine Bergmann, Hannover Beeinflussen Merkmale von Justizvollzugsanstalten das Gewaltverhalten der Gefangenen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Heinz Cornel, Berlin Aktuelle Debatten zur Strafvollzugsgesetzgebung in Deutschland. Vom Mus­ terentwurf eines Landesstrafvollzugsgesetzes zu einem Resozialisierungsge­ setz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Axel Dessecker, Göttingen Zwischenbetrachtungen zur Effektivität des Jugendstrafvollzugs. . . . . . . . . . 507 Dieter Dölling und Hans-Jürgen Kerner, Heidelberg/Tübingen Jugendstrafvollzug in freien Formen: Das baden-württembergische Jugend­ projekt Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525

10 Inhaltsverzeichnis Thomas Feltes und Anna Schnepper, Bochum Die Gestaltungsprinzipien im Strafvollzug und ihre praktische Bedeutung für Inhaftierte in einer festen Partnerschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Helmut Geiter, Köln Ersatzfreiheitsstrafen: Bitterste Vollstreckung der mildesten Hauptstrafe des StGB. Erfahrungen bei Haftreduzierungsaktivitäten im Strafvollzug. . . . . . . 559 Klaus Laubenthal, Würzburg Vorgehen gegen behördliche und gerichtliche Untätigkeit in Strafvollzugs­ sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Gerhard Rehn, Hamburg Der Strafvollzug – ein Spielball der Politik? Die Teilanstalt für Frauen in Hamburg als Beispiel einer verfehlten Vollzugsplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Heinz Schöch, München Neue Perspektiven für eine opferbezogene Vollzugsgestaltung . . . . . . . . . . . 607 Torsten Verrel, Bonn Offener Vollzug in den Länderstrafvollzugsgesetzen. Über Sinn und Unsinn der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky, Hamburg Hamburger Strafvollzug nach der Jahrtausendwende im Spannungsfeld di­ vergierender Vollzugspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Wolfgang Wirth, Düsseldorf 10 Gebote im Übergangsmanagement. Was die Strafvollzugspraxis von der Strafvollzugsforschung lernen kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653

Strafrecht und Kriminalpolitik Heiner Alwart, Jena Die Beschneidung, eine nur scheinbare Rechtsgutsverletzung. Kritik einer exemplarischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Monika Frommel, Kiel Moralisierung und Entmoralisierung des Sexualstrafrechts in den letzten 40 Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687

Inhaltsverzeichnis11 Heike Jung und Anke Morsch, Saarbrücken Gleichheit und Strafjustiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Gabriele Kawamura-Reindl, Nürnberg Spezialpräventive Aspekte gemeinnütziger Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafen. 727 Bernd-Dieter Meier, Hannover Schadenswiedergutmachung als Nebenstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Cornelius Nestler, Köln Ein Mythos – das Erfordernis der „konkreten Einzeltat“ bei der Verfolgung von NS-Verbrechen. Zu den aktuellen Strafverfahren wegen Beteiligung an NS-Verbrechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Karl Peter Rotthaus, Köln Strafrestaussetzung einst und jetzt. Vom vertraulichen Gnadenweg zur ­Großen Anhörung nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 Irene Sagel-Grande, Groningen (Niederlande) Die niederländische Version der Strafrestaussetzung zur Bewährung . . . . . . 793 Günter Tondorf, Köln Die Entkriminalisierung von DrogenkonsumentInnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809 Terttu Utriainen, Rovaniemi (Finnland) The Difficulty of Rape Law Reforms. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 Tonio Walter, Regensburg Das Absolute wird relativ – wie sich Vergeltung als Strafzweck soziologisch begründen lässt. Zugleich eine Kritik alter und neuer Straftheorien. . . . . . . 831

Literatur und „Literarische Kriminologie“ Rudolf Drux, Köln Aus dem „illustren“ Gefolge der Themis ins ‚Gnadenreich‘ der Venus. Hein­ rich Heines poetischer Umstieg von der Jurisprudenz zur Liebeslyrik. . . . . 853 Klaus Lüderssen, Frankfurt am Main Schillers Theodizee und das Schuldstrafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867

12 Inhaltsverzeichnis Heinz Müller-Dietz, Saarbrücken Von der kriminologischen Literatur zur „Literarischen Kriminologie“ . . . . . 877 Joachim Walter, Osterburken Was wir für die Erziehung im Jugendstrafvollzug von Walther von der Vogel­ weide lernen können. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Schrifttumsverzeichnis von Michael Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Von Michael Walter betreute Dissertationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945 Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949

Michael Walter in 25 Bildern – Ein Interview Michael Walter wird am 18.4.1944 in Lübeck geboren. Ab dem Sommersemester 1963 studiert er Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün­ chen und an der Universität Hamburg. Er promoviert 1970 in Hamburg, seine Ha­ bilitation erfolgt 1980 ebenfalls in der Hansestadt. Hier ist er von 1977 bis 1984 Professor für Kriminologie, Jugendrecht, Strafvollzug und Kriminalpolitik, bis er 1984 an die Universität zu Köln wechselt, wo er bis zu seiner Emeritierung im Juli 2009 die Kriminologische Forschungsstelle (seit 2004: Institut für Kriminologie) leitet und Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht ist. Der Jubilar hat sich im Laufe seiner Forschungstätigkeit einem recht breiten Spektrum kriminologi­ scher Fragen zugewandt, behandelt werden etwa folgende Themen: kriminalrechtli­ che Sanktionen, Kriminalpolitik, Alternativen zum Strafrecht, vergleichende Krimi­ nologie, kriminologische Erklärungsansätze, Kriminalitätsvorstellungen und Schwe­ reeinschätzung von Delikten, Kriminalität ethnischer Minderheiten und Gewaltkrimi­ nalität. Dementsprechend umfangreich ist das Schrifttumsverzeichnis. Besonders erwähnt sein sollen sein Steckenpferd Kriminalität in der Literatur sowie seine Schwerpunktsetzung in Jugendkriminologie und Jugendkriminalrecht. So übt Micha­ el Walter von 1971 bis 2009 verschiedene Ämter und Tätigkeiten bei der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. (DVJJ) aus und arbei­ tet in mehreren Reformkommissionen mit. Von 2002 bis 2006 ist er Vorsitzender des Landespräventionsrates von Nordrhein-Westfalen sowie Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten. Von Januar 2011 bis September 2013 bekleidet der Jubilar das neue, auf ihn zugeschnittene Amt des Justizvollzugsbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen und setzt sich in dieser Funktion insbesondere für die opferbezogene Vollzugsgestaltung ein.

Michael, wir haben vereinbart, statt des üblichen Lebensberichts mit den einzelnen Stationen eines erfolgreichen Wissenschaftlerlebens ein Interview zu führen, das Dich als Menschen in den Mittelpunkt rückt. Für die Bereit­ schaft, uns persönliche Einblicke zu gewähren, danke ich Dir. 1. In Deinem Büro hing ein Gemälde Deines Vaters. Es zeigte den Blick über die Dächer Lübecks aus der Wohnung Deiner Eltern. Du zeichnest selbst sehr gerne und sehr gut. Hast Du von Deinen Eltern noch eine andere Begabung, eine besonders gute oder schlechte Eigenschaft geerbt? Auf Eigenschaften oder gar Begabungen möchte ich mich ungern einlas­ sen. Doch war die Welt der Eltern insgesamt sicherlich ein Vorbild. Beide hatten sich beruflich am Theater kennen gelernt. Sie waren Zeit ihres Le­ bens kunst- und literaturinteressiert. Als Kind hat mich unter anderem das Schauspielern angezogen, vor allem die überzeichnende Nachahmung des

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Michael Walter in 25 Bildern – Ein Interview

Verhaltens Erwachsener. Da mir das leider bis zum heutigen Tag Spaß macht (und selten ein Mangel an „Vorlagen“ besteht), betrachte ich diese Neigung nicht nur als schädliche, sondern zugleich auch als ein Zeichen anhaltender Unreife – ohne dass ich dafür freilich noch meine Eltern ver­ antwortlich machen kann. 2. In Lübeck hast Du mit Eltern und Bruder Lucas als Katholik in der Diaspora gelebt. Hat das Dein Denken geprägt? Wie hältst Du es überhaupt mit Gott und mit der Religion? Die Situation, in der Klasse oft der einzige Katholik zu sein, hat mich ebenso geprägt wie das gesamte katholische Leben in der Diaspora, das viel­ leicht in manchen Punkten noch strenger war als in katholischen Landstri­ chen. Von Ökumene konnte ich im Lübeck der 50er Jahre noch nichts verspü­ ren. Immerhin gab es aber drei katholische und einen evangelischen Geistli­ chen, die in der Nazizeit für ihren Glauben sterben mussten und die von beiden Kirchen als Märtyrer verehrt wurden. Ich kam mitunter im Geschichts­ unterricht ins Schwitzen, wenn über fragwürdige politische Aktivitäten etwa der Renaissance-Päpste gesprochen wurde (die jüngste Geschichte wurde nahezu vollständig ausgeblendet). Rückblickend waren entsprechende Erfah­ rungen, in der Minderheit zu sein, nicht schlecht, weil ich mich schon früh veranlasst sah, „meinen Mann zu stehen“. Später bin ich mit dem Erleben, mit meinen kriminalpolitischen Ansichten häufiger nicht aufseiten der Mehr­ heit zu sein, recht gut zurechtgekommen. Bereits in der Jugend machte ich die positive Erfahrung, trotz meiner „Besonderheiten“ nicht ausgegrenzt zu werden. Ich bin sogar lange Zeit Klassensprecher gewesen. Erst als junger Mann habe ich zur römischen Kirche eine distanziertere Haltung gewonnen und gedankliche Einengungen gesprengt. Manche der vertretenen Lehren, etwa zur Sexualität und Ehe, lehne ich als dogmatistisch und teilweise geradezu menschenverachtend ab. Ich lebe mit meiner Kirche im Konflikt, denke aber nicht daran auszutreten. Heute macht mir die Kir­ chenbewegung „von unten“ Mut, die die Gemeinden stärkt und ihren Mit­ gliedern eine Stimme gibt. Ich verstehe mich – wie meine evangelische Frau Regina – als einen Christen, der freilich auch immer wieder Zweifel und Unsicherheiten erlebt. Doch insgesamt trägt mich mein Glaube und lässt mich auch Lasten, wie insbesondere Krankheit, ertragen. 3. Du hast in Hamburg und München studiert. Am Ende Deines Studiums hast Du Dich einen Monat lang als Cusaner in Rom aufgehalten. 1984 hast Du einen Ruf nach Köln angenommen. Man könnte meinen, es hat Dich als Nordlicht in den Süden gezogen. Kann man Köln mit seiner Nähe zu Frankreich und seiner mediterranen Lässigkeit vielleicht sogar als Deinen Bestimmungsort bezeichnen?



Michael Walter in 25 Bildern – Ein Interview15

Sozusagen als geistiges Köln? Das ist ein reizvoller Gedanke! In der Tat gefällt mir hier in Köln die schon leicht französische Lebensart, verbunden mit einer Aufgeschlossenheit für künstlerische Arbeiten aller Art. Mein Va­ ter wurde in Straßburg geboren, ein Teil meiner Familie stammt aus dem dortigen Umfeld, der andere – mütterlicherseits – aus Bayern und Franken. Wäre Köln so etwas wie ein Bestimmungsort, würde ich ihn gern akzeptie­ ren, zumal er seit alters her auf Begegnung angelegt und nicht nationalis­ tisch abgeschottet ist. 4.  Dein Sohn Tonio (dessen Name etwas von Deiner Begeisterung für Thomas Mann verrät) ist Professor für Strafrecht in Regensburg. Diskutiert ihr regelmäßig über Eure wissenschaftlichen Arbeiten, lest ihr Korrektur oder „macht da jeder so sein Ding“? Ich habe zwei Söhne: Tonio, geb. 1971 in Hamburg, und – aus zweiter Ehe – Andreas Mario, geb. 1988 in Köln. Mit beiden verbindet mich eine herzliche Beziehung. Dass ich zu Tonios beruflichem Wirken einen beson­ ders guten Zugang habe, freut mich natürlich sehr. Wir lesen aber nicht gegenseitig Korrektur, sondern unterhalten uns über die eine oder andere Frage, wobei ich Tonio als einen durchaus eigenständigen Geist erlebe – und zu schätzen weiß. Die ganze Familie liebt zudem seinen oft trockenen Humor, der gelegentlich auch in seinen Publikationen, etwa der Stilkunde, durchscheint. Tonio und ich haben deutliche Übereinstimmungen in krimi­ nalpolitischen Fragen. Ferner beschäftigen wir uns mit einem Bereich, der uns auch emotional sehr anspricht: Recht und Literatur. Ich habe es als schönes Geschenk empfunden, als Tonio im Jahre 2009 ein gemeinsames Seminar zu dieser Thematik organisiert hatte. Er war früher Stipendiat der Studienstiftung und wirkte dann später bei der Planung einer Ferienakade­ mie in Guidel (Bretagne) mit, auf der wir in einer eigenen Arbeitsgruppe von Vater und Sohn ausgewählte literarische Werke mit den überwiegend hoch motivierten und zudem klugen Studentinnen und Studenten rechtlich und kriminologisch betrachten konnten. 5. In den 1980er Jahren hast Du u. a. mit Kolleginnen und Kollegen aus Prag, Krakau, Posen, Warschau und Budapest vergleichende Forschung über Jugendkriminalität betrieben – ein damals brisantes politisches Thema und in hohem Maße ideologieanfällig. Wie hast Du jene Zeit und die wissenschaftliche Atmosphäre im ehemaligen Ostblock erlebt? Hast Du Dir eine bestimmte Strategie für den Umgang mit politischen Zumutungen zurecht gelegt? Die Forschungen haben mich mit dem realen Sozialismus in seinen un­ terschiedlichen Ausprägungen in Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei und in Polen in Kontakt gebracht. Ich habe die meisten polnischen Univer­

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sitätsstädte kennen gelernt, von Thorn bis Breslau, bin aber außerdem wie­ derholt in Budapest und Prag gewesen. Die Bespitzelung meiner Gesprächs­ partner war in Prag am deutlichsten und unheimlichsten, während mir in Budapest ein überzeugter und „gläubiger“ Kommunist gegenüberstand, der nicht bespitzelt zu werden brauchte. Trotz unserer schon im Ansatz konträ­ ren politischen Ansichten haben wir uns auf einer persönlich-menschlichen Ebene gut verständigen können. Er meinte den Kampf für die Schwachen und Unterdrückten ehrlich. In Polen fühlte ich die relativ größte Freiheit, obwohl die politische Lage in der Jaruselzki-Zeit, als nach der BreschnjewDoktrin sogar eine neue Invasion der Sowjet-Union (eventuell zusammen mit der DDR) drohte, besonders prekär war. Meine Gesprächspartner konn­ ten zwar nicht immer schriftlich, wohl aber mündlich zu erkennen geben, welcher Meinung sie waren. Es entwickelte sich oft ein herzliches Einver­ nehmen. Freilich gab es zugleich auch Parteigänger, bei denen in mehrfa­ cher Hinsicht Vorsicht geboten war. Die DDR empfand ich als den bedrü­ ckendsten sozialistischen Staat, mit der größten Unfreiheit, trotz größter räumlicher Nähe. Es gab insoweit auch – anders als in den anderen Staa­ ten – keinerlei Signale für kriminologische Gespräche. Insoweit entstanden Kontakte für mich erst nach der „Wende“. Die Möglichkeiten vergleichender Forschung waren – wie kaum anders zu erwarten – sehr begrenzt. Als zugänglich erwiesen sich in erster Linie offizielle kriminalstatistische Daten. Wir beschränkten uns auf die Jugend­ kriminalität. Freilich war schon die Fragestellung kontrovers: Während vor allem mein ungarischer Kollege Vigh von der Budapester Universität nach geringeren Belastungszahlen suchte, um die Überlegenheit des sozialisti­ schen Systems zu belegen, betrachtete ich die Zahlen selbst als einen Aus­ druck des Systems und stellte mit meinen Mitarbeitern – stark vereinfacht – die These auf, dass jedes politische System „seine“ Kriminalität so auf­ bereite, wie es sie sodann gut verarbeiten könne. Die registrierte Krimina­ lität erscheint solchermaßen als eine systemabhängige Größe, wobei beson­ ders systembedingte Delikte (im Westen: bestimmte Eigentums- und Vermö­ gensdelikte; im Osten etwa „Rowdytum“) von anderen (z. B. sexuelle Nöti­ gung, Vergewaltigung) zu unterscheiden sind. Die Ergebnisse konnten wir vor dem Hintergrund der abweichenden theoretischen Verständnisse nicht gemeinsam interpretieren, so dass wir getrennte Publikationen wählten. Die gedankliche Nähe zu unseren Partnern hinter dem Eisernen Vorhang war, wie schon angedeutet, durchaus unterschiedlich. Von der These, dass durch einen „richtigen“ Sozialismus die Kriminalität verschwinden müsse, hatten sich auch schon damals einzelne Forscher längst entfernt, ohne das allerdings plakativ schreiben zu können. Es bestand großes Interesse am Labeling-Ansatz und teilweise eine vergleichbare Einschätzung offizieller Daten und Verlautbarungen. Manche Beziehungen haben die Zeit überdau­



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ert, sind sogar nach der „Wende“ – gewissermaßen vom Eise befreit – viel persönlicher und offener geworden. Während die einen die Befreiung von der Staatsideologie als große Bereicherung erlebten, bedeutete sie hingegen für andere eine Bedrohung ihres bisherigen sozialen Status. 6.  Was wärest Du geworden, wenn nicht Kriminologe? Die Kriminologie rückte bei mir erst am Ende des Jurastudiums in den Blick. Meine Pläne für die „Zeit danach“ waren zunächst auf das Zivilrecht gerichtet. Sie beruhten auf Studienerfolgen, die ich auf diesem Gebiet hatte. So wurde ich nach dem Referendarexamen wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsrecht und im Zivilprozessrecht bei Eduard Bötticher. Hier hat mich jedoch kaum die Forschung, sondern allein die Praxis interessiert. Mein Wunsch wäre insoweit gewesen, nach dem Assessorexamen Richter zu werden und den Schwächeren zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch das war nicht kompatibel mit dem anderen Wunsch, der seit jeher bestand, Professor zu werden und im „Wissenschaftsbetrieb“ tätig zu sein. Der „rei­ nen Rechtswissenschaft“ konnte ich indessen nur wenig abgewinnen. Dem­ gegenüber war die Kriminologie auf die Begegnung mit anderen Wissen­ schaften angelegt, das hat mich dann sehr gereizt. Daher bin ich noch vor dem Zweiten Staatsexamen Assistent bei Rudolf Sieverts im Seminar für Jugendrecht geworden. Dieser Start war folgenreich, weil er zugleich zu einer Schwerpunktbildung im Jugendrecht und bei der Jugendkriminalität geführt hat. 7.  Als Student warst Du Cusaner. Vermutlich hast Du Sympathien für Willy Brandt gehegt; jedenfalls fühlst Du Dich sozialdemokratischem Denken verbunden. Ein ökonomistisches Denken, z. B. in der Kriminal- oder Bildungspolitik, ist Dir ein Graus. Warum bist Du trotzdem Vertrauensdozent der (FDP-nahen) Friedrich Naumann Stiftung geworden und geblieben? Willy Brandt, übrigens auch ein Lübecker, führte eine sozial-liberale Regierung, die in der Kriminalpolitik deutliche Fortschritte erzielt hat. Li­ berales Denken ist meiner Ansicht nach gerade in der Kriminalpolitik wich­ tig, weil es eine staatskritische Position bezieht, den Aktionsradius des Staates begrenzen will – und damit den Blick für außerjustizielle Alternati­ ven eröffnet. Von all dem hat sich die FDP leider nach Genschers Wechsel zu Helmut Kohl weit entfernt. Sie hat die Liberalität genau am verkehrten Ende, bei der Deregulierung der Märkte, verortet, neoliberale Rücksichtslo­ sigkeit gepflegt und sich im strafrechtlichen Diskurs immer stärker den Konservativen angeglichen. Ich habe mich nach der Wahrnehmung dieser „neuen Richtung“ aus dem politischen Geschehen im Umfeld der FDP gänzlich herausgenommen und bei den Naumann-Stipendiaten „Dienst nach Vorschrift“ praktiziert. Das bereitete mir keine Schwierigkeiten, denn ich

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habe seit jeher Fachgutachten zu studentischen Leistungen für alle allge­ mein anerkannten Studienförderwerke gefertigt, auch für Studierende der Konrad-Adenauer-Stiftung, ja sogar für Studierende der CSU-nahen HannsSeidel-Stiftung. Was kann uns Besseres passieren, als dass tüchtige Studen­ tinnen und Studenten in ihren Studien finanziell unterstützt werden und deswegen nicht nebenher zu „jobben“ brauchen! 8.  Du bist mit Herz und Seele Hochschullehrer. Was hat Dich am akademischen Betrieb am meisten gestört? Und welche Eigenschaften sollte ein Hochschullehrer bzw. eine -lehrerin vorrangig mitbringen? Fürwahr, mein Wunsch war seit jeher, Professor an einer Universität zu werden! Man muss sich nicht als „graue Maus“ einfügen, vielmehr sind Originalität und individuelle Entfaltung geradezu förderlich. Diese Konstel­ lation bietet erhebliche Chancen. Das höchste Gut ist die gedankliche Frei­ heit und Unabhängigkeit, die zugleich materiell durch die lebenszeitliche Beschäftigung gesichert wird. Bis heute freut mich das wissenschaftliche Gespräch, das aus dem Gedankenaustausch, den gegenseitigen Anregungen und auch der Kritik lebt. Beeinträchtigt wurde die Arbeit nach meinem Erleben vor allem durch Verwaltungsaufgaben und -zwänge. Zwar brauchen und wollen wir die Selbstverwaltung, sind aber doch häufig einer Reihe von Reglementierun­ gen und Bürokratismen unterworfen, die Zeit und Kraft nehmen und letzt­ lich Fremdbestimmung bedeuten. Als belastend erschien mir allerdings auch manche Auseinandersetzung im Kollegenkreise, wiewohl ich mir einbilde, insoweit eher schlichtend und befriedend tätig gewesen zu sein. Frage ich andere im Ruhestand befindliche Kollegen, worüber sie nunmehr besonders froh sind, bekomme ich recht häufig die Antwort, sie genössen es, nicht mehr zu den Konventen gehen zu müssen. Mich erleichterte das, ging es offenbar nicht nur mir so! Demgegenüber waren mir Vorlesungen und Vor­ träge in meinem eigenen Fachgebiet nie eine Last – oder nur eine willkom­ mene. Die Frage nach den notwendigen Eigenschaften eines Hochschullehrers birgt die Versuchung, die eigenen Vorlieben und Gedanken als allgemein­ verbindlich zu erklären. Dem möchte ich widerstehen. Ich denke, dass es für alle Beteiligten gut ist, wenn er oder sie viel Freude an der Arbeit hat, dann kommen die Ideen und dann kommt auch die Begeisterung, die die Studierenden anstecken kann. 9. Welcher Deiner kriminologischen Beiträge, meinst Du, ist für die Entwicklung der Kriminologie besonders wichtig gewesen? Und welcher, findest Du, ist Dein persönlichster?



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Unter kriminologisch-theoretischem Aspekt würde ich auf die Überlegun­ gen verweisen, die ich in letzter Zeit in dem Beitrag „Über Kriminologie als Kulturwissenschaft“ (Festschrift für Heinz Schöch, 2010) zusammenge­ fasst habe. Dort geht es u. a. um Fragen einer „Fortentwicklung der Krimi­ nologie aus kulturwissenschaftlicher Perspektive“ (S. 13 f.). Wenn ich, ver­ anlasst durch Deine Frage, meine kriminologische Vergangenheit Revue passieren lasse, kommt mir in den Sinn, dass ich mich oft als Anreger oder Anstoßer betätigt habe: u. a. zur Bevorzugung ambulanter Sanktionen, zur Diversion (Hamburger Antrittsvorlesung), zum Täter-Opfer-Ausgleich, zu einer Veränderung des Verständnisses von „Ausländerkriminalität“ u. s. w. Bis in die Gegenwart bin ich in dieser Weise aktiv, derzeit für die Verwirk­ lichung einer opferbezogenen Vollzugsgestaltung. Die persönlichsten Beiträge sind sicherlich die zum Thema Kriminalität und Literatur, wobei mir Gewichtungen schwer fallen. Da ich mich schon seit meiner Jugend sehr für Kleists Werk interessiere, kann ich vielleicht auf meinen Kommentar zum „Zerbrochnen Krug“ verweisen (Reihe Juristische Zeitgeschichte, Abt. Recht in der Kunst, 2005, S. 163 f.). 10.  Hast Du wissenschaftlich lieber im Team oder allein gearbeitet? Mein bevorzugter Arbeitsplatz ist zu Hause, in vertrauter Umgebung, mit meinen Büchern. Dort schrieb und schreibe ich noch heute meine Texte. Ich kann das genießen, den Blick ins (teilweise) Grüne, auch das Geschrei spie­ lender Kinder (soweit es nicht zu laut wird). Ich freue mich, wenn meine Frau fragt, ob ich zum Kaffeetrinken nach unten kommen möchte, wenn ich mich rundum aufgehoben fühle. Aufgehoben fühle ich mich aber auch in Gesprächs­ runden zu kriminologischen Fragen, soweit ich von einer geistigen Nähe der Teilnehmer ausgehen kann. Gerade aus dem Kölner Institut sind mir entspre­ chende Momente erinnerlich. Mit Freude blicke ich auf Gespräche zurück, in denen wir beide geradezu spontan ähnliche Ideen und Vorstellungen hatten, zum Beispiel hinsichtlich der kriminologischen Relevanz einiger sozialpsy­ chologischer Experimente. Nicht selten ergänzen sich Sichtweisen, ich habe in derartigen Gesprächen viele Anregungen erfahren, für die ich dankbar bin. Es kann auch Freude machen, anderen, etwa Doktoranden, auf die Sprünge zu helfen, um eventuell später wiederum aus ihren Arbeiten zu lernen. Mein Ide­ al für das Kriminologische Institut war eine Art geistiger Gemeinschaft, die in der Auseinandersetzung zusammenwächst, jedoch stets jedem seine Freiheit lässt und die Entwicklung seiner höchstpersönlichen Stärken fördert. 11. Weißt Du, wie viele Akademiker und Akademikerinnen unter Deiner Betreuung an der Kölner Fakultät promoviert wurden? Was sind Deine schönsten und schlimmsten Erinnerungen an die Betreuung von Doktoranden und Doktorandinnen?

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Das weiß ich – ehrlich gesagt – nicht. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Hamburger Doktoranden, einen Staatsanwalt, dem ich später wieder­ holt – auch fachlich – begegnet bin. In Köln könnten es ca. 30 gewesen sein [es sind 43 – Stand: November 2013, Anm. F. Neubacher]. Zu den schönsten Erinnerungen zählen Arbeiten, die mit viel Sachverstand und Elan verfasst wurden, wie z. B. die Schrift von Helmut Geiter zur Untersuchungs­ haft in Nordrhein-Westfalen (1998). Es gab aber auch traurige Erfahrungen. Besonders deutlich vor Augen steht mir noch eine Doktorandin, die, obwohl hochintelligent und motiviert, es dennoch einfach nicht schaffte, sich in eine kriminologische Aufgabenstellung hineinzufinden. Für sie wäre eine strafrechtliche Thematik das richtige gewesen. 12. Meinst Du, die Kriminologie ist an den Juristischen Fakultäten am besten aufgehoben oder wäre sie besser bedient, wenn sie von Psychologen, Soziologen bzw. Sozialwissenschaftlern gelehrt würde? Kriminologie ist zwar eine Erfahrungswissenschaft, ihre Identität gewinnt sie aber aus dem Gegenstand: dem Crimen, seiner Konstitution und Kont­ rolle. Deshalb gehört die Kriminologie zur (gesamten) Rechtswissenschaft und zum Studium der Rechtswissenschaft. Demgegenüber können Psycho­ logie und Soziologie auch ohne Kriminalpsychologie oder Kriminalsoziolo­ gie – und ohne diesbezügliche Lehrstühle – existieren. Da die Kriminologie im Vergleich zur allgemeinen Rechtssoziologie als wesentlich stärker entwi­ ckelt gelten darf, kann sie als ständige Kritik des Strafrechts und seiner Praxis eine exemplarische Aufgabe für alle Rechtsgebiete übernehmen, in­ dem sie auf die verschiedenen Bedingungen und Abhängigkeiten des Rechts verweist – und damit zugleich Brückenschläge zur Rechtsgeschichte und zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen ermöglicht. Daher darf die Krimi­ nologie an Juristischen Fakultäten nicht fehlen. Sie erst bahnt die Wege zu einem adäquaten Rechtsverständnis. Wegen der Bedeutung der sozialwis­ senschaftlichen Theorien und Methoden für kriminologisches Denken und Arbeiten ist es aber ebenso unerlässlich, die Kooperation mit den sozialwis­ senschaftlichen Disziplinen lebendig zu halten. 13. Als Du schon etliche Jahre in Köln warst, hast Du einen Ruf nach Münster auf die Nachfolge von Hans Joachim Schneider erhalten und abgelehnt. Warum? Ist Köln wirklich (wie es in einem Slogan der lokalen Tourismusbranche heißt) „ein Gefühl“, dem man sich einfach nicht entziehen kann? Die Universität zu Köln hat mir die ganze Zeit über nahezu ideale Ar­ beitsbedingungen geboten, wenn ich einmal von den scheinbar immerwäh­ renden, niemals endenden Bauarbeiten absehe. Letztere trafen die Mitarbei­ terinnen und Mitarbeiter freilich mehr als mich. Denn, wie bereits erwähnt,



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bin ich ein ausgeprägter „Heimarbeiter“, der seine Beiträge am liebsten am häuslichen Schreibtisch verfasst. Solche Fluchtstätten eröffneten sich den anderen nicht. Einem Wechsel war ich zwar grundsätzlich nicht abgeneigt, doch schienen mir die Entfaltungsmöglichkeiten in Münster schließlich nach Klärung der Lage nicht besser. Im Übrigen hatte auch die Familie mitzureden. Die empfand Köln als weltoffener und anregender, weniger brav. Dem konnte und wollte ich nicht widersprechen. So blieb ich, wo ich war, aus Überzeugung – und habe es nie bereut. 14.  Max Frisch hat in seinem Tagebuch einmal gesagt, „Erfahrungen mache ich nur noch beim Schreiben“. Welche Erfahrungen hast Du beim Schreiben gemacht? Nach systematischen Darstellungen – zum Strafvollzug, zur Jugendkrimi­ nalität und zur Gewaltkriminalität – habe ich Bereicherungen erfahren, die mit einem klareren Überblick und dem Erkennen von gedanklichen Verbin­ dungen zusammenhängen. Außerdem zwingt das Schreiben zu Festlegungen, die mit inneren Prüfungen einhergehen. Die Gedanken werden im Schreiben konkretisiert, ein Vorgang, den Kleist für das Reden thematisiert hat („Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, Sämtliche Werke und Briefe, Münchner Ausgabe, 2010, Bd. 2, S. 284 f.). Kleist sah ich ins­ besondere bei der mündlichen Erläuterung zuvor neu entworfener Schaubil­ der bestätigt. Während der Erläuterung konnte ich Schwächen und Unzu­ länglichkeiten erkennen, die sich zumeist als behebbar erwiesen. Meine Lehre daraus: Bevor ein Schaubild in ein Buch wandert, sollte es zunächst einmal in einer Vorlesung oder einem Vortrag durch mündliche Erläuterung getestet werden. Schreiben ist wohl für jeden von uns ein Abenteuer, denn letztlich weiß man zu Beginn nicht, was einmal aus der Bearbeitung einer Thematik wird. Der Text verselbständigt sich bis zu einem gewissen Grade und entwickelt eine eigene Logik. Er ist auch ein Produkt einer bestimmten Lebensphase. Später, nach vielen Jahren, liest er sich anders. Ich habe bei solcher Lektü­ re schon hin und wieder geschmunzelt, konnte das Geschriebene innerlich aber gut so stehen lassen. Vielleicht ist das auch ein Ausdruck der Toleranz mir selbst gegenüber. 15.  Welche kriminologische Leistung bewunderst Du am meisten? Ich kann meine Bewunderung gar nicht auf ein einzelnes Geschehen und auch nicht auf einen einzelnen Helden beschränken. Die Bedeutung, ja Unverzichtbarkeit der Kriminologie beruht meiner Auffassung nach auf zwei Komponenten: Sie leistet zum einen eine permanente Kritik des Straf­ rechts und begründet dessen Begrenzung, zum anderen erreicht sie das nicht

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mit einer bestimmten eigenen Methode, sondern indem sie auf den großen Schatz unseres Erfahrungswissens, unsere Gedanken, unser Fühlen, letztlich unsere gesamte Kultur zurückgreift bzw. zurückgreifen kann. Zu bewundern sind all die, die diese Fülle für das Verständnis der Strafrechtsrealität frucht­ bar gemacht haben. In den Vorlesungen habe ich versucht, einige solcher für die Kriminologie grundlegenden Sichtweisen – zusammen mit den be­ treffenden Denkern – vorzustellen. Ein früherer Mitarbeiter des Instituts hatte die humorvolle Idee, eine Fotomontage zu fertigen, auf der meine Favoriten einträchtig zusammen an einem Tisch sitzen und mir das Beste zum Ruhestand wünschen (von links nach rechts): Milgram, Zimbardo, Radbruch, von Liszt, Elias und Foucault. In der Tat verbinde ich mit jedem Namen eine hervorragende kriminologische Leistung. Dabei betrachte ich, wie Du weißt, auch Radbruch als Kriminologen (siehe meine Eintrittsvorle­ sung in den Ruhestand, Aufsatz in der JZ, Mai 2009). 16.  Welche historische Gestalt oder Periode fasziniert Dich am meisten und warum? Ich bin ein Kind der Nachkriegszeit. Lübeck, meine Geburtsstadt, war gerade in weiten Teilen von Bomben zerstört worden, als ich das Licht der Welt erblickte. Am deutlichsten wurde das „Ruinierte“ beim Anblick der stark beschädigten Kirchen. Die Auseinandersetzung mit der jüngeren Ver­ gangenheit drängte sich geradezu auf. In unserer Wohngegend war Militär, aber kein deutsches, sondern englisches und zunächst auch sowjetisches. Als Kind faszinierten mich Bilder von der alten blühenden Hansestadt, dem Leben vor der Verwüstung. Die Erwachsenen waren nach dem Krieg mit dem Wiederaufbau beschäftigt, ohne erkennen zu wollen, dass dem baulichen Zusammenbruch ein sozial-moralischer vorausgegangen war. Wachgerüttelt haben mich Schilderungen vom Leben einzelner Menschen, die während der NS-Zeit die Kraft entwickelt hatten, sich aus einer klaren Minderheitsposition heraus gegen die verbrecherischen Pläne der Herr­ schenden zur Wehr zu setzen: etwa die Mitglieder der „weißen Rose“ oder der Bekennenden Kirche. Auch einige Lübecker Geistliche gehörten, wie schon erwähnt, in einem weiteren Sinne dazu. Sie hatten sich trotz ent­ sprechender Verbote um Kriegsgefangene gekümmert und mussten das mit dem Leben bezahlen. Dieser mitmenschliche Mut gegenüber einem mäch­ tigen und brutalen Staatsapparat beeindruckt mich immer noch tief, und ich habe wiederholt darum gebetet, in einer vergleichbaren Situation ähn­ lich tapfer sein zu können. 17. Abgesehen vom Schriftsteller Thomas Mann und dem Rechtsgelehrten Gustav Radbruch, beide Lübecker, die Du verehrst, hast Du auch eine Schwäche für den Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. Liegt es an seinem



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radikalen dramatischen Prinzip, einer Geschichte die denkbar schlimmstmögliche Wendung zu geben? Neben Thomas Mann möchte ich seinen Schriftstellerbruder Heinrich nicht vergessen, der sich nach dem Ersten Weltkrieg für die Weimarer Re­ publik und einen demokratischen Neuanfang eingesetzt hat. Beide hatten ebenso wie Gustav Radbruch das Lübecker Gymnasium Katharineum be­ sucht, das sich mit seinen berühmten Schülern allerdings noch in den 50er Jahren, als ich auf diese Schule kam, schwer tat. Alle drei waren während der NS-Zeit ausgeschlossen oder verfolgt worden. Der Prozess der Wieder­ entdeckung setzte erst sehr zögerlich ein. Nun aber zu Dürrenmatt: Er gehörte mit zu den ersten, die nach dem Krieg den Deutschen, aber auch den Schweizern, einen Spiegel vorhielt. An ihm begeistert mich die Kraft seiner knappen und klaren Sprache, mit der er die Dinge rasch und unmissverständlich auf den Punkt bringt, mit umwerfender Ehrlichkeit. Seine „ausgedachten“ Stücke mögen in gewisser Weise übertreiben, doch sie zeigen Gefahren und menschliche Abgründe auf, die er gerade durch die „schlimmstmöglichen Wendungen“ verdeut­ licht und ins Bewusstsein bringt. Seine gedanklichen Konstrukte, etwa im „Besuch der alten Dame“ oder in den „Physikern“, können als gesteigerte Realität angesehen werden, die wachrüttelt (ohne freilich Lösungen anzu­ bieten). 18.  Welche Stadt oder welchen Ort möchtest Du unbedingt noch besuchen? Diese eigentlich unverfängliche und auch nicht ungewöhnliche Frage bringt mich dennoch in Verlegenheit. Denn die Orte, die mir noch vor­ schweben, sind weniger geographisch als vielmehr innerlich bestimmbar. Es kommt mir auf gedanklich-emotionales Erleben an, das zwar an einzelnen Orten eher zu erreichen sein wird als an anderen, z. B. in der Ruhe eines kleinen Fischerorts eher als in einem Industriezentrum. Diese Wünsche sind aber nicht streng örtlich gebunden, sie hängen auch sehr von der mit­ menschlichen Umgebung ab. Von der Gegend und der Geschichte her wür­ de mich der Nahe Osten reizen, doch schreckt mich die Friedlosigkeit dieser Region zugleich wieder ab. 19. Hast Du ein Lebensmotto? Wie sieht Deine Vorstellung vom guten, richtigen Leben aus? Die Perspektiven haben sich im Laufe meines Lebens gewandelt. Das Ziel, es mir auf Erden möglichst angenehm und bequem zu machen, war indessen nie sehr ausgeprägt. Insoweit bin ich eher normativ strukturiert und frage nach Aufgaben, die zu erfüllen sich lohnt. Aus entsprechenden Resonanzen beziehe ich dann größere oder geringere Gefühle persönlicher

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Zufriedenheit. Dabei gönne ich mir jedoch eine gewisse Gelassenheit, die vieles erleichtert. Ich habe gesundheitliche Grenzsituationen erfahren, die die Skala des Wichtigen nicht unbeeinflusst gelassen haben. Nach alledem ganz vornan stehen lebendige mitmenschliche Beziehungen. 20.  Für mich bist Du ein wichtiger Ratgeber und Lehrer im weitesten Sinne. Ich bin sicher, viele andere werden Dir gegenüber ihre besondere Wertschätzung ebenfalls zum Ausdruck gebracht haben. Gab es oder gibt es Komplimente, die Dir unangenehm sind? Ja! Ich kann sie schwer thematisch benennen, sondern am besten von den Eindrücken her, die ihr Vorbringen bei mir auslöst: Mich machen alle Kom­ plimente verlegen, hinter denen ich einen unehrlichen Autor, vielleicht einen absichtsvollen Schmeichler, vermute. Der Beweis der Unwahrhaftigkeit ist in solchen Situationen kaum zu führen, es bleibt letztlich ein Gefühl, über­ zeichnet zu werden und dagegen wehrlos zu sein. 21. Ich erinnere mich daran, wie Du einmal gesagt hast, Scheitern sei normal und gehöre zum Leben dazu, die meisten wollten das nur nicht wahrhaben. Mich hat der Satz beeindruckt. Heute frage ich Dich, woran Du damals gedacht hast, etwa ein bestimmtes Lebensereignis? Mein wohl stärkster Eindruck, gescheitert zu sein, entstand im Zusammen­ hang mit der Scheidung meiner ersten Ehe. Doch gab und gibt es das Schei­ tern für mich auch im Alltag, bei vielleicht recht banalen Dingen. So habe ich es oft nicht geschafft, alle Bücher und Beiträge zu lesen, die zu lesen ich mir vorgenommen hatte. Die Stapel hatten die missliche Eigenschaft, von Woche zu Woche anzuwachsen, wie Dir nicht verborgen geblieben sein wird. Schließlich blieb nur eine Kürzung des Leseprogramms, der „Mut zur Lü­ cke“. Meiner Meinung nach müssen wir immer wieder lernen, mit der Dis­ krepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zurechtzukommen. Ein solches Spannungsverhältnis gibt es nicht nur bei gesetzlichen Entwürfen und deren Umsetzung, sondern auch in unserem höchstpersönlichen Leben. 22.  Welches ungeschriebene Buch hättest Du gerne geschrieben? Der Titel könnte vielleicht lauten: „Kulturwissenschaftliche Krimino­ logie“. 23.  Gibt es etwas, was Du als Deinen größten Fehler bezeichnen würdest? Gibt es einen Beitrag aus Deiner Feder, den Du rückblickend so besser nicht veröffentlicht hättest? Den „größten Fehler“ zu benennen, fällt mir schwer. Mir ist jedoch eine Schwäche bewusst. Ich habe eine Scheu vor beherzten einschneidenden



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Maßnahmen. So hätte ich beispielsweise ab und an die Betreuung von Dok­ toranden oder auch Mitarbeiterverträge früher beenden sollen. Im Hinblick auf Veröffentlichungen gibt es sicher Beiträge, deren Thema­ tik ich heute anders aufgreifen würde. Manches kommt mir rückblickend auch etwas naiv vor. Doch habe ich nicht den Wunsch, Geschriebenes un­ geschehen zu machen. Die Texte sind in einer bestimmten Lebensphase und -situation verfasst worden und geben damalige Sichtweisen und Überzeu­ gungen wieder. Letztere haben sich hoffentlich weiterentwickelt, doch bin ich mir im Grundsatz – so denke ich – treu geblieben. 24. Nach Deinem Ausscheiden aus dem Amt als Direktor des Instituts für Kriminologie bist Du vom nordrhein-westfälischen Justizminister im Dezember 2010 zum Justizvollzugsbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen berufen worden. Dieses Amt füllst Du, wie ich beobachten konnte, mit viel Elan aus; es kostet aber auch viel Zeit. War die Aussicht auf einen gemächlichen Ruhestand für Dich so unerträglich? Die Tätigkeit als Justizvollzugsbeauftragter brachte mir eine Reihe neuer Erfahrungen. Es eröffnete sich die konkrete Möglichkeit, langjährig gehegte Überlegungen und Ideen an die vollzugliche Praxis heranzutragen und auch umzusetzen. Mir macht es Freude, zusammen mit engagierten Praktikern lohnende Anliegen voranzubringen, auch gegen den Widerstand mancher Mitarbeiter, denen das alles zu viel ist. Die Institution des Justizvollzugsbe­ auftragten, die im Bundesgebiet neu ist, bietet erhebliche Gestaltungsmög­ lichkeiten. Nach den gewonnenen Erfahrungen sehe ich mich in der steten Versuchung, für die Einrichtung eines solchen Amtes auch in anderen Bundesländern zu werben. Persönlich werde ich die Arbeit nach den drei Jahren, für die ich verpflichtet worden bin, dennoch nicht fortführen, weil das über meine Kräfte ginge. Dann wartet vielleicht der „gemächliche Ru­ hestand“. 25. Wie wird die Kriminalpolitik 2034, an Deinem 90. Geburtstag, aussehen? Würdest Du das gerne selbst miterleben? Wirst Du dann noch wissenschaftliche Beiträge veröffentlichen, wenn Du kannst? Das sind herrliche Fragen, über die ich allerdings bisher nicht nachge­ dacht habe. Wie sich etwas weiterentwickelt, ist eigentlich immer interes­ sant. Insofern bin ich gern dabei. Nur denke ich in wesentlich kürzeren Zeitabschnitten! Das Interview führte Frank Neubacher im März 2013.

Kriminologie

Neonatizid – eine rechtsmedizinische Herausforderung Sibylle Banaschak und Markus A. Rothschild I. Die rechtsmedizinische Untersuchung von Neugeborenen Die Untersuchung von lebenden oder verstorbenen Menschen auf Verlet­ zungen, die Bewertung dieser Verletzungen und Plausibilitätsprüfung zu be­ kannt gemachte Anknüpfungstatsachen sowie insbesondere die Beantwortung der Frage, ob eine Fremdeinwirkung vorgelegen hat, sind Routineaufgaben in der Rechtsmedizin. Kinder als Verletzte in einem Strafverfahren unterschei­ den sich bezüglich der Untersuchungsmethoden nicht grundsätzlich von Er­ wachsenen. Bei Neugeborenen stellt sich dies aber völlig anders dar. Ein wesentlicher Aspekt bei der rechtsmedizinischen Untersuchung des to­ ten Neugeborenen ist neben der Frage, woran er gestorben ist, zunächst die Frage, ob er überhaupt gelebt hat oder ob es sich um eine Totgeburt handelt. Dies wird bereits im Gesetzestext deutlich. In der Strafprozessordnung (StPO) findet sich ein gesonderter Paragraph zur Untersuchung eines neu­ geborenen Kindes. Dieser besagt (§ 90 StPO): Bei Öffnung der Leiche eines neugeborenen Kindes ist die Untersuchung insbe­ sondere auch darauf zu richten, ob es nach oder während der Geburt gelebt hat und ob es reif oder wenigstens fähig gewesen ist, das Leben außerhalb des Mut­ terleibes fortzusetzen.

Die Formulierung „während der Geburt“ verweist darauf, dass im Straf­ recht (anders als im Zivilrecht) das eigenständige Leben des Kindes mit dem Beginn der Geburt (d. h. den Eröffnungswehen) beginnt. Die rechtsmedizinische Untersuchung muss also zunächst erweisen, ob eine Straftat an einer lebenden Person vorliegt. Dieser besonderen Heraus­ forderung begegnet die Rechtsmedizin mit speziellen Präparationstechniken. II. Besondere kriminologische Aspekte Das Delikt der Neugeborenentötung weist eine Reihe von Besonderheiten auf. Es ist eines der wenigen Delikte, das (fast) ausschließlich durch Frauen begangen wird. Als Neonatizid werden Tötungen neugeborener Kinder in­ nerhalb von 24 Stunden nach der Geburt bezeichnet (wobei die meisten

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Sibylle Banaschak und Markus A. Rothschild

Tötungen, soweit man dies weiß, unmittelbar nach der Geburt stattfinden). Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galt die Geburt eines unehelichen Kin­ des als „Schande“. Tötete eine unverheiratete Frau daher nach der Geburt ihr Kind wurde (bis zum Jahr 1998) eine Ausnahmesituation unterstellt, die zu einer besonderen Privilegierung führte: ehemaliger § 217 StGB. Kindestötung. (1) Eine Mutter, welche ihr nichteheliches Kind in oder gleich nach der Geburt tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. (2)  In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

Diese Sonderregelung wurde gestrichen, da eine soziale Stigmatisierung unehelich gebärender Mütter nicht mehr unterstellt werden kann. Es gab (und gibt) aber auch Stimmen, die eine Ausdehnung der Sonderregelung auf verheiratete Mütter bevorzugt hätten.1 Nachteilig für epidemiologische und kriminologische Untersuchungen ist in jedem Fall, dass aufgrund der Strei­ chung der Vorschrift keine gesonderte Ausweisung in der Polizeilichen Kriminalstatistik mehr erfolgt und somit gar keine Anhaltspunkte für die Anzahl entsprechender Tötungen mehr existieren, da in der Polizeilichen Kriminalstatistik alle Opfer von Gewalttaten in der Altersgruppe 0 bis 6 Jahre zusammengefasst werden. 1. Offene Fragen

– Die Motivation für die Neugeborenentötungen bleibt oft unklar. Vor al­ lem die in den letzten Jahren immer wieder publik gewordenen Serientö­ tungen an Neugeborenen durch Mütter, die daneben lebende Kinder ha­ ben, erstaunen. – Eine signifikante Senkung der Anzahl von Neugeborenentötungen durch das Vorhalten von Babyklappen oder die Möglichkeit der anonymen Ge­ burten konnte bislang nicht nachgewiesen werden. – Die Rolle der Männer / Väter ist ebenfalls ungeklärt. Die Verdrängung bzw. Leugnung der Schwangerschaft erfolgt offenbar nicht nur auf Seiten der Frau. In zahlreichen Fällen lebten die Mütter auch mit den Eltern in einem Haushalt, die gleichfalls von der Schwangerschaft nichts mitbe­ kommen haben wollen. – Eine physiologische Besonderheit scheint zu sein, dass bei einer Schwan­ gerschaftsverdrängung tatsächlich die Merkmale einer Schwangerschaft geringer ausgeprägt zu sein scheinen und auch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen offenbar nicht auftreten. In einem von uns mitbe­ 1  Lammel

(2008), S. 79.



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arbeiteten Fall hatte sogar der Hausarzt der Familie noch einen Tag vor der Geburt und anschließenden Tötung des Kindes die junge Frau wegen Leibschmerzen zu Hause untersucht – und war als Verdachtsdiagnose von einer Magen-Darm-Grippe ausgegangen (das Verfahren gegen den Arzt war später nach § 170 II StPO eingestellt worden). Anders erscheinen die zahlreichen Fälle, in denen die Mütter allein an den unterschiedlichsten Orten entbinden und sich unerkannt entfernen können, nicht erklärbar. 2. Leichenverbringung

Da eine Neugeborenenleiche deutlich leichter zu verstecken und auch zu verbringen ist, ist die Rate an fäulnisveränderten Körpern hoch.2 Dies er­ schwert die sichere Feststellung einer Todesursache bzw. kann sie unmög­ lich machen. Darüber hinaus ist die Täterfeststellung bei einer Verbringung an einen anderen Ort deutlich erschwert. Die vergleichsweise einfach zu organisierende und zu bewerkstellende Beseitigung der Neugeborenenleiche trägt zu einem vermutlich hohen Dunkelfeld bei. 3. Lebensproben

Zur Beantwortung der Frage nach dem Gelebthaben des Kindes während bzw. nach der Geburt wird seit jeher die so genannte Lungenschwimmprobe herangezogen. Zu ihrer Geschichte sei auf die Literatur verwiesen. Hierbei wird unter der Obduktion das so genannte Hals-Lungen-Organpaket aus dem Körper entnommen und in ein Gefäß mit klarem Wasser gegeben. Schwimmt das Organpaket an der Wasseroberfläche, so spricht dies für be­ lüftete Lungen und somit ein Gelebthaben. Unterstützt wird die Lungen­ schwimmprobe heutzutage durch begleitende bildgebende Verfahren (Rönt­ gen, CT). Während in den angloamerikanischen Ländern dieser Untersu­ chung keine Bedeutung zugeschrieben wird, wird sie in Deutschland, Öster­ reich und der Schweiz regelmäßig angewandt und gilt als Standard.3 Sie ist dann sicher, wenn man die Beschränkungen bei fäulnisveränderten Leichen und nach Beatmung eines Kindes beachtet. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Magen-Darm-Schwimmprobe, bei der analog verfahren wird. 4. Reifezeichen

Die Reifezeichen gelten ebenso unverändert. Die erheblichen Fortschritte der intensivmedizinischen Betreuung Neugeborener, die immer kleineren 2  In

unserer Studie – Schulte et al. (2013), S. 622 – bei ca. 33 %. Ostendorf (2013), S. 447.

3  Große

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Sibylle Banaschak und Markus A. Rothschild

und unreifer geborenen Kindern zu einem normalen Leben verhelfen kann, dürfen hierbei keine Berücksichtigung finden. Abzustellen ist auf ein Kind, das auch ohne intensivmedizinische Hilfe überlebt hätte. Zu den Reifezei­ chen zählen neben der Größe und dem Gewicht zahlreiche andere bei der Obduktion zu erhebende Befunde (siehe folgende Tabelle): Körpergröße ≥ 48 cm Körpergewicht ≥ 2500 g Kopfumfang ca. 34–35 cm Nabelschnurlänge ca. 50 cm Plazentagewicht ca. 500 g Fingernägel überragen die Fingerkuppen, Zehennagel­ränder überragen die Zehenkuppen Lanugohaare nur noch an den Schultern Deszensus der Hoden, Überdecken der kleinen durch die großen Schamlippen Schulterbreite ≥ 12,5 cm Hüftbreite ≥ 9,5 cm Fersenbeinknochenkern ≥ 9,5 mm so genannter Beclard’scher Knochenkern (distale Femurepiphyse) ≥ 5 mm Durchmesser Quelle: Madea / Dettmeyer, 2007.

5. Todesursachen

Neugeborene sind (wie auch Säuglinge) besonders vulnerabel, da sie sich einem Angriff nicht widersetzen können und in besonderer Weise wehrlos sind. Bei den Neugeborenen kommt hinzu, dass die Anpassung an ein Le­ ben außerhalb des Mutterleibes gelingen muss und sich wichtige Regulati­ onsmechanismen bei den vergleichsweise unreif geborenen Menschenkin­ dern (im Gegensatz zur Tierwelt) erst noch entwickeln müssen. Hierzu zählt insbesondere die Temperaturregulation. Daher kann ein neugeborenes Kind bereits durch reines „Liegenlassen“ an einer Unterkühlung versterben. Von den Müttern wird in diesem Zusammenhang gelegentlich eine „Ohnmacht“ unter der Geburt als Grund für die Mangelversorgung des Kindes angege­ ben. Tatsächlich sind Bewusstseinsverluste unter der Geburt eine Rarität.



Neonatizid – eine rechtsmedizinische Herausforderung33

Mechanische äußere Gewalteinwirkungen spielen bei der Tötung Neuge­ borener weniger eine Rolle. In einer eigenen Studie mit einer Auswertung von 150 Neugeborenentötungen4 lag bei 76 toten Neugeborenen mit einer definierten Todesursache bei 41 eine Form von äußerem Ersticken vor (54 %), nur 8 (10 %) starben an Schädelverletzungen. Differentialdiagnostisch muss bei der Obduktion ein breites Spektrum von intrauterinen Todesursachen und ein ebenso breites Spektrum möglicher Geburtsverletzungen (einschließlich behaupteter todesursächlicher Nabel­ schnurumschlingungen) beurteilt werden. Dabei gehört zu einer vollständi­ gen Falluntersuchung, dass alle erforderlichen Untersuchungen auch durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden. Dies ist – wie sich in unserer Studie gezeigt hat – durchaus nicht immer der Fall. Chemisch-toxikologische Untersuchungen wurden nur in 52 % der Fälle angeordnet, feingewebliche Untersuchungen nur in 38 % der Fälle. Wenn die Plazenta vorhanden war, so fanden sich Ergebnisse zu feingeweblichen Untersuchungen dieses Or­ gans nur in 64 % der Fälle. Da eine Erkrankung der Plazenta einen intraute­ rinen Tod oder einen Tod unter der Geburt erklären kann, bedeutet die Unterlassung der Untersuchung aus rechtsmedizinischer Sicht eine deutliche Einschränkung in der Interpretation der anderen Untersuchungsergebnisse. 6. Weitere Zusatzuntersuchungen

Bei einer Leichenverbringung ist zur Identifikation der Verwandtschaft eine DNA-Analyse erforderlich. Diese ist auch an fäulnisveränderten Proben möglich.5 Es kann sowohl die Mutterschaft wie auch die Vaterschaft be­ stimmt werden. Auch über Verwandtschaftsbeziehungen sind bei entspre­ chenden Konstellationen Aussagen möglich. Dies spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn die Mutter angibt, dass das Kind Resultat einer Vergewal­ tigung und / oder eines Inzestes gewesen sein soll. Chemisch-toxikologische Untersuchungen können an einer mütterlichen Blutprobe notwendig werden, wenn es um die Frage einer Substanzbeeinflus­ sung zum Zeitpunkt der Geburt geht. Dies ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn eine zeitnahe Probenentnahme möglich ist. Bei einem angegebenen chronischen Konsum sind zwei Untersuchungsmöglichkeiten gegeben: Zum einen kann eine Haarprobe der Mutter untersucht werden (eine entsprechen­ de Haarlänge vorausgesetzt), zum anderen kann das so genannte Kindspech untersucht werden.6 Diese Untersuchung ermöglicht allerdings nur eine rein 4  Schulte

et al. (2013), S. 623. et al. (2011), S. 891. 6  Cotten (2012), S. 449 ff. 5  Schwark

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Sibylle Banaschak und Markus A. Rothschild

quantitative Aussage (eine Substanz wurde nachgewiesen und muss dem­ nach von der Mutter im letzten Schwangerschaftsdrittel konsumiert worden sein). Eine weitergehende Aussage bezüglich der Einnahmemengen ist nicht möglich. 7. Neuere Untersuchungsmethoden

Die Röntgenuntersuchung von Kindern vor der Obduktion bietet die Möglichkeit Knochenbrüche zu diagnostizieren, zu dokumentieren und die Präparation auf die tatsächlich notwendigen Stellen zu begrenzen. Bei Neu­ geborenen ist mit dieser Methode darüber hinaus Luft in den Lungen bzw. im Magen-Darm-Trakt nachzuweisen bzw. auszuschließen (s. o.). Dieses Instrument wurde in unserer Studie, die Fälle bis 2007 erfasst hat, nicht sehr oft genutzt (Lungenbefunde in 14 % der Fälle, Magen-Darm-Trakt-Befunde in 11 % der Fälle). In den letzten Jahren hat sich neben den konventionellen Röntgenuntersuchungen die CT-Untersuchung von Leichen vor der Obduk­ tion zur ergänzenden Untersuchung und Dokumentation in einigen Instituten für Rechtsmedizin etabliert. Diese Methode ist durch die Röntgenschicht­ aufnahmen mit hohen Auflösungen und einer optionalen 3-dimensionalen Rekonstruktion gerade für die Untersuchung eines Luft- bzw. Gasgehaltes in Geweben sehr gut geeignet. Dies gilt auch für Fälle einer vermuteten Neugeborenentötung.7 8. Prävention

Die Vermeidung von Neugeborenentötungen hat einen hohen ethischen Stellenwert. Soweit sich die öffentliche Meinung darin einig ist, so umstritten sind die Instrumente, mit denen eine Reduktion der Fallzahlen erreicht wer­ den soll. Die Befürworter von Babyklappen und anonymen Geburten nehmen für beide Angebote in Anspruch, dass diese Tötungen verhindern. Dies ist keinesfalls belegt und rechtsmedizinische Untersucher haben sich den kriti­ schen Meinungen bereits früh angeschlossen.8 Die Gegner dieser derzeit völ­ lig unkontrolliert arbeitenden Strukturen vermuten hingegen, dass hier ein Bedarf durch die Angebote geschaffen wird und die Neugeborenentötungen dadurch nicht zurückgehen. Bislang wurde keine abschließende Regelung er­ lassen. In Vorbereitung ist ein Gesetzentwurf zu einer so genannten Vertraulichen Geburt, wobei die Babyklappen wohl nicht verboten werden sollen. Weiterhin bestünde ein deutlicher Bedarf an soziologisch-kriminologischer Forschung, um sich über die tatsächlichen Tätermotivationen und deren 7  Michiue

et al. (2013), S. 74 ff.; Guddat et al. (2013), S. 3 ff. et al. (2002), S. 385 ff.

8  Balmaceda-Harmelink



Neonatizid – eine rechtsmedizinische Herausforderung35

soziodemographische Daten zu versichern. Dies ist als Grundlage valider präventiver Ansätze unverzichtbar. 9. Rechtsmedizinische Forschungsansätze

Neben der Anwendung neuer Untersuchungsverfahren (wie z. B. CT-Un­ tersuchungen – s. o.) besteht weiterer Forschungsbedarf im Hinblick auf die Verlässlichkeit der angewendeten Methoden zur Lebensprüfung. Bezüglich der Lungenschwimmprobe konnten wir gemeinsam mit einer Kinderpatho­ logischen Abteilung eine Studie vorlegen.9 Die grundsätzliche Problematik besteht – wie so oft in der rechtsmedizinischen Forschung – darin, dass die zu untersuchenden Fälle nicht experimentell (auch nicht in Zellkulturen) nachgestellt werden können. Der Rückgriff auf die „echten“ Fälle ist häufig ebenfalls nicht möglich, da die dabei zu beantwortenden Fragen ja gerade untersucht werden sollen. Dies gilt auch für die Auswertung von Täteraus­ sagen. Werden Gerichtsurteile als Grundlage genommen, entstehen leicht Zirkelschlüsse: die Urteile beruhen auf Sachverständigenaussagen, die Din­ ge beinhalten, die gerade untersucht werden sollen. So verbleibt die Einbe­ ziehung klinischer Kollektive, die natürlich Einschränkungen unterworfen ist, in der forensischen Forschung unvermeidlich, auch wenn die Übertra­ gung auf die forensischen Zwecke Einschränkungen unterliegt. Die Über­ prüfung z. B. der Häufigkeit bestimmter Befunde in einem klinischen Kol­ lektiv kann – wenn auch im Einzelfall immer kritisch abzuwägen – deutliche Hinweise auf die zulässige Interpretation geben: Beispielhaft sei genannt die Häufigkeit von Punktblutungen (Petechien) im Gesicht von Neugeborenen und die Ausprägung einer Geburtsgeschwulst.10 Für die rechtsmedizinische Fallbearbeitung ist darüber hinaus auch immer der Rückgriff auf Fallaus­ wertungen11 oder Einzelfalldarstellungen (den so genannten Kasuistiken) aufschlussreich. Gerade Kasuistiken, die in der klinischen Forschung fast schon verpönt sind,12 zeigen in der Rechtsmedizin die Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen und der daraus resultierenden Befundkonstellationen auf und reichen damit in Fächer außerhalb der (Rechts)Medizin hinein.13

9  Große

Ostendorf et al. (2013), S: 447 ff. et al. (2012), S. 385 ff. 11  Wie z. B. von Schulte et al. (2013), S.  621 ff. 12  Madea et al. (2005), S. 10 ff. 13  Z. B. Gahr / Banaschak (2012), S. 115 ff. 10  Wisser

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Sibylle Banaschak und Markus A. Rothschild

Literatur Balmaceda-Harmelink, Ute / Lach, Holger / Püschel, Klaus: Forensische Pädopatho­ logie – Babyklappen: Häufigkeitsveränderung von Kindstötung und -aussetzung mit Todesfolge in Hamburg?, in: päd, 8(6), 2002, S. 385–395. Cotton, Steven W.: Drug testing in the neonate, in: Clin Lab Med, 32(3), 2012, S. 449–66. Gahr, Britta / Banaschak, Sibylle: Bilder für die Ewigkeit. Post-mortem-Fotografie durch Mütter nach Neonatizid und Totgeburt, in: Rechtsmedizin, 22, 2012, S. 115–120. Große Ostendorf, Anna-Lena / Rothschild, Markus A. / Müller, Anette M. / Banaschak, Sibylle: Is the lung floating test a valuable tool or obsolete? A prospective autop­ sy study, in: Int J Legal Med, 127(2), 2013, S. 447–451. Guddat, Saskia S. / Gapert, Rene / Tsokos, Michael / Oesterhelweg, Lars: Proof of live birth using postmortem multislice computed tomography (pmMSCT) in cases of suspected neonaticide: advantages of diagnostic imaging compared to conventio­ nal autopsy, in: Forensic Sci Med Pathol, 9(1), 2013, S. 3–12. Lammel, Matthias: Über die forensisch-psychiatrische Beurteilung der Kindstötung nach der Geburt bei abgewehrter Schwangerschaft unter besonderer Berücksich­ tigung des Verhältnisses von Privilegierungs- und Dekulpierungsgründen, in: F. Häßler, R. Schepker, D. Schläfke (Hrsg.), Kindstod und Kindstötung, Medizi­ nisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, 2008, S. 79. Madea, Burkhard / Dettmeyer, Reinhard: Kindestötungen, in: Madea B (Hrsg.) Praxis Rechtsmedizin, 2. Aufl., Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2007, S. 200–204. Madea, Burkhard / Dettmeyer, Reinhard / Mußhoff, Frank: Aufgaben rechtsmedizini­ scher Forschung, in: Rechtsmedizin, 15 (1), 2005, S. 10–17. Michiue, Tomomi / Ishikawa, Takaki / Kawamoto, Osamu / Sogawa, Nozomi / Oritani Shigeki / Maeda, Hitoshi: Postmortem CT investigation of air / gas distribution in the lungs and gastrointestinal tracts of newborn infants: a serial case study with regard to still- and live birth, in: Forensic Sci Int, 226(1–3), 2013, S. 74–80. Schulte, Babette / Rothschild, Markus A. / Vennemann, Mechtild / Banaschak, Sibylle: Examination of (suspected) neonaticides in Germany: a critical report on a com­ parative study, in: Int J Legal Med, 127(3), 2013, S. 621–625. Schwark, Torsten / Heinrich, Anke / von Wurmb-Schwark, Nicole: Genetic identifica­ tion of highly putrefied bodies using DNA from soft tissues, in: Int J Legal Med, 125(6), 2011, S. 891–894. Wisser, Matthias / Rothschild, Markus A. / Schmolling, Jan C.  /  Banaschak, Sibylle: Caput succedaneum and facial petechiae – birth-associated injuries in healthy newborns under forensic aspects, in: Int J Legal Med, 126, 2012, S. 385–390.

Was wirkt bei der Behandlung von (Sexual-)Straftätern? Rudolf Egg I. Einleitung: Von der „Behandlungseuphorie“ zur Nothing-Works-These Die Geschichte des (modernen) Strafvollzuges lässt sich als eine Folge unterschiedlicher Besserungsideen oder Behandlungskonzepte beschreiben, wobei die jeweiligen Reformversuche stets auch als Ausdruck der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse sowie des sog. „Zeitgeistes“ und der damit verbundenen kriminalpolitischen „Groß­ wetterlage“ zu begreifen sind.1 Dabei bedeutet Reform nicht immer automa­ tisch auch Fortschritt im Sinne einer Verbesserung der tatsächlichen Lage der Strafgefangenen oder eine bessere Erreichung der Ziele des Strafvollzu­ ges, namentlich der Prävention von Rückfalldelikten. Dies gilt auch für das durch die Strafvollzugsreform der 1960er und 70er Jahre beförderte Konzept der Resozialisierung von Straftätern mithilfe ver­ schiedener Maßnahmen von Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie, Päd­ agogik und Sozialpädagogik. Auch wenn die Etikettierung der frühen Phase dieser Reformbemühungen als „Behandlungseuphorie“ überzogen erscheint, ist ein starker Behandlungsoptimismus unverkennbar2. Dabei konnte sich dieser Optimismus im Grunde lediglich auf vereinzelte Behandlungsansätze von engagierten Psychiatern und Therapeuten aus dem In- und Ausland stützen.3 Von einer empirisch gestützten, umfangreichen Behandlungsfor­ schung konnte damals jedoch noch keine Rede sein. Eine Art Gegenreform unter dem Slogan „Nothing works“ ließ darum nicht lange auf sich warten. Dabei bezog sich Martinson (1974), der Prota­ gonist dieser „Abkehr von der Behandlungsideologie“4, zwar auf eine um­ fangreiche Sekundäranalyse empirischer Studien zur Straftäterbehandlung5, 1  Walter

(1999), Rdnr. 5–18. etwa im AE StVollzG von Baumann et al. (1973). 3  Z. B. Mauch (1964); Roosenburg (1969); Stürup (1968). 4  Dünkel (1980), S. 72 f. 5  Lipton et al. (1975). 2  So

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Rudolf Egg

die dabei erfassten 231 Arbeiten waren jedoch aus mindestens zwei Gründen nicht geeignet, ein so weitreichendes negatives Urteil über die Wirksamkeit von Maßnahmen der Straftäterbehandlung zu rechtfertigen: Einerseits wurden darin lediglich Studien berücksichtigt, die zwischen 1945 und 1967 erstellt wurden, sie betrafen also überwiegend Ansätze, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Sekundäranalyse Mitte der 1970er schon nicht mehr als aktuell, teilweise sogar als veraltet anzusehen waren. Andererseits entdeckten die Autoren vielfältige methodisch-statistische Mängel der ausgewerteten Evaluationsstudien, so dass über die Effektivität einzelner Maßnahmen letztlich kaum etwas Verbindliches festgestellt wer­ den konnte. Im Grunde war die Sekundäranalyse von Lipton et al. eher eine Aufforderung zu theoretisch und methodisch solider fundierten Be­ handlungskonzepten sowie zu qualitativ besseren Forschungsarbeiten als eine pauschale Absage an die Behandlung von Straftätern.6 Die gleichwohl lang anhaltende Popularität der „Nothing works“-These lässt sich im Rückblick am ehesten dadurch erklären, dass sie offensicht­ lich geeignet war, zwei an sich konträren kriminalpolitischen Strömungen als wohlfeiles Argument gegen die jeweils schon von Anfang an ablehnend betrachteten Versuche zu dienen, auf Straftäter therapeutisch einzuwirken: den Vertretern konservativ-straforientierter Standpunkte, die vor allem auf Abschreckung und Vergeltung setzten, sowie den Befürwortern sozialkriti­ scher Ansätze, die in Kriminalität nicht den Ausdruck individueller Defizi­ te und Störungen, sondern primär das Ergebnis sozialer Probleme sehen wollten.7 II. Weiterentwicklung der Straftäterbehandlung ab den 1980er Jahren Die praktischen Bemühungen um effektive Maßnahmen der Straftäterbe­ handlung kamen jedoch trotz dieser verschiedenen Gegenströmungen nicht zum Stillstand, sondern wurden in den 1980er und 90er Jahren systematisch weiterentwickelt. Dies gilt in Deutschland namentlich für die sozialthera­ peutischen Anstalten und Abteilungen des Justizvollzuges, die von den Ini­ tiatoren, den sog. Alternativ-Professoren um Baumann (1979) stets als „Kernstück der Strafrechtsreform“ angesehen wurden und die sich von Anfang an als integratives Konzept und nicht bloß als modisches Anhängsel i. S. einer „Psychotherapie im Strafvollzug“ verstanden.8 auch Egg (1977). zum Ganzen Egg (1984), S. 49–65. 8  Driebold et al. (1984); Egg (1984). 6  Siehe 7  Vgl.



Was wirkt bei der Behandlung von (Sexual-)Straftätern? 39

Der Begriff „Integrative Sozialtherapie“9 kennzeichnet dabei ein komple­ xes Vorgehen mit drei zentralen Komponenten:10 (1) die Berücksichtigung und Einbeziehung des gesamten Lebensumfeldes innerhalb und außerhalb der sozialtherapeutischen Einrichtung bis zur Entlassung, (2) die Gestaltung der Handlungsmöglichkeiten und Beziehungsformen in­ nerhalb der sozialtherapeutischen Einrichtungen im Sinne einer thera­ peutischen Gemeinschaft und (3) die Modifizierung und Verknüpfung psychotherapeutischer, pädagogi­ scher und arbeitstherapeutischer Vorgehensweisen. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes und der damit verbundenen therapeuti­ schen Methoden und sozialen Hilfen wurde durch zahlreiche Effizienzstudien und darauf aufbauende Meta-Analysen grundsätzlich bestätigt.11 Die dabei feststellbaren Effekte erwiesen sich freilich als meist nicht sehr hoch12, zu­ dem waren nicht alle Behandlungsarten gleich wirksam. Manche führten nämlich zu deutlich über dem Durchschnitt liegenden Effekten, andere – un­ angemessene Behandlungen – hatten sogar negative Effekte, z. B. höhere Rückfallraten, zur Folge.13 Wie ist dies zu erklären? Andrews et al. (1990) formulierten aufgrund ihrer Meta-Analyse über die Effekte von Straftäterbehandlung drei zentrale Bereiche, bei deren Beach­ tung sich größere Effektstärken erzielen lassen.14 Dieses als RNR-Modell oder auch als Risikomanagement-Ansatz bezeichnete Grundmodell der Straftäterbehandlung umfasst folgende Punkte: (1) Das Risiko-Prinzip (Risk Principle): Dieses Prinzip meint eine ange­ messene Dosierung der Behandlungsintensität entsprechend dem jewei­ ligen Risikograd der zu behandelnden Zielgruppe, d. h. Täter mit hohem Rückfallrisiko benötigen eine intensivere Therapie. (2) Das Bedürfnisprinzip (Need Principle): Erforderlich sind nach diesem Prinzip theoretisch fundierte Behandlungskonzepte, die sich gezielt der Veränderung kriminogener Risikofaktoren widmen. Dies setzt freilich 9  Baulitz

et al. (1980). (2001). 11  Z. B. Egg et al. (2001); Lösel (1994); Lösel et al. (1987). 12  So stellten schon Lösel et al. (1987, S. 263) einen lediglich moderaten Haupt­ effekt der Sozialtherapie fest, der „bei den Probanden aus sozialtherapeutischen Anstalten im Durchschnitt um 8–14 % häufiger positive Veränderungen (z. B. kein Rückfall)“ erwarten lässt als bei den Probanden des Normalvollzuges (a. a. O.). 13  Vgl. Andrews / Bonta (2010); Dahle / Steller (2000). 14  Vgl. auch Bonta / Andrews (2007); Lösel (1999). 10  Wischka / Specht

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eine gründliche Analyse der für die jeweiligen Bezugsdelikte relevanten Entstehungszusammenhänge voraus. (3) Das Ansprechbarkeitsprinzip (Responsitivity Principle): Mit diesem Prinzip verbindet sich die Forderung, dass Behandlungsprogramme für Straftäter den jeweils spezifischen Erfahrungen, Lernweisen und Fähig­ keiten der Probanden angepasst werden müssen. Wenngleich dieses Modell nicht völlig unumstritten ist15, so bietet es doch mehrere Vorteile. Zum einen sind die drei Prinzipien empirisch gut belegt und auch relativ leicht in der klinischen Praxis umsetzbar. Anderer­ seits werden damit auch vereinfachte Vergleichsmöglichkeiten für eine weitere Entwicklung und Optimierung bestehender Behandlungsprogramme angeboten.16 Nachfolgend soll auf Behandlungsmethoden für die in jüngster Zeit ge­ sellschafts- und kriminalpolitisch besonders intensiv betrachtete Gruppe der Sexualstraftäter näher eingegangen werden. III. Methoden der Sexualstraftäterbehandlung Bei den spezifischen Methoden zur Behandlung von Sexualstraftätern lassen sich zunächst zwei große Gruppen unterscheiden: (1) somatische und (2) psychotherapeutische Verfahren. 1. Somatische Verfahren

Zu den somatischen Interventionen zählen chirurgische Methoden und medikamentöse Behandlungen. Während die vor allem in den 1970er Jahren erprobten stereotaktischen Gehirnoperationen heute aus ethischen und prak­ tischen Bedenken (Nebenwirkungen) gar nicht mehr angewandt werden, sind Kastrationen auf freiwilliger Basis bei Sexualstraftätern zwar noch zulässig, werden aber zunehmend skeptisch betrachtet.17 So äußerte das vom Europarat eingerichtete „Komitee zur Verhütung von Folter und un­ menschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ (CPT) in seinem Bericht an die deutsche Regierung vom 19. Juli 201118 gegen die in Deutschland bestehende Möglichkeit der chirurgischen Kastration als Mittel der Behandlung von Sexualstraftätern grundsätzliche Bedenken; dies sei ein „verstümmelnder, irreversibler Eingriff“, der „leicht als erniedrigende Be­ Göbbels / Zimmermann (2013). auch Kröger et al. (2012). 17  Pfäfflin (2009), S. 354 f. 18  Download: www.cpt.coe.int / documents / deu / 2012-06-inf-deu.pdf. 15  Vgl.

16  Siehe



Was wirkt bei der Behandlung von (Sexual-)Straftätern? 41

handlung eingestuft werden“ könne. Das CPT empfahl daher die Einstellung dieser Praxis und die Änderung der entsprechenden Rechtsvorschriften. Bei der medikamentösen Behandlung von Sexualstraftätern geht es um die Vergabe von Mitteln, die eine Einschränkung der sexuellen Appetenz und des sexuellen Verhaltens bewirken. Dies kann bei solchen Tätern erwo­ gen werden, bei denen eine mangelnde Kontrolle ihrer sexuellen Impulse oder ein gesteigertes sexuelles Verlangen (Hypersexualität) maßgeblich für die Tatbegehung sind. Im Gegensatz zur chirurgischen Kastration ist bei dieser Behandlungsart (auch chemische oder hormonelle Kastration genannt) die Wirkung reversibel, allerdings ebenfalls von zum Teil starken Nebenwir­ kungen begleitet. Die dabei am häufigsten angewandten Medikamente sind Antiandrogene, z. B. Cyproteronacetat (Androcur ®), die das männliche Geschlechtshormon Testosteron von seinen Rezeptoren in den Organen verdrängen und so den Verlust von Libido und Potenz für den Zeitraum der Verabreichung bewir­ ken.19 Allerdings sollte eine derartige Behandlung nicht ohne begleitende Psychotherapie erfolgen, da die Gefahr einer Scheinlösung sowie einer Chronifizierung der Störung besteht. Neben der Behandlung mit Antiandrogenen gibt es noch weitere medika­ mentöse Therapien, z. B. mit Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hem­ mern (SSRIs), die ebenfalls zu einer Abnahme sexuell devianter Symptome (Fantasietätigkeit, Masturbation etc.) und zu einer besseren Impulskontrolle führen. Sie haben offenbar weniger Nebenwirkungen und können besonders bei weniger gefährlichen Straftätern bzw. leichteren Paraphilien (z. B. Exhi­ bitionismus) indiziert sein. Inwieweit diese Medikamente auch die Rückfäl­ ligkeit von Sexualstraftätern reduzieren, ist allerdings noch nicht ausreichend untersucht.20 2. Psychotherapeutische Methoden

Der Schwerpunkt der psychotherapeutischen Behandlung von Sexualstraf­ tätern lag lange Zeit bei psychoanalytisch orientierten Methoden, primär in Form von Einzeltherapien. Dabei ging es um die Aufdeckung und Bearbei­ tung der Entstehungszusammenhänge devianter Neigungen und Fantasien, etwa als Folge frühkindlicher Erfahrungen und Fixierungen. Derartige Ver­ fahren sind jedoch sehr aufwändig und zeigen nur begrenzte Effekte.21 Als Methode der Wahl gelten heute, namentlich bei Therapien im Straf- und 19  Pfäfflin

(2009), S. 353 f. Briken et al. (2007). 21  Schmucker (2004). 20  Vgl.

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Maßregelvollzug, verhaltensorientierte (übende) Verfahren, die zumeist in Gruppenform auf der Grundlage manualisierter Konzepte angeboten wer­ den. Mithilfe solcher kognitiv-behavioraler Behandlungsprogramme, die seit über zehn Jahren zunehmend die internationale Behandlungsszene bestim­ men22, lassen sich in vergleichsweise kurzer Zeit positive Effekte erzielen, vor allem dann, wenn diese Verfahren innerhalb eines integrativen Gesamt­ konzeptes angeboten werden. In der kognitiv-behavioralen Sexualstraftäterbehandlung wird grundsätz­ lich zwischen (1) tatspezifischen und (2) tatverwandten, unspezifischen Behandlungsinhalten unterschieden.23 Dies bedeutet nicht, dass der eine Bereich generell wichtiger ist als der andere, jedoch müssen die tatspezifi­ schen Inhalte im Gegensatz zu den unspezifischen Inhalten bei allen Sexu­ alstraftätern Gegenstand der Behandlung sein. Als tatspezifische Themen gelten z. B. kognitive Verzerrungen, deviante Phantasien und mangelnde Opferempathie. Beispiele für unspezifische Behandlungsinhalte sind u. a. Selbstwertprobleme, Störungen der Impulskontrolle, Alkoholmissbrauch, soziale Ängste oder mangelnde soziale Kompetenz. Das von einer Arbeitsgruppe im niedersächsischen Strafvollzug entwi­ ckelte kognitiv-behaviorale Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter (BPS) berücksichtigt diese Unterscheidung.24 Es handelt sich um eine Grup­ penmaßnahme (bis zu zehn Teilnehmer) mit einem deliktunspezifischen (U) und einem deliktspezifischen Teil (S). Für die insgesamt 80 Sitzungen (je 1 ½ Stunden) liegen strukturierte Handanweisungen nach folgendem Schema vor: Ziele der Programmeinheit, theoretischer Hintergrund, Durchführung (Hilfsmittel, Ablauf, Vorgabe), benötigte Materialien, Instruktionen, Hinwei­ se für die Gruppenleitung. Bei den verschiedenen Programmeinheiten von Teil U geht es um Ge­ sprächsverhalten, Selbst- und Fremdwahrnehmung, das Geben und Empfan­ gen von Rückmeldungen, Wahrnehmung von Gefühlen, Kontakttraining, Em­ pathie und moralisches Handeln, Geschlechtsrollen und Erfahrungen in Be­ ziehungen sowie Stressmanagement. Im spezifischen Teil S wird zunächst auf die persönliche Biografie der Täter als Basis für das Verständnis der Ta­ ten eingegangen. Weitere Einheiten betreffen kognitive Verzerrungen, Stufen der Begehung von Sexualstraftaten, scheinbar belanglose Entscheidungen, Risikosituationen und das Problem der unmittelbaren Befriedigung. Diese bilden die Basis für das sog. Deliktszenario. Hier erörtert jeder Teilnehmer in der Gruppe den Ablauf seiner früheren Straftat(en) einschließlich der entspre­ 22  Marshall

et al. (1998). (1996). 24  Rehder / Wischka / Foppe (2012). 23  Marshall



Was wirkt bei der Behandlung von (Sexual-)Straftätern? 43

chenden Gedanken und Gefühle und erarbeitet persönliche Strategien zur Rückfallprävention. Weitere Einheiten sind der Kontrolle sexueller Fantasien und der Opfer-Empathie gewidmet. Dabei werden die Teilnehmer veranlasst, ihre Taten aus der Perspektive ihrer Opfer zu sehen und sie werden über die kurz- und langfristigen Folgen von Sexualdelikten informiert. Einen ähnlichen Ansatz wie das BPS verfolgt das in England und Wales entwickelte, aber inzwischen auch in Deutschland angewandte Sex Offender Treatment Programme (SOTP). Auch hier sind Deliktbearbeitung, Entwick­ lung von Opferempathie sowie Rückfallvermeidung zentrale Inhalte des Programms, die wichtigsten therapeutischen Techniken bilden kognitive Umstrukturierung, Modelling und positive Verstärkung. Mithilfe einer sog. „Sokratischen Fragetechnik“ sollen die Probanden in wenig konfrontieren­ der Weise zur aktiven Mitarbeit angeregt werden.25 Bei der Konzeption des SOTP ging man davon aus, dass das Programm auf einem klaren, empirisch-wissenschaftlichen Veränderungskonzept beru­ hen muss, ferner sollte es auf empirisch fundierte kriminogene Faktoren ausgerichtet sein. Zudem sollten die Behandlungsmethoden auf die Fähig­ keiten der Täter zugeschnitten sein und dabei eine Kombination verschiede­ ner Elemente (Verhaltenstherapie, Pädagogik usw.) umfassen. Nach der Entlassung sollte das stationär begonnene Behandlungsprogramm durch ambulante Maßnahmen nochmals verstärkt werden. Systematische Beglei­ tung, Evaluation und Weiterentwicklung waren von Beginn an feste Be­ standteile des Programms. Der Behandlung ist eine spezielle Eingangsdiag­ nostik und Beurteilung vorgeschaltet, so dass Sexualstraftäter, die aus per­ sönlichen (z. B. hoher PCL-Score) oder medizinischen (z. B. psychotische Erkrankung) Gründen ungeeignet sind, ausgeschlossen werden können. Neben dem Kernprogramm der Behandlung gibt es auch ein Ergänzungsprogramm für stärker gestörte Täter, die eine Weiterbehandlung benötigen. Dabei geht es u. a. um das Identifizieren und Verändern dysfunktionaler Denkmuster, den sensiblen Umgang mit Emotionen und nahen Bezugsper­ sonen sowie um die Beeinflussung devianter Phantasien und der sexuellen Ansprechbarkeit. Schließlich gibt es ein „Booster-Programm“ für Gefange­ ne, die das Kernprogramm zu einem früheren Zeitpunkt absolviert haben und kurz vor der Entlassung stehen. Darin werden die Konzepte des Kern­ programms aufgefrischt und verstärkt. Gemeinsame Merkmale kognitiv-behavioraler Programme für Sexualstraf­ täter sind vor allem Deliktrekonstruktion zur Erarbeitung der für die Tatent­ stehung relevanten Faktoren, Betonung der Opferempathie und der Perspek­ tive des Opfers sowie Maßnahmen der Rückfallprophylaxe (relapse preven­ 25  Fuchs / Mann

(2012).

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tion) im Anschluss an die Deliktrekonstruktion. Dies betrifft die Identifizie­ rung von Vorstufen eventueller Rückfälle (deviante Phantasien, Aufsuchen von Kinderspielplätzen, Konsumieren von Pornographie etc.) sowie die Entwicklung angemessener Problemlösestrategien und ein adäquates Ärgerund Stressmanagement. 3. Wirksamkeit der Sexualstraftäterbehandlung

Zur Beurteilung der Wirksamkeit der Behandlung von Sexualstraftätern mithilfe psychotherapeutischer Verfahren wurde seit Mitte der 1980er Jahre eine große Zahl an Evaluationsstudien veröffentlicht. Viele davon wurden im Rahmen von Meta-Analysen zusammenfassend bewertet.26 Daraus ergibt sich, dass qualifizierte, empirisch fundierte Behandlungsansätze die Rück­ fallrate von Sexualstraftätern nachhaltig reduzieren können. Allerdings gilt dabei die Einschränkung, dass die jeweilige Behandlung in individualisier­ ter, gewissermaßen maßgeschneiderter Form auf die jeweiligen Risiken, Bedürfnisse und Möglichkeiten abgestimmt werden muss (vgl. oben ge­ nanntes RNR-Prinzip). Zum Abschluss soll durch ein konkretes Fallbeispiel erläutert werden, wie durch eine mangelhafte Diagnose der personenbezogenen Entstehungszu­ sammenhänge zweier sexuell motivierter Gewalttaten sowie durch demge­ mäß unangemessene Behandlungsmaßnahmen eine nachfolgende schwere Rückfalltat (Mord) geschehen konnte. Erst in deren Folge wurde im Rahmen einer mehrjährigen sozialtherapeutischen Behandlung eine angemessene Therapie veranlasst. IV. Fallskizze Hans M. 1. Kindheit und Entwicklung vor dem Bezugsdelikt

Hans M. (geb. 1964) wuchs als jüngstes von insgesamt fünf Geschwistern (ein Bruder, drei Schwestern) bei seinen leiblichen Eltern auf. Als er sieben Jahre alt war, starb sein Vater, der alkoholkrank war und an Leberzirrhose litt. Danach versorgte seine Mutter alleine den Haushalt, die dadurch stark belastet war und sich nicht sehr intensiv um Hans und die anderen Kinder kümmern konnte. M. besuchte keinen Kindergarten und wurde zunächst regulär eingeschult. Er blieb jedoch bereits in der ersten Klasse zweimal sitzen, da er große Schwierigkeiten beim Schreiben und Lesen hatte und dem Unterricht nicht 26  Z. B.

Harris / Hanson (2004); Hall (1995); Schmucker (2004).



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gut folgen konnte. Deshalb kam er auf eine Sonderschule für Lernbehinder­ te. Dort besserten sich seine Leistungen zunächst etwas, so dass er sogar die 4. Klasse überspringen konnte. Danach stellten sich jedoch wieder Leis­ tungsmängel ein. Die 9. Klasse musste er wiederholen, einen Hauptschulab­ schluss erreichte er nicht. Nach der Schule besuchte er ein Jahr lang ein Programm zur beruflichen Orientierung im örtlichen Jugendsozialwerk, doch er entwickelte für keine der angebotenen Berufssparten (Holz- und Metallverarbeitung, Malerarbei­ ten, Maurer) ein besonderes Interesse. Auch die dort vorhandene Möglich­ keit zum Erwerb des Hauptschulabschlusses nahm er nicht wahr. Auf Anre­ gung seines Bruders begann er im September 1982 eine Bäckerlehre. Aller­ dings zeigten sich auch hier rasch Schwierigkeiten in der schulischen Aus­ bildung, so dass ihm diese Lehrstelle nach einem Jahr wieder gekündigt wurde. Sein Hauptinteresse in dieser Zeit galt Freizeitbeschäftigungen, insbeson­ dere dem Fußballspiel und dem Autofahren. Nach dem Erwerb der Fahrer­ laubnis kaufte er sich mit 18 Jahren ein gebrauchtes Auto. Dies steigerte sein Ansehen unter Gleichaltrigen und wirkte sich auch positiv auf sein ansonsten wenig günstiges Selbstbild (Sonderschüler, kein Hauptschulab­ schluss, abgebrochene Lehre) aus. Im Mai 1983 ging er eine intime Beziehung zu einem damals 17-jährigen Mädchen ein, wobei ein Schwerpunkt der Beziehung offenbar auf sexuellem Gebiet lag. Durch diese Beziehung wurden die sexuellen Wünsche von M. einerseits positiv verstärkt und erweitert, andererseits hielten ihm sein Bru­ der und seine Mutter vor, dass ihn seine Freundin nur wegen seines Autos mochte, ihn also lediglich ausnutzen wolle. Diese Vermutung bestätigte sich, als die Freundin den Abbruch seiner Lehre mit den Worten kommen­ tierte, dass sie keinen Mann brauche, für den sie später einmal sorgen müsse. Die für M. zunächst „ideale“ Beziehung geriet bald darauf in eine Krise. In der Folge flüchtete sich Hans M. verstärkt in sexuelle Wunschvorstel­ lungen, in den Traum, ein „Frauenheld“ zu sein. Es entstand eine zuneh­ mende Kluft zwischen diesen Fantasien und seinem realen Leben (Scheitern in Schule und Beruf, krisenhafte Beziehung, wenig echte soziale Anerken­ nung). Als Ausgleich suchte er wiederholt Bordelle auf, die Nähe zu Pros­ tituierten erregte ihn. Er hatte allerdings nicht genügend Geld, um seine diesbezüglichen Wünsche auch auszuleben. Vor diesem Hintergrund kam es im Februar 1984 zu seiner ersten schweren Gewalttat. Am Abend vor dieser Tat lernte er in seiner Stammkneipe einen Mann kennen, der sich aus beruflichen Gründen kurzzeitig am Ort aufhielt. M. hielt ihn wegen seines Auftretens für einen Zuhälter, zumal er offenbar

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Rudolf Egg

viel Bargeld bei sich hatte. Der Mann wollte auch am späten Abend noch etwas erleben und M. fuhr mit ihm zu verschiedenen Bordellen, wo es aber zu keinem ernsthaften Kontakt mit einer Prostituierten kam. Als der Mann schließlich in sein Hotel zurückgebracht werden wollte, setzte ihn M. in einer Seitenstraße ab und behauptete wahrheitswidrig, dass das frag­ liche Hotel gleich in der Nähe sei. Der Mann stieg aus, worauf ihn M. von hinten mit seinem Auto anfuhr, so dass dieser zu Boden stürzte und schwer verletzt wurde. M. nahm ihm anschließend das Geld ab (600 DM) und gab es wie geplant am nächsten Tag für mehrere Sexkontakte in Bor­ dellen aus. Dass er für Sex mit Prostituierten bereit war, einen ihm nur flüchtig be­ kannten Mann durch hinterlistige und gefährliche Weise zu verletzen und zu berauben, zeigt sein extrem hohes sexuelles Interesse zum damaligen Zeit­ punkt. Bereits einen Tag nach der Tat wurde er festgenommen und später zu einer fünfjährigen Jugendstrafe verurteilt. Diese Haft erlebte er als sehr einschränkend; er konnte sich gegenüber anderen Gefangenen kaum durch­ setzen und wurde wegen seines Aussehens (hervorstehende Augen, ungera­ de Zähne) oft gehänselt. Allerdings durfte er nun erneut eine Bäckerlehre beginnen, die er auch abschließen konnte. Sein Verhalten im Vollzug war wenig auffällig, zumal er sich stark zurückzog. Durch extrem häufiges Masturbieren verschaffte er sich einen gewissen Ausgleich zum Gefängnisalltag. Seine starke sexuelle Erregbarkeit wurde in der JVA offenbar nicht bemerkt, jedenfalls nicht angesprochen, auch nicht der damit verbundene (unerlaubte) Besitz bzw. Tausch von Pornoheften. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der sexuelle Bezug seiner ersten Gewalttat seitens der JVA nachhaltig thematisiert wurde oder dass gar der Versuch un­ ternommen wurde, darauf gerichtete therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Stattdessen führten das äußerlich unauffällige Verhalten von M. und seine guten Fortschritte in der Lehre dazu, dass ihm im November 1985 ein zwölf­ stündiger Ausgang nach Hause genehmigt wurde. Dafür wollte M. von sei­ nem Eigengeld-Konto 200 DM für einen Bordellbesuch abheben. Dies wurde ihm zwar verweigert, die Genehmigung des Ausgangs aber nicht infrage ge­ stellt. Angesichts der damaligen Bezugstat (versuchter Mord und Raub, um einen Bordellbesuch zu finanzieren!) hätte man jedoch fragen müssen, wie dieser Wunsch nach einem erneuten Bordellbesuch zu interpretieren ist und ob ohne eine therapeutische Aufarbeitung der sexuellen Aspekte dieser Tat überhaupt vollzugliche Lockerungen verantwortet werden können. Für M. war die Ablehnung der Finanzierung eines Bordellbesuchs der Anlass, den Ausgang für die Vergewaltigung einer Frau zu nutzen. Dazu wartete er auf einem Parkplatz darauf, dass eine Frau alleine mit ihrem Auto kommen würde. Wie von ihm geplant, bedrohte er daraufhin eine ihm



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unbekannte Frau mit einem Messer und zwang sie, an einen abgelegenen Ort zu fahren, wo er sie vergewaltigte. Auch diese zweite Tat wurde rasch aufgeklärt; unter Einbezug des ersten Urteils wurde er jetzt zu insgesamt sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt. Hans M. verblieb in derselben JVA, wo sein allgemeines Verhalten weiter­ hin unauffällig war. Sein exzessiver, täglicher Pornografiekonsum sowie sein zwanghaftes Masturbieren wurden nach wie vor nicht thematisiert. Wegen seiner guten Führung, wegen des erfolgreichen Abschlusses der Bäckerlehre und wegen des (scheinbar) günstigen sozialen Empfangsraums (Wohnen bei der Mutter, Arbeitsstelle in einer Bäckerei) wurde ihm schließ­ lich eine günstige Sozialprognose gestellt und die noch verbleibende Rest­ strafe von 860 Tagen zur Bewährung ausgesetzt. Im Oktober 1988 wurde Hans M. aus der JVA entlassen. Um seine sexuelle Triebhaftigkeit in den Griff zu bekommen, sollte er laut Bewährungsbeschluss eine Sexualberatungsstelle aufsuchen; allerdings kam es nur zu ein oder zwei Kontaktgesprächen. Auch die angestrebte be­ rufliche Integration erwies sich schwieriger als geplant, da er die noch während der Haft vermittelte Arbeitsstelle als Bäcker erst verzögert antreten konnte und danach „wegen mangelnder beruflicher Qualifikation“ bald wie­ der entlassen wurde. Erst nach einigen Wochen fand er erneut eine Stelle bei einem anderen Bäcker. Sein Versuch, über ein Heiratsvermittlungsinstitut eine neue partnerschaft­ liche Beziehung zu finden – dazu hatte ihm ein Sozialarbeiter der JVA ge­ raten – scheiterte kläglich. Er bezahlte zunächst über 1.300 DM an dieses Institut, erhielt aber lediglich ein paar Adressen, ohne dass es zu längeren Kontakten oder gar zu einer Beziehung kam. Auch ein Bordellbesuch im November 1988 verlief wegen des dortigen „Zeitdrucks“ frustrierend. Sein zwanghaftes Masturbationsverhalten wurde durch diese Enttäuschungen weiter gesteigert; zudem konsumierte er jetzt neben Heften auch geliehene Pornofilme. Damit war sein Versuch, nach der Strafhaft in Freiheit wieder Fuß zu fassen, schon nach kurzer Zeit in mehrfacher Hinsicht fehlgeschlagen: Miss­ erfolge in Beruf, Partnerfindung sowie ein Mangel an sinnvollen Freizeitbe­ schäftigungen vermittelten ihm täglich, wie erfolg- und perspektivlos sein damaliges Leben war. Sein Selbstwertgefühl dürfte einen bis dahin nicht gekannten Tiefpunkt erreicht haben. Auch ein Auto hatte er nicht mehr, da ihm die Fahrerlaubnis wegen seiner Tat vom Februar 1984 entzogen worden war. Anfang April 1989 hatte er zudem einen Unfall mit seinem Mofa und verstauchte sich die rechte Hand. Er wurde daraufhin krankgeschrieben und verbrachte tagsüber viel Zeit mit dem Konsum von Pornos, mit exzessiver sexueller Selbstbefriedigung und mit Glücksspielen in Casinos.

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Rudolf Egg 2. Bezugsdelikt 1989

Wenige Tage nach dem Mofa-Unfall traf er zufällig am Rande eines Ein­ kaufszentrums auf eine junge Frau, die ihm anbot, ihn wegen seiner verletz­ ten Hand nach Hause zu fahren. Nach dem Muster seiner ersten Vergewal­ tigung bedrohte er diese Frau mit einem Messer und dirigierte sie an einen einsamen Ort. Als diese Frau ihr Fahrzeug jedoch abrupt an einem Garten­ zaun zum Stehen brachte und zu fliehen versuchte, erstach sie Hans M. mit zahlreichen Messerstichen. Er verbrachte die Leiche seines Opfers in den Kofferraum, floh vom Tatort, kehrte aber einige Stunden später wieder zu­ rück und zündete das Auto mit Benzin an, um die Spuren zu verwischen. Gleichwohl wurde er schon wenige Tage danach festgenommen und später zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stelle auch eine besondere Schuldschwere fest. Die Entstehungszusammenhänge dieses Mordes entsprechen weitgehend denen, die bereits für die 1984 und 1985 begangenen Gewaltdelikte maß­ geblich waren. Der wesentliche motivationale Hintergrund ist danach ein mindestens seit dem 18. Lebensjahr vorhandenes, durch exzessives Mastur­ bieren und Pornokonsum progredient gesteigertes sexuelles Verlangen im Sinne einer Hypersexualität. Diese Neigung diente M. als Ausgleich für ein durch zahlreiche persönliche und berufliche Misserfolgserfahrungen stark geschwächtes Selbstwerterleben. Die erreichte Kompensation hatte jedoch eine jeweils nur kurzfristige Wirkung, in deren Folge sich rasch ein erneutes Verlangen nach sexueller Befriedigung aufbaute. Auch die beiden vorausge­ henden Verurteilungen und ein fast fünfjähriger Gefängnisaufenthalt konnte daran nichts ändern, zumal offenbar weder in den beiden gerichtlichen Verfahren noch im Rahmen des Strafvollzugs eine adäquate Diagnosestel­ lung der Problematik von M. erfolgte und somit auch keinerlei effektive Behandlungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Die im Vollzug angebotenen Maßnahmen beschränkten sich auf schulische und berufliche Bildungspro­ gramme. Die eigentliche Problematik des Pb und die damit verbundene Rückfall­ gefahr blieben somit unerkannt und unbearbeitet, auch die 1988 durchge­ führte Prognosebegutachtung führte zu einer überoptimistischen und der tatsächlichen Problemlage nicht entsprechenden Einschätzung der Gefahr weiterer schwerer Delikte. 3. Strafvollzug und Sozialtherapie

Nach seiner erneuten Verhaftung verbüßte Hans M. zunächst die wider­ rufene Reststrafe aus dem letzten Urteil, anschließend trat er die verhängte lebenslange Freiheitsstrafe an, deren Mindestverbüßungszeit auf 18 Jahre



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festgesetzt wurde. In der JVA verhielt er sich erneut weitgehend unauffällig. Er wurde zunächst zwei Jahre lang als Lagerarbeiter eingesetzt, danach absolvierte er erfolgreich eine Lehre zum Schriftsetzer und arbeitete an­ schließend auch weiter in der Druckerei der Anstalt. Auf ein bereits zu Beginn seines erneuten Gefängnisaufenthaltes gemach­ tes Therapieangebot ging Hans M. zunächst nicht ein, vielmehr setzte er seinen schon früher praktizierten Tausch von Pornoheften sowie sein exzes­ sives Masturbationsverhalten unverändert fort. Als ihn jedoch 1992 ein Vollzugsbediensteter unvermittelt auf die unter dem Bett gesammelten Pornohefte ansprach und ihn fragte, ob er sich nicht ändern wolle, war er durch diese direkte Konfrontation überrascht und beeindruckt. Nach seinen Angaben gab er daraufhin seinen Pornokonsum und das häufige Onanieren von einem Tag auf den anderen auf und zeigte sich jetzt aufgeschlossen für therapeutische Maßnahmen. Ein Anfang der 90er Jahre gestellter Antrag auf Verlegung in eine sozial­ therapeutische Anstalt (SothA) wurde zunächst wegen der noch lange zu verbüßenden Haftzeit abgelehnt. Eine Verlegung dorthin war erst im Okto­ ber 2004 möglich. M. absolvierte umfangreiche gruppen- und einzelthera­ peutische Maßnahmen (u. a. BPS) mit insgesamt guten Ergebnissen. Er er­ lebte die integrative sozialtherapeutische Behandlung als hilfreich für die Umsetzung seines Vorsatzes, sich dauerhaft zu verändern. Ab April 2006 wurden erste Ausführungen durchgeführt, M. zeigte sich dabei in allen Be­ reichen zuverlässig. Auch ein im Juli 2007 in Kraft gesetzter Lockerungs­ plan verlief ohne Beanstandungen. M. konnte die Kontakte zu seinem Bruder stabilisieren und ausbauen. Im Juni 2008 wurde er in die Freigän­ gerabteilung der SothA verlegt und nahm eine Beschäftigung bei einer Firma auf. Im Dezember 2008, kurz vor einem bereits genehmigten Weihnachtsur­ laub, verübte M. überraschend einen Ladendiebstahl, aufgrund dessen er vom Freigang und vom offenen Vollzug abgelöst wurde. Als Begründung gab er an, dass der geplante Urlaub für ihn mit zu viel Anspannung (wegen der vielen Leute) verbunden gewesen sei. Er habe sich aber nicht getraut, dieses Problem offen anzusprechen. Nach intensiver Bearbeitung dieser misslungenen Konfliktlösung im Rah­ men intramuraler Gespräche begann die SothA im Juli 2009 wieder schritt­ weise mit vollzugsöffnenden Maßnahmen. Ab Oktober 2009 wurde M. er­ neut in den Freigang verlegt und nahm eine Arbeit außerhalb an. JVA und auch ein externer Gutachter befürworteten danach einen Antrag von M. auf vorzeitige Entlassung. Dies wurde jedoch von der zuständigen Strafvollstre­ ckungskammer im Juli 2010 abgelehnt. M. war enttäuscht, aber dennoch gefasst.

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Von Ende Februar bis Ende August 2011 absolvierte Herr M. einen sechs­ monatigen Langzeiturlaub, der ihm von der SothA in eigener Verantwortung genehmigt wurde. Er wohnte in dieser Zeit in einer Mietwohnung und ar­ beitete weiterhin als Freigänger in derselben Firma. Vereinbarte Gesprächs­ termine in der SothA und in einer psychotherapeutischen Ambulanz nahm er regelmäßig wahr. Insgesamt verlief dieser Langzeiturlaub ausgesprochen günstig. M. konnte dabei zeigen, dass er zu einem sozial verantwortlichen Leben in Freiheit in der Lage ist, dass er Regeln und Absprachen zuverläs­ sig einhalten kann (bezüglich Arbeit, Freizeitgestaltung, Kontakte zu seinem Bruder, therapeutische Begleitung). Er lernte dabei aber auch, dass er wei­ terhin auf therapeutische Unterstützung angewiesen ist und dass es für ihn von Nutzen ist, wenn er diese Hilfe in Anspruch nimmt. 4. Entlassung und Zukunftsperspektive

Im Oktober 2011 wurde Hans M. schließlich nach erneuter intensiver Begutachtung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung entlassen. Das Gericht erteilte ihm verschiedene Weisungen, insbesondere die Fortset­ zung ambulanter therapeutischer Maßnahmen. Trotz des überaus schweren Bezugsdeliktes und der zwei vorausgegangenen Gewalttaten beurteilte auch das Gericht die Legalprognose nunmehr so günstig, dass eine Aussetzung des Strafrestes vertretbar erschien. Bei seiner Entlassung äußerte Hans M., dass er vorläufig in der schon seit einiger Zeit angemieteten Wohnung blei­ ben möchte. Er will auch weiterhin in der Firma arbeiten, in der schon als Freigänger tätig war. Wenn er dort eine volle Stelle übernehmen kann, wäre sein Einkommen für ihn zufriedenstellend. Schulden hatte er nach seinen Angaben nicht. 5. Fazit

Die vergleichsweise günstige Entlassungssituation von Hans M. ist das Ergebnis umfassender therapeutischer Maßnahmen und sozialer Hilfen, bei denen das RNR-Prinzip, ohne dass dies seitens der SothA so formuliert wurde, anscheinend optimal angewandt wurde. Wenngleich Hans M. zwei­ fellos für alle seine drei schweren Delikte die volle rechtliche und morali­ sche Verantwortung trägt, ist doch nicht zu verkennen, dass eine frühere Beachtung dieses Prinzips wahrscheinlich schon sehr viel eher zu positiven Effekten geführt hätte. Anders gesagt: die Vergewaltigung 1985 und der Mord 1989 hätten womöglich verhindert werden können, wenn man sich bei der ersten Inhaftierung nicht auf Maßnahmen der Schul- und Berufsbil­ dung und auf wenig nützliche Ratschläge (Partnervermittlung, Sexualbera­ tung) beschränkt hätte.



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Straftäterbehandlung ist aktiver Opferschutz, aber nur dann, wenn man nach gründlicher Analyse der Tatentstehung und der Persönlichkeit eines Tä­ ters die geeigneten präventiven Maßnahmen ergreift und nachhaltig umsetzt. Literatur Andrews, D.  A. / Bonta, J.: The psychology of criminal conduct, 5th ed., Providence, NJ, LexisNexis Anderson, 2010. Andrews, D.  A. / Zinger, I. / Hoge, R. D. / Bonta, J. / Gendreau, P. / Cullen, F. T.: Does correctional treatment work? A clinically-relevant and psychologically informed meta-analysis, in: Criminology, 28, 1990, S. 369–404. Baulitz, U. / Driebold, R. / Eger, H. J. / Flöttmann, U. / Kober, B. / Kollwig, M / Lohse, H. / Specht, F.: Integrative Sozialtherapie. Innovation im Justizvollzug, Bad Gan­ dersheim, Eigenverlag, 1980. Baumann, J.: Die Sozialtherapie hat sich bewährt! in: Monatsschrift für Kriminolo­ gie und Strafrechtsreform, 62, 1979, S. 317–321. Baumann, J. / Brauneck, A.-E. / Calliess, R.-P. et al.: Alternativ-Entwurf eines Straf­ vollzugsgesetzes, Tübingen, Mohr, 1973. Bonta, J. / Andrews, D. A.: Risk-Need-Responivity Model for Offender Assessment and Rehabilitation, 2007. Download unter: http:  /   /  securitepubliquecanada.gc. ca / res / cor / rep / _fl / Risk_Need_2007-06_e.pdf. Briken, P. / Hill, A. / Berner, W.: Medikamentöse Therapie für Sexualstraftäter, in: W.  Berner / P. Briken / A. Hill (Hrsg.), Sexualstraftäter behandeln mit Psychothera­ pie und Medikamenten, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln, 2007, S. 133–147. Dahle, K.-P. / Steller, M.: Trends und Perspektiven forensischer Sozial- und Psycho­ therapie, in: M. A. Rothschild (Hrsg.), Das neue Jahrtausend: Herausforderungen an die Rechtsmedizin, Lübeck, Schmidt-Römhild, 2000, S. 256–270. Driebold, R. / Egg, R. / Nellessen, L. / Quensel, S. / Schmitt, G.: Die sozialtherapeutische Anstalt. Modell und Empfehlungen für den Justizvollzug, Göttingen  /  Zürich, Vandenhoeck & Ruprecht, 1984. Dünkel, F.: Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung. Eine empiri­ sche vergleichende Untersuchung anhand der Strafregisterauszüge von 1503 in den Jahren 1971–74 entlassenen Strafgefangenen in Berlin-Tegel, Berlin, Dun­ cker & Humblot, 1980. Egg, R.: Rezension von Lipton, D. / Martinson, R. / Wilks, J. (1975): The Effectiveness of Correctional Treatment. A Survey of Treatment Evaluation Studies, New York, Praeger Publ, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 60, 1977, S. 127–128. – Straffälligkeit und Sozialtherapie: Konzepte, Erfahrungen, Entwicklungsmöglich­ keiten, Köln, Heymann, 1984. Egg, R. / Pearson, F. S. / Cleland, C. M. / Lipton, D. S.: Evaluation von Straftäter­ behandlungsprogrammen in Deutschland: Überblick und Meta-Analyse, in:

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Zur Situation und zu den Rechtsfolgen der Tötung unter Einfluss von Horror-Videos Anmerkungen zu einem Einzelfall* Ulrich Eisenberg I. Zum tatsächlichen Hintergrund Der aus der ehemaligen DDR stammende Verurteilte hatte nur etwa ein Jahr lang bei seinen Eltern gelebt, wurde sodann (angeblich wegen Mängeln an Ernährung und Pflege) in einem Kinderheim untergebracht und als knapp 7-Jähriger in Baden-Württemberg adoptiert. Schon ca. 3 ½ Jahre später erlitt der (Adoptiv-)Vater, den der Verurteilte als immer freundlich und seine zentrale Bezugsperson würdigte, einen tödlichen Arbeitsunfall. Der Verur­ teilte berichtete auch über sportliche Aktivitäten mit seinem (Adoptiv-)Vater, der in seiner Freizeit u. a. als Jugend-Fußballtrainer aktiv gewesen sei, wobei eine Identifizierung auch darin zu erkennen sein mag, dass der Ver­ urteilte während der Haftzeit besonders intensiv beim Fußballspielen mit­ wirkte und auch einen Schiedsrichter-Schein erwarb1. Etwa 2 ½ Jahre nach dem Tod des (Adoptiv-)Vaters zog ein neuer Lebenspartner seiner (Adop­ tiv-)Mutter, die (angeblich) quasi Analphabetin ist, bei ihnen ein, zu dem das Verhältnis des Verurteilten zunehmend angespannt wurde. Jedoch lebte der Verurteilte bis zum Zeitpunkt des hier erörterten Tatgeschehens dort. Erst während der Haftzeit habe er Kontakt mit seiner leiblichen Mutter aufgenommen, habe sie aber nicht gesehen, sondern nur kurze schriftliche Verbindung mit ihr gehabt. Mit seinem leiblichen Vater habe er keinen Kontakt mehr gefunden, weil er zwischenzeitlich verstorben sei. Er habe vier Geschwister, von denen drei jünger seien als er. 1.  In der Grundschule wurde der Verurteilte zweimal nicht versetzt, mög­ licherweise auch aus Gründen massiven Mobbings („Zoni“) ihm gegenüber *  Urteile des LG X vom 5.02.2003 und vom 15.11.2012, Jug KLs 401 Js  107041 / 02.  1  Zeugenaussagen (Hauptverhandlung vor dem LG X März / April 2012) der Voll­ zugsbediensteten Gä und Ja (vorläufiges schriftliches Gutachten E vom 10.5.2012 S.  100 f.).

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durch Mitschüler. Diese hätten zudem den Tod des (Adoptiv-)Vaters als Suizid dargestellt und ihn deshalb zusätzlich verspottet. Der Verurteilte ge­ langte, eine zusätzliche soziale Ausgrenzung mit sich bringend, in eine sonderpädagogische Förderschule, aus der er aber mit guten bis befriedigen­ den Leistungen entlassen worden sei. – Nachfolgend begann er eine Ausbil­ dung zum Metallbauer, wurde jedoch auch dort gehänselt. Er stand kurz vor der Zwischenprüfung, als er inhaftiert wurde. Während des Strafvollzugs – er war aus dem Jugendstrafvollzug heraus genommen2 – habe er im Jah­ re 2008 die Umschulung zum Maler und Lackierer mit der Note 1,3 abge­ schlossen. 2. Der Verurteilte fühlte sich dem Mobbing in der Schule und in der Lehre ebenso wie einem von ihm angegebenen wiederholten sexuellen Missbrauch im Alter von 11 Jahren durch einen zu Besuch weilenden Onkel sowie den Spannungen mit dem Lebenspartner seiner (Adoptiv-)Mutter gleichsam hilflos ausgeliefert und zog sich zurück, wobei er einen gestei­ gerten Video-Konsum besonders betreffend Horrorvideos wie vor allem Halloween entwickelte – nach einem späteren Sachverständigengutachten hatte dieser Konsum vor der Tat deutliche Anzeichen einer Sucht3. Auch unternahm der Verurteilte nach eigenen Angaben bereits seit einem Zeit­ punkt von etwa ein bis zwei Jahren vor dem Tötungsdelikt spätabendlich bzw. nächtlich Spaziergänge durch die Stadt jeweils während zwei bis drei Stunden, wozu er möglicherweise durch die Videos, in denen Horrorszenen und Angst auslösende Situationen in ähnlichem Umfeld dargestellt sind, angeregt wurde. 3. Der Verurteilte war vor der Begehung des Tötungsdelikts (vgl. un­ ten II.) zweimal wegen Diebstahls erfasst – jeweils wurde von einer Straf­ verfolgung abgesehen – zudem war er einmal wegen „Schwarzfahrens“ re­ gistriert. Am 8. Todestag des (Adoptiv-)Vaters erlitt der Verurteilte bei der Arbeit eine eher geringfügige Armverletzung, die er anschließend durch Ritzen selbst vergrößerte, wogegen er zunächst behauptete, er sei von Skin­ heads angegriffen worden – dieserhalb erstattete er eine Strafanzeige, räum­ te aufgrund von Ungereimtheiten jedoch alsbald ein, dass er den Angriff erfunden hatte. Später gab er an, bei dem „Ritzen“ nach der Verletzung habe er bemerkt, dass er damit Druck abbauen könne und der Schmerz ihn von seinen psychischen Belastungen ablenke. Er habe sich wegen der Selbstverletzung dann geschämt und das Geschehen auf Skinheads abschie­ ben wollen.

2  AG Bamberg, 3  Gutachten E,

Beschluss vom 1.7.2005 (VRJs II 96 / 03). a. a. O., S. 126.



Zu den Rechtsfolgen der Tötung unter Einfluss von Horror-Videos57

II. Erkenntnisverfahren wegen Mordes (§ 211 StGB) Nach den tatgerichtlichen Feststellungen besuchte der Verurteilte im Al­ ter von 18 Jahren und 5 Monaten zusammen mit der (Adoptiv-)Mutter und deren Lebenspartner eine Faschingsveranstaltung. Als Verkleidung trug er u. a. eine Totenkopfmaske. Er trank an diesem Tag 3 bis 4 Maß Bier. Auf dem allein angetretenen Heimweg versuchte er, eine junge Frau, die gera­ de aus einem Bus ausgestiegen war, zu erschrecken, jedoch wurde er ab­ gewiesen. Beim Weitergehen habe er gesehen, dass ein Fenster eines Wohnhauses erleuchtet war und sodann, nach näherem Herangehen, dass sich in dem Raum zwei Kinder befanden. Nachdem das Licht ausgeschal­ tet worden sei, sei er durch eine Türe in das Wohnhaus eingedrungen, zu dem Zimmer geschlichen und habe sich mit erhobenem Arm und einem Messer in der Hand vor das Bett des schlafenden älteren Kindes, eines 12-jährigen Mädchen, gestellt, um es zu erschrecken. Sodann tötete er das Kind mit mindestens 21 Messerstichen. Nicht sicher festgestellt ist, ob das Kind zuvor aufgewacht war und zu schreien anfing4, und ob der Verurteil­ te das Tatmesser von zu Hause mitgebracht – so die Annahme des Tatge­ richts – oder ob er es sich erst aus der Küche des Hauses, in das er ein­ gedrungen war, geholt hat. Der Verurteilte gab an, er sei verärgert gewe­ sen, dass die junge Frau sich nicht habe erschrecken lassen, und er habe nunmehr befürchtet, die Eltern des Mädchens könnten seine (Adoptiv-) Mutter sowie deren Lebenspartner über den Vorgang informieren. Das Verfahren endete mit einer alsbald rechtskräftig gewordenen Verur­ teilung zu 10 Jahren Jugendstrafe wegen Mordes, und zwar unter Zuerken­ nung uneingeschränkter Schuldfähigkeit. 1.  Die Jugendkammer wurde entgegen der – auch für ein Verfahren gegen einen Heranwachsenden geltenden (§ 109 Abs. 1 JGG) – Soll-Vorschrift des § 43 Abs. 2 S. 2 JGG nicht von einem Jugendpsychologen, -kriminologen oder -psychiater, sondern von einem „Landgerichtsarzt“ A („Arzt für Psychi­ atrie und Neurologie“)5 beraten. Dies könnte deshalb abträglich gewesen sein, weil Elementen der Determiniertheit von Verhalten im Jugendstrafrecht grundsätzlich eher Rechnung zu tragen ist als im allgemeinen Strafrecht, und zwar namentlich bezüglich der Frage, inwieweit Jugendliche und auch Her­ anwachsende einen Widerstand gegenüber situativen Faktoren der Tatbege­ hung weniger wirkungskräftig zu organisieren vermögen als Erwachsene6. 4  Einschränkend Gutachten A vom 30.7.2002, S. 38: „allenfalls rasch erstickenden Lautäußerungen“. 5  Gutachten  A, a. a. O. 6  Vgl. Maurach, R. / Zipf, H., StrafR AT, Teilband I, 8. Aufl. (1992), § 36 Rn. 88. Zur Würdigung dessen bei der (teleologischen) Gesetzesauslegung speziell betref­

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Im Einklang mit der Auffassung des Sachverständigen A7 nahm die Jugend­ kammer an, der Verurteilte habe die Tat mit Überlegung begangen, d. h. den Angaben des Verurteilten, er sei verärgert gewesen und habe befürchtet, das Eindringen und Erschrecken des Mädchens könnte bekannt werden, folgte es nicht. Gleichfalls im Einklang mit dem Sachverständigen A ging die Jugend­ kammer von einer Tatzeit-BAK von wahrscheinlich 1,33 ‰ aus, es habe so­ mit ein mittelgradiger Rauschzustand vorgeherrscht; eine schuldstrafrechtlich relevante Alkoholisierung verneinte die Jugendkammer. a) Zwar schloss die Jugendkammer einen möglichen Einfluss auf die Tatbegehung durch den Konsum von „Horrorfilmen“ nicht aus, verneinte jedoch ebenso wie der Sachverständige A8 diesbezüglich eine Beeinträchti­ gung oder gar einen Ausschluss der Schuldfähigkeit. Die vorerwähnte Be­ wertung des Videokonsums als suchtartig durch den in dem späteren Ver­ fahren (vgl. unten III.) beauftragten Sachverständigen E hätte indes die Prüfung indiziert, ob dieserhalb zur Tatzeit ggfs. eine „schwere andere seelische Abartigkeit“ (§§ 20, letzte Fallgruppe, 21 StGB) vorlag9, wobei es – ähnlich wie bei Delinquenz im Zusammenhang mit „pathologischem“ Glücksspiel – darum geht, ob ohne Anzeichen einer (auch) körperlichen Beeinträchtigung oder gar Abhängigkeit eine „suchtartige“ oder „pathologi­ sche“ psychische Störung in der Qualität einer psychopathologischen Ent­ wicklung angenommen werden darf bzw. muss10. fend die Frage des Vorsatzes Neubacher, F., Die fremdenfeindlichen Brandanschläge nach der Vereinigung. Eine empirische Untersuchung ihrer Phänomenologie und ihrer justitiellen Verarbeitung in Jugendstrafverfahren, in: MSchrKrim 82 (1999), S.  1 ff. (9 f.). 7  Gutachten  A, a. a. O. 8  Gutachten A, a. a. O., S. 40: „eindeutig keine unmittelbaren Konsequenzen für die Beurteilung der Einsichts- / Steuerungsfähigkeit“. 9  Vgl. dazu LG Passau, Urteil v. 29.7.1996 – KLs 101 Js 3424 / 96 jug=JR, 97, S. 118 mit Anm. Brunner und Günter, in: DVJJ-J, 1997, S. 200 f.=NJW, 1997, S. 1165 mit Bspr. Verf., NJW, 1997, S. 1136 ff. sowie Weber, S., Die Bedeutung des Schuldprinzips im Jugendstrafrecht, Frankfurt / M. 2011, S. 107: das LG wegen der Schwere der Tat „unbedingt zu einer Verantwortlichkeit nach § 3 JGG kommen wollte“. 10  Der Begriff „Sucht“ bedeutet ein unwiderstehliches Verlangen nach einem be­ stimmten Erlebniszustand schlechthin. Üblicherweise wird im Einklang mit psycho­ pathologischen Entwicklungen anderen Inhalts kriteriologisch darauf abgestellt, ob der Betroffene gleichsam davon „besetzt“ ist und dadurch einen Distanz- bzw. Rea­ litätsverlust sowie eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Ich-Abgrenzung aufweist, ob ein Bedürfnis nach Steigerung besteht und ob im Falle der Versagung innere Unruhe und Reizbarkeit auftreten (vgl. nur Nedopil, N. / Müller, J. L., Forensische Psychiatrie, 4. Aufl., Stuttgart, 2012). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so kann es für die strafrechtliche Beurteilung nicht mehr auf die Frage eines körperlichen Be­ zugs ankommen, denn andernfalls würden körperliche Befindlichkeiten zu einem für



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b) Was die Würdigung des Alkoholeinflusses angeht, so bestand wohl keine körperliche Alkoholabhängigkeit, aber eine deutliche Gewöhnung über längere Zeit, teilweise unter Konsum auch hochprozentiger Getränke. Das Besondere war indes, dass der Verurteilte nach seinen Angaben seit 3 Wochen vor der Tat keinen Alkohol zu sich genommen hatte, so dass der – zudem erhebliche – Alkoholkonsum erstmals wieder am Tattag möglicher­ weise einen übermäßigen Einfluss entfaltet haben könnte. Dieser Umstand wurde weder im Gutachten A11 noch im Urteil12 näher erörtert. 2.  Zur Interpretation des konkreten Tatgeschehens bieten sich im Wesent­ lichen zwei unterschiedliche Perspektiven an, die beide im Allgemeinen darin prognostisch als ungünstig erscheinen, dass das Opfer austauschbar war. Nach der einen Perspektive war die Tat längerfristig geplant, es sei gar – zumindest am Tattag – eine „Jagddynamik“13 feststellbar, d. h. situative Umstände hätten keine Rolle gespielt. Nach der anderen Perspektive hinge­ gen ist die Tat neben dem akuten Alkoholeinfluss das Ergebnis einer sich steigernden Dynamik in der psychosozialen Entwicklung des Verurteilten gewesen, insbesondere der Ableitung zunehmender Frustration in seiner Phantasiewelt bis hin zu der Entladung in der „Tatsituation“. Nach beiden Perspektiven ist davon auszugehen, dass die Horror-Videos dazu beigetra­ gen haben, dass der Verurteilte an die Möglichkeit einer solchen Tatbege­ hung in seiner Phantasie gewissermaßen herangeführt wurde bzw. dass „die Hürde zu einer solchen zunehmend abgenommen hat“14, d. h. dass er von der Welt dieser Videos in eine Situation geleitet wurde, in der die Tat nicht mehr fern lag. Falls das Opfer tatsächlich aufgewacht war und zu schreien begann, wie der Verurteilte angab, handelte es sich bei der Tötung gar um eine insoweit erwartungsgemäße Reaktion, um die soziale Unauffälligkeit auch gegenüber seinem „zu Hause“ zu wahren, zumal der Verurteilte sogar die Voraussetzungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht einlösbaren Maß­ stab erhoben. Dem trägt die WHO dadurch Rechnung, dass sie in ihre („Krank­ heits“-)Klassifikation Formen „pathologischen“ Glücksspiels einbezogen hat (ICD 10 F63.0), ohne etwa herkömmliche – körperlich orientierte – psychiatrische Untersu­ chungsmethoden vorauszusetzen (vgl. indes einschränkend BGH JR 1989, S. 379 mit Anm. Kröber; empirisch differenzierend Meyer, G., Klassifikation von Glücks­ spielern aus Selbsthilfegruppen mittels Clusteranalyse, in: Zeitschr. f. klinische Psy­ chologie, 39 [1991], S. 261 ff). 11  Gutachten  A, a. a. O., S.  37. 12  A. a. O., S.  51 f. 13  So Gutachter B, im Anschluss an sein Gutachten vom 15.9.2010, in der Haupt­ verhandlung vor dem LG Augsburg März / April 2012 (zit. nach Gutachten E a. a. O., S. 96). Für den Betroffenen seien Dominanz, Beherrschen und Macht wichtig, „Tö­ tung als ultimative Dominanz“. 14  Gutachten E, a. a. O., S. 127.

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die spätabendlichen bzw. nächtlichen Streifzüge auch vor der (Adoptiv-) Mutter und deren Lebenspartner verheimlicht zu haben schien. 3. Der hier erörterte Einzelfall ist nicht geeignet, Aussagen schlechthin über einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Horror-Videos und der Begehung von Tötungsdelikten zu treffen15. Bis auf weiteres liegen verallgemeinerungsfähige empirische Erkenntnisse über einen förderlichen Einfluss von Horror-Videos auf die Begehung von Gewalt- oder gar Tö­ tungsdelikten nicht vor16. Dies beruht auch auf den anhaltenden diesbezüg­ lichen methodischen Schwierigkeiten, wie sie schon hinsichtlich des Kon­ sums von Gewaltfilmen oder im Internet zugänglichen Gewaltdarstellungen17 schlechthin geläufig sind. Vorfragen betreffen etwa Häufigkeit, Wiederho­ lung und Frequenz des Konsums, die (Nicht-) Einhaltung von altersgrup­ penbezogenen Beschränkungen sowie die Umstände des Konsums (insbe­ sondere: sozial isoliert oder aber mit einer oder mehreren Personen zusam­ men) und insbesondere die Differenzierung zwischen Sofort- oder aber Dauerbeeinflussung. Konkret ist nach der jeweiligen Art und Weise der vi­ suellen, auditiven und vor allem handlungsbezogenen Darbietung zu diffe­ renzieren, weil sich danach unterschiedliche Bedeutungs- und ggfs. Identi­ fikationsebenen ergeben. Endlich sind, bevor ein gar linearer Zusammenhang bejaht werden könnte, Vergleichsgruppenuntersuchungen unerlässlich, wobei gerade bei diesem thematischen Bereich sich unwiderstehliche Schwierig­ keiten einer korrekten Vergleichsgruppenbildung auftun. Verallgemeinern lässt sich eher die Aussage, dass auch Horror-Videos eher nur eine Katalysatorfunktion zukommt18. So setzt schon der Kauf oder

15  Eine Simulation scheint verkannt bei BGH NStZ 2007, S. 522 mit Anm. Verf. / Schmitz, in: NStZ 2008, S. 94. 16  So ist z. B. nach einer früheren Untersuchung betreffend Kinder im Alter zwi­ schen 7 und 14 Jahren ein linearer Zusammenhang zwischen Konsum und „emotio­ naler Abstumpfung“ nicht anzunehmen (Steckel, R., Aggression in Videospielen: Gibt es Auswirkungen auf das Verhalten von Kindern? Münster u. a., 1998). Zur etwaigen deliktsfördernden Bedeutung im Zusammenhang mit passivem Freizeitver­ halten, vgl. Rolinski, K., in: ders / I. Eibl-Eibesfeldt (Hrsg.), Gewalt in unserer Ge­ sellschaft, Berlin 1990, S. 31 ff., zumal im Bereich der Kontrolle von Gewaltdarbie­ tungen ohnehin eine vergleichsweise ausgedehnte Toleranz zu bestehen scheint (vgl. speziell betreffend den Konsum von Schülern etwa schon Weiß, R. H., Von Gewalt fasziniert, Stuttgart, 1991). 17  Vgl. zu Gewaltdarstellungen „am Computer“ auch Göppinger, H. / Brettel, H.: Kriminologie, 6. Aufl., München, 2008, § 28 Rn. 44: teilweise Übertragbarkeit der Medienwirkungsforschung. Speziell betr. die Identifizierungsthese einschränkend etwa Ditton, J. u. a., From Imitation to Intimidation, in: BritJCrim 44 (2004), S.  595 ff. 18  Vgl. Verf., Kriminologie, 6. Aufl., München, 2005, § 50 Rn. 13–16.



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ein „Ausleihen“ eines Videos mit hier in Rede stehendem Inhalt bestimmte Interessen mit zugrunde liegenden Einstellungen voraus19. III. Verfahren zur Prüfung der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung (§§ 105 Abs. 1,  7 Abs. 2, 81a JGG) Die Staatsanwaltschaft Augsburg hatte ihren Antrag vom 01.06.2011 auf Durchführung dieses Verfahrens wesentlich auf eine zuvor in Auftrag gege­ bene Begutachtung durch den forensischen Psychiater B.20 gestützt, in deren Folge das anvisierte Sonderopfer unvermittelt zum „Hochsicherheitsprobanden“ wurde. Diesem Psychiater gegenüber war der Betroffene zur Mitwir­ kung bereit gewesen, weil ihm bedeutet worden war, es gehe um die Befür­ wortung einer Lockerungsmaßnahme21. Zwei von der Jugendkammer sodann herangezogene forensisch-psychiatrische Sachverständige – ebenso wie der Psychiater B ohne Fachausbildung als Jugendpsychiater –22 erstatteten vor­ läufige schriftliche Aktengutachten23, da das anvisierte Sonderopfer nach den Erfahrungen mit dem Psychiater B. eine Beteiligung ablehnte. Beide 19  Nach einer früheren Untersuchung aus dem Ausland bestehe ein Zusammen­ hang zwischen (vormaligem) Betroffensein von familiärer körperlicher Gewalttätig­ keit und der Verinnerlichung von Gewalt-Video-Inhalten (Browne, K. / Pennell, A., The effects of video violence in young offenders. Home Office Research and Sta­ tistics Department, Nr. 65, London 1998, S. 3 f.). 20  Gutachten  B, a. a. O. 21  Nach dem Gutachten E (a. a. O., S. 77) äußerte der Betroffene diesem Sachver­ ständigen gegenüber, das Enttäuschende an dem Gutachten B sei für ihn gewesen, dass es ein Lockerungsgutachten habe sein sollen … „das war das Miese und Hin­ terhältige an der Sache. Ich habe das gesagt, was man hören wollte, Tötungsphan­ tasien, das wurde hochdramatisiert.“ Kurz vor dem Gutachten seien die Tötungs­ phantasien in einem Gespräch mit einem bestimmten Anstaltspsychologen (inzwi­ schen Anstaltsleiter) aufgekommen, „davon bin ich nicht mehr losgekommen und dann habe ich denen gesagt, was die hören wollten“. Soweit es sich so zugetragen hat, handelt sich um eine Kopie des Vorgehens der Exekutive in einem Verfahren vor dem LG Regensburg (NSV 121 Js 17270 / 1998 jug), allerdings unter Austausch des psychiatrischen Sachverständigen. 22  War schon die Auswahl des Sachverständigen (und nur dieses einen) im ur­ sprünglichen Erkenntnisverfahren nicht bedenkenfrei (vgl. im Text II. 1.), so hätte zumindest in dem nunmehrigen Verfahren die Heranziehung (auch) eines jugendpsy­ chiatrischen und  /  oder (jugend-)kriminologischen Sachverständigen nahe gelegen, um hinsichtlich des Anlassdelikts in Verbindung mit dem Täter-Opfer-Verhältnis eine Aufklärung zur Tatsituation und zu erlangen (vgl. kasuistisch Lempp, R., Jugendli­ che Mörder, Bern u. a., 1977, sowie ders., Nebenrealitäten. Jugendgewalt aus Zu­ kunftsangst, Frankfurt / M, 2009, S. 60 f, 121 ff; systematisch Verf., Kriminologie6 § 54, § 55 Rn. 15 ff.). 23  Vom 2.11.2011 bzw. vom 12.2.2012.

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Sachverständige bejahten die Voraussetzungen zur Anordnung nachträgli­ cher Sicherungsverwahrung, jedoch enthielt zumindest eines der beiden Gutachten erhebliche Mängel24. Am 29.2.2012 erteilte die Jugendkammer einen weiteren Gutachtenauf­ trag, und zwar an einen forensischen Psychologen, nachdem das anvisierte Sonderopfer sich zur Mitwirkung an dessen Untersuchung bereit erklärt hat­ te. Der Auftrag war darauf gerichtet, „ob Tatsachen erkennbar sind, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinwei­ sen und die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat und ergänzend sei­ ner Entwicklung während des Vollzugs der Jugendstrafe ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der vorbezeichneten Art begehen wird (§ 7 Abs. 2 JGG in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung) und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttä­ ter (ThUG) leidet (Ziffer II. des Urteils des BVerfG vom 04.05.2011)“. Bezüglich der Untersuchung durch diesen Sachverständigen war der Ver­ urteilte auch mit einer Tonbandaufzeichnung einverstanden. Indes geschah auch diesem Sachverständigen gegenüber keine Entbindung von der Schwei­ gepflicht und Zugriff auf die Gesundheits- und Therapieakten der JVA. Dieser Sachverständige befürwortete die Entlassung des Betroffenen. Dabei ist beweisrechtlich bedeutsam, dass der Sachverständige hinsichtlich einer der zentralen Fragen des Tötungsdelikts, nämlich ob der Betroffene das Tatmesser bereits von zu Hause mitgebracht hatte, sich zwar nicht aus­ drücklich in Widerspruch zu dem tatgerichtlichen Urteil setzte, jedoch zu verstehen gab, dass die Frage ungeklärt geblieben ist und, wohl auch auf dem Hintergrund der testpsychologischen Glaubhaftigkeitswerte, die entge­ gengesetzte Angabe des Betroffenen zumindest nicht verwarf. Das Verfahren endete am 15.9.2012 mit der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung. Dem war (nach Abschluss der Plädoyers am 5.11.2012 und vor Urteilsverkündung am 15.11.2011) der Eingang eines Schreibens der zuständigen JVA vom 6.11.2011 an den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft vorausgegangen, das unter Bezugnahme auf ein Schrei­ ben der Stadtmission Nürnberg vom 5.11.2012 die Umsetzung der während der Hauptverhandlung für den Fall der Nichtanordnung vereinbart gewese­ nen „betreuten Unterbringung“ in Frage stellte – ob bzw. inwieweit dies die Entscheidung der Strafkammer faktisch beeinflusste, bleibt offen. Mit Ver­ 24  Im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde dessen Verfasser wegen Ungeeignet­ heit ausgeschlossen.



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kündung des Urteilstenors verließ der LG-Pressesprecher (ein VRi) den Sitzungssaal, und wenige Minuten später, d. h. ohne auf die Urteilsbegrün­ dung Bezug nehmen zu können, ging per E-Mail eine Presseerklärung der Staatsministerin (Nr. 294 / 12) ein, die nach Ende der Urteilsbegründung im Sitzungssaal an die Pressevertreter verteilt sowie vor dem Sitzungssaal aus­ gelegt wurde (Schreiben LG-Präsident vom 16.11.2012 [140 Bl.-1966 / GI]). 1. Als prognostisch eher ungünstig nehmen sich einzelne Hinweise in den psychiatrischen Gutachten auf anhaltende Gewaltphantasien des Verur­ teilten aus, wobei die Validität dieser Hinweise jedoch ungeklärt blieb. Laut Gutachten B25 habe der Verurteilte angegeben, in seinen Phantasien wären lediglich zwei Menschen getötet worden, und zwar der Lebensgefähr­ te der (Adoptiv-)Mutter und der eingangs erwähnte Onkel. Eine Persönlich­ keitsstörung liege vor. Die benötigte Therapiedauer sei mit „5 bis 10 Jahren“ zu veranschlagen, zudem sei nicht sicher, „ob und inwieweit durch intensi­ ve Therapie bei der vorhandenen, gravierenden Problematik ausreichende Kompensationsfähigkeiten aufgebaut werden können“, d. h. ob der Betroffe­ ne überhaupt therapierbar sei26. Dieses Gutachten ist indes u. a. insofern als nicht frei von einer bestimmten Tendenz zu interpretieren, als der Sachver­ ständige ohne interaktionistische Erwägungen auch ausführte, Disziplinver­ stöße im Vollzug wiesen darauf hin, dass der Betroffene sein Verhalten immer noch nicht kontrollieren könne. Demgegenüber erklärte die zuständi­ ge Therapeutin als Zeugin, der Verurteilte sei vor der Rückverlegung für den gelockerten Vollzug geeignet gewesen, und ein Abteilungsleiter einer befasst gewesenen JVA bekundete, es habe in der JVA St nie eine Situation gegeben, welche auf die von dem Psychiater B prognostizierte Gefährlich­ keit hätte hinweisen können27. Zum anderen verwendete der Sachverständi­ ge B in Zusammenhang mit der Prognose drei Auflistungen28, die weithin (oder ausschließlich) statisch, d. h. rückwärts gewandt orientiert sind, und insofern dem Probanden keine Entwicklungschance lassen, womit überein­ stimmt, dass sie (zumindest auf der Grundlage allgemein anerkannter Me­ thoden) nicht validiert sind29. Die Aktengutachten der beiden anderen Psychiater folgten in der Ge­ wichtung von Phantasien weithin dem Gutachten B, etwa hinsichtlich der 25  Gutachten B,

S. 77 ff., 137. auch die Würdigung durch den Gutachter E, a. a. O., S. 15, 124. 27  Zeugenaussage Abteilungsleiter Ga (Hauptverhandlung vor dem LG Augsburg, März / April 2012, Gutachten E, a. a. O., S. 102). 28  Gutachten B, a. a. O., S. 99–101, PCL-R, S. 101 f. VRAG, S. 102–107, FOT­ RES. 29  Vgl. speziell zu FOTRES Endrass, J. / Rosegger, A., Forensisches Operationa­ lisiertes Therapie-. Evaluations-System 2.0 (FOTRES 2.0), in FS 2012, S. 90 ff., 93. 26  Vgl.

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Rekonstruktion von (damaliger) Motivationsintensität und Auflösung der Grenze zwischen Phantasie und Realität. 2. Hinsichtlich (sonstiger) prognostisch relevanter Umstände ergab sich aufgrund des Gutachtens E und Aussagen der Therapeutin sowie Bekundun­ gen von Vollzugsbediensteten Folgendes. a) Als ungünstig zu beurteilen war der (vormalige) Aufbau einer inneren Eigenwelt, die, zumindest anlässlich der Tötung, nicht mehr beherrschbar war. Gleiches gilt dazu, dass die psychischen Belastungen und die als sozi­ al inkompetent beurteilten Verhaltensweisen durch therapeutische Bemühun­ gen im Vollzug nur teilweise Abhilfe erfuhren und Unklarheit darüber be­ steht, wieweit die erreichten Veränderungen stabil sind, vor allem, wie der Betroffene mit neuerlich zu erwartenden Belastungen in Freiheit umzugehen vermag. Prognostisch nicht erkennen ließ sich, ob oder inwieweit der Ver­ urteilte nach einer Entlassung einer Neigung zum Videokonsum werde wi­ derstehen können, zumal seine „soziale Kompetenz“ weiterhin als einge­ schränkt beurteilt wird und nicht voraussehbar ist, ob sich nach Entlassung etwa aufgrund – mediengeschürter oder doch -unterstützter – Ablehnung durch die Umwelt wiederum eine soziale Isolation entwickelt. Da die Tat jedoch nur im Rahmen der erwähnten Eskalation von Frustration und Leben in einer Phantasiewelt entstehen konnte, ist eine Wiederholungsgefahr umso geringer, je mehr auch im Zuge der altersmäßigen Entwicklung die Anlässe für Frustration und Phantasiewelt entfallen sind. Die vor der Tötung liegen­ den strafrechtlichen Vorbelastungen sind als jugendtypische Verfehlungen einzuordnen. b) Als prognostisch eher günstig war zu würdigen, dass der Verurteilte eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hat und therapiemotiviert ist. So hat er während des Aufenthaltes in der Sozialtherapie in der JVA E vom 07.08.2008 bis 30.03.2011 das Behandlungsprogramm fast vollständig durch­ laufen – zum Abbruch kam es aufgrund des gleichsam absolutistisch gehand­ habten Gutachtens des Psychiaters B. Im Verlauf der Therapie habe der Ver­ urteilte grundsätzlich Einsicht in seine (vormaligen) Belastungen entwickelt. Er wurde 9 Mal ausgeführt30, und zwar jeweils „beanstandungsfrei“. Die gefundenen Testergebnisse aus den drei im Rahmen des Gutachtens E verwandten Fragebogeninventaren (FPI-R, MMPI, 16PF-R) waren hinsicht­ lich der Validitätsskalen unauffällig in ihren Ergebnissen, was darauf hin­ weist, dass der Proband „zumindest nicht bewusst und gezielt verfälscht ha­ ben dürfte“31. Bei allen methodischen Vorbehalten zeigte der Verurteilte sich 30  Nach Angaben der Therapeutin vom 26.4.2012: „nur in Fesseln“ (Gutachten E, a. a. O., S.  86). 31  Gutachten E, a. a. O., S. 87 ff., 94.



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nach den Selbstzuschreibungen in den Fragebogen als „sehr introvertiert“, im sozialen Umgang eher gehemmt, schüchtern und sich eher zurückziehend, dass er „eher mit sich alleine ist, sich leicht beansprucht und gestresst fühlt (FPI-R), ernsthaft ist, ruhig und vorsichtig, schweigsam, bis hin zu kontakt­ gestört (16PF-R), eher ängstlich, teilweise zwanghaft, besorgt, dass er Schuldgefühle hat, gegenüber der Umwelt eher misstrauisch ist, eine Tendenz zur Isolation zeigt, teilweise aber auch unbeherrscht und egoistisch ist (MMPI).“32 Weiterhin eröffnete er sich als eine Person mit eher vielen inne­ ren Konflikten, die reizbar und erregbar ist, teilweise launenhaft, zu bedrück­ ter Stimmung neigt, zu Tagträumereien, und die „nervös ist“ (FPI-R). Zudem zeigte sich nach diesen Quellen „die Verdrängung emotionaler Probleme, ei­ ne Empfindlichkeit, schlechte Verarbeitungsmechanismen für emotionale Probleme, die Neigung zu Frustration“ (MMPI). Seine Lebenszufriedenheit stellte sich eher als gering dar, auch was das bisherige Leben betrifft, der Verurteilte neigt zu bedrückter Stimmung, bis hin zu Depressivität (FPI-R). Hinzukommt eine gewisse Gelassenheit, eine geringe Erregung, „er lässt sich hiernach nicht leicht provozieren, ist eher geduldig, wenig aggressiv (FPI-R), gründlich und planvoll in seinem Vorgehen (16PF-R)“. c) Nach Angaben von Vollzugsbediensteten sei der Verurteilte „nie als Sicherheitsrisiko für die Anstalt“ angesehen worden, es habe keine Flucht­ gefahr geherrscht, „nicht im geringsten“33. Unstreitig war der Verurteilte während der gesamten Vollzugszeit niemals gewalttätig, zumindest hat er niemals mit einer Gewalttätigkeit begonnen, obgleich er, wie mehrere Voll­ zugsbedienstete bekundeten, von anderen Gefangenen abgelehnt, verun­ glimpft, bedroht und geschlagen worden sei34. Eine sexuelle Abweichung konnte nicht festgestellt werden, insbesondere fehlt jeder Anhaltspunkt da­ für, dass der Betroffene jemals eine Sexualstraftat begangen hätte. Nach wiederholt seitens Vollzugsbediensteter bekundeter Auffassung, der im ge­ samten Verfahren nicht eine abweichende Angabe entgegenstand, konsu­ mierte der Betroffene während der gesamten Haftzeit keinen Alkohol, er war somit seit ca. 10 Jahren abstinent. d)  Das LG Augsburg bejahte nicht nur weiterhin bestehende Gewaltphan­ tasien (vgl. dazu aber oben 1. und 2. a) sowie Fn. 21), sondern auch eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit (S. 156) und hochgradige Gefahr (S. 156, 170–172) neuerlich schwerster Deliktsbegehung – der Sachverständige E hatte eine Rückfallgefahr mit deutlich unter 50 % und das Aktengutachten 32  Gutachten E,

a. a. O., S. 87–95. (Hauptverhandlung vor dem LG Augsburg, 25.4.2012, Gut­ achten E, a. a. O., S. 100). 34  Zeugenaussagen Ja und Ha sowie der Therapeutin in der Hauptverhandlung vor dem LG Augsburg, März / April 2012, Gutachten E, a. a. O., S. 99 f. 33  Zeugenaussage Ha

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des nicht ausgeschlossenen psychiatrischen Sachverständigen eine solche allgemein mit über 50 % genannt –, da hierfür die Einschätzung oberhalb des mittleren Risikos ausreichend sei (S. 172–174). Im Urteil wird zu Las­ ten des Betroffenen gewertet, dass er nicht wisse, warum er die damalige Tötung begangen hat (vgl. etwa oben II. 2.) – ein Verstoß gegen den Grund­ satz des fairen Verfahrens, da schon die Auswahl des (eher nicht geeigneten) Sachverständigen im Erkenntnisverfahren entgegen einer Soll-Vorschrift (vgl. oben II. 1.) vom Staat zu verantworten ist und auch keiner der anderen Sachverständigen eine Erklärung geliefert hat. 3. Was die Voraussetzungen einer „psychischen Störung“ im Sinne von § 1 ThUG angeht, so zeigt sich in dem hier erörterten Einzelfall exempla­ risch, wie sehr der Begriff zur Disposition steht. Nach dem Sachverständi­ gen A – er war im vorausgegangenen Erkenntnisverfahren (vgl. oben II.), d. h. vor Schaffung des ThUG tätig – habe keine Persönlichkeitsstörung vorgelegen, nach den drei nunmehr beauftragten Psychiatern hingegen sehr wohl, und zwar nach B eine „unreife“ (ICD: F60.8), nach den beiden ande­ ren eine „kombinierte Persönlichkeitsstörung“ (ICD: F61.0). Laut desjenigen dieser beiden anderen Gutachter, der nicht wegen Unge­ eignetheit ausgeschlossen wurde (vgl. Fn. 24), handle es sich um eine Ver­ bindung mit dissozialen, selbstunsicheren, dysthymen, narzisstischen sowie emotional labilen, sensitiven und querulatorischen Anteilen35. Hinsichtlich der darin auch bemühten Zuschreibung einer „kombinierten Persönlichkeits­ störung“ fehlte es an einer genaueren Herleitung nach Informationsquellen einerseits und an einer systematischen Abgrenzung zwischen Informationen aus der Vergangenheit von solchen in der Gegenwart andererseits. Insbeson­ dere wurde die Verschiedenartigkeit der aktenkundigen Stellungnahmen von Vollzugsbediensteten bzw. der beiden zuvor tätig gewesenen Sachverständi­ gen A und B weder hinsichtlich der jeweils zugrunde liegenden Perspektiven noch bezüglich der methodischen Tragfähigkeit der Aussagen erörtert. Inso­ fern wurde schon die Voraussetzung, dass eine „psychische Störung“ zuverlässig nachgewiesen sein muss36, nicht erfüllt. Der Gefahr einer gewissen „Verschleierung“ hinsichtlich der Informationsquellen wäre dadurch zu be­ gegnen gewesen, dass die jeweiligen Informationen zu jeder der einbezoge­ nen einzelnen Persönlichkeitsstörung dargelegt worden wären. Juristisch ist 35  Vgl.

auch die Würdigung im Gutachten E, a. a. O., S. 18. unter Bezugnahme auf die Judikatur des EGMR, BVerfG BGBl I 2011, S. 1003=NJW 2011, S. 1931=StV 2011, S. 470 mit Anm. Kreuzer / Bartsch sowie Verf. Vgl. auch Morgenstern, C.: Krank – gestört – gefährlich: Wer fällt unter § 1 ThUG und Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK?, in ZIS 2011, S. 974 ff. (979). Gleichwohl hat das Urteil des LG Augsburg zentral eine solche Zuschreibung in dem Aktengutach­ ten des nicht ausgeschlossenen psychiatrischen Sachverständigen übernommen (S.  124 f., 173, 175 f.). 36  Vgl.,



Zu den Rechtsfolgen der Tötung unter Einfluss von Horror-Videos67

ohnehin zweifelhaft, ob die mit mehreren Persönlichkeits-„Zügen“ breit gestreute – und sich daher von der Konturiertheit i. S. einer krankheits­ ähnlichen Beeinträchtigung entfernende – Diagnose vor den Kriterien des EGMR Bestand haben könnte.37

37  Erhebliche Unterschiede bestehen auch gegenüber der klarer hergeleiteten und engeren Diagnose, die einer partiell einschlägigen Entscheidung des BGH (NJW 2011, S. 1981, Rn. 7) zugrunde lag, worin auf die in Rn. 22 des Anfragebeschlusses vom 9.11.2010 (BGH NJW 2011, S. 240 ff.) wiedergegebene Beurteilung im Be­ schluss des OLG Koblenz in dem Sinne Bezug genommen wird, die dort bejahte „kombinierte Persönlichkeitsstörung“ sei als eine „psychische Störung“ i. S. des § 1 ThUG anzusehen.

Der lebenswerte öffentliche Raum: Ein Auslaufmodell? Oder worum es bei den Alkoholverboten wirklich geht Roland Hefendehl I. Hinführung Wenn man der Politik und deren vorgeblichen Sorgen im Kontext von Alkoholkonsum abseits der eigenen vier Wände und außerhalb der Gaststät­ ten Glauben schenken darf, ist der öffentliche Raum in ernster Gefahr. Er werde zunehmend von Personen in Beschlag genommen, die ihn nicht im Sinne eines ordnungsgemäßen Gemeingebrauchs nutzten, sondern über Al­ koholkonsum missbrauchten. Untrennbare Folge hiervon seien Gewaltexzes­ se und Störungen von Anwohnern und Bürgern. Sätze voller zweifelhafter Vorverständnisse und begründungsbedürftiger Annahmen: Wer hat die Definitionsmacht über den ordnungsgemäßen Ge­ meingebrauch? Ist der Alkoholkonsum bereits für sich genommen Miss­ brauch? Hängen Alkoholkonsum und Gewaltexzesse wirklich untrennbar miteinander zusammen? Schließlich: Was ist unter Störungen zu verstehen? Nur wer Klientel und Prinzipien der Partei der Grünen verbrämt bzw. verkennt,1 wird überrascht sein, dass sich insbesondere der grüne Minis­ terpräsident des Landes Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der Aufgabe angenommen hat, den öffentlichen Raum wieder lebenswert zu machen. Und so berief dieser im Januar 2013 einen runden Tisch zu den von ihm ausgemachten Problemen ein.2 Dass unter den 30 Eingeladenen mit Clemens Arzt3 und dem Verfasser dieses Beitrags zwei bekannterma­ ßen dezidierte Kritiker staatlicher Alkoholverbote waren, spricht auf den ersten Blick für eine dem runden Tisch adäquate offene Suche nach 1  Vgl. den Beitrag von Lisa Caspari, „Warum die Grünen gerne Tugendwächter sind“ bei ZEIT ONLINE vom 10.1.2013, http: /  / www.zeit.de / politik / deutschland /  2013-01 / gruene-verbot-dagegen-partei [9.9.2013]. 2  http: /  / www.stuttgarter-zeitung.de / inhalt.kretschmann-laedt-zum-runden-tisch-al koholbekaempfung-ohne-verbot.a18e13c5-802c-46e6-b75e-3b91a159b356.html [9.9.2013]. 3  Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche und private Sicherheit der HWR Berlin.

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Lösungen,4 die weitere Besetzung dieses Forums mit sorgsam ausgewähl­ ten Politikern,5 (Ober-)Bürgermeistern und Funktionären indes weniger. Auch die Vorgabe des Ministerpräsidenten, er wolle Ergebnisse, ihn inter­ essiere nicht, was nicht gehe, ließ von vornherein Zweifel aufkommen, ob ernsthaftes Interesse an relativierenden Einschätzungen bestand. Und so waren die vorläufigen Ergebnisse im unmittelbaren Anschluss an den run­ den Tisch auch geradezu eilfertig von erheblichem Aktionismus geprägt. Im Folgenden soll die Suche nach dem lebenswerten Raum noch einmal vorangetrieben werden. Denn wer strebt nicht nach einem solchen und wer wird nicht bestimmte Vorstellungen mit diesem verbinden, der neben der in gleicher Weise unabdingbaren persönlichen Privatsphäre das zweite Stand­ bein unserer Gesellschaft ausmacht? Nur: Wer ist für die Beantwortung einer solchen Frage überhaupt zustän­ dig? Muss man die Antwort auf die Suche nach dem Lebenswerten nicht jedem persönlich überlassen? Gerade ein derartiger Kontrapunkt deckt die Problematik auf. Er würde ordnungspolitischen gestalterischen Vorstellun­ gen eine Absage erteilen, die mit einem bestimmten Vorverständnis an einen für das Lebenswerte angemessenen Raum herangehen. In eine solche Rich­ tung wies eine nicht unerhebliche Anzahl von Beiträgen am soeben erwähn­ ten runden Tisch, die eher stadtplanerischen Charakter hatten. Auf der an­ deren Seite ist der Hinweis ebenso banal wie zutreffend, dass eine indivi­ duelle Verwirklichung des Lebenswerten mit den Interessen anderer in Konflikt geraten kann und bei Überschreitung einer wiederum nach dem sozialen Kontext zu bestimmenden Erheblichkeitsschwelle gegebenenfalls in Konkordanz gebracht werden muss. Allein um diese Frage wird es im Folgenden gehen. Denn es bleibt dabei: Die individuellen Vorstellungen über das Lebenswerte sollten weder den anderen etwas angehen noch gar für diesen maßgeblich sein. II. Multiple Perspektiven Trotz einer derart gebotenen reduzierten Fragestellung bleiben noch im­ mer unterschiedliche Perspektiven, die wir nachfolgend einnehmen möchten. Die erste ist dabei diejenige der auf empirische Daten setzenden Krimino­ logie. Denn die oben angeführten Behauptungen zur Wirkweise von Alkohol 4  In diesem Sinne auch der Sprecher von Kretschmann, wonach dieser eine De­ batte „ohne Denkverbote“ anstoßen wolle; http: /  / www.welt.de / newsticker / dpa_nt / re giolinegeo / badenwuerttemberg / article112349762 / Debatte-ueber-Alkoholmissbrauchohne-Denkverbote.html [9.9.2013]. 5  Wobei die Luft ohnehin dünn ist, wenn man nach kritischen Einstellungen der Parteien zu derartigen Verboten sucht.



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bzw. zur Entwicklung der Gewaltkriminalität an ausgemachten Problemorten verlangen nach einer empirischen Basis, ansonsten kann man sie getrost in die Kategorie der politischen Agitation einordnen. Die zweite Perspektive hat in gleicher Weise mit der Kriminologie zu tun, sie wendet sich aber derjenigen Ausrichtung zu, die das Verbrechen nicht als etwas Vorfindliches beschreibt, sondern als ein zur Herrschaftsausübung eingesetztes Konstrukt. Auch sie scheint uns in besonderer Weise auf der Hand zu liegen, weil häufig nur mühsam die eigentliche Zielsetzung von Alkohol- oder Aufent­ haltsverboten kaschiert wird, die in der Vertreibung von nicht konsumberei­ ten, vorgeblich „störenden“ Jugendlichen liegt. Die dritte Perspektive schließlich soll deshalb dem Recht gewidmet sein, weil nahezu jeder am runden Tisch eine derartige Intervention für geboten erachtete. Es wird sich zeigen, ob die kriminologischen Erkenntnisse einen im Einzelnen noch zu umreißenden rechtlichen Vorstoß tragen, ferner, ob die durch das Bundes­ verfassungsgericht gerade auch im Konflikt mit Sicherheitsattitüden des Staates ausformulierte Freiheitsdogmatik ernst genommen wird. Diese Blickwinkel wären meiner Einschätzung nach die mindesten, die auch der Jubilar einnehmen würde, der schon immer die Interdisziplinarität seiner Forschungsinteressen gelebt hat und dessen valide Einschätzungen auch deshalb seit Jahrzehnten hochgeschätzt werden. Ihm ist dieser Beitrag gewidmet. 1. Die empirisch arbeitende Kriminologie

a) So wichtig die Erkenntnisse der quantitativen Sozialforschung als Basis für freiheitseinschränkende Regelungen auch sein mögen, so unbefrie­ digend stellt sich die Datenlage dar: Denn es fehlt bislang an empirisch validen Untersuchungen zu den hier im Raum stehenden Fragen. Diese beziehen sich auf die Kriminalitätsentwicklung an so bezeichneten Brenn­ punkten, und zwar auch bezüglich der Übergriffe auf Polizisten, die Wir­ kung von Alkoholverboten im Hinblick auf die Gewaltkriminalität und das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung. Hierzu gibt es zwar durchaus bereits Zahlen, sie reichen uns aber nicht.6 b)  Es beginnt damit, dass im Wesentlichen bislang nur Daten aus polizei­ lichen Kriminalstatistiken vorliegen, die mit den hinlänglich bekannten Problemen derartiger Ausgangsstatistiken behaftet sind. Sie betreffen ledig­ lich das Hellfeld zu einer Deliktsgruppe der so bezeichneten Gewaltdelin­ quenz, die sich zudem nicht trennscharf, sondern allenfalls über Konventi­ 6  Vgl. bereits Hefendehl, Interview mit der Wochenzeitung „Der Sonntag“ v. 13.7.2008, S. 9.

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onen7 abgrenzen lässt. Wir wissen ferner nicht, was aus diesen Verdachts­ fällen wird, wir gehen von Verdrängungseffekten aus diesen eng umrissenen und unter polizeilicher Beobachtung stehenden ausgemachten Brennpunkten aus,8 die eine soziale Kontrolle weiter erschweren. Bei den Übergriffen auf Polizeibeamte wiederum haben gerade die Betroffenen die alleinige Defini­ tionsmacht, ob ein Verdachtsfall vorliegt oder nicht, was gemeinhin nicht als vertrauenserweckender Umstand anzusehen ist.9 Verzerrungen bis hin zu einer systematischen Überrepräsentation von Straftaten unter Alkoholein­ fluss ergeben sich ferner aus der erhöhten Registrierungs- und Überfüh­ rungswahrscheinlichkeit alkoholisierter Täter.10 Das Bemerken einer Alko­ holisierung und deren Einordnung als tatrelevant erweist sich für die Polizei als ein subjektives Ereignis.11 c) Selbst wenn wir einmal trotz all dieser Vorbehalte die Zahlen der Freiburger Kriminalstatistik heranziehen, machen wir keine sicheren Trends aus, sondern treffen auf Schwankungen, die auch mit dem Umfang der Kontrolltätigkeit bzw. einer erhöhten Sensibilisierung für das apostrophier­ te Gewaltproblem erklärt werden können. Dieser Umstand sowie die gerin­ gen Zahlen haben beispielsweise dazu geführt, dass während der Geltung des Alkoholverbots im so bezeichneten Bermudadreieck, einem Freiburger Kneipen- und Clubareal in der Innenstadt, die (Hellfeld-)Zahlen von Ge­ walttaten im maßgeblichen Zeitraum sogar gestiegen sind. Während 2007 7  Vgl. Kriminalstatistik 2012, Stadt Freiburg und Landkreis Breisgau-Hoch­ schwarzwald, Polizeidirektion Freiburg, 2012, S. 26: „Um insbesondere die Gewalt­ delikte in der Freiburger Altstadt abbilden zu können, hat die Polizeidirektion Frei­ burg den Begriff der Gewaltdelinquenz geprägt. Dieser Begriff beinhaltet die Ge­ waltkriminalität und die (vorsätzlich leichten) Körperverletzungen.“ 8  So macht der in der Freiburger Kriminalstatistik gesondert ausgewiesene Be­ reich „Altstadt“ 0,8 % der Gesamtfläche der Stadt aus, die Fläche des sog. Bermu­ dadreiecks 0,06 %; vgl. Kriminalstatistik Freiburg 2012 (Fn. 7), S. 27; nicht erwähnt wird allerdings die extrem hohe Quote von Gaststätten bzw. Clubs und damit auch von Menschen in diesem Bereich, insb. für die als neuralgisch erachteten Abendund Wochenendstunden; zu Verdrängungseffekten auch Hefendehl, Leserbrief zum Beitrag Faßbender (NVwZ 2009, S. 563), NVwZ, 11, 2009, S. IX–X. 9  Jäger, Gewalt und Polizei, 1988, S. 311 ff., 328 ff.; Singelnstein / Puschke, NJW 2011, S. 3473, 3476; Puschke, in: Festschrift Eisenberg, 2009, S. 153, 163. 10  Kerner, in: Frank / Harrer (Hrsg.), Alkohol und Kriminalität. Zur Bedeutung von Alkoholkonsum bei einzelnen Straftaten und bei der Ausprägung krimineller Karri­ eren, 1992, S. 107, 112; Sumner / Parker, Low in Alcohol, Manchester, 1995, S. 37 f.; Albrecht, Bewährungshilfe, 32, 1985, S. 345, 350; Streng, in: Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. (Hrsg.), Ursachen und Sanktionie­ rung von Jugendkriminalität, 2009, S. 7, 8. 11  In diese Richtung auch der von den Bundesministerien des Innern (BMI) und der Justiz (BMJ) herausgegebene Zweite Periodische Sicherheitsbericht, 2006, S. 298.



Der lebenswerte öffentliche Raum: Ein Auslaufmodell?73

noch 384 Delikte der Gewaltdelinquenz im Bermudadreieck gezählt wur­ den, waren es im Jahr 2008, in dem das Alkoholverbot eingeführt wurde, 434 Delikte, 2009 sogar 455.12 Gerade diese vergleichsweise erfreulich kleinen Zahlen führen in nahezu jeder neuen Statistik zu mehr oder minder zufälligen erheblichen Ausschlä­ gen in beide Richtungen, die keiner weiteren Erklärung, sondern lediglich der Gelassenheit bedürfen. Wenn in der Kriminalstatistik von 2012 vermerkt ist, dass von den Verdachtsfällen der Gewaltdelinquenz in der Altstadt 27,7 % im Bermudadreieck stattfanden, es 2011 aber noch 33,9 % waren,13 die so bezeichnete Gewalt gegen Polizeibeamte14 um 11,9 Prozentpunkte von 2011 auf 2012 stieg (was gerade mal 23 Verdachtsfällen entspricht), die Zahlen der qualifizierten Körperverletzung sich hingegen 2012 auf dem niedrigsten Stand seit fünf Jahren befanden und im Vergleich zum Vorjahr um 22,4 Prozentpunkte abgenommen haben,15 so sind dies einige Beispiele hierfür. Wer sie für seine Sichtweise einnehmen möchte, hat sich bereits disqualifiziert. d) Was einen Kausalzusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Ge­ waltkriminalität anbelangt, agieren Polizei und Politik einmal mehr weit forscher, als es der kriminologische Forschungsstand zulässt.16 Denn nach den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung fungiert Alkohol zwar als ein häufiger begleitender Faktor von Gewaltkriminalität.17 Mehr als eine schlichte Korrelation ist dies aber zunächst einmal nicht.18 Aus einer sol­ chen lässt sich deshalb nichts für einen Kausalzusammenhang ableiten, weil 12  Internes, dem Verf. dieses Beitrags zur Verfügung gestelltes Zahlenmaterial der Polizeidirektion Freiburg aus der elektronischen Datenbank zur Entwicklung der Gewaltdelinquenz in der Freiburger Altstadt von 2007 bis 2011. 13  Kriminalstatistik Freiburg 2012 (Fn. 7), S. 27. 14  Sie umfasst auch den Straftatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbe­ amte (§ 113 StGB), der nicht zwingend mit aggressivem Verhalten gegen die Person gleichzusetzen ist. 15  Kriminalstatistik Freiburg 2012 (Fn. 7), S. 29. 16  Albrecht, Bewährungshilfe, 32, 1985, S. 345, 353. 17  von Denkowski, Kriminologisches Sachverständigengutachten zum Gesetzent­ wurf NRW-LT-Drs. 15 / 2852, NRW-LT Stellungnahme 15 / 1213, 2012, S. 5; so auch der Zweite Periodische Sicherheitsbericht (Fn. 11), S. 297 f. 18  So auch Dingwall, Alcohol and Crime, Cullompton, Devon, 2006, S. 23 ff., 46; deutlich gegen eine erwiesene Kausalität sprechen sich auch Sumner / Parker, Low in Alcohol (Fn. 10), S. 34 ff., aus. So weisen sie insbesondere darauf hin, dass eine Einschränkung der Verfügbarkeit von Alkohol für Jugendliche wohl keinen Einfluss auf Kriminalität im Allgemeinen und auch nicht auf bestimmte Deliktstypen hat, S.  37; a. A. Faßbender, NVwZ 2009, S. 563, 565; zur kritischen Charakterisierung seiner Thesen vgl. Hefendehl, Leserbrief zum Beitrag Faßbender (NVwZ 2009, S. 563), NVwZ, 11, 2009, S. IX–X.

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eine Korrelation genauso gut Erklärungsansätze zu stützen vermag, wonach Alkoholkonsum und Kriminalität in keinerlei Verhältnis gegenseitiger Ver­ ursachung stehen, sondern beide gleichermaßen Ausprägungen dritter Vari­ ablen darstellen.19 Auch der VGH Mannheim hat insoweit die Möglichkeit eines bloßen Scheinzusammenhangs ins Spiel gebracht.20 Erhöhter Alkoholkonsum wird indes häufig zwar nicht als Verursachungs­ faktor von Delinquenz betrachtet, wohl aber als Teil eines Störungsbildes sozialer Auffälligkeit und Indikator allgemeiner Problemlagen, die wieder­ um für sich genommen mit einer größeren Delinquenzneigung einhergin­ gen.21 Alkohol könne je nach kulturellen und geschlechtsspezifischen Mus­ tern als ein unterschiedlich starker ‚facilitator‘, als ‚Erleichterer‘ bzw. ‚Mo­ derator‘, wirken, der reflektierte Gegenmotivationen partiell ausschalte bzw. unterdrücke. Stets bleibe er jedoch eingebunden in ein komplexes Motiva­ tionsbündel und bilde niemals die einzige Ursache von Kriminalität.22 Abgesehen davon, dass selbst bei einer derartigen Sichtweise die An­ knüpfung normativer Verbote allein am Alkoholkonsum weitgehend beliebig erschiene und sich die Frage nach dem Recht einer derartigen Fokussierung stellen würde, steht ihr ein weiteres Modell entgegen, das in der beschrie­ benen Korrelation einen rein statistischen Zusammenhang sieht, der etwa durch Auswahlprozesse in der Kriminaljustiz oder durch die Unfähigkeit des alkoholisierten Täters, seine Identifizierung zu vermeiden, zustande komme.23 Es wird uns zum konstruktivistischen Ansatz der sog. kritischen Kriminologie leiten (siehe sogleich unten 2.). Wenn eine Befragung des Arbeitskreises Suchthilfe in Freiburg ergab, dass bei 90 % der Schlägereien Alkohol im Spiel war, während rund 93 % der Anwesenden angaben, alkoholisiert zu sein,24 kann nur eine sehr kurz­ 19  Sog. ‚common-cause‘ model; dazu Bennett / Holloway, Understanding drugs, alcohol and crime, Maidenhead, Berkshire, 2005, S. 89 ff.; Pernanen, in: Collins (Hrsg.), Drinking and Crime: Perspectives on the Relationships between Alcohol Consumption and Criminal Behavior, London / New York, 1982, S. 31 ff.; das ‚com­ mon-cause‘ model bejahend bezüglich Drogenmissbrauch allgemein auch Rautenberg, Zusammenhang zwischen Devianzbereitschaft, kriminellem Verhalten und Drogenmissbrauch, eine Expertise der Kriminologischen Zentralstelle e. V., Wies­ baden, i. A. des Bundesministeriums für Gesundheit, 1997, S. 9, 84 ff. 20  VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, S. 55, 57. 21  Vgl. Streng, in: Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichts­ hilfen e. V. (Hrsg.), Ursachen und Sanktionierung von Jugendkriminalität, 2009, S. 7, 11 ff. m. w. N. zu Studien zur Indizfunktion des Alkoholkonsums. 22  Kerner, in: Egg (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 11, 20. 23  Dazu Albrecht, Bewährungshilfe, 32, 1985, S. 345, 354. 24  Pressemitteilung des Universitätsklinikums Freiburg v. 9.7.2008, http:  /  / www. pr.uni-freiburg.de / pm / 2008 / pm.2008-07-09.228 [9.9.2013].



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atmige Argumentation hierin einen Beweis für die gewaltverursachende Wirkung von Alkohol erblicken. Vielmehr stellt sich fast zwangsläufig die Folgefrage: Wie hätte das Ergebnis wohl ausgesehen, wenn man Clubbe­ sucherinnen und -besucher nach ihrer Alkoholisierung befragt hätte? Mit anderen Worten ist Alkohol in unserer Gesellschaft eben weit verbreitet,25 womit dieser Faktor aber an Erklärungskraft für Kriminalität deutlich ein­ büßt oder sie gänzlich verliert und die erwähnten konstruktivistischen An­ sätze26 an Bedeutung gewinnen. So wird zutreffend darauf hingewiesen, dass Behinderungen bzw. Straftaten nicht durch den Alkoholgenuss als solchen, sondern erst durch weitere, noch hinzukommende Verhaltenswei­ sen einträten. Kriminalstatistiken zeigten lediglich, dass diejenigen, die et­ wa zu Gewalttaten neigten, häufig auch Alkohol konsumierten. Der umge­ kehrte Schluss, dass jeder, der trinke, zum Straftäter werde, sei indes hier­ durch nicht belegbar.27 Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung als Legitimation von Verboten anzuführen,28 überzeugt die Kriminologie schließlich ein weiteres Mal nicht. Schon seit längerer Zeit steht fest, dass soziale Ängste ein Motor für Unsicherheit sind, nicht aber die Ängste vor einer Schlägerei.29 Das Sicherheitsgefühl kann daher schon aus diesem Grund kein polizeiliches Schutzgut sein.30

25  OVG Sachsen-Anhalt DVP 2011, S. 211, 215 f.; Hecker, NVwZ 2009, S. 1016, 1017; Kohl, NVwZ 1991, S. 620, 623; Hefendehl, Interview mit der Wochenzeitung „Der Sonntag“ v. 13.7.2008, S. 9. 26  Hierzu sogleich unter 2. 27  Brückner, LKV 2012, S. 202, 207. 28  Vgl. die Polizeidirektion Freiburg, die eine Verbesserung des subjektiven Si­ cherheitsempfindens nach Inkrafttreten einer Alkoholverbotsverordnung für die Frei­ burger Innenstadt festgestellt haben will; Anlage 2 zur Drs. G-08 / 148 der Polizei­ direktion Freiburg, 2008, S. 21. 29  So gelangen Hirtenlehner / Hummelsheim, MschrKrim 2011, S. 178 ff. in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass kriminalitätsbezogene Unsicherheitsbefindlich­ keiten europaweit in hohem Maße mit dem Umfang der Gewährleistung sozialer Sicherheit verknüpft seien, wohingegen sie sich gegenüber dem tatsächlichen Krimi­ nalitätsaufkommen als robust erwiesen. Furchtpräventive Potenziale lägen demnach in sozialstaatlichen Interventionsfeldern wie etwa der Stärkung des öffentlichen Bildungssystems oder der Erweiterung von Sozialleistungen für Krankheit und Ar­ beitslosigkeit. Im Gegensatz dazu würden Maßnahmen der Kriminalitätsbekämpfung und der Kriminalitätsprävention das gesellschaftliche Ausmaß von Kriminalitäts­ furcht kaum maßgeblich beeinflussen können. 30  Albrecht / Hatz, ZVR-Online Dok. Nr. 13 / 2012, Rn. 11 f.

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Roland Hefendehl 2. Die kritische Kriminologie

Die Perspektive der kritischen Kriminologie erweist sich auf dem Feld vordergründiger Plausibilitäten („Alkohol und Gewalt sind kongeniale Part­ ner!“) vielleicht als keine besonders dankbare, wohl aber in unseren Augen als eine aufschlussreiche. In Abgrenzung zur sog. ätiologischen, also nach den Ursachen von Kriminalität forschenden Kriminologie nimmt die kriti­ sche Kriminologie ungleiche Zuschreibungsprozesse von Kriminalität in den Blick und beschreibt diese als ein Konstrukt zur Herrschaftsaus­ übung.31 Gerade wenn wir die drastischen Worte von Boris Palmer32 noch im Ohr haben, der von Straßen voller Scherben sowie verwüsteten und vollgekotz­ ten Vorgärten sprach,33 mag es einem in einem ersten Zugriff schwerfallen, hier von Konstrukten zu sprechen. Aber das Konstrukt ist natürlich nicht in erster Linie der Befund, auch wenn Scherben und Verunreinigungen nicht zwingend mit einer Ordnungswidrigkeit oder gar einem Straftatbestand zu tun haben müssen, wohl aber der hergestellte Zusammenhang mit dem Al­ koholkonsum sowie die Benennung des Problems selbst, das durch staatli­ che Intervention gelöst werden müsse. Dieser konstruktivistische Ansatz gewinnt zusätzlich dadurch an Plausibi­ lität, wenn wir ihn mit der gesicherten kriminologischen Erkenntnis der Ubiquität von Kriminalität,34 also deren Allgegenwärtigkeit, verknüpfen. Machen wir uns also zweierlei bewusst: Erstens ist die Gewaltkriminalität kein Phänomen der Straße, sondern in gleicher Weise und sogar insbeson­ dere ein solches der eigenen vier Wände.35 Statistisch gesehen sollte man also kurioser- oder auch erschreckenderweise gerade auf die Straße gehen, wenn man nicht Opfer eines Gewaltverbrechens werden möchte.36 Und zweitens wird durch diese ungleiche Zuschreibung insbesondere den jungen Menschen ein Problem zugeschrieben, weil sie es eben sind, die den öffent­ lichen Raum nutzen, während man ab einem bestimmten Alter den Abend 31  Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl., 2005, § 6 Rn. 6; Albrecht, Kriminologie, 4. Aufl., 2010, S. 19; Kunz, Kriminologie, 6. Aufl., 2011, § 1 Rn. 14 ff. 32  Politiker der Grünen und Oberbürgermeister von Tübingen. 33  http: /  / www.welt.de / politik / deutschland / article112349493 / Gruener-OB-Palmerbeklagt-vollgekotzte-Vorgaerten.html [9.9.2013]. 34  Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht (Fn. 11), S. 357; Albrecht, Kriminolo­ gie (Fn. 31), S. 164 f. 35  Zu einer solchen notwendigen Perspektivenverschiebung vgl. Arzt, Thesen zur Sachverständigenanhörung im Landtag Nordrhein-Westfalen v. 12.1.2012 zum Ge­ setzentwurf NRW-LT-Drs. 15 / 2852, NRW-LT Stellungnahme 15 / 1184, S. 6. 36  Vgl. bereits Hefendehl, Leserbrief zum Beitrag Faßbender (NVwZ 2009, S. 563), NVwZ, 11, 2009, S. IX–X sowie Stolle / Hefendehl, KrimJ 2002, S. 257, 267.



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lieber in seinem mühsam erarbeiteten Haus verbringt, sofern man zur privi­ legierten Schicht zählt. Diese jungen Menschen sind es aber auch, die sich in einem besonders dynamischen Wandel befinden, bei dem man in aller Regel schlicht abwarten sollte, statt ein Problem zu konstruieren.37 Zusammengefasst legt die kritische Kriminologie somit die unangenehme Erkenntnis offen, dass die Mächtigen mit ihren Bemühungen nicht den Finger auf die Wunde legen, sondern auf das sie Störende. Und damit ­schreiben sie ein Problem in willkürlicher Art und Weise einer Personen­ gruppe zu und machen diese wiederum zum Problem.38 3. Die Rechtswissenschaft mit Blick auf Verfassung und Empirie

Die dritte Perspektive soll zwar eine primär polizeirechtliche sein, die bisherigen rechtstatsächlichen Erkenntnisse aber nicht aus den Augen ver­ lieren. Die Wechselwirkungen zum Verfassungsrecht und zur Empirie inte­ ressieren dabei nicht nur uns, sondern in gleicher Weise auch den VGH sowie das Bundesverfassungsgericht. Eine hinreichende empirische Basis für freiheitseinschränkende Gesetze oder Verordnungen ist kein lässlicher Luxus, sondern Wirksamkeitsvoraussetzung. Der VGH hat genau dies in seinen Entscheidungen zum Freiburger Bermudadreieck und zur Konstanzer Glasverordnung angemahnt.39 Die Bringschuld liegt insoweit eindeutig beim Gesetz- bzw. Verordnungsgeber. Es wäre nun ein Trugschluss, den VGH in der Weise zu verstehen, ein schlichter Transfer der Verbotsinstrumentarien von Verordnungen wie derje­ nigen zum Bermudadreieck in das Polizeigesetz, der bereits etliche Male realisiert wurde40 und in weiteren Bundesländern diskutiert wird,41 würde deren Bedenken ausräumen.42 Denn auch hier bedürfte es eines nachzuwei­ senden hinreichend plausiblen Zusammenhangs zwischen dem Alkoholkon­ Walter / Neubacher, Jugendkriminalität, 4. Aufl., 2011, Rn. 101 ff., 319 ff. auch von Denkowski, Kriminologisches Sachverständigengutachten zum Gesetzentwurf NRW-LT-Drs. 15  /  2852, NRW-LT Stellungnahme 15  /  1213, 2012, S. 11; zu den Labeling-Effekten auch Hefendehl, Leserbrief zum Beitrag Faßbender (NVwZ 2009, S. 563), NVwZ, 11, 2009, S. IX–X. 39  VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR, 2010, S. 55, 58; VGH Baden-Württem­ berg BWGZ 2013, S. 77, 78. 40  Vgl. etwa § 9a Sächsisches Polizeigesetz (SächsPolG); § 94a Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Sachsen-Anhalt (SOG LSA). 41  Konkrete Gesetzentwürfe mit entsprechenden Ermächtigungsnormen existieren derzeit etwa in Bayern (Bayerischer Landtag, Drucksache 16 / 15831 vom 27.2.2013) und Thüringen (Thüringer Landtag, Drucksache 5 / 6118 vom 21.5.2013). 42  So auch Brückner, LKV 2012, S. 202, 207: Fehler, die man bislang auf der Ebene der Polizeiverordnungen fand, würden auf die Gesetzesebene transferiert. 37  Vgl. 38  Vgl.

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sum und der Begehung von Straftaten.43 Und natürlich gilt der Verhältnis­ mäßigkeitsgrundsatz auch hier. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren bei der Überprüfung von Gesetzen im Politikfeld der inneren Sicherheit stets darauf hingewiesen, dass belastbare Daten beizubringen seien, um die Einhaltung der drei Prüfungsstufen der Verhältnismäßigkeit – die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Angemessenheit – überprüfen zu können.44 Der Gesetzgeber hat mit anderen Worten gerade kein Recht, sich unangreifbar zu stellen. Clemens Arzt stieß in seinem Beitrag am erwähnten runden Tisch45 in das gleiche Horn und verwies darauf, dass man ein „sehr schmales Segment“ des Alkoholkonsums ins Visier nehme, das zudem unter den Gemeinge­ brauch von Straßen falle.46 Der Nachweis einer abstrakten Gefahr des Al­ kohols hinsichtlich der Gewaltdelinquenz sei nicht gelungen, eine schlichte Gefahrenvorsorge stünde auf wackeligen Beinen, insbesondere wenn man sich vor Augen führe, dass eine solche für das AKW Wyhl entwickelt wor­ den sei, also zum Schutz von Höchstwerten zahlloser Personen.47 Man müsse schon sehr gute Gründe für eine Differenzierung zwischen normalem (legalem) und übermäßigem (illegalem) Konsum, zwischen dem Konsum an erlaubten und verbotenen Orten und zwischen der Gefahr einer Straftat bzw. einer bloßen Belästigung haben. Er sehe sie nicht. Warum nehme man nicht die Bedenken des VGH48 und anderer zweifelnder Obergerichte ernst und setze ansonsten auf Regelungen im Einzelfall? Hier gewinnen nun unsere ersten beiden Stationen des Beitrags unmittel­ bare Relevanz: Mit Blick auf die Perspektive der empirisch arbeitenden Kriminologie überrascht uns die Unbekümmertheit, mit der man bei der Erweiterung des Polizeigesetzes ein weiteres Mal auf Zahlen und Erkennt­ hierzu Hecker, NVwZ 2010, S. 359, 363. die Entscheidungen zum großen Lauschangriff, BVerfGE 109, 279, 337 ff. sowie zur Rasterfahndung, BVerfGE 115, 320, 361 ff.; vgl. hierzu auch Lepsius, in: Jestaedt / Lepsius / Möllers / Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159, 207 f. sowie Hefendehl, in: FS Wolter, 2013, S. 729, 735 ff. 45  Vgl. seine Präsentation http: /  / www.hwr-berlin.de / fileadmin / profpages / arzt / Poli zeirecht__Standardmassnahme / Alkoholverbote_Stuttgart_24-1-2013.pdf [9.9.2013]. 46  Zu straßenrechtlichen Aspekten vgl. Kohl, NVwZ 1991, S. 620, 624 ff.; OVG Sachsen v. 7.7.2011 – 4 A 370 / 10. 47  So auch Arzt (Fn. 35), S. 5. 48  So betont der VGH Mannheim (NVwZ-RR 2010, S. 55, 56): „Schadensmög­ lichkeiten, die sich nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissens­ stand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden kön­ nen, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotenzial.“ Möglicherweise handele es sich auch nur schlicht um einen Scheinzusammenhang (NVwZ-RR 2010, S. 55, 57). 43  Vgl.

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nisse der Polizei oder schlicht naive Vorstellungen von Wirkungszusammen­ hängen setzen möchte. Und mit Blick auf die zweite Perspektive der kri­ tischen Kriminologie verweisen wir darauf, dass die in den Gesetzentwür­ fen angedachte Fokussierung auf Problemgebiete einmal mehr trotz aller vorgeblich objektiver Kriterien eine weitgehend willkürliche Zuschreibung darstellt. Wenn im Projektbericht „Sicherheit im öffentlichen Raum“49 18 potenzielle Brennpunkte in Tübingen benannt werden, so wird sich zwar Boris Palmer in der Sorge um „seine“ Stadt bestätigt sehen. Wenn aber Stutt­gart und Mannheim auf der anderen Seite überhaupt keinen Brennpunkt mitteilten, kommen Zweifel auf, ob die Auswertung tatsächlich sicherheits­ technisch objektiv bedenkliche Orte widerspiegelt. Dies insbesondere auch deshalb, weil die Polizei mittlerweile selbst eingeräumt hat, auch andere Ziele wie eine Kanalisierung der Partyszene oder der Obdachlosen mit den Verboten zu verfolgen.50 Damit verschwimmt die Grenze zwischen rechts­ relevanten Störungen und schlichten Unannehmlichkeiten endgültig und werden die von uns so bezeichneten Ziele hinter den Zielen schonungslos offengelegt, bei denen ökonomische Interessen die entscheidende Rolle spielen. Diese versteckten Ziele tragen zugleich unser utilitaristisches Hauptargu­ ment gegenüber Alkoholverboten in der Öffentlichkeit jedweder Form: Sie verhindern den vorgeblich so gefährlichen Alkoholkonsum in keiner Weise. Denn man kann vorglühen, man kann ein paar Schritte weiter trinken oder man kann bei entsprechender Finanzkraft in Kneipen und Clubs den hier allseits erwünschten Alkohol zu sich nehmen. Nach einem neuen Vorschlag des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer soll nun die Polizei in die Lage versetzt werden, einzelnen Personen den Aufenthalt an einem bestimmten Ort unter Einfluss von Alkohol für die Dauer von bis zu einem Jahr zu untersagen. § 27 a des baden-württember­ gischen Polizeigesetzes zum Platzverweis bzw. Aufenthaltsverbot wäre wie folgt um einen neuen § 27 b PolG zu ergänzen: „Die Polizei kann einer Person verbieten, einen bestimmten Ort, ein bestimmtes Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder ein Gemeindegebiet unter dem Einfluss von Alkohol oder sonstiger berauschender Mittel zu betreten oder sich dort aufzuhal­ ten, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person unter dem Ein­ fluss berauschender Mittel eine Gefahr verursachen wird.“51 49  Projektbericht der Polizeidirektion Freiburg „Sicherheit im öffentlichen Raum“ /  „Polizeiverordnung Alkoholkonsumverbot“ (Auswertung der Erhebungs­ bogen zur Vorbereitung eines Alkoholkonsumverbots an Brennpunkten), 2011, Akt.-Z. PDFR / 1211. 50  Vgl. den Projektbericht der Polizeidirektion Freiburg (Fn. 49), S. 8 f. 51  Vgl. etwa http: /  / www.suchtmittel.de / ?object=3526 [9.9.2013].

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Aus allen drei in diesem Beitrag eingenommenen Perspektiven ist einem derartigen Vorstoß ein erschrockenes bzw. beunruhigtes „Nein!“ entgegen­ zusetzen: Bereits das Verbotserfordernis des Betretens oder Verweilens „unter dem Einfluss von Alkohol“ würde kaum überprüfbaren, willkürli­ chen Möglichkeiten der Polizei oder gar des im Schnellkurs „ausgebilde­ ten“ sog. kommunalen Ordnungsdienstes Vorschub leisten, die wiederum gegen stigmatisierte Personen wie „stadtbekannte“ Obdachlose oder Punker funktional im Sinne einer grundrechtsintensiven Vertreibungspolitik einge­ setzt werden könnten. Grundrechtsintensiv deshalb, weil ein langandauern­ der Eingriff in das Grundrecht der Freizügigkeit aus Art. 11 GG in Rede stünde.52 Entweder könnte die tatbestandliche Voraussetzung des Betretens oder Sichaufhaltens „unter dem Einfluss von Alkohol“ so zu deuten sein, dass hierfür allein die Alkoholisierung ausreicht. Oder aber es müsste eine Einflussnahme des Alkohols auf das Verhalten auszumachen sein. Beide Interpretationsmöglichkeiten sind in gleicher Weise bedenklich, weil sie auf vage Verdachtsmomente für sozial indifferentes Verhalten zu rekurrie­ ren hätten. Während diese Argumentation im Wesentlichen herrschaftsbasiert bzw. -kritisch ist, kommen bei der nach § 27 b PolG erforderlichen zweiten Pro­ gnose die beschriebenen Zweifel an einem Kausalzusammenhang von Al­ koholeinfluss und der Verursachung einer Gefahr hinzu. Sie vereinen sich mit Bedenken im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitssowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,53 was eine verderbliche Mixtur ergibt. Denn der Gegenstand der Gefahr ist – anders als in § 27 a Abs. 2 PolG – nicht definiert und soll anscheinend auch schlichte Ordnungswid­ rigkeiten umfassen. Das ist bereits für sich genommen unverhältnismäßig und unbestimmt, passt aber auch von Eingriffsvoraussetzungen und -tiefe her nicht in die bereits bestehenden bedenklich weitreichenden polizei­ rechtlichen Instrumentarien. Besondere Durchsetzungsprobleme kämen auch deshalb hinzu, weil die Stadtzentren gerade um Besucher aus dem Umland buhlen. Hier für Ordnung im Sinne der Verbotsprotagonisten zu sorgen, würde einen enormen Kontroll- und Überwachungsapparat erfor­ dern, es sei denn, man wollte sich – in gleicher Weise abzulehnen – doch auf die bekannte Klientel beschränken.

52  Trurnit, VBlBW 2009, S. 205, 207; Rachor, in: Denninger  /  Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., 2012, Teil E, Rn. 442. 53  Albrecht / Hatz, ZVR-Online, Dok. Nr. 13 / 2012, Rn. 19 ff.; Rachor, in: Dennin­ ger / Rachor (Fn. 52), Teil E, Rn. 462 ff.



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III. Zusammenführung der Perspektiven Die Perspektive der Kriminologie in ihren beiden Facetten sowie des Rechts führen uns somit zu dem Ergebnis, bei der Suche nach einem lebens­ werten öffentlichen Raum nicht auf die angedachte Erweiterung des Polizei­ gesetzes oder weitere repressive Maßnahmen zu setzen. Nicht, weil wir die Fakten bagatellisieren, sondern weil wir sie umgekehrt ernst nehmen. Wir haben die Möglichkeit, im Einzelfall bei Exzessen effiziente rechtli­ che Instrumentarien einzusetzen,54 wir sollten die durch die Polizeireform in Baden-Württemberg eröffnete Möglichkeit nutzen, mehr Polizeibeamte als Ansprechpartner vor Ort gerade auch in den verdichteten Räumen zu haben. Schließlich ist nichts gegen die Möglichkeit einzuwenden, über Prä­ ventionsprogramme Angebote zu machen, wenn sie nicht zu einer im Rah­ men der kritischen Kriminologie erwähnten Stigmatisierung führen.55 Ein derartiges Maßnahmenbündel scheint uns die Belange eines Gewaltopfers weit zielgerichteter im Auge zu haben als eine eher symbolische und kurz­ atmige Verbotspolitik. Zu Beginn unseres Beitrages haben wir Zweifel daran geäußert, ob es gelingen werde, den Begriff des lebenswerten öffentlichen Raumes einver­ nehmlich festzulegen. In unseren Augen liegen die wahren Gefahren für einen solchen nicht etwa in einem Mitsichführen von Alkoholika, sondern in etwas ganz anderem, nämlich einer dramatischen Zurückdrängung des öffentlichen Raums.56 Und die Rechnung ist zumindest insoweit einfach: Ohne öffentlichen Raum wird es mit Sicherheit auch keinen lebenswerten öffentlichen Raum geben können. In der Logik der Verbotsprotagonisten würde sich hieraus die folgende interessante Perspektive eröffnen: Schreitet die Ökonomisierung der Städte weiter voran, nähme der öffentliche Raum und damit der örtliche Anwen­ dungsbereich der kontroversen Alkoholverbote zwangsläufig ab. Wäre damit nicht allen gedient? – Dass diese Koinzidenz kein Zufall ist, liegt allerdings schlicht daran, dass das Eindampfen des öffentlichen Raums ebenso wie die Alkoholverbote ökonomisch motiviert sind. Durch die Erosion des Gegen­ standes – des öffentlichen Raumes – hätte sich das Konfliktpotenzial also keinesfalls entschärft. Definieren wir den öffentlichen Raum hingegen auch als einen Ort der Differenz, an dem verschiedene Schichten, Generationen, Ethnien und Le­ 54  Arzt

(Fn. 35), S. 2; Hecker, NVwZ 2010, S. 359, 362. Hefendehl, in: Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendge­ richtshilfen e. V. (Hrsg.), Fördern, Fordern, Fallenlassen: Aktuelle Entwicklungen im Umgang mit Jugenddelinquenz, 2008, S. 235, 243; ders., NK 2013, S. 19, 24 f. 56  Vgl. hierzu Stolle / Hefendehl, KrimJ 2002, S. 257, 269. 55  Vgl.

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bensstile aufeinandertreffen,57 können wir vielleicht gelassener mit dieser Heterogenität umgehen. Urbane Räume sind eben solche der Kommunikati­ on und auch der Konfrontation, der Freiheitsentfaltung und des Widerstan­ des hiergegen. Wenn Kretschmann das Ziel der „Erarbeitung eines umfas­ senden Handlungskonzeptes mit restriktiven und präventiven Elementen“ ausgibt, sollte man die Rückfrage zulassen: Könnte es nicht auch ein Ziel sein, mit der Situation in souveräner Zurückhaltung umzugehen und im prekären Einzelfall das bereits existierende Instrumentarium einzusetzen?

57  Vgl.

zu dieser Sichtweise Stolle / Hefendehl, KrimJ 2002, S. 257, 271.

Kriminologie und Strafrecht – getrennte Welten? Johannes Kaspar Es muss nicht eigens betont werden, dass der verehrte Jubilar mit seinem wissenschaftlichen Œuvre1 ganz wesentlich zum Ruf der Kriminologie als Teil der „Gesamten Strafrechtswissenschaft“2 beigetragen hat. Hervorhe­ benswert erscheint mir aber, dass Michael Walter sich darüber hinaus auch ganz direkt als Botschafter der Kriminologie und Vermittler zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen betätigt hat. So hat er beispielsweise in ei­ nem von ihm mitverfassten Werk die empirischen Forschungsmethoden der Kriminologie in gut verständlicher und praxisnaher Weise erläutert und damit auch für Studierende aus dem rechtswissenschaftlichen Bereich besser zugänglich gemacht.3 In einem weiteren Beitrag aus jüngerer Zeit hat er sich explizit mit dem prekären Verhältnis zwischen Kriminologie und Straf­ recht sowie möglichen „Brücken“ zwischen beiden Fächern beschäftigt.4 Diese Frage zu thematisieren ist bitter nötig. Denn die Kriminologie als eigenständige, an deutschen Universitäten in Forschung und Lehre präsente Wissenschaft ist akut bedroht. Das kann und muss hier nicht weiter ausge­ führt werden; spätestens seit der Freiburger Tagung im Jahre 2012 und dem daraus entstandenen Memorandum von Albrecht, Quensel und Sessar5 soll­ te der Ernst der Lage klar sein.6 Wenn an juristischen Fakultäten krimino­ logische Lehrstühle gestrichen oder zumindest nicht mit kriminologischer, sondern rein strafrechtlicher Ausrichtung neu besetzt werden, hat die Idee der Gesamten Strafrechtswissenschaft, zu der selbstverständlich und zentral auch die Kriminologie gehört, offenbar an Überzeugungskraft eingebüßt. Die Idealvorstellung zweier gleichberechtigter Disziplinen „unter einem 1  Siehe vor allem Walter, Gewaltkriminalität, 2. Aufl. (2008) und Walter / Neubacher, Jugendkriminalität, 4. Aufl. (2011). 2  Grundlegend v. Liszt ZStW 9 (1889), S. 455. 3  Siehe  Walter / Brand / Wolke, Einführung in kriminologisch-empirisches Denken und Arbeiten, 2009. 4  Walter ZIS 2011, S. 629. 5  Albrecht / Quensel / Sessar, MSchKrim 2012, S. 385 ff. sowie Neue Kriminalpoli­ tik 1 / 2013. 6  Siehe nur die Beiträge in: MSchKrim 4 / 2012 sowie die Beiträge zum Titelthe­ ma „Lage und Zukunft der Kriminologie“ in Neue Kriminalpolitik 1 / 2013.

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Dach“7 erweist sich dann vielerorts eher als eine Art Untermietverhältnis, das in guten Zeiten mit der Kriminologie eingegangen wurde – und das jetzt von strafrechtlicher Seite nach und nach, um im Bild zu bleiben, aus Eigen­ bedarf gekündigt wird. Das liegt gewiss auch an strukturellen Gründen wie der Knappheit der Mittel und Ressourcen bei steigender Lehrbelastung. Dennoch lohnt es sich, in diesem Zusammenhang auch der von Walter aufgeworfenen Frage des Verhältnisses von Strafrecht und Kriminologie weiter nachzugehen. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme (unten I.) werden mögliche Ursachen erör­ tert, die dazu geführt haben könnten, dass „das Strafrecht“ „die Kriminolo­ gie“, bei aller gebotener Vorsicht vor entsprechenden Pauschalisierungen, offenbar zunehmend für verzichtbar hält (unten II.). Das liegt möglicherwei­ se auch daran, dass die Strafrechtsdogmatik als Kerngeschäft der Straf­ rechtswissenschaft von deren Vertretern normativ und zugleich empiriefrei8 verstanden und betrieben wird. Sind Strafrecht und Kriminologie aber tat­ sächlich „getrennte Welten“, in denen verschiedene Sprachen gesprochen werden, so dass man nahezu zwangsläufig aneinander vorbeiredet und letztlich ganz gut auch ohne einander auskommt? Ich halte das für falsch und will im Folgenden die Gegenthese entwickeln, dass ein modernes rechtsstaatliches Strafrecht ohne empirische kriminologische Forschung nicht auskommt und dass sich der Einsatzbereich der erzielten Forschungs­ ergebnisse nicht auf den Bereich der strafrechtlichen Sanktionen bzw. der Kriminalpolitik beschränkt. Vielmehr weist auch die Strafrechtsdogmatik, verstanden als das geordnete System der Voraussetzungen materieller Straf­ barkeit, zahlreiche „Einbruchsstellen“ für empirische Erkenntnisse auf (un­ ten III.). Hier zeigt sich möglicherweise ein neues und bisher noch nicht ausreichend erschlossenes Aufgabengebiet der Angewandten Kriminologie, das direkten Bezug zur Strafrechtspraxis aufweist und damit einen Brücken­ pfeiler im Sinne von Walter darstellen könnte. I. Bestandsaufnahme Spannungen im Verhältnis von Strafrecht und Kriminologie haben eine lange Tradition. Der sog. „Schulenstreit“ zwischen v. Liszt als Vertreter 7  Vgl. nur Sieber / Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006. Der Begriff wurde von Jescheck zur Beschreibung der am Freiburger Max-Planck-Institut bis heute vorbildlich realisierten Zusammenarbeit von straf­ rechtlicher und kriminologischer Forschung geprägt, siehe dazu Kaiser, Perspektiven eines Kriminologen, in: Sieber / Albrecht, a. a. O., S.  66. 8  Dass das eine mit dem anderen nicht notwendigerweise zusammenhängt, versu­ che ich unten II. zu zeigen.



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eines spezialpräventiv ausgerichteten Zweckstrafrechts und den Anhängern des klassischen Schuldstrafrechts wurde mit großer Schärfe geführt.9 Es ging scheinbar um alles oder nichts: Birkmeyer warf die Frage auf, was v. Liszt (und das hieß zugleich: die Kriminologie10) „vom Strafrecht übrig lasse“, und beantwortete sie selbst: „nur eine jämmerliche Ruine“11. Heute müsste man die Frage angesichts der oben geschilderten Entwicklung eher anders herum stellen. Der Hintergrund der damaligen Kontroverse war nicht nur, dass v. Liszt den Strafzweck der Schuldvergeltung ablehnte und auf einem spezialpräven­ tiven Zweck beharrte. Vielmehr störte man sich daran, dass v. Liszt als Determinist bekanntlich die menschliche Willensfreiheit in Frage stellte und damit dem Schuldstrafrecht, so die Befürchtung, jegliche Grundlage entzie­ hen wolle.12 Heute kommen Angriffe in dieser Richtung von Seiten der medizinischen Hirnforschung13, wurden in der Kriminologie bislang aber kaum aufgegriffen. Überhaupt wird die Existenzberechtigung des Strafrechts von kriminologischer Seite heute nur noch eher selten pauschal in Frage gestellt. Abolitionistische Konzepte oder radikale Etikettierungsansätze wer­ den nur noch vereinzelt vertreten; die Suche nach Ursachen kriminellen Verhaltens wird überwiegend gerade nicht (mehr) als Grundlage weitrei­ chender Exkulpationsstrategien verstanden14. Vermutlich sind auch deshalb scharfe Töne heutzutage kaum mehr zu vernehmen. Wenn man so will, hat die „Beziehungskrise“15 sich also gewandelt: Man beschimpft und bedroht sich nicht mehr, sondern hat sich im Laufe der Zeit irgendwie miteinander arrangiert. Aber eine Krise ist es doch16; gerade die empirische Kriminolo­ gie wird nach meinem Eindruck von manchen Strafrechtlern mit einem gewissen Misstrauen betrachtet17, ihre Herangehensweise zumindest hinter vorgehaltener Hand als „Erbsenzählerei“ abgewertet und damit zugleich auch in ihrem Nutzen für die Strafrechtswissenschaft in Frage gestellt. Und 9  Siehe dazu Kaiser / Schöch, Juristischer Studienkurs, 7.  Aufl. (2010), Fall 1 Rn.  2 ff.; Göppinger-Bock, Kriminologie, 6. Aufl. (2008), § 2 Rn. 33 ff. 10  Vgl. H. Kaufmann JZ 1962, S. 193 ff. 11  Birkmeyer, Was lässt v. Liszt vom Strafrecht übrig, 1907, S. 93. 12  Kaiser / Schöch, 2010, Fall 1 Rn. 4 f. 13  Aus dem umfangreichen Schrifttum siehe nur Roth, Fühlen, Denken Handeln, 2. Aufl. (2003), S. 536 ff. Kritisch Hillenkamp, JZ 2005, S. 313 ff. 14  Vgl. zu diesem Aspekt Baratta, ZStW 92 (1980), S. 107, 113. 15  Zu dem von v. Bemmelen geprägten Bild von Kriminologie und Strafrecht als Partnern einer schlechten Ehe siehe Neumann / Schroth, Neuere Theorien von Krimi­ nalität und Strafe, 1980, S. 1. 16  Siehe auch Kaiser, ZStW 116 (2004), S. 855, der eine „Berührungsfurcht“ bei­ der Disziplinen konstatiert. 17  Vgl. die Einschätzung bei Neumann / Schroth, 1980, S. 1.

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auch das mag zur aktuellen Situation des Niedergangs der Kriminologie an den juristischen Fakultäten beigetragen haben. II. Ursachenforschung Wenn das eine richtige Beschreibung des status quo ist, stellt sich die Frage, was die möglichen Ursachen für diese Entwicklung sind. 1. Die Kränkungen des Strafrechts durch die Kriminologie

Vielleicht geht es dabei zumindest unterbewusst auch um so etwas wie „offene Rechnungen“. Denn es ist nicht zu übersehen, dass die empirische Kriminologie den Vertretern des Strafrechts im Laufe der Zeit diverse Krän­ kungen zugefügt hat. Manches Mal war dies unberechtigt oder zumindest übertrieben, aber gewiss waren darunter auch einige unbequeme Wahrheiten. Dazu zählen die sogenannten Etikettierungsansätze, die Strafverfolgung tendenziell als willkürliche, diskriminierende und stigmatisierende Vorge­ hensweise kritisierten.18 Das war u. a. im Hinblick auf die Grundannahme einer Gleichverteilung der Kriminalität quer durch alle sozialen Schichten deutlich überzogen19, machte aber doch auf mögliche schädliche Auswir­ kungen vor allem von Freiheitsstrafen aufmerksam und bereitete den Weg für den Ausbau der Diversion, also den Vorrang informeller Sanktionie­ rungsstrategien im Bereich der minderschweren Kriminalität. Es ist ein beklagenswerter Zustand, dass der Blick auf die Realität des Strafvollzugs nicht selbstverständlicher Teil der strafrechtlichen Ausbildung junger Juris­ tinnen und Juristen ist. Im Gegenteil, dieser auch von Michael Walter inten­ siv erforschte Bereich der formellen Verbrechenskontrolle20 scheint in der Lehre an Bedeutung zu verlieren. Die Etikettierungsansätze haben weiterhin im Ansatz berechtigt darauf aufmerksam gemacht, dass die juristisch verbindliche Qualifizierung einer menschlichen Handlung als Straftat letztlich das Produkt einer Zuschreibung ist21. Zwar erscheint die Annahme, wonach sich gerade hier auch gesell­ schaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln22, überzogen. Aber es fällt bei 18  Siehe nur Sack, Probleme der Kriminalsoziologie, in: König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 12, 2. Aufl. (1978), S. 192 ff. 19  Vgl. Schöch, Ist Kriminalität normal? – Probleme und Ergebnisse der Dunkel­ feldforschung, Kriminologische Gegenwartsfragen, 12, 1976, S. 211 ff.; ders., ZStW 92 (1980), S. 143, 152. 20  Siehe nur Walter, Strafvollzug, 2. Aufl. (1999). 21  Siehe dazu auch Neumann / Schroth, 1980, S. 2. 22  Vgl. aber Baratta, ZStW 92 (1980), S. 107, 122.



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empirisch-historischer Betrachtung doch auf, wie unterschiedlich die Vor­ stellungen von „Verbrechen“ waren und sind. Es handelt sich dabei um kein in der Realität als solches vorfindbares Phänomen, sondern um das Ergebnis der Schaffung (und Anwendung) strafrechtlicher Normen, die jeweils Aus­ druck wandelbarer gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse sind. Das ist per se noch nicht kritikwürdig, stellt aber doch die unerschütterliche Selbstgewissheit in Frage, mit der neben der Allgemeinheit auch die Straf­ justiz Menschen, die sich in einer bestimmten tatbestandlich umschriebenen Weise verhalten, moralisch tadelt bzw. abhängig vom verwirklichten Delikt geradezu verdammt. Männliche Homosexualität etwa als klarer Verstoß gegen das „Sittengesetz“ und damit auch legitimer Anlass von Bestrafung23 und Ausgrenzung – diese Vorstellung erscheint uns heute als absurd, war vor nicht allzu langer Zeit aber traurige Realität. Zu der damit angesprochenen Erkenntnis einer gewissen Relativität des „Verbrechens“ gesellt sich als weitere Verunsicherung eine gewisse Relati­ vität der Bezeichnung als „Verbrecher“. Denn wir wissen aus der krimino­ logischen Dunkelfeldforschung, dass Delinquenz zumindest im jugendli­ chen Alter ein völlig normales Phänomen ist, das in der Regel ohne grö­ ßere Folgen wieder abklingt.24 Diese Normalität und zugleich Episodenhaf­ tigkeit der tendenziell eher leichten bis mittelschweren Jugenddelinquenz zeigt, wie unsinnig und letztlich auch schädlich die gängige Unterteilung der Bevölkerung in „gut“ und „böse“25, in „anständige Bürger“ und „Ver­ brecher“ ist. Dieses Bild wird insbesondere durch mediale Darstellungen von Kriminalität hartnäckig am Leben gehalten.26 Es entbehrt aber jeder empirischen Grundlage und ist zugleich ganz offensichtlich ein Hindernis bei der (verfassungsrechtlich gebotenen27) Resozialisierung straffälliger Menschen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass die Wahrnehmung des Straftäters als „andersartig“ (die zugegebenermaßen in früheren Zeiten auch von der Kriminologie selbst kräftig befördert wurde28) den Rückgriff auf rein punitive Strategien innerhalb der Strafjustiz erleichtert und umge­ kehrt die Suche nach humaneren Alternativen als weniger dringlich er­ scheinen lässt. 23  So noch BVerfGE 6, S. 389; siehe zu diesem Beispiel auch Walter, Über Kri­ minologie als Kulturwissenschaft, in: Dölling u. a. (Hrsg.): Festschrift für Schöch, 2010, S. 3, 7. 24  Siehe nur Kaiser / Schöch, 2010, Fall 11 Rn. 24. 25  Vgl. Baratta, ZStW 92 (1980), S. 107, 109. 26  Vgl. dazu auch Walter, Gedanken zur Bedeutung von Kriminalität in den Me­ dien, in: P.-A. Albrecht (Hrsg): Festschrift für Schüler-Springorum, 1993, S. 189. 27  Vgl. nur BVerfGE 35, 202 (Lebach). 28  Zu biologistischen Ansätzen wie Lombrosos Theorie vom „geborenen Verbre­ cher“ siehe nur Meier, Kriminologie, 4. Aufl. (2010), § 2 Rn. 6 ff.

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Ohnehin ist in diesem Zusammenhang noch ganz generell der Bereich der Sanktionen zu erwähnen, in dem die Kriminologie laut v. Liszt „ihre Schlachten zu schlagen“ habe.29 Sobald man sich darauf einigt, dass die Strafe in einem empirischen Sinn „wirken“ soll, etwa im Wege spezialprä­ ventiver Rückfallverhinderung oder generalpräventiver Abschreckung, macht man staatliches Strafen auf der Rechtsfolgenseite von einer entsprechenden Erfolgskontrolle abhängig. Wenn nun empirische Forschungsergebnisse sol­ che Wirkungen der Strafe zumindest in Zweifel ziehen, stellt das die Legi­ timation des staatlichen Strafens automatisch in Frage30 – und erschüttert zugleich das gute Gewissen derjenigen, die Strafe verhängen und vollziehen. Die Kriminologie wird dann zum Überbringer schlechter Nachrichten, und diese Rolle hat noch selten für Beliebtheit gesorgt. Das Ausmaß der potenziellen Erschütterung hängt allerdings, wie ange­ deutet, vom straftheoretischen Ausgangspunkt ab31. Allein ein Präventions­ strafrecht hängt von der erwähnten Erfolgskontrolle ab und ist daher deutlich schwerer zu begründen als ein reines Schuldstrafrecht, das gegenüber empi­ rischer Überprüfung vollständig immunisiert ist32. Auch das könnte neben­ bei bemerkt einer der Gründe sein, warum sich der zweifelhafte Strafzweck des „Schuldausgleichs“ bis heute als tragender straftheoretischer Pfeiler in der Rechtsprechung halten konnte33. Er erlaubt die Flucht ins Normative, ohne sich mit lästigen empirischen Fragestellungen allzu sehr beschäftigen zu müssen. Völlig zu Recht wurde diese Komponente des Schuldprinzips von Ellscheid und Hassemer daher schon vor einiger Zeit als „Ruhebank der Strafrechtswissenschaft“34 bezeichnet. 29  v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 2, 1905, S. 93. Man be­ achte auch hier die bezeichnende geradezu kriegerische Rhetorik. Deutlich zurück­ haltender Göppinger, Angewandte Kriminologie und Strafrecht, 1986, S. 5: es gehe um „Entscheidungshilfe“ bei gesetzlich vorgesehenen „Täterbeurteilungen“ innerhalb des weitgehend spezialpräventiv ausgerichteten Rechtsfolgensystems. 30  Vgl. prägnant Walter, ZIS 2011, S. 629, der von „offizielle(n) Verlautbarungen“ des Strafrechts spricht, denen die Kriminologie „konträre Erklärungen der Realität“ entgegensetze, in denen auch die möglichen negativen Begleiterscheinungen der Strafe thematisiert würden. Ähnlich Neumann / Schroth 1980, S.  1 f.; Baratta, ZStW 92 (1980), S. 107, 115. 31  Siehe dazu Kaspar, Gerechtes oder zweckmäßiges Strafen. Überlegungen zur Rolle der Kriminologie in der straftheoretischen Diskussion, in: Koch / Rossi (Hrsg.), Gerechtigkeitsfragen in Gesellschaft und Wirtschaft, 2013, S. 103 ff. 32  So auch Kaiser, 2006, S. 66, 71; vgl. auch Lüderssen, StV 2006, S. 377 ff. 33  Zur bis heute herrschenden Spielraumtheorie des BGH, der die Vorstellung einer „Schulduntergrenze“ immanent ist, siehe nur BGHSt 7, 89. Auch das BVerfG hat in neueren Entscheidungen recht deutlich auf „gerechte Vergeltung“ als Straf­ zweck abgestellt, siehe v. a. BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, 2 BvR 2628 / 10 u. a., Rn. 54. 34  Ellscheid / Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, in: Lüderssen / Sack (Hrsg.), Abwei­ chendes Verhalten II, 1975, S. 266.



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Ohne dass dies hier vertieft werden kann, steht einer Anerkennung des Strafzwecks des Schuldausgleichs (der letztlich von reiner Schuldvergeltung nicht zu unterscheiden ist) das geltende Verfassungsrecht entgegen35. Denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der für alle staatlichen Grundrechts­ eingriffe und damit auch für die Strafe gilt, verlangt die Prüfung der „Ge­ eignetheit“ und „Erforderlichkeit“ der Maßnahme im Hinblick auf einen bestimmten Zweck. Das setzt aber voraus, dass die Zweckerreichung durch die fragliche Maßnahme überhaupt empirisch überprüfbar ist – wie sonst sollte man die prinzipielle „Geeignetheit“ bzw. die Eignung potenzieller milderer Mittel sonst beurteilen?36 Kriminologische Forschung zur Präven­ tionswirkung strafrechtlicher Normen und Sanktionen ist daher nicht nur akademische Spielerei oder Begleitmusik für kriminalpolitische Entschei­ dungen, sondern auch eine verfassungsrechtlich vorgezeichnete Notwen­ digkeit!37 Vor diesem Hintergrund ist natürlich auch das idyllische Bild zweier selbständiger und unabhängiger wissenschaftlicher Disziplinen, die in fried­ licher Ko-Existenz unter einem Dach leben, offensichtlich nicht ganz durch­ zuhalten. Die Kriminologie ist eine Wissenschaft, die zu Recht auch „die Verbrechenskontrolle“ einschließlich der Tätigkeit der Instanzen der Straf­ justiz zu ihrem Untersuchungsgegenstand gemacht hat.38 Sie ist damit, wie Walter zu Recht schreibt, zum „distanzierten Kritiker“ des Strafrechts ge­ worden.39 Konflikte und Missverständnisse sind dann fast vorprogrammiert, genauso wie die Entwicklung von Immunisierungsstrategien. Eine mögliche Vorgehensweise mit immunisierender Tendenz könnte nun sein, den rein normativen Charakter des Strafrechts zu betonen, um auf diese Weise em­ pirisch fundierte Kritik von vornherein auszuschließen oder zumindest für irrelevant zu erklären. 35  Siehe dazu demnächst Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (erscheint Ende 2013). 36  Frisch, NStZ 2013, S. 251 stellt fest, dass die Kategorien der Geeignetheit und Erforderlichkeit im Hinblick auf die Strafe „untauglich“ seien, zieht daraus aber nicht den Schluss dass man die staatliche Maßnahme und ihre Zwecksetzung über­ denken muss, sondern dass diese Teilelemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hier, wenn ich ihn richtig verstehe (aufgrund der Natur der Sache?) nicht anwend­ bar seien. Das halte ich für keine überzeugende Lösung der Friktion mit einem anerkannten Verfassungsgrundsatz. 37  Vgl. auch die Darstellung der hier nur kurz skizzierten Zusammenhänge bei Bachmann / Goeck, Strafrecht auf dem Prüfstand von Verfassung und Kriminologie, in: Brunhöber u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, 2013, S. 37. 38  Zu den Themengebieten der Kriminologie siehe nur Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. (1996), § 4 Rn. 1. 39  Walter, ZIS 2011, S. 629; siehe auch Baratta, ZStW 92 (1980), S. 107, 119.

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Johannes Kaspar 2. Empirische versus normative Perspektive

In der Tat finden sich Hinweise auf ein solchermaßen begründetes Tren­ nungsdenken. Der Jubilar selbst beschreibt den Stand der Debatte so: „ ‚Po­ sitive‘ normative Theorien und negative empirische Theorien stehen sich so weitgehend unvereinbar gegenüber“40. Diese Begriffe werden oft verwendet, um die Unterschiede beider Wissenschaften hervorzuheben.41 Aber ist damit schon das letzte Wort gesprochen? Die wissenschaftstheoretische Einord­ nung der Strafrechtswissenschaft als „normative“ und der Kriminologie als (auch) „empirische“ Disziplin ist natürlich zutreffend. Das darf aber den Blick für Verbindungslinien nicht verstellen.42 Zum einen bezieht sich die kriminologische Forschung de facto ganz überwiegend auf das, was der Gesetzgeber durch Schaffung strafrechtlicher Normen als strafwürdiges Verhalten bezeichnet hat, also auf einen in diesem Sinne normativen Be­ zugspunkt.43 Umgekehrt schöpft der Strafgesetzgeber bei der Fixierung strafwürdigen Verhaltens ersichtlich (auch) aus der Welt des Realen, z. B. dann, wenn neue Phänomene wie die Computer- und Internetkriminalität auftauchen, die als schädlich identifiziert werden (auch das ist eine im Kern empirische Frage!) und in der Folge Gegenstand eines strafrechtlichen Ver­ bots werden. Auch bei Änderungen bestehender Gesetze wird oft zumindest verbal auf empirische Sachverhalte Bezug genommen. Man nehme als Bei­ spiel nur die vom Bundestag unlängst beschlossene Einführung des Konne­ xitätserfordernisses bei der „Kronzeugenregelung“ in § 46b StGB. Es könne „das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts be­ einträchtigen“, so heißt es in der Gesetzesbegründung44, wenn ein Kronzeu­ ge auch dann eine Strafmilderung bekommen könne, wenn er Informationen zur Aufklärung oder Verhinderung von Straftaten liefere, die zu seiner Straftat in keinerlei Zusammenhang stünden – wobei ein Beleg für diese Behauptung nicht angeführt wird, vermutlich auch deshalb, weil entspre­ chende Studien bisher schlicht nicht existieren. 40  Walter,

ZIS 2011, S. 629. vieler Göppinger-Bock, Kriminologie, § 3 Rn. 37; Hirsch, Einführung in das Thema, in: Sieber / Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006, S. 31, 36. Siehe in Bezug auf die Rechtswissenschaft insgesamt auch Petersen, Der Staat, 2010, S. 435, 436. 42  Vgl. Walter ZIS 2011, S. 629, 631; ähnlich Kaiser, Kriminologie, § 1 Rn. 8; Kühne, GA 1994, S. 503, 509. Vgl. auch die allgemeinen Überlegungen von Petersen, Der Staat, 2010, S. 435, 436 ff. 43  Hirsch, 2006, S. 37. Zu diesem Zusammenspiel von Strafrecht und Kriminolo­ gie, das mit einer „Unterordnung“ unter die Strafrechtswissenschaft nichts zu tun hat siehe auch Göppinger-Bock, Kriminologie, § 1 Rn. 6 ff. sowie Walter, ZIS 2011, S. 629 f. A. A. Baratta, ZStW 92 (1980), S. 107, 108. 44  Siehe BT-Drucks. 17 / 9695, S. 6. 41  Statt



Kriminologie und Strafrecht – getrennte Welten?91

Nun könnte man einwenden, dass es dabei nur um die Vorbereitung krimi­ nalpolitischer Entscheidungen gehe, diese selbst aber letztlich eine reine Wertung seien, wie z. B. die Entscheidung über die „Strafwürdigkeit“ einer Verhaltensweise. Aber dabei würde man das untrennbare Zusammenspiel von empirischer und normativer Betrachtungsweise verkennen. Wie der Richter zunächst die Tatsachen feststellen muss, bevor er sein Urteil spricht, muss der Gesetzgeber empirische Daten zu den von ihm zu regelnden Lebensberei­ chen sichten oder ggf. zusätzlich selbst erheben, bevor er eine Entscheidung trifft45. Dass er dabei auch verfassungsrechtlich einen großen Einschätzungsund Gestaltungsspielraum für sich in Anspruch nehmen kann, steht dem nicht entgegen. Die Metapher vom „Spielraum“ impliziert ja, dass es auch Grenzen gibt, die einzuhalten sind und bei deren Überschreitung die staatliche Maß­ nahme (z. B. wegen eines Verstoßes gegen das Willkürverbot) verfassungs­ widrig ist. Zwar gilt als rechtsphilosophisches Axiom, dass aus einem „Sein“ kein „Sollen“ folgt – das wäre ein naturalistischer Fehlschluss.46 Aber nach dem eben Gesagten gilt eben zugleich, dass die Festlegung des „Gesollten“ (oder im Strafrecht: des „Nicht-Gesollten“), ohne dass zuvor das „Sein“, der „Ist-Zustand“ der Gesellschaft47 zur Kenntnis genommen und in die Überle­ gungen einbezogen wurde, ebenfalls nicht zulässig ist. Neben dieser empirischen Basis von Entscheidungen des Strafgesetzge­ bers stehen die empirischen Bezüge, die das geltende Strafrecht ganz deut­ lich auf der Rechtsfolgenseite aufweist. Prognosen als klassischer Anwen­ dungsfall der Angewandten Kriminologie setzen empirisches Wissen voraus, etwa über typische Risikofaktoren, die mit Rückfälligkeit korrelieren oder über die Folgen, die die Strafe für den Täter in der Gesellschaft haben wird (siehe § 46 I 1 StGB)48. Und schließlich weist die Beurteilung der Schuld­ fähigkeit des Täters gem. § 20 StGB einen deutlichen empirischen Bezug auf, wenn Art und Ausmaß des pathologischen Eingangsmerkmals zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden. Strafgesetzgebung, Sanktionsentscheidungen und Schuldfähigkeitsbeurtei­ lung: Sind damit die möglichen Einsatzgebiete für empirisches kriminologi­ 45  Insofern ist es zu begrüßen, dass das BVerfG sein Urteil zur Verständigung in Absprachen (BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, 2 BvR 2628 / 10 u. a.) auch auf die eigens in Auftrag gegebene empirische Untersuchung von Altenhain gestützt hat. Vgl. auch Neumann / Schroth 1980, S. 1, die das Strafrecht als „normative Disziplin auf empi­ rischer Basis“ bezeichnen. 46  Siehe  Kunz / Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2006, Rn.  103 ff.; Petersen, Der Staat, 2010, S. 435, 436. 47  Vgl. Walter, ZIS 2011, S. 629, 631 ff., der von „Rechtskultur“ spricht; ähnlich Weigend, Strafrecht und Zeitgeist, in: Sieber / Albrecht, Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006, S. 44, 45. 48  Kühne, GA 1994, S. 503, 507.

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sches Wissen bei der Schaffung und Anwendung von Strafrecht durchdekli­ niert49? Bleibt es dabei, dass demgegenüber die materielle Strafbarkeit allein normativ anhand der von der Strafrechtswissenschaft herausgearbeiteten dogmatischen Kategorien bestimmt wird? Kein Geringerer als Göppinger hat das so gesehen und formulierte dies folgendermaßen: „Die Angewandte Kriminologie macht in der Regel (…) keine Aussagen zur rechtlichen Seite kriminellen Verhaltens in Bezug auf eine tatbestandsmäßige Zuordnung, wenngleich die kriminologische Erfassung des Tatgeschehens und seines Umfeldes für die richterliche Bewertung der Tat hilfreich sein kann“ 50. Noch defensiver und in offenbar sehr bewusster Selbstbeschränkung heißt es kurz darauf: „Um Missverständnissen vorzubeugen, sei erneut darauf hingewiesen, daß es niemals Sache der Angewandten Kriminologie sein kann, in irgendeiner Weise in die originären Aufgaben des Strafrechts ein­ zugreifen. Die Angewandte Kriminologie stellt dem Strafrecht Kriterien für die kriminologische (nicht normativ-strafrechtliche) Erfassung des Täters zur Verfügung“. „In der Regel“ werde sie „erst dann relevant, wenn die normativen Kriterien der Straftat und der Strafbarkeit (…) durch das Ge­ richt abgeklärt sind, also erst bei der Entscheidung über die Rechtsfolgen“. Das dürfte auch heute noch dem Stand der Debatte entsprechen. Zwar lässt Göppinger mit seinen Formulierungen noch etwas Raum für die An­ nahme einer darüber hinaus reichenden Relevanz empirisch-kriminologischer Erkenntnisse, führt dies aber nicht weiter aus. Hier stellt sich nun die Frage, ob möglicherweise nicht doch auch die Entscheidung über die materielle Strafbarkeit eines Verhaltens im Einzelfall (über die bereits erwähnte Schuldfähigkeitsbeurteilung gem. § 20 StGB hinaus) von solchen Erkennt­ nissen abhängen könnte und wenn ja, welche Fälle dafür in Betracht kom­ men. Man hätte es dann mit auf kriminologischem Wissen beruhender em­ piriebasierter Entscheidungshilfe bei der Konkretisierung und Ausfüllung dogmatischer Kategorien zu tun, etwas verkürzt ausgedrückt: mit „empirie­ basierter Strafrechtsdogmatik“51. Das soll abschließend noch etwas genauer beleuchtet werden.

49  Zu erwähnen wäre noch das Strafverfahren, das im Laufe der Zeit ebenfalls zum Gegenstand kriminologischer Forschung wurde, siehe dazu zusammenfassend Dünkel / Morgenstern, GA 2013, S. 78 ff. 50  Göppinger, 1986, S. 23 (Hervorhebungen im Original). 51  Vgl. die Überlegungen von T. Walter, ZIS 2011, S. 636 im Hinblick auf eine „empirische Dogmatik“.



Kriminologie und Strafrecht – getrennte Welten?93

III. Empiriebasierte Strafrechtsdogmatik als neuer Brückenpfeiler? 1. Sozialadäquanz

Ein denkbares Anwendungsbeispiel ist der (allerdings lebhaft umstrittene) Begriff der „Sozialadäquanz“. Nach der ursprünglich von Welzel begründe­ ten Lehre52 ist ein Verhalten nicht strafbar, wenn es zwar scheinbar unter den Wortlaut des Tatbestandes subsumiert werden kann, aber einer gesell­ schaftlichen Übung und zugleich Billigung entspricht.53 In straftheoretischen Kategorien gesprochen handelt es sich um Fälle, die weder spezial- noch generalpräventive Bedürfnisse auslösen.54 Und genau dies ist eine Frage, die sich mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung prinzipiell beant­ worten lässt. Völlig offen ist dagegen, ob jemand, der sich sozialadäquat verhält, zugleich „Schuld“ auf sich lädt, die dann entsprechend durch Stra­ fe auszugleichen wäre – wie immer man sich dann entschiede, die Antwort hätte stets den Charakter einer reinen Behauptung, was erneut die Aporien deutlich macht, in die man sich bei Anerkennung des Strafzwecks des Schuldausgleichs verstrickt. Das klassische, besonders einleuchtende Beispiel für sozialadäquates und damit tatbestandsloses Verhalten55 ist der vor allem in Süddeutschland prak­ tizierte Maibaumdiebstahl56. Bei diesem versuchen überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene aus benachbarten Gemeinden, sich gegenseitig den „Maibaum“ zu stehlen, der in vielen Dörfern traditionell am 1. Mai aufge­ stellt wird. Es handelt sich dabei um eine Art sportlichen Wettkampf und zugleich um ein allseits anerkanntes lokales Brauchtum, das bestimmten informellen Regeln folgt. Ein Strafbedürfnis wird hier von niemandem be­ jaht werden, umgekehrt wird sich durch die Straflosigkeit eines solchen „Diebstahls“ niemand motiviert fühlen, anders gelagerte Diebstahlstaten zu begehen. Empirische Untersuchungen, die soweit ersichtlich in diesem Be­ reich noch nicht durchgeführt worden sind, würden diese Annahmen mit großer Sicherheit klar bestätigen. Auch im Bereich der Korruptionsdelikte wird mit dem Begriff der So­ zialadäquanz gearbeitet, vornehmlich, um solche Vorgänge aus dem Tatbe­ 52  Welzel,

ZStW 58 (1939), S. 514 ff. auch BGHSt 23, 226, 228. 54  Siehe  Kaspar, JuS 2004, S. 409, 413. 55  Vereinzelt wird die Sozialadäquanz, sofern sie nicht ganz abgelehnt wird, als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund qualifiziert, siehe dazu die Nachweise bei Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. (2006), § 10 Rn. 34. 56  Siehe dazu Dickert, JuS 1994, S. 631. 53  Vgl.

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stand auszuscheiden, bei denen einem Amtsträger zwar ein „Vorteil“ im Zu­ sammenhang mit der Dienstausübung gewährt wird, aufgrund der Gesamtum­ stände aber kein vernünftiger Beobachter zu dem Schluss kommen würde, dass hier eine Beeinflussung der Dienstausübung im Raum steht.57 Das be­ zieht sich insbesondere auf bagatellhafte Vorgänge wie die sprichwörtliche Tasse Kaffee, die entsprechend allgemeinen Regeln der Höflichkeit angebo­ ten bzw. angenommen wird. Gleiches galt für das Weihnachtspräsent für den Briefträger in den Zeiten, als dieser noch Amtsträger war58 – zumal hier eine für den Schenker günstige Beeinflussung der Dienstausübung kaum vorstell­ bar war. Vorgänge wie diese würden mit großer Sicherheit bei der Mehrheit der Bevölkerung, wenn man sie fragen würde, keinerlei Bedenken auslösen. Für die Ausfüllung des durchaus schillernden und nicht eindeutig bestimmten Begriffes der „Sozialadäquanz“ sollte daher nach hier vertretener Ansicht auch auf vorhandene empirische Erkenntnisse zurückgegriffen werden. Das bietet sich bei den eben erwähnten Korruptionsdelikten in besonderer Weise an, da es hier nach herrschender Ansicht (auch) um das geschützte Rechtsgut des Vertrauens der Bevölkerung in die Lauterkeit der Amtsführung gehen soll.59 Welche Vorgänge dieses Vertrauen aber nun tatsächlich tangieren und welche nicht – das ist eine empirische Frage, der man sich dann auch auf genau diesem Wege nähern sollte. Bloße Behauptungen zur Begründung ei­ ner Strafbarkeit sind demgegenüber unbefriedigend, zumal damit gravierende Grundrechtseingriffe verbunden sind. Auch bei der sehr kontrovers diskutier­ ten Frage, ob der Kassenarzt ein „Amtsträger“ im Sinne eines „verlängerten Armes des Staates“ ist und daher in den Anwendungsbereich der §§ 331 ff. StGB fällt60, hätte man sich zumindest ergänzend dieser Methode bedienen können. Zwar wäre eine entsprechende Fragestellung angesichts der Komple­ xität der Materie vermutlich nur schwer formulierbar gewesen. Immerhin: Hätte sich ergeben, dass die Bevölkerung überwiegend gar nicht auf die Idee kommt, den Kassenarzt in die staatliche Sphäre einzuordnen, sondern ihn deutlich als selbständig Tätigen wahrnimmt, wäre dies ein gewichtiges zu­ sätzliches Argument für die Entscheidung des Großen Senates des BGH ge­ wesen, wonach die §§ 331 ff. StGB hier nicht einschlägig sind.61 Ein weiteres Beispiel für tatbestandsloses „sozialadäquates Verhalten“ eröffnet sich im Bereich der Beleidigungsdelikte. Wann eine strafwürdige Kundgabe der Missachtung vorliegt, bestimmt sich auch anhand des im 57  Zu Restriktionsversuchen im Bereich der §§ 331 ff. siehe nur Knauer / Kaspar, GA 2005, S. 385, 393 ff. 58  Vgl. Roxin, Strafrecht AT, § 10 Rn. 34. 59  Vgl. nur Fischer, StGB, 60. Aufl. (2013), § 331 Rn. 2. 60  Fischer, StGB, § 11 Rn. 22a m. w. N. 61  Siehe BGHGrS NJW 2012, S. 2530.



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jeweiligen gesellschaftlichen Bereich Üblichen.62 Was sonst als echtes Schimpfwort gilt, mag in bestimmten Kreisen bzw. Altersgruppen ein nor­ males, akzeptiertes und auch nicht als Kränkung empfundenes Ausdrucks­ mittel sein. Auch hierzu ließen sich empirische Erhebungen zur Untermau­ erung dieses Ergebnisses denken63. 2. Die Reichweite der Notwehr, § 32 StGB

Auch im Bereich der Rechtfertigungsgründe findet sich ein Beispiel für die Relevanz empirischer Erkenntnisse, das der Ausgangspunkt der hier skizzierten Überlegungen war. Es handelt sich um die Notwehr gem. § 32 StGB, die Gegenstand der von Amelung betreuten Dissertation von Ines Kilian64 war. Die Verfasserin untersucht dort in einer breit angelegten Stu­ die u. a., welche Überzeugungen die Bevölkerung im Hinblick auf die Reichweite legitimer Notwehr hat. Dabei zeigt sich, dass die sogenannten „sozialethischen Einschränkungen“ der Notwehr überwiegend auf Zustim­ mung stoßen, dass aber die sprichwörtliche Schneidigkeit des deutschen Notwehrrechts, das auch eine Tötung des flüchtenden Diebes zur Verteidi­ gung des Eigentums erlaubt, überwiegend nicht bekannt ist, jedenfalls in entsprechenden Fällen eine tödliche Gegenwehr nicht als rechtmäßig be­ zeichnet wird65. Ist das relevant? Oder bleibt es nicht einfach dabei, dass rein normativ über die „Gebotenheit“ der Notwehr zu entscheiden ist und dass diese Frage daher völlig unabhängig von entsprechenden Überzeugun­ gen der Bevölkerung ist? Auf den ersten Blick scheint das der Fall zu sein, es handelt sich um eine Rechtsfrage, und dabei gilt der alte Satz „iura novit curia“. Aber aus welchen Quellen schöpft der Richter beim Vorgang der Rechtsfindung in einem Bereich, der einen solch großen Wertungsspielraum lässt? Sollte die Überzeugung einer aufgeklärten Öffentlichkeit dabei nicht doch eine Rolle spielen? Endgültig ins Grübeln gerät man, wenn man in der Begründung des Entwurfs zur Reform des Allgemeinen Teils von 1962 liest, dass es bei den sozialethischen Einschränkungen um Fälle gehe, in denen die Ausübung der Notwehr „von der Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit missbilligt“66 62  Fischer,

StGB, § 185 Rn. 8. Kühne, GA 1994, S. 503, 511. 64  Kilian, Die Dresdener Notwehrstudie, 2011 sowie dazu Kaspar, Neue Krimi­ nalpolitik, 2012, S. 162. Zu ersten Ergebnissen siehe bereits Amelung / Kilian, Zur Akzeptanz des deutschen Notwehrechts, in: Amelung (Hrsg.), Festschrift für Schrei­ ber, 2003, S. 3 ff. 65  Kilian, 2011, S. 39 ff. 66  BT-Drucks.  IV / 650, 157. 63  Vgl.

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würde. Wenn man aber in dieser Weise einen Bezug zwischen der Reich­ weite der Notwehr und den Überzeugungen der Bevölkerung herstellt, muss man sich doch eigentlich beim Wort nehmen lassen: Sprechen eindeutige und methodisch korrekt erzielte empirische Erkenntnisse67 dafür, dass Not­ wehr im Falle der Tötung des Angreifers zur Verteidigung von Sachwerten gegen die Überzeugung eines großen Teils der Bevölkerung verstößt, ist das einer von mehreren Anlässen68, über eine restriktivere Auslegung der „Ge­ botenheit“ (sowie de lege ferenda über eine entsprechende gesetzliche Klarstellung) in den Fällen unverhältnismäßiger Gegenwehr nachzudenken. In seinem Vorwort moniert Amelung, dass die Kriminologie entsprechende empirische Erkenntnisse in Bezug auf die Kategorien des Allgemeinen Teils des StGB bislang nicht bereitgestellt habe69. Das ist richtig, liegt allerdings, wie man fairerweise dazu sagen muss, auch daran, dass eine entsprechende Nachfrage – ganz dem vorherrschenden Trennungsdenken entsprechend – bislang nicht ernsthaft auszumachen war70. Und was bringt es, Antworten zu liefern auf Fragen, die keiner stellt71? Insofern versteht sich der hiesige Beitrag auch als Versuch, die Debatte weiter voranzubringen und entspre­ chende Forschungsprojekte anzuregen. 3. Sittenwidrigkeit, § 228 StGB

Schließlich sei noch auf die Sittenwidrigkeitsklausel in § 228 StGB hin­ gewiesen, die ebenfalls unter Zuhilfenahme empirischer Erkenntnisse aus­ gefüllt werden könnte. Die Norm regelt die Strafbarkeit einer Körperver­ letzung bei sittenwidriger Einwilligung des Opfers. Das führt zu der Ano­ malie, dass sich der Täter strafbar macht, obwohl der betroffene Rechts­ gutsträger mit dem Handeln voll einverstanden war, ein Schutz durch das Strafrecht also an sich entbehrlich erscheint. Dem Wortlaut von § 228 StGB gemäß geht es hier um eine moralisch-sittliche Bewertung, so dass bei einer empirischen Herangehensweise der Vorwurf des oben erwähnten „naturalistischen Fehlschlusses“ besonders naheliegt. Andererseits soll es hier nach der geläufigen Definition ja um Verstöße gegen das „Anstands­ 67  Zur

Frage der methodischen Standards s. u. IV. kommen verfassungsrechtliche Erwägungen, für die hier kein Raum ist. Siehe dazu nur Bülte, GA 2011, S. 147 ff. sowie Kaspar, Rechtswissenschaft 2013, S.  40 ff. 69  Amelung, Vorwort, in: Kilian, 2011, S. 7. 70  So auch Lüderssen, Der Beitrag der Kriminologie zur Strafrechtsdogmatik, in: Lahti / Nuotio (Hrsg.), Strafrechtstheorie im Umbruch, 1992, S. 465. 71  Ähnlich (in Bezug auf die Zurechnungsdogmatik) Lüderssen, Erfolgszurech­ nung und „Kriminalisierung“, in: Lüderssen / Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, 1980, S. 13, 27. 68  Hinzu



Kriminologie und Strafrecht – getrennte Welten?97

gefühl aller billig und gerecht Denkenden gehen“72 – und das wiederum eröffnet doch die Perspektive, nach genau diesem Gefühl zu fragen. Na­ türlich bliebe die Schwierigkeit, dass laut Definition an sich nur alle „bil­ lig und gerecht Denkenden“ in die Betrachtung einbezogen werden sollen. Allzu ernst nehmen darf man diese antiquierte Terminologie allerdings nicht. Denn als Hinweis auf die allein entscheidungsrelevante Ansicht ei­ ner gebildeten Elite wäre das in einer Demokratie ohnehin fragwürdig. Dass es diesbezüglich nie zu Problemen kam, liegt ganz einfach daran, dass hier soweit ersichtlich niemals ernsthaft der empirische Blickwinkel eingenommen wurde. Zwar gibt der 3. Senat des Bundesgerichtshofs in einer neueren Entscheidung zu verstehen, dass die Feststellung von Sitten­ widrigkeit ein „Akt empirischer Feststellung bestehender Moralüberzeu­ gungen sei“73. Empirische Belege für die zu treffende Feststellung werden aber auch hier nicht eingefordert, da es „allgemeinkundig“ sei, wann Sit­ tenwidrigkeit vorliege.74 Die Entscheidung hierüber (und damit zugleich über die Straflosigkeit oder Strafbarkeit!) wird also auch hier allein und ohne weiteres der Wertung der Gerichte überlassen. Das provoziert den Vorwurf, dass hier letztlich ganz ungefiltert das subjektive Anstandsgefühl des jeweils zuständigen Richters den Ausschlag gibt. Und im Vergleich dazu erschiene ein Blick auf empirisch festgestellte Ansichten der Bevöl­ kerung im Sinne einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage als Fort­ schritt. Zumindest in den Fällen, in denen die Bevölkerung das Geschehen nicht klar und unzweifelhaft als anstößig bewertet, liegt eine auf § 228 StGB gestützte Strafbarkeit fern75. Auf einem anderen Blatt steht, dass die Vorschrift in ihrer jetzigen Form aufgrund ihrer notorischen Unbestimmt­ heit76 sowie der Tatsache, dass hier in anachronistischer Weise letztlich die vermeintliche „Unmoral“ eines Vorgangs als Grund für die Strafbarkeit herangezogen wird77, dringend reformbedürftig ist und auf Fälle schwer­ wiegender und lebensbedrohlicher Verletzungen (dem Grundgedanken von § 216 StGB folgend78) beschränkt werden sollte.

72  Vgl.

nur BGHSt 4, 24, 32. 34, 41. Krit. Fischer, StGB, § 228 Rn. 11. Anders auch der 2. Senat in BGH 49, 166 ff., der den rein normativen Charakter dieser Entscheidung betont. 74  BGHSt 49, 34, 41. 75  So auch die (durchaus überzeugende) Tendenz der Entscheidung BGHSt 49, 34. 76  Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung, 1997, S. 177 ff. hält § 228 StGB aus diesem Grund für verfassungswidrig. 77  Zu diesem Kritikpunkt siehe Roxin, Strafrecht AT, § 13 Rn. 38. 78  Siehe  Roxin, Strafrecht AT, § 13 Rn. 41 ff. 73  BGHSt 49,

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IV. Ausblick Die Beispiele ließen sich vermehren, wozu hier der Platz fehlt. Es sollte aber klar geworden sein, worum es gehen könnte. Die Auslegung wertaus­ füllungsbedürftiger Begriffe (zu nennen wäre z. B. noch die Verwerflich­ keitsklausel in § 240 II StGB) würde in Zukunft stärker unter Einbezug empirischer Erkenntnisse erfolgen. Aber auch auf den ersten Blick deutlich einfacher und deskriptiv ausgestaltete Tatbestandsmerkmale wie die „Ge­ walt“ in § 240 StGB79 oder das „Glückspiel“ in § 284 StGB80 sind offen für eine solche Vorgehensweise, bei der in den Worten von Walter „empirische Konzepte zum Verständnis der Wirklichkeit die normative Erfassung dersel­ ben beeinflussen“81 können. Als normative Grundlage einer solchen Vorge­ hensweise kann (neben dem bereits oben erwähnten Verhältnismäßigkeits­ grundsatz) auch das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 II GG) genannt werden. Wenn es hier (zumindest auch) um Vertrauensschutz zugunsten des Bürgers geht, der wissen muss, wann er sich strafbar macht und wann nicht, liegt es nahe, die Reichweite einer Strafnorm auch anhand des empirisch erho­ benen Verständnisses der Tatbestandsmerkmale innerhalb der Bevölkerung zu bestimmen82. Wenn 90 % der Befragten eine bestimmte Verhaltensweise eindeutig als nicht mehr vom Wortlaut einer Strafnorm erfasst ansehen (was beispielsweise bei Sitzblockaden und § 240 StGB der Fall sein dürfte), liegt eine Überschreitung der von Art. 103 II GG gezogenen Wortlautgrenze sehr nahe. Angesichts des auf die Gesamtheit der Bürger zugeschnittenen Schutz­ zwecks des Bestimmtheitsgebots dürfte ein solches Ergebnis dann auch nicht einfach mit dem Hinweis auf den mangelnden juristischen Bildungs­ grad der Befragten überspielt werden. Natürlich stehen diese Überlegungen erst am Anfang, und viele Fragen sind noch offen. Zunächst wäre zu klären, wer die Deutungshoheit über (evtl. auch diver­ gierende) Ergebnisse aus empirischen Studien hat. Diese liegt natürlich beim demokratisch legitimierten Gesetzgeber83 bzw. bei den gem. Art. 92 GG für die Rechtsprechung zuständigen Gerichten. Die Einordnung und 79  Kühne,

GA 1994, S. 503, 507. Der Staat, 2010, S. 435, 441 f. 81  Walter, ZIS 2011, S. 629, 633. Vgl. auch die Überlegungen von Lüderssen, 1992, S. 468 ff. zur Rückwirkung rechtstatsächlicher Befunde auf die Bestimmungen von Täterschaft und Teilnahme. 82  Vgl. (in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal des „Irrtums“ innerhalb von § 263 StGB) Amelung, Auf der Rückseite der Strafnorm – Opfer und Normvertrauen, in: Arnold u. a. (Hrsg.): Festschrift für Eser, 2005, S. 3, 20. 83  Vgl. T. Walter, ZIS 2011, S. 646. 80  Siehe Petersen,



Kriminologie und Strafrecht – getrennte Welten?99

Gewichtung empirischer Erkenntnisse kann vom Forscher nur empfohlen und vorbereitet werden, ggf. auch im Wege eigens in Auftrag gegebener Gutachten. Letzteres ist schon aus ökonomischen Gründen nicht in der Masse der Gerichtsverfahren möglich. Allgemeine Forschungsergebnisse zu den verschiedenen Bereichen könnten und sollten aber in die Kommentarli­ teratur einfließen, um auf diese Weise für die entscheidenden Instanzen der Strafjustiz besser zugänglich zu werden. Natürlich müssen entsprechende Studien den fachlichen Standards genü­ gen; die Auseinandersetzung hierüber kann und muss auch in Zukunft in erster Linie dem Kampf der Meinungen innerhalb der Wissenschaft überlas­ sen werden. Nötig wäre jedoch in Zukunft eine bessere Ausbildung von Juristen in den Methoden der empirischen Sozialforschung, damit die Be­ lastbarkeit entsprechender Forschungsergebnisse besser aus eigener An­ schauung beurteilt werden kann84 – dazu hat Michael Walter wie eingangs erwähnt bereits einen wichtigen Beitrag geleistet85. Schließlich ist noch zu erwähnen, dass es hier vor allem86 um eine auf empirische Erkenntnisse gestützte Auslotung von Spielräumen zur Entkrimi­ nalisierung geht; das mögen die Beispiele oben deutlich gemacht haben. Das liegt daran, dass – ganz entgegen dem kriminalpolitischen Trend – die Straflosigkeit eines Verhaltens nach hier vertretener Ansicht deutlich leich­ ter zu legitimieren ist als die Strafbarkeit. Letztere ist ein gravierender Grundrechtseingriff, der entsprechende Begründungs- und Argumentations­ lasten auslöst, die mit dem bloßen Hinweis auf ein (womöglich empirisch sogar festgestelltes) „Strafbedürfnis“ der Bevölkerung nicht abgearbeitet sind. Straflosigkeit dagegen ist allenfalls und eher ausnahmsweise unter dem Aspekt der grundrechtlichen Schutzpflichten ein verfassungsrechtliches Problem, erweitert im Übrigen aber grundrechtliche Freiheitssphären jeden­ falls im Hinblick auf Art. 2 I GG. Hier besteht also eine Art Asymmetrie der grundrechtlichen Beeinträchtigungslage, die richtigerweise auch zur Geltung des Grundsatzes „in dubio pro libertate“ führt. Unter diesem Blick­ winkel müsste sich der Staat (ein entsprechendes selbstkritisches Problem­ bewusstsein vorausgesetzt) an sich fortlaufend die Frage stellen, ob die Strafbarkeit bestimmter Verhaltensweise nach wie vor legitimiert werden kann, oder ob sich nicht gute Gründe für sinnvolle Einschränkungen finden lassen. Die Rolle der Kriminologie wäre nun, die Suche nach solchen guten Gründen mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Ich 84  Petersen,

Der Staat, 2010, S. 435, 451. entsprechende Forderung von Petersen, Der Staat, 2010, S. 435, 455 ist demnach im Bereich der Kriminologie bereits umgesetzt. 86  Auch Lüderssen, 1992, S. 473 f. weist darauf hin, dass es hier keinen Automa­ tismus zugunsten der Einschränkung strafbaren Verhaltens gibt. 85  Die

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hoffe, dass diese Aufgabenbeschreibung auch die Zustimmung des verehrten Jubilars findet, der sich stets für die Suche nach sinnvollen Alternativen zum staatlichen Strafen stark gemacht hat87.

87  Siehe nur Walter, Über Alternativen zum Strafrecht, Festschrift der Rechtswis­ senschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 553.

Kriminalisierung des dopenden Sportlers? Arthur Kreuzer I. Einleitung Den Jubilar und den Verfasser verbindet manches. Dazu gehören Begeg­ nungen aus der Hamburger Zeit um 1970 mit den akademischen Lehrern Rudolf Sieverts und Horst Schüler-Springorum. Michael Walter merkt selbst dazu an, er habe damals sogar eine Gemeinsamkeit mit dem Verfasser in der Hinsicht festgestellt, dass beide in der theoretischen Kriminologie eine ähnlich kritische Haltung zum seinerzeit vorherrschenden „Labeling Ap­ proach“ hatten, die den wichtigen Kern dieses Ansatzes aufnimmt und in eigenes Arbeiten einbezieht, aber Einseitigkeit, Überspitzungen und Fehlent­ wicklungen meidet. In diesem Sinn hat er die Labeling-Perspektive in der dem Verfasser gewidmeten Festschrift originell bereichert.1 Zu Gemeinsam­ keiten gehören außerdem vielfältige kriminalpolitische „Einmischungen“2 und Tätigkeiten in Beratungsgremien. Beispielsweise zu nennen ist die Mitarbeit in den jeweiligen Landespräventionsräten, wobei der Jubilar in NRW sogar die Leitung innehatte. Beide verbinden das Interesse an jugend­ kriminologischer Forschung und Aktivitäten in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. Und im Hinblick auf die jet­ zige bedeutungsvolle Funktion des Jubilars als Justizvollzugsbeauftragter des Landes NRW3 und vorangehend als Ombudsmann an gleicher Stelle möchte der Verfasser bemerken, dass er seit den 1980er Jahren – leider vergeblich – versucht hat, in „seinem“ Land Hessen die Einrichtung eines Ombudsmannes für den Haftvollzug zu verwirklichen. „Einmischung“ in aktuelle kriminalpolitische Diskussion stellt auch der nachfolgende Beitrag dar, mit dem der Verfasser zur Ehrung des Jubilars beitragen möchte. Er befasst sich mit verschiedenen umstrittenen Vorschlä­ gen zu einer Neukriminalisierung im Bereich des Sport-Dopings. Soll das Doping – hier verstanden als Einsatz verbotener Substanzen oder Methoden 1  M. Walter,

in: Interdisziplinäre Kriminologie, FS Kreuzer, 2009, S. 868 ff. allg. Verf., in: FS Müller-Dietz, 2001, S. 385 ff.; ders., in: Gießener Universitätsblätter, 40, 2007, S. 41 ff. 3  Vgl. dazu z. B. M. Walter, Tätigkeitsbericht des Justizvollzugsbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen 2011, Köln, 2012. 2  Dazu

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durch Teilnehmer sportlicher Wettkämpfe, um die eigene Leistung zu stei­ gern – nachfolgend als „Eigendoping“ bezeichnet – unter Strafe gestellt werden? Eine solche Neu-Kriminalisierung wird seit geraumer Zeit disku­ tiert. Nach der jüngsten Auseinandersetzung mit massenmedial verbreiteten „Geständnissen“ des wohl berühmtesten und nun vielleicht berüchtigtsten Radsportlers Lance Armstrong4 und seines deutschen Kollegen Stefan Schu­ macher5 hat solche Forderung an den Strafgesetzgeber einen neuen Schub in Wissenschaft und Praxis erhalten.6 Zwar wagt sich der Verfasser damit riskant auf ein von ihm bislang nicht betretenes Gelände (Sport in Strafrecht und Kriminalpolitik), und man könnte seine Ansichten deswegen womög­ lich als dilettantisch abtun. Aber er darf für sich in Anspruch nehmen, auf einem benachbarten – für kriminalwissenschaftliche und kriminalpolitische Analogien offenkundig prädestinierten – Gelände jahrzehntelang intensiv gearbeitet zu haben: der Drogen-Kriminologie und insbesondere auch As­ pekten der strafrechtlichen Handhabung, Kriminalisierung und Entkrimina­ lisierung des Konsums und Besitzes von „Betäubungsmitteln“.7 Die Thematik fügt sich ein in eine Vielzahl aktueller Kriminalitätserscheinungen rund um den Sport sowie in das Geflecht von Problemen des Verhältnisses von Sport und Strafrecht. Gegenwärtig müssen sich Gesetzge­ ber, Sportverbände und die Praxis der Strafverfolgung mit spektakulären 4  Vgl.

z. B. FAZ v. 18.01.2013, S. 33. insb. DER SPIEGEL, Nr. 14 v. 30.03.2013, S. 94 ff.; Deutschlandfunk v.  07.04.2013: >www.dradio.de / dlf / sendungen / sport / 2065862 / http: /  / www.welt. de / 546630http: /  / www.hamburger-sportbund.de / ressourcen / 0026 /  Vortrag Roessner.pdfwww. leichtathletik.de / index-php?NavID=349&SiteID…-34k< (dieser Antrag allerdings vom DOSB mit großer Mehrheit abgelehnt am 8.12.2012: >www.leichtathletik.de /  index-php?NavID=1&SiteID=28…-30kwww.translat ing-doping.de / forschung / gebiete / 52 / 152http: /  / www.dradio.de / dlf / sendun gen / sport / 2006192 /  30 Punkte) von Psychopathy gesprochen werden kann und welche der vier Psychopathy-Dimensionen in die Beurteilung einfließen sollten. In der forensischen Praxis ist daher eine unkritische Ableitung prognostischer Schlussfolgerungen aufgrund eines hohen PCL:YV-Gesamtwertes bei feh­ lender Differenzierung der vier Faktoren nicht gerechtfertigt und bringt die Gefahr eines Missbrauchs des Instruments mit sich. Trotz der Berücksichti­ gung jugendspezifischer Besonderheiten bei der Erfassung von PsychopathyItems gibt es außerdem kritische Anmerkungen dahingehend, dass einige Merkmale, insbesondere die des Lifestyle-Faktors (Items wie Impulsivität, Sensation Seeking, etc.) im Jugendalter generell erhöht sind und deswegen die Ausprägung von Eigenschaften im Sinne der Psychopathy überschätzt wird.

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Die Literatur gibt zwei verschiedene Subtypen der Psychopathy an. Bei gleicher phänotypischer Ausprägung führen demnach unterschiedliche ätio­ logische Faktoren bei Männern zu dem eher genetisch bedingten primären Subtypus, während durch zugrunde liegende Psychopathologie bei Frauen der sekundäre Subtypus entsteht. Es wird angenommen, dass delinquente Mädchen auch eher Merkmale im Sinne des sekundären Typus aufweisen in Form von hoher Impulsivität, komorbider Psychopathologie und reaktiver Aggression, wohingegen inhaftierte Jungen im Sinne des primären Typus eher hohe Ausprägungen der callous-unemotional traits und proaktive Ag­ gression zeigen, was für therapeutische Interventionen von Bedeutung er­ scheint. Auch andere Wissenschaftler verweisen auf die Verschiedenartigkeit von Psychopathy bei Mädchen und Frauen im Unterschied zu Jungen und Männern. Die eigenen empirischen Resultate bezüglich der Unterschiedlich­ keit der Persönlichkeitsdimensionen der Psychopathy von Jungen und Mäd­ chen fügen sich in diese Diskussion ein. Zusammenfassend belegen die vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnisse die Anwendbarkeit und Validität der Psychopathy-Checkliste für Jugendliche, wenngleich mehr und eindeu­ tigere Ergebnisse für Jungen vorliegen. Die praktische Relevanz der PCL:YV liegt bislang im forensischen Be­ reich. Allerdings steht der abschließende wissenschaftliche Nachweis der prädiktiven Aussagekraft der PCL:YV aufgrund bislang unterschiedlicher Forschungsergebnisse weiter aus. Rückfallstudien mit männlichen Jugend­ lichen weisen eine hohe Übereinstimmung mit den prädiktiven Werten für männliche erwachsene Strafgefangene auf und belegen retrospektiv für ei­ nen mittleren bis langen Zeitraum von 5–10 Jahren einen starken Zusam­ menhang zwischen dem PCL:YV-Gesamtwert und einem generellen sowie gewalttätigen Rückfall.27 Allerdings gibt es wenige prospektive Studien, die einen Zeitraum von einem bis maximal sieben Jahren verfolgt haben. Im 1-Jahres-Follow-up konnte für männliche jugendliche Strafgefangene eine große Vorhersagekraft für Gewaltrückfälle belegt werde,28 ebenso im 3-Jahres-Follow-up.29 Für Mädchen hingegen konnten sowohl im 3-Mo­ nats-follow-up30 als auch im 3-Jahres-follow-up31 keine prädiktive Validität des PCL:YV-Gesamtwertes bzw. des 3-Faktoren-Modells belegt werden. Rowe (2002) wies eine prädiktive Validität des PCL:YV-Gesamtwerts bei Mädchen für eine allgemeine Rückfälligkeit, aber nicht für Gewaltdelikte, nach. Edens et al. (2001), S. 53–80. (2003), S. 688–708. 29  Vincent et al. (2008), S. 287–296; Schmidt et al. (2006), S. 393–401. 30  Odgers et al. (2005), S. 1–21. 31  Vincent et al. (2008), S. 287–296; Schmidt et al. (2006), S. 393–401. 27  Review:

28  Catchpole / Gretton



Persönlichkeitspathologie und Psychopathie bei Jugendlichen405

Neben der Frage der prädiktiven Validität der Psychopathy-Dimensionen im Jugendalter, stehen bislang wichtige Untersuchungen zur Stabilität der Psychopathy-Kerndimensionen vom Jugend- ins Erwachsenenalter noch aus. Weitere Forschung ist eindeutig notwendig, um die Stabilität der Eigen­ schaften und Verhaltensweisen von Psychopathy bei Jugendlichen zu unter­ suchen. Da viele Persönlichkeitseigenschaften im Übergang vom Jugendzum Erwachsenenalter nur mäßig stabil sind, gibt es Anzeichen dafür, dass sich Eigenschaften der Psychopathy während dieses Zeitabschnittes ändern. Aufgrund der noch offenen Fragen zur prädiktiven Aussagekraft und zur Stabilität sollte zurzeit von der alleinigen Verwendung der PCL:YV im Rahmen einer strafrechtlichen Begutachtung und insbesondere zur Prog­ noseerstellung abgesehen werden. Das Ziel der Veröffentlichung der deutschsprachigen PCL:YV-Checkliste liegt darin, die Dimensionen der Psychopathy bei Jugendlichen nun mehr valide zu erfassen sowie ein Bezugssystem für die Forschung und für die psychiatrisch-psychologische Diagnostik bereitzustellen. Es gibt einige For­ schung zur Komorbidität von Psychopathy mit anderen Störungen, wie z. B. Verhaltensstörungen, oppositionellem Trotzverhalten, Aufmerksamkeitsstö­ rungen, Drogenmissbrauch, Ängsten und depressiven Störungen. Diese Forschung hat sich bislang darauf beschränkt Korrelationen zwischen Psy­ chopathy-Werten und unterschiedlichen psychopathologischen Symptomen zu untersuchen. Weiterhin scheint Forschung notwendig zu sein bzgl. der Implikationen von Komorbidität für verschiedene klinische Outcomes, wie z. B. das Risiko für gewalttätige oder andere antisoziale Verhaltensweisen sowie Ansprechbarkeit auf Behandlungen. Sprechen zum Beispiel Jugendli­ che mit hohen Psychopathy-Werten und gleichzeitiger Depression besser oder schlechter auf eine Therapie an als Jugendliche ohne Komorbidität? Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Psychopathy-Dimensionen im Jugendalter manifest werden, welche Faktoren ihren Verlauf beeinflussen und wie bzw. ob sie sich therapieren lassen. Eine frühzeitige, sorgfältige Diagnostik und eine anschließende spezifi­ sche Behandlung von Jugendlichen mit Psychopathy sind – auch aus gesell­ schaftspolitischem Interesse – indiziert, wenngleich eine Behandlung solcher Jugendlicher allgemein als Herausforderung gilt, da es sich um komplexe und vielschichtige Symptome und Probleme handelt. Die bisherigen Befun­ de unterstützen die Forderung nach einer frühen Erkennung und gezielten Behandlung. Die übertragungsfokussierte Therapie (TPF) nach Kernberg oder die dialektisch-behaviorale Therapie nach Linehan (DBT) stellen in diesem Zusammenhang neben medikamentöser Behandlung mögliche The­ rapieformen dar. So fokussieren Lackinger et al.32 in ihrem Buch auf die 32  Lackinger

et al. (2008).

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Spezifizierung der TFP bei erwachsenen persönlichkeitsgestörten Delin­ quenten, erläutern wesentliche Aspekte des therapeutischen Prozesses und stellen empirische Ergebnisse dar. Die Psychopharmakotherapie spielt eine ergänzende Rolle und sollte in erster Linie symptomorientiert sein, wobei komorbide Störungen mit einbezogen werden müssen. Allerdings fehlen weitgehend empirische Daten bei Jugendlichen mit Psychopathy, um hier abschließend Stellung zu nehmen. Zusammenfassend rechtfertigen die bisher vorliegenden Befunde zwar eindeutig die Diagnose der Psychopathy im Jugendalter, aber es sind noch mehr wissenschaftliche Arbeiten von Nöten, um jugendspezifische Verläufe und Besonderheiten besser identifizieren und verstehen zu können. Eine weitere wissenschaftliche Überprüfung der Ergebnisse und insbesondere eine Fokussierung auf die callous-unemotional traits, ihre Stabilität sowie ihre prädiktiv-prognostische Relevanz im Rahmen von Verlaufsdaten schei­ nen von hohem Interesse und werden in einem nächsten Schritt von den Autoren bearbeitet. Literatur Blackburn, R.: Criminality and the interpersonal circle in mentally disordered offen­ ders, in: Criminal Justice and Behavior, 25, 1998, S. 155–176. Catchpole, R. E. H. / Gretton, H. M.: The Predictive Validity of Risk Assessment with Violent Young Offenders: A 1-Year Examination of Criminal Outcome, in: Criminal Justice and Behavior, 2003, 30(6), S. 688–708. Chanen, A.  M. / Jackson, H. J. / McGorry, P. D. / Allot, K.  A. / Yuen, J. P.: Two-year stability of personality disorder in older adolescent outpatients, in: Journal of Personality Disorders, 18, 2004, S. 526–41. Cleckley, H. R.: The mask of sanity, 5. Aufl., 1976, St. Louis, MO, Mosby. Cohen, P. / Crawford, T.  N. / Johnson, J. G. / Kasen, S.: The Children in the commu­ nity study of developmental course of personality disorder, in: Journal of Person­ ality Disorders, 19, 2005, S. 131–140. Cooke, D. J. / Forth, A. E. / Hare, R. D. (Hrsg.): Psychopathy: Theory, research, and implications for society, 1998, Dordrecht, The Netherlands, Kluwer Academic Publishers. Dilling, H. / Mombour, W. / Schmidt, M. / Schulte-Markwort, E. (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, 2. Aufl., 2000, Bern, Huber. Durrett, C. / Westen, D.: The structure of axis II disorders in adolescents: A clusterand factor-analytic investigation of DSM-IV categories and criteria, in: Journal of Personality Disorders, 19, 2005, S. 440–461. Edens, J. F. / Skeem, J. L. / Cruise, K. R. / Cauffman, E.: Assessment of „juvenile psy­ chopathy“ and its association with violence: A critical review, in: Behavioral Sciences and the Law, 19, 2001, S. 53–80.



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Aktuell, dennoch nicht neu: Die Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation und Kooperation der Akteure im Jugendkriminalrecht Bernd-Rüdeger Sonnen I. In seiner systematischen Darstellung „Jugendkriminalität“1 führt Michael Walter, dem dieser Beitrag gewidmet ist, aus, dass die Anwendung des Ju­ gendkriminalrechts von den Vorverständnissen der verschiedenen Akteure und von dem Einfluss abhänge, den sie auf die Entscheidungsprozesse nähmen. Dabei ließen sich die spezifischen Einflüsse auf das Kriminalitäts­ verständnis (Selbstverständnis und kriminalpolitische Ausrichtung) auch von ihrer Rolle im Strafverfahren systematisieren. Gemeint sind männliche wie weibliche Anzeigeerstatter, Opfer, polizeiliche Ermittlungsbeamte, polizei­ liche Jugendsachbearbeiter, Jugendstaatsanwälte, Jugendrichter und Jugend­ schöffen, Verteidiger, Opferanwälte, Mitarbeiter der Jugendhilfe im Straf­ verfahren / Jugendgerichtshilfe, Eltern oder Erziehungsberechtigte, psycholo­ gische oder psychiatrische Gutachter, Bewährungshelfer, Vollzugsbedienste­ te und schließlich auch Medienberichterstatter. Allerdings könne nun nicht jeder der Genannten eine eigene Realität erzeugen, die maßgeblichen Wirklichkeitskonstrukte entständen erst in der Interaktion, dem Zusammen­ spiel. Die Resultate würden die letztendlichen Machtverhältnisse und Ein­ flusssphären spiegeln2. Für die Jugendgerichtshilfe als Jugendhilfe im Strafverfahren bestehe zunehmend die Gefahr, dass sie sich aus dem krimi­ nalrechtlichen Bereich aus Kostengründen (vgl. § 36a Abs. 1 SGB VIII) zurückziehe.3 Damit sind entscheidende Stichworte genannt (Zusammen­ spiel, Interaktion der Akteure, Einflusssphären, Machtverhältnisse und Kos­ tengründe), die Michael Walter als Wissenschaftler beschäftigen. Äußerst spannend ist es zu überprüfen, inwieweit diese Aspekte auch in seiner praktischen Tätigkeit als Justizvollzugsbeauftragter des Landes NordrheinWestfalen Berücksichtigung finden. 1  Walter / Neubacher,

Jugendkriminalität, 4. Aufl., 2012. 2012, Rn 349. 3  Walter / Neubacher, 2012, in der Zusammenfassung nach Rn 369. 2  Walter / Neubacher,

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Bernd-Rüdeger Sonnen

Schon als Ombudsmann hat sich Michael Walter mit den Anliegen, Ein­ gaben und Rechtsbehelfen Gefangener vertraut gemacht, die Anstalten be­ sucht und mit allen Beteiligten Gespräche geführt. Als Justizvollzugsbeauf­ tragter des Landes Nordrhein-Westfalen hat er nicht nur die bisherigen Aufgaben übernommen, sondern ihm sind zusätzlich konzeptionelle und beratende Funktionen übertragen worden. Dabei kommt ihm seine externe und verwaltungsunabhängige Stellung ebenso zugute wie die „Freiheit von politischen Ritualen und Machtkämpfen“. Im „Meinungskampf politischer Kontrahenten“ fühlt er sich der kriminologischen Forschung und dem wis­ senschaftlichen Gespräch verpflichtet und gibt Hinweise auf erfahrungswis­ senschaftliche Zusammenhänge und Befunde, selbst wenn sie nicht will­ kommen und zur Stützung einer gewünschten Position verwendbar erschei­ nen.4 Konzeptionell bisher sicherlich am anspruchsvollsten ist das Praxis­ konzept „Wege zu einer opferbezogenen Vollzugsgestaltung“ (zusammen mit der RiLG Claudia Gelber) und zuletzt am 23.04.2013 beim 18. Deut­ schen Präventionstag in Bielefeld zum Thema „Mehr Prävention – weniger Opfer“ vorgestellt. Bei den folgenden Ausführungen, die den Schwerpunkt auf Fragen des Verhältnisses von Jugendhilfe zu Justiz sowie zum sog. Übergangsmanagement legen, wird der Opferaspekt zwar berücksichtigt, kann aber nicht im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen im Mittelpunkt stehen. II. Im erst kürzlich veröffentlichten Ergebnisbericht des Expertendialogs der Bundeskanzlerin 2011  /  2012 (sog. Zukunftsdialog) wird unter der Über­ schrift „Verbesserung der personellen Ausstattung von Jugendhilfebehörden“ gefordert, dass die Jugendhilfebehörden von den Kommunen finanziell und personell besser auszustatten sind, um ihre Aufgaben im Zusammenwirken mit der Justiz (§§ 50, 52 SGB VIII) wirksam erfüllen zu können.5 Begrün­ det wird die Forderung damit, dass die für die öffentliche Jugendhilfe be­ stehende Finanzhoheit der Kommunen und die 2005 gesetzlich verankerte Steuerungsverantwortung der Jugendämter (§ 36a SGB VIII) in der Praxis zum Teil dazu führten, dass sich Jugendämter aus der Mitwirkung in Ver­ fahren nach dem Jugendgerichtsgesetz zurückzögen und sozialpädagogisch sinnvolle Maßnahmen unterblieben. Die unverzichtbare effektive Zusam­ menarbeit zwischen den zuständigen Behörden vor Ort, insbesondere im Bereich der Mehrfach- und Intensivtäterschaft, mit dem Ziel eine Entwick­ lung sich verfestigender krimineller Karrieren zu vermeiden, sei insoweit 4  Tätigkeitsbericht 5  Vgl.

2011, S. 24 f. ZJJ 4 / 2012, S. 464; www.dialog-ueber-deutschland.de.



Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation im Jugendkriminalrecht413

gefährdet. Deswegen müssten Polizei und Justiz dazu angehalten werden, in den betreffenden Fällen die Mitwirkung der öffentlichen Jugendhilfe einzu­ fordern. Damit wird aktuell und erneut ein Problem im Verhältnis von Jugendhil­ fe und Justiz angesprochen, das mit der Verankerung der Steuerungsverant­ wortung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe im seinerzeit neuen § 36a SGB VIII zu Spannungen in Praxis und Theorie sowie zu Vorüberlegungen für eine gesetzliche Regelung zur Verbesserung der Kooperation und Kom­ munikation von Jugendgericht und Jugendhilfe in Jugendstrafverfahren ge­ führt hat. Auf der Grundlage eines Eckpunktepapieres für ein drittes Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Vorschriften (3. JGG­ ÄndG) und zweier Expertengespräche im November 2008 und Januar 2009 Konnte dabei bis auf die Frage der Letztentscheidungskompetenz zwischen Jugendhilfe und Justiz Übereinstimmung erzielt werden6. Inhaltlich geht es um die vier Problembereiche: wechselseitige schnelle Informationen, An­ wesenheits- und Mitwirkungspflicht, Verbindlichkeit des Vorschlags der Jugend(gerichts)hilfe und die Letztentscheidung über die Leistungspflicht im Konfliktfall. III. Eine verbesserte Kommunikation und Kooperation setzt zunächst einmal schnelle wechselseitige Informationen voraus. Die Jugendgerichtshilfe ist gem. § 38 Abs. 3 JGG im gesamten Verfahren heranzuziehen, und zwar so früh wie möglich. Gemäß § 52 Abs. 2 SGB VIII hat das Jugendamt frühzeitig zu prüfen, ob für den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen Leis­ tungen der Jugendhilfe in Betracht kommen. Gegebenenfalls hat das Ju­ gendamt den Staatsanwalt oder den Richter umgehend davon zu unterrichten, um informelle Erledigungsmöglichkeiten (Absehen von der Verfolgung oder Einstellung des Verfahrens) zu prüfen. Die auslegungsbedürftigen unbe­ stimmten Rechtsbegriffe („so früh wie möglich“, „frühzeitig“, „umgehend“) werden durch eine Klarstellung im JGG ersetzt, dass die Jugend(gerichts) hilfe über die Einleitung eines Strafverfahrens spätestens mit der Ladung zur ersten Beschuldigtenvernehmung zu informieren ist. Nach § 52 Abs. 1 SGB VIII hat das Jugendamt nach Maßgabe der §§ 38 und 50 Abs. 3 JGG im Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz mitzuwir­ ken. Daraus ergibt sich das Recht zur aktiven Teilnahme an der Hauptver­ handlung. Umstritten ist aber, wann dieses Recht zu einer Pflicht wird. Aus Sinn und Zweck der Beteiligung des Jugendamtes und der Rolle der Ju­ 6  Als

Vorsitzender der DVJJ war der Autor beteiligt.

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gendhilfe im Verfahren wird eine Anwesenheitspflicht in den Fällen begrün­ det, in denen das Jugendgericht eine Beteiligung für geboten hält7. Ange­ sichts gegensätzlicher Positionen ist im Eckpunktepapier eine Anwesen­ heitspflicht nur bei ausdrücklicher Aufforderung vorgesehen gewesen. Im Expertengespräch ist dagegen eine generelle Anwesenheitspflicht mit ge­ setzlich vorgesehener Befreiungsmöglichkeit befürwortet worden. Über Rechtsfolgen bei unentschuldigtem Fernbleiben des Jugendamtes (Ord­ nungsgeld oder Auferlegung von Kosten) konnte keine Einigung erzielt werden, zumal solche Reaktionsformen die angestrebte Verbesserung von Kommunikation und Kooperation eher in Frage stellen würden. Die Problematik der Verbindlichkeit des Vorschlages und des Letztent­ scheids über die Leistungspflicht im Konfliktfall ist zumindest teilweise in der großen Anfrage der Fraktion Bündnis 90 / DIE GRÜNEN vom 13.2.2008 (BT-Drs. 16 / 8146) mit der 51. Frage angesprochen: Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass der Vorschlag einer konkreten Sanktion durch die Jugendgerichtshilfe bei entsprechendem Urteil eine Kostentragungs­ pflicht der Jugendhilfe gem. § 36a SGB VIII zur Folge hat?

Durch die Verwendung des Begriffs „Sanktion“ ist die Frage unglücklich formuliert und konnte bereits mit dem Hinweis darauf, dass das SGB VIII keine Sanktionen, sondern nur Sozialleistungen kennt, beantwortet werden. Da die Vertreter der Jugendgerichtshilfe gem. § 38 Abs. 2 JGG sich zu den zu ergreifenden Maßnahmen äußern, erlangt die Frage der Verbindlichkeit des Vorschlages eine entscheidende praktische Bedeutung, soweit es um Jugendhilfeleistungen geht. In der Antwort auf die Frage 51 wird die Problematik zwar angesprochen, letztlich aber nicht ausdrücklich gelöst. Liest man zwischen den Zeilen, so ergibt sich eine deutliche Tendenz zur Verbindlichkeit für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, wenn die Jugend(gerichts)hilfe gegenüber dem Gericht eine Leistung der Jugendhilfe befürwortet oder einer solchen zustimmt. Davon könnte sich der Träger der Jugendhilfe später allenfalls nur noch unter festzulegenden ganz engen Voraussetzungen lösen. Er müsste dann auch die Kosten tragen. Die angedeutete Lösung ist konsequent, weil Äußerung und Vorschlag der Jugend(gerichts)hilfe auf Grundlage der eigenen fachlichen sozialpädago­ gischen Kompetenz und Qualifikation erfolgen, d.  h. der erzieherische Bedarf bereits festgestellt worden ist. Bei einer gelingenden oder weiter verbesserten Kommunikation und Ko­ operation zwischen Jugendgericht und Jugendhilfe im Jugendstrafverfahren 7  Ostendorf, NK-JGG, § 50 Rn 12; Brunner / Dölling § 38 Rn 6a gegen BGHSt 27; HK-JGG-Sonnen § 38 Rn 25.



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sollten Konflikte ausgeschlossen sein, die vor Gericht ausgetragen werden müssten. Allenfalls seien gemeinsame Schlichtungsstellen zu erwägen. Demgegenüber ist im Eckpunktepapier eine verbindliche Festlegung der Leistungspflicht der Jugendhilfe durch das Jugendgericht vorgesehen, wobei es wörtlich heißt: „greifen diese Maßnahmen (Verbesserung des Abstimmungsprozesses zwischen Jugendgericht und Jugend[gerichts]hilfe und Vermeidung von Divergenzen schon im Vorfeld der jugendgerichtlichen Entscheidung, d. Verf.) nicht, muss das Ju­ gendgericht aber ausnahmsweise in die Lage versetzt werden, verbindlich festzu­ stellen, dass der Träger der öffent­lichen Jugendhilfe zur Gewährung von Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) verpflichtet ist.“

Für eine solche Letztentscheidungsbefugnis des Jugendgerichts anstelle des sonst zuständigen Verwaltungsgerichts spricht der jugendrechtliche Sachzusammenhang. Um das Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und Justiz abzumildern, war einschränkend vorgeschlagen worden, dass das Ju­ gendgericht die Leistungspflicht nur unter Anerkennung des Auswahler­ messens der Jugendhilfe feststellen sollte. Aber auch dieser vermittelnde Vorschlag wurde von der Jugendhilfeseite strikt abgelehnt. Grund für die strikte Ablehnung sind die Konsequenzen, die sich aus der Existenz des § 36a SGB VIII ergeben. § 36a SGB VIII betrifft zwei unterschiedliche Regelungsbereiche, einerseits das Verhältnis zwischen Leistungsberechtig­ ten und der Behörde Jugendamt (Verbot der Selbstbeschaffung) und ande­ rerseits das Verhältnis zwischen Gerichten und der Behörde Jugendamt8. Die vorgeschlagene Letztentscheidungsbefugnis würde als angemaßte An­ ordnungskompetenz das Gewaltenteilungsprinzip verletzen, indem sie Auf­ gaben der Judikative mit denen der Exekutive unzulässig miteinander ver­ knüpfe9. Die Verfassung kenne keine Aufgabenverteilung in der Weise, dass Gerichte anstelle von Behörden eine Entscheidung träfen und deren Vollzug und Kostenlast der Behörde einer kommunalen Gebietskörper­ schaft überließen. IV. Dieses Verständnis von § 36a SGB VIII hat nach dem Bericht des Straf­ rechtsausschusses der Justizministerkonferenz in den Ländern Baden-Würt­ temberg, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen zu Be­ fürchtungen geführt, dass gerade die neuen ambulanten Möglichkeiten aus 8  Danach liege die Entscheidung nach dem Grundsatz der Konnexität von Aufga­ ben- und Ausgabenverantwortung beim Jugendamt. 9  Wiesner, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1 / 2007, S. 68.

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Bernd-Rüdeger Sonnen

fiskalischen Gründen zukünftig noch weiter zurückgedrängt werden könnten. Speziell in Thüringen wird jetzt schon die Gefahr einer nachhaltigen Schä­ digung für die in der Vergangenheit gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Justiz gesehen. Wörtlich heißt es in diesem Zu­ sammenhang: „Grund sei das durch in Kraft treten von § 36a SGB VIII ausgelöste Erwachen eines neuen Selbstbewusstseins in der Leitung einzelner Jugendämter, häufig ein­ hergehend mit einer strikten Verweigerungshaltung zur Durchführung jugend­ gerichtlich angeordneter ambulanter Maßnahmen sowie eine Abschaffung der leistungsfähigen und hochqualifizierten Spezialdienste im Bereich der Jugendge­ richtshilfe.“10

Ob es sich insoweit hier nur um ein in Einzelfällen relevantes oder aber generelles Problem handelt, ist noch nicht abschließend geklärt. Betont wird aber, dass die Jugendgerichtshilfe keine innerhalb des Jugendamtes autono­ me Organisationseinheit sei, die in der Rolle des Zahlmeisters letztlich der Befehlsgewalt der Justiz unterliege11. Dieser Kritik schließt sich auch Mey­ sen an, indem er betont, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe Erwartungen gegenüber sähe, die zum einen Kostenfolgen im kommunalen und nicht im Justizhaushalt nach sich zögen und zum anderen die Ziele der Kinder- und Jugendhilfe aufgrund sanktionierender oder rein tatorientierter jugendge­ richtlicher Reaktionen nicht ausreichend respektierten.12 Demgegenüber sieht Trenczek in den mittlerweile Rechtsansprüche unterlaufenden Anwei­ sungen nicht mehr nur skandalöse Einzelfälle, sondern „Anzeichen einer teilweise systematischen, wenn auch verdeckten Leistungsverweigerung“13. Trenczek weist aber von sich aus darauf hin, dass es in der aktuellen Dis­ kussion um das Verhältnis von Jugendhilfe und Justiz weniger um die Klärung unterschiedlicher Perspektiven als vielmehr darum gehe, wie „das eigene System von den Kosten entlastet bzw. verschont werden kann“14. Die Verweigerung von Leistungen aufgrund von Ressourcenproblemen kommunaler Haushalte hält er für ebenso rechtswidrig wie „beschämend“. In der Tat bleibt es ganz klar festzuhalten, dass fiskalische Erwägungen keine Rolle spielen dürfen, wenn die fachlichen und gesetzlichen Vorausset­ zungen für eine Leistungsgewährung gegeben sind (so auch BT-Drs. 16 / 1342, S. 37). Fest steht aber auch, dass gemäß § 36a SGB VIII durch eine jugend­ richterliche Entscheidung lediglich der Jugendliche bzw. Heranwachsende 10  Strafrechtsausschuss,

ZJJ 4 / 2007, S. 439, 443. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1 / 2007, S. 71. 12  Meysen, RdJB 3 / 2010, S. 306, 320 f. 13  Trenczek, RdJB 3 / 2010, S. 293. 14  Trenczek, RdJB 3  /  2010, S. 293, 303 unter Hinweis auf Wiesner, in: BMJ (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?, 2009, S. 323, 326. 11  Wiesner,



Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation im Jugendkriminalrecht417

zur Inanspruchnahme einer Leistung der Jugendhilfe, nicht aber der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu ihrer Gewährung verpflichtet wird. V. Angesichts des nach wie vor großen Spannungsfeldes zwischen der Mit­ wirkung des Jugendamtes in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (§ 52 SGB VIII) und der von den Jugendämtern ausgeübten Jugendgerichtshilfe (§ 38 JGG) sowie einer ungesicherten Datenbasis hat das Deutsche Jugend­ institut im Jugendgerichtshilfebarometer empirische Befunde zur Jugendhil­ fe im Strafverfahren in Deutschland erhoben und 2011 veröffentlicht. Die 2009 durchgeführte online-Befragung richtete sich an 581 Jugendämter, von denen 391 (Rücklaufquote = 67 %) 53 Fragen zu Organisation, Kooperation, Angebotsstruktur sowie Herausforderungen beantwortet haben. Dabei ging es auch darum, ob die Klarstellung der Steuerungsverantwortung der Ju­ gendhilfe durch § 36a SGB VIII zu einer Belastung der Kooperation zwi­ schen Jugendhilfe und Justiz im Jugendstrafverfahren geführt hat. Der Aussage, dass die Betonung der Steuerungsverantwortung durch den § 36a SGB VIII zu Konflikten mit den Jugendrichterinnen und Jugendrichtern geführt hat, ist von 14 % bejaht und von 48 % verneint worden. Dass die Kooperation seit Einführung des § 36a SGB VIII mit den Jugendrichterin­ nen und Jugendrichtern einfacher geworden sei, wird von 45 % bejaht und von 41 % verneint. Informelle Kooperationsformen zwischen Jugendgericht und Jugendhilfe sind zu 43 % bestätigt und nur zu 16 % als nicht gegeben beantwortet worden15. Man mag angesichts der zuvor genannten Spannungen das Ergebnis für (unerwartet) zufriedenstellend erachten, doch wird immerhin von jedem 8. Jugendamt die Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation und Kooperation signalisiert. Allein mit dem Hinweis auf das verfassungsrechtlich garantierte kommu­ nale Selbstverwaltungsrecht in Art. 28 Abs. 2 GG ist die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit von § 36a SGB VIII noch nicht beendet, geht es doch auch um die richterliche Rechtsprechungskompetenz (Art. 92 GG) und die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG). Bei einer Entscheidungskompe­ tenz des Jugendamtes würde ihre Durchführung von der Zustimmung der Exekutive abhängig16. 15  Jugendgerichtshilfebarometer

2011, S. 49. Jugendstrafrecht, 7. Aufl., 2013, Rn 93; verfassungssrechtliche Be­ denken auch bei Czerner, Vorläufige Freiheitsentziehung bei delinquenten Jugendli­ chen zwischen Repression und Prävention, 2008, S. 391 ff., 398 und bei Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl., 2012, Rn 118. Dem hält Wiesner, Archiv für Wissenschaft 16  Ostendorf,

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Bernd-Rüdeger Sonnen

Das Bundesverfassungsgericht hat den Vorlagebeschluss des AG Eilen­ burg in einem konkreten Normenkontrollverfahren gem. Art. 100 GG als unzulässig verworfen.17 Dabei war das Amtsgericht davon ausgegangen, dass der Richtervorbehalt als „verbindliche Letztentscheidungskompetenz“ zu verstehen sei, die gegenüber den „zur Umsetzung berufenen Stellen“ (hier gegenüber dem Jugendamt) eine verbindliche Wirkung entfalte. Das Bundesverfassungsgericht hat dem gegenüber die Darlegung bemängelt, dass es für die Entscheidung des AG Eilenburg auf die Gültigkeit der Norm des § 36a SGB VIII ankomme. Stattdessen hat es auf drei Lösungs­ möglichkeiten innerhalb des geltenden Rechtes hingewiesen (verfassungs­ konforme Auslegung, Betreuungsweisung nicht als Jugendhilfeleistung, sondern als jugendrichterliche Erziehungsmaßregel und eine entsprechende Kostentragungspflicht der Justiz).18 Um die Umsetzungen rechtlicher Ent­ scheidungen zu gewährleisten, besteht letztlich, wie auch schon im Be­ schluss der Justizministerkonferenz 2007 festgestellt worden ist, ein gesetz­ licher Handlungsbedarf19. Ein solches Gesetz könnte einerseits die Rechts­ grundlagen der §§ 38 JGG und 52 SGB VIII „synchronisieren“ und ande­ rerseits Vorschläge der zweiten Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ 2002 aufnehmen, wenn z. B. in § 38 JGG (Mitwirkung der Jugend­ hilfe im Verfahren) in einem vierten Absatz folgende Regelung getroffen werden sollte: „Soweit Leistungen nach dem SGB VIII durchgeführt werden sollen, setzt dies eine Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe voraus. Leistungen der Jugendhilfe gewährt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Maßgabe des SGB VIII. Er trägt die Kosten, soweit er die Voraussetzungen für die Leistungs­ erbringung nach den Vorgaben des SGB VIII für gegeben hält. Die Jugendhilfe führt ambulante Maßnahmen, die nicht im SGB VIII vorgesehen sind, im Auftrag der Justiz und auf deren Kosten durch. Vor der Entscheidung über eine derartige Maßnahme ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe stets zu hören.“20 und Praxis der sozialen Arbeit 1 / 2007, 68, Fn 3 entgegen, dass Ostendorf den Un­ terschied zwischen Anordnungskompetenz und gerichtlicher Kontrolle der Verwal­ tung verkennen würde. 17  AG Eilenburg, ZJJ 2006, S. 85; BVerfG ZJJ 2007, S. 213, dazu Sonnen, RdJB 2007, S. 128, 137 und Franzen, ZJJ 2008, S. 17 ff. 18  Vgl. Beulke, in: Festschrift für Kreuzer, Interdisziplinäre Kriminologie, 2. Aufl., 2009, S. 60, 68 f. 19  Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 28.06.2007 in Ber­ lin, ZJJ 2007, S. 444, 449. 20  Zur Gesamtproblematik ausführlich die Hamburger Dissertation von Coskun, Kommunikation und Kooperation durch fachliche Konfrontation zwischen Jugend(gerichts)hilfe und Justiz in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz – Zu­ gleich ein Beitrag zum Sozialdatenschutz in den behördenübergreifenden Fallkonfe­ renzen, 2013 (Verlag Dr.  Kovać).



Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation im Jugendkriminalrecht419

Da mit der Verankerung der Steuerungsverantwortung in § 36a SGB VIII gleichzeitig 215.000.000 Euro eingespart werden sollten21, war ohnehin der Abbau integrativer Sozialleistungen zu befürchten, so dass eine gesetzliche Verbesserung der Kommunikation und Kooperation zwischen Jugendhilfe und Justiz erforderlich ist, was Trenczek wörtlich wie folgt untermauert: „Die Argumentation, eine bewusst sozialpädagogische Ausrichtung der Mitarbeit der Jugendhilfe sei ‚schöne Theorie‘, aber letztlich nicht zu realisieren, wirft kein gutes Licht auf die Praxis. Es gibt nichts Praktischeres als ein Gesetz. Der Ge­ setzgeber hat in einem demokratisch legitimierten Verfahren die normativen Stan­ dards formuliert. Diese sind nicht theoretisch, sondern verbindlich. Alles andere ist rechtswidrig. Wenn das Jugendamt seinen sozialanwaltlichen Auftrag nicht wahrnimmt, sich gerade auch um die Integration straffällig gewordener junger Menschen zu bemühen, muss den Interessen der jungen Menschen und deren Familien durch eine rechtsanwaltliche Unterstützung Geltung verschafft werden. Junge bräuchten mithin keine Sozialarbeiter / Innen in der Jugendhilfe, sondern offenbar einen (Rechts-)Anwalt.“22

Soweit (Einschaltung eines Rechtsanwalts) sollte es aber gar nicht kom­ men. Vielmehr gilt das Motto: „Zukunft schaffen!, Perspektiven für straffällig gewordene junge Menschen durch ambulante Maßnahmen“

– so der Titel der von Drewniak / Bals und der BAG ambulante Maßnahmen nach dem Jugendrecht in der DVJJ herausgegebenen Arbeitshilfe für die Praxis, 2012. VI. Die Frage nach einer Verbesserung der Kommunikation und Kooperation stellt sich nicht nur im Verhältnis zwischen Jugendhilfe (vgl. zur Zusam­ menarbeit § 81 SGB VIII) und Justiz, sondern in allen Bereichen der Ju­ gendkriminalrechtspflege, in der wir es mit verschiedenen Akteuren mit durchaus unterschiedlichen Interessen zu tun haben, sieht man einmal von dem Fokus auf die betroffenen Jugendlichen und Heranwachsenden ab, die Probleme bereiten und ihrerseits mitunter massiv Probleme haben. Von Watzlawick stammt der Satz, dass „man nicht nicht kommunizieren kann“, von dem für den kommenden 29. Deutschen Jugendgerichtstag im Septem­ ber 2013 in Nürnberg die Folgefrage abgeleitet worden ist, ob auch der Satz gilt, dass man nicht nicht kooperieren kann23. Fraglich bleibt aber, ob man Ostendorf, ZJJ 2 / 2006, S. 155, 156 unter Hinweis auf BT-Drs 15 / 5616. RdJB 3 / 2010, S. 293, 305. 23  Vortragsankündigung 8: Man kann nicht nicht kooperieren! Kommunikation und Kooperation im Jugendstrafverfahren, Referent Eichenauer. Dabei wird es um 21  Vgl.

22  Trenczek,

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Bernd-Rüdeger Sonnen

eine Verbesserung der Kommunikation gesetzlich „verordnen“ kann, setzt sie doch, wie Michael Walter für seine Kommunikation mit der Vollzugs­ praxis zutreffend betont, voraus, dass sie „entgegenkommend und von ge­ genseitigem Respekt getragen“ sein muss24. Das Problem stellt sich bei allen schon verabschiedeten bzw. geplanten Gesetzesvorhaben, in denen es um das Zusammenspiel, die Schnittmengen und Übergänge in, aber vor allem auch unter dem Postulat „einer mit angemessenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung verzahnten Entlassungsvorbereitung“25 aus dem Vollzug wieder heraus geht. Gemeint ist damit das sog. Übergangsmanagement, das nach der Leitlinie 7 für den Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen zur Wiedereingliederung von Gefangenen zu optimieren ist, wobei auch die Perspektive der Opfer zu berücksichtigen ist (Leitlinie 8: Opferbezogene Vollzugsgestaltung). Gesichert werden soll die „Kontinuität stationärer Re­ sozialisierungsarbeit“, insbesondere durch eine verbesserte Kooperation mit ambulanten Diensten bzw. mit dem professionellen und ehrenamtlichen Engagement Dritter26. Angesichts der notwendigen Kooperationszusammen­ hänge warnt Michael Walter aber gleichzeitig vor einer „Verflachung ins Organisatorische“. Der Übergang in die Freiheit müsse als ein Integrations­ prozess begriffen werden, an dem einzelne, aber auch verschiedene staatli­ che und gesellschaftliche Institutionen zu beteiligen sind. Wörtlich fährt er fort: „Gefordert sind sowohl der Entlassene als auch ‚die‘ Gesellschaft. Doch dabei spielen nicht nur die Kommunikation und der Kontakt eine Rolle, die einfach ‚gemanagt‘ werden können und müssen, sondern ebenso die innere Haltung und Offenheit der Beteiligten, deren Emotionen ebenfalls zu berücksichtigen sind. Insofern genügt ein Managen nicht!“27

VII. Vor diesem Hintergrund werden auch die Zweifel verständlich, die Mi­ chael Walter gegenüber dem geplanten Jugendarrestvollzugsgesetz und dabei speziell gegenüber den Regelungen zur Nachbetreuung äußert. Der Arrest dürfe nicht in der Erwartung einer neuen Lebensplanung unangemessen auf­ gewertet werden, ein „möglichst umfassender Überblick über die Persönlich­ keit des Jugendlichen, dessen Lebensverhältnisse und die diese prägenden Bedingungen zur Kooperationsfähigkeit unter dem Stichwort „Kooperationskompe­ tenz“ gehen. 24  Tätigkeitsbericht 2011, S. 5. 25  BVerfG, Urteil vom 31.05.2006 Rn 61 = ZJJ 2006, S. 193 ff. 26  Tätigkeitsbericht 2011, S. 341. 27  Tätigkeitsbericht 2011, S. 264.



Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation im Jugendkriminalrecht421

Umstände“ gehöre nicht erst zum Vollzug, sondern ist gem. § 38 Abs. 2 JGG bereits Gegenstand der Hauptverhandlung. Sicherlich sei das „Vorstellungsund Kontaktmodell“ im Jugendarrestvollzug einen Versuch wert28, doch soll­ te der Vollzug nicht attraktiv werden und so neue Impulse für die Verhängung von Jugendarrest geben. Das neue Gesetz dürfe nicht den illusionären Ein­ druck erwecken, als ließe sich der Arrest mit seiner nach wie vor zweithöchs­ ten Rückfallquote (und seiner Berechtigung, die Jugendstrafe hinauszuschie­ ben) „zu einem vorzugswürdigen Resozialisierungsmittel umformen“29. Nach wie vor gilt der im 1. JGGÄndG 1990 verankerte Grundsatz, dass ambulante Maßnahmen (angesichts der bekannten schädlichen Nebenwirkungen statio­ närer Sanktionen) Untersuchungshaft, Jugendarrest und Jugendstrafe weitge­ hend ersetzen können, ohne die Rückfallwahrscheinlichkeit zu erhöhen.30 Angesichts neuer Gesetze und aktueller Gesetzesvorhaben fällt auf, dass sie alle den Bereich des Vollzuges betreffen (Jugendstrafvollzug, Strafvoll­ zug, Untersuchungshaftvollzug, Jugendarrestvollzug, Vollzug der Siche­ rungsunterbringung, Therapieunterbringung …), während Landesgesetze zur Wiedereingliederung Straffälliger in die Gesellschaft (soziale Integration, Resozialisierung) durch nicht freiheitsentziehende Maßnahmen z. Zt. noch fehlen, als Landesresozialisierungsgesetze in verschiedenen Bundesländern wie z.  B. in Brandenburg, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein diskutiert und von Fachverbänden gefordert werden.31 Bei Vorüberlegungen für einen entsprechenden Musterentwurf (LResoG) geht es dann bei der Durchführung von Hilfen um Normen zur „Komplexleistung Resozialisie­ rung“, zur Funktion und Person des koordinierenden Fallmanagers, zu regi­ onalen Netzwerken, zum Übergangsmanagement, zur nachgehenden Hilfe und Krisenintervention, zu Dokumentation und Evaluation. Dass mit diesem Normprogramm unter dem Stichwort „Übergangsma­ nagement“ keine dem Zeitgeist geschuldete „Verflachung ins Organisatori­ sche“, sondern eine Verbindung von sozialer Integration und Opferempathie, Selbstachtung und Verantwortungsübernahme erfolgt, wird letztlich auch Michael Walter zu verdanken sein, dem es gelungen ist, sein Ziel, unter Hinweis auf erfahrungswissenschaftliche Zusammenhänge und Befunde „zu 28  Tätigkeitsbericht

2011, S. 41. 2011, S. 282. 30  BT-Drs  11 / 5829, S.  1. 31  Vgl. Sonnen, Empfiehlt sich ein Musterentwurf für ein Landesresozialisie­ rungsgesetz?, in: Festschrift für Kerner, 2013; DBH (Hrsg.) Kriminalpolitik gestal­ ten. Übergänge koordinieren – Rückfälle verhindern, 2010; DBH (Hrsg.) Vernetzung statt Versäulung. Optimierung der stationären und ambulanten Resozialisierung in Hamburg (Bericht der Fachkommission), 2010; DBH (Hrsg.) Übergangsmangement für junge Menschen zwischen Strafvollzug und Nachbetreuung. Handbuch für die Praxis, 2012. 29  Tätigkeitsbericht

422

Bernd-Rüdeger Sonnen

einer Bereicherung beizutragen, mithin das gedankliche Spektrum zu erwei­ tern, eventuell sogar die eine oder andere Auffassung in Frage zu stellen“, überzeugend zu verwirklichen32. Sein weit über einen reinen Tätigkeitsnach­ weis hinausreichender Bericht legt praxisorientiert und auf wissenschaft­ licher Grundlage Zeugnis ab von einer Idealbesetzung eines Justizvollzugs­ beauftragten. Glückwunsch und bei bestmöglicher Gesundheit: Weiter so!

32  Tätigkeitsbericht

2011, S. 24.

Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei jugendlichen Straftätern Franz Streng I. Grundlagen 1. Straftheoretische Rahmenbedingungen der Reifeentscheidung

§ 3 S. 1 i. V. m. § 1 II JGG gibt für die 14- bis unter 18-Jährigen eine flexible Regelung für den Übergang von der Strafunmündigkeit des Kindes (§ 19 StGB) zur grundsätzlich unbedingten Strafmündigkeit des Heranwach­ senden und Erwachsenen. Eine solche Übergangslösung im Sinne „bedingter Strafmündigkeit“ erscheint als plausibles Ergebnis praktischer Vernunft. Allerdings ist unübersehbar, dass die relevante Altersgrenze nach unten hin eine im Detail willkürliche Festlegung bedeutet. Immerhin verdeutlicht der Blick auf die europäische Rechtsgeschichte, dass irgendwo in dem Alters­ bereich um die 12 bis 16 Jahre seit jeher entscheidende strafrechtliche Verantwortungsgrenzen gesetzt worden waren1 – und das noch ganz unab­ hängig von Soziologie, Psychologie oder Pädagogik. Auch der Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus belegt die allgemeine Wahrnehmung einer in diesem Altersbereich anzusiedelnden Zäsur bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.2 Für die Obergrenze der bedingten Strafmündigkeit beim 18. Lebensjahr lässt sich immerhin auf die allgemeine Volljährigkeitsgrenze des § 2 BGB verweisen.3 1  Vgl. dazu in Holzschuh, Geschichte des Jugendstrafrechts bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Jur. Diss. Mainz 1957, S. 38 ff., 57 ff., 139 ff.; Dräger, Die Strafmündigkeitsgrenzen in der deutschen Kriminalgesetzgebung des 19. Jahr­ hunderts (bis zum RStGB), Jur. Diss. Kiel 1992, S. 3 ff.; Fritsch, Die jugendstraf­ rechtliche Reformbewegung (1871–1923), 1999, S. 99 ff.; Fischer, Strafmündigkeit und Strafwürdigkeit im Jugendstrafrecht, 2000, S. 53 ff. 2  Vgl. etwa Kilchling, in: Albrecht / Kilchling (Hrsg.), Jugendstrafrecht in Europa, 2002, S.  475 ff., 486 ff.; Dünkel, NK 2008, S. 102 ff., 106 (Tab. 1); Neubacher, in: BMJ (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?, 2009, S.  275 ff., 288 ff. 3  Problematisierung dazu bei Walter / Neubacher, Jugendkriminalität, 4.  Aufl. 2011, Rn. 337.

424

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Bereits der für die Begründung des Beginns von Strafmündigkeit ange­ sprochene historische Ansatz wie auch der Rechtsvergleich verweisen auf Unsicherheiten darüber, anhand welcher materieller Kategorien und Krite­ rien sich überhaupt eine gegenüber den Anforderungen des § 3 JGG zurück­ bleibende Reife bestimmen lässt. Immerhin die Abgrenzung des Geltungsbereichs des § 3 JGG von dem der §§ 20, 21 StGB kann als insoweit konsentiert gelten, dass nur die im weiteren Gang der Entwicklung – evtl. bei pädagogischer Unterstützung – sich voraussichtlich von selbst regulierenden Auffälligkeiten als Reifungs­ defizite gem. § 3 JGG zum Ausschluss der Verantwortungsreife führen, während reifeunabhängige pathologische Hintergründe eingeschränkter oder fehlender Verantwortlichkeit über die §§ 20, 21 StGB abzuwickeln sind.4 Die Regelung des § 3 JGG – wie entsprechende Regelungen in anderen Zeiten und anderen Ländern – trägt dem Rechnung, dass den jungen Men­ schen (wenn überhaupt) eine zurückhaltende Verantwortungszuschreibung bzw. ein begrenzter Schuldvorwurf trifft.5 Und der Bereich des Jugendalters wird durch § 3 JGG dementsprechend als Ebene definiert, in welcher ange­ sichts möglicherweise fehlender oder sehr geringer Verantwortungszuschrei­ bung noch unklar ist, ob ein durch Gerechtigkeitswertungen legitimiertes Schuldurteil erfolgen darf. Folgt man dem auf Freiheitspostulaten aufbauenden herkömmlichen Schuldbegriff des Bundesgerichtshofs6, dann ergibt sich die geringere Schuld junger Menschen schon daraus, dass Kinder und auch noch Jugend­ liche weit stärker von Dritten – nämlich den Erziehungspersonen – gelenkt und geprägt sind als Erwachsene. Folgt man dem (realistischeren) „sozialen Schuldbegriff“, dann ergibt sich die Verantwortungsminderung daraus, dass junge Menschen noch nicht als vollwertige Sozialpartner angesehen werden. Ein Rechtsbruch von Jugendlichen löst folglich keine so große Erschütte­ 4  Vgl. BGHSt 26, 67 ff., 68; Lenckner, in: Göppinger  / Witter (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I, 1972, S. 3 ff., 253 f.; Lempp, RdJ 20 (1972), S.  326 ff., 329; Streng, DVJJ-Journal 1997, S. 379 ff., 380 f.; Schaffstein / Beulke, Ju­ gendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, § 7 IV; LK / Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 214; Schönke / Schröder / Perron, StGB, 28.  Aufl. 2010, §  20 Rn.  44; NK-JGG  /  Remschmidt / Rössner, 2011, § 3 Rn. 30; Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013, § 3 Rn. 33; Matt / Renzikowski / Safferling, StGB, 2013, § 20 Rn. 100 f. 5  Zur generell geringeren Schuld Jugendlicher vgl. etwa Tenckhoff, JR 1977, S.  485 ff., 489 f.; Streng, ZStW 92 (1980), S. 637 ff., 654 f.; ders., GA 1984, S. 149 ff., 164 (mit Fn. 52); Pfeiffer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, 1983, S.  77 f.; Meyer, ZfJ 1984, S. 445 ff., 448 f.; Brunner / Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 18 Rn. 15; Ostendorf, JGG, 9. Aufl. 2013, § 18 Rn. 6. 6  Vgl. BGHSt 2, 194 ff., 200 f.; dazu Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn.  862 ff.



Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei jugendlichen Straftätern 425

rung des Vertrauens der Mitbürger in die Normgeltung und demnach auch geringere Strafbedürfnisse aus als eine entsprechende Tat Erwachsener.7 Hierfür ist zentraler Gesichtspunkt, inwieweit die Erwachsenen als Urteilen­ de den Täter schon als „Gleichen“ und daher als tauglichen Normadressaten betrachten bzw. inwieweit sie seine Tat als unverständlich-kindliche Aktion oder aber als nachvollziehbare Rechtsanmaßung einstufen. Die Herleitung der Hintergründe altersmäßig differierender Verantwor­ tungszuschreibung mittels letztlich sozialpsychologischer Überlegungen8 kann gleichwohl nicht bedeuten, dass die individualpsychologische Perspek­ tive zu verabschieden sei. Ganz im Gegenteil kann ohne eine Eruierung der individuellen Tätersituation und speziell seines Entwicklungsstandes über­ haupt nicht entschieden werden, welche sozialen Verantwortungsanforderun­ gen den Täter treffen. Die Herausarbeitung der sozialpsychologischen Di­ mension verabschiedet also den Jugendgerichtshelfer und den forensischpsychiatrischen oder -psychologischen Gutachter nicht, sondern macht die unsicheren normativen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit im Rahmen der Reifeentscheidung deutlich. 2. Rechtliche Rahmenbedingungen der Reifeentscheidung

Die Aufgabe eines für die Reifebegutachtung herangezogenen forensi­ schen Gutachters ist es also nicht, die Reifefrage mit Blick auf Einsichtsfä­ higkeit und Steuerungsfähigkeit empirisch zu entscheiden. Vielmehr hat er wesentliche Beiträge zur vom Richter für die Strafmündigkeitsentscheidung benötigten Wertungsgrundlage zu liefern, nämlich die für die Tatbeurteilung wesentlichen Merkmale der Täterpersönlichkeit nach fachlichen Standards herauszuarbeiten. Die Entscheidung, ob der Täter angesichts des Entwick­ lungsstands, der Vortatentwicklung und der Tatsituation das Unrecht der Tat einsehen und nach dieser Einsicht handeln konnte, betrifft – nicht anders als auch bei sonstigen Schuldfähigkeitsentscheidungen – eine juristische Frage­ stellung, die vom Richter normativ zu entscheiden ist.9 Dabei gewinnt die 7  Vgl. Streng, ZStW 92 (1980), S. 637 ff., 654 f.; ders., Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 12, 433. 8  Vgl. Streng, GA 1984, S. 149 ff., 157 ff., 161 ff.; Bottke, Generalprävention und Jugendstrafrecht aus kriminologischer und dogmatischer Sicht, 1984, S. 14 f., 40 f.; Frehsee, FS Schüler-Springorum, 1993, S. 379 ff., 386 ff.; Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013, § 3 Rn. 9; ferner Kaspar, FS Schöch, 2010, S. 209 ff. 9  Vgl. BGHSt 7, 238  ff.; BGH StV 2000, S. 18 f., 19; Rupp-Diakojanni, Die Schuldfähigkeit Jugendlicher innerhalb der jugendstrafrechtlichen Systematik, 1990, S. 69; Schöch, in: Dölling (Hrsg.), Das Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahr­ hundert, 2001, S. 125 ff., 138 f.; Plate, Psyche, Unrecht und Schuld, 2002, S. 104; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 52.

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Strafmündigkeitsentscheidung – auch für den dazu beitragenden Sachver­ ständigen – noch dadurch an Schwierigkeit, dass gem. § 3 S. 1 JGG sogar eine explizite Bejahung von Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit verlangt wird,10 also nicht nur eine Negativfeststellung bei Vorliegen extre­ mer psychischer Auffälligkeit. Die Anknüpfung der Entscheidung an die „Zeit der Tat“ macht deutlich, dass es bei der Strafmündigkeitsentscheidung des § 3 JGG nicht im Sinne eines echten Erziehungsrechts um eine – an den Entscheidungszeitpunkt zu bindende – Frage der konkreten Erziehungstauglichkeit jugendstrafrechtli­ cher Maßnahmen geht. Die Konzentration auf den Tatzeitpunkt entspricht vielmehr einem rückwärtsgewandten Tatstrafrecht. Hier wird der immer wieder ins Auge springende Kompromisscharakter des Jugendstrafrechts deutlich.11 Falls die Voraussetzungen des § 3 JGG bejaht werden und derart Straf­ mündigkeit angenommen wird, besteht keine Entsprechung zu § 21 StGB. Eine „verminderte Strafmündigkeit“ hat der Gesetzgeber also nicht vorgese­ hen. Hierin wird die stärker täterorientierte Ausrichtung des Jugendstraf­ rechts deutlich, welches angesichts der weiten einheitlichen Strafrahmen keine Sonderreglung für zusätzliche Strafrahmenmilderung bei Strafmündig­ keitsminderung benötigt. Auch angesichts seiner generellen Erziehungsori­ entierung (vgl. § 2 I S. 2 JGG) bedarf das JGG keiner spezifischen Erzie­ hungssanktionen für „vermindert Strafmündige“. Für stationäre therapeuti­ sche Behandlung gelten gem. §§ 2 II, 7 JGG die §§ 20, 21 i. V. m. 63, 64 StGB. Für die hier mögliche Konkurrenz zwischen § 3 JGG einerseits und §§ 20, 21 StGB andererseits geht es richtigerweise nicht um Fragen des logischen Vorrangs. Wenn im gegebenen Fall die Voraussetzungen der Schuldfähig­ keitsnormen aus JGG wie StGB erfüllt sind, entfalten sie auch gleicherma­ ßen ihre Legitimationswirkung für die Bestimmung der konkret in Betracht zu ziehenden Sanktionen.12 Welche Sanktion im Einzelfall gewählt wird, ist 10  Vgl. Laubenthal / Baier / Nestler, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 65; Brunner / Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 3 Rn. 3; Diemer / Schatz / Sonnen, JGG, 6.  Aufl. 2011, § 3 Rn. 2; Meier / Rössner / Schöch, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2013, § 5 Rn. 9. 11  Vgl. Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 53; ferner Laubenthal / Baier / Nestler, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 67; Weber, Die Bedeutung des Schuldprinzips im Jugendstrafrecht, 2011, S. 177 ff. 12  Vgl. Dallinger / Lackner, JGG, 2. Aufl. 1965, § 3 Rn. 32; Streng, DVJJ-Journal 1997, S. 379 ff., 381; Fischer (Fn. 1), S. 86 f.; Schaffstein / Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, § 7 IV 3; Schreiber / Rosenau, in: Venzlaff / Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl. 2009, S. 77 ff., 106; NK / Schild, 2. Aufl. 2010, § 20 Rn. 68; Brunner / Dölling, JGG, 12. Aufl., § 3 Rn. 10; Diemer / Schatz / Sonnen, JGG, 6.  Aufl. 2011, § 3 Rn. 28; MüKo-StGB / Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 156 ff.; NK-JGG / Rem-



Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei jugendlichen Straftätern 427

dann sachangemessener Weise Konsequenz der spezialpräventiven Bedürf­ nisse; und es kann kaum zweifelhaft sein, dass diese für Rechtsfolgenflexi­ bilität sorgende Direktive gerade im Jugendstrafrecht auch angebracht ist. 3. Humanwissenschaftliche Rahmenbedingungen der Reifeentscheidung

Man ist sich darüber einig, dass wissenschaftliche Werkzeuge zur Bestim­ mung der Strafreife, etwa in Form von testpsychologischen Instrumenten, nicht vorliegen.13 Eine Übertragung allgemeiner entwicklungspsychologi­ scher Modelle auf die Anforderungen des Strafrechts erscheint unzulänglich bzw. ungesichert. Dies führt dazu, dass von den Sachverständigen solche Kriterien herangezogen werden, die aus fachlicher Sicht zumindest plausibel erscheinen und von den Gerichten erfahrungsgemäß akzeptiert werden. In den psychowissenschaftlichen Publikationen finden sich dazu Auflistungen der heranziehbaren Merkmale bzw. Fallgruppen.14 Als Kriterien immerhin für das Veranlassen einer Reifebegutachtung wer­ den aus psychowissenschaftlicher Sicht benannt:15 Vom Äußeren her vorlie­ gende Retardierung; stark gestörte Familienverhältnisse; Alter knapp über der Strafmündigkeitsgrenze; die psychologische Tatsituation wirkt undurch­ sichtig; die Tat fällt aus dem bisherigen Verhalten völlig heraus; Familien­ angehörige haben Druck ausgeübt; Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnis­ ses; triebhafte Handlung; spektakulär schwere Tat. Andere Gutachter benennen teils andere Fallgruppen:16 Drucksituation infolge Einbindung in delinquente Gruppe; kriminelle Aktivitäten in der Herkunftsfamilie; sexuelle Beziehungen junger Jugendlicher mit noch nicht schmidt / Rössner, 2011, § 3 Rn. 34; Matt / Renzikowski / Safferling, StGB, 2013, § 21 Rn. 25. 13  Vgl. Fischer (Fn. 1), S. 69 ff., 75 f.; Plate (Fn. 9), S. 103; Karle, Praxis der Rechtspsychologie 13, (2003), S. 274 ff., 281 ff., 297; Günter / Karle, in: Kröber / Döl­ ling  /  Leygraf  /  Sass (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2010, S. 561  ff., 567  f., 573, 575; Köhnken / Bliesener / Ostendorf / Barnikol / Marx / Thomas, in: Egg (Hrsg.), Psychologisch-psychiatrische Begutachtung in der Strafjustiz, 2012, S. 131 ff., 132, 135; Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013, § 3 Rn. 9. 14  Überblicksdarstellungen bei Rupp-Diakojanni (Fn. 9), S. 60 ff.; Streng, DVJJJournal 1997, S. 379 ff., 382; Plate (Fn. 9), S. 104 ff.; Fischer (Fn. 1), S. 76 ff.; Böhm / Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 39 f.; NKJGG / Remschmidt / Rössner, 2011, § 3 Rn. 24 ff., 27. 15  Vgl. Freisleder, in: Nedopil  /  Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl. 2012, S.  99 ff., 101. 16  Vgl. Günter, in: Venzlaff / Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl. 2009, S.  687 ff., 712 f.; ferner Lempp, RdJB 20 (1972), S. 326 ff., 327 f.; Klosinski, FPPK 3 (2008), S. 162 ff., 167.

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14-Jährigen; Verstoß gegen komplexe, unüberschaubare Verbote bzw. Ver­ letzung abstrakter Schutzgüter; Enkulturationsprobleme bei Migrationshin­ tergrund; Hineingeraten in überfordernde Situationen. Auswertungen jugendpsychiatrischer Gutachten zur Strafmündigkeit zei­ gen, dass für die Verneinung der Strafmündigkeit bevorzugt auf biologische Defekte Bezug genommen wird. So attestiert man besonders häufig den als schwachsinnig eingestuften Probanden eine fehlende Verantwortungsreife.17 Gleichermaßen ermutigt die Feststellung einer „leichten Hirnfunktionsstö­ rung“ dazu, für die Verneinung der Verantwortungsreife gem. § 3 JGG zu plädieren.18 Beachtlich ist dies deshalb, weil dem Geltungsbereich des § 3 JGG eigentlich nur die nicht-pathologischen, sich im weiteren Gang der Entwicklung voraussichtlich auch ohne Therapie ausgleichenden Defizite zugeordnet werden.19 Die trotzdem erkennbare Praxis eines Abstützens des Ausschlusses der Strafmündigkeit gem. § 3 JGG vor allem auf biologisch bzw. pathologisch bedingte Entwicklungsstörungen20 belegt einen bemer­ kenswerten Zug zu „objektivierbaren Kriterien“ im Sinne einer Orientierung an den Kriterien von § 20 StGB.21 Noch einen Schritt weiter gehen Rasch / Konrad, wenn sie auch im Zu­ sammenhang mit Reifedefiziten grundsätzlich die Schuldfähigkeitsbestim­ mungen des StGB für maßgeblich halten. Relevante Störungen seien durch die Eingangsmerkmale des § 20 StGB erfassbar.22 Allein für Fälle, in denen „eine Extremsituation eine altersgemäße Sozialisation unmöglich machte“, sei auf § 3 JGG abzustellen.23 Eine derartiges Zurückschneiden des Anwen­ dungsbereichs von § 3 JGG lässt sich als Suche nach möglichst eindeutigen und etablierten Reifekriterien verstehen. Denn nur in § 20 StGB werden ganz bestimmte Eingangsmerkmale – „krankhafte seelische Störung, tief­ greifende Bewusstseinsstörung, Schwachsinn oder schwere andere seelische Abartigkeit“ – als beurteilungsrelevant benannt. 17  Vgl. Bresser, ZStW 74 (1962), S. 579 ff., 580 ff.; Schreiber / Rosenau (Fn. 12), S.  77 ff., 105. 18  Vgl. bei Wenn, Begutachtung der Schuldfähigkeit von jugendlichen Straftätern, 1995, S. 64 ff., 67; Schreiber / Rosenau (Fn. 12), S. 77 ff., 105. 19  Vgl. oben Fn. 4. 20  Befragungsergebnisse dazu bei Köhnken u. a. (Fn. 13), S. 131 ff., 147. 21  Ganz offen in diesem Sinne Bresser, ZStW 74 (1962), S. 579 ff., 588; zur pro­ blematischen Konzentration auf quantifizierende Ergebnisse von Intelligenzmessun­ gen vgl. Heim, StV 1988, S. 318 ff., 321. 22  Vgl. auch schon Kaufmann / Pirsch, JZ 1969, S. 358 ff., 363; speziell bei kli­ nisch relevanter Intelligenzminderung ebenso Günter / Karle (Fn. 13), S. 561 ff., 570; ferner Klosinski, FPPK 3 (2008), S. 162 ff., 167. 23  Rasch / Konrad, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. 2004, S. 78  f.; ferner Plate (Fn. 9), S. 105 f.



Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei jugendlichen Straftätern 429

Bleibt man mit der herrschenden Meinung bei einem für die Hintergrün­ de von Reifedefiziten offenen § 3 JGG, dann kann der fachkundige Helfer mangels klarer Wertungskriterien als Maßstab für seine individuelle Reife­ diagnose günstigstenfalls die vom zuständigen Richter als akzeptabel einge­ stuften Gerechtigkeits- und / oder Präventionskriterien erahnen und berück­ sichtigen. Denn für die Umsetzung der Reifedimension in Fähigkeitsaussa­ gen werden alltagstheoretische oder in der Rechtsprechung tradierte Kon­ ventionen meist unausgesprochener Art zugrunde gelegt.24 Auf der höchstrichterlichen Ebene jedenfalls sucht man verallgemeinerbare und von daher verlässlich handhabbare Kriterien vergebens. Im Übrigen erscheint die für die Reifefeststellung rechtlich maßgebliche Anknüpfung am Tatzeitpunkt einigermaßen problematisch, weil zwischen Tat und Begutachtung und erst recht Aburteilung erhebliche Zeit verstreicht, in welcher sich gerade junge Menschen schon weiterentwickelt haben kön­ nen. Und diese Weiterentwicklung kann gerade auch Folge der Auseinan­ dersetzung mit der eigenen Tat sein.25 II. Elemente der Strafmündigkeit 1. Die Struktur der Reifebeurteilung

Die Regelung des § 3 JGG zur „Verantwortungsreife“ entspricht immer­ hin im Grundsatz strukturell der Regelung des § 20 StGB. Beide Schuldfä­ higkeits-Normen gehen von einem zweistufigen Aufbau aus. Eine sog. biologische oder psychische Basisdimension muss auf der Ebene der Ein­ sichts- oder Handlungsfähigkeit so gravierende Defizite bewirken, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die jeweilige Tat ausgeschlossen er­ scheint.26 Dass es sich bei der im Rahmen von § 3 JGG zu treffenden Entscheidung um eine Schuld- bzw. Gerechtigkeitswertung handelt, wird nicht nur durch die Strukturähnlichkeit mit der Schuldfähigkeitsvorschrift 24  Vgl. auch Miehe, Jugendstrafrecht 1 (Fernuniversität Hagen), 1994, S. 14 f.; Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013, § 3 Rn. 9; ferner Bresser, ZStW 74 (1962), S. 579 ff., 587 f., 593; Beckmann, Die Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach § 3 JGG, Jur. Diss. Kiel 1969, S. 64 ff. 25  Vgl. Keller / Kuhn / Lempp, MschrKrim 58 (1975), S. 153, 160; Schütze, DVJJJournal 1997, S. 366; Schütze / Schmitz, in: Lempp / Schütze / Köhnken (Hrsg.), Foren­ sische Psychiatrie und Psychologie des Kindes- und Jugendalters, 1999, S. 127 ff., 130 f.; Günter (Fn. 16), S. 697 ff., 711 f.; ferner BGHSt 12, 116 ff., 119; Frehsee, FS Schüler-Springorum, 1993, S. 379 ff., 384. 26  Vgl. Streng, DVJJ-Journal 1997, S. 379 ff., 380; Fischer (Fn. 1), S. 83; Plate (Fn. 9), S. 103; Schreiber / Rosenau (Fn. 12), S. 77 ff., 105.

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des § 20 StGB nahegelegt, sondern – wie schon hervorgehoben – auch durch die Bezugnahme auf den Tatzeitpunkt. Das „erste Stockwerk“ von § 3 JGG spricht die sittliche und die geistige Entwicklung an. Dabei kann kein Zweifel bestehen, dass eine solche Zu­ sammenschau von Dimensionen moralischer und kognitiver Entwicklung des Individuums erforderlich ist, um die Persönlichkeitsentwicklung in einer Weise zu erfassen, die der Frage strafrechtlicher Verantwortungsreife ange­ messen ist.27 Angesichts dieser komplexen Aufgabe macht freilich ein Ver­ gleich mit § 20 StGB nachdenklich, da mit den dort benannten vier Ein­ gangsmerkmalen eine deutlich stärkere Konkretisierung der relevanten Fra­ gestellungen vorgenommen worden ist als in § 3 JGG. Im „zweiten Stockwerk“ von § 3 JGG geht es dann darum, inwieweit der Täter bezüglich der einzelnen Tatbestandsverwirklichung(en) reif genug war, „das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“ (wortgleich § 20 StGB). Dass aber die jeweils im ersten Stockwerk geleis­ tete Reifebeurteilung ohne weiteres in eine Aussage über Fähigkeiten zur Unrechtseinsicht und zur Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit umsetzbar wäre, lässt sich nicht behaupten. Denn es bereitet schon die Klärung der Bezugspunkte der erforderlichen Reife Probleme. Ein Bedenken gegen die hier vorausgesetzte Annahme eines zweistufigen Aufbaus in Analogie zu § 20 StGB ergibt sich aus der Wahrnehmung, dass auch ganz „durchschnittlich“ entwickelte Jugendliche in bestimmten Kon­ fliktsituationen mit deren Bewältigung überfordert sein können. Hier gäbe es auf der „ersten Ebene“ an sich überhaupt kein Reifungsdefizit, vielmehr wäre das fragliche Defizit erst in Relation zu den Anforderungen der zwei­ ten Ebene mit Blick auf eine ganz bestimmte Tatsituation diagnostizierbar. Die Beurteilung würde dann also „einstufig und konkret tatbezogen“ erfol­ gen.28 Angesichts dieser plausiblen Überlegung wird man die Behauptung einer bei § 3 JGG strukturellen Analogie zu § 20 StGB also relativieren müssen.

27  Vgl. Walter / Kubink, GA 1995, S.  51  ff., 53  f.; Schütze / Schmitz (Fn. 25), S.  127 ff., 128 ff.; Plate (Fn. 9), S. 100 f.; Günter / Karle (Fn. 13), S. 561 ff., 569 f. 28  Vgl. Günter (Fn. 16), S. 687 ff., 712; ebenso HK-GS / Verrel, 2. Aufl. 2011, § 19 Rn.  7; NK-JGG / Remschmidt / Rössner, 2011, § 3 Rn. 2; ferner Lempp, RdJB 20 (1972), S. 326 ff., 328.



Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei jugendlichen Straftätern 431 2. Die relevanten Fähigkeiten – das sog. zweite Stockwerk

a) Die Einsichtsfähigkeit Die Einsichtsfähigkeit setzt Verstandesreife (kognitive Reife) und sittliche (ethische) Reife voraus, die sich nicht notwendig synchron entwickeln;29 die sittliche Reife meint dabei mehr als nur Kenntnis von Wertvorstellungen, nämlich auch deren gefühlsmäßige Verankerung.30 Der Jugendliche muss nicht die Strafbarkeit, aber er muss doch das materielle Unrecht der Tat erkennen können. Die Einsichtsfähigkeit ist nicht generell, sondern in Be­ zug auf die einzelnen rechtswidrigen Taten des Jugendlichen zu ermitteln; dies kann bedeuten, dass der Jugendliche für eine Tat als strafmündig und für eine zugleich begangene andere Tat von komplexerem Zuschnitt als nicht strafmündig anzusehen ist31. Umstritten ist die Frage, ob die Unrechtseinsichts-Regelung des § 3 S. 1 JGG neben der des § 17 StGB zum Verbotsirrtum überhaupt eine eigene Bedeutung aufweisen kann. Für eine Eigenständigkeit spricht zunächst, dass § 3 S. 1 JGG die Einsichtsfähigkeit anspricht („reif genug … einzusehen“), nicht aber die (konkret fehlende) Unrechtseinsicht, wie § 17 StGB. Aller­ dings ist auch in den §§ 20, 21 StGB von der Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, die Rede. Und im Rahmen dieser allgemeinen Schuldfähig­ keitsregeln geht die ganz herrschende Meinung davon aus, dass für die Frage fehlender Unrechtseinsicht die Regelung des § 17 StGB die Kriterien vorgibt. Es kommt also für Exkulpation gem. § 20 StGB auf die tatsächlich fehlende Einsicht an, nicht auf eine fehlende Einsichtsfähigkeit.32 Und eine verminderte Einsichtsfähigkeit, wie sie von § 21 StGB angesprochen wird, ist ganz ohne Belang, wenn der Täter tatsächlich Unrechtseinsicht hatte. Lediglich bei verschuldet fehlender Unrechtseinsicht (vgl. § 17 S. 2 StGB) eröffnet eine verminderte Einsichtsfähigkeit die Bejahung von § 21 StGB.33 29  Vgl. Ostendorf, JZ 1986, S. 664 ff., 666; Esser / Fritz / Schmidt, MschrKrim 74 (1991), S. 356 ff., 366; Klosinski, FPPK 3 (2008), S. 162 ff., 165 f. 30  Vgl. Diemer / Schatz / Sonnen, JGG, 6. Aufl. 2011, § 3 Rn. 13; Ostendorf, JGG, 9. Aufl. 2013, § 3 Rn. 6. 31  Vgl. Rupp-Diakojanni (Fn. 9), S. 52 f., 59 f.; Jescheck / Weigend, Strafrecht. AT, 5. Aufl. 1996, S. 435; Laubenthal / Baier / Nestler, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 69; Brunner / Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 3 Rn. 4c; Diemer / Schatz / Sonnen, JGG, 6. Aufl. 2011, § 3 Rn. 4 ff.; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 48. 32  Vgl. Schönke / Schröder / Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 4, 27; MüKoStGB / Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 17, 50; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 20 Rn.  4; Matt / Renzikowski / Safferling, StGB, 2013, §  20 Rn.  63; anders NKStGB / Schild, 2. Aufl. 2010, § 20 Rn. 27 f. 33  Vgl. LK / Schöch, 12. Aufl. 2007, § 21 Rn. 9 f.; Lackner / Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 21 Rn. 1; MüKo-StGB / Streng, 2. Aufl. 2011, § 21 Rn. 11 f.

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Die Nutzung der Fähigkeitsterminologie in § 3 JGG stellt angesichts der allgemeinen Schuldfähigkeitsdogmatik also kein gewichtiges Argument dar. Tatsächlich spricht gegen eine Eigenständigkeit der Einsichtsfähigkeit des § 3 JGG,34 dass bei einer konkret vorliegenden Unrechtseinsicht des Täters eine reifebedingt erfolgende Exkulpierung wegen fehlender Einsichtsfähigkeit widersprüchlich wäre und dem Schuldprinzip gerade nicht entspräche. Für den Regelfall kann man bei § 3 JGG also genauso wie bei § 20 StGB für eine richterliche Zuerkennung der Strafmündigkeit bzw. der Schuldfä­ higkeit gleich auf die konkrete Unrechtseinsicht abstellen. Freilich lassen sich noch weitere und problematischere Konstellationen der Konkurrenz von Einsichtsfähigkeit und Unrechtseinsicht unterscheiden. Vielschichtig erscheint die Situation dann, wenn zwar die Einsichtsreife gegeben ist, der Jugendliche das Unrecht der Tat aber dennoch nicht erkannt hat. Trotz Bejahung von Strafmündigkeit gem. § 3 JGG wegen reifebegrün­ deter Einsichtsfähigkeit kann wegen eines aus anderen Gründen vorliegen­ den Verbotsirrtums die Anwendung von § 17 StGB zum Schuldausschluss führen, wenn die fehlende Verbotskenntnis unverschuldet war.35 In der Konsequenz dieser Anwendung von § 17 StGB hat man in der Literatur dem § 3 JGG für die Frage der Unrechtseinsicht jeglichen eigenen Regelungsgehalt abgesprochen.36 Es handele sich bei der Regelung des § 3 JGG zur Einsichtsfähigkeit um einen bloßen Unterfall des in § 17 StGB geregelten Verbotsirrtums.37 Dementsprechend soll das Erfordernis gehöri­ ger Gewissensanstrengung des Jugendlichen als zusätzliches Kriterium aus dem Vermeidbarkeitserfordernis des § 17 S. 2 StGB in die Prüfung von § 3 JGG übernommen werden.38 Michael Walter hat dem energisch und in der Sache zutreffend widerspro­ chen.39 Tatsächlich lohnt es, die Ebenen des § 3 JGG und des § 17 StGB in einiger Hinsicht auseinanderzuhalten. Einsichtsreife ist zu bejahen, wenn der Jugendliche das Unrecht erkannt hat oder nach seinem persönlichen Entwicklungsstand erkennen konnte. Fehlt es jedoch an dieser reifebeding­ ten Fähigkeit, dann ergibt die Vermeidbarkeitsfrage des § 17 S. 2 StGB oder auch die Frage nach einer actio libera in causa überhaupt keinen Sinn. Bohnert, NStZ 1988, S. 249 ff., 251 ff. MüKo-StGB / Altenhain, 2006, JGG § 3 Rn. 23. 36  Vgl. Bohnert, NStZ 1988, S. 249 ff., 252 ff. 37  Vgl. Diemer / Schatz  /  Sonnen, JGG, 6. Aufl. 2011, § 3 Rn. 22; auch schon Lenckner (Fn. 4), S. 3 ff., 255 f. 38  Vgl. Diemer / Schatz  / Sonnen, JGG, 6. Aufl. 2011, § 3 Rn. 8 f.; vgl. auch Bohnert, NStZ 1988, S. 249 ff., 253 f. 39  Walter / Kubink, GA 1995, S. 51 ff., 54 ff. (Nachdruck im DVJJ-Journal 1995, S.  113 ff.). 34  Vgl.

35  Anders



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Denn mangelnde Reife ist nicht manipulierbar und lässt sich durch Gewis­ sensanspannung nicht ersetzen – eine Anspannung, die bei fehlender Un­ rechtserkenntnismöglichkeit schon gar nicht in Gang setzbar ist.40 Seine jeweilige sittliche und geistige Reife stellt für den Betroffenen also immer eine unvermeidbare Determinante vorhandener oder fehlender Einsichtsfähigkeit dar. Unterliegt ein zur Unrechtseinsicht fähiger Jugendlicher dennoch einem Verbotsirrtum, geht man teils davon aus, dass dann in der Regel eine Ver­ meidbarkeit i. S. v. § 17 S. 2 StGB vorliege.41 Die wohl überwiegende Mei­ nung verfolgt hingegen mit guten Gründen eine andere Linie, derzufolge der Verschuldensmaßstab im Rahmen von § 17 S. 2 StGB für Jugendliche ein anderer, nämlich milderer sein müsse als für Erwachsene.42 Tatsächlich stellt ja die Erlangung von Einsichtsreife eine (mehr oder weniger) kontinuierliche Entwicklung dar, wobei für die Bejahung der Voraussetzungen von § 3 JGG noch keine vollständige Reife wie etwa bei einem idealtypisch Erwachsenen vorausgesetzt werden kann.43 Die mit Jugendlichkeit zwangsläufig verbunde­ nen Erfahrungs- und Entwicklungsdefizite sind daher auch im Rahmen von § 17 S. 2 StGB in besonderer Weise zu berücksichtigen. Es wird m.a.W. dem nach Reifestandards grundsätzlich einsichtsfähigen jugendlichen Täter in schwierig zu durchschauenden Konstellationen leichter die Unrechtseinsicht fehlen als einem Erwachsenen in ansonsten gleicher Lage.44 Angesichts der erwähnten reifebedingten Sonderaspekte bleibt es dabei, dass § 3 S. 1 JGG bezüglich der Unrechtseinsicht nicht etwa eine unselbst­ ständige Variante von § 17 StGB darstellt. Einen eigentlichen Vorrang des § 17 StGB vor § 3 JGG gibt es genauso wenig wie einen Vorrang des § 3 JGG vor § 17 StGB45. Vielmehr handelt es sich um ein in verschiedenen Konstellationen unterschiedliches Zusammenspiel beider Normen.

40  Vgl. Walter / Kubink, GA 1995, S. 51  ff., 56 ff.; Streng, DVJJ-Journal 1997, S.  379 ff., 381; Böhm / Feuerhelm (Fn. 14), S. 39; HK-GS / Verrel, 2. Aufl. 2011, § 19 Rn. 12. 41  So Lenckner (Fn. 4), S. 3, 255; Brunner / Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 3 Rn. 13; Diemer / Schatz / Sonnen, JGG, 6. Aufl. 2011, § 3 Rn. 22; vgl. auch Bohnert, NStZ 1988, S. 249 ff., 253 f.; MüKo-StGB / Altenhain, 2006, JGG § 3 Rn. 23. 42  Vgl. schon Dallinger / Lackner, JGG, 2. Aufl. 1965, § 3 Rn. 36 f. 43  Vgl. zu entsprechenden Ergebnissen hirnphysiologischer Forschung Schepker / Toker, Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 35 (2007), S. 9  ff., 11; NKJGG / Remschmidt / Rössner, 2011, § 3 Rn. 26. 44  Vgl. Streng, DVJJ-Journal 1997, S. 379  ff., 381; Laubenthal / Baier / Nestler, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 77; Nix, ZJJ 2011, S. 416 ff., 421; Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013, § 3 Rn. 32; Ostendorf, JGG, 9. Aufl. 2013, § 3 Rn. 2. 45  Für Letzteres jedoch MüKo-StGB / Altenhain, 2006, JGG § 3 Rn. 23.

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b) Die Steuerungsfähigkeit Nur im Falle des Vorliegens von Einsichtsfähigkeit und konkreter Un­ rechtseinsicht kann sich die Frage der Handlungsfähigkeit i. S. von Steue­ rungsfähigkeit stellen, nämlich die Frage nach der Fähigkeit zur Befolgung einer gegebenen Einsicht.46 Vom herkömmlichen Ausgangspunkt der Recht­ sprechung aus geht es hierbei um die Frage der Willensfreiheit.47 Allerdings hat sich in der Lehre weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass mensch­ liche Willensfreiheit jedenfalls nicht erkennbar ist, weshalb sich wegen dieses fehlenden Bezugspunkts auch eine (ausnahmsweise) Unfreiheit nicht empirisch klären lässt. Daher dominiert der „soziale Schuldbegriff“, welcher Freiheit als normative Setzung versteht. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts favorisierte man in diesem Sinne als Freiheitskriterium die „normale Be­ stimmbarkeit durch Motive“48, und auch heute folgt man weithin dieser Linie.49 Auf junge Menschen bezogen geht es darum, ob wir ihnen – unter Berücksichtigung ihres Entwicklungsstandes – ein normtreues Verhalten fairerweise bereits abverlangen dürfen. Die Entscheidung darüber erfolgt zwar auf der Basis einer Persönlichkeitsdiagnose (evtl. auch Begutachtung), aber dann letztlich durch unser Rechtsgefühl. Es geht dabei darum, ob wir erwachsenen Bürger uns in dem fraglichen jungen Täter in dem Sinne wie­ dererkennen, dass wir seine Tat als die eines „Gleichen“ erleben und daher als Herausforderung bzw. Gefährdung unserer eigenen Normtreue. Wenn die Tat hingegen wegen augenscheinlicher Unreife des Täters als fremd und uneinfühlbar und daher quasi als Unglücksfall erscheint, verzichtet die Rechtsgemeinschaft angesichts geringer Normbestätigungsbedürfnisse auf die Zuschreibung von Tatverantwortung.50 46  Vgl. BGH StV 1999, S. 485 f.; LK / Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 80; Schön­ ke / Schröder / Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 25; MüKo-StGB / Streng, 2. Aufl. 2011, §  20 Rn.  51; Matt / Renzikowski / Safferling, StGB, 2013, § 20 Rn. 61, 65. 47  Vgl. BGHSt 2, 194 ff., 200; neuestens etwa C. Jäger, GA 2013, S. 3 ff., 6. 48  Vgl. v. Liszt, ZStW 17 (1897), S. 70 ff., 75 f. 49  Vgl. Jescheck / Weigend, Strafrecht. AT, 5. Aufl. 1996, S. 410 ff.; Roxin, Straf­ recht. AT I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 36 ff.; Kunz, Bürgerfreiheit und Sicherheit 2000, S.  190 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn. 862 ff., 867. – Auch die neuere Diskussion um die Befunde der Hirnforschung hat daran nichts ändern können; vgl. Hillenkamp, JZ 2005, S. 313 ff.; Streng, FS Jakobs, 2007, S. 675 ff.; Schreiber / Rosenau (Fn. 12), S. 77 ff., 82 f.; R. Merkel, FS Roxin II, 2011, S. 737 ff., 752 ff.; für Kritik Duttge, in: Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009, S. 13 ff., 39 ff. 50  Vgl. Streng, ZStW 92 (1980), S.  637  ff., 654; ders., DVJJ-Journal 1997, S.  379 ff., 382 f.; Frehsee, FS Schüler-Springorum, 1993, S. 379 ff., 387 f.; v. Hirsch, FS Roxin, 2001, S. 1077 ff., 1082 ff.; ferner Schünemann, FS Lampe, 2003, S. 537 ff., 547 ff.



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Dass die täterbezogenen Kriterien hierfür wenig Kontur aufweisen und zu wohl noch größerer Anwendungsunsicherheit hinsichtlich der Steuerungsfä­ higkeitsdiagnose führen als dies bereits auf Grundlage der stärker konturierten Eingangsmerkmale des § 20 StGB der Fall ist, wurde bereits angesprochen.51 III. Zur Praxis von Reifebegutachtung und ‑entscheidung Die durch § 38 II S. 2 und § 43 I S. 1 JGG genährte Erwartung, dass bereits die Berichte der Jugendgerichtshilfe regelmäßig genug Material für eine fundierte richterliche Reifeentscheidung liefern, hat sich als unrealis­ tisch erwiesen.52 Und eine sachverständige Begutachtung gem. § 43 II JGG zum Zwecke der Klärung der Strafmündigkeit wird im Jugendstrafverfahren nur selten durchgeführt.53 Dies erstaunt angesichts der Tatsache, dass das gesetzliche Programm eine positive Aussage des Gerichts zum Vorhanden­ sein der Strafreife für eine Verurteilung voraussetzt. Als spezifisches Problem der erforderlichen tatzeitbezogenen Reifediag­ nose springt der regelmäßig erhebliche Zeitablauf zwischen Tat und richter­ licher Entscheidung bzw. vorbereitender Begutachtung ins Auge.54 Die Persönlichkeitsentwicklung als (mehr oder minder) kontinuierlicher Prozess, der durch das Erlebnis der Tat und der Strafverfolgung noch deutlich be­ schleunigt worden sein mag, müsste für die Entscheidungsfindung eigentlich auf den Tatzeitpunkt zurückgedreht werden – offenbar ein nur fiktiv mögli­ ches Unterfangen. Da dieses Problem in der gerichtlichen Praxis kaum je­ mals diskutiert wird,55 ist davon auszugehen, dass man die Anforderungen des Tatschuldgedankens insoweit vernachlässigt. Es wird einfach auf den Reifeeindruck zum Zeitpunkt der Begutachtung oder der Hauptverhandlung abgestellt, wie sich für Einzelfälle auch eindeutig belegen lässt.56 51  Vgl.

oben in I.3 und II.1. Keller / Kuhn / Lempp, MschrKrim 58 (1975), S. 153 ff., 160; Lemm, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit jugendlicher Rechtsbrecher, 2000, S. 47; Kurzberg, Jugendstrafe aufgrund schwerer Kriminalität, 2009, S. 178 f.; Köhnken u. a. (Fn. 13), S.  131 ff., 148. 53  Vgl. Ludwig, in: Albrecht  / Schüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an Vier­ zehn- und Fünfzehnjährigen, 1983, S. 66 ff., 102; Schulz, MschrKrim 84 (2001), S.  310 ff., 315 f.; Klosinski, FPPK 3 (2008), S. 162 ff., 167; Günter / Karle (Fn. 13), S.  561 ff., 593; Walter / Neubacher, Jugendkriminalität, 4. Aufl. 2011, Rn. 367; Köhnken u. a. (Fn. 13), S. 131 ff., 142. 54  Vgl. Heim, StV 1988, S. 318 ff., 319: erste Exploration durchschnittlich 148 Tage nach der Tat; Verrel, ZStW 106 (1994), S. 332 ff., 337 f.: sechs Monate bis Gutachteneingang. 55  Vgl. aber BGHSt 12, 116 ff., 119. 56  Vgl. oben Fn. 25. 52  Vgl.

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Die gerichtliche Praxis reagiert auf die Überforderung durch die voraus­ gesetzte individualisierende Stellungnahme zur Strafreife wenig überra­ schend mit Verweigerung und verneint bei § 3 JGG – in Anlehnung an § 20 StGB – die strafrechtliche Verantwortlichkeit nur bei Vorliegen außerge­ wöhnlicher Befunde, insbesondere solcher, die einen biologischen Hinter­ grund aufweisen oder per Intelligenzquotient quantifizierbar sind.57 Eine eher oberflächliche Perspektive der Beurteilung wird auch darin deutlich, dass neuere Befragungsergebnisse die „verstandesmäßige Einsicht“ als zen­ tralen Maßstab der Justizpraktiker ausweisen.58 An Stelle einer substanziellen positiven Begründung der Strafreife finden sich vor allem formelhafte, inhaltsleere Floskeln.59 Überdies belegen Unter­ suchungen zur Verwertung forensischer Reifegutachten durch die Jugendge­ richte, dass in diesem Bereich „der Sachverständigenmeinung mehr oder weniger blind vertraut wird“.60 Unverkennbar ist im Übrigen, dass § 3 S. 1 JGG häufig ergebnisorien­ tiert angewandt wird. Bei längerer krimineller Vorgeschichte vor dem 14. Lebensjahr warten die Behörden manchmal geradezu auf den 14. Ge­ burtstag, um endlich das Instrumentarium des JGG zur Verfügung zu haben;61 denn wegen der weitgehenden Beseitigung der geschlossenen Er­ ziehungsheime62 kann auf eine extreme Delinquenzneigung sehr junger Täter in manchen Fällen nicht angemessen mit Jugendhilfemaßnahmen re­ 57  Vgl. Bresser, ZStW 74 (1962), S. 579 ff., 580 ff.; Heim, StV 1988, S. 318 ff., 321 f.; Rupp-Diakojanni (Fn. 9), S. 69 f.; Wenn (Fn. 18), S. 64  ff., 67; Kurzberg (Fn. 52), S. 182 f.; ferner Schreiber / Rosenau (Fn. 12), S. 77 ff., 105. 58  Vgl. Köhnken u. a. (Fn. 13), S. 131 ff., 148. 59  Vgl. Keller / Kuhn / Lempp, MschrKrim 58 (1975), S.  153  ff., 160; Ludwig (Fn.  53), S.  66 ff., 101 ff.; Ostendorf, JZ 1986, S. 664 ff., 665, 669; Streng, DVJJJournal 1997, S. 379 ff., 382; Schütze / Schmitz (Fn. 25), S. 127 ff., 131; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 3.  Aufl. 2000, S.  99  f.; Lemm (Fn.  52), S.  46; Plate (Fn.  9), S. 114; Günter (Fn. 16), S. 687 ff., 712; Kurzberg (Fn. 52), S. 182 f. 60  Adler / Remschmidt, FS Stutte, S. 183 ff., 197; ferner Heim, Psychiatrisch-psy­ chologische Begutachtung im Jugendstrafverfahren, 1986, S. 52 f.; Schepker, in: Warnke  /  Trott  /  Remschmidt (Hrsg.), Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie, 1997, S. 292 ff., 297; Schepker / Toker, Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother., 35 (2007), S. 9 ff., 13; Kurzberg (Fn. 52), S. 182 f. 61  Vgl. Frehsee, ZStW 100 (1988), S. 290  ff., 322; Böhm / Feuerhelm (Fn. 14), S. 41. 62  Vgl. bei v.  Wolffersdorff / Sprau-Kuhlen / Kersten, Geschlossene Unterbringung in Heimen, 2. Aufl. 1996, S. 58 ff.; vgl. zu neueren Entwicklungen Hoops / Permien, ZJJ 2005, S. 41 ff.; Trede, in: DVJJ (Hrsg.), Verantwortung für Jugend (26. DJGT), 2006, S.  128 ff., 133 ff.; Kindler / Permien / Hoops, ZJJ 2007, S. 40 ff.; Lindenberg, in: Dollinger / Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität, 2010, S. 557 ff., 559 ff.; Freisleder (Fn. 15), S. 99 ff., 107 f.



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agiert werden.63 Nachdem die anderen Maßnahmen nicht gefruchtet haben, tendieren dann wohl auch die Richter trotz vorliegender Bedenken zur Bejahung der Strafmündigkeit. IV. Resümee und Perspektiven Das Dargestellte relativiert die Praxisrelevanz der in § 3 JGG niederge­ legten Erwartung einer stets expliziten Stellungnahme zur Strafmündigkeit des zu Verurteilenden. Psychogutachter und Juristen können Kriterien der Strafmündigkeit lediglich abstrakt benennen. Es gibt keine „Normreife“ des Jugendalters.64 Für die verlässliche Anwendung von Reifekriterien im kon­ kreten Fall fehlt es zum einen an gesicherten psychowissenschaftlichen Standards und zum anderen an eindeutigen juristischen Standards für Rei­ fewertungen. So ist die Erwartung inhaltlicher Begründungen tatsächlich vorhandener Reife weithin unrealistisch. Von erfahrenen Sachverständigen wird in diesem Sinne betont, dass begründete Aussagen zur Verantwortungs­ reife „zumindest in negativer Hinsicht“ möglich seien65. Der hier deutlich werdenden Distanzierung von einer positiven Begründbarkeit von Reife entspricht eine etablierte Falsifikationsmethode, wonach es bei jeder Begut­ achtung der Schuldfähigkeit darum geht, „diejenigen Persönlichkeitsvoraus­ setzungen, die die Annahme von Willensfreiheit erst plausibel erscheinen lassen, zu überprüfen und ggf. durch den Nachweis des Strukturverlustes auszuschließen“.66 Diese Überlegungen laufen darauf hinaus, das normativierende Praxismo­ dell einer Regel-Reifevermutung in gewissem Umfang als schlüssig zu ak­ zeptieren. In der Tat verlangt § 3 JGG keine eingehende Begründung der Reifeentscheidung des Gerichts, solange der Richter die Verantwortungs­reife evidenzbasiert bejaht und dies auch explizit feststellt. Anders als in § 20 StGB darf der Jugendrichter sich hinsichtlich zugrunde gelegter Schuldfä­ higkeit bzw. Strafreife des zu verurteilenden Jugendlichen aber nicht ganz in Schweigen hüllen. In dieser gesetzlichen Anforderung des § 3 JGG wird 63  Vgl. Kaiser, in: Dölling (Hrsg.), Das Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, 2001, S. 1 ff., 8; Rössner, FS Udo Jesionek, Wien 2002, S. 455 ff., 465. 64  Vgl. auch BGHSt 36, 37 ff., 39. 65  Lempp, RdJB 20 (1972), S. 326 ff., 327. 66  Rösler, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, 1987, S. 115 ff., 138; ferner Witter, FS Leferenz, 1983, S. 441 ff., 445; Nedopil, in: Eisenburg (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen, 1998, S. 43 ff., 57; Lammel, in: Lam­ mel / Felber u. a. (Hrsg.), Forensische Begutachtung bei Persönlichkeitsstörungen, 2007, S. 79 ff., 83 f.; MüKo-StGB / Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 63.

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deutlich, dass eine regelmäßige strafrechtliche Verantwortung der Jugendli­ chen weniger gesichert erscheint, als die der Erwachsenen. Bei Verdachts­ momenten hinsichtlich vorliegender Entwicklungsdefizite muss das Gericht über das bloße Feststellen vorhandener Reife hinausgehen und in eine substantielle, mit ausführlicher Begründung versehene Untersuchung der Reifefrage eintreten.67 Auf dieser Grundlage spräche nichts dagegen, bei einer in concreto aus­ führlich zu erörternden Verantwortungsreife dann großzügige Standards für eine Verneinung der Strafmündigkeit zugrunde zu legen. Da die Reaktions­ bedürfnisse der Allgemeinheit gerade gegenüber Jugendlichen der unteren Altersstufen noch schwach ausgeprägt sind, besteht ein erheblicher Freiraum für schonende Strafrechtsanwendung. Bei erkennbaren Entwicklungsdefizi­ ten fände ein Modell großzügiger Nutzung des Zweifelsgrundsatzes68 legi­ time Anwendung. Anders als hier vorgeschlagen, wurde gefordert, durch gesetzlich festge­ schriebene Begründungspflichten die Richter zu zwingen, in jedem Einzel­ fall eine substantiierte positive Begründung der in § 3 JGG verlangten Reifeentscheidung zu geben.69 Angesichts der allseits eingeräumten Schwie­ rigkeiten oder gar Unmöglichkeit einer positiven Begründung von Strafrei­ fe70 wird man nicht fehlgehen, den eigentlichen Sinn eines derartigen Be­ gründungserfordernisses in einem spezifischen kriminalpolitischen Anliegen zu sehen: Mittels generellen Einforderns einer im Regelfall schwierigen und im Einzelfall gar nicht substantiell erbringbaren positiven Reifebegründung soll eine großzügige Anwendung des in dubio pro reo erzwungen werden. Man kann die geforderte Begründungspflicht daher als Bestandteil einer Entkriminalisierungsstrategie begreifen.71 Allerdings würden derartige, immerhin im Ansatz gut ins Jugendstrafrecht passende, Entkriminalisierungseffekte wohl recht begrenzt ausfallen. Denn der Jugendrichter kann gem. § 3 S. 2 JGG auch bei fehlender Strafreife Erziehungsmaßregeln anordnen, was dann gem. § 60 I Nr. 1 BZRG überdies im Erziehungsregister einzutragen ist. Und für ein Ausweichen auf § 47 I Nr. 4 JGG gilt gem. § 60 I Nr. 7 BZRG Entsprechendes. Bei schwereren 67  Vgl. Streng, DVJJ-Journal 1997, S. 379  ff., 383; ferner Kurzberg (Fn. 52), S. 120. 68  Vgl. Ostendorf, JZ 1986, S. 664 ff., 668; ders., JGG, 9. Aufl. 2013, § 3 Rn. 14 f. 69  Vgl. DVJJ-Unterkommission „Entkriminalisierung“, DVJJ-Journal 1992, S.  9 ff., 11 f.; dazu Walter, NStZ 1992, S. 470 ff., 473. 70  Vgl. oben in Fn. 13; ferner die entsprechenden Stellungnahmen aus der Rechts­ praxis bei Köhnken u. a. (Fn. 13), S. 131 ff., 146 (Nr. 7 u. 8). 71  In diesem Sinne Ostendorf, JZ 1986, S. 664 ff., 668; ders., JGG, 9. Aufl. 2013, Grdl.z. § 3 Rn. 5, § 3 Rn. 15; vgl. auch Walter / Kubink, GA 1995, S. 51 ff., 52 f.



Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei jugendlichen Straftätern 439

Delikten hingegen mutet ein Mobilisieren des Zweifelsgrundsatzes von vornherein wenig naheliegend an, da eine klärende Begutachtung hier schwerlich unter Hinweis auf eine Unverhältnismäßigkeit der Belastung durch gutachterliche Exploration abgelehnt werden kann.72 Bei auf den Zweifelsgrundsatz gestützten Entkriminalisierungsstrategien ist überdies zu bedenken, dass der Gesetzgeber die Verneinung von Straf­ mündigkeit für erzieherisch problembefrachtet gehalten hat. Denn er schuf § 47 I Nr. 4 JGG, der durch eine Einstellung des Verfahrens den erzieherisch möglicherweise nachteiligen Eindruck eines von Verantwortung für die Straftat freisprechenden Urteils zu umgehen ermöglicht.73 Auch in der psy­ chowissenschaftlichen Literatur wird das Problem einer Störung der Verant­ wortlichkeitsentwicklung als Folge einer Verneinung von Strafmündigkeit durchaus gesehen.74 – Diese Bedenken kämen beim oben vorgeschlagenen Ansatz, der nur bei evidenten Anzeichen von Entwicklungsdefiziten dem Zweifelsgrundsatz Raum eröffnet, weniger stark zum Tragen.

72  Wie hier wohl Brunner / Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 3 Rn. 8; Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013, § 43 Rn. 32 f.; anders Ostendorf, JGG, 9. Aufl. 2013, § 3 Rn. 14. 73  Vgl. Schaffstein / Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, § 7 III; Brunner / Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 47 Rn. 10; Meier / Rössner / Schöch, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2013, § 5 Rn. 14; krit. Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013, § 47 Rn. 12. 74  Vgl. Freisleder / Trott, in: Warnke / Trott / Remschmidt (Hrsg.), Forensische Kin­ der- und Jugendpsychiatrie, 1997, S. 210 ff., 217; Günter / Karle (Fn. 13), S. 561 ff., 580; ferner Schütze, DVJJ-Journal 1997, S. 366 ff., 368. – Bedenken gegen diese Sichtweise aber schon bei Peters, in: Undeutsch (Hrsg.), Forensische Psychologie, 1967, S.  260 ff., 282 ff.

Das Jugendstrafrecht in der Tschechischen Republik zehn Jahre nach Verabschiedung des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes Helena Válková I. Zur Einleitung Etwa ab Ende des 20. Jahrhunderts zeichnet sich in vielen europäischen Ländern ein strafrechtlicher Trend ab, der am besten als Renaissance der sicherheitsorientiert-punitiven Funktionen der Strafjustiz1 bezeichnet wer­ den kann. Der Anstieg von Kriminalität, einschließlich der Kriminalität Jugendlicher, der insbesondere für die postkommunistischen Länder Ostund Mitteleuropas nach dem Fall der kommunistischen Regimes bezeich­ nend ist, kann neben den Ereignissen des 11. Septembers 2001 der Grund sein, warum dieser Wandel eingetreten ist.2 Dieses als „neocorrectionalist model“3 bezeichnete strafpolitische Konzept ist nicht nur das Gegenteil des rehabilitativen Modells (welfare model), es unterscheidet sich vielmehr auch von dem Rechtsstaatsmodell (justice model), denn es zieht eindeutig die Sicherheit und den Schutz der Gesellschaft (protection of society) den Inte­ ressen des Kindes (best interest of child) vor und bevorzugt die punitiven Elemente von Strafsanktionen und Verfahren. Die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben jedoch im Be­ reich der Strafpolitik zum Glück auch einen anderen Trend gebracht, der sich gerade für die Jugendgerichtsbarkeit viel geeigneter zeigt und als eine 1  Näher vgl. Válková, H.: Trestni právo mládeže v evropské perspektivě aneb jak dál? (Jugendstrafrecht in europäischer Perspektive oder wie gehen wir weiter?), in: Na křižovatkách práva. Pocta Janu Musilovi k  70. narozeninám, Praha, 2011, S. 283–295. 2  Die Tschechische Republik stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Vgl. dazu die seit 1992 jährlich vom Institut für Kriminologie und soziale Prävention veröffentlichten Sammelbände zu ausgewählten Kriminalitätskennzahlen, die auch elektronisch auf www.kriminologie.cz erhältlich sind; näher z. B. Marešová, A.: Kri­ minalita v roce 2007 (Kriminalität im Jahre 2007), Praha, S. 7–21. 3  Cavadino, M. / Dignan, J.: The Penal System, London, 2007; Dünkel, F.: Jugend­ strafrecht im europäischen Vergleich im Licht aktueller Empfehlungen des Europa­ rats, in: Neue Kriminalpolitik, 2008, S. 102–114.

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allmähliche Durchsetzung der restorativen Elemente der Reaktion auf eine Straftat charakterisiert werden kann. Die restorative oder „wiedergutma­ chende“ Justiz mit ihrem philosophischen Ausgangspunkt der außergericht­ lichen Beilegung des Strafkonflikts unter aktiver Teilnahme aller, d. h. auch der von dem Delikt indirekt Betroffenen, bietet insbesondere für die heran­ wachsenden Täter eine neue Gelegenheit zur sozialen Integration ohne das Risiko ihrer Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung (Mediation, Fami­ lienkonferenzen usw.).4 Diese zwei gegenläufigen Tendenzen wirken sich einerseits in einer ­ erschärfung des Jugendstrafrechts (z. B. durch die Senkung der Altersgren­ V zen der strafrechtlichen Verantwortung sowie durch die Erhöhung bisheri­ ger und Einführung neuer Strafsanktionen einschließlich der Kriminalisie­ rung von bestimmten Verhaltensweisen Heranwachsender), andererseits in der Verabschiedung von Gesetzen und Maßnahmen aus, die den Teilnehmern des Strafkonflikts die Möglichkeit einräumen, unter Erfüllung bestimmter Bedingungen die Wahl der Art der Konfliktlösung selbst zu treffen (vgl. das strafprozessuale Institut des Täter-Opfer-Ausgleichs). Die so skizzierte „strafpolitische Kollision“ lässt sich sehr gut am Bei­ spiel des tschechischen Gesetzes über die Jugendgerichtsbarkeit Nr. 218 vom Jahre 2003 illustrieren, welches sich zwar schon in seinen Einfüh­ rungsbestimmungen (§ 1 und § 3) eindeutig zu den Ausgangspunkten der restorativen Justiz bekennt, seine Existenz jedoch von Anfang an von wie­ derholten Versuchen um seine Verschärfung begleitet wird, insbesondere was die Senkung der unteren Altersgrenze der strafrechtlichen Verantwor­ tung5 und die Erweiterung des Sanktionenkatalogs anbelangt. Doch bisher bleibt festzuhalten, dass in der Tschechischen Republik – offensichtlich auch in Bezug auf sinkende Zahlen strafrechtlich verfolgter Jugendlicher und Änderungen der Sanktionspolitik hin zu Erziehungsmaßnahmen und alternativen Vorgängen6 – zum Glück keine Renaissance des repressiven Ansatzes gegenüber delinquenter Jugend eingetreten ist. 4  Vgl. näher die grundsätzlichen philosophischen Ausgangspunkte, Prinzipien und den Inhalt dieser Gedankenströmung in der Publikation eines der geistigen Väter von „Restorative Justice“, Howard Zehr, die in tschechischer Übersetzung erschie­ nen ist: Zehr, H. Úvod do restorativní justice (Einführung in Restorative Justice), Praha, 2003. 5  Näher vgl. Válková, H.: 15 – 14 – 15 = Untere Altersgrenze der strafrechtlichen Verantwortung in der Tschechischen Republik im Jahre 2009, Právní rozhledy, 2009, Nr. 15, S. II. 6  Vgl. Hulmáková, J.: Sankční politika uplatňovaná vůči mládeži na území ČR a ZSM (Gegenüber Jugendlichen angewandte Sanktionspolitik im Gebiet der Tschechi­ schen Republik und das Jugendgerichtsbarkeitsgesetz), in: Večerka, K. (Hrsg.), Společenské podmínky vzniku sociálních deviací (Gesellschaftliche Bedingungen der



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Wenn wir die Entwicklung in den europäischen Ländern in den letzten zwei Jahrzehnten zusammenfassen, können wir an der Schwelle der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts eine große Vielfalt und Kreativität europäischer Modelle bzgl. der Behandlung von Jugendkriminalität, bzw. der Reaktionen auf sie, feststellen. Allgemein überwiegt jedoch in Europa immer noch eine Strafpolitik, die auf dem Grundsatz basiert, dass es sich lohnt, die standard­ mäßige Strafrepression bei dieser Altersgruppe nur sehr bedacht bis aus­ nahmsweise anzuwenden, und zwar nur bei den schwerwiegendsten Strafta­ ten, wobei auch in diesen Fällen die wünschenswerte soziale Integration des Jugendlichen nach seiner Freilassung nie außer Acht gelassen werden sollte. Das beinhalten auch die wichtigsten Dokumente, die der Europarat in den letzten zehn Jahren zur Behandlung delinquenter Jugendlichen und zur Prä­ vention von Jugendkriminalität in der Union erlassen hat.7 Internationale Forschung bestätigt ja einerseits, dass mit der Senkung der Altersgrenze für strafrechtliche Verantwortung kein abschreckender, general­ präventiver Effekt erzielt wird, andererseits deutet sie an, dass strenge Straf­ sanktionen bei den jüngsten Delinquenten öfter zum Rückfall führen als bei Anwendung von Diversion oder Auferlegung alternativer Erziehungsmaß­ nahmen.8 Das schließt natürlich die Intervention im Falle von delinquenten, strafrechtlich nicht verantwortlichen Kindern nicht aus, wenn in ihrem Ver­ halten und Leben zahlreiche Risikofaktoren aufkommen. Es handelt sich aber nicht um Strafmaßnahmen und strafrechtliche Vorgänge, sondern um Instru­ mente und Interventionen aus dem Bereich des Familien-, Zivil- und Sozial­ rechts, die das Risiko späterer Kriminalität mindern sollen.9 Entstehung von sozialen Deviationen). Sborník příspěvků ze semináře sekce sociální patologie MČSS. Praha, Masarykova česká sociologická společnost, 2007, S. 24 f. 7  Rec(2000)20 on the role of early psychosocial intervention in the prevention of criminality (mit Fokus auf die Nutzung früher psychosozialer Intervention in der Prävention von Kriminalität), Rec(2003)20 concerning new ways of dealing with juvenile delinquency and the role of juvenile justice (betreffend neuer Methoden der Behandlung der Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit), Rec(2008)11 on the European Rules for juvenile offenders subject to sanctions or measures (Europäische Grundsätze für die von Sanktionen und Maßnahmen betrof­ fenen jugendlichen Straftäter), Guidelines of the Committee of Ministers of the Council of Europe on child friendly justice (Richtlinie zur kinderfreundlichen Jus­ tiz), angenommen vom Ministerkomitee des Europarates am 17.11.2010; sie betrifft unter anderem auch die Strafpolitik, wobei das Kind hier als Person unter 18 Jahren definiert ist. 8  Killias, M. / Villettaz, P.: Rückfall nach Freiheits- und Alternativstrafen: Lehren aus einer systematischen Literaturübersicht, in: F. Lösel / D. Bender / J. M. Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, Mönchengladbach, S. 207–225. 9  Näher vgl. z. B. Pruin, I.: The scope of juvenile justice system in Europe, in: F. Dünkel / J. Grzywa / P. Horsfield / I. Pruin (Hrsg.), Juvenile Justice Systéme in Eu­ rope, Vol. 4, Mönchengladbach, 2010, S. 1550–1551.

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Wenn wir von der skizzierten historischen und teilweise auch politischen Entwicklung und der gegenwärtigen Situation in den meisten europäischen Ländern im Bereich der Jugendgerichtsbarkeit ausgehen (einschließlich ih­ rer institutionellen Verankerung in einem System spezialisierter Sonder­ gerichte)10, lässt sich eine Strafpolitik absehen, die wahrscheinlich in der nächsten Dekade dieses Jahrhunderts in Europa auf die nationale sowie internationale Gesetzgebung bzw. auf die Anwendungspraxis Einfluss neh­ men wird. Als typische Attribute der europäischen Politik am Anfang des 21. Jahrhunderts im Bereich der formalen sozialen Kontrolle der Jugendkri­ minalität werden höchstwahrscheinlich auch weiterhin die Elemente der in der restorativen Justiz enthaltenen Prozeduren und Maßnahmen bleiben, wie z. B. Mediation, Bewährungsprogramme und andere Vorgänge und Lösun­ gen, für welche eine sich entwickelnde Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen bezeichnend ist. Trotzdem ist immer zu bedenken, dass auch ein einziger von einem Kind oder Jugendlichen verübter schwerwiegender Exzess – meistens ein Mord oder eine brutale sexuelle Straftat – in der Öffentlichkeit die Forderung laut werden lassen kann, unterstützt von populistischen Politikern, das „Prob­ lem“ „effektiv zu lösen“, was häufig unsystematische Gesetzesänderungen zur Folge hat. Die unten beschriebene legislative Entwicklung des Jugend­ gerichtsbarkeitsgesetzes in den zehn Jahren nach seiner Verabschiedung zeigt, inwiefern es in der Tschechischen Republik gelingt, solchem Druck zu begegnen. II. Das tschechische Gesetz über die Jugendgerichtsbarkeit 1. Systematik, Grundprinzipien und Ausgangspunkte des Gesetzes

Die ersten inoffiziellen Grundzüge eines neuen speziellen Normtextes, der in der Tschechischen Republik die Verantwortung Jugendlicher für rechtswidrige Taten und die damit verbundenen Rechtsfolgen, einschließlich verfahrensspezifischer Aspekte, regeln sollte, wurden im Jahre 2000 erarbei­ tet. Der von diesen Grundzügen ausgehende Entwurf der konkreten Fassung des neuen Gesetzes war zwar schon im Jahre 2001 von der Regierung verabschiedet und zur Verhandlung ins Parlament vorgelegt worden. Letzt­ endlich hat das Parlament den Gesetzesentwurf jedoch im Jahre 2002 von 10  Cavadino, M. / Dignan, J.: Penal Systems. A Comparative Approach, London, 2006; Dünkel, F. / Grzywa, J. / Horsfield, P. / Pruin, I. (Hrsg.): Juvenile Justice Systems in Europe. Current Situation and Reform Developments, Vol. 4, Mönchengladbach, 2010; Junger-Tas, J. / Decker, S. H. (Hrsg.): International Handbook of Juvenile Jus­ tice, Berlin / New York, 2006; Junger-Tas, J. / Dünkel, F. (Hrsg.): Reforming Juvenile Justice, Dordrecht et al., 2009.



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der Tagesordnung gestrichen. Erst das neugewählte Parlament hat dann am 25. Juni 2003 den im Wesentlichen unveränderten ursprünglichen Regie­ rungsentwurf unter dem Namen Gesetz über die Haftung der Jugend für rechtswidrige Taten und über die Jugendgerichtsbarkeit (Jugendgerichtsbarkeitsgesetz) verabschiedet. Dieses Gesetz (nachstehend auch JGG genannt) wurde in der Gesetzessammlung unter der Nr. 218 / 2003 Slg. veröffentlicht und ist am 1.1.2004 in Kraft getreten.11 Das Jugendgerichtsbarkeitsgesetz besteht aus einem allgemeinen Teil, der sich auf zwei Alterskategorien erstreckt, und zwar auf Kinder, laut Gesetz Personen unter 15 Jahren, und Jugendliche, d. h. Personen ab 15 Jahren bis zur Erreichung des 18. Lebensjahrs (Kapitel I JGG), einem speziell den Jugendlichen gewidmeten Teil (Kapitel II JGG) und einem ausschließlich den Kindern unter 15 Jahren gewidmeten Teil (Kapitel III JGG). Es ist allerdings zu unterstreichen, dass beide besonderen Teile von einem unter­ schiedlichen Ansatz in Bezug auf die Haftung im strafrechtlichen und zivil­ rechtlichen Sinne und von unterschiedlichen Typen des Straf- und Zivilpro­ zesses ausgehen. Dies zeigt sich darin, dass in Kapitel I die Grundprinzipi­ en, der gemeinsame Zweck, das Wesen, und die Organisation der Vollstre­ ckung im Rahmen der Jugendgerichtsbarkeit einheitlich geregelt sind. Daraus folgt, dass diese gesetzliche Konstruktion in dieser Reihenfolge zu beachten ist, was sich ebenso auf die Anwendung des Gesetzes in der Rechtspraxis wie auch auf die theoretische Auslegung und die vergleichen­ de Bewertung mit anderen ausländischen Regelungen bezieht. Die Philosophie des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes leitet sich von den verfolgten Zielen ab. Diese finden allgemein in den spezifischen Grundprin­ zipien ihren Ausdruck, die gleichzeitig verbindliche Auslegungsregeln dar­ stellen. Von Schlüsselbedeutung sind hier die Bestimmungen des § 1 Abs. 2 und § 3 Abs. 1 JGG, die den Grundsatz der Prävention und des restorativen Ansatzes postulieren. Danach wird mit der Verhandlung der von Kindern und Jugendlichen verübten rechtswidrigen Taten die Anwendung von sol­ chen Maßnahmen verfolgt, die dazu wirksam beitragen sollen, dass diese sich fortan der Begehung rechtswidriger Taten enthalten, eine ihren Fähigkeiten und intellektueller Entwicklung entsprechende gesellschaftliche Partizipation finden und nach ihren Kräften und Fähigkeiten zur Wiedergutmachung der mit der rechtswidrigen Tat entstandenen Beeinträchtigung beitragen. Die Auferlegung von Sanktionen in diesem System zielt vor allem auf Wiederherstellung gestörter Sozialbeziehungen, Eingliederung der Kinder und Jugendlichen in das familiäre und soziale Umfeld und Vorbeugung ihrer rechtswidrigen Taten ab. 11  Näher vgl. Šámal, P. / Válková, H. / Sotolář, A. / Hrušáková, M. / Šámalová, M. et al.: Das Jugendgerichtsbarkeitsgesetz. Kommentar, 3. Aufl., Praha, 2011, S. XI–XIV.

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Bevorzugt werden diejenigen Strategien und Programme, die darauf ab­ zielen, dass der Täter sich selbst dessen bewusst wird, was er getan hat, und Verantwortung für die Folgen seiner Tat übernimmt, d. h. sich um die Kom­ pensation und Wiedergutmachung der dem Opfer verursachten Beeinträch­ tigung bemüht. Es zeigt sich, dass diese Art der Reaktion auf Kriminalität, bei der die delinquente Person Verantwortung für ihre Tat übernimmt und aktiv an der Wiedergutmachung der verursachten Beeinträchtigung teil­ nimmt, sich gerade bei heranwachsenden Tätern bewährt, weil sie ihre Stigmatisierung eliminiert und gleichzeitig viel stärkere erzieherische Aus­ wirkungen aufweist als es bei bloß formaler Verurteilung zur entpersonali­ sierten Strafsanktion der Fall ist12. Ganz konkret kommt dieses Prinzip im Jugendgerichtsbarkeitsgesetz in der Anforderung zum Ausdruck, wenigstens zum Teil die Folgen des delinquen­ ten Handelns wiedergutzumachen, wobei die Folgen nicht nur auf den verursachten materiellen Schaden beschränkt, sondern mit einem breiteren Begriff der Beeinträchtigung (§ 1 Abs. 2 JGG) bezeichnet sind. Dieses Schlüssel­ prinzip findet dann konkret in vielen Bestimmungen des Jugendgerichtsbar­ keitsgesetzes Anwendung, die die Einbeziehung der Verletzten, der Jugendli­ chen und der Kindern in die Lösung ihrer delinquenten Handlungen und de­ ren Folgen vorschreiben. Hiermit wird unterstrichen, welche Bedeutung der Gesetzgeber der Befriedigung von Bedürfnissen der Verletzten – Opfer der rechtswidrigen Taten – beimisst, und dass er gleichzeitig dieses Prinzip für eine gerechte Verhandlung vor dem Jugendgericht voraussetzt. Der Grundsatz der Ökonomie der Strafrepression, ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt des Gesetzes, findet Ausdruck im ausdrücklichem Gebot, Alternativen in Bezug auf soziale Integration und Prävention abzielende Vorgänge und Maßnahmen den repressiven Maßnahmen vorzuziehen (§ 3 Abs. 2 JGG). Die Anwendung von Strafmaßnahmen ist nur dann zu­ lässig, wenn es offensichtlich unmöglich ist, auf andere Art und Weise den Zweck des Gesetzes zu erzielen. Strafmaßnahmen sind als die letzte der möglichen strafrechtlichen Lösungen, also ultima ratio, anzusehen. Dieser Grundsatz, der vom Prinzip der Individualisierung der Verantwortung von Heranwachsenden ausgeht, unter Berücksichtigung ihrer Persönlichkeiten, des Charakters und des Schwerpunktes der verübten Taten (§ 3 Abs. 3 JGG), ist mit dem Prinzip der Angemessenheit der auferlegten Maßnahmen ergänzt. Dieser Grundsatz betrifft sowohl Jugendliche, die ein Delikt begangen haben, als auch Kinder, die eine sonstige strafbare Tat begangen haben. 12  Vgl. Hulmáková, J.: Trestání delikventní mládeže (Bestrafung delinquenter Jugend), Praha, 2013, S. 182 ff.



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In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen des Jugendgerichtsbarkeits­ gesetzes ist auch das Verfahren vor dem Jugendgericht so zu führen, dass es zur Vorbeugung und Verhinderung der Begehung von rechtswidrigen Taten durch Jugendliche und Kinder beiträgt. Spezielle prozessuale Grundprinzipien, die aus diesem Grund das Verfahren, die Entscheidungsfindung und die Vollstreckung der Jugendgerichtsbarkeit erheblich modifizieren, finden sich insbesondere in den Bestimmungen der § 3 und 4 JGG. Indirekt finden sie auch in vielen anderen Bestimmungen ihren Ausdruck. Konkret handelt es sich um folgende Regelungen: – Vorzug der prozessualen Vorgänge und Erziehungsmaßnahmen mit gerin­ gem Maß an restriktiven Eingriffen in das Leben des Jugendlichen ge­ genüber intensiveren Maßnahmen (der Grundsatz der Bevorzugung von Erziehung vor Repression); – Minimierung negativer Nebenfolgen des Strafverfahrens, die eine uner­ wünschte Stigmatisierung des Jugendlichen bewirken (der Grundsatz des Schutzes der Privatsphäre und der Persönlichkeit des Jugendlichen); – Schnelligkeit des Verfahrens bei gleichzeitiger Einhaltung der Forderung der individualisierten Lösung des konkreten Falles (der Grundsatz der beschleunigten und der fallbezogen adäquaten Reaktion); – Spezialisierte Justiz, d. h. die nach dem Jugendgerichtsbarkeitsgesetz täti­ gen Organe, einschließlich der Mitarbeiter des Bewährungs- und Media­ tionsdienstes, die sich auf die Problematik der delinquenten Jugend spe­ zialisieren (der Grundsatz der Spezialisierung); – Zusammenarbeit zwischen besonderen Fachinstitutionen und -kräften, insbesondere zwischen den Jugendgerichten und Organen des sozialrechtlichen Kinderschutzes und dem Bewährungs- und Mediationsdienst, bzw. anderen Institutionen, Interessenverbänden und den im genannten Bereich aktiven Bürgern (der Grundsatz der Zusammenarbeit); – Stärkung der Stellung des Verletzten und seiner Interessen (der Grundsatz der aktiven Partizipation des Opfers an der Lösung des Falles). Alle oben genannten Grundsätze spiegeln sich auch im Inhalt der mate­ riell-rechtlichen Bestimmungen des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes wider, insbesondere in der Konstruktion der Verantwortung Jugendlicher für rechtswidrige Handlungen, und im Sinn und Inhalt der aufzuerlegenden Maßnahmen und anzuwendenden Vorgänge. Mit einem gewissen Vorbehalt, der mit der spezifischen außerstrafrechtlichen Verantwortung eines Kindes und dem entsprechenden Zivilprozess verbunden ist, gelten sie auch als Grundsätze in Angelegenheiten der Kinder unter 15 Jahren, insofern sie vor einem Jugendgericht behandelt werden.

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Unter einem Jugendlichen versteht man, wer zur Zeit der Begehung des Delikts das fünfzehnte Lebensjahr vollendet und das achtzehnte Lebensjahr nicht überschritten hat. Im Unterschied zu erwachsenen Tätern wird eine durch Jugendliche verübte Straftat Delikt genannt. Das Entstehen der straf­ rechtlichen Verantwortung eines Jugendlichen wird also im Gesetz in Bezug auf das Alter mit der Vollendung des fünfzehnten Lebensjahrs verbunden. Mit dem Zeitpunkt der Vollendung des fünfzehnten Lebensjahrs entsteht jedoch keine strafrechtliche Haftung in vollem Umfang, wie es bei den vom Erwachsenenstrafrecht erfassten Tätern der Fall ist, d. h. bei denen, die schon ihr achtzehntes Lebensjahr überschritten haben. In Bezug auf den von tschechischen Verfassungsvorschriften garantierten besonderen Schutz der Jugendlichen (Art. 32 Abs. 1 der Charta der Grundrechte und -freiheiten), ist im Jugendgerichtsbarkeitsgesetz ein besonderes rechtliches System für die strafrechtliche Haftung jugendlicher Täter verankert. Es handelt sich um eine sog. relative strafrechtliche Haftung, die durch ausreichende, mit dem Prozess seiner sozialen Reifung verbundene intellektuelle und moralische Reife des Jugendlichen bedingt ist (§ 5 Abs. 1 JGG). Ein Jugendlicher, der zur Zeit der Begehung der Tat eine solche intellektuelle und moralische Reife nicht erreicht hat, um die Rechtswidrigkeit der Tat zu erkennen oder sein Verhalten zu steuern, ist demnach für diese Tat strafrechtlich nicht verantwortlich. Häufig wird in diesem Zusammenhang der Begriff eines mentalen Alters verwendet, womit die gesamte intellektuelle und biopsychosoziale Reife des Jugendlichen gemeint ist und nicht mit dem sog. Matrikenalter, also dem tatsächlichen Alter übereinstimmen muss. Ein Kind, ebenso wie ein Jugendlicher, der die erforderliche intellektuelle und mora­ lische Reife nicht erreicht hat, oder ein infolge von Geistesstörung unzu­ rechnungsfähiger Jugendlicher, kann keine Straftat, bzw. kein Delikt im Sinne des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes begehen. Begeht er jedoch eine sonstige strafbare Tat, ist es nach dem Jugendgerichtsbarkeitsgesetz not­ wendig, auf diese Tat zu reagieren, indem über sie verhandelt wird und geeignete Maßnahmen zu seiner Besserung getroffen werden. Die Aufzäh­ lung solcher Maßnahmen ist im § 93 Abs. 1 JGG enthalten. Genügt zur Erreichung des Gesetzeszwecks die Behandlung der Tat durch den Staats­ anwalt oder vor einem Jugendgericht, kann das Jugendgericht von der Auferlegung einer Maßnahme absehen. Das JGG legt dabei keinen Zeitpunkt fest, von dem an vorausgesetzt werden kann, dass das Kind zur Begehung einer sonstigen strafbaren Tat fähig ist, und wann in Anknüpfung daran eine Maßnahme nach diesem Gesetz aufzuerlegen ist. Die mit der Annahme des neuen Strafgesetzes Nr. 40 / 2009 Slg. verbun­ denen Änderungen haben ziemlich erhebliche Eingriffe in das geschaffene System der Jugendgerichtsbarkeit gebracht. Die wichtigste Änderung war die Senkung der für den Anfang der strafrechtlichen Verantwortung aus­



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schlaggebenden Altersgrenze von ursprünglich fünfzehn auf vierzehn Jahre und die Erweiterung der Palette von Maßnahmen, die Kindern unter 14 Jahren auferlegt werden können, wenn sie sonstige strafbare Taten begangen haben. Die Senkung der Altersgrenze auf vierzehn Jahre wurde aber zum Glück noch vor dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzes mit seiner ersten Novellierung geändert, mit der der Beginn der strafrechtlichen Verantwor­ tung auf die ursprünglichen fünfzehn Jahre revidiert wurde.13 Ein weiterer, diesmal leider erfolgreicher Versuch, die repressiven Ele­ mente des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes bei Maßnahmen bezüglich Delik­ te Jugendlicher zu stärken, war die Ergänzung des Maßnahmenkatalogs um die Sicherungsverwahrung und schließlich auch um die Einführung der Möglichkeit, auf die sonstigen strafbaren Taten bei Kindern unter fünfzehn Jahren mit der Auferlegung von Schutzbehandlung zu reagieren. Dies wurde mit dem unverhohlenen Streben getan, delinquente Jugendliche und Kinder von der Gesellschaft isolieren zu können.14 Damit wurde die Philosophie des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes verletzt, die in den spezifischen Grund­ prinzipien ihren Niederschlag gefunden hat, welche gleichzeitig verbindliche Auslegungsregeln darstellen (vgl. oben). Die Erweiterung der Reaktions­ möglichkeiten auf die Kriminalität Heranwachsender um die Sicherungsver­ wahrung bei Jugendlichen und die Schutzbehandlung bei Kindern kollidiert in einigen Fällen stark mit den genannten Grundprinzipien des JGG, wie weiter ausgeführt wird. 2. Die Sicherungsverwahrung und Möglichkeiten ihrer Anwendung bei Jugendlichen

Auf europäischer Ebene sind in letzter Zeit verschiedene Durchbrüche bzw. Übergänge zwischen traditionellen, dualistisch konstruierten Sankti­ onssystemen zu verzeichnen, die früher strikt zwischen dem Wesen, der Funktion und den Zwecken von Strafen einerseits und den Maßnahmen der Besserung und Sicherung andererseits unterschieden haben. Einige Maßnah­ men nähern sich so mit ihrem Inhalt und verfolgten Zielsetzungen eher den strafrepressiven als den therapeutisch erzieherischen Sanktionen.15 Als Bei­ spiel hierfür kann die Sicherungsverwahrung dienen, die in der deutschen 13  Näher vgl. Válková, H.: 15 – 14 – 15 = Untere Altersgrenze der strafrechtlichen Verantwortung in der Tschechischen Republik im Jahre 2009, Právní rozhledy, 2009, Nr. 15, S. II. 14  Kratochvíl, V., et al.: Trestní právo hmotné. Obecná část (Das materielle Straf­ recht. Allgemeiner Teil), 2. Aufl., Praha, 2012, S. 487. 15  Vgl. Válková, H.: „K Trestněprávnímu obsahu“ duševní poruchy a jeho sou­ vislostem s  přípustností zabezpečovací detence u některých pachatelů (Zum „straf­ rechtlichen Inhalt“ der Geistesstörung und seinem Zusammenhang mit der Zulässig­

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strafrechtlichen Regelung noch in jüngster Vergangenheit viele gemeinsame Merkmale mit den traditionellen Strafsanktionen aufwies. Hierzu hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in seiner Entscheidung vom 17.12.2009 kritisch geäußert.16 Die tschechische rechtli­ che Konstruktion der Sicherungsverwahrung ist zwar vorsichtiger, aber umso weniger eindeutig.17 Sie versteht sich mit ihrer Einordnung und ihrem auch Heilprogramme einschließenden Inhalt zwar als eine der traditionellen Schutzmaßnahmen, deren Zweck keine moralische Verdammung und Zufü­ gung von Beeinträchtigung ist. In der Realität bewirkt sie jedoch mit ihrer Ausgestaltung eine Beeinträchtigung in Form von strenger Isola­ tion auf unbestimmte Zeit. Um die Sicherungsverwahrung effektiv und auch dort einsetzen zu können, wo die bereits angeordnete Schutzbehandlung in einer Anstalt misslungen war, oder mit höchster Wahrscheinlichkeit misslingen würde, wäre sie auferlegt, muss sie nach jetziger Konstruktion besonders im Hinblick auf den Schutz der Öffentlichkeit gerade durch Isolation und Zwang konzipiert werden. Dies schließt natürlich Versuche, den Täter zur therapeutischen Zusammenarbeit zu motivieren, nicht aus, aber es ist nicht ihre maßgebende Hauptfunktion und Zweckbestimmung. Die Sicherungs­ verwahrung sollte jedoch nie nur deshalb auferlegt werden, weil der Täter bei seiner Behandlung keine Zusammenarbeit leistet oder diese auf „andere Weise“ bedroht. Diese kritische Beurteilung der gültigen Rechtsregelung über die Siche­ rungsverwahrung sollte an und für sich schon eine ausreichende Warnung vor ihrer Anwendung bei jugendlichen Tätern darstellen, obwohl die mit dem Gesetz Nr. 129 / 2008 Slg. durchgeführte Novelle des Jugendgerichtsbarkeits­ gesetzes sie doch ab dem 1. Januar 2009 unter die Schutzmaßnahmen ein­ geordnet hat, die auch für diese Altersgruppe bestimmt sind. Einen Jugend­ lichen in Sicherungsverwahrung zu nehmen, sollte daher in der Praxis, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen in Frage kommen. Eine der Haupt­ voraussetzungen für ihre Auferlegung ist nämlich eine negative Erfolgsprognose für eine andere Art der Einwirkung auf den Täter und der damit eng verbundene Bedarf, den Schutz der Gesellschaft mit seiner Verwahrung zu sichern. Mit anderen Worten, die Isolation des Verurteilten im Interesse des keit der Sicherungsverwahrung bei einigen Tätern), Trestněprávní revue, 2011, Nr. 9, S. 255. 16  Näher dazu vgl. das prinzipielle Judikat des deutschen Bundesverfassungsge­ richts vom 4.5.2011 (BVerfG, Urt. v. 4.5.2011 – 2 BvR 2365 / 09, 740 / 10, 2333 / 08, 1152  /  10, 571,10), das in verkürzter, übersichtlich gestalteter Fassung unter dem Titel „Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Sicherungsverwahrung“ veröf­ fentlicht wurde, NStZ, 2011, Nr. 8, S. 450–453. 17  Vgl. Válková, H. / Bohata, P.: Sicherungsverwahrung in der Tschechischen Re­ publik, in: Neue Kriminalpolitik, 2012, Nr. 3, S. 82–85.



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Schutzes der Gesellschaft wird bei gleichzeitigem Verzicht auf andere, vor allem erzieherische Methoden der Einwirkung, vorgezogen. Die Sicherungs­ verwahrung ist als eine Schutzmaßnahme konzipiert, die jenen gefährlichen Tätern von meistens schwerwiegenden Verbrechen aufzuerlegen ist, bei denen entweder andere Strafen oder Schutzmaßnahmen misslungen sind oder es wenigstens einen begründeten Zweifel gibt, dass deren Auferlegung einen ausreichenden Schutz der Gesellschaft vor weiterer Straftätigkeit be­ wirken könnte. Das steht jedoch im krassen Kontrast zu den Ansätzen und Grundprinzipien des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes. In Bezug auf das Alter der Jugendlichen können die oben angeführten Bedingungen fast nie erfüllt werden. Beispielsweise ist es schwer vorstellbar, dass ein Jugendgericht auf der Grundlage eines Gutachtens feststellen würde, dass der jugendliche Täter, obwohl er ein Delikt im Sinne des § 31 Abs. 3 JGG begangen hat, auf eine andere Art und Weise als durch Sicherungsverwahrung „nicht zu bessern ist“, wenn andere Formen der Einwirkung im Hinblick auf sein relativ niedriges Alter in der Praxis überhaupt nicht ausreichend erprobt werden konnten. Der Gesetzgeber hat dennoch unter Druck der Öffentlich­ keit und der besonderen Gesetzgebung in Jugendstrafsachen zuwider die Möglichkeit zugelassen, dass auch bei dem jugendlichen Täter die Auferle­ gung dieser Schutzmaßnahme in Frage käme. Dies ist ohne jegliche grund­ sätzliche Inhaltsmodifikation und unter Hinzufügung einer einzigen Ausnah­ me geschehen, die jedoch nur eine nochmalige Überprüfung der Begründung des Fortbestehens der Sicherungsverwahrung betrifft. Eine solche Überprü­ fung erfolgt bei einem Jugendlichen einmal in sechs Monaten, wohingegen sie bei Erwachsenen bis zu einmal in zwölf Monaten vorgenommen wird. Darüber hinaus kann, wie bei Erwachsenen, auch bei Jugendlichen ab dem 1.12.2011 die früher auferlege Schutzbehandlung in einer Anstalt in Siche­ rungsverwahrung umgewandelt werden.18 Obwohl die Sicherungsverwah­ rung ursprünglich nicht als eine Schutzmaßnahme konzipiert war, die dem Täter nur deshalb auferlegt werden kann, weil er bei seiner Behandlung keine Zusammenarbeit leistet oder diese auf „andere Weise“ bedroht, ist ein solcher Vorgang jetzt möglich (vgl. § 99 Abs. 5 StGB).19 Die sehr vage definierten Voraussetzungen der Umwandlung der Schutzbehandlung in ei­ ner Anstalt in die Sicherungsverwahrung, insbesondere die unbestimmte Formulierung „oder hat anders eine negative Stellung zur Schutzbehandlung 18  Vgl. auch Válková, H.: „K trestněprávnímu obsahu“ duševní poruchy a jeho souvislostem s  přípustností zabezpečovací detence u některých pachatelů (Zum „strafrechtlichen Inhalt“ der Geistesstörung und seinem Zusammenhang mit der Zu­ lässigkeit der Sicherungsverwahrung bei einigen Tätern), in: Trestněprávní revue, 2011, Nr. 9, S. 253–256. 19  Vgl. Válková, H. / Bohata, P.: Sicherungsverwahrung in der Tschechischen Re­ publik, in: Neue Kriminalpolitik, 2012, Nr. 3, S. 82–85.

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gezeigt“, können nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Jugendlichen ihren unfreiwilligen Transfer in Anstalten für den Vollzug von Sicherungs­ verwahrung zur Folge haben. Diese sind dem Justizministerium untergeord­ net und sind mit ihrem Charakter und ihrer Ausrichtung Gefängnissen sehr ähnlich. Obwohl zur Zeit der Erstellung dieses Beitrags (Sommer 2013) noch kein Jugendlicher in der Tschechischen Republik in Sicherungsver­ wahrung untergebracht worden ist, kann diese Möglichkeit natürlich künftig nicht ausgeschlossen werden. Gegenwärtig kann z. B. die ärztliche Anstalts­ behandlung auch bei einem jugendlichen Täter in Sicherungsverwahrung umgewandelt werden, wenn er es wiederholt ablehnt, sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen (z. B. einer Antidrogentherapie), auch wenn er in der Vergangenheit nur ein Diebstahlsdelikt begangen hat (wie z. B. die Wegnahme von Geld im Bekanntenkreis für Drogen). Es bleibt nur zu hof­ fen, dass in einem solchen Falle ein vernünftiges Gericht den Antrag der Gesundheitseinrichtung auf Umwandlung der Schutzbehandlung in die Si­ cherungsverwahrung im Hinblick auf den weniger schwerwiegenden Cha­ rakter der ursprünglichen Straftätigkeit nicht akzeptieren wird. Eine andere Entscheidung wäre weder im Einklang mit dem Angemessenheitsprinzip20 noch mit der ausdrücklichen Regelung in § 3 Abs. 3 JGG. 3. Schutzbehandlung und Möglichkeit ihrer Anwendung bei Kindern unter 15 Jahren21

Die Möglichkeiten einer Erweiterung des ursprünglichen Maßnahmenkata­ logs, die als Reaktion auf kriminelle Handlungen und insbesondere auf schwerwiegendste Taten, bei nicht strafverantwortlichen Kindern angewandt werden können, wurden schon seit Verabschiedung des Jugendgerichtsbar­ keitsgesetzes diskutiert. Erwägungen über die Eingliederung von Schutzbe­ handlung in diesen Maßnahmenkatalog wurden jedoch sowohl von den mei­ sten Juristen als auch von den meisten Ärzten, die sich mit dieser Problema­ tik befassen, abgelehnt. Es war mit den Erkenntnissen verbunden, dass es bei Kindern immer sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist, mit Gewissheit zu unterscheiden, was auf eine atypische Verhaltensweise zurückzuführen ist, 20  Vgl. ähnlich Vanduchová, M.: Ochranná detence z hlediska zásady přiměřenosti (Sicherungsverwahrung unter dem Gesichtspunkt des Angemessenheitsprinzips), in: Válková, H., Stočesová, S. (Hrsg.), Detence-nový způsob ochrany společnosti před nebezpečnými pachateli? Trestněprávní, trestněpolitická a kriminologická perspek­ tiva. Sborník příspěvků z  odborného semináře, Plzeň, ZČU Pilsen, 2005, S. 36. 21  Näher vgl. Válková, H. / Sotolář, A.: Trestní právo mládeže po deseti letech od přijetí zákona o soudnictví ve věcech mládeže (Jugendstrafrecht zehn Jahre nach Verabschiedung des Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes), Státní zastupitelství, 2013, Nr. 3, S. 7–16.



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die auf einer spezifischen Entwicklung beruht, und was bereits Ausdruck von psychischen Störungen ist, insbesondere von verschiedenen Formen von De­ viationen. Trotzdem wurde mit der im Jahre 2011 angenommenen Novelle des JGG der Maßnahmenkatalog, der bei Kindern anwendbar ist, um die Schutzbehandlung erweitert, und zwar mit Wirkung vom 1. November 2011. Das strenge Regelwerk, welches den Vollzug dieser Behandlung begleitet, und die Zerreißung der Bindungen zwischen den Kindern und der Außen­ welt geben der Schutzbehandlung den Charakter einer Sanktion sui generis. Die mit ihrem Vollzug verbundenen schwerwiegenden Beeinträchtigungen werden noch durch die unbestimmte Dauer erhöht. Das Gesetz geht nämlich davon aus, dass die Schutzbehandlung solange dauern soll, wie es ihr Zweck erfordert. Angesichts der Tatsache, dass der verfolgte Zweck der Behand­ lung nie erreicht werden muss, auch nachdem das Kind das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, hat dies die Durchlässigkeit dieser Altersgrenze zur Folge und die Möglichkeit der fortdauernden Behandlung auch im nach­ folgenden Zeitraum, ungeachtet des Alters des Kindes und im Prinzip ohne jegliche Zeitbegrenzung. Es wird nur die jährliche gerichtliche Überprüfung des Fortbestehens dieser Behandlung vorgeschrieben. Das Jugendgerichtsbarkeitsgesetz schränkt zum Glück die Auferlegung der Schutzbehandlung insoweit ein, dass bei der Beurteilung, ob alle gesetz­ lichen Anwendungsvoraussetzungen erfüllt sind, das Jugendgericht erwägen muss, ob diese Maßnahme eine adäquate Reaktion auf die vom Kind verübte, sonstige strafbare Tat darstellt. Dabei müssen auch die Besonderheiten des psychischen Zustands eines solchen Kindes berücksichtigt werden. Darüber hinaus kann die Schutzbehandlung nur dann auferlegt werden, wenn der freie Aufenthalt des nicht strafrechtlich verantwortlichen Kindes eine Gefahr darstellt. Die Gefährdung durch den freien Aufenthalt des Kin­ des kann dabei nicht nur nach der Handlung beurteilt werden, die die sons­ tige strafbare Tat begründet, sondern muss ihren Ursprung in einer Geistes­ störung des Kindes oder Abhängigkeit von Suchtmitteln haben, die mit der Behandlung beeinflusst werden können. Die Heilwirkung ist daher immer eine Schlüsselkomponente der Schutzbehandlung. Die bloße Isolation des Kindes kann also nie deren alleiniger Zweck sein. Der mit einer Behand­ lung in einer Anstalt verbundene persönliche Freiheitsentzug des Kindes kann nur ein Mittel zur Gewährleistung der Mitarbeit bei der Behandlung sein, aber nicht der eigentliche Zweck. Darüber hinaus ist die Schutzbe­ handlung bei einem Kind immer nur eine fakultative Maßnahme, die durch vorherige Untersuchung seines geistigen Zustands bedingt ist. Das alles stellt hohe Ansprüche an die Qualität und den Umfang der sachkundigen Untersuchung solcher Kinder, die sonstige strafbare Taten verübt haben. Es ist auch folgerichtig zu beachten, dass die Geistesstörun­

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gen nicht mit Verhaltensabweichungen verwechselt werden, die bezeichnend für die Phase der noch nicht vollendeten psychosomatischen und sozialen Entwicklung sind, genauso wie der einfache Gebrauch von Suchtmitteln nicht mit einem krankhaften Missbrauch zu verwechseln ist. III. Zum Schluss Dieser Aufsatz macht sich nicht zum Ziel, eine komplexe Analyse des Jugendgerichtswesens oder eine vollkommene Zusammenfassung der legis­ lativen Entwicklung dieses Systems seit seinem Beginn vor zehn Jahren darzulegen. Es geht vor allem um einen Hinweis auf gewisse Entwicklungs­ trends und einen kritischen Kommentar zu einigen Tatsachen, welche die grundlegende Philosophie des ganzen Systems stören. Auch wenn in den letzten Jahren einige oben erwähnte unerwünschte Novellierungen stattfan­ den, kann die Errichtung des speziellen Jugendgerichtswesens doch auch weiterhin als eine sehr positive Veränderung bewertet werden, die es ermög­ licht, in der tschechischen Anwendungspraxis die in den einschlägigen eu­ ropäischen Dokumenten enthaltenen Prinzipien und Abläufe durchzusetzen. Auch wenn Forschungen den Zusammenhang zwischen der Annahme des neuen Jugendgerichtsbarkeitsgesetzes im Jahre 2003 und der schrittweise sinkenden registrierten Kriminalität Heranwachsender nicht bestätigt haben, so ist es doch offensichtlich, dass die neue Gesetzgebung die Möglichkeiten einer Reaktion auf die Straffälligkeit dieser Altersgruppe wesentlich erwei­ tert hat. Eine differenziertere Vorgehensweise gegenüber jugendlichen Tä­ tern, bzw. die Möglichkeit, mit geeigneten Maßnahmen auch auf sonstige strafbare Taten bei Kindern zu reagieren, stellen zweifellos die wichtigsten Voraussetzungen für die Reduzierung des Rückfallrisikos dar. Ob tschechi­ sche Jugendgerichte diese Möglichkeiten im vollen Umfang ausnutzen und ob sie in geeigneten Fällen immer die an Restorative Justice orientierten Maßnahmen und Vorgänge bevorzugen, ist eine andere Frage. Im Lichte der gerichtlichen Statistiken ist klar, dass hier nach wie vor große Reserven bleiben und dass die Gerichte und Staatsanwaltschaften noch nicht ausrei­ chend von den bestehenden Möglichkeiten Gebrauch machen. Besonders deutlich wird dies bei der Anwendung der Diversion bei Jugendlichen, insbesondere im Hinblick auf den Täter-Opfer-Ausgleich. Dagegen kann die Senkung des Anteils von unbedingten Freiheitsstrafen in der Struktur der den Jugendlichen auferlegten Sanktionen zugunsten von alternativen Sank­ tionen, insbesondere der Strafe der gemeinnützigen Arbeit, für einen durch­ aus positiven Trend der Sanktionspolitik gehalten werden.22 Nach der Ver­ 22  Vgl. Hulmáková, J.: Trestání delikventní mládeže (Bestrafung delinquenter Ju­ gend), Praha, 2013, S. 205–208.



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abschiedung des tschechischen JGG war auch ein markanter Anstieg der Sanktionen mit Bewährungselementen sichtbar, in den letzten Jahren gehen jedoch die Bewährungsstrafen zurück. Dies sollte nicht nur durch das Jus­ tizministeriums analytisch ausgewertet werden, sondern auch durch die kriminologische Forschung, die sich zum Ziel machen sollte, festzustellen, was dieser Situation tatsächlich zugrunde liegt. Ein großer Nachteil ist das Fehlen geeigneter Erziehungsprogramme für Jugendliche und Kinder, was die Nutzung dieser im JGG verankerten Möglichkeiten begrenzt. Zum Schluss soll diese im Grunde positive Einschätzung der zehnjährigen Exis­ tenz des eigenständigen Jugendgerichtssystems mit einer kritischen Mah­ nung ergänzt werden, die dem Justizministerium gilt. Es hat bisher keine optimalen Bedingungen für die Anwendung des JGG in der Rechtspraxis geschaffen, weder hinsichtlich der Organisation noch hinsichtlich des Per­ sonals, und leider schenkt das Justizministerium diesem Bereich wohl auch in Zukunft nur sehr wenig Aufmerksamkeit.

Armutszuwanderung und Jugendkriminalpolitik Ein Streiflicht (15.04.2013) Horst Viehmann I. Der Verbrecher aus verlorener Zuwendung Eine literarische Größe wie Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre ist er nicht, obwohl er und sein Schicksal das Zeug dazu gehabt hätten. Er ist als gnadenloser Killer in die Legende des amerikanischen Westens einge­ gangen, posthum überhöht durch Stories über seine Geschicklichkeit mit dem Schießeisen, seine Kaltblütigkeit und seine Grausamkeit. Es gab nie­ manden, der ihm half, ein einfaches, selbst gestaltetes Leben zu führen in Gefälligkeit vor Gott und den Gesetzen der Menschen. Seine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Liebe, nach Frau und Kind, nach einer intakten Familie erfüllte sich nie. Er wurde zum Verbrecher. Nicht wie Schillers Protagonist Christian Wolf, der Sonnenwirt, aus verlorener Ehre, was wohl eher eine zweifelhafte Würdigung ist, denn der körperlich missgestaltete junge Mann beging seine ersten Wilddiebtaten aus Geldmangel. Nein, unser Westernheld wurde zum Verbrecher aus verlorener Zuwendung und Förde­ rung durch den frühen Tod seiner Mutter, aus Mangel an Chancen und Gerechtigkeit, als Ausgestoßener aus der ohnehin brutalen Gesellschaft des „Wilden Westens“ – Billy the Kid. Henry McCarty ist als „Billy the Kid“ eine legendäre Westernfigur, ein Gangster des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Westen der USA, in Arizona und New Mexico. Obwohl er in New Mexico als eine Art „Robin Hood“ bei der Bevölkerung beliebt war, gilt er bis heute in der US-amerikanischen Western-Geschichte als rücksichtsloser Killer. Als er nach langer Verfolgung und mehreren Gefängnisaufenthalten von einem Sheriff hinterrücks erschos­ sen wurde, war er gerade 21 Jahre alt, vermutlich sogar noch ein Jahr jünger. Sein Alter wurde manipuliert, weil man gemäß dem geltenden Eh­ renkodex keinen Minderjährigen erschossen haben wollte. Die Legende legt ihm 21 Morde zu Last; wahrscheinlich waren es sehr viel weniger, immer­ hin aber wohl zwischen 4 und 6. Billy kam aus desolaten sozialen Verhältnissen. Er kannte seinen Vater nicht, zu seinem Stiefvater hatte er kein gutes Verhältnis, er litt unter dessen

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Gewalttätigkeit. Seine Mutter war eine nach New York oder Indiana einge­ wanderte Irin. Sie war lungenkrank und starb, als Billy 14 Jahre alt war, in Arizona, wohin die Familie aus Rücksicht auf die kranke Mutter wegen des trockenen Klimas gezogen war. Billy, ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund, wie man ihn heute wohl kennzeichnen würde, verließ nach dem Tod der Mutter das Elternhaus und kam bei einer Familie unter, die ein Hotel betrieb und in der er sich zunächst wohl fühlte, auch weil er in dem Hotel einer anerkannten Tätigkeit nachgehen konnte. Später überwarf er sich mit der Familie und verließ sie. Er übernahm danach als Ungelernter verschiedene Arbeiten. Wegen eines Diebstahls von Käse wohl aus Hunger wurde er das erste Mal arrestiert. Danach fand er keine Arbeit mehr, wurde erneut wegen einer Lapalie ver­ urteilt und konnte sich fortan nur noch durch kleinere Straftaten und als geschickter Kartenspieler in Western-Saloons ernähren. Bei einem Streit in einem Saloon erschoss Billy wohl in Notwehr einen Schmied, was offiziell aber als Mord gewertet wurde. Er floh aus Arizona nach New Mexico. Dort soll er einen Spieler erschossen haben, dessen Familie ein Kopfgeld für seine Ergreifung aussetzte. Wieder musste er fliehen. Gleichwohl konnte er bei einem Rancher, der ihm eine faire Anstellung bot, eine legale Arbeit annehmen. Der Rancher, den er schätzte und dem er für seine Unterstützung dankbar war, wurde allerdings in einem Streit mit Nachbarn erschossen. In den darauf folgenden Auseinandersetzungen wurden vier Menschen getötet. Billy war beteiligt, weil er die Ermordung seines Gönners rächen wollte. Danach lebte er wieder auf der Flucht und fristete sein Leben durch Vieh­ diebstahl. Gelegentlich gab es auf seiner Flucht wohl Zeiten der Ruhe, in denen er sich als hilfsbereiter, freundlicher Mensch erwies. In einer solchen Zeit fand er in New Mexico eine Frau, die sich in ihn verliebte. Es war die Sehnsucht seines jungen Lebens: eine Frau, eine Familie und ein legales Auskommen. Aber er wurde vom Bruder der jungen Frau verraten und vom alarmierten Sheriff aus dem Hinterhalt erschossen. Billy war wohl ein charmanter und gut aussehender junger Mann, wahr­ scheinlich durch die mütterliche Erziehung nicht ungebildet, konnte schrei­ ben und sich gut verständlich machen. Briefe an einen Sheriff, mit dem er über seine erhoffte, dann auch zugesagte, aber nicht eingehaltene Begnadi­ gung verhandelte, waren wohl so „eloquent und seine Schrift so schön, dass man davon träumen darf, was dieser Jüngling vielleicht hätte werden kön­ nen, wenn er nicht frühzeitig elternlos in eine gewalttätige, rohe und unzi­ vilisierte Welt geschleudert worden wäre“, wie Matthias Heine in einem Bericht in „Die Welt“ vom 23.11.2009 schrieb.



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II. Die Underdogs als massenhafte Belastung Billy the Kid – ein Einzelschicksal wie auch Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre als Einzelschicksal bekannt ist. Die Welt aber war und ist voll solcher Schicksale, nicht nur von einzelnen Menschen, sondern häufig von ganzen Gruppen und Bevölkerungsschichten. Es sind diejenigen, die ausgeschlossen aus der Gesellschaft, ohne Ehre, ohne Respekt ihr Leben fristen. Underdogs. Als Straftäter haben sie Unheil angerichtet und werden dafür bestraft. Aber nicht alle, die in Armut und ohne Perspektive auf ein einigermaßen menschenwürdiges Dasein leben, die Ehre und Respekt ver­ lieren, werden straffällig. Dennoch sind sie aus der „normalen“ Gesellschaft ausgeschlossen, leben in einer Parallelwelt und werden als Last und Schma­ rotzer empfunden. Sie leben in Randgebieten von Städten oder in herunter­ gekommenen Stadtbezirken und bilden eine Teilbevölkerung mit eigener Identität, mit eigenen Regeln und eigenen Repräsentanten. Trotz vielfältiger sozialer Defizite und trotz daraus resultierender Spannungen bleiben die dort Lebenden weitgehend in ihren Milieus, meist bleibt die „Normalgesell­ schaft“ unbehelligt. Aber manchmal verdichtet sich in diesen Vierteln die Unzufriedenheit mit den Lebensumständen und es kommt zu gewaltigen und gewalttätigen Unruhen. Dann wendet sich die benachteiligte Minderheit gegen die etablierte „Normalgesellschaft“. Dann kann so etwas wie ein sozialer Aufstand entstehen, durchaus mit Gefährdungspotential für den sozialen Frieden im Lande. Weltweit gibt es zahllose Beispiele, im Gaza­ streifen etwa, in den Favelas der gigantischen Städte Südamerikas oder in weiten Teilen im Süden Afrikas. Auch die auf hohem sozialen Niveau le­ benden Mitteleuropäer bleiben davon nicht verschont. In einigen französi­ schen Vorstädten oder in belasteten Stadtteilen Londons wie Tottenham er­ eigneten sich solche Aufstände in jüngster Zeit sozusagen vor unserer Haustür. 1. Die Explosion der Gewalt in den französischen Banlieues 2005

Ende Oktober 2005 breiten sich nach dem Tod dreier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei in einigen Vorstädten Frankreichs, den Banlieues, bürgerkriegsähnliche Zustände aus. Die Gewalt junger Menschen explodiert. Panik macht sich breit. Der soziale Friede in Frankreich ist gefährdet. Prä­ sident Jacques Chirac ruft den Notstand aus. Neu ist das Phänomen der explodierenden Gewalt in den Vorstädten Frankreichs nicht. Das Ausmaß allerdings ist dieses Mal größer, die Verbrei­ tung flächendeckender, die Schäden gewaltiger, das Echo wahrnehmbarer. Gewaltig ist auch die Heuchelei verantwortlicher Politiker, die so tun, als seien sie von den Ereignissen überrascht worden. Es war vorhersehbar. Es

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waren keine einzelnen Menetekel mehr, die brennenden Autos Jahre zuvor in den Vorstädten von Paris und anderswo. Es war schon damals ein Auf­ stand der in die Vorstädte abgeschobenen Ghettojugend französischer Zu­ wanderer ins „Mutterland“, es war ein Aufstand einer vernachlässigten Generation, einer ungeliebten Minderheit, die gegen die Ausgrenzungen und Stigmatisierungen durch Staat und Gesellschaft aufbegehrten. Das Tagebuch („… sagt Lila“) eines dieser Jugendlichen wurde damals zum Bestseller in Frankreich. Es war das aufrüttelnde Dokument einer verlorenen Kindheit und Jugend. Jeder der es gelesen hatte, konnte keinen Zweifel mehr haben, was für eine Sprengkraft sich da zusammenbraute. Es hätte Pflichtlektüre für Polizei, Justiz und Jugendbehörden sein müssen. Einige Dokumentarfil­ me offenbarten die Zustände, in denen die Menschen in den Vorstädten hausten und in denen sich der Nährboden von Hass und Gewalt konkreti­ sierte. Sie offenbarten auch die Ohnmacht der wenigen Sozialarbeiter und die Brutalität der Ordnungskräfte, deren Einsätze den Hass auf Staat und Gesellschaft potenzierten. Perspektiven gab es für die jungen Leute nicht. Verbesserungen waren jahrelang nach Protesten und Warnungen vor einer Eskalation von Gewalt und Kriminalität von den zuständigen Politikern versprochen worden. Umgesetzt wurden sie nicht. Keine angemesseneren Wohnbedingungen, keine hilfreichen Bildungsangebote, keine sinnvollen Perspektiven für junge Leute, keine Arbeit, kein Geld. Alles wie gehabt. Statt dessen Polizei und Repression, ein verschärftes Jugendstrafrecht. Das konnte nicht gut gehen. Noch nie und nirgends sind geprügelte und bestraf­ te Minderheiten gute Staatsbürger geworden. Es sind erwartbare Gewalttä­ tigkeiten, zwangsläufige Ausbrüche, geradezu gesetzmäßige Ereignisse, was sich 2005 zeigt. Erneut offenbaren sie das materielle Elend, aber auch die Diskriminierungen und Demütigungen, denen die Ausgegrenzten in einer wohlhabenden Gesellschaft ausgesetzt sind, durch die Umstände, in denen sie leben müssen, aber auch durch die Reaktionen eines unsensiblen Staats­ apparates. Etwa die des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy, der diese vernachlässigten Jugendlichen „Gesindel“ nennt, das man „mit dem Hochdruckreiniger entsorgen“ müsse. Demütigungen ohnegleichen, Aber­ kennung von Menschenwürde denen, die fast alle nur ein normales Leben führen wollen, Familie, Kinder, eine menschenwürdige Wohnung und ein ausreichendes Einkommen. Das ist ihr Traum! Und ein Innenminister, der härtere Polizeimaßnahmen ankündigt, als ob die Gewalt der Polizei sich steigern ließe, ein Innenminister, der offenbar nicht begriffen hat, dass Frankreich einmal Schlachtfeld und Opfer der gewaltigsten Revolution war, die es je in Europa gab und aus der die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Welt verändert hat.



Armutszuwanderung und Jugendkriminalpolitik461 2. Die „abgehängten“ Jugendlichen von Tottenham

Im Londoner Stadtteil Tottenham bricht im August 2011 kurz nach dem Tod eines jungen Farbigen durch eine Polizeikugel eine Welle der Gewalt aus. Autos werden in Brand gesteckt, Schaufenster werden eingeschlagen, Menschen werden verletzt, Plünderer ziehen durch Tottenham. Häuser wer­ den angezündet. Die Krawalle greifen sofort auf andere Stadtteile Londons über und kurze Zeit danach auch auf mehrere Großstädte Großbritanniens. Die örtliche Polizei wird mit der Situation allein nicht fertig. Erst als Poli­ zeikräfte aus ganz England in London zusammen gezogen werden, beruhigt sich die Lage. Der Premierminister sieht keine gesellschaftliche Problema­ tik. Kriminelle seien am Werk gewesen. Sozialarbeiter und andere Fachkräf­ te machen als Ursachen der Unruhen allerdings die desolate soziale Situa­ tion der jungen Menschen verantwortlich. Das Wort von den „abgehängten Jugendlichen“ dominiert die Diskussion um die Ursachen und die Möglich­ keiten der Abhilfe. Den jungen Menschen fehlten Lebensperspektiven. Sie sähen keine Auswege. Bereits vorher, 1985 etwa und 2008, hatte es Unruhen nach Todesfällen unter der Bevölkerung in Tottenham gegeben. Tottenham war und ist ein sozialer Brennpunkt mit sehr stark gemischten Bevölkerungsgruppen ver­ schiedener Ethnien. Die soziale Lage war im August 2011 vor den Gewalt­ explosionen so prekär und angespannt, dass ein emotionales Ereignis, sozu­ sagen als Funke am Pulverfass, ausreichte, die mühsam gehaltene soziale Balance zu zerstören und soziale Unruhen auszulösen. Der Tod eines jungen Mannes durch Polizeikugeln war die Initialzündung. In ähnlicher Weise hatte der Tod dreier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei in Frank­ reich 2005 die bürgerkriegsähnlichen Unruhen verursacht. Und ähnlich wie in Frankreich reduzierten die politisch Verantwortlichen in Regierung und Polizeiadministration den Charakter der Ausschreitungen zu einem rein kriminellen Phänomen, das hartes Vorgehen von Polizei und Justiz verlange. Das hatte Tradition. Jahre zuvor hatte der britische Premierminister Tony Blair anlässlich der Tötung eines Kindes durch verwahrloste ältere Kinder von Polizei und Justiz ein härteres Vorgehen gegen jugendliche Kriminalität verlangt. Es müsse mehr verurteilt und weniger nach Erklärungen für Ge­ walt und Verbrechen gesucht werden. III. Die Last der Jugendkriminalität und der zu kurze Griff der Strafjustiz In ähnlicher Weise wie Tony Blair äußerten sich auch deutsche hochran­ gige Politiker bei entsprechenden Anlässen, etwa Wolfgang Schäuble, als er in den späten 1990er Jahren als Vorsitzender der CDU statt „immer nur

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kriminologischer Erklärungen“ für Straftaten junger Menschen von der Jus­ tiz mehr Verurteilungen verlangte, oder Theo Waigel als Vorsitzender der CSU auf dem CDU-Bundesparteitag in Leipzig 1997 – „Null-Toleranz, das ist die einzige Sprache, die diese Typen verstehen“. Jugendkriminalität, Jugendkriminalrecht und Jugendkriminalpolitik – ein weites Feld. Dort ackern und säen Berufene und Unberufene. Die Ursachen von Jugendkriminalität, das Ausmaß ihrer Verbreitung, die rechtlichen Re­ aktionen, die Instrumente der Verhinderung und Strategien der Vermeidung – das alles stellt für viele Menschen ein fest gefügtes Weltbild dar mit klaren Konsequenzen. Sie wissen, welche Maßnahmen hilfreich sind, wie man mit den jugendlichen Gewalttätern umzugehen hat und wie man der Plage Herr wird: Schnelle Reaktionen, harte Bestrafung, keine Geduld, keine Toleranz. Dominanz der Stammtische! Aber es gibt auch die Befürch­ tungen vieler Menschen, die von den Berichten der Medien über einzelne Gewalttaten Jugendlicher verunsichert sind und sich den Forderungen nach Härte und unnachsichtigem Durchgreifen als erfolgversprechende Maßnah­ men zur Reduzierung von Jugendkriminalität anschließen. In der jüngeren Vergangenheit, 2010, hat eine Jugendrichterin, Kirsten Heisig aus Berlin, ihre Meinung und ihre Vorschläge zur Abhilfe von Ju­ gendkriminalität in einem Buch veröffentlicht. „Das Ende der Geduld“. Ihre Beurteilung der Lage und ihre Vorschläge speisen sich aus ihren per­ sönlichen Erfahrungen in einem besonderen kriminellen Umfeld von BerlinNeukölln, einem Umfeld, überdurchschnittlich belastet von einer vernach­ lässigten und nicht integrierten Szene junger Menschen. Sie überträgt ihre Sicht der Problematik flächendeckend auf allgemeine Zustände der Jugend­ kriminalität. Das Buch bedient die Mentalität der Stammtische, der Massen­ medien und der großen Zahl verunsicherter Menschen. Das Ende der Ge­ duld. Es ist ein Bestseller! Aber es führt auf Irrwege. Es gibt massenhafte Erfahrungen: Gewalt er­ zeugt Gegengewalt. Harte Strafen werden von den Betroffenen als Gewalt empfunden, nicht als Hilfe. Die von dem Berichterstatter Ewers im Bundes­ tag von 1953 in der Diskussion um das neue Jugendgerichtsgesetz beschwo­ rene bessernde Wirkung freiheitsentziehender Strafen hat sich im Jugendkri­ minalrecht als nicht zutreffend erwiesen. Die hohe Rückfälligkeit und die besseren Ergebnisse der ambulanten Reaktionen bei vergleichbarer Krimina­ lität sind offensichtliche Beweise dafür. Was der Jugendkriminalpolitik fehlt, ist die Einsicht, dass sie nicht auf Strafrechts- oder Sicherheitspolitik reduziert werden darf, wie der angesehe­ ne Kriminologe Wolfgang Heinz aus Konstanz zu betonen nicht müde wird. Es reicht nicht, Jugendliche zu verurteilen und sogar Kinder als Intensivtä­ ter zu identifizieren und sie der besonderen Aufmerksamkeit der Polizei



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anheim zu geben. Das dürfen wir nicht zulassen. Diese „Verpolizeilichung“ der Jugendfürsorge (so Michael Walter in einer Diskussion in der Uni Köln mit NRW-Innenminister Jäger zum Polizeiprojekt „Kurve kriegen“) und die Verurteilung zu Freiheitsentzug sind falsche Signale. Sie führen in eine Richtung weg von dem im Jugendkriminalrecht erprobten und relativ er­ folgreichen „Königsweg“, der Präferenz von individueller und sozialer Prävention sowie von ambulanten Maßnahmen. Frau Wiebke Steffen, erfah­ rene Kriminologin am Bayerischen Landeskriminalamt, hat den seit Jahren anerkannten „Königsweg“ bestätigt, als sie auf einem Symposium des Bun­ desministeriums der Justiz in Jena im September 2008 zu neuen Herausfor­ derungen im Jugendkriminalrecht formulierte „Strafrechtliche Maßnahmen reichen jedenfalls nicht aus und ihre Verschärfung ist eher wenig hilfreich und auch nicht erforderlich. … Denn das Problem intensiver Auffälligkeit ist sozial strukturell verankert und weist auf einen vielschichtigen Bedarf an Prävention, Hilfe und Intervention hin: Bei den jungen Intensivtätern selbst, bei ihren Familien, bei ihrem sozialen Umfeld, etwa beim Freundeskreis, bei Schulen und Ausbildungseinrichtungen, bei den Sozialsystemen insge­ samt.“ Frau Steffen hat die Problematik auf den Punkt gebracht. Sozialstruktu­ rell. Das ist die Chiffre für die Entlarvung des Hauptbefundes in der Ursa­ chenforschung der Jugendkriminalität. Für all diese „sozialstrukturell“ not­ wendigen Veränderungen in der Kriminalpolitik brauchen wir einen langen Atem. Wir brauchen ihn deshalb, weil Kriminalpolitik nicht auf Strafrechts­ politik verkürzt werden darf, soll sie Erfolg haben. „Strafrechtspolitik ist Gesellschaftspolitik“ schrieb der ehemalige Richter am Bundesverfassungs­ gericht Wolfgang Hoffmann-Riem im Jahre 2000 (edition suhrkamp 2154) und wiederholte die kriminologische Erkenntnis Franz v. Liszts 100 Jahre zuvor, dass Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik sei. Sozialpolitik, Kinderund Jugendpolitik, Bildungspolitik, Ausländerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Innenpolitik und nicht zuletzt Außen- und Europapolitik sind inhaltlich immer auch ein Stück Kriminalpolitik, wenn man sie auch nicht so nennen sollte, weil man sonst die Akzeptanz durch die Bevölkerung gefährdet. All das geht nicht von heute auf morgen. Das braucht Geld, das braucht Zeit, das braucht Geduld. Und da sind nicht die Justizminister die eigentlichen Nothelfer, wie man landläufig glaubt, sondern die jeweils zuständigen Res­ sortminister für die vielfältigen Probleme und Defizite in den Lebensbedin­ gungen, insbesondere die jeweiligen Jugend- und Sozialminister. Die Kinder- und Jugendpolitik sowie die der Jugenderziehung und Be­ treuung verpflichteten Institutionen müssen ihrem Auftrag zur Begleitung jugendlichen Aufwachsens in besserem Maße und ausreichender Qualität nachkommen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz weist den Weg und defi­ niert die Aufgabe: „Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner

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Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemein­ schaftsfähigen Persönlichkeit. Die Jugendhilfe soll junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Be­ nachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen und Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, dazu beitragen, positiv Lebensbe­ dingungen zu erhalten oder zu schaffen“ so § 1 des Gesetzes. Angesichts dieser gewaltigen Aufgabe in der Zuständigkeit der Kommunen und der teilweise mangelhaften Wahrnehmung in der täglichen kommunalen Praxis wird man Zweifel an der Weisheit dieser Verortung haben dürfen. Aber auch in der eigentlichen Zuständigkeit der Justiz braucht man schier unendliche Geduld, braucht inhaltliche und finanzielle Unterstützung für die ambulanten Bemühungen nach dem Jugendgerichtsgesetz. Die Vereinigun­ gen der freien Jugendhilfe versuchen, die ambulanten Neuerungen in sozia­ len Trainingskursen, Betreuungsweisungen, in offenen Heimen und im Tä­ ter-Opfer-Ausgleich umzusetzen. Aber das reicht nicht. Das kann allenfalls in Einzelfällen Wege aus der Kriminalität weisen. Gerichte und Strafgesetze sind keine ausreichenden Mittel, eine aus vielfältigen Mangelsituationen resultierende Kriminalität zu beseitigen. Sie verstärken eher die Problema­ tik, als ihr abzuhelfen. Das wissen wir längst. IV. Neuere soziale Entwicklungen durch Armutszuwanderung Seit einigen Jahren, seit 2007, sind Bulgarien und Rumänien Mitglieder der EU. Ihre Bürger genießen Freizügigkeit in Europa. Allerdings gilt noch bis zum 1.1.2014 ein Arbeitsverbot. Trotz dieses Verbots haben schon jetzt zahlreiche Bulgaren und Rumänen die Freizügigkeit genutzt, in die Länder Mitteleuropas einzuwandern. Darunter sind zahlreiche Angehörige der Eth­ nie der Roma, die in ihren Heimatländern häufig in besonders schlechten Bedingungen leben müssen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 22. Februar 2013 nannte ein Kommentar die zuwandernden Roma die „Kellerbewohner“ Europas. Viele Sinti und Roma seien in einem Elends­ kreislauf gefangen als die Ausgegrenzten Europas. Europa müsse die Roma als Menschen und Bürger annehmen. Es müsse aufhören, sie wie die „letz­ te wilde Horde des Kontinents“ zu behandeln. In Duisburg und anderen Städten des Ruhrgebiets und der Rheinschiene etwa in Köln und Mannheim zeigen sich erste Anzeichen einer neuen sozi­ alen Entwicklung in Deutschland durch diese Zuwanderungen aus Bulgarien und Rumänien. Der Anteil der Roma ist erheblich. In Duisburg sind sie konzentriert in Duisburg-Rheinhausen, einem inzwischen heruntergekomme­ nen Stadtteil, und dort besonders stark in einem verwahrlosten Hochhaus und seiner Umgebung. Es ist ein Menetekel für künftige Zustände. Ängste



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der Einheimischen und der vor Jahren zugewanderten, inzwischen leidlich integrierten Minderheiten, meist Türken, werden artikuliert, verbunden mit einer massiven Ablehnung. Niemand will mit ihnen zusammen leben, will sie in der Nachbarschaft haben. Es hat schon zahlreiche zum Teil bewaffnet geführte Auseinandersetzungen zwischen jungen Türken und jungen Roma gegeben. Die Polizei hat die Lage nicht unter Kontrolle. Die Jugendhilfe ist überfordert. Wenn sich die Prognose bewahrheiten sollte, dass ab 2014 die Zuwande­ rung von „Armutsflüchtlingen“ aus Bulgarien und Rumänien in beträchtli­ chem Maße zunehmen wird, steht ein soziales Desaster zu befürchten. Was wird aus der großen Zahl junger Menschen? Was wird aus den Kindern? Werden sie einen Kindergarten finden, werden sie die deutsche Sprache lernen, werden sie zur Schule gehen? Man kann die Fragen derzeit nicht zufriedenstellend beantworten. Die vorstellbaren Reaktionen verheißen eher nichts Gutes. Nach allen Erfahrungen wird es zahlreiche Problemviertel geben mit vielen sozial und kulturell negativ belasteten Menschen. Es steht zu befürchten, dass es überdurchschnittlich viele junge Menschen geben wird, die in Kriminalität, in Gewalt, in Handel mit Drogen und in Prostitu­ tion verstrickt werden. Sie werden straffällig werden aus Mangel an aner­ kannten Alternativen zur Gestaltung ihres Lebens. Viele werden ohne eine sinnvolle Lebensperspektive aufwachsen, ohne Ausbildung, ohne Beruf und ohne feste Bindungen in die Welt der Erwachsenen gelangen. Sie werden Jugendkriminalität produzieren, sie werden die Polizeiliche Kriminalstatistik auffüllen und sie werden mit der Justiz zu tun haben. V. Irrwege und Auswege Und wir, die Gesellschaft, werden das Ende der Geduld fordern. Ohne Skrupel, ohne schlechtes Gewissen. Jeder ist seines Glückes Schmied. Nach diesem Motto werden wir ihre Straffälligkeit individualisieren. Wir werden persönliche Schuld vorwerfen. Wir werden die straffälligen Jugendlichen verurteilen und, wenn es nach den beschriebenen Mentalitäten der Stamm­ tische geht, und es wird so sein, sie verurteilen mit schnellen und harten Sanktionen. Doch die Phänomene als rein kriminelle Belastung zu sehen und lediglich nach der Justiz zu rufen, ist zu kurz gegriffen. Die Justiz kann der Proble­ matik nicht abhelfen. Immer wieder wird die justizielle Reaktion als Rezept für Besserung empfohlen, und immer wieder erfahren wir durch schreckli­ che Einzelfälle junger Schläger oder durch massenhaftes Aufbegehren Ju­ gendlicher, dass dieses Rezept unbrauchbar ist. Es werden die falschen Maßnahmen vorgeschlagen. Es wird in der Jugendkriminalpolitik auf die

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falsche Strategie gesetzt. Bestrafung und Einsperren helfen nicht. Das wis­ sen wir längst und bekommen es immer wieder bestätigt. Die Weisheit Salomos, dass die jungen Menschen frühzeitig zu züchtigen seien, ist durch die Jahrhunderte als unzutreffend entlarvt worden. Wir sollten aus den Er­ eignissen der Vergangenheit lernen. In vielen gesellschaftlichen Bereichen wird immer wieder etwa bei Ge­ denktagen an Gräueltaten von Menschen und Staaten gemahnt, dass sich solche Geschehnisse niemals wiederholen dürften. Man müsse aus der Ver­ gangenheit lernen. Aber die Menschen lernen nicht oder nur sehr schwer aus der Vergangenheit. Woran liegt das? Was sind die Gründe für diese Haltung von Gesellschaft und Staat? Was sind die Gründe für diesen gesell­ schaftlichen Autismus? Die Vergesslichkeit der Gesellschaft, die rasanten Entwicklungen in allen Bereichen des Lebens und die Wandlungen in den menschlichen Beziehungen mögen Gründe sein. Lassen wir es dahingestellt. Die entscheidende Frage bleibt, was wir denn in unserem Zusammenhang aus der Vergangenheit lernen sollen. Nun – eine Erkenntnis zu den Ursa­ chen krimineller Handlungen junger Menschen ist jedenfalls bedeutsam: Prekäre individuelle und soziale Bedingungen in der Entwicklungsphase der Kinder und Jugendlichen stehen an erster Stelle. Darauf muss nach allem, was wir aus der Vergangenheit lernen können, besonders geachtet werden. Integration und Prävention sind die entscheidenden Voraussetzungen, die Gefahr des Abgleitens in kriminelle Verstrickungen zu verhindern. Dazu bedarf es Geld, viel Geld. Natürlich ist dieses Geld nicht vorhanden. Jeden­ falls noch nicht. Erst wenn die Entwicklungen aus dem Ruder laufen und der soziale Friede gefährdet erscheint, erst wenn alle polizeilichen und strafrechtlichen Interventionen vergeblich gewesen sind, erst wenn die hö­ heren Kosten der Versäumnisse bei Integration und Prävention offenkundig werden, könnte sich Einsicht bei Gesellschaft und Politik in die Notwendig­ keit von Prävention und Integration einstellen. Derzeit sind wir von solchen Einsichten noch weit entfernt. Im Gegenteil. Die Menschen kündigen die notwendige Solidarität auf, beginnen sich zu wehren, begehren gegen die Armutszuwanderer auf. Für sie sind es insbe­ sondere Gründe der Furcht vor den Fremden, die zum Aufbegehren gegen andere Menschen, gegen Einzelne und gegen ganze Gruppen führen. Diese Fremdenfurcht gab es schon immer. Sie beruht auf Unsicherheit über die eigene Gefährdung, auf Vorurteilen und auf mangelndem Wissen. Besonders problematisch wird die Situation, wenn größere Gruppen benachteiligter Menschen aus armen Gegenden und Ländern einwandern. Es offenbart sich die seit jeher beobachtete Fremdenfeindlichkeit geschlossener und nicht aufgeklärter Gesellschaften. Entwicklungen wie Ende des 17. Jahrhunderts, als preußische Könige Hugenotten aus Frankreich in Preußen willkommen



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hießen, sind selten. Abschottungen und Ausgrenzungen wie in den USA gegenüber Menschen aus Lateinamerika oder wie an den Grenzen der EU im Mittelmeerraum gegenüber Zuwanderungen aus Afrika sind Ereignisse, wie sie überall in der Welt täglich geschehen. Alltag. Fremde sind meist nicht gern gesehene Menschen. Es sei denn, man braucht sie, wie die Hu­ genotten oder später im 19. Jahrhundert die polnischen Bergarbeiter im Ruhrgebiet. Die befürchteten Zuwanderungen aus Bulgarien und Rumänien werden aber nicht als Hilfe willkommen sein. Sie werden meist als Belas­ tungen wahrgenommen werden. Und sie werden auch Belastungen für die staatlichen Institutionen sein. Sie werden Hilfe brauchen. Das stößt an die Grenzen finanzieller Ausstat­ tung der zuständigen Kommunen. Ausreichende Ressourcen zur Armutsbe­ kämpfung und zur Integration werden nicht zur Verfügung stehen. Allein die notwendige Infrastruktur an Wohnungen, Kindergärten, Schulen, Kranken­ häusern, Ausbildungsstätten und Arbeitsmöglichkeiten erfordert Millionen zusätzlichen finanziellen Aufwands für die aufnehmenden Städte. Schon jetzt sind viele Kommunen hoffnungslos überschuldet. Sie können aus eige­ ner Kraft der Lage nicht abhelfen. Sie brauchen Hilfe vom Staat, und sie brauchen die Hilfe der EU. Vielleicht werden die Verhältnisse sich bessern, wenn der künftig zunehmende Bedarf an Arbeitskräften die Menschen in Arbeit und Brot bringt und so das Problem langfristig entschärft. Das ist eine Hoffnung, mehr nicht. Und was in der Zwischenzeit ge­ schieht, hat zerstörerische Kraft. Diskriminierung, Rassismus, Rechtsextre­ mismus, Ausgrenzung. Europas Gesellschaften werden das nicht aushalten können. Auch die Toleranz der Gesellschaft in Deutschland nicht. Schon jetzt sieht sich der Bundespräsident veranlasst, vor der unheiligen Tradition jahrhundertealter Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung zu warnen. Sie sei nicht zu akzeptieren. Doch angesichts der Anforderungen, die die Armutseinwanderung an die Gesellschaften Europas stellt, reichen Warnun­ gen und Aufrufe nicht aus. Auch die zahlreichen privaten Initiativen, die sich um die Armutsflüchtlinge kümmern, sind Tropfen auf den heißen Stein. Politische Gestaltung wäre jetzt erforderlich. Aber die politischen Prioritäten liegen nicht bei dem Problem der Armutszuwanderung. Und Polizei und Justiz? Wie werden die Sicherheitsbehörden reagieren, wenn massenhafte Delikte Jugendlicher die Bevölkerung beunruhigen? Es braucht keine große Fantasie, dies zu prognostizieren. Es wird die gewohn­ ten bekannten Forderungen nach harten und schnellen Reaktionen der Justiz geben. Noch weniger als derzeit nach den gerade in das Jugendgerichtsge­ setz aufgenommenen Verschärfungen des Warnschussarrestes, der Erhöhung der Höchststrafe auf 15 Jahre etc. werden die Gerichte sich der Reformmaß­ nahmen der 1980ger Jahre besinnen, als der Erziehungsgedanke in Gesetz

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und Rechtsprechung einer jugendgemäßen Gerichtsbarkeit Raum und Mög­ lichkeit gaben. Die Zeiten haben sich gewandelt, nicht zuletzt durch die regelmäßigen Kampagnen der Medien nach schweren Gewalttaten Jugend­ licher. Diese Taten gibt es natürlich auch, hat es schon immer gegeben, wenn auch stets in verhältnismäßig geringer Zahl. Da muss die Justiz ver­ urteilen, auch zu fühlbaren Strafen, auch zu Freiheitsstrafen. Doch das darf nicht die gesellschaftliche Antwort auf jugendliche Kriminalität bleiben. Die strafrechtlichen Reaktionen werden die kriminogenen Belastungen der Ju­ gend nicht ändern können. Ihre prekären Lebensbedingungen werden nicht beseitigt. Eine solche Änderung haben Strafgesetze noch nie bewirkt. Auch nicht das Jugendgerichtsgesetz. Man muss schon zufrieden sein, wenn Ju­ gendrichter die sinnvollen Möglichkeiten des Gesetzes nicht verschmähen und meinen, mit fühlbaren Strafen die Kriminalität Jugendlicher zu mini­ mieren, wie einst der unselige Hamburger Jugendrichter Roland Schill, der als späterer Innensenator durch rigide Bestrafung Jugendlicher eine Halbie­ rung der kriminellen Belastung in Hamburg innerhalb kurzer Zeit versprach, was nicht eintraf, und zusammen mit seinem ebenso unseligen Justizsenator Roger Kusch ein kriminelles Chaos anrichtete. Und es ist schon als Erfolg des Gesetzes und einer vernünftigen Rechtsprechung zu werten, wenn nach Verurteilung die Rückfälligkeit jugendlicher Täter gemindert oder im Ideal­ fall vermieden wird. Doch man darf sich nicht falschen Hoffnungen hinge­ ben. Solche Erfolge sind marginale Erscheinungen der Gesamtproblematik. Sie ändern die Ursachen der Kriminalität nicht. Weder harte Reaktionen noch sinnvolle Förderungen straffälliger Jugendlicher durch Jugendgerichte helfen, die prekären Lebensbedingungen für die jungen Menschen allgemein zu verbessern und damit die Hauptursachen jugendlicher Straffälligkeit jen­ seits ubiquitärer Bagatelldelinquenz zu beseitigen. VI. Verantwortung für den sozialen Frieden bei Armutszuwanderung Der einzig Erfolg versprechende Ansatz bei der Lösung der zu befürch­ tenden sozialen Belastung der Gesellschaft durch Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien liegt in der Verbesserung der Lebensbedingungen. In den Aufnahmeländern sind frühzeitige und erfolgreiche Integration die Schlüssel zur Abhilfe. Da ist in erster Linie Justiz nicht gefragt. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Kriminalpolitik ist Gesellschaftspoli­ tik. Sie darf nicht auf Strafrechtspolitik reduziert werden. In den Heimatländern Bulgarien und Rumänien müssten die potentiellen Auswanderer dazu gebracht werden, dort zu bleiben. Vielleicht gelänge das, wenn die Lebensbedingungen für sie dort besser wären, wenn sie Zugänge zu höherem Lebensstandard hätten, wenn sie nicht ausgegrenzt und diskri­



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miniert würden. Die Förderpolitik der EU müsste ganz andere Schwerpunk­ te setzen als derzeit. Die Armutszuwanderung stellt ja nicht nur in Deutsch­ land ein künftig großes Problem dar. Sie ist ein europaweites Problemfeld. Und Europa muss, um noch einmal den Kommentar der FAZ zu bemühen, die „Ausgegrenzten als Menschen und Bürger annehmen und aufhören, sie wie die letzte wilde Horde des Kontinents zu behandeln“. Es gibt viele Hinweise auf negative, den sozialen Frieden in der europä­ ischen Gesellschaft störende Anzeichen. Wer eine solche Entwicklung nicht hinnehmen will, wer den sozialen Frieden der Gesellschaft bewahren will, wer demokratische Strukturen erhalten und rechtsstaatliche Sicherheiten bewahren will, darf den Entwicklungen nicht tatenlos zusehen, weder in Deutschland noch in Europa. Verantwortung ist gefragt. Verantwortung ge­ genüber den jungen Menschen, die aktuell leben, und Verantwortung für künftige Generationen, Verantwortung für sozialen Frieden in Europa. VII. Der Jubilar Michael Walter hat viele Jahre in vielfältiger Weise für diese Verantwor­ tung gearbeitet und geworben. Seine Forschungen und Empfehlungen zu einer sinnvollen Gestaltung jugendlicher Gerichtsbarkeit haben Kriminalpo­ litik und Rechtsprechung bereichert und geprägt. Die auf Erziehung, Förde­ rung und Stärkung junger Menschen setzende, erfolgreiche Kriminalpolitik der 1980 / 90iger Jahre und das Erste Gesetz zur Änderung des Jugendge­ richtsgesetzes von 1990 sind ohne ihn nicht denkbar. Dafür gebührt ihm Dank und Anerkennung. Dank, Respekt und Anerkennung möchte ich als einer für das Jugendkri­ minalrecht im Bundesministerium der Justiz verantwortlichen Ministerialbe­ amten besonders zum Ausdruck bringen. Die enge und vertrauensvolle Zu­ sammenarbeit mit Michael Walter hat mir wesentliche Anregungen, Hilfen und Motivation für meine Arbeit in der Jugendkriminalpolitik gegeben sowie auch als „nebenberuflicher“ Honorarprofessor für Jugendkriminalrecht in der Lehre für Studenten an der Universität zu Köln. Dafür danke ich Dir sehr, lieber Michael.

Strafvollzug

Beeinflussen Merkmale von Justizvollzugsanstalten das Gewaltverhalten der Gefangenen? Dirk Baier, Christian Pfeiffer und Marie Christine Bergmann I. Einleitung und Forschungshypothesen Gewalt im Strafvollzug ist keine Seltenheit. In einer deutschlandweiten Befragung gab jeder vierte Strafgefangene an, im letzten halben Jahr Opfer von Übergriffen durch Mitgefangene geworden zu sein; am häufigsten sind dabei Bedrohungen, gefolgt von Erpressungen und Körperverletzungen.1 Diese Gewaltübergriffe stellen für die Betroffenen eine hohe Belastung dar. In wenigen Fällen nehmen sie zudem sehr dramatische Folgen an: So wur­ de im Jahr 2006 in einer nordrhein-westfälischen Jugendhaftanstalt ein In­ sasse zu Tode gefoltert. Es verwundert daher nicht, dass sich verschiedene Studien der Frage widmen, welche Einflussfaktoren Gewaltverhalten im Strafvollzug hat und wie dieses Verhalten damit letztlich verhindert werden kann.  Entsprechend der „importation theory“2 werden hierbei vor allem jene Eigenschaften der Gefangenen betrachtet, die sie mit in den Strafvollzug bringen und die ihre Gewaltbereitschaft erhöhen. Bestimmte normative Überzeugungen bzgl. des Gewalteinsatzes bzw. Einstellungen zum Geset­ zesbruch gehören zu diesen Eigenschaften. Empirisch untersucht wurden jedoch weniger diese Überzeugungen und Einstellungen, sondern vielmehr Variablen wie das Alter, die ethnische Herkunft oder frühere kriminelle Erfahrungen. Angenommen wird, dass diese Variablen mehr oder weniger für bestimmte normativen Überzeugungen und Einstellungen stehen; jünge­ re Personen weisen bspw. eher gewaltbefürwortende Einstellungen auf als ältere Personen. Die Befunde lassen sich derart zusammenfassen, dass jün­ gere Gefangene häufiger Gewalt ausüben, gleiches gilt für Minderheiten angehörende Gefangene sowie für Gefangene, die bereits früher mit Krimi­ nalität in Erscheinung getreten sind.3 Bezüglich des Einflusses des Minder­ 1  Ernst

(2008), S. 360 ff. Lahm (2008), S. 121 f. 3  U. a. Griffin / Hepburn (2006); Lahm (2008); Woolredge et al. (2001); für Deutsch­ land: Ernst (2008); Wirth (2007). 2  U. a.

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heitenstatus liegen allerdings differenzierende Befunde vor, die belegen, dass nicht alle Gruppen gleichermaßen stärker gewaltbelastet sind.4 Einige Studien untersuchen darüber hinaus, ob auch anstaltsbezogene Faktoren mit dem Gewaltverhalten in Beziehung stehen. Nachteil der meis­ ten bisherigen Studien ist allerdings, dass nur Aggregatmerkmale in Bezie­ hung gesetzt werden. So korrelieren McCorkle et al. (1995) Gewaltraten aus über 370 Haftanstalten mit verschiedenen anderen Anstaltsmerkmalen; ein vergleichbares Vorgehen findet sich bei Ellis et al. (1974) oder Gaes und McGuire (1985). Diese Studien prüfen letztlich nicht, ob die Anstaltsmerk­ male individuelles Verhalten erklären können, da nur Raten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Methodisch angemessener sind Mehrebenenana­ lysen.5 Lahm (2008) sowie Woolredge et al. (2001) setzen dieses statisti­ sches Verfahren ein, wobei die Befunde erzielt werden, dass ein höherer Anteil an Inhaftierten nicht-weißer Herkunft, eine größere Inhaftiertenanzahl sowie eine größere Enge („crowding“) das individuelle Gewaltverhalten erhöhen. Die Berücksichtigung von Anstaltsfaktoren in der bisherigen Forschung geschieht bislang jedoch eher ad hoc und ohne klare theoretische Herlei­ tung. Daten, die auf Anstaltsebene verfügbar sind, werden auf ihren Einfluss hin getestet. In diesem Beitrag soll stattdessen unter Rückgriff auf zwei theoretische Ansätze die Auswahl von Anstaltsmerkmalen, die mit individu­ ellen Gewaltverhalten in Beziehung stehen sollten, begründet werden. Hier­ bei handelt es sich um die Desorganisationstheorie sowie um die Subkultur­ theorie, die beide auf den Bereich der Gewalt im Justizvollzug übertragen werden. Die Desorganisationstheorie von Shaw und McKay (1969) wurde entwi­ ckelt, um Unterschiede zwischen den Kriminalitätsraten von Stadtteilen zu erklären. Festgestellt wurde, dass in Stadtteilen mit hoher Kriminalität auch eine problematischere Sozialstruktur der Bewohnerschaft existiert, die u. a. in einer hohen Mobilitätsrate (viele Zu- und Fortzüge), einem hohen Anteil an Migranten bzw. einer hohen Anzahl an Migrantengruppen sowie einer hohen Arbeitslosen- und Armutsrate ihren Ausdruck findet. Unter diesen Bedingungen fällt es der Bewohnerschaft schwerer, sich über gemeinsame Normen und Werte zu verständigen. Der Zusammenhalt fällt niedriger aus und die Bereitschaft sinkt, bei Anzeichen sozialer Unordnung einzugreifen. Die problematische Sozialstruktur hat zur Folge, dass die Verständigung über geltende Verhaltensstandards ausbleibt; die Sozialstruktur bedingt da­ mit die Kultur eines Stadtteils. Sampson et al. (1997) führen für die kultu­ 4  Baier / Bergmann 5  Vgl.

(2013), S. 80. Bryk / Raudenbush (1992).



Justizvollzugsanstalten und Gewaltverhalten der Gefangenen475

rellen Bedingungen den Begriff der kollektiven Wirksamkeit ein. Diese Wirksamkeit äußert sich einerseits in einem erhöhten sozialen Zusammen­ halt der Bewohnerschaft, anderseits auch in der Bereitschaft, bei Anzeichen von sozialer Unordnung einzugreifen (informelle Sozialkontrolle). Übertragen auf den Kontext des Strafvollzugs kann angenommen werden, dass eine höhere soziale Desorganisation mehr individuelles Gewaltverhal­ ten nach sich zieht (Hypothese 1). Im Einzelnen wird vermutet, dass mit einer steigenden Zahl von Migrantengruppen bzw. einem steigenden Mig­ rantenanteil das Gewaltverhalten zunimmt (Hypothese 1a). Entsprechend der Desorganisationstheorie ist vor allem die ethnische Heterogenität von Bedeutung: Je mehr ethnische Gruppen in einem Kontext zusammen kom­ men, umso schwieriger ist die gegenseitige Verständigung. Zudem steigt dann die Wahrscheinlichkeit, dass die Gruppen unterschiedliche Wertvor­ stellungen teilen, die Anlass für Konflikte und Auseinandersetzungen sein können. Mit einem steigenden Migrantenanteil dürften ähnliche Prozesse verbunden sind, weil dieser empirisch mit einer steigenden Heterogenität einher geht. Eher selten dürfte es der Fall sein, dass ein hoher Migranten­ anteil allein auf eine Migrantengruppe zurückzuführen ist. In der bisherigen Forschung zum Strafvollzug wurde sich auf den Indikator des Migrantenan­ teils bezogen und ein gewalterhöhender Effekt festgestellt.6 Ebenfalls aus der Desorganisationstheorie ableitbar ist die These, dass eine hohe Fluktuation von Gefangenen gewaltsteigernd wirkt (Hypothe­ se 1b). Der ständige Austausch von Inhaftierten verhindert die Ausbildung einer festen Struktur; stattdessen werden immer wieder Anlässe für Konflik­ te geschaffen. Empirische Befunde zum Einfluss einer hohen Mobilität im Strafvollzug auf das Gefangenenverhalten liegen bislang noch nicht vor. Dies gilt auch für das Merkmal des sozialen Zusammenhalts: Dort, wo der Zusammenhalt zwischen den Personen im Strafvollzug hoch ist, sollte es seltener zu Gewalt kommen als in Anstalten mit geringem Zusammenhalt (Hypothese 1c). Dass hierzu noch keine Befunde vorliegen, ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass dieser Zusammenhalt gemessen werden muss, bestenfalls über eine Befragung. Über Aggregation der individuellen Ein­ schätzungen lässt sich dann der Zusammenhalt einer Anstalt bestimmen, was eine recht aufwendige Operationalisierung ist, zugleich aber den Kern der Desorganisationstheorie abbildet. Die Desorganisationstheorie geht davon aus, dass die Homogenität einer Personengruppe (u. a. hinsichtlich der ethnischen Herkunft), ihre zeitliche Stabilität (geringer Austausch der Mitglieder) und der gegenseitige Zusam­ menhalt eine soziale Gemeinschaft erzeugt, die Kriminalität vorzubeugen 6  U. a.

Lahm (2008).

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hilft. Aus der Perspektive der Subkulturtheorie7 können an dieser Sichtwei­ se Zweifel geäußert werden, da diese Eigenschaften auch charakteristisch für delinquente Gruppen, Cliquen oder Gangs sind. Der entscheidende Un­ terschied besteht darin, welchen Normen gefolgt wird: Den konventionellen Normen der Mehrheitsgesellschaft oder den subkulturellen, Delinquenz be­ fürwortenden Normen. Die Abwesenheit von Desorganisation ist daher nicht gleichzusetzen mit der Gegenwart einer abweichendes Verhalten unterbin­ denden Organisation. Auch die Studie von Anderson (1999) zum „code of the street“ unterstreicht, dass die subkulturelle Wertschätzung des Gewalt­ einsatzes individuelles Gewaltverhalten wahrscheinlicher macht. Aus subkultureller Sicht kann daher angenommen werden, dass in Ge­ fängnissen, in denen einen Subkultur der Gewalt vorherrscht, häufiger Ge­ walt von den Inhaftierten ausgeübt wird (Hypothese 2). Darüber, wie sich eine solche Subkultur gefängnisbezogen operationalisieren lässt, gibt es je­ doch noch keine Vorschläge. Zu vermuten ist, dass in einem Gefängnis, in dem viele, individuell Gewalt befürwortende Inhaftierte untergebracht sind, eine Gewalt-Subkultur verbreiteter ist. Daneben ist anzunehmen, dass eine solche Kultur in Haftanstalten verbreiteter ist, in denen verstärkt Drogen konsumiert werden. Um den Drogenkonsum aufrecht zu erhalten, muss der Drogenhandel und -verkauf organisiert werden. Dabei wird auf Einschüch­ terungen, Bedrohungen, Erpressungen und letztlich den Einsatz körperlicher Gewalt zurückgegriffen, wodurch eine gewalttätige Subkultur entsteht bzw. aufrecht erhalten wird. Dass Gewalt befürwortende Einstellungen sowie der Drogenkonsum mit Gewaltverhalten im Strafvollzug in Beziehung stehen, belegt u. a. die Studie von Ernst (2008). Ein weiterer Indikator der Existenz einer Gewalt-Subkultur im Gefängnis dürfte zudem die Anzeigebreitschaft darstellen. Baier und Bergmann (2013, S. 79) berichten, dass etwas mehr als die Hälfte der Inhaftierten, die physi­ sche Gewalt im Strafvollzug erlebt haben, jemandem von der Tat erzählt haben. Wenn dies nicht getan wird, dann im Wesentlichen aus drei Gründen: man will nicht als Verräter gelten, im Gefängnis tut man dies nicht, man hat Angst vor weiteren Übergriffen. Je häufiger nicht angezeigt wird, umso eher kann von der Existenz einer subkulturellen Wertschätzung von Gewalt aus­ gegangen werden. Zusammengefasst bedeutet dies, dass mit steigendem Anteil an Drogenkonsumenten in einer Anstalt, mit steigendem Anteil an Personen mit gewaltbefürwortenden Einstellungen sowie mit sinkender An­ zeigequote häufiger Gewalt in Justizvollzugsanstalten gezeigt werden sollte (Hypothesen 2a bis 2c).

7  U. a.

Cohen (1955).



Justizvollzugsanstalten und Gewaltverhalten der Gefangenen477

II. Die Stichprobe Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat in den Jahren 2011 und 2012 in 48 Strafvollzugsanstalten in fünf Bundesländern in ver­ gleichbarer Weise Fragebogenerhebungen durchgeführt. Bei den Bundes­ ländern handelt es sich um Brandenburg (Erhebungszeitpunkt: Januar / Feb­ ruar 2012), Bremen (März 2011), Niedersachsen (April / Mai 2011), Sach­ sen (April bis Juni 2012) und Thüringen (April / Mai 2012). Zum Zeitpunkt der Befragung waren 11.884 Personen in den Anstalten inhaftiert, von denen 5.983 teilgenommen haben (Rücklaufquote: 50,3 %). Nicht in allen Bundesländern wurden Erhebungen im Männer- und Frauenvollzug durch­ geführt; zudem wurde nicht in allen Bundesländern der Jugendlichen- / Jung­ tätervollzug einbezogen. Die nachfolgenden Auswertungen beziehen sich daher auf männliche Personen im Erwachsenenvollzug. Allerdings liegen nicht zu allen Befragten Angaben zum Gewaltverhalten vor. In die Aus­ wertungen gehen letztlich Daten von 3.976 Befragten aus 38 Anstalten ein. Der Großteil dieser Befragten hat den Fragebogen im eigenen Haftraum ausgefüllt, bei etwa einem Fünftel fand die Befragung im Gemeinschafts­ raum statt. Der eingesetzte Fragebogen hatte eine Länge von 15 Seiten. Er lag in insgesamt 18 Sprachen vor, um auch jene Migranten zu erreichen, deren Deutschkenntnisse nicht für eine Befragung in deutscher Sprache ausreichten. III. Messinstrumente Die zu erklärende Variable der vorliegenden Untersuchung ist das Ge­ waltverhalten. Dieses wurde mittels folgender vier Items erfasst, die die Befragten mit Blick auf die zurückliegenden vier Wochen einschätzen soll­ ten: „Ich habe Mitgefangene mit Absicht gestoßen“, „Ich habe Mitgefange­ ne mit der Hand / Faust geschlagen bzw. getreten“, „Ich habe Mitgefangene gequält / gefoltert“ und „Ich habe Mitgefangene mit einem Gegenstand ge­ schlagen“. Als Antwortkategorien standen „nie“, „selten“, „manchmal“ und „häufig“ zur Verfügung. Da insbesondere die Kategorie „häufig“ nur sehr selten benutzt wurde, die Antwortverteilung also sehr rechtsschief ist, wird nur zwischen Gefangenen unterschieden, die mindestens eine der Taten mindestens selten ausgeführt haben und Gefangenen, die keine physische Gewalt ausgeübt haben. Aus Tabelle 1 geht hervor, dass 10,6 % der Insassen Gewalttäter sind. Etwas mehr als ein Viertel der Befragten hat einen Migrationshintergrund. Um diesen zu bestimmen, wurden die Angaben der Befragten zur Herkunft

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der leiblichen Mutter bzw. des leiblichen Vaters („Aus welchen Land stam­ men …“) sowie zur eigenen Staatsangehörigkeit herangezogen. Als deutsch gelten jene Befragte, deren Eltern beide eine deutsche Herkunft haben und die selbst eine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Sobald eine nichtdeut­ sche Herkunft  /  Staatsangehörigkeit berichtet wurde, gilt ein Befragter als Migrant, wobei bei widersprechenden Angaben die Herkunft der Mutter gezählt wurde. Die größte Migrantengruppe stellen die Befragten aus Län­ dern der ehemaligen Sowjetunion dar, die zweitgrößte Gruppe die polni­ schen Inhaftierten (drittgrößte Gruppe: türkische Befragte). Ein nicht unwe­ sentlicher Anteil an Befragten hat keine Angabe zur Herkunft gemacht (6,6 %). Dies gilt auch für alle anderen Untersuchungsvariablen. Würden die Auswertungen nur auf jene Befragten mit komplett vollständigen Angaben eingeschränkt, würde die Fallzahl deutlich sinken, weshalb die Fälle mit fehlenden Werten in die Analysen einbezogen werden (s. u.). Befragte, die eine höchstens zweijährige Haftstrafe verbüßen (erfragt über „Wie hoch ist Ihre Freiheitsstrafe?“), werden als Inhaftierte mit kurzer Haft­ strafe eingestuft. Mit dieser Variable wird die Gefangenenfluktuation auf An­ staltsebene abgebildet; andere Variablen stehen zur Operationalisierung der Fluktuation nicht zur Verfügung. Die Länge der Haftstrafe war allerdings nur für Befragte im geschlossenen bzw. offenen Vollzug zu berichten. Bei Be­ fragten in Zivil-, Ordnungs-, Abschiebe- oder Untersuchungshaft wurde auf die Abfrage verzichtet; für die Analysen wurden die Gefangenen in diesen Haftarten ebenfalls als Inhaftierte mit kurzer Haftstrafe klassi­fiziert. Fast die Hälfte der Gefangenen verbüßen letztlich eine kurze Haftstrafe (49,3 %). Um den sozialen Zusammenhalt im Gefängnis zu messen, kamen zwei Skalen zum Einsatz.8 Das Verhältnis zwischen Insassen und Bediensteten wurde über sechs Items wie „Ich fühle mich durch die Bediensteten respekt­ voll behandelt“ oder „Die Beziehungen zwischen Bediensteten und Inhaf­ tierten sind gut“ erfasst (Cronbachs Alpha = .87). Das Verhältnis der Insas­ sen untereinander wurde mit drei Items wie „Hier kümmern sich die Inhaf­ tierten umeinander“ oder „Unter den Inhaftierten geht es relativ friedlich zu“ gemessen (Cronbachs Alpha = .72). Da das soziale Miteinander im Gefängnis sowohl von den Bediensteten als auch den Inhaftierten abhängt, erschien es gerechtfertigt, beide Dimensionen zur Abbildung des Zusam­ menhalts heranzuziehen. Den Items konnte von „1 – trifft überhaupt nicht zu“ bis „4 – trifft voll und ganz zu“ zugestimmt werden; die Skalen korre­ lieren zu r = .39 (p