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German Pages 378 [380] Year 2013
Adolfo Ceretti / Lorenzo Natali Kosmologien der Gewalt
Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik Band 25
Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen) in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Otto Backes (Universität Bielefeld) Prof. Dr. Britta Bannenberg (Justus-Liebig-Universität Gießen) Prof. Dr. Klaus Bernsmann (Ruhr-Universität Bochum) Prof. Dr. Friedrich Dencker (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Regina Harzer (Universität Bielefeld) Prof. Dr. Michael Heghmanns (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Tatjana Hörnle (Humboldt-Universität zu Berlin) Prof. Dr. Franz Salditt (FernUniversität in Hagen) Prof. Dr. Wolfgang Schild (Universität Bielefeld), Prof. Dr. Ulrich Stein (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Eberhard Struensee (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Jürgen Welp (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Gereon Wolters (Ruhr-Universität Bochum) Prof. Dr. Gabriele Zwiehoff (FernUniversität in Hagen)
Band 25 Redaktion: Katharina Kühne
De Gruyter
Adolfo Ceretti / Lorenzo Natali
Kosmologien der Gewalt Kriminologische Pfade Aus dem Italienischen von Karla Hahndorf
De Gruyter
Prof. Dr. Adolfo Ceretti ist Professor für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Universität Mailand-Bicocca. Dr. iur. Lorenzo Natali erwarb den Doktortitel in Strafrecht und Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Universität Mailand-Bicocca.
ISBN 978-3-11-026006-9 e-ISBN 978-3-11-026009-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi-bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt VORWORT .......................................................................................................VII ERSTES KAPITEL Symbolischer Interaktionismus......................................................................... 1 ZWEITES KAPITEL Radikaler Interaktionismus ............................................................................. 35 DRITTES KAPITEL Gewalttaten und Gewalttäter........................................................................... 91 VIERTES KAPITEL Die Erschaffung gefährlicher Gewaltverbrecher........................................... 157 FÜNFTES KAPITEL Normenkonflikt, Segregation, kleine physische Gemeinschaften und Körper im Kampf um die Vorherrschaft ....................................................... 201 SECHSTES KAPITEL Subjekte der Gewalt ...................................................................................... 225 SIEBENTES KAPITEL Kosmologie und Gewalt................................................................................ 257 ACHTES KAPITEL Gewisse Distanzen. Folgerungen .................................................................. 321 NEUNTES KAPITEL Auf dem Wege zu neuen Prämissen. Eine erkenntnistheoretische Nachbemerkung ............................................... 331 ANHANG BIBLIOGRAPHIE.............................................................................................. 343 FILMOGRAPHIE .............................................................................................. 365
Vorwort Was verbindet die sublimen Gedanken Gelehrter vom Kaliber eines George Herbert Mead, eines Herbert Blumer oder eines Eugene Minkowski mit den gewalttätigen, grausamen Taten und den rohen Worten, mit denen deren Täter davon berichten? Unser Buch möchte im Wesentlichen Raum für eine mögliche Antwort auf diese „extreme“ Frage bieten. Also auf die Frage nach der „Gewalt“. Kein Kriminologe kommt im Laufe seiner Karriere an der Analyse der vielen Facetten dieses so verstörenden Themas vorbei, so dass es auch bei Psychiatern, Psychoanalytikern, Psychologen, Gehirnforschern, Juristen, Soziologen, Philosophen, Anthropologen und Theologen im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Allgemein lässt sich sagen: Befassen wir uns mit einer dieser spezifischen Disziplinen, so werden wir unvermeidlich auf eine Frage stoßen, die überall genauso aufzutauchen scheint: „Woher kommt gewalttätiges Handeln?“ Oder: „Woher kommt das Böse?“ Da sich unser Werk ausschließlich auf individuelle Gewalttaten bezieht – nicht auf kollektive – werden wir versuchen, „neue Sichtweisen“ zu schaffen, um sie zu erforschen. Ermöglicht werden diese „Sichtweisen“ durch die ursprünglichen Intuitionen des US-amerikanschen Kriminologen Lonnie Athens – ein Vertreter jener Strömung, die sich „symbolischer Interaktionismus“ nennt.
Gebrauchsanleitung 1.
Das Ziel des Werks wird im ersten Kapitel beschrieben. Hier beschränken wir uns auf die Einsicht, dass der Weg, den wir einschlagen, sich in Richtung einer Definition „gewalttätiger Kosmologien“ bewegt, eines – später zu erläuternden – „sensibilisierenden Begriffs“, den wir unterbreiten, um „Gewalt“ zu „verstehen“ und etwas über sie „aussagen“ zu können.
2.
Das achte Kapitel behandelt Themen (insbesondere das des „Bösen“), die für sich alleine schon Stoff für zahllose Abhandlungen bieten würden. Wir sind uns dessen bewusst. Sehr zurückhaltend haben wir versucht aus
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Vorwort einer unendlich langen Bibliografie ein paar Abschnitte zu extrapolieren, die mit unseren finalen Beobachtungen im Zusammenhang stehen.
3.
Das Buch besitzt eine theoretische Struktur auf vielen Ebenen, welche zusammenlaufen und sich – ab dem zweiten Kapitel – in den „Erzählungen“ der Täter über ihre Gewaltakte im Rahmen der „Tiefen“-Interviews konzentrieren.
4.
Die „erzählenden Interviews“, die von Athens gesammelt wurden, folgen einer Nummerierung, die der originalen in seinen Werken entspricht.
5.
Die von uns direkt geführten Interviews, um die Untersuchungsmethode des US-amerikanischen Kriminologen zu testen und um den Begriff der „gewalttätigen Kosmologie“ zu umreißen, werden hingegen durch alphabetische Bezeichnungen (von A bis G) gekennzeichnet. Die sieben Interviews, die eine durchschnittliche Länge von jeweils vier Stunden haben, wurden alle von der Strafvollzugsanstalt Milano-Opera geleitet und sind vollständig aufgenommen, transkribiert und wortgetreu wiedergegeben worden. Alle Personen, die von uns interviewt wurden, sind rechtskräftig für sehr schwere Straftaten verurteilt worden (Mord und sexuelle Gewalt), für die sie bereits im Laufe des Strafprozesses die Verantwortung übernommen haben. Wir haben uns entschieden, die Fakten und die juristischen Ereignisse, die sie betreffen, vorher nicht zu kennen. Für uns war es v.a. wichtig, die „persönliche und relationale Wahrheit“ ans Licht zu bringen, die jeder Erzähler durch seine Erzählung durchschimmern ließ. Die einzige vorangegangene Festlegung betraf die Frage der „Schuldfähigkeit“. Wir haben uns vergewissert, dass alle Personen, die wir angehört haben, zum Tatzeitpunkt als „fähig, zu verstehen und zu wollen“ begutachtet und beurteilt wurden.
6.
Bei der Moderation unserer Begegnungen bestand eines unserer Ziele darin, die „innere Vorstellung“ der Dynamiken der Gewalt, die ihnen im Gefängnis begegnet ist, einfließen zu lassen. Um diesen Effekt zu erzielen, war es wichtig, ihnen andere Gesprächsthemen anzubieten, die nicht direkt an eine normabweichende Tat gebunden, doch sehr bedeutsam für das Innere ihrer „Kosmologie“ waren: Freundschaft, Liebe, sexuelle Identität, Sexualität. Das (fast immer problematische) Verhältnis zu den Eltern, zu ihren Zugehörigkeitsgruppen, zu ihren Mittätern, aber auch zu ihrem eigenen Körper, zu Drogen, und schließlich auch zu ihrer Vorstellung von der Zukunft. Den Interviewten – alle männlich, da es Schwierigkeiten bei der Einwilligung der Frauen zu diesen Treffen gab – haben wir versprochen, ihre Geschichte anonym zu halten. Auch aus diesem
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Grund, immer dem Ansatz Athens’ folgend, haben wir in den Erzählfluss verschiedene „Szenen“ hineingeschnitten – in dem Wissen, dass eine „Montage“ immer eine Art der Interpretation ist, die sich an einer Theorie orientiert. Diese „Szenen“ haben wir bereits in den zweiten Teil des Buches, der dem theoretischen Ansatz von Athens gewidmet ist, eingefügt. Sie haben – wie schon erwähnt – dazu beigetragen seine Grundhypothesen zu bestätigen und unsere eigenen zu entwickeln (Kap. 7 und 9). 7.
Der mit „Z“ bezeichnete Fall bezieht sich auf die Transkription eines Experteninterviews, an dem einer von uns vor einigen Jahren teilgenommen hat.
8.
Die Personen, mit denen wir gearbeitet haben, verbringen alle ihre Zeit im Gefängnis und werden von Psychologen, Psychiatern und Kriminologen unterstützt. Sie sind von dem Team „Begutachtung und Behandlung“ der Strafvollzugsanstalt Milano-Opera im Hinblick auf die Relevanz ausgewählt worden, die der Verlauf ihres „gewalttätigen Lebens“ für die Ökonomie unserer Untersuchung hat, nicht bereits in Bezug auf die Repräsentativität eines hypothetischen „Musters“. Diesen Prämissen entsprechend haben wir eine breite Studie zu einer sehr geringen Anzahl von Fällen ausgeführt und somit eine „intensive“ einer „extensiven“ Untersuchung vorgezogen.
9.
Wir haben es für sachdienlich gehalten, diese „Erzählungen von Gewalttaten“ mit Dialogausschnitten von Gestalten einiger bekannter Filme zu unterstützen. Es handelt sich dabei nicht unbedingt um unbestrittene Meisterwerke des Kinos, sondern um Filme, die, in einem „interaktionistischen“ Licht betrachtet, das sich durch den gesamten Prozess zieht, diese „Matrix“ der „Gewalt“ verdeutlichen, die wir untersuchen wollen.
10. Um also den Sinn und die Bedeutung unseres Ansatzes ganz erfassen zu können, laden wir den Leser ein, sich frei zwischen den verschiedenen Dimensionen des Erzählens zu bewegen und sich, wenn er es nicht bereits getan hat, mit den Filmen zu befassen, die in der Filmografie aufgeführt sind. Er wird die Dialoge vollständig im Text vorfinden, wie sie aus den Filmen transkribiert wurden – nicht, wie sie eventuell in den publizierten Drehbüchern stehen (für alle gilt das Beispiel Pulp Fiction). 11. Es ist nicht erstaunlich, dass sehr häufig die Wortwahl der Dialoge der Kinofilme und der Interviews – sowohl in denen von Athens als auch in den unsrigen – skurril, schlüpfrig und obszön ist, ganz anders als der gehobene Stil der theoretischen Gerüste, die beanspruchen, das Gesagte zu „erklären“. Doch vielleicht entdecken wir gerade in der Glaubwürdigkeit
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Vorwort dieser Kombination, wie angedeutet, einen Teil der „extremen“ Wette dieser Abhandlung. Im Übrigen gehören die wiedergegebenen Worte getreu zu der „Kosmologie“ der „Personen“ und „Gestalten“, die zu Wort kommen und in den folgenden Seiten Gestalt annehmen werden.
12. Wir haben eine zusätzliche darstellerische und stilistische Entscheidung getroffen, die den ungewöhnlichen Gebrauch der „Anführungszeichen“ und Kursive betrifft. Diese Entscheidung dient einem konkreten Zweck: dem Leser zu helfen in itinere die Schlüsselbegriffe zu erkennen, die verwendet werden den theoretischen Weg, der uns in den „Kosmos“ der „Gewalt“ und seiner „Akteure“ führt. Außerdem haben wir sowohl in unseren Interviews, als auch den ausgewählten Filmdialogen, alle Anhaltspunkte und Spuren kursiv hervorgehoben, die allmählich die „kosmologische Perspektive“ enthüllen. 13. Eine letzte Vorbemerkung muss noch gemacht werden, bevor wir uns dem Text zuwenden. Die Begegnung mit dem dunkelsten und schlechtesten Aspekten des Menschen, die sich in strafrechtlich relevanten Taten manifestieren können, zwingt uns immer zu der Frage, welche Mittel des „Rechts“ in der Lage sind mit Schlagkraft und Effektivität auf eine böse Tat zu reagieren. Die „Experten“ (Juristen, Kriminologen, forensische Psychiater) sind an dieser Stelle gefragt, seit Jahren bestehende Fragen zu beantworten, die sich auf folgende Probleme beziehen: „Prävention“ (General- und Spezialprävention), „Fähigkeit, zu verstehen und zu wollen“, „Schuldfähigkeit“, „Strafzumessung“, „Rolle der Haftanstalt und der forensischen Psychiatrie“, „Unschädlichmachung und Rehabilitation des Verbrechers“, „Gemeingefährlichkeit“, „Rückfall“, „Kriminalitätsrate“, „Soziale und strafrechtliche Kontrolle“, „Angst und Sicherheit der Bevölkerung“, „Schutz der Opfer“, „Täter-Opfer-Ausgleich“ (ein Thema, mit dem sich einer von uns, Adolfo Ceretti, in den letzten zehn Jahren intensiv auseinandergesetzt hat) und viele weitere Fragen. All diese unumgänglichen Fragen, die mit dem „Objekt“ unserer Analyse eng verbunden sind, werden nicht direkt auf den Seiten dieses Buches untersucht, denn die Arbeit, die für uns Autoren bereits sehr groß war, wäre ansonsten nicht zu bewältigen gewesen. 14. Besonders das Thema der „Schuldfähigkeit“ kann und darf nicht mit dem Erscheinungsbild der zahlreichen Dynamiken, die zu einer „Kosmologie der Gewalt“ führen, verwechselt werden. Wie wir noch sehen werden, überlappt und überschneidet das Problem der Bedeutung von „Geisteskrankheiten“ und „Persönlichkeitsstörungen“ für die „Fähigkeit, zu verstehen und zu wollen“ sich nicht mit – hier an erster Stelle gesetzt – der
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Beschreibung, wie ein „Gewalttäter“ die Klassen erschafft, die seine „Phantom-Gemeinschaft“ bevölkern, indem er mit seiner „sozialen Welt“ interagiert (Kap. 2, 3, 4, 7).
Danksagungen und Widmungen Wir möchten ohne große Worte und mit viel Anerkennung einigen lieben Freunden danken, die auf einen Impuls von uns das gefunden haben, über das wir geschrieben haben. Ungeachtet unserer eigenen Verantwortung für jeden Gedanken, der sich auf diesen Seiten niedergeschlagen hat, gilt der erste Dank Alfredo Verde, der uns mit unvergleichlicher Kompetenz Ratschläge erteilt und in jedem Kapitel des Buches Korrekturen vorgeschlagen hat. Der Scharfsinn von Paolo Barone hat uns einige wertvolle Anregungen gegeben, v.a. im Kapitel Kosmologie und Gewalt. Roberto Cornelli hat uns geholfen, viele Inkongruenzen zu beseitigen und den „Aufbau des Textes“ auf einigen Seiten, darunter die komplexesten, neu zu organisieren. Ein Dank gilt auch der Übersetzerin Karla Hahndorf. Wir sind Professor Thomas Vormbaum besonders dankbar, weil er diese Übersetzung ermöglicht hat. Um in der Haftanstalt die „ausführlichen Interviews“ auszuführen – und sie aufzuzeichnen und zu transkribieren – waren zuerst Genehmigungen erforderlich. Ohne diese wäre es unmöglich gewesen, eine empirische Basis für unsere Forschung zu finden. Aus diesem Grund sprechen wir auch hier ohne große Worte ein herzliches Dankeschön an Dottor Sebastiano Ardita, Generaldirektor für die Behandlung von Gefangenen in der Abteilung der Strafvollzugskommission, an Dottor Luigi Pagano, Leiter der Abteilung der Strafvollzugskommission der Lombardei, an Dottor Giacinto Siciliano, Gefängnisdirektor der Strafvollzugsanstalt Milano-Opera, sowie an das gesamte Team „Begutachtung und Behandlung“, die einige Gefangene kontaktiert und sie dazu motiviert haben, mit uns die langen Interviews durchzuführen. Ein herzlicher Dank geht auch an die Beamten und Assistenten der Gefängnispolizei und an den Verantwortlichen Inspektor der Abteilung Räumlichkeiten der Strafvollzugsanstalt MilanoOpera, die uns jedes Mal mit viel Sympathie entgegengekommen sind, als es darum ging organisatorische Dinge zu klären, von denen nur diejenigen, die mit dem Gefängnisabläufen vertraut sind, wissen, wie komplex sie sind.
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Ein besonderer Dank gilt den sieben Personen, die eingewilligt haben, mit uns über ihre grausamen Taten, ihren bestürzenden Gemütsverfassungen und den „Selbstgesprächen“, die sie in diesen dramatischen Augenblicken begleitet haben, zu sprechen. Die Gespräche haben selbstverständlich außerhalb jedes Auftrags von Seiten der „Justiz“ und in einem Umfeld größtmöglicher gegenseitiger Offenheit stattgefunden. Auch aus diesem Grund haben sie sich – nicht nur für die Befragten – als besonders intensiv und emotional belastend erwiesen. Jeder Person wurde natürlich die (nur in einem Fall, fast am Schluss des Interviews, in Anspruch genommene) Möglichkeit eingeräumt, die Einwilligung zum Gespräch rückgängig zu machen, wenn die Erinnerungen und Schmerzen unerträglich wurden. Ein beträchtlicher Teil des Buches ist im wunderschönen Haus von Stefano Stangoni in Assisi sowie in Macugnaga am Fuß des Monte Rosa entstanden, wo wir für ein paar Wochen im Sommer 2007 bei Angela Ceretti Pestalozza gewohnt haben, die unsere Gedanken während der Pausen mit wundervoller Musik begleitet hat. A.C. und L.N.
Erstes Kapitel Symbolischer Interaktionismus Als erstes ist zu bedenken, dass eine Person kein Individuum im wahren Sinne des Wortes ist. Ihre Gedanken sind das, was sie „zu sich selbst sagt“, oder was sie ihrem anderen Selbst sagt, das mit dem Verlauf der Zeit entsteht. Wenn man nachdenkt, so ist es das zweite kritische Selbst, das man zu überzeugen versucht; und so ist jeder beliebige Gedanke ein Zeichen, das seinen Ursprung vor allem in der Sprache hat. Als zweites ist zu bedenken, dass das soziale Umfeld des Menschen (egal wie eng oder weit man den Begriff fasst) auch eine Art Person ist, obgleich nicht kompakt, die unter gewissen Aspekten einen höhere Rang einnimmt, als eine Person mit einem eigenen Organismus. Charles Peirce
Italo Calvino schreibt in der Einführung zu seinem Roman Die unsichtbaren Städte, dass „ein Buch […] etwas ist, das einen Anfang und ein Ende hat […], es ist ein Raum, in den der Leser eintreten, in dem er umherwandeln und sich vielleicht auch verlaufen muss, doch ab einem gewissen Punkt muss er einen Ausgang finden, oder sogar mehrere Ausgänge, die Möglichkeit sich einen Weg zu bahnen, um nach außen zu gelangen“ (Calvino, 1995). Doch um Wege zu begehen, Meere zu befahren und Ziele zu erreichen (nachdem man sich verirrt hat?), war es seit der Antike schon immer wichtig, sich geeigneter Instrumente zu bedienen, um sich am „Firmament“ zu orientieren. Epistemologisch ist das „Astrolabium“ genau das Instrument, das die Menschen der Antike entwickelt haben, um „nach den Sternen zu greifen“, um einen Expertenblick auf sie zu werfen und ihre Himmelswinkel zu bemessen. Was wir benötigen, ist eine Art Astrolabium, um uns auf unserem Weg in das Innere des „bekannten Horizonts“ zu orientieren, in dem das „Phänomen der Gewalt“ erforscht werden kann. Neben dem „Horizont“, den wir rekonstruieren werden, wird sich noch ein weiterer eröffnen, der noch im Dunkeln verborgen liegt, so wie das Bild, das wir in Kürze unterbreiten werden: von dem neuen Beobachtungspunkt aus, wird es möglich sein, einige Entwürfe des Firmamentes, das wir hinter uns lassen werden, zu überdenken.
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Epistemologische Vorbemerkung „Gut“ und „Böse“ werden immer dann zum Thema, wenn sie mit „Gewalt“ in Verbindung gebracht werden. Es reichen diese wenigen klaren Worte, um die Weite des Raums anzudeuten, den unser Verstand ergründen kann, wenn dieses Stichwort fällt. Vielleicht können wir sofort etwas apodiktisch – und sehr provokativ – an diese unsere Behauptung eine Frage anschließen: Warum „Gewalt“? Diese Frage bezieht sich, mehr oder weniger (un)bewusst, auf das „Handeln“ anderer in Bezug auf uns. Beim Versuch, diese unausweichliche Frage zu beantworten, wollen wir nicht in der Weise vorgehen, dass wir als Axiome eine oder mehrere Definitionen von „Gewalt“ und „Gewalttätern“ aufstellen und von diesen – wie es oft geschieht – unser Vorgehen „logisch“ ableiten. Diese „Definitionen“ werden vielmehr als „stets fehlbare“ Ziele und Ausgangspunkte in einem unaufhörlichen Prozess der Konstruktion ihrer wissenschaftlichen, politischen, juristischen, sozialen und individuellen / persönlichen Bedeutung verstanden. Um in diesem Sinne fortzufahren, ist – von jetzt an – ein regelrechter Akt der Verführung (etymologisch: ver-führen, vom Weg abbringen) notwendig, um den Leser von seinem gewohnten Horizont abzubringen. Die Auseinandersetzung mit der Gewalt erfordert nämlich eine „Innenansicht“ der phänomenalen Realität und desjenigen, der sie in die Tat umsetzt, wodurch ein Zugang zu der üblichen Wahrnehmung des alltäglichen Lebens erzwungen wird. Die „Sicht“ ihrerseits verweist nicht auf einen körperlichen Zustand, sondern auf eine Erfahrung, die auch eine Erfahrung des Sehens ist. Was wir zu erörtern beginnen, sind also „Sichten“.... Wir erteilen das Wort Alfredo Verde und Kollegen: Am Anfang war die Finsternis. Die Nacht erfüllte die Welt. Dieser Anfang, eindrucksvoll und metaphorisch, möchte – durch die Verwendung einer Metapher (Finsternis und Nacht dem Licht des Tages gegenübergestellt), die nicht von uns stammt, sondern zumindest auf das Johannesevangelium zurückgeht – einen Eindruck von der Dimension geben, der sich das Verbrechen – insbesondere das Gewaltverbrechen – auf dramatische Weise mit der Macht eines Traumas nähert. Die Ordnung, der Tag, das Licht werden umgestürzt, und der Verbrecher wirft einen Schatten auf das Sozialwesen. Die Finsternis evoziert eine Welt der Kindheitsängste... Die Gesellschaft, auf kollektiver Ebene ein imaginäres Konstrukt und die geordnete Welt der Fantasie über die Realität sind die Kuscheldecke des Linus, die das schreckliche Reale verhüllt und verbirgt. […] Das soziale Leben mit seinem ruhigen Schnurren verhüllt die Finsternis. Doch manchmal bricht der Schleier auf, der Teppich bekommt eine Laufmasche – das Verbrechen (Verde et al., 2006, S. 1).
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Das Auftreten des Verbrechens geht einher mit der Ambivalenz dieses wunderlichen Phänomens… aus der Sicht des schlichten Bürgers, der [im Kriminellen]… eine Art Privilegierten sieht…, der es gewagt hat sich den Gesetzen entgegenzustellen. […]. Nicht der Neid… ein Verbrechen begangen zu haben, sondern der Neid, gewagt zu haben, es zu begehen und sich über das Gesetz zu stellen. Außerdem ist da die Angst – die Angst, derentwegen wir es nicht gern sehen, wenn in unserer Gegenwart einem bissigen Hund der Maulkorb abgenommen wird oder eine Angst, derentwegen uns die Raubtiere hinter den Gittern interessieren (De Greeff, 1949, S. 14).
Doch mit welchen Augen können wir die „Gewalttaten“ und die Täter betrachten, ohne dabei blind zu werden? Noch einmal: mit welchem Blick, mit welchen Gefühlstönungen und mit welchen inneren verbalen Ausdrücken spricht der Gewalttäter vor, während und nach seiner Tat zu sich selbst? Sind dies einige der entscheidenden Fragen in Bezug auf das Szenario, welches wir zu entwerfen beginnen, so sei uns noch erlaubt, mit einem Bild die Weite des Gebiets zu illustrieren, das zu verstehen wir aufgerufen sind. Konzentrieren wir uns auf die Darstellung des Kosmos, ohne sie in ihren Zusammenhang zu stellen oder sie historisch und künstlerisch zu kommentieren.1 Versuchen wir stattdessen – anhand einer ganz persönlichen Interpretation – uns „in die Haut“ der menschlichen Figur hineinzuversetzen, die sich mit ungeheurer Anstrengung über den „natürlichen“ Horizont hinausstreckt, in den sie eingebettet ist und mit diesem Tatendrang einen neuen Blick eröffnet, der die „Firmamente“ überschreitet, um noch unbekannte „Konstellationen“ zu beobachten und zu verstehen. Die Thematik der Unterscheidung zwischen „Offensichtlichkeit des erworbenen Wissens“ und einem Wissen, das es noch zu ergründen gibt, verweist direkt auf den Begriff „Horizont“ von Gadamer: Alle endliche Gegenwart hat ihre Schranken. Wir bestimmen den Begriff der Situation eben dadurch, daß sie einen Standort darstellt, der die Möglichkeiten des Sehens beschränkt. Zum Begriff der Situation gehört daher wesenhaft der Begriff des Horizontes. Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist (Gadamer, 1960, S. 286).
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Es handelt sich um einen mittelalterlichen Holzschnitt eines unbekannten Künstlers, welcher sich in dem bekannten Band L’atmosphère: météorologie populaire, von Camille Flammarion (1888) befindet. Von dem Werk ist eine Version in Farbe von Hugo Heikenwaelder, Wien 1998, angefertigt worden, die hier wiedergegeben wird.
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Mauro Ceruti, betont in seinem Kommentar zu diesen Ausführungen, dass das Ende und die Grenzen jedes Horizonts die Bedingungen der Existenzmöglichkeit abweichender Gesichtspunkte darstellen (Ceruti, 1986, S. 102). Um zu unserem Bild zurückzukehren: Das Verlassen eines „Horizonts“ ermöglicht es dem Menschen, in ein Anderswo einzutreten, das seinerseits wieder neue Horizonte eröffnet. Doch ehe man sich aus einem „bekannten Horizont“ hinausstreckt, muss man diesen erst einmal erkundet haben. Von Anfang an muss vermieden werden, dass man in die Falle einer zu einfältig linearen Deutung des wissenschaftlichen Fortschritts tappt – sowohl im sozialen als auch im nicht-sozialen Bereich. Unser Ansatz soll nicht im Vergleich zu früheren als „weiter entwickelt“ verstanden werden, was impliziert, dass wir heute „viel mehr als gestern“ über gesellschaftliche Prozesse, das Phänomen der Gewalt und die Seele der Täter, die Art ihn zu beobachten und zu verstehen, wissen... Aus diesem Blickwinkel wird das „Wachstum des Wissens“ von uns in gänzlich anderer Weise verstanden als derjenigen, die – in der von Karl Raimund Popper begründeten Tradition – wie in Charles Darwins Kampf ums Dasein nur jene Theorie siegen lassen will, die sich am besten überlebensfähig ist. In der Tat ist bekannt, dass die Humanwissenschaften seit ihrer Entstehung, häufig als Nachahmung der Naturwissenschaften verstanden wurden, indem sie sich dem Begreifen, der Beschreibung, der Analyse und der Definition gesellschaftlicher Phänomene eben mit dem Blick eines „Wissenschaftlers“ widmen, der nicht nach der „Wahrheit“ forscht, sondern nach den „exakten Thesen“ sucht – also solchen, die aus Prämissen gewonnen wurden, welche zuvor aufgestellt worden sind. „Gewalttätiges Handeln“ wissenschaftlich zu erklären, würde also bedeuten, einfach das Ergebnis, das eine Methode hervorgebracht hat, zu finden. „Die Methode der Sozialwissenschaften, wie auch die der Naturwissenschaften besteht in der Erprobung von Lösungsversuchen für ihre Probleme – die Probleme, von denen sie ausgeht. Lösungen werden vorgeschlagen und kritisiert“, schrieb Popper (1969, S. 107). Seit einigen Jahrzehnten wird jedoch von mehreren Seiten behauptet, dass vor allem die „Veränderungen der Sichtweise“ – und nicht die Resultate, die man durch die korrekte Anwendung einer Methode erhält – das Wachstum des Wissens befördern. Dem Forscher – verfolgt man diesen Gedanken weiter – öffnet sich ein „anderes“ Universum: Er nähert sich der Wirklichkeit „nicht als Tatsache“, sondern als „einem im Aufbau begriffenen Effekt“. Dies ist eine erkenntnistheoretische Perspektive, in der die „Objekte“ nicht räumlichzeitlich lokalisierbar sind, sondern als „theoretische Räume“, resultierend aus Konzeptualisierungs- und Objektivierungsprozessen, aufgefasst werden (Borutti,
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1991). Das „Objekt“ – in unserem Falle: die „Gewalt“ – wird von uns nicht als Tatsache gesehen, die ans Licht gebracht wurde, sondern als das, was immer und nur innerhalb eines Wissens- und Erlebnishorizonts „real“, „wahr“ und „objektiv“ ist. Die Denkrichtung, welche diese Art der Erkenntnis vertritt, empfiehlt, auf die Suche nach einem „Beobachtungsfeld“ zu gehen, von dem aus es möglich wäre „Veränderungen der Sicht“, „Wechsel der Vorstellungen“ über das Phänomen der Gewalt zu bewirken – und von Letzterem ausgehend ein Repertoire an noch wenig erforschten Hypothesen anzulegen. Die neuen Sichtweisen. „die Gewalt“ und „ihre Täter“ zu verstehen, repräsentieren für uns der theoretische Ansatz Lonnie Athens’ (erster Teil), sowie die „kosmologische“ Dimension des gewalttätigen Handelns (zweiter Teil). Am Ende unseres Weges werden wir uns mit diesen wichtigen Begriffen in der erkenntnistheoretischen Nachbemerkung intensiver befassen (Kapitel 9). Um die Lehren der „symbolischen Interaktionisten“ und Lonnie Athens’ zu nutzen, werden wir nun versuchen einen Blick auf dieses Anderswo zu werfen, welches die Horizonte der symbolischen Sphären öffnet, die vom „sozial Handelnden“ im Laufe seiner Erfahrungen in den „sozialen Welten“, die er bewohnt, geschaffen werden. Außerdem werden wir versuchen, seine „inneren Dialoge“ zu hören und die Bedeutung, die seine „significant others“ in dem Prozess der „Interpretation“ und „Beurteilung“ einnehmen, zu verstehen, wenn er sich, in einem bestimmten Kontext und in einem präzisen Augenblick, entscheidet, Gewalt anzuwenden, um ein „dramatisches“ Szenarium zu lösen.
Zum symbolischen Interaktionismus von George H. Mead und Herbert Blumer Der „symbolische Interaktionismus“ ist in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts während der langen Reihe von Vorlesungen, die George Herbert Mead am Philosophischen Institut der Universität von Chicago gehalten hat, entstanden und besitzt seine Wurzeln in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts. Schon bald öffnete sich sein ursprünglicher Bereich soziologischen und psychologischen Einflüssen, die der Bewegung einen interdisziplinären Charakter verleihen, indem Brücken geschlagen und Grenzen zwischen einzelnen Disziplinen verwischt wurden. Die Verbreitung des interaktionistischen Denkens geschieht in dieser ersten Phase ausschließlich mittels „mündlicher Überlieferung“ der Universität (Ciacci, S. 19): So hat Mead, Gründungsvater dieser Denkrichtung, zeit seines Lebens kein Buch veröffentlicht, und erst nach
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seinem Tod haben sich einige seiner Schüler dafür eingesetzt, dass seine Schriften publiziert wurden. Im Jahre 1931, dem Todesjahr Meads, wird sein Kurs an der Universität von Herbert Blumer fortgesetzt, dessen Werk das Denken Meads verbreitet, systematisiert, modifiziert und transformiert hat. Außerdem war es Blumer, der den Namen dieser Denkrichtung geprägt hat: „symbolischer Interaktionismus“. Um zu beginnen das interaktionistische Universum zu verstehen, laden wir dazu ein, sich in eine Perspektive hineinzudenken, in der die menschliche Natur und die gesellschaftliche Ordnung durch kommunikative Prozesse strukturiert sind. Das menschliche Verhalten wird nicht als Reaktion auf einen Reiz der Umwelt gesehen. Die Triebe, Instinkte, sinnlichen Wahrnehmungen und die Rolle der „Kultur“ werden zwar anerkannt, es bleibt jedoch die Tatsache, dass der Sinngehalt der einzelnen Handlungen sich aus dem gegenseitigen Geben und Nehmen voneinander abhängiger Subjekte ergibt, die sich aneinander anpassen. Darüber hinaus wird die „Persönlichkeit“ – hier als Gesamtheit der Verhaltensmuster, die jeden von uns charakterisieren – in ihrer ständigen Entwicklung und in der alltäglichen Bestätigung durch die Interaktion mit anderen Gesellschaftsmitgliedern begriffen, die faktisch alle Teil eines verwobenen Netz des Lebens (web of life) sind (Shibutani, 1961, S. 22 und S. 31). Darüber hinaus bedeutet „Interaktionismus“, in der Version von Blumer, dass die Menschen ihren Bezug zur Welt mit Hilfe von Bedeutungen herstellen, den diese für sie bereithält; die Bedeutungen entstehen ihrerseits durch soziale Interaktionen und werden durch Interpretationsprozesse generiert und modifiziert, die stattfinden, wenn jeder in Verbindung zu den Zeichen tritt, denen er begegnet.2 Haben sie sich einmal gebildet, so neigen sie dazu, sich selbst zu erhalten und ermöglichen es, die Welt als hinreichend stabil und selbstverständlich anzusehen, auch wenn ständig neue Ereignisse eintreten. Zu ergänzen ist sogleich, dass die Interaktion zwischen Personen auch auf einer nicht-symbolischen Ebene stattfinden kann, wenn der Gesprächsteilnehmer direkt, sofort, spontan und auf vorgegebene Weise auf den Stimulus oder
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Genauer formuliert: „Der symbolische Interaktionismus […] stützt sich auf drei einfache Prämissen. Die erste lautet, dass die Menschen gegenüber den Dingen auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, welche diese für die haben. […] Die zweite Prämisse lautet, dass ihre Bedeutung sich aus der sozialen Interaktion eines jeden mit seinen Mitmenschen ableitet bzw. aus ihr hervorgeht. Die dritte lautet, dass diese Bedeutungen in einem Interpretationsprozess behandelt und verändert werden, der von der Person angewandt wird, die mit den Dingen, denen sie begegnet, in Beziehung steht“ (Blumer, 1969a, S. 38).
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auf die Antwort des anderen ohne vorherige Reflexion antwortet.3 Dies ist eine gestenhafte Art der Konversation, in der jeder Organismus auf die Geste des anderen reagiert, ohne sich die Mühe zu machen den Standpunkt des anderen zu verstehen. In der symbolischen Interaktion interpretiert hingegen der Gesprächsteilnehmer den Stimulus sowie die Reaktion des anderen, nachdem er sie identifiziert hat, und hat die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Antwort. Das Muster Stimulus-Antwort wird zu: Stimulus-Interpretation-Antwort (Perrotta, 2005, S. 32).
Die Angelpunkte des interaktionistischen Denkens Um den Weg weiter zu verfolgen, den wir gerade einschlagen, kommen wir nicht umhin, uns einige Leitbegriffe, einige „Originalbilder“ vorzunehmen, die theoretischen Gerüst Meads und seiner Nachfolger zugrunde liegen, damit die Angelpunkte sichtbar werden, an denen die Reflexionen über die Gewalt sich orientieren. In aller Kürze: a)
Individuum und Gesellschaft: Individuum und Gesellschaft sind untrennbare Entitäten.
b) Self: Die Menschen sind Organismen, die mit einem eigenen Self ausgestattet sind, einem regelrechten „Regieraum“, der das individuelle Verhalten lenkt und nicht nur in Bezug auf Instinkte, Triebe, Bedürfnisse und gesellschaftliche Faktoren Gestalt annimmt, sondern auch zwischen diesen Kräften steht. Wie wir noch sehen werden, wird dem Self und der menschlichen Natur ein sozialer / relationaler Ursprung zugesprochen, während die Rolle, die die biologische Prägung beim Lernen, bei der sozialen Interaktion und in den Prozessen der Symbolisierung spielt, weder ausdrücklich zugelassen noch abgelehnt wird, anders als dies die klassische psychoanalytische Theorie behauptet, die den Ursprung des menschlichen Handelns in den „Trieben“ sieht 3
Die Untersuchung zur klassischen Konditionierung, die durch die Untersuchungen von Ivan Pavlov eingeführt und in den Laboren behavioristischer Forscher weiterentwickelt wurde, stellt die direkteste Anwendung des Reiz-Reaktions-Modells dar. Die Analyse drehte sich um feste Reaktionen auf neue Reize: nicht-konditionierte Reflexe wurden somit zu konditionierten. „In Bezug auf die klassische Konditionierung ist der wichtigste Punkt die Tatsache, dass sie nur auf nicht-symbolische Formen des Verhaltens anwendbar ist und vielleicht nicht einmal auf alle… und sicherlich kann sie nicht auf symbolisches Verhalten angewendet werden“ (Athens, 1993b, S. 182).
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– ein Grenzbegriff zwischen dem psychischen und dem somatischen, genetisch Gegebenen, doch der Modifizierung durch persönliche Erfahrungen zugänglich (Galimberti, 1992, S. 786–788).4 c)
Soziale Objekte: Die Realität, in der das Individuum tätig ist, ist eine symbolische Realität, bzw. eine Realität, die das Individuum selbst mit Sinn, durch die Erschaffung und das Erlernen von Bedeutung, im ständigen Prozess der sozialen Interaktion, ausstattet.5 Das Individuum schafft die „sozialen Objekte“ und schreibt ihnen Bedeutung zu, sodass diese auch zu Objekten des individuellen Handelns werden. Die Betonung der „Bedeutung“ bedeutet vor allem, dass Personen im Hinblick auf ihre „Projekte“ und „Ziele“ handeln und sich so auf ein „Objekt“ zubewegen – auch wenn man sich nicht immer bewusst ist, was man zu erreichen versucht.6 Folglich muss man sich den Bedeutungen zuwenden, will man menschliches Handeln untersuchen. Unter „sozialem Objekt“ versteht Mead jede „Sache“, auf die eine Person sich beziehen oder die sie auf sich selbst beziehen kann, sei dies eine physische Sache – wie ein Tisch – oder eine immaterielle – wie eine Einstellung oder ein Gefühl (Mead, 1969, S. 278–279). c.1. Etwas redundant ausgedrückt, können wir mit Joel Charon sagen, es sei: „jedes Objekt in einer Situation, das ein Handelnder in dieser Situation verwendet. Diese Verwendung ist eine Verwendung, die gesellschaftlich bedingt ist. Andere Objekte werden ignoriert“ (Charon, 1979, S. 39). Während sich die Handlung vollzieht, kann das Individuum ihn anders verwenden, kann neue Objekte zur Kenntnis nehmen und die eingangs verwendeten ignorieren. Der Handelnde wendet sich Objekten zu,
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Rodney Elliot und Bernard Meltzer (1981, S. 354 ff.) sind der Meinung, dass der Prozess der Sozialisierung für die symbolischen Interaktionisten offen und nie definitiv abgeschlossen ist. Ein Individuum kann sich nur in Bezug auf bestimmte Situationen, Rollen und Zugehörigkeitsgruppen als sozialisiert bezeichnen. „Die These, dass die Bedeutungen ‘im Kopf’ seien […] ist leicht widerlegbar: Die Bedeutung ist insofern interaktiv, als das, auf was sich die Worte beziehen aus einer ständigen Verhandlung zwischen dem Sprecher und seiner Welt herrührt. […]. Auch die Neurowissenschaften vertreten den Gedanken, dass das Bewusstsein im Kern relational sei und ständig aus der Kommunikation zwischen dem individuellen Gehirn und der Welt hervorgehe und kein Privateigentum des individuellen Gehirns ist, das isoliert vom Rest des Körpers und der Welt existiert“ (Liotti, 2005, S. 24). John Hewitt spricht diesbezüglich von einem „teleologischen Element“, welches im sozialen Objekt integriert sei (Hewitt, 1976, S. 21 und S. 63). Bernard Meltzer hingegen meint, dass „ein Objekt einen Aktionsplan darstellt. Mit anderen Worten gibt es für das Individuum kein vorher festgelegtes Objekt. Die Wahrnehmung jedes beliebigen Objekts schließt eine Reihe von Erfahrungen mit ein, die eintreten könnten, falls der Aktionsplan bezüglich des Objekts sich realisieren sollte“ (Meltzer, 1972, S. 15, zitiert in Hewitt, 1976, S. 64).
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Erstes Kapitel die gesellschaftlich definiert sind, um sie in einem bestimmten Kontext zu verwenden. Daraus folgt, dass das soziale Umfeld nur aus Objekten, die bekannt und wiedererkannt werden, besteht (Blumer, 1969a, S. 52).
d) Symbole und symbolische Realität: „Symbole“ sind eine Klasse der „sozialen Objekte“; mit anderen Worten: nur einige „soziale Objekte“ sind Symbole, die dazu dienen, all das zu „repräsentieren“ („dafür zu stehen“, „den Platz einzunehmen“), was die Menschen – durch Übereinkommen – „repräsentieren“ möchten (Charon, 1979, S. 39). Ein „Symbol“ ist vor allem eine Sache, die stellvertretend für eine andere steht: jeder Gegenstand, jedes Verhalten oder Wort, dem gegenüber sich die Menschen so verhalten, „als ob“ es etwas anderes sei. „Das, an dessen Stelle das Symbol steht, repräsentiert seine Bedeutung“ (Shibutani, 1961, S. 121). Das Verhältnis von Symbol und Bedeutung ist gewiss beliebig, doch innerhalb jedes Diskursuniversums gibt es eine gewisse Anzahl von vorbestimmten Übereinstimmungen im Hinblick auf das, was jedes Wort repräsentiert. d.1. „Symbole“ sind insoweit „sozial“, als sie in den Interaktionen definiert werden; sie sind meaningful, was bedeutet, dass diejenigen, die sie verwenden, wissen, was sie „repräsentieren“; außerdem sind sie significant, was bereits bei Mead bedeutet, dass sie sowohl für diejenigen bedeutungsvoll sind, die sie empfangen, als auch für diejenigen, die sie bewusst verwenden (nicht versehentlich oder zufällig), mit dem Ziel sich selbst und / oder anderen eine sinntragende Bedeutung zu vermitteln; d.2. Wörter sind natürlich „Symbole“, doch sind dies auch alle Gegenstände, die als solche gebraucht werden wie z.B. ein Kreuz oder eine Fahne; d.3. „Symbole“ ermöglichen es jedem, seinen Körper zu verlassen, aus seinem eigenen Self hinauszutreten und sich die Welt aus der Perspekti7 ve der anderen vorzustellen. Nach Mead müssen die Bedeutungen, die „sozialen Objekten“ zugeschrieben werden, welche von den Mitgliedern derselben Gemeinschaft geteilt werden, für jeden Handelnden identisch sein, der in diesem Kontext interagiert. Ist dies nicht der Fall, so ist die Kommunikation nicht wirksam und jede Form der Kooperation zwischen Individuen wird untergraben;8 d.4. Die Übereinstimmung der symbolischen Welten ist nach Ansicht von Mead mit der Fähigkeit sichergestellt, eine fremde Rolle mit Hilfe 7
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„Die Welten, die die Menschen im Kopf haben, sind die einzigen Welten, die sie kennen. Und diese symbolischen Welten, nicht die realen Welten, sind das, worüber die Leute sprechen, streiten, lachen, kämpfen“ (Barnlund, 2002, S. 62–63). Blumer, Shibutani und später Athens werden diese Perspektive auf den Kopf stellen, indem sie behaupten, dass genau diese unvermeidliche Vieldeutigkeit der Symbole sie so nützlich für zwischenweltliche Beziehungen mache.
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einer „Konversation bedeutungsvoller Gesten“ anzunehmen (Mead, 1934, S. 153 ff.).
e)
Gesten und Konversation bedeutungsvoller Gesten: Wenn Mead von „Gesten“ spricht, so bezieht er sich auf jenes Moment der Handlung, das eine Anpassungsreaktion von Seiten des Subjekts, an das sie gerichtet ist, stimuliert. In diesem Sinne kann die „Konversation von Gesten“ auch nach dem Reiz-Reaktions-Muster ablaufen, wie es in der Tierwelt der Fall ist. Wenn jedoch, im Bereich der menschlichen Interaktion, eine Geste eine Bedeutung aus der Erfahrung eines Individuums voraussetzt und die gleiche Bedeutung im Individuum, an das sie gerichtet ist, ausgelöst wird / aktiviert wird, so haben wir es mit einer Geste zu tun, die zu einer „bedeutungsvollen Sprache“ wird. Nach Mead, dass „die Antwort eines Organismus die in der Anpassung an die Geste eines anderen besteht, die Interpretation dieser Geste von Seiten des Organismus darstellt, d.h. sie enthält die Bedeutung dieser Geste“. Diese Bedeutung, die bereits in der Geste eingeschlossen ist, wird durch das Symbol der Sprache auf eine bewusste Ebene gebracht. e.1. Zu den wichtigsten Gesten, welche konventionelle Bedeutungen repräsentieren sollen, gehören die Gesichtszüge. Genau wie Muskeln der Sprechorgane können die Gesichtsmuskeln etliche hochdifferenzierte Bewegungen vollziehen: vor Staunen die Augen aufreißen, die Augenbrauen vor Scham zusammenziehen, oder als Zeichen des Konsens und Freundschaft lächeln (Shibutani, 1961, S. 153).9
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Soziale Interaktion. „Menschliche Gruppen bzw. die Gesellschaft existieren grundlegend im Handeln“: Die soziale Interaktion wird nicht als „Bühne“ verstanden, auf der sozio-psychologische Beweggründe wirksam sind, um bestimmte Formen des Verhaltens zu aktivieren, sondern als „Interaktion zwischen Handelnden und nicht zwischen Merkmalen, die ihnen zugesprochen werden“.10
Eugenio Borgna schlägt mit anderen und sehr prägnanten Worten vor: „In den Augen der anderen erkennen wir die Spuren unserer Blicke und die anderen erkennen ihrerseits in unseren Blicken die Spuren ihrer eigenen Blicke, und sie erahnen in unseren Augen die Antworten und die ausbleibenden Antworten auf ihre Erwartungen […]. Unsere Blicke und unsere Gesichter tauchen uns ständig in einen Kaskade von Beziehungen zur Welt der Menschen und der Dinge: aus diesen entstehen endlose Anreize in einem thematischen Kreislauf, die uns miteinander verbindet“ (Borgna, 2005, S. 73). „Die soziale Interaktion ist ein Prozess, der das menschliche Verhalten formt, statt bloß ein Mittel oder die Grundlage für seinen Ausdruck und seine Produktion zu sein […]. So werden die Handlungen der Anderen zu einem Teil […] der Entstehung des eigenen Verhaltens. Angesichts der Handlungen der anderen kann eine Absicht oder ein Ziel
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Erstes Kapitel
Nach Mead: Bestimmung und Entwicklung der Begriffe „I“, „Me“ und „Self“ Bereits erwähnt wurde der extrem komplexe und nicht immer von Mehrdeutigkeit freie Begriff des Self, der von den Interaktionisten als „Regieraum“ jedes Individuums verstanden wird. Es muss jedoch klargestellt werden, dass das Self nicht von Geburt an in einem Individuum vorhanden ist, sondern das Produkt seiner gesellschaftlichen Tätigkeit ist. Daraus folgt, dass es stets Modifikationen und Regelungen unterworfen ist. Schon die Etymologie des Wortes weist auf die wesentliche Eigenschaft des Self hin, nämlich. auf seine „Reflexivität“, verstanden als Fähigkeit, gleichzeitig Subjekt und Objekt zu sein, wie ein Blick, der beobachtet und sich selbst beobachtet. Um sich selbst zu sehen und zu hören, muss das Individuum aus sich selbst hinausgehen und sich aus der Sicht eines anderen Individuums oder einer anderen Gruppe, deren „Rolle“ es annimmt, annähern. Die Reflexivität besteht somit aus der Fähigkeit, uns selbst gegenüber so zu verhalten, wie sich andere uns gegenüber verhalten. Dies ermöglicht es, die Reaktion des Gegenübers als Antwort auf die eigene bedeutungsvolle Geste vorherzusehen und somit das eigene Verhalten anzupassen und so das Endergebnis herbeizuführen. Hierin besteht die Triade, von der Mead spricht, die aus „bedeutungsvoller Geste“, „Reaktion“ und „Endergebnis“ der Handlung besteht. Diese Elemente stehen in einem sich gegenseitig bedingendem und angepassten Verhältnis, weshalb der Handelnde, indem er das soziale Umfeld modifiziert, auch selbst modifiziert wird. Die Verhältnisse und das Handeln sind daher „zirkulär“ aufgebaut statt prädeterminiert und „in eine Richtung verlaufend“ (Mead, 1934, S. 100).11
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verworfen werden, überprüft, zu eigen gemacht oder abgebrochen, verstärkt oder beiseite gelegt werden. Die Aktionen der anderen beeinflussen, wie viel man im Kopf zu tun plant; sie können sich diesen Planungen entgegenstellen oder sie verhindern, ihre Überprüfung verlangen oder eine völlig andere Perspektive fordern. In gewisser Weise muss die eigene Richtung der Unternehmung den Handlungen der anderen angepasst werden. Diese müssen in Betracht gezogen werden und können nicht einfach als Szenarien bewertet werden, bezüglich derer man ausdrückt, wozu man bereit ist und was man zu tun gedenkt“ (Blumer, 1969a, S. 46–48). „Die Bedeutung der Geste entwickelt sich in drei Richtungen (Meads triadischer Natur der Bedeutung). Sie zeigt, wie viel die Person, an die sie gerichtet ist, tun muss, wie viel die Person, von der sie ausgeht, zu tun plant, sowie die gemeinsame Handlung, die aus dem Ausdruck der Handlungen beider hervorgeht. So ist beispielsweise der Befehl eines Diebes an das Opfer, die Hände zu heben ein Hinweis a) auf das, was das Opfer tun soll, b) auf das, was der Diebes zu tun plant und c) auf die gemeinsame Handlung, die sich herausgebildet hat, in diesem Fall ein Raub. Wenn es in irgendeiner dieser drei Bedeutungsrichtungen zu einem Durcheinander oder zu Missverständnissen kommt,
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Daraus wird der Schluss gezogen, dass ein Individuum nicht durch eine „kohärente Persönlichkeit“ charakterisiert ist, die ein für alle Mal vorstrukturiert ist, sondern, dass es sich als dynamisch, veränderbar Handelnder darstellt, der immer „im Entstehen begriffen“ ist, in einem Zustand der Öffnung / Entfaltung innerhalb einer Gesellschaft und von nicht als statisch aufgefassten Gruppen, die „da draußen“ sind und die uns deterministisch beeinflussen, doch auf uns durch jene Verhaltensmuster wirken, die „wir“ durch Prozesse der Interaktion extrapolieren (Charon, 1979, S. 28–29).
Das Self als Konversation zwischen I und Me Mead gelangt auf diese Weise dahin, das Self aus zwei verschiedenen, doch komplementären Blickpunkten zu formulieren:12 I.
das Self als Konversation zwischen I und Me;
II.
das Self als „Übernahme einer Haltung“.
Beginnen wir mit der Analyse der ersten Auffassung. Das Self, besteht eher in einem Austauschprozess als in einer bestimmten Substanz,13, d.h. in einer „Konversation“ zwischen zwei verschiedenen Elementen: dem I und dem Me. a)
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Das I repräsentiert den Handlungsimpuls des Organismus, welcher nicht im Voraus erkannt werden kann, da er sich erst im Augenblick der Realisierung der Handlung selbst konkretisiert. Die Handlung des I „[...] ist etwas, dessen Natur wir nicht vorher definieren können“ verfehlt die Kommunikation ihren Sinn, die Interaktion wird unterbunden und die Bildung der gemeinsamen Handlung ist blockiert. […]. Die Parteien dieser Interaktion müssen notgedrungen jede der Rollen der anderen annehmen. Um einer Person zu zeigen, was sie tun soll, muss die Erklärung aus der Sicht des anderen erfolgen. So muss bei dem Befehl an das Opfer, die Hände zu heben, der Dieb die Reaktion aus der Sicht des Opfers, die sie vollzieht, sehen. Entsprechend muss das Opfer den Befehl aus der Sicht des Diebes sehen, der sein Urheber ist, dessen Absicht sowie die folgende Handlung verstehen. Diese gegenseitige Übernahme von Rollen ist die condicio sine qua non der Kommunikation und der Effizienz symbolischer Interaktion“ (Blumer, 1969a, S. 49–50). S. Athens, 1995a, S. 245–260. Denker wie John Dewey, William James, George Mead und Charles Peirce haben einen neuen Blick auf das Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft geworfen. Anstatt die Elemente der menschlichen Psyche und des Verstandes zu erforschen, haben sie sich auf die Wahrnehmung und Erkenntnis im Sinne von Verhaltensweisen konzentriert. Statt der individuellen und gesellschaftlichen Struktur haben sie der Analyse von Prozessen den Vorrang gegeben – wie „die Dinge“ funktionieren, während die lebenden Organismen sich individuell und kollektiv über die Lebensbedingungen einigen. Zu diesen Themen s. Shibutani (1961, S. 14).
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Erstes Kapitel (Mead, 1934, S. 221). Unsere gesamte Individualität stammt vom I, welches der Behälter unseres „Sinns für Freiheit und Initiative“ ist. a.1. Da das I die anfängliche und spontane Disposition zum Handeln ist, nimmt es die Tat nicht vorweg, sondern ist die Tat selbst. In ihm sind sowohl der Impuls zum Handeln als auch die greifbare Manifestation des Akts enthalten. a.2. Es ist die Lebensenergie, die nicht der Kontrolle, die vom Organismus selbst ausgeübt wird, unterliegt. Mead sagt wörtlich, dass „wir [gerade] aufgrund des ‘Ich’ sagen, wir seien uns niemals vollkommen bewusst, wer wir selbst sind, dass wir durch unsere eigene Handlung überrascht werden“ (Mead, 1934, S. 217). Das I macht jede Hoffnung eitel, vollständige Kontrolle über sich selbst zu erlangen. Mit anderen Worten: Das I ist der nicht-überlegte / nicht-absichtliche / nicht-geplante / nicht-bewusste / unfreiwillige / nicht-gelenkte / nicht-geleitete Impuls zum Handeln. Es ist der spontane Ausdruck eines Impulses, die „natürlichste“ Seite des Menschen. a.3. Das I ist jedenfalls nicht nur eine „biologische Disposition zum 14 Handeln“ (Athens, 1993b, S. 184), sondern schließt auch Verhaltensweisen ein, die sich gesellschaftlich und kulturell entwickelt haben.15 Das I ruft laut das Me, und gleichzeitig antwortet es ihm.
b) Das Me besteht aus dem Verhalten der Gemeinschaft, in der wir uns befinden und während der sozialen Interaktion durch das Role-Taking (dem Annehmen der Rolle des Anderen) herausgearbeitet und verinnerlicht wird. Das Me repräsentiert also die Erwartungen der anderen an unsere Handlungen, das dem Individuum einverleibte Andere, bes14
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Dieser Aspekt ist ganz besonders wichtig, denn er hat unter vielen Forschern, welche sich mit dem Denken Meads befasst haben, Verwirrung gestiftet. Interessant ist auch der Hinweis, dass die ersten Interaktionisten den Wert biologischer Faktoren im Verhalten erkannt haben, obwohl sie gleichzeitig die entschiedensten Befürworter der Einschränkung von Instinkt-Theorien zur Motivation im soziologischen Bereich sind, und tragen somit zur Unterstreichung der Unterschiede der Begriffe „Instinkt“ und „Trieb“ bei: „Der Trieb – als Gegensatz zum Instinkt – unterscheidet sich von Letzterem darin, dass seine Befriedigung nur in den Grenzen dessen, was wir menschliche Gesellschaft nennen, stattfinden kann. Der Begriff ‘Trieb’, wie er von den ersten Interaktionisten verwendet wurde, besaß das charakteristische Merkmal einer undifferenzierten Aktivität. […]. Das Resultat war eine originelle Theorie, welche die biologische und soziale Natur des Menschen miteinander verband, in denen die Ziele der angeborenen Neigungen […] von der Kultur definiert wurden“ (Meltzer / Petras / Reynolds, 1975, S. 48– 49). Rosalba Perrotta bemerkt: „Auch ‘natürliche’ Ausrufe, mit denen Gefühle wie Schmerz, Freude, Ekel, Gefallen, Überraschung, Bewunderung und ähnliches ausgedrückt werden, stammen aus dem sozialen Lernen. Die Vorschläge des Ich sind außerdem nicht völlig ‘frei’: sie reflektieren im Allgemeinen sozial überformte Wünsche“ (Perrotta, 2005, S. 34).
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ser: die organisierte Gesamtheit von Verhaltensweisen und Positionen, die in einer Gruppe bestehen. b.1. Das Me wirkt folglich als Wall zur Eindämmung unseres I. Wir können es uns als moralischen Zensor unserer Triebnatur vorstellen: Es ist das, was uns erlaubt andere zu berücksichtigen, ein Mechanismus, um das I zu kontrollieren, zu leiten und zu lenken. Das Me ist dafür verantwortlich, wie die anfängliche und spontane Handlungsdisposition vom Handelnden weiterentwickelt wird. Alle unsere Handlungen, die im Bewusstsein gesellschaftlicher Konformität ausgeführt werden, stammen vom Me, der Instanz, die zwischen den Wünschen anderer und unseren Trieben vermittelt. b.2. Wenn wir uns mittels des Me an das I wenden, tun wir dies aus der 16 Sicht eines anderen und auf der Basis eines moralischen Urteils , welches entsteht, wenn wir unser Verhalten organisieren. Robin Vallacher macht darauf aufmerksam, wie mühsam es ist seine egozentrische Sicht zu überwinden und die Welt aus „anderen“ Blickwinkeln zu begreifen (Vallacher, 1980, S. 7). Andererseits kann es passieren – doch dies ist sehr selten –, dass wir uns an unser I nicht aus der Sicht des Me wenden und bei unserem Handeln Letzteres ignorieren. Das I kann also das Me überspringen und dabei die im Voraus entworfenen Verhaltensmuster auflösen, was kreative, ungewöhnliche und absurde Reaktionen im menschlichen verhalten erklärt. (Athens, 1993b, S. 184–185). Meistens beginnt die Handlung in der Form eines I und endet in der Form eines Me, weil das I „[…] den Anfang der Handlung darstellt, bevor die Kontrolle in Form der Präzisierung der Erwartungen der anderen eingreift“ (Meltzer / Petras / Reynolds, 1975, S. 61), d.h. bevor es zu Eingriffen kommt, die die Handlungen selbst lenken. I und Me können auch verschmelzen, wenn der Handlungsantrieb vom Me bestätigt wird, das somit die rohe Äußerung befürwortet. Mead meint hierzu, dass „das Me, dem I die Tür öffnet“, was wiederum bedeutet, dass es die Äußerung ganz befürworten kann (Mead, 1934, S. 242). Doch wenn das Me dem I die Tür öffnen kann, so kann es sie auch als Zeichen völliger Ablehnung schließen.
c) Die Konversation zwischen I und Me führt vor allem zu „Nachdenklichkeit“. c.1. Jedes Mal, wenn unser Handlungsantrieb aus der Sicht des Me beurteilt wird, bevor die Handlung sich manifestieren konnte, sind wir reflexiv gewesen: wir haben in der Tat die Handlung, die wir erwartet haben, aus einer anderen Perspektive als der unseren betrachtet. c.2. Von der „Konversation“ zwischen I und Me hängt außerdem das soziale Verhalten des Individuums ab. Kurz gesagt – und in dieser Kürze 16
Es gibt also eine Notwendigkeit zum Handeln, die nicht mechanischen Typs, sondern, um die Terminologie Meads zu verwenden, moralischen Typs ist, d.h. auf Kohärenz und Organisation abzielt“ (Inghilleri, P., 1995, S. 26).
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Erstes Kapitel auch nur nur in den ersten Fassungen des interaktionistischen Gedankens –, wenn das I bzw. der aktive-triebhafte Aspekt des Self überwiegt, so wird das Subjekt zum „Individualisten“. Ist hingegen das Me stärker, so erscheint die Person als „Konformist“ – als derjenige, der die Erwartungen der anderen der eigenen kreativen Handlung vorzieht. Natürlich gehören die meisten Personen der zweiten Typologie an, und gerade dies ist es, was das Zusammenleben in einer bestimmten Gesellschaft möglich macht. Denn die Handlungen solcher Personen, bekräftigt durch mit der gesamten Gemeinschaft geteilten Werte, sind weitgehend vorhersehbar, überschaubar und kontrollierbar. c.3. Dieser ständige Wechsel zwischen I und Me, zwischen Aktion und Reflexion, stellt die Art und Weise dar, wie die Menschen die Kontrolle über die eigenen Handlungen erlangen (Hewitt, 1976, S. 76), sowie gleichzeitig den Mechanismus, durch den die Gesellschaft die soziale Kontrolle über ihre Mitglieder ausüben kann, die, laut Mead, gerade von „dem Ausmaß, in dem die Individuen es schaffen das Verhalten der anderen anzunehmen, die an dem gemeinsamen Bemühen beteiligt sind“, abhängt. (Mead, 1932, S. 191).17 Die „Reflexivität“ schafft somit eine zeitliche Verzögerung zwischen dem (vom I repräsentierten) Antrieb und der Handlung, die an den vorgestellten Antworten von „significant others“, welche im Me zusammengefasst sind, orientiert ist – ähnlich wie es im „Sekundärprozess“, wie er in der Psychoanalyse beschrieben wird, geschieht.18
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Das Verhalten eines jeden, der in eine sozialen Gruppe hineingestellt ist, ist eingeschränkt: „Es ist [ein Verhalten], das der sozialen Kontrolle unterliegt – ein Begriff, der wegen der allgemeinen Bedeutung des Terminus ‘Kontrolle’ häufig missverstanden wird. Gewöhnlich denken wir an Kontrolle als Ausübung von Macht […], um das Verhalten der Mitmenschen oder den Verlauf von Ereignissen zu beherrschen. Dies ist die physische Kontrolle […] und sie ist nur ein Mosaikstein des Gesamtbildes. […]. Man kann sagen, dass Menschen insoweit der sozialen Kontrolle unterliegen, als es ihnen nicht freisteht das zu tun, was sie befriedigt. Indem er an einer Reihe kollektiver, oft hoch organisierter Handlungen teilnimmt, wird jeder Mensch ständig mit der Notwendigkeit konfrontiert, im Hinblick auf die Wünsche anderer Anpassungen vorzunehmen […]. Die Dinge, die ein Mensch in den meisten Situationen tun kann, sind fast unbegrenzt; doch beschränkt sich sein Verhalten auf wenige akzeptable Alternativen. Diese Kanäle werden normalerweise nicht von biologischen oder physischen Notwendigkeiten vorgegeben, sondern von einem Gefühl der Verpflichtung, das Teilnehmer kooperativer Handlungen wechselseitig füreinander haben“ (Shibutani, 1961, S. 59). Natürlich bleibt diese allgemeine Beobachtung noch wahr: Menschen reagieren nicht notwendigerweise auf fremde Erwartungen. Obwohl man die Sicht einer Person, die man nicht schätzt, zur Kenntnis nimmt, kann man ihr bewusst widersprechen; s. Shibutani (1961, S. 195). Im „Sekundärprozess“ – der psychische Funktionen wie „Realitätsprüfung“, „Verteidigungsmechanismen“ und die moralische Hemmung bezüglich gesellschaftlich nicht gebilligtem Verhalten einschließt – „liegt der Akzent auf der Fähigkeit die Entladung der Energie hinauszuzögern. Man könnte sagen, dass es offenbar darauf ankommt die Ent-
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Das“ Self“ als Annahme der Verhaltensweise Der zweite Gesichtspunkt, unter dem Mead das Self beschreibt, dreht sich um den Begriff der „Annahme der Verhaltensweisen anderer“. Wie bereits erwähnt, wird Letzterer von dem Rückgriff auf eine „bedeutungsvolle“ Sprache bestimmt, d.h. auf eine Sprache, die gemeinsame Inhalte zweier oder mehrerer Handelnder im kommunikativen Prozess übermittelt. Durch die unaufhörliche Tätigkeit, die Reaktion des anderen vorauszudeuten – als regelrechte „Vorbereitung auf die Handlung“ gedacht – drückt die bedeutungsvolle Sprache ihre höchste Leistungsfähigkeit in der Interaktion aus. Da eine jede Gemeinschaft mit einem eigenen spezifischen symbolischen Universum ausgestattet ist und die soziale Interaktion auf dieser gefestigten Bedeutungsstruktur stattfindet, liegt der Akzent überwiegend auf dem konformistischen Charakter des Self. Das Individuum wird von Mead als „soziales Chamäleon“ aufgefasst, das ständig dazu aufgerufen ist sich den Erwartungen anderer anzupassen, wie sie im eigenen inneren Band, dem Me, reflektiert werden. Letzteres als Führer und Behüter des I, beurteilt dieses aus einem externen Blickwinkel der Gemeinschaft, nun als „der generalisierte Andere“19 durch den Prozess des RoleTaking internalisiert – Begriffe, die wir sogleich erklären werden. Damit schließt sich der Kreis der zwei analysierten Blickwinkel. Von nun an nehmen wir vorweg, dass die Kritiken von Athens (und vorher bereits von Blumer) das Denken Meads dort angreifen, wo die Theorie ihre schwächste Seite zeigt, nämlich an der Erklärung des Individualismus als Entfernung von den Erwartungen der Anderer.
„Play“ und „game“ Einige weitere Elemente der Bildung des Self können nicht übergangen werden. Wir haben bereits hervorgehoben, dass Letzteres seine Gestalt durch die ständige Konversation zwischen I und Me annimmt – von der Mead als dialektische Bewegung spricht.20 Diese wird von zwei Entwicklungsphasen bestimmt, die Mead play und game nennt.
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ladung so lange zu verzögern, bis die Umweltbedingungen am günstigsten sind“ (Brenner, 1974, S. 61). „Durch den generalisierten Anderen lebt die äußere Gesellschaft als Kopie des Bildes, welches das Individuum in seinem Inneren von ihr besitzt“. (Gallino, 1978a, S. 18). Die komplexe und nie ganz geklärte Frage nach der „Dialektik“ von I und Me – von Mead als „im Prozess getrennt“ wie „Teile eines Ganzen zusammengehörend“ verstanden (Mead, 1934, S. 221) – steht im Zentrum des meadschen Begriffs des Self, der von Athens überarbeitet und in gewisser Weise „gebypassed“ wird. Er wird dann die Auf-
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Play wird als reines, einfaches Spiel verstanden. Ein Kind „spielt“ Mutter, Doktor oder irgendeine Person, die eine „andere als es selbst“ ist und die seine Phantasie stimuliert. Diese Phase ist sehr wichtig, da sie ein regelrechtes Training des Role-Taking darstellt: das Kind verkauft ein Objekt und kauft es sich selbst ab und identifiziert sich somit mit mehreren Persönlichkeiten. Auf diese Weise macht das Kind aus sich selbst einen Beobachtungsgegenstand aus einem Blickwinkel „außerhalb seiner selbst“. Indem es Schritt für Schritt die reflexiven Eigenschaften des Self ausbildet, benutzt es Mechanismen, die sozialen Beziehungen unterliegen, und es versteht die „Rollenspiele“, die von den Erwachsenen praktiziert werden. Diese Phase ist jedenfalls noch „unverantwortlich“, d.h. frei von den Erwartungen anderer; denn das play völlig vom Kind selbst geschaffen und muss nur ihm antworten. Beim game als organisiertem, komplexerem Spiel muss das Kind umgekehrt einen qualitativen Unterschied erkennen. Im Beispiel des Baseball, das von Mead (1934, S. 197) angeführt wird, muss der Spieler, um sein eigenes Vorgehen durchzusetzen, die bevorstehenden und wahrscheinlichen Aktionen all derer berechnen, die sich in seinem Handlungsbereich befinden. Er muss sich in die „Rolle“ der anderen hineinversetzen und deren Spielzüge „vorhersagen“, um mit seinen Mannschaftskollegen zusammenzuarbeiten und die Gegner in Verlegenheit zu bringen.21 Der Übergang von der „Mannschaft“ zur „Gemeinschaft“ ist nach Mead kurz. Er meint, dass beide Organisationen, die mit eigenen Regeln und Rollen für ein gemeinsames Ziel versehen sind, den „generalisierten Anderen“ des Individuums bilden.22 Außerdem verwendet er diesen Ausdruck, um die
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fassung vertreten, dass das Self nicht das Resultat aus einer dialektischen Bewegung zwischen den beiden verschiedenen Aspekten ist, sondern ein „Prozess, bei dem jedes Individuum im Sinne des Wortes mit sich interagiert und nicht in den eingeschränkteren Prozessen der Interaktion zwischen I und Me involviert ist“ (Athens, 1993b, S. 186), denn in der konkreten Erfahrung unterscheiden sich die voneinander getrennten und unterschiedenen Komponenten dieser Dialektik nicht, sondern befinden sich wie in einem „Fluss“. Eine letzte Anmerkung sei noch der Erklärung des game hinzugefügt, um den subtilen Unterschied zum play deutlich zu machen. Beide Phasen werden in der Technik des Role-Taking miteinander vereint, doch während wir es beim play mit einer Art Simulation zu tun haben, fast wie bei einem Videospiel mit unendlich vielen Leben, die sich in verschiedenen Rollen verwirklichen, so sind wir beim game bloß eines der lokalen Zentren der sozialen Interaktion, deren Entwicklung nicht ganz vorhergesehen und kontrolliert werden kann, denn abgesehen von der Unvorhersehbarkeit des I treffen wir auf das „Unvorhersehbare“ und das Geheimnisvolle, das der andere für uns darstellt. „Ein Kind entwickelt seinen Sinn für Eigentum, indem es das annimmt, was man das Verhalten des generalisierten Anderen nennen kann. Diese Verhaltensweisen, die alle annehmen […] werden für das Kind Verhaltensweisen, die von einem jeden angenom-
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gemeinsame Kultur einer Gruppe zu beschreiben, welche als „gemeinsames Corpus aus Regeln“ gemeint ist, also „das Gesetz“, dem es zu folgen gilt: es ist das moralische System, welches das Individuum verinnerlicht, sich aneignet; es ist das Gewissen der Gruppe, von der erwartet wird, dass die Individuen ihr in der Interaktion folgen (Charon, 1979, S. 165).23 Es ist […] die innere Personifizierung der Sicht der Gesellschaft, die in das Individuum aufgrund der Sozialisierung dringen, d.h. die objektive Realität der Anderen, die im Selbst subjektiv geworden ist“ (Gallino, 1978a, S. 17). Wir können uns fragen, woher der „generalisierte Andere“ kommt, wie er sich geformt hat, was sein Ursprung ist. Für eine Antwort schlagen wir mit Carlo Sini (2005) ein „Gedankenexperiment“ vor: Wir stellen uns eine Gruppe von Urmenschen vor, welche nachts den Horizont beobachtet, der vom ersten Morgenrot gezeichnet ist. In der grenzenlosen Unermesslichkeit hebt sich, wie ein Schrei, der Geistesblitz des Wortes „Rha!“ ab: „[…] dieser Laut klingt, wie alle Laute, für alle gleich: das ist die Besonderheit der lautlichen Geste, wie George Herbert Mead herausgefunden hat. Indem sie für alle erklingt, schafft die Stimme mit ihrem Schrei auf der einen Seite jene ‘Alle’ als wirklich ‘die Alle’: eine Gemeinschaft aus denjenigen, die von dem ertönenden Laut ‘betroffen’ sind; auf der anderen Seite (doch ist es dann die gleiche) überdeckt sie sie und verschafft ihnen einen gemeinsamen Klang. Mit anderen Worten: die vox clamans nimmt in sich auf und übersetzt sich das Ganze, das eine Gruppe ‘in einer Situation erlebt’ hat: dies war anfangs eine ‘Wüste’ von Einsamkeiten, wenn auch nicht als solche begriffen. Der „Schrei“ gewinnt durch das Pathos gegenseitiger Anerkennung einen Namen“ (Sini, 2005, S. 181 ff.). Diese gemeinsame Handlung, welche „zeigt“ und „benennt“, drückt ein Wissen Aller aus und ist konstitutiv für das Sich-auskennen, also für jenen Habitus, der die intersubjektive Beziehung begründet: „Bei dem Wort ‘Rha’ sind alle bereit ihre Augen auf den Horizont zu richten“. Eben dies ist der „generalisierte Andere“! Zweifelsohne verweist der Sinn dieser kosmogonischen Erzählung auf eine nicht-konfliktvolle Sicht ihres Ursprungs, die interessanterweise bei Mead auch sehr deutlich bestehen bleibt; denn obwohl er von sehr komplexen und
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men werden. Indem es die Rolle annimmt, die für alle normal ist, spricht es zu sich selbst und zu anderen mir der Autorität der Gruppe“ (Mead, 1922, S. 161–162). Kultur, schreibt Charon, ist (1) „eine gemeinsame Perspektive, durch die Individuen, die miteinander interagieren, die Realität definieren und (2) ein generalisierter Anderer, durch den die in der Interaktion befindlichen Individuen ihre Handlungen kontrollieren“ (Charon, 1979, S. 166).
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differenzierten Gesellschaften ausgeht, tut er dies stets in Bezug auf eine symbolische Welt voller gemeinsamer Werte. In der Tat ist es nicht verwunderlich, dass innerhalb des theoretischen Universums Meads noch Raum und Ort für einen Begriff wie den des Individualismus anstelle dessen der Devianz gibt. Denn der Individualismus verhält sich zur gesellschaftlichen Konformität wie die Ausnahme zur Regel, d.h. nur dem Anschein nach widerspricht er der gemeinsamen Ordnung: eigentlich bestätigt er sie aber. Die Devianz hingegen setzt ein Wertesystem und ein normatives System voraus, welches „anders“ ist als das vorherrschende, dominante System; es wird sogar behauptet – bspw. von Howard Becker –, sie besitze eine „politische“ Natur (Pitch, 1975, S. 124–127).24
Der Prozess der Interpretation: Von Mead zu Blumer Wir können an dieser Stelle nicht die wichtigsten Punkte des Denkens dessen ignorieren, der die Rolle eines „Propheten“ der Worte Meads gespielt hat: Herbert Blumer. Er vertieft die Richtung der Interpretation, die bereits im Denken seines Vorgängers sichtbar ist, erweitert allerdings die anfängliche Bedeutung. Jedes Individuum ist mit einem Self ausgestattet, welches im Laufe der sozialen Interaktion entsteht und sich entwickelt. Das Self ermöglicht einem Individuum ein Selbstbewusstsein aus dem Blickwinkel jenes Auges außerhalb seiner selbst, zu dem es mit Hilfe von Role-taking Zugang erlangt. Wenn die innere und interindividuelle Kommunikation kraft einer „bedeutungsvollen Sprache“ stattfindet, die eine ständige Annahme anderer Rollen gestattet, so verstehen wir nunmehr besser, die Bedeutung der auf diese Art vermittelten „Symbole“ zu interpretieren. In der Tat betonen sowohl Mead als auch Blumer stets das, was sie von anderen Denkrichtungen unterscheidet, nämlich die Überzeugung, dass ein Individuum sich nicht darauf beschränkt, auf einen äußeren Reiz „reagiert“, ohne irgend einen Widerstand zu leisten; 24
Dieses Thema wird in Kap. 2 wieder aufgegriffen, doch ist es von nun an entscheidend wie der Begriff des „generalisierten Anderen“ sich für Athens als problematisch und „mehrdeutig“ dargestellt hat, der, wie Rhodes in einfachen Worten beschreibt, „Männer und Frauen [erforschte], deren Charaktere und Prinzipien sich von den in ihrer Gemeinschaft anerkannten Verhaltensweisen stark unterschieden und die […] dazu verurteilt waren, viele Jahre im Gefängnis zu verbringen“ (Rhodes, 1999, S. 81). Mit anderen Worten untersuchte Athens höchst deviante Personen, und er schaffte es, sich in diesen Aporien zurechtzufinden, indem er den komplexen Begriff der „Phantom-Gemeinschaft“ (phantom-community) bildete.
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vielmehr ergibt sich dieser Widerstand aus der Existenz des Self, als ein symbolischer Filter der Realität. Jeder Handlung geht dementsprechend eine Phase der „Vorbereitung“ voraus, in der das Individuum die Realität, mit der es konfrontiert wird, verarbeitet und durchlebt so einem „Prozess der Interpretation“, der von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung seines zukünftigen Verhaltens ist. Im Übrigen ist es eine reine Illusion, völlig die Rolle eines Anderen einnehmen zu können. Vielmehr ist das, was das Leben auf der einen Seite faszinierend, komplex und unvorhersehbar und auf der anderen Seite fragil und unsicher macht, ein Ergebnis des unaufhörlichen Flusses der Suche nach einem abgeschlossenen Sinn, durch den das, was uns und anderen durch den Kopf geht, in eine Ordnung gebracht wird. Das Self, der absolute Protagonist dieses Moments, wird von Blumer als „ein Prozess und keine Struktur“ definiert (Blumer, 1969b, S. 62). Vor allem ist es ein reflexiver Prozess, der in den sozialen Situationen, in denen man sich wiederfindet „ständig geschaffen und neu geschaffen wird [...]“ und keine „feste, gegebene Entität, die sich von einer Situation in die andere bewegt“ (Berger, 1963, S. 99). Wie bereits angedeutet, bedeutet dies, dass das Individuum in der Lage ist, mit sich selbst kraft eines Role-taking zu interagieren und auf diese Weise einen Dialog zwischen sich und sich herzustellen, eine Art von innerer Kommunikation. Immer wenn jemand sich selbst auf etwas hinweist (self-indication), wird er sich dessen bewusst,25 und das auf diese Weise aus der Realität ausgeschnittene „Objekt“ wird in den den Prozess der Interpretation eingefügt. Dies verleiht der Handlung eine Fluidität, die sie unvereinbar mit einer deterministischen Deutung macht. Das Neuorientieren, Neudirigieren einer Handlung hängt von den neuen Interpretationen dessen ab, dem man begegnet, von den neuen „Objekten“, die man in seinen eigenen symbolischen Horizont aufnimmt. Weil dieser Prozess sich im forum internum abspielt, wo man sich mit sich selbst im Licht der Blickwinkel anderer auseinandersetzt, ist dieser Prozess für einen äußeren und „objektiven“ Blick weder sichtbar noch erkennbar. Nur ein göttliches Auge könnte seine Entwicklungen verfolgen. Dies ist der Grund warum das interpretative Moment, das der anschließenden Entfaltung
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„Sich bewusst zu sein oder sich einer Sache bewusst zu sein bedeutet für einen Menschen dasselbe wie sie zu bezeichnen – er identifiziert sie als spezifische Art von Objekt und überlegt, welche Relevanz oder Bedeutung sie für seine eigene Handlungslinie hat. Das aktive Leben eines jeden besteht aus einer Reihe solcher Bezeichnungen, welche die Person sich selbst gibt und die sie verwendet, um ihre Handlung zu lenken“ (Blumer, 1969, S. 55).
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der Handlung vorausgeht, von den traditionellen Theorien stets unterschätzt worden ist. Indem wir eine berühmte Metapher abändern und für einen völlig anderen Zweck verwenden, können wir sagen, dass die Handlung, die von jedem Beobachter wahrgenommen werden kann, nur den sichtbaren Teil des Eisbergs darstellt, während der verborgene Teil – der nur von demjenigen verstanden werden kann, der bereit ist in das symbolische Universum zu versenken – das interpretative Substrat darstellt.26 Obwohl das „soziale Objekt“ eine bereits im Laufe der Interaktion etablierte Bedeutung mit sich bringt, selektiert und kontrolliert das Individuum ständig und modifiziert vielleicht auch diese Bedeutung im Licht der konkreten Situation, in der es sich befindet. Der „Kontext“ erweist sich daher als sehr wichtig für die Erklärung der Handlung, welche notwendigerweise aus der „Interpretation einer Situation“ hervorgeht. Auch der Prozess der Interpretation, an dem das Self sich abarbeitet, kann in zwei Phasen eingeteilt werden: die „Definition“ und die „Beurteilung“.
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Der individuelle Akt setzt sich nämlich aus einem verborgenen und einem sichtbaren Bestandteil zusammen. Das Beispiel, das Mead formuliert, das Blumer wieder aufnimmt und das von Athens neu beschrieben wird, kann hilfreich sein, um diese Behauptung zu verstehen. Wir analysieren den Akt des Trinkens, d.h. eine extrem einfache und instinktive Handlung. Trotz des Automatismus, mit dem wir alle diese Handlung vollziehen, ist der interpretative Moment stets vorhanden. Zunächst spüren wir einen Trieb, den wir als Durst kennengelernt haben. Kurz darauf entschließen wir uns, unseren Durst mit einem Glas Wasser zu stillen, das wir mittels self-indication erkennen. Der eben beschriebene Teil ist der versteckte und vorbereitende Teil der Handlung. Es folgt schließlich der Akt, mit dem wir das Glas nehmen, es mit Wasser füllen und unseren Durst löschen, indem wir den am Anfang stehenden Trieb befriedigen. Der sichtbare Teil realisiert den Handlungsplan, der in der ersten Phase entwickelt und geplant wurde; s. Athens (1993b, S. 190). „Auch die einfache Handlung, nach einem Stift zu greifen, ist kein automatischer Reflex. Sie besteht aus einer komplexen Bewegungsabfolge, innerhalb derer die Position des Arms von einer Abfolge von Wahrnehmungsstimuli gelenkt und kontrolliert wird, die eine immer geringere Distanz zwischen Hand und Stift signalisieren. Wenn ein Ereignis dazwischenkommt, werden Anpassungen vorgenommen. Die Vielfältigkeit menschlichen Verhaltens wird auf der Grundlage der Überlegung erklärt, dass der Großteil der Akte auf der Stelle gebildet wird und die Anforderungen dieser besonderen Situation werden berücksichtigt. In diesem Sinne hat jeder Akt einen Weg und wird durch aufeinanderfolgende Reaktionen gebildet. Die Elemente, die ihn bilden, bestehen aus Gewohnheiten, Reflexen, Verteidigungsmechanismen, oder Bildern, die alle als Einheit koordiniert werden“ (Shibutani, 1961, S. 69). Man trifft auf den beschriebenen Prozess bei jeder menschlichen Handlung, von den einfachsten zu den komplexesten, auch wenn wir aus dem gesamten Verlauf nur die Effekte der abschließenden Ausübung beobachten können und nur den „Lärm“ hören, mit dem er sich manifestiert.
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Bei der „Definition der Situation“27 nimmt der Handelnde die Rolle der in dieser spezifischen Situation anwesenden Personen ein und zeigt sich selbst, aus ihrem Blickwinkel, die Bedeutung ihrer Gesten und ihrer Worte und schafft damit in seinem Innern einen Kontext, dem es gelingt. alle Variablen des Moments und der möglichen anschließenden Entwicklungen der Handlung zu berücksichtigen. Diese Interaktion mit sich selbst unterscheidet sich von einer Interaktion psychologischer Elemente; sie ist eine Instanz der Person, die sich in einem Prozess der Kommunikation mit sich selbst begibt, die Interpretation wird zu einer Art, die Bedeutungen zu handhaben. Der Handelnde selektiert, kontrolliert, suspendiert, gruppiert und transformiert die Bedeutungen im Lichte der Situation, an der er teilnimmt, und ihrer Richtung (Blumer, 1969a, S. 43).
Die zweite Phase ist die der „Beurteilung“: Nachdem die eigene „Definition der Situation“ geklärt ist, entscheidet der Handelnde, welche Art von Handlung er in Gang bringen möchte. „Somit sollte die Interpretation […] als Ausformungsprozess verstanden werden, in dem die Bedeutungen wie Instrumente für die Durchführung und Formung der Handlung benutzt und modifiziert werden“ (Blumer, 1969a, S. 43). Bei dieser „Beurteilung“ wird er vom „generalisierten Anderen“ unterstützt – jener abstrakten Gruppe, die das Subjekt mit der Zeit durch soziale Interaktionen geschaffen hat und deren Rolle es nun einnimmt, um die eigene Handlung zu lenken. Der absolute Vorrang der Interpretation und die Wandelbarkeit des Self je nach Verschiedenheit der Situationen, in denen die Handlung stattfindet, weisen eine bedeutende Divergenz zwischen dem Denken Meads und demjenigen Blumers auf. In der Tat ist für Letzteren die Bedeutung einer Handlung das Ergebnis einer ständigen Verhandlung zwischen den Protagonisten der sozialen Interaktion, welche in einer spezifischen Situation verankert sind – anders als Mead, nach dessen Auffassung die Bedeutung aus der Höhe einer symbolische, völlig befriedeten Welt „gefallen“ ist, deren Widerspiegelung der „generalisierte Andere“ ist. Die hauptsächlich interpretative Version von Blumer passt sich leichter einer konfliktreichen Sicht der Gesellschaft an. Diese Auffassung berücksichtigt die Unterscheidung der physischen Gliederung der Gesellschaft in viele kleine Gruppen, in der jede einen unterschiedlichen Grad
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„Thomas, der den Begriff der Situationsbestimmung in das Vokabular der Sozialwissenschaften eingeführt hat, drückt es folgendermaßen aus: ‘vor jeder Handlung, die sich selbst bestimmt, gibt es eine Phase der Prüfung und Entscheidung, die wir Situationsbestimmung nennen können’“ (Perrotta, 1988, S. 39).
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an Einfluss besitzt, je nach der Position, welche sie in der Hierarchie der mentalen Konstrukte des Individuums einnimmt.
Das Self als Objekt: das Selbstbild Das Self kann neben seinem prozessualen Wesen auch als „Objekt“ analysiert werden: in dieser letzten Bedeutung ist es das Bild, das jeder von sich hat, also das besondere „Objekt“, welches das Individuum von sich selbst, aufgrund seiner mehrfach erwähnten reflexiven Eigenschaft, entwirft. Das Individuum beobachtet sich und beurteilt, was es sieht, doch kann es das nur indirekt, aus der Sicht einer anderen Person oder der Gruppen, deren Rolle es einnimmt, tun. Natürlich gilt das Sich-beobachten und Sich-beurteilen nicht nur dem eigenen Körper, die eigene körperliche Existenz, sondern auch alle „nichtgreifbaren“ Eigenschaften, aus denen das „Selbstbild“ sich zusammensetzt. Spiegelbildlich reduziert sich die Beziehung zum eigenen Körper nicht auf nur ein ‘Körperbild’, also auf die subjektive Vorstellung (self-image oder looking-glass self), welche mit einem gewissen Grad an self-esteem verbunden ist, die ein Aktant von seinem gesellschaftlichen Einfluss hat (seinen Verführungskünsten, seinem Charme etc.) und die sich im Wesentlichen ausgehend von der objektiven Darstellung des Körpers, dem deskriptiven Feedback und der normativen Spiegelung an den anderen (Eltern, Gleichaltrigen etc.) bildet. Ein derartiges Modell vernachlässigt, dass die gesamte Gesellschaftsstruktur im Herzen der Interaktion, in Form von Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern liegt, die in die Körper der Akteure der Interaktion eingeschrieben sind (Bourdieu, 1998, S. 77).
Die geeignetste Metapher zur Erklärung solcher Konzepte ist die des Spiegels.28 Wenn wir unser Gesicht betrachten wollen, bedürfen wir eines Spiegels, 28
Historisch gesehen taucht diese Metapher des Öfteren im interaktionistischen Denken auf. Sehr bekannt ist der Begriff des looking-glass self, der von Charles Cooley (1902, S. 183–184) entwickelt wurde: „Sehen wir unser Gesicht, unseren Körper, unsere Kleidung im Spiegel, so interessieren wir uns für sie wegen des Umstandes, dass sie zu uns gehören, wir sind mehr oder weniger zufrieden mit ihnen, je nachdem, ob sie unseren Erwartungen entsprechen oder nicht; genauso nehmen wir in unserer Vorstellung in den Seelen Anderer Gedanken über unser Erscheinungsbild wahr, über unsere Art, unsere Ziele, unseren Charakter, unsere Freunde u.s.w., und wir werden stark davon beeinflusst. Die Vorstellung eines Selbst dieser Art scheint aus drei Hauptelementen zu bestehen: Der Vorstellung davon, wie unser Bild der anderen Person erscheint; der Vorstellung über das Urteil, das diese Person darüber zum Ausdruck bringt und eine Art von Gefühl, sei es Stolz oder Demütigung. Die Analogie zum Spiegel erklärt das zweite Element nicht, das vorgestellte Urteil, das jedoch wesentlich ist. Was unseren Stolz und unsere Scham hervorruft, ist nicht das bloße Spiegelbild von uns, sondern das dem Anderen zugeschriebene Gefühl, der Effekt, von dem wir uns vorstellen, dass er sich in seiner Seele widerspiegelt […]“. Zum Zusammenspiel von Selbstbild und der Meinung der anderen siehe Perrotta (2005, S. 101–102).
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der das Bild „wiederspiegelt“, welches per definitionem eine Projektion der Realität ist. Entsprechend müssten wir, wenn wir auf unser gesellschaftliches Bild zugreifen wollen, uns eine Hand vorstellen, die dieses hält, und uns dann noch viele weitere Hände vorstellen, die ebenfalls Spiegel halten. Die Hand, die das Bild hält, ist die Verbindung, die wir mit anderen in dem Moment herstellen, in dem sie uns beobachten (Role-Taking). Um die Metapher noch zu vertiefen, ist es wichtig, uns diesen Spiegel mit einer lichtbrechenden, nicht perfekten Oberfläche vorzustellen, deren Deformation von uns, die wir das gespiegelte Bild betrachten, selbst geschaffen wurde.29 In anderen Worten: Das Bild, das wir von uns selbst haben und durch die Anderen mit Hilfe des RoleTaking verändern, entspricht nicht unbedingt dem Bild, das die Anderen von uns haben. Dies ist keine lineare Beziehung: es ist nicht die Beurteilung der anderen, die uns beeinflusst, sondern eher unsere Wahrnehmung ihrer Beurteilung, ihrer Sichtweise.30 Es bleibt noch die Beschreibung des Mechanismus, mit dem wir „unser Bild“ erstellen. Auch hier vollzieht sich der Prozess in zwei Phasen (Athens, 1977, S. 56–70). Zunächst nimmt das Subjekt die Rolle einer ausgewählten Personengruppe ein und beobachtet sich aus ihrer Perspektive. Diese Gruppe besteht aus Menschen, an die das Subjekt affektiv gebunden ist – Familie, Freunde oder andere Bezugspersonen. Das Bild, das diese Personen von ihm haben, entwickelt sich aus den Interpretationen seiner Handlungen; es zeigt sich also hauptsächlich durch die Handlungen, die es vollzieht, wenn auch durch den Filter des interpretativen Moments. In der zweiten Phase jedoch nimmt der Handelnde die Rolle seines „generalisierten Anderen“ an und beurteilt das Bild, das diese ausgewählten Personen von ihm haben; aus dieser letzten Beurteilung entspringt sein „Selbstbild“.
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„[…] Das Glas, sei es das des Fensters oder das des Spiegels, ist niemals unbefleckt. Es sind Kratzer darauf, blinde Flecken, Ausbuchtungen. Weder Durchblick noch Spiegelung können je vollkommen makellos sein. Es gibt Verunreinigungen und Verzerrungen. Das ist die Crux: Es gibt etwas, das zwischen uns und der Welt liegt“ (Steiner, 2005, S. 54–55). George McCall und Jerry Simmons (1966, S. 137) schreiben: „Die Bilder, die wir uns von Menschen machen, enthalten stets eine Mischung aus Wahrheit und Irrtum […]; es muss sich jedoch um eine Mischung handeln, welche funktioniert. Sie muss also jene Menge an Wahrheit enthalten, die im Hinblick auf unseren alter relevant ist, so dass er uns ein Minimum an Erfolg bei der Auseinandersetzung mit diesem ermöglicht. Wir stehen wahrlich selten in einer Beziehung zu dem Anderen, denn wir kennen ihn niemals von Grund auf“.
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Wie aus dem Vergleich von Self als „Prozess“ und Self als „Objekt“ klar hervorgeht, ist ihr kleinster gemeinsamer Nenner der „generalisierte Andere“, der die letzte beurteilende Funktion sowohl bei der Interpretation der Handlung als auch bei der Erstellung des Selbstportraits, ausübt.31 Anders ausgedrückt wird dem „generalisierten Anderen“ das letzte Wort in beiden Momenten des Self anvertraut und die sich daher im Zeichen des gleichen Grundtons ergeben: wenn unser „generalisierter Anderer“ die Tonart ändert, so erfahren sowohl der Interpretationsprozess als auch das Selbstportrait die gleiche Tonverschiebung. Die Musik ist aber dieselbe. Wir werden noch Gelegenheit haben, die praktische Wichtigkeit dieser Behauptung zu verifizieren, wenn wir uns näher mit der „Kosmologie der Gewalttäter“, sowie mit der Beziehung zwischen der Art der „Situationsinterpretation“, die zum Verbrechen führt und dem „Bild“, das der „Kriminelle“ von sich im Augenblick der Tat hat, befassen.
Alles ist eine Frage der Methode… Noch einmal zu Blumer In den vorangegangenen Abschnitten haben wir die Unterschiede zwischen dem Denken Meads und Blums beleuchtet und dabei bewusst die methodologischen Aspekte ausgelassen. Darum kümmern wir uns jetzt, wenngleich das Problem der Methode der Sozial- und Humanwissenschaften noch viel mehr Aufmerksamkeit bräuchte, ganz besonders der spezielle Fall der Kriminologie, die von ihrem Beginn an ihrer Natur nach an einem angeborenen „epistemologischen Drama“ leidet (Ceretti, 1992, S. 167). Wie stets wird unsere Aufmerksamkeit sich fast ausschließlich auf die Themen richten, die auf der methodologischen Plattform von Athens zusammenfließen, und solche, die nützlich dabei sein können seinen Weg fortzusetzen. Im Gegensatz zu den positivistischen methodologischen Schulen, welche die Methode der Sozialwissenschaften mit derjenigen der Naturwissenschaften gleichsetzen wollen, betont Blumer die Besonderheit und Einzigartigkeit der Sozialwissenschaften. Schematisch besteht der Hauptunterschied zwischen diesen Ansichten im jeweiligen Objekt der Analyse: dem Atom in den Naturwissenschaften, dem Menschen in den Sozialwissenschaften (Blumer, 1969a). 31
Salvatore Veca schreibt: „[…] mit der Zeit definieren wir und definieren wir neu die Interpretationen von uns selbst. […]. Menschen […] verspüren ein besonderes Bedürfnis […] sich zu definieren und neu zu definieren, sich gewissermaßen mit wechselnden Vokabeln der Identität zu benennen. Wir könnten auch sagen, dass wir im Wesentlichen Tiere sind, die sich für ihr Selbstportrait interessieren. Ein Selbstportrait, das Rechenschaft ablegt, dem Bild von uns selbst einen Sinn gibt, einen deutlichen Sinn davon, warum wir der geworden sind, der wir sind“ (Veca, 2005, S. 106).
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Stets ist es der Mythos der Sozialwissenschaften gewesen, die Ebene der „wissenschaftlichen Zuverlässigkeit“ dem der Naturwissenschaften anzugleichen und naiv zu glauben, dass es ausreiche, ihre Methode zu verändern. Blumer hat, gemeinsam mit seinen Mitarbeitern der Chicagoer Schule, zunächst die methodologische Autonomie der Sozialwissenschaften im Hinblick auf ihr eigenes spezifisches „Objekt“, nämlich den Menschen, erklärt und sodann die strukturelle Beziehung zwischen „Objekt“ und „Methode“ behauptet, weshalb er für die Letztere jeden Anspruch auf Universalität verabschiedet, um sich der einzigartigen Form ihres eigenen „Objekts“ anzupassen. Anders gesagt: Das „Objekt“ kommt vor der „Methode“, nicht nur in einem naiven naturalistischen Sinne32, ohne „theoretische Filter“, sondern in der Anerkennung des Respekts für die analysierte soziale Realität.33 Es handelt sich um eine Art von Respekt, die die Fähigkeit zum Zuhören mit sich bringt, eine besondere Sensibilität, die auf Fragen verweist, welche nie naiv oder „neutral“ sind, sondern stets dem Standpunkt des Fragenden dienen, seines symbolischen Universums und seiner „kosmologischen“ Erzählung.34 Die Fragen, die wir demjenigen stellen, der erzählt, eröffnen diesem nicht nur die Möglichkeit, seine symbolische Welt zu rekonstruieren, sondern betreffen 32
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„Die natürlichen Indikatoren […] sind naturalistische in dem Sinne, dass sie aus der Welt der Bedeutung und der Handlungen der Person stammen. Sie sind dieser Welt nicht durch den Soziologen aufgezwungen, wenngleich sie soziologisch interpretiert sind“ (Denzin, 1971, S. 396). Der ontologische Ansatz der Version, die Blumer mit dem symbolischen Interaktionismus in Verbindung gebracht hat, ist unumstritten: Die sozialen Akteure schaffen Bedeutung und verleihen den eigenen und fremden Aktivitäten eine Ordnung. Blumer scheint jedoch nach Ansicht von Autoren wie Clark McPhail / Cynthia Rexroat (1979, S. 257 ff.), diese Annahme zu verwerfen, wenn er darüber schreibt, wie eine Untersuchung zum menschlichen Verhalten durchzuführen ist, besonders dort, wo er behauptet, dass „[…] für den symbolischen Interaktionismus die Natur der empirischen sozialen Welt durch eine direkte, aufmerksame und analytische Untersuchung dieser Welt entdeckt und gewonnen werden muss“ (Blumer, 1969a, S. 111). Die Kursivsetzung stammt von uns. Ihrer Meinung nach beschreibt Blumer auch nie die Sozialwissenschaftler als Konstrukteure von Bedeutung oder Ordner von Handlungen, die sie untersuchen, noch empfiehlt er ihnen so zu sein und nimmt widersprüchlicher Weise an, dass Letztere die „Bedeutung“ und die „Ordnung“ der beobachteten Handlungen ans Licht bringen, indem sie die Schleier, die sie verdecken, lüften. In Wirklichkeit sieht gerade Blumer diese Kritikpunkte voraus und behauptet, dass „[der symbolische Interaktionismus] davon ausgeht, dass […] [die] Bestimmung der Probleme, Begriffe, Forschungstechniken und theoretischen Schemata durch eine direkte Analyse der empirischen sozialen Welt realisiert werden sollte […], statt an einer Simulation oder einem vorherbestimmten Modell zu arbeiten […]“ (Blumer, 1969, S. 111). S. Sini (2005, S. 153), der fortfährt: „[…] die ‘Erklärungen’, die wir als externe Beobachter benötigen, beschreiben unser symbolisches Universum von Fragen, sie erzählen von ‘uns’ und nicht von ‘ihm’ und am allerwenigsten von seiner ‘Wahrheit’“.
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auch unsere Fragen. Und auch an diesem Punkt unterscheidet sich die Ansicht Blumers von derjenigen Meads: während Letzterer einer Methode verpflichtet bleibt, die auf dem Experimentieren beruht,35 hebt Blumer den intuitiven und individuellen Charakter der Forschung hervor (Blumer, 1966). Der Mensch lebt in einer Welt von „sozialen Objekten“ und handelt auf der Grundlage von Bedeutungen, die er diesen im Laufe der „sozialen Interaktion“ zugeschrieben hat. Daraus folgt, dass für eine Vorgehensweise, die sich „wissenschaftlich“ nennt, es einen zu hohen Preis bedeuten würde, die „symbolische“ Welt zu untersuchen –, die per definitionem eine „menschliche“ ist – ohne den aktiv-interpretativen-aktiven Prozess zu berücksichtigen, durch den die Handelnden ihre eigenen Handlungen konstruieren. Der Forscher muss daher seine Interpretation der Bedeutung, welche das Untersuchungs-Subjekt / Objekt liefert, anwenden, um nicht in „die schlimmste Form des Subjektivismus“ zurückzufallen (Blumer, 1962, S. 188; Athens, 1984a), nämlich die Ersetzung der Bedeutungen, wie sie vom beobachteten Individuum interpretiert werden, durch die Bedeutungen, wie sie vom Sozialwissenschaftler interpretiert werden. Er darf nicht in die Falle gehen, die eigenen Interpretationen der gesellschaftlichen Phänomene einer „höheren Ebene“ zuzuordnen als der Ebene jener, die persönliche Erfahrungen sammeln: Er muss also in die Realität des Handelnden eindringen und sie von seinem Blickpunkt aus betrachten, dabei aber auf die „Kategorien“ zurückgreifen, die dieser verwendet, um zu den Bedeutungen zu gelangen, die er seiner Welt zuschreibt.36 Andererseits muss er sich auch nicht passiv an den Worten derjenigen anpassen, die das Territorium „beherrschen“, und zulassen, dass die Analysen von konventionellen gesellschaftlichen Übereinkünften und der Machtverteilung und den Privilegien, die diese schaffen, modelliert werden.37 35
36
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„Die Sozialpsychologie ist eine empirische Wissenschaft. Die empirische Welt muss den Anker für jede Wissenschaft darstellen. Die Wissenschaftler müssen von dieser Welt ausgehen und zu ihr zurückkehren. Die empirische Welt ist nicht notwendigerweise die Welt ‘da draußen’ – die externe Welt des Gelehrten. Der zähe Charakter der Welt ‘da draußen’ bedeutet, dass sie sich unseren Annahmen und Vorurteilen über sie entgegenstellen kann. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass die empirische Welt sich gegen das wendet, was die Gelehrten über sie behaupten“ (Athens, 1993b, S. 164). „Die Metapher, welche ich liebe, ist die des Schleiers, der gelüftet wird, der das, was sein wird verdunkelt oder versteckt. Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung ist es, die Schleier zu lüften, die den Lebensbereich der Gruppe bedecken, die man untersuchen möchte. Schleier lüftet man nicht, indem man auf irgendeiner Ebene Wissen aus erster Hand durch vorgefertigte Bilder ersetzt: Sie werden gelüftet, wenn man dem Bereich nahe bleibt und ihn, durch eine akkurate Untersuchung, in seinem Inneren tiefgreifend betrachtet“ (Blumer, 1969a, S. 97). S. Becker (2003); Becker (1999).
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Alles ist eine Frage der Methode... Sensibilisierte Begriffe und naturalistische Forschung Eine Handlung bekommt erst dann einen Sinn, wenn sie in ein bestimmtes symbolisches Universum eingeordnet wird. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass nach Blumer nur die Naturwissenschaften Begriffe verwenden können, die den Anspruch haben, genau die Eigenschaften einer bestimmten Klasse von Objekten definieren zu können. Die Sozialwissenschaftler hingegen müssen sich „sensibilisierender Begriffe“ bedienen, die sich bei der Einordnung der zu untersuchenden sozialen Phänomene darauf beschränken, die Leitlinien, die Richtung, in die der Blick sich orientiert, vorzuschlagen, ohne ihn zu bestimmen (Blumer, 1954, S. 7).38 Um einen gewagten Vergleich anzustellen, so wäre dies ähnlich wie bei einem Jazz-Stück. Bekanntlich folgen die Jazzstandards „kodierten Schienen“, die aus einer Abfolge von Akkorden bestehen. Der Rest ist Improvisierung. Die Erarbeitung von „sensibilisierten“ Begriffen durch Kriminologen bedeutet nichts anderes, als diese „Schienen“ zu erkennen, welche den Beobachter des sozialen „Zwischenfalls“ leiten. Die Entscheidung für elastische und anpassungsfähige Begriffe ist durch die Notwendigkeit veranlasst, den Überfluss an sozialer Wirklichkeit zu erhalten, dessen Natur im Hinblick auf die Bedeutung typischer Weise vieldeutig ist. Was Blumer hervorheben will, ist die Tatsache, dass es für die Beobachtung der sozialen Wirklichkeit unabdingbar ist, das Neue, Unerwartete, Unvorhersehbare zu erfassen, anders als Begriffe, die bereits vorab eine Definition besitzen. Es reicht also nicht eine Perspektive zu eröffnen; man muss auch innerhalb der Perspektive „offen“ bleiben. Ein weiterer methodologischer Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften besteht in dem angewandten Kausalitätsmodell. Zwar haben bei dem Versuch, der Validität der Naturwissenschaften gleichzukommen, viele Sozialwissenschaften auf das mechanische Modell der Kausalität zurückgegriffen, stellt dies nicht – immer nach Blumer (1956) – notwendig die beste Lösung dar. Denn wenn man bedenkt, dass die Interpretation als typisches Phänomen der sozialen Welt ein ständig im Werden begriffener Prozess ist, der sich mit allem anreichert, was ihm auf seinem konkreten Entwicklungsweg 38
„Von ihnen [den sensibilisierten Begriffen] Gebrauch zu machen bedeutet [u.a.] einen ersten Kontakt zu der zu untersuchenden Realität, die besonders von einem ‘erwartungsvollen’ Verhalten gekennzeichnet ist, mit dem man die Welt, die man untersuchen möchte, nicht ‚angreift’, sondern abwartet, bis aus ihr von alleine Vorschläge für die verschiedenen Elemente hervorgehen, auf die man sich konzentrieren soll (selbstverständlich werden solche Vorschläge nur dann auftreten, wenn der Forscher seine Sicht ‘sensibilisiert’ hat, um sie zu erfassen)“ (Perrotta, 1988, S. 100).
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begegnet, dann ist es absurd zu meinen, dass gewisse kausale Ausgangsfaktoren zwangsläufig ein spezifisches Ergebnis determinieren werden. Das Kausalitätsmodell, das hier vorgeschlagen wird, ist prozessual: „Phänomene sind Produkte von Entwicklungsprozessen, deren erste Phasen nicht automatisch die letzten beeinflussen“ (Athens, 1984a, S. 244). Der Begriff „naturalistische Untersuchung“ bezeichnet die Anhänglichkeit und den Respekt, den ein Forscher der Natur des zu erforschenden Phänomens erweisen muss, indem er versucht, jede Art des Vor-Urteils, das er sicher mit sich bringt, abzulegen und den Dingen nicht eine vorkonstruierte Ordnung aufzudrängen. Der Forscher, noch ein outsider der Realität, die er auslotet, muss die Rolle des Subjekts, das er verstehen will, einnehmen und dabei eine Art methodologisches Role-Taking anwenden. Er „beginnt mit einer Beschreibung des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Interaktion als entstehende, prozessuale, voluntaristische Realitäten, die einen Dialog zwischen den Impulsen und den gesellschaftlichen Definitionen mit sich bringen“ (Meltzer / Petras / Reynolds, 1975, S. 67). Der Vorgang der Untersuchung teilt sich in zwei Phasen: die „Erkundung“ und die „Überprüfung“. In der ersten Phase muss der Forscher eine möglichst intime Kenntnis von dem gesellschaftlichen Phänomen entwickeln.39 An dieser Stelle bildet er die ersten Grund- und Teilideen, die als Anleitung für die Untersuchung wirken. Um in engen Kontakt zu dieser „neuen Welt“ zu treten, ist es unerlässlich, verschiedene Arten von Techniken zu verfeinern: „nichtdirektive Interviews“, „Lebensgeschichten“, „Autobiografien“, „Fallstudie“ und natürlich „teilnehmende Beobachtung“40 – auch wenn uns bewusst sein 39
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„Die empirische soziale Welt besteht im Falle der Menschen […] aus dem Leben der Gruppe […], der die Individuen angehören. Sie besteht aus dem, was sie, einzeln oder kollektiv, erleben und tun und mühen sich in ihren jeweiligen Lebensformen […]. Kurz gesagt, die empirische soziale Welt ist die der alltäglichen Erfahrung […]. Das Leben einer menschlichen Gesellschaft […] oder ihrer Teilnehmer besteht aus der Handlung und Erfahrung der Menschen, die sich in Situationen begegnen, die ihren jeweiligen Welten entstammen. Die Probleme der Sozialwissenschaften und der Psychologie rühren notwendigerweise her vom und kehren zurück zum Verlauf des Lebens der handelnden Gruppe“ (Blumer, 1969, S. 89–90). Einer der Vorteile, der aus dem Ansatz entsteht, der auf der „teilnehmenden Beobachtung“ beruht, besteht darin, dass das so entstandene Material nicht unter dem „ökologischen Fehlschluss“ leidet (Becker, 1970, S. 30–49), der einen Großteil der soziologischen Studien belastet, da keine registrierte Äußerung ausdrücklich vom Forscher vorgetragen wird: Die beschriebenen Akte sind die des Akteurs in seinem „natürlichen Habitat“ und nicht die stark kodifizierte Darstellung von sich, die er dem Wissenschaftler vermitteln möchte, indem „der moralische Diskurs, der über den ‘Blick aus der Ferne’ eines distanzierten Beobachters dieses spezifischen Universums entsteht, […] vermieden [wird]“ (Wacquant, 2000, S. 12).
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muss, dass ein Großteil dieser Techniken eine „ganz natürliche“ Beobachtung nicht ausschließt.41 Wir können wirklich nicht mehr glauben, wie es noch Mead tat, dass das Universum ein riesiges Tier ist, das atmet... . Das Endergebnis, das man sich in der „erkundenden“ Phase vornimmt, ist jedenfalls eine gehaltvolle Beschreibung der Merkmale des beobachteten Phänomens. Die zweite Phase der Recherche läuft unter dem Namen „Überprüfung“: Als Vorgang besteht die Überprüfung aus der Ermittlung eines spezifischen analytischen Elements, wobei man sich diesem auf zahlreichen verschiedenen Wegen nähert, es aus verschiedenen Winkeln betrachtet, viele nicht homogene Fragen über es aufwirft und zu seiner Analyse aus dem Blickwinkel dieser Fragen zurückkehrt“ (Blumer, 1969, S. 105).42 Die in der „erkundenden“ Phase gesammelten Daten werden nun einer detaillierten Analyse unterzogen. Im ersten Durchgang muss der Forscher, durch Vergleiche, die gemeinsamen Eigenschaften verschiedener konkreter Fälle herausarbeiten, die am Anfang unter einem spezifischen Grundgedanken zusammengefasst wurden. Im zweiten Durchgang wird der sich daraus ergebende Begriff mit weiteren konkreten Fällen verglichen bis der Begriff sich stabilisiert. Durch diesen ununterbrochenen Verfeinerungsprozess der Bedeutung des Begriffs kommt es zu den „sensibilisierten Begriffen“, die bereits beschrieben wurden. Der letzte Schritt besteht darin, die verschiedenen sensibilisierten Begriffe, die sich so entwickelt haben, zu „vereinen“, um allgemeine theoretische Thesen zu formulieren. 41
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Beispielsweise stellen auch die Antworten von interviewten Personen, die Kommentare derjenigen, die an Diskussionsgruppen teilnehmen oder ihre Lebensgeschichten erzählen, „unnatürliche“ Handlungen dar, denn normalerweise würden sie nicht von sich und ihren Angelegenheiten erzählen, wie sie es unter diesen Umständen tun, also stets auf künstliche Weise (Athens, 1984a, S. 250). Athens meint, dass der „naturalistische Ansatz“ nur auf solche gesellschaftliche Phänomene anwendbar ist, die sich dieser Forschungsmethode öffnen. Viele gesellschaftliche Phänomene mit Makro-Charakter können nur auf bestimmten Ebenen und nur künstlich erforscht werden. Explorative Techniken sind für diese Aufgabe ungeeignet. „Der Prototyp der Überprüfung sieht so aus, dass wir ein unbekanntes physisches Objekt in Betracht ziehen, es aufheben, von Nahem betrachten und dabei in den Händen rotieren lassen, es aus dem einen oder anderen Blickwinkel betrachten […]. Diese variable Analyse stellt, wenn sie aus der Nähe geschieht, das Wesen der Überprüfung dar. Sie ist nicht vorherbestimmt, routiniert oder vorgeschrieben […]. Stattdessen ist sie flexibel, fantasiereich, kreativ, und es steht ihr frei, neue Richtungen einzuschlagen“ (Blumer, 1969, S. 105).
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Qualitative Forschung und Bewertungskriterien Eine der Operationen, die Athens durchführen musste, bevor er seine Theorie über die Gewalt ausbilden konnte, war die Verfeinerung der von Blumer angegebenen Kriterien,43 um sich in der Komplexität der gesellschaftlichen Realität zurechtfinden zu können – ohne dabei ihre Bedeutungsfülle zu opfern. Athens hat sich insbesondere mit den „wissenschaftlichen Kriterien der Bewertung qualitativer Studien“ (Athens, 1984b, S. 259–268) auseinandergesetzt, mit denen die wissenschaftliche Zuverlässigkeit der qualitativen Recherchen ermittelt werden, deren Methodologie schon immer kritisch gesehen wurde. Er gibt – in abnehmender Folge ihrer Wichtigkeit – drei Kriterien an: „theoretischer Wert“, „empirische Grundlage“ und „wissenschaftliche Glaubwürdigkeit“. 1. Der „theoretische Wert“ einer qualitativen Untersuchung bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen „inhaltlicher“ und „formaler“ Theorien, wie sie von Barney Glaser und Anselm Strauss entworfen wurde. Unter einer „inhaltlichen“ Theorie versteht man „eine Theorie, deren Gegenstand an eine besondere Art von gesellschaftlichem Phänomen gebunden ist“.44 Eine „formale“ Theorie hingegen ist eine Theorie, deren Gegenstand eine allgemeine Klasse von Phänomenen abdeckt. Von der Voraussetzung ausgehend, dass die formalen Theorien, da sie umfassender sind, einen größeren wissenschaftlichen Wert im Vergleich zu den inhaltlichen besitzen, stellt Athens eine Werteskala auf, welche die Bedeutung des Beitrags, die eine qualitative Un43
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Die Menge der von den symbolischen Interaktionisten geschaffenen theoretischer Paradigmen hat verschiedene Strömungen hervorgebracht. „Der Gegensatz zwischen Blumer und Kuhn, zwischen dem symbolischen Interaktionismus der Chicagoer Schule und der self theory der Universität Iowa, besteht […] [beispielsweise] in den für die empirische Forschung anzuwendenden Techniken. […]. Die Schule von Iowa lehnt die Forschungsmethoden der Gründerväter der Chicagoer Tradition ab, da sie sie für unwissenschaftlich hält, und setzt ihnen Methoden entgegen, welche auf dem Gebrauch von Fragebögen und Tests und Definitionen von Begriffen beruhen, die sie operabel machen. Blumer und diejenigen, die sich zu der Chicago-School rechnen, zeigen sich solchen Strategien gegenüber ratlos, die ihrer Meinung nach nicht geeignet sind, die Komplexität der Wirklichkeit einzufangen. Sie schlagen in ihren Untersuchungen vor, die Bedeutungen anzuerkennen, die die wahrgenommene Realität betreffen, indem ein Akt des Role-Taking in Gang gebracht wird, und versuchen somit die Perspektive der Subjekte, die Teil von ihr sind, anzunehmen. Zu diesem Zweck bedienen sie sich persönlicher Dokumente, Lebensgeschichten, unstrukturierter Interviews und speziell der teilnehmenden Beobachtung. Auf diese Weise versuchen sie an Daten zu kommen, die mit anderen Systemen nicht zu erlangen wären“ (Perrotta, 1988, S. 26–27). Glaser / Strauss (1967), zitiert in Athens (1984b, S. 261–263).
Symbolischer Interaktionismus
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tersuchung für die eine oder die andere Art der Theorie leistet, widergibt: a.1. An erster Stelle stehen die Studien, die neue formale Theorien entwickeln, auf der untersten Stufe diejenigen, die eine inhaltliche Theorie entwickeln; es folgen Studien, die zu einer etwaigen Entwicklung neuer inhaltlicher Theorien oder zu einem weiteren Zuwachs bereits existierender formaler Theorien beigetragen haben. An letzter Stelle stehen Studien, die zu einer möglichen Entwicklung oder einem weiteren Zuwachs einer inhaltlichen Theorie beigetragen haben. In der Untersuchung von Glaser und Strauss findet sich zwar ein Beispiel für eine formale Theorie mit qualitativem Charakter und in der Untersuchung von Becker eine inhaltliche Theorie über den Konsum von Marihuana (1953), doch stellt Athens klar, dass der Großteil der qualitativen Studien unter die letzten beiden Kategorien fällt. Offensichtlich existieren keine ausschließenden Grenzen der oben skizzierten Kategorien. Eine Untersuchung kann mehreren Kategorien zugeschrieben werden, indem sie zum Beispiel eine neue „inhaltliche“ Theorie kreiert und zusammen die Grundlage für eine mögliche Entwicklung einer „formalen“ Theorie schafft.
b)
Das zweite Bewertungskriterium betrifft die „empirische Grundlage“ der entwickelten wissenschaftlichen Begriffe, die zu den Beobachtungen und empirischen Fällen, denen sie entnommen wurden, passen müssen. Um diese Bewertung vorzunehmen, muss der Forscher die anfänglichen empirischen Überprüfungen getrennt von den aufgestellten Begriffen auf der Grundlage Letzterer bereitstellen (Athens, 1984b, S. 264). Mit diesem Vorgehen gewinnen die Untersuchungen Transparenz und erlauben so der gesamten Gelehrtenrepublik die Verifizierung der Kohärenz von Daten und Begriffen.
c)
Um an „wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit“ zu gewinnen, muss der Forscher einen angemessenen Bericht über die Bedingungen, unter denen er seine Studie durchgeführt hat, liefern,45
45
„In der quantitativen Forschung wird das Prinzip der Objektivität abgelehnt und das Zurückgreifen auf unpersönliche Verfahren und Techniken zur Akkreditierung möglichst standardisierter Resultate bevorzugt. […] In der qualitativen Forschung findet dasselbe Prinzip in der methodischen Erstellung eines reflexiven Berichts Ausdruck, das Rechenschaft über die Forschungsverfahren, die der Beobachter angewandt hat, ablegt, der das Netz aus Entscheidungen rekonstruiert und begründet, die der Forscher zunächst auf dem Feld, dann am Tisch, bei der Analyse- und Schreibarbeit getroffen hat. Zum Begriff der öffentlichen Wiederholbarkeit der Beobachtungsverfahren kommt hier noch – mit denselben Funktionen – der Begriff der kognitiven Nachvollziehbarkeit des Forschungswegs hinzu, bei dem im reflexiven Bericht Details enthalten sind“ (Cardano, 2003, S. 28).
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Erstes Kapitel c.1. indem er die Praktiken und Prozeduren erklärt, durch die er Zugriff auf eine bestimmte gesellschaftliche Realität hatte; c.2. indem er für seine Beobachtung der Fälle die verwendeten Hilfsmittel akkurat beschreibt (falls er beispielsweise auf die Technik des Interviews zurückgegriffen hat, ist es notwendig, dass er die Vorgehensweise analytisch beschreibt); c.3. indem er über die Methoden für die Analyse der in den vorangehenden Phasen gewonnenen Daten Rechenschaft ablegt. Die „analytische Induktion“, d.h. die „Methode, die verlangt, dass jeder in der Untersuchung gesammelte Fall die Hypothese bestätigt“ (Becker, 1963, S. 45), bei Strafe einer Neuformulierung der Hypothese selbst, ist hierfür ein Beispiel.
Zweites Kapitel Radikaler Interaktionismus Someone else is speakin’ with my mouth, but I’m Listening only to my heart. Bob Dylan
Vorbemerkung Im folgenden Kapitel wollen wir Athens’ biografischen Spuren nachgehen und in seinem Verlauf auch die ersten Grundzüge seiner Theorie über Gewalttaten vorstellen. Methodologisch halten wir es für sinnvoll, zunächst in sein begriffliches Universum einzutreten und die wichtigen Übergänge zu zeigen, die ihn davon überzeugen sich von den orthodoxeren Positionen des meadschen Apparates zu distanzieren und die Basis für die Begriffsbildungen zu schaffen, die er in seinem „radikalen Interaktionismus“ entwickelt (Athens, 2007a). Letzterer erblickt, anders als der „symbolische Interaktionismus“, als „Grundstein“ an der Basis des Funktionierens der Gesellschaft und ihrer Hauptinstitutionen die „Herrschaft“ (domination) – ein Begriff, der den meadschen Begriff der „Sozialität“ (sociality) ersetzt, da er eine sehr überzeugende Erklärung für den Ursprung und das Wirken unserer alltäglichen symbolischen Interaktionen liefert. Im „radikalen Interaktionismus“ ersetzt außerdem der Begriff der „Phantom-Gemeinschaft“ den traditionelleren des „generalisierten Anderen“, was Athens ermöglicht in seiner Erklärung des gewalttätigen Handelns die biografische Einzigartigkeit und die „Kreativität“ jedes Individuums zu berücksichtigen.
Die erste Kritik Athens’ am Denken Meads: Konformität und Individualismus Die erste Kritik Athens’ am Denken Meads betrifft zwei problematische Punkte: die „Annahme der Verhaltensweise“ und den Begriff des „generalisierten Anderen“. Wie bereits bemerkt wurde, sind diese beiden Begriffe funktional miteinander verbunden, denn der „generalisierte Andere“ repräsentiert für Mead die allgemeine Gesamtheit der „Verhaltensweisen anderer“, die mit Hilfe des RoleTaking im Verlauf der sozialen Interaktion verinnerlicht worden sind. Die Voraussetzung dafür, dass die „Annahme der Verhaltensweise“ überhaupt
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Zweites Kapitel
möglich, effizient und „synchronisiert“ funktioniert, ist, dass jeder Teilnehmer der Interaktion eine „bedeutungsvolle“ Sprache verwendet. Außerdem sagen wir laut Mead, während wir kommunizieren, dem anderen das, was wir gleichzeitig uns selbst sagen. Diese reflexive Handlung würde es uns ermöglichen fremdes Verhalten gleichzeitig mit unserem Selbstgespräch anzunehmen, d.h. vor den Antworten der anderen. Im Gegensatz dazu meint Athens: Wir können niemals die Rollen [der anderen] aus dem, was wir ihnen sagen, annehmen, sondern aus dem, was sie uns sagen. Wir müssen stets die Antworten anderer Personen auf unsere Kommentare abwarten, bevor wir mit Sicherheit ihre Verhaltensweisen annehmen können […] Die Sprache macht es möglich, fremde Verhaltensweisen nachfolgend und gleichzeitig anzunehmen [..], weil die Annahme von Verhaltensweisen ein wechselseitiger Prozess ist und kein synchroner (Athens, 2002, S. 36).1
Die Wirksamkeit und sogar der Prozess der Kommunikation selbst werden so viel problematischer im Vergleich zu der Sicht Meads, die sich um die „vorausschauende“ bedeutungsvolle Sprache dreht. Tatsächlich ist es aber so, wie jeder wird nachvollziehen können, der über seine zwischenmenschlichen Erfahrungen nachdenkt, dass wir eher die Verhaltensweisen der anderen in „unsere Kleider“ stecken, als dass wir „in die Kleidung der anderen“ schlüpfen, so dass die Bedeutung, die einer bestimmten „Geste“ zugeschrieben wird, letztlich stets „die unsrige“ ist, und „unsrige“ sind auch die Erwartungen, die wir an die Verhaltensweisen haben, die daraus folgen. Die lateinische Entsprechung zu „erwarten“ [expect] lautet „[…] exspectare […] einer Verstärkung von specere, was schauen meint […], mit dem Geist dabei sein, aber auch mit dem Gesicht und den Blicken, die sich mit Verlangen oder mit Furcht an jemanden oder an etwas heften, das gerade kommt oder geschieht (Borgna, 2005, S. 70).
Aus diesem Grund kann die gleiche Verhaltensweise von jemandem als „friedlich“ interpretiert werden und einem anderen als extrem „verletzend“. Doch die Theorie von Mead, die auf der Dialektik zwischen I und Me aufbaut, kann nur schwer diese Art von Ansprüchen kaum in den Griff bekommen, ohne den ursprünglichen Gedanken zu verzerren. Ist die „Konversation“ zwischen I und Me seiner Ansicht nach die vorbereitende Phase unserer Handlungen und das Me die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erwartungen, die vom einzelnen verinnerlicht sind, so wäre das handelnde Subjekt dazu „begabt“ sich als „Konformist“ zu verhalten. Und in diesem Sinne hat das 1
Die Kursivsetzung stammt von uns.
Radikaler Interaktionismus
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Denken Meads Mühe, den Ursprung, die Quelle des „Individualismus“ zu erklären; nimmt man ihn beim Wort müsste sich alles, was wir im Verlauf einer sozialen Erfahrung sagen und tun, an die Erwartungen der anderen Teilnehmer anpassen.2
Phantom-Gemeinschaft und Selbstgespräch Um einen wesentlichen Teil dieses theoretischen Engpasses zu überwinden und Rechenschaft darüber abzulegen, wie das Self sich auch auf eine nichtkonformistische Art entwickeln kann, erarbeitet Athens den „sensibilisierten Begriff“ der „Phantom-Gemeinschaft“, die in einer ersten Annäherung als Gesprächspartner bezeichnet werden kann, „der den Hauptteil unserer Selbstgespräche ausmacht“ (Athens, 1994, S. 521). Diese Definition verweist auf die Überlegungen, die bezüglich des interpretativen Prozesses der „Vorbereitung auf die Handlung“ angestellt werden – angefangen bei Mead bis zu der deutlich interpretativen Perspektive Blumers. Der Begriff des „Selbstgesprächs“ wurde in der Tat, wenn auch mit anderen Worten, bereits von diesen Denkern3 als Ausdruck des Prinzips der „Reflexivität“ des Self behandelt und als solches liegt es der „Situationsinterpretation“, dem „Selbstbild“ und der „Selbstkontrolle“ zugrunde.4 Die Interaktion mit sich selbst vollzieht sich nicht „[...] zwischen zwei oder mehreren Teilen eines psychologischen Systems, wie zwischen Bedürfnissen oder Emotionen oder Ideen, oder zwischen dem Ich und Ego des freudschen Schemas“. Vielmehr ist es eine „soziale Interaktion“, „eine Form der Kommunikation, bei der die Person sich als Individuum an sich selbst wendet und sich selbst antwortet“ (Blumer, 1969a, S. 55). 2
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„Wenn Mead somit in die fatale Falle tappt, das Self als Spiegel der Erwartungen der anderen zu sehen, verwandelt er auf magische Weise die Menschen in ‘soziale Chamäleons’, was im Ergebnis jeden auf den Status einer Nicht-Person reduziert“ (Athens, 1995a, S. 257). Es mag hier genügen, noch einmal an die „innere Konversation“ zwischen I und Me, wie sie von Mead beschrieben wurde, zu erinnern: „Unser Denken ist eine innere Konversation, bei der wir uns selbst gegenüber die Rollen bestimmter, uns bekannter Personen annehmen können, doch normalerweise unterhalten wir uns mit dem von mir als „generalisierten Anderen“ Bezeichneten […]“ (Mead, 1932, S. 189). „Sprache erlaubt den Menschen, self-direction auszuüben. Unsere innere Kommunikation ist ein Modus, um uns selbst Befehle zu erteilen: Mach mit! Lehne dich auf! Hör zu! Geh weg! Renne! Geh! Biege rechts ab! Arbeite härter! Schlaf! Denke! […]. Jede Art von Kontrolle, die wir über uns haben […] vollzieht sich durch symbolische Interaktion mit uns selbst, indem wir uns erzählen, was geschieht, welche möglichen Alternativen es gibt und welche Handlungslinie eingeschlagen werden soll. Die Entscheidung sich anzupassen und mitzumachen, ebenso wie diejenige, sich aufzulehnen […], betreffen beide Prozesse, mit denen das Individuum im Verlauf der symbolischen Interaktion entscheidet, was zu tun ist“ (Charon, 1979, S. 61).
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Trotz großer Übereinstimmungen, gehen die drei Formulierungen doch beachtlich weit auseinander. Wenn es stimmt, dass für Mead der wichtigste Gesprächsteilnehmer des Self, das Me bleibt – die generalisierte Stimme der gesamten Gemeinschaft, die im Verlauf der sozialen Interaktionen angenommen wird – so schreibt Athens im Gegensatz dazu diese Rolle der „PhantomGemeinschaft“ zu, jener audience von realen oder imaginären Personen, deren Auffassungen wir normalerweise für selbstverständlich halten und vor denen jeder sein Ansehen aufrechtzuerhalten oder zu verbessern versucht (Athens, 2007a, S. 150).5 Kurz gesagt, während man sich den „generalisierten Anderen“ als griechischen Chor vorstellen kann, der einer geschlossenen und stabilen Gesellschaft eine Stimme verleiht, so ähnelt die „Phantom-Gemeinschaft“ eher einem „Parlament“, in dem viele Meinungen vertreten werden, welche die im Laufe unseres Lebens verinnerlichten „significant others“ sind. Da die Vergangenheit eines jeden von uns immer etwas „Einzigartiges“ ist, kann auch derjenige, der innerhalb der Grenzen derselben „physischen Gemeinschaft“ lebt, unterschiedliche „Phantom-Gemeinschaften“ bilden (Athens, 2007a, S. 139): „Jede soziale Welt […] ist ein kultureller Bereich, dessen Grenzlinien weder vom Territorium, noch von der Zugehörigkeit zu einer formalen Gruppe, sondern von den Grenzen einer wirksamen Kommunikation fixiert werden“ (Shibutani, 1961, S. 130), d.h. die „Phantom-Gemeinschaft“, die wir in uns tragen und die die „Empfehlungen“, welche wir benötigen bereitstellt, um eine Entscheidung zu treffen oder eine Situation zu meistern, ist nie direkt der Spiegel der „physischen Gemeinschaft“, der wir angehören. Sie ist eher das Destillat der vergangenen und gegenwärtigen Erlebnisse, wie sie von den einzelnen sozialen Akteuren interpretiert werden. Im Unterschied zu dem „generalisierten Anderen“ oder dem Me, die ihren Ursprung im Verhalten der aktuellen „physischen Gemeinschaft“ eines Individuums haben, bildet sich die „Phantom-Gemeinschaft“ im Laufe der individuellen Biografien, welche von persönlichen Geschichten der Teilnahme an sozialen Handlungen umrissen sind (Athens, 2007a, S. 150):
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Diese Deutung ruft direkt diejenige des „sozialen Selbst“ von William James in Erinnerung: „[Ein] Mensch besitzt so viele soziale Selbst, wie es Menschen gibt, die ihn anerkennen und ein Bild von ihm vor Augen haben. Eines dieser Bilder anzugreifen bedeutet sich selbst anzugreifen. Und so wie die Menschen, welche diese Bilder mit sich tragen natürlich verschiedenen Klassen angehören, kann man sagen, dass der Mensch so viele soziale Selbst besitzt, wie es Menschengruppen gibt, an deren Meinung er interessiert ist“ (James, 1890, S. 294).
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Die Phantom-Gemeinschaft stellt den Sinn der Antworten, Erwartungen, Regeln der „bedeutungsvollen Anderen“ sicher, der Personen, die im Leben jedes Individuums zählen, derjenigen, die seine Existenz, auch gefühlsmäßig, geprägt haben (De Leo / Patrizi / De Gregorio, 2004, S. 15).
Es ist nützlich, sich mit dieser Perspektivenverschiebung zu befassen, weil es helfen wird, die Gesten der Akteure zu verstehen, in denen eine gewalttätige Phantom-Gemeinschaft lebt. Nach Mead sind die moralischen Maximen und die Handlungsanweisungen, welche von der Annahme der Verhaltensweise unseres „generalisierten Anderen“ stammen, stets improvisierte Abstraktionen der „gegenwärtigen physischen Gemeinschaft“ der Personen, derer sie sich notwendigerweise in jenem Augenblick bewusst sein müssen. Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass der zeitliche locus des „generalisierten Anderen“ ständig an das Präsens gebunden ist und an der Spitze des Bewusstseins bleibt (Athens, 2007a, S. 151–152). Athens präzisiert, dass der Ablauf komplexer ist. Unsere Phantom-Gemeinschaften verweisen auf etwas stärker Verwurzeltes, als wir in der Unmittelbarkeit einer Situation wahrnehmen können; sie sind an die Vergangenheit gekoppelt und operieren im Inneren neuronaler Schaltkreise, die immer wieder verwendet werden, nachdem wir im Laufe der Zeit wiederholt fremde Verhaltensweisen angenommen haben und die moralischen Maximen und die Anweisungen für die Handlung destilliert haben, die wir letztendlich für selbstverständlich halten. (Athens, 2007a, S. 153–154). Auch in den Fällen von Homogenität zwischen „physischer Gemeinschaft“ und „Phantom-Gemeinschaft“ sind wir es, die über die bedeutungsvollsten Erlebnisse nachdenken, die in unserem Self eingeprägt sind und die die Sitze unseres „Parlaments“ unseren „bedeutungsvollen Anderen“ zuweisen. Außerdem „können Personen die Perspektive von Gruppen annehmen, deren anerkannte Mitglieder sie nicht sind, Gruppen, denen sie niemals direkt angehört haben, und zuweilen auch Gruppen, die nie existiert haben“ (Shibutani, 1961, S. 256). Denn die „Referenzgruppen“ können auch von den „physischen Gemeinschaften“ absehen und folglich auch nur imaginär sein, ohne dadurch weniger wichtig für ihre Akteure zu sein.6
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Shibutani führt als Beispiel den Fall desjenigen auf, der bei seinem Handeln als „Bezugsgruppe“ kommende Generationen, die Menschheit oder idealisierte, in der Vergangenheit vorhanden gewesene Gruppen annimmt. Das Konzept der „Bezugsgruppe“ bezeichnet eine „reale, oder eingebildete Gruppe, deren Sichtweise von Handelnden zum Bezugspunkt genommen wird. […]. Jeder Mensch agiert in Bezug auf eine audience, und es ist wichtig, die Art von audience zu kennen und, welche Erwar-
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Die Entscheidung Athens’ für den Begriff der „Phantom-Gemeinschaft“ ist sehr bedeutsam. Das Attribut „Phantom“ verweist vor allem auf die Unterscheidung zwischen „physischer Gemeinschaft“ – in der das Individuum gegenwärtig eingegliedert ist – und derjenigen, die es in sich trägt – „Phantom“ genannt, weil es nur in seinem Träger wohnt. Ursprünglich haben unsere „bedeutungsvollen Anderen“ ihren Ursprung meist in konkreten Personen, die unser Leben stark beeinflusst haben: Es geht also um die Zugehörigkeit zu unseren „Primärgruppen“, wie unseren Eltern, unseren Freunden etc. Andererseits verändern sich die Verhaltensweisen dieser Personen, sobald sie einmal verinnerlicht wurden, zu „Phantom-Gesprächspartnern“, die ein eigenständiges Leben zu führen beginnen, wie „Personen, die einen Autor suchen“. Daraus folgt, dass die verschiedenen Gesprächspartner, die zusammen die „Phantom-Gemeinschaft“ bewohnen, obgleich sie aus sozialen Erfahrungen und verschiedenen Epochen des Lebens hervorgegangen sind, weiterhin ihre „Empfehlungen“ in einem „Parlament“ erteilen, das wir mit der Gegenwart verbinden und an das wir uns in jeder Situation koppeln.7 Doch eine Gemeinschaft als „Phantom“ zu bezeichnen bedeutet gleichzeitig, von einer fortschreitende Ausblendung unserer „anderen Phantome“ jenseits der alltäglichen Aufmerksamkeit zu sprechen, obwohl ihr Einfluss sich in uns
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tungen ihr zugeschrieben werden. Die Bezugsgruppe unterstützt die Werte, auf deren Grundlage ein Mensch sein eigenes Verhalten bewertet, dessen Verwirklichung von realen oder antizipierten Reaktionen der Personen abhängt, in Bezug auf welche er handelt. Alle haben eine selektive Empfindsamkeit in Bezug auf andere entwickelt […]. Die gefühllosesten Kriminellen sind sich der Ablehnung des Großteils der Menschen bewusst, doch stört sie das nicht sonderlich“ (Shibutani, 1961, S. 257–258). Der Ansatz von Athens ist nicht nur ein fernes Echo der von Diego Napolitani vertretenen Sicht, die in Individualità e gruppalità (1987, S. 47–48) den Bereich der individuellen spezifisch menschlichen Erfahrung in drei Teile unterteilt und unterstreicht, dass: „1) die Identität des Menschen von Anfang durch ihren ‘Kulturalismus’ gekennzeichnet ist, also durch die je frühere desto stabilere Verinnerlichung von Bezugsbereichen im Umfeld, die den Menschen auf jeden Fall betreffen, der in dieses Umfeld hineingeboren wird und sich äußert. Die individuelle Identifizierung besteht also aus verinnerlichten Relationen (der Identifikation), die in ihrer Gesamtheit eine innere Gruppenzugehörigkeit bildet. Dieses Gruppennetz bzw. diese Gruppenmatrix […] ist also zugleich historisches Fundament des Daseins und Objekt der Zerstörung durch den symbolischpoetischen Ausdruck; 2) analog zu einer genetischen Disposition zum Lernen, die den Identifikationsprozess ermöglicht, eine expressive Disposition vorstellbar ist, die mittels identifikatorischer Elemente (s. z.B. die Sprache) in die Maschen des ‘Netzes’, in das sie geboren wird, zerstören und durchdringen, um dann in die Welt als fertiges Symbol zu kommen. […]; 3) Identität und Kreativität […] außerhalb des Überlebenskreislaufs stellen und einen existentiellen Kreislauf eröffnen.
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weiterhin „vergegenwärtigt“ und maskiert vorhanden bleibt (larvatus prodeo), oft sogar vor den Augen ihres Täters.
Phantom-Gemeinschaft und Über-Ich Nicht übergangen werden dürfen einige Beobachtungen zu Übereinstimmungen und Divergenzen zwischen dem Begriff der „Phantom-Gemeinschaft“ und dem des „Über-Ich“. Letzteres von Freud und vielen seiner Nachfolger als innerer Zensor verstanden, der alle moralischen Funktionen der Persönlichkeit leitet und sich mittels Identifizierung mit den Gestalten der Eltern und der Verinnerlichung der normativen Modelle, die von ihnen im Kindesalter vermittelt wurden, bildet.8 In der Psychoanalyse hat jedes menschliche Verhalten einen Teil seines Ursprungs in den zwischenmenschlichen Beziehungen und in den affektiven Verhältnissen, die im Inneren der Primärgruppe, vor allem in den ersten Lebensjahren, bestehen. Denn in der frühesten Kindheit lernt das Kind gerade durch den gefühlsmäßigen Klang, mit dem seine Initiativen und Erfahrungen akzeptiert und erlebt werden, auf bestimmte Weise zu reagieren, d.h. Beziehungen, Handlungen Initiativen von spontanem Vertrauen einzugehen, oder sich auch gegen das Gefühl des Nicht-Akzeptiertsein, Vernachlässigtseins, Nicht-Toleriertseins oder auch gegen einen Angriff zu verteidigen (Falcone, 1978, S. 7).9
Seit den Anfängen der Psychoanalyse haben wir von ihren Hauptvertretern gelernt, dass die Bildung des Über-Ich, obwohl es bereits um das fünfte oder sechste Lebensjahr festgelegt ist, (natürlich) nicht bedeutet, dass ein Kind 8
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„Das Über-Ich hat drei Funktionen: Selbstbeobachtung, Kritik und Festlegung der ideellen Ziele, und es wird, durch die Verinnerlichung der Bilder der Eltern zum Repräsentanten all ihrer Urteile und Werte, die somit über Generationen weiterbestehen. Die endgültige Veränderung des Über-Ich geschieht mit der Überwindung der primitiven instinktiv-narzisstischen Position durch die strukturierende Verinnerlichung des ödipalen Konflikts“ (De Masi, 1989, S. 401). August Aichhorn (1951, S. 183) schrieb, um die Hinwendung zu dominierenden sozialen und normativen Forderungen in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu erklären: „[...] die sozialen Menschen folgen einer inneren Stimme, einer kritischen Instanz in ihnen, die ein unsoziales Handeln unmöglich macht, einem kategorischen Imperativ, der ein bestimmtes Tun vorschreibt, zu Unterlassungen, zur Unterdrückung von Gedanken und Impulsen zwingt. Wir fühlen es ganz deutlich, daß sich in uns etwas dem handelnden Ich scharf beobachtend gegenüberstellt, es aneifert, es zurückhält, mit ihm zufrieden, unzufrieden ist, es lobt, tadelt, verurteilt. […]. Das handelnde Ich bleibt in der Gesellschaft wirklich führerlos, wenn sein kritisches Ich nicht auf die Forderungen der Sozietät abgestimmt ist, und sozial sein heißt dann ganz allgemein, eine solche Ichinstanz haben und sich ihr konfliktlos unterordnen“.
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danach nicht mehr „erzogen“ werden könne. Es wird bloß behauptet, dass die pädagogischen Beziehungen, die in diesem Zeitraum mit den Primärgruppen unterhalten werden, die dauerhaftesten Eindrücke und Auswirkungen auf die Bildung der Persönlichkeit erzeugen. Im weiteren Verlauf seines Lebens wird das Individuum stets weitere wichtige Charakterzüge von Lehrern, Autoritätspersonen, die die Rolle des Vaters weiterführen, und von eingebildeten Helden verinnerlichen können. Ein Aspekt, der das „Über-Ich“ von der „Phantom-Gemeinschaft“ unterscheidet ist, dass während Ersteres hauptsächlich von den Gestalten der Eltern geschaffen wird (hauptsächlich vom Vater und seiner normativen Rolle), Letzteres von jeder Person oder jeder Gruppe geschaffen werden kann, die dem Menschen im Laufe seines Lebens in bedeutungsvoller Weise begegnet, zum Beispiel während seiner beruflichen Laufbahn oder im Rahmen seiner sozialen Mobilität, die ihn „Erfahrungen“ mit neuen sozialen Gruppen aussetzt. Die „Phantom-Gemeinschaft“ entwickelt und verändert sich also während des gesamten Lebens, ohne dabei die Hauptfunktion als innerer Repräsentant ethischer Werte und moralischer Normen auszuüben: sie hat eher eine stärker gesprächsführende Funktion, als das Über-Ich in der Weise, dass, während sie sich unaufhörlich mit den vielen Stimmen, aus denen sie zusammengesetzt ist, unterhält, der Akteur einen Sinn aus seinem sozialen Handeln zieht, um seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen zu lenken. FILM: DOGVILLE Grace, Tochter eines gefürchteten Gangsters, versucht sich der „Herrschaft“ ihres Vaters dadurch zu entziehen, dass sie Zuflucht in der kleinen Stadt Dogville sucht. Von Anfang an merkt sie, dass sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen möchte, damit sie von den Einwohnern akzeptiert wird. Indem sie Tom antwortet, führt Grace laute Selbstgespräche mit sich selbst und somit kommt zum Vorschein, dass einige Stimmen ihres „inneren Parlaments“, die durch ihre Anwesenheit in der neuen physischen Gemeinschaft, in der sie sich befindet, wieder erwacht sind, sich allmählich durchsetzten.10 Tom: „Möchten Sie etwas essen? Grace: „Ich kann nicht… Ich habe das Brot nicht verdient... Ich habe diesen Knochen gestohlen, ich habe zuvor noch nie ‘was gestohlen und deshalb... deshalb muss ich mich jetzt bestrafen. Ich wurde zur Arroganz erzogen, also hatte... hatte ich mir diese Dinge erst selbst beizubringen... .“ Tom: „Nun, für Ihre Erziehung mag es ja das Beste sein, aber, Grace, in dieser Stadt und in diesen Zeiten wäre es unhöflich das, was einem vorgesetzt wird, nicht zu essen...“. Grace: „Es tut mir so leid, ich... ja, in Ordnung.“ 10
Die Hervorhebung stammt von uns.
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Die dreizehn Grundsätze des Selbstgesprächs Der Gedanke ist nicht die Beobachtung von einem inneren Geschehen, sondern das innere Geschehen selbst. Wir denken nicht über etwas nach, sondern etwas entsteht denkend in uns. Der Gedanke besteht nicht aus der Tatsache, daß wir etwas klar erkennen können, das sich in uns entwickelt hat, sondern aus der Tatsache, daß eine innere Entwicklung sich bis zu diesem deutlichen Bereich erstreckt […] (Musil, 1955).
Der Vorgang des Denkens im Sinne eines „Selbstgesprächs“ ist ein ununterbrochener Fluss: Wir können diese Interaktion in unserem Inneren ganz deutlich erkennen, denn jeder von uns kann feststellen, dass er auf sich selbst wütend ist oder sich in Bezug auf seine Aufgaben motivieren muss, oder sich daran erinnert, dieses oder jenes tun zu müssen, oder er sich selbst Anweisungen für die Organisation eines Handlungsplans gibt… Diese Funktion ist stets aktiv, während wir wach sind, wenn man etwas bemerkt oder dieses oder jenes Problem bemerkt, oder man bemerkt wie stark und wie es eintrifft (Blumer, 1969a, S. 55).
Margaret Archer (2003) hat kürzlich betont, dass es William James (1890)11 war, der den Übergang vom traditionellen introspektiven Modell – welches die Fähigkeit, unsere Gedanken durch ein inneres Auge zu verstehen und sich an sie zu erinnern, also in uns „hineinzublicken“ betrachtet – zum Modell des Monologs und des inneren „Zuhörens“, definiert hat. James war sich nämlich zweifellos der Schwierigkeiten bewusst, die Selbstbeobachtung als Modell des Wissens um uns selbst im doppelten und simultanen Gewand von „Beobachtern“ und „Beobachteten“ zu verstehen.12 Doch für diesen Autor findet das Wissen um uns selbst noch nicht in Form eines inneren „Dialogs“ statt, denn derjenige, der spricht, auf der einen Seite und derjenige, der zuhört, auf der anderen werden als „eingefroren“ und getrennt voneinander in den jeweiligen Rollen betrachtet.
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„Die Identifikation und die Analyse des Bewusstseinsstroms [stream of consciousness] durch James stellt einen fundamentalen Beitrag zur Psychologie des Self dar. Der Strom ist das Innenleben und schließt all jene Gefühle, jene Empfindungen, und jene Ideen mit ein, welche im Menschen vor sich gehen. James betont bei diesem Vorgang nicht die Rolle der Sprache, doch das Organisationsprinzip des Stroms scheint die Sprache oder der innere Diskurs zu sein. Wenn Mead das Gespräch zwischen I und Me beschreibt, spricht er genau über den von James entwickelten Bewusstseinsstrom, doch hebt er die linguistischen Aspekte, die den Strom lenken und kontrollieren, hervor“ (Wiley, 2006, S. 7). „Äußern wir etwas, so werden wir zu Subjekten; hören wir unsere Äußerung, so hören wir uns selbst als Objekte zu. Daher können wir gleichzeitig sowohl Subjekte als auch Objekte sein. Perverser Weise ist Sicht die einzige unserer Sinne, die dies ausschließt [...]“ (Archer, 2003, S. 96–97).
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Um dahin zu gelangen, das „Selbstgespräch“ als ununterbrochenen „inneren Fluss“ zu verstehen, in dessen Verlauf die Personen sich mit sich selbst unterhalten, sich selbst Fragen stellen und sich Antworten in Bezug auf das geben, was gerade passiert und was sie entscheiden, was passieren soll, war die von Charles Peirce (1934–1935) ausgelöste Wende, die es ermöglicht hat, die zeitliche Trennung zwischen „Beobachter“ und „Beobachter“ zu überwinden, ohne wie der „Sprecher“ und der „Zuhörer“ von James in die Falle zu geraten: Das Problem ist, dass diese eingefrorenen Rollen nicht mit den weiteren Formen der Reflexivität, an denen wir beteiligt sind, fertig werden, wie dies in Fällen des Selbstzweifels, der Selbstkritik und der Selbstkorrektur der Fall ist. In solchen [komplexen] Denkprozessen interagieren Subjekt und Objekt, und es wird daraus eine Selbsterkenntnis generiert, die nicht bloß eine Frage des passiven Zuhörens und Erfassens ist (Archer, 2003, S. 97).
Gerade Peirce – der in seinen Studien von der Überzeugung ausgeht, dass ein Gedanke stets dialogisch ist (Peirce, 1933, S. 6) – verleiht dem geistigen Leben ein aktives Mitwirken: Jedem von uns ist es möglich, auf die Fragen, die wir uns stellen, zu „antworten“, ohne dass dies eine „Bewusstseinsspaltung“ bedeutet, und somit sogar die Form einer richtigen und eigenen „Konversation“ zwischen Ich und Ich annimmt – zwischen FragendemAntwortendem –, die sich im Laufe der Zeit entwickelt und verewigt (Archer, 2003, S. 140–142). Wie wir später noch im Kapitel Kosmologie und Gewalt sehen werden, ist es die „Reflexivität“, die sich im Wege der „inneren Konversation / Selbstgespräch“ manifestiert, die es uns ermöglicht, über den einfachen Monolog hinaus zu gelangen. Die „reflexive Tätigkeit“, die den Fluss des Selbstgesprächs bewirkt, kann nach Athens in dreizehn Grundsätze eingeteilt werden, die deren Ablauf durchbuchstabieren:
Erster Grundsatz „Personen unterhalten sich mit sich selbst, als ob sie mit jemand anderem sprechen, nur dass sie elliptisch sprechen“ (Athens, 1994, S. 524). Das bedeutet, dass wenn wir uns mit uns selbst unterhalten, wir es auf eine viel schnellere, abgekürzte Art tun – durch „Ellipsen“ also und „stenografisch“13 – verglichen mit der Art, in der wir mit anderen sprechen.14 Die „Sinneswahr13
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Die Ellipse (gr. elleípo, „Auslassung“) ist eine rhetorische Figur, die aus Auslassungen von einem oder mehreren Begriffen in einem Satzes bestehen, die mitgedacht werden können. Shibutani (1961, S. 188) bemerkt, dass die innere Kommunikation sich durch „Nichtwahrnehmbarkeit“ und Kürze auszeichnet. Es ist nicht nötig, sich das zu sagen, was
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nehmungen“ und „Emotionen“ können in die „innere Unterhaltung“ von jedem von uns mit einfließen. Sie können „syntaktisch“ als Teile dieser Unterhaltung „agieren“: Ein Individuum kann zu sich selbst auf verschiedene Weise sagen: „Ich habe Hunger“. Der Begriff ‘Ich’ kann aufgehoben werden, da seine Anwesenheit selbstverständlich ist. Auch das Verb ‘habe’ kann wegfallen, weil auch das vorausgesetzt wurde. Das Wort ‘Hunger’ allein kann einen kompletten Gedanken bilden. Aber auch das Gefühl, das mit dieser Begierde verbunden ist, selbst das in Bezug auf Essen entstandene, kann als Verb agieren. Ein nagendes Hungergefühl zu erleben, kann die ganze Semantik bilden. Und der Hunger seinerseits kann durch Sensationen dargestellt werden: ein Bild, ein Geschmack, ein Geruch oder auch ein Brutzeln können diesen Platz einnehmen (Wiley, 2006, S. 17).
FALL F: MORD Der Interviewte versucht die innere Antwort zu beschreiben, die er angesichts der Angst, die seine Gesprächspartner äußern, sich selbst gibt. Mehr als die Worte nehmen vielsagende bösartige Grimassen Gestalt an. Wenn jemand zeigte, dass er vor mir Angst hatte, habe ich nicht zu mir gesprochen. Ich lachte innerlich. Das war ein bösartiges Grinsen.
Zweiter Grundsatz Wenn Personen untereinander einen Dialog führen, können sie sich nicht verstehen, ohne kontextuell auch mit sich selbst zu sprechen. „Ein Zusatz zu diesem Grundsatz ist, dass Personen im Stillen zu sich sprechen können, und das tun sie häufig, ohne dass sie sich dabei gleichzeitig mit anderen unterhalten; daraus folgt, dass das, was man hört, nicht immer als getreuer Ausdruck von Gedanken und authentischen Emotionen dessen, der spricht, verstanden werden kann“ (Athens, 1994, S. 524). Um den Sinn dessen, was wir sagen, zu verstehen, müssen wir folglich uns selbst kommunizieren, was wir gleichzeitig anderen gegenüber äußern.
Dritter Grundsatz Die Schnittstelle von der die Rede war, sieht so aus, dass wenn sich jemand an uns wendet, wir „uns gleichzeitig selbst das erzählen müssen, was die anderen uns gerade sagen“ (Athens, 1994, S. 524). „Die Perspektive des anderen anzunehmen“ bedeutet, genau gesagt, dass wenn ich „dem nicht folge, was du gerade sagst“, ich deine Aussage nicht verstehen kann. Beim Zuhören wird man bereits weiß und was man einfach für selbstverständlich hält. Im Allgemeinen vollzieht sich der Gedanke im Stillen, außer man muss sich mit ganz besonders komplexen Problemen auseinandersetzen.
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man kontextuell veranlasst, das, was man hört, zu interpretieren: „eine Unterhaltung besteht nur aus Wörtern, doch die Wörter spricht man nicht nur aus, sondern hört sie auch. Zuhören bedeutet nicht ‘jemandem Gehör schenken’, sondern sich leiten lassen. Wenn es dann statt eines Wortes zum Schweigen des anderen kommt, dann lässt man sich von dieser Stille leiten“ (Galimberti, 1994). Für Athens zeigen dieser und der vorhergehende Grundsatz, „wie aktiv das Self an der Übermittlung und Rezeption von Informationen beteiligt ist, die an andere Personen gerichtet sind und von anderen Personen stammen“ (Athens, 1994, S. 525).15
Vierter Grundsatz Es darf nicht vergessen werden, dass wir durch „Selbstgespräche“ alltägliche körperliche Eindrücke – unbestimmt, diffus, amorph – in Emotionen überführen, die wir im Nachhinein als Stolz oder Scham, Freude oder Traurigkeit, Liebe oder Hass, Gelassenheit oder Wut etc. erkennen. Es kann vorkommen, dass sich diese Prozesse so schnell vollziehen, dass die Emotionen, welche durch das „Selbstgespräch“ gefördert werden uns trügerischer Weise als vorgefertigt vorkommen können. Ohne die Neigung, mit uns selbst zu kommunizieren, wären wir also einfache Übergangspunkte in einem schnellen Fluss aus körperlichen Empfindungen von unterschiedlicher Intensität, jedenfalls aber vage. Gedanken und Emotionen vollziehen sich gleichzeitig, auch wenn wir nicht die sprachlichen Mittel besitzen, um diese Komplexität wiederzugeben (Athens, 1994, S. 525). FALL D: GATTENMORD Wie viel Zorn kann an einem Tag aufkommen? Vielmals... Hass hingegen ist eine tiefer liegende Sache... Zorn ist eher eine Augenblickserscheinung... er ist etwas, was sich nach einer Weile verflüchtigt, vielleicht. Zorn kann sich in Freude verwandeln, vielleicht auch in weniger als einem Augenblick... . Ich kann zornig sein, weil etwas gewesen ist, das mich jähzornig gemacht hat. Dann lässt mich vielleicht ein banaler Satz wieder lächeln... . Aber der Hass bleibt... bleibt drinnen, es ist eine tiefer liegende Sache, die noch tiefer in das Innere einschneidet. Ich finde das ist der Unterschied.
Fünfter Grundsatz Im Selbstgespräch „stammt alles, was uns gesagt wird, auch das, was wir uns selbst mitteilen von einem Gesprächspartner“ (Athens, 1994, S. 525).
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Die Kursivierung stammt von uns.
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Unsere direkten Gesprächspartner sind die Personen, mit denen wir gerade tatsächlich sprechen. Doch gleichzeitig unterhalten wir uns auch mit „Phantom-Anderen“, die, im Vergleich zu Ersteren, ein stabiles, konstantes und selbstverständliches Element für all unsere wechselhaften sozialen Erfahrungen repräsentieren.
Sechster Grundsatz Ein – nur scheinbares – Paradox, mit dem man sich auseinandersetzen muss, liegt darin, dass der „Phantom-Andere“ „einer und viele“ ist. Eine Stimme im Singular insofern, als wir im Verlauf der „Selbstgespräche“ nur in der Lage sind, uns mit einem „Phantom-Freund“ auf einmal zu unterhalten; doch auch im Plural, da im Verlauf unseres Dialogs mit uns selbst uns mehr als ein „Phantom-Freund“ zur Verfügung steht, mit dem wir uns unterhalten können – was uns die nötige Flexibilität für die unterschiedlichsten sozialen Erfahrungen verleiht. (Athens, 1994, S. 525–526). Und so wie die Gesamtheit der „Phantom-Freunde“ die „Phantom-Gemeinschaft“ bildet, welche den Menschen eine Stimme – polyphon, aber einheitlich – sowie einen Resonanzboden verleiht, die dazu dienen den unterschiedlichsten sozialen Erfahrungen einen Sinn zu geben. Ausgehend von einer „systemischen“ Sprache und einem „systemischen“ Register merkt Athens an, dass die „Phantom-Gemeinschaft“ größer als die Summe ihrer Teile, also der „Phantom-Anderen“, sei, weil Letztere mit Schaltkreisen in Verbindung gebracht werden, die ihre Kombinationsmöglichkeiten vervielfachen.
Siebter Grundsatz Das „Selbstgespräch“ operiert „sowohl an der Oberfläche, als auch auf einer tieferen Ebene“ (Athens, 1994, S. 526): an der „Oberfläche“ kann man es beobachten, wenn es sich mit uns während sozialer Interaktionen unterhält und es uns somit gelingt dessen, was wir sagen, bewusst zu sein; doch um die Protagonisten, die in der „Phantom-Gemeinschaft“ leben, zu entdecken und zu erkennen, muss man in seiner Reflexion über ihre Präsenz „tiefer“ nachdenken. Der Lage, in der wir uns völlig – und schmerzlich – ihrer bewusst werden, ist diejenige, während der „dramatischen Veränderung unseres Selbst“, die uns dazu zwingt, unsere Augen einer „Phantom“-Realität zu öffnen, die normalerweise als selbstverständlich vorausgesetzt wird.16 Sich dieser „Veränderung“ bewusst zu werden, bedeutet zugleich, das Todesurteil über die alten „Phan-
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S. in diesem Kapitel den Abschnitt zur dramatischen Veränderung des Selbst.
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tom-Freunde“ zu verkünden und neue mögliche Gesprächspartner auszumachen.
Achter Grundsatz Dieser Grundsatz, der aus einer Kombination des vierten, fünften und siebten Grundsatzes abgeleitet ist, besagt, dass „[...] die „Phantom-Anderen“ die versteckte Quelle unserer Emotionen sind“ (Athens, 1994, S. 526–527) und dass diese unsere Sensibilität für manche Erfahrungen des Lebens enorm steigern können. Der Dialog mit Letzteren kann so gewichtige gefühlsmäßige Rückfälle auslösen und künftige Folgen / Ergebnisse eines Geschehens so weit vorwegnehmen, dass sie eine sich selbst bewahrheitende Voraussagung bewirken.
Neunter Grundsatz Dieser Grundsatz, der die Konstruktion des „Selbstbilds“ betrifft, besagt, dass „das Selbstgespräch keine Selbstbildnisse schaffen kann“ (Athens, 1994, S. 527). Wir hatten bereits Gelegenheit, über diesen Aspekt nachzudenken, als wir auf die Konzeption des Self als „Objekt“ Bezug genommen haben. Wir werden uns deshalb darauf beschränken, bei dem fortzufahren, was über den Entstehungsprozess des „Selbstbilds“ gesagt wurde und dem zuvor gezeichneten Bild einige Details hinzuzufügen. Die Konstruktion des „Selbstbilds“ vollzieht sich in zwei Phasen. In der ersten schätzt der Mensch ab, was Familie, Freunde und die besonders nahe stehenden Personen für ihn empfinden, sowie das Bild, das sich daraus ergibt. In der zweiten Phase sieht er erneut das Bild, welches sie über ihn haben, indem er die Perspektive der eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ annimmt. Erst nach diesem weiteren Urteil kann eine Person ihr „Selbstbild“ klar erkennen. Selbstverständlich kann der beschriebene Prozess sich auch weniger linear vollziehen. Athens betont nämlich, dass „es möglich ist, dass man nicht zu einem Endergebnis gelangt […]. Wenn unsere Phantom-Gemeinschaft zersplittert ist, wird es zu einem widersprüchliches Bild von uns selbst kommen. Je zersplitterter unsere Gemeinschaft ist, desto widersprüchlicher wird das Bild sein, das aus ihr entsteht“ (Athens, 1994, S. 528). Dieser Umstand tritt jedes Mal ein, dass es zwischen den verschiedenen „Anderen“, aus denen die „Phantom-Gemeinschaft“ besteht, nicht zu einem ausreichenden Einverständnis kommt. Dann werden wir von einem „Gewirr aus widersprüchlichen Beurteilungen, die von ebenso konfliktreichen Gedanken und Emotionen
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begleitet werden“ überwältigt. Dieses verfahrene Gewirr wird zu einem regelrechten Rätsel, und wir werden zu einem Rätsel unserer selbst. Zwischen diesen Fragmenten verliert das Self seine innere Einheit und gibt dem Individuum kein klares Bild mehr von sich selbst. FALL A: MORD Ich bin ein ganz merkwürdiger Mensch, ich verstehe mich nicht... ich bin sicher ein... wenn ich Pirandello gekannt hätte... hätte er mir ein Denkmal gesetzt. Ich bin echt wie Pirandello: „Einer, keiner, hunderttausend“. Diese Facetten, diese Gutmütigkeit und dann die Bosheit... . Manchmal hab ich mir gesagt: „Wieso kann ich in manchen Situationen so bösartig, so heimtückisch und fies sein?“ Ich habe mich dann vor mir selbst geekelt und mich weiter gefragt: „Wieso kann ich in anderen Situationen dann so mutig und anständig sein?“. Nicht einmal ich konnte jemals diese Seiten meiner Persönlichkeit erklären... . Ich war selbst erstaunt, solche Dinge getan zu haben. Einmal war da ein kolossaler Mann, riesig... und ich habe die Sommer im Park X verbracht... und ich erinnere mich, dass sich dieser Typ alleine an einen Tisch setzte. Da war auch eine Frau mit zwei Kindern, und er aß mit ihnen. Dann sagte er zu der Frau gewandt: „Hey! Halt deine Kinder bei dir...“. Ich habe ihn angesehen, ich saß an einem dritten Tisch mit einem Freund, der… .und dann hab ich zu ihm gesagt: „Wenn du es nochmal wagst, dieser Frau etwas zu sagen, schlage ich deinen Kopf in zwei Stücke!“ Und er, er war ein Berg... und wenn der mir eine reingehauen hätte... er hat einfach zu Ende gegessen und ist mit eingezogenem Schwanz weggegangen... . Ich muss es ihm auf eine Art gesagt haben... denn manchmal, da passiert mir diese Sache, dass wenn ich etwas sehe, dass ich für falsch halte, ich ganz verwirrt werde… aber immer in Bezug auf gesunde Sachen... . Das war echt ein böser Mensch, der mit den Kindern. Bei solchen richtigen Sachen ist es richtig, dass man ein Mann ist und eingreift. Ich meine... ich weiß, dass ich im Leben auch Gutes getan habe, und dann, manchmal, lobe ich mich und sage: „Also, dann bist zu doch nicht so einer...“. Manchmal können zwei, drei Sachen, die man richtig gemacht hat ein Bild retten, das eigene Bild...
Zehnter Grundsatz „Die Phantom-Gemeinschaft nimmt immer die wichtigste Rolle in unseren Selbstgesprächen ein“. Ist nämlich das Herstellen von Beziehungen, das Interagieren und Sprechen mit denjenigen, mit denen wir eine Erfahrung teilen, von größter Wichtigkeit, um die „entstehende“ Bedeutung zu erfassen, so gelangt man zu der „endgültigen“ Bedeutung notwendigerweise durch den Dialog mit ihr, die das stabile und konstante Element des Self konstituiert, das, was die einzelnen sozialen Erfahrungen und die wechselnden „Selbstgespräche“ überlebt, die daran teilhaben.
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Elfter Grundsatz „Die Selbstgespräche sind ihrer Natur nach vielstimmige Dialoge, bei denen immer die Möglichkeit gegeben ist, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Gesprächspartnern entstehen“ (Athens, 1994, S. 529).
Besonders hier unterscheidet Athens klar zwischen dem Begriff der „PhantomGemeinschaft“ und Meads Begriff des „generalisierten Anderen“. Um die „offizielle Stimme der Gesellschaft“ zu bezeichnen, verwendet Athens die Pronomen They oder Them („sie“) und stellt sie damit dem Me gegenüber. Die „Phantom-Gemeinschaft“ assoziiert er stattdessen mit dem Pronomen Us („wir“). In Anlehnung an diese Neudefinition – und unter der Voraussetzung, dass eine vollkommene Harmonie in dieser Welt nicht möglich ist – klingen jedes Mal, wenn Them und Us in enger Eintracht miteinander operieren, wie eine einzige Stimme. Ein paradigmatisches Beispiel für die Intensität, die dieser Gleichklang im Selbstgespräch annehmen kann, finden wir in einem unserer Interviews wieder. FALL D: GATTENMORD Der Blick der Leute… schon immer… denn als Kind war da meine Mutter, die diese Phobie hatte... und manchmal sage ich: „Was hat meine Mutter mir da in den Kopf gesetzt?“ Denn meine Mutter war eine ständige... sie unterdrückte mich, sie hat mich konditioniert, sie hat es mir ins Blut getan, in die DANN... also die Tatsache, dass die Menschen... . Der Blick der Leute war auch ein Thema bei der Trennung, von der alle wussten... denn vielleicht konnte es sein, dass die Leute sagten: „Der da hat sich schon einmal getrennt. Wer sich einmal irrt, wird sich auch ein zweites Mal irren.“ Der Blick der Leute... es ist ein Gefühl, als ob man irgendwie ein schmutziges Gesicht hätte... als ob man sein Gesicht verlieren würde.
Andererseits können Them und Us in großen Widerspruch zueinander treten, und ihre Stimmen können getrennt voneinander gehört (Athens, 1994, S. 529) werden. Jedenfalls ist es stets die „Phantom-Gemeinschaft“, die den größten Einfluss auf das Self ausübt, nicht die schwächere „Stimme der Gemeinschaft“ (d.h. das Them).
Zwölfter Grundsatz Dieser Grundsatz verwischt den Unterschied zwischen „Konformisten“ und „Individualisten“ insofern, als die Individuen manchmal „Chamäleons“ sein können und manchmal „kreativ“, je nachdem, was die „Phantom-Gemeinschaft“, oder Us, ihnen im Laufe der sozialen Erfahrungen vorschlägt. Wenn ihr Vorschlag mit dem Them in Zwietracht gerät, handeln die Individuen
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unvorhersehbar. Andererseits werden sich die Personen weniger „kreativ“ verhalten, wenn es keine starke Diskrepanz zwischen Us und Them gibt und somit hauptsächlich die allgemeinen Erwartungen der Gesellschaft erfüllt werden. Ohnehin sind im Gegensatz zum Volksglauben, die Konformisten keine Mitläufer, die instinktiv die Forderungen derjenigen, mit denen die soziale Erfahrungen teilen, erfüllen.[...] Sie üben gekonnt eine soziale Kontrolle über das eigene Mitwirken an den sozialen Erfahrungen aus, so dass sie die Erwartungen der Anderen vollkommen erfüllen können“ (Athens, 1995a, S. 246).
Dreizehnter Grundsatz Die soziale Erfahrung ist der „Bildhauer unserer Phantom-Gemeinschaft“ (Athens, 1994, S. 530). Doch um sie zu formen, reichen triviale soziale Erfahrungen nicht aus – jene des alltäglichen Lebens, um es deutlich zu sagen, die eine geringe emotive Wirkung besitzen und bald vergessen werden. Ganz im Gegenteil sind es die denkwürdigen Erfahrungen, die eine bedeutungsvolle und andauernde Wirkung auf die Biografien der Menschen haben.
Der zeitliche Fluss des Self Die Kritik, die Athens anbringt, betrifft eine weitere von Mead nicht gelöste Frage nach der zeitlichen Natur des Self. Die Schwierigkeit besteht darin, die richtige Balance zwischen seiner Stabilität im Verlauf der Zeit einerseits und der Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit, die es kennzeichnen, andererseits zu finden. Morris Rosenberg präzisiert in diesem Zusammenhang, dass der „Begriff des Selbst“ – verstanden als „Gesamtheit der Gedanken und Gefühle, die ein Individuum gegenüber sich selbst als Objekt hat“ – sich mit dem „Selbstbild“ überschneidet (Rosenberg, 1979, S. IX). Ein Verständnis des Selbst, meint hingegen Shibutani, ist nicht der eigene Körper oder die Vorstellung davon, sondern der Prozess, der mit der Zeit die Art verändert hat, in der ein Individuum gewohnt ist, in Bezug auf die „sozialen Objekte“ und besonders auf sich selbst zu handeln. Das Verständnis von sich selbst ist also das, was „ein Mensch sich selbst bedeutet“ (Shibutani, 1961, S. 230).17 17
Shibutani (1961, S. 307) fährt fort: „Dies bedeutet nicht […], dass unsere Persönlichkeit ein für alle Mal festgelegt ist. Sie ergibt sich aus der Anpassung, der Kristallisierung der nachfolgenden Anpassungen an die Bedingungen des Lebens; so setzen wir uns jeweils mit der Welt, der jeder angehört, auseinander. In mancher Hinsicht ähnelt dies einem Gerüst, das uns gegen äußere Gefahren und unterdrückte Impulse schützt“.
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„In einem gewissen Ausmaß bleibt dieses Bild […] im Laufe der Zeit und Situationen stabil; andererseits ist es etwas Situatives“ (Rosenberg, 1981, S. 594).18 Das Self wird jedenfalls niemals auf ein „Objekt“ reduziert, welches auf bestimmte Kontexte beschränkt ist, sondern es ist auch ein „Objekt“, welches sich an der Vergangenheit und Zukunft orientiert und mit beiden in Verbindung gebracht wird. Die Kontinuität stellt einen zentralen Punkt des Selbst19 dar; denn wir tendieren dazu das, was wir jetzt tun, mit dem verbunden zu sehen, was wir vorher getan haben und mit dem, was wir in Zukunft tun werden.20 Das „wahre Self“ ist das, was der Handelnde als „sein wahres Self“ an einem bestimmten Punkt der Interaktion definiert. (Charon, 1979, S. 66).
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Shibutani schildert ausdrücklich die Studien zur Charakteranalyse von Wilhelm Reich. Über seinen Begriff der „Ckarakterpanzer“ lassen wir Luciano Marchino und Monica Mizrahil zu Wort kommen, angesehene Vertreter der Bioenergetik in Italien, die schreiben: „[dies sind] nicht nur psychische Schutzmechanismen, sondern sie treten im Körper auch in Form von chronischen Muskelverspannungen auf […]. Jede Person [bildet sich] eine defensive psychosomatische Struktur […] als Reaktion auf präzise traumatische Erlebnisse oder andauernde Situationen der Deprivation. In diesen defensiven Situationen, die Reich vielsagend ‘Charakterpanzer’ nennt, gibt es genaue Übereinstimmungen zwischen somatischen Spannungen und verdrängten emotionalen Erlebnissen […]. Indem der Patient das Fließen von Lebensenergien hemmte, konnte er es vermeiden, verdrängte Emotionen zu spüren und sperrte sie in die verspannten Stellen ein und kreiert somit […] eine Art somatische Hardware, die – vom energetischen, sensorischen, emotionalen und kognitiven Blickwinkel aus gesehen – den Lebensentwurf jedes Menschen hemmt […] (Marchino / Mizrahil, 2004, S. 1–2). „Man ist verschieden, man ‘konstruiert’ sich in den verschiedenen Situationen, aber man ist zugleich doch auch ‘man selbst’. Man nimmt seine eigene Heterogenität wahr, seine Existenz als ‘bloß einer von vielen’, und man ist auch im Allgemeinen davon überzeugt ‘einer’ zu sein. Als er das Thema der Komplexität des Self angeht, bemerkt Turner, dass das Bild, welches die verschiedenen Menschen von sich haben, ein dauerhaftes Element hat (self-conception), einen harten Kern, der dem Menschen ein Gefühl realer und dauerhafter Identität verleiht. Er stellt anschließend der self-conception verschiedene self-images zur Seite, die vom Menschen in bestimmten Fällen als provisorisch, instabil und manchmal als miteinander unvereinbar empfunden werden“ (Perrotta, 1988, S. 61). „Folglich […] produziert jede Verhaltensveränderung eine Veränderung im Menschen, den man sofort als ein sich veränderndes Objekt wahrnimmt. […]. In jeder Situation schafft sich der Mensch ein anderes Selbstbild und reagiert darauf je nach Anforderung des Kontexts, doch die Kohärenz seines Verhaltens entsteht, weil jede Antwort auf den gleichen Annahmen über die Art Mensch, der er ist, beruht. Er handelt so, als ob er ein bestimmter Typ Mensch wäre […]“ (Shibutani, 1961, S. 229–230). „Wir sprechen von einem biographischen Self, weil die Menschen Erinnerungen haben und weil sie diese zur […] Bewahrung ihrer eigenen Spuren verwenden. Menschen erinnern sich an die Vergangenheit, die anderen Rollen, die sie angenommen haben, die Erfolge und die bedeutenden Niederlagen, die Hoffnungen und Enttäuschungen“ (Hewitt, 1976, S. 108–109).
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Kurz gesagt, die Interaktionisten sind sich nach Mead darüber einig, dass mindestens eine Konstante der Aktivität des Self gefunden werden muss, damit sich jeder auch jenseits der unvermittelten, vorübergehenden Erfahrungen wahrnehmen kann. Worum es geht, ist, die Modalitäten zu beleuchten, unter denen man konkret mit sich selbst interagiert, und damit über das Modell von Mead hinauszugelangen, das auf die Konversation zwischen I und Me beschränkt ist. Wie die „dreizehn Grundsätze“ bezeugen, unterscheiden sich in der Alltäglichkeit die einzelnen Komponenten dieser dialektischen Bewegung nicht und ähneln einem „Fluss“ – dem temporalen Fluss des Self. Über dieses Thema haben Manford Kuhn und Blumer sich auseinandergesetzt: Während Ersterer das Verdienst besitzt, die Wichtigkeit eines konstanten und stabilen Elements im Handeln des Self aufgezeigt zu haben (Kuhn, 1964), hat Blumer (1966) das dauernde prozesshafte Fließen betont.21 Doch keinem der beiden ist es nach Ansicht von Athens gelungen, eine erschöpfende Version zu liefern, welche die wechselhafte und gleichzeitig konstante Natur des Self erfasst. Kuhn habe zu großes Gewicht auf seine Fluidität im Verhältnis zu den einzelnen Erfahrungen gelegt, Blumer hingegen habe uns zu einer Identität ohne Biografie verdammt (Athens, 1994, S. 523). Nach Athens besteht der Fehler Kuhns konkret darin, den dauernden Fluss, der das Self auszeichnet, eingefroren zu haben, indem er der Vorstellung, dass wir während unserer „Selbstgespräche“ ständig mit der Frage „Wer sind wir?“ beschäftigt sind, zu viel Gewicht verleihe. Wäre es so, meint Athens, dann wäre unser alltägliches Leben in jeder Hinsicht paralysiert. Nicht nur dies: Auf alle diese Fragen müsste unser „orientierender Anderer“ antworten22 – eine Forderung, welche die Verschlechterung des Self stabil, aber starr macht.
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Nach Blumer ist „der Mensch […] von dem Moment an, da er aufsteht, bis zu dem Moment, da er zu Bett geht, ein ständiger Fluss der self indication – Hinweise auf das, womit man sich auseinandersetzt und was man berücksichtigt“ (Blumer, 1962, S. 181). George Steiner (2005. S. 40) betont: „[…] Denkprozesse, seien sie bewusst oder unbewusst, der Gedankenfluss in uns, sei er ausgesprochen oder unausgesprochen, jener des Wachens oder des Schlafs […], sind in überwältigendem Maße diffus, ziellos, zerstreut, versprengt und unbeobachtet. Sie sind im Sinne des Wortes ‘überall’ […]“. Unter „orientierendem Anderen“ versteht Kuhn (1964, S. 18) das „soziale Objekt“, einen einzelnen Menschen oder eine Gruppe, dem (1) der Mensch am meisten emotional und psychisch verbunden ist, (2) von dem er sein sprachliches und begriffliches Repertoire entliehen hat und noch entleiht, (3) von dem er die bedeutsamen Rollen übernimmt und (4) das durch Kommunikation die Grundvorstellung von sich selbst unterstützt und verändert.
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Trifft es also zu, dass die Kontinuität des Self aus der Stabilität des „anderen“ herrührt, an den wir uns wenden, wenn wir uns mit uns selbst unterhalten, so behält dieser doch zugleich seine konstante „Fluidität“, welche aus der vielfachen Verstrickung unserer „Selbstgespräche“ in eine dauernde Bewegung stammt.23 Das Self neigt dazu, in einem ununterbrochenen zeitlichen Ablauf „Erfahrungsfragmente“, aus denen unser Leben sich zusammensetzt, zu vereinen, indem es sie in eine einheitlich umfassende Szene einfügt. „Wir werden niemals Beweise dafür finden, dass es wirklich eine Einheit oder Kontinuität des Ich gibt – egal ob wir diese Beweise im Körper, in den sprachlichen Fähigkeiten oder in der Erfahrung von Willensakten suchen –, solange wir es nicht in seiner strukturellen Wirklichkeit als relational sehen. Wenn die Illusion von einem selbstgenügsamen isolierten Ich verblasst, die Erfahrung eines andauernden und einheitlichen Ich, welches sich durch Entscheiden und Willensakt auszeichnet, so ist es zwangsläufig nicht mehr illusionär und beginnt als konkrete Möglichkeit des Menschen aufzutreten“ (Liotti, 2005, S. 220).
Dramatische Veränderung des Selbst FALL E: MORD Zum Beispiel ist auch das Schicksal manchmal gemein. Als ich zum Beispiel nach vier Jahren wegen Betrugs, ungedeckter Schecks und anderer Sachen... aus dem Gefängnis kam, habe ich sofort angefangen zu arbeiten, weil ich diesmal zu mir gesagt habe: „Schluss damit, ich hab genug!“ Mein Vater hatte mir einen Lieferwagen gegeben und ich habe angefangen auf dem Markt zu verkaufen und habe Geld verdient. Dann habe ich eine Frau kennengelernt und bin mit ihr zusammengekommen. Sie hat mir immer gesagt: „Komm, stiehl nicht, sonst will ich dich nicht mehr“. Du weißt doch wie Frauen sind, wenn sie verliebt sind... und hat noch gesagt: „Wenn sie dich verhaften, warte ich nicht auf dich...“. Also habe ich aus Liebe alles aufgegeben... ich war ein anderer... auch meine Freunde gingen mir aus dem Weg, weil ich sie entweder geschlagen habe oder zu ihnen gesagt habe: „Hey, haltet euch fern“. Abgesehen von der Tatsache, dass ich Geld hatte, weil ich gearbeitet habe, habe ich mich auch korrekt verhalten, ich habe mich an Vorschriften gehalten, mit Lizenz, alles... und ich hab auch nicht mehr gestohlen, weil ich mich verliebt hatte: „Ich ändere mein Leben, der Rest ist scheiß egal“. Ich habe auf ehrliche Art sowieso mehr Geld verdient, als durchs Stehlen... . Meine Freundin war froh, war sogar stolz auf mich. Ich war verliebt, und sie war auch in mich verliebt. Dann hat sie mir gezeigt, wer zu den falschen Freunden gehörte... denn von außen erkennt man das. Wenn ich jemanden gegrüßt habe, fragte sie: „Wer ist das denn? Ein Freund von dir?“ Und ich: „Ja, wieso?“ Und sie: „Das ist kein richtiger 23
Es gilt der fast spiegelbildliche Gedanke: Der „Phantom-Gemeinschaft“ gelingt es, der „Fluidität“ des Self genau durch dessen Vorgehen in Form von Selbstgesprächen gewahr zu werden: „das, was wir uns selbst sagen, ändert sich stets auf die gleiche Art, je nach der sozialer Erfahrung, die wir gerade durchleben“ (Athens, 1994, S. 530).
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Freund. Glaub mir...“. Sie hatte letztlich Recht... . Denn dann habe ich sie mit anderen Augen betrachtet... aus einem anderen Gesichtspunkt... und ich sagte mir: „Schau dir den an...“. Weißt du, wie viele falsche Freunde sie gefunden hat... . Eines Tages war ich auf dem Markt, ich war gerade dabei zu verkaufen, als zwei Polizisten kamen und einer zu mir sagte: „Du musst mit uns kommen.“ „Aber ich arbeite doch gerade.... .“ Und meine Freundin fragte gleich: „Was ist los?“ Sie haben sie zur Seite genommen und wer weiß, was sie ihr erzählt haben, denn danach habe ich die weinend weggehen sehen und sie sagte dabei zu mir: „Sie müssen dich verhaften.“ Ich war mir sicher, dass ich seit einem Jahr kein Verbrechen mehr begangen hatte. Aber sie sagten: „Wir müssen dich verhaften, weil du noch zehn Monate für Verbrechen absitzen musst, die du als Minderjähriger begangen hast. Wir wissen, dass du seit einem Jahr aus dem Milieu raus bist, aber leider ist Gesetz Gesetz... tut uns leid, aber... .“ Und ich: „Verdammte Scheiße und was soll ich jetzt tun? Meine Freundin... ihr bringt mich weg und mein Stand bleibt einfach hier... .“ Ab hier hat das gemeine Schicksal seinen Lauf genommen.
Im Laufe der Existenz eines jeden kann das Self – das von jenem Entscheidungszentrum „orientiert“ wird, welches ursprünglich als „generalisierter Anderer“ und dann in der reiferen Version von Athens als „PhantomGemeinschaft“ bezeichnet wird – in Frage gestellt, neu ausgerichtet und zu einer neuen Gestaltung / Organisation der Werte und Symbole hin „dramatisch verschoben werden“.24 Mit dem Begriff Dramatic Self-change / “Dramatische Veränderung des Selbst“,25 bezeichnet Athens Veränderungen des Self, die sehr den Prozessen einer „Bekehrung“ ähneln,26 sich jedoch im Vergleich zur 24
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Wie wir in Kap. 4 noch sehen werden, vollzieht sich der offensichtlichste shift im Leben der Gewalttäter im Verlauf des sog. Prozesses der „Violentisierung“– besonders dann, wenn sich Letzterer von einer „moderat gewalttätigen Lösung“, wie sie typisch für die Phase des „Kriegszustands“ ist, in die „gewalttätige“ verfällt, die die Phase der „Virulenz“ bekräftigt. Die Übersetzung möchte die Etymologie von „Drama“ / „dramatisch“ durch die Bedeutungen, die dem Dizionario etimologico della lingua italiana, herausgegeben von Manlio Cortellazzo und Paolo Zolli (1980) entstammen, wiedergeben: „[…] mit der emotionalen Intensität eines Dramas“; „[…] das auch Ereignisse von geringer Bedeutung als dramatisch, also großartig darstellt […]“. Sehr einflussreich ist die andere Übersetzung von Perrotta, der für Dramatic Self-change den italienischen Begriff „trasformazioni radicali del Self“ (etwa ‚radikale Veränderungen des Self’, Anm. d. Übers.) verwendet (Perrotta, 2005, S. 161). „In seiner Analyse der religiösen Bekehrung ermittelt John Loftland Veranlagungungsfaktoren und situationsbedingte Zufälle. Erstere betreffen das Leben vor dem Kontakt mit Angehörigen der neuen Religion. Er listet unter ihnen folgende auf: Eine angespannte Lage, […] die Nicht-Akzeptanz der angespannten Lage, […] das Fehlen von Strategien, die angewandt werden, um das Problem zu lösen, das die Anspannung verursacht, […] das Fehlen von Verhaltensweisen, die uns das Problem ‘aus dem Kopf schaffen’, […] die Tatsache, dass die Religion besondere Erleichterung verschafft. […]. Die situationsbedingten Zufälle, die eine Konversation ermöglichen, bestehen aus der Herstellung einer affektiven Beziehung zu einem oder mehreren Repräsentanten der neuen Religion, aus der Tatsache, dass die Bindung zu bedeutungsvollen Anderen, die
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Ersteren „drastisch und plötzlich“ vollziehen (Athens, 1995, S. 571) und keine „Institutionalisierung“ des Transformationsprozesses implizieren.27 Zu diesem Zeitpunkt der Krise neigt das Wissen um unsere innere Kommunikation dazu, besonders stark zu werden, wie wenn wir in einer problematischen Situation mit uns selbst sprechen, um die verschiedenen Lösungen abzuwägen. Doch hierbei handelt es sich um die entscheidenden Wegkreuzungen, den schmerzhaftesten und „privatesten“ unserer biografischen Erfahrungen: Individuen können radikale Transformationen durchmachen, die sie dazu veranlassen, viele der Grundsätze fallenzulassen, die sie sich in ihrer primären Sozialisation angeeignet haben. Wir stellen in bestimmten Fällen heftige Brüche in der Autobiografie fest: Situationen, in denen die Veränderungen so bedeutend erscheinen, dass sie die Geschichten, die man über sich selbst erzählt in ein ‘Vorher’ und ein ‘Nachher’ unterteilen. Das Leben wird in zwei Abschnitte geteilt: einen vor 28 und einen nach der Transformation (Perrotta, 2005, S. 159). Überdies lesen sich unsere Geschichten über dramatische Veränderungen des Selbst wie Geschichten mit einem offenen Ende. Jedes Mal, wenn wir eine solche erleben, beginnen wir ein neues Kapitel in unserem Leben. Die Fragmentierung […] signalisiert das Ende eines Kapitels und den Beginn eines neuen. […] Wenn sich [jedoch] erfolgreich ein neues Self bildet, kann dieses eine erneute Fragmentierung durchmachen, wobei der gesamte Prozess der dramatischen Veränderung von neuem beginnt (Athens, 1995b, S. 584).
Die Analyse von Athens unterteilt diesen Prozess in fünf Phasen, die sich, wieder einmal, nicht automatisch linear entwickeln; bevor man die nächste Phase erreicht, muss man die vorangehende vollständig abgeschlossen haben. Um die Bildung eines „neuen“ Self zu ermöglichen, wird das „alte“ sich zersplittern müssen (erste Phase: „Fragmentierung“) und damit eine schmerz-
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nicht zu der Gemeinschaft gehören, fehlen oder sich lockern und dass es stattdessen eine ständige Interaktion mit den neuen Mitbrüdern gibt“ (Lofland 1966, zitiert in Perrotta, 2005, S. 160–161). Das hierzu von Athens aufgeführte Beispiel betrifft, neben dem klassischen der religiösen Bekehrung, das der verschiedenen Vereine Anonymer Alkoholiker, die ihren Mitgliedern genaue Anleitungen geben, die von der Organisation festgelegt werden (Athens, 1995, S. 572). Peter Berger und Thomas Luckmann (1966, S. 170–171) schreiben dazu: „Die alte Wirklichkeit, ihre Gemeinschaft und ihre signifikanten Anderen, die einst die Mittler waren, müssen im Rahmen des Legitimationsapparates neu dargestellt werden. Eine solche Neuinterpretation bezeichnet eine Bruchstelle in der subjektiven Biographie: „vor Christi Geburt“ und „anno domini“, „vor Damaskus“ und „nach Damaskus“. Alles, was der Verwandlung vorausging, wird nun als auf sie hinführend gesehen […]. Alles, was ihr folgt, strömt aus ihrer neuen Wirklichkeit. Die Folge ist eine Neuinterpretation des vergangenen Lebenslaufes in toto nach der Formel: Damals meinte ich… heute weiß ich“.
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hafte Periode der Selbstuntersuchung beginnen, während derer das Selbstwertgefühl sich drastisch verringert. Dieser Zeitraum wird in der Erinnerung mehr zu schätzen gewusst, als zu dem Zeitpunkt, in dem er sich ereignet. FALL F: MORD Der Interviewte deutet einige Signale an, die zeigen, wie sein Self unter dem Gewicht eines Alltags, der nicht mehr seine gewohnte Attraktion bereithält, zerbricht. Oft war ich sehr wütend auf mich selbst. Die Wut auf einen selbst ist eine komplizierte Sache, weil du dir sagst: „Ich befinde mich mitten auf der schiefen Bahn und niemand bringt mich dazu...“, denn auch wenn es zunächst eine Entscheidung ist, die dir gut gefällt, zerbrichst du irgendwann... und sagst dir: „Ja, ich bin auf der schiefen Bahn, ich nehme den ganzen Tag Drogen, hänge den ganzen Tag herum... doch dann, was bleibt mir letztendlich?“ Ich habe an solche Dinge gedacht... . Und ich habe mich selbst geschlagen... ich habe mich selbst bestraft. Wenn jemand so etwas sagt, bedeutet es, dass er sich schon selbst geißelt.
Wenn das Self als „Prisma“ dargestellt werden kann, durch das wir uns selbst und die Außenwelt betrachten, als ein sicherer und zuverlässiger Leitfaden, der uns reflexiv unsere Identität wiedergibt, so gerät Letztere nur dann in eine Krise und wird abgelegt, wenn eine „traumatischen soziale Erfahrung“29 gemacht wird, welche das als selbstverständlich angesehene symbolische Gewebe zerreißt, das nicht mehr in der Lage ist, die „Sicht“, die wir im Laufe unserer persönlichen Geschichte gebildet haben, „anzugleichen“ und sie zu fokussieren: „Die Self schaffen es nicht, sich (einfach) solchen Erfahrungen anzupassen, denn die Sichtweisen, die von ihrer Phantom-Gemeinschaft (bzw. vom Us) dargestellt werden, können keine klaren und kohärenten Verhaltensrichtlinien liefern. Ein Phantom-Freund schlägt eine bestimmte Verhaltensweise vor, ein zweiter eine andere, ein dritter noch eine andere“ (Athens, 1995b, S. 584).30
Überspült von einer immer größer werdenden Flut von Erlebnissen sind die Akteure nicht mehr in der Lage, die nicht zu vereinbarenden Gedanken und Gefühle zusammenzuhalten, bis sie mitunter in einen Zustand lähmender Trägheit geraten. Die Forderungen, die an unsere „Phantom-Gemeinschaft“ gerichtet werden, bleiben in einem Schwebezustand zwischen dem „Hier“ und dem „Wo“ hängen und sie sammeln sich in Erwartung einer Antwort an. Unter dem Gewicht eines „ansteigenden psychischen Drucks“ zerbricht unser Self
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Diese Fragmentierung kann aus verschiedenen Erfahrungen hervorgehen: Vom Ende einer wichtigen affektiven Beziehung über in der Familie erlebte Gewalt bis zum schrecklichen Erlebnis der Folter oder, im positiven Sinn, dem Entstehen einer bedeutungsvollen Liebesbeziehung. Kursivierung von uns.
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und so werden wir „geteilt“31 und uns selbst gegenüber schutzlos „in einer Welt, die sich plötzlich umgekehrt hat und uns fremd geworden ist“ (Athens, 1995b, S. 574).32 FILM: TROPA DE ELITE Roberto Nascimento, ein Hauptmann der BOPE von Rio de Janeiro (Batalhão de Operações Policiais Especiais, d.h. Bataillon für spezielle Polizeioperationen, die auf die Durchführung von Eingriffen mit hohem Risiko im Territorium der Favelas spezialisiert sind) kommentiert aus der Sicht eines „Ausbilders“ die Zersplitterung des Self eines „Novizen“. Hauptmann Roberto Nascimento: „Ein BOPE-Offizier hat nichts mit einem Mädchen, das mit einem Dealer befreundet ist... . Die Wahrheit ist, dass Matias verwirrt war. Er wollte Polizist sein und gleichzeitig Anwalt... . Wenn Matias mit Leib und Seele Polizist gewesen wäre, hätte er seiner Freundin die Wahrheit gesagt. Aber er täuschte eine Reise vor und ließ sie nach einem Referendariat für ihn suchen... . Ich war mir sicher, dass Matias das Ausbildungs-Camp nicht durchstehen, sondern vorher aufgeben würde... .“
Und so beginnen wir, uns etwas Unbekanntem zuzuwenden. Die Krise beginnt im Inneren nicht nur durch eine Entwertung / Neubewertung unserer Wertewelt und symbolischen Welt und sie vollzieht sich nicht auf noetischer, zerebraler, logischer Ebene. Da draußen passiert etwas, das sich als (radikal) dramatisch für uns herausstellt. Wir können es nicht verstehen, doch wie dem auch sei, es nistet sich in der dichten symbolischen Handlung unserer bereits
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Hier wird der Begriff des divided Self (geteiltes Self) hervorgehoben, der bereits von Mead erwähnt und von Denzin entwickelt wurde. Mead schreibt: „Eine mehrschichtige Persönlichkeit ist bis zu einem gewissen Grad etwas Normales […]. Gewöhnlich gibt es eine Organisation der ganzen Identität im Hinblick auf die Gemeinschaft, der wir angehören, und auf die uns umgebende Situation. Welcher Art diese Gesellschaft ist, ob wir mit gegenwärtigen Menschen leben, mit Menschen unserer eigenen Phantasie, mit Menschen der Vergangenheit, hängt natürlich vom jeweiligen Individuum ab. Normal, jedenfalls für die Gesellschaft, zu der wir gehören, ist die einheitliche Identität, doch kann sie auch aufgesplittert werden. […]. „Oft erkennen wir in uns selbst auftretende Spaltungserscheinungen. Wir würden nur allzu gern gewisse Dinge vergessen, gewisse Aspekte der Identität loswerden, die mit unseren vergangenen Erfahrungen verbunden sind. Das ist eine Situation, in der sich verschiedene Identitäten bilden können, und es hängt von den auftretenden gesellschaftlichen Reaktionen ab, welche Identität wir haben werden“ (Mead, 1934, S. 185). Siehe auch Denzin (1984a, S. 201–238). In Kap. 4 werden wir sehen, dass dies der wichtigste Moment ist, um zu versuchen, in die – sehr komplizierte – Veränderung der „Phantom-Gemeinschaft“ einzugreifen und diese Veränderung zu fördern bei einem Menschen, der als ‚ultra-gewalttätiger“ Krimineller sich zunächst zu einem „gewalttätigen“ und dann „gewaltgeneigten“ und schließlich „nicht-gewalttätigen“ Menschen entwickelt kann.
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angegriffenen „Kosmologie“ ein und zwingt uns dazu, uns auf die Suche zu begeben.33 FILM: GOMORRHA Eine Familie, die sich in einem wirtschaftlichen Engpass befindet, bietet Franco, Haupt eines Unternehmens, das auf illegale Weise giftige Abfälle beseitigt, die eigenen Grundstücke an, welche bereits verseucht sind, um die eigenen Stoffe dort abzuladen. Im Anschluss an dieses Treffen schenkt eine alte Bäuerin Roberto eine Kiste Pfirsiche. Nachdem sie sich mit dem Auto entfernt haben, fordert Franco Roberto auf, die verseuchten Pfirsiche wegzuwerfen. Genau in diesem Augenblick denkt Roberto voller Widerwillen und Ekel über seine Lebensentscheidungen nach und „entscheidet“ sich, dieser Tätigkeit den Rücken zu kehren und aus der Organisation auszutreten. Franco: „Komm schon Robbè! Robbè! Was ist los?“ Roberto: „Hören Sie, Franco… ich denke schon einige Zeit darüber nach... ich bin für den Job vielleicht nicht der Richtige... .“ Franco „Was redest du denn da? Steig ein, wir fahren weiter.“ Roberto: „Nein, es ist mir ernst, vollkommen. Ich pack das nicht… .“ Franco: „Aber du machst dich doch gut. Steig ein!“ Roberto „Nein, Franco, ich will das einfach nicht mehr, tut mir leid... [...]. So läuft das, ja?“ Franco: „Ja, so läuft es, ja.“ Roberto: „Mit mir nicht mehr ab jetzt... . Nein, ich bin nicht wie Sie.“ Franco: „Wie bist du denn?“ Roberto: „Ich bin anders.“
Der kritische Vergleich zwischen dem „unbekannten“ und schmerzhaften Ereignis, das noch nicht ganz begreiflich ist, und den Gewissheiten, die bis zu dem Zeitpunkt als selbstverständlich gesehen wurden, zwingen einen dazu, sich der Unangemessenheit des Self bewusst zu werden, sowie der zwingenden Notwendigkeit, eine Aufklärung in Gang zu bringen, um die ehemaligen Gewissheiten durch diejenigen des provisorischen Self zu „substituieren“, welches von einer „neuen Phantom-Gemeinschaft“ belebt wird, die zumindest aus ein paar anderen „Phantom-Freunden“ besteht als die vorhergehende (Zweite Phase: „vorläufige Einheit“ / provisional). Es ist nun unumgänglich geworden, diejenigen um Hilfe und Bekräftigung zu bitten, die ähnliche soziale Erfahrungen mit Erfolg durchgemacht haben, damit man Ratschläge bekommt, wie man sich in Zukunft verhalten soll. 33
„Nicht die Begegnung lässt den Funken überspringen und verleiht der Krise einen ‘Sinn’, sondern es ist die Krise, die dazu bringt, auf die Suche nach der Begegnung zu gehen: man findet, weil man sucht“ (Perrotta, 2005, S. 161).
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FILM: AMERICAN HISTORY X Derek, ein ehemaliger Neonazi, trifft im Gefängnis, wo er eine Strafe absitzt, da er auf zwei schwarze Jugendliche geschossen hat, Professor Sweeney, der früher sein Lehrer war. Derek, der von den jüngsten traumatischen Erlebnissen im Gefängnis erschüttert ist, befindet sich in der embryonalen Phase der „Veränderung des Selbst“. Im Verlauf des Gesprächs mit Sweeney, der ihm zur Hilfe gekommen ist, fühlt er zum ersten Mal die Notwendigkeit, seine Vergangenheit in Frage zu stellen. Sweeney: „Ich will nur wissen, wie du dich wirklich fühlst.“ Derek: „Glauben Sie ich will Danny im Gefängnis sehen? Ich meine… keine Ahnung... keine Ahnung was ich fühle. Ich bin ganz… ich steh ein bisschen neben mir. Irgendwie weiß ich nicht genau... es gibt Sachen, die nicht zusammenpassen.“ Sweeney: „Das kommt vor. Derek, wenn du so intelligent bist, wie ich glaube, musst du dich irgendwann damit abfinden, dass deine alte Überzeugung Blödsinn ist.“ Derek: „Hey, eine Sekunde, ja? Ich hab gesagt, ich bin verwirrt, nicht, dass ich es nicht mehr glaube.“ Sweeney: „Gut, deshalb musst du offen bleiben. Deine Wut versucht dich von innen aufzufressen, dein Zorn schaltet deinen Gott gegebenen Verstand einfach aus.“ Derek: „Herrgott! Wissen Sie was, Sie haben mir vorgebetet, was mit mir los ist, seitdem ich auf der Highschool war. Woher wollen Sie eigentlich so verdammt genau wissen, was in mir vorgeht?“ Sweeney: „Nein, ich weiß, was in mir vorgeht. Ich weiß, was hier vorgeht. Ich weiß, in welcher Verfassung du dich befindest.“ Derek: „Was wollen Sie über meine Verfassung wissen?“ Sweeney: „Es gab einen Moment, da habe ich jedem und allem auf der Welt Vorwürfe gemacht. Wegen des Schmerzes und der Schwierigkeiten und der widerlichen Dinge, die mir passiert waren und die jeden Tag meinem Volk widerfuhren. Ich gab jedem die Schuld: manchmal den Weißen, manchmal der Gesellschaft, manchmal Gott. Und ich fand keine Antworten, weil ich die falschen Fragen stellte. Du musst die richtigen Fragen stellen.“ Derek: „Und die wären?“ Sweeney: „Hat sich durch das, was du tust dein Leben gebessert?“ Derek: „Nein.“
Diese „anderen Gesprächspartner“ können reale Personen sein, Erinnerungen, Bruchstücke von „klugen“ Sätzen, die man flüchtig aufgenommen hat, auch lange Zeit vor der aktuellen Krise: doch erst jetzt bekommen sie alle einen Sinn. 34
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Hierzu ist es interessant, die Definition von „Weisheit“ als „Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt“ […]“ (Benjamin, 1936, S. 106), zu erwähnen.
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FILM: PULP FICTION Nachdem Jules und Vincent „auf wundersame Weise“ einen Kugelhagel von Schüssen überlebt haben, denken sie gemeinsam nach und unterhalten sich über die „Bedeutung“ dieses Ereignisses. Jules hat die Hand Gottes gespürt und hat keine Zweifel, durch ein Wunder gerettet worden zu sein. Dies ist die Epiphanie einer „dramatischen Veränderung des Selbst“, einer der wenigen „Augenblicke der Klarheit“, die „wirklich erleuchtend“ sind, aus einem besonderen Stoff gemacht sind, eine unvorhergesehene Wende jeder Art von Gedankengang oder Gefühl herbeizuführen, mit einem Schlag einen bekannten Gesichtspunkt zu verändern und sich ihm ohne Vorahnung zu erschließen vermögen“ (Barone, 2004, S. 114). Jules wird nach dieser Erfahrung „ungewöhnlich nachdenklich“. Jules: „Sieh dir mal diesen Ballermann an, diese Monsterkanone... wir sollten mausetot sein, Mann.“ Vincent: „Ich weiß, wir hatten Glück.“ Jules: „Nein, nein, nein, nein, das hat mit Glück nichts zu tun.“ Vincent: „Ja, vielleicht... .“ Jules: „Das war göttliche Vorsehung. Weißt du was göttliche Vorsehung ist?“ Vincent: „Ich glaube schon, Gott persönlich ist aus dem Himmel herabgestiegen und hat die Kugeln aufgehalten.“ Jules: „Das ist richtig. Das ist genau das, was es bedeutet. Gott ist persönlich aus dem Himmel herabgestiegen und hat die Kugeln aufgehalten.“ Vincent: „Ich denke wir sollten langsam gehen, Jules.“ Jules: „Tu das nicht, puste den Mistkerl nicht weg. Was gerade passiert ist, war ein verdammtest Wunder.“ Vincent: „Krieg dich wieder ein, Jules, so was passiert.“ Jules: „Falsch, falsch, so was passiert nicht einfach.“ Vincent: „Möchtest du diese theologische Diskussion im Wagen fortsetzen oder im Gefängnis mit den Bullen?“ Jules: „Wir sollten verdammt nochmal tot sein, mein Freund! Was hier geschehen ist, ist ein Wunder und ich verlange einfach, dass du es anerkennst.“ Vincent: „Ja, in Ordnung, es war ein Wunder. Können wir jetzt gehen?“ […]. Vincent: „[…] Ich meine… weißt du, es ist abgefahren, aber es kommt vor.“ Jules: „Ok, wenn du blinder Mann spielen willst, geh mit nem Schäferhund spazieren, aber meine Augen sind verdammt offen.“ Vincent: „Was soll denn das schon wieder?“ Jules: „Ich meine, dass für mich Schluss ist. Von heute an werde ich mich für immer zur Ruhe setzen.“ Vincent: „Großer Gott... .“
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Zweites Kapitel Jules: „Läster nicht!“ Vincent: „Gott verdammt!“ Jules: „Ich hab gesagt du sollst das lassen.“ Vincent: „Hey, weißt du warum du auf einmal so abgedreht bist?“ Jules: „Pass auf, ich werde Marcellus heute noch sagen: ich bin raus.“ [...]. Vincent: „Das ist gut, das ist gut, Mann. Deine Laune bessert sich allmählich. Du hast vorhin so ernst vor dich hin gebrütet.“ Jules: „Ja, ich habe über einiges nachgedacht.“ Vincent: „Worüber?“ Jules: „Über das Wunder, dessen Zeugen wir wurden.“ Vincent: „Ich weiß nicht wessen Zeuge du wurdest, aber ich wurde Zeuge eines verrückten Zufalls.“ Jules: „Was ist ein Wunder, Vincent?“ Vincent: „Eine Tat Gottes.“ Jules: „Und was ist eine Tat Gottes?“ Vincent: „Wenn Gott das Unmögliche möglich macht. Aber... die Nummer von vorhin kommt dafür nicht in Frage.“ Jules: „Hey, Vincent. Siehst du nicht, dass es auf diesen Mist nicht ankommt. Du gehst da von etwas Falschem aus. Ich meine, Gott könnte die Kugeln aufgehalten haben oder Coke in Pepsi verwandeln oder meine verdammten Autoschlüssel finden. Du beurteilst diesen Mist nach seinem Wert. Ob das was wir erlebt haben ein Wunder ist, wie es sein soll, ist für ein Wunder vollkommen bedeutungslos. Das einzige, was wirklich ist, dass ich die Hand Gottes gespürt habe. Gott hat sich eingemischt.“ Vincent: „Aber warum?“ Jules: „Tja, das macht mir auch zu schaffen... ich weiß nicht warum, aber ich kann nicht so weitermachen.“ Vincent: „Du meinst es also ernst, du denkst wirklich daran auszusteigen?“ Jules: „Aus diesem Leben?“ Vincent: „Ja.“ Jules: „Auf jeden Fall.“ [...]. Vincent: „Aber eins würde ich dich gerne mal fragen, wann hast du diese Entscheidung getroffen? Während du dagesessen und deinen Muffin gekaut hast?“
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Jules: „Ja, ich habe hier gesessen, meinen Muffin gefuttert, meinen Kaffee getrunken und ließ den Film nochmal in meinem Kopf ablaufen als ich erlebte, wofür es nur eine Bezeichnung gibt: ich hatte einen ‘Moment der Klarheit’.“ Immer sind wir allein es, die einen Weg, und zwar nur unseren, finden müssen, den wir noch nie beschritten haben. Dafür müssen wir emsig das eigene „Depot der Ratschläge“ durchsieben, um abzuwägen und zu entscheiden, welche die sinnvollsten sind. Schritt für Schritt verschmilzt diese Prozedur zu einer Art persönlichen Offenbarung. Metaphorisch gesprochen befindet der Akteur sich nun vor einem neuen „Prisma“, das endlich die künftigen sozialen Erfahrungen brechen und die Undurchsichtigkeit der traumatischen, vor kurzem erlebten Erfahrung zerstreuen kann. FILM: PULP FICTION Jules muss gegen seinen Willen bei einem Raubüberfall in einem Restaurant die Rolle des Opfers einnehmen. Zum ersten Mal entscheidet er sich dafür keine Gewalt anzuwenden, um die entstandene Konfliktsituation zu lösen. In seiner „PhantomGemeinschaft“ kehrt mit unerwarteter Heftigkeit und mit neuer Bedeutung ein Bibelspruch zurück, den er vor längerer Zeit aufgenommen hat und der nun eine Leitfunktion bei der Konsolidierung der Veränderung annehmen kann.35 Yolanda: „Ok und jetzt verschwinde von hier!“ Jules: „Yolanda, ich dachte du wolltest cool sein. Also, wenn du mich anschreist, macht mich das nervös und wenn ich nervös werde, bekomme ich Angst und wenn Angsthasen nervös werden, fangen Angsthasen ganz schnell an zu schießen.“ Yolanda: „Du sollst nur eins wissen, wenn du ihm wehtust, bist du tot.“ Jules: „Tja, so ist nun mal die Situation. Aber ich will das nicht und du willst das auch nicht. Und Ringo hier will das ganz bestimmt auch nicht. Also mal sehen, was wir tun können. Na schön, so ist die Situation. Normalerweise wärt ihr beiden jetzt so tot wie frittierte Hühnerärsche, aber ihr zieht diesen Mist ab, während ich eine Entwicklung durchmache. Ich will euch nicht töten, ich will euch helfen.“ […]. Jules: (an Ringo gewandt) „Liest du die Bibel, Ringo?“ Ringo: „Nicht regelmäßig, nein.“ Jules: „Da gibt es eine Passage, die ich fast auswendig kann und die gut passt: Ezechiel, 25:17. „Der Pfad der Gerechten ist zu beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet, denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Und ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten und mit Grimm werde ich sie strafen auf das sie erfahren sollen, ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollbracht habe.“ Also, den Spruch bringe ich jetzt schon seit Jahren. Und wer immer ihn gehört hat wusste, es geht um seinen Arsch. Ich habe nie viel dar35
Es versteht sich von selbst, dass das Bibelzitat dasjenige der Figur ist, die es in seinem Monolog zitiert und nicht aus den Heiligen Schriften stammt.
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Zweites Kapitel über nachgedacht, was er bedeutet. Ich fand einfach, das ist ein ziemlich kaltblütiger Spruch, den ich einem Wixer erzählen konnte, bevor ich ihn umlegte. Aber heute Morgen habe ich etwas gesehen, das mir zu denken gab. Verstehst du, im Moment denke ich, vielleicht bedeutet es, du bist der böse Mann und ich bin der rechtschaffene Mann und Mr. 9 mm hier ist der Hirte, der meinen schwarzen Hintern im Tal der Dunkelheit beschützt. Es könnte auch bedeuten, du bist der rechtschaffene Mann und ich bin der Hirte und dass es die Welt ist, die böse und selbstsüchtig ist. Tja, das gefällt mir, aber dieser Quatsch ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, du bist schwach und ich bin die Tyrannei der bösen Männer. Aber ich bemühe mich, Ringo. Ich verspreche ich gebe das Beste, was ich kann, um der Hirte zu sein. Na los... .“
Während der „Praxis“ (dritte Phase) wird das neue Self einer „entscheidenden Probe“ ausgesetzt. Die Frage, die wir uns nun auf elliptische und stenographische Art in unserem Inneren stellen, ist folgende: Wenn ich mich noch mit einem sozialen Ereignis wie dem traumatischen, welches mein vorheriges Self zerstört hat, auseinandersetzen muss, wird dann das neue der Herausforderung gewachsen sein und werde ich unbeschadet aus dieser bedrohlichen Erfahrung hervorgehen?“ (Athens, 1995, S. 576).
Gerade auf der Ebene der „Praxis“, der Erfahrungsevidenz, versagt unser provisorisches Self oder es setzt sich definitiv durch. Unsere aktuelle „Phantom-Gemeinschaft“ offenbart sich also nur dann als zuverlässiger Leitfaden für die Zukunft, wenn die neugeborene „Umorientierung der Symbole und Werte“ es schafft erfolgreich die gesamte soziale Erfahrung zu integrieren, die in der Vergangenheit die Krise ausgelöst hat. Die Zuversicht entsteht aus der Erkenntnis, mehrere Male den Test bestanden zu haben und suggeriert uns, dass wir wirklich dabei sind, ein Self zu erschaffen, welches in der Lage ist, die Welt zu benennen und zu erkennen. Der „Kritische Erfahrungstest“ verzeichnet allerdings immer dann eine Niederlage, wenn die traumatische Episode ungeachtet der neuen „PhantomArchitektur“ eine traumatische Episode bleibt: „Nichts verleiht so plötzlich Zuversicht wie Erfolg und vielleicht wird sie von nichts schneller zerstört als von Misserfolg“ (Athens, 1995, S. 577), der zwei Arten von Reaktionen hervorrufen kann. Die erste Art neigt dazu, ihn mit Optimismus zu verarbeiten und zu folgern, dass bloß minimale, aber bedeutende „Reparaturen“ am provisorischen Self notwendig seien. Die zweite fordert dazu auf, ihn als Zeichen dafür zu verstehen, dass seine Gestaltung radikal verändert und der Großteil der aktuellen „Phantom-Freunde“ fallen gelassen und ersetzt werden muss. Die aufgewendete Zeit und die verschwendeten Kräfte – einmal ganz abgesehen von der Angst, die im Laufe der verschiedenen Versuche entstanden ist, neue Self zu entwickeln – haben sich als nutzlos herausgestellt und das Gefühl der „Verzweiflung und Nichtigkeit“ macht sich in einem breit – verständlich, da
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weder die alten, noch die neuen Self herrschen. Diese Formen der Desorganisation können in den schlimmsten und am längsten andauernden Fällen erstarren und im Verlauf der Zeit auch zu Pathologien mit psychotischem Charakter führen. Doch kehren wir nun zu den positiven Ergebnissen zurück: „Mit großem Erstaunen und persönlicher Genugtuung und mit großer Erleichterung stellt man fest, dass man es endlich geschafft hat, eine soziale Situation zu meistern, die derjenigen gleicht (wenn nicht sogar mit ihr identisch ist), welche die vorangegangene Fragmentierung des Self hervorgerufen hat“ (Athens, 1995, S. 577). Weil jedes Self auch als sozialer Prozess verstanden wird, bleibt die neue Art, die Welt zu betrachten, eine vorübergehende, solange sie nicht das Einverständnis und eine positive Resonanz der „bedeutungsvollen Anderen“ erhalten hat und sich somit vor den eigenen Augen und, noch wichtiger, vor denen der anderen offenbart. Die alte „Phantom-Gemeinschaft“ wird endgültig durch die neu aufgetauchte ersetzt, mittels derer man endlich die Gedanken und Emotionen neu ordnen kann, welche in chaotischer Bewegung waren (vierte Phase: „Konsolidierung“). Nur die „Blicke der anderen“ können allerdings dem Erfolg eine richtige Bedeutung verleihen und die Veränderung stabilisieren, in dem sie diesen anerkennen.36 „Dem Herausforderer, dessen Handschuhe zum Zeichen des Sieges erhoben sind, der jedoch den Applaus der Menge nicht vernimmt, wird das süße Gefühl des Erfolgs verwehrt“ (Athens, 1995, S. 579). An diesem Punkt, an dem wir inzwischen in Beziehung zum neuen Self stehen, stellen wir uns selbst folgende Frage: „Möchte ich wirklich die Person sein, zu der ich mich gerade entwickle?“ Das tragische Dilemma wird fast immer durch eine positive Antwort gelöst: Nach dem langen und qualvollen Weg, der mit der „Fragmentierung“ eingeschlagen wurde, ist es schwierig, wirksame und überzeugende Quellen der Motivation zu finden, um das Ziel der Annahme eines neuen Selbst, zu negieren. Die „dramatische Veränderung des Selbst“ ist nun fast abgeschlossen. Die „Phantom-Freunde“, deren Sichtweisen bestimmt wurden, um die entscheidende Probe zu bestehen, werden so stark verinnerlicht, dass sie tief in dem neuen Self verwurzelt sind, und der Handelnde hält von neuem seine Art, die 36
„Der Wende, welche der Erfolg in der Erlebniswelt hervorbringt, hinterlässt einen bleibenden Eindruck in den Köpfen. Je ausgeprägter die Wende, desto andauernder wird dieser Eindruck sein“ (Athens, 1995, S. 579). Der Großteil der Menschen ist nicht einfach Gefangener der Definitionen der Blicke anderer. Manchmal lehnen sie das fremde Urteil einfach ab und verlangen so behandelt zu werden, wie sie „wirklich“ sind (Shibutani, 1961, S. 309).
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Welt zu betrachten, für selbstverständlich – ganz so, wie es vor seiner „dramatischen Veränderung des Selbst“ geschehen ist. Die Umstrukturierung schließt daher eine Neuorganisierung der Formen und der Gesprächspartner der „inneren Konversation“ und mit ihr auch eine Transformation der Beziehung zur Welt ein. Der Begriff „Symbol“ bekommt ein zusätzliches Gewicht im Vergleich mit dem der Interaktionisten und wird zu einer verständlichen „Verknüpfung“ in einer verbindenden Struktur, einer symbolischen Kette zwischen demjenigen, der sie anbietet und demjenigen, der sie nutzen kann. Der Handelnde, der eine radikale Veränderung durchlebt hat, teilt nun eine Philie mit den Subjekten, mit denen er „vorher“ keine bestimmten Bezugssysteme geteilt hat. Er kann einigen weltlichen Beziehungen, die er „vorher“ nur „kennen“, aber nicht „verstehen“ konnte, Sinn verleihen und ihn verändern (Napolitani, 1987, S. 156–157). Nach dieser Errungenschaft werden einem die „physischen Gemeinschaften“, denen man angehörte, fremd, und um den Weg abzuschließen, hat man das starke Bedürfnis, sich für die Umgestaltung des eigenen Selbst Gruppen, die man als vertrauter empfindet, zu nähern und ihnen beizutreten (fünfte und letzte Phase: „soziale Absonderung“).37 „Das macht eine Absonderung des Menschen von den „Bewohnern“ der anderen Welten, vor allem von den „Mitbewohnern“ jener Welt, die er gerade hinter sich gelassen hat, notwendig“ (Berger / Luckmann, 1966, S. 169–170). FILM: AMERICAN HISTORY X Derek, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, trifft Stacey, seine Freundin (in der ersten Szene) und seinen Bruder Danny (in der zweiten Szene), denen er seine Absicht mitteilt, der Gruppe, der sie angehören, den Rücken zu kehren, um seine „dramatische Veränderung des Selbst“ abzuschließen, die mit der traumatischen Erfahrung im Gefängnis begonnen hat. Derek: „Stacey, würdest du etwas mit mir machen?“ Stacey: „Alles, Derek.“ Derek: „Geh mit mir weg.“ Stacey: „Weg wohin?“ Derek: „Weg von hier. Weg von allem hier. Komm einfach mit mir.“ Stacey: „Warum willst du denn von hier weg? Du bist inzwischen so etwas wie ein Gott für die meisten. Wenn du denkst, dass wir es vorher gut gehabt haben, sieh dir erst einmal an, wie es jetzt ist.“ 37
Athens (1995, S. 581), greift die Definition von Robert Park (1952, S. 184, S. 186 und S. 199) auf und spricht von einem Prozess der Auslese und Auswahl, durch den man zu neuen Gruppen „emigriert“, die besser zu den neuen Grunderfahrungen passen.
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Derek: „Nein, nein, hör zu. Nein, ich will das nicht. Und ich will nicht, dass meine Familie damit reingezogen wird. Ich hab mit diesem Zeug damals alles kaputt gemacht, verstehst du?“ Stacey: „Meinst du, was du damals getan hast war falsch? Ach komm, jetzt hör aber auf. Was diese Nigger da gekriegt haben, haben sie verdient und das wissen wir doch alle. Ich verstehe ja, dass du gerade raus bist, aber niemand kann dir was tun. Niemand wird dich auch nur anrühren. Wir haben da fast schon eine Armee und wir werden uns von… von ein paar Niggern doch nicht mehr verjagen lassen... .“ Derek: „Stacey, hör mir doch mal zu, OK? Ich habe keine Angst, ich will es nur nicht mehr, das ist vorbei für mich. Ich bin fertig damit. Es ist, es ist Blödsinn, Stacey. Du hast es doch gar nicht nötig, Stacey, hab Vertrauen zu mir, wenn du mit mir zusammen sein willst, vertrau mir und komm einfach mit. Komm schon.“ Stacey: „Das ist krank. Du hast sie doch nicht alle, auf keinen Fall! Ich glaube dir ist nicht klar, was hier gelaufen ist. Wir sind heute schon zehn Mal so viel wie früher und wir sind absolut organisiert. Im Ernst, so was hast du noch nie gesehen.“ Derek: „Das war ein Fehler, das war ein Fehler... .“ Stacey: „Warte doch mal, warte doch mal. Was war ein Fehler?“ Derek: „Stacey, das hat keinen Zweck, verabschiede dich.“ Stacey: „Das bist nicht du. Ich kenn dich doch.“ Derek: „Du hast keine Ahnung wie ich bin, Stacey.“ Stacey: „Mist.“ Danny: „Was ist eigentlich mit dir los, Derek?“ Derek: „Hey, sieh mich an. Ich kann einfach nicht mehr dahin zurück, Dan.“ Danny: „Zurück wohin.“ Derek: „Zurück zu allem. Den Leuten, der Gang, diesem Leben. Ich bin damit fertig... .“ Danny: „Gott im Himmel. Tut mir leid, Derek. Tut mir leid, was dir passiert ist.“ Derek: „Mir aber nicht. Ich hatte Glück. Ich hatte Glück gehabt, weil es falsch ist, Dan. Es war falsch und es hat mich aufgefressen und es hätte mich umgebracht. Und ich habe mich immer nur gefragt: Warum bin ich nur auf diesen Mist reingefallen, verstehst du? Nur deshalb, weil ich immer wütend war und egal was ich tat, das Gefühl wollte nicht weggehen... . Du musst dir vorstellen, dass ich zwei Leute getötet hab und ich fühlte mich danach genauso wie vorher, nur noch viel verwirrter... und ich bin es leid dauernd wütend zu sein, Danny... ich bin es einfach leid. Ich schreib dir nicht vor, was du tun sollst, das will ich nicht. Aber ich will, dass du es verstehst, weil ich dich liebe und du mein bester Freund bist. Verstehst du es?“ Danny: „Ja, ich verstehe es.“ Derek: „Alles klar.“
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Trauma und dramatische Veränderung des Selbst Nicht alle symbolischen Interaktionisten, die vor Athens über die „dramatische Veränderung des Selbst nachgedacht haben, stimmten der „traumatischen“ Natur oder der Art und Weise der Entwicklung zu. Dennoch wurde von zwei großen Denkern, Shibutani und Denzin, auf die Dramatik der anfänglichen Phasen hingewiesen. Insbesondere Sibutani hat unter den Auslösern für die „Veränderung“ auch viele normale Situationen gezählt: beispielsweise kann eine Person, die bisher noch keinerlei soziale Verantwortung übernehmen musste, sich nach der Hochzeit und nach der Annahme der entsprechenden Rolle in einen verständnisvollen Ehepartner verwandeln; der steile Fall des sozialen Status, der durch den Verlust des Vermögens entsteht, kann besonders dann eine erschütternde Wirkung haben, wenn der Betreffende bisher stets im Wohlstand gelebt hat; in einer hierarchischen Organisation kann ein Mensch, der bisher nie als besonders ehrgeizig angesehen wurde, ein dominanter Tyrann werden, sobald er eine Spitzenposition erreicht. Die traumatische Dimension bleibt jedenfalls die beachtlichste, auch für den betreffenden Täter, der sich auf die brutale Behandlung, die er im Krieg von Seiten der Soldaten erfahren hat, beruft. Jedes dieser Ereignisse ruft, wenn auch nicht auf gleiche Weise, akute Krisen hervor, die das Selbstwertgefühl schwächen und bisweilen zu Suiziden führen können. Die Überwindung dieser Phase wird laut Shibutani durch eine „Offenbarung“ eingeleitet (die zufällige Lektüre einer heiligen Schrift, eine Halluzination, der Schock nach einer Niederlage, die Begegnung mit einer besonderen Person), die neue, bis dahin unzugängliche Kommunikationskanäle eröffnen, die eine neue Untersuchung und Neudefinition seiner selbst auf den Weg bringen (Shibutani, 1961, S. 523–527; Athens, 1995, S. 582). Auch Denzin (1989, S. 15–17) erblickt das entscheidende Ereignis für eine „dramatische Veränderung des Selbst“ in einer „Epiphanie“ in Form eines schockierenden Erlebnisses. Mit ihr entstehe eine akute Krise: wer sie durchmache, sei nicht mehr derselbe Mensch, der er einmal war. Athens kritisiert sowohl Sibutani als auch Denzin dafür, dass sie die Wichtigkeit und Bedeutung mehrerer anderer Phasen, die zu einer „dramatischen Veränderung des Selbst“ führen vernachlässigt und falsch verstanden hätten und dafür, dass sie nicht hervorgehoben hätten, dass das entscheidende Element dieser Entwicklung fast immer ein traumatisches Ereignis ist. Die freudsche Definition von „Trauma“ scheint auch hier von großer Hilfe zu sein: Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung dessel-
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ben in normalgewohnter Weise mißglückt, […]“ (Freud, 1915–1917, 18. Vorlesung). Die Etymologie des Begriffs „Trauma“ verweist auf das altgriechische Verb „ti-trao“, was so viel wie „perforieren“, „verletzen“, „dem Körper schaden“ bedeutet. Freud bezog sich ferner darauf, wie die metaphorische Hülle, die unseren Verstand schützt, von besonderen Ereignissen aufgebrochen werden kann oder von einem Übermaß an äußeren Reizen, die die Fähigkeit, unsere Ausgeglichenheit und unser Wohlbefinden zu bewahren, gefährden. Wenn ein Mensch bedroht wird, wenn das normale Funktionieren der psychischen Tätigkeiten schwierig wird und eine große Verwirrung entsteht – meistens für einen Beobachter sichtbar –, dann ist etwas sehr Gewaltsames. „auf innerer Ebene [geschehen], und dies spiegelt die Gewalt wieder, mit der in der externen Welt sich etwas angekündigt hat oder tatsächlich geschehen ist. […]. Es ist der Zusammenbruch einer gefestigten Art, sein Leben zu leben, der Zusammenbruch von festen Überzeugungen über die Vorhersehbarkeit der Welt […]“ (Garland C., 1998, S. 21).
Etwas Fremdes nimmt nun von uns Besitz und aktiviert ein „Wiederholen“ anstatt eines „Erinnerns“ schmerzvoller Erfahrungen. Etwas ist in den Ablauf unseres Lebens eingedrungen. Jeder Mensch hat seine „Bruchstelle“, doch einige „zerbrechen“ leichter, und mit ihnen zerbrechen auch die inneren Bilder ihrer „bedeutsamen Anderen“. FALL A: MORD Dass mein Vater uns verlassen hat als ich acht Jahre alt war, war wie ein Schlag in die Magengrube... denn wenn es ein Vater gewesen wäre, der mich jeden Tag geschlagen hat, wäre ich jemanden losgeworden, der mich misshandelt hat. Doch er hat mir jeden Tag ein Geschenk gemacht, ist mit mir ins Kino gegangen, er hat eine Märchenwelt um mich errichtet... und dann ist er weggegangen. Verschwunden. Es ist so, als ob sie einem sagen würden: „Du hast keinen Magen mehr!“ und du fragst sie: „Und wie soll ich dann heute Abend essen?“ Er war ein sehr unzuverlässiger Mensch... er war naiv... . Das war das traumatischste Ereignis meines Lebens. Und dann dieser Urlaub in X. Wir waren 1968 in X mit meinem Vater, seiner Geliebten und ihrer neunjährigen Tochter. Ich war elf Jahre alt und mein Bruder fünf. Ein blondes, sehr hübsches Mädchen kam die Treppen herunter und die trug ein leichtes Sommerkleid mit einem Schlitz bis hierhin... und die trug keinen Slip... und da waren Fischer, die an der Bar saßen. Sie ist vor denen hergegangen... ich werde heute noch wütend, wenn ich darüber nachdenke... Was ich sagen will: „Du provozierst mich gerade, du provozierst mich... es ist eine Form der Gewalt und du tust auch diesen Leuten Gewalt an...“. Jedenfalls fragt man sich: „Wie kann man nur? Und wieso?“ Und dann noch vor diesen Leuten, den Inselbewohnern. Ich fand das nicht richtig. Ich dachte: „Das ist Machtmissbrauch, also die Gewalt, das ist Machtmissbrauch...“. Ich werde so wütend, ich hätte Lust gehabt... ich hab’s nicht gemacht, weil ich weiß, dass mein
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Zweites Kapitel Vater nicht einverstanden gewesen wäre, weil auch sie nackt im Haus rumgelaufen sind, sie sind auch nackt schwimmen gegangen... . Für mich kann Gewalt... ein Wort, das im falschen Moment ausgesprochen wird, kann für mich gewaltsamer sein als... .
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Ungewöhnliche an den traumatischen Ereignissen nicht in ihrer Seltenheit besteht (starke persönliche Verletzungen, sexuelle Gewalt und Missbrauch, Misshandlungen innerhalb der Familie sind nicht mehr bloß vereinzelte Vorfälle, bzw. sind es nie gewesen), als vielmehr in ihrer außergewöhnlichen Eignung, die normalen menschlichen Fähigkeiten, sich dem Leben anzupassen, zu unterdrücken, ein Gefühl der Machtlosigkeit und der Angst zu erzeugen, das Gefühl der Einheit des Erlebten zu zerstören und die wichtigsten menschlichen Beziehungen in eine Krise zu stürzen, in der die Konstruktion des Self zerstört wird, welches sich durch Beziehungen zu anderen gebildet und erhalten hat. FALL B: MORD Der Täter enthüllt den Ursprung seines tiefen und unausgedrückten Leids, welches durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst wurde. Ich bin in X geboren und mit sechzehn Jahren in den Norden gezogen... mit meiner Mutter und meinen Brüdern. Ich habe keinen Vater... . Der Vater wurde uns im Süden getötet... da unten in X wurde er getötet... und so haben wir uns entschlossen, alles hinter uns zu lassen... . Damals gab es Blutrache... unter den rivalisierenden Familien... zu dieser Zeit ist mein Vater getötet worden... nach dem, was passiert ist habe ich wahnsinnig gelitten... ich habe wahnsinnig gelitten und in mir hatte sich viel Wut aufgestaut... . Für mich war es kein einfacher Weg... von dem Tag bis zu dem Tag meiner Verhaftung war etwas, das ich immer hinter mir hergeschleppt habe... und in mir diese Wut, dieser Groll. In dieser Zeit hätten wir uns entweder mit noch mehr Toten zu Hause weiter ruinieren können... oder uns entscheiden können zu gehen... . Ich hatte für alle, für diejenigen, die ihn getötet haben, keine guten Worte übrig: „Dreckige Bastarde! Doch was wollen sie von uns!“ Danach [nach ein paar Jahren im Norden] kam die Zeit, in der dort Heroin und Kokain auftauchten... . Ich habe nie mit jemandem über den Tod meines Vaters gesprochen. Drogen halfen mir, gleichgültiger zu bleiben... . Damals war ich verheiratet, ich lebte mit meiner Familie, mit meinem Sohn... schon als er noch sehr klein war habe ich angefangen, Drogen zu nehmen. Zu dieser Zeit hatte ich keinen Verstand. Der erste Gedanke, wenn ich morgens aufwachte, war Drogen zu nehmen. Nicht meine Familie. Nicht mein Sohn. Sondern Drogen. Am Anfang ziehst du dir eine Line und es geht dir gut, angenehm... nur um den Rausch dieser Droge auszuprobieren. Doch dann hat sie mich geistig, physisch und so kaputtgemacht... denn jeden Tag Heroin und Kokain zu nehmen, ist echt ein Schlag mit dem Hammer... und es ist nicht einfach sowohl das eine als auch das andere zu nehmen. Ich habe vielleicht morgens Heroin genommen und abends Kokain, während der Nacht manchmal noch Heroin. Es war ein ständiges... .
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Selbstverständlich kann die Intensität dieser Ereignisse, aus klinischer Perspektive, verschiedene Persönlichkeitsstörungen hervorrufen – wie zum Beispiel eine posttraumatische Belastungsstörung –, die eine psychotherapeutische Behandlung erfordern. Die „Ebene“ unserer Analyse konzentriert sich jedoch auf den Zustand der „existentiellen Krise“, auf das Selbstwertgefühl, das von den erlittenen Erniedrigungen angegriffen ist – kurz gesagt, auf die Bedeutung und symbolische Neuorganisation, die von den Handelnden solchen Vorfällen eingeräumt werden. FALL D: GATTENMORD Oft bin ich nach Hause gekommen und habe mich gefragt: „Wo steckt sie?“ Dann ging es so noch eine Weile lang weiter... bis sie eines Tages zu mir sagt: „Ich hab keine Lust mehr... trennen wir uns.“ Und ich sage: „Aber wir haben doch einen Sohn, der noch ganz klein ist.“ – zu dem Zeitpunkt muss er zehn Jahre alt gewesen sein – „Was fehlt uns denn? Wir bleiben zusammen... du machst das, was du willst und ich, was ich will... wenn das Kind älter ist und die Situation besser begreifen kann, mit 15 oder 16 Jahren, trennen wir uns... du gehst deinen Weg und ich meinen“. Und sie antwortet: „In Ordnung, in Ordnung, so machen wir das...“. Doch so wie es aussieht, funktionierte die Sache nicht... Und tatsächlich komme ich ein Jahr später eines schönen Tages nach Hause, ganz so, als ob nichts wäre... und sie ist verschwunden. Sie war nicht mehr da: ihr Kleiderschrank war leer, der Kleiderschrank meines Sohnes war leer... . Das war für mich... ich weiß nicht wie... ich wollte ihr mit einem Stock den Kopf einschlagen... ich hatte eine Unmenge an Gedanken, konnte aber keinen richtig fassen... . Ich habe mich gefragt: Was tue ich jetzt?“ Also rufe ich sie an und sie antwortet mir: „Ich habe deinen Anruf erwartet ... ich bin ausgezogen... in zwei Wochen müssen wir zum Gericht und die Trennung unterschreiben...“. Und ich erwidere ihr: „Entschuldige, aber wieso hast du mir gesagt, dass du einverstanden bist zusammen zu bleiben bis das Kind älter ist, und jetzt nimmst du alles zurück?“ Und sie: „Nein, nein, ich konnte nicht mehr...“. Ich habe versucht darauf zu bestehen und es ist fast zu einer Besessenheit geworden... nicht so sehr, weil sie ausgezogen ist, sondern wegen des Kindes und weil sie unsere Abmachung nicht eingehalten hat... das war es, was mich hat ausrasten lassen. Mich störte es wegen meines Sohnes. Außerdem hat das Kind, als es mich gesehen hat, zu mir gesagt: „Ich hab Mama gesagt, dass wir nach Hause zurückgehen sollen, aber sie will nicht zurück... ich will da nicht bleiben“. Das hat mir noch mehr Energie gegeben zu kämpfen... es hat mir sozusagen das: „Los!“ gegeben.
Athens’ zweiter Kritikpunkt am Denken Meads: „Sozialität“ und „Herrschaft“ Die zweite strukturelle Kritik an den theoretischen Ansatzpunkten Meads bezieht sich – wie schon gesagt – auf den Begriff der „Sozialität“ (sociality), den Athens im Licht der ausschlaggebenden Bedeutung des Begriffs der „Herrschaft“ und dessen Funktion in der konkreten symbolischen Interaktion betrachtet. Die Frage wirft noch weitere auf, welche die daraus folgenden
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Verbesserungen an den Begriffen „Sozialität“, „soziale Handlung“, RoleTaking, „bedeutsame Sprache“ und „soziales Objekts“ betreffen. Traditionell hat das soziologische Denken die „Theorie der Gesellschaft“, die von Mead entwickelt wurde, entweder ignoriert oder zumindest als mangelhaft angesehen, und schon seit den Schriften von Robert Park und Ernest Burgess (1921)38 haben sich die kritischen Einwände vielfach auf die geringe Anerkennung, die der sozialen Funktion der „Herrschaft“ entgegengebracht wird, konzentriert.
Meads „Sozialität“ Für Mead besteht die „gesellschaftliche Handlung“ aus […] jener Klasse von Handlungen, welche die Kooperation von mehr als einer Person voraussetzen, deren Objekt, insoweit er durch die Handlung bestimmt wird […], ein soziales Objekt ist“ (Mead, 1934, S. 45). Das Ordnungsprinzip der „gesellschaftlichen Handlung“ wird als „Sozialität“ oder als das „das Vermögen mehreres gleichzeitig sein zu können, bezeichnet.39 Um „Sozialität“ anzunehmen, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt werden. Zunächst „muss ein Individuum gleichzeitig mindestens zwei Systeme bewohnen […], welche […] jeweils die eigene Rolle und die Rolle eines anderen Menschen darstellen und zwar innerhalb eines Systems […], das ausgedehnter als die gesellschaftliche Handlung ist“.40 Infolge dessen verursacht jede Veränderung, die einem der beiden Subsysteme eintritt, eine weitere, nicht nur im anderen, sondern auch im ausgedehnteren System, das sie umfasst. Ein konkretes Beispiel dafür betrifft die Beziehung zwischen Gewalttäter und Opfer.41 38
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„[…] Diese besondere Art der Intimität, die es beispielsweise zwischen Liebenden, zwischen Mann und Frau, oder zwischen einem Arzt und seinem Patienten gibt, impliziert Beziehungen der Über- und Unterordnung, die aber nicht als solche empfunden werden. Die persönliche Dominanz, die ein Coach über seine Mannschaft, der Seelsorger über seine Gemeinde, der politische Führer über seine Parteiangehörigen ausübt, sind allesamt Beispiele desselben Phänomens“ (Park / Burgess, 1921, S. 668). Das Zeichen der „Sozialität“ im Verhältnis zur Umwelt und zu den anderen, ergibt sich daraus, dass „[…] wir normalerweise die Eigenschaften des Objekts als Mitglied eines Systems mittels jener Eigenschaften bewerten, die es in einem anderen System besitzt“ (Mead, 1932, S. 78). S. Athens (2002, S. 28), der Mead (1932, S. 63–80) zitiert. Für Mead betrifft die „Sozialität“ nicht bloß die menschliche Welt, sondern auch die Tierwelt, so wie im Fall der Beziehung und Interaktion zwischen Raubtier, Beute und Umwelt: „[…] nur, weil das Tier gleichzeitig lebendig ist und einer physischen Welt angehört, entsteht somit das Leben und erstreckt seinen Einfluss auf die Umwelt. Da
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Nachdem er diese ganz allgemeine Beschreibung gegeben hat, zerlegt Mead die „gesellschaftliche Handlung“ in ihre fünf Bausteine: die „Rollen“, die „Verhaltensweisen“, die „bedeutungsvolle Sprache“, das Role-Taking und die „sozialen Objekte“.42 Die „bedeutungsvolle Sprache“ ist die Gesamtheit der Lautgebärden, welche eine gemeinsame Bedeutung für alle Bestandteile, die in einen „sozialen Akt“ involviert sind, besitzen.43 Da die Menschen nur dann vollständig kommunizieren, wenn sie sich selbst auf dasselbe hinweisen, auf das sie auch einen anderen hinweisen wollen, so folgt daraus die Wichtigkeit der „bedeutungsvollen Sprache“ für den Prozess des Role-Taking mit unmittelbarer Evidenz: Sie ist das unersetzbare Mittel, um Verhalten eines anderen anzunehmen.44 Erst nachdem die gegenseitigen Rollen angenommen wurden, können die Handelnden einen „Gegenstand“ einer künftigen „sozialen Handlung“ formulieren und gleichzeitig einen gemeinsamen Aktionsplan entwerfen. Angesichts der linearen Verbindung, die nach Mead das anfängliche Role-Taking mit der zukünftigen Tat vereinigt, wird nur dann, wenn die Sprache wirklich gehaltvoll ist – das heißt, wenn sie Inhalte übermittelt, die für alle Akteure identisch sind – keine Art von Konflikt entstehen. Dieser wird stets dann auftreten, wenn der Prozess des Role-Taking „nicht funktioniert“ wie erwartet, weil die Sprache „fehlerhaft“, besser: nicht gehaltvoll ist und somit die Teilnehmer daran hindert, ihre Handlungen in Richtung eines gemeinsamen Ziels einander „anzupassen“.45
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das bewusste Individuum ein Tier ist und auch in der Lage ist ein Vorher und Nachher wahrzunehmen, entsteht das Bewusstsein mit den Bedeutungen und Werten, die der Welt eine Form verleihen“ (Mead 1932, S. 91). S. Kap. 1. „Die lautliche Geste ist zumindest eine Geste, die auf die Ohren dessen trifft, der sie physiologisch genauso ausführt, wie sie auf die anderen trifft […]. [Doch] die Laute sind ohne Bedeutung. Wenn eine lautliche Geste, die von einem Menschen hervorgebracht wird, zu einer bestimmten Antwort von Seiten eines anderen führt, können wir sie als Symbol bezeichnen“ (Mead, 1932, S. 187–188). Nur wenn wir wirksam mit anderen Menschen kommunizieren und dabei aus gemeinsamen Vorstellungen gemeinsame Bedeutungen zuschneiden, können wir, bis zu einem gewissen Grad, die Reaktionen der anderen Menschen vorhersehen. „Dies gilt für eine Person, die einer anderen gegenüber eine sinnvolle Sprache verwendet. Sie weiß und versteht, was sie die andere Person zu tun bittet, und regt zugleich in sich selbst die Reaktion an, den Prozess ablaufen zu lassen“ (Mead, 1934, S. 149). Im alltäglichen Leben kommt es, wenn in der gestischen Konversation sich die gegenseitigen Sichtweisen nicht bestätigen, zu keiner befriedigenden Koordination. Daraus wird gefolgert, dass nach Mead, um mit Konflikten umzugehen, eine Steigerung der „Sozialität“ nötig ist und damit die Fähigkeit die Verhaltensweisen der anderen anzu-
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Athens Kritik an der fehlenden Anerkennung der „Herrschaft“ und der zeitlichen Dimension der gesellschaftlichen Handlungen Soweit die Theorie Meads. Doch welches sind die Schwachpunkte, die „Irrtümer“, auf die Athens bei dieser Auffassung stößt? Und welches sind die Verbesserungen, die er vorschlägt? Die erste und gravierendste Einschränkung besteht seiner Ansicht nach darin, dass Mead seine Analyse auf die „Sozialität“ statt auf die „Herrschaft“ aufgebaut hat. Um vorwegzunehmen, was wir auf den folgenden Seiten noch vertiefen werden: „Herrschaft“ – die durch die Notwendigkeit entsteht, eine „komplexe gesellschaftliche Handlung“ zu vollenden – bezieht sich auf das Gefüge von Akten, in denen einige Teilnehmer eine übergeordnete, andere eine untergeordnete Rolle einnehmen und jeder die Verhaltensweisen des anderen aufgreift (Athens, 2007a, S. 141). Athens geht mit Mead darin einig, dass zur Herstellung einer „gesellschaftlichen Handlung“ mehrerer Personen erforderlich sind, die mehrere Rollen ausüben, doch distanziert er sich dort, wo er feststellt, dass es immer einen geben muss „[...], der mit der Herstellung der gesellschaftlichen Handlung beginnt und der ihre Vollendung vorantreibt, indem er die Rollen verteilt und die korrekte Durchführung überwacht“ (Athens, 2002, S. 31). Somit ergibt sich von Anfang an eine „Arbeitsteilung“, eine hierarchische Abstufung der Rollen. Ohne „Herrschaft“ hätte es „komplexe gesellschaftliche Handlungen“ und „Institutionen“ ganz einfach nie gegeben. Ihr Einfluss beschränkt sich nämlich nicht darauf, die staatlichen Apparate einzurichten, sondern erstreckt sich auch auf jede einzelne gesellschaftliche Institution wie Sprache, Familie, Wirtschaft, nehmen, verbessert wird. Shibutani (1961, S. 168) bemerkt: „[…] Konsens bedeutet nicht Einklang in dem Sinne, dass Menschen harmonische Interessen haben. Auch im Konfliktfall unterstützen die Antagonisten die Erwartungen des anderen, indem sie auf aggressive Gesten in der erwarteten Form reagieren. Wenn sich jemand wegen einer Beleidigung empört, unterstützt er die Sichtweise seines Gegenübers, indem er seine Erwartungen erfüllt. Was würde geschehen, wenn der Beleidigte nicht wütend würde? […]. Die erste Reaktion besteht darin, dass die Person wohl nicht richtig verstanden habe, und die Beleidigung daher wiederholt wird. Wenn sie dann weiterhin lacht, kann der andere daraus schließen, dass sie verrückt ist. Wenn alle anwesenden Personen lachen, kann der Aggressor daraus schließen, dass mit ihm selbst etwas nicht stimmt. Seine Einstellung zur Welt wird tiefgreifend erschüttert, und er zieht sich zurück, um zu verstehen, was gerade geschieht. In diesem Sinne ist jeder Mensch ein Agent der sozialen Kontrolle. Die konventionellen Bedeutungen, welche die gemeinsame symbolische Umwelt einer Gruppe bilden, bestehen aus anerkannten Formen, sich gegenüber Objekten zu verhalten – Formen, die in einer sozialen Matrix ausgebildet sind“.
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Religion, Wissenschaft, sowie die Beziehungen, die zwischen all diesen unterschiedlichen Institutionen bestehen (Athens, 2007a, S. 156). Sie ist außerdem „allgegenwärtig“ und operiert besonders dann penetrant, wenn sie nicht sichtbar ist – da sie für selbstverständlich gehalten wird – und besonders still ist – soweit sie nicht bestritten wird. Oft sind wir eng in ihr Netz verstrickt, ohne dass wir uns ihrer Ausübung bewusst sind: die Formen der „Herrschaft“ wissen ihren Code zu verschleiern und als natürlich zu erscheinen und dringen bloß in besonderen Konfliktsituationen, die eine Maskierung nicht mehr zulassen, in unser Bewusstsein. Um über die soziale Natur des Self zu sprechen ist es also wichtig zu bedenken, dass es genauso durch „harmonischere“ Forderungen der Gesellschaft entsteht, wie auch aus „Konflikten“, „gesellschaftlichen Übeln“ und „Herrschafts“-Beziehungen. Die Komplexität, die durch den Begriff „Herrschaft“ eingeführt wurde, wirkt sich außerdem direkt auf die Art aus, den Ursprung von Konflikte zu bestimmen. Für Athens werden sie stets durch Fragen danach, wer die übergeordneten Rollen ausüben soll, ausgelöst, nicht aber durch das Unvermögen, in fremde Rollen zu schlüpfen und sich wie „soziale Chamäleons“ zu bewegen;46 kurz gesagt, dient ein Konflikt immer der Festlegung, „wer der Chef sein wird“. Was Mead nicht zu erkennen gelang, ist die Tatsache, dass die Menschen ihre Rollen vertauschen können, ohne dass sie gleichzeitig auch dasselbe Objekt einer künftigen „gesellschaftlichen Handlung“ haben müssen (Mead, 1932, S. 191). Und dies geschieht genau dann, wenn ein Teilnehmer die Rolle des „Chefs“ anzunehmen versucht. Schließlich wird auch die zeitliche Ausdehnung der „gesellschaftlichen Handlungen“ genauer unter die Lupe genommen. Wenn wir nach Ansicht von Mead nicht in einer „Gegenwart auf der Rasierklinge“ leben, so bleibt doch jede „komplexe gesellschaftliche Handlung“ seiner Meinung nach in einer Gegenwart mit „elastischem Rand“ fokussiert, die sich gleichzeitig rückwärts in die Vergangenheit oder vorwärts in die Zukunft erstreckt:
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„Auch wenn Menschen sich verstehen, können sie ebenso uneinig über den Plan der gewünschten Handlung sein. Eine Sichtweise zu teilen oder nicht zu teilen, hängt weniger von der Fähigkeit zum Role-taking ab als von den jeweiligen Interessen. Unter diesen Umständen kann Kommunikation einen manipulativen Charakter annehmen, wenn die Gesprächspartner versuchen, sich gegenseitig zu beeinflussen, wenn sie absichtlich Gesten verwirklichen, die in der Lage sind, die erwünschten Effekte zu erzielen“ (Shibutani, 1961, S. 147).
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Auch in der sogenannten flüchtigen Gegenwart gibt es einen Übergang, in dem es etwas Nachfolgendes gibt und worin sich Vergangenheit und Zukunft treffen, während die Gegenwart nur der Abschnitt ist, in dem aus der Sicht der Handlung beides enthalten ist“.47 Vergangenheit und Zukunft beeinflussen also in gleichem Maße die Ausführung der Rollen der Individuen. Die Erklärung Meads bezüglich der zeitlichen Ausdehnung einer Handlung befindet sich nach Athens „nicht im Gleichschritt“ mit seiner Auffassung von der Funktionsweise des „generalisierten Anderen“, welcher mittels „Abstraktion“ operiert. Denn „[...], wenn die Menschen die Verhaltensweisen der anderen Teilnehmer an einer gesellschaftlichen Handlung abstrahieren, um einen gemeinsamen Aktionsplan zu bilden, so bleiben sie – nach Mead – in einer zeitlosen Gegenwart festgefroren, die nicht in die Vergangenheit zurückfließt und nicht in die Zukunft hineingleitet“ (Athens, 2007a, S. 160).
Doch die Sprache synchronisiert unsere „Annahme fremder Verhaltensweisen“ nicht.48 Athens vertritt die Auffassung, dass wir nie die Rollen [der anderen] durch das annehmen können, was wir zu ihnen sagen, sondern nur durch das, was sie zu uns sagen. Wir müssen erst die Antworten der anderen auf unsere Kommentare abwarten, bevor wir mit Sicherheit ihre Verhaltensweisen annehmen können. […] Sprache erlaubt nur fremde Verhaltensweisen nur nachfolgend, nicht aber gleichzeitig anzunehmen, […] denn die Annahme einer Verhaltensweise ist ein alternierender, kein synchroner Prozess (Athens, 1995, S. 254).49
Athens meint ferner, dass die zeitliche Orientierung der Teilnehmer einer „gesellschaftlichen Handlung“ sich deutlich ändert, je nachdem ob sie an „institutionellen gesellschaftlichen Handlungen“ – also an denen, die auf der Basis vorgegebener und gemeinsamer Regeln darüber, wer eine über- und wer eine untergeordnete Rolle einnimmt, organisiert sind – oder „aufkommenden“ gesellschaftlichen Handlungen, welche fast völlig improvisierte Konstruktio-
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Mead (1932, S. 189), der fortfährt: „Wenn wir diesen natürlichen Übergang einmal ernsthaft betrachten, sehen wir, dass das Ziel der Wahrnehmung die in der Handlung existierende Zukunft ist. Das Essen ist das, was ein Tier essen wird, und sein Refugium ist die Höhle, in der es Schutz vor seinem Verfolger finden wird“. Nach Mead sagen wir, während wir mit anderen sprechen, das, was wir uns gleichzeitig selbst sagen. Diese aktive „Reflexivität“ würde uns – wie wir gesehen haben – erlauben das fremde Verhalten „gleichzeitig“ mit unserer „inneren Konversation“ anzunehmen, also vor den fremden Reaktionen. Kursivierung von uns.
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nen sind, teilnehmen.50 Dazu ist zu bemerken, dass der symbolische Interaktionismus die „gesellschaftlichen Institutionen“ bzw. molare Einheiten, auf eine andere Art betrachtet als andere soziologische Richtungen: Er sieht sie als Anpassungen der in die jeweiligen Handlungen eingebundenen Menschen. Organisation und gegenseitige Abhängigkeit gehören zu den Handlungen der Personen, die in verschiedenen Positionen situiert sind. In einer bestimmten Situation werden die Teilnehmer mit den organisierten Tätigkeiten anderer konfrontiert, an die sie ihre eigenen Akte anpassen müssen. Die Verkettung dieser Handlungen, die in verschiedenen Situationen stattfindet, bildet die Organisation der molaren Einheit in großem Umfang […]. Statt sich die Handlungen der Organisationen und ihrer Glieder in Bezug auf Ordnungsprinzipien oder ein System zu vorzustellen […], sucht der symbolische Interaktionismus nach Erklärungen für die Art, in der die Teilnehmer die Situationen in den jeweiligen Positionen definieren, interpretieren und ihnen begegnen […]. Dies bedeutet jedoch nicht […], sich von der molaren Dimension weg und zu der winzigen hin zu bewegen, sondern das Molare auf seinen empirischen Charakter hin zu untersuchen, also als Ausdruck einer Verknüpfung der Handlung mit anderen (Blumer, 1969a, S. 126–127).
Nachdem wir uns der Dimension der von den „symbolischen Interaktionisten“ vorgenommenen Analyse versichert haben und zur Kenntnis genommen haben, dass Athens seine Analyse der institutionellen Ordnung für „eine immense Vereinfachung eines sehr komplexen Problems“ hält,51 werden wir mit ihm nun beobachten, wie die Regeln der „gesellschaftlichen institutionellen Handlungen“ aus den „komplexen gesellschaftlichen Handlungen“ abge50
51
Eine „Ausnahmesituation“ ist, laut Mead, „das Auftreten oder das Deutlichwerden von etwas Neuem oder ein ‘Ereignis’, das sich qualitativ von allen anderen erschienenen oder geschehenen Dingen unterscheidet. Das Auftreten von Ereignissen konditioniert somit […] das Aufkommen der zeitlichen Perspektive. Zeit wird demnach durch das Auftreten von Ereignissen strukturiert, und sie stellt sich der Kontinuität des Übergangs ebenso entgegen, wie die Veränderung der Dauerhaftigkeit. Sie bestimmt sich als Gegenwart, d.h. als Werden, das eine Vergangenheit impliziert, aus dem sie stammt und als Zukunft, auf die sie zusteuert“ (Roggerone, 1986, S. 16). Wir verdanken Ota de Leonardis die ausführlichsten Überlegungen der letzten Jahrzehnte zum Thema der „Institutionen“. Als Vertreter des sog. „Neoinstitutionalismus“ wird seine Überlegung in einer artikulierteren Argumentation, als sie hier möglich ist, aufgegriffen, um den „Hypersimplifizierungen“ von Athens mehr Gehalt zu verleihen. Dies vorweggeschickt, halten wir einige Punkte der Analyse von de Leonardis, nicht für inkongruent mit dem, was wir gerade beschreiben: „[…] Institutionen sind bewusste menschliche Artefakte. Dieser Punkt ist wichtig, denn indem er das menschliche Handeln hinzuzieht, vermeidet er den alten Fehler, sich die Institution […] als metaphysische Wesenheit vorzustellen. Besonders weil er die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit lenkt, Institutionen zu wechseln, können die Menschen das, was sie in der Gesellschaft erschaffen haben, auch wieder abreißen und anders wiederaufbauen, wenn es nichts Gutes für die Gesellschaft bedeutet, sondern etwas Schlechtes. Umgekehrt liegt die Möglichkeit, Welten zu schaffen, zu zerstören und neu zu schaffen, bei den Handelnden selbst und sonst niemandem“ (de Leonardis, 2001, S. 58).
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leitet werden, welche in der Vergangenheit liegen, und wie die zeitliche Orientierung der Teilnehmer sich im Wesentlichen nur ungern in der Zeit verankert und sich damit auf eine Logik stützt, die man mit folgendem Motto zusammenfassen kann: „Wir haben in der Vergangenheit so gehandelt und werden auch weiter so handeln“. Die Nützlichkeit der „gesellschaftlichen institutionellen Handlungen“ besteht darin, dass sie aus einem fundierten und wiederholbaren Schema bestehen, auf das die Mitglieder der Gemeinschaft zurückgreifen können, um „komplexe Handlungen“ durchzuführen (Athens, 2002, S. 34).52 In den „auftauchenden gesellschaftlichen Handlungen“ hingegen gibt es eine Gegenwart, die sich stark in Richtung „Zukunft“ neigt und von der „Vergangenheit“ weit entfernt ist. Die implizite Logik kann mit folgendem Motto zusammengefasst werden: „Wir einigen uns darauf die Vergangenheit hinter uns zu lassen und von jetzt an immer so zu handeln“ (Athens, 2002, S. 34). Mit einem „Domino-Effekt“ wird auch Meads Interpretation des Begriffs des „sozialen Objekts“ untergraben, ebenso die des „gemeinsamen Handlungsplans“, der darin enthalten ist: nach Athens können die Handlungspläne, sobald die Teilnehmer einer „komplexen gesellschaftlichen Handlung“ unterschiedliche Rollen ausfüllen, nur „kongruent-kompatibel“ oder „inkongruentinkompatibel“ sein. Also ist es die Verschiedenheit der in hierarchische Stufen gegliederten Rollen, die keinen Hinweis auf ein „gemeinsames soziales Objekt“ für alle Teilnehmer erlaubt, sondern nur auf verschiedene „soziale Objekte“ – welche unter sich kongruent sind53 – der zukünftigen „sozialen Aktion“. FILM: ELEPHANT Alex und Eric entwerfen den Handlungs- und Vernichtungsplan, der in der Columbine High sattfinden soll. 52
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„[…] [doch] auch im Fall einer gemeinsamen vorherbestimmten und wiederholten Handlung muss jeder Teil neu strukturiert werden. Die Teilnehmer müssten erneut die jeweiligen Handlungslinien konstruieren und sie durch den dualen Prozess der Bestimmung und der Interpretation aneinander anpassen“ (Blumer, 1969, S. 62). Athens beschreibt die „Kongruenz“ folgendermaßen: „Wenn auf der einen Seite derjenige, der die übergeordneten Rollen einnehmen will […], eine Haltung der Überlegenheit gegenüber denjenigen zeigt, welche die untergeordneten Rollen einnehmen werden, und diejenigen, welche die Letzteren einnehmen werden, mit Unterwerfungsverhalten reagieren […], dann haben [alle gemeinsam] einen Aktionsplan geschmiedet, der sich mit der Bildung [der gesellschaftlichen Handlung] verträgt. […]. Wenn andererseits derjenige, der die übergeordneten Rollen einnehmen will, ein überlegenes Verhalten denjenigen gegenüber an den Tag legen, welche die untergeordneten Rollen einnehmen werden, jedoch derjenigen, welcher die Letztere einnehmen soll, nicht mit unterwürfigem Verhalten reagiert […], dann werden sie einen unverträglichen Handlungsplan schmieden […]“ (Athens, 2002, S. 35).
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Alex: „Sehen wir uns das an... wir parken hier, korrekt? Wir betreten das Gebäude durch den Südeingang, ja? Dann gehen wir am Trophäen- und Medaillenschrank vorbei und gehen durch das Sprachlabor, das... die benutzen es nicht mehr, es sollte also niemand drin sein. Dann machen wir uns bereit und dann hören wir hier vorne die primäre Explosion aus der Cafeteria. Wenn die hochgehen, sollten wir in der Lage sein die Kids abzuknallen, wenn wir den Ostflügel durchqueren. Und dann gibt’s eine weitere Explosion und zwar hier im Sportsaal... und hier im Auditorium... . Zu diesem Zeitpunkt müssten Kids aus allen Richtungen angerannt kommen und wir können sie einen nach dem anderen abknallen. Dann, wenn das durch ist, triffst du auf die gelbe Linie genau hier, das ist dein Plan B und du gehst zu Mr. Louison’s Büro und machst da alles weg.“ Eric: „Oh fuck!“ Alex: „Während ich auf der roten Linie die Gänge saubermache, auf denen ich die besten Ziele habe, die Sportskanonen und so. Ja, das wir ein großer Tag für uns, ein Feiertag. Du hast deine TEC-9 und ein Gewehr und ich hab meine Kurze und meine 2.23 auf dem Rücken und ich hab ein paar Pistolen und ein Messer. Wir haben genügend Sprengstoff für fast einen Tag. Am allerwichtigsten: hab Spaß, Mann!“ Eric: „Ja, Mann.“
Eine letzte Spezifizierung betrifft den Prozess des Role-Taking – wörtlich „Annehmen der Rolle“ –, einen Ausdruck, der von Mead als Synonym für „Annahme der Verhaltensweise“ (attitudinal assumption) verwendet wird. Athens präzisiert, dass wenn man auf den Prozess verweisen möchte, der den Menschen ermöglicht die verschiedenen Rollen im Laufe einer „gesellschaftlichen Handlung“ einander „anzugleichen“, in Wirklichkeit nur letzterer Ausdruck korrekt ist, denn unter den betreffenden Umständen „ergreifen“ die Menschen nicht im Wortsinne die Rollen der anderen – egal ob über- oder untergeordnete –, sondern werden sich ihrer einfach bewusst.
Der Begriff „Herrschaft“. Ein kurzer Exkurs jenseits des radikalen Interaktionismus. Foucault, Bourdieu und Simmel Nun besitzen wir alle Elemente, um den Kern des Begriffs „Herrschaft“ in seiner interaktionistischen Version zu strukturieren. Doch um sie herum befinden sich, verdichtet und vielschichtig, viele weitere theoretische Optionen. Traditionell sprechen Soziologen von „Herrschaft“, wenn sie eine soziale Beziehung der Überordnung und Überlegenheit meinen, welche zwischen einer Einzelperson oder einem Kollektiv besteht, welches über eine oder mehrerer Einzelpersonen oder Kollektive im Rahmen eines Gesellschaftssystems, zu dem sie gehören, bestimmt, wobei sie sich verschiedener Formen
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und Dosierungen der „Macht“, der „Autorität“ und des „Einflusses“ und anderer geeigneter Mittel der Steuerung des Handelns, der Orientierung und des Bewusstseins der Beherrschten bedienen (Gallino, 1978b, S. 261–267). Insbesondere zur Kennzeichnung der Beziehungen interpersoneller „Herrschaft“ hat man schon seit langem ihren psychologischen Ursprung hervorgehoben, indem man betont, sie sei „[...] eine Funktion der Persönlichkeit und des Temperaments, […] ein persönliches Merkmal“, im Unterschied zur „Macht“ – einem soziologischen Begriff, der eine „Funktion der Organisationen, der Gruppen […] und der Gesellschaftsstruktur“ darstellt.54 Diese Vorstellungen sind von einigen einflussreichen Denkern, die entscheidenden Einfluss auf die politische Philosophie 20. Jahrhunderts gehabt haben, fundamental umgestürzt worden.55 Von hier aus sind wir aufgerufen, über die Gesten gewaltsamer „Herrschaft“ nachzudenken, die, wenn sie von demjenigen realisiert werden, der den „Gesetzen“ und der „bereits bestehenden Autorität“ des Staates unterworfen ist, zusammen mit seiner Gewalt gegenüber anderer Gesellschaftsangehörigen, auch die ursprünglich vom Recht verkörperte Gewalt – mit dem Namen „Macht“– offenbaren. „Herrschaft“ und individuelle Gewalt, „Herrschaft“ und staatliche Gewalt also. Wir werden versuchen, die eine von der anderen zu trennen und sie zu zerlegen; auf der einen Seite gibt es die Formen der „Herrschaft“, die durch körperliche Gewalt ausgeübt werden seitens gesellschaftlich Handelnder, die in einer „Kosmologie der Gewalt“ eingeschlossen sind, auf der anderen die sichtbaren und unsichtbaren Formen der Gewalt, welche in den Beziehungen der Dominanz / des Zwangs der staatlichen Systeme wirken. Beginnen wir mit Letzteren und betrachten den „klassischen“ Fall eines Handelnden, dem die Macht als Besitz zugeschrieben wird, an den er durch Vertrag oder durch gewaltsame Aneignung gelangt ist. In den letzten Jahrzehnten sind solche Interpretationen vertrauter geworden, die sich von dieser Sichtweise verabschiedet haben und die Staatsapparate nicht mehr als Stätten der „Macht“, welche eine Einzelperson oder eine soziale Gruppe innehaben, 54
55
Bierstedt (1950, S. 732) fügt hinzu: „Der Ort der Macht liegt in den Gruppen und findet seinen Ausdruck in den Beziehungen zwischen Gruppen aus. Der Ort der Herrschaft ist der einzelne Mensch und findet seinen Ausdruck in den zwischenmenschliche Beziehungen“. Zur „Macht“, zum „Recht“ und zum Anfangsmoment der „Hoheitsgewalt“, die durch eine Geste der Gewalt entsteht (die „bildende Gewalt“, die den natürlichen Zustand beendet, von dem Benjamin spricht), s. Benjamin (1995); Girard (1980); Resta (1992, 2005).
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betrachten, sondern als einfache Stützstrukturen einer Mehrzahl zerstreuter Beziehungen. Dies ist der Schnittpunkt einer sehr raffinierten Entwicklung, mit Hilfe derer Michel Foucault (1975a; 1975b; 1976; 1983) es geschafft hat, zwischen Gewalt und Kräfteverhältnissen zu unterscheiden. Erstere wendet sich gegen Körper und zerstört deren Form. Das Objekt der Kraft ergibt sich hingegen aus seinen Beziehungen zu anderen Kräften. „Macht“ leitet sich aus dieser Überschneidung der Kräfte ab: jedes Kräfteverhältnis56 ist auch ein „Machtverhältnis“. Macht ist nicht einfach Gewalt, nicht nur deshalb, weil sie in sich selbst Kategorien kreuzt, welche die Beziehung von Kraft auf Kraft zum Ausdruck bringen (anregen, verleiten, einen Nutzeffekt erzielen usw.), sondern auch deshalb, weil sie im Hinblick auf das Wissen Wahrheit erzeugt, indem sie Sehen und Sprechen bewirkt. Sie erzeugt Wahres als Problem (Deleuze, 1986, S. 116).
Worum es also geht, sind die „Regime der Wahrheit“, d.h. die Strategien der „Macht“, die über bestimmte Gegenstandsbereiche (zum Beispiel Kriminalität und Sexualität) Diskurse ermöglichen, die konformes Verhalten sichern. „Wissen“ verweist also direkt auf „Macht“: man untersucht die Aneignung des „Wissens“ als Aneignung der „Macht“, also die Formen, durch die Wahrheit entsteht. Laut Foucault gibt es eine sehr enge Verbindung zwischen „Macht“ und „Wissen“ in dem Sinne, dass sie sich gegenseitig implizieren und fördern: der Ausdruck „Wissensmacht“ wird zu einer begrifflichen Formel, um dieses Verhältnis zu beschreiben. Deshalb entfernt man sich von dieser einfachen, linearen, sehr traditionellen Vorstellung, die „Macht“ mit einem Gesetz identifiziert, das Nein sagt, das verbietet, indem es physisch angreift, indem es Körper direkt attackiert. Das Aufgeben der juristischen Auffassung – wie Foucault sie nennt – von einer „Macht“, die unterdrückt... und sonst nichts, lädt dazu ein, die Dyade Repression / Befreiung zu vergessen und sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass Macht nicht als stabile Eigenschaft, sondern als „produktives Netz, das durch unseren Gesellschaftskörper verläuft“ anzusehen ist. Hier ist ein Überschuss der „Macht“ gegenüber der Gewalt zu erkennen: von Foucault als Produzent von Diskursen und Wissen angesehen, wird sie als eine Strategie gedeutet, als etwas, das zirkuliert und als Kettenreaktion funktioniert, etwas, das durch 56
„[…] In Überwachen und Strafen wird [von Foucault] eine detaillierte Liste der Werte erstellt, die von den Kräfteverhältnissen im Verlaufe des 18. Jahrhunderts angenommen worden sind: Im Raum aufteilen (was sich spezifizierte als Einschließen, Kontrollieren, Einordnen, Einreihen […]), in der Zeit organisieren (die Zeit unterteilen, die Handlung programmieren, die Gebärde zerlegen […]), raum-zeitlich zusammenfügen (alle Arten „eine Produktivkraft zu bilden, deren Wirkung größer sein soll als die Summe der elementaren Kräfte, aus denen sie sich zusammensetzt“)“ (Deleuze, 1986, S. 100).
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„einzelne Punkte“ verläuft, welche jeweils anzeigen, dass dort eine Kraft angewendet wird. „Anders gesagt, die Macht durchzieht die Personen, sie wird nicht auf sie angewendet“ (Foucault, 1976, S. 132). Dies bedeutet, sie nicht mehr auf der Ebene der rechtlichen Souveränität und der staatlichen Institutionen zu begreifen, sondern auf derjenigen, auf der sie, indem sie zum Diskurs wird, den Alltag durchdringt und kontrolliert, konkret eine Situation schafft und eine Person definiert (Foucault, 1983). Gesellschaftliche Machtverhältnisse bilden sich nach und nach als errungene Positionen, die sich zu einem Netz verbinden, zu einer „Mikrophysik“, welche nicht auf „Herrschafts“-Befehle im engeren staatlichen Sinne verweist, sondern auf strategische Auseinandersetzungen, die bei alltäglichen Handlungskonflikten entstehen. Dort, wo die Macht Einflüsse auf den Körper ausübt, gibt es eine „Mikrophysik der Macht“. Foucault schreibt: […] wenn ich an den Mechanismus der Macht denke, habe ich ihre kapillare Form der Existenz vor Augen, da wo sie den Kern der Personen berührt, ihren Körper erreicht und sich in ihre Gesten, Verhaltensweisen, Gespräche, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben einnistet“ (Foucault, 1975b, S. 922). […] Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen dem, der weiß, und dem, der nicht weiß, bestehen Machtverhältnisse, die nicht die schlichte und einfache Projektion der großen souveränen Macht auf die Individuen sind; sie sind eher der bewegliche und konkrete Boden, in dem die Macht sich verankert hat, die Bedingungen der Möglichkeit, dass sie funktionieren kann (Foucault, 1979, S. 110).
Letztendlich ist die Formel „Macht / Wissen“ etwas, das sozialisiert / kontrolliert / diszipliniert und „Körper“ und „Seele“ der Personen gestaltet, indem sie sie Modellen der Konformität unterwirft. Unter dieser unterdrückerischen Schicht befindet sich der „Körper“, der gewissermaßen den instinktiven Ort der individuellen Freiheit darstellt. Es ist der Körper, der sich entgegenstellt und sich widersetzt; es ist der Körper, der dominiert werden muss – auch wenn es nicht möglich ist, am Ursprung der „Macht / Wissens“-Verhältnisse einen binären und globalen Widerspruch zwischen Herrschenden und Beherrschten zu entdecken. Die Position Foucaults ist – was soeben angedeutet wurde – nicht vergleichbar mit den „klassischen“, welche die „Herrschaft“57 als einseitiges Verhältnis 57
Luciano Gallino (1978c, S. 62–63) übersetzt „dominio“ mit dem deutschen Begriff Herrschaft: „Mit ‘Herrschaft’ ist also der Sachverhalt gemeint, bei dem der Ausdruck des Willens (‘Gebot’) des oder der ‘Dominierenden’ die Handlung anderer (des oder der ‘Dominierten’) beeinflussen will und dies auch tatsächlich in der Weise schafft, dass ihre Handlung sich in sozial relevantem Ausmaß vollzieht, als ob die Dominierten
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skizzieren, das vertikal von oben, vom Dominierenden aus, nach unten ausgeübt wird und sich je nach Kontext in unterschiedlichem Maße der „Macht“, der „sozialen Kontrolle“, des „Einflusses“ und der „Autorität“ bedient. Letztere werden legitim von den Übergeordneten ausgeübt und von denjenigen erfahren, die eine untergeordnete Position im Verhältnis zur „Tradition“, zum „Charisma“ oder einer „rechtlichen Regelung, die auf einem rationalen Gesetz beruht“ einnehmen (Weber, 1922). In einer weiteren „klassischen“ Auffassung ist die vertikal von oben nach unten ausgeübte „Herrschaft“ als ein gesellschaftliches Verhältnis verstanden worden, in dem, marxistisch ausgedrückt, einer Gesellschaftsklasse, die die Kontrolle über die Produktionsmittel innehat, eine andere, untergeordnete entgegengesetzt wird, der gegenüber physischer und ideologischer, individueller und kollektiver Zwang ausgeübt wird. Diesen Sichtweisen den Rücken zuzukehren bedeutet ebenfalls, den binären Gegensatz Herrscher / Beherrschter aufzugeben, ohne jedoch zwangsläufig den Begriff der „Macht“ in ein feinmaschiges und durchdringendes Netz auflösen zu müssen, das die Körper unterwirft und diszipliniert, wie es Foucault angenommen hat. Einer der bedeutendsten Intellektuellen, der sich vorgenommen hat, die Alternativen aus Zwang (von Seiten der Kräfte) und Konsens (mit Gründen), zwischen mechanischem Zwang und freiwilliger Unterwerfung zu überwinden, war gewiss Pierre Bourdieu. Seine „Herrschaftstheorie“ folgt vor allem deshalb nicht den Wegen Marx’ oder Foucaults, weil in seinen Werken „das Symbolische“ eine zentrale Rolle einnimmt, auch und vor allem dann, wenn er die Themen „Macht“ und Gewalt behandelt. Die „symbolische Macht“, die Doxa, die Weltanschauung zu erschaffen, die sich als Objektivität durchsetzt, stellt nach Bourdieu das Hauptinstrument der Legitimierung von „Herrschaft“ dar, sowie die effizienteste Form von Gewalt, die man sich vorstellen kann – nämlich diejenige, welche die Beherrschten dazu zwingt aktiv an ihrer eigenen Beherrschung mitzuwirken. Die „symbolische Gewalt“ (diesen Namen gibt ihr Bourdieu 1998)58 ist in der Tat eine sanfte und nicht wahrnehmbare Form der
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den Inhalt des Gebotes freiwillig zur Maxime ihrer Handlungen gemacht hätten (‘Gehorsam’)“ (Weber, 1922, Bd. 2, S. 544, zitiert in Gallino, 1978c). „Die symbolische Gewalt richtet sich mittels der Zustimmung ein, die dem Herrschenden (folglich der Herrschaft) zu geben der Beherrscher gar nicht umhinkam, da er, um ihn und sich selbst, oder besser, seine Beziehung zu ihm zu erfassen, nur über Erkenntnismittel verfügt, die er mit ihm gemein hat, und die, da sie nur die verkörperte Form des Herrschaftsverhältnisses sind, dieses Verhältnis als natürlich erscheinen lassen […]“ (Bourdieu, 1998a, S. 66).
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Gewalt, die den Beherrschten veranlasst, sich kognitive Schemata anzueignen, welche die Funktion haben den Herrschenden zu legitimieren, jedoch nicht als Ergebnis eines disziplinierenden Netzwerks, das die Körper in einem Kräftediagramm unterwirft (Foucault), auch nicht eines „falschen Bewusstseins“ (Marx). Bourdieu geht in gewissem Sinne weiter, wenn er die Gesellschaft als eine Reihe relativ autonomer, gesonderter Mikrokosmen („Felder“) begreift, welche aus Räumen bestehen und von Positionen strukturiert werden, welche wiederum ihre konkreten Entscheidungen denjenigen aufzwingen, die Zugang zu ihnen haben. Was aber noch mehr zählt, ist, dass jedes „Feld“ von seinen eigenen Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Formen der Autorität gekennzeichnet ist, gleichzeitig Sitz von Konflikten, Meinungsverschiedenheiten, Wettbewerben ist, im Laufe deren die Handelnden darum kämpfen ihre Autorität zu bestätigen und somit die Struktur immer wieder neu zu bestimmen. Gesellschaftlich zu existieren heißt, im sozialen Raum und in sozialer Zeit verortet zu sein, heißt, in der gesellschaftlichen Struktur eine Stellung einzunehmen und ihre Unterscheidungsmerkmale in Form sprachlichen Automatismen oder mentaler Mechanismen und überhaupt den Habitus, der aus einer bestimmten Lage hervorgeht. Es heißt auch, abhängig zu sein, verpflichtet zu sein, kurz, Gruppen anzugehören und in Netze sozialer Beziehungen eingebunden zu sein, denen dingliche Objektivität, Opazität und Beständigkeit eigen sind und die sich in Form von Verbindlichkeiten, Schulden, Pflichten, kurz Determinierungen und Zwängen in Erinnerung rufen (Bourdieu, 1971–1975, S. 189–190).59 59
Der Habitus hat mit autonomen, in der Kindheit erworbenen und deshalb dauerhaften Dispositionen zu tun, durch die die Akteure sich den verschiedenen weiteren Kontexten anpassen. Es sind „dauerhafte und übertragbare Systeme der Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Handlungsschemata, welche sozial konstituiert sind und sich im Körper einnisten“ (Bourdieu / Wacquant, 1992, S. 160). Er ist eine „strukturierende Struktur“, die die Praktiken und die Wahrnehmung der Praktiken organisiert und die Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit des sozialen Lebens ermöglicht. Sie ist aber auch eine „strukturierende Struktur“: „Das Prinzip der Unterteilung in verschiedene logische Klassen, das die Wahrnehmung der sozialen Welt organisiert, ist seinerseits das Ergebnis der Einverleibung der Einteilungen in soziale Klassen“ (Bourdieu, 1979, S. 84). Aus den gesellschaftlichen Positionen abgeleitet, überträgt der Habitus die inneren und relationalen Charakteristika einer bestimmten Position, die auf gesellschaftlicher Ebene eingenommen wird, in einen einheitlichen Lebensstil, also in ein homogenes Ganzes aus Entscheidungen, Praktiken und Gütern: „Ein sozial konstituiertes System, von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist“ (Bourdieu / Wacquant, 1992, Fußnote 32, S. 154). „Die Gesamtheit der Praktiken, die im Habitus verkörpert werden, entstammen nicht einer bewussten Rationalität des Menschen, aus einer Intention, noch weniger einem Projekt. Der Habitus ist ein Vermittler praktischer Rationalität, der die Person transzendiert, wenngleich er natürlich für subjektive Erfindung und Schöpfung offen bleibt: Es ist eine Form des individualisierten Kollektivs oder eines biologischen
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Es gibt, stark zusammengefasst, eine „Ordnung der Dinge“, von der man, in vielen sozialen Organisationen, abhängt und von der alle auf natürliche Weise überzeugt sind. Dies geschieht, insofern die Organisationen dazu tendieren die Ungleichheit und die „Herrschafts“- und Unterwerfungsverhältnisse“ zu erneuern, und zwar dadurch „[…] dass sie das Produkt einer unablässigen (also geschichtlichen) Reproduktionsarbeit sind, an der einzelne Handelnde (darunter Männer mit den Waffen der physischen und symbolischen Gewalt) und Institutionen, Familien, Kirche, Schule, Staat beteiligt sind“ (Bourdieu, 1998a, S. 65).
Besonders die Institutionalisierung der „Herrschaftsarten“, die mit der Bildung des Staates einhergegangen ist,60 zeigt einen Unterschied zur vorkapitalistischen Welt, insofern die eingesetzten Apparate auf weniger sichtbare Weise funktionieren, sowie mit mehr Effizienz, als sie in Kontexten vorkommt, in denen die Macht auf direktere und persönlichere Art ausgeübt wird. Die symbolische Gewalt zu verkennen bedeutet, vor allem seit jener Zeit, sie nicht erkennen zu können, denn nicht nur die Beherrschten, sondern auch die Herrschenden sind ihr ausgesetzt. 61
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Individuums, das durch die Sozialisierung kollektiviert wird. Was das individuelle Handeln antreibt, liegt nach Bourdieu auf einer prärationalen Ebene, denn die Bedeutungen der Praktiken werden durch die Position definiert, die sie im sozialen Raum einnehmen, und werden von den verinnerlichten Dispositionen gebildet, die sich schweigend vollziehen. Die Handlung orientiert sich demnach nicht an dem MittelZweck-Modell, sondern hat einen ‘praktischen’, dispositionellen’ Charakter“ (Cornelli, 2008, S. 195). Der Prozess der Institutionalisierung von Macht, in seiner stärksten Form, sieht, auch nach Ansicht von Heinrich Popitz „die Veralltäglichung zentrierter Herrschaft […]“ vor. „Wir erfahren morgens mit dem Blick auf die Uhr die zentral festgelegte Zeit, [...] fädeln uns, das Haus verlassend, in die Kanäle der Straßenverkehrsordnung ein, und dürfen noch nicht einmal zur Selbsthilfe greifen, wenn jemand vor unserer Garage parkt“ (Popitz, 1992, S. 65–66). Indem die Herrschaft sich im status quo durch alltägliche Praktiken „verzahnt“, „bindet [sie] sich ein und wird eingebunden in ein soziales Gefüge, das sie stützt und das durch sie gestützt wird“ (Popitz, 1992, S. 39) mithilfe von „Stabilität“ und „Verfestigung“ der sozialen Beziehungen durch die Dominanz des Rechts. Ein „Feld“, das besonders reich an Missachtungen ist, ist das der familiären Beziehungen, wo die Geschichte der physischen familiären Gewalt mit der der Unterwerfung, der indirekten Gewalt verwoben ist, die sogar für die Opfer unerkennbar und unsichtbar ist. „Diese soziale Beziehung, die außergewöhnlich gewöhnlich ist, bietet damit eine vorzügliche Gelegenheit, die Logik jener Herrschaft zu erfassen, welche im Namen eines vom Herrschen und vom Beherrschten erkannten und anerkannten symbolischen Prinzips ausgeübt wird – eine Sprache (oder eine Aussprache), ein Lebensstil (oder eine Art zu denken, zu sprechen und zu handeln)“ (Bourdieu, 1998b).
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Wenn wir nun den Focus unseres Blicks den „sozialen Interaktionen“ zuwenden, die die Komplizenschaft zwischen Herrschenden und Beherrschten verstärken, treffen wir unweigerlich auf den Weg, den im 20. Jahrhundert Georg Simmel (1907) eingeschlagen hat. Er hat, obwohl er das Problem der sozialen Stratifizierung und der relationalen Distanz, die im sozialen Raum zwischen Individuen und Gruppen entstehen, nicht aus seinem Beobachtungsfeld ausgeschlossen hat, den Schwerpunkt seiner Analyse der „Herrschaft“ im dynamischen Prozess der „sozialen Interaktion“ erkannt, den, zusammen mit den Konflikten und den Formen des Zusammenhalts, über- und untergeordnete Akteure spielen. Der Mehrwert seiner Überlegung besteht für uns darin, dass er erfasst hat, dass unter dem Schein der Überlegenheit einer Person, im Sinne eines „passiven ‘Sich-leiten-lassens’ des anderen“ sich „eine höchst komplizierte Wechselwirkung verbirgt, deren beiderseitig spontane Kräfte freilich sehr verschiedene Formen besitzen […]“ (Simmel, 1907, S. 185 ). Im sozialen Raum sind also auch dort Formen der Interaktion zu finden, wo ein „Zwang“ von einem Übergeordneten auf einen Untergeordneten ausgeübt wird. Die Einseitigkeit der Ausübung von „Herrschaft“ ist nur insofern erkennbar, als es stets „problemlos“ möglich ist, „die tatsächlich vorhandene Interaktionsbeziehung aufzeigen lässt“ (Simmel, 1907, S. 186). Für Simmel ist es in der Tat beinahe unwahrscheinlich – mit einer einzigen Ausnahme –, die „Spontanität“ der „Herrschaftsbeziehungen“ zu eliminieren, die „grausameren und unterdrükkenderen“ eingeschlossen, welche immerhin „einen erheblichen Grad an persönlicher Freiheit“ lassen, denn selbst ein absoluter Zwang, wie derjenige, der von einem Tyrannen ausgeht, wird stets von der Tatsache beeinflusst, dass wir es sind, die „[…] den angedrohten Strafen oder sonstigen Konsequenzen entgehen wollen“: „Die Mehrzahl der Menschen such[t] die höhere Gewalt, die ihnen die Selbstverantwortlichkeit abnimmt, und eine einschränkende, regulierende Strenge, die sie nicht nur gegen außen, sondern auch gegen sich selbst schützt“ (Simmel, 1907, S. 183 und S. 191). Wird die Grundlage der „Herrschaft“ klar als ein Raum der „sozialen Interaktion“ verstanden, so streicht Simmel explizit daraus die „unmittelbare physische Gewalt“, die, wie er sagt, die Beziehung der „Herrschaft“ auf eine „rein mechanische“ Funktion beschränkt, in der die Position des Untergeordneten verdinglicht, also auf „die eines Objekts“ reduziert wird.62
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Die „unmittelbare physische Gewalt“ ist die einzige Ausnahme von der „Herrschaft“ im Sinne einer Form der „sozialen Interaktion“, gemeinsam mit dem Zustand, in dem
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Die Herrschaft im radikalen Interaktionismus von Athens Eine Überzeugung, die Simmel und Athens verbindet ist gewiss die, dass fast jede Äußerungsform von „Herrschaft“ in die gesellschaftliche Handlung eingegliedert ist und sich folglich immer im Lauf der Interaktion äußert. Allerdings weichen diese beiden Denker voneinander ab, wenn es um die „symbolische“ Matrix geht, in die bekanntlich die gesamte theoretische Produktion Athens’ eingeschrieben ist (… und die Simmel ignorieren musste). Und nicht nur das. Athens ist genauso weit vom „strukturalistischen Konstruktivismus“ Bourdieus entfernt, für den „die Deutungspraktiken […] nicht bewusst [sind], sondern durch Bündel von Dispositionen, die durch die Enkulturation der Mitglieder der Gruppe in Fleisch und Blut übergegangen sind, vermittelt werden. Sie sind also Teil ihres Habitus geworden“ (List, 2001, S. 164). Athens ist hingegen der Meinung, dass die „sozialen Beziehungen“ kein Ausdruck der strukturierten und strukturierenden „Ordnung der Dinge“ sind, welche uns vorausgeht und uns überzeugt, sondern dass sie sich grundsätzlich als Ergebnis eines ständigen Interpretationsprozesses und einer andauernden symbolischen Schöpfung der gesellschaftlich Handelnden ergeben. Diese Einstellung überträgt sich auch völlig auf seine Definition von „domination“: „die Konstruktion einer komplexen gesellschaftlichen Handlung, in deren Verlauf einige Teilnehmer […] übergeordnete Rollen, andere […] untergeordnete Rollen annehmen und ein jeder fremde Verhaltensweisen annimmt“ (Athens, 2002, S. 37). Athens organisiert den Gegenstand von „domination“, „sociality“ (der meadsche „Gemeinschaftssinn“) und „dominance“ „als ein unteilbares Ganzes“, indem er in der ersten nicht nur „das allgemeine Prinzip, welches den komplexen gesellschaftlichen Handlungen zugrunde liegt, und das „notwendige Übel“ für das gesellschaftliche Zusammenleben ermittelt, sondern auch die dialektische Komposition von „dominance“ und „sociality“. Der Begriff „dominance“, der mit dem Ausdruck „Vor-herrschaft“ übersetzt werden kann, bezeichnet die Handlung des Bezwingens / Beeinflussens / Beherrschens der Handlungen eines anderen Organismus, der in irgendeine gemeinsame Tätigkeit eingebunden ist, ohne diese Rolle bewusst anzunehmen. „Herrschaft“ auszuüben führt umgekehrt zur bewussten / wissentlichen Annahme der Rolle des anderen, und hierzu ist erforderlich, die Sprache entwikkelt zu haben (und zu gebrauchen) (Athens, 2007a, S. 142–143): „Tiere […] sie und ihr Wille durch „äußerste egoistische Rücksichtslosigkeit“ ersetzt wird; s. Simmel (1907, S. 182).
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und alle Pflanzen können [daher] nur eine unbewusste Form der Herrschaft ausüben“ (Athens, 2007a, S. 156), da ihnen die „bedeutungsvolle Sprache“ fehlt, die es ermöglicht Zugang zur symbolischen Sphäre zu bekommen.63 Da somit „Herrschaft“ über das Vehikel der Sprache wirksam wird, verkörpert sie das „Gemeinwesen“ und die „Übernahme der Verhaltensweisen des anderen“: Letztere werden somit als Teil der „Herrschaft“, nicht unabhängig von ihr wirksam. Vielleicht ist folglich gerade der Umstand, dass die Menschen sprechen und bedeutungsvolle Worte mitteilen können, der Grund, warum sie die Tiere in ihrer Fähigkeit zu herrschen, und zwar auch auf gewaltsame Art, übertreffen. FALL F: MORD Ich weiß nicht wieso... aber ich habe nie jemanden getroffen, der mir widerspricht. Wenn ich jemanden sehe, der andere beherrschen will, bekomme ich sofort Lust mich ihm entgegenzustellen... und ihm zu sagen: „Du bist ein Nichts, du kannst niemanden beherrschen und ganz bestimmt nicht mich“. Es ist wichtig, dass das klar ist. Ich bin auch schon mitten auf der Straße von Älteren zusammengeschlagen worden. Ich war noch ein kleiner Junge... und ich habe meinen Teil abbekommen... das war auch richtig so. Doch in letzter Zeit war es schwierig jemanden zu finden, der sich mir entgegenstellt. Vielleicht werden sie durch meine sehr gelassene Art meiner Meinung. Wenn ich über etwas diskutiere und du siehst es nicht so wie ich... dann sage ich: „O.K.! Sieh es nicht wie ich, ich will nicht, dass du akzeptiert, wie ich es sehe“. Doch inzwischen zeig ich dir, was ich akzeptiere... und dann siehst du am Ende deiner Überlegung, dass du mir auch Recht geben wirst.
All dies beinhaltet, dass diejenigen, welche untergeordnete Rollen einnehmen immer „die Verhaltensweisen“ derjenigen annehmen müssen, die übergeordnete Rollen einnehmen und umgekehrt. Während der Konstruktion einer „komplexen gesellschaftlichen Handlung“ würde tatsächlich niemand ohne eine wechselseitige „Übernahme der übergeordneten und untergeordneten Rolle“ wissen, was er wann tun soll. In diesem Sinne sind die Verhaltensregeln, die die Rollen der „Herrschaft“ und der „Unterordnung“ betreffen und die man normalerweise in der Familie, in der Schule und später, wenn man zu arbeiten beginnt, von den „Chefs“ erlernt, die wichtigsten und markantesten in 63
„Bei einigen Primaten lässt sich eine Tendenz zur Vorherrschaft beobachten, die nichts mit einem starken Körperbau oder dem Hang zum Kämpfen zu tun hat. Die sozialen Beziehungen steuern stark den Ausgang der Kämpfe um die Macht, wie dies auch bei der menschlichen Spezies der Fall ist. Wahrscheinlich […] besteht der größte Unterschied zwischen Menschen und anderen Spezies in der Fähigkeit der Menschen, gesprochene und geschriebene Sprache verwenden zu können, um Pakte / Vereinbarungen zu formalisieren, die im Gedächtnis gespeichert werden und auf deren Grundlage Formen der Zivilisation geschaffen werden“ (Vessey, 1984, S. 627.).
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der Bildung der „Phantom-Gemeinschaft“. Die Gesamtheit dieser Regeln stellt fest, „wer“ die Untergeordneten und „wer“ die Übergeordneten sind, sowie wann und wo man sich den Wünschen der Herrschenden anpassen muss. (Athens, 2007a, S. 154).
Herrschaft als symbolische Interaktion und individuelle physische Gewalt Obgleich die Formen der „Herrschaft“ von Simmel als Sonderfälle der gesellschaftlichen Interaktion dargestellt wurden, hat er doch die physische Gewalt als eine Verdinglichung angesehen, als eine einseitige Reduzierung des anderen auf ein bloßes Objekt. Diese Haltung gibt gewissermaßen noch einmal die Überzeugung wieder, dass Gewalt ein „Übel“ ist, das sich ausbreitet, indem jemand einer mechanischen „Geste“ unterworfen wird, welche von oben nach unten, also vertikal, an den Grenzen der Symbolisierung durchsetzt, wenn es an einer „inneren Konversation“ mit der „Phantom-Gemeinschaft“ und an einem „bedeutungsvollen“ Austausch zwischen Tätern und Opfern fehlt. Der von uns vertretene theoretische Ansatz ist auf ein doppeltes und anderes Ziel gerichtet. Auf der einen Seite vertiefen wir, indem wir die theoretischen Beiträge von Athens kritisch deuten, analytisch die wirklichen Interaktionen, die Bündelung von Gedanken Interpretationen in neu aufkommenden Situationen, die emotionalen Flüsse, die stets Täter und Opfer von kriminellen Gewalttaten im Laufe der Kämpfe um die „Herrschaft“ durchdringen.64 Auf der anderen Seite werden wir zeigen, wie den Gestalten von „Herrschaft“, die mit physischer Gewalt ausgeübt werden, zum Gegensatz jene Täter haben, welche in eine „Kosmologie der Gewalt“ eingekapselt sind.
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S. Kap. 3, 4, 5, 7.
Drittes Kapitel Gewalttaten und Gewalttäter Ich war nicht imstande, die Qualität dieses Schriftstücks zu beurteilen, doch war die Erzählung so realistisch, dass mein Herz wie verrückt zu schlagen begann. Natürlich hatte ich als Leser den Vorteil, mich dort zu befinden, wo ich war, nicht weit von der Realität entfernt. […] Die Dämmerung verwandelte sich in Dunkelheit. […] Wieso hatte gerade er das Buch geschrieben? Er befand sich in der Todeszelle. Ein Buch hätte auch nichts daran geändert. Wenn ich es geschrieben hätte, hätte sich mein Leben vielleicht geändert. Plötzlich, mit der ganzen Kraft einer wahren, inneren Erkenntnis, rief ich aus: – Wieso nicht ich? Edward Bunker
Vorbemerkung Lonnie Athens kommt 1949 in Richmond (Virginia, USA) als Sohn einer griechischstämmigen Familie zur Welt und ist heute Dozent der Kriminologie an der Seton Hall University von South Orange in New Jersey. Paul Valery schrieb, dass am Anfang jeder Theorie ein Stück Autobiographie steht. Dies erweist sich gerade bei Athens als richtig, der seine Kindheit und Jugend zwischen „proletarischen“ Vierteln Richmonds und den verrufenen Vierteln Washingtons verbracht hat. In diesem Kontext hat er täglich selbst Gewalt erlebt, sowohl als Zeuge, als auch als Opfer: „Ich habe etwas in der Schule abbekommen, ich habe etwas von den Schlägern im Viertel abbekommen, ich habe etwas zu Hause abbekommen. Eines Tages konnte ich nicht mehr gehen. Ich habe es nicht so getan. Ich denke, dass es eine hysterische Reaktion war. Ich war blockiert...“.1 Die Atmosphäre der Gewalt bekam er vor allem im Umfeld der Familie zu spüren: sein Vater, von allen „Pete der Grieche“ genannt, verkörpert perfekt das, was Athens später einen „gewalttätigen Trainer“ nennen wird; die xenophoben und gewalttätigen Viertel, in denen Athens, seit er klein war, gelebt
1
Ein faszinierender und ausführlicher Bericht über Athens’ Leben und ganz besonders über seine Gewalterfahrungen findet sich in dem vorzüglichen Werk von Richard Rhodes (1999, S. 17).
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hat, werden hingegen als „turbulente“ und „schlechte“ Gemeinschaften beschrieben.2 In diesem humus also beginnt sich seine Motivation abzuzeichnen, das Phänomen der Gewalt zu erforschen, und seine Überzeugung Gestalt anzunehmen, dass, wer brutal handelt, wie es sein Vater ständig getan hat, nicht unbedingt geisteskrank sein muss: [„Pete der Grieche“] war nicht unlogisch. Es gab eine Logik in seiner Gewalt. Seine Grundregeln, seine zehn Gebote, hat er für uns ständig wiederholt: ‚Bringt mir nicht die Bullen ins Haus. Lasst mich nicht zu Hause bei den Lehrern anrufen müssen. Rührt das Essen nicht an, wenn ihr es nicht aufesst. Fasst mein Auto nicht an. Fasst mein Geld nicht an. Und dass niemand meine Frau anfasst.“ Und Mädchen hat er niemals wehgetan (Rhodes, 1999, S. 35–36).
„Wenn jemand unter meinem Dach lebt und mein Brot isst, so muss er tun, was ich sage, ob es ihm gefällt oder nicht. Und das wissen sie genau. Ich bin ein fleißiger Hundesohn und deshalb verdiene ich Respekt [...]“ (Athens, 1997, S. 56),3 wiederholte Pete obsessiv. Mit der Zeit waren es all diese „Lehren“, die Athens von der Insuffizienz des psychopathologischen Modells überzeugten: „Ich wusste, dass man geisteskrank, aber gleichzeitig nicht gewalttätig sein konnte. Und ich wusste, dass man gewalttätig, und gleichzeitig nicht geisteskrank, sein konnte. Es gibt keinen direkten Zusammenhang“ (Rhodes, 1999, S. 14).
Traditionell hat die Einordnung des „Kriminellen“ in ein Erklärungsmodell, welches die Geisteskrankheit als die Ursache seiner Gewalttat sieht,4 immer eine kurze und vereinfachte Möglichkeit dargestellt, um sich einer sozialen Gegebenheit bewusst zu werden, welche die Grundlage jedes Vertrauens im bürgerlichen Zusammenleben unterminiert. Die grausame und blutige Tat zeigt bloß das, was eigentlich immer versteckt bleiben sollte. Seit Entstehung der elementarsten Formen der Kultur hat der Mensch, sei es auf individueller oder kollektiver Ebene, jede Ausdrucksform von destruktiver Aggression zu neutralisieren gesucht. Eines der Kennzeichen des Phänomens der Gewalt, obwohl es in unserem Leben konstant eine Rolle spielt, ist, dass es nie aufhört, uns zu „erstaunen“ und uns zu verunsichern. Gerade wenn etwas Absurdes geschieht – etwas, das laut Definition das Gegenteil der Vernunft ist und das „Ab-“ (losgelöst) „surde“ (lat. surdum = taub, unempfänglich) hervorbringt (Peter, 1993, S. 93) – und man eine Unterbrechung im Fluss der Ereignisse und im 2 3 4
Siehe Kap. 5. Siehe im weiteren Verlauf dieses Kapitels die Analyse aus Kap. 1. Siehe Kap. 7.
Gewalttaten und Gewalttäter
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gegenseitigen Verstehen bemerkt, versucht die innere Kommunikation einen Kon-sens („mit Sinn“) durch Unterstellung von Motiven wiederherzustellen: „Er ist verrückt!“ Manchmal ist es der Gewalttäter selbst, der sich solche Fragen stellt: Fall D: Gattenmord: Ich wundere mich, dass ich in meinem Leben... 53 Jahre alt geworden bin und nie diese Art gehabt habe mich mit Kraft durchzusetzen... . Ich bin kein Kämpfer... aber ich bin auch kein Schwächling, eine Pussy, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll... aber ich habe es nie gewollt, nicht einmal mit den ganz Schwachen... ganz im Gegenteil, den Schwächeren habe ich versucht zu helfen... trotzdem ist mir diese Sache hier passiert. Das, was ich mich oft frage ist: „Wie konnte ich so etwas tun?“... und ich frage mich: „Wieso habe ich mich so durchgesetzt, obwohl es gar nicht meine Art ist?“ „Wieso habe ich darauf beharrt?“ das verstehe ich nicht… Außer ich bin wirklich verrückt und merke es nicht... dann würde ich denken, ich bin so, aber... in Wirklichkeit... ist es ganz anders? Doch das scheint absurd zu sein... .
Um das unheimliche Gefühl von Unordnung, welches durch das Auftreten einer sinnlosen Gewalttat entsteht, loszuwerden, schaffen die Menschen immer „ad hoc-Erklärungen / Erzählungen“, deren Spektrum vom gesunden Menschenverstand über popular criminology,5 bis zur ausgefeiltesten Theoretisierung. Im Unvermögen und in der Unmöglichkeit, zufriedenstellende Lösungen zu finden, werden unter Druck anwendbare Interpretationen konstruiert, die eine „sichtbaren Evidenz“ besitzen – d.h. die verstörenden Geister lenken sollen, indem aus dem geschöpft wird, was der gesunde Menschenverstand über das, was typisch, wahrscheinlich etc. ist, lehrt. Und dies führt dazu, dass man sich häufig mit Paradoxen auseinandersetzen muss. Das wichtigste besteht darin, dass wir, um dem „anderen“ Vertrauen zu schenken, ständig uns selbst gegenüber den Sinn und die Konsequenzen destruktiver Verhaltensweisen des anderen negieren müssen, die archaische und primitive Konflikte ans Licht bringen und damit die Errungenschaften des Zivilisationsprozesses und der modernen Empfindsamkeiten umstürzen und beseitigen.6 Die Angst vor dem „anderen“ stellt ein konstitutive Erscheinungs5
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Verde (2008) meint, dass es eine „Grundebene“ des kriminologischen Diskurses gibt, die er, sehr passend, als „naive Kriminologie“, oder „popular criminology“ bezeichnet: Letztere ist die Art von Kriminologie, die jeder von uns durch die „natürliche explikative Fähigkeit der fremden psychologischen Ereignisse“ mithilfe der „Produktion naiver Erzählungen“ über die Frage „wieso man sich strafbar macht“ und der der „verborgenen und unmittelbaren Motive“, die zu starken Verletzungen der Normen führen, sich bildet. Für eine aufschlussreiche Analyse des Begriffs der „Zivilisation“ als „Prozess“ und besonders des Begriffs der „Aggressivität“ als Form des allgemeinen Prozesses der
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form des sozialen Wesens dar: Zusammenleben bedeutet auch immer gleichzeitig sich zu fürchten und sich zu verteidigen (Popitz, 1992, S. 52). Doch es gibt keine Rede, die man halten kann, es gibt keinen Dialog, der möglich ist, wenn die Worte ihren „Sinn“ verlieren und durch die Zerstörung der „zivilen“, anerkannten und verinnerlichten Welten machtlos in die Brüche gehen. Lonnie hat dieses Wissen durch eine existenzielle Erfahrung erworben, noch vor der intellektuellen und der wissenschaftlichen. Letztere hat Form angenommen, indem er „zwangsläufig“ die Spuren seiner Kindheit nachverfolgt hat. Nachdem er so seinen Weg als Sozialwissenschaftler im Zeichen der statistisch-quantitativen Methode eingeschlagen und 1975 an der Berkeley University of California den Doktorgrad der Kriminologie erlangt hatte, konnte Athens eine entscheidende Wende in Richtung eines methodologischen Ansatzes einleiten, welche auch den grausamsten und sinnlosesten menschlichen Verhaltensweisen einen Sinn zu „verleihen“ vermochte – also die qualitative Methode mit interaktionistischer Matrix, an der sich alle seine wissenschaftlichen Aktivitäten, bis zu den „radikalsten“ Positionen, die wir im vorangehenden Kapitel kennengelernt haben, ausrichten. Was vor allem unsere Aufmerksamkeit erregt hat, als wir seine Schriften gelesen haben, war die Tatsache, dass der interaktionistische Ansatz, welcher normalerweise nur für die Erforschung der crimes and victims herangezogen wird,7 auf die Analyse der Verbrechen ausgeweitet wurde, die einen höheren Schaden beim Opfer vorweisen, wie Mord, Personenschaden und sexuelle Gewalt. Der Einsatz ist sehr hoch: In die gewalttätige Welt der „Kriminellen“ einzutauchen, in den Kopf derer, die für „verrückt“ und „gefährlich“ angesehen werden, sei es wegen der Brutalität ihrer Taten, sei es wegen der anscheinenden Grundlosigkeit ihres Handelns. Das – wirklich überraschende – Resultat besteht darin, die verschiedenen Ebenen der „Verantwortung“ des Gewalttäters entziffern zu können, ohne dabei die „Welt“, deren Träger er ist, zu verkennen, wie grausam und abscheulich sie auch sein mag. „Wir können nicht leben, nicht mal einen Augenblick, ohne eine Welt – welcher Natur auch immer – um uns zu konstruieren. […] Eine Welt, die
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„Herrschaft“ über die Gefühle, der Überwindung des Menschen als homo clausus und über das „Monopol der Gewalt“ von Seiten des Staates, siehe Elias (1939, S. 55, S. 84– 92, S. 165–169, S. 351–355). Siehe auch Garland (1990). „Straftaten ohne Opfer“ sind strafrechtlich relevante Verhaltensweisen, die keine „Opfer aus Fleisch und Blut“ haben. Im Hinblick auf die Täter dieser Straftaten wird, häufiger als bei anderen, von Opfer von Prozessen der Etikettierung und Stigmatisierung gesprochen. Ein Beispiel dafür ist die Studie von Becker bezüglich der Marihuanakonsumenten, auf die wir bereits in Kap. 1 getroffen sind.
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unsere Welt ist“, bemerkt Eugene Minkowski 1936 (S. 207–210). Wie wir noch sehen werden hat Athens, indem er das, was wir als „Kosmologien der Gewalt“ bezeichnen werden, rekonstruiert hat, die Wege vorgezeichnet, die dazu dienen, immer weniger abstrakt zu verstehen, wie Männer und Frauen grausame Taten verüben, und er hat auf überzeugende Art die Knotenpunkte ihrer Biografien beschrieben und „benannt“, indem er eine Deutung vorträgt, welche die aktive und „reflexive“ Rolle des Einzelnen in der Konstruktion seiner Handlung berücksichtigt. Außerdem handelt der Mensch keineswegs in einem aseptischen Umfeld, in einem Vakuum, sondern er bewegt sich stets in einer „lebenden Gegenwart“, die in ihrem unterschiedlichen Erscheinungsformen seine Reaktionen beeinflusst. An diesem Punkt enthüllt sich allmählich die genaue Bedeutung eines der Hauptwerke von Athens: Violent Criminal Acts and Actors. Zunächst einmal geht der Begriff acts bewusst den actors voraus, um den Akzent auf die „Tat“ zu setzen, anstatt sich bloß auf die Person, die das Verbrechen begeht, zu konzentrieren. Zweitens steht das Substantiv actors für die aktive und tatkräftige Rolle des Menschen bei der Interpretation der Realität und der Konstruktion der Tat. Paradoxerweise muss die Wichtigkeit der „Tat“ unterstrichen werden, um die Rolle desjenigen, der sie begeht, neu einzuschätzen: […] wenn es auch traditionell als reduktionistisch gilt, sich bloß mit dem Verhalten und der Tat zu befassen statt mit ausführlicheren und komplexeren Dimensionen, wie der Persönlichkeit des Menschen, seiner Geschichte, seinem Umfeld, so ist man heute der Meinung, dass die Entscheidung für die Tat als bevorzugte Einheit der Analyse nicht nur diese Dimensionen nicht ausschließt, sondern sie auch aus einer neuen Perspektive beurteilt und beleuchtet. Auch die Anklage, die Definition des Verhaltens als Verbrechen und die Zuschreibung zu einem Täter, wird nicht mehr als ein behindernder (oder einschränkender) Filter für das Verstehen gesehen, weil es innerhalb dieser kategorialen Form geschieht, die durch die TäterTat-Verknüpfungen sowohl als subjektive Intentionalität als auch als von gesellschaftlicher Bedeutung dargestellt werden und die Möglichkeit zur Untersuchung bieten. Der Forscher verfügt mit anderen Worten über die Handlung in einer Zeit, an einem Ort und in einem Kontext von Zuschreibungen, welche von denen, in der die Tat verübt wurde, verschieden und weit entfernt sind. Doch bilden die Zeit, der Ort, das System der aktuellen Zuschreibungen […] keine deformierende Brille dessen, was gewesen ist: sie können sogar die Kriterien für einen retrospektiven Blick bieten, dem es möglich ist die prozesshafte Kontinuität der Bedeutungssysteme zu erfassen, innerhalb derer sich die Subjektivität des gesellschaftlich Handelnden, in seinen Handlungspraktiken und Interaktionspraktiken, bewegen. Andererseits hat sich gerade um die Frage der Rekonstruktion der Ereignisse, der Wiederzusammensetzung der Verbindung zwischen Handlung, Kontext und Person der Handlung die theoretische Diskussion entwickelt, durch welche die Psychologie gelernt hat, begrifflich zwischen einer Person, die „sich verhält“ und einem Täter, der „handelt“, zu unterscheiden (De Leo / Patrizi / De Gregorio, 2004, S 12–13).
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Eine Klarstellung muss hier ein für alle Mal erfolgen. Wie jede Theorie, so hat auch die von Athens ihre heuristischen Wert, solange sie angewandt wird, um die „Gewalttaten“ zu ergründen, die sie unter das Mikroskop nimmt. Wir halten daher die Einstellung derer für abwegig, die ihr den Vorwurf machen, sie erhebe den Anspruch, universell Gewalt erklären zu können, und ihre Begrenztheit gerade auf der Grundlager dieser unberechtigten Erweiterung hervorhebt, welche über ihre empirische Bezugsgrundlage hinausgehe (O’Donnell, 2003, S. 754).8
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Ein weiterer kritischer Beitrag wurde von Patricia Turrisi / Micheal J. Shaffer (2008) erbracht, Dozenten der Philosophie an der Universität Wilmington in North Carolina. Ihre Analyse widmet sich hauptsächlich dem wissenschaftlichen Kern von Athens’ Ansatz, und dies aus einer doppelten Perspektive: Eine Hälfte widmet sich dem inneren theoretischen Horizont – mit dem Ziel, die „Gültigkeit“ per se herauszufiltern –, die andere Hälfte widmet sich dem äußeren Horizont – also die Konkurrenzverhältnisse, mit den anderen Theorien, die sich um eine Erklärung des Phänomens der Gewalt streiten. Die „Lupe“, die diese doppelte Sichtweise scharfstellt, wird in dem methodologischen Ansatz von Peter Machamer / Lindley Darden / Carl Carver (2000) benannt, der zu den „mechanischen Modellen“ gehört, die auf den Gebieten der Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie verwendet werden. Indem sie die Unterscheidung treffen zwischen mechanism schemata – abstrakte und vollständige Beschreibungen des Mechanismus, welcher die Teilphasen „zu „erklären“ vermag, die ohne Auflösung der Kontinuität den Prozess gestalten, welcher Gegenstand der Studie ist– und mechanism sketch – also abstrakten Beschreibungen, die allerdings unbefriedigend und unvollständig sind – sind die beiden Forscher der Meinung, dass Athens’ Theorie auf der unbefriedigenden und unvollständigen Ebene des mechanism sketch stehenbleibt. Nach ihrer Argumentation beruht diese Einstellung auf verschiedenen „wissenschaftlichen“ Mängeln: (a) der Gegenstand der Analyse – „ultra-gewalttätiges Verhalten“ – ist zu allgemein gefasst, da es sich um einen hochdifferenzierten und problematischen Bereich handelt (siehe in diesem Kapitel die Definition von „beachtlich gewalttätigem Verhalten“, die Athens zu einem „exklusiven“ Gegenstand der Analyse zuschneidet); (b) die Teilphasen, die den Prozess der „Gewaltentstehung“ bilden, werden weder ausreichend erklärt, noch genau definiert; (c) die Auswahl der befragten Personen war sehr gering; (d) die Methode der Interviews ist von zweifelhaftem wissenschaftlichen Wert. [Für eine erschöpfende Analyse der Methode des qualitativen Interviews in der Kriminologie s. De Leo / Patrizi / De Gregorio (2004)]; (e) Athens nimmt eine „methodologisch willkürliche und ungerechtfertigte Beschränkung“ vor, die den notwendigen kausalen Faktor betrifft, der in der subjektiven menschlichen Erfahrung entdeckt wurde, ein a priori, welches ihn von der Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Theorien befreit, welche somit automatisch und heimlich disqualifiziert würden. Bei genauerem Hinsehen entbehrt der Hinweis, dass mit dem Schlüssel der „subjektiven menschlichen Erfahrung“ Athens es schafft, sich zu schnell von der Auseinandersetzung mit den anderen konkurrierenden Theorien freizuspielen, nicht der Grundlage. Doch es ist auch wahr, dass wir es hier mit einer Kritik an der Kritik zu tun haben, die Athens an den vorhergehenden Theorien übt. Im Wesentlichen untergraben Turrisi und Schaffer die innere Gültigkeit des methodischen Ansatzes, welcher von Athens entwickelt wurde, durch dieses Verfahren nicht, sondern nur den zufälligen Charakter der Reaktion, der die Entstehung jeder Theorie in Bezug auf ihre berühmten
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Die Distanzierung Athens’ von der traditionellen kriminologischen Erforschung der „violent crime“ Die vielschichtige Kategorie der violent crime deckt eine sehr große Anzahl an Verhaltensweisen ab: von den klassischen Phänomenen individueller „Gewalt“, wie dem Mord, der sexuellen Gewalt und dem Angriff, bis zu kollektivem gewalttätigen Verhalten wie terroristischen Akten, Genoziden, Lynchen, Foltern (Levi / Maguire, 2002, S. 796). Mit anderen Worten handelt es sich um individuelle oder kollektive Taten gewalttätigen Inhalts, die als Ziel den „Körper“ eines oder mehrerer Personen haben und die, jenseits der juristischen Definition, die ihnen gegeben wird oder der ihrer Schwere, welche ihnen von der Gesellschaft zugeschrieben wird, den Menschen zu einem „wehrlosen Wesen reduzieren, voll lähmender Angst und schmerzendem Fleisch“ machen können (Sofsky, 1996, S. 53). In diesem Sinne besteht der gewalttätige Inhalt dieser kriminellen Akte in dem „Angriff auf den Körper“9 und, in seinen extremsten Erscheinungsformen, auch in dessen Zerstörung. Darüber hinaus besitzt der Körper, da er anfällig für und ein Teil der Gewalt ist, eine unumgänglichen Ambivalenz charakterisiert: „Er hat die Macht zu verletzen und ist Verletzungen ausgesetzt“ (Sofsky, 1996, S. 23). Und diese Besonderheit macht es möglich, dass jeder Mensch in jedem Augenblick gefährlich werden kann, sowohl für andere als auch für sich selbst.
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Vorgänger kennzeichnet, von denen sie sich distanziert, um sich zu differenzieren und zu entwickeln. Außerdem ist es mittlerweile in den epistemologischen Reflexionen zulässig, den relativen Charakter der wissenschaftlichen Grundlagen zu enthüllen, welcher in einem existentiellen, subjektiven Sinn „gebunden“ ist. Und dies ist im extrem problematischen Gebiet der Geisteswissenschaften umso wichtiger. In dieser Einordnung ist es selbstverständlich, dass verschiedene Theorien auch verschiedene „Paradigmen“ und „Spielregeln“ anwenden, sei es im Inneren oder in der Bewertung einer möglichen – und stets odiosen – Rangordnung der Gültigkeit zwischen konkurrierenden Theorien. Daraus folgt, dass aus den gleichen Gründen, aus denen Athens sich nicht das Recht herausnehmen kann, auf alle methodischen Ansätze seine „methodische Einschränkung“ anzuwenden – und an dieser Stelle „sticht“ die Kritik der beiden Wissenschaftler besonders stark – und es ist auch nicht möglich, ein Zwischen-Kriterium zu ermitteln, durch das man, „objektiv“ und „neutral“ gesehen, theoretische Universen bewerten kann, die stets inkommensurabel bleiben. Zusammengefasst sind wir der Meinung, dass der Vorschlag der Analyse von Turrisi und Shaffer einen guten Versuch darstellt, folgende Frage zu beantworten: „Welche ist die beste Theorie, um das Phänomen der Gewalt zu erklären?“ doch sind wir uns bewusst, dass eine Sichtweise, die zu einer sehr drastischen „natürlichen Selektion“ zwischen Theorien tendiert, Gefahr läuft, auf zu starke Weise den fundamentalen Überfluss, der die soziale Erfahrung kennzeichnet, abzuschneiden, den der „interaktionistische“ und „interpretative Ansatz“ erfolgreich erfasst hat. Siehe in Kap. 7 die theoretische Position von Viganò.
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Innerhalb der Gesellschaft trifft man im Allgemeinen auf einen großen Konsens über die Schwere diese Delikte, die durch berühmt gewordene Forschungsarbeiten gemessen wurden – stellvertretend für alle sei diejenige von Thorsten Sellin und Marvin Wolfgang (1964) genannt, die den sogenannten „Schwere-Index“ aufgestellt hat.10 Auf den ersten Seiten seines Buchs Violent Criminal Acts and Actors Revisited stellt Athens (1997, S. 13–26) sofort die Distanz zwischen seinem Ansatz und den traditionellen Methoden der Erfassung der Gewaltkriminalität klar. Im „positivistischen Universum“, das von ihm entworfen wird, werden Theorien ganz unterschiedlicher Natur eingeschrieben, die durch die methodische Kontinuität zwischen Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften miteinander verbunden sind. Diese Sichtweisen bewegen sich auf Pfaden, welche zu ursächlichen Erklärungen führen, in denen die Person, welche Täter Geschehens ist, als ein „neutrales Medium, durch das sich vorher vorhandene Faktoren manifestieren“, dargestellt wird (Athens, 1997, S. 24), wenn es in Wirklichkeit – wie wir sogleich sehen werden – die Person selbst es ist, die in den eigenen Interpretationsprozess bestimmte Variablen einführt oder ausschließt, anhand derer er sein Handeln ausrichtet. Hans Toch (1969) hat – unter Verwendung einer Reihe von „Tiefeninterviews“ mit rückfälligen Gewaltpersonen durch Mitgefangene und auf Bewährung Freigelassene, die für die Durchführung speziell instruiert worden waren – zwei Arten von Persönlichkeiten ermittelt, die beide eine Basis für gewalttätiges Verhalten bilden könnten und die sowohl die Neigung zu aggressivem Verhalten als auch die Schwäche des Ego gemeinsam haben: •
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die inadequate personalities, die Gewalt anwenden, um ihr Selbstwertgefühl zu schützen oder zu steigern. „Unangemessenheit“ hat nach Toch fünf verschiedene Bedeutungen: der „rep defender“, der „self-image defender“, der Gewalt als Mittel einsetzt, um sich für einen Mangel an Respekt vor seinem Selbstbild zu rächen, der „selfimage compensator“, der Gewalt anwendet, um jedem zu zeigen, dass er ein „richtiger Mann“ ist, der „self-defender“, der zuerst in seinem
Die Untersuchung von Sellin und Wolfgang konzentrierte sich auf Delikte wie Mord, sexuelle Gewalt, Raub und Überfälle. Diese Sachlage wurde von einer Studie, die in Italien durchgeführt wurde, bestätigt und in näherer Gegenwart von Tullio Delogu und Maria Cristina Giannini (1982) bestätigt, die diese Untersuchung wiederholt und grundsätzlich die Schlüsse Sellins und Wolfgangs bestätigt haben, dass Mord, sexuelle Gewalt und Körperverletzungen die Delikte sind, die von den Mitmenschen als am schlimmsten empfunden werden. Zu diesen Themen siehe Gabrio Forti (2000, S. 357– 362).
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Inneren Gefühle der Angst vor den anderen „konstruiert“, welche zu Zuständen ähnlich der Paranoia führen können und dann Gewalt anwendet, um mit anderen Menschen umgehen zu können, die er zu diesem Zeitpunkt fürchtet, und schließlich der „pressure remover“, der über sehr eingeschränkte soziale Fähigkeiten verfügt, so dass er Gewalt gebraucht, um problematische Situationen zu lösen, die er auf erdrückende Weise erlebt; •
die warped personalities, die aufgrund ihrer überzogen egozentrische und / oder manipulative Natur gewalttätig werden, was es ihnen unmöglich macht, die Bedürfnisse anderer zu erkennen. Zum Beispiel finden die „bullies“ Gefallen daran, Angst und Terror in schwächeren Personen hervorzurufen, die „Ausnutzer“ versuchen, koste es, was es wolle, persönliche Vorteile gegenüber den Untergeordneten zu erlangen, die „Selbstgönnerhaften“ tun so, als ob die anderen ihre eigenen Bedürfnisse immer und grundsätzlich den ihrigen hintanstellen, während die „Kathartischen“ die Gewalt für „Erleichterung und inneren Frieden“ verwenden.
Die Studie, die in der Stadt St. Louis von David Pittman und William Handy (1964) ein paar Jahre zuvor durchgeführt wurde, analysiert ausschließlich das Phänomen der „erschwerten Bedrohungen“. Es wurde eine Auswahl von 241 „zufälligen“ Fällen aus offiziellen Quellen, wie Polizeiberichten und Verzeichnissen über Verhaftungen, extrapoliert. Durch die Auswertung der statistischen Verteilung bestimmter konkreter Charakteristiken der „erschwerten Bedrohung“ kommen Pittman und Hardy zu folgenden Ergebnissen: der Großteil von ihnen passiert zwischen Freitag 18 Uhr und Montag 6 Uhr, eher auf öffentlichen Straßen als in privaten Umgebungen, und es werden Messer gebraucht. Die Kritiken Lonnies an einer Methode, die sich auf das Übertragen von Zahlen der komplexen Taten beschränkt, um die typischen und vorhersehbaren Merkmale zu beschreiben, kennzeichnen die Unmöglichkeit eine befriedigende Antwort über die Natur des Phänomens der Gewalt zu bekommen. Eine weitere Theorie, die Athens ablehnt, ist der sogenannte interdisziplinäre Ansatz von Franco Ferracuti und Wolfgang (1966). Diese Theorie entsteht aus der Überschneidung von Begriffen, die aus unterschiedlichen Disziplinen stammen: das der „Subkultur“ – soziologischen Ursprungs – und das der „Persönlichkeit“ – welches von Psychologen entwickelt wurde:11 11
„Unsere Untersuchung der Subkultur impliziert den Übergang von Bezügen des sozialen Universums, der soziologischen Perspektive zum Indiversum, der perzeptiven Welt des einzelnen Menschen aus psychologischer Sicht. In gewisser Weise bestimmt
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Der Begriff der Subkultur impliziert, dass es Werturteile bzw. ein separates soziales Wertesystem gibt, die gleichzeitig Teil eines weiteren oder zentraleren Wertesystems sind. In dieser wichtigeren und dominanteren Kultur werden die Werte der Subkultur isoliert und es wird somit eine vollständige Integration verhindert, so dass, gelegentlich, versteckte und offensichtliche Konflikte entstehen (Ferracuti / Wolfgang, 1966, S. 129).
Diese Auffassung, welche aus dem allgemeineren Begriff des „Normkonflikt“ abgeleitet ist und von Thorsten Sellin 1938 (Sellin, 1938) entwickelt wurde, wird von Ferracuti und Wolfgang so weit ausgeweitet, dass er den Begriff der Gewalt umfasst: „Die Hypothese der Subkultur der Gewalt schlägt nur vor, dass ein wichtiges Thema wie das der Gewalt in der Gruppe aus Werten wie Lebensstil, Sozialisationsprozess, zwischenmenschlichen Beziehungen von Individuen, die in ähnlichen Verhältnissen leben, besteht“ (Ferracuti / Wolfgang, 1966, S. 189). Werte zu teilen setzt freilich nicht unbedingt soziale Interaktion voraus. Eine Subkultur kann sich in territorialen Bereichen bilden, die nicht aneinander angrenzen sowie ohne jeglichen zwischenmenschlichen Kontakt unter den einzelnen Individuen oder ganzen Gruppen von Individuen (Ferracuti, Wolfgang, 1966, S. 133). Entscheidender noch ist die „Anteilnahme an bestimmten Werten“ – deren Intensität und Kraft für „messbar“ gehalten wird12 – seitens der Individuen, die durch einen Lernprozess „eine dynamische und andauernde Vereinigung“ bilden. Der „subkulturelle“ Gewaltfaktor und jener der „Persönlichkeit“ – bemerkt Athens jedoch mit unverhohlener Ironie (Athens 1997, S. 19) – werden als ätiologisch verwandt gesehen bzw. als eine kausale Kette, deren Natur jedoch nie genau geklärt wurde. „Subkultur“ und „Persönlichkeit“ interagieren auf der Basis einer Unterscheidung: „idiopathische“ Gewaltverbrechen und „normativ präskriptive“ Gewaltverbrechen. Während Erstere von Menschen mit geistigen Problemen, meist aus der oberen Mittelschicht verübt werden, werden Letztere von Personen verübt, die einer gewalttätigen Subkultur angehören und aus niedrigeren gesellschaftlichen Schichten stammen. Ferracuti und Wolfgang
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die Ansammlung gleicherer Indiversen, was die wichtigen Elemente der Werte und Normen betrifft, das Universum einer Subkultur. Das Individuum nimmt kulturell übertragene Werte auf, aber durch das Prisma der eigenen psycho-physischen Struktur, bildet es bestimmte Wahrnehmungen und Antworten aus. Die Tatsache, dass das Indiversum einzigartig ist, verhindert weder wissenschaftliche Klassifizierung der Individuen, noch impliziert die Anerkennung eines Indiversums die Akzeptanz eines existentiellen phänomenologischen Konzeptualismus“ (Ferracuti / Wolfgang, 1966, S. 143). „Wir beziehen uns auf die Stufe, bei der der Wert verinnerlicht, absorbiert und folglich mit den Mitgliedern der Subkultur geteilt wird. Es könnte eine Skala der Verhaltensweisen aufgestellt werden, um den Grad an Treue der Mitglieder einer Subkultur zu den subkulturellen Werten zu messen“ (Ferracuti / Wolfgang, 1966, S. 146).
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behaupten, dass „idiopathische“ Gewaltverbrechen nur 10% bilden, so dass de facto der Großteil der destruktiven Aggression von denjenigen umgesetzt wird, die einer Subkultur angehören, welche auf gewalttätige Normen und Werte gegründet ist. Einen größeren Raum wollen wir hier der Theorie von Edwin Megargee (1966) zu „hyperkontrollierten“ Persönlichkeiten und zu Persönlichkeiten „ohne Selbstkontrolle“ geben, denn genau auf sie konzentriert sich eine der strengsten Kritiken von Athens (1997, S. 16–19). Die allgemeine Annahme, auf die sich diese Erklärung stützt, ist die, dass ein abnormales Make-up der Persönlichkeit, unter besonderer Berücksichtigung des Grads der individuellen Selbstkontrolle, den Menschen dazu bringt, Gewalttaten zu verüben. Megargee unterscheidet deshalb Personen, die „wenig Selbstkontrolle“ besitzen von denjenigen, welche durch eine „exzessive Selbstkontrolle“ gekennzeichnet sind. Während Erstere wenig Hemmungen in Bezug auf Aggression besitzen und folglich zu gewalttätigen Reaktionen tendieren, sobald sie frustriert sind und provoziert werden, haben Letztere höhere Hemmschwellen, was aber nicht bedeutet, dass sie deshalb weniger gefährlich sind. Denn da sie wie eine Art „Akkumulator der Aggressivität“ funktionieren, ist die Reaktion, sobald das Fass einmal überläuft, extrem gewalttätig und intensiv. Angesichts dieser Voraussetzungen versteht es sich von selbst, dass gewalttätige Personen Individuen sind, deren Handhabung der Selbstkontrolle unausgeglichen ist, also entweder verschärft oder mangelhaft ist. Formen des „aggressiveren Verhaltens“ treten also bei beiden Arten der beschriebenen Personen auf, während die „moderateren“ das Monopol der Personen mit „wenig Selbstkontrolle“ sind, die paradoxerweise ihre Aggressivität besser dosieren können. Bei dieser Theorie steht die „Persönlichkeit“ des Individuums im Zentrum der Analyse, indem sie in ihrer Abgeschiedenheit von der Welt, in der sie sich äußert, untersucht wird und ausschließlich in ihr eine Erklärung für das gewalttätigen Verhaltens zu finden versucht wird. Der klinische Prozess der Delinquenzprognose berücksichtigt demnach zwangsläufig die „Art der Motivation“ (expressiv – emotiv befriedigend, ohne ökonomischen Gewinn, wie im Fall der Aggression gegenüber einem Vorgesetzten am Arbeitsplatz – oder instrumental – wobei auf einen ökonomischen Gewinn abgezielt wird, wie im Fall eines Überfalls), den „Grad der Hemmung“ (der sich durch den Missbrauch von Alkohol oder Drogen verringern kann) und die Intensität der Gewohnheitsmäßigkeit des abweichenden Verhaltens. Die „situativen Faktoren“ betreffen die Verfügbarkeit über Waffen
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sowie das potentielle Verhalten der Opfer oder auch, allgemeiner, der möglichen Zugehörigkeit zu besonderen subkulturellen Werte. Um diesen Abschnitt zu vervollständigen ist es notwendig einige kritische Betrachtungen aufzugreifen, die Athens in Bezug auf die Theorien, welche er als „positivistisch“ bezeichnet, anstellt: •
sie sind unausgeglichen, da sie den psychologischen Aspekt der Gewalttäter überbetonen, ohne die situativen Variablen zu berücksichtigen;
•
sie setzen voraus, dass es einzig und alleine zwei Typologien von Personen gibt: die „Gewalttätigen“ und die „Nicht-Gewalttätigen“. Diese Annahme würde eine große Vereinfachung darstellen, da die Menschen (a) „sich an qualitativ unterschiedlichen Stellen in der Hierarchie der Gewalt einordnen lassen“ und (b) nicht in Bezug auf ihre Entscheidung über das Ob und das Wann der Gewaltanwendung assimilierbar sind. (1986, S. 373);
•
darüber hinaus fehlt jeder der beschriebenen Hypothesen die empirische Grundlage (Athens, 1986, S. 372–374).
Arten der Situationsinterpretation: physisch defensive, frustrierte, schädliche, frustriert-schädliche Interpretation Datenquellen Wir haben bereits spezifiziert, wie die zwei Gesichter des Self, d.h. der „Prozess“ und das „Objekt“, zu einem gemeinsamen Blick vereint sind, der von der „Phantom-Gemeinschaft“ – dem vorgegebenen Richter der Situation und des „Selbstbilds“ – repräsentiert wird. Jetzt ist der Moment gekommen, eingehend zu untersuchen, wie diese allgemeinen Mechanismen in der devianten Wirklichkeit umgesetzt werden, die Athens erforscht hat, der seine Hypothesen entwickelt hat, indem er, wie er in Violent Criminal Acts and Actors Revisited13 berichtet, 58 Häftlinge interviewt 13
Das Buch wurde zum ersten Mal 1980 unter dem bereits zitierten Titel Violent Criminal Acts and Actors veröffentlicht. 1997 wurde das Buch neu aufgelegt. Es wurden dem Original einige Passagen und Interviews beigefügt, die der Autor vorher weggelassen hat und es wurde ein zweiter originaler Teil hinzugefügt, der Theoretische Überlegungen zu den 17 Jahre zuvor erlangten Resultaten In der Zwischenzeit, 1992, publizierte Athens The Creation of Dangerous Violent Criminals, dessen Vorwort im November 1987 entstanden ist. Nachdem Athens ein paar Jahre lang außerhalb des akademischen Bereichs gearbeitet hatte, kehrte er 1990 dorthin zurück und nahm die Einladung der University of Illinois Press an, seine beiden Bücher erneut zu publizieren, die bereits
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hat, die wegen „beachtlich gewalttätiger“ Taten verurteilt wurden – einziges Kriterium für die „Auswahl“ der Befragten. Bevor genau analysiert wird, was mit diesem Ausdruck gemeint ist, ist es unerlässlich sich mit der Methodik seiner Untersuchungen vertraut zu machen. Es handelt sich in erster Linie nicht um eine „zufällige Auswahl“ im statistischen Sinne des Wortes. Unter den Personen der Studien befanden sich nämlich Personen unterschiedlichen Alters – besonders zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt –, verschiedener Ethnien und verschiedener sozialer Klassen. Um zu den Interviews zu schreiten, wurden die Register der Einlieferungen in die Gefängnisse – darunter vier Hochsicherheitsgefängnisse – von genau 47 Männern und 11 Frauen untersucht, für die er die Erlaubnis bekam, die Interviews durchzuführen. Die Begegnungen mit den Häftlingen fanden in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Iowa (Iowa State Penitentiary), in Kalifornien (California Medical Facility, Vacaville; California Institution for Men, Tracy; California Institution for Women, Corona; Alameda County Jail, Santa Rita) und schließlich in Kansas (Kansas State Prison for Men, Lansing; Kansas State Prison for Women, Lansing; Hutchinson Reformatory; Topeka Youth Center, Topeka; Leavenworth Federal Prison, Leavenworth) statt, wo 50 neue Tiefeninterviews durchgeführt wurden, die jeweils sieben bis acht Stunden dauerten und die in The Creation of Dangerous Violent Criminals14 wiedergegeben und analysiert wurden. Insgesamt wurden 108 Interviews durchgeführt, zu denen noch zwei „teilnehmende Beobachtungen“ kommen, so dass insgesamt 110 Fälle analysiert wurden.15 Nachdem er die Personen, die er um die Mithilfe bei seiner Studie bitten wollte ausgemacht hatte und mit ihnen persönlich in Kontakt getreten war, erklärte ihnen Athens, um was für eine Studie es sich handele, und bat sie um ihr Einverständnis zu der Teilnahme. Die Interviews bestanden aus einigen Standardfragen, sowie aus personalisierten Fragen, die sich auf den jeweiligen Fall bezogen. Ziel war es, einen „Bewusstseinsstrom“ zu kreieren, der die Gedanken und die erlebten Gefühle des Subjekts zum Zeitpunkt der Gewalttat mög-
14
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vorher vom englischen Verlag Routledge veröffentlicht worden waren (persönliche Korrespondenz des Autors). Siehe vorige Fußnote. Bei diesen Interviews konnte Athens mehr noch als in Violent Criminal Acts and Actors die Lebensgeschichten vertiefen und die bedeutungsvollsten Erfahrungen kennenlernen, die die Täter dazu gebracht hatten, ihre gewalttätigen Dynamiken zu entwickeln. Für eine Rekonstruktion dieses Prozesses siehe Athens (2003, S. 38, Fußnote 1).
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lichst offenlegte.16 Wie er dem Journalisten Richard Rhodes berichtete: „[…] Ich stellte es mir als Fenster vor. Ich habe die Fenster ausgeschnitten, doch wusste ich nicht, was ich dann durch sie gesehen hätte. Das war die Aufgabe der Leute, die ich interviewt habe. Sie verschafften die Aussicht, den Inhalt und den inneren Aufbau“ (Rhodes, 1999, S. 61). Die aktive und freie Rolle der Interviewten kann nur dann richtig zur Geltung kommen, wenn der Interviewer oder derjenige, der den „Rahmen“ vorgibt, auf der einen Seite eine empathische Beziehung zu dem Interviewten herstellt und sich auf der anderen Seite zurücknimmt. Der „Rahmen“, in den Athens das Bewusstsein der Häftlinge einfasst, die er kennengelernt hat, wurde von Fragen eingegrenzt, die vier Hauptthemen betreffen: •
die Situation, in der die Straftat begangen wurde;
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die „qusai-gewalttätigen“ Situationen;
•
das „Selbstbild“, das sie bei Begehung der Tat hatten;
•
die Gewaltkarrieren.
Angesichts der Komplexität und der nachvollziehbaren Schwierigkeiten – einschließlich einer gewissen Scham –, die die Personen bei ihren Antworten empfanden, kam es oft zu Angst und Anspannung der Interviewten, und als die Aufmerksamkeit abnahm, wurde das Gespräch auf andere Themen gelenkt, die für sie interessanter waren. Der Gesprächsfaden und die Fragen, die Athens mehr am Herzen lagen, wurden wieder aufgenommen, als die Ebene des Vertrauens und der Aufmerksamkeit ein gutes Ergebnis versprach. Das Problem des Wahrheitsgehalts der erzählten Geschichten – und wie Lonnie dabei vorgegangen ist, ihn zu ermitteln – muss natürlich aufgeworfen werden. Die Vorgehensweise war tatsächlich einfach und effizient: das deliktische Ereignis, wie es im Polizeibericht stand, wurde mit dem Bericht des Interviewten verglichen. Wenn es wesentliche Abweichungen zwischen ihnen
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„Ein Forschungsinterview ist eine besondere Form des Gesprächs, in dem zwei Menschen (und manchmal mehr als zwei) in einer verbalen Interaktion stehen, um ein vorher festgelegtes kognitives Ziel zu erreichen. Diese Konversation ist eine besondere aufgrund der Macht-Asymmetrie der Gesprächspartner. Der Interviewer ist derjenige, der die kognitiven Ziele des Gesprächs und den Rhythmus festlegt, indem er Fragen stellt, auf die der Interviewte wahrheitsgemäß antworten muss – oder es zumindest sollte. In diesem Rahmen gestaltet sich das Forschungsinterview als ein ‘kommunikatives Ereignis’, das im Interviewten eine kritische Haltung hervorrufen kann, welche dazu führt, das „natürliche Verhalten“ abzulegen, die Aussetzung des Zweifels auszusetzen“ (Cardano, 2003, S. 73).
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gab, wurde nicht fortgefahren. Trotz der scheinbaren Naivität erweist sich diese Art der Ermittlung als hinreichend valide: Es ist viel schwieriger als es scheint auf detaillierte und kohärente Weise die sogenannte subjektive Seite einer Situation zu fälschen, also die eigene Wahrnehmung und Bewertung, während man gleichzeitig kein Material oder objektive Details verfälschen darf. Das hätte ein Straftäter aber genau tun müssen, um bewusst Informationen für mich falsch darzustellen, damit ich es bei meinem Validierungsverfahren nicht bemerkt hätte (Athens, 1997, S. 105, zitiert in Rhodes, 1999, S. 60–61).
Bei der Sammlung und Analyse seiner „Daten“ hat Athens vor allem auf die Kriterien verwiesen, die Blumer für seine qualitative Recherche skizziert hatte und die im ersten Kapitel angesprochen wurden. Wie man sich erinnern wird, sind es zwei fundamentale Momente, die die „naturalistische Nachforschung“ bestimmen: „Erkundung“ und „Überprüfung“. Bei der „Erkundung“ taucht der Forscher in die neue Welt, die er erkunden möchte, ein, um Informationen aus erster Hand über das Phänomen, den Untersuchungsgegenstand, zu erlangen: er sammelt Daten und entwickelt die ersten Vorstellungen. Zweifellos hat Athens diese Phase ganz durchlaufen, indem er auf der einen Seite mit Interviews arbeitete, auf der anderen mit der „teilnehmende Beobachtung“17 – zwei Instrumente, die es ihm ermöglicht haben“, das deviante Phänomen „naturalistisch“ zu beschreiben und so von Grund auf den Geist der von Blumer vorgeschlagenen Methode zu respektieren. Für Lonnie hat es im Verlauf des Erkenntnisprozesses über Gewalt u.a. 17
Was die „teilnehmende Beobachtung“ betrifft, sei noch einmal vorweg bemerkt, dass Athens seit seiner Kindheit für einen längeren Zeitraum – etwa zehn Jahre lang – die Gelegenheit hatte, innerhalb seiner Familie und seinem sozialen Umfeld „grundsätzlich gewalttätige“ Akte mitzuerleben. Die „teilnehmende Beobachtung“ wurde so zu einer Technik, auf die er nach der Reifung erlebter und erlittener Erfahrungen zurückgriff, welche er sich im Laufe seines Lebens auf positive Weise zu Nutzen machte und welche sich noch von höchster Wichtigkeit für die „Entdeckung“ der Existenz zurückgehender Gewaltkarrieren und für die Vorwegnahme und Perfektion anderer theoretischer Passagen herausstellen wird. An dieser Stelle müssen wir eine Frage stellen, auf die wir allerdings keine klare Antwort geben können: Kann Athens als „angepasst“ angesehen werden, wenn man unter „Anpassung“ die Fähigkeit versteht zu leben, sich positiv zu entwickeln und trotz schwerer Lebensumstände, „stressigen Situationen oder traumatischen Erfahrungen, die meist das hohe Risiko eines schlechten Endes mit sich bringen“ (Cyrulnik, 1999, S. 4) ein akzeptables Level der sozialen Anpassung zu erreichen? Auf den ersten Blick scheint eine positive Antwort selbstverständlich zu sein. Eine Kurve, die sein Leben seit der späten Adoleszenz genommen hat, würde dies zeigen: das Verlassen des Zuhauses, die Heirat, die Einschreibung an die Universität, das Erreichen eines Abschlusses, die Tatsache, dass er mit der Kriminologie „sein Brot“ verdient (Rhodes, 1999, S. 51); und vor allem, dass er nicht selbst ein destruktiver und gewalttätiger „Akteur“ geworden ist. Doch dieses Urteil kann mit Sicherheit nur jemand fällen, der Lonnie persönlich kennt.
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eine große Rolle gespielt, in diese andere Welt hineingeboren worden zu sein. Rhodes antwortend erkennt er: Obwohl man kein Gewalttäter sein muss, um die Ursachen dafür zu verstehen, dass man zum Gewalttäter wird“ […] „dass ein intensiver direkter Kontakt zu Gewalttätern absolut essentiell ist, wenn man dieses Ziel erreichen möchte (Rhodes, 1999, S. 64).
Während der „Kontrolle“ werden die gesammelten Daten durch einen Vergleich analysiert, um die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Auf deren Basis wird einem Begriff Gestalt verliehen, der mit jedem konkreten Fall verglichen werden muss, um seine Bedeutung immer mehr einzugrenzen und den Inhalt in einem eigentlichen „sensibilisierenden Begriff“ festzuhalten.
Substantiell gewaltsames Verhalten Der Ausdruck „substantiell gewaltsames Verhalten“ bezieht sich auf Situationen, in denen: (1) das Opfer schwerwiegend körperlich angegriffen wurde, d.h. nicht nur unglücklich oder zufällig, von einer Feuerwaffe, einem Messerstich, einem Stockhieb oder von Schlägen verletzt wurde, so dass medizinische Maßnahmen notwendig sind; (2) durch Penetrationsakte, Sodomie, Fellatio oder Cunnilingus unter Androhung weiterer schwerer körperlicher Schäden vergewaltigt wird, oder indem andere schwere oder weniger schwere körperliche Schäden zugefügt werden. (Athens, 1997, S. 31)
Um dies in eine juristische Sprache zu übertragen, können wir beispielhaft die von den interviewten Personen begangenen Straftaten als Mord, als schwere Körperverletzungen und als sexuelle Gewalt bezeichnen. Mit Hilfe dieser methodischen Instrumente ist es Athens gelungen, „Daten“ darüber zu sammeln, wie die Täter die Situationen, in denen sie diese brutalen Verbrechen begehen, interpretieren, indem sie erzählen, was sie in diesen Kontexten „dachten und fühlten“ (Athens, 1997, S. 32). Die Fragen: „An was hast du dabei gedacht? Was ging dir dabei durch den Kopf?“ bringen Antworten hervor, die sehr vielschichtig sind und auf komplexe Art gefiltert werden, weshalb es auch vorkommen kann, dass diese Dimensionen auch vom Täter nicht wahrgenommen, vom Beobachter aber erkannt werden können. (Steiner, 2005, S. 60). Ihre umfassende Analyse hat Lonnie davon überzeugt, dass „gewalttätige Menschen bewusst gewalttätige Aktionspläne schmieden, bevor sie die kriminellen Gewalttaten verüben“ (Athens, 1997, S. 32), und folgt damit der Art der Interpretation, welche die beiden Phasen des Self als Prozess sieht: die „Definition der Situation“ und die „Beurteilung“. Während der ersten Phase (Definition), in der sie durch Role-Taking das Verhalten des Opfers annimmt, zeigt die Person sich selbst die Bedeutung der „Gesten“, die das
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Opfer vollzieht. Außerdem wird die Person all das berücksichtigen, was sie mittels des Prozesses der self-indication aus der konkreten Situation „zuschneiden“ wird. Denn all das, was der Handelnde als „bedeutungsvoll“ auswählt, wird „reflexiv“ in den „Interpretationsprozess“ eingebracht.18 In der zweiten Phase (Beurteilung) hingegen nimmt die Person das Verhalten seiner eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ an und zeigt sich infolge dessen selbst, dass er in der vorher interpretierten Situation gewalttätig wird handeln müssen.19 Wenn man über diese Beobachtungen nachdenkt, so muss man stets vor Augen behalten, dass es für die Forscher, welche die interaktionistische Forschungsmethode bevorzugen, entscheidend wird, jenen Fragen nachzugehen, die der Täter sich selbst in bestimmten schwierigen Situationen stellt: „Wie kann ich herausfinden, ob eine Person, der ich auf der Straße begegne, feindselig oder harmlos ist?“ „Muss ich mich folglich eher vorsichtig verhalten oder vertrauensvoll?“ Der Forscher seinerseits fragt sich: „Gibt es eine Interdependenz zwischen dem, was man weiß und dem, was man tut?“ Sicherlich wird in diesem theoretischen Rahmen keine Situation als Routine verstanden, die so weit geht, dass die Gewohnheit alleine die Tat bestimmt. Nur solange eine „Situationsdefinition“ funktioniert und die Entwicklung eines bedeutsamen Verhaltens erlaubt, wird sie nicht in Frage gestellt.20 Wir beobachten und reagieren auf andere, indem wir ihre Worte, ihre Verhaltensweisen, 18
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Die Untersuchungen von Athens geben Anlass, den richtigen Intuitionen von Kriminologen der Vergangenheit neue Impulse zu geben. De Greeff (1932), beispielsweise, hatte den Ansatz entwickelt, dass viele Morde aus Leidenschaft durch eine vorangegangene „Reduktion“ und „Abstraktion“ des Opfers entstehen, die vom künftigen Täter als Gründe für die unselige Situation, in der er sich befindet, gesehen wird, für die tiefe und irreparable Kränkung seines Gerechtigkeitsempfindens und für die deviante Geste, die als Akt zur Wiederherstellung des Gleichgewichts verstanden wird. Diese Sichtweise hebt sich von den Erklärungen für „Gewalttaten“ ab, die den adaptiven / evolutionistischen Aspekten der mentalen Mechanismen und zwischenmenschlichen Beziehungen den Vorrang geben. Ein paradigmatisches Beispiel stammt aus der evolutionary psychological perspective von Martin Daly und Margo Wilson (1994, S. 253–288), die bezüglich des Mordes hervorheben, dass die „Psyche“ der Mitstreiter von einer natürlichen und sexuellen Auslese geprägt ist, die sie effektiv zu Gegnern und / oder Alliierten machen. In ihrem Beitrag heben die Autoren hervor, dass Morde hauptsächlich unter nicht-verwandten Menschen geschehen: Auch wenn Mütter diese Straftat begehen, geschieht dies in jungem Alter, so dass ihnen noch genügend Zeit bleibt, andere Kinder zu gebären. Peter McHugh (1968) vertritt die Meinung, dass Menschen eine Situation als alltäglich aufgrund von drei Voraussetzungen ansehen: Menschen nehmen die Gültigkeit der Begriffe, mit denen sie eine Situation interpretieren, für selbstverständlich; sie gehen davon aus, dass alle in dieser bestimmten Situation Anwesenden ihre Begriffe teilen; nur selten überprüfen die Akteure ihre Validität.
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ihre Haltungen und ihre Art sich zu kleiden typisieren. Jede Form des recipe knowledge bietet einen Rahmen, durch den das Verhalten der anderen interpretiert und vorhergesehen werden kann. Beispielsweise kann das Paraverbale, das mit dem gesprochenen Wort, mit dem Körper, auf den das Wort sich stützt und der es hervorbringt, verbunden ist – und das den Tonfall, den Nachdruck, die Laustärke und die Geschwindigkeit, mit der die Sprache gesprochen wird, einschließt – eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Intention eines physischen Zusammenstoßes zu kommunizieren.21 Doch nichts kann als selbstverständlich gelten: das Unerwartete tritt in jedem Moments des Alltags ein und macht ihn problematisch.
Physisch defensive Interpretationen Die interaktionistische Methode, die von Athens angewandt wird, entfernt ihn natürlich von jenen Methoden, welche andere Kriminologen in der Vergangenheit entwickelt haben. Darunter auch eine, die von einem berühmten Forscher formuliert wurde: Etienne De Greeff. Der Gedanke, dass die Subjekte auf Stimuli auf eine festgelegte Art reagieren, welche ihren Grund in vergangenen Erlebnissen haben (die historische Dimension der menschlichen Existenz), hat ihn veranlasst, sich auf die „individuelle Persönlichkeit“ der Verbrecher (welche oft durch ein starkes „Gefühl der Ungerechtigkeit“ charakterisiert ist, sowie von einer Veränderung der „Art der Verbundenheit mit der Umwelt“), auf den „gefährlichen Zustand“ (der Unausgeglichenheit, die der Verübung eines Verbrechens vorausgeht) zu konzentrieren, sowie auf den Übergang zur Tat.22 Das Ziel von De Greeff war es die „Verbrechensdynamik“ zu verstehen, sowie die „Kriminogenese“ einer hochgradig devianten Tat. Mord beispielsweise wurde durch die Anwendung zweier unterschiedlicher Typologien erklärt: „utilitaristischer Mord“ und „Mord im Affekt“ – um ihn auszuüben, muss man seiner Zukunft gegenüber gleichgültig sein. Betrachten wir aber die Anleitungen De Greeffs genauer, so finden wir dort sehr moderne Eindrücke und in Maßen auch Ähnlichkeiten mit Athens. Ganz besonders die Notwendigkeit, auf den „anderen“ zu treffen: „Schlau zu han21
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„In den USA sind die männlichen US-Amerikaner europäischer Herkunft weniger fähig als die männlichen, Afroamerikaner, die Verwendung von Bewegung als Signal des Übergangs von Worten zu körperlichen Übergriffen zu begreifen. Und umgekehrt können männliche Schwarze oft nicht den Witz erkennen, der den Anfang einer Schlägerei markiert und durch die „Intensität“ des Tonfalls der Stimme eines männlichen Weißen gegeben ist“ (Kochman, 1981, S. 47). Siehe zu diesem Thema die Überlegungen von Bandini / Gatti / Gualco / Malfatti / Marugo / Verde (2003–2004, S. 88–92, Bd. I).
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deln bedeutet hier klinisch zu handeln, den Fall zu studieren, den Menschen und nicht das Abstrakte zu sehen und als Funktion des bestimmten Menschen zu handeln“ (De Greeff, 1949, S. 25).23 Der Kriminologe trifft das Subjekt und ausgehend von dieser face-to-face-Situation, behauptet er, dass folgendes gilt: Ein krimineller Mensch wird ein solcher meist erst nach einer Phase der PräKriminalität, während derer der Prozess, der ihn zur Straftat führt, in seinen Gedanken immer präziser wird, in allen Teilen seiner Seele operiert, […] seine Werte deformiert, seine Prinzipien verändert, sich legitimiert. Diese Vorbereitung auf das Verbrechen findet sich sowohl bei den pathologischen Fällen als auch bei normalen Menschen wieder […]. Es ist die (kriminelle) Seele des Menschen, die beobachtet wird, nicht allein seine Pathologie: [...] auch wenn eine Tat […] hochgradig pathologisch ist, ist sie der Person, die sie verübt, nicht völlig fremd und ist oft eine Reaktion auf reale Probleme, auf Vorgänge im Unterbewusstsein, die sich seit langem in der Seele des Subjekts festgesetzt haben (De Greeff, 1949, S. 133). Es gibt keine Entscheidungen, keine Taten, die nicht bereits vorher, in irgendeiner Form, in der Persönlichkeit des Subjekts existiert haben, bevor es zu der Gelegenheit kam. […] Folglich lässt sich eine ungewöhnliche Tat, sei es eine gute oder eine schlechte, nicht durch die Gelegenheit, in der der Täter sich befand, erklären – die Gelegenheit war bloß eine Voraussetzung – sondern sie besitzt ihren eigenen Sinn: man muss der Tat, gut oder schlecht, einen abgeschlossenen Sinn geben (De Greeff, 1949, S. 45).
Athens hat, durch seine ursprüngliche Methodik – unserer Ansicht nach – genau diesem Konvergenzpunkt mit seiner Perspektive eine beachtliche Stärke verliehen, indem er die „Überzeugung“ überwindet – die in gewisser Weise zu De Greeff gehört – dass „das ‘grundlose, unmotivierte’ Verbrechen […] immer eine deutlich pathologische Persönlichkeit betrifft“ (De Greeff, 1949, S. 8–9). Aus dieser Perspektive betrachten wir nun analytisch die vier verschiedenen Typen der Situationsinterpretation, die von Athens ermittelt wurden. Das, was wir in diesem Kapitel bieten, ist eine „Version“ seines Denkens, das im ersten Teil von Violent Criminal Acts and Actors Revisited wiedergegeben wurde, und berücksichtigen die neuen Lesearten und die Erweiterungen, die vom Autor mit den Jahren vorgenommen wurden, nachdem er die Begriffe „Phan23
De Greeff fügt hinzu: „Eines der eigenartigsten Phänomene, das ich beobachtet habe, ist folgendes: Ein Mensch kann ein guter Wissenschaftler sein […],sieht er sich aber der realen Straftat gegenüber […], verlässt ihn all seine Sicherheit; er zweifelt sofort alle seine Überzeugungen an und zieht in Betracht, dass […] der Wille der Person von größter Wichtigkeit ist. Was ist da geschehen? Dieser Mensch hat sich seine Meinungen gebildet, ohne in wirklichen Kontakt mit den Menschen zu kommen: Seine meisterhaft aufgestellten Berechnungen haben ihn, wie Leverrier, zu einer abstrakten Sicherheit, zu der Kenntnis eines abstrakten Phänomens geführt. Leverrier, erzählt man sich, blickte nie auf den Planeten, den sein Genius ihm am Himmel gezeigt hatte; und die meisten Soziologen wenden sich ihrerseits niemals den von ihnen entdeckten Phänomenen zu […]“(De Greeff, 1949, S. 19).
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tom-Gemeinschaft“, „Selbstgespräche“ und „Herrschaft“ in seinen Horizont aufgenommen hat. Jede der vier Arten der Interpretation tritt demnach in den Phasen der „Definition der Situation“ auf – da sie auf jede Art der Interpretation hindeutet– sowie auf jede Art der „Beurteilung“: eine Beurteilung, die die Gewalttat befürwortet wird als vereinigendes Element in Bezug auf die interpretative Vielfalt wirken. Um jede Zumutung, die Phasen der „Definition“ und der „Beurteilung“ zu linear und zu schematisch zu deuten, auszuschalten, fordern wird jedermann auf, über die Variablen nachzudenken, die in jedem Umstand des Lebens zu erkennen sind, wenn wir uns zum Handeln entschließen. Sie sind nicht immer von dem Augenblick an vorhanden, in dem man beginnt, die Handlung zu planen, und während wir „wieder und wieder versuchen“ uns darüber klar zu werden, welches Geschehen wir uns wünschen, können sie sich verändern, indem sie neue Aufrufe zu abweichenden Handlungsplänen unterbinden. Diese ganze Komplexität finden wir in jeder der vier von Athens entwickelten Interpretationen wieder. In den „physisch defensiven“ Interpretationen gibt es zwei Phasen. Besonders dann, wenn der Täter das Verhalten des Opfers annimmt, weist er sich selbst darauf hin, dass die Gesten, die von Letzterem ausgeübt werden, die Absicht anzugreifen bedeuten oder dass solch eine Handlung sich bereits vollzieht. Die Person kann es auch so interpretieren, dass das Opfer ein Familienmitglied oder eine ihm nahestehende Person angreifen will. In der zweiten Phase entscheidet der Täter, durch die Annahme des Verhaltens seiner „PhantomGemeinschaft“, gewalttätig reagieren zu müssen und bereitet so einen Handlungsplan vor. Wie wir im nächsten Kapitel auf noch analytischere Weise sehen werden, können Gewalttaten auch einfach nur verübt werden, um Wiederstand gegen die „Herrschaft“ anderer Mitglieder der Gemeinschaft zu leisten oder um eine Art der „Herrschaft“ über sie zu erlangen (Athens, 1998, S. 686). Hier interpretiert der Täter die Gesten des anderen als das Vorfeld oder den Anfang eines Angriffs und sieht in der Gewalt die einzige Möglichkeit, der physischen „Fremdherrschaft“ zu begegnen und sein Leben, sowie das seiner Familie, zu beschützen. Es handelt sich dabei um eine „präventive“ Handlung gegenüber einer drohenden Gefahr. Dabei wird er von einem Gefühl der Angst begleitet. Um die Bedeutung zu erfassen, muss sich der Forscher dem Interpretationsprozess des Interviewten annähern und sich von jedem moralischen (Vor)urteil freimachen, damit er sich in das hineinversetzen kann. „was sein Gesprächspartner denkt und fühlt“.
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Mit den Ausdrucksweisen und den „logischen“ Mechanismen der interviewten Häftlinge „vertraut“ zu werden, bedeutet, dass man das schwierige Gebiet des Erzählens mit Händen greift. Die folgenden Mordfälle bieten zwei Beispiele für eine „physisch defensive“ Interpretation. FALL 18: MORD24 Ich saß am Tresen und trank ein Bier, als der Typ, der neben mir saß, aufstand und zum Spielautomaten ging. Als er zurück an die Theke kam, sagte er: „Du hast mein Bier weggetrunken. Ich hatte noch eine volle Dose, als ich zum Spielautomaten ging.“ Ich antwortete: „Ich hab dein Bier nicht getrunken.“ Er sagte: „Besser du kaufst mir eine neue Dose.“ Ich sagte: „Scheiße, nein, mach ich nicht.“ Erst verstand ich nicht, ob er wirklich dachte, dass ich sein Bier getrunken habe oder ob er nur mit einem Trick versuchte, eine neue Dose von mir zu bekommen, doch als er später sagte: „Du kaufst mir besser eine verdammte Bierdose“, wusste ich, dass er das machte, um einen Streit anzufangen, also war ich mir sicher, dass ich ihm kein Bier kaufen würde. Er forderte mich noch einmal auf ihm ein Bier zu kaufen. Ich sagte: „Nein, verdammt.“ Ich dachte, dass wenn er verstand, dass ich ihm wirklich kein Bier kaufen würde, dass er nicht weiterdrängen würde, aber er sagte: „Du bewegst lieber deinen Arsch und kaufst mir ein verdammtest Bier.“ Dann sagte ich: „Ich will keinen Ärger haben, ich bin gerade erst aus dem Knast raus, also geh weg und lass mich in Ruhe, denn ich werde dir kein Bier kaufen.“ Er sah mich einfach weiter an. Da dachte ich, dass er mir irgendwas tun will. Dann zog er ein Messer raus und versuchte mich damit zu erwischen, und ich schoss ihm einmal in den Arm. Er griff mich weiter an, also musste ich ihn erledigen. Er wollte mich töten.
FALL A: MORD Es war ungefähr 21 Uhr am 30. Dezember des Jahres … und ich hatte ein wenig getrunken, nicht viel, aber ein wenig..., und mir ist in den Sinn gekommen, jene Person anzurufen, die ich dann später getötet habe, weil wir gemeinsam viele Reisen ins Ausland unternommen haben und eine kranke Leidenschaft für Kokain teilten, das wir ab und zu zusammen nahmen, auch wenn es sehr selten war... alle vier oder fünf Monate... . Ich habe ihn angerufen und er war mit anderen Freunden bei sich zu Hause, wo sie aßen und praktisch das große Silvester-Abendessen vorverlegt haben. Jedenfalls habe ich ihn angerufen, X hieß er, und er sagte zu mir: „Komm doch auch, wenn du es schaffst schnell hier zu sein, komm doch auch zu mir nach Hause“. Ich habe mich frisch gemacht, mich angezogen, habe das Haus verlassen und bin zu diesem X nach Hause gegangen, der gerne ein großes Essen veranstaltete und mich mit seinen Freunden einlud, wovon ich zwei oder drei bereits kannte. Am Telefon hatte ich ihm gesagt, dass ich lieber die Abende des 30. und 31. mit ihm verbracht und eine endurance von zwei Tagen gemacht hätte... ein Fest, bei dem wir zwei Tage lang gekokst hätten. Um 21 Uhr 30 bin ich bei ihm zu Hause angekommen... meine Ankunft hat dafür gesorgt, dass er sich von den anderen entfernte... wir haben gemeinsam getrunken, er ein wenig heftiger... denn er war... doch, das war er wirklich... alkoholisiert, er trank viel. Wir haben angefangen zu trinken und ich habe ihn gefragt, ob er schon Pläne für das neue Jahr hatte 24
Athens (1997, S. 34), zitiert b. Rhodes (1999, S. 70).
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Drittes Kapitel und ob wir nicht irgendein Ding zusammen drehen könnten. Jedenfalls hat dann jeder von uns angefangen, von seinen Ideen zu erzählen. Dann, gegen 23 Uhr, haben die Leute angefangen auszuschwärmen und gegen Mitternacht waren wir dann alleine. Dann habe ich zu ihm gesagt: „Hör mal, sollen wir nicht irgendwas mit Koks machen?“ Ich bin dann also zu meiner Mutter gegangen, um mir die Bancomat-Karte zu holen, damit ich ein bisschen Geld abheben konnte. Dann sind wir aber zu ihm zurückgegangen... wir haben uns nicht sofort auf die Suche nach dem Koks gemacht... wir haben bis 6 Uhr morgens geredet und dann hat er zu mir gesagt: „Los, lass uns zu den Transvestiten gehen...“. Er kannte sie, weil er genau da wohnte, wo sie anschaffen gingen und von denen holte man sich den Koks, er machte das öfters. Es war ungefähr 6 Uhr 30 als wir einen Transvestiten gefunden haben, der uns Koks verkaufte. X hatte ihn eingeladen mit uns nach Hause zu kommen, weil er uns eine Kugel mit Kokain gezeigt hat, die er für ihn hatte und dann fügte er hinzu: „Gebt ihr es, danach bin ich dran und verbringe auch den 31. mit euch, wenn ihr wollt...“. Wir waren beide einverstanden. Sobald wir in der Wohnung angekommen sind, nehm ich ein Kügelchen, öffne es, und weil er es besser kann, sage ich: „Los! Mach du das, X, bereite du die Lines vor... und dann teilen wir es uns ein, damit wir nicht gleich alles wegballern...“. Er steht plötzlich auf uns sagt: „Nein, wir rauchen es!“ Es fiel auch der Satz: „Nein! Jetzt rauchen wir es“, so energisch, so sehr wie ein Befehl, dass es mich… wirklich „bum!“ es hat mich... es war ein Schlag. Ich sage: „Was? Ich habe eine großzügige Geste gemacht... . Gib mir wenigstens ein Zeichen, antworte mir auf freundschaftliche Art. Stattdessen bist du ein Egoist!“ Egoismus ist das, was ich am meisten hasse... . Deshalb hat mich das so gestört: „Nein, wir rauchen es, wir machen das, was ich sage!“ Das hat mich richtig wütend gemacht... . Ich wusste genau, dass Koks zu rauchen bedeutet, dass man fünf oder sechs Stücke nimmt, die, wenn man sie geschnupft hätte, zwölf, oder sogar zwanzig Stunden gedauert hätten, jedenfalls viel länger... während wenn man es raucht, der Effekt sofort kommt, und nach zehn Minuten, einer halben Stunde, maximal einer Stunde ist man so wie vorher und deshalb habe ich zu ihnen gesagt: „Hör zu, ich bin doch kein Goldesel, ich kann doch nicht noch mehr kaufen. Ich kaufe es heute Abend für Mitternacht und wir feiern am 31. und am 1.“ Ich habe ihm den Löffel mit dem Bikarbonat weggenommen. Ich bin mir nicht sicher, wie es funktioniert, weil ich es nur einmal gemacht habe und es mir nicht gefallen hat… . Es ist ein Vorgang, bei dem die Substanzen abgesondert werden, die kein Kokain sind... es bleibt nur pures Kokain, das man dann raucht. Also habe ich, um ihn zu ärgern, den Löffel mit dem Bikarbonat genommen und es in einem Zug ausgetrunken. Er hat sich geärgert, ist mit einer Weinflasche in der Hand aufgestanden und ich habe mich in eine Ecke gedrängt mit ihm und der Weinflasche in der Hand wiedergefunden... und ich habe zwei Gefühle gehabt, an die ich mich heute noch erinnere: Wut und Angst... beides gleichzeitig: Angst, dass er mich trifft und Wut, weil ich mir dachte: „Was?! Ich gebe dir etwas und du willst unbedingt das Gegenteil machen?“ In diesem Augenblich fühlte ich mich in die Ecke gedrängt und er stand da. Ich habe ihn als Bären empfunden, als Raubtier, das sich größer macht... wie ein Wesen mit Flügeln, weil er breite Arme hatte... er war ja sogar 1,87 m groß und ich fühlte mich ganz klein. Ich habe mich physisch bedroht gefühlt, also war meine erste Reaktion auch physisch… […] ein Selbstschutzmechanismus... . Auf dem Tisch lag ein Messer, ich habe es genommen und blind drauflosgestochen, einfach so...
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jedenfalls... schwindet... von da an meine Erinnerung... denn ich habe alles nur noch weiß gesehen... wie einen weißen Vorhang, vernebelt, in dem Sinne, dass ich nichts mehr verstand. Dann muss ich ihn hochgehoben haben, und dann habe ich verstanden, ich habe realisiert... in diesem Augenblick, als ich gesehen hab, wie das Blut rausquoll... habe ich realisiert... .
Wenn wir den Kontext und die verwendeten Ausdrücke analysieren, merken wir, dass der zukünftige Mörder die Situation so interpretiert, als ob sie größtenteils vom Opfer ausgelöst worden sei. In der „physisch defensiven“ Situation spricht man genau von einem aggressiven Verhalten, das „victim precipitated“ ist.25 Mit diesem Ausdruck wird auf gewalttätige Erlebnisse verwiesen, in denen das Opfer durch sein eigenes Verhalten und durch die eigenen Worte den Täter zur Aggression drängt. Auch wenn sich unsere Wahrnehmungen von denen derjenigen, die töten, unterscheiden, können wir, wie hier, den extremen Versuch, sich zu verteidigen, verstehen. Dies liegt daran, dass die Reaktion des Aggressors in sehr vielen Fällen nicht so weit von der allgemeinen, weit geteilten Logik entfernt ist, nach der es „richtig“ ist, Gewalt anzuwenden, wenn man dazu gezwungen wird, sich oder andere zu verteidigen. Es ist kein Zufall, dass die „physisch defensive“ Interpretation den psychisch-sozialen Nährboden für den rechtstechnischen Begriff der Notwehr bildet, dessen Tatbestand von allen Rechtsordnungen geregelt ist. In den kriminologischen Studien wurde die Wichtigkeit der Untersuchung (a) der sich „verschlechternden“ Rolle des Opfers – welche als Resultat einer langen oder kurzen Interaktion zwischen dem aktiven und dem passiven Subjekt verstanden wird –, (b) der Psychodynamik der betroffenen Akteure und (c) der Soziodynamik der Situation betont, und das bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in einer Studie von Wolfgang, die 588 Morde, welche in Philadelphia zwischen 1948 und 1952 begangen wurden, einbezog. (Wolfgang, 1958) Athens hebt eine Distanz zwischen dem „physisch defensiven“ Begriff der Interpretation und dem von Wolfgang entwickelten hervor, der sich fast ausschließlich auf den Verhaltensaspekt der Gewalttat konzentriert. Für Wolfgang deutet der Ausdruck „victim precipitated violence“ darauf hin, dass das Opfer in diesem mörderischen Drama als erstes auf physische Gewalt zurückgreift, als erster eine Waffe zeigt und verwendet, als erstes handgreiflich wird (Wolfgang, 1957).
25
Zum Begriff der „Herbeiführung“ der Straftat und der Rolle des Opfers als „funktional verantwortliches“ Subjekt der Straftat, siehe Correra / Riponti (1990).
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Anhand dieser Voraussetzungen kommt Athens auf drei verschiedene Hypothesen: (1) die gewaltsame Geste ist „victim-precipitated“ und wird gleichzeitig von einer „physisch defensiven“ Interpretation abgeleitet: es ist das Opfer, welches als erster offen auf Gewalt zurückgreift, doch es macht dies, indem es sich selbst darauf hinweist, dass die Verhaltensweisen des mutmaßlichen Täters, die dabei sind, sich in einen physischen Angriff umzusetzen und anhand von nachfolgender selfindications entscheidet es, dass eine gewalttätige Antwort das geeignete Mittel ist, um dem Angriff des Täters zu begegnen; (2) die gewaltsame Geste ist „victim precipitated“, wird aber nicht von einer „physisch defensiven“ Interpretation abgeleitet. Hier handelt das Opfer als erstes gewalttätig, doch behauptet es nicht, dass es die Verhinderung eines Angriffs von Seiten des Täters bezwecke; (3) die gewaltsame Geste ist nicht „victim precipitated“, sondern der Ausgang einer „physisch defensiven“ Interpretation, im Laufe derer der Akteur sich nicht als erster brutal verhält, sondern erst mit Gewalt antwortet, nachdem er sich selbst klargemacht hat, dass ein physischer Angriff bevorsteht und durch weitere self-indication entscheidet, dass eine gewalttätige Antwort das geeignete Mittel ist der Gewalt des anderen zu begegnen. Diese Überlegungen bestätigen die Nichtübereinstimmung zwischen der Hypothese von Athens und derjenigen Wolfgangs, indem sie die Schwäche dessen dartun, der sich nur auf den Aspekt des Verhaltens der Gewaltdynamik konzentriert, was dazu veranlasst, in den Begriff der „victim precipitated violence“ viele Fälle einzubeziehen, in denen das Opfer keine aktive Rolle im Tathergang einnimmt, und gleichzeitig viele Fälle auszuschließen, in denen es, ganz im Gegenteil, diese Rolle einnimmt. (Athens, 1974, S. 111–112)
Frustrierte Interpretationen In der ersten Phase der „frustrierten“ Interpretation macht der Handelnde mittels Übernahme der Verhaltensweise des Opfers sich die Bedeutung, die er dem Verhalten des Opfers zuschreibt, selbst klar. Diese Bedeutung kann entweder darin bestehen, dass das Opfer sich wehrt oder sich gegen einen spezifischen Handlungsplan noch wehren wird, den der Angreifer ausführen möchte, oder darin, dass der Handelnde bei einem spezifischen Handlungsplan des Opfers kooperieren soll, an dem er sich aber nicht beteiligen will. In der zweiten Phase, in welcher der Handelnde die Einstellung seiner Phantom-
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Gemeinschaft annimmt, entscheidet er, dass er gewaltsam gegenüber dem Opfer reagieren muss und bildet zu diesem Zweck einen Handlungsplan. In dieser Art von Interpretation wird die Gewalt als einziges Mittel verstanden, um: (a) eine Handlung zu vollziehen, die vom Opfer behindert wird, indem der Widerstand gegen seinen „Beherrschungs“-Versuch gebrochen wird (wie es zum Beispiel häufig bei sexueller Gewalt der Fall ist); (b) sich gegen eine Handlung aufzulehnen, an der man teilnehmen sollte, und sich den Versuchen der „Herrschaft“ des anderen zu entziehen (wie es bei einer Festnahme auf frischer Tat passieren kann). Mit anderen Worten kann man durch die Gewalttat den anderen seine Entscheidung bezüglich zukünftiger Ereignisse aufzwingen. Wut, die ihren Ursprung in der Frustrierung des eigenen anfänglichen Handlungsplans hat, ist das Gefühl, das diese Art der Interpretation charakterisiert.26 Die folgenden beiden Erzählungen sind Beispiele für die beiden hier dargelegten Hypothesen. FALL 49: SEXUELLE GEWALT27 Ich war bei mir in der Wohnung und hörte Radio und mich überkam die Lust... . Ich begann darüber nachzudenken, wie ich mir eine Fotze beschaffen sollte. Ich überlegte mir, runter in das Viertel X zu gehen und eine hübsche weiße Nutte zu finden, um sie zu vögeln. Ich kannte die Gegend ganz gut und sie war weit entfernt von meiner Wohnung. Also ging ich aus dem Haus und in den Bus Nr. X. Ich fuhr bis zur Via X, bin ausgestiegen und fing an, eine Runde zu drehen. Ich warf einen Blick auf eine weiße Nutte mittleren Alters, die an einer Gruppe von Mehrfamilienhäusern entlangging und ich sagte mir, dass ich diese Fotze jetzt genießen werde. Ich folgte ihr bis zum Eingang eines Mehrfamilienhauses. Sie öffnete mit einem Schlüssel die Haustür, und ich musste rennen, um zu verhindern, dass sie sich schließt. Nachdem ich es gerade noch geschafft hatte, wartete ich ein paar Sekunden ab, damit sie mich nicht sehen konnte. Als ich eintrat, hörte ich, wie sie die Treppen hochging und ich folgte ihr. Als ich oben am Treppenende angelangt war, sah ich, wie sie in den Korridor einbog und folgte ihr. Als sie ihre Wohnungstür öffnete, legte ich eine Hand auf ihren Mund, stoß sie hinein und sagte: „Mach den Mund nicht auf.“ Dass schloss ich die Tür hinter mir und sagte: „Wenn du auch nur ein Wort sagst, bringe ich dich um, du Hure.“
26
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„Nicht alle Menschen, die sich der Herrschaft unterwerfen, sind der Meinung, dass diese Anpassung gerechtfertigt sei. Manche halten die Ausübung von Herrschaft für falsch und sie ordnen sich nur unter, weil sie keine Alternativen sehen. Für sie wird der Beherrschende zu einem frustrierenden Objekt, und das daraus entstehende Gefühl wird allgemein als Groll bezeichnet“ (Shibutani, 1961, S. 351). Athens (1997, S. 37–38).
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Drittes Kapitel Ich wollte nicht, dass sie sofort in Panik geriet, also täuschte ich sie, indem ich sie fragte: „Hast du Geld?“ Sie antwortete: „Ich habe nur zehn Dollar im Umschlag von der Kirche.“ Ich sagte: „OK, dann gibt sie mir.“ Sie nahm den Umschlag aus der Tasche und gab ihn mir. Dann sagte ich: „Zieh den Mantel aus.“ Ich schaute sie mir genau an und dachte, dass ich sie die ganze Nacht durchvögeln könnte, diese Nutte. Ich packte sie an den Schultern und warf sie zu Boden. Sie begann zu schreien: „Was tust du da? Was tust du da?“ Ich dachte, es wäre besser, ihr verständlich zu machen, dass ich es ernst meinte und schlug ihr ins Gesicht, während ich „sei ruhig, sei ruhig“ sagte. Als sie mir gehorchte, hörte ich auf sie zu schlagen. Dann zog ich ihr Kleid über das Gesicht und begann sie zu betasten und sie fing an zu schreien „hören Sie auf, hören Sie auf, hören Sie auf!“ und mit den Füßen auf den Boden zu schlagen. Ich dachte: „Diese Nutte muss sofort aufhören zu schreien, sonst hört jemand sie noch.“ Ich nahm sie mir rechts und links vor und sagte ihr: „Ruhe, Ruhe, sonst schlage ich dich noch tot.“ Letztendlich hielt sie ihre Klappe und ich zog nochmal ihr Kleid hoch und riss ihr die Strumpfhose vom Leib und zog meinen Schwanz raus. Ich stieg auf sie rauf und steckte ihn ihr rein. Als sie ihn eindringen fühlte schrie sie: „Nein, nein, stopp, stopp!“ aber ich machte weiter. Ich wollte sie die ganze Nacht durchvögeln, aber ich kam sofort. Auch wenn ich früher als vorhergesehen gekommen war, war die Hauptsache, dass ich mich entleert hatte. Als ich mir meine Hosen wieder angezogen hatte, sagte ich „Beweg dich nicht“ und rannte schnell weg.
FALL 10: MORD28 Ich hatte wenig Kohle und hab über einen Ort gehört, wo ich einen Coup landen konnte. Etwa eine Stunde später bearbeiteten mein Freund und ich den Safe, als ein richtig junger Polizist mit seiner Waffe kam und sagte: „Ihr seid verhaftet, Hände hoch.“ Das erste, was ich dachte war: „Das werden zehn Jahre, und ich hab keine Lust, in dieses Scheißgefängnis zurückzukommen“. Also entschloss ich mich, dass ich nicht aufgeben würde. Der Polizist kam näher, und ich überlegte, ob ich mir seine Waffe nehmen sollte, aber ich fragte mich auch, wo sein Partner steckte. Er sah nervös aus, ängstlich. Im Hinterkopf dachte ich mir, dass er die Waffe nicht benutzen würde, aber es war mir auch nicht wichtig. Dann überlegte ich, dass er keinen Partner hatte und ich ihn schlagen sollte. Ich musste aus der Situation herauskommen. Als er ganz nah bei uns war, schlug ich ihn mit dem Hammer.
Im Fall 49 sieht der Täter den Widerstand gegen seinen Versuch, eine sexuelle Beziehung aufzuzwingen, vorher und sieht Gewalt als direkten Weg, um das zu bekommen, was ihm ansonsten verwehrt gewesen wäre. Im Fall 10 ist es umgekehrt; es ist der Täter, der Widerstand gegenüber dem Versuch des Opfers, ihn zu verhaften, ausübt. Der Polizist richtet seine Pistole auf das den Räuber: mit dieser „bedeutungsvollen“ Geste fordert er ihn auf, sich zu ergeben, mit der Überzeugungskraft einer Waffe, die der Widersacher nicht bekämpfen und er der auch nicht gleichkommen kann. Was die „lebendi28
Athens (1997, S. 38), zitiert b. Rhodes (1999, S. 72).
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ge Gegenwart“, in der der Räuber anfängt seine Reaktion zu planen, modifiziert hat, ist self-indication der beiden neuen „Objekte“, die der Situation des Augenblicks entnommen wurden: die Nervosität des Polizisten und die Präsenz eines Hammers. Die erste self-indication zerstört, aus der Sicht des Räubers, die Glaubwürdigkeit der Drohung des Polizisten; die zweite stellt das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den beiden Antagonisten wieder her und sorgt für die Plausibilität der gewalttätigen Reaktion des Räubers.
Bösartige Interpretationen Die „bösartige“ Interpretation kann sich auf drei Arten zeigen: zuerst erzählt der Täter sich selbst, indem er die Verhaltensweise des Opfers annimmt, dass die Gesten, die von diesem ausgeübt wurden, eine Verspottung oder Herabsetzung bedeuten. Dann, indem er das Verhalten der eigenen „PhantomGemeinschaft“ annimmt, erzählt er sich selbst, dass das Opfer sehr bösartig oder heimtückisch sei. Schließlich entscheidet er, immer noch die Sichtweise der „Phantom-Gemeinschaft“ annehmend, mit Gewalt auf die Gesten des Opfers reagieren zu müssen, und entwirft zu diesem Zweck einen entsprechenden Handlungsplan. Hass ist das Gefühl, das diese Art der Interpretation begleitet. Die Gewalttaten, die diese Art der Interpretation hervorbringt, erscheinen – zumindest aus der Sicht externer Beobachter – sinnlos und fast schon unverständlich. In Wahrheit kann, folgt man Athens, ein „Grund“ für diese Reaktion, mag sie auch unverhältnismäßig im Verhältnis zum erlittenen Unrecht sein, im Willen erkannt werden die Personen zu bestrafen, die versucht haben, uns sozial zu „degradieren“, indem sie unser Vorrecht, sie zu beherrschen, bestreiten. (Athens, 1998, S. 678). FALL 35: SCHWERE KÖRPERVERLETZUNG29 Ich fuhr im Auto mit einigen Freunden durch die Gegend, mit denen ich Wein trank, Drogen rauchte und ein paar Pillen schmiss. Wir kamen an eine Kreuzung und fuhren langsamer, um abzubiegen, als ein Schwarzer, der von der anderen Seite der Spur in einem Thunderbird kam, uns die Straße abschnitt, seitlich heranfuhr, breit lächelte und uns den Mittelfinger zeigte. Mein Freund, der am Steuer saß, fuhr in die andere Richtung weiter, aber ich habe mir plötzlich gesagt: „Dieser dreckige Neger zeigt mir den Mittelfinger und lächelt. Jetzt ist der Neger also mutig. Gut, jetzt kümmere ich mich und diesen scheiß Neger.“ Ich habe das Lenkrad ergriffen und gesagt: „Dreh um und fahr diesem Schwarzen im Thunderbird hinterher.“ Wir haben angefangen, ihn zu verfolgen, und nachdem er ein paar Mal abgebogen war, haben wir ihn wieder verloren. Wir waren zu weit von ihm entfernt. 29
Athens (1997, S. 39–40).
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Drittes Kapitel Ich habe gesagt: „Er muss hier irgendwo in diesem Viertel sein, fahren wir doch noch weiter bis wir den Thunderbird sehen. Ich will ihn erwischen.“ Ich sah noch sein Lächeln vor mir, während er uns überholte und dieser Gedanke machte mich wahnsinnig. Ich war absolut entschlossen ihm auf der einen oder anderen Art eine Lektion zu verpassen. Schließlich sah ich sein Auto im Hof eines Hauses geparkt stehen, und ich habe zu X gesagt, der am Steuer saß, dass er davor anhalten soll. Dann habe ich mein Gewehr vorbereitet und es geladen. Einer meiner Freunde sagte: „Hey, was zum Teufel tust du da?“ Ich habe geantwortet: „Das ist meine Sache“ und bin aus dem Auto gesprungen. Ich wollte diesen Neger nur noch bestrafen. Mein Gedanke war: „Ich werden diesen Versager umbringen.“ Ich bin zur Tür gegangen und habe geklopft. Er öffnete die Tür, aber sobald er mich erkannte, schlug er mir die Tür vor der Nase zu. Ich habe dann die Tür aufgetreten und gesehen, wie er versuchte zur Hintertür hinaus zu fliehen. Ich bin ihm im Haus hinterhergerannt und habe ihn genau dann erwischt, als er versuchte über den Lattenzaun zu klettern. Ich habe ihn den Gewehrlauf ins Gesicht gehalten und gesagt: „Neger, komm hier runter.“ Er hat mir gehorcht, und ich habe daraufhin gesagt: „Geh wieder rein.“ Ich wollte ihn im Haus umbringen, so dass es niemand sah, doch als wir an der Hintertür angelangten, ist er stehengeblieben und hat mich angefleht: „Hör zu, ich habe dir doch nichts getan. Bitte tu mir nicht weh.“ Sein Geflenne hat mich nur noch wütender gemacht. Ich habe ihm den Gewehrlauf in den Rücken gedrückt und gesagt: „Geh ins Haus rein.“ Er hat sich gewehrt und mich nochmal angefleht, ihn nicht zu erschießen. Das hat mich noch mehr aufgebracht. Also habe ich völlig die Geduld verloren und gesagt: „Fick dich“ und habe ihn da, wo er war, erschossen.
Die „Unsinnigkeit“ und die „Bösartigkeit“ passen genau zu einem Fall, mit dem wir uns direkt auseinandergesetzt haben: FALL F: MORD Ich war gerade aus dem Gefängnis der Stadt X gekommen. Sie hatten mir Hausarrest verpasst, aber ich bin nicht nach Hause gegangen. Ich bin dahin gegangen, wo ich wollte, auch weil es Sommer war... es war August des Jahres... . Ich war vorher schon ein paar Mal im Knast gewesen und wusste deshalb, was auf mich zukam: Gefängnis war und ist das Letzte, wovor ich Angst habe. Also ging ich zu einer Freundin, auch in X, eine halbe Alkoholikerin, die mir ihre Wohnung überlassen hatte, weil sie mit ihrem Freund zusammen war. Ich habe sofort angefangen das gleiche Leben wie vorher zu führen. Diebstähle, Überfälle... immer dabei, mir etwas Geld zu verschaffen, teilweise zum Überleben, teilweise für Drogen. Ich hatte zwei Drogenfreunde: den jüngsten Mitangeklagten von mir, Y, der damals achtzehn Jahre alt war... ein Junge... und seine Freundin, Z. Es tat mir leid zu sehen, wie sie von einer Pension zur anderen wanderten. Es war gerade September geworden und sie waren aus einer Wohngemeinschaft ausgezogen... . Sie taten mir ein bisschen leid. Einen Tag vor dem Mord habe ich eine Freundin getroffen und ihr gesagt: „Hör zu, da dein Freund im Knast sitzt und ihr im gleichen Haus wohnt, wieso lässt du diese jungen Leute nicht eine Zeit lang bei dir wohnen?“ Und sie antwortete: „Ja, OK, lass sie zu mir kommen.“ Ich habe diesem jungen Freund von mir nahegelegt: „Bring niemanden mit. Ich kenne sie und ich kenne ihren Freund... lass mich eine gute Figur machen, weil ich dir schließlich helfe... . „Stattdessen hat
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er jemanden mitgebracht, während ich und meine Freundin unterwegs auf der Suche nach Kokain waren. Am Ende des Abends habe ich sie nach Hause begleitet und sie vor dem Haus rausgelassen und bin weggefahren. Am nächsten Morgen waren wir verabredet und sie hat mir sofort gesagt: „Y hat jemanden nach Hause gebracht, der sogar versucht hat mich zu vögeln...“. Und ich: „Was meinst du damit, dass er versucht hat dich zu vögeln? Wie denn?“ Sie hat ihren Ärmel hochgezogen und mir gezeigt, dass ihr Arm voller blauer Flecke war. Da war ich nicht mehr... und habe gesagt: „So was gefällt mir gar nicht!“ Offensichtlich hatte er ihr es vorgeschlagen, sie wollte nicht und er, unter starker Wirkung von gerauchtem Kokain... denn Schwarze rauchen normalerweise den Koks... wollte sie vögeln. Sie wollte nicht, er hat versucht es mit Gewalt durchzusetzen... aber er hat es nicht geschafft und ist abgehauen. Nachdem sie mir erzählt hat, was passiert ist, konnte ich es nicht mehr ertragen und habe zu ihr gesagt: „Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um die Situation.“ Ich kannte diesen Typen, allerdings nicht sehr gut... . Es fing so an, dass Z, die Freundin von Y, in einem Lokal, in das auch Schwarze gingen, arbeitete, und an diesem Abend hat sie diesen Schwarzen mit zu sich nach Hause genommen. Da wurde ich richtig wütend... denn abgesehen davon, dass ich wegen ihnen eine schlechte Figur machte und das vor einer Freundin, die ich respektiere... ist es eine Sache, die wirklich nicht OK ist. Außerdem sah es so aus, als ob ich daran schuld wäre und mit vor allem mit Farbigen wollte ich eigentlich nie etwas zu tun haben... . Ich befinde mich auf der einen Seite und sie auf der anderen. Ich habe diesen Y den ganzen Tag lang gesucht, ihn aber nicht gefunden. Am Abend kam er dann zu mir und sagt: „Hey, ich hab etwas Kokain...“. Und ich: „Ja, ja... aber du und ich müssen uns unterhalten: hör zu, dieser Neger, den du nach Hause gebracht hast, wer ist das?“ Und er: „Wieso? Was ist denn passiert?“ „Du weißt nicht, was passiert ist?“ Und er: „Ich habe wirklich nichts gesehen... als deine Freundin kam, habe ich geschlafen...“. Also habe ich ihm erzählt, was passiert war und habe hinzugefügt: „Bring mich zu ihm, ansonsten werde ich mich mit dir anlegen und du kriegst die Messerstiche ab.“ Die Absicht ihm wehzutun hatte ich trotzdem, aber ich wollte ihm nicht besonders wehtun. Wir sind dann bei K angekommen, einem anderen Mitangeklagten und ich habe ihm mit folgenden Worten vorgeschlagen: „Lass uns dieses Stück Scheiße schnappen, und schaffen wir diese Angelegenheit aus der Welt!“ K stellte Fragen, er wusste nicht was und wie er es tun sollte, denn obwohl er fünf Jahre älter war als er, ein Anfänger, was das Leben auf der Straße betrifft. Von den „Gesetzen der Straße“ verstand er nicht viel. Er interessierte sich bloß für Drogen. Also erklärte ich ihm, was unbedingt getan werden musste: „Hör zu, wir schnappen uns diese Person – wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ob der Typ groß war oder nicht – wir locken ihn mit Koks in das Auto und bringen ihn in die Hügel. Wenn wir einmal da sind und du sieht, dass ich mich schon in Aktion befinde, nimmst du den Schlagstock... und wir sind mit allem in zehn Minuten fertig. Ich setze mich nach hinten und nehme in mit den Schnürsenkeln und du schlägst ihm die ganze Zeit auf die Beine. Wenn du siehst, dass er blutet oder dass sie Beine gebrochen sind, ziehen wir ihn aus dem Auto, hauen ab und lassen ihn dort.“ Die Absicht ihn zu töten gab es also nicht. Ich war total zugekokst, von dem Koks vom Schwarzen, denn das Koks, das Y hatte, war von ihm. Ich kokste von morgens bis abends... und abends, um einzuschlafen, spritzte ich mir Heroin. Wir gingen ihn holen. Ich brauchte eine Ausrede, damit er ins Auto einstieg und
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Drittes Kapitel ihm dann wehzutun, denn einer, vor allem ein Dealer, steigt nicht einfach so mit dem erstbesten ins Auto. Also ging Y in sein Hotelzimmer und sagte zu ihm: „Hör zu, da sind zwei Leute, die dein Koks kaufen wollen, alles was du hast...“. Als der Schwarze das Hotelzimmer verließ, sagte er etwas, das typisch für Araber, für Moslems war: „Wenn Gott will, sehen wir uns.“ Wenn Gott will... . Und man sieht, dass Gott an diesem Abend nicht wollte! Wir sind dann in den Hügeln angekommen, denn in X beging man die gewalttätigeren Verbrechen alle in den Hügeln, denn dort kann dich niemand hören. Sobald wir dort ankamen, habe ich ihm einen Schnürsenkel um den Hals gelegt. Er verteidigte sich mit der Kraft der Verzweiflung... teilweise, weil er erstickte, teilweise, weil dieser Spasti von K ihn ins Gesicht, anstatt auf die Beine knüppelte. Ich hatte während der Fahrt die ganze Zeit ein Messer unter dem Oberschenkel und ich hatte es völlig ruhig getan, denn es war schließlich nicht das erste Mal, dass ich so was tat... und ich kannte meine Grenzen. Als ich sah, dass der Typ, mit der Kraft der Verzweiflung sich den Kopf zu schützen, es schaffte K den Schlagstock abzunehmen und ihm den Kopf einzuschlagen... . Oh je! Also bin ich richtig ausgeflippt... ich habe jede Gelassenheit verloren... mich hat die Wut gepackt und ich begann ihn zu erstechen. Ich habe das Messer genommen und habe mich sofort geschnitten... denn das Messer war gut geschliffen... . Ich habe alle Messerstiche mit der Spitze ausgeführt... mit dem ganzen Messer. Nach dem ersten Stich beruhigte er sich, weil er verstand, dass derjenige, der ihm Stockhiebe, gab ein Anfänger war und ich es nicht war. Dann hat er sich umgedreht, direkt mit dem Gesicht meinem zugewandt und fragte mich: „Wieso erstichst du mich?“ Und ich antworte: „Du weißt weshalb!“ Ich habe oft zugestochen. Das Schlimme war, dass er nicht umfiel, also musste ich ihm mehr Stiche als nötig versetzen. Vielleicht fiel er nicht um, weil er verstand, dass er, wenn er unten landete, erledigt war. Als ich ihn auf dem Boden zurückließ und wir ins Auto stiegen, um wegzufahren, drehte ich mich Richtung Tor um, wo ich ihn zurückgelassen hatte und er war nicht mehr da. Ich sah, wie er Richtung Gegensprechanlagen kroch. Also bin ich dort hingegangen und habe ihm den Hals durchgeschnitten und habe gesagt: „Wenn ich dir zwanzig gegeben habe und sie dir nicht gereicht haben, so geben ich dir jetzt den einundzwanzigsten Stich und du bewegst dich nicht mehr!“ Als ich aufhörte, war es schon spät... .
Frustriert-bösartige Interpretationen Die letzte Typologie von Situationsinterpretationen ist die „frustriertbösartige“, die auf zwei bereits behandelten Interpretationen besteht: der „frustrierten“ und der „bösartigen“. Auch hier besteht der Prozess aus drei Phasen. In der ersten erzählt der Täter sich selbst, indem er das Verhalten des Opfers annimmt, dass dieses sich gegen einen spezifischen Aktionsplan, an dem es nicht teilnehmen will, wehrt oder sich wehren wird oder dass es an einem bestimmten Handlungsplan teilnehmen müsste, an dem es nicht teilzunehmen gedenkt. In der zweiten Phase erzählt der Täter sich selbst, indem er das Verhalten seiner „PhantomGemeinschaft“ annimmt, dass das Opfer böse ist, weil es aufdringliche und
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hinterhältige Gesten verübe. Schließlich entscheidet er, auch indem er die Sichtweise der eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ annimmt, dass er mit Gewalt reagieren muss und bereitet so seinen Handlungsplan vor. Kennzeichnend für diese Interpretation, dass sie als „frustriert“ beginnt und dann auch Eigenschaften der „bösartigen“ Interpretation annimmt. So stellt das Opfer, aus der Sicht des Angreifers, nicht mehr bloß ein Hindernis bei seinem Versuch, die „Herrschaft“ zu übernehmen dar, einen „unbequemen“ Gegner, den es zu eliminieren gilt, sondern wird auch als besonders verabscheuenswert erlebt. Die „frustriert-bösartige“ Interpretation enthält zwei Gefühle: die anfängliche Wut, die aus der frustrierten Phase stammt, die bald von dem Hass abgelöst wird, den der Täter für das Opfer empfindet. Ein Beispiel: FALL 21: SCHWERE KÖRPERVERLETZUNG30 Ich war in der Bar des Viertels und trank neben dem Typen ein Bier: ich wusste, dass er schwul war. Er zeigte ständig allen sein Geldbündel, also überlegte ich mir ihn anzusprechen. Wir begegneten uns mehrmals an der Toilette und ich versuchte, ihn mir zu ködern, aber er verhielt sich aalglatt [er zog nicht einen Dollar hervor], also schlug ich ihn. Er verließ dann die Bar und drohte damit, die Polizei zu rufen. Ich dachte, dass er eine verdammte Schwuchtel war und dass ich ihn hätte ausrauben und ihm sein scheiß Gesicht hätte einschlagen sollen. Also folgte ich ihm. Ich ging zu seinem Haus, klopfte an die Tür, aber er öffnete nicht. Ich wurde wütend und trat die Tür ein. Also näherte sich mir der Junge, mit dem er zusammenwohnte. Die Tatsache, dass sein Freund da war, machte mich noch wütender, also schlug ich ihn zusammen. Der Junge floh aus der Haustür. Dann sah ich die Schwuchtel, die reglos rumstand und mich ansah. Das machte mich rasend. Ich dachte, dass es eine gute Gelegenheit war ihn, auszurauben und Hackfleisch aus ihm zu machen. Wenn ich es schon machte dann richtig. Ich steckte ja sowieso schon in den Schwierigkeiten. Sie stecken dich genauso lang rein, wenn du gute Arbeit gemacht hast, wie wenn es scheiße gemacht wurde. Ich wollte Hackfleisch aus ihm machen. Ich begann ihn zu treten.
Als Kommentar bemerken wir, dass im Augenblick, in dem der Angreifer dem Opfer den ersten Schlag verpasst, er sich so verhält, weil es ihn „frustriert“, dass seine Beanspruchung von „Herrschaft“ vereitelt wird. In der folgenden Sequenz verliert der den ursprünglichen Grund für seine Gewalttat aus den Augen, um sich ausschließlich auf das bösartig Bild, das er vom Opfer hat, zu konzentrieren. An diesem Punkt bestätigt ihm jede Geste des Opfers, dass es sich über ihn lustig macht, ihn verspottet und erniedrigt.
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Athens (1997, S. 40–41), zitiert b. Rhodes (1999, S. 66).
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Drittes Kapitel
Die „frustrierte-bösartige“ Interpretation kommt auch in zwei von uns durchgeführten Interviews vor, einem Gattenmord und einem grausamen Mord, der im Gefängnis an einem Mitgefangenen verübt wurde. FALL D: GATTENMORD Jemand hatte mir den Floh ins Ohr gesetzt [dass meine Frau sich von mir trennen wollte]. Als ich mit ihm telefonierte fragte ich: „Sag mal... hast du in letzter Zeit meine Frau getroffen?“ „Nein“, war seine Antwort. Also insistierte ich: „Erzähl doch keinen Scheiß, sonst tu ich dir sehr weh.“ Und er: „Nein, nein... ich versichere dir, es stimmt.“ Eines Tages... nach der Arbeit... während ich auf dem Weg war mein Auto zu waschen, stoße ich auf diesen Typen... und sage zu mir: „Jetzt sage ich es ihm ins Gesicht“. Nachdem ich ihm gefolgt war, komme ich schließlich an einen kleinen Platz an und sehe dort das Auto im Stillstand. Die Beifahrertür stand offen und meine Frau saß da mit einem wütenden, sehr nervösen Gesicht. Also steige ich aus, ging zu der Seite, auf der sie sich befindet und sage, völlig ruhig: „Also jetzt musst du mir aber erklären was das für eine Geschichte ist.“ … sie fing sofort an zu schreien. Dann sagte der Typ zu ihr: „Soll ich dich begleiten?“ Und sie: „Nein, nein... ich gehe mit ihm“. Der Typ geht, sie steigt zu mir ins Auto und ich sage zu ihr: „Gehen wir zu deiner Schwägerin...“, einer, die sich in solchen „komischen“ Situationen einmischte und die Rolle einer Vermittlerin einnahm. Doch meine Frau fing wieder sofort an... und ich sagte: „Gib mir einen Biss von deinem Wassereis.“ Und sie: „Nein, du ekelst mich an!“ Also trank ich ein wenig Wasser. Und sie wieder: „Du ekelst mich an!“ immer noch wütend. Und ich, indem ich zum eigentlichen Gespräch zurückkehrte: „Wieso gehst du denn nicht nach Hause?“ in einem immer noch wütenden Ton. Und sie: „Nein, jetzt habe ich mich schon entschieden, ich hab’s dir gesagt!“ Zu diesem Zeitpunkt gehen wir Richtung Auto und genau da passierte praktisch die Tat. Ich sagte zu ihr: „Lass uns einen Sandwich bei Y essen“, einem Ort, wo wir manchmal hingingen. Und sie: „Nein, ich habe doch gesagt, dass ich nicht mit dir gehe, du ekelst mich an...“. Wir befanden uns fast am Stadtrand, in der Nähe der Siedlungen, dort, wo sie praktisch versucht hat auszusteigen. Ich habe sie also festgehalten, damit sie nicht aussteigt. Wir sind 10 km/h gefahren, ich weiß nicht wie schnell... in der Siedlung, wo all die Häuser sind. Indem ich sie zu mir zog, während sie versuchte auszusteigen... hatte sie praktisch ihr Gesicht Richtung Rückseite des Autos... praktisch zwischen den Armlehnen der beiden Sitze und lehnte ihren Hals da drauf, wo der Aschenbecher ist... ich hielt sie also praktisch dort eingequetscht... . Meine Aufmerksamkeit galt dem Verkehr, dem Fahren... denn ich hielt sie mit meinem Körpergewicht, nicht dass ich Kraft eingesetzte habe, es war mein Körpergewicht, das sie hielt. Und dann schlug meine Frau auch zu. Sie hatte einen braunen Karategürtel, sie war ja nicht aus Zucker. Sie fuhr mit dem Sprinter durch die Gegend und lieferte aus und stritt und prügelte sich um einen Stellplatz. Ich hielt sie fest, weil sie versuchte auszusteigen, aber als sie sich in dieser Position befand, in der sie sich nicht mehr bewegen konnte, hielt ich sie vor allem mit meinem Gewicht... . Als sie zu mir gesagt hat: „Du ekelst mich an!“ hat sie mich sehr verletzt. Während sie versuchte auszusteigen, habe ich zu ihr gesagt: „Wieso denn... du hast doch
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immer mit mir gegessen?“ Wir aßen nämlich oft zusammen in dieser Bar. Also habe ich gedrängt: „Wieso solltest du nicht mitkommen? Du musst mitkommen...“. Die Tatsache, dass sie zu mir sagt: „Du ekelst mich an!“ hat mich sehr verletzt. Ich dachte: „Wieso willst du genau jetzt nicht mitkommen?“ Und das störte mich, noch mehr als zu stören... machte es mich wütend. Es war keine glühende Wut... aber eine Wut, die mir innerlich weh tat... . Es war in diesem Augenblick so als ob ich mich... nicht als Herr... aber zumindest irgendwie sagen wollte: „Du musst!“ „Wieso willst du nicht?“ Meiner Meinung nach ging es mir darum, mich durchzusetzen... einen Willen, mich in diesem Augenblick durchzusetzen, meinen Willen, d.h.: „Du wolltest nicht mit mir kommen, aber du musst mit mir kommen“. So, als ob ich sagen würde: „Nein, wir machen, was ich sage...“ „Wir wollen, also ich will... diesen Sandwich mit dir essen gehen. Wieso willst du nicht mitkommen, wieso musst du ‘nein’ sagen und vor allem: ‘Du ekelst mich an’? Aus welchem Grund musst du so etwas zu mir sagen?“ Also bekommt man das Gefühl, zwingen zu müssen... und zu sagen: „Komm jetzt mit mir mit und dann sehen wir, ob ich dich anekle! Wieso ekel ich dich an?“ In diesem Moment habe ich sie gehasst... . Hassen ist das richtige Wort dafür. Mein Beharren... denn ich habe eine schlechten Charakter, ich beharre auf etwas und oft kann nicht abwarten... und hier... als sie... das Glas mit Wasser... und ich habe sie nach einem Schluck gefragt... war schon fast ein Versuch irgendwie akzeptiert zu werden. Ihr ‘Nein’, das sie mit einer gewissen Geringschätzigkeit gesagt hat... war ein sehr hartes ‘Nein’... und dann noch ihr „du ekelst mich an“, das sie dann nochmal mit dem Wassereis wiederholt hat, als ich sie fragte, ob ich einen Biss von ihrem Eis haben konnte... und dann noch das „Nein“, das „Du hast mich schon immer angeekelt“... war schon fast unannehmbar. Erst fühlte ich... deshalb war es schrecklich ihre Worte zu fühlen, schrecklich... ein schreckliches Gefühl... . Es war ein Dolchstoß... es ist eine schreckliche Sache, erniedrigt zu werden.
FALL E: MORD Es passierte 19..., nach zwei Jahren Haft... . Damals befand ich mich im Gefängnis X und war fast schon ein vorbildlicher Häftling... . Ich arbeitete in der Schneiderei, denn ich war ein guter Schneider. Damals herrschte ein Klima... man prügelte sich nicht einfach und damit hatte es sich. Man musste immer mit einer Messerstecherei rechnen... . Da waren immer Leute von der Camorra, Mafiosi... .Und da war auch der Typ, den ich umgebracht habe. Er saß wegen Mordes... . Und er machte sich wichtig... . Solange niemand Streit mit mir suchte, war ich ein vorbildlicher Häftling, ich kümmerte mich nicht um die anderen... . Und was passierte? Es gab da ein Spielzimmer, wo wir uns alle aufhielten. Ich war gut im Billardspielen und es wurde viel gewettet, um das Spiel interessanter zu machen, nicht so sehr um der Wetten selbst willen. Da war auch dieser eine, der mich bis zum schicksalhaften Tag nie gestört hatte... . Was passiert also? Wir spielten Billard und dieser Typ kam manchmal mit seinen Messern... er warf eines auf die Tischtennisplatte und sagte: „Wer ist dieser Gauner?“ Er sagte das, weil dort die Leute von der Camorra waren und noch andere. Also, solange er mich nicht anrührte... war mir das scheißegal. Mir ging er auf den Sack, weil er einen auf Gauner machte, und weil ich gut im Streiten war, wusste ich, dass ich ihn zusammentreten konnte, wann ich wollte... . Aber ich hielt die Klappe solange er mich nicht anrührte... . Aber in Wahrheit...
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Drittes Kapitel wünschte ich mir heimlich, dass er mir eines Tages wehtun würde, damit ich ihn schlagen konnte. Aber nicht um ihn umzubringen. Ich hatte nie daran gedacht ihn umzubringen... . Nur um ihm zu zeigen, dass er den Schwanz einziehen sollte. Ich dachte: „Ich hoffe, dass du es dieses Mal auf mich abgesehen hast. Wenn es so ist, mache ich ihn fertig... ich sehe ihn schon mit einem blutverschmierten Gesicht vor mir.“ Einfach so, um ihn vor den anderen zu erniedrigen... denn als er vor den Leuten der Camorra einen auf Gauner gemacht hat, sind die einfach ruhig geblieben... und je öfter ihm das gelang, desto mehr plusterte er sich auf, er war stolz auf sich... . Eines Tages, als er mich spielen sah, sagte er zu mir: „Willst du mit mir Billard spielen? Um was wetten wir?! „Einen Kaffee“, antwortete ich. „Nein, lass uns doch um eine Stange Marlboro spielen“, sagte er. Weil er mich immer nett und ruhig erlebte, sah er mich nicht als schlechten Umgang. Vielleicht, weil ich immer für mich blieb. Jedenfalls begannen wir zu spielen. Und ich gewinne. Also sage ich ihm: „Eine Stange Marlboro!“ Und er: „Nein, wenn du mir keine Revanche gibst, kriegst du sie nicht.“ „Also gut...“. Und ich gewinne wieder. „Das macht dann zwei.“ Und er: „Gib mir doch noch eine Revanche.“ Und ich gewinne wieder. Schließlich habe ich ihm gesagt: „Hör zu, ich will nicht alle drei Stangen Marlboro haben. Gib mir bloß eine und dann ist gut.“ Und er: „Ich gebe sie dir nicht.“ Doch ich sage zu ihm: „Hör zu, ich will die Zigaretten haben. Weil du noch einen auf Gauner gemacht hast, habe ich dir drei Mal eine Revanche gegeben... und jetzt will ich sie haben!“ An diesem Punkt habe ich mich nicht so sehr wegen der Zigaretten aufgeregt, sondern weil es eine Frage des Prinzips war. Nur, weil es schon Zeit war die Zellen zu schließen, habe ich sie mir nicht sofort genommen. Ansonsten hätte ich mich sofort beeilt... und vielleicht wäre es nicht einmal zum Mord gekommen. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich an diese Sache denken musste... . Er hatte ein Messer und ich nicht, und ich dachte: „Hm, mal sehen...“. Jedenfalls habe ich am folgenden Tag zu mir gesagt: „Jetzt geh ich zu ihm...“. Es stimmt jedenfalls, dass ich gedacht habe: „Vielleicht schenke ich sie ihm... einfach um Diskussionen zu vermeiden.“ Ich komme bei ihm an, er hatte schon das Messer in der Hand, und sage zu ihm: „Die Zigaretten!“ Er dachte, dass weil er ein Messer in der Hand hielt, ich Angst bekommen würde. Ich hatte Angst, aber nicht so sehr, dass ich abhauen wollte, wie ein Schwächling. Jedenfalls war die Angst schon da, ich wäre dumm gewesen, keine zu haben. Jemand, der keine Angst hat ist dumm... . Ich bin in seine Zelle rein und habe gesagt: „Hey, die Zigaretten!“ Ich habe ihm das Messer weggenommen, habe mich umgedreht und bam! Ich habe ihm einen Schlag versetzt, der ihn k.o. geschlagen hat... . Er hat das Messer aus der Hand verloren und ist zu Boden gefallen. Dann habe ich ihm einen Tritt in die Seite verpasst und war schon dabei zu gehen... als er wieder zu sich kam und zu mir sagte: „Jetzt töte ich dich!“ Ich bin Sarde. Er war Sarde. Wenn ein Sarde zu dir sagt: „Ich töte dich!“... ich weiß nicht, ob das immer noch so ist, aber damals... da musstest du damit rechnen. Auf sardisch: „Immoe ti boccio, jetzt töte ich dich.“ Als ich zu ihm gegangen bin, um mit ihm zu streiten, haben mich zwei Freunde begleitet, denen ich geraten habe: „Bleibt ihr stehen, falls sich andere Leute einmischen... sind wir zu dritt und machen sie alle fertig“. Denn damals war ich gut im Kämpfen... . Als Junge war ich ein guter Boxer und dann wurde ich auch gut im
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Treten. Also, was passierte dann? Als dieser Typ zu mir sagte: „Ich töte dich“, habe ich mich umgedreht und gerufen: „Wen bringst du um? Ich habe dir nichts getan!“ Ich habe sein Messer genommen und gesagt: „Ich töte ihn jetzt sofort.“ Denn in so einer Situation bleibt keine Zeit nachzudenken: Entweder tötest du ihn oder er tötet dich. Also habe ich ihm einen Messerstich verpasst. Ich habe das vorher noch nie getan und als ich sah, dass er sich bewegte, habe ich weitergestochen... mit einem sardischen Messer, das auch Knochen durchschneidet. Da ich noch nie zuvor jemanden getötet habe, wusste ich nicht, obwohl ich es nicht mal absichtlich getan habe, dass jeder Stich zufällig tödlich war, wie „die Spurensicherung“ sagte... denn es ist ja nicht so, dass ich gezielt hätte. Beim ersten Mal wurde sein Herz zerstochen und während ich das tat, sagte ich zu ihm: „Wen tötest du?“ und das sagte ich auf sardisch. Und er macht: „Ah.“ Er hat den Arm wie zum Schutz erhoben, aber der Stich war inzwischen schon erfolgt. Ich habe ihm in den Arm und das Herz gestochen... und er bewegte sich noch. Also habe ich ihm nochmal in die Leber gestochen und er bewegte sich noch... nochmal in die Nieren und er bewegte sich... also habe ich... noch willkürlich zugestochen, nicht, dass ich gezielt hätte. Schließlich dachte ich: „Scheiße“, habe ihm das Messer an den Hals gelegt und ihm den Kopf abgeschnitten und dachte: „Nun werden wir sehen, ob du dich noch bewegst...“. Einer von denen, die das alles mit angesehen hatten, war total schockiert, weil überall Blut lag... besonders als ich ihm den Kopf abgeschnitten habe, das Blut... . Ich habe mich sogar darüber erschrocken, dass ich so etwas getan habe. Stell dir erst den vor! Also hatte ich den Gedanken, auch ihn umzubringen, weil ich dachte, dass er herumspionierte. Meine Freunde haben nicht eingegriffen, weil sie gesehen haben, dass ich es alleine schaffe... . Aber sie haben mich in Dialekt gefragt: „Was hast du getan?“ und ich: „Oh, hört auf! Es ist nun einmal passiert!“ Und dann war da noch der eine, völlig erschrocken. Ich habe ihn ins Badezimmer gebracht und gedacht: „Jetzt töte ich den auch noch, sonst petzt er noch und dann muss ich dafür bezahlen.“ Ich habe es nicht getan, weil ich kein Krimineller bin, sonst hätte ich ihn getötet und hätte nicht hier sein können, um euch das zu erzählen, weil ich schon draußen wäre... . Jedenfalls schwört er mir: „Nein, ich weiß von nichts, ich habe nichts gesehen...“. Und ich erwidere ihm: „Hast du gesehen, was mit ihm passiert ist? Wenn du herumspioniert, wirst du auch noch so enden!“ Und bin gegangen.
Probleme der Realisierung der Handlung: Eindeutigkeit der Anleitung, einschränkende Beurteilung und „overridding“ Das Material, aus dem Athens die verschiedenen Interpretationsarten gewonnen hat, besteht aus den ersten 58 Interviews, die in Violent Criminal Acts and Actors Revisited zitiert wurden und in denen die Häftlinge die Art und Weise, sowie die Übergänge erklären, die den strafrechtlich relevanten Gewalttaten vorausgingen und sie vorbereiteten. In jedem der Erlebnisse, das er sich angehört hat, findet sich eins der vier Interpretationsarten der Situation wieder. Damit könnte bewiesen werden, dass dort, wo eine kriminelle Tat vorliegt,
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zwangsläufig eine dieser Interpretationen vorangegangen ist. Tatsächlich ist die Verbindung zwischen Interpretation und Gewaltakt nicht eineindeutig: denn als Athens dazu überging, Episoden von „Quasi-Gewalt“ zu analysieren – d.h. Situationen, in denen der Handelnde sich der Durchführung der Handlung angenähert, sie jedoch nicht realisiert hat – konnte er feststellen, dass auch in solchen Fällen die beschriebenen Interpretationen stattfanden. Dies deutet darauf hin, dass wenn dem Vorkommen einer Gewalttat eine „typische“ Interpretation vorausgeht, Letztere nicht unbedingt zu einem gewalttätigen Ausgang führt. Anders ausgedrückt, decken die „physisch defensiven“, „frustrierten“, „bösartigen“ und „frustriert-bösartigen“ Interpretationen ein weiteres Aktionsspektrum in Bezug auf das Extrem ab, das vom gewalttätigen Handeln repräsentiert wird. Diese Überlegung ist von enormer Wichtigkeit, denn es gibt auch nichtgewalttätige Akte, die diese vier Interpretationsarten kennen, was bedeutet, dass für die Durchführung noch andere Prozesse, andere Phasen notwendig sind, die natürlich noch ermittelt werden müssen. Und nicht nur dies: Wenn andere Prozesse, andere Phasen notwendig sind, bedeutet dies, dass die „typische“ Interpretation nicht deterministisch zur Gewalttat führt, die sich somit als immer noch problematischer erweist, als man darstellen kann. Das Plus dieser Sichtweise im Vergleich zu dem Erklärungsmodell der linearen Kausalität ist klar zu sehen, während das der prozessualen Kausalität – wonach jede einzelne Phase sich „entwickeln“ muss, bevor der Stab an die nächste weitergegeben wird – hier zu einer wichtigen Anwendung kommt. Analysieren wir nun die weiteren Elemente, die nach Athens zu der Durchführung – oder auch der Nicht-Durchführung – der Gewalttat führen.
Eindeutigkeit der Anleitung Mit dem Ausdruck „Eindeutigkeit der Anleitung“ wird auf die Situationen Bezug genommen, in denen der Akteur, sobald er sich zu einem gewalttätigen Handlungsplan entschlossen hat, diesen durchführt, da er keine überzeugenden Alternativen sieht. Er hat einen „Tunnelblick“ in dem Sinne, dass die Anleitungen, die er sich bezüglich des zukünftigen Verlaufs der Aktion selbst gibt, den kürzesten Weg in Richtung eines gewalttätigen Ausgangs darstellen. Es handelt sich um eine Art Kristallisierung der anfänglich herausgebildeten Interpretation. Im hier zitierten Fall kristallisiert die „Eindeutigkeit der Anleitung“ eine „bösartige“ Interpretation:
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FALL 33: SCHWERE KÖRPERVERLETZUNG31 Ich war bei meiner Freundin zu Hause, wir tranken Wein und rauchten Drogen. Es war spät, und ich musste ein Taxi rufen, um nach Hause zu kommen, denn ich hatte mein Auto demoliert. Als das Taxi kam, öffnete ich die Autotür und der Taxifahrer fragte mich, wohin ich wollte. Ich habe ihm gesagt, dass ich in die Via… wollte und er antwortete: „Also das sind mehr als zehn Meilen. Sie müssen mich vorher bezahlen, ansonsten kann ich Sie nicht fahren.“ Ich wurde richtig wütend, weil ich nach Hause wollte und ich kein Bargeld hatte, um ihn vorher zu bezahlen. Also habe ich zu ihm gesagt: „Du bist ein alter, verrückter Bastard. Ich habe schon oft ein Taxi bis dahin genommen und ich musste noch nie vorher bezahlen. Mein Vater bezahlt dir die Fahrt, sobald wir ankommen. Hier ist mein Portemonnaie, du kannst meinen Namen sehen.“ Er sagte: „OK, steigen Sie ein. Regen Sie sich nicht auf, ich glaube Ihnen. Ich brauche Ihre Dokumente nicht sehen.“ Sobald wir losfuhren, erzählte er mir von all den Malen, in denen er von seinen Kunden abgezockt worden ist. Ich habe mich gefragt: „Wieso erzählt mir diese alte Sack all seine scheiß Geschichten? Ich habe nicht die Absicht ihn zu verarschen. Ich habe ihm doch gesagt, dass ich ihn bezahlen werde.“ Ich blieb sitzen, ohne ein Wort zu sagen und er fuhr fort von den ganzen Leuten zu erzählen, die ihn betrogen haben und von anderen persönlichen Problemen. Also dachte ich: „Verdammt, ich habe viel mehr Probleme als er. Er muss echt schwach sein, dass er einem Fremden all seine persönlichen Probleme erzählt.“ Ab diesem Augenblick brachten all seine Beschwerden mein Blut zum Kochen. Dieser alte Sack hatte mich echt angeödet. Als das Taxi in die Straße einbog, in der ich wohnte, dachte ich mir: „Dieser alte Bastard ging mir schon auf den Sack, bevor ich ins Taxi gestiegen bin, und die ganze Fahrt lang hat er sich nur beschwert. Verdammter Hurensohn, jetzt schneide ich dir deinen scheiß Hals durch.“ Sobald das Taxi anhielt, zog ich mein Messer raus und durchbohrte ihn damit.
Im nächsten Fall handelt es sich um eine „Eindeutigkeit der Anleitung“, die eine „physisch defensive“ Interpretation kristallisiert: FALL 37: MORD32 Ich war bei einem Freund zu Hause und wir tranken einfach Whiskey zusammen. Ein anderer Typ kam und wir fingen an Würfel zu spielen und um kleine Mengen Geld zu wetten. Nachdem wir eine halbe Stunde lang gespielt hatten, begann ich die Wirkung des Whiskys zu spüren und ich entschied, dass es besser war, zu gehen. Ich sagte, dass ich gehen müsste, und ich sammelte meine Würfel ein und verstaute sie in meiner Hosentasche. Dann sprang X auf die Beine und sagte: „Wieso hast du dir die Würfel genommen?“ Ich antwortete: „Weil ich nicht mehr spiele und weggehe.“ Und er sagte: „Du kannst jetzt nicht aufhören. Du musst mir die Möglichkeit geben, etwas von meinem Geld zurückzugewinnen.“ Ich wusste nicht, was er gegen mich hatte, schließlich hatte ich nicht das ganze Geld gewonnen. Ich 31 32
Athens (1997, S. 43–44). Athens (1997, S. 44–45).
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Drittes Kapitel sagte ihm: „Hör zu, ich habe keine Lust mehr zu spielen, ich muss noch woanders hin.“ Da brachte er sein Gesicht nahe an meins und sagte: „Du gehst nicht weg, du Bastard!“ Ich dachte: „Es hat keinen Sinn mit ihm zu sprechen; es ist unmöglich vernünftig mit ihm zu sprechen“, also sagte ich: „Und ob ich gehe! Ich sagte doch, dass ich keinen Bock mehr habe zu spielen.“ Er schaute mich an, mit seinen Augen, die aus den Augenhöhlen ragten, wie ein Irrer und rief: „Du dreckiger Scheißkerl, verdammter Loser!“ Ich verstand, dass ich mich in einer gefährlichen Situation befand. Ich wusste, dass dieser besoffene Idiot nicht ganz dicht war und ich bekam langsam Angst, weil ich wusste, dass er eine Pistole hatte und er sich keine Gedanken darüber machte, was er tat. Ich hatte gehört, dass er zuvor schon jemanden getötet hatte. Also sagte ich zu ihm: „Reg dich doch mit jemand anderem auf.“ Aber das machte ihn nur rasend. Er begann mit den Armen zu schwenken, er schrie mir „verdammter Loser“ entgegen und spuckte mir ins Gesicht. Ich sagte „dreckiger Bastard“ zu ihm und er schubste mich. In diesem Augenblick dachte ich, dass er mit mir wohl keine Zeit mehr verlieren würde, und als er eine Hand in seine Jacke führte, dachte ich, dass er seine Pistole suchen würde. Ich wusste, dass ich sofort handeln musste, also zog ich meine heraus und erschoss diesen verdammten Irren, bevor er es tun konnte. Ich hatte verdammtes Glück gehabt, dass ich mir eine neue Pistole gekauft hatte, nachdem ich die Woche zuvor ausgeraubt worden bin.
Auch im nächsten Beispiel betont der Mörder seine „Vorstellung“ im Zeitpunkt der Begehung der Tat, für die er verurteilt wird, ausschließlich auf Gewalt zurückgreifen zu können, anders als in anderen Situationen, denen er im Laufe seines Lebens begegnet ist. FALL A: MORD Doch in diesem Augenblick kam mir die Vorstellung, keine Gewalt anzuwenden, nicht einmal in den Sinn... ich habe nicht gesagt: „Ah, ich kann es so machen...“. Sobald er aufstand, stand ich auch auf, nahm das Messer und habe den Messerstich ausgeführt. Schon im Gymnasium hatte ich mich aus nichtigen Gründen oder anderen Sachen in Situationen befunden, in denen ich mich verteidigen musste... aber so, bis zu diesem Augenblick... niemals... bis zu diesem Punkt ohne Rückkehr nie, ich hatte bei diesen Gelegenheiten immer einen anderen Ausweg... während ich bei dieser keine Auswege sah... . Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass die Anwesenheit anderer Menschen im Schulgebäude, auf der Straße, die Tatsache vielleicht ein Mofa oder ein Fahrrad zu haben, mit dem ich dem ich wegfahren konnte... viele äußere Faktoren dazu beigetragen haben, zu denken: „Ah, vielleicht kann mich dieser Herr gen den Jungen verteidigen, der mich schlägt. Ah, da ist ja mein Haus, wenn ich renne, schaffe ich es.“ Einmal passierte es mir... sie hatten mich zu viert umzingelt und da handelt man instinktiv... ich nenne es eine instinktive Sache... ich schaute den Kleinsten der Gruppe an, versetzte ihm einen unglaublichen Stoß, ich stieß ihn drei, vier Meter weit weg. Auch da bekam ich eine Kraft, die ich eigentlich nicht habe... ich
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stieß ihn und rannte in eine Richtung. Die anderen drei folgten mir alle, ich machte eine Finte, rannte in eine Allee, bis ich ein Taxi fand, das mich nach Hause brachte. Nur um zu zeigen, dass ich auch anders reagieren kann... .
Einschränkende Beurteilung Tamotsu Shibutani hob analytisch hervor, dass das Individuum, wenn seine ursprüngliche Handlungslinie unterbrochen wird, eine gewisse Anzahl, von „Bildern“ produziert, die mögliche Alternativen darstellen, den unvorhergesehenen Situationen zu begegnen: jedes Bild steht für einen Handlungsplan, einen möglichen Weg, dem man folgen könnte, und das „reflexive Denken“ steht für einen Vergleich, eine Beurteilung und eine spätere Auswahl eines dieser „Bilder“. Gerade in ungewöhnlichen und unerwarteten Situationen begegnen Menschen ihren Emotionen und werden sich ihrer selbst stärker bewusst, denn, so schreibt Shibutani, die Unterbrechung / die Interferenz / das Versagen / das Aussetzen einer Aktion, die sich bereits im Verlauf befindet bietet Gelegenheit, mit Phänomenen wie Gedanken, Mitwissen und Willen zu experimentieren. „Weil emotionale Reaktionen dann entstehen, wenn eine zielorientierte Handlung auf ein Hindernis trifft, ist normalerweise eine Art von Orientierung eingeschlossen. Ein Mensch, der erschrickt, neigt dazu, zu fliehen, so wie ein wütender Mensch dazu neigt anzugreifen“ (Shibutani, 1961, S. 71–72).33 Also zwingt eine „problematische Situation“ dazu, sich bewusst in Richtung der „sozialen Objekte“ zu orientieren und zu versuchen, die Bedeutung der sozialen Handlungen zu interpretieren. Sich mit den Gedankengängen vertraut zu machen, die die Arbeit der symbolischen Interaktionisten ausmachen, hilft, als selbstverständlich angesehene Annahmen zu verwerfen und entscheidende Fragen begrifflich neu zu organisieren. Spricht man von „Willen“, „Zwecken“ und „Motiven“, so werden diese, allgemein gesehen, als „Ursachen“ der Tat gesehen. Die Interaktionisten erklären diese Prozesse auf eine gänzlich andere Weise: Ein anvisiertes Ziel hilft, die Schritte zu koordinieren, und ermöglicht, zumindest teilweise bewusst das eigene Handeln zu kontrollieren. Unter diesen Umständen wird willkürliches Verhalten als von einer Absicht getrieben erlebt; es orientiert sich an etwas, da es sich in Richtung eines Ziels, welches von einem Plan unterstützt wird, bewegt (Shibutani, 1961, S. 77).
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Nach Shibutani (1961, S. 73) „vollziehen sich emotionale Reaktionen unfreiwillig und sind biologisch begründbar, doch viele von ihnen ereignen sich in gesellschaftlich definierten Kontexten“.
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Drittes Kapitel
FALL D: GATTENMORD Rauchen... ich wollte mit dem Rauchen aufhören und mir blieb noch eine letzte Zigarette im Päckchen. Ich zündete sie mir an und dachte: „Scheiße!“ Ich habe mir das Datum auf die letzte Zigarette aufgeschrieben, sie in eine Packung Spielkarten gesteckt, da wo wir in der Zelle den Spiegel haben... in dieser Art Badezimmer, wir nennen es Bad... einen Spiegel, in dem man gut Sachen verstecken kann. Ich sah es als eine Herausforderung. Jeden Morgen... gab es fast schon ein Gespräch mit der Zigarette... nicht wirklich, nur so als Metapher gesagt. Und ich sagte: „verpiss dich“..., um mich stärker zu fühlen. Ich sagte: „Mein Wille muss stärker sein als der Wille zu rauchen.“ Für mich war es so... und ich habe aufgegeben... Es war eine große Genugtuung. Der Wille ist bei allem das Wichtigste... nicht, dass man alles erreichen kann, wenn man will. Aber es ist wichtig... .
Das Wort „Motive“ wird hier durch das komplexere Wort „Absichten“ ersetzt, was „Bilder einer Handlung, die erfolgreich durchgeführt wurde“ bezeichnet. Anders gesagt, sollen „Motive“ nicht mit „Impulsen“, wie das im umgangssprachlichen Gebrauch der Fall ist, dem „Anstoß“, der hinter den Dingen steht, mit den „Notsituationen“, die den Organismus in Bewegung versetzen, verwechselt werden, sondern sich beziehen auf „bewusst formulierte Ziele, die einer Bewegungsabfolge eine Richtung, Einheitlichkeit und Organisation geben. […]. Die Motive sind zu Beginn einer Handlung nicht vorhanden, sondern treten erst auf, nachdem eine Interferenz festgestellt wurde“. (Shibutani, 1961, S. 77–90). Man wird sich also seiner „Absichten“ und „Motive“ auf der Basis dieser Geste selbst bewusst und muss sich anstrengen, sich widersetzen, kämpfen. Eine sorgfältige Studie dieser beiden „Ziele“ muss zwei Ebenen berücksichtigen: Die erste führt zu den Zwecken, die der Täter explizit als Ziel und Leitfaden der Aktion erkennt, zurück. Die zweite bezeichnet alle jene Zwecke, die zwar zur intentionalen Seite der Handlung gehören, weil zu ihr motivieren, doch nicht immer, nicht in jedem Abschnitt, sofort vom Verstand des Subjekts abrufbar sind und eher schweigende Führer darstellen […]: wir beziehen uns nicht auf Dimensionen […] wie das Unterbewusstsein, sondern auf die generierende und konstituierende der sozialen Handlung, die von der expressiven Ordnung repräsentiert wird. […] [in der Tat] wird jede unserer Handlungen […] von Voraussagen […] gerade expressiver Natur, begleitet. Es sind die Effekte, die das Selbst und die Beziehungen betreffen, die Art, wie wir uns vor anderen geben, der Identitätssinn und Einheitssinn, den wir durch unser Handeln produzieren, die „Maske“, in der Sprache Goffmans, mit der wir uns selbst in verschiedenen Situationen zeigen (De Leo / Patrizi / De Gregorio, 2004, S. 45–46).34 34
„Viele Mordfälle […] scheinen gerade durch die Inkongruenz zwischen den Erwartungen an sich selbst und den durch die Handlung erreichten Zielen (beispielsweise der Ermordung des Partners, der droht, einen zu verlassen), das Überwiegen der expressi-
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In einem kulturellen Horizont, der sich von dem interaktionistischen unterscheidet, gelangt Minkowski paradoxerweise zu der Aussage, dass ein Mensch, der eine willkürliche Bewegung vollzieht, tatsächlich keinerlei Beweis für einen „Willen“ gibt, der sich nur da einmischt, wo sich Hindernisse oder Widerstände in den Weg stellen, wenn wir „beginnen, zu uns zu sagen“, dass ein Vorhaben nicht möglich ist, wenn „der Ruf nach einem Mehraufwand hörbar wird“: dann sprechen wir von Willenskraft, also von der Fähigkeit, unseren Weg fortzusetzen, jenseits des Hindernisses weiterzugehen, welches sich vor uns in den Weg stellt und dazu neigt, uns momentan zum Stillstand zu bringen. Der „Wille“ „reiht sich in das Leben ein, indem er dessen Ablauf gestaltet und den ganzen weiteren Weg beeinflusst“ (Minkowski, 1936, S. 19– 22).35 Diesem Aspekt stimmt auch Alexander Lowen, Vater der Bioenergetik, völlig zu, indem er darauf aufmerksam macht, dass jede Gewalttat Ausdruck einer Entscheidung ist. Die Aussage ‘ich will das machen’ könnte auch mit ‘ich bin entschlossen es zu tun’ ausgedrückt werden. Zu beiden Aussagen gehört ein Hindernis, gegen das der Wille aktiv vorgeht. Dort, wo es für einen Antrieb kein Hindernis gibt, ist kein Wille notwendig. Ich brauche meinen Willen nicht für etwas, das ich gerne tue. […] Das zu tun, was natürlich geschieht, benötigt weder irgendeine Art bewusster Anstrengung, noch einen Willensakt […] (Lowen, 2004, S. 4–5).
Kurz und gut, die Geschichte des Individuums lebt in seiner Gegenwart gemäß Verbindungen, die nicht das Kriterium der Kausalität erfüllen, sondern das der Selektion, die ver-
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ven Dimension über die instrumentale zu verdeutlichen. […]. In diesem Sinne kann die Straftat als attraktive Strategie, als syntone Lösung erscheinen, die, manchmal, mit einschneidenden Erlebnissen logisch verbunden ist, welche den sichersten oder schnellsten oder am meisten Gewinn versprechenden Weg darstellt, oder in anderen Fällen, zu den größten Vorteilen führt. Die gleiche Art der Straftat bringt so stark differenzierte kommunikative Funktionen hervor, sowie unterschiedliche Ebenen des Bewusstwerdens des Täters über die erwünschten Effekte“ (De Leo / Patrizi / De Gregorio, 2004, S. 47–48). Als eine empirische Erklärung dieses Gedanken verweisen wir auf Fall D. „Ich entscheide, mich auf dem kürzesten Wege an einen bestimmten Ort zu begeben, doch während ich gehe, treffe ich unterwegs unerwartet auf eine abgesperrte Straße. Das Unvorhergesehene zwingt mich dazu einen deutlich längeren Weg einzuschlagen. Was soll man da tun? Nachdem ich meine verbleibenden Kräfte eingeschätzt habe, kann ich zu dem Schluss gelangen, dass die erforderliche körperliche Anstrengung jenseits meiner Möglichkeiten liegt, und somit kehre ich zurück und zeige damit meinen gesunden Menschenverstand. Doch falls mir die Anstrengung als überwindbar vorkommt, kann ich auch beharrlich sein, trotz der momentanen Unannehmlichkeit, die dieser Zwischenfall ausgelöst hat, oder ich kann mich dazu entschließen, es aus Trotz sein zu lassen. In allen drei Fällen tritt der Begriff des Hindernisses auf – eines äußeren im ersten Fall, eines inneren in den anderen beiden Fällen. Und nur in den letzten beiden Fällen hat die Persönlichkeit wirklich ihren Anteil an der Lösung des Problems“ (Minkowski, 1936, S. 20–21).
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Drittes Kapitel gänglich ist und ständig erneut diskutiert wird, und an den Aussichten, die die Zukunft bietet, orientiert ist. Kriterien für die Erklärung des Verhaltens sind eher die Gründe als die Ursachen (indem sie ihm eine bewusste Richtung verleihen und damit die Handlung verändern) […]. [Die Gründe] übersetzen die proaktive Bewegung des Handelns, anstatt der reaktiven: der Mensch wird nicht von vorhergehenden Faktoren und Bedingungen des Verhaltens bestimmt; diese Faktoren und Bedingungen werden selektiv und kontextuell in Abhängigkeit vom erwarteten Szenario verwendet, von der subjektiven Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen gegenwärtiger Situation und erwarteter Situation gefiltert (De Leo / Patrizi / De Gregorio, 2004, S. 18–19).
Diese Gedankengänge helfen, zu verstehen, wie nach einer anfänglichen Interpretation zugunsten einer Gewalttat eine „problematische Situation“ auftreten kann, die den geplanten Handlungsverlauf behindert und den Täter dazu zwingt eine „einschränkende Beurteilung“ zu entwerfen, in der man laut Athens den „Tunnelblick“ verlässt, indem man sich dazu entschließt, den eigenen Handlungsplan nicht durchzuführen. Indem man die Situation, in der man sich befindet, neu definiert und die „Zwecke“, die das eigene Handeln motivieren, anpasst, entschließt man sich, dass es nicht mehr notwendig oder angemessen ist, Gewalt anzuwenden. Athens zählt fünf Arten von Gründen auf, aus denen eine Person eine „einschränkende Beurteilung“ bildet. Vor allem könnte der Täter ein Misslingen seiner Gewalttat befürchten. In diesem Fall macht der Aggressor, indem er das Verhalten des Opfers annimmt, sich selbst klar, dass Letzteres, falls es angegriffen wird, einen Versuch unternehmen wird, die „Herrschaft“ zu erlangen. Indem also das Verhalten der eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ angenommen wird, entscheidet er sich, den gedachten Handlungsplan nicht durchzuführen, denn im Fall einer körperlichen Auseinandersetzung sieht er sich als Verlierer hervorgehen. Hier folgt ein Beispiel, in dem eine „schädigende“ Interpretation zurückgehalten wurde: FALL 34: GEWALTNAHE SITUATION36 Ich saß im Gefängnis. Ich sah, dass eine Zeitung geöffnet auf dem Tisch lag. Ich habe mich da hingesetzt und zu lesen begonnen. Genau da kam wie aus dem Nichts ein Typ an, der sagte: „Mach keinen Scheiß mit den Sachen, die auf meiner Seite des Tisches sind!“ Ich sagte: „Ich sehe keine Namen auf diesem Tisch oder auf dieser Zeitung.“ Und er antwortete: „Alles, was auf dieser Seite des Tisches liegt, gehört mir, und ich baue mit den Schwarzen noch mit den Weißen Scheiße“. Ich dachte mir: „Was für ein dummer, gestörter Bastard!“ Während ich aufstand und mich entfernte, sagte ich zu einem anderen: „Was stimmt mit diesem verrückten Hurensohn nicht?“ Als dieser mich das sagen hörte, ist er fast auf mich ge36
Athens (1997, S. 45–46).
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sprungen und rief: „Bastard, es gibt keinen Grund hinter meinem Rücken über mich zu sprechen.“ Ich wollte wirklich keine Schlägerei mit ihm, unter anderem weil er gefährlich zu sein schien: er hatte starke Arme und breite Schultern und ihm fehlten Zähne. Also sagte ich nur: „Du musst verrückt sein. Was ist denn los?“ Da hat er mich getroffen. Er hat mich hart getroffen und mich fast k.o. geschlagen. Dann habe ich gemerkt, dass er mir die verdammte Nase gebrochen hat. Da wurde ich richtig wütend. Ich dachte nur noch, dass ich diesen Hundesohn umbringen wollte. Ich sprang auf die Beine und holte eine Nagelfeile heraus, die ich immer bei mir hatte. Doch dann dachte ich: „Das wird nicht reichen, um ihn zu stoppen. Er ist ein viel zu großer Bastard. Es ist besser, wenn ich einen Rückzieher mache“. Ich bin ein paar Schritte rückwärtsgegangen und habe gesagt: „Du Bastard, dreh mir niemals den Rücken zu. Du hast mir meine verdammte Nase gebrochen, das wirst du noch bezahlen“. Er schaute mich an und sagte: „Komm schon. Lass mich jetzt dafür bezahlen!“ Ich habe bloß geantwortet: „Später werde ich es dir noch zeigen...“, und ging schnell weg, wirklich schnell.
Eine „einschränkende Beurteilung“ kann auch entstehen, weil das Opfer den Verlauf der eigenen Handlung verändert. Indem das Verhalten des Opfers angenommen wird, macht der Täter sich selbst klar, dass die Gesten, die anfangs als bedrohlich, frustrierend oder bösartig interpretiert wurden, aufgegeben oder verändert wurden. Indem der Täter dann das Verhalten der eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ annimmt, entscheidet er, dass es nicht mehr nötig ist, Gewalt anzuwenden. Der dritte Fall tritt dann ein, wenn der Angreifer Angst hat die soziale Beziehung, welche er zu dem Opfer hat, ernsthaft zu verletzen oder sogar zu zerstören. Indem er das Verhalten des Letzteren annimmt, macht er sich selbst klar, dass das potentielle Opfer, würde es angegriffen, sich entscheiden könnte, die Beziehung drastisch zu beenden. Also entscheidet er sich dafür, indem er das Verhalten der eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ annimmt, die geplante Aktion nicht auszuführen, denn er möchte die affektive Beziehung nicht aufs Spiel setzen. Eine vierte „einschränkende Beurteilung“ entsteht aus der Achtung vor dem anderen. Indem das Verhalten einer sehr verehrten und hoch angesehenen Person angenommen wird, macht der Täter sich klar, dass dieses der geplanten Aktion zuwiderläuft. Indem danach das Verhalten der eigenen „PhantomGemeinschaft“ angenommen wird, entschließt er sich, keine Gewalt anzuwenden, um die Wünsche Letzterer zu respektieren. In der Umgangssprache – und der Fachsprache – spricht man bei dem Thema, von dem hier die Rede ist, von „Selbstkontrolle“, die nach Ansicht der Interaktionisten natürlich nicht von den Selbstbildern herrühren können, die durch die Blickwinkel der anderen entwickelt wurden. „Selbstkontrolle“ hat demnach die Beschaffenheit einer „sozialen Kontrolle“: „Wir alle versuchen, den
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Respekt vor uns selbst zu bewahren, doch beobachten wir uns selbst aus dem Blickwinkel unserer Gruppe. (Shibutani, 1961, S. 197). Wir „untersagen“ uns manches Benehmen, weil wir ständig die Erwartungen anderer berücksichtigen. Aber „berücksichtigen“ heißt nicht, sich wie ein soziales Chamäleon zu verhalten. Die Übernahme einer fremdem Rolle, die Bildung einer Abfolge von Selbstbildern und die Wiederanpassung des eigenen Aktionsplans – im Einvernehmen mit der Vorwegnahme der Reaktion der anderen –, lässt in jedem Fall noch einen Spielraum für ein Nicht-Anerkennen der Antworten der Gesprächspartner, sowie für eine deviante Aktion ihn Bezug auf sie. Die letzte Fall tritt ein, wenn im Menschen die „Angst“ vor einer möglichen „Antwort“ von Seiten der „formellen Agenturen der Sozialkontrolle“ entsteht (Polizeigewalt, Rechtssystem). Der Handelnde macht sich selbst klar, indem er das Verhalten der Personen, die in die Handlungsdynamik verwickelt sind, annimmt, dass Letztere gegen ihn aussagen werden, und realisiert daher, dass er von seinen gewalttätigen Absichten ablassen muss, um nicht verhaftet zu werden. Dies ist der Fall bei einer „frustrierten“ Interpretation, gefolgt von einer „einschränkenden Beurteilung“, die durch die Angst vor rechtlicher Sanktion bedingt ist. FALL 54: GEWALTNAHE SITUATION37 Ich war in einem Einkaufszentrum auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken für meine Familie und fing plötzlich an, die Frauen zu bemerken, die um mich herum auch dabei waren, Geschenke auszusuchen. Danach blieb ich einfach auf einer Stelle stehen und schaute mir die Frauen an, die an mir vorbeigingen. Während ich sie genau beobachtete, erregte mich der Gedanke, Analsex mit denjenigen zu haben, die schöne Hintern und schmale Taillen hatten. Also kam mir der Gedanke mir eine zu schnappen, und ich entschloss mich dazu, es zu tun. Also habe ich ein Messer aus einer Drogerie gestohlen; danach bin ich in eine Ecke des Parkhauses des Einkaufszentrums gegangen. Ich wollte eine mit einem schönen großen Hintern suchen, die alleine zu ihrem Auto ging. Ich hatte mir überlegt sie zu überraschen, sie ins Auto zu schubsen und sie zu einem abgelegenen Ort dort in der Nähe, den ich kannte, fahren zu lassen. Während ich mit dem Blick verfolge, wer in Richtung Auto ging, fiel mein Blick auf eine mit süßem Gesicht, breiter Hüfte und einem schönen runden Po, die alleine war. Es schien leicht, sie anzugreifen, also folgte ich ihr und näherte mich ihr, um sie von hinten zu überraschen. Als sie die Schlüssel in die Autotür steckte, packte ich sie am Arm, zeigte ihr das Messer und sagte: „Steig ins Auto, und mach kein Theater.“ Sie blieb stehen, als ob sie völlig erschrocken wäre. Also habe ich ihren Arm losgelassen, die Schlüssel genommen und die Autotür geöffnet. Ich befahl ihr einzusteigen und sagte ihr, dass wir eine Spritztour machen würden, doch sie fing an, wie am Spieß zu schreien. Als ich mich entschied, sie mit Gewalt ins Auto zu schubsen und sie nochmal packte, hörte sie nicht auf zu schreien und begann sich zu befreien. An diesem 37
Athens (1997, S. 49–50).
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Punkt dachte ich, dass wahrscheinlich bereits andere Leute bemerkt hatten, was gerade passierte und dass es wahrscheinlich besser wäre zu verduften, bevor man mich noch erwischt. Das tat ich dann und sie lief schreiend in Richtung der Geschäfte.
Allgemeiner gesagt erwägt der Akteur bei der „einschränkenden Beurteilung“ durch aufeinanderfolgende self-indication Variablen der Situation, die während der anfänglichen Bildung der Interpretation nicht präsent war oder zumindest nicht bewertet wurde. Die „Interpretation“ ist in der Tat, wie im zweiten Kapitel bereits vorweggenommen wurde, ein Prozess, der ständig in einer Entwicklung begriffen ist und sich mit allem anreichert, jeweils „vermerkt“ wird. Falls Unvorhergesehenes geschieht, was das anfängliche Projekt behindert, wird der Täter, fast schon mit Sicherheit, seine Handlungsweise ändern. Aus diesem Grund „zerstreut“, nach Athens, die „einschränkende Beurteilung“ „die alte Überzeugung, die noch überraschend aktuell ist, dass Gewalttaten ‘leidenschaftliche Taten’ ohne jegliche Überlegung seien“ (Athens, 1997, S. 45), also irrational. Letztere wären nach der traditionellen Auffassung ungebremste und unkontrollierbare Impulse, die keine weiteren Alternativen erlauben. In Wirklichkeit können, wie das Vorhandensein von „einschränkenden Beurteilungen“ bei „gewaltnahen“ Taten bezeugt, diese emotionalen Impulse effizient durch „Überlegungen“ eingegrenzt werden, durch die der Mensch neue Elemente „vermerkt“. Wir sollten auch nicht vergessen, dass jede Art der Situationsinterpretation von einer „Emotion“ begleitet wird, die manchmal durch ein Gefühl der „Wut“ feststellbar ist und manchmal durch ein Gefühl der „Angst“ oder durch puren „Hass“, wie dies bei den „bösartigen“ Interpretationen der Fall ist.38 Dieser Zusammenhang kann und soll nicht im Sinne einer strengen Trennung zwischen „Verstand und Gefühl“ festgelegt werden – deren Verhältnis, obwohl es in der Tat sehr konfliktreich ist, dennoch von gegenseitiger Beteiligung und von einem gegenseitigen Austausch geprägt ist.
Overriding-Beurteilung Athens nennt die letzte Phase, von der der gewalttätige Ausgang der ursprünglich verwendeten „Interpretation“ abhängt, „Overriding-Beurteilung“ (overriding judgment: „aufhebende Beurteilung“). Diese Beurteilung setzt eine vorangehende voraus, die entweder in dem bloß vorübergehenden Verzicht auf die Gewalttat oder in der Bildung einer eigentlichen „einschränkenden Beur38
„Denken ist am leserlichsten […] in Ausbrüchen entfesselter, geballter Energie, wie etwa im Falle von Furcht oder Hass. Diese Dynamiken können, insbesondere im Augenblick des Geschehens, kaum vorgetäuscht werden […]“ (Steiner, 2005, S. 61).
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teilung“ bestehen kann – was im Folgenden beiseitegelassen wird. Die „Overriding-Beurteilung“ überlagert somit diesen momentanen Verzicht auf Gewalt und, indem sie die Kraft einer neuen „Definition der Situation“ aufhebt, stellt sie das anfängliche Vorhaben, sie anzuwenden, wieder her. „Dies geschieht, wenn die Person eine feste Anweisung unterbricht und aus ihrem ‘Tunnelblick’ heraustritt, nur um danach wieder in ihn zu verfallen“ (Athens, 1997, S. 50). Diese Neuinterpretation der Situation durchläuft wiederum zwei Phasen. In der ersten macht der Täter, indem er das Verhalten des Opfers annimmt, sich selbst klar, dass es darauf besteht bedrohliche, frustrierende oder bösartige Gesten auszuführen, für die er anfänglich die gewalttätige Interpretation gebildet hatte. Zweitens, indem er das Verhalten der eigenen „PhantomGemeinschaft“ annimmt, entscheidet er, den Handlungsplan um jeden Preis ausführen zu müssen, da die Gesten des Opfers unerträglich geworden sind. Wir werden besser verstehen, woraus eine „Overriding-Beurteilung“ besteht, wenn wir folgenden Fall von schwerer Körperverletzung analysieren. FALL 32: SCHWERE KÖRPERVERLETZUNG39 Eines Abends feierten wir in den Hotelzimmern, in denen ich lebte und arbeitete. Wir waren alle korrekte Leute, abgesehen von einem Typen, dem ich ein Zimmer, das vom Korridor abging, vermietete. Er zog einfach heimlich ein, und X sagte, dass er ihn kenne, weshalb es kein Problem war. Wir tranken alle Wein, schmissen Pillen und hatten viel Spaß, als ich hörte, wie dieser Typ X fragte, wer ich sei, und dass ich eine Hure sei. Er sagte: „Hey, wer ist diese Hure da, mit der du sprichst?“ und er antwortete: „Du bist es.“ Ich dachte mir: „Was denkt sich dieser Typ dabei auf meine Party zu kommen und mich als verdammte Hure zu bezeichnen?“ Ich sagte: „Du kannst nicht auf meine Party kommen und mich eine verdammte Hure nennen.“ Und er: „Du bist aber eine Hure: ich war heute voll drauf, und du hast mir die 20 Dollar Wechselgeld gestohlen, als ich dir das Geld für das Zimmer gegeben habe“. Ich sagte: „Du bist verrückt.“ Und er: „Versuch nicht mich abzuziehen, du Hure. Ich bin doch kein Idiot. Ich habe schon gesessen. Ich weiß, wie die Dinge laufen, und X weiß, dass ich in Ordnung bin, deshalb versuch erst gar nicht, Spielchen mit mir zu treiben.“ Meine Freunde hatten viel Spaß, und ich war gut gelaunt und wollte nicht die Stimmung wegen eines Problems ruinieren, das nur zwanzig Dollar betraf, deshalb dachte ich, dass es besser wäre sich mit diesem Typen zu versöhnen, ihm die zwanzig mickrigen Dollar zu geben, und damit hätte sich die Sache. Ich sagte: „Hör zu, mein Freund, ich habe dir heute nicht einmal einen Dollar gestohlen, aber um dir zu zeigen, dass ich ein weiches Herz habe, werde ich dir zwanzig Dollar geben. Was sagst du dazu?“ Und er: „Naja, weil da du sie so dringend brauchtest, dass du sie mir stehlen musstest, kannst du sie auch behalten, du Hure.“ Also dachte ich, dass es dieses Stück Scheiße nur auf Streit abgesehen hatte. Er versuchte mich als billige Gaunerin dastehen zu lassen und nannte mich Hure vor 39
Athens (1997, S. 50–51), zitiert b. Rhodes (1999, S. 105, 107.
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meinen Freunden. Ich dachte: „Bitte, du fieses Stück Scheiße, lass mich einfach in Ruhe.“ Also sagte ich schließlich: „Mein Freund, ich warne dich, geh mir nicht auf den Sack, sonst zeige ich dir noch, was eine Hure mit dir anstellen kann.“ Er schaute mich an, begann zu lachen und sagte: „Ich habe bisher noch keine Hure getroffen, die mich fertigmachen kann.“ Also sagte ich mir: „Dieser Mann muss von hier verschwinden, so oder so. Dieses Stück Scheiße ist mir schon genug auf den Sack gegangen. Ich schneide diesem Arschloch die Kehle durch.“ Ich ging ins Schlafzimmer und holte einen Zwanzig Dollar Schein und eine Rasierklinge. Ich sagte mir: „Dieses Stück Scheiße hat nicht vor, mich in Ruhe zu lassen, aber jetzt zeige ich ihm was Sache ist“, und verließ das Zimmer. Ich näherte mich ihm mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ich gab ihm den Zwanzig Dollar Schein, während ich hinter meinem Rücken die Rasierklinge versteckte. Dann setzte ich mich auf seinen Schoß und sagte: „OK, du bist ein schlauer Typ. Hier sind deine zwanzig Dollar.“ Er sagte: „Ich bin froh, dass du es am Ende doch zugegeben hast.“ Ich schaute ihn weiterhin mit einem Lächeln im Gesicht an und sagte: „Und jetzt besiegeln wir den Frieden mit einem Kuss.“ Ich dachte: „Jetzt zeig ich dir, du fieses Stück Scheiße, was es bedeutet eine Hure zu sein“ und dann streckte ich mich vor, als ob ich ihm einen Kuss geben wollte und schnitt ihm die Kehle durch.
Die Erzählung dieser Frau ist in die zwei Phasen der Bildung einer „Overriding-Beurteilung“ unterteilt. Die erste befindet sich in der Passage, in der die Frau auf eine gewalttätige Reaktion verzichtet, denn sie könnte damit das Fest „ruinieren“. Es handelt sich hierbei um eine „Definition der Situation“, in der sie – indem sie eine richtige „abschwächende Beurteilung“ formuliert – dem Verhältnis zu den Freunden und, wie gesagt, dem Gelingen der Party die größte Bedeutung verleiht, indem sie die schweren Vorwürfe des zukünftigen Opfers bewusst im Hintergrund lässt. Die Reaktion des Gesprächspartners stellt sich dann doch als sehr anders heraus, als die Frau es bei ihrem Verzicht auf Gewalt erwartet hätte: die Beleidigungen gehen weiter bis sie unerträglich werden. In dieser schwierigen Lage setzt sich die „Overriding-Beurteilung“ gegenüber der vorangehenden „einschränkenden“ durch. Die „Gewalttat“, die notwendig ist, um die Hierarchie der „Herrschaft“ festzusetzen, ist nun entschiedene Sache. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass, um gewalttätig zu werden, die Bildung einer der vier Interpretationen nicht ausreicht: jede von ihnen wird nur dann zur Gewalt führen, wenn sie in einen „Tunnelblick“ gelenkt wird oder wenn sie in einer „Overriding-Beurteilung“ wiederhergestellt wird. Umgekehrt beschränkt sich die Interpretation, falls sie auf ihrem Weg auf einen „Damm“ trifft, darauf, sich „gewaltnahe“ Situation zu manifestieren. Athens behauptet, dass „die Menschen viel häufiger ‘einschränkende Beurteilungen’ bilden als ‘Overriding-Beurteilungen’ oder feste Anleitungen (Athens, 1997, S. 52–53). Dies bedeutet, dass, wenn eine gewalttätige Situationsinterpretation beginnt,
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sie meistens nicht vollzogen wird. Daher ist eine Gewalttat immer problematisch. Wie Richard Rhodes beispielhaft zeigt, hat Athens „entdeckt, dass Gewalttäter solche Situationen wie Sie und ich interpretieren, also voller Angst, Wut oder sogar Hass. Doch unterscheiden sich die Gewalttäter von uns darin, dass sie sich – auf der Basis dieser Interpretationen – dazu entschließen, gewalttätig zu handeln.“ (Rhodes, 1999, S. 104)
Selbstbilder: gewalttätige, anfänglich gewalttätige und nicht gewalttätige Beim Übergang von der Analyse des Self als „Prozess“ – der Protagonist der vier verschiedenen gewalttätigen Interpretationsarten, die gerade untersucht wurden – zum Self als „Objekt“ – welches das Bild betrifft, das jeder von sich selbst macht –, wendet sich unser Blick nun den von Athens gesammelten „Daten“ zu, die das „Selbstbild“ betrifft, welches die „Kriminellen“ im Augenblick der Gewalttaten haben. Diese Daten wurden durch die Formulierung von drei Arten von Fragen erlangt: 1. was dachten die Interviewten in dem Lebensabschnitt über sich; 2. was dachten sie über ihre Freunde, ihre Verwandten oder andere wichtige Personen in dem gleichen Zeitraum; 3. waren die Bilder, die diese Personen von sich hatten, richtig oder falsch, und aus welchen Gründen war dies so. In jedem Augenblick des Lebens setzt jeder von uns seine „Selbstbilder“ ein, die, wenn auch im Hinblick auf unterschiedliche Kontexten variierend, von den Annahmen zusammengehalten werden, die die Art der Person definieren, die jeder zu sein meint, sowie von der Art, in der sich diese Annahmen in das symbolische Handlungsgewebe seiner Welt und „Kosmologie“ einordnen. All dies, zusammen mit der Kontinuität und der Kohärenz der mit der Zeit gesammelten Erfahrungen, verleiht dem Menschen einen mehr oder weniger stabilen Sinn für das eigene Self, welches sich von dem der anderen unterscheidet. (Shibutani, 1961, S. 214–217) Es ist offensichtlich, dass das „Selbstbild“, welches in dem Augenblick der Ausübung einer grausamen Tat vorliegt, einen großen Einfluss auf die Art der Situationsinterpretation hat. Athens hat drei Arten von Bildern unterschieden,
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die die Täter sich zum Tatzeitpunkt von sich machen: der Reihenfolge nach „gewalttätig“, „anfänglich-gewalttätig“ und „nicht-gewalttätig“. Ein Täter, der ein „gewalttätiges Selbstbild“ besitzt, sieht sich selbst und wird von anderen als jemand mit einer Disposition zur Gewalt charakterisiert, d.h. mit „einer Neigung zur Gewalt, oder mit einer Mühelosigkeit, andere Menschen mit der Absicht physisch anzugreifen, sie schwer zu verletzen.“ (Athens, 1997, S. 54). Außerdem nimmt sich der Täter als „explosiver Typ“, als „Hitzkopf“ wahr und wird von anderen vorwiegend als ein solcher wahrgenommen.“ FALL F: MORD Ich, mitten auf der Straße, bin total durchgebrannt. Ich bin nicht da, um zu sprechen. Auch ohne dir etwas anzutun, bring ich dich dazu, zu denken: „Ich lass ihn in Ruhe, vielleicht sollte ich einfach 100g Heroin nehmen und das war’s.“ Das versteht man auf jeden Fall... denn es gibt doch Gesten, eine richtige Gestik... es gibt Dinge, die man nicht sagt, Unausgesprochenes. Zum Beispiel, wenn du zu mir kommst und mich auf eine arrogante Art ansprichst... dann behalte ich die Hände in den Taschen, ich bleibe ruhig, während ich dich anschaue und sage: „Schluss damit... hör zu, du redest etwas zu viel.“ Auch wenn du zwei Meter groß bist und ich nur anderthalb... du solltest Angst bekommen, gerade weil ich so ruhig bin... und die Hände in den Taschen behalte... und du fragst dich: „Was versteckt er nur in den Taschen?“ Die Hände in den Taschen behalten, sich zusammenzureißen, eine gewisse Gestik, das hängt auch von dir ab. Du musst dich deinem Gegenüber ebenbürtig fühlen, denn du kannst nicht auch vor Mike Tyson, der wütend mit dir spricht, so ruhig bleiben! Aber ich kann auch vor Mike Tyson ruhig bleiben. Natürlich bin ich ruhig, wenn ich eine Pistole bei mir habe... dann bin ich sehr ruhig, denn ich schau mir meinen Gegenüber an und sag ihm: „Und hast du jetzt alles gesagt, du Idiot? Dreh dich um und geh nach New York zurück“ Und wenn er sagt: „Ich mach dich fertig!“ antworte ich: „Sag mir dann Bescheid, wenn du es geschafft hast mich fertigzumachen. Und jetzt verpiss dich!“ Ich bin sehr ruhig... denn ich weiß wozu ich fähig bin und ich weiß, dass die Aggressivität und die Gemeinheit, die ich oft in mir spüre, kein gewalttätigerer Mensch als ich hat. Meine Freunde, die keine Dummköpfe sind, haben mir immer gesagt: „Du bist nicht mehr ganz dicht in der Birne.“ Ich habe nach einer Erklärung gefragt: „Wieso denn? Was mach’ ich denn? So verrückte Sachen?“ Und sie: „Nein! Du bist komplett durcheinander... mit dir kann man nicht reden, weil du dir jeden, der dir nicht Recht gibt, zum Feind machst.“ Und das sind Menschen, die immer was angestellt haben, die vor niemandem Angst haben, aber die trotzdem immer versucht haben sich gut mit mir zu stellen. Ich erkenne mich [in diesem Bild] nur in dem Augenblick wieder, indem du mir etwas antust... . Ich bin sehr loyal, sehr korrekt... aber es braucht nicht viel um mich zu einer Furie werden zu lassen.
Das „gewalttätige Selbstbild“ taucht auch bei der Erzählung einer Person auf, die, ohne jemals zu einer Gefängnisstrafe verdammt worden zu sein, sich aus der Situation einer „teilnehmenden Beobachtung“ heraus beschreibt.
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TEILNEHMENDE BEOBACHTUNG: FALL 140 Ich bin X der (Nationalität). Ich bin kein kleiner Junge mehr und brauch keinen Schnuller, an dem ich nuckeln kann. Ich bin ein Mann und will auch als solcher behandelt werden. Ich lauf nicht rum und bettle zu Hause bei Leuten und frage: „Habt ihr etwas zu essen?“ Ich esse nicht bei anderen zu Hause, so ist das. Die anderen wissen, dass ich etwas im Kühlschrank habe. Ich muss noch nicht einmal meine bessere Hälfte arbeiten schicken. Ich kaufe alles, was wir zum Leben brauchen und ich zahle alle meine Rechnungen. Ich bin der König in meinem Haus und wenn das jemandem nicht passt, kann er sich mal selbst ficken. An meinen Türen gibt es keine Schlösser. Es ist mir egal wie andere ihr Zuhause organisieren. Wenn jemand unter meinem Dach lebt und mein Brot ist, tut er besser, was ich sage, ob es ihm gefällt oder auch nicht. Und das wissen auch alle ganz genau. Ich bin ein Hurensohn mit viel Einfallsreichtum und deshalb verdiene ich Respekt. Ich habe eine legale Arbeit, aber ich verdiene mir auch mit anderen Sachen meinen Lebensunterhalt. Ich bin ein sehr guter Betrüger. Ich weiß wie ich mit Leuten zu reden habe. Ich wurde mit einer goldenen Zunge geboren. Ich schaffe es jedem etwas zu verkaufen. Ich kann mir jederzeit eine Beschäftigung suchen und Geld dazu verdienen. Um dies zu tun, brauche ich keine Schulabschlüsse oder Gewerkschaftsausweise. Ich brauch nicht den Monatsanfang für mein Gehalt abzuwarten um an Geld zu kommen. Ich kann an jedem Tag der Woche etwas verdienen. Es ist mir egal, wie viele Schulabschlüsse und Gewerkschaftsausweise ich nicht haben kann: ich bin trotzdem der Überlegene. Verdammt, ich kann aus dem Haus gehen und an nur einem Tag das verdienen, was die armen Bastarde mit Mühe sich in einer Woche durch Sklavenarbeit erarbeiten. Wenn es an einem Tag gut läuft kann ich mehr Geld machen als sie in einem Monat verdienen würden. Ich muss von niemandem auch nur einen Dollar leihen und auch nicht jedem unter die Nase reiben, dass ich diesen oder jenen Abschluss habe, diesen oder jenen Gewerkschaftsausweis: ich muss nur den Batzen Geld zeigen, den ich im Portemonnaie habe. Plaudereien kosten ja nichts. Das letzte Wort hat in dieser Welt das Geld und mein Verstand ist immer bereit einen Weg zu finden es zu besorgen. Ich habe keine Zeit für Ablenkungen und Dummheiten, wie es andere machen. Ich habe zu viele Mäuler zu stopfen. Alle bei mir zu Hause sind von mir abhängig und von dem, was ich nach Hause bringe. Deshalb verschwende ich keine Zeit damit etwas zu sammeln oder über Politik zu diskutieren und Zeitungen oder Bücher zu lesen, damit ich andere mit meinem Wissen beeindrucken kann. Von diesem Quatsch kannst du dir nichts kaufen. Während solche Leute auf ihren fetten Ärschen sitzen und über dieses oder jenes diskutieren oder mit ihrem Hobby Zeit verschwenden, konzentriere ich mich darauf Geld zu verdienen. Ich bin nicht dumm oder ein Idiot. Natürlich bedeutet das nicht, dass ich nicht auch gerne Spaß habe. Ich mache die ein oder andere Wette beim Superbowl und solche Dinge. Ich trinke auch gerne jeden Tag einen, aber ich bin kein Säufer. Ich fehle auch nie auf der Arbeit, weil ich zu viel getrunken habe, und man sieht mich auch nicht durchs Haus torkeln oder 40
Athens (1997, S. 56–57). Wie schon zuvor berichtet, handelt es sich bei der Erzählerstimme in diesem Fall um „Pete den Griechen“, also dem Vater von Lonnie.
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auf der Straße hinfallen. Ich bin kein Säufer und war es auch nie. Ich bin nicht das, was ihr einen Alkoholiker nennen würdet, wie einige Leute, die ich kenne. Ich bin ein Mann und will auch wie ein Mann behandelt werden. Scheiße, es ist leicht, mit mir klarzukommen, man sollte mich nur nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich mache keine Scherze. Wenn ich zu jemandem etwas sage, dann ist es so, Schluss, aus. Ich habe keine Lust mir irgendeine Scheiße darüber anzuhören wer was getan hat. Ich interessiere mich nicht dafür, wer du bist oder zu sein denkst, es ist besser für dich, wenn du nicht versuchst, mich zu verarschen. Ansonsten wirst du bald merken, dass wenn du versuchst, mich zu verarschen, es nicht ist, als ob du einen kleinen Jungen verarschst. Von mir kriegst du ganz schnell mal ein paar Arschtritte. Wenn du mich wütend machst, mach ich dich im Handumdrehen fertig. Ich habe zu meiner Zeit mehr als einem die Fresse eingeschlagen und keine Sorge, das schaffe ich heute auch noch. So bin ich eben und werde so sein solange ich noch lebe. Alle wissen, dass ich so bin.41
Die „anfänglich gewalttätigen Selbstbilder“ haben mit dem „gewalttätigen Selbstbild“ gemeinsam, dass der Akteur sich selbst als gewalttätig sieht und ihn andere auch so wahrnehmen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass das Individuum sich hier nicht als ausgesprochen gewalttätig sieht und auch von anderen nicht so gesehen wird: diese Beurteilung ist wiederum sehr problematisch. Weder er noch die anderen wissen mit Sicherheit, ob er „mehr Show macht, als er dann wirklich tut“. In anderen Worten, ob er ein Prahler ist oder nicht, einer der mehr als nur droht oder nicht. FALL B: MORD Ich bin ein sensibler Mensch, gefühlvoll. Wenn ich weiß, dass es jemandem schlecht geht, eine richtig schlimme Krankheit hat, und dann erfahre, dass er geheilt ist... das ist für mich eine wahre Freude. Das ist etwas, das mich glücklich macht, dass mich zufrieden macht... ich würde mich als eine ruhige Person beschreiben, die versucht, eine Familie zu gründen... und Spaß zu haben... . Ich bin nicht die Art Mensch, die Streit suc... doch es gibt immer irgendeinen Idioten. Früher war ich aggressiver, heutzutage ist es mir scheißegal... . Ich war jähzornig, wurde schnell wütend. Ich war ein Mensch, mit dem man wirklich nicht reden konnte... das war eine dunkle Zeit in meinem Leben... ich sah nur rot und egal mit wem ich sprach, es kam immer direkt zum Streit. Man stritt vielleicht mit Worten ... ich war nicht der Mensch, der ich heute bin. Wenn jemand schlecht auf etwas reagierte, sagte ich: „Was willst du?“ Ich wollte nicht unterdrückt werden... ich wäre ein Versager gewesen... statt einen Dialog zu führen, antwortete ich sofort unfreundlich, vielleicht auch mit einem Schubs: „Du darfst dir nicht erlauben so mit mir zu reden...“. Zumindest damals funktionierte mein Kopf so... . Damals habe ich nicht... habe ich nicht über das, was ich tat, nachgedacht oder es reflektiert... ich habe über nichts reflektiert, ich dachte nicht... vor mir sah ich Drogen... man
41
Rhodes (1999, S. 112–113).
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Drittes Kapitel ging los, ging aus um Spaß zu haben, Schaden anzurichten... Schlägereien... in meinem Kopf gab es nur das.
In den „nicht-gewalttätigen Selbstbildern“ schließlich, sieht sich der Akteur mit sowohl positiven als auch negativen Charaktereigenschaften, insgesamt jedoch nicht-gewalttätig und wird von anderen auch so wahrgenommen. Offensichtlich ist diese Art von „Selbstbild“ die am seltensten angetroffene unter den Interviewten. FALL A: MORD Ich halte mich nicht für einen gewalttätigen Menschen, obwohl andere sagen: „Was?! Du hast doch jemanden umgelegt!“ Also, ich muss ehrlich sein... ich habe gewalttätig reagiert... doch Gewalt... ich bin nicht der Typ, der Gewalt sucht, jemanden angreift, so bin ich nicht. Ich wäre niemals in der Lage irgendjemanden zu nehmen und ihn an die Wand zu nageln... ich schaff’ das nicht... ich würde sogar verlieren, weil ich kein Angreifer bin, nennen wir es einmal so. Aber, wenn ich mich bedroht fühle, finde ich entweder irgendwelche Fluchtwege oder ich werde stärker... was natürlich auch von der Angst kommt, nicht nur vom Mut... . Niemand hat über mich gesagt: „Oh, da kommt der da, lass uns abhauen...“. Und auch bei den Freundschaften, die ich zu der Zeit hatte, als ich mich im Drogenmilieu bewegte, wo es gewalttätig zugeht, habe ich es immer geschafft ihr auszuweichen, nicht von ihr Gebrauch zu machen [der Gewalt]... . „Jemand hat mich abgezogen?“ Also gut, er hat mich abgezogen... ich kann doch keine Bazooka laden und ihn umlegen. Wer nichts hat, der hat nichts. Ich dachte mir gegenüber wäre es das gleiche, aber stattdessen musste ich einmal flüchten, sie haben mich mit Ketten verfolgt... ich habe es geschafft zu fliehen und sie haben mich nie mehr gesehen. Das waren Leute, die einen zusammenschlugen... . Einer hatte mich einmal geschnappt und gesagt: „Ich reiß dir den Kopf ab“ und ich habe geantwortet: „Nein, nein, hör zu, ich bring dir morgen das Geld, keine Sorge.“
In dieser Schilderung fehlt noch die Tatsache, dass der „Gewalttäter“ sich als „kriminell“ wahrnehmen kann, ohne sich dabei auch als „gewalttätig“ zu sehen.42 Doch auch die gegenteilige Situation kann eintreffen: ein Aggressor kann sich als „gewalttätig“ wahrnehmen, ohne sich dabei aber als „kriminell“ zu sehen. Schließlich kann sich ein Aggressor auch als „kriminell“ und „gewalttätig“ fühlen. (Athens L., 1974, S. 98–112).
Gewaltkarrieren Das Self als „Prozess“ und das Self als „Objekt“ reagieren – wie wir bereits wissen – auf den gleichen Regieraum, „Phantom-Gemeinschaft“ genannt. 42
Siehe beispielsweise später im Text Fall 38, Alter 10–15; „nicht-gewalttätiges Selbstbild“.
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Nachdem Athens die „Daten“ der gewalttätigen Interpretationen und der „Selbstbilder“ gesammelt hat, die auf diesen Zeitraum passten, wollte er ihre Kongruenz überprüfen und hat herausgefunden, dass „die Individuen, die ein „nicht-gewalttätiges“ Selbstbild hatten, nur in solchen Situationen gewalttätig reagierten, in denen sie eine physisch defensive Interpretation gebildet hatten.“ (Athens, L., 1997, S. 61). Andererseits verübten die Akteure, die ein „anfänglich gewalttätiges Selbstbild“ hatten nur in solchen Situationen Gewalttaten, in denen sie „physisch defensive“ oder „frustriert-schadende“ Interpretationen gebildet hatten. Schließlich verübten die Individuen, die ein „gewalttätiges Selbstbild“ hatten, bei jeder Art gewalttätiger Situationsinterpretation grausame Taten. Die Relevanz des „gewalttätigen Bildes“ betrifft eine Vergrößerung der Bandbreite und der Arten der Situationsinterpretation, die eine gewalttätige Reaktion verlangen. Die folgende Grafik zeigt eine Übersicht der Beziehung zwischen den beiden Gesichtern des Self.
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An diesem Punkt angelangt sollte die Beziehung zwischen „Situationsinterpretation“, Ausdruck des Self als „Prozess“ und den „Selbstbildern“, die im Self als „Objekt“ eingestellt wird, klar sein. Die Kohärenz zwischen diesen beiden Gesichtern des Self ist sowohl notwendig, um eine Handlung einem Protagonisten „zuzuschreiben“ – kraft einer Verbindung, die über eine einfache Materialverbindung Individuum-Verhalten hinausgeht – als auch, um ihr harmonisches Verhältnis43 mit seiner „Kosmologie“ in dieser konkreten Lebensphase zu „verstehen“. Wenn das „Selbstbild“ und die „Situationsinterpretation“ bloße Momente – nebensächlich, aber kohärent – derselben prozessualen Sequenz sind, die das Self ist, wird deutlich, dass sie die gleiche Art zu „sehen“ und zu „denken“ haben. Der kruziale Punkt liegt in der Tatsache, dass die „Bilder“, die die Aggressoren von sich haben, in die „Situationsinterpretationen“ zurückfließen, in denen die Gewalttaten vollzogen werden. Um zu versuchen die zahlreichen Dimensionen einer Straftat zu erfassen, muss nun den „Situationsinterpretationen“ und den „Selbstbildern“ der Begriff der „Karriere“ an die Seite gestellt werden. Der Begriff „Karriere“, der aus Studien über den Arbeitsalltag übernommen wurde, bezeichnet eine Abfolge von Phasen, einer Reihe von vorübergehenden Verschiebungen von einer gesellschaftlichen Position in die andere.
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In dieser gedanklichen Reihenfolge vollzieht sich die Kritik von Athens an der vom Psychiater Emanuel Tanay (1972) entwickelten Unterscheidung bezüglich der „ichsyntonen“ Handlungen – den für das Ego akzeptablen Handlungen, die daher mit dem Selbstbild übereinstimmen, die das Individuum hat – und bezüglich der „ichdystonischen“ Akte – denen, die das Ego nicht akzeptiert und die daher in einem Widerspruch mit dem Selbstbild stehen. Kurz gesagt lautet der Schluss Tanays, dass Straftaten „ich-dyston“ sind. Athens reagiert auf diese Sichtweise mit der Auffassung, dass „obwohl die Handlungen der Personen laut Psychiatrie ‘ich-dysnton’ sein können, sie für diejenigen, die sie verwirklichen, ‘ich-synton’ [sind]“ (Vgl. L. Athens, 1997, S. 68). In diesem Satz wird die Kritik an der traditionellen medizinisch-psychiatrischen Sicht deutlich, die Gewalt unter einem rein psychopathologischen Gesichtspunkt betrachten. Seine Kritik bezieht sich vor allem auf die Frage nach dem beobachtenden Wissenschaftler. Dadurch, dass eine distanzierter und „objektiver“ Blick auf die zu untersuchende Person beibehalten wird, führt dieser Ansatz zu der automatischen Ersetzung der Sicht des Beobachters durch diejenige des Beobachteten, was die Grundlage für das darstellt, was Blumer „die schlimmste Form des wissenschaftlichen Subjektivismus“ nennt, also einem verborgenen, nicht ganz bewussten Subjektivismus. (siehe Kap. 1). Wenn auch keine Zweifel bestehen, dass die „mögliche Welt“ des Gewalttäters sich von der „möglichen Welt“ des Psychiaters unterscheidet, der ihn erforscht, ist doch auch wahr, dass es Kontexte gibt, in denen die Handlung des Individuums im Kontrast zu dem Selbstbild des Subjekts steht. Dies geschieht jedoch – nach Athens – nur in besonderen Fällen der „dramatischen Veränderung des Selbst“, von denen in Kapitel 2 die Rede war.
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Das Modell der „Karriere“, welches von Becker vorgeschlagen wurde, bietet eine diachrone „Erklärung“ für das beobachtete Phänomen, indem es sich auf einzelne Phasen konzentriert („sequenzielles“ Modell). Daher stellt sich dieses Modell den synchronen multifaktoriellen Modellen entgegen, welche jegliche kausalen Faktoren als isolierte Entitäten begreifen, die konvergent und simultan wirksam sind, um einen Erfolg zu erzielen. Der Unterschied ist besonders auf der Ebene der „Vorhersage“ des Verhaltens bemerkenswert. Wenn wir festlegen, dass die Faktoren A, B, C... das abweichende Verhalten D verursachen, ist der Übergang A, B, C… D sowohl linear als auch notwendig. Wenn wir stattdessen die kausalen Faktoren nur auf bestimmte Phasen zurückführen und auf andere nicht, wenn wir diese Phasen untereinander zu einer beweglichen Kette verbinden – in welcher der vorherige Ring die Artikulation des folgenden ermöglicht – wird verständlich, dass das letzte Ereignis das Ziel eines nicht-linearen Prozesses ist, in denen das (lineare) ätiologische Prinzip verzerrt wird, indem es den mutmaßliche Wert der Vorhersage verliert, der ihm traditionell zugeschrieben wird. Eine wichtige Folge der sequenziellen Analyse ist, dass die „devianten Motivationen“ am Anfang der individuellen Karriere so gut wie nicht existent sind. Ihr Heranreifen würde in erster Linie von der Mitwirkung in einer symbolisch um das „Nicht-Verurteilen“ – oder sogar um die „Akzeptanz“ oder „Verherrlichung – strukturierten Gruppe abhängen – der Tat, die als deviant etikettiert wird. Die Dinge folgen mehr oder weniger diesem iter. Im Laufe der sozialen Interaktion nimmt das Individuum das Verhalten der „nicht konventionellen anderen“ an und beginnt die als problematisch beurteilten Gesten mit anderen Augen zu sehen. Das, was eine deviante Karriere einleiten und verstärken würde, wäre gerade das Stigma, das dann angewandt und bestätigt werden würde, wenn man dabei überrascht wird, wie man gegen eine Norm verstößt. Wenn die Reaktion der Gesellschaft drastisch ausfällt, gnadenlos, kann es ein Abrutschen in eine negative Identität bedeuten. Die herkömmliche Welt möchte im Devianten den „Andern“ sehen und schreibt das Urteil jedem Aspekt seiner Persönlichkeit zu. Was das betrifft, bezieht sich Becker auf die von Everett Hughes (1945) angewandte Unterscheidung bezüglich der akzessorischen und primären Charakteristika eines Status und behauptet, dass, wenn eine Person so etikettiert wird, dieser Status sich gegenüber jedem anderen durchsetzt. Dieser Mechanismus führt, laut Hughes, zu einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“: das Subjekt wird von den Mitgliedern der konventionellen Gesellschaftsgruppe ausgegrenzt und begibt sich endgültig in Beziehungskreise, die seine „deviante Karriere“ verstärken. Doch gerade in Bezug auf die Befürwortung des sequenziellen und interpreta-
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tiven Modells besteht Becker darauf zu betonen, dass die Prophezeiungen sich nicht notwendigerweise erfüllen müssen. Dieser Ansatz gibt Athens den Anstoß für die Argumentation, dass der deviante Weg dank einer symbolischen Neudefinition der Erfahrung verlassen werden kann und vermeidet auf diese Weise jede Verleitung in Richtung einer deterministischen Sicht des individuellen Handelns. Damit übereinstimmend wird der Begriff „Karriere“ von Athens als eine Lebensgeschichte aufgefasst, die „selektiv“ die wichtigsten Veränderungen Revue passieren lässt, die sich im Self sowie in den Handlungen der Menschen im Laufe ihres Lebens oder in Teilen von ihnen vollziehen (Athens, L., 1997, S. 69). Wenn wir von „Karriere“ sprechen, analysieren wir demnach Projektionen des Self im Verlauf der Zeit: das Self ist in der Tat ein „Prozess“ und eine „Struktur“, und wie solch eine lebt es in und von der Zeit. Um die einzelnen Bedeutungen, die im Adjektiv „selektiv“ enthalten sind, das in der Definition von „Karriere“ enthalten ist, verdeutlichen zu können, wenden wir uns nun mehreren Begriffen zu, die ineinander verwoben sind: „Erfahrung“, Self und „Gedächtnis“. „Erfahrung“ ist eine Realität, die in einem ständigen Werden begriffen und von der Bedeutung her gesehen, an und für sich neutral ist. Man kann sie sich als einen Fluss vorstellen, der alles, auf was er trifft, mit sich hinwegschwemmt. Ein Mensch wird geboren und in eine Welt noch ohne jegliche selektive Grenze geworfen, die in der Lage wäre, ihm beispielsweise zu erlauben, die „Objekte“ zu „benennen“. Erst durch die soziale Interaktion beginnt die eigene Individualität sich zu bilden, und dies geschieht in einem Verhältnis des ständigen Zusammenstoßes mit der Gesellschaftsgruppe, in der er lebt. Durch diese Art der Erfahrung lernt er, den „Objekten“ eine Bedeutung zuzuschreiben, die, aus demselben Grund, „sozial“ werden, also von mehreren Individuen geteilt werden. Bei diesem Prozess kommt, wieder einmal, der „Phantom-Gemeinschaft“, dem Gesprächspartner, der die meisten unserer Selbstgespräche darstellt und der sich in einer ständigen semantischen Wandlung befindet, eine entscheidende Rolle zu. Die Veränderungen dieser inneren Landschaft vollziehen sich ähnlich der Dünenwanderung in der Wüste. Je nach Windstärke können sie mehr oder weniger offensichtlich sein, doch sie werden immer präsent sein, auch wenn es schwierig ist, sie zu entdecken. Um diese Veränderungen zu bemerken, ist es unerlässlich, den Horizont der Zugehörigkeit zu verlassen, was geschieht, wenn wir das Bild, das wir von uns selbst und vom Kosmos haben, dem wir angehören, verändern. In der Tat kennt und versteht das Individuum
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durch Unterscheidung, indem es die „Verschiedenen“ miteinander konfrontiert. Dies geschieht sowohl in den Prozessen, in denen wir die Welt, in der wir leben, kennenlernen als auch im Verstehen unserer selbst, auch wenn im letzteren Fall das einzige Mittel, uns mit uns selbst zu konfrontieren, darin besteht „sich an uns zu erinnern“. Das „Gedächtnis“ ist somit wesentlich für die Rekonstruktion des Verlaufs unseres bisherigen Lebens, welches, sobald es rekonstruiert und berichtet wurde, zur Erzählung wird. Wir werden das Thema des „Gedächtnisses“ und seiner Funktionsweise hier nur anschneiden, um hervorzuheben, das Letzteres von einem Prozess der „Selektion“ lebt, dessen Schlüssel – aus der Perspektive, aus der wir analysieren – stark emotiv ist. An das wir uns aus der Vergangenheit erinnern, sind bloß einige für uns besonders „bedeutungsvolle“ Fakten oder Erfahrungen; es sind Momentaufnahmen von Handlungen, die sich auf dem Hintergrund der Wüste vollzogen haben, von der kurz zuvor die Rede war. Unser Verstand arbeitet mit dieser „bedeutungsvoll“ gewordenen Materie durch eine ständige „Montage“ der Szenen, geleitet von dieser inneren Konversation, die uns im Verlauf der Zeit begleitet: dem „Selbstgespräch“. FALL D: GATTENMORD Der Interviewte erinnert sich an eine besonders „bedeutungsvolle“ Erfahrung, die er im Laufe seiner Kindheit gemacht hat und um die herum er begonnen hat, sich zu organisieren und sich ein „nicht gewalttätiges Selbstbild“ zu erzählen. Ich war schon immer gegen Gewalt, schon seitdem ich 12 oder 13 Jahre alt war. Seitdem ich einem Jungen ein blaues Auge verpasst habe, der später mein Freund werden sollte. Damals habe ich mich so schlecht gefühlt, weil ich ihn geschlagen und ihm das blaue Auge verpasst habe... dass ich von da an nie, nie gewalttätig war. Ich war richtig dagegen. Vor allem fühlte ich mich wie ein Idiot, ein Mitläufer, ein Schwächling, ich weiß auch nicht... doch sobald ich sah, dass eine Diskussion, ein verbaler Konflikt auszuarten drohte... gab ich nach. Dieses eine Mal waren wir an einem dunklen Ort, wo die Häuser aufhörten und hinten die Felder begannen. Wir gingen immer dort hin, um Dummheiten zu machen, die ersten Zigaretten zu rauchen. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich gerade nicht, wieso wir handgreiflich wurden... jedenfalls war es etwas Banales. Dieser eine war ein paar Jahre älter als ich, und er war sozusagen der Boss... derjenige, den man bewunderte. Bei ihm herrschte dieser Antagonismus... als würde er sagen: „Ich bin besser als du... ich... ich“. Etwas in der Art. Jedenfalls haben wir uns gestritten und ich habe losgeschlagen... ein Schlag wie von einem Kind aber... ach du Scheiße, selbst ohne zu wollen... habe ich genau seine Orbital Zone getroffen und, mein Gott, hat der ein blaues Auge bekommen. Also... die Reaktion vielleicht, ich denke es war seine Reaktion, also die Tatsache, dass er mir gegenüber am nächsten Tag nicht auf eine bestimmte Art reagiert hat... dass ich also weitermachen konnte in meiner Art... dass ich nach diesem Vorfall weitermachen konnte. Er hat mir
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auch keinen Anlass für eine Reaktion gegeben. Ich bedauerte es, denn als ich ihn so sah, tat er mir leid. Es tat mir leid, ihn, ein Kind wie ich, mit einem blauen Auge zu sehen. Also wollte ich zu ihm gehen und mich entschuldigen. Dann haben wir uns umarmt und sind Freunde geblieben... . Wenn er mir mit einer herausfordernden Haltung gekommen wäre... hätte ich wahrscheinlich versucht mich mit aller Kraft zu behaupten, um danach sagen zu können: „Ich bin stärker als du!“ Und vielleicht wäre ich auch vom Charakter her anders geworden... . Aus mir wäre jemand geworden, der sich immer mit Gewalt und aller Kraft behaupten müsste. Das schließe ich daraus, ähm... vielleicht war es genau dieser Vorfall mit dieser Reaktion von Seiten des Jungen auf diese Art, die meine Art zu sein verändert hat... meine zukünftige Art zu sein... wahrscheinlich... sicher ist es so... ich schließe es daraus... denn danach fühlte ich mich... seine Reaktion zu sehen und dann noch dieses Gefühl von... als wir uns umarmt haben... mein Leben hat wahrscheinlich dieses Imprinting bekommen, wahrscheinlich.
Stabile, ansteigende, abnehmende Gewaltkarrieren Um wieder zu der Beschreibung der Gewaltkarrieren zurückzukehren, hat Athens, um den biografischen Verlauf der interviewten Häftlinge rekonstruieren zu können, zwei präzise Arten von Fragen formuliert. Zunächst ließ er sich das „Bild“ beschreiben, welches die Interviewten zum Tatzeitpunkt von sich hatten, indem er drei Fragen stellte, um die „Selbstbilder“ (d.h. Wie sie sich selbst gesehen haben, wie andere sie sahen und ob das Bild, das die anderen von ihnen hatten, korrekt war) zutage treten zu lassen, und indem er die Aufmerksamkeit anschließend auf den Faktor „Zeit“ richtete und fragte, seit wann sie sich so wahrnahmen und so wahrgenommen wurden. Durch ein zweites Set von Fragen forderte Lonnie auf, alle gewalttätigen Handlungen aufzuzählen, die in der Zeit verübt wurden, welche durch das spezifische „Selbstbild“ aus dem ersten Teil des Interviews gekennzeichnet ist. Bei den weiteren Durchgängen formulierte der die gleiche Art von Fragen, bezog sich allerdings auf vorangegangene Lebensabschnitte, so dass die bedeutungsvollen Punkte rekonstruiert werden konnten. Eine bedeutungsvolle Veränderung des „Selbstbildes“ wurde als Beginn eines neuen Abschnitts verstanden. Stets unter Berücksichtigung der drei Arten von „Selbstbildern“ – „gewalttätig“, „anfänglich gewalttätig“, „nicht gewalttätig“ –, hat sich Athens auf drei Perioden, die das Leben von gewalttätigen Subjekten bestimmen können, konzentriert: „beachtlich gewalttätige“ Perioden, „grundsätzlich nicht gewalttätige“ Perioden und „unbeachtlich gewalttätige“ Perioden. Die ersten werden „von der Verübung eines oder mehrerer „beachtlich gewalttätiger“ Taten charakterisiert, die nicht vom Opfer provoziert wurden oder
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nach der Bildung einer physisch defensiven Interpretation verübt wurden“ (Athens, L., 1997, S. 70). Wir haben bereits erwähnt, was unter „beachtlich gewalttätigem Verhalten“ zu verstehen ist, und es genügt an dieser Stelle, daran zu erinnern, dass dieser Begriff besonders schwere und invasive Fälle körperlicher und sexueller Gewalt abdeckt. Die „unbeachtlich gewalttätigen“ Perioden werden von der Verübung vieler „unbeachtlich gewalttätiger“ Handlungen charakterisiert sowie von der Verübung jener beachtlich gewalttätigen Handlungen“, welche das Opfer provoziert. Die „unbeachtlich gewalttätigen Handlungen“ sind diejenigen, in denen 1.
der Täter „das Opfer bewusst so verletzt hat, dass normaler Weise eine medizinische Behandlung nicht nötig ist“, wie dies im Allgemeinen nach einer Reihe von Ohrfeigen, leichten Fausthieben, Stößen, Erstickungsversuchen und Tritten der Fall ist;
2.
der Täter das Opfer weniger invasiv und brutal verletzt im Vergleich zu anderen Vorfällen dieser Art;
3.
der Täter keinen ernsten körperlichen Schaden verursacht hat, aber dem Opfer damit gedroht hat und dabei sogar Waffen verwendet hat.
Schließlich sind Perioden mit „zu vernachlässigender“ Gewalt diejenigen, in denen man auf keinerlei „unbeachtlich gewalttätige Handlung“ trifft und in denen sich kaum ein „unbeachtlich gewalttätiger“ Akt vollzieht, der nicht von dem Opfer angefacht wird. Hier hingegen die Folgerungen betreffend die Beziehung zwischen „Selbstbild“ und der Periode, in der die Taten begangen wurden: I.
Als die Täter ein „gewalttätiges Selbstbild“ hatten, durchlebten sie „beachtlich gewalttätige“ Perioden;
II. Wenn sie ein „anfänglich gewalttätiges Bild“ hatten, durchlebten sie „unbeachtlich gewalttätige“ Perioden; III. Und als sie schließlich ein „nicht gewalttätiges Bild“ von sich hatten, durchlebten sie „zu vernachlässigende gewalttätige“ Perioden. Auf der Basis der zeitlichen Zerlegung der vorher erwähnten Perioden (der „beachtlich gewalttätigen“, „unbeachtlich gewalttätigen“ und „zu vernachlässigenden gewalttätigen“ Perioden) und des folgenden Verlaufs eines An- oder Abstiegs der Zahlen und der Schwere der Gewalttaten, hat Athens drei Karrieretypen umrissen: den „stabilen“, den „ansteigenden“ und den „absteigenden“.
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Stabile Gewaltkarriere In der „stabilen“ Karriere, die gewalttätig oder nicht gewalttätig sein kann, besitzt das Individuum immer dasselbe „Selbstbild“ und in seiner Biografie ist nur eine einzige Periode zu erkennen.
Stabile, nicht gewalttätige Karriere und stabile, teilweise gewalttätige Karriere Die „stabile, nicht gewalttätige“ Karriere wird stattdessen von einem „nicht gewalttätigen Selbstbild“ charakterisiert, sowie von einer „zu vernachlässigenden gewalttätigen“ Periode. Man könnte noch einen dritten stabilen Karrieretyp kurz umreißen, der als „teilweise stabile Karriere“ bezeichnet wird und gemeinsam mit einem „anfänglich gewalttätigen Selbstbild“ auftritt, welches im Verlauf der Zeit konstant bleibt und mit einer oder mit mehreren „unbeachtlich gewalttätigen“ Perioden auftritt. Athens räumt ein, bei den interviewten Personen niemals auf eine Karriere dieses Typs gestoßen zu sein, was die fehlende Formalisierung dieser Kategorie erklärt. Außerdem stellen das „anfänglich gewalttätige Selbstbild“ und die „unbeachtlich gewalttätigen“ Perioden eher einen Übergang als ein Ziel dar, und in der Tat sind es genau diese Übergangsphasen, die das Subjekt zu einem der beiden bereits behandelten Karrieretypen „stabil gewalttätig“ und „stabil nicht gewalttätig“ zuordnen.
Ansteigend gewalttätige Karrieren Der zweite Karrieretyp ist die „ansteigend gewalttätige“ Karriere, in der das „Selbstbild“ und die betreffenden Perioden von ständig zunehmender Gewalt geprägt sind. Athens hat „durchgehend ansteigende“ und „teilweise ansteigende“ Karrieren registriert. Bei Ersteren erblicken wir einen doppelten Übergang von einem „nicht gewalttätigen“ zu einem „anfänglich gewalttätigen“ und von dem „anfänglich gewalttätigen“ zu einem „gewalttätigen“ „Selbstbild“. Dasselbe passiert auch mit den Lebensabschnitten, die mit den Typen der „Selbstbilder“ verbunden sind, die in der Tat proportional zu der Schwere und der Häufigkeit der begangenen Taten gewalttätiger werden. Bei den „teilweise ansteigenden“ Karrieren hingegen gibt es nur einen einzigen Übergang: das „nicht gewalttätige Selbstbild“ wird zu einem „unbeachtlich gewalttätigen“ und die Periode des „zu vernachlässigend gewalttätigen“ wird zu einer „unbeachtlich gewalttätigen“.
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Drittes Kapitel
FALL 38: ALTER: SELBSTBILD44
ZWISCHEN
10
UND
15 JAHREN. NICHT
GEWALTTÄTIGES
Ich war sehr clever für mein Alter. Ich trieb mich mit einer Gang mit älteren Typen als ich rum, ich schwänzte die Schule, spielte Billard und lief von zu Hause davon. Ich hatte auch mit dem Stehlen angefangen und wurde das erste Mal mit zehn verhaftet. Für mich war Stehlen eine ganz normale Sache. Ich stahl Motorräder, plünderte Wohnungen und verkaufte an Ältere Whiskey und Wein, den ich gestohlen hatte. Ich liebte das Stehlen. Es war aufregend, spannend, es verschaffte mir einen Haufen Geld, das ich auf den Kopf hauen konnte und sorgte dafür, dass ich praktisch unabhängig war. Alle meine Freunde dachten, dass ich es drauf habe. Sie bewunderten mich, weil ich ein erfolgreicher Dieb war. Sie wussten, dass ich alles stehlen konnte, was ich nur wollte und dass ich mich kaum schnappen ließ. Mein Ruf als Dieb war so gut, dass sogar Ältere immer zu mir kamen, damit ich etwas für sie stehle. Meine Familie hielt mich für einen richtigen Verbrecher. Aber ich war kein richtiger Low Rider oder Gangster. Ich mochte es einfach zu stehlen und die Schule zu schwänzen, aber nicht mich zu schlagen. Ich mochte es einfach weder in der Schule noch zu Hause. In der Schule hielt ich das autoritäre Verhalten der Lehrer und zu Hause das von meinem Vater nicht aus. Ich wollte ihren täglichen Bullshit umgehen. Ich mochte Erwachsene generell nicht und dachte, dass die ganze Welt gegen mich und meine Freunde war.
ALTER: ZWISCHEN 10 UND 15 JAHRE. MARGINAL GEWALTTÄTIGE PERIODE Alter: 11 Jahre. Unbeachtlich gewalttätige Tat Ich stritt mit einem anderen Jungen und er traf meinen Arm mit einem Schlittschuh. Ich wurde wütend und biss ihm in den Daumen. Keiner von uns hat sich richtig verletzt (Kein Polizeieinsatz).
Alter: 16 Jahre. Anfänglich gewalttätiges Selbstbild Ich wollte den anderen zeigen, dass ich ein richtiger Mann war, aber ich fiel nicht sehr auf und versuchte auch nicht die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich war immer still und redete nie einfach so drauflos. Mir war alles scheißegal und ich wollte nur das tun, worauf ich Lust hatte. Ich verhielt mich wie ein Low Rider. Ich lief von zu Hause davon und schwänzte die Schule. Ich rauchte gerne Marihuana, nahm LSD und spielte Billard. Und sprach auch gern von Sex. Ich beging auch Einbruchsdiebstähle, kleinere Diebstähle und ich identifizierte mich mit dem Bild eines Low Rider. In der Schule grenzten mich die Älteren aus. Sie wussten, dass ich immer blau machte, dass ich trank und schon einmal im Gefängnis war. Ich war für sie generell jemand, dem alles scheißegal war, der immer nervös war und eine negative Ausstrahlung hatte. Sie trauten mir nicht. Meine treuesten Kumpels und meine Bekannten hielten mich für sehr cool und hip. Sie mochten alles an mir, auch wenn sie mich manchmal für zu stur und beharrlich 44
Athens (1997, S. 85).
Gewalttaten und Gewalttäter
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hielten, weil ich es nicht ertrug, ein Nein zu hören. Alle fanden, ich hätte eine recht gewalttätige Art, denn wenn ich wütend wurde, drohte ich allen, sie zu töten, zu erschießen oder sie zu massakrieren. Doch niemand dachte, dass ich es ernst meinte. Sie wussten, dass ich schnell explodierte und dass es daher besser war, mich nicht zu verarschen. Auch meine Familie hielt mich für jähzornig und verantwortungslos. Sie wussten, dass ich ein Dieb und ein Low Rider war.
ALTER: ZWISCHEN 16 UND 19 JAHREN. UNERHEBLICH GEWALTTÄTIGE PERIODE Alter: zwischen 16 und 18 Jahren. Unerheblich gewalttätige Handlungen Ich habe meine Schwester ziemlich häufig misshandelt, aber ich habe sie nie wirklich verletzt (Kein Polizeieinsatz).
Alter: 17 Jahre. Unerheblich gewalttätige Handlung Ich wartete damals auf den Bus und hatte neben mir einen Typen mittleren Alters. Als der Bus ankam, drängelte er sich vor, um vor mir einzusteigen, doch ich bin schnell nach vorne gestürmt und habe ihn so überholt. Dann hat er irgendwas darüber genuschelt, weil ich ihn überholt hatte. Ich habe mich dann umgedreht und zu ihm gesagt: „Fick dich doch.“ Er hat mich dann bedrängt, während ich einstieg, und ich habe ihm einen schönen Tritt in den Magen gegeben, so dass er aus dem Bus fiel. Dann habe ich mich in den hinteren Teil vom Bus gesetzt und als er wieder einstieg, beschwerte er sich über mich beim Busfahrer, der sagte er wolle sich nicht einmischen, weil ihn das nichts anging. Es ist nichts weiter passiert (Kein Polizeieinsatz).
Alter: 18 Jahre. Unerheblich gewalttätige Handlung Ich war an einer nicht sehr schlimmen Schlägerei in einem Billardraum beteiligt. Zwei Typen spielten gerade und ich habe einen von ihnen gefragt, ob ich spielen könnte, aber er hat geantwortet, dass ich warten sollte, dass ich drankomme, wie alle anderen. Ich wurde wütend, weil ich keine Lust mehr hatte zu warten und habe ihm mit der Faust so richtig auf den Mund gehauen. Ich geriet so in eine nicht ganz ungefährliche Schlägerei in einem Billardsalon. Sofort haben sich alle auf uns gestürzt und uns getrennt (Kein Polizeieinsatz).
Alter: 19 Jahre. Unerheblich gewalttätige Handlung Ich fuhr gerade mit einem Freund im Auto durch die Gegend, als ich einen Typen bemerkte, dem gegenüber ich einen Groll hegte, wie er in ein parkendes Auto stieg. Ich hatte eine Kaliber 32 bei mir und beschloss, ein paar Mal loszufeuern, einfach so, um ihm Angst zu machen. Ich bin langsamer gefahren, als ich in seine Nähe kam und ich schoss vier Mal, wobei ich ihm sein Auto zerstörte, so wie er es verdient hatte. Wegen dieser Sache wurde gerichtlich gegen mich vorgegangen, aber ich bin nicht verurteilt worden.
Alter: 19 Jahre. Unerheblich gewalttätige Handlung Ich spielte in meinem Viertel Billard, als ein Sozialarbeiter reinkam, ein weißer, von dem alle wussten, dass er ein Spion war. Ich befahl ihm seinen weißen Arsch von hier zu bewegen, weil wir ihn nicht um uns haben wollten. Er wollte aber nicht gehen, also habe ich ihn mit einem Stock bedroht. Er hat ihn mit dem Arm zur
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Drittes Kapitel Seite gestoßen und ist weggegangen. Ich schwang den Stock vor ihm, aber ich versuchte nicht ihn zu treffen. Ich wollte ihn nur richtig erschrecken, so dass er sich verpissen würde (Kein Polizeieinsatz).
Alter: 19 Jahre. Grundsätzlich nicht gewalttätiger Akt Ich habe mich mit X geprügelt, weil er mir nicht das Geld, das er mir schuldete, zurückgeben wollte. Als ich ihn fragte, ob er mir mein Geld zurückgibt, antwortete er: „Welches Geld?“ und leugnete schamlos, dass er sie jemals von mir geliehen hätte. Ich wurde so wütend, dass ich ihn am liebsten getötet hätte. Ich habe ihn zu Boden gestoßen und getreten. Da hat er sich plötzlich an das Geld erinnert und er hat mir geschworen, dass er mir die Summe so schnell wie möglich zurückzahlen würde. Alles hat sich also wieder eingerenkt (Kein Polizeieinsatz).
Abnehmend gewalttätige Karrieren Der dritte und letzte Karrieretyp, die „abnehmend gewalttätige“, wurde von Athens dank der Technik der „teilnehmenden Beobachtung“ entdeckt, ist allerdings in den Geschichten der interviewten Gefangenen nicht zu finden. Hier „werden die Selbstbilder und die gewalttätigen Perioden, die ein Individuum im Laufe seines Lebens hatte, immer weniger gewalttätig“.45 Die beiden Subtypen dieser Kategorie sind die „vollständig abnehmenden“ und die „teilweise abnehmenden“ Karrieren. Bei ersteren kommt es zu einem doppelten Übergang von einem „gewalttätigen“ zu „anfänglich gewalttätigem“ und von einem „anfänglich gewalttätigen“ zu einem „nicht gewalttätigen“ „Selbstbild“. Das Gleiche passiert auch mit den Perioden, die mit den beschriebenen „Selbstbildern“ verbunden sind und die sich von „beachtlich gewalttätig“ zu „unbeachtlich gewalttätig“ und schließlich „vernachlässigenswert gewalttätig“ entwickeln und dies parallel zur geringeren Schwere und Häufigkeit der verübten Taten. Bei den „teilweise abnehmenden“ Karrieren gibt es allerdings nur einen Übergang: das „anfänglich gewalttätige Selbstbild“ wird „nicht gewalttätig“ und die „unbeachtlich gewalttätige“ Periode verändert sich zu „vernachlässigenswert gewalttätig“. Denn die Arten von gewalttätigen Handlungen werden weniger schwer und treten seltener auf. Im Folgenden werden die oben beschriebenen Typen der „Gewaltkarrieren“ grafisch dargestellt.
45
Athens (1997, S. 91).
Gewalttaten und Gewalttäter
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Drittes Kapitel
Ausgehend davon, dass die „Phantom-Gemeinschaft“ dazu beiträgt, sowohl die Interpretation, die zur Tat führt („gewalttätig“ oder „nicht gewalttätig“) als auch das „Selbstbild“ zu skizzieren, zieht Athens zwei wichtige Schlüsse. Der erste besagt, dass Menschen, die „beachtlich gewalttätige Verhaltensweisen“ an den Tag legen, „Phantom-Gemeinschaften“ haben, die sich von denen der Nicht-Gewalttätigen unterscheiden. Und nicht nur das: diejenigen, die ein „gewalttätiges Bild“ von sich haben, werden auch eine „PhantomGemeinschaft“ haben, die eine deutliche und kategorische moralische Unterstützung bietet, um gewalttätiges Verhalten gegenüber anderen Menschen zu zeigen. Wer schließlich ein „nicht gewalttätiges Bild“ von sich hat, wird von einer „nicht gewalttätigen Phantom-Gemeinschaft“ bewohnt, die keine kategorische und deutliche moralische Unterstützung zum gewalttätigen Handeln bietet, außer in dem Fall, in dem man eine „physisch defensive Interpretation“ bildet, um sich oder Nahestehende von einem körperlichen Angriff zu verteidigen. Der zweite Schluss, zu dem der US-amerikanische Kriminologe gelangt, besteht darin, dass die „Phantom-Gemeinschaften“ der kriminellen Gewalttäter sich mit der Zeit verändern können (Athens, 1997, S. 99). Betrachtet man beispielsweise eine „ansteigend gewalttätige“ Karriere, so sieht man, dass der Mensch von einer „nicht gewalttätigen Phantom-Gemeinschaft“ zu einer der „begrenzten Gewalt“ wechselt, um schließlich zu einer der „unkontrollierten Gewalt“ zu gelangen. Dies bringt den Menschen dazu, sowohl die Bandbreite und die Situationsarten auszuweiten, die eine gewalttätige Reaktion verlangen, als auch eine größere Anzahl von „beachtlich gewalttätigen“ Handlungen zu vollziehen und schließlich ein „gewalttätiges Bild“ von sich zu entwickeln. Athens schließt daraus, dass das wirkliche gesellschaftliche Problem in Handelnden mit einer „gewalttätigen Phantom-Gemeinschaft“ besteht, denn sie „begehen nicht nur den Großteil der besonders schweren Gewalttaten, sondern verschlimmern auch in der Rolle des Opfers häufig das Verbrechen, das sie nicht begangen haben“ (Athens, 1997, S. 100). Sie verüben, mit anderen Worten, physisch bedrohende Gesten gegenüber Menschen mit nicht gewalttätigen „Phantom-Gemeinschaften“, die an diesem Punkt in der Lage sind, kriminelle Gewalttaten zu verüben als Resultat von „physisch defensiven Interpretationen“.
Viertes Kapitel Die Erschaffung gefährlicher Gewaltverbrecher Now, they take him and they teach him and they groom him for life.
Bob Dylan
Prozess der Violentisierung. Allgemein The Creation of Dangerous Violent Criminals, das Buch, in dem Athens versucht, die neun Jahre zuvor gestellte Frage aus den letzten Zeilen seines Violent Criminal Acts and Actors zu beantworten, wurde 1989 publiziert. Ungelöst geblieben war die Frage nach der Bestimmung und Beschreibung des gesellschaftlichen Prozesses, der zu der Entwicklung einer gewalttätigen „Phantom-Gemeinschaft“ führt – sowie zu einer eventuellen Reversibilität des Prozesses. In Violent Criminal Acts and Actors wurde genau dieser InterpretationsProzess des Gewalttäters beschrieben, ohne dass jedoch irgendeine Hypothese über die Entstehung und Entwicklung einer „gewalttätigen PhantomGemeinschaft“ gemacht worden wäre oder darüber, „warum“ ein Individuum gewalttätig wird. Wie wir noch sehen werden, befindet sich die Antwort weit von der traditionellen ätiologischen Erklärung entfernt und wendet sich stattdessen dem prozessualen und sequenziellen Modell zu, das wir im Rahmen der Beschreibung der Methodik der Sozialwissenschaften bereits erklärt haben. Die prozessuale „Ursache“ geht, wie bereits dargestellt, nach Etappen vor, wobei jede von ihnen sowohl von der beobachteten Person als auch vom beobachtenden Wissenschaftler in dem Augenblick „entfaltet“ wird, in dem er sie beschreibt. Es ist wichtig zu bemerken, dass die unmittelbare Folge der prozessualen Deutung des Begriffs der Ursache ist, dass die Phänomene Resultate von „Entwicklungsprozessen“ sind, deren erste Phasen nicht unbedingt die letzten determinieren, und dass folglich jede Person ihren einzigartigen Weg geht, der nicht mechanisch aus dem Nichts entsteht. In Bezug auf gewalttätiges Handeln ermittelt Athens dieses sequenzielle Modell im Prozess der „Violentisierung“ (violentization). Dieser Neologismus, eine Verschmelzung aus dem Adjektiv „violent“ und dem Begriff (aus der Soziologie) der „Sozialisierung“, bezeichnet einen aus vier verschiedenen Phasen bestehenden Prozess, der eine anfänglich nicht gewalttätige Person
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Viertes Kapitel
dazu bringt, gefährlich zu werden. Wenn von einer berühmten Definition der Sozialisierung ausgegangen wird als Gesamtheit der Prozessen, durch welche ein Individuum im Laufe seines Lebens durch soziale Interaktion mit einer unbestimmten Menge an Kollektivität […] das Mindestmaß an Kommunikationskompetenz und Leistungsvermögen entwickelt, das mit den Erfordernissen seines psychophysischen Überlebens innerhalb einer bestimmten Kultur und eines gewissen Grades an Zivilisation […] kompatibel ist (Gallino, 1978d, S. 616).
und wir den Begriff „sozial“ mit dem Begriff „violent“ kombinieren, erhalten wir eine erste hypothetische Definition von „Violentisierung“ – als der Gesamtheit der Prozesse, durch die ein Individuum im Laufe seines Lebens und im Verlauf gewalttätiger sozialer Interaktion, Wege des Lernens und der Anpassung an kulturelle und normative Systeme entwickelt, die „überwiegend“ auf Gewalt gründen. Die Existenz überwiegend gewalttätiger Welten neben den „zivilen“ sozialen Welten anzuerkennen, führt zu einer Konzeption von Gesellschaft, welche sich am „normativen Konfliktualismus“ orientiert, der jede Gruppe, die eine soziale Gemeinschaft bildet, als Träger von Normen, Werten und Interessen sieht, die mit denjenigen anderer Gruppen im Konflikt stehen und grundlegend für die Verbreitung des institutionellen Lebens sind.1 Auf die Welt der Gewalt übertragen impliziert diese Behauptung, dass der Gewalttätige nicht derjenige sein wird, der durch Role-Taking die in der dominanten, nicht gewalttätigen Gruppe überwiegenden sozialen Normen ungenügend und / oder falsch verinnerlicht hat. Diese Erklärung würde dem Devianten den „Tunnelblick“ zurückgeben, der als Person verstanden wird, die nicht gut sozialisiert wurde, oder als Geisteskranken, der durch seine Pathologie nicht in der Lage sei, die sozialen Normen zu verinnerlichen (Pitch, 1975, S. 49–51). Im Gegensatz dazu wird hier der Gewalttäter als jemand verstanden, der während seinen sozialen Erfahrungen „andere“ normative Modelle als die „zivilen“ verinnerlicht hat und mit deren Hilfe „kritische“ Situationen durch Gewalt löst. Für den „Interaktionismus“ setzt der „Identifizierungsprozess“ eben dadurch ein, dass man sich symbolische Bedeutungen gibt und nicht dadurch, dass man sich eine oder mehrere Eigenschaften einer anderen Person aneignet und sich somit den ganzen Menschen modelliert.
1
Edwin Sutherland (1929, S. 107–119) hatte immer von „Kulturkonflikten“ gesprochen. Donald Cressey (1960, S. 49 ff.) stellte sich die Aufgabe, diese Bezeichnung in „Normenkonflikt“ zu ändern, damit man nicht, auf der Linie der Lehre Sellins, aus den Augen verliert, dass ein „Konflikt“ nur in Bezug auf die Kulturen der eingewanderten Bevölkerung im Kontrast zu der einheimischen Bevölkerung besteht.
Die Erschaffung gefährlicher Gewaltverbrecher
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Wenn man die Anfänge des Entwicklungsprozesses eines gefährlichen Verbrechers betrachtet, anstatt bloß des Endes, so sieht man, vielleicht auch unerwartet, dass der gefährliche Verbrecher anfänglich ein relativ gutartiger Mensch war, für den man wahrscheinlich eher Sympathie und Antipathie empfunden hätte (Athens, 1992, S. 6).2
Der Akzent gilt dem Adverb „anfänglich“, das zum Ausdruck bringt, dass der „Kriminelle“, bevor er ein solcher durch eine regelrechte Erziehung zur Angst und zur Gewalt wird, ein Mensch wie jeder andere war, der wie alle, wenn er geboren wird und der sozialen Gemeinschaft beitritt, in Erwartung von Bedeutung ist. Was die fraglichen Personen angeht, wissen wir, dass es sich um Menschen handelt, die jede Art von grausamen Delikten verübt haben, welche aufgrund ihrer extrem gewalttätigen Durchführung und dem offensichtlichen Fehlen jeglicher Provokation als solche bezeichnet werden können. Derartige Delikte werden nur von „den gefährlichsten Gewalttätern unserer Gesellschaft verübt, vielleicht mit der einzigen Ausnahme mancher white-collar-Verbrecher [...]“, fügt Athens spitz hinzu. (1992, S. 5) Doch wie sieht der „Bildungsprozess“ dessen aus, der solche grausamen Verbrechen verübt? Kurz gesagt, „die Phasen dieses Prozesses kann man sich als eine Reihe von Zimmern vorstellen, in denen sich jeweils zwei geschlossene Türen befinden, eine mit einem Schild mit der Aufschrift ‘Eingang’ und die andere mit der Aufschrift ‘Ausgang’. Um in das letzte Zimmer zu gelangen muss man erst beide vorhergehende durchqueren. Es ist jedoch möglich, dass man niemals das letzte Zimmer erreicht, da man in einem Zimmer, das man betritt, steckenbleiben oder durch eine der Türen mit der Aufschrift ‘Ausgang’ das Gebäude ganz verlassen kann“ (Athens, 1992, S. 21).
Es gibt vier „Zimmer“ der „Violentisierung“: „Verrohung“, „Kriegszustand“, „Verübung von Gewalt“ und „Virulenz“.
2
Kursivierung von uns.
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Gehen wir nun auf die erste ein.
Viertes Kapitel
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Verrohung Um zu verstehen, wie Gewalttäter die zeitliche Dimension des eigenen Self erleben, muss man das Ende ihrer kriminellen Karrieren beobachten. Das Leben jedes Menschen weist die Eigenschaft einer Abfolge von – mehr oder weniger bedeutungsvollen – Episoden auf, die in ein allgemeines Lebensschema integriert sind. Die Geschichte eines jeden zu verstehen und zu erkennen, die sowohl die Erwartungen für die Zukunft als auch die durch vergangene Erlebnisse hinterlassene Spuren aktuelle Verhaltensweisen beeinflussen, ist der Sinn jedes Treffens zwischen Interviewtem und Forscher. Wir halten solche Episoden und Erfahrungen für entscheidend, bei denen das Böse, sobald es auftritt, bei den Menschen deutliche und dauerhafte Spuren im Selbst hinterlässt und damit fast schon „Beweise“ des eigenen Übergangs darstellen. Die Spur ist eine Art Film, die das in eine Folge bringt, was geschieht und bleibt, indem die Bewegung als eine „[…] primitivere, natürlichere, reichere und differenziertere Beziehung registriert wird, als die Erkenntnistheorie sie zwischen Ursache und Folge aufstellt“. (Minkowski, 1936, S. 204). Nur ex post, durch die Rekonstruktion der hinterlassenen Spuren, können wir das ermitteln, was sie verursacht hat, und die „Verrohung“ enthält, wie alle dauerhaften Spuren, eine Reihe von destruktiven Erfahrungen, die sich verdichten und um die herum eine „Kosmologie der Gewalt“ beginnen und sich organisieren kann. FALL E: MORD Mein Vater... mein Vater ist mir wichtig, auch wenn er mich schlug... aber dafür hat er mir das Leben gezeigt. Er hat nicht zu mir gesagt: „Du musst es so machen.“ Ich beobachtete ihn jedoch. Mein Vater war Straßenhändler... ihm passierte es also öfter, dass jemand seinen Platz besetzte und der: „Was willst du denn?“ Also fing mein Vater an ihn zu verprügeln... und ich sah wie... und er schlug wie verrückt... Tritte, Fausthiebe, Kopfnüsse... er war gut darin... er war gut... Faustschläge, Tritte ins Gesicht... mein Vater war gut im Streiten... und trotz all dem war er dagegen. Mein Vater war gegen Gewalt... doch wenn er mich verprügelte, sah er mich nicht einmal... er verprügelte mich... doch er hat immer zu mir gesagt: „Du musst dich immer richtig verhalten, nicht stehlen... .“ Es gab Phasen, in denen er mich jeden Tag verprügelte und solche, in denen er es nur manchmal tat. Er hat mir die Welt gezeigt, obwohl er Analphabet war... doch er ist trotzdem der Vorsitzende der Genossenschaft von X geworden. Er hat die „Bancarella d’Oro“ erfunden... er war ein Genie... er war auch gut im Schlagzeug spielen. Auch als ich klein war, sagte ich: „Schau dir den an!“ Er konnte weder lesen noch schreiben... aber noch mehr Schule als diese... und man stirbt. Wenn ich mich gestritten habe und mit einem blauen Auge nach Hause kam... . Bam! Ein Fausthieb und er sagte: „Du musst als Sieger nach Hause kommen!“ Und ich: „Aber Papa, ich hab doch gewonnen!“ „Aber du hast ein blaues Auge!“ Bam! Ich
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Viertes Kapitel muss so um die zehn Jahre alt gewesen sein: wenn ich verlor, bekam ich eine reingehauen, wenn ich mich prügelte auch. Was sollte ich also tun? Wo ich wohnte, also in X, verprügelte ich alle, aber nicht um anzugeben... ich habe ihnen richtig die Fresse poliert. Als ich dann ins Internat in Y kam... war ich so bösartig, dass sie mich wieder weggeschickt haben... . Ich war sieben. Ich schlug die Lehrerin, den Lehrer, obwohl ich klein war... ich war ein Rebell.
Was die drei Unterphasen dieser komplexen Erfahrung der „Verrohung“ verbindet, ist die Tatsache, dass jede von ihnen (die „gewalthafte Unterwerfung“, die „persönliche Horrifizierung“ und die „Erziehung zur Gewalt“) auf ihre Art impliziert, dass „einer Person eine grobe und grausame Behandlung durch andere widerfährt und dass diese einen dramatischen und andauernden Einfluss auf den weiteren Verlauf ihres Lebens hat“ (Athens, 1992, S. 27). Zur Beschreibung des konkreten Inhalts dieser Definition treffen wir auf die Begriffe „Primärgruppe“ und „Sekundärgruppe“, die dem interaktiven und relationalen Prozesses dieser Erfahrung zugrunde liegen. Der Begriff der „Primärgruppe“, der von Charles Horton Cooley (1962) eingeführt wurde, hilft dazu, eine Gruppe, mit der eine bestimmte Person auf affektiver und emotionaler Ebene eine bevorzugte Beziehung herstellt, von anderen Arten von Gruppen zu unterscheiden („sekundäre“), in welche das Individuum weniger eingebunden ist. Athens versteht unter „Primärgruppe“ jene, in der es zu regelmäßigen face-to-face Interaktionen kommt und in der sich zwischen den Mitgliedern eine intime Familiarität bildet – wie es beispielsweise bei Familien, Banden, einer Freundesgruppe der Fall ist. Die „Sekundärgruppe“ ist durch die „Abwesenheit von Intimität, wie zum Beispiel in einem Kurs an der Universität“, gekennzeichnet (Athens, 1992, S. 28). Die Entwicklung der inneren zeitlichen Dimension und des Gefühls des Selbst jedes Individuums, wären demnach auch eine Widerspiegelung der Gesellschaft, so wie sie von den „Primärgruppen“ gefiltert wird. Auf dieser Ebene ist die menschliche Natur sehr flexibel, plastisch und gelehrig.3
Die gewalthafte Unterwerfung Die Phase der „gewalthaften Unterwerfung“ zeichnet sich durch die Präsenz autoritärer Figuren aus, die einer der „Primärgruppen“ des Menschen angehören, die von Gewalt Gebrauch machen, um jemanden ihrer „Herrschaft“ zu 3
Cooley spricht ausdrücklich von teachability, der Bereitschaft „belehrt“ zu werden, wenn er den Begriff der Formbarkeit jedes Individuums erläutert. Siehe Meltzer (1975, S. 21).
Die Erschaffung gefährlicher Gewaltverbrecher
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unterwerfen.4 Der Zustand der Unterwerfung muss durch die Befolgung der erteilten Regeln gezeigt werden und den Respekt gegenüber ihrer Rolle als Überlegene. Die autoritären Figuren sind so damit beschäftigt, die Werte des Gehorsams und des Respekts mit Drohungen und dem Gebrauch von Gewalt zu verteidigen, um das Verhalten ihrer „Untergebenen“ zu kontrollieren. FALL F: MORD Mein Vater war ein klassischer Patriarch... er prügelte viel. Er war die Art Mann, der sagte: „Was zu viel ist, ist zu viel.“ Manchmal vergingen Monate, und ich stellte alles Mögliche an. Wir Kinder sind zwei Söhne und eine Tochter... die Tochter ist am ältesten, also hat sie sich gewisse Dinge bei meinem Vater nie erlaubt. Sie hatte richtige Angst vor ihm. Für uns Söhne hingegen war es ein Kräftemessen [bevor wir zehn wurden]. Ich habe ihn immer als Patriarchen gesehen: er gab dir keine Erklärung dafür, wieso man etwas nicht tun sollte. Wenn man etwas nicht tun sollte, sollte man es einfach nicht tun. Das war seine Verhaltensweise. Es passierte manchmal, dass er einen monatelang alles machen ließ... und wir stellten viel an... und erst am Ende platzte ihm der Kragen. Anders als er, bestrafte meine Mutter uns sofort. Sie benutzte jedes Mal, wenn wir uns nicht benahmen, einen Holzlöffel, denn sie sagte, wenn sie es mit den Händen tun würde, täten diese ihr dann weh. Doch über unsere Mutter konnten wir lachen, über meinen Vater nicht. Er, wenn er ausflippte... dann gab es richtig Ärger. Oft, während wir aßen, flogen die Teller schon wegen des Geräuschs eines Löffels. Und wenn die Teller dann flogen, nahm er sich nicht nur einen von uns vor, sondern alle drei, denn er schrieb das alles auf die gleiche Kappe... . Ich wurde schon oft mit Tesafilm festgebunden und dann im Bad eingesperrt. Meine Mutter stahl dann heimlich von meinem Vater die Schlüssel und brachte mir Zigaretten und etwas zu essen... Das ist ein paar Mal so passiert... . Man muss ja auch Grenzen setzen... davon bin ich überzeugt... aber er war schon etwas unausgeglichen. In mir hat sich einiges angestaut. Wenn er sich nicht auf diese Weise verhalten hätte, wäre das nicht passiert... die Wut, die Machtlosigkeit, dieses Gefühl von jemandem erdrückt zu werden, der sofort reagierte, ohne dem anderen Gelegenheit für eine Reaktion zu geben. Wenn ich reagierte oder eine freche Antwort gab, bekam ich nicht nur von ihm Schläge, sondern auch von meinen älteren Brüdern, weil man auf jeden Fall „Papa keine freche Antwort gibt“. Bei uns zu Hause herrschte Respekt vor der Vaterfigur und der Mutterfigur. Gewisse Werte habe ich immer beibehalten. Auch wenn es mir besser geht, je seltener ich meinen Vater sehe... trotzdem wird er immer mein Vater sein... .
4
„Autorität kann auch ohne Zwangsmittel auskommen, doch ist sie nicht verpflichtet dies zu tun […]. Ein gewalttätiger Vater kann natürlich eine Autorität ausüben, sogar eine schreckliche, schwer kontrollierbare Autorität. Die Vereinbarkeit von Autorität und Gewalt geht aus der Interpretation desjenigen hervor, der von der Autorität abhängt, dem Verständnis für die ausgeübte Gewalt“ (Popitz, 1992, S. 89).
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Viertes Kapitel
Nötigung Es gibt zwei Arten der „gewalthaften Unterwerfung“: „Zwang“ und „Vergeltung“. Bei der Ersteren verwendet oder droht die autoritäre Figur die Anwendung von Gewalt an, um jemanden zur Befolgung eines bestimmten Gebotes zu zwingen (die auch bloß die Manifestation einer Art von Respekt sein kann), der der Adressat nicht ohne Gegenwehr begegnet, oder der er einfach nicht zu gehorchen beschließt. Der Gebrauch von Gewalt setzt sich fort, bis es zu einem Zeichen der Unterwerfung kommt, oder die Absicht, dieses möglichst bald von sich zu geben, erklärt wird. Die Manifestation der Absicht, sich zu unterwerfen, beendet die Phase der „Nötigung“, die aus verschiedenen Etappen besteht. Vor dem Beginn der Gewalthandlungen und auch während ihrer ersten Manifestationen könnte die Reaktion auch herausfordernd sein, doch mit ihrer Zunahme verkehrt dieses Verhalten sich tendenziell in einen Zustand der Angst um, der mit der Verschlimmerung unaufhörlich anwächst – bis er sich in puren Terror und dann in Panik verwandelt. Die Angst wächst auch im Hinblick auf die Tatsache, dass die Gewaltausbrüche bisweilen als inkohärent und unvorhersehbar empfunden werden und somit ein unüberwindbares Gefühl der Machtlosigkeit entsteht. In anderen Fällen hingegen berichten Opfer, dass der invasivste Aspekt das hochstrukturierte Regelsystem von Strafen / Nötigungen darstellt (Herman, 1992, S. 142). Der Punkt ohne Rückkehr wird durch Fragen markiert, wie: „Wie viel Gewalt halte ich noch aus?“ Auf solche antwortet man früher oder später: „Schluss jetzt“. Wenn dieses Stadium überwunden ist, erscheint die Unterwerfung unter die „Herrschaft“ als der einzige Ausweg. Es ist interessant zu bemerken, dass die Unterwerfung, um sich der Gewalt zu entziehen, im ersten Augenblick eine große Erleichterung verschafft, die sich dann aber plötzlich in eine erniedrigende Erfahrung umwandelt, wenn man begreift, dass man mit Gewalt gezwungen wurde. Die Erniedrigung bei brutalen physischen Angriffen, löst eine rasende Wut aus, die erst später erlischt, wenn aus ihr der Wunsch nach Rache wird – die sich durch flüchtige Phantasien zeigen, in denen der / die Erniedrigte sich vorstellt, den Verletzer zu schlagen, zu entstellen, zu foltern oder zu töten. Obgleich Gewalt auch eine besonders überzeugende Methode zum Einschüchtern und Beherrschen ist, kann derjenige, der von ihr Gebrauch macht, sie auch nur gelegentlich benutzen und stattdessen häufiger die Drohung, inklusive der Morddrohung, anwenden, um Furcht auszulösen und zur Unterwerfung zu zwingen. Der Effekt von Drohungen und Versprechungen produziert, wie man weiß, dauerhafte Effekte in Raum und Zeit: „Das jederzeit Mögliche kann das Verhalten jederzeit steuern. Eine glaubhafte Gefahr und
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eine glaubhafte Chance können instrumentalisiert werden zur Begründung permanenter Unterwerfung“ (Popitz, 1992, S. 26). VERROHUNG: GEWALTHAFTE UNTERWERFUNG: NÖTIGUNG. FALL 125 Ich half meinem Stiefvater bei Maurerarbeiten am Haus. Er hat mich gebeten die Schubkarre voller Zement für die Fundamente zu schieben. Sie war so schwer, dass ich sie fast umkippen ließ und ich verschüttete Zement überall. Er schrie ohne Unterbrechung: „Verdammt, hör auf den Zement zu verschwenden. Wir haben nicht viel davon.“ Ich war müde, erhitzt und völlig verschwitzt, also habe ich eine kleine Pause eingelegt, nachdem ich noch einmal die Schubkarre bis zum Fundament geschoben hatte. Also hat mein Stiefvater mich angeschnauzt: „Steh hier nicht einfach nur rum; nimm diese verdammte Schaufel und füll das Loch mit Zement.“ Ich wurde wütend und sagte: „Ich habe genug von dieser Scheiße hier. Ich hör auf.“ Er sagte: „Ach ja, kleiner Bastard? Du hebst besser die Schaufel auf.“ Danach hat er mir einen harten Schlag auf den Rücken verpasst. Als ich mich umwandte um zu gehen, verpasste er mir einen Schlag unter den Kiefer und ließ mich stark mit dem Kinn gegen die Wand knallen. Ich habe Sterne gesehen. Er hat mich fast k.o. geschlagen. Der Kopf schmerzte mir sehr und ich hatte Angst, dass er mich nochmal so hart schlagen würde. Also sagte ich: „Hör zu, ich bin wirklich müde, sehr müde.“ Und er: „Dein fauler Hintern soll sich besser wieder an die Arbeit machen.“ Ich wandte mich wieder der Arbeit zu, doch fühlte ich mich durch das, was ich ertragen hatte, erniedrigt. Ich bin bei der ersten Gelegenheit, die sich mir bot, abgehauen. Ich musste weiter an das denken, was mir angetan wurde und ich wurde immer wütender. Er war ja nicht einmal mein richtiger Vater und er hatte keinerlei Recht mich zu schlagen. Ich hätte ihn für das, was er mir angetan hat, töten können. Ich dachte oft daran, wie man es ihm heimzahlen konnte – mein Baseballschläger oder mein Pfeil und Bogen hätten ihn richtig fertiggemacht.
FALL G: SEXUELLE GEWALT UND MORD Meine Mutter schlug mich, seitdem ich ganz klein war... ich bekam immer die Schuld... wenn zu Hause etwas kaputtging, war immer ich schuld... und dann prügelte sie los, mit nackten Händen, mit der Bewässerungspumpe, mit der zirogna, einer sardischen Peitsche aus geflochtener Ochsensehne... die hinterlässt Streifen. Sie ließ ihre Wut an mir aus... sie hatte mich, und deshalb ist sie nicht in Schwierigkeiten geraten... sie hatte mich, um ihre Wut rauszulassen. Ich frage mich immer: „Was hab ich nur getan? Häh?“... Wenn wir stritten, warf sie sogar Stühle nach mir. Doch da, wo ich herkomme, in X, da fasst man die Mamma nicht an, die Mutter ist heilig... man rührt sie nicht an, egal was sie tut... so ist die Mentalität... . Einmal lag ich im Bett, sie war nach Hause gekommen, ich muss so um die 12 Jahre alt gewesen sein... ich hatte eine Nebenhöhlenentzündung, weshalb ich beim Schlafen schnaubte, um atmen zu können. Sie konnte wegen meines Schnaubens nicht schlafen... . Plötzlich ging das Licht an, und auf einmal hat sie meine Decken weggezogen und mich zusammengeschlagen... mit vielen Stockschlägen auf den
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Athens (1992, S. 30).
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Viertes Kapitel Rücken... ich fühl sie bis heute, wenn ich daran denke... nur weil sie nicht schlafen konnte... . Meine Mutter hat mich noch geschlagen bis ich achtzehn wurde, weil ich ein kleiner Rebell war.
Vergeltung Die zweite Art der gewalthaften Unterwerfung stellt die „Vergeltung“ dar, eine Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass eine autoritäre Figur Gewalt ausübt, um denjenigen zu bestrafen, der in der Vergangenheit „nicht gehorcht“ hat oder dem es vor kurzem „an Respekt gefehlt“ hat. Der Hauptunterschied zur „Nötigung“ ist, dass das Schlagen sich auch weit über jenen Punkt hinaus hinzieht, an dem es zur Unterwerfung in Form des Gehorsams-Versprechens und der Bitte um Gnade kommt. Mit anderen Worten beseitigt der ausdrückliche Akt der Unterwerfung nicht das Fortdauern der Gewalt, denn demjenigen, der sie ausübt, kommt es darauf an, den Zustand der Unterwerfung auch in der Zukunft zu garantieren. Im Verlauf dieser Erfahrung begreift das Opfer, dass seine Geste der Anerkennung des Aggressors nicht ausreichen wird, um den Gewaltfluss zu stoppen und dass es sich mit dem Verlauf der Dinge abfinden muss. In solch schwierigen Lagen implodiert die innerlich erlebte Zeit wie in Zeitlupe und bringt einen apathischen Zustand der Abstumpfung hervor, der jede Form des aktiven Widerstands entschärft, während gleichzeitig der Körper immer empfindungsloser gegenüber dem durch die Schläge hervorgerufenen Schmerz wird. Während derjenige, der diese Unterdrückung erfährt, sich in diesen Zustand versetzt sieht, erlebt er sie, als ob sie jemand anderem zugefügt würde.6 Schließlich lassen die Angriffe nach, aber das Opfer fühlt sich von einer Art Staunen umhüllt, aus dem man langsam erwacht, begleitet von einem verheerenden Gefühl der Erniedrigung, die daher kommt, dass man sich bewusst wird, erbarmungslose zusammengeschlagen worden zu sein. Doch auch die Erniedrigung ist nur von kurzer Dauer, denn sie wird von einer unaufhaltsamen und wilden Wut verbrannt, die nur dann, wenigstens teilweise, schwächer wird, wenn sie von dem Wunsch der Rache abgelöst wird, der von Zerstö6
Dieser Begriff verweist direkt auf das, was die Psychoanalytiker „Verdrängung“ nennen. In freudschen Worten, „ist die Verdrängung ein Abwehrmechanismus, bei dem: a) einige traurige Erfahrungen negiert werden; b) manche Impulse oder Aspekte des Selbst verleugnet werden. Hysterisches Verhalten ist das Produkt von Symptomen einer Konversion, die das psychische Grundproblem verbergen. Dies impliziert, dass die beobachteten Phänomene nicht so aufgefasst werden sollten, wie sie an der Oberfläche erscheinen, und das sie dazu dienen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder abzulenken“ (Rycroft, 1968).
Die Erschaffung gefährlicher Gewaltverbrecher
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rungsphantasien gegen denjenigen, der sich an einem vergangen hat, gesteigert wird. VERROHUNG: GEWALTVOLLE UNTERWERFUNG: VERGELTUNG FALL 297 Ich saß auf der obersten Stufe einer Treppe und zerriss eine Bibel und kritzelte auf ihr mit einem Stift herum, als meine kleine Schwester aus ihrem Zimmer kam und als sie mich sah, sagte: „Ich sag Mama, was du da machst“ und sofort danach schrie sie: „Mama, Johnny schreibt auf einer Bibel“. Meine Mutter forderte meine Schwester auf, ihr die Bibel zu bringen. Nachdem sie sie kontrolliert hat, sagte sie zu mir: „Johnny, komm runter, du verdienst dir ein paar Peitschenhiebe.“ Also brachte sie mich ins Bad und forderte mich auf, alle Klamotten auszuziehen. Ich zog mir alles aus, außer der Unterhose. Nachdem sie mich drei, vier Mal mit dem Gürtel getroffen hat, sagte sie: „Zieh dir auch die Unterhose aus.“ Ich sagte: „OK, OK.“ Also begann sie mich am ganzen Körper auszupeitschen. Ich schrie weiter, aber sie machte keine Anstalten aufzuhören. Sie tat mir wirklich weh. Ich dachte, dass sie mich töten würde. Als ich zu weinen begann und sie anflehte, aufzuhören, sagte sie: „Du musste diese schreckliche Sache, die du getan hast, so bereuen, dass du sie nie wieder tust.“ Und während sie mich weiterschlug, widerholte sie: „Du musst es bereuen, mein Sohn, du musst es bereuen.“ Ich konnte sie im Badezimmerfenster gespiegelt sehen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie mich so wild schlug. Ich wusste, dass es mittlerweile unnötig, war ihr zu sagen, dass ich reuig war. Es war so, als ob sie völlig verrückt gewesen wäre, als ob sie den Kopf verloren hätte. Nachdem, wie mir schien, Stunden vergangen wäre, wurde sie müde und öffnete die Badezimmertür. Ich trat wie benebelt und komplett nackt vor meiner Schwester heraus. Ich hatte große blaue Flecken am ganzen Körper. Während ich mich Richtung meines Zimmers bewegte, fühlte ich mich stark erniedrigt. Ich warf mich weinend aufs Bett und die Wut stieg in mir auf. Ich blickte durch das Fenster und sah eine Wäscheleine. Ich wünschte mir diese Leine zu nehmen und damit meine Mutter zu strangulieren. Ich wollte ihr diese Leine um den Hals schlingen und zuziehen, bis sie erstickte. Ich wollte meine Mutter töten.
Persönliche Horrifizierung Die zweite Erfahrung, die die Phase der „Verrohung“ bildet, ist die „persönliche Horrifizierung“, im Verlauf derer man keine „gewaltvolle Unterwerfung“ durchmacht, sondern bloß Zeuge einer Gewaltszene ist. Man kann ihr direkt beiwohnen, oder bloß das akustischen Refelxe hören. Dieser letzte Fall kann noch schockierender sein, denn wer hört „füllt die Leere dessen mit seiner Phantasie, was er nicht sehen konnte“ (Athens, 1992, S. 38).
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Athens (1992, S. 34).
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Viertes Kapitel
Die bedeutungsvolle Beziehung schaltet sich, anstatt zwischen Vollstrecker und Opfer der Gewalt, zwischen dem „Zeugen“ und Letzterem ein. Es ist also nicht notwendig, dass derjenige, der aggressiv agiert, der gleichen „Primärgruppe“ wie der „Zeuge“ angehört: was bei der Bestimmung des traumatischen Effekts der Erfahrung der „persönlichen Horrifizierung“ zählt, ist dass das Opfer und der „Zeuge“ Teil der gleichen „Primärgruppe“ sind. Die intime Verbindung zwischen „Zeuge“ und Opfer, das Ausgesetztsein des Letzteren gegenüber der „gewaltsamen Übermacht“ autoritärer Gestalten, die Wahrnehmung aller Handelnden, dass ein unangenehmer Streit auszuufern droht, schafft beim „Zeugen“ eine Stimmung der Besorgnis, die sich in dem Augenblick in Angst umwandelt, in dem er realisiert, dass die autoritäre Gestalt tatsächlich anzugreifen beginnt. Angst und Wut dem Wütenden gegenüber, können sich vermischen, bis unausweichlich, direkt oder indirekt, die Frage aufkommt: „Wie lange kann ich es noch zulassen, dass [das Opfer] noch all das aushält, bevor ich etwas unternehme?“ Wenn, wie es meist der Fall ist, die Antwort lautet: „Jetzt reicht’s!“ wächst der Hass schnell an, gemeinsam mit destruktiven Phantasien und Wünschen in Bezug auf den Aggressor. Eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, in einer etwaigen körperlichen Auseinandersetzung bestehen zu können – und über die möglichen negativen Konsequenzen im Fall, dass man verliert – lassen besonders verwickelte Dilemmata entstehen, die die Handlung zum Stillstand bringen. Dies schafft ein Gefühl der Machtlosigkeit, das sich zu Gefühlen der Wut verwandelt, die bereits gegenüber dem Vollstrecker empfunden wurden, doch jetzt auf sich selbst gerichtet sind. Der „Grund“ für die „Unterwerfung“ des Opfers liegt nicht bei der Boshaftigkeit des anderen, sondern ausschließlich bei der eigenen Passivität. Es spielt keine Rolle, wie sehr dieser Gedankengang zutrifft, der Ausgang ist immer eine sehr große Scham. Schuld und Scham verschlimmern sich stark, wenn man Zeuge des Todes anderer Menschen gewesen ist. SELBSTERSCHRECKUNG (ZEUGE FORM VON NÖTIGUNG) FALL 108
EINER GEWALTHAFTEN
UNTERWERFUNG
IN
Als meine Stiefmutter von der Arbeit nach Hause kam, forderte mein Vater sie auf, das Abendessen vorzubereiten, weil er Hunger hatte, doch sie antwortete: „Ich bin müde, ich mache das Abendessen nach einer Dusche.“ Dann sagte mein Vater: „Hier habe ich das Sagen, nicht du. Du machst das Abendessen, wenn ich es dir sage. Geh und mach es.“ Doch sie sagte: „Nein, ich will vorher duschen.“ Nach dieser Antwort hatte ich Angst, dass mein Vater demonstrieren wollte, was er für ein Macho war. 8
Athens (1992, S. 42).
Die Erschaffung gefährlicher Gewaltverbrecher
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Nach der Antwort meiner Mutter, sagte mein Vater zu ihr: „Widersprich mir nicht, du Schlampe!“ und gab ihr einen harten Faustschlag auf die Brust. Sie rief: „Ich verlasse dich. Ich gehe zu meiner Mutter zurück.“ Und er: „Du gehst nirgends hin, du Schlampe. Jetzt mach uns das Abendessen.“ Dann begann er sie überall zu schlagen. Sie hob die Arme zum Schutz vor das Gesicht und sagte: „Nein, Tom, tu das nicht, Tom, nein, hör auf.“ Aber er wollte ihr nicht Recht geben und schlug weiter auf sie ein, bis sie weinend zu Boden fiel. Doch er stieg auf sie rauf und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Ich wurde immer wütender, als ich mir diese Szene ansah. Ich mochte meine Stiefmutter sehr gerne und ich hielt es kaum aus, dazusitzen und zuzuschauen, wie er sie schlug. Ich wollte ihm etwas antun. Das erste, was mir in den Sinn kam, war, die Uhr von der Wand zu nehmen und ihn damit auf den Kopf zu schlagen. Dann stellte ich mir vor, das Fleischermesser aus der Küche zu nehmen und ihm damit den Kopf abzuschneiden. Ich wollte ihn umbringen, aber ich war so voller Angst, dass ich nichts unternehmen konnte. Ich blieb einfach da und schaute zu, während mein Vater sie unendlich lang, die Minuten erschienen als Stunden, mit den Fäusten massakrierte. Ich wurde sehr wütend auf mich selbst, weil ich nicht in der Lage war, ihm etwas anzutun. Am Ende konnte ich nicht mehr weiter zusehen und rannte aus dem Haus, um Hilfe zu holen.
Die besonders destruktiven Aspekte von Erfahrungen der „Unterwerfung“ und der „persönliche Horrifizierung“, hinterlassen dauerhaft Spuren im Menschen, „Beweise“ des eigenen Übergangs, dessen Existenz durch eine ungeregelte Verlängerung von verwirrten Gefühlen und Gedanken in der Zeit – sogar noch nach der Beendigung der Gesten der „Herrschaft“ – belegt wird. In der Sprache der theoretischen und kulturellen Welt der von uns betrachteten Autoren kann die erste Erfahrung aus körperlicher Sicht traumatisierender sein, die zweite hingegen aus psychologischer Sicht: beide entstehen jedenfalls innerhalb von Welten, die durch eine „negative symbolische Interaktion“ gekennzeichnet sind – einem Beziehungs-Kontext, in dem „die Handlungen und die Ausdrücke jedes Mitglieds [der Primärgruppe] gewalttätige Reaktionen oder unterdrückte Gewalt bei jedem anderen Mitglied hervorrufen“ (Denzin, 1984b, S. 490). Es handelt sich um symbolische Interaktionen, die „[...] den Einsatz von emotionaler und physischer Kraft fördern, um zurückzugewinnen, was durch die Anwendung von Gewalt verloren wurde – dieses Gefühl der Intimität, der Nähe […], das alle Primärgruppen kennzeichnen sollte“ (Athens, 1992, S. 38). Fall 10 ist paradigmatisch dafür, wie in einer Familie gewalttätige Interaktionen zwischen den Individuen immer dann entstehen können, wenn sie an einem System teilhaben, dass immer mehr aus „negativen symbolischen Interaktionen“ besteht, die den Verlauf des täglichen Lebens problematisch und unvorhersehbar machen.
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Viertes Kapitel
Erziehung zur Gewalt FILM: FULL METAL JACKET Sergeant Hartman beginnt mit der Ausbildung der neuen Rekruten. Sergeant Hartman: „Ich bin Gunnery Sergeant Hartman und zuständig für eure Grundausbildung. Von nun an werdet ihr nur reden, wenn ihr angesprochen seid ...und das erste und letzte Wort aus eurem dreckigen Maul wird ‘Sir’ sein, habt ihr Maden das verstanden?“ Alle Rekruten: „Sir. Jawohl, Sir.“ Sergeant Hartman: „Bullshit! Ich hör ja nichts. Habt wohl alle nur Luft im Sack... .“ Alle Rekruten: „Sir, jawohl, Sir.“ Sergeant Hartman: „Wenn ihr Ladies meine Insel verlasst, wenn ihr meine Ausbildung überleben solltet, seid ihr eine Waffe, seid ihr Priester des Todes und betet um Krieg, aber bis zu diesem Tag seid ihr Dreck, seid ihr die niedrigste Lebensform auf Erden, seid ihr noch nicht mal annähernd sowas wie Menschen, seid ihr nichts weiter als ein unorganisierter Haufen von amphibischer Urscheiße. Ihr werdet mich nicht mögen, weil ich hart bin. Je mehr ihr mich hasst, desto mehr werdet ihr lernen. Ich bin hart, aber ich bin fair. Rassistische Bigotterie gibt es hier nicht... ich kenne keine Vorurteile gegen Nigger, Yidden, Spaghettis, Latinos... . Hier seid ihr zusammen gleich wertlos und meine Aufgabe lautet alle Schlappschwänze auszusondern, die nicht kräftig genug sind für mein geliebtes Corps. Habt ihr Maden das verstanden?“
Einen „Novizen“ zum Erwerb eines neuen „Selbstbildes“ zu führen, verlangt einen bestimmten Sozialisierungsprozess (Coaching), der von der Seite des Coach – demjenigen, der „führen“, leiten will – eine Reihe von Maßnahmen abverlangt, die einen dauerhaften Effekt anstreben: man muss „gemeinsam einen Weg beschreiten, der in Etappen unterteilt ist, von Ereignissen gekennzeichnet ist, die die Überwindung einer Phase kennzeichnen sowie den Übergang zu einer höheren Ebene“ (Perrotta, 2005, S. 111). Die Macht, zur Gewalt zu erziehen, egal ob in einem militärischen Kontext oder nicht, wendet besondere Tricks und Techniken an, die zum Ziel haben, dem Schüler eine positive Identität zuzuschreiben, die konform ist mit dem Verhalten, das der Dresseur sich wünscht (altercasting) (Perrotta, 2005, S. 112) – genau das Gegenteil von dem, was bei einem „neidischen Vergleich“ geschieht, den wir in Kürze behandeln. Diese Maßnahme setzt, um das zu erreichen, was man sich vornimmt, gute Fähigkeiten des Role-Taking voraus,
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der Fähigkeit, sich in die Haut desjenigen zu versetzen, der einen in Richtung der vorherbestimmten Identität führt.9 Die „Ausbilder“ derjenigen, aus denen stark deviante Subjekte werden könnten, sind normalweise Menschen, die älter als der „Novize“ sind, Familie, Freunde, einflussreiche und / oder autoritäre Personen mit größerer Erfahrung. Ausschlaggebend ist, dass der „Beherrschende“ seiner „Primärgruppe“ angehört und glaubt das Recht / die Pflicht zu haben, darüber zu belehren, wie man sich in Konfliktsituationen verhalten oder nicht verhalten sollte. FILM: DOGVILLE Grace trifft auf ihren Vater, dem gefürchteten Gangster, der in Dogville erscheint, wo sie hin geflüchtet war, um sie dazu zu bewegen nach Hause zurückzukehren, aber vor allem, um ein Gespräch zu beenden, das sie vor langer Zeit begonnen hatten. Grace: „Musst du erst deine Handlungen rechtfertigen, bevor du uns erschießt? Das ist neu. Das könnte man dir leicht als Schwäche auslegen, Daddy. Ich bin enttäuscht von Dir... .“ Vater von Grace: „Ich werde doch niemanden erschießen.“ Grace: „Du hast schon mal auf mich geschossen.“ Vater von Grace: „ja, tut mir leid, das bereue ich. Du bist fortgelaufen, aber auf dich zu schießen hat die Sache nicht besser gemacht. Natürlich nicht, du bist viel, viel zu dickköpfig.“ Grace: „Wieso bist du hier, wenn du mich nicht töten willst?“ Vater von Grace: „Unsere letzte Unterhaltung, die, in der du mir gesagt hast, was du an mir nicht magst, wurde nie abgeschlossen, weil du fortgelaufen bist. Folglich sollte mir erlaubt sein dir zu sagen, was ich an dir nicht mag. Das sollte doch wohl die Regel sein bei einem höflichen Gespräch.“
9
Hier lässt sich die Distanz zwischen der Perspektive von Athens und der von Noel Mailloux (1971) erkennen, einem kanadischen Psychologen / Kriminologen, der sich den Begriff der „negativen Identität“ von Erik Erikson zu eigen gemacht hat und behauptet hat, dass Verbrecher grundsätzlich von einer negativen Wahrnehmung von sich selbst gekennzeichnet sind, die durch die Verinnerlichung der negativen Erwartungen der bedeutungsvollen Anderen entsteht, die auf der Verhaltensebene abwertende und aggressive Verhaltensweisen an den Tag legt, eine Art „Maske des Bösen“ zur Schau stellt (ein Begriff, der in Italien von Scaparro / Roi, 1982 aufgegriffen wurde), mit dem der Träger sein Unbehagen ausdrückt. Die Distanzierung von den Anderen ist nach Mailloux von einer Abwertung der Gesprächspartner und einem entsprechenden narzisstischen Verhalten gekennzeichnet, das dazu führt, dass man sich isoliert und seine abweichenden Verhaltensweisen fortsetzt, welche schließlich zu „Identitätsstörungen“ führen.
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Viertes Kapitel Grace: „Und deswegen tauchst du hier auf? Und du nennst mich dickköpfig? Bist du sicher, dass du nicht hier bist um mich zur Rückkehr zu zwingen, damit ich so werde wie du?“ Vater von Grace: „Nun, wenn ich es für möglich hielte dich zu zwingen... aber natürlich ist das völlig aussichtslos. Du bist mehr als nur willkommen, wenn du nach Hause zurückkehrst und wieder meine Tochter wärst, jeder Zeit und ich würde sogar anfangen meine Macht und Verantwortung mit dir zu teilen, falls du zurückkehrst. Nicht, dass dir ‘was daran läge... .“ Grace: „Also, was ist es? Was ist die Sache, die Sache, die du nicht an mir magst?“ Vater von Grace: „Es war ein Wort, das du benutzt hast und das mich provoziert hat. Du hast mich arrogant genannt.“ Grace: „Zu plündern, als wäre es ein von Gott verliehenes Recht, das nenne ich arrogant.“ Vater von Grace: „Aber das ist genau der Punkt, den ich nicht an dir mag. Du bist doch arrogant.“ Grace: „Jetzt bist du hier, um mir das zu sagen? Ich schwinge mich nicht zum Richter über andere auf, du tust das, Daddy, du tust das.“ Vater von Grace: „Nein, nein. Du schwingst dich nicht zum Richter auf, weil du mit ihnen sympathisierst. So was wie eine zerrüttete Kindheit? Und in der Folge davon ist ein Mord nicht unbedingt ein Mord, richtig? Du machst allein die Umstände für alles verantwortlich. Vergewaltiger und Mörder mögen gemäß deiner Auffassung Opfer sein doch ich, ich nenne sie „Hunde“ und wenn sie eigenes Erbrochenes auflecken, dann kann man sie nur mit der Peitsche davon abhalten.“ Grace: „Aber Hunde gehorchen nur der eigenen Natur, also warum sollten wir ihnen nicht vergeben?“ Vater von Grace: „Hunden kann man viel Nützliches beibringen, aber nicht, wenn wir ihnen jedes Mal vergeben, wenn sie ihrer eigenen Natur gehorchen.“ Grace: „Also bin ich arrogant. Ich bin arrogant, weil ich anderen Menschen vergebe... .“ Vater von Grace: „Mein Gott, merkst du nicht, wie... wie herablassend du bist, wenn du das sagst? Ich meine du gehst von... du gehst von diesem Vorurteil aus, dass niemand [Grace: „Nein...!“] Hör zu, dass wirklich niemand einen dermaßen hohen moralischen Anspruch an sich stellt wie du, also entlastest du sie. Ich kann mir nichts, auch nicht das geringste vorstellen, dass arroganter wäre als das. Du mein Kind, mein liebes Kind, du vergibst anderen mit Entschuldigungen, die du nie und nimmer für dich selbst geltend machen würdest.“ Grace: „Warum sollte ich nicht barmherzig sein, warum nicht?! Vater von Grace: „Nein, nein, nein, du solltest, du solltest barmherzig sein, wenn Barmherzigkeit angebracht ist. Aber bleib dabei deinen Ansprüchen treu. Das schuldest du ihnen, das schuldest du ihnen. Die Strafe, die du mein Kind verdienst, für all deine Vergehen, die verdienen auch sie für all ihre Vergehen.“ Grace: „Sie sind menschliche Wesen.“
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Vater von Grace: „Nein, nein, nein, natürlich... Muss sich jeder Mensch für seine Taten rechtfertigen? Natürlich muss er das. Doch du lässt ihnen nicht mal die Chance dazu und das ist extrem arrogant! Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich bis in den Tod. Aber du bist die arroganteste Person, der ich je begegnet bin. Und du nennst mich arrogant! Ähm, ich ähm, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“ Grace: „Du bist arrogant, ich bin arrogant, du hast es gesagt und jetzt kannst du fahren.“ Vater von Grace: „Und.. äh... ohne meine Tochter vermute ich. Ich sagte „ohne meine Tochter... .“ Grace: „Hm, ja.“ Vater von Grace: „Nun... .“ Grace: „Ja!“ Vater von Grace: „Du entscheidest, du entscheidest... ähm...Grace, es heißt... ähm... es heißt, du hast hier ein paar Schwierigkeiten.“ Grace: „Nein, auch nicht mehr als ich zu Hause habe.“ Vater von Grace: „Ich gebe dir Zeit darüber nachzudenken. Vielleicht überlegst du dir’s noch anders.“ Grace: „Das werde ich nicht.“ Vater von Grace: „Hör mal, mein Liebes, Macht ist... ist gar nicht so schlecht. Ich bin mir sicher, du wirst einen Weg finden sie nach deinem Geschmack zu nutzen. Denk bei einem Spaziergang darüber nach.“ Grace: „Die Menschen, die hier leben, sie tun ihr Bestes unter sehr, sehr harten Bedingungen.“ Vater von Grace: „Wenn du das sagst, Grace. Aber ist ihr Bestes wirklich gut genug? Ich liebe dich.“
„Obgleich die Erziehung zur Gewalt informal und implizit ist [wie im Fall der militärischen Ausbildung], ist ihr Ziel, ein gewalttätiges Verhalten zu verursachen, allen klar“ (Athens, 1992, S. 46). Genauso entscheidend ist, dass derjenige, der abrichtet, für diejenigen, die ihn ernst nehmen müssen „glaubwürdig“ rüberkommt und nicht als einer, der mit gewalttätiger Unternehmungen angibt, die niemals durchgeführt wurden. Die individuelle Bereitschaft auf die hingewiesenen oder von der „Autorität“ auferlegten Kriterien einzugehen, erweist sich als größer, wenn die Autorität zeigt, dass sie sie mit großer Sicherheit, Bestimmtheit, mit dem festen Glauben an ihre Korrektheit unterstützt. Das, was erreicht wird, muss selbstverständlich, unzweifelhaft erscheinen […]. Es muss absolut klar sein, an was man glauben soll und was man tun soll (Popitz, 1992, S. 101).
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Viertes Kapitel
FILM: FULL METAL JACKET Das Gebet der Soldaten. Alle Rekruten im Chor: „Das hier ist mein Gewehr. Es gibt viele andere, aber dieses ist meins. Mein Gewehr ist mein bester Freund, es ist mein Leben. Ich muss es meistern, wie ich mein Leben meistern muss. Ohne mich ist mein Gewehr nutzlos, ohne mein Gewehr bin auch ich nutzlos. Mein Gewehr verfehlt sein Ziel nie. Ich muss schneller schießen als mein Feind, denn sonst tötet er mich. Ich muss ihn erschießen, bevor er mich erschießt – das werde ich. Vor Gott glaube ich und schwöre: mein Gewehr und ich werden mein Vaterland verteidigen. Wir sind die Bezwinger unserer Feinde, wir sind die Bewahrer meines Lebens. Das schwöre ich, bis kein Feind mehr ist, nur Frieden.“
Die Wende, um zum gewalttätigen Handeln zu motivieren und zu bewegen, beginnt mit der Lektion, dass die Welt von bösen und Unheil stiftenden Menschen bewohnt wird und teilweise auch Menschen dazu gehören, an die wir emotional gebunden sind, und dass in feindseligen Situationen physische Aggression das geeignetste und akzeptabelste Mittel ist, die Auseinandersetzungen mit den Rivalen zu gewinnen. Im Laufe dieser Ausrichtung zur Gewalt produzieren „Autorität“ und „Macht“, didaktische Prinzipien und ständige Versuche zur Beeinflussung, die ersten Abweichungen des Self des „Novizen“, die auf die Bildung einer „Kosmologie der Gewalt“ vorbereiten. Das Unternehmen einer gewalttätigen Handlung wird als eine persönliche Verantwortung verstanden, der man sich nicht entziehen kann und der man nachgehen muss, egal ob die Feinde männlich oder weiblich, jung oder alt, robust oder nicht sind. Der „Dresseur“ gibt nicht nur das Know-how weiter, wie man die anderen bei einem physischen Kampf angreifen kann, sondern verlangt vor allem, dass die Überzeugung verinnerlicht wird, es gebe Menschen, welche von dem, der Position des Schülers einnimmt nachdrücklich angegriffen und beherrscht werden müssen. Wer den Regieraum besetzt, der weiß, dass die Anerkennung seiner Überlegenheit seitens des Untergeordneten zu einer Offenheit und einer Bereitschaft, sich seinen Gehorsamsansprüchen anzupassen, führt, welche umso glaubhafter werden je mehr er in der Lage ist, Befehle zu erteilen, die für die Untergebenen wie genaue und unausweichliche aut-aut klingen. Die „Dresseure“, von denen hier die Rede ist, sind – was klargestellt werden sollte – keine Gestalten, die mit den sparring partner vergleichbar sind, die es in der Welt des Boxens gibt, also eine Art Garanten des „Kodex der Gewalt“, der in jenen kleinen „geschützten Gemeinschaften“, welche die Boxerschulen sind, gilt. Zwischen Boxer und Trainer herrscht ein Ehrenkodex, der auf der einen Seite eine ausgeglichene Verbindung und auf der anderen Seite Kampfrituale vorsieht, die dessen bereits festgelegte Entscheidung garantieren.
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Gewalt erfolgt „einvernehmlich“ – ganz im Gegensatz zu dem, was zwischen dem „gewalttätigen Erzieher“ und dem Schüler passiert – in dem Sinne, dass der Boxer, in der besten körperlichen Verfassung akzeptiert, nicht zu stark zuzuschlagen, und damit die Grenzen des working consensus respektiert, der mit den sparring partner besteht.10 Werden zu starke Schläge verpasst, kann sich die escalation so lange verschärfen, bis ein Zeichen von beiden Seiten den Kampf zurück in die vorher durch den Schlagabtausch bestimmten Grenzen verweist. Der Coach überwacht diese „Konversation mit Schlägen“, um sicherzugehen, dass ein weniger harter Kämpfer nicht ums Leben kommt und um zu vermeiden, dass das Training unkontrolliert ausartet: Es handelt sich also nicht, wie der Novize wahrzunehmen glaubt, um einen unkontrollierten Ausbruch und Austausch von Gewalt, sondern um ein durchgängiges und stark kodifiziertes Schema von Interaktionen, die zwar von Gewalt bestimmt sind, aber, im selben Maß, ständiger Kontrolle unterliegen, und deren Zustandekommen eine konstante praktische Zusammenarbeit der beiden Opponenten bei der Schaffung und Wahrung eines dynamischen Gleichgewichts der Konfliktsituation erfordert. Für Boxer mit einer entsprechend guten Ausbildung ist die ständig wiederkehrende Duellsituation im Sparring ein Vergnügen, aber sie sind sich bewusst, dass diese Konfrontation grundsätzlich durch »außervertragliche Klauseln« eingeschränkt ist und sich insofern deutlich vom eigentlichen Wettkampf, dem sie sich anzunähern sucht, unterscheidet, als sie immer ein Element »antagonistischer Kooperation« beinhaltet, die beim Wettkampf explizit als unerwünscht gilt (Wacquant, 2000, S. 89).
FALL E: MORD Als Junge erlebte ich, wie die Großen mich ausnutzten. Schon in X ging ich in eine Boxschule, einer Art Fitnessstudio. Ich wurde so sehr geschlagen, dass ich auch anfing, ein wenig auszuteilen, sogar die älteren habe ich geschlagen, die Siebzehnjährigen, die mich vorher immer verprügelt hatten. Im Fitnessstudio waren wir alle gleich. Es gab einen guten Trainer, der uns beigebracht hat: „Stell dich so hin, schlag so... .“ Ich habe das nur ein Jahr lang gemacht, aber es war mir trotzdem noch nützlich. Der wollte auch kein Geld. Er war einer, der im Viertel Gutes tat. Wenn du kein guter Schläger bist... steckst du sie immer ein... besonders in Vierteln wie meinem, in dem diejenigen, die schon siebzehn waren, immer zu einem, im Dialekt, sagten: „Verpiss dich oder du kriegst einen Tritt in den Hintern!“ Pa! Pa! Pa! Und sie schlugen mich. Sie taten mir weh und ich forderte sie heraus: „Bete, dass du größer wirst als ich, sonst reiß ich dir den Arsch auf.“ Und sie: „Naja, wenn du später so groß bist wie ich, sprechen wir nochmal darüber.“ Ich 10
Zu diesen Themen s. Wacquant (2000, S. 89–90), der hervorhebt, dass dieser „kooperative informelle Befehl, der für die Novizen besonders problematisch ist, die, weil sie Form und Inhalt verwechseln, nicht in der Lage sind, ihre Aggressivität zu ‘dosieren’ und sich nicht davon abbringen lassen, mit aller Kraft zuzuschlagen, um so ihren Wert unter Beweis zu stellen“.
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Viertes Kapitel habe viele von ihnen danach verprügelt. Bei den meisten war es nicht einmal nötig, dass ich sie verprügelte. Eine Geste reichte schon [ich hielt sie an der Wange fest]. Diejenigen, die mich geschlagen hatten als ich klein war... wurden vor mir verprügelt als ich achtzehn war und sie ungefähr fünfundzwanzig... da verprügelte ich sie schon, sie hatten bereits Angst vor mir. Damals verging kein Tag, ohne dass man welche einsteckte oder austeilte... meistens steckte man ein... ich gebe es zu... denn ich war damals noch nicht gut.
Motivationstechniken für die gewalttätige Reaktion auf Provokationen Die dauernde Übung des sparring führt zu einer „einvernehmlichen“ Ausbildung der Sinne und des Körpers, einer Art von „emotionalen Arbeit“, die zu einer allmählichen Neuorganisation der kinetischen Gewohnheiten, der Ausdruckskanäle der Aggressivität und der Wahrnehmungskapazitäten.11 Zu einer richtigen Sozialisierung eines Boxers gehört nämlich die Haltung, Wirkungen der empfangenen Schläge zu ertragen und den „ersten Reflex des Selbstschutz“ zu unterdrücken, der die Koordinierung der Gegenoffensive verhindert und somit dem Gegner einen Vorteil verschafft, sowie zu lernen, „den Gefühlen zu widerstehen“. Doch die „Boxer-Pädagogik“ will mehr als nur die Vermittlung körperlicher Kampftechniken, denn sie möchte die realistischen Erwartungen definieren, die mit dem Aufstieg des Boxlehrlings in der Hierarchie der Welt des Boxens einhergehen. Alles, was in Bezug auf die sparring partner gesagt wurde, gilt auch für die Rekruten der Streit- oder Polizeikräfte. FILM: TROPA DE ELITE Oberst Roberto Nascimento leitet die erste Ausbildung der Anwärter für den Bope. „Ihr seid alle freiwillig hier. Niemand, absolut niemand hat euch eingeladen! Und ihr seid hier nicht willkommen. Bereitet eure Seelen darauf vor, denn eure Körper gehören nun uns. Ich eröffne hiermit das BOPE-Ausbildungs-Camp... .“ „Wir bringen unseren Männern bei in die Slums einzufallen und die Dealer zu überrumpeln... sie dürfen nicht wissen, woher wir kommen, es ist eine Kunst... und 11
„Somit setzt das Training eine Dialektik der Körperbeherrschung und der Beherrschung der Visualität in Gang: Um zu verstehen, was man tun muss, beobachtet man die anderen Boxer, aber man sieht nur dann wirklich, was sie tun, wenn man schon etwas davon mit den Augen, d.h. mit seinem Körper, verstanden hat“ (Wacquant, 2000, S. 121). Wie er in seiner teilnehmenden Beobachtung aussagt: „Vor allem bekomme ich nach und nach das besondere ‘Auge‘ dafür, das es mir ermöglicht, die Angriffe meines Gegners zu erraten, indem ich die entsprechenden Anzeichen aus seinen Augen, seiner Schulterhaltung oder der Bewegung seiner Hände und Ellbogen lese.“ (Wacquant, 2000, S. 91).
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wie bei jeder Kunst macht Übung den Meister... wir schlüpfen einer nach dem anderen hinein. Es geht um die perfekte Choreographie... . Schön langsam, 0-6. Langsam. Langsam. Was machst du jetzt? Überprüf das Gebiet, geh dann weiter. Gut gemacht 0-6, gut gemacht. Überprüfen und gehen. Jetzt vorwärts, sehr gut! Schön ruhig bleiben. Was kommt jetzt? Warte. Ist deine Deckung da? Ja. Hier kann der Teufel los sein, aber du bleibst ruhig. Augen geradeaus. Alles klar? Dann los. Wenn du vorwärts kannst, dann geh. Sehr gut, 0-6. Genau! Die Abschlussprüfung findet unter realen Bedingungen statt... .“
Wenden wir uns wieder den „Gewalterziehern“ zu, so scheint es nicht übertrieben zu sein von „Motivationstechniken für die gewalttätige Reaktion auf Provokationen“ zu sprechen. Die erste ist zweifellos die „Ruhmsucht“. Der „Dresseur“ verherrlicht Brutalität und Grausamkeit, indem er persönliche Anekdoten von Gewaltgesten erzählt, in denen der Plot der Erzählung einem elementaren und vorhersehbaren Weg folgt: ein „guter“ Mensch gerät gegen seinen Willen in eine körperliche Auseinandersetzung mit einem „bösen“. Dann unterwirft der „gute“ den „bösen“ Menschen und fügt ihm eine entschiedenen und verdienten Erniedrigung aus. Der „Gute“, der „Held“ ist offensichtlich er selbst oder ein Freund, dessen Heldentaten er glorifiziert. Außerdem können die Erzieher auch auf die List zurückgreifen, jede Episode so zu erzählen, als ob sie allen bekannt sei, und fügt damit ein erzählerisches Element hinzu. Das pädagogische Prinzip das dieser Technik zugrunde liegt, ist das passive Vergnügen: die „Novizen“ fühlen ein gewisses Vergnügen, wenn sie den Taten lauschen, weil sie sich in die Rolle des Protagonisten hineinversetzen. Die moralische Botschaft ist jedoch, dass die anderen den Ruhm erlangt haben und Helden oder Antihelden geworden sind, indem sie auf Gewalt zurückgegriffen haben und dass auch die Schüler solche Modelle anstreben können Paolo Jedlowski (2000, S. 161–162): Unter den Inhalten der Erzählungen können sich praktische Anleitungen, moralische Gebote, aufschlussreiche Anekdoten befinden: das ist der funktionale Bereich der Unterweisung. In manchen Fällen kann die Funktion einen stark normativen Charakter annehmen: Erzählungen über Dinge, die man tun oder nicht tun soll, lehrreiche Beispiele, Ausdrücke der Missbilligung und, umgekehrt, der Wertschätzung gewisser Verhaltensweisen. So wird eine Erzählung zu einem Instrument der Kontrolle […].Typisch für eine Erzählung ist allerdings, dass Normen und Werte hier nie abstrakt gezeigt werden: es handelt sich eher um eine Verallgemeinerung potentiell realisierbarer Beispiele.
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Viertes Kapitel
Erziehung zur Gewalt: Ruhmsucht FALL 20
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Mein Vater hatte mir beigebracht, dass ein wahrer Mann immer seine eigenen Schlachten schlägt und sich selbst verspricht sich an dem zu rächen, der ihn betrogen hat. Nicht nur das. Ich war immer mit zwei älteren Typen unterwegs, die für mich wie ältere Brüder waren und die sogar noch häufiger von der Wichtigkeit sich zu rächen erzählten als mein Vater. Joe und Eagle erzählten mir, dass sie sich bei einigen Typen gerächt hätten, die sie ohne einen richtigen Grund abgezogen hätten und sie ihnen eine unvergessliche Lektion erteilt hätten. Ich werde niemals diese eine Geschichte vergessen. Ein Typ namens Al, hatte sie richtig abgezogen. Beide stürzten sich auf ihn und dann zu Boden, zogen ihn an den Haaren mit nach Hause, drückten seinen Kopf in die Kloschüssel und luden ihn dazu ein nach Äpfeln zu fischen. Sie behaupteten dem Typen eine Lektion erteilt zu haben, die er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen wird. Sie sprachen mit großer Befriedigung und Stolz von ihrer Heldentat. Ihre Rachegeschichten faszinierten mich immer wieder. Ich wollte auch Geschichten darüber erzählen, wie ich jemanden bestraft habe, der mich abgezogen hat, damit ich vor den anderen damit angeben konnte.
Die zweite Motivationstechnik ist die „Verhöhnung“ des „Novizen“ wegen seines Widerstrebens oder seiner Weigerung, denjenigen anzugreifen, der ihn provoziert hat. Gezwungen zu einem „neidischen Vergleich“ mit dem Ausbilder und von diesem lange „gequält“, bleibt dem „Novizen“ nichts anderes übrig, als seinem Gesprächspartner gegenüber unterlegen zu sein, und er hat es deshalb „verdient“, verspottet zu werden. Je länger die „Qual“ andauert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass man sich für eine aktive und gewalttätige Geste entscheidet, statt noch weitere Erniedrigungen zu ertragen. Die Erniedrigung kann außer durch „Verspottung“ auch durch Drohungen mit körperlichen Strafen seitens des Coach herrühren, der so in der Lage ist, Angst zu erzeugen und denjenigen in eine Art cul de sac zu werfen, der sich entscheiden muss, ob er sich sofort dem Erzieher unterwirft oder, ungewisser, durch einen Antagonisten eine Niederlage erleidet.
Erziehung zur Gewalt: Nötigung FALL 22
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Meine Mutter, mein Stiefvater und mein älterer Bruder sagten alle das gleiche zu mir: „Wenn du den Leuten auch nur einmal erlaubst auf dir herum zu trampeln, denken sie, dass du eine kleine Schlampe bist, eine Hure und dann nutzen sie dich aus. Wenn du sie nicht mit den Händen bestrafen kannst, versuch es mit etwas an12 13
Athens (1992, S. 49). Athens (1992, S. 51).
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derem, schlag sie mit dann damit. Bestraf sie so oft du nur kannst.“ Sie sagten mir auch: „Wenn jemals jemand auf dir herumtrampelt, versuch sie besser selbst zu bestrafen, sonst werden wir dich bestrafen. Was ist dir lieber, dass du sie bestrafst oder wir dich?“ Sie brachten mir bei, keine Scheiße von den anderen zu akzeptieren. Wenn ich es doch gemacht hätte und sie es herausgefunden hätten, weiß ich, was sie mir angetan hätten. Sie hätten mich so richtig bestraft.
Die vierte „Technik“, von der Gebrauch gemacht wird, ist das „Plädoyer“, dessen didaktisches Prinzip in einem „ständigen Melodrama“ zu finden ist: man überzeugt jemanden zu etwas, wenn man ihn sklavisch und mit Überzeugungskraft das Modell wiederholen lässt, das der andere „imitieren“ soll.
Erziehung zur Gewalt: Plädoyer FALL 37
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Meine Mutter und meine Oma waren der Meinung, dass man sich von niemandem etwas gefallen lassen sollte und dass auch Frauen sich verteidigen und kämpfen sollten. Sie dachten, dass es nicht richtig wäre sich beleidigen zu lassen, sich schikanieren oder bedrohen zu lassen. Sie hätten niemandem erlaubt sie zu nerven. Sie waren mutig und sich hätten sich sowohl mit Männern als auch mit Frauen auseinandergesetzt. Beide werden mir wohl tausendmal gesagt haben, dass es besser wäre, ich würde lernen mich selbst zu verteidigen. Sie sagten zu mir: „Du kannst dich nicht immer auf Männer verlassen, sie sind nicht immer bereit sich dich einzusetzen und können versuchen dir wehzutun, also ist es besser, wenn du dich selbst verteidigen kannst. Eine Frau muss agieren und nicht nur reagieren, wenn sie belästigt wird.“ Meine Mutter und meine Oma haben diese Worte unendlich oft wiederholt und das, seitdem ich neun Jahre alt war und bis ich ihr Haus verlassen habe.
Die fünfte und letzte Technik, die der Erziehung zur Gewalt dient, ist die „Bedrängung“, die aus der Kombination aller vorherigen Techniken besteht, mit Ausnahme des „Plädoyers“. Das didaktische Prinzip, auf das sich die „Bedrängung“ stützt, ist der „Exzess“, also eine starken Mischung aus Bestrafung und sozialer Belohnung um jede Resistenz gegen die Durchführung von Gewalttaten zu unterdrücken und zu überwinden.
Erziehung zur Gewalt: Bedrängung FALL 25
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Mein Vater sagte mir, ich müsse erwachsen werden und zu einem Mann wie er werden, aufhören mich wie ein kleiner Junge zu verhalten und mir von den anderen alles gefallen zu lassen. „Wenn du ein Mann werden willst“, sagte er, „musst 14 15
Athens (1992, S. 54). Athens (1992, S. 55).
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Viertes Kapitel du dich vor anderen verteidigen können. Ich akzeptiere von niemandem irgendeinen Scheiß und du sollst das auch nicht.“ Oder auch: „Sohnemann, mit zehn Jahren trat ich bereits allen Muschis in der Umgebung in den Hintern. In deinem Alter trat ich fast jeden, der in meine Nähe kam in den Hintern. Verdammt, ich hätte deinen weiblichen Hinter ohne Probleme massakrieren können. Ich werde das immer können. Du bist bloß eine Muschi.“ Jedes Mal, dass mein Vater mich sah, sagte er: „Hey Muschi, was machst du so?“ Am Anfang war es mir egal, dass mein Vater mich Muschi nannte und mir sagte, dass ich niemals in der Lage wäre jemanden zu schlagen. Dann reichte es mir allerdings ständig zu hören, wie er prahlte. Jedenfalls machte er weiter damit mir zu drohen mich zu bestrafen und mich Muschi zu nennen, weil ich mich nicht schlug und vor mir zu betonen, wie hart und boshaft er doch immer wäre. Diese Sachen hatten letztendlich doch ihren Eindruck auf mir hinterlassen.
Wenn, wie es häufig vorkommt, die Novizen im Laufe ihres Lebens auf mehrere Gewalterzieher treffen, werden sich ihre Dressursysteme je nach den Präferenzen, die der neue Dresseur für die eine oder die andere Technik zum Ausdruck bringt, verändern. In einem Punkt lässt Athens keine Fragen offen: damit die „Verrohung“ als abgeschlossen bezeichnet werden kann, ist es notwendig, dass die Person in Kontakt mit allen drei Erfahrungen kommt, aus denen sie besteht. Was die Zeit angeht, die erforderlich ist, um die Phase der „Verrohung“ zu vollenden, so ist sie höchst variabel. Die „Dauer“ einer Erfahrung besitzt nämlich eine vorrangig qualitative Bedeutung: man muss sie sich wie eine Durchdringung aufeinanderfolgender Phasen vorstellen („gewalthafte Unterdrückung“, „persönliche Horrifizierung“, „Erziehung zur Gewalt“), deren Dauer der subjektiven Zeit des in jeder Phase bestehenden inneren Kampfes gegen die Versuchungen der „Beherrschung“ entspricht. Die Anzahl an Wochen, Monaten oder Jahren, die es braucht, um diese Erfahrung auszuschöpfen, wird jedenfalls für den Großteil der „Novizen“ innerhalb ersten Jahre der Adoleszenz abgeschlossen sein. Es bleibt die Tatsache, dass derjenige, der „verroht“ wurde, einem „verwirrten und chaotischen Zustand“ überlassen wird, der der nächsten Phase die Tür öffnet: dem „Kriegszustand“.
Gewaltbereitschaft oder Herausforderung Wer sich im Beginn der „Geealtbereitschaft“ darstellt, ist durch das, was er erfahren hat „fundamental gestört und verstört“ und neigt dazu, sich zu fragen: „Warum gerade ich? Wieso sind all diese Dinge ausgerechnet mir passiert?“ In dieser Verwirrung verwickeln sich kontrastierende Gedanken und Gefühle, die
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eine Konfusion und Orientierungslosigkeit in Bezug auf sich selbst und die Welt schaffen, aber auch dazu führen, dass man ungewöhnlich „reflexiv“ ist. Das Hindernis, das uns jemand in den Weg stellt, zwingt uns dazu, die Art und Weise wie wir zwischenmenschliche Beziehungen herstellen, ernsthaft in Frage zu stellen. Wenn dies passiert, begibt man sich auf die Suche nach einer Bedeutung, die den stark traumatischen Erfahrungen wieder einen Sinn verleiht, sowie nach Spuren, die im Verlauf der „Verrohung“ hinterlassen wurden und die nicht so leicht aus dem Gedächtnis gelöscht werden können.16 Die dringende Notwendigkeit, dem, was man erlebt hat, der eigenen Vergangenheit, einen Namen zu geben, erinnert an das, was man fühlt, wenn man dem Schmerz wegen des Todes eines geliebten Menschen, dem Ende einer langen und (bis zu dem Zeitpunkt) glücklichen Ehe oder einer langen Phase der Arbeitslosigkeit ausgesetzt ist. Was man dann tut, tut man auch, um der eigenen Gegenwart in Bezug auf die Zukunftsperspektiven wieder Schwung zu geben. Mitten in diesem Schutt wünscht man nämlich – und zwar unvermeidlich –, einen allgemeinen Rahmen neu zusammenzufügen, der die nunmehr verwirrten Beziehungen zu den Menschen und zur Welt, wieder zu orientieren vermag. Jede dieser drei Erfahrungen („gewalttätige Unterdrückung“, „persönliche Horrifizierung“ und „Erziehung zur Gewalt“) löst Reflexionen und artikuliertes Bewusstwerden aus: die erste führt zu intensiven md dauernden Wutgedanken, die erklären, dass, wenn man von jemandem „unterdrückt“ worden ist, andere dies erneut tun könnten; erlebt man die zweite, so kann sich ein Abgrund der Ohnmacht öffnen, der sich zu einem emotionalen Absturz der Selbstverachtung wird, da man nicht in der Lage gewesen ist, einen Menschen, der einem lieb ist, zu beschützen. Doch wann gelangt man an diesen neuen Punkt ohne Rückkehr, wie vermeidet man neue Horrifizierungen? Jetzt finden alle Lehren, die während der Erziehung aufgenommen worden sind, einen inneren Resonanzraum, denn erst jetzt schafft man es, dem Gebot zu gehorchen, zu dem man eine Zeit lang aufgefordert worden ist, aber während der es so ist, als ob man teilweise taub gewesen sei: „In dieser Welt ist es manchmal nötig, Gewalt anzuwenden.“ Diese Gedächtnisspur, die einen „positiven“ Ausgang hat, zeigt sich in Form einer „Offenbarung“, eines „Erwachens“.
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S. Kap. 2 zur „dramatischen Veränderung des Selbst“.
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Viertes Kapitel
In der Phase der „Gewaltbereitschaft“ setzt nach Athens eine „abgemilderte gewalttätige Entschlossenheit“ ein, da man sich das erste Mal im Leben dafür entscheidet, jemanden anzugreifen, der einen ungerechtfertigt provoziert hat. Die Absicht, ernsthaft zu verletzen oder gar zu töten (Athens, 1992, S. 60–62), zeigt sich jedoch nur jenem Fall, in dem Gewalt angeblich „absolut notwendig“ für das eigene psychische und physische Wohlbefinden ist und falls man sich zumindest eine kleine Erfolgschance ausrechnet. Diese Entscheidung, sobald sie einmal getroffen ist, beginnt ganz schnell, das Verhalten gegenüber anderen dauerhaft zu beeinflussen und für selbstverständlich gehalten zu werden. GEWALTBEREITSCHAFT: FALL 1417 Ich fühle mich noch ganz aufgewühlt, wenn ich an das denke, was mir zugestoßen ist. Ich werde niemals die Schläge, die mir mein Vater verpasst hat, vergessen, die Schläge, die, wie ich gesehen habe, er meiner Mutter und meiner älteren Schwester verpasst hat, und sein ständiges Prahlen mit lauter Stimme darüber, was er anderen angetan hat. Was mein Vater uns angetan hat, hat mich so mit Scham und Wut erfüllt, dass ich an den Punkt gelangte, selbst ein bösartiger Irrer zu werden. Ich habe mich zurückgezogen und wollte, dass sich alle von mir fernhielten. Ich wollte von niemandem gestört werden, dieses Mal war ich außer mir. Ich war bereit, jeden zu töten, der mich belästigte, wenn er nicht damit aufhörte.
FALL 318 Nachdem ich mehrere Mal verprügelt worden war, entschied ich, dass ich ein Verlierer war und nicht das, was ich sein wollte. Ich wollte kein Verlierer mehr sein, immer alles einstecken. Ich wollte nicht mehr vor den anderen fliehen. Das ging nicht mehr. Ich hatte gelernt, dass ich stark verletzen musste, bevor es mir angetan wurde. Falls ich es nicht schaffte, mit bloßen Händen starke Verletzungen herbeizuführen, hätte ich einen Ziegelstein, einen Stein, ein Messer oder eine Pistole benutzt. Da ich dünne war, brauchte ich normalerweise noch etwas anderes als meine Hände, um jemanden richtig wehzutun. Ich brauchte eine Waffe. Es war mir egal, wie kräftig jemand war... ein Messer oder eine Pistole führte sofort alles auf das richtige Maß zurück. Ich zögerte nicht mehr, eine Waffe zu gebrauchen, wenn mich jemand belästigte. In dieser Welt ist kein Platz für Schwache, deshalb bin ich ein Starker geworden. Wenn du nicht jedes Mal, wenn du zu Boden fällst, wieder aufstehst, hast du Probleme.
Wir können festhalten, dass auch die „abgemilderte gewalttätige Entschlossenheit“ zurückführbar auf einen präzisen „Wendepunkt“ dieses weiteren Prozesses namens „dramatische Veränderung des Selbst“ ist, der jedes Mal auftritt, 17 18
Athens (1992, S. 60). Athens (1992, S. 69).
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wenn einige traumatische Ereignisse einen dazu zwingen das eigene Self in Richtung einer neuen Sichtweise der Welt, die noch völlig neu erbaut werden muss, auszurichten.
Gewaltanwendungen oder gewalttätige Konflikte um die Herrschaft Ist die „abgemilderte Gewaltentschlossenheit“ erst verinnerlicht, lautet die Frage, die man sich im Inneren stellt: „Werde ich, wenn der Augenblick kommt, ich in der Lage sein, jemandem ernsthaft wehzutun?“ (Athens, 1992, S. 63). Die Antwort ist – selbstverständlich – immer eine problematische. Auch wenn die Person die Gewalt in der Rolle des Opfers erfahren hat, hatte sie noch keine Gelegenheit, sie aktiv in Hinblick auf ein Endziel zu praktizieren. Es dürfte mittlerweile selbstverständlich sein, dass nach Athens „jemanden das erste Mal mit Absicht ernsthaft zu verletzen, nicht zufällig passiert, wie es naiver Weise jemand glauben könnte, der noch nie diese Absicht hatte, geschweige sie jemals realisiert hat“ (Athens, 1992, S. 63). Der schmale rote Linie, welche diejenigen, die ein Leben ernsthaft gefährden, von denjenigen trennt, die sich dessen enthalten, ist schwer zu überschreiten. In solchen Kontexten steht ja faktisch auch die körperliche Sicherheit auf dem Spiel, sowie die psychologische Freiheit und das Wohlbefinden Gewalttäters selbst, der nur dann jegliche Unentschlossenheit und Unsicherheit bei der Umlenkung inneren Kampfes nach außen überwinden wird, wenn eine „höchst große“ oder „moderate“ Provokation vorliegt, die vom Opfer ausgeht.19 FALL C: MORD Derjenige, der dabei ist, die Tötungshandlung zu begehen, ist einige Zeit zuvor, gegen seinen Willen, in ein kriminelles Umfeld geraten und muss nun Menschen gegenübertreten, die entschlossen sind, ihren eigenen Willen, ihre eigenen Interessen mit jedem Mittel durchzusetzen. In diesem Kontext beginnt er, seine Wertewelt in dramatischer Weise entgleiten zu lassen und die Möglichkeit ernsthaft zu erwägen, mit Gewalt auf fremde Drohungen zu reagieren.
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Die „größtmögliche“ Provokation liegt dann vor, wenn die Handlungen des Opfers den Gesprächspartner oder eine ihm nahestehende Person in Gefahr bringt, während die „moderate“ dann auftritt, wenn die Handlungen des Opfers eine bewusste Herausforderung darstellen, die so grausam ist, dass sie zur Qual werden. Darüber hinaus gibt es auch eine „minimale“ Provokation, die all die Bewegungen enthält, die der Aggressor als provozierende ansieht, die jedoch nicht die Schwelle zur „moderaten“ Provokation überschreiten.
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Viertes Kapitel Meine ständige Angst war: „Wenn es passiert, wenn dieser Typ zu mir kommt... was soll ich dann tun?“ Obwohl ich immer diese Waffe bei mir hatte... meine Angst war nicht zu schießen, sondern eher eine Waffe dabei zu haben. Das hatte ich noch nie... doch ich war an einen Punkt angelangt, an dem ich mich wappnen musste und innerlich dachte: „Wenn der Augenblick kommt, dass ich diese Person treffe, wie soll ich dann reagieren? Soll ich ihm drohen? Wird er mir Zeit lassen mit ihm zu sprechen?“ Denn ich hatte ihn gesehen, wie er abends kam und mir den Fäusten auf die Kofferräume der Autos schlug und schrie: „Ich töte dich!“ Das passierte jeden Abend... . Abends sah ich ihn vom Balkon aus... ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte... denn hätte ich eine kriminelle Mentalität gehabt, wäre ich heruntergegangen und hätte sofort zu ihm gesagt: „Bringen wir es sofort hinter uns und das war’s!“ Aber ich war nicht so ein Typ... . Obwohl ich eine Waffe an mir hatte, wusste ich nicht, wie ich mich bewegen sollte, wie ich reagieren sollte. Diese Situation hielt bereits eine Woche, zehn Tage an... . Ich hielt es nicht mehr aus und dachte: „Ich könnte wieder weggehen... aber wo soll ich hin? Zu wem sollte ich gehen? Ich kannte niemanden außerhalb von diesem Milieu. Die Person, die zwischen mir und ihm vermittelte, kam zu mir und sagte: „Der hat die Absicht dir wehzutun... er will sich töten...“ und fügte hinzu: „Gib ihm das Geld und du wirst sehen, dass dir nichts passiert. Ich werde ihn schon zurückhalten.“ Der andere machte weiter mit seiner Art mich zu bedrohen... . Da er diese Absicht hatte, lief ich damals mit einer Pistole herum... die Pistole hatte ich zur Vorkehrung bei mir... . Angst hatte ich vor allem um meine Frau und meine Tochter... Ich sagte: „Jetzt steige ich aus dem Auto und spreche mit ihm...“. Er stieg sofort aus seinem Auto, um zu versuchen mich anzugreifen. Ich habe ihn gestoßen. In diesem Augenblick habe ich dann meine Waffe genommen und gesagt: „Stopp! Stopp!“ Er blieb nicht stehen... und so habe ich angefangen zu schießen... einfach so... ein Instinkt... kein Instinkt, ich weiß nicht... vor allem Angst, ich sah nicht einmal, dass ich schoss. Ich merkte nicht einmal, dass ich diese Sache tat... er schaffte es noch ins Auto zu steigen, dann blieb er stehen... er war tot... ich lief zu Fuß davon und ging dann zur Polizei, um mich zu stellen.
Wie wir bereits hervorgehoben haben, sind die Verbrechen, die als besonders „grausam“ gelten, diejenigen, die ohne offensichtliche Provokation verübt werden. Dieses Ungleichgewicht nimmt uns die Sicherheit über die Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens und setzt uns ungeschützt der grundlosen und unkontrollierten Gewalt aus. In dieser Phase des Prozesses der „Violentisierung“ geschieht dies alles noch nicht auf eine so endgültige und unheilbare Weise. Wer sich in Kontexten ohne Provokationen bewegt, oder in solchen, in denen nur kleinere Provokationen geschehen sind, kanalisiert sie de facto nicht durch Gewalttaten. Der „Ausgang“ dieser gewalttätigen Auseinandersetzung20 hat jedoch entscheidende Folgen für das Leben der Protagonisten. Während ein „bedeutsa20
Die Ergebnisse einer Gewalttat können sein: ein „Sieg“ (der bedeutungsvoll ist, wenn er „eindeutig“ ist und „dem Gegner schwere Verletzungen zugefügt werden“), eine „Niederlage“ (die bedeutungsvoll ist, wenn dem Unterdrücker schwere körperliche
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mer Sieg“ entscheidend zur nächsten Phase im Prozess der „Violentisierung“ drängt, kann eine „Niederlage“, die in dem Sinne ebenso „bedeutsam“ ist, als sie die Entscheidung für eine gewalttätige Lösung bekräftigt, ambivalente Auswirkungen haben: auf der einen Seite könnte man die Klugheit des vorherigen Entschlusses, gewalttätig zu handeln, grundlegend anzweifeln – und daraus schließen, eine geringe Neigung zur Gewalt zu haben – auf der anderen Seite könnte die „Niederlage“ paradoxer Weise die Vorhaben in diese Richtung verstärken. FALL E: MORD Ich war minderjährig, allerdings auch schon siebzehn Jahre alt. Damals wohnte ich in X. Ich sage das nicht um anzugeben, aber die Volljährigen hatten Angst vor mir. Ich verprügelte sie richtig! Einmal war ich mit meinen Freunden unterwegs und da war ein richtig kräftiger Typ, ein Verbrecher... . Da hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig Angst. Der Typ war richtig kräftig, kräftig und groß, und ich war eher schmächtig. Der hatte immer eine Tasche voller Geld dabei, und meine Freunde sagten mir: „Hey, weißt du, dass der richtig viel Geld hat?“ Ich war auch ein Taschendieb... . Damals traute sich niemand, einen Mann zu bestehlen, vor allem keinen Verbrecher. Ich beobachtete ihn genau... und sagte mir: „Wann kommt er denn?“ Jeden Morgen frühstückte er in einer Bar, und da beobachtete ich ihn... und ich bemerkte, dass er kräftig war und dass, wenn er sich mit mir anlegen würde... aber er hatte auch Geld, vielleicht drei, vier Millionen, was damals viel war. Während ich ihn musterte, sagte ich mir: „Verdammt, wenn ich etwas falsch mache, macht er mich fertig...“. Nachdem ich ihn zwei, drei Tage lang beobachtet hatte... da ich seine Zeiten kannte, kam ich eine viertel Stunde vor ihm an und ließ mir ein Toast zubereiten. Ich hatte die Zeit einkalkuliert, alles kalkuliert. Als er dann ankommt, schnappe ich mir seine Tasche und renne weg. Und er: „Hey, du Hurensohn!“ und rennt mir hinterher. Dann dachte ich mir irgendwann: „Wieso laufe ich denn weg? Jetzt mache ich ihn fertig...“ Ich kam in Versuchung und während ich rannte, dachte ich innerlich: „Mal sehen, ob ich es schaffe, ihn zu verprügeln... vielleicht ist er ein Fettsack...“. Ich bleib stehen... und... pam! Ich griff dann sogar noch nach seiner Uhr, ich hab sie gesehen, sie genommen und bin weggegangen. Meine Freunde, die die Szene mit angesehen haben, riefen: „Oh verdammt, wow!“ Als ein paar Tage vergehen, halten mich zwei Typen auf der Straße an. Diesmal habe ich richtig Angst bekommen. Das erste Mal in meinem Leben dachte ich, dass ich sterben müsste. Die beiden waren doppelt so kräftig wie der andere und Verletzungen zugefügt werden), eine no decision oder ein „Gleichstand“. Die letzten beiden Ergebnisse stellen die häufigsten Formen der gewalttätigen performance dar. Bei der ersten von ihnen gibt es nie die Möglichkeit zu entscheiden, wer „gewonnen“ und wer „verloren“ hat, und die Auseinandersetzung wird abgebrochen, bevor ein Teilnehmer einen entscheidenden Schlag ausüben kann oder dem Gegner schwere körperliche Verletzungen zufügen kann. Auch beim „Gleichstand“ kann kein Gewinner oder Verlierer benannt werden, denn die Kämpfer haben sich gleichermaßen entscheidende Schläge und körperliche Verletzungen zugefügt.
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Viertes Kapitel sie zu mir: „Hey Junge, los, gehen wir... steig ins Auto.“ Und ich: „Was wollt ihr von mir?“ Ich wusste nicht, dass es Freunde von dem anderen da waren... ich dachte es wären Polizisten. Sie schnappen mich und bringen mich in eine ländliche Gegend. Das war zu der Zeit, in der die Banda della Magliana sich zu bilden begann... und ich fragte mich, ob ich die falsche Wohnung ausgeraubt hatte. Ich versuchte es mir zu erklären und dachte: „Habe ich irgendeinen Flüchtigkeitsfehler begangen? Habe ich aus Versehen die Wohnung von jemandem ausgeraubt?“ Auf den Typen, dem ich die Tasche gestohlen hatte, kam ich gar nicht. Als wir im Viertel Y ankamen, sagten sie zu mir: „Steig aus!“ Der Typ mit der Handtasche kommt und sagt: „Hey, du Hurensohn!“... und steckt mit die Pistole in den Mund. In diesem Augenblick dachte ich wirklich: „Schau, was für ein scheiß Ende!“ Mir war zum Kotzen... mit der Pistole im Mund... . Aber obwohl ich die Pistole im Mund hatte, sagte ich: „Darf ich was sagen?“ und sagte mir: „Sie bringe mich ja sowieso um, also scheiß drauf, das ist mir meine Meinung wert, oder nicht?“ Also sage ich: „Hey, du Stück Scheiße, nur um anzufangen... jetzt kannst du mich auch erschießen!“ Doch ich hatte Angst... weißt du... wenn jemand seinen letzten Trumpf ausspielt... Und er: „Wieso?“ Und ich: „Weil ich in erster Linie ein Dieb bin und ich habe dich abgezogen... es steht doch nirgends, wer du bist...“. Ich hatte Glück, dass die beiden Menschen waren, wenn es Arschlöcher gewesen wären, hätten sie mich umgebracht. Und tatsächlich sagten sie: „Weißt du, dass der Kleine Recht hat?“ Und er: „Verdammt, du bist ein ganz schöner Hurensohn. Wenn du so gut darin bist dich zu schlagen, lass es uns doch so machen... die zwei da verprügeln dich... wenn du es schaffst dich zu verteidigen, tun wir dir nichts, wenn nicht, töten wir dich.“ Ich sagte: „Na gut...“. Ich bekam viele Schläge ab... ich verlor... und dachte: „Da sind wir also, ich hab einiges abbekommen und jetzt töten sie mich auch noch.“ Ich habe sie abbekommen und ich habe sie ausgeteilt... Kopfnüsse... aber der war einfach zu stark. Und dann noch zu zweit. Aber ich bin mir sicher, dass auch nur einer von ihnen mich fertiggemacht hätte, denn ich fühlte ihre Tritte... Pam! Pam! Schließlich sagte ich: „Bringt mich um und fickt euch.“ Aber sie antworteten: „Wir töten dich nicht, weil du Mut hast. Gut gemacht! Wenn es jemand anderes gewesen wäre, hätte er sich zumindest in die Hosen gemacht.“ Bei mir hätte nur wenig gefehlt... aber... weißt du... wenn du da bist... . Dann ist der sogar noch mein bester Freund geworden... er war ein Hehler. Am Ende brachten wir ihm die Beute, wenn wir gestohlen hatten.
Wenn ein „Unterdrückter“ versucht, Widerstand auszuüben, zu beharren, versucht er all seine Kräfte vor sich zu sammeln und einzusetzen, wie eine starke und greifbare Mauer, als die er sich seinen Willen vorstellt. Die „Anwendung von Gewalt“ kann auch Merkmale einer „persönlichen gewalttätigen Revolte“ annehmen, wenn der Antagonist einer der aktuellen Beherrscher des Gewaltanwenders oder eines geliebten Menschen des Letzteren ist. In solchen Situationen bekommt die Geste der Revolte gegen einen Unterdrücker, der als „bösartig“ wahrgenommen wird, die Färbung einer Herausforderung gegenüber einer etablierten „Herrschaft“: falls man gewinnt, kann man die fernere Unterdrückung von Seiten des Beherrschers vermeiden; verliert man, könnte die Unterdrückung noch bedrängender werden.
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VERÜBUNG VON GEWALT: EINE PERSÖNLICHE REVOLTE, DIE ZUM ERFOLG FÜHRT FALL 1621 Es war circa einen Monat her, dass mein Onkel mich zum letzten Mal richtig verprügelt hat. Wir saßen alle gemeinsam am Tisch und aßen zu Abend. Ich sagte etwas Böses und alle lachten, unter anderem mein Onkel und meine Oma. Wortlos schleifte mein Onkel mich in mein Zimmer uns sagte zu mir: „Hör zu, Junge, dieses Mal werde ich dich so richtig zusammenschlagen.“ Und ich antwortete: „Nein, du wirst mich nicht zusammenschlagen.“ Meine Antwort überraschte ihn. Also fragte er mich: „Was hast du gesagt?“ Und ich wiederholte: „Ich sagte, dass du mich nicht zusammenschlagen wirst.“ Ich war mir sicher, dass ich keine Schläge von ihm mehr hinnehmen würde. Als er sich mir näherte, um mich zu packen, habe ich mir einen Schlagstock geschnappt, der lang und schwer war und habe ihm einen festen Schlag auf die Hand verpasst. Er hielt sich die Hand vor Schmerz und während er sie schüttelte, rief er: „Du Stück Scheiße, jetzt werde ich dich so richtig fertigmachen.“ Aber ich traf ihn dann auf den Knien und ließ ihn so zu Boden gehen. Während er versuchte wieder aufzustehen, traf ich ihn am Kinn und seitlich am Kopf. Er nahm den Kopf in die Hände und schrie. Ich sagte zu ihm: „Verdammter Bastard, versuch nie wieder mich zu schlagen.“ Ich sah wie das Blut auf seine Hände und von seinen Hals lief und bekam Angst. Ich war mir sicher, dass ich ihn richtig verletzt hätte und dachte, dass es vielleicht besser wäre mich schnell davonzumachen. Ich kletterte aus dem Fenster und schoss davon wie eine Rakete.
Virulenz Um das letzte „Zimmer“ zu betreten, muss das Subjekt zuvor einen „bedeutsamen Sieg“ davongetragen haben, an dessen Ende es seinem Antagonisten klar überlegen ist. Je ausgeprägter der Erfolg der Gewalttat ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, im Prozess der „Violentisierung“ fortzufahren und die Phase der „Virulenz“ zu betreten. Auch wenn man besonders befriedigt über den Ausgang der gewalttätigen Zusammenstöße ist, produziert die erfolgreich beendete performance an sich keinerlei nachhaltige oder bedeutungsvolle Wirkung, die dem Unternehmen vielmehr von anderen Menschen zugesprochen wird, die, aus ganz unterschiedlichen Gründen, auch indirekt, Interesse und Gefallen an diesem Verhalten finden – vor allem dann, wenn sie den Protagonisten oder sein Opfer kennen (Athens, 1992, S. 72 ff.). Die Vorfälle lassen sich grob so gliedern: die Meldung über die Gewalttaten einer Person beginnt zwischen den Angehörigen seiner „Primärgruppen“ (und „Sekundärgruppen“) zu zirkulieren. Die 21
Athens (1992, S. 67–68).
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Definitionen dieser Gruppen für seine Aktionen haben sofortige und durchdringende Auswirkungen, da der Gewalttäter sich bewusst wird, dass die Meinungen der „anderen“ über ihn sich angesichts seiner Gewalttat plötzlich und drastisch verändern. Jetzt ist er eine völlig andere Person, und mit einer gewissen Verblüffung bemerkt er, dass er ernsthaft als „gewalttätig“ und nicht mehr als „nicht-gewalttätig“ oder allenfalls potentiell gewalttätig wahrgenommen wird, wie es bis wenige Tage – oder sogar nur wenige Stunden – vorher der Fall war. Zu dieser Beurteilung gesellen sich noch aus der Sicht vieler „Nahestehender“ diejenige als „geistig gestört“, „gewalttätiger Verrückter“, „gewalttätiger Wahnsinniger“, „gewalttätiger Irrer“, „verrückt“, oder „durchgeknallter Killer“ – Bezeichnungen, die nicht unbedingt pejorativ sind, da ein „irres“ Verhalten auch ein Zeichen von großem Mut und großer Bereitschaft für alles sein kann – was im Inneren mancher Gruppen ein positives und kein negatives Merkmal ist. An diesem Punkt ist er unmissverständlich gefährlich geworden und man muss sich ihm gegenüber mit weit größerer Vorsicht verhalten und besonders aufpassen, ihn nicht zu beleidigen und zu provozieren. Diese neue gewalttätige Identität projiziert – wie in vielen anderen Fällen – in allen anderen Lebensbereichen eine Art Halo-Effekt. Ein „gewalttätiger Verrückter“ zu sein, fasst das Individuum in ein Repertoire an vereinfachten Bildern ein, Stereotypen, die ihre Kraft aus dem Umstand ziehen, für ausgemacht gehalten zu werden. (Perrotta, 2005, S. 100) Doch was ist der tatsächliche Grund, der die „Primärgruppen“ dazu bringt, den Täter als „geisteskrank“ zu betrachten und zu bezeichnen? Der Grund resultiert – nach Athens – aus dem quantum der Gewalt, die auf das Opfer ausgeübt wurde. Die „Primärgruppen“ „können glauben, dass der Antagonist verletzt ist, doch nicht sehr stark“. (Athens, 1992, S. 73). Das Urteil Geisteskrankheit resultiert nur in Bezug auf die Dosis der verwendeten Gewalt – und nicht aus der bloßen Entscheidung, Gewalt angewendet zu haben. Mit den Worten der Protagonisten behaupten manche Mitglieder der „Primärgruppen“ – manche „Erzieher“ mit eingeschlossen –, dass der Handelnde „sich zu weit herausgewagt habe“, „übertrieben“ habe, es mit körperlicher Gewalt übertrieben“ habe. Dies erklärt das offensichtliche Paradoxon, dass sie schockiert und bestürzt sind, nachdem sie erfahren haben, was alles geschehen ist. Der Gewalttäter registriert seinerseits die Besorgnis der anderen in Bezug auf sich, und gerade diese Reaktion signalisiert den Klimax der Erfahrung des Rufs, gewalttätig zu sein, und das Eintreten einer neuen gemeinsamen Spannung: die „soziale Angst“. Er ist gezwungen, sich zu entscheiden, ob er sich zu diesem Verschieben der Bilder auf persönlicher Ebene bekennen soll oder es ablehnt. Das Dilemma wird als paradox erlebt. Auf der einen Seite wurde
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dieser Ruf dadurch erlangt, dass etwas „Schlechtes“ getan wurde, auf der anderen Seite ist es immer besser, sichtbar, bekannt zu sein, wenn auch für etwas, das von einem Großteil der Menschen als „schlecht“ beurteilt wird, als völlig unbemerkt zu sein. Übrigens behauptete dies auch Oscar Wilde: „Es ist schlimm, wenn alle von einem reden, aber es ist noch schlimmer, wenn keiner über einen redet.“ Obwohl demnach nicht alle Vorteile bereits beschrieben sein können, bietet der Umstand, als gefährlich „erkannt“ zu werden, doch einige: vor allem kann man größeren direkten Einfluss und „Herrschaft“ auf das eigene soziale Umfeld ausüben. Da die anderen nun länger überlegen, bevor sie provozieren, kann man (inter)agieren, ohne ständig das eigene Level der Aggressivität kontrollieren zu müssen. FALL E: MORD Wenn du ein Junge bist, siehst du, wie sie anfangen Angst vor dir zu haben... weil sie sehen, dass du vielleicht jemandem eine verpasst, der es nicht erwartet hätte... vielleicht dem Rowdy des Viertels... und danach respektieren sie dich und schon erspart man sich so manchen zusätzlichen Streit, verstehst du? Aber so was macht man nicht absichtlich... du bekommst die Gelegenheit und du gewinnst. Und die anderen: „Hast du gesehen, wer da zugeschlagen hat?“
Diese innere Wende ist in der Hinsicht befreiend, dass sie die gewaltsame Unterdrückung der anderen mildert, sowie die schmerzvolle Erinnerung an die Zeit der „Verrohung“ und der „Gewaltbereitschaft“– beides dem Akteur noch sehr lebhaft in Erinnerung – und machen somit das Gefühl der Allmacht, das vor kurzem erst entdeckt und kennengelernt wurde, unwiderstehlich. VIRULENZ: SOZIALE ÄNGSTLICHKEIT FALL 922 Nachdem ich einen Typen niedergestochen hatte, sagten meine Freunde zu mir: „Hey, wir haben gehört, was du mit Joe gemacht hast. Mittlerweile weiß es die ganze Schule. Alle sprechen davon. Du musst ja echt ein verdammter Irrer sein.“ Meine Freundin sagte zu mir: „Wow, du hast diesen Typen niedergestochen!“ Schließlich hatte sich alles wieder eingerenkt. Meine Freundin und meine Freunde waren beeindruckt von dem, was ich getan hatte. Es war mir wirklich egal, was meine Eltern davon hielten. Alle verhielten sich so, als ob es besser wäre, mir nicht auf den Sack zu gehen, wenn man nicht riskieren wollte, von mir so richtig niedergemetzelt zu werden. Die Leute hatten einfach Angst mich abzuziehen. Der Respekt war mir sicher. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel. Es war so, als ob ich einen Berg erklommen und den Gipfel erreicht hätte. Ich habe meinen Freunden gezeigt und auch mir 22
Athens (1992, S. 76).
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Viertes Kapitel selbst, dass ich wirklich jemanden niedermetzeln konnte. Wenn sich die Gelegenheit bieten würde, wusste ich, dass ich in der Lage war jemanden schwer zu verletzen. Wenn ich es einmal tun konnte, verdammt, dann wusste ich, dass ich es nochmal tun konnte. Ich fühlte mich so wie beim ersten Mal, dass ich Sex hatte. Nachdem ich erfahren hatte wie es war, wusste ich, dass ich es nochmal tun konnte. Ich war mir endlich bewusst, dass ich andere Menschen zugrunde richten konnte, ich sie durcheinanderbringen und dann begraben konnte. Ich kannte keinerlei Zweifel daran, dass ich ein heimtückischer Hurensohn war, ein verdammtes Arschloch. Ich konnte einfach alles tun, konnte jeden umbringen. Ich hatte den Gipfel des Berges erreicht und ich wäre für nichts und niemandem auf der Welt wieder heruntergeklettert. Die echt bösen Typen, die vorher nichts mit mir zu tun haben wollte, weil sie dachten, dass ich nichts zähle, sahen nun, dass ich jemand geworden war und akzeptierten mich als einer von ihnen. Ich war jetzt jemand, der sich durchsetzen konnte. Ich hätte nun jeden bestraft, der mich stört, egal auf welche Art er das tut. Ich wusste, was ich sagte und dass war kein Blödsinn. Mir sollte lieber jeder gut zuhören, weil ich nicht mehr herumscherzte. Jetzt machte ich Ernst. Ich war bereit jeden zu töten, dem ich auf der Straße begegnete.
Es geschieht allerdings auch, dass man zu schnell zu dem Schluss gelangt, unbesiegbar zu sein... . Um den inneren Widerhall zu verdrängen, der durch die negative Beurteilung des eigenen Verhaltens hervorgerufen wird – und der mit der Zeit unausweichlich auftaucht – stärken sich die Gewalttäter mit einem „unrealistisch hohen“ Niveau des Selbstwertgefühls. Alles ist für ein weiteres „Abgleiten“ bereit, das dasjenige der Phase der „Gewaltbereitschaft“ noch übertrifft: Die neue gewalttätige Lösung wird durch die feste Entscheidung zum Angreifen „mit der ernsthaften Absicht, schwerwiegend zu verletzen oder sogar zu töten, gefällt, sobald die kleinste Provokation auftritt oder auch ohne eine solche“ (Athens, 1992, S. 75). Dieser neue Entschluss wird durch eine Veränderung des eigenen Verhaltens von „mehr oder weniger defensiv“ zu „stark offensiv“ eingeleitet. Der Entschluss, keine Provokation mehr zu hinzunehmen, bildet sich neben dem, selbst zum Provokateur zu werden. Dieser letzte Übergang, der durch einen „Entschluss zur Anwendung von nicht-abgemilderter Gewalt gekennzeichnet ist, wird von Athens als eine „Erfahrung der Böswilligkeit“ beschrieben. ERFAHRUNG DER BÖSWILLIGKEIT FALL 3023 Nach nur drei Tagen wussten alle meine Nachbarn davon, dass ich einen Typen richtig misshandelt hatte. Sie kamen zu mir und sagten: „Hey, Jake, ich habe gehört, dass du bei einem Barbecue einen Typen so richtig vermöbelt hast.“ Nachdem ich zugegeben hatte, dass ich das gemacht habe, sagten sie: „Gut, du hast es 23
Athens (1992, S. 77).
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ihm richtig gezeigt. Jetzt musst du dir keine Sorgen mehr um ihn machen. Du bist echt ein verdammter Irrer. Weiter so.“ Plötzlich hatte ich einen Ruf. Nach diesem Vorfall bemerkte ich bei allen eine große Veränderung. Sie versuchten nicht mehr, mir irgendeinen Scheiß aufzutischen. Niemand ging mir mehr auf den Sack. Sie hatten zu große Angst, mich wütend zu machen, denn sie dachten wirklich, ich sei ein verrückter Gewalttätiger und dass ich jedem alles möglich antun könne. Wer mich nicht kannte, dem wurde gesagt: „Versuch nicht, Jake abzuziehen, er macht dich fertig, wenn er will. Der hat keine Angst davor, jemanden abzustechen.“ Sofern ich mitbekam, dass viele Leute nicht für richtig hielten, was ich tat, sagte ich zu mir: „Scheiß doch auf das, was sie sagen. Ich bin stolz auf das, was ich getan habe.“ Wenn ich bedachte, wie die anderen sich nun verhielten, konnte ich nur froh darüber sein, den Typen niedergestochen zu haben. Ich hatte gezeigt, dass ich der Verrückteste und der Schlimmste meiner Gruppe war. Mit einem Messer in der Hand hielt ich mich für den Fiesesten der ganzen Stadt, und von da an trug ich immer eins bei mir. Ich hatte entschieden, niemandem mehr zu erlauben, mich abzuziehen und dass ab jetzt ich es bin, der die anderen abzieht. Ich war bereit, jemandem zu folgen und ihm mit meinem Messer den Bauch aufzuschlitzen. Ich war bereit, jeden innerhalb einer Sekunde zu erstechen.
Der Prozess der „Violentisierung“ findet so seinen Abschluss in einem Teufelskreis: der Handelnde hat nun seine Reise beendet und verhält sich nicht mehr als ein der „Verrohung“ hilflos gegenüberstehendes Opfer, sondern als ungezügelter Aggressor – der gleiche Typ, den er in der Vergangenheit tief verachtet hatte. Wenn er auf seinem Weg noch von den unbedingten Urteilen der Liebe oder des Hasses desjenigen abhing, der die „Autorität“ oder die „Herrschaft“ besaß, und Angst hatte, ausgelacht und herabgesetzt zu werden und keine Anerkennung für seine Versuche zu finden, sich den erhaltenen Befehlen anzupassen, so ist er nun fast bereit, die Rolle des „Übergeordneten“ einzunehmen. Die letzte Sequenz, die ein „ultra-gewalttätiges“ Self befestigt, bildet die „Isolierung“. Durch das neuen „Abgleiten“ des Self beginnen diejenigen, die zu den „Primärgruppen“ des Subjekts gehören – wie Freunde oder Verwandte –, ihn zu meiden, um sich nicht in einem Zustand ständiger Einschüchterung befinden zu müssen, so dass er den schweren Zustand des „gewalttätigen Außenseiters“ durchleben wird, bis er vollkommen „anerkannt“ und in „böswilligen“ Gruppen akzeptiert wird, für die ein gewalttätiger Ruf sogar eine notwendige soziale Eigenschaft ist.24
24
Ginger Rhodes / George Allen / Joseph Nowinski / Antonius Cillessen (2003) haben eine Untersuchung durchgeführt, die einen ersten Versuch darstellt, die Theorie von Athens quantitativ nachzuweisen, auch wenn dieser in Hinsicht auf die Repräsentativität der Auswahl, als auch auf die Formulierung der items noch stark eingeschränkt ist.
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FILM: GOMORRA ABKOMMEN ZWISCHEN GEWALTTÄTERN ÜBER EINEN GRAUSAMEN MORD Ältester des Clans: „Darf ich mich mit an euren Tisch setzen? Wollt ihr vielleicht eine Zigarette?“ Marco und Ciro: „Wir rauchen nicht.“ Ältester des Clans: „Es wird im Moment viel geredet über euch zwei. Ihr habt Biss, ihr habt Eier und ich suche Männer wie euch. Damit ihr nicht so viele Probleme kriegt, dachte ich, ihr arbeitet für mich. Ich gebe euch Geld, Motorräder, was ihr wollt. Ich habe euch schon mal den Arsch gerettet, es gibt hier ein paar Leute, die finden euch nicht gerade toll, weil ihr auch ein bisschen Mist gebaut habt. Wenn ihr für mich arbeitet, ist das an dem Punkt besser für euch, ich kann euch beschützen.“ Marco: „Nein, wir bleiben gerne solo. Wir wollen keinen Chef haben und keine Befehle kriegen und gehorchen müssen. Wir arbeiten nur für uns und basta.“ Ältester des Clans: „Ich würde gerne etwas Vertrauliches mit euch besprechen. Ich merke ihr seid anders als die meisten, darf aber keiner wissen. Marco: „Sehen wir wie Bullen aus?“ Ciro: „Was ist es?“ Ältester des Clans: „Ich hätt’ einen Auftrag für euch, einen, bei dem eine Menge Geld zu holen ist, garantiert.“ Ciro: „Geld, hm?“ Ältester des Clans: „Genau, das Geld ist immer am wichtigsten. Leute wie wir wissen das.“ Marco: „Das wissen wir.“ Ältester des Clans: „Stört es euch, wenn ich heranrücke, dann muss ich nicht so laut sprechen. Weil es keinen außer uns was angeht. Ich möchte euch zwei um einen Gefallen bitten, einen großen. Räumt jemanden zur Seite. Ich weiß ja zwischendurch, ihr Jungs habt Eier. Glaubt ihr, ihr könnt das über die Bühne bringen? Ist eine große Nummer, nicht ganz ungefährlich.“ Marco: „Natürlich, auf solche Dinger stehen wir voll.“ Ältester des Clans: „Je schwieriger, desto besser, was? Es dreht sich um Peppe ‘O cavallaro’. Der Typ ist ein Schwein, ein Verräter, er hat etwas mit meiner Frau angefangen. Ihr sollt ihm die Eier wegpusten und zum Schluss müsst ihr ihm ins Maul schießen.“ Die Autoren haben ein Instrument entwickelt, die Violent Socialization Scale (VSS, die Skala der gewaltsamen Sozialisierung) um die Komponenten von Athens’ begrifflichem Modell bewerten zu können. Die Auswahl bestand aus 69 Männern, allesamt Häftlinge und volljährig, und aus 99 weiteren Männern, die alle Studenten waren. Die ersten Resultate der Untersuchung zeigen, dass das Modell der „gewaltsamen Sozialisierung“, welches Athens entwickelt hat, quantitativ zuverlässig bewertbar ist.
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Marco: „Ich steh da total drauf.“ Ältester des Clans: „Ich versteh da keinen Spaß. Da ist noch etwas, sollten wir jetzt gleich besprechen. Das bleibt auch unter uns. Ich hab gehört ihr habt irgendwie Waffen aus der Gegend mitgehen lassen. Die nehme ich, in Ordnung, die verbrennen wir, die müssen verschwinden, ihr bekommt neue von mir. Ich verspreche euch alles, Motorräder, Drogen, ihr kriegt alles, was ihr wollt.“ Marco: „Kommen wir zum Geld.“ Ältester des Clans: „Das Geld, sagt doch einfach mal, was ihr wollt, um den Auftrag abzuwickeln.“ Ciro: „Das wird nicht gerade billig.“ Ältester des Clans: „Was meint ihr, kommt zehntausend hin? Ich gebe euch eine Anzahlung, den Rest kriegt ihr, wenn der Job erledigt ist. Na los, steck das ein. Stimmt schon so.“
In Interaktionen ein- und auszusteigen, die in der Lage sind, positive oder negative Bilder von sich zu liefern, stellt einen sehr heiklen Teil jedes Selfchange dar. Die Vermeidung der Interaktion mit anderen, die das eigene Selbstwertgefühl gefährden, führt zu einer Betrachtung Letzterer als „unbedeutend“ und dass man sich in einen Kreis des confirming intimate other zurückzieht, in deren Gesellschaft ein positiver Gedanke über sich ständig bestätigt und verstärkt werden kann.25 In extremen Fällen zieht sich der Mensch in seine Phantasiewelt zurück, wo er ausschließlich auf „fiktive andere“ trifft, die nur positive Urteile fällen (Hewitt, 1976, S. 132).
Gewalttaten ohne Violentisierung Eine Frage, die sich der Leser stellen kann, betrifft die Entstehung von Gewaltdelikten, die von jemanden verübt werden, ohne den Prozess der „Violentisierung“ durchlaufen zu haben und ihn mitunter nicht einmal begonnen hat, deshalb aber nicht von der Begehung grausamer Verbrechen absieht. Abstrakt – und damit erneut in die Falle einer kausal-linearen Deutung tappend – könnte man Athens unterstellen, dass nach seiner Theorie die besonders grausamen Verhaltensweisen das Ergebnis desjenigen seien, der das „vierte Zimmer“ der „Violentisierung“ erreicht und betreten hat, und dass dieser Weg notwendig dem gewalttätigen Handeln vorangehen und es steuern müsse. Wir wissen, dass viele empirische Daten bereit stehen, uns zu widerlegen. Soll dies 25
„Man kann sein Selbstbild bewahren, indem man die bedeutsamen Anderen deklassiert, die es abwerten, und indem man sich neuen bedeutsamen Anderen zuwendet, die in der Lage sind, die positiven Aspekte zu erfassen und über sie nachzudenken. Die deformierenden Spiegel werden durch Spiegel ersetzt, die angemessener erscheinen“ (Perrotta, 2005, S. 146).
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bedeuten, dass allem bisher Dargestellten die Gültigkeit versagt wird? Mit Sicherheit nicht. Athens’ Gedanke führt nämlich nicht zu solchen Schlussfolgerungen. Um ein wenig Klarheit zu schaffen, bedarf es einiger Unterscheidungen: a)
ein erster Prozentsatz von Personen, den ein unaufmerksamer Blick aus dem Kreis der „Violentisierten“ ausschließen könnte, betrifft diejenigen, die wir als „krypto-verroht“ definieren – also diejenigen, die sich der erfahrenen Ebenen der „Verrohung“ nicht voll bewusst sind oder ganz banal nicht in der Lage sind, dem Interviewer diese Erfahrung verbal zu vermitteln. Außerdem kann man die „gewalthafte Unterdrückung“ und die „persönliche Horrifizierung“ in bestimmten Gemeinschaften als perfekt übereinstimmend mit den „sozialen und kulturellen Welten“ der Zugehörigkeit sehen und damit auch als „normal“;
b)
ein weiterer Prozentsatz besteht aus denjenigen, die im Laufe des Interviews eine Vergangenheit verheimlichen wollen, die voller gewalttätiger Erfahrungen ist und / oder in Kontakt zu „schädlichen“ Gemeinschaften stand, um den Einfluss zu leugnen, den die Mitglieder Letzterer bei seiner „Erziehung“ hatten;
c)
liest man des Weiteren erneut aufmerksam nach, was über den Prozess der „Violentisierung“ geschrieben wurde, kann man daraus ableiten, dass, um ein Gewaltdelikt zu begehen, man den Weg nicht vollständig zu Ende gebracht haben muss: die Theorie „erklärt“, dass man auch jemanden körperlich ernsthaft angreifen kann, wenn man nur das Stadium der „Gewaltbereitschaft“ durchlebt hat;
d)
vor dieser Phase wurde diejenige der „Verrohung“ durchlaufen, die ihrerseits ohne einen physischen Angriff oder Missbrauch zum Abschluss gebracht werden kann, da für ihr Gelingen auch einfache Formen der „körperlichen Einschüchterung“ ausreichen – welche sowohl in der Familie als auch außerhalb in Gruppen von Gleichaltrigen ohne dass die einen etwas von den anderen wissen, geschehen sein kann.
All diese Präzisierungen zeigen – abgesehen von den Schwierigkeiten, aus der Sicht der Forscher die Stadien des Verlaufs der „Violentisierung“ herauszufinden, welche die Biografie eines für die Gesellschaft gefährlichen Täters durchlaufen hat –, wie eine grausame Gewalttat auch von jemandem begangen werden kann, der nicht die Schwellen jedes „Zimmers“ überschritten hat.
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Doch es gibt auch andere Verhaltensvarianten, die beachtet werden müssen. Ist nämlich von grausamen Verbrechen die Rede, so evoziert die kollektive Vorstellung – ohne zwangsläufig den Erklärungen mit psychopathologischer Matrix in die Quere zu kommen – die sogenannten „Affekthandlungen“. Mit Hilfe von Athens ist uns klargeworden, dass viele solcher Gesten beobachtet werden können, indem man sich theoretischer Begriffe und einer neuen Gesichtspunkte bedient, die es vermögen, ihnen Sinn zu verleihen, indem sie den langen und holprigen Weg zeigen, der ihnen vorhergeht. Grundsätzlich sind diese Taten, im Licht seiner Theorie gesehen, nicht unter die Etikette „Affekthandlungen“ einzuordnen, sondern sind das Ergebnis sorgfältiger Entscheidungen, obwohl sie in wenigen Sekunden getroffen wurden und immer widerrufbar und kohärent mit den biografischen Laufbahnen und im Einklang mir den Self der „gefährlichen gewalttätigen Verbrecher“ sind, die sie vollzogen haben. Dennoch bleibt ein nicht unwesentlicher Prozentsatz an grausamen Taten, die der common sense und das Strafrecht als „im Affekt begangen“ bezeichnen, unleugbar das Werk von Menschen, die noch nie irgendein „Zimmer“ der „Violentisierung“ betreten haben. Solche Menschen sind diejenigen, die sich dazu entschieden haben sich destruktiv in Folge einer „Situationsinterpretation“ verhalten, die nach einer gewalttätigen Reaktion verlangt. Dies ist beispielsweise so beim bereits analysierten Fall der „physisch defensiven“ Interpretationen, in deren Verlauf der Handelnde, indem er das Verhalten des Opfers annimmt, sich selbst bedeutet, dass die Gesten der „Herrschaft“, die von Letzterem vollzogen werden, zeigen, dass ein Angriff ihm gegenüber oder seiner Familie gegenüber, oder einer Person, an die er emotional gebunden ist, bereits stattfindet oder kurz davor ist, stattzufinden. In der Phase der „Beurteilung“ entscheidet der Täter, dass er mit Gewalt reagieren muss, und bereitet daher einen Aktionsplan vor. Mit anderen Worten interpretiert der Täter die Gesten des anderen als Anfang oder Vorbereitung einer Aggression und sieht in Gewalt das einzige Mittel, das eigene Leben oder das eines Familienmitglieds zu beschützen. Es handelt sich damit um eine bevorstehende Gefahr „zuvorkommende“ Handlung, und das Gefühl, das mit ihr einhergeht, ist, wie man sich erinnern wird, Angst. Diese Verhaltensweisen verweisen stark auf den Rechtsbegriff der „Notwehr“, und folglich wird der Hinweis für die eigene „Beurteilung“ nicht in einer „gewalttätigen Phantom-Gemeinschaft“ gesucht. Die „Situationsdefinition“ überzeugt von der Unverzichtbarkeit dieser Handlung. Wir werden dieses wichtige Thema im Kapitel Kosmologie und Gewalt wieder aufnehmen und vertiefen.
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Labeling Approach und primäre Devianz Nachdem wir uns näher mit den „Zimmern“ der „Violentisierung“ vertraut gemacht haben und Aspekte der „Selbstgespräche“ der Gewalttäter abgehört haben, wollen wir uns nun mir einigen Fragen beschäftigen, die noch über die Beziehung zwischen dem Gedankengut von Athens und der Gedankenwelt des Labeling Approach offen geblieben sind. In erster Linie entwickeln sich beide aus dem symbolischen Interaktionismus von Mead und finden dort ihren Humus, auch wenn es von Anfang an trotz dieses kulturellen Einklangs zu einem perspektivischen Auseinanderdriften kommt. Wir hatten bereits die Gelegenheit gehabt, die Dynamik zu erklären, die sich zwischen I und Me im Zentrum der meadschen Analyse abspielt. Für die Labeler ist das abweichende Verhalten in der Mehrzahl der Fälle das Ergebnis wiederholter Verstöße gegen die Norm (sog. primäre Devianz) und paralleler Erfahrungen der Reaktion der Gesellschaft durch Missbilligung, Degradierung und Isolierung (sog. Sekundäre Devianz). Beispielsweise wird die Abfolge von Interaktionen, die zur Letzteren führt und von Edwin Lemert (1962) beschrieben wurde, von acht Übergängen bestimmt,26 die notwendigerweise miteinander verbunden sind. In den Studien von Becker kommt der stigmatisierende Faktor weniger stark ins Spiel und wird immer vom interpretativen Prozess des Täters gefiltert, der aktiv dazu beiträgt die eigene deviante Karriere zu „konstruieren“. Auch wenn die Stigmatisierung eine negative Definition erleichtert, ersetzt sie doch nicht auf deterministische Weise Menschen und bringt auch keine Entwicklung in Etappen in Gang im Sinne einer vorherbestimmten Kaskade aus negativen Reaktionen von Seiten der Gesellschaft. Für die Ökonomie unseres Vorgehens reicht der Hinweis aus, dass, während der Labeling Approach die Wichtigkeit des Me, von seinen Vertretern verstanden als zusammenfassendes Zentrum fremder Verhaltensweisen, unterstreicht 26
„1) primäre Devianz; 2) Reaktion der Gesellschaft; 3) weitere primäre Devianz; 4) heftigere Reaktion und Ablehnung; 5) weitere Devianz, während Feindseligkeit und Groll sich gegen diejenigen richten, die die Sanktionen in die Tat umgesetzt haben; 6) Krise der Toleranzschwelle, ausgedrückt in der formalen Aktion der Gemeinschaft, die den Devianten stigmatisiert; 7) Bekräftigung des Verhaltens als Reaktion auf die Stigmatisierungen und Strafen; 8) endgültige Akzeptanz des devianten gesellschaftlichen Status und Versuch der Anpassung an die entsprechende Rolle“ (Lemert, 1962, S. 167). Ebenfalls nach seiner Meinung „beinhaltet das Konzept der kriminellen Karriere […] die Vorstellung einer ständigen Anpassung des Individuums an die kriminelle Welt […] und regt das Bild einer menschlichen Tätigkeit an, die ein Fortschreiten in Etappen aufweist.“ (Kursivierung von uns).
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und steigert – besonders diejenigen der stigmatisierenden Institutionen – so Athens sich auf eine andere Ebene begibt, indem er den Negriff des Me – oder des „generalisierten Anderen“ – durch die Formulierung eines anderen „sensibilisierenden Begriffs“ zunächst kritisch übernimmt und dann überwindet: desjenigen der „Phantom-Gemeinschaft“. Athens bewegt sich jenseits der stark „interpretativen“ Perspektive Blumers und entzieht sich somit elegant dem ersten und fundamentalen „ontologischen“ Hindernis, das dem Labelling Approach zugeschrieben wird: die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, die das „Stigma“ an die „sekundäre Devianz“ anbindet. Die größte Beschränkung, die dem Labeling Approach von Seiten vieler Gegner zugeschrieben wird, ist in der Tat, dass „das Problem der Ursachen, die zur ersten Verletzung der gesellschaftlichen oder strafrechtlichen Normen führen [übergangen wurde], um sich bloß auf die negativen Auswirkungen der Stigmatisierung und der folgenden Annahme einer stabilen devianten Identität durch den Täter zu konzentrieren“ (Ceretti, 1992, S. 160–161). Mit anderen Worten interessieren sich seine Befürworter nicht für die „primäre Devianz“ und sehen sie als selbstverständlich an. Die Labeler – so lautet die Anklage – beschäftigen sich nicht mit Erklärungen devianter Gesten des Täters vor dem reaktiven Prozess, durch den die Institutionen ihn als deviant etikettieren. Also würde die Person im Denken der orthodoxen Labeler in diesem zweiten Moment das eigene Self umstrukturieren, indem das stigmatisierende Verhalten verinnerlicht wird und somit eine wahre und eigene deviante Identität geschaffen wird. Athens seinerseits klagt Letztere an, sie seien nicht in der Lage gewesen zu berücksichtigen, dass Menschen, wenn sie Verbrechen begehen, sich bereits auf einem Weg befinden, der sie dazu bringt „sekundäre Gewaltverbrecher“ zu werden. Und dies geschehe „lange bevor sie offiziell als gefährlich eingestuft werden“ (Athens, 1992, S. 88). Das Stigma schafft nicht, sondern konsolidiert. Denn der „Kriminelle“, der bis dato „primär deviant“ war, wird erst in der vierten und letzten Phase der „Violentisierung“, also in der der „Virulenz“, als „gefährlich“ etikettiert und wird so zum „sekundären Gewalttäter“.27 Bevor das Subjekt die Phase der „Virulenz“ erreicht, muss es allerdings die drei vorhergehenden Phasen („Verrohung“, „Gewaltbereitschaft“ und „Ausübung von Gewalt“) durchlaufen, deren Abschluss freilich immer problematisch ist. Diese Vorbemerkungen führen uns zu der Behauptung, dass der hier analysierte Ansatz die definitorische Rolle der Institutionen bei der Entstehung von Devianz hervorhebt, ohne dabei in die empirische und explikative Leere zu 27
Das Subjekt ist nun wirklich „unheilbar“ und in sein Ghetto verbannt, Symbol der moralischen Isolierung. Siehe Kap. 5.
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verfallen, die das Konzept der „primären Devianz“ enthält: „Die Theorie der Etikettierung ist eine empirische und keine rein soziale, denn obwohl sie auf einigen empirischen Studien basiert, wurde ihr theoretischer Rahmen formuliert, indem über die empirischen Vergleiche unvorsichtig und stark hinausgegangen wurde.“ (Athens, 1992, S. 86). Um diese empirische und explikative Leere zu füllen, setzt ihr Athens eine empirisch gestützte Erklärung dafür entgegen, warum eine Person, noch bevor sie zu einer gefährlichen „sekundär devianten“ wurde, sie eine „primär deviante“ geworden ist: mit anderen Worten warum dieses Subjekt die ersten Gewalttaten im Verlauf eines „Prozesses“, der als „Violentisierung“ bezeichnet wird, begangen hat. Es ist also der „gesellschaftliche Ursprung eines realen Leides“,28 den Athens untersucht hat, indem er eine Theorie entwickelt hat, die in der Lage ist, die tragischen Erfahrungen der „Verrohung“, die der Einzelne im Laufe seines Lebens erlebt, zu verstehen, Erfahrungen, in denen sowohl die Gedanken als auch die Gefühle ihren Platz haben, beide sind im Menschen im Laufe seiner „symbolischen Interaktion“ mit einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe gereift. Um in diesem Sinne fortzufahren, musste er sich in die reale und symbolische Welt der „Gewalttäter“ hineinversetzen, in ihre gewalttätige Logik, in ihre Art, mit sich selbst und ihrer Umwelt zu interagieren, und ist somit auf eine semantisch problematische „Ambiguität“ zwischen unserer und ihrer Welt getroffen.
Einige Hinweise zur Prävention und zu Interventionsstrategien Der Prozess der „Violentisierung“ lässt die Behauptung zu, dass man nicht als „Gewalttäter“ geboren ist, sondern dazu wird, und dies nach einem langen und schweren Weg mit einem stets offenen und unsicheren Ziel. Es ist also klar,
28
Das Beharren auf dem stark rechtlich-politischen Charakter der Diskriminierung kann nicht von einer Betrachtung diskriminierenden Verhaltens in seiner Heterogenität und seinem komplexen Verhältnis zu den gesamten gesellschaftlichen Strukturen absehen. Man würde sonst in den Widerspruch desjenigen verfallen, der eine Geisteskrankheit nicht auf der Grundlage einer effektiven Nicht-Existenz erkennbarer Verhaltensstörungen abstreitet, sondern um eine bestimmte Art von Ausschließung anzuklagen, die auf einer Diagnose – einer Stigmatisierung – basiert, die mehr oder weniger zufällig ist. Indem man so dem sozialen Ursprung eines realen Leidens aus dem Weg geht, das nicht als Leiden akzeptiert wird, sondern in einem gewissen Sinne als abweichendes Verhalten, das die Gesellschaft erlauben sollte, angesehen wird, verteidigt man einfach das Recht auf freie Meinungsäußerung, ohne dabei irgendwie auf den grundsätzlichen Widerspruch einzugehen, noch wird versucht das Leiden des Individuums zu lindern, oder eine Veränderung in der Gesellschaftsstruktur herbeizuführen, die solche Widersprüche verhindert“ (Pitch, 1975, S. 130–131).
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dass das beste Instrument zur „Prävention“29 nach Athens vor allem darin besteht, den Prozess der „Violentisierung“ und seinen generationsübergreifenden Teufelskreis möglichst schnell – und auf jeden Fall bevor die Individuen ihre gewalttätige Identität im letzten Stadion der „Virulenz“ finden – zu stoppen. Die geeignetste und effizienteste Phase um einzugreifen, wäre die der „Verrohung“, d.h. dann, wenn die Erziehung zur Gewalt und Angst ihre motivierenden Fundamente legt: Die dominanten, älteren Mitglieder einer Primärgruppe lassen die jüngeren untergeordneten Personen verrohen, die ihrerseits Gewalttäter werden können, wenn sie erwachsen sind, und sich genauso gegenüber jüngeren Mitgliedern neuer Primärgruppen verhalten können und so weiter (Athens, 1992, S. 91).30
Da die Erfahrung der „Verrohung“ sich im Inneren der „Primärgruppen“ abspielt und vorwiegend im familiären Kontext, wird die Schwierigkeit der Gelegenheit und Wirksamkeit von Präventions- und Kontrolleingriffen in diesen Bereichen deutlich, die unter anderem von Konflikten zwischen öffentlicher und privater Sphäre gekennzeichnet sind.31 Wenn die „Verrohung“ meistens im Schatten der Familien bleibt – außer wenn etwas am helllichten Tage geschieht, das die „Gemeinschaft“ dazu zwingt, die Augen zu öffnen – so erweist sich bei der „Gewaltbereitschaft“ die Intervention als weniger unausführbar. Das von Athens vorgeschlagene Instrument, um zu verhindern, dass dieses Stadium abgeschlossen wird, ist eine therapeutische Versorgung, die vorgenommen wird, um die charakteristischen Gedanken und Gefühle neu zu sortieren. In diesen beiden Phasen kann eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung der escalation der Gewalt von den Schulen ausgehen, 29
30 31
Bekanntlich wurden dem Problem der Prävention bereits viele Monografien gewidmet. Aus offenkundigen Gründen können wir hier – nicht einmal oberflächlich – auf die Komplexität dieses Leitthemas des strafrechtlichen und kriminologischen Denkens eingehen. Wir begnügen uns hier mit dem Hinweis auf verschiedene Werke zu diesem Thema: Bandini / Gatti / Gualco / Malfatti / Marugo / Verde (2003–2004, S. 291 ff., Bd.1); Barbagli / Gatti (2005); Forti (2000, S. 106 ff.); Garland (2001) und auf die dortigen Bibliographien. Kursivierung von uns. August Aichhorn (1951, S. 149) beobachtete in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die traumatischen Folgen, welche Kinder erleiden mussten, „[…] die […] für jede Überschreitung vom Vater, Erwachsenen oder Stärkeren die Faust zu spüren bekommen hatten, waren gar nicht imstande, die geänderten Verhältnisse auf eine andere als die bisher erlebte Art zu erfassen. Wenn der ihnen früher entgegengestellte brutale Widerstand jetzt ausbleibt, gibt es für sie nur eine Wertungsmöglichkeit: Wir sind die Schwächeren, die Angst vor ihnen haben, denen gegenüber man sich aller erlauben darf. Den guten Menschen hatten sie doch nie kennengelernt [...]“.
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denen die Aufgabe übertragen werden sollte, Bildungsprogramme zu entwerfen, die den Zweck haben „nicht gewalttätige Phantom-Gemeinschaften“ zu bilden, nachdem die „schwierigeren“ Jugendlichen ausgemacht wurden. Diese Präventionsinstrumente bilden die erste und vorzugswürdige allgemeine Präventionsstrategie. Wenn allerdings die Personen, die den Prozess der „Violentisierung“ durchlaufen, gänzlich in die Phase der gewalttätigen performance eintreten, wird ein weitaus energischeres Eingreifen nötig, verglichen mit dem „einfachen“ psychologischen counselling, das für die Zeit der „Verrohung“ empfehlenswert ist. In diesem Stadium wird empfohlen, auf eine Art „besondere Resozialisierung“ innerhalb einer „nicht gewalttätigen Primärgruppe“ zurückzugreifen, im Laufe derer diejenigen, die daran teilnehmen, von einem Lernprozess begleitet werden sollten, kognitiv und emotiv, in dem man lernt, auf künftige Antagonisten nicht aggressiv zu reagieren – und dessen Lehre, damit sie erfolgreich sein kann, ähnliche, allerdings diametral entgegengesetzte, Techniken anwenden sollte wie diejenigen, die während der „Erziehung zur Gewalt“ angewandt wurden. Anders gesagt sollte das Subjekt für einen beträchtlichen Zeitraum in eine neue „nicht-gewalttätige Primärgruppe“ eingefügt werden, um jegliche Verbindung mit zumindest manchen Mitgliedern seiner vorherigen „gewalttätigen Primärgruppen“ zu lockern oder, falls möglich, abzubrechen. Ist hingegen der Gewalttäter in die Phase der „Virulenz“ eingetreten, so besteht die einzige Möglichkeit des Eingreifens in der „Unschädlichmachung“ (selective incapacitation).32 Diese Art von „gefährlichen Gewalttätern“, so erklärt Athens kurz und knapp, ist gegen jede Form von Rehabilitation immun, und somit besteht die einzige Lösung, weitere grausame Taten zu verhindern, darin, sie vom Rest der Gemeinschaft zu „isolieren“. Diese letzte Maßnahme, die in einer besonderen Auffassung vom Gefängnis besteht, wird auf jeden Fall nur als extrema ratio in Erwägung gezogen: Die erste Verteidigungslinie gegen einen Gewalttäter sollte daraus bestehen, den Großteil der Menschen davor zu bewahren einen Erfahrungs-Prozess zu beginnen, der Gewalttäter schafft. Unsere zweite Verteidigungslinie sollte den Großteil der Menschen, die diesen Prozess bereits begonnen haben, davon abhalten, ihn zu Ende zu bringen. Uns und die Gesellschaft vor denjenigen zu beschützen, die ihn bereits vollzogen haben, sollte unsere letzte Verteidigungsstrategie sein (Athens, 1992, S. 99).
32
Zu den schädlichen Folgen der Unschädlichmachung und der Politik der sog. NullToleranz siehe Garland (2001, S. 189 ff.).
Fünftes Kapitel Normenkonflikt, Segregation, kleine physische Gemeinschaften und Körper im Kampf um die Vorherrschaft Democracy don’t rule the world, You’d better get that in your head. This world is ruled by violence But I guess that’s better left unsaid. Bob Dylan
Methodische Einführung Um das Phänomen der Gewaltkriminalität aus dem allgemeineren Blickwinkel der „Gemeinschaft“ zu betrachten, muss man sich von der subjektiven, auf die Figur des Täters konzentrieren Analyseebene entfernen. Das Thema wurde von Athens in einem Artikel behandelt, der 1998 in der Zeitschrift „The Sociological Quaterly“ unter dem Titel Dominance, Ghettos, and Violent Crime veröffentlicht wurde (Athens, 1998, S. 673–691). Die Frage, auf die er eine Antwort geben möchte, ist eine „klassische“ Frage der Kriminologie und kann mit diesen Worten zusammengefasst werden: „Wieso ist das Gewaltverbrechen in manchen Gemeinschaften weiter verbreitet – und stellt ein größeres Problem dar – als in anderen?“ Die umfassendste Erklärung geht von dem Begriff der „gesellschaftlichen Desorganisation / Organisation“ aus und führt auf der einen Seite direkt zu den „klassischen“ Theorien von William Thomas und Florian Znaniecki (1918– 1920), auf der anderen Seite zu Edwin Sutherland. Sehr allgemein ausgedrückt sprechen Thomas und Zaniecki von „gesellschaftlicher Desorganisation“ unter Bezugnahme auf Kontexte, in denen die Normen, welche das kollektive Leben regeln, keine tatsächliche Kontrolle mehr auf die Mitglieder einer Gemeinschaft ausüben. Diese Verringerung ihres Einflusses kann in verschiedenem Stärke auftreten: von dem Verstoß gegen eine bestimmte Regel seitens einer Person bis zu einem allgemeinen Verfall aller Institutionen der Gruppe“ (Thomas / Znaniecki, 1918–1920, S. 12 ff.). Kriminalität tritt gerade als Folge der Unangemessenheit und Ineffizienz dieser Normen in Bezug auf die aktuellen Bedürfnisse der Gesellschaft auf und findet ihre Nahrung im „pathologischen“ Zustand, in dem sie sich befindet (Melossi, 2002). In dieser Situation normativer „Erosion“ kann jedoch ein „sozialer
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Fünftes Kapitel
Wandel“ einsetzen, der während der Phase der „Neuorganisation“ zur Bildung neuer Normen führt, die besser mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft übereinstimmen. In dieser zweiten und letzten Phase verliere das Verbrechen entschieden an Bedeutung. Der bekannte Standpunkt von Sutherland beruht hingegen auf einer völlig anderen Sichtweise. Sein Begriff der „differentiellen sozialen Organisation“ – der meint, dass eine Gruppe mit gegensätzlichen Werten stabil ist – geht in der Tat von einem starken „normativen Konflikt“ (der die Normen, denen man folgen sollte, betrifft) und einem „Kulturkonflikt“ (bezüglich der Werte, die sie bekräftigen) aus. Die normativen und Werte-Prinzipien, welche die gesellschaftlichen Gruppen identifizieren und organisieren, können danach Verhaltensweisen, die normalerweise als „kriminell“ gelten, dulden oder verbieten – wobei es sich versteht, dass jede Gruppe, was das Verbrechen angeht, undeutlich strukturiert ist. Historisch gesehen rührt die Definition dessen, was strafrechtlich verboten ist, nach Sutherland von einem Prozess her, der ins Rollen kommt, wenn eine mächtige Gruppe es schafft, den Staat zu mobilisieren, ein Verhalten einer weniger einflussreichen Gruppe zu verbieten, die Werte und / oder Interessen gefährdet, welche die erste Gruppe für schützenswert hält. Die Gruppe, welche die Macht innehat, kann also die Rechtswidrigkeit des betreffenden Verhaltens festlegen: die neue Norm wird somit zu einer Regel, die von allen Mitgliedern befolgt werden muss. Einige Mitglieder der weniger einflussreichen Gruppe werden nunmehr das Verhalten unterlassen, das jetzt strafbar geworden ist. Andere hingegen bleiben bei dem Verhalten und begehen damit nunmehr eine Straftat (Sutherland, 1929). Daraus folgt, dass die Straftat als Epiphänomen der „gesellschaftlichen Organisation“ zu verstehen ist. Athens überkreuzt und entwickelt nun diese beiden gegensätzlichen theoretischen Dimensionen, indem er davon ausgeht, dass der „soziale Wandel“ und die Verbreitung des Verbrechens zu einer „sequenziellen Logik“ verbunden sind, die sich in einem „Prozess“ ausdrückt, der aus drei Phasen besteht: „Kultur“, „Bosheit“ – jeweils die erste und letzte Phase, die die beiden verschiedenen Typen der „gesellschaftlichen (Neu-) Organisation darstellen – und „Turbulenz“ – die Phase der „Desorganisation“, die sich zwischen die anderen beiden Phasen schiebt.1
1
Athens stimmt folglich mit dem interpretativen Ansatz Blumers überein, insbesondere mit seiner Behauptung, dass es eine „soziale Desorganisation“ gebe, wenn die Mitglieder der Gemeinschaft wegen der Unklarheit über die zu befolgenden Normen nicht in der Lage sind, sich in konzertierte soziale Handlungen einzubringen; s. Blumer, 1969.
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In diesen Dynamiken entsteht immer die Ausübung der „Herrschaft“, dieses „gesellschaftliche Universelle“, das in allen symbolischen Interaktionen vorherrscht, in jeder Institution2 und in jedweder „kleinen physischen Gemeinschaft“ präsent ist.
Segregation und kleinere physische Gemeinschaften Jede Gesellschaft entwickelt eine erste embryonale Form von Organisation, indem sie in ihrem Inneren eine gewisse Anzahl von „kleinen physischen Gemeinschaften“ kreiert und für sie eine Nische findet; dies geschieht kraft jenes bereits von Robert Park als „Isolierung“ bezeichneten Selektionsprozesses – ein „Prüfungs- und Auswahlprozess, durch den Menschen zu Gruppen tendieren, deren Grunderfahrungen am besten zu einander passen“ (Park, 1952, S. 184, 186, 199). Das Bild, das sich am Ende ergibt, ist ein „gesellschaftliches Mosaik“, dessen Mosaiksteine für verschiedene Gemeinschaften stehen, die mit einer eigenen räumlichen und geografischen Konnotation ausgestattet sind und deren Grenzen, obwohl sie sehr durchlässig sind, Zulassungs- und Entlassungssperren vorsehen. Der Prozess der „Segregation“ kann unendlich viele Zusammenstellungen hervorbringen, von denen es jede in jedem Fall erlaubt, die engen Kontakte in ihrem Inneren zu vervielfachen und die Grenzen nach außen hin zu verstärken (Shibutani, 1961, S. 131). So wie die Steine eines Mosaiks sich im Hinblick auf ihre Farbe unterscheiden, so können auch die einzelnen „kleinen physischen Gemeinschaften“ aufgrund der Art der gegen die Konflikte über die „Herrschaft“ angewandten Normen. Diese Art von „Rechtsordnung“ definiert eine hierarchische Skala, an deren Spitze ein „vorherrschender individueller Typus“ steht als höchster und zusammenfassender Ausdruck der „Herrschafts“-Beziehungen“ und der normativen Modelle dieser spezifischen Gemeinschaft. Jeder „vorherrschende individuelle Typus“ wird, mit seiner „PhantomGemeinschaft“, zu einem regelrechten „gemeinsamen Erkennungszeichen“ für die einzelnen Mitglieder dieser bestimmten „physischen Gemeinschaft“ in Bezug auf die spezifischen Normen, die die Lösung der Konflikte über die „Herrschaft“ regulieren. Daraus folgt, dass derjenige, der als ein tugendhaftes „Vorbild“, das man nachahmen sollte, angesehen wird, anderswo als ein tadelnswertes Beispiel gilt. Und da – wie uns bekannt ist – die „PhantomGemeinschaft“ das Zentrum der Bewertung zwischen „Situationsinterpretation“ und „Selbstbild“ ist, wird jedem „vorherrschendem individuellen Typus“ 2
S. Kap. 2.
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Fünftes Kapitel
eine spezifische „Handlungsstrategie“ und ein übereinstimmendes „Selbstbild“ entsprechen. Theoretisch ist jede „physische Gemeinschaft“ das Spiegelbild einer bestimmten „Phantom-Gemeinschaft“ – und umgekehrt. So schreibt Diego Napolitani: In dem Maße, in dem der Mensch in seiner Identität eine Vielfalt an historisch bestimmten identifikatorischen Beziehungen ist, ist jede gesellschaftliche Gruppe, die er zu fördern oder an der er teilzunehmen sich anschickt, zunächst ein dramatisches Replikat [...] seiner inneren Gruppenzugehörigkeit, was als Formel zu verstehen ist, die die Welt und die eigene Beziehung zur Welt kodifiziert. Das Zusammentreffen mehrerer Individuen ist demnach das Zusammentreffen mehrerer Gruppenzugehörigkeiten, die den relationalen Nenner gemeinsam haben, und zwar um so relevanter, je näher die historischen, ethnologischen, ideologischen Ursprünge sind, von denen diese Gruppenzugehörigkeiten die individuellen Ausdrucksformen sind (Napolitani, 1987, S. 48).
Kleine bürgerliche Gemeinschaften Die Typen der „kleinen physischen Gemeinschaften“ und die entsprechenden „vorherrschenden individuellen Typen“ sind allgemeine Kategorien, genauer gesagt, „sensibilisierende Begriffe“, die versuchen die Realität zu begreifen, ohne darüber den Reichtum der Ausdrucks- und Erscheinungsformen zu verlieren. In den kleinen „bürgerlichen“ Gemeinschaften ist der „vorherrschende individuelle Typ“ der „Pazifist“. Er steht mit einer „Anti-Gewalt-PhantomGemeinschaft“ im Dialog, die jede Art von körperlicher Auseinandersetzung ablehnt und dies auch in Situationen, in denen das eigene Leben in Gefahr ist (Athens, 1998, S. 679). Konsequent schließt der „Pazifist“ auch Selbstverteidigung aus. Seine „physische Gemeinschaft“ sieht ihn als ein Individuum, das „gegen Gewalt“ ist, und bedenkt man, dass auch seine „PhantomGemeinschaft“ völlig mit der ersten im Einklang steht, wird auch das „Selbstbild“, das der Akteur aus diesem „Sichtreffen der Blicke“ zieht, auch „gegen Gewalt“ sein. Auf der hierarchischen Skala ist der folgende „vorherrschende individuelle Typus“ eine „marginal gewalthafte“ Person, die durch eine „nicht-gewalthafte Phantom-Gemeinschaft“ charakterisiert wird, welche nur jene gewalttätigen Gesten unterstützt, die nötig sind, um sich oder nahstehende Personen gegen eine fremde physische „Herrschaft“ zu verteidigen („physisch defensive“ Interpretation). Die „kleinen bürgerlichen Gemeinschaften“ nehmen die „am Rande der Gewalt“ Stehenden als „nicht-gewalttätig“ wahr, und da diese Beurteilung sich mit der ihrer „Phantom-Gemeinschaften“ verträgt, werden auch die jeweiligen „Selbstbilder“ „nicht gewalttätig“ sein.
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Nach den vorherrschenden Typen, welche die „kleinen bürgerlichen Gemeinschaften“ repräsentieren, ermittelt Athens das normative / organisatorische Profil, das sie kennzeichnet: ihre vorherrschende Regel, dass die Kämpfe um die „Herrschaft“ nur auf nicht-gewalttätige Art geregelt werden müssen, indem sie beispielsweise in Klatsch, Verhöhnung, Erniedrigung oder eine zeitweise Meidung der Gegner transformiert werden. Gewalt wird durch einen besonderen Gebrauch von Sprache und die Anwendung einer besonderen Sicht der sozialen Beziehungen, in denen Worte zu Waffen werden, „symbolisiert“ und sublimiert. Man kann auch auf extremere Maßnahmen zurückgreifen, die die Ausstoßung der Antagonisten aus der Gruppe bedeuten, wie Kündigung, Scheidung und andere Formen der Verbannung. Obwohl solche Lösungen ohne Frage auf körperlicher Ebene „nicht gewalttätig“ sind, sind sie psychologisch und moralisch sehr belastend und invasiv für denjenigen, der sie erleidet: Rivalen treten sich mit „bürgerlichen“ Waffen, wie die symbolische, psychologische, ökonomische und rechtliche Macht, gegenüber. FILM: BOWLING FOR COLUMBINE Interview mit James Nichols, gegen den gerichtlich vorgegangen und der freigesprochen wurde – im Vergleich zu seinem Bruder Terry, zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt – für das Attentat, das er in Oklahoma City am 19 April 1995 begangen hat. James Nichols: „Ich benutze den Stift, weil er mächtiger ist als das Schwert. Aber man muss immer ein Schwert bereithalten, falls der „Stift“ versagt. Ich schlafe mit einer 44er Magnum unter dem Kissen.“
FILM: BOWLING FOR COLUMBINE Interview mit Charton Heston, einem bekannten Hollywood Schauspieler und außerdem ein bekannter Befürworter des Rechts auf Einsatz von Waffen.3 Charlton Heston: „Eine Waffe zur Selbstverteidigung muss schließlich geladen sein. Weil mir der zweite Zusatzartikel das Recht gibt sie zu laden. […] Ich übe eines der Rechte aus, das die klugen alten Weißen, die dieses Land geschaffen haben, festsetzten. Was gut für sie war, ist auch gut für mich.“ Michael Moore: „Dieses Recht könnten Sie auch mit einer entladenen Waffe ausüben.“ Charlton Heston: „Das ist meine Wahl.“
In den kleinen „bürgerlichen“ Gemeinschaften stellen die „nichtgewalttätigen“ Zusammenstöße demnach die vorwiegende gesellschaftliche „Institution“ dar, um die Kämpfe um die „Herrschaft“ zu lösen. Ihr Ziel ist es, 3
Hervorhebungen von uns.
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die Antagonisten dazu zu zwingen, auf ihre Forderungen nach einer höheren Position in der gesellschaftliche Hierarchie zu verzichten und als Folge der Niederlage eine niedrigere gesellschaftliche Ebene zu akzeptieren (Athens, 2003, S. 22). Den Mitgliedern dieser Gemeinschaften wird dann, durch die Prozesse der Sozialisierung, eine „nicht gewalthafte“ institutionelle Identität versichert.4 Was die Häufigkeit der Gewaltkriminalität angeht, so wird jegliche Ausdrucksform sehr selten sein. Da aber die Grenzen zwischen den verschiedenen „kleineren Gemeinschaften“ immer „durchlässig“ sind, könnten die „gewalttätigen“ Personen hin und wieder „da durch“, oder versuchen, sich dort einzurichten. Diejenigen, die in „schädlichen“ Gemeinschaften sozialisiert worden sind, leben nun in einer Gemeinschaft, die, da sie „bürgerlich“ ist, in starkem Kontrast mit ihrer Bezugs-“Phantom-Gemeinschaft“ steht. Der dadurch entstehende Widerspruch bewirkt, dass sie als „sozial unangepasst“ gesehen werden, und stellt ein mögliches Vorzeichen für eine „dramatische Veränderung des Selbst“ in Richtung Nicht-Gewalt dar.5
Kleine schädliche Gemeinschaften In den kleinen „schädlichen“ Gemeinschaften ist der „vorherrschende individuelle Typus“ ein „ultra-gewalttätiger“ Mensch, in dem eine „PhantomGemeinschaft mit nicht abgeschwächter Gewalt“ wohnt, der in allen Arten der „Situationsinterpretation“ eine körperliche Auseinandersetzung befürwortet (also in den „physisch defensiven“, „frustrierten“, „frustriert-schädlichen und „schädlichen“ Interpretationen). Das Spektrum an Situationen, die gewalttätige Reaktionen verlangen, ist daher sehr breit und vielseitig. Die „schädliche“ Gemeinschaft sieht das „ultra-gewalttätige“ Individuum stets bereit, körperlich anzugreifen, als „entschlossen, schwer zu verletzen, oder sogar als Antwort auf jegliche Art der Provokation zu töten“ (Athens, 1998, S. 679). Dadurch, dass die „Phantom-Gemeinschaft“ dieser Handelnden im Einklang steht mit dem Bild, das die „physische Gemeinschaft“, zu der sie gehören, von ihnen hat, wird das „Selbstbild“, das daraus entsteht, gewalttätig sein. In der hierarchischen Skala ist der nachfolgende „vorherrschende individuelle Typus“ eine „gewalttätige“ Person, welche von einer „Phantom-Gemeinschaft mit abgeschwächter Gewalt“ begleitet wird, die sich für körperliche Angriffe 4
5
Folgerichtig wird wenig Raum für eine gewalttätige Sozialisierung gelassen. Denn in den kleinen „bürgerlichen“ Gemeinschaften kann der Prozess der „Violentisierung“ beginnen, doch ist es sehr unwahrscheinlich, dass er zu seinem Abschluss kommt. S. Kap. 3, „abnehmend gewalttätige Karrieren“.
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nur im Fall einer „physisch defensiven“ oder „frustriert-schädlichen“ Interpretation ausspricht. Diese Handelnden haben ein „anfänglich gewalttätiges“ „Selbstbild“, d.h. die werden von „einer starken Neigung, schwere gewalttätige Handlungen nur als Reaktion auf extreme Provokationen auszuführen“, gekennzeichnet (Athens, 1998, S. 680).6 Und so werden sie auch von ihrer „physischen Gemeinschaft“ wahrgenommen. Was das normative / organisatorische Profil der kleinen „schädlichen“ Gemeinschaften angeht, so legt das Grundprinzip fest, dass das effizienteste Mittel, um Konflikte um die „Herrschaft“ zu lösen, „körperliche Gewalt“ sein muss: Immer wenn es zu einem schweren Konflikt kommt, ist jedem klar, dass man bereit sein muss, nicht nur von tödlicher Gewalt Gebrauch machen zu müssen sondern sich auch zu ertragen […]. Daraus folgt, dass diese Gemeinschaften mögliche Schlachtfelder darstellen, wo kriminelle gewalttätige Handlungen jeder Art […] mit einer solch erschütternden Häufigkeit auftreten, dass sie alltäglich werden (Athens, 1998, S. 682).
Die Gewöhnung an Gewalt führt zu einer Desensibilisierung ihr gegenüber, und ein „ultra-gewalttätiges“ Individuum ist am besten geeignet, am besten „ausgestattet“, um in einer Realität zu leben, in dem der alltägliche Überlebenskampf nicht metaphorisch zu verstehen ist. In den „schädlichen“ Wohnvierteln stehen Morde und Angriffe auf die persönliche körperliche Unversehrtheit auf der Tagesordnung und schaffen eine Atmosphäre grassierender Angst, wenn nicht sogar des Terrors, die die alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen unterminiert. Wer den Weg der „Violentisierung“ beschritten hat und ein gewalttätiges Leben führt, hat Abfolgen von Gesten internalisiert und sich auf der Grundlage einer höchst impliziten Pädagogik Abfolgen von Gesten zu eigen gemacht, die durch körperliche Mechanismen und mentale Schemata zum Ausdruck kommen, aus denen „ein lebendiges Räderwerk stammt, das Körper und Geist miteinander verzahnt, die Grenze zwischen Vernunft und Leidenschaft negiert, den Gegensatz zwischen Handlung und Vorstellung aufhebt“. So lernen „Gewalttäter“ zu kämpfen und signifikant das zu verändern, was John Dewey als body-mind complex definiert und somit „mit der Zeit den Organismus in eine Maschine zum Austeilen und Einstecken von Schlägen zu verwandeln, allerdings in eine intelligente, kreative und zur Selbststeuerung fähige Maschine, die, je nach Gegner und Augenblick, aus dem Fundus eines festgelegten und relativ eng begrenzten Registers
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S. Kap. 3, „Selbstbilder“.
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Fünftes Kapitel
von Bewegungen ständig Neuerungen schafft“.7 Self, „Phantom-Gemeinschaft“ und „Körper“ funktionieren in perfektem Einklang. In den kleinen „schädlichen“ Gemeinschaften sind es in der Tat die körperlich gewalttätigen Zusammenstöße, welche die vorherrschende Form – auch von Seiten der gesellschaftlichen „Institutionen“ – für die Lösung der Kämpfe um die „Herrschaft“ bilden. FILM: DEPARTED – UNTER FEINDEN Billy Costigan gerät, nachdem er provoziert wurde, in eine Rauferei mit einem der Gangster von Frank Costello. Nach der Schlägerei legt Mister French, die rechte Hand von Costello, die Regeln der „Herrschaft“ neu fest. Billy am Thresen einer Bar: „Cranberrysaft“. Gangster von Costello: „Das Zeug ist gut für die Blase, das trinkt meine Freundin, wenn sie ihre Periode hat. Hast du deine Periode?“ Billy greift den Gangster körperlich an und nachdem er ihn geschlagen hat, fügt er hinzu: „Und wer hat jetzt seine Periode, hm?“ Mister French greift ein, der an Billy gewandt fragt: „Kennst du mich?“ Billy: „Nein, nein...“. Mister French: „Ich bin derjenige, der dir sagt, wen du schlagen darfst und wen nicht. Der ist nicht unbedingt einer, den du nicht schlagen darfst, aber er ist beinahe so einer. Also werde ich dazu eine Entscheidung treffen, klar? Du schlägst ihn nicht, verdammt nochmal, verstanden?“ Billy: „Ja, ausgezeichnet, passt mir gut, gut...“. Mister French: „Ich weiß, wer du bist. Ich kenne deine Familie. Dealst du noch ein einziges Mal mit diesem Scheißhaufen von deinem Cousin, den jeder Cop kennt, vergesse ich, dass deine Großmutter immer nett zu mir gewesen ist und schneid dir deine widerlichen Eier ab, hast du verstanden?“ Billy: „Ja, ja, hab ich...“. Mister French: „Was willst du trinken?“ Billy: „Cranberrysaft?“ Mister French: „Hast du deine Periode? Gib ihm einen Cranberrysaft.“
Obwohl hier die typische Form der Sozialisierung die „Violentisierung“ ist, bedeutet dies nicht, dass alle ohne weiteres den Prozess bis zum Stadium der „Virulenz“ zu Ende führen müssen.
7
Wacquant (2000, S. 22 und S. 99), der diesen Gedanken bezüglich der Boxer äußert.
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Sind in den „bürgerlichen“ Gemeinschaften „Pazifisten“ und „leicht Gewalttätige“ die „vorherrschenden individuellen Typen“, so leben und werden sie in den „schädlichen“ als „sozial unangepasst“ erlebt. FALL A: MORD Ein Gewalttäter mit einem „nicht gewalttätigen Selbstbild“ beschreibt einige Grundzüge der „schädlichen Gemeinschaften“, mit denen er für eine begrenzte Zeit seines Lebens verkehrt hat. Ich spreche vom Spritzen von Heroin... denn man muss schon unterscheiden: meiner Meinung nach gibt es einen Unterschied zwischen denjenigen, die einen Joint rauchen und einem, der sich Heroin in die Venen spritzt... das sind wirklich andere Welten, andere Menschen... hier gibt es Leute, die der eigenen Mutter den Kopf abschneiden und ihn sich in die Tasche stecken, während man da höchstens auf eine Oma trifft, die einem einen Klaps gibt... . Ah, wenn ich ein Gesetzgeber wäre... . In solchen Gruppen beruhen alle Regeln auf der Dosis, dem Geld, dem Timing, der Genauigkeit. Vielleicht habe ich deswegen aufgehört, Heroin zu nehmen. Denn es stand eine Arbeit an, und ich arbeite nicht gerne. Es war so, als ob man hingehen und seine Karte abstempeln müsste, also sagte ich mir: „So ein Scheiß, ich geh jetzt nicht mal mehr hin!“ Wir trafen uns zu Hause bei einem, oder beim anderen. Das liegt daran, dass – der Ärmere soll nicht böse auf mich sein – wir auf einem sozialen und kulturellen etwas besseren Niveau waren als diejenigen, die sich auf der Straße spritzen. Ich hatte das Glück, aus einer Familie des mittleren oder des Kleinbürgertums zu stammen... was nicht Quarto Oggiare oder solche Orte sind, dem Giambellino... Ich kam aus einem Viertel in Mailand, das schon... je höher das Niveau, desto weniger Wettstreit und Feindseligkeit gibt es tatsächlich. Je weiter man sich hinab begibt... mir ist es passiert, dass ich für eine gewisse Zeit in Quarto Oggiaro und Giambellino war, und das war hart. Man musste aufpassen, es gab viel Gewalt, denn sie werden so geboren, es ist fast schon wie eine Seuche... .
Athens betont schließlich, dass die „Phantom-Gemeinschaft“ der „ultragewalttätigen“ Individuen – selbst wenn sie mit derjenigen der „schädlichen“ physischen Gemeinschaft, der man angehört, harmoniert – „in einem starken Konflikt mit [einer Phantom-Gemeinschaft] der größeren physischen Gemeinschaft steht, von der [die schädliche physische Gemeinschaft] ein Teil ist“ (Athens, 1998, S. 682). Diese Präzisierung ist sehr wichtig, denn sie erlaubt es, eine Art der Gemeinschaft unter den vielen, aus denen das komplexe gesellschaftliche Mosaik besteht, als überlegen zu sehen. Durch die Behauptung, dass die „gewalttätige Phantom-Gemeinschaft“ nicht mit derjenigen der Mehrzahl der Mitglieder der Gesellschaft im Allgemeinen übereinstimmt, wird angedeutet, dass der „bürgerliche“ Typus gegenüber dem „schädlichen“ überwiegt.
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Turbulente kleine Gemeinschaften In den „turbulenten“ kleinen Gemeinschaften trifft man auf keinen „vorherrschenden individuellen Typus“ sondern nur auf eine „Mischung aus Typen“. Hier leben „ultra-gewalttätige“, „gewalttätige“, „leicht gewalttätige“ und „Pazifisten“ „auf engstem Raum miteinander“, und so ist das soziale / relationale Umfeld stets „problematisch“. Vom normativen / organisatorischen Gesichtspunkt her gibt es keine vorherrschende Regel, um die Konflikte um die „Herrschaft“ zu regulieren, und somit brechen sie ungeordnet aus, und dies nicht nur, um zu entscheiden, welche Position jeder in der gesellschaftlichen Hierarchie einnimmt sondern auch, um die für am geeignetsten gehaltenen Mittel zu ihrer Lösung festzulegen. Das symbolische Chaos, das die „turbulenten“ kleinen Gemeinschaften erfüllt, verbietet es, stabile Hierarchien festzulegen und vorher zu wissen, was man zu erwarten hat, wenn Kämpfe um die „Herrschaft“ ausbrechen. Menschen können eben nicht mit Sicherheit agieren, außer sie sind in der Lage, vorher schon, innerhalb gewisser Grenzen, zu wissen, wie die fremden Antworten möglicherweise lauten.8 Diese Lage der Dinge verursacht einen gefährlichen Zustand der Unsicherheit, in dem „körperliche“ und „soziale Distanzen“ übereinstimmen. Dies ist der gedankliche humus, in dem die ohnehin hohen Spannungen immer schlimmer werden. FILM: AMERICAN HISTORY X Derek, Leader einer Gruppe von Skinheads, treibt „seine Leute“ zu einem Überfall auf einen Supermarkt an, der von einem „Schlitzauge“ geführt wird, und behauptet, sie hätten, da sie amerikanische Staatsbürger sind, einen legitimen Anspruch, in ihrem Land und in ihrem Viertel „zu dominieren“. Derek: „Also hört zu. Wir müssen endlich die Augen aufmachen. Wir haben zwei Millionen illegale Einwanderer, die sich bei uns nur auf die faule Haut legen. Dieser Staat wirft drei Milliarden jedes Jahr für sie raus. Und das alles für Leistungen an Menschen, die überhaupt kein Recht haben sich hier breitzumachen. Drei Milliarden Dollar. 400 Millionen Dollar nur dafür einen Riesenhaufen von illegalen Kriminellen wegzusperren, die nur hier sind, weil unsere Einwanderungsbehörde 8
S. Shibutani (1961, S. 7). In Bezug auf die „Struktur der sozialen Welt“ spricht Alfred Schütz von einer „Typifizierung“ bezüglich der Tatsache, dass Menschen wissen, was sie vom anderen halten sollen, weil sie „wissen“, dass gewisse Typen von Menschen sich unter bestimmten Umständen auf typische Weise verhalten: „Meine Konstruktion des Anderen […] als denjenigen, der typische Rollen oder Funktionen einnimmt, steht in Verbindung zum Prozess der Selbst-Typifizierung, der stattfindet, wenn ich mit ihm interagiere […]. Durch die Typifizierung des Verhaltens des Anderen, die mit meinem verbunden ist, typifiziere ich ich mich selbst zu einem Reisenden, Konsumenten, Steuerzahler, Leser, Zuschauer etc“ (Schütz, 1973, S. 23).
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entschieden hat, es lohnt sich nicht die Leute daraufhin zu überprüfen, ob Schwerverbrecher dabei sind. Wen juckt das schon? Es kümmert die Regierung einen Dreck. Die Überwachung unserer Grenzen ist ein Witz. Überrascht es da noch irgendwen, dass sich die in Mexiko über uns kranklachen und über unsere Gesetze? Es strömen jede Nacht tausende Parasiten nach Norden über die Grenze, als ob da ein Sack Bohnen explodiert wäre.“ Alle: Lachen. Derek: „Lach nicht so blöd. Ich kann nichts Witziges daran finden. Das alles betrifft euer Leben und meins auch. Das betrifft anständige, schwerarbeitende Amerikaner, die fallen durch das Netz und verlieren ihre Arbeit, weil die Regierung sich mehr um die verfassungsmäßigen Rechte von Leuten sorgt, die nicht einmal amerikanische Staatsbürger sind! Was steht auf der Freiheitsstatue? „Gebt mir die Müden, Hungrigen, die Armen. Aber Amerikaner sind müde und hungrig und arm und ich sage, solange das so ist, Schluss mit dieser Politik. Denn wir verlieren... wir verlieren das Recht über uns selbst zu entscheiden. Wir verlieren unsere Freiheit nur damit ein Haufen Ausländer unser Amerika ausbeuten kann, wie er will. Und diese Sachen passieren doch nicht irgendwo auf der Welt, all diese Sachen passieren doch nicht irgendwo, wo wir sowieso nichts dran machen können, das alles passiert hier, genau in diesem Viertel, das passiert in diesem Gebäude hinter euch. Archie Miller hat diesen Laden da geführt, seitdem wir Kinder waren. Dave hat für ihn gearbeitet und Mike genauso. Er musste raus und seitdem gehört es einem scheiß Koreaner, der die weißen Leute entlassen hat und sich blöde verdient, weil er 40 von den scheiß Bohnenfressern beschäftigt. Ich seh die Scheiße, die hier läuft und ich sehe niemanden, der dagegen etwas unternehmen will und allmählich steht’s mir bis ganz oben. Schaut euch doch um. Das hier ist nicht mehr unser Viertel, das ist ein Sclachtfeld. Wir stehen heute Abend auf einem Schlachtfeld. Entscheidet euch. Wollen wir usn raushalten und weiter zusehen? Brav zusehen, wie unser Land ausgenommen wird?“ Alle: „Nein, scheiß drauf.“ Derek: „Oder raffen wir uns auf und unternehmen was dagegen?“ Alle: „Ja, natürlich, sofort.“ Derek: „Und wie wir was unternehmen!“
FALL F: MORD Der Interviewte beschreibt ein gesellschaftliches Umfeld, das durch die lästige Anwesenheit von „Negern“ „erschüttert“ wird, über die er sich eine klare Meinung gebildet zu haben scheint. X ist eine ganz besondere Stadt. Oft wird man von diesen Menschen erstickt... es gibt da so viele, dass... außerdem, wenn man auch kein Rassist ist, so wird man das hier... . Obwohl ich in einer gehobenen Wohngegend von X lebe, trieb ich mich in diesen Viertel herum, weil es dort die Hehler gab und ich wusste, wo ich die Ware absetzen konnte. Dort gab es auch Dealer. Die waren alle in meiner Reichweite. Und ich sah viele von den Abscheulichkeiten dieser Menschen... . Und das hat mich innerlich belastet: es war so an einem Tag, an einem anderen Tag auch und dann an noch einem Tag... bis ich an meine Grenzen stieß.
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Fünftes Kapitel Schon vorher hatte ich diese Meinung von den Schwarzen, auch wenn ich mit Freunden in der Bar sprach, die mehr oder weniger wie ich denken, denn ich mag es mich mit Leuten abzugeben, die so denken wie ich... denn sonst kommt man nicht weiter. „Hört mal zu – insistierte ich – es ist wichtig ein klares Zeichen zu setzen!“ Und alle sagte zu mir: „Was interessiert dich das? Kümmere dich doch um deine eigenen Sachen! Du kommst in ihr Viertel, praktisch in ihr Zuhause und da sagst du, dass man ein Zeichen setzen soll. Was willst du denn für ein Zeichen setzen?“ Doch mich störten schon viele Dinge, zum Beispiel, dass die hierher kamen und sich alles unter den Nagel reißen wollen... sie wollen Moscheen erbauen... . Hey! Wenn ich zu dir nach Hause gehe, lässt du mich doch auch keine Kirche errichten! Wo steht es also, dass du nach Italien kommst, um deine Moschee zu bauen? Für wen hältst du dich eigentlich?“ Bei solchen Dingen bin ich echt stur, ich weiß, dass ich Scheuklappen auf habe.“
Derselbe Interviewpartner stellt, indem er über „Regeln der Herrschaft“ spricht, welche befolgt werden und befolgt werden müssen, „moralische Überlegungen“ über das an, was in der „physischen Gemeinschaft“, in der er zur Zeit seiner Tat verkehrte, erlaubt und was verboten ist. FALL F: MORD Gewisse Regeln habe ich immer befolgt, denn ich habe mich immer mit Leuten abgegeben, die älter waren als ich. Auch als ich meine erste Freundin hatte, war ich manchmal so eifersüchtig, dass ich Lust hatte sie zu ohrfeigen. Die Älteren, mit denen ich immer zusammen war, sagten mir stets: „Frauen muss man immer respektieren. Auch, wenn du dich mit deiner Freundin gestritten hast, darfst du niemals die Hand gegen sie erheben. Die Hand sollst du gegen Männer erheben, nicht Frauen!“ Das ist richtig so. Doch ich habe ihr sehr oft aus Eifersucht... ein paar Ohrfeigen verpasst. Ich drehte wegen meiner Eifersucht durch. Wiederum haben sie mir immer gewisse Werte vermittelt... . Und ich habe immer gewisse Prinzipien weitergeführt. Wenn ich in X, in dem Viertel, in dem ich immer war, sah, dass sich die Marokkaner immer die italienischen Mädchen schnappten, die noch zur Schule gingen, Schülerinnen... die kamen, um einen Joint zu rauchen, zu koksen oder Heroin zu nehmen... und du sahst die Marokkaner, die, sobald die Mädchen ankamen sich zu viert oder fünft zusammentaten und sie mitnahmen, dachte ich: „Ihr seid ekelhaft, weil ihr euch dieses Mädchen schnappt... .“ Außerdem habe ich so viel Mist mit angesehen... alle sagten: „Ja, ja, ich gebe dir das Koks“ und dann nahmen sie sie mit, um sie in einem verlassenen Haus zu vögeln. Das sind schreckliche Sachen, die tut man nicht. Wer sich auf der Straße herumtreibt, Italiener, die sich auf der Straße herumtreiben, bei denen gibt es diese Art von Gewalt nicht und ich mach das jedenfalls auch nicht. Mein Gehirn kann sich das nicht vorstellen. Aber den Rest schon. Wir können uns vorstellen, dass wenn man einen Raubüberfall macht und dann singt jemand, dass man ihm dann ein paar Ohrfeigen verpasst... denn manchmal muss man auch ein bisschen aggressiv sein, wenn man gewisse Arbeiten macht... . In unserem Viertel dealten nur wir, Schluss aus. Wir konnten außerhalb unseres Viertels nicht verkaufen und sie konnten in unserem nicht verkaufen. Nur einer handhabte das alles: mein Bruder. Ich war immer eher für Action. Ich mochte es nicht sehr da zu sein und zu dealen, auch weil ich diejenigen sah, die dealten, um
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an Geld zu kommen. Ich hielt sie für unfähig und sagte: „Wenn ihr dealt heißt das, dass ihr nicht in der Lage seid Geld zu machen. Denn ich gehe raus und hol es mir selbst, indem ich die ganze Nacht lang stehle.“
Als er im Gefängnis, viele Jahre nach der Verurteilung, über das nachdenkt, was jetzt in den von ihm beschriebenen Vierteln vor sich geht, erklärt der Interviewte, wie seiner Meinung nach sich „die Regeln“ seiner „physischen Gemeinschaft“ in Luft aufgelöst haben und wie es nun nicht mehr möglich ist fremde Reaktionen auf seine Gesten einzuschätzen. FALL F: MORD Ich finde es lächerlich, wie manche Fünfzigjährige noch einen auf kriminell machen wollen. Über sie denke ich: „Schau dir diesen Versager an, der fünfzig ist und nur die Verbrecherwelt kennt … und was machst du mir der Verbrecherwelt? Du bist fünfzig und draußen gibt es Sechzehnjährige, die sich erschießen. Hast du überhaupt verstanden, in was für einer Welt wir jetzt leben?“ Es gibt keine Prinzipien mehr auf der Straße, nicht mehr... . Du gehst zu einem Jungen, ohrfeigst ihn, weil er es verdient hat, der geht nach Hause, nimmt die Pistole deines Vaters und tötet dich. Und du bist wie ein Idiot durch die Hand eines Jungen gestorben, der noch nicht einmal ein Verbrecher ist. Die haben im Kopf nichts als Wasser, Mineralwasser und das war’s. Es gibt draußen keine Regeln mehr. Ich will mich nicht mehr in so einem Milieu bewegen. Lieber arbeite ich und mache das, was ich schon immer gehasst habe.
Dynamiken der gesellschaftlichen Veränderung und gesellschaftliche Organisation von Gewalt Die drei „kleinen physischen Gemeinschaften“, die dem Prozess der „Segregation“ entstammen, sind, auch in Bezug auf die „Durchlässigkeit“ ihrer Grenzen, im ständigen Werden begriffene gesellschaftliche Realitäten, die zwischen Übergangsphasen und Phasen relativer Stabilität wechseln. Schematisch ausgedrückt: Wenn „ultra-gewalttätige“ und „gewalttätige“ Kriminelle erfolgreich die Grenzen der „bürgerlichen kleinen Gemeinschaften“ überschreiten und die „Pazifisten“ und die „marginal Gewalttätigen“ diese verlassen, so degenerieren sie allmählich zu „schädlichen“ Gemeinschaften. Wenn dann „ultra-gewalttätige“ Individuen Spitzenpositionen in der HerrschaftsHierarchie einnehmen, so werden die Mitglieder dieser Gemeinschaft beginnen, ihre Erwartungen immer stärker in Richtung einer gewalttätigen Lösung der Konflikte um die „Herrschaft“ auszurichten. Offensichtlich kann sich der Prozess auch in die diametral entgegengesetzte Richtung entwickeln, ohne dass man dabei vergessen sollte, dass bei der Transformation einer physischen Gemeinschaft von „bürgerlich“ zu „schädlich“ und umgekehrt eine vorläufige Zwischenphase der „Turbulenz“ durchleben muss.
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Fünftes Kapitel
Athens – der, wie er selbst zugibt, theoretische, äußerst komplexe Fragen sehr stark vereinfacht – bestimmt drei Arten von „Institutionen“ („gesellschaftliche Institutionen“, „Gemeinschaftsinstitutionen“ und „idiosynkratische Institutionen“ je nach „Reichweite“ ihrer jeweiligen effektiven Herrschaft (effective operational proficiency). Durch seine Beschreibung liefert er eine Art Karte der gesellschaftlichen Organisation von Gewalt. Die „gesellschaftlichen Institutionen“ „organisieren soziale Erfahrungen durch Prinzipien, deren operativer Bereich sich über eine ganze größere Gemeinschaft mit Ausnahme einiger kleiner Gemeinschaften erstreckt“ (Athens, 1998, S. 683). Daraus folgt, dass die „gesellschaftlichen Institutionen“ die Grenzen einer „größeren Gemeinschaft“ umschreiben. Die „Gemeinschaftsinstitutionen“ hingegen organisieren soziale Erfahrungen durch Prinzipien, deren operativer Bereich „sich von einem Extrem zum anderen einer kleineren Gemeinschaft erstreckt, mit der Ausnahme weniger Individuen oder Gruppen in ihrem Inneren“. (Athens, 2003, S. 21). Eine „Gemeinschaftsinstitutionen“ wird „unrein“, wenn, in Bezug auf bestimmte soziale Handlungen ihre normativen / organisatorischen Prinzipien sich von denen der „gesellschaftlichen Institution“, die sie überquert, unterscheiden. „Idiosynkratische“ Institutionen, schließlich, organisieren soziale Erfahrungen mithilfe von Prinzipien, deren „Herrschaft“ nur zwischen wenigen Individuen oder Gruppen effizient innerhalb einer „kleinen Gemeinschaft“ operiert. Sie umschreiben demnach keine Grenzen einer Gemeinschaft ein.9 Ein Beispiel für „idiosynkratische“ Institutionen, die in den „turbulenten kleinen Gemeinschaften“ oder den „schädlichen“ der schwarzen Ghettos nordamerikanischer Metropolen verankert sind, sind die von Loic Wacquant als „kleine Inseln der Ordnung und Tugend“ beschriebenen Boxschulen (gyms), welche Räume „geschützter Gemeinschaftlichkeit“ bilden. Dort gelten Pakte der Gewaltlosigkeit. In weiteren Bereichen, die unkontrolliert gewalttätige „PhantomGemeinschaften“ kultivieren, schaffen die gyms Nischen, in denen zentrale Werte des männlichen ethos in die Praxis umgesetzt werden. Sie grenzen10 an 9
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Institutionen sind keine statischen Wesenheiten, sondern in ständiger Bewegung befindende Prozesse. Eine „idiosynkratische Institution“ wird sich daher zu einem „Gemeinschaftsorgan“ und Letzteres wiederum zu einer „gesellschaftlichen Institution“ transformieren. Dieser Prozess kann sich auch in umgekehrter Richtung vollziehen. „So gesehen befinden sich Ghetto und gym in einer Beziehung der Kontiguität und Kontinuität. Doch sobald man sich im Boxclub befindet, löst sich diese Beziehung auf und wird durch die spartanische Disziplin, der die Boxer gehorchen müssen, abgelöst. Die Eigenschaften der Straße werden so auf andere Ziele angesetzt […]. Daher bestehen die Coaches als erstes auf dem, was man im gym nicht tun darf“ (Wacquant, 2000, S. 54).
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die „kleinen physischen Gemeinschaften“, allerdings werden sie von pädagogischen Grundätzen und unvergleichbaren Handlungsmodellen geleitet, die sie durch eine „stille, praktische Kommunikation von einem Körper zum anderen“ verbreitet, was den Meister-Schüler Dialog zu einer mehrstimmigen Konversation erweitert, die offen für die gewöhnlichen Aspekte der Boxschule ist. So bildet [die Boxschule] […] einen Gegensatz zur Straße: hier Ordnung, dort Unordnung; hier individuelle und kollektive Regulierung der Leidenschaften, dort private und öffentliche Anarchie; hier kontrollierte und konstruktive Gewalt – zumindest hinsichtlich des sozialen Lebens und der Identität des Boxers – eines streng geregelten und klar begrenzten Austauschs, dort die sinn- und hirnlose Gewalt der unkalkulierbaren, ausufernden Konfrontationen […] [der] Bandenkriminalität (Wacquant, 2000, S. 60).
FALL E: MORD X war ein verrufenes Viertel. Stellt euch vor wie es vorher war... . Damals gab es da einen ehemaligen Boxer, in meiner Stadt, Y, gab es viele Boxer und er war ein berühmter, auch wenn er damals schon etwas älter war. Er sprach uns Jungs an und sagte, im Dialekt: „Wieso prügelt ihr euch da auf der Straße ohne Sinn? Jetzt zeige ich euch wie man sich prügelt.“ Und er zeigte es uns. Es war keine richtige Boxschule. Am Anfang schlug man sich ohne Handschuhe und dann mit Handschuhen, die so groß waren, dass sich die Hände darin bewegten. Wir benutzten sie, damit wir uns nicht verletzten... doch wenn man einen Schlag in den Bauch bekam, tat das trotzdem weh und es nahm einem den Atem. Im Viertel gab es aber auch richtige Verbrecher... In Y gab es richtig viele Verbrecher. Alle gingen in das Studio, auch wenn es nicht immer wegen dem Boxen war. Es war nicht so, dass ich Schlagen besonders mochte, aber so wie die Dinge standen... dort war es so. Alle schlugen sich.
Athens merkt letztlich noch an, dass die Grenzen einer „kleinen physischen Gemeinschaft“ dort verlaufen, wo die einer anderen beginnen, und dass in ihrem Inneren die Menschen sich zumindest in einer institutionell bedeutsamen sozialen Handlung organisieren: „Der physische Durchmesser einer kleinen Gemeinschaft dehnt sich und zieht sich zusammen im Verhältnis zu der von den einzelnen Institutionen ausgeübten Herrschaft“ (Athens, 2003, S. 20).
Zeit als Verschiebung von Raum Die der Basis meiner Theorie zugrundeliegende Prämisse lautet, dass das Verbrechen der Effekt der sozialen Retardierung ist. Die soziale Retardierung ist dann zu erkennen, wenn die Menschen ihre Handlungen […] angefangen bei einer unterentwickelten und primitiven Phantom-Gemeinschaft orientieren, einem Us, das ihnen verbietet bei gesellschaftlichen Aktivitäten mitzuwirken, die sich in den kleinen physischen Gemeinschaften oder in den weiteren abspielen, in den sie eingegliedert sind (Athens, 1997, S. 144).
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Fünftes Kapitel
Mit dieser Haltung erkennt Athens die zeitlich-historische Dimension der Kluft zwischen den verschiedenen „Phantom-Gemeinschaften“ und den verschiedenen „physischen Gemeinschaften“. Dies bedeutet, dass jede Art der „PhantomGemeinschaft“ – „gewalttätig“ und „nicht gewalttätig“ – zumindest eine historische Epoche erfahren hat, in der sie in der „lebendigen Gegenwart“, den Gedanken und den Handlungen der Mehrheit der Menschen gelebt hat. Mit anderen Worten hat es eine Zeit in der Vergangenheit gegeben – was immer noch häufig vorkommt, wenn auch an einen anderen Ort verschoben –, in der eine bestimmte „Phantom-Gemeinschaft“ die anderen dominiert und den anderen überlegen waren. „Herrschaft“ wird folglich auch als „Herrschaft“ über die Zeit verstanden. Die Gemeinschaften, die heutzutage anderen überlegen sind, sind diejenigen, die sich als „bürgerlich“ darstellen und vorwiegend nicht gewalttätige Lösungen für Konflikte, zumindest, wenn es sich um Mitglieder der Gemeinschaft handelt, akzeptieren. Dies schließt jedoch nicht aus, dass man auf „schädliche“ Gemeinschaften trifft, die Gewalt als effizientestes Mittel, um Streitigkeiten zu beenden, sehen, wenn man sich räumlich / geografisch (und daher zeitlich) bewegt. „Zeit als Verschiebung des Orts“ zu betrachten, macht deutlich, dass Vergangenheit nicht nur in unseren Erinnerungen existiert, sondern auch im Leben und in den realen / konkreten Erfahrungen der Gegenwart, wenn auch anderswo hin verschoben. So kann es geschehen, dass verschiedene „historische Epochen“ gemeinsam im selben räumlich / territorialen Umfeld leben und eine Art zeitliches und symbolisches Chaos schaffen. Da die unterschiedlichen „historischen Epochen“ jeweils mit verschiedenen Welten des „Möglichen“ übereinstimmen, werden sich außerdem die Handlungen, die Ausdruck jedes dieser „Möglichen“ sind, ihrerseits voneinander unterscheiden. Wenn ein paar Jahrzehnte reichen, um die Logik und den Sinn vergangener Welten nicht mehr zu verstehen, so können sich ebenso solche aktuellen, doch zeitlich „verschiedenen“ Welten als unverständlich herausstellen. Um zu der Behauptung von Athens zurückzukehren, welcher im Verbrechen einen „Effekt der sozialen Retardierung“ sieht, der von „unterentwickelten und primitiven“ „Phantom-Gemeinschaften“ vollzogen wird, so könnte man dies als misslungene Rückkehr zu den lombrosischen Reflexionen verstehen, die behaupten, dass ein „Verbrecher“ unter einer Verzögerung der Entwicklung im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft leidet, so dass er Probleme bei der Anpassung an die moderne / zivile Gesellschaft bekommt (Lombroso,
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1876). In Wirklichkeit bezieht der amerikanische Kriminologe sich ausschließlich auf die Art der Normen, die eine Lösung der Konflikte innerhalb der „gewalttätigen“ „physischen“ und „Phantom-“ Gemeinschaften regulieren, nicht aber auf die biologische Konstitution oder die Persönlichkeitsstruktur des „verbrecherischen Menschen“.
Die gewalttätige Herrschaft in der sozialen Interaktion Die Gesten der sozial Handelnden erhalten symbolisches Gewicht, sobald andere da sind und es zu einer Teilhabe an einer „Gemeinschaft des Raums“ und „der Zeit“ kommt. Für jedes Mitglied sind der Körper des anderen, seine Gesten, seine Haltung und seine Mimik sofort erkennbar, und dies nicht einfach als Dinge oder Ereignisse der äußeren Welt, sondern in ihrer physiognomischen Bedeutung, also als Symptome der Gedanken des anderen. Eine Gemeinschaft der Zeit – und dies betrifft nicht nur die externe (chronologische) Zeit, sondern auch die interne Zeit – impliziert, dass jedes Mitglied am Verlauf des Lebens des anderen teilhat und die Gedanken eines anderen in einer realen Gegenwart verstehen kann, so wie sie sich jeden Augenblick bilden (Schütz, 1973, S. 19).
Eben weil man zusammen lebt, verbreiten sich diese „Gedankengänge“ und „Gefühlsfluten“ (Athens, 2005, S. 640) durch die Körper, indem sie die durchlässigen Grenzen der einzelnen physischen Gemeinschaften, denen sie angehören, überschreiten. „Gedankengänge“ und „Gefühlsfluten“ beleben alle „sozialen Handlungen“ einschließlich der „Auseinandersetzungen“ und „Kämpfe“ zwischen Körpern, mit denen die Menschen sich in die Diskussionen um die „Herrschaft“ einbringen. Wir stehen also im Begriff, Gewalttaten nicht mehr länger aus der Sicht der „Phantom-Gemeinschaft“ des Täters zu beobachten. Der Akzent liegt stattdessen auf dem „Austausch von Gesten“, der vollzogen wird, um festzulegen, wer im Verlauf der Interaktionen „übergeordnete“ oder „untergeordnete“ Rollen einnimmt und damit die Gewalt gesellschaftlich organisiert. Erneut erweist sich das, was häufig als plötzlich ausbrechender, impulsiver Akt erscheint, durch den Blickwinkel des radikalen Interaktionismus als geplant, emotional erlebt und in Phasen unterteilt, die das Geschehen gliedern Die drei potentiellen Formen einer gewalttätigen Auseinandersetzung sind von dem Stadium abhängig, in dem sich der Austausch der Gesten befindet, der folgendermaßen analysiert und segmentiert werden kann (Athens, 2005, S. 651):
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Fünftes Kapitel •
„gewalttätige Kämpfe“ (violent engagement) – bezeichnen eine Interaktion zwischen einem Täter und einem Opfer, wenn körperliche Gewalt angewendet wird, um die Situation der „Herrschaft“ zu stabilisieren. Es handelt sich daher um eine „gewalttätige Auseinandersetzung“, die vollständig vollzogen wird. Bei den violent engagements muss sich jeder Akteur entscheiden, wie er seine physische Kraft am besten einsetzt, um die „Herrschaftsfrage“ zu klären:11 •
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während der ersten Phase eines violent engagement („Beanspruchung der Rolle“: role claiming) entscheidet sich ein seiner Meinung nach „Übergeordneter“, da er fühlt, er könne diese hierarchische Rolle innerhalb einer „kleinen physischen Gemeinschaft“ einnehmen, sie zu erobern und gleichzeitig einem anderen die Rolle des „Untergeordneten“ zuzuweisen;12 während der zweiten Phase, als „Ablehnung der Rolle“ (role rejection) bezeichnet, kann der vermeintlich „Untergeordnete“ sich entscheiden, ob er sich der Geste widersetzt, die ihn in dieser Rolle haben möchte: die Entscheidung wird von mehr oder weniger korrekten Wahrnehmungen bezüglich des eigenen gesellschaftlichen Status, verglichen mit dem des vermeintlich „Übergeordneten“, abhängen. Nachdem er die Entscheidung getroffen hat, wird er sich zwischen einem „passiven“ Widerstand mit Gesten, die bloß die Absicht zum Ausdruck bringen, die untergeordnete Rolle nicht zu akzeptieren und zwischen „aktiven“13
Bezüglich des Grades an Konsens zwischen den Teilnehmern des violent engagement, unterstreicht Athens folgende Typologie: (a) das ‘gewalttätige Duell’ (duel), bei dem die Duellierenden Einvernehmen erzielen über den Gebrauch der Gewalt, um die übergeordneten / untergeordneten Rollen festzulegen, und über die Art und Grenzen der Verwendung (beispielsweise in einem Boxkampf); (b) der ‘Wettstreit’ (contest), bei dem die Teilnehmer sich nur darüber einig sind, dass Gewalt verwendet werden kann, jedoch keine Regeln und Grenzen festgelegt haben; (c) der ‘Kampf’ (clash): In diesem Fall sind die Teilnehmer sich noch nicht einmal über den Gebrauch von Gewalt einig, um die Frage nach der „Herrschaft“ zu stabilisieren. Dies geschieht, wenn man sich vor allem auf typische Kriterien der sozialen Zugehörigkeit bezieht (ethnische Zugehörigkeit, soziale Klasse, Geschlecht, Alter etc.), die, sobald sie einmal im Verlauf der alltäglichen Interaktion verinnerlicht sind „für selbstverständlich gehalten werden“ (Athens 2005, S. 652 und S. 645). Beispiele der „aktiven Gegenwehr“ werden in den Fällen 36 und 76 gegeben.
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entscheiden können – der jedoch beansprucht, den Anspruch auf die „Herrschaft“ anzufechten (Athens, 2005, S. 654);14 •
in der dritten Phase („Austausch von Gesten um die Rolle“: role sparring), die man erreicht, wenn niemand in den vorangegangenen die Position der „Herrschaft“ einnehmen konnte, wenden die Rivalen weitere Gesten der Beanspruchung oder Verweigerung der Rolle an, um ihre Absichten energischer zum Ausdruck zu bringen (Athens, 2005, S. 657);15
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in der vierten Phase („Auferlegung der Rolle“: role enforcement) entscheidet sich mindestens einer der Widersacher zum Gebrauch körperlicher Kraft um die Rolle des „Übergeordneten“ einzunehmen (Athens, 2005, S. 659);16
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im Verlauf der fünften und letzten Phase (definiert als „Festlegung der Rolle“: role determination) wird die definitive Gestaltung der Rollen festgelegt, die aus einem „Sieg“,17 aus einer bedeutungsvollen „Niederlage“ oder einer no-decision bestehen kann. Die ersten beiden haben einen erheblichen Einfluss auf die
Im Verlauf der „passiven“ Resistenz werden die „Emotionsflüsse“ des angeblich „Übergeordneten“ durch seine Interpretation der Widerstands-Gesten – die im Allgemeinen einfach als Weigerung der Anerkennung seiner „Überlegenheit“ verstanden werden und nicht als Erklärung seiner „Unterlegenheit“ – gemildert, die von Wut bis zu moderater Verachtung variieren können. Bei der „aktiven“ Resistenz hingegen hat der angeblich „Übergeordnete“ ein Gefühl der Ohnmacht, das sich in Hass und Tobsucht entwickeln kann, wenn ihm Befehle erteilt werden oder er beleidigt wird. Falls ihm Befehle gegeben und er beleidigt wird, empfindet er Wut und brennenden Hass. Und falls er schließlich mit Drohungen und physischer Aggression konfrontiert wird, bekommt er es mit der Angst zu tun (Athens, 2005, S. 663). Zwei Rivalen können nach drei Strategien vorgehen: ein forderndes Verhalten an den Tag legen, das eine escalation von immer waghalsigeren Gesten begünstigt; oder anzunehmen, dass die beste Taktik darin bestehe, keine zu haben und unvorhersehbare Gesten von sich zu geben, oder schließlich, sich als entschlossen zu zeigen die fordernden (oder ablehnenden) Gesten zu wiederholen. Fall 57 zeigt eine Strategie der Beanspruchung der „Herrschaft“ durch escalation. Die Gesten der „Herrschaft“ und die Gefühle, die sie begleiten, unterscheiden sich durch den Grad an „Waghalsigkeit“ oder „Ängstlichkeit“. Die am wenigsten effizienten sind diejenigen, mit denen angekündigt wird, man wolle eine „übergeordnete“ Rolle einnehmen, weil „die echten Bosse es nicht nötig haben, feierliche Erklärungen über ihre Überlegenheit zu machen, sondern sie als selbstverständlich ansehen“ (Athens, 2005, S. 653). Alternativ kann man einem „Untergeordneten“ einen Befehl geben und / oder eine Beleidigung äußern und dabei Wut, Widerwillen oder Hass hervorrufen. Fall 32 bietet ein Beispiel für einen „bedeutungsvollen Sieg“.
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Fünftes Kapitel Veränderung der Rollen und auf die Position in der Hierarchie der „Herrschaft“ der zugehörigen Gemeinschaft.
FALL E: MORD In Y gibt es keine Bosse. Aber... Es reicht nicht, dass jemand einfach sagt: „Jetzt bin ich der Boss.“ Ein Boss muss als solcher anerkannt werden... das heißt... es steht nirgends... aber wir wissen, dass er der Boss ist. Als ich klein war, sah ich oft, wie die anderen, auch die Verbrecher, wenn der Boss etwas sagte... dann hörte man auf ihn. Aber es gab auch solche, die sogar den Boss verprügelten. Wenn sie ihn schlugen, dann war er nicht mehr der Boss und derjenige, der ihn geschlagen hatte wurde es... . Es war nicht so wie auf Sizilien, dass man töten musste, um ein Boss zu werden. Bei uns reichte es, wenn man es schaffte ihn zu schlagen... und dann wurdest du zum Boss... der Boss in Anführungszeichen... denn es war nicht so, dass nur, weil man ein Boss war, zu jemandem hingehen konnte und sagte: „Du musst...“, denn der hätte geantwortet: „Wer bist Du denn, mir etwas zu befehlen?“ Bei so etwas kam es zu Messerstichen und Tritten. Bei uns gibt es keine Bosse... Aber es kommt vor, dass wir einen Leader anerkennen... einen, der dir im Notfall auch hilft.
•
„gewalttätiger Schlagabtausch“ (violent skirmishes) – meint, dass man im Verlauf einer Interaktion dabei ist, von körperlicher Kraft Gebrauch zu machen, aber sie de facto nicht angewendet wird. Es handelt sich um einen „gewalttätigen Kampf“, der gerade begonnen hat (inchoate). Mit diesem Ausdruck kennzeichnet Athens den Abtausch, der in der vierten Phase (role enforcement) endet, denn mindestens einer der beiden Akteure entscheidet sich infolge einer „einschränkenden Beurteilung“ dafür von der Gewalt und den eigenen Ansprüchen an eine „Herrschaft“ abzulassen.18
•
„Streit um die Herrschaft“ (dominance tiffs) – meint, dass die Interaktion sich nicht in einen „gewalttätigen Schlagabtsusch“ umsetzt. Hier gehen die Widersacher, die die Phase des role sparring erreich haben, nicht weiter, denn einer von ihnen steigt aus dem Wettkampf aus.
Kollektive Gewalthandlungen Nachdem er die verschiedenen Phasen unterteilt hat, die die Interaktion zwischen Täter und Opfer im Verlauf der „sozialen Handlungen“ charakterisieren,
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Ein Beispiel für ein „gewalttätiges Wortgefecht“, in dessen Verlauf aus Angst, die eigene körperliche Unversehrtheit zu gefährden, auf den Gebrauch von Gewalt verzichtet wird, findet sich in Fall 34.
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die zu einer Gewalttat eskalieren kann,19 führt Athens auch bezüglich des Phänomens der „kollektiven Gewalt“ eine wichtige Erweiterung ein. Die Intuition, welche diese Erweiterung des Feldes hervorruft, besteht in der Annahme, dass die prozessualen Begriffe und Phasen, die entwickelt wurden, um die interindividuelle Gewalt zu verstehen, auf die „kollektive Gewalt“ ausgedehnt werden können – mit Ausnahme der notwendigen Korrektive, die bezüglich der Natur und der Ausdehnung der Gruppen ausgearbeitet werden müssen. Somit werden es im Verlauf eines „kollektiven sozialen Aktes“ nicht mehr die „einzelnen Individuen“, sondern „Gruppen“ sein, die sich während der bereits beschriebenen prozessualen Phasen um die Frage der „Herrschaft“ streiten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts – bereits seit der Schriften von Gustave Le Bon über die Massen (Le Bon, 1895) – hat sich die Überzeugung verstärkt, dass „kollektive Gewalttaten“ andere Kriterien erfüllen als die „individuelle“ Gewalttat. So wie es bei der Analyse des „gewalttätigen Handelns einzelner sozial Handelnder“ geschehen ist, haben auch hier die Erklärungen psychopathologischen Charakters im Vergleich zu denjenigen stetig an Boden verloren, die sich vom Gedanken verabschieden, dass „kollektive Gewalt“ notwendigerweise „irrationaler“ und „entfremdeter“ Natur ist. Auch auf diesem Forschungsgebiet wurde schon vor langer Zeit eine Sichtweise eingeführt, die von der Prämisse ausgeht, dass gewalttätige Zusammenstöße zwischen Gruppen durch eine Analyse der psychosozialen Prozesse der „Dekulturation“ und „DeIndividualisierung“ verständlich werden, die von Angehörigen der Gruppe der Täter erlebt werden.20
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Wir geben die Definition von „sozialer Handlung“, die bei unserer Analyse verwendet wird: „[…] soziale Handlungen [sind] Handlungen, die, um vollzogen werden zu können, die freiwillige oder unfreiwillige Beteiligung von mindestens zwei Parteien benötigen“. Man bezieht sich hierbei vor allem auf die „konfliktreichen“ sozialen Handlungen, also auf die Handlungen, in deren Verlauf die Handelnden kein „soziales Objekt“ und „kongruente“ Handlungen bilden können, weil keine Einigung bezüglich der Frage gefunden werden kann, wer die übergeordneten Rollen bzw. die untergeordneten Rollen einnehmen soll; s. Athens (2005, S. 670). Dies führt zu der Frage nach dem System, das Gewalt hervorruft und Täter „fabriziert“. Kurz gesagt tendieren viele Untersuchungen dazu, dass man nicht als Täter / Folterer geboren wird, sondern es im Verlauf eines Prozesses der „Dekulturation“ wird und / oder durch eine besondere Initiation, die traumatische Techniken anwendet. Es handelt sich um eine Veränderung der Identität, die absichtlich – bei den „Novizen“ – einen Bruch mit dem gewohnten Bezugsuniversum verursacht und die Absicht hat, „neue“ Wesen zu erschaffen, die sich von denen unterscheiden, die sie vor der Initiation waren. Unter diesem Gesichtspunkt ist der psychologische Prozess der „De-Individualisierung“ von höchster Wichtigkeit (Festinger / Pepitone / Newcomb, 1952), bei dem einige
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Fünftes Kapitel
Tatsache bleibt, dass, um „kollektive Gewalt“ vollständig verstehen zu können, man die Perspektive von Athens mit den Ergebnissen dieser Studie verbinden muss. Die Literatur zu diesem Thema hat jedenfalls einige allgemeinere methodologische Fragen hervorgebracht, die man nicht ignorieren kann und welche wir daher hier wieder aufgreifen wollen: •
gewalttätiges Handeln und seine Auswirkungen auf das Umfeld, auf die Beziehungen und auf gesellschaftliche Hierarchien hängen von einem Kollektiv von Personen ab, von einer Gruppe – und daher von ihren organisatorischen Kapazitäten, ihrer Kohäsion / Solidarität;
•
es gibt unterschiedliche Formen „kollektiver Gewalt“, die sicherlich nicht auf einen einzigen interpretativen Code zurückzuführen sind: •
bei den „spontaneren“, wie dem Lynchen, übt die Gruppe die Rolle einer echten „sozialen Kontrolle“ gegenüber demjenigen aus, der als anders wahrgenommen (und geschaffen) wird: jeder einzelne Akteur fühlt sich als Teil des „moralischen Organismus“, der das verletzte Prinzip der Gerechtigkeit, das beschädigte sittliche Empfinden wiederherstellt. So gesehen kann eine Handlung kollektiver Gewalt – von verschiedenen Beobachtern – sowohl als devianter, irrationaler und unmoralischer Akt als auch als das genaue Gegenteil verstanden werden, nämlich als ein äußerster Versuch, die moralische Ordnung dort wieder herzustellen, wo sie verletzt wurde. Hier entsteht mit Kraft die double message der Gewalt: „absolutes Böses“ und „soziale Kontrolle“(Garland, 2005);
•
was hingegen die „organisierteren“ Formen der Gewalt angeht, so entdeckt man stets das Vorliegen einer „hierarchischen Struktur“, die darauf gerichtet ist, mit Zwang die zerbrechliche und absolut nicht selbstverständliche Einheit der gesellschaftlichen Gruppe zu sichern, die sie durchführen muss. Die im Ver-
Faktoren (Verlust der Eigenverantwortung, die reduzierte Wahrnehmung der Konsequenzen der eigenen Handlungen, Veränderung der Wahrnehmungsprozesse, bei der das Individuum die Stimuli ausschaltet, die wichtig für seine Werte und moralischen Standards sind), indem sie die soziale Identifizierbarkeit und das Selbstbewusstsein des Individuums verringern, das Gefühl der Anonymität und der Verantwortung, die im Inneren einer Gruppe vorliegen, reduziert und somit Verhaltensweisen möglich werden, die sonst gehemmt werden (Zimbardo, 1969, S. 237–307). Zu diesen Themen s. Ravenna (2004).
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laufe der Letzteren verletzten moralischen Prinzipien, werden nämlich als fundamental für den Großteil der Handelnden angesehen, die daher „Rechtfertigungsmechanismen“ umsetzten müssen, um sie zu „neutralisieren“. (Sykes / Matza, 1957; Bandura, 1996).
Sechstes Kapitel Subjekte der Gewalt Gewalt, die sich bisweilen im Bereich des Wahnsinns manifestiert, ist sehr viel seltener, als im Bereich der „Normalität“: man tendiert leicht dazu dies zu ignorieren und zu verdrängen. Eugenio Borgna
Bevor wir uns mit den komplexen und vielseitigen Dimensionen dessen auseinandersetzen, was wir am besten „Kosmologien der Gewalt“ nennen – deren Voraussetzungen ihren Ursprung im radikalen symbolischen Interaktionismus haben –, möchten wir dem Leser einen Teil der sehr breiten wissenschaftlichen und kulturellen Diskussion über das – vielseitige und fast schon nicht mehr greifbare –Thema der Gewalt wiedergeben. Psychiater, Psychologen, Psychoanalytiker und Neurowissenschaftler untersuchen, oft in Zusammenarbeit, die grundlegenden Muster dieses sozialen Handelns. Kurz, um eine „Kosmologie der Gewalt“ zu erklären, muss man einige Gabelung der Erkenntniswege kennen, die mit unserem Ansatz verwoben und vermischt sind. Im Bewusstsein der Komplexität dieser Themen und des Überschusses, den jedes Forschungsfeld hervorbringt, werden wir mit diesen Zugriffen versuchen zumindest die Fragen einzufangen, die wir für die wichtigsten halten. Psychopathie, reaktive und instrumentelle Aggressivität James Blair, ein Forscher im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften, hat mit einigen Forscherkollegen Recherchen durchgeführt, die zu einer Definition der „Psychopathie“ als affektive Störung führt, die eine Verminderung der Fähigkeit, Formen der „Empathie“ zu produzieren impliziert, sowie folgerichtig ein Defizit in der Fähigkeit „moralische Überlegungen anzustellen“, ob in Versuchssituationen oder außerhalb solcher. Kurz, die Autoren sehen Psycho-
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Sechstes Kapitel
pathie als Störung, die das Spektrum der Emotionen, der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Verhaltens betrifft (Blair / Mitchell / Blair, 2005, S. 7).1 Mit der Zeit war der harte Kern dieser „anormalen Persönlichkeiten“ durch sechzehn gemeinsame Eigenschaften dieser Personengruppe (darunter Oberflächlichkeit, Größe, Fehlen von Reue und Empathie), recht gut umrissen, die von Harvey Cleckley 1941 (Cleckley, 1941) und Kurt Schneider 1950 (Schneider, 1950; Dazzi / Madeddu, 2009, S. 11–19) bestimmt wurden. Letzterer beschrieb in seiner Typologie diejenigen, die leiden oder die Gesellschaft leiden lassen, die impulsiven Psychopathen – welche durch plötzliche Veränderungen der Stimmung, durch das Unvermögen, „explosive Kurzschlussreaktionen“ zu bremsen und zu kontrollieren, durch rasende Wut und irrationale Zerstörungslust gekennzeichnet sind – und die gefühlsarmen unmoralischen Psychopathen – kalte und unmoralische Subjekte, die kein Mitleid empfinden können, weder moralische Regeln noch die Gefühle anderer respektieren, obwohl diese wohl bekannt sind, und bereit sind sehr schwere Straftaten zu begehen. Diese letzte Unterscheidung bleibt in zeitgenössischen Studien grundsätzlich unverändert. Barratt und Kollegen (1999) haben beispielsweise zwischen zwei unterschiedlichen Typen von „Aggressivität“ unterschieden: die „impulsive“ – eine „Reaktion eines hypersensiblen Menschen aus Zucker, die zu Unruhe sowie zu einer unverhältnismäßig aggressiven Reaktion führt – und die „vorsätzliche“, die durch geringe emotionale Reaktion und durch aggressive Handlungen, die „kaltblütig“ begangen werden, gekennzeichnet ist. Timothy Harpur / Ralph Hakstian / Robert Hare (1988) haben in der „Psychopathie“ zwei miteinander verbundene Aspekte ausgemacht, die eine affektive / zwischenmenschliche Dimension – die durch Oberflächlichkeit, durch Fehlen von Reue und durch Unehrlichkeit gekennzeichnet ist – und eine, die das Verhalten, den Lebensstil betrifft – und eine solche, die sich durch Jugendkriminalität, Vielseitigkeit der Devianz, Fehlen eines Verantwortungsbewusstseins, Suche nach Spaß und Impulsivität auszeichnet. Hare präzisiert, dass Psychopathen „einen bedeutenden Anteil schwerer Straftäter, Drogendealer, Sexualstraftäter, Betrüger, Söldner, korrupter Politiker, Ärzte und Anwälte, die ethisch nicht korrekt gehandelt haben, ausmachen“, dass sie in der Geschäfts1
In der Kriminologie beispielsweise wurde der zentrale Kern der „kriminellen Persönlichkeit“ von Jean Pinatel (1970) in vier fundamentalen, dynamisch und komplex interagierende Merkmale ermittelt worden, welche auf dynamische und komplexe Weise interagieren: „Egozentrismus“ (d.h. Ignorieren fremder Urteile), „Labilität“ (d.h. Befriedigen eigener Bedürfnisse, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern), „Aggressivität“ und „affektive Gleichgültigkeit“ (die wenig Empathie und geringe moralische Sensibilität bedeuten).
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und Unternehmenswelt stark präsent sind“, und dass „viele unter ihnen ihren Beruf ausüben, ohne sich dabei an die Gesetzte zu halten“ (Hare, 1998, S. 110). Die neuen Erkenntnisse, die aus den experimentellen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte über „psychopathische“ Personen hervorgegangen sind, haben ihrerseits gezeigt, dass bei der Bildung des „moralischen Denkens“ zwei grundlegende neurale Systeme am Werk sind. Auf der einen Seite ein affektives System, das es bei sozialen Primaten gibt und das bei „Psychopathen“ und einigen Patienten, die frontale Läsionen aufweisen, sich als selektiv beschädigt zeigt und durch die Verletzung von als bedeutungsvoll angesehenen moralischen Normen, durch Wahrnehmung einer Ungerechtigkeit und durch andere gesellschaftlich relevante Verhaltensweisen aktiviert wird, die in der Welt unserer Vorfahren zur Anpassung beigetragen haben. Eine aktuelle Studie über neuroimaging2 hat beispielsweise gezeigt, dass „Psychopathen“ eine geringere neurale Aktivität in Verbindung mit Emotionen vorweisen: Kent Kiehl und Kollegen (2001) haben „kriminelle Psychopathen“ „Psychopathen, die keine Straftaten begangen hatten“, sowie Kontrollgruppen mithilfe einer Aufgabe des „affektiven“ Gedächtnisses, die aus der Präsentation einer Liste aus Wörtern emotional bedeutungsvollen, neutralen oder negativen Gehalts besteht, einander gegenübergestellt. „Psychopathen, die Straftäter sind“ haben im Verlauf des Experiments einen Rückgang der Aktivierung der Amygdala, des Hippokampus, des Corpus striatum und des Cingulum im Vergleich zu den anderen beiden Gruppen gezeigt sowie eine Steigerung der Aktivierung des frontotemporalen Cortex. Auf der anderen Seite ist unsere Spezies im Vergleich zu anderen Tieren mit einem weitaus entwickelteren kognitiven System ausgestattet, das bei Patienten mit frontalen Läsionen und denen, die als Psychopathen diagnostiziert sind, selektiv aktiv ist und nicht von sozialem Stimuli stereotypisch hervorgerufen wird. Blair und Kollegen (2005) beobachten jedoch, dass „Psychopathen“, anders als Patienten mit frontalen Schäden, zu Formen der „instrumentalen Aggressivität“ und nicht zu denen der „reaktiven“ neigen – eine Unterscheidung, die 2
„Die Möglichkeit, […] die Gehirnaktivität zu messen, die wir mit den Techniken des zerebralen imaging besitzen, hat dem Studium des Geistes neue Horizonte eröffnet. Mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) und der Positronen-EmissionsTomographie (PET) ist es möglich, das Gehirn zu beobachten, während es arbeitet und man hat zeigen können, dass es keinen kognitiven Akt gibt, der von einer emotionalen Komponente absieht und dass daher die Synthese aus neuronalem Ich und biologischem Ich perfekt ist“ (Soresi, 2005, S. XIII).
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bereits seit langem von der Gelehrtenrepublik anerkannt wird. Bei der „reaktiven Aggressivität“ treibt ein frustrierendes3 oder bedrohliches Ereignis einen Menschen an, indem es häufig Wut hervorruft. Dagegen ist die „instrumentelle Aggressivität“ diejenige, die sich auf ein Ziel konzentriert, das normalerweise nicht das Leiden des Opfers ist, sondern die „Herrschaft“ über Letzteres oder der Aufstieg in der Hierarchie einer Gruppe.4 Aus diesem Grund hat die Psychiatrie schon vor geraumer Zeit klargestellt, dass „instrumentelle Gewalttaten“ seltener bei Menschen vorkommen, die im Rausch handeln, denn diese sind gerade durch die Unmöglichkeit gekennzeichnet, sich ein Ziel und eine zur Erreichung des Ziels geeignete Strategie vorzustellen. Einige Langzeitstudien (Poulin / Boivin, 2000) haben herausgefunden, dass ein Faktor für die Vorhersage kriminellen Verhaltens das Auftreten „instrumenteller Aggressivität“ ist. Wer umgekehrt die „reaktive Aggressivität“ zum Ausdruck bringe, sei nur ein Mensch, der sich nicht an herkömmliche Regeln hält, der sein Verhalten nicht dem Status der Individuen, mit denen er interagiert, anpasst. Andererseits seien diejenigen, in denen sich höhere Pegel sowohl „instrumenteller“ als auch „reaktiver Aggressivität“ antreffen lassen, moralischen Überschreitungen gegenüber besonders gleichgültig und hätten kaum Schuldgefühle sowie eine geringere Fähigkeit zur Empathie gegenüber ihren Opfern. Es ist wichtig, zwischen „reaktiver“ und „instrumentaler Aggressivität“ zu unterscheiden, denn sie werden durch verschiedene neurokognitive Systeme vermittelt. Besonders die reaktive Aggressivität ist das Ergebnis der animalischen Reaktion auf eine Bedrohung, die als unausweichlich empfunden wird. Verallgemeinernd lässt sich somit sagen, dass, wenn die Bedrohung gering ist, das Tier mit Zurückhaltung reagieren wird. Ist Letztere stärker, so wird es versuchen zu fliehen. Wird es heftiger, also wenn die Bedrohung kurz bevorsteht und keine Flucht mehr möglich ist, wird das Tier eine Aggressivität, und zwar eine solche der „reaktiven“ Art, aktivieren. Menschen können „reaktiv angreifen“ sowohl, weil sie bedrohliche oder frustrierende Situationen erleben, als auch auf Grund einer mangelhaften Regulierung neuronaler Systeme, die 3
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Die Beziehung zwischen Frustration und Aggression wurde bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von John Dollard und Kollegen untersucht, die in sehr bekannten Veröffentlichungen (1939)ihre Offensichtlichkeit durch experimentelle und klinische Untersuchungen verfochten haben. Aggressivität und Gewalt werden als Produkte bestimmter Umgebungen und als Reaktion gesehen. Schikane, um ein Beispiel zu nennen, ist eine Form der instrumentalen Aggressivität. Jugendliche, die solch ein Verhalten an den Tag legen, zeigen häufig in anderen Kontexten auch andere antisoziale, instrumentelle Verhaltensweisen (Roland / Idsoe, 1995).
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diese Form der Aggressivität vermittelt. Wie bereits bemerkt, hat der Großteil der sozialwidrigen Handlungen (betrügen, rauben, stehlen) einen instrumentellen Charakter, und wenn ein Mensch sie verübt, ist es wahrscheinlich, dass die gleichen neurokognitiven Systeme aktiviert werden, auf die es bei jedem anderen Handeln zurückgreift, das einen Zweck hat (Blair / Mitchell / Blair, 2005, S. 13). Was darüber hinaus die Beziehung zwischen „sozialwidrigem Verhalten“, „Psychopathie“ und „Angst“ betrifft, so haben bereits ältere Studien zu dem Schluss geführt, dass niedrige Grade der Angst die Entwicklung antisozialen / psychopathischen Verhaltens begünstigen (Cleckley, 1941; Eysenck, 1964; Lykken, 1957). In offensichtlichem Widerspruch zu diesen Fakten bringen aktuellere Forschungen zu Tage, dass „sozialwidriges Verhalten“, ganz im Gegenteil, mit höheren Graden der „Angst“ in Verbindung stehen (Pine et al., 2000). All dies würde bedeuten, dass es zwei potentiell deviante Bevölkerungsgruppen gibt: die der Psychopathen, speziell, würde niedrige Grade der Angst aufweisen. Unter Berücksichtigung aller erwähnten Variablen – welche die „reaktive / instrumentale Aggressivität“ betreffen – behaupten Blair und Kollegen, dass „Psychopathie“ hauptsächlich durch eine Schwäche einiger bestimmter Formen emotionalen Lernens verursacht wird. Diese Schwäche, auch kognitiver Art (Blair / Mitchell / Blair, 2005, S. 28) sei für eine im Hintergrund vorhandene Dysfunktion, die bestimmte neurale und neurotransmittoriale Systeme betreffen, symptomatisch. Im Übrigen haben mehrere Forscher behauptet, dass die emotionale Dysfunktion von „psychopatischen“ Individuen eine Rolle für das Erlernen sozialwidriger Strategien spielt (Blair / Mitchell / Blair, 2005; Eysenck, 1964). Somit wird ein kausaler Faktor biologischer Art für die emotionale Dysfunktion vorgeschlagen, der hinter dem „sozialwidrigen Verhalten“ steht,5 auch wenn dies nicht bedeutet, dass die Entwicklung und das Funktionieren des Gehirns völlig genetisch vorherbestimmt sind. Kürzlich erschienene Studien auf dem Gebiet der Neurowissenschaften haben gezeigt, dass es gerade die Vielfalt der Stimuli der Umwelt sei, welche die Art bestimme, wie sich die neuronalen Netze bilden. Es gibt einige Stressfaktoren, die die Umwelt betreffen und die 5
Alessandro Rossi (2006, S. 184) merkt an: „[…] insgesamt tendieren neuropsychologische Studien dahin, die bedeutende Verbindung zwischen präfrontaler exekutiver Dysfunktion und einem Anstieg antisozialen und aggressiven Verhaltens zu unterstützen. In einer Population mit dem Risiko antisozialem oder aggressivem Verhaltens kann das Vorliegen eines Defizits der exekutiven Funktion wichtig für die Bewertung zukünftiger Aggressionen sein.“
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in der Tat einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns haben können. Ein sexueller Missbrauch kann beispielsweise der Funktion des Hippocampus schaden (Bremner et al., 1995). Andere Stressfaktoren können hingegen die Schwelle zur Aktivierung neuraler Systeme verändern, die die Reaktionen auf Bedrohungen vermitteln, oder die Grade der hormonellen Reaktion in Gefahrensituationen verändern. All diese Faktoren verstärken das Risiko, aggressives Verhalten reaktiver Art zu aktivieren, nicht hingegen „psychopathisches“ – das für Blair in Verbindung mit einer emotionalen schwachen Reaktion steht (Blair / Mitchell / Blair, 2005, S. 35–37). Unter den Stimuli der Umwelt, die in diesem Sinne besonders relevant sind, befinden sich diejenigen, die von den Eltern ausgehen. Verschiedene wissenschaftliche Studien „[...] über Schimpansen und über Kinder haben bestätigt, dass neben intellektuellen Stimuli für Neugeborene emotionale Beteiligung grundlegend ist und dass die Abwesenheit der Mutter bei einem gewissen Prozentsatz der Fälle zu falschen Wachstum mit dauerhaften Verhaltensstörungen führt“. Denn die Bestimmung „der neuroanatomischen Strukturen des Gehirns geschieht abhängig vom relationalen Umfeld, das das Kind umgibt, und wenn es zu falschen Stimuli kommt, kann auch die Entwicklung der neuronalen Netze verändert werden“ (Soresi, 2005, S. XII). Diesbezüglich haben die „Bindungstheorien“ (Dazzi / Madeddu, 2009, S. 63–68) die Beziehung, die Kinder mit ihren caregiver haben, stark hervorgehoben (Bowlby, 1969–1980), indem sie deutlich gemacht haben, dass bei der „unsicheren Bindung“ die caregiver auch zu bedrohlichen / frustrierenden Stimuli werden können, die Aggressionen der reaktiven Art begünstigen. Für Tiffany Field (1985, S. 85) „ist Bindung grundsätzlich eine Beziehung, die sich zwischen zwei oder mehr Organismen entwickelt, wenn ihre Verhaltens-Systeme und physiologischen Systeme sich aufeinander einstellen“. Durch die Studien über das „Bindungsverhalten“ tritt eine deutliche Verbindung zwischen Deprivation durch Verlust und durch Störung des Tuning und destruktivem, gewalttätigem, „psychopathischem“ Verhalten ans Tageslicht (de Zulueta, 1993, S. 107).6 6
Mögliche Verbindungen zwischen den biologischen Mechanismen der „Bindung“ und denen der „Aggressivität“ wurden durch verschiedene Interpretationen des neuroanatomisch-funktionalen und neurotransmittorialen Substrats der Gewalttaten ermittelt. Wir verweisen dabei auf die mörderischen Dynamiken, die von einer besonderen Grausamkeit gekennzeichnet sind (dem sog. overkilling), die den als katathym definierten Krisen vorausgehen, die ihrerseits durch die Unentrinnbarkeit der Vernachlässigung und dem verzweifelten Versuch, diese zu vermeiden, „entfesselt“ werden. Die Verantwortlichen dieser Morde leiden häufig unter Bindungsstörungen und haben häufig psychopathologische Aspekte wie derjenige, der Träger „posttraumatischer Belastungsstörungen“ (De Bartolomeis, 2005, S. 149).
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Das Verständnis der Entwicklung von „Gewalt“ als Versagen des normalen Entwicklungsprozesses erlaubt schließlich die Vorstellung des „Risikos“ noch einmal zu bedenken. Aus evolutiver Sicht ist die Sozialisierung der natürlichen Aggressivität eines der wichtigsten Mittel für „Bindung“. Selbstkontrolle, beispielsweise, entwickelt sich durch eine effiziente Übung von Mechanismen der Aufmerksamkeit und Symbolisierung. Eine Studie, die mithilfe von 310 Kindern männlichen Geschlechts durchgeführt wurde, welche im Alter von 18 Monaten bis 6 Jahren beobachtet wurden, hat ihre Fähigkeit, ihre Wut in einer frustrierenden Situation / bei einem frustrierenden Stimulus zu kontrollieren, untersucht (Gilliom et al., 2002). Die Kinder, die im Alter von 18 Monaten als „sicher“ klassifiziert wurden, tendierten dazu, sich von frustrierten Stimuli häufiger als andere zu lösen, und forderten öfter als die anderen von diesen entfernt zu werden. Mütter, die gut darin waren, zu „kontrollieren“, ohne dabei auf autoritäre Verhaltensweisen zurückzugreifen, halfen ihren Kindern, zu lernen, ihre Aufmerksamkeit auf andere, weniger frustrierende Aspekte der Umwelt zu lenken – eine Strategie, die in einer dyadischen Interaktion modelliert wurde. Umgekehrt verstanden es die sich „weigernden“ Mütter nicht, erfolgreich das „Modell der Ablenkung“ anzuwenden, um den Frust zu reduzieren, und schafften damit auch noch in schwierigen Situationen primäre Reaktionen, die von Wut geprägt waren. Die ersten „Bindungsbeziehungen“ haben, wie Myron Hofer (2003) versichert, nicht nur die Funktion, die Kleinen in ihrer Verletzbarkeit zu beschützen, sondern auch, das Funktionieren des Gehirns zu organisieren und ein Umfeld zu schaffen, in dem die Fähigkeit der Selbstbeherrschung durch die Schaffung einer für die Geisteszustände repräsentativen Struktur erlangt werden kann. Dieser Prozess kann durch verschiedene Faktoren unterminiert werden – frühzeitig oder in späteren Phasen, im familiären und / oder schulischen Kontext, mit gewalttätigen oder gewaltlosen Mitteln: In jedem Fall bildet den gemeinsamen Nenner, der zur Gewalt führt, die momentane Hemmung des Kommunikations- und Interpretationsvermögens. Wenn die ersten Lebenserfahrungen eine ausreichend gute Fähigkeit der Interpretation der Beziehungen begünstigen, um danach jegliche negativen Situationen ertragen zu können – selbst Misshandlungen – so werden wir von einem ständigen Rückgriff auf gewalttätiges Verhalten verschont.
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Aggressivität und Gewalt: vom biologischen zum psychopathologischen Element Die Notwendigkeit, über die im 20. Jahrhundert mächtig entstandene Vorstellung hinaus zu gelangen, Aggressivität sei komplexer als ein „Impuls“ oder ein „Instinkt“, hat für die eben betrachteten Autoren zur Folge,7 dass die aggressiven Schübe auf Interaktionen zwischen Substanzen bei der Neurotransmission des Signals, zwischen stimulierten oder gehemmten neuroanatomischen Bereichen, zwischen Hormonen verweisen – Interaktionen, die ihrerseits in Verbindung mit der Genetik stehen.8 Wenn all das wahr ist, hat Mauro Fornaro Recht mit der Behauptung, der Hang zur Aggression sei nicht mit einigen dieser biologischen Komponenten zu identifizieren, sondern mit ihrer Interaktion und Integration. […]. Trotzdem […] kann man den Charakter der Aktivierung nicht leugnen und auch nicht den der einfachen somatischen Basis, der von den erwähnten biologischen Komponenten ausgeht, deren Anstoß im Zusammenwirken mit anderen Faktoren aggressive Taten fördern kann: in diesem Sinne scheint es nicht falsch zu sein, von einem biologischen Anreiz zu sprechen (Fornaro, 2004, S. 14–15).
Es handelt sich um einen „biologischen Reiz“, der allerdings immer auf die Beziehung zur Umwelt gerichtet ist.9 Peter Fonagy geht weit darüber hinaus, wenn er bemerkt, dass 7 8
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Ausführliche Erläuterung der „Aggressivität“ und der „Gewalt“ b. Maremmani und Kollegen (1999, S. 619–666). „Komplexe Verhaltensweisen wie die aggressiven oder gewalttätigen, die mit oder ohne psychiatrische Pathologien einhergehen, können sich nicht selektiv an ein einziges neurotransmittoriales System binden, müssen vielmehr wahrscheinlich als Resultate multipler Mechanismen neurotransmittorialer, neuroendokrinologischer und neuroanatomisch-funktionaler Art angesehen werden, die ineinander integriert und auf verschiedenen Ebenen ineinander eingebunden sind: in neuronalen Schaltkreisen, RezeptorRegulierung und wahrscheinlich in intrazellulären Transduktionen“ (De Bartolomeis, 2006, S. 135). Fornaro (2004, S. XI) schreibt: „[…] Da Aggressivität sich nicht mit einem Impuls oder einem Instinkt identifiziert, allerdings auch nicht mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur, mit einem gewissen Druck von der Umwelt ausgehend und erst recht nicht mit irgendeiner biologischen Struktur oder Form, erscheint sie als ein Verhaltensbogen, der aus mehreren Sequenzen besteht: Perioden der Auslösung, Perioden der Aktivierung bereits existierender, verborgener Verbindungsstrukturen, Perioden der Ausführung […]. Nun entwickelt sich diese dreiteilige Sequenz nicht nur seriell sondern auch parallel: Der Moment der Auslösung, der sowohl aus reaktiven Faktoren bestehen kann, die Reaktionen sowohl auf die äußeren Umstände sind als auch auf rein endogene Umstände, sowohl psychische, als auch somatische, unterliegt kognitivemotionalen Einschätzungen, die sich auf der Basis vorangegangener Verbindungsstrukturen der vorherigen Persönlichkeitsstruktur bilden. Diese Strukturen haben ebenfalls einen Einfluss auf die Einschätzung des Menschen bezüglich der Angemessenheit
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die biologische Prädisposition und der Einfluss der Gesellschaft keine Destruktivität schaffen, sondern eher die sozialen Prozesse gefährden, die sie normalerweise regulieren und dominieren. Aggression ist also nicht immer ein Anzeichen für das Versagen eines Systems: die Theorie der angeborenen Aggressivität muss die Existenz einer positiven, am Überleben orientierten Aggressivität berücksichtigen, sowie einer Aggressivität, die einen ursprünglichen Protest gegen die Härte des Lebens darstellt (Fonagy, 2003a, S. 190).
Nach ganz anderen Ansätzen soll das frühzeitige Auftreten aggressiver Formen ein klares Anzeichen dafür sein, dass sie zu unserem Verhaltensrepertoire gehört: Aggressivität und Gewalt – auch Mord – wären danach funktionale Strategien bestimmter Kontexte und würden das Vorhandensein psychologischer Fähigkeiten, die im Laufe der Evolution als vorteilhaft selektiert wurden – und dies auch außerhalb der bewussten Kontrolle des Individuums –, erklären (Marchetti, 2004, S. 44). In dieser „evolutionistischen“ Sichtweise würden gewalttätige Handlungen immer dann mit größerer Wahrscheinlichkeit zutage treten, wenn es vorteilhaft wäre, die Ressourcen der anderen zu kooptieren, einen Status zu erlangen oder in der hierarchischen Skala der Macht aufzusteigen, sich in bedrohlichen Situationen zu verteidigen etc. (Buss / Shackelford, 1997). In Übereinstimmung mit Isabella Merzagora Betsos erkennen wir in Marco Marchetti einen der Autoren, der diese Begriffe bedächtiger verwendet, wenn er über den Einfluss diskutiert, den die „evolutionistische Anpassung bei der Erklärung menschlicher Aggressivität, den unterschiedlichen Arten dieser Aggressivität und sogar drogensüchtigen Verhaltens hatte […]“ (Merzagora, 2006, S. 13). Das Hauptargument von Marchetti, um die Anschuldigung des „biologischen Determinismus“ abzuwehren, besteht aus der Überlegung, dass neben der konstanten, festgelegten menschlichen Natur – die uns zur Spezies macht und die Basis unseres Kernverhaltens darstellt, sei es gewalttätig / kriminell oder nicht – es eben die „individuelle Veränderlichkeit“ ist, die das biologische Fundament der Evolution darstellt (Marchetti, 2004, S. X und S. 25). Indem er die Untersuchungen von Richard Tremblay (2003) wieder aufnimmt, sagt er daher, dass menschliche Gehirn zwar ohne Zweifel ausgerüstet ist, „aggressive“ oder „gewalttätige“ Strategien auszuüben, doch seien dies unwesentliche Strategien, die an bestimmte Situationen gebunden sind, die wir nicht bewusst erkennen können und die auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung festgelegt sind, die manchmal am Rande unseres Bewusstseins auftritt (Marund der Art und Weise der Ausführung, abhängig von den Werten, der Erinnerung an vergangene Erlebnisse etc. Auf der anderen Seite […] erfolgen die inneren Strukturen, als Arten vorgegebener Kompetenzen, nur in Folge der Auslöser einerseits und der Umstände der möglichen Ausführung andererseits.“
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chetti, 2004, S. 12). Bei dieser Sichtweise sind es dann nicht die „schlechten Gene“, die unausweichlich zur „Gewalt“ führen, noch stellt Gewalt ein notwendiges und unveränderbares Charakteristikum eines bestimmten Menschen dar: stattdessen gibt eine ständige Intermodulation zwischen „genetischangeborenen“ Faktoren und „Umweltfaktoren“ die Richtung des Verhaltens vor (Marchetti, 2004, S. 40 und S. 70). Die Wichtigkeit dieser Spezifizierungen ist entschieden deutlich, doch bleibt der Eindruck, dass diese Annahmen nicht ausreichen, um vor der besonders grundlegenden Kritik, die sich gegen die vom Sozialdarwinismus inspirierten Theorien richtet, zu schützen. Vor allem bleiben einige ausschlaggebende Fragen unbeantwortet: „Welche Entscheidungsmöglichkeiten werden dem Willen des Subjekts überlassen, das die gewalttätigen Verhaltensweisen an den Tag legt?“ „Wie kann man den Einfluss der „Erziehung“ und der „kulturellen Zugehörigkeit“ gegenüber der „Kosmologie“, die auch gewalttätige Entscheidungen und Handlungen lenkt, einschränken – um nicht zu sagen: aufheben?10 Mit anderen Worten geht es nicht so sehr darum, zu behaupten, dass es niemals eine einzige Situation geben wird, die ein Verhalten ganz genau bestimmen kann, gerade weil das menschliche Verhalten von psychologischen Mechanismen unterstützt wird, so dass eine dauernde Veränderung möglich ist [...]“ (Marchetti, 2004, S. 117), sondern eher darum, die Vielseitigkeit des Verhaltens des Menschen nicht auf eine Reihe rein „evolutiver“ Motivationen zu reduzieren, die sich darauf beschränken, Mechanismen auszulösen – variable, aber trotzdem „automatische“ –, die funktionaler sind im Vergleich zu der spezifischen Situation des Umfelds.
Die Dimension A-G (Aggressivität-Gewalt) In unserem Arbeitsbereich rücken nun allerdings statt der „biologischen“ und „evolutionistischen“ Ursprünge der „Aggressivität“ allmählich die mit ihr zusammenhängenden „Erlebnisse“ und „Verhaltensweisen“ in den Vordergrund, welche die Inhalte von „Opposition“, „Herrschaft“, „Schädigungsdrang“ gemeinsam haben. Wie bekannt, sind Handlungen, die bei anderen 10
Marchetti kritisiert nämlich die soziologischen Ansätze, die „meinen, dass die Eigenschaften der Erziehung und die kulturellen Werte, die von einer Gesellschaft vermittelt werden, die an Gewalt glaubt, ein Subjekt zur Gewalt führen können. Um diese Behauptung anzuzweifeln reicht es, an ein Land wie Japan zu denken, dessen Erziehung von sehr autoritären Regeln geprägt ist sowie von einer weiten Verbreitung sogenannter ‘Kampfkunst’ und einer großen Wertschätzung der eigenen Ehre, und das doch unter den Industriestaaten dasjenige mit der geringsten Mordrate weltweit ist“ (Marchetti, 2004, S. 46).
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„Schaden“ oder „Leid“ verursachen, Teil des normalen Verhaltensrepertoires jedes Lebewesens.11 In der Psychiatrie und der alltäglichen klinischen Praxis tritt bei Gereiztheit, Feindseligkeit, Groll, Hass, Wut, Zorn, Ressentiment bis hin zur offenen Gewalt das Problem auf, sie – natürlich ohne Rücksicht auf die Auswirkungen, welche diese Verhaltensweisen vor Gericht haben – zu beschreiben, ohne dass sie im Sinne eines Kontinuums und auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner auf dieselbe Ebene gestellt, als Ganzes in einer Einheit betrachtet werden. Diese Dimension wurde A-G (Aggressivität-Gewalt)-Dimension genannt (Pancheri, 2005; Biondi, 2005) erblickt eben am einen Extrem die Gefühle der Gereiztheit und am anderen die gewalttätigen / destruktiven Verhaltensweisen, „die als Verhaltensmanifestation einer der Wut / Aggressivität unterstehenden Dimension verstanden werden, welche aus verschiedenen Gründen in Situationen des Kontrollverlusts zutage tritt“ (Biondi, 2005, S. 80). Der Einblick, der sich eröffnet, ermittelt im „Kontrollsystem“ der Aggressivität – einer allgemeinen Tätigkeit des Zentralen Nervensystems – die Brücke zwischen „Erlebnissen“ und „A-G-Verhaltensweisen“. Die Pathologie der „Kontrollsysteme“ verweist auf die Arten der Assoziation und auf das Gewicht von drei Komponenten:12 I.
ein etwaiges Defizit der Programmierung des Verhaltens im Hinblick auf das Erreichen eines Ziels (Gedächtnis der Zukunft);
II. eine Veränderung des Organisationsprinzips der Bewertung – hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit – des Verhältnisses zwischen Risiko und Nutzen; III. die Unvollständigkeit des unterstützenden neuronalen Netzes (Pancheri, 2005, S. 13–23).
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Man spricht hierbei von einer „intentionaler Disposition, bewusst oder unbewusst, zu einem schädigenden (oder potentiell schädigenden) Verhalten unter einem physischen und psychologischen Gesichtspunkt, der Menschen, Tiere oder Gegenstände betrifft, die – seltene Fälle ausgenommen– von den Menschen oder Tieren bekämpft werden, die zu seinem Gegenstand gehören, und dieses Verhalten wird an den Tag gelegt, um die physische und psychologische Unversehrtheit des Selbst (oder der eigenen Gruppe) zu verteidigen oder beizubehalten (Fornaro, 2004, S. 12). Paolo Pancheri (2005, S. 19–21) beobachtet, dass im Normalzustand das Kontrollsystem „flexibel und adaptiv [ist], abhängig von der Intensität der subjektiven Erlebnisse“, und dass die Flexibilität auch bei Vorliegen „erhöhter und zeitweise erlebter A-G, die durch unvorhergesehene Situationen (Verhaltensweisen der impulsiven Art) entsteht“, normal bleiben kann.
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Der größte Nutzen dieser Art, aggressive Äußerungsformen zu untersuchen, liegt unserer Ansicht nach in dem neuen Bewusstsein von der Schwierigkeit, klare Grenzen zwischen „Normalität“ und „Pathologie“ zu ziehen,13 und in der Übernahme eines Verständnisses, das über fortschreitende Stufen dazu führt, auf der ersten sanfte, begrenzte, defensive, dem Kontext und der Situation angepasste Verhaltensweisen zu erblicken, auf der zweiten Verhaltensweisen, die im Verhältnis zum Stimulus weniger angemessen sind, einen Verlust der Kontrolle und weniger verständliche Begründungen – wobei zusätzliche Parameter der Beschreibung und der Funktion wie Intensität, Häufigkeit, Dauer, Angemessenheit in Bezug auf die Ursachen, der Stimmung nach der Tat, der Anteilnahme und der Bedeutung der Gewalttat für die Zugehörigkeitsgruppe etc. herangezogen werden (Biondi, 2005, S. 86–90).14 Hat man sich diese verfeinerten Diagnoseinstrumente angeeignet, bleibt noch die Frage offen, ob und wie sehr das Vorkommen von Gewalt Zuständen mentaler Pathologie zugeschrieben werden kann. Diese Frage – die zumindest indirekt von jetzt an unsere Überlegungen begleiten wird – würde, um eine ihrem Gewicht angemessene Antwort zu erhalten, der Überprüfung einer, gelinde gesagt, enorm langen Liste an „Psi“Literatur bedürfen. Diese Mühe haben beispielsweise Alfonso Troisi und Marchetti (1994) auf sich genommen, die 1994, abweichend von anderen Forschern, zu dem Schluss gelangt sind, dass Patienten der Psychiatrie nur in eine kleine Anzahl von Verbrechen verwickelt sind und nur manche psychiatrischen Krankheiten 13
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De Bartolomeis (2005, S. 133) stellt fest, dass es schwierig ist, eine „klare und eindeutige Trennung zwischen Aggressivität und Gewalt, sowohl auf der Ebene biologischer Mechanismen und ihren entsprechenden neuroanatomisch-funktionalen Korrelaten als auch auf der Verhaltensebene, [durchzuführen]“. Und fügt hinzu: „Die mögliche Verbindung zwischen gewalttätigem Verhalten und psychiatrischer Pathologie erschwert die Erforschung biologischer Mechanismen, besonders bei dem Versuch, eine Trennung zwischen der Biologie des Verhaltens im Gewaltakt von dem abnormen Verhalten bei einer psychiatrischen Pathologie herbeizuführen“. „Psychiatrische Pathologien werden im Unterschied zu den somatischen als syndrome Entitäten gesehen, die durch verschiedene Konstellationen an Symptomen gekennzeichnet sind. Trotzdem hat die Notwendigkeit […], die Diagnosen zu vereinheitlichen […] die Verwendung eines diagnostischen Ansatzes kategorialer Art unabdingbar gemacht, dessen Grundlage aus der Voraussetzung besteht, dass es klar unterscheidbare nosographische Entitäten gibt […]. Ein anderes Herangehen an das Problem psychopathologischer Diagnosen ist der dimensionale Ansatz, […] der in Italien vor allem seit Anfang der 90er Jahre von Pancheri entwickelt wurde. Danach ist es möglich, jedes einzelne Krankheitsbild von seiner kategorialen nosographischen Einordnung her zu charakterisieren, abhängig von der angenommenen Schwere seiner verschiedenen psychopathologischen Dimensionen“ (Biondi, 2005, S. 111).
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Verbrechen verwickelt sind und nur manche psychiatrischen Krankheiten (Schizophrenie in ihrer paranoiden Variante, der Missbrauch von Alkohol und von Rauschmitteln, antisoziale Persönlichkeitsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Demenz) ein höheres Risiko mit sich bringen, gewalttätiges Verhalten an den Tag zu legen. Paul Nestor (2002) hat in jüngerer Zeit betont, dass psychotische Störungen sich bei Gewaltverbrechen weniger häufig bemerkbar machen als beim Missbrauch von Rauschmitteln oder bei Menschen, die unter Persönlichkeitsstörungen (wie beispielsweise Borderline) leiden, einer narzisstischen Kränkung in Verbindung mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung und, abermals, in Verbindung mit einer paranoiden Schizophrenie. Die umfassendste und überzeugendste Veröffentlichung in italienischer Sprache zu psychischen Störungen und Kriminalität wurde von Tullio Bandini, Uberto Gatti, Barbara Gualco, Daniela Malfatti und Alfredo Verde (2003– 2004, S. 161–185, vol. II) vorgelegt.15 Wir können das theoretische Universum von Athens und die „Kosmologie der Gewalttäter“ nur dann weiter verfolgen und uns ihm annähern, wenn wir zumindest den „Umfang“ dieser Gebiete ausmachen.
Gewalt und Geisteskrankheit Laut Markku Eronen, Matthias Angermeyer, Beate Schulze (1998) gibt es drei mögliche Methoden um psychische Störungen und gewalttätige Verhaltensweisen in einen Zusammenhang zu bringen: I.
„Gewalttaten“, die von Menschen mit psychischen Leiden begangen wurden, die sich in psychiatrischer Behandlung befinden; •
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Einige bemerkenswerte Analysen, die Patienten der Psychiatrie zum Gegenstand hatten, wurden von Jiri Modestin und Ruth Amman (1995) durchgeführt, die das Auftreten von Gewalttaten in einer Auswahl von Patienten entdeckt haben, welche 1987 ins Psychiatrische Klinikum der Universität Bern eingeliefert wurden, und haben diesen Erscheinung mit einer Kontrollgruppe verglichen, die auf der Grundlage der wichtigsten soziodemografischen Eigenschaften der Gemeinschaft des Wohnsit-
Die Autoren analysieren insbesondere die Untersuchungen zu der Häufigkeit der Verbrechen bei Geisteskranken, die Langzeitstudien und die Kohortenstudien, die Beziehung zwischen manchen Geistesstörungen und Kriminalität, die Rolle, der Neurose und der Psychopathie.
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Sechstes Kapitel zes der Patienten beruht. Die Autoren haben eine irrelevante Zunahme des Risikos, Gewalttaten zu verüben, für männliche schizophrene Patienten festgestellt – auch wenn es 4% gegenüber den 1% der Patienten der Kontrollgruppen waren. In einer Publikation des folgenden Jahres haben sich dieselben Forscher (Modestin / Amman, 1996) auf alle schizophrenen Patienten konzentriert (n = 282), die in einem Zeitraum von drei Jahren eingeliefert wurden, und verglichen sie mit Patienten der Kontrollgruppe, welche wie in der vorangegangenen Studie, zusammengestellt waren und fanden heraus, dass im Vergleich zur Kontrollgruppe diejenigen, die unter einer akuten Form von Schizophrenie litten, eine vier Mal so große Wahrscheinlichkeit besaßen, wegen Gewalttaten verurteilt zu werden, während es keine größere Wahrscheinlich gab, dass die „Chronischen“ Gewalt verübten. •
Andere Resultate bestätigen, dass die Verbindung zwischen psychischen Störungen und Gewalt durch eine akute Symptomatik verstärkt wird. Henry Steadman und Kollegen (1998) haben einen leichten Anstieg von Gewalt unmittelbar nach der Einweisung wegen akuter psychotischer Episoden festgestellt, die sofort abnahmen und Verhaltensmodelle hervorbrachten, die mit den in der Zugehörigkeitsgruppe Lebenden konform sind. Diese Tatsache wurde teilweise von einer aktuelleren Sekundärstudie von John Monahan widerlegt, der 1992 12 Studien entdeckt hatte, in denen Prozentsätze von 10 bis 40% der Patienten dokumentiert wurden, welche nach der Einweisung Gewalt verübt hatten – sowie auch 11 Studien, welche die selben Prozentzahlen bei denjenigen vorwiesen, die vor der Einweisung Gewalt verübt hatten (Monahan, 1992).
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Bei einer Kohortenstudie, die von Simon Wessley und Kollegen (1994) an Patienten anstellten, die zwischen 1964 und 1984 zum ersten Mal mit der Diagnose einer Schizophrenie in der London Borough of Camberwell eingewiesen wurden, stellte sich heraus, dass die Männer, die von dieser Krankheit betroffen waren, ein höheres Risiko hatten, irgend eine Form von Straftat zu verüben, als nicht psychotische Patienten (Risiko: 3.8). Ein Jahr später haben Linda Grossman und Kollegen (1995) die Geschichten von 172 Personen gesammelt, die im Staat Illinois in öffentlichen psychiatrischen Anstalten eingewiesen waren: bei 27%
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stellte sich heraus, dass sie Gewalttaten verübt hatten. Unter ihnen wurde bei 40% eine psychoaffektive Störung diagnostiziert, wobei 28% schizophren und 24% bipolar waren.
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In den skandinavischen Ländern sind zahlreiche Studien über gewalttätige, psychiatrische und wegen Mordes verurteilte Häftlinge durchgeführt worden – die zweite Forschungsmethode, die Eronen empfohlen hat. In Finnland haben nach Berücksichtigung aller zwischen dem 1. Juni 1990 und dem 31. Mai 1991 verübten Straftaten (140 Verhaftete, darunter 107, die sich in psychiatrischer Behandlung befanden) Jari Tiihonen, Eronen und Panu Hakola (1993) gezeigt, dass Täter, bei denen Schizophrenie diagnostiziert wurde, eine 6.5 Mal höhere Wahrscheinlichkeit zu töten als die Kranken in der allgemeinen Bevölkerung haben. In einer kurz davor erschienenen Studie haben Peter Gottlieb, Gorm Gabrielsen und Peter Kramp (1987) den Verlauf aller in Dänemark in den vorangegangenen 25 Jahren verübten Morden rekonstruiert und dabei festgestellt, dass gut 20% der Männer und 44% der Frauen, die Straftaten begangen haben als psychotisch diagnostiziert wurden. Das Vorliegen dieser Störung erhöhte das Risiko, diese Straftat zu begehen, bei den Männern um das sechsfache und bei den Frauen um das sechzehnfache. In diesen Situationen, wie in vielen anderen, scheint der Missbrauch von Rauschmitteln eine entscheidende Rolle zu spielen, da er gut 41% der Männer und 13% der Frauen betraf, die diese Tat begangen hatten.16 Eronen, Tiihonen und Hakola (1996) haben eine allgemeine Bestätigung für diese Hinweise in einer Auswahl aus 1423 Mördern gefunden: die Männer, die Alkoholiker und schizophren waren (n = 38) hatten mit 17 Mal so hoher Wahrscheinlichkeit als die allgemeine Bevölkerung diese Straftat begangen.
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In Italien haben Emanuela Di Giovanbattista und Kollegen (2006) für eine Studie 29 Personen (17 Männer und 12 Frauen) einbezogen, die mit paranoider Schizophrenie diagnostiziert und nacheinander von Juni 2003 bis Oktober 2004 stationär im Servizio Psichiatrico Universitario di Diagnosi e Cura (SPUDC) („Universitärer Psychiatrischer Dienst der Diagnostik und The-
Eine akkurate kriminologische Überprüfung der Mordes und seiner Beziehung zur Psychopathologie findet sich b. Merzagora, 2006. Kap. V.
240
Sechstes Kapitel rapie“) in L’Aquila eingewiesen wurden. Alle Personen wurden einer standardisierten klinischen Bewertung mithilfe der Brief Psychiatric Rating Scale, der Barratt Impulsiveness Scale (Version 11) und der Modified Overt Aggression Scale, einer Beurteilung der sozialen Kognition und einer neuropsychologischen Beurteilung unterzogen. Die Resultate zeigen, dass die Patienten, die bei Eintritt in den Dienst durch aggressives Verhalten gekennzeichnet waren, unterschiedliche patterns des Verhaltens, der Neurokognition und der sozialen Kognition aufweisen, sobald sie im Hinblick auf verschiedene Levels an Impulsivität unterschieden wurden. Für uns ist vor allem der Verlauf von Interesse: Tatsächlich entwickelt sich die Gruppe, die durch ein niedriges Level von Impulsivität gekennzeichnet ist, eindeutig besser, obwohl an der Verbesserung der Symptomatik in beiden Gruppen gearbeitet wird. Diese Resultate stimmen mit dem überein, was verschiedene Autoren schon gezeigt haben, die eine starke Verbindung zwischen dem Vorliegern und der Stärke einer psychotischen Symptomatik und den Dimensionen der Aggressivität und Impulsivität erkannt haben. Vorausgesetzt, dass alle Patienten der Auswahl bei Eintritt aggressives Verhalten gezeigt haben, haben die Personen mit einem höheren Level an Impulsivität aggressivere Verhaltensweisen aufgewiesen als Personen mit einem niedrigeren Level an Impulsivität. Obwohl die Aggressivität mit der Zeit in beiden Gruppen abnimmt, ist sie doch in Gruppen mit impulsiveren Personen tendenziell viel stärker und bestätigt somit die Verbindung, die es in der Literatur zwischen Impulsivität und der Tendenz zur Aggressivität gibt (Di Giovanbattista et al., 2006, S. 390).17
II.
die Gewaltraten derjenigen studieren, die im Gefängnis sitzen; •
17
Eronen und Kollegen (1998) haben herausgestellt, dass im Unterschied zu den Untersuchungen über die psychisch Kranken, die sich in der Pflege von psychiatrischen Diensten befinden, diejenigen, die innerhalb von Gefängnismauern durchgeführt werden und sich Insassen mit Geistesstörungen widmen, es unterlassen, zwischen gewalttätigen Straftaten und gewaltlosen zu
„Eine der Aufgaben unserer Studie war es zu verifizieren, ob schizophrene Personen mit aggressivem Verhalten und einem erhöhten Grad an Impulsivität größere Defizite in der sozialen Kognition haben als schizophrene Personen mit aggressivem Verhalten und einem niedrigen Grad an Impulsivität. Die erhaltenen Resultate haben unsere Hypothese bestätigt, denn die Subjekte mit einem erhöhten Grad an Impulsivität wiesen mehrfache neurokognitive Defizite auf, die von einer geringen kognitiven Flexibilität und einer geringen Fähigkeit der Planung und einer geringen Fähigkeit des verbalen Lernens gekennzeichnet waren“ (Di Giovanbattista et al, 2006, S. 391).
Subjekte der Gewalt
241
unterscheiden – eine Unterscheidung, die auch für uns entscheidend ist. Linda Teplin hat allerdings 1990 eine Untersuchung veröffentlicht, die einen Datensetz betrifft, der von ihr nach Alter und Herkunft aufgeschlüsselt ist und sehr interessant für uns ist: In einem Vergleich in Chicago, der zwischen einer zufälligen Auswahl 728 männlicher Insassen des Cook County Department of Corrections zwischen 1983 und 1984 und der allgemeinen Bevölkerung durchgeführt wurde, die im Projekt Epidemiologic Catchment Area (ECA) untersucht wurden,18 hat Teplin bei den Insassen eine 2,7 Mal so hohe Rate der Affektivitätsstörungen entdeckt wie bei der Kontrollgruppe (Teplin, 1990). Sheilagh Hodgins und Gilles Cote (1993) haben sich stattdessen der Diagnostic Interview Schedule (Robins et al., 1981) bedient, um eine Stichprobe aus 456 Häftlingen zu diagnostizieren, von denen 107 von einer schweren Geistesstörung betroffen waren, während 71 von ihnen auch an antisozialen Persönlichkeitsstörungen litten. Diese Gruppe wies sowohl eine erhebliche Anzahl von Verurteilung wegen gewaltfreier Verbrechen als auch wegen Gewaltverbrechen auf. •
In Dänemark haben Henrik Andersen und Kollegen (1996) 228 Menschen in Untersuchungshaft, die noch auf das Urteil warteten, zufällig ausgewählt und sie einer Diagnose (ICD-10), einer PCL-R und einem klinischen Gespräch unterzogen. Daraus ergab sich, dass 8% unter Störungen schizophrener Art litten, 11% unter Störungen im Bereich der Affektivität und etwas mehr als 50% unter Störungen, die mit Drogenmissbrauch zusammenhingen.
III. Die Gewaltraten derjenigen untersuchen, die nicht mit isolierenden Einrichtungen in Kontakt stehen (epidemiologische Studien der Gemeinschaft); •
18
die Untersuchungen an gewalttätigen, nicht institutionalisierten Subjekten haben Daten ergeben, die mit den bisher ermittelten einigermaßen übereinstimmten.
Die Epidemiologic Catchment Area (ECA) ist ein seit 1977 existierendes Forschungsprogramm, das vor allem zwischen 1980 und 1985 von 5 angesehenen Universitäten der USA in 5 Stadtgebieten (New Haven, Baltimore, St. Louis, Durham, Los Angeles), als Reaktion auf den Bericht der President’s Commission on Mental Health durchgeführt wurde, um Daten über die Häufigkeit mentaler Störungen und deren Bedürfnis nach Pflege und Dienstleistungen von Seiten der psychisch Kranken zu bekommen.
242
Sechstes Kapitel •
Nachdem sie in Israel die gleichen methodologischen Kriterien angewandt haben wie bei der Washington Heights Study, die in New York durchgeführt wurde, haben Anne Steuve e Bruce Link (1997) den Schluss gezogen, dass beispielsweise bei Menschen, die unter psychotischen Störungen litten, das Risiko für gewalttätiges Verhalten, was Delikte mit Körperverletzung betrifft, 3,3 Mal so hoch, und was Waffengebrauch betrifft, 6,6 Mal so hoch war – und das bei gleichem Rauschmittelmissbrauch, bei Vorliegen antisozialer Störungen und bei Berücksichtigung der soziodemografischen Umstände. Jeffrey Swanson und Kollegen (1990) haben auf der Grundlage von ECA-Daten die Hypothese unterstützt, dass Angststörungen keinesfalls das Risiko, Gewalt zu verüben erhöhen.
Fasst man die Resultate der Studien, die mit Hilfe der drei verschiedenen Methoden durchgeführt wurden, zusammen und vergleicht sie miteinander, so kann man vorläufig den Schluss ziehen, dass trotz der unterschiedlichen Stichprobenverfahren sich für alle Forschungsbereiche ein ähnliches Bild ergibt: Ein Großteil der „Gewalt“, die bei geisteskranken Menschen beobachtet wurde, tritt nicht zufällig auf, sondern wird durch psychotische Symptome verursacht und steht mit ihnen im Zusammenhang. Indem sie sich auf das Kriterium des Rationalen im Inneren des Irrationalen berufen, fordern Link und Steuve (1994) dazu auf, über die Tatsache nachzudenken, dass wenn ein Individuum mit Geistesstörungen sich bedroht fühlt und seine Kontrollmechanismen defekt sind, „Gewalt“ mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zu einer verständlichen Reaktion wird – besonders dann, wenn sie als Verteidigung gegenüber Verhaltensweisen, die als manipulativ ihm gegenüber empfunden werden, eingesetzt wird. Aus diesem Grund erweist sich, dass „Beziehungswahn“ und „Kontrollwahn“, im Vergleich zu anderen Formen des Wahns, näher mit Gewalttaten in Verbindung stehen. Die Hypothese, die beide Untersuchungen gleichermaßen vertreten ist, dass es eine leichte, aber signifikante Verbindung zwischen „Gewalt“ und „Geistesstörung“ gibt: dies schließt aber nicht aus, dass „[...] verglichen mit dem höheren Risiko, das im Zusammenhang mit gravierenden Persönlichkeitsstörungen des männlichen Geschlechts und dem Missbrauch von Betäubungsmitteln besteht, das Risiko im Zusammenhang mit gravierenderen Geisteskrankheiten wie Schizophrenie niedrig ist“ (Eronen et al., 1998, S. 22), wie übrigens auch Link, Francis Cullen und Howard Andrews 1992 ausgesagt haben, indem sie (a) die geringe Bedeutung von Geistesstörung zeigen, (b) die Häufigkeit (häufiger als psychische Belastung) des Alters, des Geschlechts und der Schulbildung bei
Subjekte der Gewalt
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Phänomen der Gewalt und (c) die hohe Prozentzahl (60%) der Morde, die mit gesellschaftlichen Zuständen in Verbindung stehen (Link, Cullen, Andrews, 1992).19 Daraus folgt, dass schwere Straftaten, die in besonderen Umständen von manchen geistesgestörten Menschen verübt werden, nicht zu allgemeinen Behauptungen darüber führen sollten, dass alle Individuen, die von Geisteskrankheiten betroffen sind, potentiell gewalttätiger als der Rest der Bevölkerung sind (Eronen et al., 1998, S. 22–23).20
Psychoanalyse und Gewalt Überträgt man die Inhalte der letzten Themen auf die A-G-Dimension, wie sie von Paolo Pancheri und Massimo Biondi entwickelt wurde, zeigt sich „Gewalt“ als überhaupt nicht relevanter bei psychotischen Personen als bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen oder bei denjenigen, die von einer affektiven Störung oder von affektiven oder hirnorganischen Pathologien befallen sind, der Fall ist. „Aggressivität“ entlädt sich, auch für diese Autoren, häufiger mit einer „defensiven“ Bedeutung bei akuten Psychotikern, mit kurzen, intensiven Reaktionen in hohem distress: […] bei vielen schizophrenen und manischen Störungen wird aggressives und gewalttätiges Verhalten nicht durch die Krankheit ‘geschaffen’, sondern ist auf gewisse Art eine Frage des Temperaments oder der Persönlichkeit, die es schon vor der Krankheit gab und ist in dieser Lage nicht mehr kontrollierbar“ (Biondi, 2005, S. 118).
– eine Beobachtung, die, wie wir noch sehen werden, sich als sehr nützlich für die Erstellung des Begriff der „Kosmologie“ sein wird. Mad or bad: „verrückt“ oder „böse“ oder, wenn man so will, vom Temperament her bereits „böse“ sein, bevor man „verrückt“ wird: vielleicht sind es also diese beiden zentralen Begriffe, die, einander gegenüberstehend, einen der Höhepunkte unserer Erkundung eingrenzen und damit die Problematik immer subtiler und verzwickter machen.
19
20
Virginia Hiday (1995), unter anderem, hat beispielsweise behauptet, dass Gewalt und Geistesstörungen durch soziale Gegebenheiten begünstigt werden, wie etwa der Zugehörigkeit zu einer verfolgten Minderheit. Ist man an einer schweren Geistesstörung erkrankt – schreibt Hiday – erhöht sich die Gereiztheit und falls man auch in gewalttätigen Subkulturen lebt, kann dies Gewalttaten begünstigen. In der bereits zitierten Untersuchung von Swanson und Kollegen (1990) haben die Autoren angemerkt, dass ihr Sample, dem eine Form der Schizophrenie oder eine schwere Affektstörung diagnostiziert wurde, aus Gründen gewalttätig war, die nur 5 % der Krankheiten in der Bevölkerung zuzuschreiben sind.
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Sechstes Kapitel
Die Suche nach einem Muster von „Erklärung der Gewalt“, das allgemeiner ist als ein nur psychopathologisch begründetes, gibt Anlass, die „Bedeutung“ der aggressiven / gewalttätigen Geste in Dimensionen zu finden, die ihr vorausgehen, die über ihre Grenzen hinausgehen. Der Kreis kann sich folglich schließen, indem einige genaue Hinweise des psychoanalytischen Pluriversums gestreift werden, welche wir für relevant für den gesamten Gang unserer Untersuchung halten – und welche die Kontinuität und Nähe zwischen „Normalität“ und „Pathologie“ begünstigen, eine Orientierung, die auch unsere „kosmologische“ Interpretation gewalttätigen Handelns leiten wird.
Gewalt: ein „Mehr“ oder „Weniger“ an Denken und an Mentalisierung? Eine Straftat stellt, aus klinischer Sicht, „ein ‘Mehr’ oder ein ‘Weniger’ an Denken und an Mentalisierung“ dar, wie Romolo Rossi und Verde schreiben (Rossi / Verde, 2007, S. 6). Rossi und Verde erblicken unter den ersteren (ein „Mehr“ an Denken und Mentalisierung) die Verhaltensweisen derjenigen, die das Denken planen, entwerfen, verwenden, um schädigende, doch grundsätzlich ich-syntone, Handlungen durchzuführen, welche vor, während und nach ihrer Durchführung mit Hilfe von Verteidigungsmechanismen rationalisiert / gerechtfertigt werden, um die depressive Schuld von sich zu weisen, die mit einer Identifizierung mit dem Opfer zu tun hat (psychopathische, „kalte“ Verbrecher); zu den zweiten (ein „Weniger“ an Denken und Mentalisierung) gehören die impulsiven Handlungen (Impuls-Verbrecher), die variabel ich-dystonisch sind und – jenseits dessen, was die psychiatrische Klinik als Kontrollstörung der Impulse oder, je nach Fall, als Borderline-Persönlichkeitsstörung identifiziert hat – ein „Unvermögen zeigen, sich zu beherrschen“, und, im psychoanalytischen Bereich, auf das Minus an „Mentalisierung“ Bezug nehmen, das seinen Ursprung in vorangegangenen Frustrationen und Deprivationen des Umfelds haben kann – welche ihrerseits die entscheidende Rolle (un)angemessener „Bindungsbeziehungen“ zeigen. Analysieren wir nun diesen zweiten Problembereich. Indem er die Persönlichkeiten von Jugendlichen analysierte, die Diebstähle begangen haben und in einer Londoner Heilanstalt sitzen, hat John Bowlby 1944 seine lange Studie über Pathologien, die im Zusammenhang mit fehlender mütterlicher Pflege aufgrund von Trennungen im ersten Lebensjahr stehen sowie über deren antisoziale Entwicklungen begonnen (Bowlby, 1944). Er hat tatsächlich bereits in diesen Jahren die Erkenntnis erlangt, dass das Unvermö-
Subjekte der Gewalt
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gen „ferne Ziele“ zu verfolgen, dringende impulsive Bedürfnisse zeitlich aufzuschieben – und das Durchführen unkontrollierten Verhaltens – von der tiefsitzenden Wut und der Frustration stammen, die als Kind aufgrund der Vernachlässigung und des Schuldgefühls entstanden sind, da die Vernachlässigung als Bestrafung für die eigene Bosheit gegenüber dem caregiver interpretiert wurde. Laut Bowlby liegt das Ziel des „Bindungssystems“ darin, dem Kind zu erlauben durch den Kontakt zum caregiver einen Zustand der „Sicherheit“ zu erreichen. Für die für unseren Forschungshorizont relevanten Gesichtspunkten kommt noch ein weiteres Puzzlestück hinzu, um den Ursprung von „Antisozialität“ und „Gewalt“ zu verstehen – und welches auf jeden Fall in Beziehung zu unangemessenen Erfahrungen der „Bindung“ zu sehen ist, auf die sich Bowlby bezog – nämlich das Unvermögen / die Fähigkeit, die subjektive Erfahrung der anderen zu verstehen, ein Begriff, den Fonagy und Kollegen eben „Mentalisierung“ nennen, die als Fähigkeit verstanden wird, zwischenmenschliches Verhalten in Bezug auf die jeweiligen „Geisteszustände“ zu verstehen (Fonagy et al., 2002). Von der Annahme auszugehen, dass die anderen einen Geist haben, ist ein grundlegender Schlüssel für die Organisation des Selbst, für die affektive Regulierung, für die Kooperation, und wird in den ersten „Bindungsbeziehungen“ angeeignet. Dies ist, was während des langen Prozesses der Hominisation geschieht. Dennoch hat die menschliche Spezies einen Preis zahlen müssen, um die Harmonie zu fördern. Das natürliche Bedürfnis, das Verhalten der schwächeren Mitglieder durch die Androhung „physischer Gewalt“ zu kontrollieren, ist maladaptiv geworden, eben weil es sich direkt mit den Prozessen der Mentalisierung überschneidet. Wenn bereits innerhalb einer „primitiven Ur-Herde“ die freie Erforschung des Geistes des anderen das Überleben der Spezies garantiert hat, muss „Gewalt“ nach und nach zu einem Verhalten geworden sein, das eingedämmt und unterdrückt wird. In einer komplexen Gesellschaft bleiben jedoch dichte Dunkelzonen: die Vorrichtung, die darauf abzielt, sie allgemein verträglich mit einer gleichzeitigen Vorstellung des subjektiven Zustandes des anderen zu machen, hat sich bezüglich der widersprüchlichen Anforderungen entwickelt, einerseits das Potential der Gewalt abseits der zwischenmenschlichen Verständigung beizubehalten und auf der anderen Seite sie im Kontext einer Gruppe fernzuhalten. Aus einem psychodynamischen Blickwinkel ist die Fähigkeit, zu mentalisieren, stark mit einer korrekten „Bindung“ verbunden: Wir lernen den Geist zu verstehen – sowohl unseren als auch den der anderen – durch die Erfahrung des Verstehens unseres eigenen inneren Zustands seitens eines anderen Geistes:
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Sechstes Kapitel Nach unserer Ansicht unterstützt die Bezugsperson die Herstellung von Mentalisierungsmodellen […]. Ihr Verhalten vermittelt dem Kind nach und nach ein Gewahrsein dafür, dass sein eigenes Verhalten am besten verstehbar wird, wenn es ihm Ideen und Überzeugungen, Gefühle und Wünsche als Motivatoren zugrunde legt, und dass die Reaktionen, mit denen seine Bezugsperson ihm begegnet, auf andere, ähnliche Wesen, verallgemeinert werden kann (Fonagy / Target, 2003b, S. 368).
Aus diesem Grund verschwindet nach den ersten Lebensjahren physische Aggression allmählich aus dem Verhaltensrepertoire des Kindes. Aggressives Verhalten und der Wunsch, den anderen zu kontrollieren, indem er zerstört oder unschädlich gemacht wird, rühren von den Tabus her, genau wie Inzest. „Bindung“ kennzeichnet beide Typen von Assoziation. Laut Fonagy und Kollegen (1995) ruft die „sichere Bindungsbeziehung“ – die durch angemessene und einfühlsame Reaktionen der Eltern auf ihre Bedürfnisse gegeben ist – im Kind eine „selbstreflexive Funktion“ hervor, d.h. die Grundlage seiner „Gedankenkapazität“ und der „Selbstkontrolle“, die bei der Meisterung gefährlicher und stressreicher Situationen und bei der Vermeidung der Bildung einer Borderline-Persönlichkeit entscheidend sind. Nach Fonagy dominiert „Gewalt“ genau dort, wo die Mentalisierung versagt. Es gibt eben Individuen – wie übrigens auch Blair / Mitchell / Blair (2005) erkannt haben –, die Gemütszustände durch Gesichtsausdrücke oder die Stimmlage kaum erkennen können und sie können daher keine vollständige Mentalisierung erreichen, folglich auch nicht die Fähigkeit, ihre „natürliche Gewalt“ zu zügeln. Andere hingegen können unfähig sein, die Gemütszustände anderer zu interpretieren, weil sie in Umständen aufgewachsen sind, in denen die Bindungsbeziehungen unangemessen waren oder weil sie, auch wenn sie anfänglich angemessen waren, sofort darauf plötzliche Risse bekommen haben. Und bei wieder anderen wird eine anfängliche Fähigkeit zur Mentalisierung durch eine Bindungsfigur gehemmt, die Angstzustände bezüglich der Gedanken und Gefühle ihm gegenüber ausgelöst hat, so dass im Kind der Wunsch entsteht, nicht an die subjektive Erfahrung der anderen denken zu müssen. Menschen, die in der frühen Kindheit ein hohes Maß an „Aggressivität“ aufweisen, das sie in der Jugend und als junge Erwachsene beibehalten, haben fast mit Sicherheit Erfahrungen mit „Bindung“ erlebt, mit denen es unmöglich war, einen Sinn für den anderen zu entwickeln, der als psychologische Wesenheit zu verstehen ist. Eine von Michael Rutter und Kollegen (2001) durchgeführte Längsschnittstudie hat gezeigt, dass die Schaffung bedeutungsvoller Bindungsbeziehungen mit relativ gesunden Menschen einen Faktor des Umfelds darstellt, der ein Kind von gewalttätigen Dynamiken und Verhaltensstö-
Subjekte der Gewalt
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rungen abbringen kann. Der Jugendliche kann sich auf diese Weise implizites Wissen über den Geist der Anderen aneignen.
Kriminalität als eine Alternative zur Melancholie?21 Der Ursprung destruktiven Handelns, der im Mangel des Umfelds der Person erkannt wurde („weshalb sich sagen lässt, dass Aggressivität eher die Tochter von Penìa und Poros ist des Eros“ ist) (Rossi / Verde, 2007, S. 6), bildet einen Ausgangspunkt auch im Werk von Donald Winnicott, der allerdings ihre grundsätzlich antidepressive Natur und ihren Ausgleichscharakter in den Vordergrund stellt, die er folgendermaßen erklärt: […] wenn grausame oder destruktive Kräfte diejenigen der Liebe zu überwältigen drohen, muss der Mensch etwas tun, um sich zu retten und etwas, was er tut, ist, sich nach außen zu wenden, die Innenwelt nach außen zu tragen, selbst eine destruktive Rolle anzunehmen und die Kontrolle einer externen Autorität hervorzurufen. Auf diese Art lässt sich Kontrolle herstellen in der Dramatisierung der Phantasie, ohne dabei großartig die Instinkte abzudämpfen, während die innere Kontrolle, die eine Alternative dazu darstellt, generalisiert werden soll und einen Zustand hervorbringen würde, der klinisch als Depression bekannt ist (Winnicott, 1984, S. 111–112).
Der Verlust einer „guten Ur-Erfahrung“22 bildet deshalb die Grundlage „antisozialer Tendenz“. Der Moment, in dem das Kind die Ursache für das „Desaster“ im Mangel des Umfelds erkennt, ist entscheidend: der „Grad der Reife des Ich erlaubt eine Wahrnehmung dieser Art und löst eher die Entwicklung der antisozialen Tendenz als eine Psychose aus“ (Winnicott, 1984, S. 164). Ein Kind, das von Anfang an mit guten Umfeldbedingungen gesegnet ist, die sich dann verschlechtern, kann zu einer guten Organisation des Ich fähig sein: doch wenn sie scheitern „bevor das Individuum in der Lage ist sich eine innere Umwelt zu schaffen, also unabhängig wird“ (Gaddini, 1986, S. XVII), kann dies zu einer „antisozialen Tendenz“ führen. Die Reaktion auf das tiefe Leiden, das die Erfahrung des Verlustes einer „ausreichend guten Mutter“ begleitet, manifestiert sich, nach Winnicott, folglich in der Form von Kriminalität, die unter zwei Aspekten auftritt: „Einer ist typischerweise Diebstahl, der andere Destruktivität. Mit Ersterem sucht das Kind irgendwo irgendetwas, und falls es das nicht findet, sucht es woanders, 21 22
Der Titel dieses Abschnitts greift denjenigen des berühmten Aufsatzes von Rossi und Di Marco (1975) wieder auf. „Die Zeit der ursprünglichen Entbehrung würde etwa das Säuglingsalter oder Kleinkindalter sein, in dem das Ich sich anschickt, eine Verbindung der Impulse des Es zu erreichen, die libidinös und aggressiv sind (oder voll Motilität) (Winnicott, 1984, S. 164).
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Sechstes Kapitel
wenn es Hoffnung hat“ (Winnicott, 1984, S. 158),23 das Umfeld so lange anzutreiben, bis es auf der Hut ist und sich organisiert, um den Schaden zu ertragen. Wenn die Situation anhält, muss das Kind sein Umfeld ständig auf die Probe stellen, um festzustellen, ob es in der Lage ist, die Aggression zu tolerieren, die Zerstörung zu verhindern oder zu reparieren […], das positive Element an der antisozialen Tendenz zu sehen und das Objekt, das es woanders zu suchen gilt, zu verschaffen und zu beschützen (Winnicott, 1984, S. 164). Mit dem anderen Aspekt [der Destruktivität] sucht es den Grad an Stabilität im Umfeld, der die Spannung aushalten wird, die durch das impulsive Verhalten entsteht. Es handelt sich um die Suche nach einer Beziehung zur Umwelt, die verlorengegangen ist, nach einem menschlichen Verhalten, das durch das Vertrauen, das es erweckt, dem Individuum die Freiheit gibt, sich zu bewegen, zu handeln und sich zu erregen (Winnicott, 1984, S. 158).
Nach Winnicott ist es für die positive Entwicklung eines Subjekts entscheidend, die Wichtigkeit dieser beiden Aspekte kennenzulernen, sie wiederzuerkennen und mit ihnen umzugehen, indem sie die Suche des jungen „Antisozialen“ nach „Momenten der Hoffnung“ unterstützen.
Kriminalität entsteht nicht durch eine (De)privation des Umfelds … Fern von jeder Verknüpfung des Paares Umweltfrustration / Aggression war das Werk von Melanie Klein, das sich in den dreißiger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte; ihr bot sich im Verlauf der klinischen Beobachtungen die Möglichkeit zu zeigen, dass die Bildung des Über-Ich „zu der gleichen Zeit beginnt, in der das Kind die ersten oralen Introjektionen seiner Objekte vollzieht“, eine Phase, die mit der Bildung des imago einhergeht – ein Wort, das ein fantastisches Bild bezeichnet, durch das impulsive Verhaltensweisen ein Objekt überrennen – die „mit all den Merkmalen des intensiven Sadismus ausgestattet sind, der zu dieser Phase seiner Entwicklung gehört“ (Klein, 1933, S. 11). Grob gesagt wären „Aggressivität“ und auch „Kriminalität“ Ergebnisse der Fixierung eines archaisches, primitives Über-Ich,24 die insofern sehr stark ist, als sie Ausdruck der typischen prägenitalen Phasen ist (anale und oralsadistische Phase), in denen genau dieses Gemisch aus Libido
23 24
„Ein Kind, das eine Sache stiehlt, begehrt eigentlich nicht das gestohlene Objekt, sondern sucht seine Mutter, auf die es ein Anrecht hat“ (Winnicott, 1984, S. 159). „Unter diesem Gesichtspunkt ist für Freud das Über-Ich das Produkt der Überwindung des ödipalen Konflikts, während Klein meint, dass es die Natur des Über-Ich, die Grausamkeit und Unbarmherzigkeit der primitiven Introjektionen, die es stützen, ist, was die Überwindung des ödipalen Konflikts erschwert und in manchen Fällen blockiert“ (De Masi, 1989, S. 409).
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und Zerstörungstrieb produziert wird.25 Aggressivität, als asoziales Verhalten verstanden, muss folglich mit einem Angriff auf einen imaginären Verfolger verglichen werden (d.h. ein erschreckend starkes Über-Ich, d.h. eins, das sich mit einem Menschen identifiziert, auf den man Projektionen eigener schlechter Eigenschaften angesammelt hat). „Der Kriminelle“ ist jedenfalls nichts weiter als ein „Kranker“, und die Wurzeln der Kriminalität sind die gleichen wie die des Verfolgungswahns im Fall der Paranoia. Klein schreibt: Wir sehen also, dass dieselben psychischen Wurzeln sich zu einer Paranoia oder zur Kriminalität entwickeln können. Bestimmte Faktoren werden im Fall des Kriminellen zu einer stärkeren Tendenz führen, unbewusste Phantasien zu unterdrükken und sie in der Realität zu agieren. Ein der Paranoia und der Kriminalität gemeinsames Element sind Verfolgungsphantasien; weil er sich verfolgt fühlt, versucht der Kriminelle, andere zu zerstören. […]. Wenn die Welt nur aus Feinden besteht – und so stellt sie sich dem Kriminellen dar – sind Hass und seine Destruktivität von seinem Standpunkt aus gerechtfertigt – eine Haltung, die seine unbewussten Schuldgefühle teilweise zu lindern vermag. […]. Fassen wir zusammen: Wenn die Funktion des Über-Ichs in erster Linie darin besteht, Angst zu erregen, wird dies gewalttätige Abwehrmechanismen im Ich auf den Plan rufen, die unethischer und asozialer Natur sind […] (Klein, 1934, S. 25–26).
Wenn sich das Über-Ich aus dem Zerstörungswahn bildet, stellt es sich dem destruktiven Instinkt entgegen, indem es grausam ist. „Neid“ – also der Wunsch, das zu besitzen, was am Anderen gut ist, um ihn zu zerstören und auszuplündern – kennzeichnet die Form von „Aggressivität“, die diese „Situation“ charakterisiert, die Klein „schizo-paranoid“ nennt (Klein, 1957): „Neid“ treibt zur Verzweiflung, denn er verhindert, Arten der Liebe zu entdecken, und die zerstörten Objekte führen zu einer endlosen Verfolgung und zu Schuld.26 Diese
25
26
„[…]in der oral-sadistischen Phase, die sich der oral-saugenden anschließt, durchläuft das Kind eine kannibalische Phase, die mit einer Fülle kannibalischer Phantasien einhergeht. Diese Phantasien bleiben zwar weiterhin auf den Wunsch konzentriert, die Brust der Mutter, oder die Mutter als ganze Person aufzuessen, betreffen aber nicht mehr ausschließlich die Befriedigung eines primitiven Nahrungsbedürfnisses. Sie dienen auch zur Befriedigung der destruktiven Triebregungen des Kindes“ (Klein, 1933, S. 13–14). Es sei auch an dieser Stelle daran erinnert werden, dass aus der Sicht Kleins das Schuldgefühl außer dem der „Verfolgung“, den wir bereits erwähnt haben, noch einen anderen wichtigen Aspekt aufweist, und zwar den „depressiven“, der sich im Leiden aufgrund der Verschlechterung des geliebten Objektes manifestiert, für die man sich als Ursache sieht und was zu Angriffen auf das innere böse Selbst führt. Außerdem kann ein Subjekt in der Hinsicht reifen, dass es eine depressive Haltung des Denkens einnimmt und somit Destruktivität, Egoismus, Neid, Eifersucht in sich entdecken kann, die mit der menschlichen Natur selbst verbunden und unabhängig von äußeren Ursachen sind, und es kann die Schuld auf erträgliche Weise verarbeiten. Wer wegen der ursprünglichen Erfahrungen diese Fähigkeiten nicht erlangt, wird die Verfolgungs-
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Sechstes Kapitel
Persönlichkeiten greifen auf manipulative Verhaltensweisen zurück, um das Gefühl des Neids zu kontrollieren, die auf einer Abwertung der Anderen basieren und zugleich ermöglichen, das Gefühl der eigenen Großartigkeit zu verstärken.27
Ist Narzissmus die Trägerstruktur jeder destruktiven Reaktion? Rossi, Kernberg, Kohut. Geht man von der psychischen Ebene aus, so hat die psychoanalytische Forschung im Verlauf der letzten Jahrzehnte einen gemeinsamen Nenner auf dem Grunde jeder Antisozialität entdeckt – über den auch ein grundsätzliches Einverständnis herrscht – und zwar den „Narzissmus“, der als „Grundlage jeder destruktiven Reaktion“ verstanden wird sowie als stets aktuelle Reaktion auf einst erlebtes Unrecht, das als unerträgliche Verletzung empfunden wird, die mit der Frustrierung der allmächtigen archaischen Forderung, umfassend aufgefangen und versorgt zu werden, herrührt. Doch sobald „Aggressivität“ als grundlegendes impulsives Element gesehen wird, bleibt noch die Tatsache dass, wenn man die Nuclei des „Hasses“ untersuchen möchte, die sich auf der Basis der Getanen befinden, man eine Reihe von Faktoren berücksichtigen muss: (Rossi, 2005): •
die ausstoßenden Elemente: hier ist der äußere Akt das einzige Ventil, um die innere Spannung loszuwerden. [Dem Subjekt] fehlen die geistigen Fähigkeiten, das plötzliche Auftauchen des Triebes zu verarbeiten: die Handlung geschieht unmittelbar, ohne das Mittel der Sprache, und die Geste vollzieht sich ohne das Wissen des Ich, was einem den Eindruck einer geistigen Leere gibt, denn oft ist das Subjekt nicht in der Lage, seine Geste zu erklären oder tut dies auf stereotypische Art oder mit Hilfe sekundärer Rationalisierungen (Rossi, 2005, S. 67);
27
•
der Verlust des Objekts;
•
die narzisstische Kränkung in Bezug auf Verletzungen des Selbstwertgefühls: hier
Lösung anwenden, indem er seine destruktiven Fantasien mit einer äußeren feindseligen und aggressiven Realität rechtfertigt. „Im Unterschied zu dem entwickelten Über-Ich funktioniert das primitive Über-Ich in der Weise, dass die Destruktivität an ihrem wunden Punkt mit sadistischen, destruktiven Mitteln getroffen wird. […]. Klein […] interpretiert die Entwicklung des psychischen Lebens des Menschen, und zwar nicht nur die des Über-Ich, als Kampf und Gegensatz zwischen den beiden Instinkten: Der vom Todestrieb dominierte Teufelskreis, in dem die Destruktivität Angst erzeugt, welche wiederum die Aggressivität ver-
Subjekte der Gewalt
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das durch Verachtung angegriffene, aber ingesamt geliebte Objekt wird introjiziert, um den Verlust zu vermeiden, doch erleidet es die ganze Verachtung und den Hass, der mit dem Ich, das es aufnimmt, verbunden ist. […]. Das verlorene Objekt wird durch den Narzissmus, die Introjektion wieder wettgemacht und die Aggressivität gegenüber dem Objekt […] richtet sich gegen das Ich selbst (Rossi, 2005, S. 58–59).
•
die neidvollen Strömungen: ausgehend von Shakespears Julius Cäsar meint Rossi, dass […] de facto jeder Neidische ein Brutus ist, also ein potentieller Mörder: dies bedeutet, dass Aggressivität immer auf einer oberflächlichen Ebene bleibt, ohne dass sie ganz zutage tritt, aber mit der Möglichkeit unsäglich destruktiver Verhaltensweisen […]. […]. Shakespeare besitzt die subtile Fähigkeit, unter dem Schein des Lobs, all die Motive für Neid herauszustellen, also die Dinge, die Cäsar hatte und Brutus nicht […] Das ist der Grund dafür, dass Neid die Aggressivität, mit der typischen psychosomatischen Implosion, nach innen lenkt […] (Rossi, 2005, S. 70–71).
•
die projektive Ausgliederung: […] ist eine Art, mit Aggressivität umzugehen, indem sie grundsätzlich auf zwei Arten ausgetrieben wird: erstens indem sie, auf geistiger Ebene, nach außen verschoben wird (oder besser gesagt in den äußeren Raum) oder nach außen auf die somatische Ebene, mit Hilfe der Exteriorisierung, wobei die doppelte Dimension entsteht, nämlich die des Wahns und die des acting-out (Rossi, 2005, S. 64).
In der Annahme, dass antisoziales / psychopathisches Verhalten (hier als Synonyme verwendet) eher als primitive Variante des Kontinuums „narzisstischer Persönlichkeitsstörungen“ zu sehen sei, hat Otto Kernberg (1984) eine innere Differenzierung zwischen solchen antisozialen Störungen vorgenommen, die von psychopathischen Individuen ausgeführt werden, solchen, die von „bösartigen Narzissten“ ausgeführt werden (sadistische Ich-syntone mit paranoider Ausrichtung), sowie von solchen, die von einer „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ betroffen sind (und in der Lage sind, zum ersten Mal ein gewisses Level an Schuldgefühl zu erleben und Objektbeziehungen zu schaffen, auch wenn diese grundsätzlich auf dem Ausnutzen / der Manipulation der Anderen beruht). Diese Themen gehören zum weiteren Bereich der „Borderline-Persönlichkeitsstörung“, die Kernberg als essentiell intrapsychische, spezifische, über die Zeit stabile Funktionsweisen versteht, die grundsätzlich durch drei psychodynamische Merkmale gekennzeichnet sind: 1) das Vorliegen einer Identitätsspaltung, 2) eine Prüfung, wie viel Realitätssinn noch vorhanden ist und 3) primitive Verteidigungsmechanismen (Negierung, Spalstärkt, kann von der Kraft der Libido zerstört werden. Die verinnerlichte Erfahrung von einer liebevollen und teilnahmsvollen Mutter ist fundamental“ (De Masi, 1989, S. 413).
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Sechstes Kapitel
tung, projektive Identifikation etc.). Darüber hinaus bezieht Kernberg in die diagnostischen Kriterien auch weitere weniger spezifische Kriterien mit ein, wie eine geringe Angsttoleranz, wenig Kontrolle über die Impulsivität, die eingeschränkten sublimatorischen Fähigkeiten. Interessant ist, dass antisoziales Verhalten vom Autor auch als Teil einer symptomatischen Neurose erkannt wird (zum Beispiel als Rebellion während der Pubertät) oder einer neurotischen Störung mit antisozialen Eigenschaften („Verbrecher aus schlechtem Gewissen“). Nach Kernberg (1992) ist also im pathologischen Sinne die antisoziale Störung das Ergebnis einer „selbstbezogenen Liebe“ (aufgrund des Unvermögens, sich an die Gestalten der Eltern zu binden und von ihnen abzuhängen), manipulativer Objektbeziehungen, die von Neid und Habgier getrieben sind, des Grundzustands des Ich, der von einem Gefühl der Leere gekennzeichnet ist, und schließlich der Pathologie des Über-Ich, welches hauptsächlich von Scham und Schuldgefühlen charakterisiert ist. Auch Heinz Kohut meint, dass Aggressivität – der destruktiven, bösen Art – hauptsächlich dort „zu Gewalt“ wird, wo sie eine Antwort auf eine „narzisstische Kränkung“ ist: wenn das eigene Selbst von einem unbewussten allmächtigen und großartigen Bild angegriffen wird – was über einige Etappen geschieht, auf die wir hier nicht eingehen können –, so kann es nicht mehr länger Frusteationen / Beleidigungen ertragen, welche Wut– nämlich eine narzisstische – auslösen, die es auf die Zerstörung des Schuldigen abgesehen hat:28 Narzisstische Wut zeigt sich in vielerlei Gestalt. Doch alle haben einen bestimmten psychologischen Aspekt, der ihnen eine bestimmte Position im weiten Feld menschlicher Aggressivität zuweist. Das Bedürfnis, sich zu rächen, einen Fehler wiedergutzumachen, einen Schaden mit jedem Mittel rückgängig zu machen und ein unaufhaltsamer Zwang, der tief verankert ist, um all diese Ziele zu verfolgen … sind all die Charakteristika der narzisstischen Wut, […] [die] eine totale Weigerung, angemessene Grenzen zu akzeptieren, mit sich bringt, so wie ein grenzenloses Bedürfnis, die erlittene Kränkung zu heilen und sich zu rächen. Die Irrationalität der Rache wird noch erschreckender, wenn man die Tatsache bedenkt, dass die Denkfähigkeit narzisstischer Persönlichkeiten… häufig nicht nur intakt ist, sondern auch besonders ausgeprägt, obwohl sie völlig dem dominierenden Gefühl zu Diensten ist (Kohut, 1972, S. 144–146).
28
„Wer eine narzisstische Kränkung erfahren hat, findet keine Ruhe bis die Kränkung desjenigen nicht rückgängig gemacht wurde, der es gewagt hat sich gegen ihn zu stellen, ihn zu verneinen oder ihn bloß in den Schatten gestellt hat“ (Kohut, 1972, S. 150).
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An den Wurzeln des Hasses: Freud, Bergeret, Lacan Für Kohut ist somit der „Feind“ der „widerspenstige Teil eines erweiterten Selbst, über welche vollkommene Kontrolle ausüben zu können die narzisstisch verletzbare Person erwartet hatte. Die einfache Tatsache, dass die andere Person unabhängig oder anders ist, wird von demjenigen, der intensive narzisstische Bedürfnisse hat, als Kränkung empfunden“ (Kohut, 1972, S. 150). Natürlich reicht das Spektrum der psychoanalytischen Reflexionen, die den Ursprung von „Hass“ betreffen, über die Frage nach den narzisstischen Persönlichkeiten hinaus, und geht radikaleren und weitläufigeren Überlegungen nach, welche alle ohne Ausnahme betreffen. Bereits Sigmund Freud (Freud, 1915) hat bemerkt, dass die erste Bewegung der Subjektivierung eine Bewegung der Ausstoßung dessen ist, was das „Böse“ verursacht, d.h. eine nicht steuerbare und nicht symbolisierbare Exzentrizität. Diese Bewegung impliziert notgedrungen ein „Objekt“, das ein solches in der Hinsicht ist, „als es verloren ist“, doch genau durch diese Exteriorisierung“ (Ausstoßung) des Realen bildet sich eine Grundlage für das „Funktionieren einer symbolischen Ordnung“: dadurch wird das Subjekt unausweichlich gespalten,29 denn das „Böse“, das ausgespien wurde, lässt das Reale als Exteriorität existieren. „Hass“ ist demnach für Freud eindeutig aus dem Paar Frustration / Aggression herausgerissen, und das Böse hat nichts mit der dialektischen Negativität zu tun, die wieder von der symbolischen Bewegung des Geistes (Hegel) oder der politischen Veränderung sozialer Verhältnisse (Marx) aufgenommen wird, oder von den Krisen der Differenzierung, von der bei Girard die Rede ist, während er in einer engen Beziehung mit dem mythischen Verlust des „Objekts“ und mit dem Versuch steht, diesen Verlust zu absorbieren, diese Trennung zu annullieren: kurz gesagt, ist das „Böse“ ein struktureller Zustand des Menschen, der die Irreversibilität eines Verlustes signalisiert (Recalcati, 2004, S. 33–42 und S. 48). Folgt man diesem Gedankengang, so kann man nicht länger die Tatsache ignorieren, dass es das „Eigenste“ des Menschen bewohnt, und eben so wenig die Tatsache, dass die Beständigkeit des impulsiven Drangs seine Anwesenheit restlos löschen kann. Die endlose Arbeit der Inkorporation des „Geliebten“ und die Ausscheidungg des „Gehassten“ geschieht in einer paradoxen Über29
„Wenn allerdings, wie bei den Psychosen, die Person aufgrund einer NichtWirksamkeit der fundamentalen Symbolisierung in einer tödliche Koinzidenz mit dem bösen Objekt verweilt […], exteriorisiert sich Letzteres nicht und fällt schließlich mit dem Dasein der Person zusammen, wobei jede Art der Trennung unmöglich wird“ (Recalcati, 2004, S. 39).
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einstimmung, einer fundamentalen Ambivalenz, weshalb Hass von dem Umstand abhängt, dass […] das geliebte Objekt niemands völlig einverleibt werden kann; es kann... sich niemals an den Gegenstand des Seins anpassen, ohne sich dabei als Objekt zu verlieren. […]. Es ist demnach der Rest an Überheblichkeit des Anderen – das, was nicht auf ein Gleiches reduziert werden kann – das, was am meisten verhasst ist. […]. Hier ist der Hass, nicht die Leidenschaft für die Trennung... sondern die Leidenschaft für das Gleiche... gegen das Andere, eine Antwort des Subjekts auf die Unmöglichkeit, das Fehlen des Seins auszufüllen“ (Recalcati, 2004, S. 43–47).
Die – von Freud niemals ausreichend untersuchte und weiter vertiefte – primäre natürliche Brutalität, die der Bewegung der Ausstoßung des Bösen zugrunde liegt, ist viele Jahrzehnte später von Jean Bergeret (1998) unter dem Namen „fundamentalen Gewalt“ neu konzeptualisiert worden, und zwar mit Hilfe einer Operation, mit welcher der erste Ursprung des Begriffs der Gewalt wiedergewonnen werden sollte, der präzise die Vorstellung der „Verteidigung des Lebens“ kennzeichnet. Die Etymologie des Begriffs „violence / violenza“ verweist zweifellos auf das lateinische violentia, das seinerseits „[…] aus indoeuropäischer Wurzel stammt, welche das griechische bios und das lateinische vita hervorgebracht hat“ (Bergeret, 1994, S. 61–62). Das Besondere an Bergerets Position im Vergleich zu der freudschen liegt in der Tatsache, dass die „fundamentale Gewalt“, die in jedem Menschen existiert, einen Lebensinstinkt, oder besser: einen Überlebensinstinkt darstellt, also ein mentales Verhalten, das in Bezug auf den anderen rein defensiv ist, ohne jede Konnotation von Hass oder Sadismus, doch auch ohne dass eine klar libidinöse Färbung die Beziehung bereits organisieren könnte. […]. Die natürliche Gewalt, ein reiner Erhaltungstrieb, ist von sich aus weder „gut“ noch „böse“. Sie existiert einfach als primäre Dynamik; sie entwickelt sich nach den Regeln der emotionalen Reife, von denen das Subjekt in seinem zukünftigen Umfeld, angefangen bei dem allerfrühesten, Nutzen ziehen kann (Bergeret, 1994, S. 69).
Dieser primäre und universelle gewalttätige Instinkt darf nicht mit jenem vermengt werden, den Freud dem Bereich der „Aggressivität“ zuordnet, bei der Ursprung, Energien, Ziele und Status der Objekte nicht vergleichbar sind. Haben wir es bei „Aggressivität“, so wie sie von Freud verstanden wird, mit einem „Mischmasch aus Gewalt und Erotisierung“ zu tun,30 so bringt „Gewalt“, wie sie von Bergeret verstanden wird, keinerlei Bündnis oder Stütze mit sich: „es handelt sich dabei um eine natürliche, tiefe Brutalität, die das Leben erhält, sonst nichts. […] ein Instinkt in seiner reinsten Form, der sich von der 30
Bergeret beschreibt Letztere als „Perversion der Libido mit Hilfe von Gewalt“ (Bergeret, 1994, S. 76).
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Aggressivität in seiner Natur und seiner Struktur unterscheidet“ (Bergeret, 1994, S. 80).31 Es gibt danach also einfache, und damit gewalttätige, Verteidigungshandlungen und das, was aus der Erotisierung der Gewalt hervorgeht und in den Bereich der „Aggressivität“, des „Sadismus“ und des „Hasses“ fällt. Durch eine Rückkehr zum ursprünglichen Verständnis Freuds versucht auch Jacques Lacan die Genese „der „Aggressivität / des Hasses“ zu rekonstruieren, lässt sie allerdings aus dem Verhältnis des „Subjekts“ zum eigenen Spiegelbild hervorgehen (Spiegelstadium32), das heißt aus der „primären Identifikation, welche die Person als Rivale ihrer selbst strukturiert“ (Lacan, 1948, S. 111) (eine Bewegung, die sich stark von der freudschen Ausstoßung unterscheidet). Dieses Spiegelbild macht zwar die Identitätsbildung und die Bildung der narzisstischen Einheit möglich33 – auch wenn dies nur virtuell geschieht –, es bezeichnet aber gleichzeitig ein Eindringen des Anderes in das Selbst und zeigt der Person ihre entfremdete Struktur, ihren unheilbar gespaltenen Charakter: jeder kann sich seiner eigenen Identität nur in Form einer Spaltung nähern, nur mit Hilfe des Anderen. Ich bin das, was ich im Spiegel sehe, doch werde ich dem niemals real entsprechen können: in dieser Nicht-Entsprechung seiner selbst mit seinem eigenen Idealbild, hat Aggressivität ihren Ursprung:
31 „Die richtig gewalttätige, und nur gewalttätige, Handlung, also die, die den anderen nur aus einer bewusst defensiven Reaktion heraus trifft, auch wenn sich die entstandenen Schäden als schwer herausstellen, ist oft nur schwer von der aggressiven Handlung zu unterscheiden, welche eine direkte Befriedigung erotischer Art impliziert, entstanden durch den vom anderen verursachten Schaden. Manchmal ist es sehr schwierig, eine differenzielle Diagnose zwischen Gewalt und Aggressivität aufzustellen, wenn es um eine Art des Ausdrucks der Natur des Verhaltens geht und, ganz besonders, sobald das Verhalten den Weg für wirkliche Begebenheiten ebnet, die sich dramatisch entwickelt haben“ (Bergeret, 1994, S. 93). Zusammengefasst muss man nach Bergeret, um zwischen Gewalt und Aggressivität unterscheiden zu können, nicht die „Resultate einer Handlung“ oder die „Schwere der Schäden“ in Betracht ziehen, die sie mit sich bringt, sondern sie vom Gesichtspunkt der „Kausalität“ und des „beabsichtigten Zwecks der Handlung“ betrachten. 32 „Was [aber] das Phänomen der Anerkennung, welche die Subjektivität einschließt, zeigt, sind die Zeichen des triumphalen Jubels und die Suchspiele, die bis zum sechsten Lebensmonat die Begegnung des Kindes mit seinem eigenen Spiegelbild kennzeichnen. […]. Das, was ich Spiegelstadium genannt habe, stellt das Interesse, die affektive Dynamik äußern, mit der ein Mensch sich ursprünglich mit der sichtbaren Gestalt seines Körpers identifiziert, der, im Verhältnis zur noch starken Unkoordiniertheit der Motorik, eine ideale Einheit darstellt, ein heilendes imago“ (Lacan, 1948, S. 134–135). 33 „Aggressivität ist eine Tendenz, die mit einer Art der Identifizierung verbunden ist, welche wir narzisstisch nennen und die die formale Struktur des Ich des Menschen bestimmt, sowie das Register der Entität, das für seine Welt kennzeichnend ist“ (Lacan, 1948, S. 104).
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Sechstes Kapitel Wenn nämlich mein Wunsch in seinem Ursprung vom Anderen enteignet wird, wenn er völlig vom Anderen entfremdet ist, gibt es außer der „Zerstörung des Anderen“ in meiner Vorstellung keinen anderen Ausweg. […]. Der Spiegel und seine narzisstischen Effekte sind demnach der Ursprung von Aggressivität und Verbrechen“ (Recalcati, 2004, S. 54–55).
Siebentes Kapitel Kosmologie und Gewalt Verbote sind wundervoll. Gerade weil sie existieren, können wir uns die Freiheit vorstellen. Toru Takemitsu
Etymologische Vorbemerkung und Anmerkungen zum Arbeitsbegriff „Kosmologie“ An diesem Punkt erscheint es für den weiteren Gang der Darstellung besonders dienlich, einen Blick auf den Begriff der „Kosmologie“ zu werfen, der am Rande seiner philosophischen und physisch-astronomischen Dimensionen in der Lage ist, die symbolischen Sphären, die von den sozialen Akteuren im Verlauf ihrer Interaktionen und Erfahrungen in den von ihnen bewohnten Welten errichtet werden, zu begreifen und mitzuteilen. Die Welt, so wie wir sie kennen, ist eine gesellschaftlich konstruierte Realität, die uns als solche durch unsere „Verhandlungen“ mit anderen Menschen erscheint. Denn wir formen nach und nach eine ganze Kosmologie aus, vor deren Hintergrund unsere sozialen Verhandlungen stattfinden und im Einklang mit der sie legitimiert sind (Inghilleri M., 2005).1
Nähern wir uns der „Kosmologie“ von der etymologischen Seite, so treffen wir auf das griechische Wort „kosmos“, das einen harmonischen und geordneten Inhalt bezeichnet.2 Dieser Begriff wurde von den Lateinern mit dem Wort 1
2
Kursivsetzung von uns. Marco Inghilleri stellt sehr wichtige Überlegungen an, welche die Rolle der „Erzählung“ und des „Dialogs“ betreffen und die Themen vorwegnehmen, die wir später behandeln werden: „Mit einem Menschen in einen Dialog zu stehen, bedeutet die Art zu akzeptieren und zu rekonstruieren, mit der er seine Welt und sich selbst konstruiert, wie die Dinge aus seiner Sicht stehen, welche Erfahrungen er in dieser Welt sammelt, wie er sie einschätzt und bewertet, wie er, auch mit Hilfe seiner Emotionen, den Sinn der Realität schafft, wie er in ihr handelt und welche Effekte dies hervorruft, wie diese Welt mit dem korrespondiert, was er tut und welche Effekte dies dann auf den Menschen selbst hat.“ Wie Sini (2005, S. 19) vorschlägt, bedeutet das Verb „kosméo“ im Altgriechischen „[...] anordnen, ordnen, aufräumen, in eine Struktur bringen (beispielsweise eine Schlachtordnung) […]. Also: ich dirigiere, regle und herrsche. […]. Daraus folgt, dass ‘kósmema’ […] das Oberhaupt, den Herrn, den Führer bezeichnet.“ „Durch das Erkennen und die Akzeptanz seines eigenen Teil-Wesens findet der Mensch einen Platz und einen Sinn in seiner Existenz, die im Sich-anpassen bestehen, da er selbst Teil der (kosmischen) Ordnung von allem ist. Es handelt sich hierbei um eine Gesamtheit, die
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Siebentes Kapitel
mundus übersetzt, das ebenfalls auf eine Vorstellung von Ordnung und Klarheit im Sinne von locus mundus verweist, d.h. auf einen klaren und für das menschliche Auge sichtbaren Ort. Später nahm der Begriff „Welt“ eine vorwiegend geisteswissenschaftliche Bedeutung angenommen (die Welt als Realität sozialer Beziehungen im Allgemeinen oder im Besonderen, der Begriffe wie mondän, säkular, häufig an eine religiöse oder moralische Bedeutung gebunden, assoziiert sind), während Kosmos und Universum eher die naturwissenschaftliche Bedeutung beibehalten (Sanguineti, 2002, S. 1450),
und löste sich von seiner vorwiegend philosophischen Tradition. Es versteht sich von selbst, dass wir hier die „Himmelswelten“ außer Betracht lassen.3 „Kosmologie“ wird für uns vielmehr zu einem „sensibilisierenden Begriff“, der den Zweck hat, dem menschlichen (gewalttätigen) Verhalten einen Sinn zu verleihen, und dies jenseits jeder strengen, formalen Unterscheidung zwischen Normalität und psychischem Leid.4 Es gibt keine gewalttätige Geste, keine „physische Aggression“, keinen „Angriff auf den Körper“ (Viganò, 2002), egal wie „irrsinnig“ und blutig, die keine „Kosmologie“ implizieren. Auch der grausame Mordrausch wird eher als Resultat einer Erkrankung des Gehirns erklärt, als moralische Krankheit, als Verlust der Verstands, als göttliche Besessenheit erklärt, als „andersartiges Wesen, als autonome und idiosynkratische, aber alles andere als sinnlose Form“ (Leoni, 2000, S. 12),5 welche die angeborene Verletzlichkeit der körperlich-existentiellen Dimension des Men-
3
4 5
nicht aus der quantitativen Summe der Einzelteile besteht, sondern aus jenem qualitativen Merkmal, das aus den zusammengesetzten Teilen eine Ordnung, einen Kosmos schafft“ (Galimberti, 2001, S. 44). „Die wissenschaftliche Erforschung des Kosmos als universelles System von miteinander in Interaktion stehenden Körpern, das für eine physisch-mathematische Beschreibung geeignet ist, gehört [in der Tat] zum Zuständigkeitsbereich der Kosmologie, einer Disziplin, die mit der Astrophysik verbunden ist, und im weiteren Sinne mit all den anderen Gebieten der Physik“ (Sanguineti, 2002, S. 1453). Kursivsetzung von uns. Diese Begriffe stützen sich auf Theorien, die von Minkowski in seinen Werken entwikkelt wurden, insbesondere in Vers une cosmologie (1936). Minkowski schreibt (1932–1933, S. 32) über die Psychopathologie: „Das Geistesleben wächst auch hier zu einem Ganzen zusammen. Ein Ganzes, das sich von unserem unterscheidet, deshalb aber nicht ohne Leben ist. Wir denken dabei an ein Gebäude, das vielleicht skurril und unbewohnbar ist, aber trotzdem mit einer festgelegten Struktur und einem besonderen Plan ausgestattet ist. Die Charakteristika dieses Plans zu ermitteln ist Aufgabe der strukturellen Analyse in der Psychopathologie, wie wir sie verstehen: eine Analyse, die, statt des Krankseins das Anderssein im Vergleich mit der gewöhnlichen Form des Seelenlebens an erste Stelle setzt“.
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schen angreift, der der globalen und totalisierenden Macht einer gewalttätigen Geste von „Herrschaft“ unterworfen wird. FALL F: MORD Soll ich ehrlich sein? Es ist eine Art Geilheit... Soll ich ehrlich sein? Zu fühlen, wie eine Person ihre letzten Atemzüge tut und dies wegen dir... Denn in dieser Situation habe ich mich wie ein allmächtiger Gott verhalten, der sagen konnte: „Ich habe die Macht dir das Leben zu nehmen.“
Wir verwenden den Terminus „Kosmos“ aufgrund des Umstandes, dass er Träger eines subtilen und gehaltvollen Ausspielens von Bedeutung im Vergleich zum Terminus „Welt“ ist: während Letzterer die Vorstellung von Sichtbarkeit, von Klarheit, wir würden sogar sagen: von Transparenz, hervorruft, behält der Terminus „Kosmos“ bzw. „Universum“6 einen dunklen Raum des Nicht-Sichtbaren, Nicht-Erkennbaren, indem man vom „Kosmos“ nur einen Teil wahrnimmt, nämlich „denjenigen, der unserer Erfahrung direkt zugänglich ist, und wir können nicht annehmen, die direkt oder indirekt Untersuchung erschöpfend zu bewerkstelligen – auch nicht auf wissenschaftlicher Ebene. Wir können nicht mit Sicherheit wissen, wie viel vom Universum noch unerforscht ist“ (Sanguineti, 2002, S. 1451). Der Begriff „Kosmos“ überschneidet sich also mit dem der „Welt“, schließt aber das Nicht-Sichtbare nicht aus. FILM: NATURAL BORN KILLERS Interview mit Mickey, in dessen Verlaufe der „geborene Killer“ – so wie er sich selbst sieht und sich definiert – einige Teile seiner „Kosmologie der Gewalt“ sowie eine möglich „dramatische Veränderung des Selbst“ zeigt und zugänglich macht. Journalist: „Wann haben Sie das erste Mal an Mord gedacht?“ Mickey: „Ich wurde in eine Familie hineingeboren, in der es recht hart zuging.“ Journalist: „Was meinen Sie damit?“
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Etymologisch ist „Universum“ abgeleitet vom lateinischen Begriff universus, der aus unus und dem Partizip Perfekt versus besteht: dies bedeutet so viel wie ein „Ganzes in eine Einheit zusammengefasst“, ein unum in diversis. Überlassen wir nun James Hillman (1989, S. 273) das Wort: „[…] im Lateinischen bedeutet Universum, sich um eine Sache oder in eine Richtung drehen, oder sich einem zuwenden. Universum […] bedeutet ‘die ganze Welt’, die Welt als Ganzes; das Adverb universum bedeutete ganz, gewöhnlich, im Allgemeinen. Der kosmos-logos, den man sich als eine Erklärung des Universums vorstellt, begünstigt tendenziell die Universalien, die allgemeinen Prinzipien, und entfernt sich von den Besonderheiten, die von den Sinnen wahrgenommen werden, die genau das verkörpern, was den kosmos interessiert“.
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Siebentes Kapitel Mickey: „Naja, ich meine damit, dass ich mit nackter Gewalt aufwuchs. Das liegt mir im Blut, genau wie bei meinem Vater und bei seinem Vater. Das ist mein Schicksal.“ Journalist: „Niemand wird böse geboren. So was lernt man erst. Wie war das mit Ihrem Vater? Wie ist er gestorben? Sie waren erst zehn Jahre alt. Da gibt es ‘ne Menge Spekulationen... .“ Mickey: „Ich habe meinen Vater nicht umgebracht!“ Journalist: „Lassen Sie, lassen Sie, schon gut! Ist gut... ist gut... ok, ist gut. Reden wir über was anderes, ok?“ Mickey: „Sollten wir tun.“ Journalist: „Sagen Sie mir eins, wie können Sie einem unschuldigen Menschen, einem Vater mit Kindern ins Gesicht sehen und ihn dann einfach abknallen? Ich meine, sagen Sie mir, wie sie so was tun können?“ Mickey: „Unschuldig... also wer ist schon unschuldig? Du vielleicht?“ Journalist: „Ich glaub ich kann sagen, ja. Ich habe keinen Mord begangen.“ Mickey: „Jemanden umbringen, das tun doch alle Kreaturen Gottes auf irgendeine Art. Ich meine, schau dich doch nur im Wald um, da gibt’s Arten, die töten ein paar andere Arten. Menschen jedoch töten sämtliche Arten, inklusive dem Wald, aber das nennen wir Industrie, nicht Mord. Aber ich kenne eine Menge Menschen, die es verdienen zu sterben.“ Journalist: „Sterben ist unabänderlich.“ Mickey: „Ich glaube, jeder hat bestimmt in der Vergangenheit schon mal ‘ne Sünde begangen. Es gibt überall Menschen, die mit einer Schuld rumlaufen, man muss sie aus ihrem Elend befreien. Dann komme ich als Schicksalsbote ins Spiel. Stell dir vor ein Weizenkorn fällt zu Boden und verfault dort. Es mag sich noch einen Moment halten, aber wenn es verfault ist, bringt es viele neue Früchte hervor.“ Journalist: „Ah, die Theorie, dass in jedem ein Killer stecken könnte. Wollen Sie das damit sagen?“ Mickey: „Naja, ein Wolf weiß nicht, wieso er ein Wolf ist. Er hat es sich nicht ausgesucht. Gott schuf ihn nun mal so.“ [...]. Journalist: „Also sagen Sie mir, tut Ihnen wirklich nichts leid? Sie haben in drei Wochen 50 Menschen umgebracht. Ist nicht sehr cool, Mickey.“ Mickey: „52, aber ich vergeude keine Zeit damit etwas zu bereuen. Das wäre eine Verschwendung von Gefühlen.“ Journalist: „Aber haben Sie noch irgendwelche Gefühle, irgendwas, was Sie bewegt?“ Mickey: „Ja, ich wünschte, ich hätte den Indianer nicht gekillt.“ Journalist: „Eins Ihrer letzten Opfer.“ Mickey: „Bei dem Mann lag eine Klapperschlange in der Ecke.“
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Journalist: „Klapperschlange?“ Mickey: „Er streichelte sie vor unseren Augen. Er hat ihn gesehen.“ Journalist: „Er sah wen?“ Mickey: „Den Dämon, er hat den Dämon gesehen.“ Journalist: „Den Dämon? Was für einen Dämon?“ Mickey: „In jedem steckt ein Dämon. Der Dämon steckt in deinem Inneren. Er wird gefüttert durch deinen Hass, zerstückelt, getötet, vergewaltigt, er benutzt deine Schwäche und deine Angst, nur die härtesten, sie wissen wie man überlebt… sie wissen doch, dass wir nichts als eine große Scheiße sind. Nach einer Weile werden wir eben alle böse, aber weißt du, nach dem Indianer wollten wir niemanden mehr töten. Das hat der alte Mann bewirkt.“ Journalist: „Was ist passiert?“ Mickey: „Das war einfach nur ein Irrtum, verstehst du? Man wollte uns nur helfen. Er war nett zu uns. Denselben Traum hatte ich mal als kleiner Junge. Ich rannte, ich rannte mit den Hasen durch die Nacht, mit Mr. Rabbit... er hatte blutige Läufe und eine Weihnachtsmannmütze. Er war irgendwie wahnsinnig. Ich bin einfach nur gerannt... ich wurde selbst Mr. Rabbit, ich fresse alle anderen Tiere im Wald und werde langsam ein Teil von denen. Du spürst, dass jede Hoffnung in diesem Dunkeln stirbt. Ist doch egal, ob du so was erkennst, Wayne. Ist doch nur... ’ne Illusion... Mr. Rabbit sagt, der Moment der Verwirklichung, der Moment der Verwirklichung ist tausend Gebete wert.“ Journalist: „Ok, Sie sind verrückt.“ Mickey: „Ich bin nicht so verrückt wie du, denke ich. Ich schwanke extrem schnell zwischen hell und dunkel. Verstehst du? Sieh mal meine Haut... weiß, weiß wie das Licht... doch dort sieht man seinen Schatten an der Wand... deinen Schatten kannst du nicht loswerden, Wayne. Weißt du, was es als einziges schafft einen Dämon umzubringen? Liebe, darum weiß ich auch, dass Mallory meine Rettung ist. Sie hat mir beigebracht zu lieben. Es ist, ja, es ist als wär ich im Garten Eden.“
FALL F: MORD Wenn ich einmal in Aktion trat, fühlte ich mich gut, fühlte mich lebendig, verwirklicht... genau deshalb habe ich vorhin gesagt: „Wenn man sich einmal entscheidet ...“. Und ich habe mich entschieden. Als Junge, als ich vierzehn war und Autos klaute – ich mochte Lancias – fuhr ich innerhalb von dreißig Sekunden mit ihnen davon. Und ich machte meinen eigenen Wettkampf daraus. Dreißig Sekunden war mein Tempolimit. Wenn ich es in dreißig Sekunden nicht schaffte, stahl ich es nicht, ich ließ es einfach da und ging weg. Und alles ohne etwas kaputtzumachen... ich öffnete es und fing an zu lachen... besonders dann, wenn ich weniger lang als sonst brauchte. Ich stand diesbezüglich mit mir selbst in einem Wettkampf. Es ließ mich also gutfühlen. Die ganze Aktion gefiel mir... wie wenn wir Schaufenster einschlugen. Dann gab es das Risiko, dass die Leute hinter dir herlaufen... dann hatte ich noch mehr Spaß. Das Risiko... war das Salz in der Suppe. Ich hatte schon ein großes Einkommen. Ich brauchte kein Geld. Der Sinn war folgender: „ich klaue,
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Siebentes Kapitel weil ich es gerne tue. Wenn du das nicht machst, bist du ein Parasit.“ So dachten wir darüber.
Indem wir diese Vorbemerkungen mit den Abläufen des „(radikalen) interaktionistischen“ Paradigmas sowie mit vielen anderen theoretischen Beiträgen, die nicht unter dieses Label fallen, verknüpfen, lassen wir die letzte Wendung unseres Weges beginnen, an dessen Ende wir zu einer Art „Sichtbarmachung des Unsichtbaren“ gelangen werden – die unserer Meinung nach die „individuell-universalisierende“, „empfindsam-nachdenkliche“, „bewusst-reflexive“ Dimension betrifft,7 mittels derer die Menschen sich die Welt vorstellen und versuchen, sich in ihr durchzuschlagen, indem sie aktiv ihr eigenes Handeln gestalten. Kehren wir nun zum Bild zurück, das wir am Anfang unserer Weges vorgestellt haben:8 So bedeutet die Annäherung an das „Unsichtbare“ – wie die menschliche Figur, die dort dargestellt wird –, von einem Universum in ein anderes einzutreten, sich jenseits des bekannten (auch wissenschaftlichen) Universums zu begeben, um einen Einblick in das der beobachteten gesellschaftlich Handelnden zu gewinnen, wobei Abstraktionen und Generalisierungen vermieden werden, ohne dabei ihre „Bewegungen“ lahm zu legen und sie in Theorien mit hohen ätiologischen Ansprüchen erstarren zu lassen. Wir wollen verstehen, woher die „gewalttätigen“ Verhaltens- und „Lebensweisen“ kommen, indem wir versuchen, die verschiedenen Bewegungen, die verschiedenen dynamischen Qualitäten zu erfassen und zu verstehen, um schließlich die besonderen Affinitäten und die Vielzahl der Verbindungen herauszustellen. Die Anerkennung dieser „Dynamiken“ und „Verbindungen“, die in ihre „Bezugswelten“ eingewoben sind – welche sich häufig zu „Herrschafsbeziehungen“ verbinden –, führen zum Verzicht auf den Anspruch, dass „Gewalttätige“ meistens „unorganisierte“ Individuen seien, deren „grausame“ und „dystonische“ Taten Ausdruck ihrer Pathologien seien. Die wichtigsten – hier bereits analysierten – Studien hochangesehener Forscher stimmen darin überein, dass, es zwar eine leichte, aber wichtige Verbindung zwischen „Gewalt“ und „Geistesstörung“ gibt, Erstere aber nicht von der Krankheit „geschaffen“ wird, sondern in gewisser Weise eine Eigenheit des Temperaments oder der Persönlichkeit ist und bereits vor der Krankheit existiert und in dieser Verfassung nicht mehr kontrollierbar ist.9 Darüber hinaus betreffen die signifi7
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Sergio Moravia, in L’esistenza ferita (1999, S. 45), erinnert an das faszinierende Paradox, bei dem das „Unsichtbare“ in „verschiedenem Sinne zu existieren scheint, ohne real sichtbar zu sein“. S. dazu Kap. 1. S. dazu Kap. 6, insbesondere Biondi (2005, S. 118).
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kantesten „Gewalt“-Quoten“, die bei geisteskranken Menschen beobachtet wurden, psychotische Patienten nicht mehr, als solche mit „Persönlichkeitsstörungen“ oder solche, die von affektiven Störungen oder organischen Erkrankungen des Gehirns betroffen sind; und in all diesen Fällen spielen solche Faktoren wie Alter, Geschlecht (männlich), Bildungsstand, Drogenmissbrauch und der soziale Hintergrund eine große Rolle bei der Entwicklung hin zu „gewalttätigem Verhalten“. Wir neigen vielmehr dazu, uns die „Gewalttäter“ als solche vorzustellen, die an einem „Jeglichen“ ausgerichtet sind, der sich um eine „PhantomGemeinschaft“ herum organisiert, die „moralische Unterstützung“ für gewalttätige Reaktionen spendet und die wir „Kosmologie der Gewalt“ nennen. FILM: PULP FICTION. „Kosmologien der Gewalt“ im Dialog Jules: „Erinnerst du dich an Antwan Rockamoa, halb schwarz, halb samoanisch... man nannte ihn Tony Rocky Horror?“ Vincent: „Ja, ich glaube schon. Fett, richtig?“ Jules: „Ich würde nicht so weit gehen den Bruder fett zu nennen, der Bursche hat nur ein Gewichtsproblem, was soll der Nigger tun, ist halb Samoaner.“ Vincent: „Ja, ist schon klar, was du meinst. Was ist mit dem?“ Jules: „Naja, Marcellus hat ihn ziemlich durch die Mangel gedreht. Nachdem, was ich gehört hab, ging es um Marcellus Wallace’ neue Frau.“ Vincent: „Na schön, hat er sie gefickt?“ Jules: „Nein, nein, nein, nein, nein, so schlimm nicht.“ Vincent: „Na gut, was dann?“ Jules: „Er hat ihr die Füße massiert.“ Vincent: „Eine Fußmassage?“ Jules: „Mhm.“ Vincent: „Das ist alles?“ Jules: „Mhm.“ Vincent: „Wie hat Marcellus reagiert?“ Jules: „Hat ein paar Schläger zu ihm rübergeschickt, sie haben ihn auf den Balkon geschleift und ihn über die Balustrade geschmissen. Der Nigger fiel vier Stockwerke tief. Unten hatten sie einen kleinen Garten mit Glas überdacht, wie im Gewächshaus, da ist der Nigger reingerauscht. Seit der Geschichte hat er einen kleinen Sprachfehler, er lispelt.“ Vincent:“ Ist ein verdammter Jammer... . Also du musst zugeben, wenn man mit Streichhölzern spielt, verbrennt man sich.“ Jules: „Was meinst du?“
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Siebentes Kapitel Vincent: „Man verpasst Marcellus Wallace’ neuer Braut keine Fußmassage.“ Jules: „Findest du nicht, dass er überreagiert hat?“ Vincent: „Naja, Anton hat wahrscheinlich nicht erwartet, dass Marcellus so reagiert, wie er es getan hat, aber irgendeine Reaktion musste er erwarten.“ Jules: „Es war ‘ne Fußmassage, ‘ne Fußmassage ist nichts, ich massier sogar meiner Mutter die Füße.“ Vincent: „Versteh doch, er ha seine Hände auf vertrauliche Weise an Marcellus neue Frau gelegt. Ich meine, das ist nicht so schlimm, wie ihr die Muschi auszuschlecken, das nicht, aber es ist fast dieselbe Liga.“ Jules: „Hey, mach mal halblang. Ne Pussy auszuschlecken und ‘ner Pussy ne Fußmassage zu geben ist doch noch lange nicht dasselbe.“ [...]. Jules: „Um das klarzustellen, nur weil ich einem Mann nicht die Füße massieren würde, hat Marcellus nicht das Recht Anton von seinem Balkon in einen verdammtes Gewächshaus zu schmeißen und dem Nigger einen verdammten Sprachfehler zu verpassen. So was tut man nicht. Und wenn das Arschloch das mit mir anstellen würde, sollte er dafür sorgen, dass ich im Rollstuhl lande, sonst würde ich den Wixer umbringen.“ Vincent: „Ich sag nicht, dass es richtig ist, aber du sagst ‘ne Fußmassage bedeutet nichts und ich sag ich seh das anders. Ich hab einer Million Ladies eine Million Fußmassagen verpasst und die haben alle was bedeutet. Wir tun zwar so, als wär das nicht der Fall, aber das ist so, das ist ja gerade das geile daran. Du hast eine sinnliche Sache am Kochen, du… du... man redet nicht darüber, aber du weißt es und sie weiß es. Der verdammte Marcellus hat’s gewusst. Und Antwan hätte das verdammt nochmal auch wissen sollen. Ich meine das ist Marcellus’ Frau, Mann, da kannst du keinen Sinn für Humor erwarten. Klar was ich meine?“ Jules: „Ist ein interessanter Punkt.“ [Jules und Vincent sind bereit in ein Apartment einzubrechen, um mit anderen Verbrechern „abzurechnen“.] Jules: „Na komm schon, wir können so langsam loslegen.“
„Jeder ist der Mittelpunkt der Welt, aber eben jeder, und nur weil die Welt von solchen Mittelpunkten voll ist, ist sie kostbar. Das ist der Sinn des Wortes Mensch: jeder ein Mittelpunkt neben unzähligen anderen, die es ebenso sehr sind wie er“ Canetti, 1976, S. 53). Der Sinn der „Erfahrungen“ eines jeden ist immer persönlich: „es ist eine Bejahung des Lebens, eine Form der Sehnsucht und ein Gewebe aus Resonanzen, die nicht nur für mich ‘etwas bedeuten’“ (Jedlowski, 2008, S. 177). Die Menschen sind nicht bloß auf der Welt, sondern haben eine Welt. Dies beschreibt Robert Park mit seiner inneren Sichtweise:
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Die Tatsache, dass jedes Individuum in der Lage ist sich im Raum zu bewegen, garantiert dem Einzelnen eine private, besondere Erfahrung, die er sich im Laufe seines Abenteuers im Raum aneignet und die ihn formt, so dass sie einzigartig und ein Aussichtspunkt für eine unabhängige, individuelle Handlung ist. Es ist die einzigartige individuelle Erfahrung, die Disposition, wie er zu denken und zu handeln, 10 dass ihn zur Person macht (Park, 1952).
FILM: DOGVILLE Grace erkennt einige Geräusche wieder, die sie in ihrer Erinnerung und erfahrungsgemäß mit Unheil verbindet. Allwissende Stimme / Erzähler: „Grace war keine Expertin, was exklusive Automobile anging und doch erkannte sie ohne Schwierigkeiten das Geräusch des Fahrzeugs, das in diesem Augenblick von der Canyon Road um die Ecke gebogen kam. Unglücklicherweise war in Grace’ Gedächtnis das legendäre Schnurren des Cadillacs aus der 3555C-Serie unentwirrbar verknüpft mit einem anderen, eher weniger noblen Geräusch: dem von Gewehrfeuer, das gegen ihre Person gerichtet war.“
Das Verstehen gewaltsamen kriminellen Verhaltens wird demnach nicht dadurch aufgehellt, dass man das Mysterium der menschlichen Seele lüftet (De Greeff, 1949, S. 259); vielmehr sollte man „dieses Jegliche [eachness] jeden Ortes in jedem Augenblick in jeder Sache in seiner Entwicklung als Phänomen erfassen“ (Hillman, 1989, S. 282). Die Gemütszustände und Gefühle, die das alltägliche Leben begleiten – diejenigen, die wir für normal halten –, verändern sich in ihrem Wesen auch vor und während brutaler Gewalttaten nicht. Die Neubestimmung der inneren Landschaft, die als Hintergrund für das Entbrennen aggressiver Dynamiken gilt, ist hingegen durch die Beschleunigung der „inneren Dialoge / der Selbstgespräche“ der Gewalttäter gegeben, die sie dann erfahren, wenn sie die Situation, in die sie hineingeraten, auf dramatische Art interpretieren, indem sie auf ihre inneren Erfahrungen „hören“ und „reagieren“, die dabei sind, sich in der Anwesenheit dieser Geste zu überstürzen.11
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Kursivsetzung von uns. Es ist eher ein „Mythos“ als eine „Theorie“, die Hillman in The Soul’s Code (1997) heraufbeschwört, indem er vom daimon, der „Eichel“ spricht, also dem primären Bild, das uns seit jeher definiert und uns in unserem Leben und bei unseren Entscheidungen leitet. Im Zuge seiner Revision der Psychologie überwindet Hillman die Teilung zwischen Natur und Kultur, zwischen Umwelteinflüssen und genetischer Veranlagung, zwischen Sozialem und Individuellem, um sich einer Definition anzuvertrauen, die, gerade indem sie Begriffe wie „Seele“, „Neigung“ und „Schicksal“ wieder aufnimmt, von der Existenz eines individuellen Bildes spricht, das jeden als Träger einer „Einmaligkeit“ unterscheidet, die gelebt zu werden verlangt und die es bereits gibt, bevor sie gelebt werden kann“ (Hillman, 1997, S. 21). Wir stimmen mit Hillman in dieser Vorstellung von „Einmaligkeit“ überein, dass also das Leben, das wir führen, niemals ein Drehbuch sein wird, das ausschließlich von unserem „genetischen Code, der Verer-
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FALL A: MORD Es war ein Wort, das auch schlimm ist... es kam mir in den Sinn: „Bastard!“ in mir kam es hoch: „Bastard!“ Das ist das einzige Wort, an das ich mich erinnere und das mir eingefallen ist und es hat mir die Kraft gegeben das Messer zu nehmen und zuzustechen... .
FILM: ELEPHANT Eine gewalttätige Begegnung mit der Behauptung der „Herrschaft“ und ein „lautes Selbstgespräch“ von Seiten Erics, bevor er Mister Lewis, den Direktor der Columbine High School, umbringt. Eric: „Tag, Mr. Lewis.“ Mister Lewis: „Eric, was machst du da? Leg das Gewehr weg.“ Eric: „Ich wird’ den Teufel tun, das Gewehr wegzulegen!“ Mr. Lewis: „Leg das Gewehr weg, lass uns darüber reden… Eric.“ Eric: „Halt die Klappe.“
Lautes Selbstgespräch von Eric, an Mr. Lewis gerichtet „... es gibt niemand, der uns helfen kann... du hast nie verstanden, worum es geht ... wichtig waren nur die Top-Schüler, sonst niemand, das ist das Problem, dir ist doch jeder egal... Hast du überhaupt ‘ne Ahnung, was wir für Probleme haben? Nein, du weißt nichts und du hast nichts getan und dafür musst du bestraft werden. Genauso wie du’s immer gemacht hast, ganz einfach.“ Mr. Lewis: „Ich hab doch nichts getan!“ Eric: „Doch, das hast du und dafür sollte ich dich jetzt erschießen, das weißt du... vielleicht lass ich dich am Leben, vielleicht, weil du daraus lernen sollst, für die nächsten Kids, die mit ihren Problemen zu dir kommen und [er dreht sich um und erschießt Benny, ein Schüler, der dabei war, sich zu nähern, von hinten, in einem Zustand des Abgestumpftseins] oh fuck, was soll’s Mr. Lewis, wie auch immer. Du weißt, dass es andere Kids draußen gibt, so wie mich und Gerald [Alex, K.H.] [er tötet ihn, indem er ihn von hinten erschießt]. Pisser... .“
FALL E: MORD Die ganze Nacht lang überlegte ich wie ich ihn verprügeln könnte, denn ich wusste, dass er ein Messer hatte. Als ich seine Zelle betrat, hatte er es schon in der Hand. Aber ich konnte nicht mehr zurück... ich war schließlich schon da. In diesem Umfeld, wenn ich jemanden herausforderte und sagte: „Entweder gibst du mir bung von unseren Vorfahren, traumatischen Vorfällen, unbewussten Verhaltensweisen unserer Eltern, sozialen Vorfällen“ (Hillman, 1996, S. 20–21) geschrieben sein wird. Der Weg, den wir zu Ende zu gehen im Begriffe sind, entwirrt sich jedoch, indem wir anderen Spuren als denen der Vorstellung vom daimon folgen, der dazu zwingt die Unwiderstehlichkeit der „Berufung“ zum Handeln anzuerkennen – und dabei die „reflexive“ und „aktive“ Rolle“ des Individuums bei der Durchführung auch dramatischer Entscheidungen drastisch reduziert.
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morgen Zigaretten oder ich mache dich fertig“ und dann den Schwanz einzog, wäre ich das Gespött des Gefängnisses geworden. Also musst du entweder ein Blutbad anrichten, oder von allen einstecken und dabei auch noch die Klappe halten. Aber so geht das nicht. Deshalb bin ich nicht umgekehrt. Ich habe etwas riskiert und mir gedacht: „Wenn er mich mit dem Messer trifft, war ‘s das mit mir...“, aber trotzdem bin ich das Risiko eingegangen. Ich hatte Glück... und er hatte Pech, der Arme. Aber er hatte es darauf abgesehen, denn wenn du spielst und verloren hast, musst du die Regeln respektieren und mir die Zigaretten geben. Du kannst höchstens sagen: „Ich habe kein Geld“ und ich kann es dir erlassen. Mir reicht dieser Augenblick der Unterwerfung, also dass du anerkennst, dass du verloren hast. Für wen hältst du dich eigentlich? Hättest du zu mir gesagt: „Hör zu... ich habe keine Zigaretten... tut mir leid“, dann hätte ich geantwortet: „Kauf mir einen Kaffee“. Und damit hätte die Sache ein Ende.
Manchmal reicht es nicht, dass der „Andere“ sich mit einem anerkannten Zeichen unterwirft, das für den Gewalttäter bedeutsam ist: FALL F: MORD Außerdem ist es so, dass ich mich auf jeden Fall auspowern muss. Es reicht nicht, dass du dich vor mir erniedrigst und dass du mir die Genugtuung gibst dich verängstigt zu sehen, damit ich beschwichtigt bin... und dann war’s das. So läuft das nicht. Bei solchen Dingen bin ich unersättlich... ich muss dir so lange wehtun, bis ich mich abreagiert habe.
Reflexivität Wie sprechen Männer und Frauen mit sich selbst, was erzählen sie sich, wenn sie sich dazu entschließen so zu handeln wie sie es tun, und beispielsweise Gewalttaten verüben? Um auf diese Fragen zu antworten und den anspruchsvollen Auftrag zu einem Ende zu bringen, müssen erst verschiedene Schritte erläutert werden. Das Incipit bietet uns Fjodor Dostojewskij, wenn er verkündet: Die Vernunft, meine Herren, ist ein gut Ding, das ist nicht zu bestreiten; aber die Vernunft ist nur Vernunft und befriedigt nur die vernunftmäßige Fähigkeit des Menschen; das Wollen aber ist eine Bekundung des gesamten Lebens, das heißt des gesamten menschlichen Lebens […]. Die Vernunft weiß nur, was sie erfahren hat […]; aber die menschliche Natur handelt als ein vollständiges Ganzes, mit allem, was zu ihr gehört, bewusst und unbewusst, und wenn sie auch Unsinn macht, so lebt sie doch (Dostojewskij, 1864, S. 43).
FALL A. MORD Ich wurde vom Sachverständigen als urteilsfähig erklärt, als „intelligenter Mensch“. Ich habe mich gefragt, wie ein „intelligenter Mensch“ auf die Idee kommen konnte, so etwas zu tun. Das ist doch ein Widerspruch in sich... .
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Es ist grundsätzlich so, dass die Welten, in denen Männer und Frauen sich bewegen, die vorgefallenen Ereignisse, die bedeutsamen Personen, denen sie begegnet sind und die sichtbare „Spuren“ auf ihren Körpern und in ihren Inneren – gleichsam als dauerhafte „Beweise“ ihres Lebensweges – hinterlassen haben, ihre Geschichte erzählen und Gehör und Anerkennung fordern. Wir alle erzählen uns ständig etwas. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen zusammen zu einer „inneren Konversation“.12 Und wenn wir mit uns selbst sprechen, versuchen wir, Ordnung und System in das Pluriversum aus Stimmen, Bildern und Vorstellungen zu bringen – manche sind vor langer Zeit beiseitegelegt und archiviert worden – die erfasst, befolgt und denen manchmal auch streng gehorcht werden muss. „Kosmologie“ ist also auch das Konstrukt aus einer Erzählung, die hauptsächlich uns gewidmet ist: das Handeln, das den Gegensatz dazu darstellt, klingt mit und ist in den Wörtern, die diese „Begegnungen“ erzählen und ihnen einen Sinn verleihen „gefangen“.13 „Kein Mensch ist [eben] eine zufällige Kombination aus Teilen, sondern ein organisiertes System aus Bedeutungen. Dadurch, dass die Bedeutungen dazu neigen, sich selbst zu erhalten, versucht jeder Mensch ständig sich in bestimmte Richtungen zu bewegen“ (Shibutani, 1961, S. 285). Doch wer filtert die Befehle, wer hat das Kommando in jenem Regieraum, der ein destruktives Handeln lenkt? Die fortgeschrittene Sichtweise von Athens enthält unzählige Anhaltspunkte, welche die Überzeugung vermitteln, dass die innere Aufarbeitung dieser Handlungen durch den symbolischen Prozess bewusst wird, mit dem der 12
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„Außerdem, da der innere Dialog selbstreflexiv ist, können seine Referenz zu der Vergangenheit und der Zukunft auch nicht konstant sein. […] Innere Konversationen sind andauernde Prozesse. Sie finden immer im Präsens statt, welches aber natürlich in einer spezifischen historischen Zeit situiert ist und vergeht“ (Archer, 2003, S. 113). „Auch der Bericht über eine „Handlung“ [account] „[…] ist keine bloße Rekonstruktion; er ist integraler Bestandteil der Handlung, der sie kontextuell bestimmt und konstruiert, indem er Zeit und Ort ihres Ablaufs mit einer bedeutenden und besonderen […] Fähigkeit zur Interaktion mit Zeit und Ort, die ihr vorausgegangen sind und denen, die sie ablösen werden, versieht. Letztere haben die Aufgabe, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alles dieses im Geist des Handelnden und, durch ihn vermittelt, bei denen seinen Ausdruck findet, welche die Handlung „befragen“ möchten, um ihren Sinn zu begreifen: in einer sequentiellen Perspektive, die in der Lage ist, verschiedene Gründe und Erklärungen für die verschiedenen Phasen zu ‘akzeptieren’, durch die sich das Kontinuum der Handlung windet (ihre Durchführung, das, was ihr vorausgeht, und das, was ihr folgt)“. „Beim Handeln kommuniziert der Mensch mit sich selbst, indem er seinem Selbst neue Bilder und neue Verhandlungen sendet, durch die es das eigene soziale Sein dauernd überwacht. […] Mit der Handlung „hinterlegt“ der Mensch Indikatoren seines Selbst, seiner Geschichte, seines Beziehungs- und Interaktionsstils“ (De Leo / Patrizi / De Gregorio, 2004, S. 14 und S. 49).
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Handelnde sich selbst darauf hinweist (self-indication) und einschätzt – wie kurz und „fehlbar“ auch immer –, „ob und wie gewisse Elemente, Überzeugungen, Ideen, Wünsche oder Sachverhalte mit ihm zu tun haben und wie es zu ihnen steht“ und was in einer bestimmten Situation gedacht und getan werden soll (Archer, 2003, S. 25). Der innere Dialog –, der nicht psychologischer, sondern relationaler Natur ist14 – verleiht den eigenen Taten einen Sinn. FALL A: MORD Nachdem ich ihn getroffen hatte... hörte ich einen Transvestiten im Dialekt schreien: „Er hat ihn getötet! Er hat ihn getötet!“ – und ich sagte zu ihm: „Verschwinde ! Verschwinde ! Du hast nichts damit zu tun... und ich habe kein Problem mit dir, bevor ich noch etwas Komisches mache...“. Denn ich hatte plötzlich wieder angefangen zu überlegen... . Nachdem ich ihm zum Glück gesagt hatte, dass er verschwinden soll, und er schon gegangen war, sagte ich mir: „Verdammt! Ich hätte ihn auch töten sollen, dann hätte es keine Zeugen gegeben“. Dann habe ich kurz stillgehalten, mein Verstand hat richtig innegehalten... ich habe alles angehalten und gesagt: „Verdammt, ich habe ihn umgebracht!“ in mir: „Ich habe ihn umgebracht!“ Ich hatte das Messer in der Hand und hielt es mit zwei Fingern, als ob ich es ein Objekt wäre, das ich zurückstellen wollte, wie einen kostbaren Gegenstand ... .Ich habe mich umgesehen und gesagt: „Das war’s!“ Ich bin mit dem Messer in der Hand zur Polizei gegangen und hielt es dabei mit zwei Fingern. Ich habe die Situation falsch interpretiert… und folglich habe ich noch falscher reagiert, mit eben einer noch größeren Ladung Gewalt, Wut... und Angst... und bei klarem Verstand, nüchtern, wie ich es heute bin, hätte er mir nicht verboten zu gehen, wenn ich einfach mein Koks zurückgenommen hätte.
Der innere Dialog kann sich auch als ein „Erwachen“ darstellen, wie „eine intermittierende Rückkehr des Subjekts zu dem in seiner Erinnerung aufbewahrten Material, das es schafft, dessen Züge zu entziffern. Dieses Erwachen ist keine endgültige „Enthüllung“, sondern Teil eines Prozesses der Aufarbeitung und Neuorientierung, die das Subjekt bezüglich seines Lebens erreichen kann, indem seine Hinterlassenschaften neu überarbeitet werden“.15 FILM: DOGVILLE Grace kommt im Verlauf eines komplexen und bedeutungsvollen „Selbstge14
15
„Die ‘innere Konversation’ kann eher als eine ‘neu entstehende persönliche Eigenschaft’ definiert werden, anstatt als eine psychologische ‘Fähigkeit’ der Individuen, die auf eine inhärente Disposition hinweisen würde. In anderen Worten ist die innere Konversation eine relationale Eigenschaft und die betreffenden Relationen bestehen zwischen dem Verstand und der Welt“ (Archer, 2003, S. 46). „Es ist eine doppelte Bewegung: die Vergangenheit erhält sich, doch die Gegenwart enthüllt ihre Bedeutung. Hier ist die Erfahrung ein kreisförmiger Prozess: Das Fortdauern dessen, was war, aber auch die Rückkehr zu dem in einem Bewusstsein, das mit dem ganzen Wissen um das, was darauf gefolgt ist, beladen ist“ (Jedlowski, 2008, S. 145–146).
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sprächs“, das durch eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater ausgelöst wurde, in Kontakt mit Gedanken, die ihr vertraut sind, denen sie aber seit langer Zeit aus dem Weg ging, und findet eine Antwort auf die Frage, ob es richtig ist oder nicht, die Bewohner Dogvilles mit Gewalt dafür zu bestrafen, dass sie sie erniedrigt und unterdrückt haben. Allwissende Stimme: „Grace sah all die verängstigten Gesichter hinter den Fensterscheiben. Die Augen, die jedem einzelnen ihrer Schritte folgten und schämte sich dafür, dass sie diese Angst mitverursachte. Wie konnte sie sie jemals hassen für etwas, das im Grunde lediglich Schwäche war? Sie selbst hätte wahrscheinlich Dinge getan, wie die, die ihr selbst zugefügt worden waren, hätte sie in einem dieser Häuser gelebt. Wenn sie ihren eigenen Maßstab anlegte, wie ihr Vater das ausdrückte. Hätte sie nicht, wenn sie ganz ehrlich war, das gleiche getan, wie all diese Leute in ihren Häusern? Grace hielt inne und währenddessen zerstoben sich die Wolken und das Mondlicht zeigte sich. Und Dogville machte wieder eine dieser kleinen Lichtveränderungen durch. Es war so, als ob das Licht zuvor barmherzig und schwach, sich plötzlich weigerte die Stadt noch länger zu schützen. Plötzlich konnte man sich keine Beere mehr vorstellen, die eines Tages an einem Stachelbeerstrauch hängen würde, man sah nur in aller Deutlichkeit die Dornen. Das Licht drang jetzt in alle Unebenmäßigkeiten und Makel an den Gebäuden und an den Menschen. Und mit einem Mal kannte sie die Antwort auf ihre Frage nur allzu gut. Hätte sie selbst so gehandelt wie die Menschen hier, nicht eine einzige ihrer Taten hätte sie verteidigen können und nicht streng genug verurteilen. Es war so, als hätten ihr Kummer und ihr Schmerz endlich den ihnen rechtmäßig zustehenden Platz eingenommen. Nein, was sie getan hatten, war nicht gut genug. Und wer die Macht besaß dies richtigzustellen, hatte auch die Pflicht es zu tun, um anderer Städte Willen, um der Menschheit Willen und nicht zuletzt auch um des Menschen Willen, der Grace selbst war.“
Der Mensch ist ein von ihm selbst erschaffener „Kosmos“, ein „Kosmos“, der Sinn produziert und die „reflexiven Beratungen“ sind „Aktivitäten“, derer sich der Handelnde größtenteils bewusst ist16 und an denen auch Beurteilungen, Meinungen, Schiedssprüche, die Warnungen der verinnerlichten „bedeutsamen
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Siehe Archer, die präzisiert (2003, S. 86–87): „Diese Perspektive unterscheidet sich also stark von einer solchen, die, wie die Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice), dazu tendiert, die verschiedenen Wünsche und Überzeugungen des Handelnden einander gegenüberzustellen, bis sie – durch das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den einen und anderen – eine Ordnung ihrer individuellen Präferenzen erhält. Würden die Dinge so liegen, bemerkt Shoemaker (1996, S. 28), wäre es für denjenigen, der entscheiden muss, fast überflüssig, die verschiedenen Gedanken und Ambitionen, die im Spiele sind, zu kennen: Es würde ihm reichen, sie zu begünstigen und am Rande des Schlachtfelds auf den Ausgang des unabwendbaren Konflikts zu warten, in dem sie sich gegenüberstehen. Ein derartiges Modell erscheint allerdings zwangsläufig unrealistisch: Sei es, weil es die Rolle des Menschen als bewusst Handelnden übersieht, sei es, weil es den Beschluss als einen Prozess ansieht, dem das Individuum unterworfen ist, statt als bewusstes Handeln, um das es sich freiwillig kümmert“.
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Anderen“ teilhaben, die vorschlagen / bestimmen, wie all dies in (Gewalt) Handlungen zu übersetzen ist. Bei dieser Darstellung von Erfahrung ist der entscheidende Punkt die Vorstellung eines Kontaktes zwischen dem Menschen mit sich selbst, der sich plötzlich herstellt und ihm erlaubt, wenn sie ausgearbeitet ist, der Handlung eine Richtung zu geben. Bei diesem Kontakt handelt es sich nicht um eine „Reflexion“ im eigentlichen Sinne; es ist ein „Hören“ des eigenen Vorhandenseins (Jedlowski, 2008, S. 11).
Die von uns vorgetragene epistemisch-methodische Sichtweise zur Untersuchung der „reflexiven“ Prozesse der „Gewalttäter“ verdrängt nicht die vom „Unbewussten“ eingenommene Rolle. Als „vollständige psychische Individuen“ stehen wir – in der Tat – in Kontakt mit dem „Unbewussten“ (Barone, 2004, S. 68),17 das sich in einem reflexiven Prozess manifestiert, indem es sich zwischen die bewussten Gedankengänge platziert.18 Die Beziehung zwischen „Unbewusstem“ und „Bewusstem“ impliziert eine wechselseitige Voraussetzung, eine reziproke Unableitbarkeit – also keine genetische Beziehung. Weder schafft das Unbewusste ein Bewusstes, noch reproduziert das Bewusste ein Unbewusstes: Die Annahme ihrer Co-Originalität führt dazu, dass, egal in welcher seelischen Breite sich jemand bewegt, man immer einen unüberwindbaren Zwischenraum einnimmt, den einzigen „lebendigen“ Ort, der sich mit der Psyche selbst deckt (das Unbewusste „an sich“ oder das Bewusstsein „an sich“ sind reine Abstraktionen, denn die Merkmale werden isoliert dem Verlauf und der Erscheinungsform entnommen) (Barone, 2004, S. 97).
Auch die fortschrittlichsten Vorschläge der Kognitionspsychologie überbieten die genialen Intuitionen Dostojewskijs und bestätigen die gerade umrissenen Lesarten: 17
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Napolitani wiederum schreibt (1987, S. 35–36), dass das Unbewusste „Realität ist, die sich aus Unwissenheit jenseits des Wissen ihren Platz hat, vielleicht wegen jenes besonderen Typus von aktiver Unwissenheit, die man ‘Verdrängung’ nennt, doch es reicht eine relativ kleine Anstrengung, um das, was jenseits der Grenzen des eigenen Bewusstseins erscheint, ins Diesseits zu bringen und auf denselben Boden zu verpflanzen, wo die üblichen und gewöhnlichen Begegnungen der empirischen Erfahrungen mit den Arten der Rationalität stattfinden. […]. [Doch] wenn man einen authentischen Kontakt zum Unbewussten herstellt […], so geschieht dies im Raum und in den Arten des Erlebnisses, der ‘erlebten Erfahrung’, die selbst ein ‘warmes Wasser’ staunenswert erscheinen lässt, da es in ganz einzigartiger Weise die gewohnten Verbindungen mit sich selbst und der Welt verändert“. „Indem ich betone, dass unser inneren Gedanken eine Frage der bewussten Wahrnehmung sind, schließe ich keine Dinge aus, denen wir uns mit Hilfe von Selbstbetrachtung bewusst werden können, doch natürlich schließe ich nicht diejenigen mit ein, denen wir uns nicht bewusst sind“ (Archer, 2003, S. 25).
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Siebentes Kapitel Es ist nicht so sehr das Bewusstsein, welches wertvoll ist, oder das Unbewusste, das so effizient ist: ganz im Gegenteil ist es gerade die Interaktion dieser beiden Strukturen mit solch verschiedenen Eigenschaften, welche die mentalen Prozesse im Menschen so stark machen. Jeder Vergleich zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, bei dem oft Gegensätze wie rational / irrational, Erwachsener / Kind, zivilisiert / natürlich, gut / böse (oder umgekehrt) aufgestellt werden, verliert den Hauptpunkt aus den Augen, nämlich, dass die beiden Strukturen sich wechselseitig stärken. […]. [Somit] macht die Synergie zwischen Bewusstsein und Unbewusstem aus uns, was wir sind (Tirassa / Bara, 1998, S. 143–144).
Das Problem wird nicht mehr länger darin liegen, zu verstehen, wie die „emotionalen“, „instinktiven“, „unbewussten Sphären“ sich auf das „Bewusstsein“ und die „Vernunft“ auswirken, sondern zu verstehen, dass Letztere bei ihren Prozessen der Erkenntnis und Organisation der „Welt“ auf wenig sicherem und kaum bekanntem Terrain gründen.19 Wenn sich das Feld des Wissens theoretisch unendlich ausdehnen kann, so findet es seine Grenzen doch immer im Bereich des Unbekannten (Barone, 2004, S. 129). „Es ist [faktisch] unmöglich, […]gegenüber dem reflexiv zu sein, was im Unbewussten oder Unbekannten 19
Was das Verhältnis von „Bewusstem“ und „Unbewusstem“ angeht, ist nach wie vor einer der anerkanntesten Standpunkte der von John Searle (2004), der zur Erklärung dafür, wie die mentalen Phänomene – Bewusstsein, Vorsätzlichkeit, mentale Kausalität und all die anderen Aspekte unseres mentalen Lebens – sich mit dem Rest des Universums verständigen, die Meinung vertreten hat, dass wir dadurch, dass wir uns so sehr „daran gewöhnt [haben], über das Unbewußte zu reden, […], dass wir vergessen haben, wie rätselhaft die Idee des Unbewußten in Wirklichkeit ist“ (Searle, 2004, S. 249). Wie der Autor bemerkt, existierte für Descartes eine „Verbindung“ zwischen „Gedanken“ und „Bewusstsein“, die als Synonyme galten. Ein Problem, das aus der Entdeckung des Unbewussten entstand, betraf die Definition eines „nicht bewussten“ „Gemütszustands“. Searle ist der Meinung, dass auch die scharfsinnigsten Autoren (Freud eingeschlossen) diese Frage vom Tisch geräumt haben, indem er behauptet, dass Letzterer „genau wie ein bewusster mentaler Zustand [ist], nur ohne das Bewusstsein“ (Searle, 2004, S. 250). „[…] er [Freud] – schreibt Searle – drückt sich so aus: alle Geisteszustände seien ‘an sich unbewußt’. Sie zum Bewusstsein zu bringen, das sei einfach so, wie einen Gegenstand wahrzunehmen“ (Searle, 1992, S. 189). In einem Interview, das er Eddy Carli (il Manifesto, 25 Oktober 2000) gegeben hat, betonte er: „Ich verstehe nicht, wie es möglich ist die Theorie des Unbewussten von Freud mit den neuesten Erkenntnissen über die Funktionsweise des Gehirns unter einen Hut zu bringen, noch mit einer Theorie des Bewusstseins, die ich unterstütze, laut der das Bewusstsein und die neurophysiologischen Prozesse die gesamte Gehirnaktivität erschöpfen. Ich denke, dass das Unbewusste in Verbindung mit dem Bewusstsein existiert und nicht ‘an sich’, wie Freud es behauptet“. Als Antwort auf Freud hat Searle also behauptet, dass während das Vorbewusste keine schwierige Kategorie ist – was auch Descartes akzeptiert hätte – sieht es für die verdrängten Gedanken komplizierter aus und sie erreichen ihren Zenit, wenn man von einem „tiefen Unbewussten“ spricht. In Bezug auf ihn würde es keine „mentalen Zustände“ geben, denn „insoweit der mentale Zustand noch nicht einmal etwas ist, was zum Gehalt eines bewussten Zustands werden könnte, ist er kein echter mentaler Zustand“ (Searle, 2004, S. 257). Searle nennt diese Regel „Verbindungsprinzip“.
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seinen Ort hat“ (Archer, 2003, S. 39), denn seine gesamte „Arbeit“, solange es eine solche bleibt, liegt außerhalb unsere Kontrolle und kann nicht Gegenstand von Reflexionen und Bewertungen sein: Es kommt, kurz gesagt, an der Schwelle des „Selbstgesprächs“ zum Stillstand. Das „Unbewusste“, seine metaphorischen Orte (wie beispielsweise das ÜberIch), die Kräfte und Energien, die es laut der Systematisierung und Topik, die Freud und seine Erben erarbeitet haben, in Bewegung versetzen, werden hier allerdings nicht in Frage gestellt: der Fokus liegt auf der „Reflexivität“ und ihrer „inneren Konversation“ / dem „Selbstgespräch“, die, obwohl sie in geschichtete Ebenen der „Opazität“ eingewoben werden, dafür sorgen, dass der Handelnde sich größtenteils seiner „inneren Welt“ bewusst wird, die in der Lage ist, seinen „lebendigen Körper“ zu erforschen, seine Gefühle anzuerkennen und dem eigenen Handeln eine Form verleihen. So kann es vorkommen, dass Menschen in Gemütszustände geraten, in denen die besonders grausamen Aspekte ihrer Person, ihre alte Wut, freigesetzt werden, und sie grausame Straftaten begehen, ohne sich dabei in einer Psychose zu verlieren, den Kontakt zu sich selbst, zum eigenen Körper, zur Realität zu verlieren, da sie im Verlauf der Befragungen und der Begutachtungen ein klares Bewusstsein bezeugt haben, das in der Lage ist, auf schlüssige Art und Weise sich an das Geschehene zu erinnern und es einzuordnen: FALL Z: MORD Erzählung eines begutachteten Falls, in dem eine beschränkte Zurechnungsfähigkeit des Täters festgestellt wurde. Ich erinnere mich ganz genau an diesen Abend … dass ich ziemlich unruhig war, im Sinne, dass in dem Augenblick, als X auf das Schlafzimmer zusteuerte, ich mich genau erinnere, dass X mich aufgefordert hat schlafen zu gehen, aber ich war so unruhig... ich habe beispielsweise die Katze gesucht, ich fand die Katze einfach nicht, ich erinnere mich daran noch genau. Ich erinnere mich an ein Gefühl der… der Panik, die mich ergriff, so... so ein Gefühl des Erstickens, aber nicht im übertragenen Sinn... ein richtiges Gefühl des körperlichen Erstickens... ein Gefühl der Bedrohung, einer richtigen Bedrohung, als ob X gerade versuchen würde mich irgendwie umzubringen, indem er mir den Atem nimmt. Das war das, was mich angetrieben hat... Das ist eine der Erinnerungen... der stärksten Erinnerungen, die ich an diesen Abend habe, ganz klar. Ich erinnere mich daran, sie angegriffen zu haben, sie als erstes angegriffen zu haben, ohne dass vorher irgendetwas vorgefallen war. Ich erinnere mich, dass ich mich am Körper von X vergangen habe. Ich erinnere mich genau daran. Jedenfalls ist mir die Erinnerung an dieses... Wüten, dieses Schlagen... noch richtig präsent. Als ich mich dann auf der Straße befand [ungefähr eine Stunde nach dem Mord] erinnerte ich mich noch ganz genau, dass ich außer mir, richtig außer mir war.
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Siebentes Kapitel Daran erinnere ich mich. Ich sagte völlig sinnlose Sätze, ich schrie und sagte Dinge ohne Sinn.
Natürlich greift der Erzähler bei seiner persönlichen Rekonstruktion des Vorgefallenen auch auf „Rationalisierungen“ zurück, die eine authentische Verbindung zum Erlebnis verhindern: „Erzählungen können […] als Zusammenfassungen verstanden werden, in denen die sozial Handelnden die eigenen Handlungen „eindeutig, rational und erzählbar“ machen, doch gleichzeitig handelt es sich um reflexive Praktiken, da sie tief in den Handlungsabläufen der Personen verwurzelt sind“ (Poggio, 2004, S. 24).20 FALL Z: MORD Erzählung eines begutachteten Falls, in dem eine beschränkte Zurechnungsfähigkeit des Täters festgestellt wurde. Ich weiß bei den Erklärungen, die ich mir dafür gegeben habe nicht, ob sie richtig oder falsch sind, es sind Erklärungen, die mir in dem Augenblick... die mir in dem Augenblick ganz gut passen, ich kann sie aber nicht beurteilen. In dem Augenblick, in dem sie sich mir angepasst haben, habe ich sie irgendwie zu meinen gemacht. Eine der Erklärungen ist, dass es mir sicherlich nicht... nicht gut geht, es gibt sonst keine Erklärungen dafür, dass... . Offensichtlich war hier nichts geplant oder vorher bedacht, sonst... sonst hätte ich nicht diese Ängste, oder ich würde nicht ständig diesen Schmerz spüren. Es gibt keinen Grund, offensichtlich kann es nur psychiatrische Erklärungen dafür geben, für das, was mir passiert ist, für diese Sache... wie ich mich in dem Augenblick gefühlt habe... ich bin nicht in der Lage... Erklärungen zu liefern... ich bin ja kein Arzt, ich bin mir nur sicher, dass ich nicht in meinem Normalzustand war, weil ich eigentlich ein Mensch bin, der jede Art von Gewalt hasst, also... . Ich glaube nicht wirklich eine Antwort zu haben, sondern dass ich einfach außer mir war. Ich glaube, dass es keine rationale Erklärung gibt, eine Antwort, die rational auf das zurückführbar ist, was in diesem Augenblick geschehen ist. Ich glaube, dass sie wirklich nicht vorhanden ist. Das ist meine Antwort.
Aus all diesen Beobachtungen wird ersichtlich, dass sich niemand durch Gespräch auf die Art selbst definieren kann, die einem am wesensverwandtesten ist. Die Frage geht über das Problem des „Unbewussten“ hinaus. Wir sind Schöpfer von uns selbst und unserer Geschichte innerhalb eines Flusses von Ereignissen und Umständen, die uns widerfahren und die wir selbst nicht
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Die „Erzählung“ von sich selbst und seiner eigenen Welt ist dennoch eine kognitive Praxis, die einem erlaubt, Ordnung in der symbolischen Realität zu schaffen, von der wir ein Teil sind, innerhalb eines unendlichen Netzes aus sozialen Beziehungen, in das wir hereingeraten und in dem wir uns auf einzigartige Weise und nicht völlig vorhersehbar bewegen (Bruner, 1986).
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gänzlich aussuchen und kontrollieren können.21 Hier kehrt noch einmal, deutlicher als vielleicht vorher22 der Begriff des body-mind complex von Dewey zurück: Wir sind intelligente, kreative Maschinen, die in der Lage sind, sich selbst zu regulieren, indem sie aus einem begrenzten Register mögliche Antworten wiederholen. Gerald Myers (1986) spricht von der besonderen Neigung des „body-mind complex“, auf die Fragen zu antworten, die wir uns selbst stellen und die im Wege der Begegnung mit der Außenwelt auftauchen. Die Kenntnis von sich, auf die man zugreifen kann, ist das Ergebnis eines Prozesses, der von „reflexiven Verhandlungen“ mit anderen sozial Handelnden in situativen Kontexten lebt, die ebenfalls im Sinne von „Herrschaft“ strukturiert sind.23 Um die Bedeutung zu verstehen, die der „Gewalttäter“ seinem Handeln zuschreibt, muss man dem Sinn seiner Worte maximale Aufmerksamkeit schenken und sich in ihn / sie, als einzige entscheidende Quelle um seine Kosmologie (der Gewalt) zu rekonstruieren, hineinversetzen: im Wesentlichen wendet man sich an die Anderen, um in ihre Welt zu treten und tut dies, indem man die Grenzen des eigenen Ich überschreitet. FILM: DOGVILLE Vorstellung Toms, des Intellektuellen / Schriftstellers von Dogville, der, der sich um Grace kümmert. 21
22 23
Archer (2003, S. 104) schreibt genau, dass „es völlig falsch wäre uns als „diskursives Selbst“ (Harré / Gillett, 1994) zu sehen, so wie der Sozialkonstruktivismus es gerne hätte, denn wir besitzen nicht die Freiheit uns, wie wir möchten, diskursiv selbst zu definieren. Wir schaffen uns selbst und unsere Geschichte, doch können wir uns Zeit und Umstände nicht aussuchen.“ Hartcourt (2006, S. 125) schreibt: „[Jeder von uns] ist in einen stark symbolischen Kontext eingeschrieben, der bereits eigene Struktur, Muster und Verbindungen hat. Als Einzelner kontrolliert er nicht die Bedeutung seiner Handlung. Er kann nicht die Modalitäten kontrollieren, mit denen die anderen Mitglieder seines sozialen Umfelds seine Handlungen interpretieren und auf sie reagieren werden“. Anders gesagt müssen wir immer die Antwort der Anderen abwarten, um unserem Handeln einen Sinn zu verleihen. S. dazu Kap. 5. Zimbardo schreibt (2007, S. 610 und S. 269): „Das menschliche Verhalten unterliegt stets den situationsbezogenen Kräften. Dieser Kontext ist Teil eines viel weiteren, makrokosmischen und tritt oft in Form eines bestimmten Machtsystems auf, das dafür konzipiert wurde, sich selbst zu beschützen und zu erhalten“. „Das System schließt die Situation mit ein, ist jedoch beständiger, weiter verbreitet, schließt weite Personenkreise mit ein, ihre Erwartungen, ihre Normen, ihre Methoden und vielleicht auch ihre Gesetze. Mit der Zeit erlangen die Systeme eine historische Bedeutung und manchmal auch eine politische und wirtschaftliche Machtstruktur, die das Verhalten vieler Menschen steuert, die in ihren Einflussbereich geraten. Diese Systeme sind Maschinen, die Situationen funktionieren lassen, die situative Kontexte bilden, die das menschliche Handeln derjenigen beeinflussen, die unter ihrer Kontrolle stehen“.
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Siebentes Kapitel Allwissende Stimme / Erzähler: „Und fand es einer schwer zu begreifen, welcher Tätigkeit Tom wirklich nachging, erwiderte er nur knapp: „Bergbau“, denn obwohl er seinen Weg nicht durch Felsgestein sprengte, sprengte er sich durch etwas Härteres, die menschliche Seele nämlich, bis dort hinein, wo’s glitzerte...“.
Unser fachkundiges Anhören dieser Erzählungen findet dort sein Ende, wo der Gedanke des Gesprächspartners zum „Wahn“ wird und Ausschnitte historischer Wahrheit enthält, welche, da sie noch zu sehr mit dem verinnerlichten kollektiven Ursprung vermengt sind, nicht in das reflexive Wissen des Erzählers eingefügt werden können.24
Phantom-Gemeinschaft und Umgebung Wie man sich erinnern wird, bezeichnet „Phantom-Gemeinschaft“ jenes innere Parlament, das dem Großteil unserer „Selbstgespräche“ Ausdruck verleiht, einem Raum, der mit bewusster Anwesenheit überfüllt ist – und nicht bloß mit Gedächtnisspuren – in dem stets Meinungsdifferenzen zwischen seinen zahlreichen Gesprächspartnern aufkommen können. FALL G: SEXUELLE GEWALT UND MORD Ich weiß nicht einmal mehr, wieso ich das Messer gezogen habe, nur, dass kurz danach die Dinge schiefgelaufen sind... sie haben sich sofort überstürzt... es gibt wenig Zeit, Bruchteile von Sekunden, die Zeit läuft dir davon… du hast weder Zeit zu denken, noch zu überlegen, noch zu sagen: „Wieso eigentlich? Was mach ich da gerade?“ Es war so, als ob ich nicht anwesend gewesen wäre... . An einem gewissen Punkt war es aber so, als ob ich eine Stimme hören würde, die mich aufforderte aufzuhören, aber da war auch eine andere, die mir sagte, dass ich den Schaden nun schon angerichtet hatte, ich nicht mehr stoppen konnte und es nun kein Zurück mehr gab. Es war meine innere Stimme, die mir sagte: „Halt! Halt! Was machst du da?“ während eine andere Stimme zu mir sagte: „Jetzt hast du’s schon getan: Du kannst hier nicht einfach aufhören“. Die letzte Stimme war auch meine, aber böser. Die bösere Stimme riet mir, dass ich nicht aufhören, sondern sie umbringen sollte. „Mach sie kalt!“ drängte sie. Diese Stimme hatte sich sofort der anderen Stimme übergeordnet, die mir riet: „Halt! Was machst du da?“ oder auch „Lauf weg!“ Die anderen Dinge sind weiter innen „eingeschlossen“ und sind Dinge, die nicht zum Vorschein kommen... .
Diese „innere Konversation“ geht der „Situationsinterpretation“, der Definition des „Selbstbildes“, voraus und unterstützt sie, und bietet Ratschläge an, indem sie auffordert, Stellung zu nehmen, zu handeln oder davon abzusehen. Sie kommuniziert nicht, da sie sich bloß auf die Unmittelbarkeit eines Kontextes bezieht, sondern verweist auch auf etwas tiefer Verwurzeltes – auf das ununterbrochene Selbstgefühl, das im Inneren neuronaler Netze operiert, die ver24
S. auch Napolitani (1987, S. 74), der diese Gedanken mit direktem Bezug auf Freud formuliert.
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wendet wurden, um die „fremden Verhaltensweisen“ im Laufe der Zeit annehmen zu können und die „moralischen Überlegungen“, „moralischen Maximen“ und die Anweisungen, die Handlung vorzunehmen, zu filtern. FALL E: MORD Mich störte dieses Verhalten [des zukünftigen Opfers], also die Tatsache, dass er grundlos etwas Schlimmes tat. Das unterstütze ich nicht, wenn jemand ohne Grund jemandem etwas tut... . Es stört mich mit anzusehen wie jemand einen Schwächeren ausnutzt. Das ist einfach so bei mir... ich mache daraus keine Frage von Tod oder Leben, aber wenn jemand einen Schwächeren ausnutzt, stört es mich, und wenn ich kann, mische ich mich ein, auch wenn ich eigentlich nichts mit der Sache zu tun habe. Als erstes sage ich dann: „Hey, entschuldige mal, lass ihn doch einfach gehen“. Ich habe keine logische Erklärung dafür... das heißt die Logik ist: „Entschuldige mal, wieso nutzt du die Schwachen aus? Leg dich mit Leuten in deiner Liga an und dann sehen wir mal, ob du dann noch einen auf Gangster machst!“ Nein, du legst dich nicht mit einem an, der sowieso nur einsteckt. Richtig? Ich mache daraus keinen Wettkampf, keine Rache, um zu messen, ob ich stärker bin... . Es stört mich einfach.
Die „Einschätzung“ wird in einer spezifischen Situation, die sich um den Punkt herum koagulieren wird, an dem die Antwort auf die dringende Frage „Was beabsichtigen wir zu tun?“ aufkommt FILM: DEPARTED. UNTER FEINDEN Frank Costello, der irische boss spricht auf provokante Art mit Billy Costigan, der sich fragt und dies auch kommuniziert, was er tun könnte, falls er unter Druck gesetzt würde. Frank: „Früher hätte ich sie in so einer Situation... alle umgebracht... jeden, der für mich arbeitet.“ Billy: „Ja, wissen Sie, Frank, wenn ich mir Ihre ganzen Jungs hier ansehen... ich meine das sind doch alles Mörder, oder? Ist doch richtig? Und dann denke ich, würde ich auch einen Mord begehen? Und die einzige Antwort darauf ist: Wo ist der Unterschied?“ Frank: „Überlass das dem Allmächtigen.“ Billy: „Ja, genau darauf wollte ich hinaus. Wissen Sie, Sie beschuldigen mich und ich nehm’s erst mal hin. Beschuldigen Sie mich noch mal, steig ich aus. Bringen Sie mich soweit um mein Leben zu fürchtenund jage ich Ihnen eine verdammte Kugel in den Schädel, als ob Sie irgend so ein verdammtes Arschloch wären, ok?“
Jonathan Haidt und Fredrik Bjorklund (2006) lehren, dass, falls es wahr ist, was die aktuellsten und anerkanntesten Studien im Bereich der moralischen Psychologie und der kognitiven Neurowissenschaften zeigen, dass nämlich die „moralische Beurteilung“ im Allgemeinen das Ergebnis automatischer Prozesse ist, ein „intuitiver Geistesblitz“, basierend auf Emotionen und auf die Affektivität, und dass die „moralische Beurteilung“ ein komplexer (nicht
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automatischer) Prozess ist, der normaler Weise ex post – also nachdem eine „moralische Beurteilung“ sich vollzogen hat – vollzogen wird, es doch ebenfalls wahr ist, dass ein Großteil dieser „Überlegungen“ durch „Intuitionen“ in Gang gebracht wird, die aus der Annahme fremder Verhaltensweisen hervorgehen (Role-Taking) und die den anfänglichen intuitiven Beurteilungen widersprechen können.25 Das Endergebnis dieses Prozesses wird hauptsächlich aus einer „Überlegung“ bestehen, die angeführt wird, um die beste Option herauszufinden und sie zu realisieren. Haidt und Bjorklund einigen sich darauf, dass dieser Weg sich vollzieht, indem einem „inneren Dialog“ gefolgt wird, etwas, das sehr nah an die „Konversation mit uns selbst“ kommt, die Athens „Selbstgespräch“ nennt.26 FILM: PULP FICTION Vincent Vega, ein krimineller Gewalttäter, hat Mia, die Frau seines „Chefs“ nach Hause begleitet, nachdem sie den Abend zusammen in einem Lokal verbracht haben. Vincent berät sich mit sich selbst vor dem Spiegel in Mias Badezimmer und versucht die Anziehung, die er für sie spürt, zu unterdrücken, indem er sich zwingt, sich loyal zu verhalten. Vincent: „Einen Drink, das ist alles. Sei nicht unhöflich. Trink diesen Drink, aber tu es schnell. Sag gute Nacht und dann nichts wie weg... Verstehst du, das ist so eine Art moralischer Test für dich selbst... . Du kannst auf jeden Fall Loyalität bewahren, weil... weil Loyalität sehr wichtig ist. Also, du gehst jetzt da raus, du wirst sagen: gute Nacht, das war ein reizender Abend. Du spazierst aus der Tür, steigst ins Auto, fährst nach Hause, holst dir einen runter und das war’s dann.“
FALL C: MORD Das Koks [dass mir verkauft wurde, damit ich es in Umlauf bringe] war nicht so wie es eigentlich sein sollte. Die Qualität war nicht gut. Ich musste ihm das Geld geben, aber ich wollte es nicht, weil er mich praktisch verarscht hatte... . Ich schien 25
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Schließlich kann ein Subjekt durch den Beginn eines Gedankengangs spontan eine neue Intuition bekommen, die der ursprünglichen intuitiven Beurteilung widerspricht. Dies geschieht hauptsächlich durch Role-taking („Annahme einer Rolle“). Wer sich mit einem Problem oder einem Dilemma aus verschiedenen Blickwinkeln auseinandersetzen muss, indem er sich in die Haut des anderen versetzt, kann „Intuitionen“ haben, die miteinander konkurrieren. Die endgültige Beurteilung kann sowohl aus der Zustimmung zur stärkeren Intuition bestehen, als auch aus dem Zurückgreifen aus das „Nachdenken“, um das Pro und Kontra abzuwägen oder um eine Regel oder einen Grundsatz anzuwenden (beispielsweise, „Ehrlichkeit ist die beste Politik“, „Gewalt sollte man vermeiden“). Dieser Weg entspricht einem inneren Dialog und tritt ohne persönliche Konfrontation auf (VI. psychologischer Prozess: die „private Reflexion“). Erinnern wir uns daran, dass Athens im IV. Grundsatz u.a. behauptet, dass durch das „Selbstgespräch“ wir alltägliche körperliche Gefühle in Emotionen umwandeln, die wir dann reflexiv anerkennen, indem wir ihnen die Namen „Scham“, „Hass“, „Wut“ etc. geben.
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bei solchen Dingen wie verflucht zu sein, jedes Mal... . Es waren, glaube ich, 6.000.000 Lire... es war nicht so viel Geld... aber mittlerweile war es eine Frage, die... als ich in diese Situation gerat, sagte ich mir: „Du hast mich verarscht und ich muss dir auch noch das Geld geben? Das kannst du nicht verlangen!“ Aber er verlangte es mit so einer Unverschämtheit, so einer Arroganz... . Ich versuchte wie eine nicht ganz korrekte Person zu denken, auf eine andere Art... . Aber so funktioniert der Markt. Wenn ich dir ein schlechtes Produkt gebe, nicht verkäuflich, nicht verwendbar... wieso soll ich dich dann bitte bezahlen? Du solltest es wegwerfen, aber stattdessen gibst du es mir und verlangst auch noch Geld dafür?“ Genau das passierte hier. Ich sagte: „Es ist egal was er will... es ist nicht richtig, dass er es tut“. Ich hätte ihm sogar das Geld gegeben... . Hätte ich das Geld gehabt, hätte ich es ihm gegeben, so dass er verschwand... wenigstens hätte ich mir dann dieses Problem vom Hals geschafft... aber ich hatte keins... und dann musste ich auch noch die zigste Abzocke von diesen Menschen ertragen? Es brodelte in mir und ich dachte: „Diese Typen sind so dumm und unfähig etwas auf die Reihe zu kriegen ...“ All das ließ mich nutzlos, wie ein Versager fühlen... . Ich schaffte es nicht mehr, irgendeine Initiative zu ergreifen, ich dachte nicht nach... . Würde... ich fühlte mich wie ein verlorener Mensch, ich habe mich erniedrigt... auch für meine Familie schaffte ich es nicht etwas zu essen nach Hause zu bringen.
Wenn wir im Geiste sprechen, so tun wir dies, wie Vincent Vega oder der Protagonist des Falls C, indem wir mit anderen Gesprächspartnern kommunizieren – spezifischen Individuen oder Personifizierungen gesellschaftlicher Normen27 –, deren Beurteilungen, Meinungen, Lob, Warnungen, Vorschläge, Aufforderungen, Zurufe und Befehle wir uns vorstellen. In jedem Fall bleiben die Sätze, die wir ihnen zuschreiben, stets unsere Neuformulierungen, die sich semantisch ständig verändern. In diesen Zwischenräumen treten die Beschlüsse und Projekte für zukünftige Handlungen zutage, auch die stark devianten. „Denn die Gesellschaft ist, normativ betrachtet, sehr viel weniger homogen, als man durch die Vorstellung vom „generalisierten Anderen“ meinen könnte. Das Subjekt verfügt über mehrere Grade an Freiheit, also geht man auch davon aus, dass es festlegen muss, welches die Erwartungen sind, die es an sich stellt und in welchem Maße es ihnen gerecht werden kann“ (Archer, 2003, S. 6–7).
Berücksichtigt man diese Komplexität, so kann der Handelnde, wenn im Laufe der Existenz das Self – jenes „Prismas“, jenes Zentrums der Konvergenz, Refraktion und Ausrichtung, das von der „Phantom-Gemeinschaft“ gefördert wird und durch das wir „reflexiv“ uns selbst und die Außenwelt deuten (doch 27
Von „persönlicher Reflexivität“, laut Archer (2003, S. 9 und S. 33), als theoretischen Schlüssel auszugehen bedeutet sich von der Position der „neurologischen Reduktionisten“ zu entfernen – zu denen Haidt sicherlich nicht gehört – die davon ausgehen, dass für die sozialen Akteure ihr „Fühlen“ und „Denken“ bloß ein Epiphänomen gegenüber ihrer neuronalen Schaltkreise: „Den Blickwinkel aus der ersten Person zu eliminieren, bedeutet diese Autonomie zu unterdrücken, indem die Handlungsfreiheit der Menschen genommen wird; das heißt indem die agency nach und nach reduziert wird, auf die kindliche Sozialisierung, den Gesellschaftsdiskurs oder auf den Zustand des Gehirns“.
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nie ganz „transparent“) – nicht eine „dramatische Veränderung“ in Richtung einer Bildung gewalttätiger Werte und Symbole durchgemacht hat, sich weiterhin bei Bedarf ausreichend ausdrücken, mit Sätzen wie: „Lass Leute wie diese lieber in Ruhe!“ Doch nachdem man sich auf den Pfad der Violentisierung begeben hat, brutale „andere Phantome“ verinnerlicht hat und Verfechter von Prinzipien geworden ist, die stark gegen unsere „zivilen“ Normen verstoßen,28 kann sich ein Individuum Sätze sagen wie: „Mach ihn fertig ohne Gnade!“ Diese „dramatische Veränderung“ kann durch eine „Erziehung zur Gewalt“ geschehen, die auch wirksam ist, indem sie die „moralischen Module“, wie sie von Haidt beschrieben wurden, ausnutzt, die in der Lage sind, Momente des Ressentiments, des Ekels und der Intoleranz gegenüber einem „anderen als sich selbst“ auszulösen, der als „schädlich“, „unterlegen“, „diabolisch“ wahrgenommen wird. Durch diese Intermittenz kann allmählich das soziale Gefühl von „Hass“ aufkeimen, das als recht stabile und weitgehende Möglichkeit verstanden wird, den anderen als „diabolisch“ zu verstehen. „Hass“ wird stets vorbereitet und begleitet von einer Dynamik der Dämonisierung des Feindes und einem Anspruch auf Behauptung der eigenen Rechte, der Rechte auf die eigene „Herrschaft“. Während sie mit sich selbst spricht, können diejenigen, die einen hasserfüllten Blick haben, das Gesicht des anderen nicht sehen, denn etwas Schreckliches ist bereits auf der Ebene ihres Fühlens geschehen: demjenigen gegenüber, der uns schaden möchte (wir behaupten, dass er das möchte, oder denken, dass er das vorhat), nimmt man tatsächlich eine Art „Beseitigung“ seiner Person vor, die über die Unterscheidung von „richtig“ und „falsch“, von „gut“ und „schlecht“ hinausgeht, damit man auf emphatische Art diese Ganzheit aus Werten, die die eigene (schadende) „Phantom-Gemeinschaft“ in Gegenüberstellung zu einem „Feind“ definiert. „Ihn zu beseitigen“ bedeutet seinen Körper anzugreifen, denn man hasst das „Gesamte“, das er verkörpert, sofern er einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe (De Monticelli, 2003, S. 243–248), oder einer bestimmten verfeindeten kriminellen Organisation angehört. FILM: AMERICAN HISTORY X Nachfolgend die Worte von Derek, die er ausspricht, bevor er einen Schwarzen 28
Stark destruktive Handlungen können dann ausgeführt werden, wenn Menschen „kollektiv“ (also gemeinsam mit anderen Personen) drastische, radikale und umfassende „dramatische Veränderungen des Selbst“ innerhalb einer Situation erleben. Die Beispiele des Gefängnis-Experiments von Stanford, das von Philip Zimbardo (2007) geplant und geleitet wurde, und die aktuellen dramatischen Ereignisse von Abu Ghraib sind immer noch gültig.
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körperlich angreift, der versucht hat, ihm sein Auto zu stehlen, und dem gegenüber er eine „übergeordnete“ Rolle einnehmen möchte. Diese Geste stellt auch eine Reaktion auf in der Vergangenheit erlittenes Unrecht (Mord des Vaters, eines Feuerwehrwehrmanns, durch einige Schwarze) und auf den ethnischen Hass dar, der in einer hate group herangewachsen ist. Derek an den Schwarzen gewandt, bevor er ihn umbringt: „Neger, du hast gerade dem Falschen ans Bein gepinkelt. Komm her! Es wäre besser für dich gewesen, dir zu merken, was du beim Basketball gelernt hast. Aber ihr scheiß Wassermelonenfresser kapiert ja nichts. Mein Vater hat mir den Wagen geschenkt, du mieser Wichser. Schon mal einen Feuerwehrmann erschossen? Jetzt willst du wohl noch meine Familie umbringen. Diesmal verpasse ich dir eine Lektion, die du nicht mehr vergisst. Vorwärts, leg dich mit der Fresse auf den Bordstein. Fresse auf den Bordstein, sofort!! Und jetzt sag Gute Nacht... .“
Der Hass auf Schwarze und auf „die Anderen“ kommt auch in unserem Interview stark zum Vorschein. FALL F: MORD Während er sprach dachte ich: „Schau dir diese Arschlöcher an, die nach Italien kommen und dann für sich bleiben wollen... hier in Italien... das ist nicht richtig“. Ich habe es ihm übelgenommen, dass er dieses Mädchen vergewaltigen wollte. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht... aber nicht so sehr, dass ich ihn töten wollte... die Wucht, die pure Bosheit kam erst später auf... . Mittlerweile war schon einiges im Gange. Eine Sache passierte, die ich nicht vorhergesehen hatte, die aber passieren kann, auch wenn nicht gesagt ist, dass sie passiert... Ich hatte versucht, es nicht geschehen zu lassen... denn ich bin kein Rächer, der durch die Straßen geht und Leute umbringt... auch wenn ich mich sehr oft in die Position versetze, Leute zu beurteilen. Das ist genau mit denen passiert… es ist ein Urteil ausgelöst worden, weil er ein Schwarzer ist. Der Hauptgrund ist, dass er ein Schwarzer ist... das ist eine Grundüberzeugung, die ich von ihnen habe. Sie sind Tiere und ich bin ein Mensch. Das kann zwar wie ein Widerspruch wirken, weil man viel über Schwarze sagt und dann Bob Marley hört... aber Jamaikaner sein in eine Sache... denn er ist kein richtiger Neger... Neger sind Bestien. So sehe ich das auch bei Arabern und Marokkanern. Sie bringen dich dazu ein Rassist zu werden. Auch wenn Letztere Weiße sind, ekel ich mich vor ihnen, wegen ihrem Verhalten, denn es sind keine Menschen die eine Stellung beziehen. Und wenn du sie dann einzeln triffst, stellen sie sich als richtige Idioten heraus... . Ich bin immer gleich... ob in Gegenwart anderer Menschen oder alleine... ich bin immer der gleiche... denn ich bin so, das ist meine Einstellung. Diese Leute aber, wenn sie in einem Rudel sind... und du schießt auf sie, verhalten sie sich alle wie Weicheier und laufen vor einer einzigen Person davon. Meiner Meinung nach sind es keine Menschen. Es sind Tiere. Ich spreche nicht von allen Negern, ich spreche von diesen Tieren, denen es nur im Rudel gutgeht. Genau das gefällt mir nicht! Denn wenn ich dir etwas antun will, komm ich nicht mit der ganzen Bande, sondern alleine... ich, da ich ein Mensch bin... und als solcher komme ich und tu dir weh... um mit schlechten Mitteln etwas Gutes zu tun.
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Auch bei solchen Anlässen ist man ununterbrochen „[...] mit einem Prozess – der „inneren Konversation“ – beschäftigt, die, was die Reflexivität betrifft, ohne Beispiel ist“ (Archer, 2003, S. 35). Die Handlung der eigenen „Identität“ – individuell oder gesellschaftlich – zu spinnen, bedeutet demnach, die „innere Konversation“ in Richtung eines erzählerischen Bezugspunktes fließen zu lassen, um den herum sich die verinnerlichten „Phantome der anderen“ drängen: „die gesellschaftliche Identität, einschließlich der Geschlechtsidentität, tritt [demnach] mit Hilfe der Selbstgespräche der Phantome der anderen auf“ (Athens, 2005, S. 645).29 FILM: BOWLING FOR COLUMBINE Interview mit einigen Angehörigen der Michigan-Milizen: Angehöriger der Michigan-Milizen, von Beruf Immobilienmakler – „ein echter Schreibtischhengst“: „Es ist eine amerikanische Tradition und Pflicht, bewaffnet zu sein. Wer unbewaffnet ist, handelt verantwortungslos. Wer beschützt deine Kinder? Die Bullen? Die Regierung? Es ist deine Pflicht, dich zu verteidigen. Wer es nicht tut, verletzt seine Bürgerpflicht. Basta“. Angehörige der Michigan-Milizen: „Ich habe Waffen, seit ich alt genug dafür bin. Ich habe gelernt, wie man mit ihnen umgeht. Gerade als Frau wollte ich mich so gut wie möglich schützen... . Und das tut man mit einer Waffe. Wenn in dein Haus eingebrochen wird, wen rufst du zuerst an? Die meisten Leute rufen die Polizei, weil sie Waffen haben. Vergiss den Mittelsmann“ Sorg selbst für deine Familie. Wer soll deine Familie schützen, wenn nicht du selbst?
Somit distanzieren wir uns noch einmal von der Vorstellung, dass es gesellschaftliche und individuelle Variablen gibt, die dazu „konditionieren“ „Entscheidungen“ zu treffen, die über die „Jedheit“ eines Menschen hinausgehen:30 29
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„Man könnte die Behauptung aufstellen, dass jede Erzählung eine Geschlechtsidentität zum Ausdruck bringt, denn das Erzählen einer Geschichte bringt stets auch eine Positionierung des Ich-Erzählers innerhalb von Kategorisierungen mit sich, die die diskursiven und narrativen Praktiken der Referenzkultur zur Verfügung stellen, wie es insbesondere bei der Dichotomie männlich / weiblich der Fall ist“. Der narrative Prozess ist mit anderen Worten ein ausgezeichnetes Instrument für die „Identitätsbildung“, die nicht als etwas verstanden wird, das die Menschen besitzen, ein greifbares, sichtbares Wesen, sondern als eine „Existenz, die sich erzählt“ (Poggio, 2004, S. 59 und S. 49). Unseren Gedanken klärt die folgende Passage von Fjodor Dostojewskij, der zeigt, dass der Mensch keine von einem anderen gespielte, gedrückte oder „zerdrückte“ Klaviertaste oder kein anderer von ihm nicht kontrollierbarer Reiz ist.: „Gerade seine fantastischen Träumereien, seine grundgemeine Dummheit wird er sich zu erhalten wünschen, lediglich, um sich selbst den Beweis zu liefern […], dass die Menschen immer noch Menschen sind und keine Klaviertasten […]. Sogar im Falle, dass er sich als eine wirkliche Klaviertaste herausstellt und man ihm das sogar durch die Naturwissenschaften und auf mathematischem Wege beweist, selbst dann wird er sich nicht zur Vernunft bringen lassen, sondern im Gegenteil absichtlich etwas anrichten, […] eigentlich nur,
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„Was den sozial Handelnden in Bewegung versetzt, ist seine innere Reflexivität“ (Donati, 2006, S. 16) gegenüber der Situation, die er erlebt und den Gefühlen, den Ansichten und entstehenden Projekten. „Reflexivität“ macht aus uns „aktiv Handelnde“, also Menschen, die eine gewisse Macht bei der Bestimmung ihres Lebens haben, bei der Selbsteinschätzung und bei der Annahme der persönlichen Verantwortung. Die „innere Reflexivität“ – dies bekräftigen wird – vermittelt selektive auch die kulturellen Kontexte, die strukturellen Bindungen und die Bindungen an die „Dominanz“ der Gemeinschaften, denen man angehört. Kurz gesagt transformiert das Self reflexiv das „Innere“ in das „Äußere“ und umgekehrt: dieses kann man sich als mit dem „Sozialen“ durch eine Art Möbiusband verbunden vorstellen, einer Oberfläche, die es ihm gestattet sich nach „außen“ zu bewegen und ständig in „Innere“ zurückzukehren, ohne sagen zu können, wo das eine anfängt und das andere aufhört (Donati, 2006, S. 24; Verde, 2006). Der Mensch ist also sowohl „Geschöpf“ als auch „Schöpfer“. Dies ist eines der relevantesten „ursprünglichen Vorstellungen“ des symbolischen Interaktionismus: nicht nur die Enthüllung der Bildungsprozesse der „inneren Welten“ sondern auch die Erkenntnis, dass die „Jedheit“ dieser „Welten“ sich wechselseitig schaffen, indem sie in bestimmten Kontexten miteinander in Verbindung treten.
Die prozessuale Effektivität des Selbstgesprächs. Vorschläge für einen rekonstruierten Plan. Wir fragen uns nun, wie – und in welchen Etappen – dieser „dynamische“ Prozess sich vollzieht, durch den Männer und Frauen, unter dem weiten Baldachin, den die Interaktion zwischen sich und den bewohnten sozialen Welten darstellt, sich bestimmen, bis sie einer gewalttätigen Handlungskette folgen: wir entscheiden also, und wir entscheiden „reflexiv“, und werden dennoch in konkrete zwischenmenschliche Beziehungen verwickelt.31
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um auf seinen Willen zu bestehen! […] Ich glaube das, ich garantiere das, da ja alles menschliche Tun, wie es scheint, tatsächlich nur darin besteht, dass der Mensch alle Augenblicke sich selbst den Beweis liefert, dass er ein Mensch und kein Walzenstift sei! Und wenn er auch selbst Schaden davon hat, aber er hat sich dich selbst den Beweis geliefert [...]“ (Dostojewskij, 1864, S. 48). Siehe Liotti (2005, S. 220), der spezifiziert: „Der Eindruck täuscht, dass eine bewusste Entscheidungskapazität unabhängig vom Zusammenhang existiert, oder eine exklusive und unveräußerliche Eigenschaft des Individuums, die jenseits des Mit-dem-anderensein existiert. […]. Wir werden niemals Beweise dafür finden, dass es eine reale Einheit und Kontinuität des Ich gibt – sei es, dass wir diese Beweise im Körper, den sprachlichen Kapazitäten oder den Erfahrungen des Wollens suchen –, solange wir es nicht in
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Wir gehen davon aus, dass jede Bewegung dieser „reflexiven Tätigkeit“, die sich im ständigen Fluss des „Selbstgesprächs“ / der „inneren Konversation“ windet und in ihn eindringt, stets und auf selektive Art vermittelt (a) das „biologische Individuum“, die „Lebenslust“ und das „I“, (b) die „Wahrnehmungen“ und die „prospektiven Hintergründe“, (c) die „Situationsinterpretationen“, (d) die „Emotionen“, (e) die „Wünsche“, (f) die „sozialen Welten“ und (g) die „Zeit“, indem sie das Pluriversum auf den Punkt konvergieren lassen und konzentrieren, in dem einige Verhaltensweisen (inklusive der destruktiven)aktiviert werden. Wir werden versuchen, diesen „Entscheidungsprozess“ in viele Einzelbilder zu zerlegen, die, sobald sie aneinandergereiht sind, sich entfalten werden. Unsere Aufmerksamkeit wird sich auf einige Bewegungen konzentrieren, womit wir sie über das erheben werden, was sie umgibt und umhüllt. Wir werden so verstehen können, wie der „Prozess“, von dem wir sprechen, sich auch in wenigen Augenblicke auflösen kann, in deren Verlauf sich aber eine ganze Existenz ansammelt.
seiner strukturellen relationalen Realität betrachten. Wenn die Illusion von einem isolierten, selbstgenügsamen Ich verschwindet, ist die Erfahrung eines ständigen und einheitlichen Ich, das von Entscheidungen und einem Willen gekennzeichnet ist, nicht länger unbedingt illusorisch, sondern beginnt als konkrete Möglichkeit des Menschen zu erscheinen“.
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Erstes Einzelbild. Am Anfang der Bildung einer Kosmologie. Das biologische Individuum, die Lebenslust und das „I“. Die von Mead eingeführten Gedankengänge zeigen, dass das „biologische Individuum“ in einer undifferenzierten Gegenwart voller Impulse lebt und dass sein Verhalten daher kein bewusstes Denken impliziert. Ein Beispiel dafür ist das Verhältnis zwischen dem Körper des Neugeborenen und dem er Mutter: das Kind kennt keines der „sozialen Objekte“ „Körper“ und „Mama“, sondern passt sich auf eine Art an, die die Grenze zwischen seiner Welt und der der Mutter verwischt (Sini, 2005, S. 154) – welche dem präsymbolischen Selbst des Kindes Beständigkeit garantiert, Ort der perzeptiven und emotionalen Erfahrungen und der autoregulativen Prozesse, mit denen der Organismus auf Veränderungen der Umwelt reagiert und sich sensibilisiert. „Dementsprechend handeln wir als biologische Individuen, die aus Impulsen bestehen, welche uns gegen Reize empfindlich machen und diesen Reizen unmittelbar entsprechen“ (Mead, 1927, S. 398). Dies ist ein „primitiver und einheitlicher Kern“ der „lebendigen Erfahrung“, die ohne reflexive Vermittlung dafür sorgt, dass man sich mit der Welt verbunden fühlt (Napolitani, 1987, S. 32). Dieser „primitive Kern“ ist auch „ozeanisches Gefühl“ genannt worden, ein „primäres Empfinden des Ich“, das sich in Gemeinschaft mit der „Umwelt“ bildet. Aber wenn an die Stelle der Schutzbarrieren, des „Schildes“, als der vor allem die Mutter dem Kind dienen muss, „systematische, andauernde, übertrieben häufige“ Streitigkeiten im Laufe seiner gesamten Entwicklung auftreten, die es nicht verarbeiten kann, wird das reale „Umfeld“ frühzeitig zum Auslöser „kumulativer traumatischer Erfahrungen“, die leise und unsichtbar Breschen in die Persönlichkeit des Menschen schlagen und erst ex post erkannt werden (Khan, 1963; Gazzillo / Silvestri, 2008, S. 142). Wie Mead selber bereits teilweise anerkannt hat besteht das „biologische Ich“ – auch „körperliches Selbst“ genannt – nicht in sich oder für sich selbst, sondern ist immer in die unermessliche Konkretheit32 der Phänomene des Lebens eingebunden, bis hin zu den sozial geformten Verhaltensweisen.33 32 33
Wir greifen den geglückten guten Titel des Werks von Forti (2000) wieder auf. „[…] Wenn der Begriff des Es der reduktionistischen Gleichsetzung mit seinem Sein als ‘nichts anderes als’ der Zug einer undifferenzierten Animalität […] entzogen wird, so kann der mit diesem unpersönlichen Fürwort bezeichnete Bereich als Ort des symbolisch-poetisches Aufkeimens, einer intimen gedanklichen Unparteilichkeit in der undifferenzierten Überlebens-Dyade Individuum-Welt neukonzipiert werden. […]. [Wenn] wir die ‘Phantome’ nicht als Stereotypen archetypischer oder impulsiver Substrate verstehen, sondern als Produkte des Es, also als primäre Resultate von Transfor-
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Bevor ich mich als „Ich“ benenne und beschränke, beobachte ich mich schon im Innern einer Welt, im Innern von „Praktiken“ des Lebens, der Sprache und des Wissens, die das Fundament des Verstehens des alltäglichen Wissens (wie auch der wissenschaftlichen Theorien) sind: „Ein symbolischer Kosmos, der unsere eingeschlossen, ist einheitlich, d.h. er besteht aus verzweigten Praktiken und entsprechenden Objekten, die sich dann auflösen und deren primitiver Sinn für immer verloren geht“ (Sini, 2005, S. 154).34 Der Hintergrund dieser „Praktiken“ kettet den Menschen an ein Verbundsystem, das noch auf präreflexiver Ebene wirksam ist. Im Laufe des Heranwachsens lernt man, indem man über das „körperliche Selbst“ – als“ vereinheitlichendes Prinzip“ der sozial (wenn auch nicht symbolisch) orientierten Tätigkeiten – hinausgeht, die Welt und sich selbst durch „Symbole“ zu sehen und man gestaltet so eine eigene, besondere „Zeit“ und einen „Raum“ der Welt, die „[...] individuell, einzigartig, subjektiv, aber auch intersubjektiv, sprachlich und vorsprachlich, körperlich und ursprünglich affektiv und emotional sind“ (Borgna / Sini, 2000, S. 9). „Das Symbol beinhaltet einen möglichen Sinn, eine ständige, unaufhörliche Bildung des Selbst, eine ständige Neumodellierung der anfänglichen Dunkelheit“ (Barone, 2004, S. 78–79). Bei jedem Menschen kann man von einer „einzigartigen Subjektivität“ sprechen, die wir unter die Lupe nehmen können, indem wir das Bezugsfeld – das soziale und mentale insgesamt –, in das man „seit der Geburt versetzt wurde“, unter die Lupe nehmen. „Die persönliche Welt jedes Menschen dreht sich um sich selbst. Bei der Bildung von Urteilen, beim Treffen von Entscheidungen, beim Sprechen über Raum und Zeit, nimmt jeder sich selbst als zentralen
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mationen, die die menschliche Expressivität auf ihren überkommenen kulturellen Ablagerungen vollzogen hat […]“ (Napolitani, 1987, S. 31 und S. 38). „Von Geburt an findet sich jeder in solche ‘Lebenspraktiken’ inkorporiert, und man trifft auf sie, ohne sich Überzeugungen zu bilden und ohne Regeln zu erlernen: Man wird in sie hinein gezogen, so wie man das Schwimmen erlernt, also ohne jemals eine […] ‘Theorie des Schwimmens’ erlernt zu haben. […]. Die grundlegenden Praktiken lassen sich nicht in eine Theorie einschließen, denn der Hintergrund ist so durchdringend, dass er nicht auf ein Analysegegenstand reduziert werden kann; die Praktiken schließen Kompetenzen sozialer Art ein. […]. Das, was den Hintergrund bildet, sind nicht Überzeugungen, implizite oder explizite, sondern Gewohnheiten und Bräuche, die ein Ganzes aus sozialen Kompetenzen bilden, die wir alle täglich in unseren Interaktionen mit Menschen zeigen. Diese Verhaltensweisen werden nicht auf der Basis bestimmter ‘Überzeugungen’ verinnerlicht: Wir tun das, was uns beigebracht wurde zu tun“ (Ceretti, 1992, S. 265–266).
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Bezugspunkt“ (Shibutani, 1961, S. 216).35 Natürlich entstehen und entwickeln sich die Fähigkeiten, „moralische Urteile“ zu fällen, im Verlauf bestimmter Entwicklungsetappen und benötigen, um „sich zu externalisieren“, Leitung und Vorbilder, die aus „sozialen Bezugswelten“ stammen. Wird man jedoch Teil der Gesellschaft, so ist es unmöglich, „reflexiv“ diese früheren, aktiv als Teil der „Lebenspraktiken“ erlebten Integrationserfahrungen nachzuholen. Auf dieser Ebene webt sich ein erster Anteil von „Opazität“ in die Bildung einer „Kosmologie“ ein.36 In einer anderen Sprache als derjenigen der anderen Humanwissenschaftler möchten wir erklären, dass es nicht möglich ist, in jeder menschlichen „Tat“ die Spuren ihres Ursprungs zu beleuchten. Der „Elan jeder Tat“ verliert sich in einem Anfang, der weder sprachlich erfasst noch vorgestellt werden kann – was damit zu tun hat, dass man „von Geburt an“ in „Lebenspraktiken hineingeworfen“ ist – und der mit dem „Unbewussten“ der Psychoanalyse verwoben ist.37 „Das persönliche Unbewusste stellt die empirische, chronologische Vergangenheit dar, die Gegenwart gewesener Bewusstseinsinhalte, das virtuelle Gedächtnis, das in einem ständigen Austausch jede einzelne, beschränkte Leistung des Bewusstseins umgibt, versorgt und fördert, unterdrückt und deformiert“, eine ganze verblasste und abgeschwächte Abteilung der vergessenen, verdrängten, ausgeschlossenen, verschobenen oder einfach vergangenen Begebenheiten, die um jeden Bewusstseinsakt angeordnet ist“ (Barone, 2004, S. 16). Diese Wege machen die völlige „Kenntnis“ und die vollständige „Kontrolle“ über sich selbst unmöglich. Wir haben bereits zur Kenntnis genommen, dass das I der Behälter ist, der die vitale Dynamik, die generalisierte, spontane und anfängliche Bereitschaft zum Handeln enthält: es ist das Nicht-Überlegte, das Nicht-Bewusste, das Unfreiwillige, Nicht-Angeleitete, das Ziellose. Der „Elan“, seiner Natur nach „allge35
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„Jeder Mensch hält sich für eine separate Wesenheit und diese Überzeugung wird dadurch verstärkt, dass der Körper direkt als eine organische Einheit identifiziert werden kann. […] Die Tatsache, dass Körper separate Einheiten sind… ermöglicht die Individualisierung und Verortung etwaiger Verantwortlichkeiten“ (Shibutani, 1961, S. 216). Mit dieser Bemerkung geben wir das erste aus einer Reihe von Stichworten, womit wir beginnen, die außerordentliche „Klarheit“ und „Transparenz“, mit denen der „Interaktionismus“, auch der „radikale“, die Gesellschaft und den Einzelmenschen interpretiert und darstellt, kritisch zu betrachten. Das I wird hier anders als das freudsche Es verstanden. Gemäß dem, was Archer (2003, S. 152) behauptet, wird es eher als „Quelle der Kreativität und Innovation [verstanden], dessen transformatives Potential sowohl die Innerlichkeit des Individuums, als auch die äußere Realität überrennt“ und nicht wie ein „Kessel primärer Impulse“ ist.
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mein“ und „unbegrenzt“, treibt es weiter in die Welt hinaus und hält uns die Existenz der Zukunft vor Augen, produziert stets unvorhergesehene und unerwartete Effekte und findet seinen Eintrittspunkt jenseits des ‘Ich’„ (Minkowsky, 1936, S. 44 und S. 63). Der Lebens-Elan eröffnet die ganze Zukunft. Die echte Zukunft ist das, was auf keine Weise vorhersehbar, vorgezeichnet ist: Es ist etwas völlig Neues (Pulli, 2008, S. 25). Der „Lebens-Elan“ bestimmt nicht die Richtung einer Handlung, sondern sagt bloß, dass mit Sicherheit etwas passieren wird: „Das Ich befindet sich völlig in diesem Elan und das Realisierte tritt nicht plötzlich in einem bestimmten Augenblick auf, sondern bildet sich und bereitet sich während seines ganzen weiteren Weges vor“ (Minkowsky, 1968, S. 52).38 Dadurch, dass sich sein „[…] Sichaufdenwegmachen in Richtung Welt nur dadurch verifizieren kann, dass die Akte bereits in der Welt situiert sind und etwas in ihr geschieht“ Minkowsky, 1936, S. 93), erschöpft sich das I nicht in einer einzigen „ursprünglichen biologischen Disposition zum Handeln“.
Zweites Einzelbild. Wahrnehmungen und perspektivische Hintergründe Wenn wir uns in Richtung Welt aufmachen, wird unser „Elan“ völlig von einem kaleidoskopischen Fluss von „Ausdrucksformen des Lebens“ umgeben, wie es jene sind, die wir als „organisierte Perspektiven“ bezeichnen. Sie gehen unseren „Erfahrungen“ voraus, benennen sie, „ordnen“ und führen sie. Die Bildung der „Perspektiven“ wird jedem von uns durch das Zurückgreifen auf Symbole ermöglicht (regelrechte Augen, die auf die Welt gerichtet sind) und sobald sie einmal erfolgt ist, macht sie es möglich, ein Ziel zu visualisieren sich und sich diesem zuzuwenden. „Perspektiven“ sind keine „Wahrnehmungen“, sondern ihre Führer: es sind „geordnete Vorstellungen“ von der Welt, welche für „selbstverständlich“ gehalten werden, die „selektive Matrix“ bilden, durch die wir die Umwelt wahrnehmen, die uns umgibt (Shibutani, 1955). Diese „perspektivischen Hintergründe“ enthalten ein Repertoire an Interpretationen, Standard-Antworten und gesellschaftlichen Normen, aus denen wir mühelos schöpfen können, um auch den Ereignissen einen „Sinn“ zu geben, 38
Auf den Begriff des „Lebens-Elans“ stützt Minkowski – wie Gabriele Pulli (2008) bemerkt – den des „persönlichen Elans“: „Ich strebe vorwärts und verwirkliche so etwas“ (Minkowski, 1933, S. 51). Dieser Elan geht stets mit unvorhergesehenen, unerwarteten Effekten einher, die ihm eigen sind. Die Auswirkungen unserer Handlungen sind nicht vollkommen voraussehbar, da sie vorauszusehen die Aktivität selbst zu zerstören bedeutet. Der „persönliche Elan“ hat seine Wurzeln im Unbewussten (Pulli, 2008, S. 25–27).
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die sofortige Antworten verlangen. Jede „Welt“, jede „(Sub)Kultur“ kristallisiert ihre eigenen „Interpretationsschemata“ heraus, die sich durch die Evidenz des Sehens präsentieren und auf die ihre Mitglieder verweisen, um plötzlich auftauchende wichtige Fragen zu beantworten. Unser Handeln ist tendenziell in ein Verhalten eingebettet, das den Horizont, innerhalb dessen Grenzen wir mit einer gewissen „physischen Gemeinschaft“ in einem bestimmten Augenblick der Geschichte operieren müssen, als selbstverständlich annimmt, und häuft einen „gesunden Menschenverstand“ an – „ein Wissen plus einer Verhaltensweise“ –, der aus dem unbewussten „Machen-können“, das unseren Alltag begleitet, dem sofortigen „Wiedererkennen-können“ besteht, mit dem wir gewohnheitsmäßig die Dinge, die uns umgeben, und das Verhalten der anderen Menschen interpretieren“ (Jedlowski, 2008, S. 19). Dieses „Kennen des gesunden Menschenverstands“ enthält aber nicht unser ganzes Denken und Tun: „meine“ Erfahrung, das was ich durchmache, ist nicht identisch mit derjenigen, die alle kennen. „Das, was ich weiß, hat einen besonderen Stil: es ist das, was ich „persönlich“, in einem bestimmten Augenblick und in einem bestimmten Kontext erlebe“ (Jedlowski, 2008, S. 55). Doch alles wird sehr viel komplizierter, wenn „das, was ich weiß und ‘persönlich’ erlebe“ – und das mir erlaubt, mit den Anderen die „organisierten Perspektiven“ zu teilen – ein unerwartetes Abgleiten, eine plötzliche Lichtveränderung erlebt, welche die innere Landschaft verändert und mich zwingt, meine persönlichen perspektivischen Ansichten auf die Welt neu zu bilden. FALL Z: MORD Bericht über einen begutachteten Fall, in dem eine beschränkte Zurechnungsfähigkeit des Täters festgestellt wurde. Vor der Tat hatte die Welt sich ein wenig verändert… Die Wahrnehmung von dem, was um mich herum war, also meine Wahrnehmung der Welt, war anders. Meine Wahrnehmung der Welt jetzt ist so wie ich sie immer hatte, passend zu dem Kontext, in dem ich mich gerade befinde [das Gefängnis], der offensichtlich ein anderer Kontext ist. Aber meine Wahrnehmung der Welt in den vorangegangenen Tagen, also sagen wir in der Woche vor dem Mord, war anders. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich würde sagen... eine größere Sensibilität dem gegenüber, was mich umgab. Das ist ein Bild, das ganz gut zu dem passt, was ich in jenen Tagen fühlte. Eine größere Sensibilität dem gegenüber, was mich umgab, größere Achtsamkeit auf alle Besonderheiten, eine sicherlich übermäßige Neugierde anderen gegenüber. Ich nahm die Realität anders war, in dem Sinn, dass ich das Gefühl hatte an meiner ganzen Umgebung stärker teilzuhaben. Mehr Gemütszustände... also die ganze Art Leute zu sehen war irgendwie... klarer, im Sinne von... beteiligter, genau. Ich fühlte sowohl Bedrohungen als auch gute Dinge für Menschen, die ich gern hatte. Es war sicherlich keine Erleuchtung, das ist klar. Sagen wir einmal, dass ich versuchte dem gegenüber, was um mich herum geschah, aufmerksamer zu sein.
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Wenn wir „Gewalt“ wirklich verstehen wollen, müssen wir folglich jede reduktionistische Verlockung von uns weisen und immer zu der „Jedheit“ eines jeden Menschen Zugang haben, um die „Übersetzung seiner organisatorischen Perspektiven in einen Akt“ zu rekonstruieren.
Drittes Einzelbild. Role-Taking und Situationsinterpretationen Wir müssen nun der Redewendung, „die organisierten Perspektiven in Handlung umsetzen“ Substanz geben. Ob es sich nun um gewohnheitsmäßige „Perspektiven“ handelt oder ob man auf Kontexte stößt, die unsere Chance verringern, die Bedeutungen der Ereignisse zu ordnen, jedenfalls bleibt der unverzichtbare Filter das „Selbstgespräch“, die „reflexive Bewegung“, die sich durch Role-taking bildet.39 Nachdem Athens die meadsche Sicht verworfen hat, die sich auf die „bedeutungsvolle, auf der Grundlage von Abstraktionen ohne „Opazität“ geschaffene Sprache“ konzentrierte, die die Menschen bilden, indem sie die Verhaltensweisen der anderen annehmen – und derer sie sich in diesem Augenblick schon fast automatisch bewusst sind –, hat er scharfsinnig bemerkt, dass, bevor wir mit Gewissheit fremde Verhaltensweisen annehmen können (Role-taking), wir immer erst die Reaktionen der anderen Menschen auf unsere Worte abwarten, denn wir können die Rolle niemals direkt annehmen: Mehr noch als uns „in die Haut der Anderen“ zu versetzen, ziehen den Verhaltensweisen anderer unsere eigene Haut an, so dass die Bedeutung, die einer bestimmten Geste zugeschrieben wird, schließlich immer „unsere“ Bedeutung ist, und es werden auch „unsere“ Erwartungen an das Verhalten sein, die sich daraus ergeben. FILM: DOGVILLE Grace beginnt zu realisieren, dass es, um die Bedeutung, die „die anderen“ ihrem „Verhalten“ zuschreiben völlig verstehen zu können, nicht ausreicht, das zu enthüllen, was ihr in diesem Augenblick, an dem Punkt der Interaktion als ihr wahres Gesicht, als ihr „wahres Self“ erscheint. Denn damit dies möglich ist, ist es notwendig, dass die Bewohner von Dogville ihr Urteil über einen möglichen dauerhaften Aufenthalt in der Gemeinde fällen – wie die hier berichtete zweite Passage zeigt.
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Wie man sich erinnern wird, ist das Role-taking für die symbolischen Interaktionisten ein Mittel, um die „Annahme einer fremden Verhaltensweise“ zu ermöglichen, was durch Verallgemeinerungen geschieht, die es erlauben, die Antworten der „anderen“ vorherzusehen und mit ihnen unsere Handlungen im Hinblick auf das gewünschte „Ziel“ zu formen.
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Siebentes Kapitel Allwissender Erzähler: „Die zwei Wochen waren viel zu schnell verstrichen. Grace hatte Spaß gehabt. Alles was sie sagen konnte war, dass sie die Leute in Dogville mochte. Darunter auch diejenigen, die ihr mit Abneigung und Feindseligkeit begegnet waren. Auch wenn sie noch nicht jeden völlig auf ihrer Seite hatte, nicht mal halbwegs, wie Tom sich ausdrückte, lag Dogville ihr am Herzen. Und sie hatte der Stadt ihr Gesicht gezeigt, ihr wahres Gesicht, dich war das genug? Während Jack MacKay’s langem Vortrag am Abend schaute sie tief in ihr Innerstes. Mochte die Ursache nun der Blick in ihr Innerstes oder die Sorge um ihre Zukunft sein, die ansonsten so liebenswerte Grace leistete sich eine ziemlich fragwürdige Provokation.“ Allwissender Erzähler: „Grace hatte Freunde in Dogville, soviel stand fest. Ob es wenige waren oder viele spielte keine Rolle. Grace hatte sich der Stadt schutzlos ausgeliefert und diese hatte mit einem großartigen Geschenk geantwortet: mit Freunden. [Kein Gangster konnte ihr die Begegnung mit der Gemeinde nehmen, ganz gleich wie viele Gewehre es auf der Welt gab. Und sollten die Glockenschläge keine 15 ergeben, so wusste sie, dass] sie der Stadt etwas bedeutete und dass ihr Aufenthalt hier von Belang war. Sie hatte vielleicht nicht viel, doch immerhin eine Spur hinterlassen und die erste in ihrem jungen Leben, auf die sie stolz war.“
Die Verhaltensweisen anderer anzunehmen macht es möglich, die Definitionen der „Anderen“ kennenlernen sowie ihre Gemütszustände40 und diese mit ihnen eventuell zu teilen und Empathie zu verspüren – was bedeutet, sich in die Gedanken der anderen Menschen hineinzuversetzen, an ihren Gedanken, Gefühlen, Erfahrungen aus ihrer Perspektive teilzuhaben und damit die Grenzen zwischen „wir“ und „sie“ zu verwischen. FILM: DOGVILLE Grace hört den Gedanken Chucks zu und antwortet ihm, indem sie versucht die emotionalen Erfahrungen von Letzterem zu fühlen und nachzuempfinden. Chuck: „Als du mich abgewiesen hattest, schoss mir etwas durch den Kopf. Du hast mich beschämt, ein Gedanke, für den du mich hassen würdest.“ Grace: „Ich würde Sie nie hassen...niemals. Was ist? Chuck, ich habe Sie ungerecht behandelt, wie sollten Sie da keine zornigen Gedanken bekommen?“ Chuck: „Ich dachte daran dich zu verraten. Ich wollte dich erpressen, damit du mich respektierst.“ Grace: So viel bedeutet es Ihnen? Das tut es, stimmt’s? Sie waren wirklich einsam hier oben, hab ich Recht? Sie hatten niemand, der Sie tröstete und ich sollte Sie um Verzeihung bitten. Sind wir noch Freunde?“
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„Das Role-taking wird nur selten von einem einzigen Akt des Wahrnehmens oder Beurteilens eingegrenzt. […]. Ein Mensch sensibilisiert sich für weitere Gesten, die dieses Urteil bestätigen oder in Zweifel ziehen können […], [der Grund], weshalb man die eigene anfängliche Beurteilung neu bedenken müssen wird“ (Shibutani, 1961, S. 146).
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Andererseits entspricht Empathie nicht dem Role-taking: Man braucht nur gedanklich zu irgendeinem der von Athens oder uns unternommenen Interviews zurückzukehren, um zu verstehen, dass die „Gewalttäter“, wenn sie den Blickwinkel des Opfers annehmen, um ihren Gesten eine Bedeutung zu verleihen, ihr Erlebtes, ihre Gefühle, ihre symbolische Kommunikation weder fühlen noch unbedingt verstehen. Man wird sich erinnern, dass heutzutage „Psychopathie“ als eine Affektstörung bestimmt wird, die eben eine Verringerung des Vermögens zum Empfinden von Empathie mit sich bringt und als Auswirkung ein Defizit der Fähigkeit, „moralische Überlegungen“ anzustellen.41 Den „Psychopathen“ wird allgemein die Fähigkeit, brutale Straftaten zu begehen zugeschrieben, ohne dass diese „Schuldgefühle“ mit sich bringen. Nun verfügen wir aber die Elemente für die Annahme, dass Menschen, die von diesen Pathologien betroffen sind, nicht unbedingt in der Lage sind, Aktivitäten des Role-taking auszuüben: Die Ausführung grausamer Verbrechen verlangt immer in gewissem Maße die Fähigkeit, die Bewegungen des potentiellen Opfers vorherzusehen und ihre Gesten zu interpretieren. Im Vergleich zu anderen „Gewalttätern“ betrachten diese ihre Opfer mit großer Distanz, manchmal mit starken introspektiven Fähigkeiten, immer aber, ohne sich mit ihnen emotional zu identifizieren (Shibutani, 1961, S. 317). Es geht also nicht um die starke emotionale Abgestumpftheit, die absolute emotionale Unfähigkeit, das zu „fühlen“, was ein normaler Mensch „fühlt“: diese Eigenschaften kennzeichnen ohne Zweifel die „Psychopathen“. Doch auch innerhalb der Grenzen dieser „psychischen Störung“ kann jeder von ihnen an sich oder an die anderen bedeutungsvolle Worte richten, um die „Situationen zu interpretieren“. FILM: NO COUNTRY FOR OLD MEN Dialog zwischen Anton, einem grausamem, psychopathischen Massenmörder und einem potentiellen Opfer. In dieser Szene trifft Anton auf einen Tankwart, beginnt mit ihm zu sprechen und seine „Herrschaft“ durch eine ständige „Annahme von Verhaltensweisen“ seines Gesprächspartners auszuüben, ohne dabei – natürlich – jemals bezüglich die Ängste und Befürchtungen, die Letzterer im Verlauf der Konversation aufbaut „mitzufühlen“. Anton: „Was kostet das?“ Tankwart: „69 Cent.“ Anton: „Und das Benzin.“ 41
S. dazu in Kap. 6 die Theorie von Blair und Kollegen.
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Siebentes Kapitel Tankwart: „Hat’s da oben bei euch in letzter Zeit mal geregnet?“ Anton: „Wo soll „da oben“ denn sein?“ Tankwart: „Ich hab gesehen Sie kommen aus Dallas.“ Anton: „Was geht Sie das denn überhaupt an, wo ich herkomme, Friendo?“ Tankwart: „Ich hab das nicht böse gemeint.“ Anton: „Nicht böse gemeint... .“ Tankwart: „Ich wollte doch nur freundlich sein. Wenn Sie das nicht annehmen, dann weiß ich nicht, was ich noch für Sie tun könnte. Und ist sonst noch was?“ Anton: „Keine Ahnung, ist noch was?“ Tankwart: „Stimmt irgendwas nicht?“ Anton: „Mit was?“ Tankwart: „Mit irgendwas.“ Anton: „Ist das Ihre Frage, ob irgendwas mit irgendwas nicht stimmt?“ Tankwart: „Und ist sonst noch was?“ Anton: „Das haben Sie mich schon gefragt.“ Tankwart: „Naja, ich muss dann auch langsam schließen... .“ Anton: „Langsam schließen?“ Tankwart: „Ja, Sir.“ Anton: „Um welche Uhrzeit schließen Sie?“ Tankwart: „Jetzt, jetzt, wir schließen jetzt.“ Anton: „Jetzt ist keine Uhrzeit. Um wie viel Uhr schließen Sie?“ Tankwart: „Normalerweise, wenn es dunkel wird.“ Anton: „Sie wissen gar nicht, wovon Sie reden, oder?“ Tankwart: „Sir... ?“ Anton: „Ich sagte: Sie wissen gar nicht, wovon Sie reden. Wann gehen Sie immer ins Bett?“ Tankwart: „Sir... ?“ Anton: „Sie sind ein bisschen taub, oder? Ich fragte: wann gehen Sie immer ins Bett?“ Tankwart: „Äh... irgendwie gehen halb zehn. Ich würde sagen ungefähr halb zehn.“ Anton: „Vielleicht komm ich dann wieder.“ Tankwart: „Wieso sollten Sie dann wiederkommen? Dann haben wir geschlossen.“ Anton: „Ja, das sagten Sie schon.“
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Tankwart: „Also ich schließe jetzt jedenfalls.“ Anton: „Wohnen Sie gleich hier hinten im Haus?“ Tankwart: „Ja, hier wohne ich.“ Anton: „Und Sie wohnen hier schon Ihr ganzes Leben?“ Tankwart: „Das Grundstück hat ursprünglich mal dem Vater meiner Frau gehört.“ Anton: „Sie haben eingeheiratet.“ Tankwart: „Wir haben sehr viele Jahre in Temple, in Texas gewohnt, haben eine Familie gegründet, in Temple und sind vor ungefähr vier Jahren hierhergezogen.“ Anton: „Sie haben eingeheiratet.“ Tankwart: „Naja, wenn Sie es so sehen wollen... .“ Anton: „Nein, ich muss es nicht irgendwie sehen, es ist ganz einfach so. Was ist das höchste, was sie je beim Münzenwerfen verloren haben?“ Tankwart: „Sir...?“ Anton: „Was war Ihr höchster Verlust beim Münzenwerfen?“ Tankwart: „Ich weiß es nicht, keine Ahnung… .“ Anton: „Kopf oder Zahl?“ Tankwart: „Kopf oder Zahl?“ Anton: „Ja.“ Tankwart: „Und um was geht es?“ Anton: „Sagen Sie an.“ Tankwart: „Tja, ich muss doch erst mal wissen, worum wir überhaupt spielen.“ Anton: „Sie müssen ansagen, ich kann nicht für Sie ansagen, das wäre nicht fair.“ Tankwart: „Ich habe nichts gesetzt, worum ich spiele.“ Anton: „Oh doch... . Sie haben es Ihr ganzes Leben lang gesetzt und es noch nicht gemerkt. Wissen Sie aus welchem Jahr diese Münze ist?“ Tankwart: „Nein.“ Anton: „1958. Sie brauchte 22 Jahre um hier zu landen. Und jetzt ist sie hier. Jetzt heißt es Kopf oder Zahl und Sie müssen ansagen.“ Tankwart: „Tja, also ich, ich müsste erst wissen, was ich gewinnen kann.“ Anton: „Alles.“ Tankwart: „Wie das?“ Anton: „Sie können alles gewinnen, sagen Sie an.“ Tankwart: „Na schön. Dann sag ich Kopf.“ Anton: „Gute Entscheidung. Nicht in die Tasche stecken. Nicht einstecken, das ist Ihre Glücksmünze.“
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Siebentes Kapitel Tankwart: „Wo soll ich sie dann aufbewahren?“ Anton: „Überall, nur nicht in der Tasche. Sonst wird sie zwischen all den anderen einfach nur ein Geldstück.... . Was sie auch ist.“
Noch einmal können wir die „Definitionen“ zurückweisen und / oder modifizieren, zu denen Andere uns zu lenken versuchen, denn wir haben immer die Möglichkeit die Unmittelbarkeit der Situationen zu überschreiten, sie zu interpretieren und die von unserer „Phantom-Gemeinschaft“ bereitgestellten moralischen Grundsätze und Anweisungen für die Handlung zu erfüllen. Zusammengefasst: die Teile des „biologischen Ich“, die „Elane“ des I und die „organisierten Perspektiven“, die als Grundlage für das Role-taking dienen, erlauben dem Täter wie auf eine Plattform zu steigen und von da aus eine „reflexive Tätigkeit“ zu beginnen, die es erlaubt, sich auf die Schwelle dessen, was man gerade hervorruft, zu stellen. Es bleibt noch die Tatsache übrig – und wir nehmen hier die zweite Ebene der „Opazität“ wahr – dass man niemals perfekt die „Rollen der anderen“ annehmen kann, genau wegen dieser „Jedheit“, der qualitativen Bindungen, die mit den „perspektivischen Hintergründen“, den „sozialen Welten“ und kraft der besonders spontanen Komponenten des I entstehen. Diese Prozesse bringen die Gesprächspartner dazu, sich in den unterschiedlichsten Kontexten Fragen der Art zu stellen: „Was geht ihm gerade durch den Kopf?“ FALL E: MORD Ich schaute ihn [das zukünftige Opfer] an und lächelte ein wenig... er schaute mich an und ging... . Aber es muss auch so gewesen sein, dass auch er, als er das Messer als Zeichen der Herausforderung auf die Tischtennisplatte warf und ich ihn lächelnd ansah, so als ob ich sagen würde: „Jetzt erwisch ich dich...“, muss es so gewesen sein, dass auch er nicht wusste, wie er sich mit mir [verhalten sollte]. Und so haben wir schließlich... angefangen zu spielen. Verstanden?
All dies geschieht nicht in einem Vakuum, sondern unter diesem weiten „Baldachin“, in dem sich die „Beziehung Ich-Welt“ vollzieht. FALL C: MORD Der Täter versucht, indem er mit der eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ spricht, die Verhaltensweise des Opfers, eines Mitglieds einer kriminellen Organisation, anzunehmen und stellt sich seine Reaktion vor, wenn er sich in dieser Rolle befinden würde. Ich hatte mich in die Situation hineinversetzt, weil ich sah, ich dachte... ich hatte mir vorgestellt, wie es ausgehen könnte. Mich ihm nähern... vielleicht, wenn er die Waffe sah, würde er Angst bekommen und nicht reagieren. In dem Augenblick, in dem wir Körperkontakt hatten, denn er hatte mich geschubst, habe ich sofort die Waffe genommen, um ihn einzuschüchtern. Ich dachte: „Vielleicht bekommt er
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Angst, steigt ins Auto, fährt weg und lässt sich nicht mehr blicken oder er versucht nachzudenken... vielleicht versteht er ja, dass das, was er getan hat, falsch war, weil er mir nicht das gegeben hatte, was er mir hätte geben sollen“. Stattdessen ist es ganz anders gelaufen als ich mir vorgestellt hatte. Meine Geste sollte ihm Angst einjagen und ihn Dinge verstehen lassen wie: „Du willst jemandem etwas Schlechtes antun, der genauso reagieren könnte“. Ich wollte ihm nur Angst einjagen, ihn glauben lassen, dass auch ich jemand bin, der auf eine gewisse Weise reagieren könnte... . Das war meine Absicht und nicht, ihn zu erschießen... meine Absicht war, es ihn verstehen zu lassen, dass ich wie er reagieren konnte. Aber es kam nicht dazu... . In diesem Augenblick verstand ich nichts... denn ich erwartete so eine Reaktion nicht. Ich wollte zu ihm sagen: „Stopp! Überlegen wir, versuchen wir einen Kompromiss zu finden... .“ Aber es gab nicht die Gelegenheit dazu. Er sprach etwas Arabisch, etwas Italienisch und ich begriff nicht viel. Ich hatte mich in ihn hineinversetzt... wenn jemand sich hier hinstellt und eine Waffe auf mich richtet... bleibe ich vor Angst stehen, ich bewege mich nicht. Ich dachte er würde genauso reagieren. Stattdessen wollte der alles andere als nachdenken... genau das Gegenteil von dem, was ich gedacht hatte. Eine unerwartete Reaktion... denn ich überlegte ja schon vorher, welche Reaktion er haben könnte... stattdessen hat er sofort reagiert. Und dann geht es um Augenblicke, Sekunden. Es war das erste Mal, dass mir das passierte, dass mir so etwas passierte... ich bewegte mich nicht in diesem Milieu... du kannst nicht drinbleiben, wenn es nicht dein Milieu ist... . Dann habe ich mich umgeblickt und gesagt: „Was ist passiert?“ ich konnte nicht glauben, dass ich ihn erschossen hatte.
FILM: DOGVILLE Grace wird von Chuck vergewaltigt, der, bevor er diesen Akt der „Herrschaft“ in die Tat umsetzt, „sich selbst bedeutet“, dass Grace versuchen wird, sich gegen seinen spezifischen Handlungsplan zu wehren – oder ihn zumindest nicht unterstützen wird. Dann, indem er innerlich mit der Sichtweise der Gemeinschaft von Dogville, die sie gerade über Grace entwickelt, spricht, „bedeutet er sich“ – und kommuniziert dies seinem zukünftigen Opfer –, dass sie bösartig sei, da sie ihm den Respekt versagt, den sie ihm zollt. Zuletzt, indem er die „Situation“ aus dieser Perspektive einschätzt, „beschließt“ er, Gewalt anzuwenden zu müssen, um den eigenen Wunsch nach „Herrschaft“ zu befriedigen.42 Chuck: „Ich würde nicht versuchen wegzulaufen. Sie sehen dich auf jeden Fall.“ Grace: „Warum sollte ich denn weglaufen, Chuck?“ 42
In dieser Szene des Films wird kraftvoll die Metapher übernommen, mit der der Regisseur, Lars Von Trier, den ganzen Handlungsaufbau anordnet. Dogville ist ein Städtchen, in dem die Häuser keine Mauern haben, wo jeder Bewohner theoretisch von allen gesehen werden kann. Doch jeder betrachtet die anderen an, ohne sie zu sehen: „Dogville ist ein Ort der Transparenz. Während ihr Verhalten in Harmonie mit der Undurchsichtigkeit ihrer individuellen Leben steht, bringt die Inszenierung den Blick des Zuschauers auf eine Linie mit demjenigen eines allwissenden Gottes“ (Cosacov, 2008).
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Siebentes Kapitel Chuck: „Ich würde auch nicht versuchen zu schreien.“ Grace: „Warum sollte ich denn schreien?“ Chuck: „Jedenfalls ich wollte nicht, dass du hierbleibst. Viel zu schön und zu zerbrechlich für diesen Ort. Du wolltest mich glauben machen, ich bedeute dir was. Es ist deine Schuld, dass ich deinen Respekt einfordere, Grace.“ Grace: „Ich respektiere Sie doch, Chuck.“ Chuck: „Ich will, dass du mich respektierst.“ Grace: „Nicht... das ist falsch.“ Chuck: „Wenn ich die Blumen im Frühling zwingen kann früher zu blühen, kann ich dich auch zwingen.“ Grace: „Bitte... nein... bitte... bitte... bitte nicht… bitte, bitte sehen Sie mich an, sehen Sie mich an, sprechen Sie mit mir. Chuck, wir sind Freunde, Sie sind mein Freund.“ Chuck: „Nein, nein Grace, was ist denn?“
Es gibt immer ein zufälliges „Hier“ und „Jetzt“, welches das, was passieren wird, in eine andere Richtung abbiegen lässt. Es sind die „Situationen“ – so, wie sie von den sozialen Akteuren „beobachtet“, „interpretiert“ und „definiert“ werden –, die die Szene darstellen, in denen aus Entscheidungen Handlungen werden. Eine „Situation“ zu beobachten, besteht auch immer darin, etwas wahrzunehmen und es „sich zu zeigen“: Zu sehen bedeutet in diesem Sinne eine besondere Beziehung zwischen einem fixen Punkt in mir, in dem sich potenziell meine Lebensdynamik konzentriert, dank einer Art momentanen Unterbrechung sowie ein bestimmtes Bild […], von dem […] gewisse mehr oder weniger wesentliche Punkte hervorgehen (Minkowski, 1936, S. 39).
FILM: GOMORRHA Raub in einem Spielsalon. Gespräch zwischen den Gewalttätern und ihr Entschluss zum Handeln. Marco: „Überfallen wir die da?“ Ciro: „Häh?“ Marco: „Überfallen wir die Wixer?“ Ciro: „Du spinnst doch. Was denn für ein Überfall?“ Marco: „Na auf die Jungs hier. Auf den Laden hier!“ Ciro: „Unsere Spielhalle? Das ist so was von idiotisch, also echt.“ Marco: „Unser Geld ist alle.“ Ciro: „Da ist doch nichts zu holen“. Marco: „Die haben was. Hör doch auf mich einmal, du wirst schon sehen!“
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Ciro: „Du und deine scheiß Ideen, ist doch Blödsinn. Spiel einfach zu Ende und vergiss den Überfall.“ Marco: „Wir sind pleite, wir sind auf null.“ Ciro: „Da sind noch 50 Cent in meiner Kasse.“ Marco: „Also, machen wir’s jetzt ja oder nein? Du nimmst den an der Kasse und ich die Jungs hier.“ Ciro: „Es sind lauter Leute hier.“ Marco: „Glaub mir einfach, das klappt schon, eine schnelle Sache, ruckzuck. In Ordnung? Bereit? Hm?“ Marco e Ciro: „Das ist ein Überfall, klar?“ Die Bedeutung, die die Menschen der Situation zuschreiben, schafft ihre soziale Realität. Die sozialen Realitäten sind mehr als bloße körperliche Eigenschaften der Situation. […] Im Allgemeinen suchen die Menschen sich die Kontexte aus, in die sie eintreten oder die sie vermeiden werden, und können mit ihrer Anwesenheit und ihren Aktionen den Kontext auch verändern, die anderen in dieser sozialen Sphäre beeinflussen und die Milieus auf verschiedene Art beeinflussen (Zimbardo, 2007, S. 334 und S. 459).
Beispielsweise kann ein Student, der gegenüber einem Kommilitonen eine rassistische Beleidigung ausspricht, eine vollständige Veränderung der Situation verursachen – eine Veränderung in seiner „Definition“ und seiner „Rollenstruktur“ und der „sozialen und zeitlichen Positionen“ der Beteiligten. Manchmal können Worte, die ausgesprochen werden, eine Reihe von Interaktionen auslösen, die für diejenigen, die sich in einem bestimmten Kontext bewegen, eine noch verheerendere Wirkung haben. FALL B: MORD Die „Annahme einer fremden Verhaltensweise“ und die biologische Konstruktion des gewalttätigen Aktionsplans bringt hier einen „Tunnelblick“ mit sich. Wir vier saßen am Tisch und er [der Haupt-Mitangeklagte] sagt: „Weißt du, ich habe Probleme mit meiner Frau...“. Und ich: „Was soll ich denn machen? Ich kann die Probleme mit deiner Frau ja nicht lösen... .“ „Nein... weißt du... bla bla bla... ich bin sauer auf sie...“. „Na und, was willst du?“ Eines Abends war ich total zugekokst und er sagte zu mir: „Ich muss sie umbringen... . Ich muss sie umbringen...“. Und ich: „Ok, was soll ich sagen, dann bringen wir sie eben um...“. In diesem Augenblick habe ich gesagt: „OK, los, tun wir das, was wir tun müssen...“, ohne dabei zu merken, was ich da tat, denn in diesem Augenblick dachte ich nicht daran. Ja, ich mit Drogen vollgepumpt, Kokain. Er sagt: „Gehen wir?“ Und ich: „Ja, gehen wir, kein Problem.“ Ich hatte vor niemandem Angst... . Ich hatte zu diesem Zeitpunkt diesen Mechanismus im Kopf: „Wenn wir gehen müssen, gehen wir, kein Problem...“. Ich nahm ihn als überzeugenden Menschen wahr, nicht stärker als ich... aber als einen überzeugenden Menschen... . Er sprach von seiner Frau, die
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Siebentes Kapitel ihn für einen anderen verlassen hatte, und sagte, dass sie mit ihm Sex vor seiner Tochter hat... richtig würdelos, seien wir mal ehrlich. Er hat mir dieses Mädchen nicht als Frau beschrieben. Wir sprachen wohl vom Verbrechen und er sagte: „Sie werden uns sowieso nicht erwischen... es wird nicht passieren... keine Sorge... wir gehen nicht ins Gefängnis...“. Ich dachte ich würde ein Problem für einen Menschen lösen, den ich kannte... nur dass... ich dachte ich würde eine kompliziert familiäre Situation lösen... damals konnte man dieses Problem nur so lösen... wir nahmen nichts mehr wahr. Vorher haben wir uns organisiert, Inspektionen gemacht, die Uhrzeiten, an denen sie mit der Arbeit fertig war... eine vorsätzliche Sache... drei oder vier Tage lang... sie war Schichtarbeiterin in einer Fabrik, also konnte sie entweder um zwei Uhr nachmittags oder um zehn Uhr abends fertig sein. Wir waren uns sicher, dass sie in dieser Woche um zehn Uhr abends fertig sein würde. Drei, vier Tage lang haben wir alle ihre Bewegungen beobachtet... und danach, am letzten Abend, haben wir organisiert, sie anzuhalten... er hat geschossen... er sagt, dass ich geschossen hätte... dann haben wir sie verkohlt, indem wir auch noch das Auto angezündet haben.
Viertes Einzelbild. Emotionen und „Role-taking“ Im Verlauf der „Situationen“ positionieren sich die Akteure auch „emotional“ und drücken sich „emotional“ aus: Das Gefühlsleben eines Menschen ist nicht nur ein bloßer Fluss von Inhalten, doch auch kein „Bündel“, kein „Stapel“ […]. Obwohl ich normalerweise gleichzeitig verschiedene Erfahrungen der Gefühlssphäre durchlebe, führt diese gleichzeitige Vielfalt keineswegs zu einem Chaos. Fakt ist, dass sich jedes real affektiv Erlebte normalerweise in eine vertikale Dimension der Wichtigkeit eingliedert sowie auch in eine horizontale Dimension der Zeitlichkeit […]. Ohne eine axiologische Stratifikation und Strukturierung der Gefühle wäre es nicht möglich, dass verschiedene affektive Erlebnisse, die vielleicht gleichzeitig stattfinden, ihre „richtige“ Position finden, indem sie mehr oder weniger angemessene Reaktionen hervorbringen (De 43 Monticelli, 2003, S. 83–84).
In Abwandlung dessen, was Berger / Luckmann (1966) sagen, denken an die „Emotionen“ als jenen Teil der menschlichen Ausdrucksfähigkeit, der am meisten das hic et nunc der Welt eines jeden zum Ausdruck bringt und der sich kontextuell im „Prozess der Typisierung“ manifestiert,44 welcher aus ihnen 43
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„Die theoretischen Aussagen über Emotionen gründen häufig auf der Annahme, dass es sich um Faktoren der Abweichung von der Rationalität des Denken, des Verhaltens und der Beziehungen unter den Menschen handelt. Diese Auffassung, die in vielen Ausdrücken des gesunden Menschenverstands erkennbar ist, hat einen langen Weg hinter sich und hat das westliche philosophische Denken lange Zeit geprägt“ (Cornelli, 2008, S. 63). Das entscheidende Element dieses Dilemmas betrifft die Neubildung der Dichotomie zwischen „Körperlichkeit“ und „kulturellen Anteilen“ der „Leidenschaften“. Zum Thema Leidenschaft / Verstand s. Bodei (1991). „Die ‘Typen’ sind Vorstellungen von der Wirklichkeit, die eine Klassifizierung bilden. […] ich definiere sie im Einklang mit der Art, auf die sie in der sozialen Welt, zu der
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verständliche und objektivierbare Teile dieser „perspektivischen Hintergründe“ macht, auf die man zurückgreifen kann, um unserem aktuellen Fühlen einen Sinn geben zu können: Wir reden von „Emotionen“ und deuten diese wir uns selbst und beschreiben sie den Anderen durch ein Repertoire von „Wörtern“ und „Diskursen“, welche die „soziale Welt“ erzählen, in die wir eingetaucht sind.45 FILM: TROPA DE ELITE In dieser „sozialen Welt“, der Favela, arbeitet Neto an einer „Situationsinterpretation“, die Emotionen aktiviert, die, in diesen Kontexten, normalerweise zu einer destruktiven Handlung drängen. Erzählerstimme: „Sie hätten Fabio nicht vor aller Augen getötet, aber Neto hatte einen nervösen Finger... und aus seiner Sicht griff der Dealer nach einer Waffe...46 und Neto war nervös... und wenn du nervös bist und dich in einer Favela befindest und eine Waffe in der Hand hältst, ist das Resultat ein Haufen Scheiße.“
Die „symbolischen Interaktionisten“ haben ihrerseits bereits hervorgehoben, dass der „innere Dialog“ auch dann nicht unterbrochen wird, wenn es darum geht, den „Gefühlen“ eine Form zu verleihen. Diese Annahme stammt von der meadschen Theorie des Self und der stärker interpretativen Neuinterpretation von Blumer: Indem wir „uns selbst“ als „soziale Objekte“ bezeichnen können – seien sie physischer oder immaterieller Natur – können wir eine ständige „Emotionsarbeit“ (emotion work) ausüben. Im Verlauf der Entwicklung des „symbolischen Interaktionismus“ hat Norman Denzin (1984a, S. 5) treffend dargelegt, dass „Emotionen“ „soziale Objekte“ sind, die im Inneren unseres Handlungsverlaufs zugeschnitten sind. Wir erkennen sie an, während wir sie interpretieren.47 Neben dem Erleben auf
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sie gehören, definiert werden. Dies geschieht nicht nur, weil jeder lernt, die Realität im Verlauf seiner Sozialisierungsprozesse [und Violentisierungsprozesse] zu ‘typisieren’, sondern hauptsächlich deshalb, weil die Nützlichkeit der ‘Typen’ eben darin besteht, dass sie mit den Anderen geteilt werden“ (Jedlowski, 2008, S. 34). Zu diesen Themen siehe auch Cornelli (2008, S. 206–207). Anmerkung der Übersetzerin: Der Rest des Satzes fehlt in der deutschen Synchronisierung und wurde von mir ergänzt. Unter den Konzeptionen, die sich anbieten, „den Dualismus Verstand / Leidenschaft zu überwinden, zeigen einige aktuelle Studien der kognitiven Psychologie das Vorhandensein von Elementen der Rationalität innerhalb der Leidenschaft, indem sie die Rolle der ‘kognitiven Grundlage’ anerkennen: Es handelt sich um eine Erinnerung, eine Wahrnehmung, ein Urteil, eine Unterstellung, von der die Emotion abhängt. Dieses kognitive Element wird in Bezug auf die verschiedenen Sorten von Stimmungen, die das Universum der Leidenschaft bilden, eingestuft“ (Cornelli, 2008, S. 68). Auch wenn es dabei bleibt, dass wir „Leidenschaft“ und „Emotionen“ als Worte verwenden, mit denen wir die Welt, in der wir leben, beobachten, wahrnehmen, interpretieren und transformieren,
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körperliche und auf nicht-reflexive Art (Herzklopfen, Schweißausbrüche) machen wir hauptsächlich „reflexive“ Erfahrungen, mit denen wir die andernfalls unbestimmten, diffusen und formlosen körperlichen Empfindungen definieren, ihnen eine Bedeutung geben, sie organisieren und kontrollieren.48 Die inneren Zustände und Bewegungen, die an der emotionalen Erfahrung teilhaben, bilden diese nicht an sich, denn die „Bestimmungen“ und „Interpretationen“, die diesen physiologischen Zuständen zugeschrieben werden, bestätigen ihre „emotionale Bedeutung“ oder, im umgekehrten Falle, ihre Irrelevanz (Shott, 1979, S. 287).49 FILM: DEPARTED. UNTER FEINDEN Billy Costigan sitzt der Psychotherapeutin gegenüber. Psychotherapeutin: Bleiben wir bei Ihnen. Erzählen Sie mir, wie Sie sich fühlen.“ Billy: „Wie ich mich fühle? Wie ich mich fühle... [zu sich während ihm wichtige Bilder aus der Vergangenheit durch den Kopf schießen]. Du sitzt da mit einem Massenmörder... einem Massenmörder und dein Herz rast in einer Tour und deine Hand ist ganz ruhig... eine Sache, die ich im Gefängnis über mich gelernt habe... meine Hand... zittert nie, niemals.“
Fall F: Mord Ich bin sehr nervös... denn wenn ich stehenbleibe, habe ich das Gefühl zu sterben. Aber, wenn ich mich beispielsweise in der Situation befinde, mit jemandem sprechen zu müssen, um ihm, was weiß ich, 100 g Koks zu verkaufen... sage ich zu ihm Dinge dieser Art: „Hör zu, hier habe ich 100 g Koks und muss das Geld bis heute Abend haben, sonst gibt es für alle ein Problem“. Und dann sagst du mir: „Was meinst du damit, alle haben dann ein Problem?“ Und ich: „Hör zu, du hast schon ein Problem, wenn du dieses Koks nicht nimmst.“ Das sage ich mit einer ungeheuren Kälte... denn ich werde in solchen Augenblicken kalt, ruhig, rational. Vielleicht benutze ich in solchen Augenblicken mein Gehirn am meisten... denn mein Gehirn benutze ich sonst nie... aber in solchen Augenblicken höre ich immer auf das, was das Gehirn mir sagt.
Im Handlungsfluss, der zum Mord führt, zeigt die Person, dass sie „erkennt“ und „vorhersieht“, was in ihm passieren wird, auch in seinen körperlichen und emotionalen Dimensionen:
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werden wir uns nicht mit dem Inhalt dieser höchst wichtigen Untersuchungen befassen, welche die Perspektiven der Kenntnis über diese Themen in Übereinstimmung mit dem, was wir hier annehmen, erweitern. S. dazu Kap. 2 über Grundsätze des Selbstgesprächs. „Das arousal stellt nicht an sich eine Emotion dar; was notwendig ist [um sie als solche zu definieren] ist die Überzeugung, dass irgendeine Emotion die geeignetere Erklärung für [dieses] arousal ist“ (Shott, 1979, S. 285–286).
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FALL F: MORD Er kam auf mich zu und ich wusste bereits, wie sich die Messerstiche von ihm anfühlen würden... ich weiß, wie man zusticht, wie das Messer in der Hand vibriert. Ich kenn’ diese Dinge schon, ich weiß wie sie enden... ich weiß, wie ich bin... ich weiß, dass wenn ich ein Messer in die Hand nehme, zum Tier werde, zur Bestie. Ich werde zum Hai, der, wenn er Blut sieht, nichts anderes mehr wahrnimmt... er gerät in eine Fresswut. Das Gleiche passiert ungefähr bei mir... .
Manchmal fühlen wir, dass die Emotionen sich unseres Körpers so sehr bemächtigen, dass wir uns „außer uns“ fühlen. FALL G: SEXUELLE GEWALT UND MORD Ich habe ein totales Blackout... ich war nicht bei mir in dieser Nacht. Egal wer da gewesen wäre, ich hätte ihn erstochen. Es hätte außer ihr auch irgendjemand anderes sein können... Es ist so: ich war in dieser Nacht nicht anwesend, das war nicht ich. Ich tat, aber ich befahl meinem Körper nicht es zu tun. Ich sah, was geschah, aber ich befahl es meinem Körper nicht. Ich konnte mich nicht stoppen. Die Wut trieb meinen Körper an... Wut, die ich seit vielen Jahren ertrug... Wut, Frust... ich befand mich wirklich an der Grenze des Normalen. Ich arbeitete, war eine Art Familienoberhaupt, ich brachte Geld nach Hause... aber niemanden interessierte es, ich tat es, weil ich es tun musste... für die anderen war es selbstverständlich, dass ich es tat... ich bekam kein Dankeschön, Geschenke oder so... ich habe in meinem ganzen Lebens nichts geschenkt bekommen... ich habe stattdessen sogar vieles für andere ausbaden müssen... aber nie etwas geschenkt bekommen. In einer kleinen Ecke war diese Wut immer versteckt gewesen... eines Tages musste ich etwas einstecken, eines Tages einstecken... zehn Jahre lang... Wie kann ich so lang einstecken? Ich hätte sie ohrfeigen sollen [seine Freundin, nicht das Opfer der Straftat], aber ich hatte nicht den Mut... bei Frauen schaffe ich es nicht... das war das erste Mal, dass ich einer Frau Gewalt angetan habe... .
Die Überraschung ist noch größer, wenn dem Anstoß zum Handeln keine Prozesse des Role-taking vorangegangen sind: sich über einem Abgrund hinauszulehnen kann eine unaufhaltsame Angst hervorrufen; in einem Fahrstuhl stecken zu bleiben kann eine große Wut und ein gewisses Unbehagen hervorrufen. Wenn Menschen auf ihre eigenen emotionalen Gefühle reagieren, tun sie dies hauptsächlich durch „Annahme einer Rolle“. Beispielsweise belastet die Weigerung, auf einen Gruß zu antworten, die Handlung mit eine Bedeutung von hohem emotionalen Wert, der einer routiniemäßigen Antwort fehlt. Auf jeden Fall gibt es eine große Bandbreite von Arten, mit denen man im Hinblick auf „Emotionen“ experimentieren kann. Wenn es stimmt, dass man immer an ihnen arbeiten kann (emotion work), so tut man es doch nicht zwangsläufig in jedem Kontext. Menschen experimentieren stark mit sich, was Trudy Mills und Sherryl Kleinman (1985, S. 313 ff.) als „nicht-reflexiv und
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nicht-emotional“, „nicht-reflexiv und emotional“, „reflexiv und nichtemotional“ aufgliedern. Oder analytischer ausgedrückt: •
in vielen Situationen des Alltagslebens spielen Emotionen bloß eine Nebenrolle in dem Sinne, dass die Entscheidungen, eine Handlung auszuführen, in Verhaltensmodelle und Formen der „Herrschaft“ kanalisiert werden, die für selbstverständlich, „habitualisiert“ gehalten werden. Jedes Mal, wenn wir bereits wissen, was wir in (aus) einer bestimmten Situation machen sollen – und unser Körper begleitet „natürlich“ unser Handeln –, bedeutet es, dass wir in routinierte, „nicht-reflexive und nicht-emotionale“ Aktivitäten verwickelt sind;
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in anderen „Situationen“ werden die sozial Handelnden ihre eigene „reflexive“ Tätigkeit und die der self-indication unterbrechen, indem sie in einen „nicht-reflexiven und emotionalen“ Zustand gelangen, der sie überwältigt. In vielen Fällen familiärer Gewalt haben die Opfer das Gefühl, abgestumpft und unsensibel zu sein, was sich auf jede Sinneswahrnehmung überträgt. Ein Beispiel, das unseren Themen noch näher steht, ist das der Erlebnisse desjenigen, der Opfer einer „gewalttätige Rache“ wird, indem er mit dem Zustand der körperlichen Apathie und Gefühllosigkeit experimentiert, die jede Form der Resistenz entschärfen. Auch in solchen Situationen benötigt man die Abstumpfung, um in beklemmenden Beziehungen „zu bleiben“, aus denen man nicht glaubt fliehen zu können.
FILM: DOGVILLE Der Zustand von Grace am Ende des „Brutalisierungsprozesses“, der ihr von den Bewohnern von Dogville aufgezwungen wurde. Allwissender Erzähler: „Es war nicht Grace’ Stolz, der sie durchhalten ließ in den Tagen, als der Herbst kam und die Bäume ihre Blätter verloren. Es war eher der tranceartige Zustand, der Tiere überfällt, die in Lebensgefahr sind. Ein Zustand, in dem der Körper mechanisch reagiert, in einer niedrigen, schwerfälligen Gangart ohne allzu viele schmerzhafte Betrachtungen. Wie ein Patient, der sich willenlos seiner Krankheit ausliefert.“
FALL G: SEXUELLE GEWALT UND MORD Mein Kopf fühlte sich immer schwer an, weil sie, meine Mutter, mir immer sagte, was ich tun sollte und was nicht... mein Kopf fühlte sich immer schwer an, als ob ich mir einen Ziegelstein auf den Kopf gelegt hätte... sie musste immer bestimmen. Ich tat das, was sie mir sagte. Ich arbeitete immer. Ich hörte auf, in Diskos zu gehen, ich ging nicht mehr mit meiner Freundin zusammen ans Meer... und schließlich fing ich auch noch einen Krieg mit meiner Freundin an, die immer
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wiederholte: „Hey, du gehst nicht mehr mit mir tanzen, du gehst nicht mehr mit mir ans Meer“. Das war eins der Motive für den Bruch... es gab nur noch Pflichten... es gab keinen Platz mehr für Spaß. Meine Mutter sagte mir weiterhin, was ich zu tun hatte... und meine Freundin sagte mir, was ich nicht tun sollte und fügte dabei hinzu: „Hör nicht auf deine Mutter“. Die beiden Stimmen überlappten sich, und ich... ich ging dabei zugrunde... ich war erstickt... ich schaffte es nicht mehr und so betäubte ich mich. Ich suchte Kokain, um mich aufzuputschen, eine Adrenalinladung zu bekommen... Dann nahm ich mein Auto und fuhr mit zweihundert Sachen auf der Schnellstraße... um pures Adrenalin zu bekommen... um mich ein bisschen freier zu fühlen... ohne immer das Gewicht der anderen auf den Schultern zu spüren... ich fühlte mich unabhängig... in der Lage, alles tun zu können... ich habe mir sicher damals nicht vorgestellt, Menschen wehtun zu können... nein, das dachte ich wirklich nicht... . In den Augenblicken, in denen ich Drogen nahm, wenn ich trank, konnte ich nein sagen… wenn ich trank, konnte ich nein sagen, ohne zu trinken, war es schon etwas schwieriger... nein zu sagen... .
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Wer Misshandlungen oder „Brutalisierungen“ durchgemacht hat, versucht sich seiner Gefühle, die in der Zwischenzeit unerträglich geworden sind, mit Hilfe von „reflexiven und emotionalen“ Verhaltenswiesen zu entledigen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Frauen, die von ihren Ehemännern „dominiert“ werden, oder von Personen, die sich in einem „Kriegszustand“ befinden, die „reflexiv“ bezüglich ihrer „Emotionen“ reagieren, in dem Versuch den Erfahrungen der Unterwerfung eine Bedeutung zu verleihen und Verhaltensweisen – auch innere – zu erkennen, die ihnen helfen, in ebenso destruktiven und traumatisierenden „Situationen“ zu überleben. Beispielsweise lernen Frauen, ihren Männern gegenüber keine Wut zu zeigen, aus Angst sie damit zu provozieren; genauso „bedeutet“ der „Gewaltbereite“ „sich selbst“, indem er eine „emotionale Intuition“ (emotional insight) aktiviert, dass es notwendig ist, die Beziehungen zu seinen „Dominanten Anderen“ neu zu organisieren, um nicht in einen Strudel der Selbstmissachtung zu geraten.
FALL G: SEXUELLE GEWALT UND MORD Und dann war da noch ihr [der Mutter] psychologisches Spielchen... Als ich endgültig mit meiner Freundin Schluss gemacht habe... hat sie ein psychologisches Spielchen mit mir getrieben. Ich wollte Freiheit... ich hatte Lust mich zu verändern... und ich war unterwegs, um mir ein paar Motorräder anzusehen. Ich wollte mit ein Motorrad kaufen, und ich fand auch ein gutes, gebraucht, erst einmal für den Anfang. Ich kaufte es und wartete noch auf den Fahrzeugbrief. Als ich ihr gesagt habe, dass ich es mir gekauft hatte, fing sie an mich verärgert anzusehen... sie sprach nicht mehr mit mir... weil sie sagte, dass ich mich mit dem Motorrad noch umbringen würde... und sie blieb so lange verärgert, bis ich zum Autohändler gegangen bin und den Kauf rückgängig zu machen. Sie sprach nicht mit mir, sie sah
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Siebentes Kapitel mich nicht an, sie tat so, als ob ich nicht im Raum wäre... unsichtbar. Sie spielte immer damit... . Dieses Motorrad bedeutete für mich, eine eigene Entscheidung treffen zu können... ohne irgendjemandem dafür um Erlaubnis bitten zu müssen. Stattdessen hat nichts davon geklappt, weil mir nicht die Erlaubnis gegeben wurde. Ich hatte nicht um Erlaubnis gefragt, denn das psychologische Spielchen bestand darin, dass ich sie um etwas bat und sie es mir nicht gestattete und... es war dann alles wie zuvor. Sie hatte die Macht und nicht ich.
Diese Gesten der inneren Reflexion treten am häufigsten in Folge von gewaltsamen Zusammenstößen auf, die heftiger sind, als die vorher erlebten, allerdings führen sie nicht automatisch zu defensiven oder aggressiven Handlungen. •
Die Übersetzung der „emotionalen Intuitionen“ in passende Entscheidungen – die sich vollzieht, indem man seiner „Phantom-Gemeinschaft“ jene Stimmen beilegt, die eine Veränderung befürworten – können auf einen außenstehenden Beobachter „rational“ wirken (beispielsweise das Verlassen eines gewalttätigen Ehemanns und das Verlangen der Scheidung). Uns entgeht jedoch nicht die lange und mühselige Arbeit der „inneren Konversation“ über „Emotionen“, um sich für präzise („reflexive und nicht-emotionale“) Handlungsabläufe zu entscheiden.
FILM: DOGVILLE Grace ist tief von der destruktiven und brutalisierenden Geste von Vera betroffen und denkt, auch wegen dieser Geste, über ihre Beziehung zu den „Menschen dieses Ortes“ nach. Obwohl sie weiß, dass sie ihre „Emotionen“ kontrollieren kann, wird sie von ihnen überwältigt. Allwissende Stimme / Erzähler: „In ihrem Leben hatte Grace beachtliche Übung darin entwickelt ihre Gefühle zu unterdrücken und sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass es ihr jetzt so schwerfiel sich zu beherrschen. Doch als das Porzellan auf dem Boden in Stücke zerbrach, da war es für sie so, als würde menschliches Gewebe zerfallen. Die Figuren waren das Ergebnis der Begegnungen zwischen ihr und den Menschen in der Gemeinde, sie waren der Beweis, dass trotz allem, ihre Leid etwas von Wert hatte entstehen lassen. Grace konnte nicht mehr. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit weinte sie.“
Fünftes Einzelbild. Begehren „des Anderen“ und „des Self“ Doch woher kommen dieses „Begehren“, das im „Elan“ gegenüber der Welt zur Begehung „böser“ Taten drängen vollziehen? John Dewey (1922, S. 249), stellt sie, wenn er über die Bewegung der „Begierde“ spricht, als „jene Tätig-
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keit [dar], die fortzuschreiten versucht, um den Damm zu brechen, der sie hält“.50 Auch die „Tätigkeit“, welche in der Dimension des „Begehrens“ wirkt, ist, unserer Ansicht nach, auf diesen „reflexiven Prozess“ zurückzuführen, der uns mit unseren „Phantomen-Anderen“ in Verbindung mit den „sozialen Welten“, die wir bewohnen, uns unterhalten lässt. Nähern wir uns einigen dieser geometrischen Bilder, die Girard so liebt, so schlagen wir vor, das „Begehren“ aus jener Perspektive zu betrachten, die es als eine komplexere Struktur als nur eine einfache gerade Linie, die den „Begehrenden“ zu seinem „Objekt“ führt“, abbildet (Girard, 1961, S. 12). Es waren die „großen“ Romanautoren – wie ebenfalls Girard bemerkt –, die uns klargemacht haben, dass Menschen, um begehren zu können, eines „Vermittlers“, einer dritten Person bedürfen, und dass gerade dessen Blickwinkel die Attraktivität gewisser Objekte statt anderer bestimmt und somit eine „WerteBörse“ bildet51: Der Schüler stürzt sich auf die Objekte, die der „VorbildMediator“ ihm anzeigt oder anzuzeigen scheint. Und abermals ist nicht so sehr das „Objekt“, das der „Mediator“ ihm real als begehrenswert anzeigt, besonders wichtig, als vielmehr das, was der „Schüler“ „sich selbst anzeigt“ und zwar auf der Grundlage der empfangenden Anweisungen. Die Matrizen des „Selbstgesprächs“, die Probleme der „Übersetzung“ der bedeutungsvollen Symbole und ihres Gehaltes an „Opazität“ sind hier voll und ganz anzutreffen. Das „Begehren“ geht also nicht „völlig aus dem fast schon gottgleichen Ich“ hervor, sondern ist das Ergebnis einer Kreuzung von Perspektiven, die so sehr ineinander verschwimmen können, dass sich die eine in der anderen spiegelt und somit eine perverse escalation „mimetischer Rivalität“ hervorruft: während die Distanz zwischen den „Rivalen“ immer kleiner wird und das „Objekt“ immer mehr in den Hintergrund rückt, äußert sich das „Begehren“, der „Ande-
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„Der „Gegenstand“, der sich jetzt dem Denken als Ziel des Begehrens darbietet, ist der Gegenstand in der Umwelt, der, wenn er da wäre, eine Wiedervereinigung der Tätigkeit und die Herstellung ihrer vorwärts strebenden Einheit sichern würde“ (Dewey, 1922, S. 178). Unter den zahlreichen Beispielen, die Girard in Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität zitiert, erinnern wir an jenesaus dem Werk von Cervantes, wo Sancho Pansa Eigentümer einer Insel werden möchte und vorhat, ihr Gouverneur zu werden, indem er unter anderem seiner Tochter den Titel einer Herzogin verleiht. Doch dieser Wunsch ist nicht sein eigener. In Wirklichkeit stammt dieser Wunsch von Don Quichotte. Auf die gleiche Art entwickelt Emma Bovary Phantasien, die ihr von Büchern eingeflüstert wurden.
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re“ zu sein, mit wachsender Übermacht (Girard, 1961, S. 49 ff.).52 Dann scheinen die Menschen für einander zu Göttern zu werden.53 Das Bild von einem „Objekt“, das nunmehr ohne unterscheidenden Wert ist, und das immer stärker werdende Bedürfnis von Seiten des „Schülers“, vom „Vorbild-Mediator“ „anerkannt“ zu werden, lässt uns wieder an Hegels Herrund-Knecht-Dialektik denken, so wie sie von Lacan aufgegriffen und widerlegt wurde. In seiner Deutung des „Begehrens“ erklärt er, dass das, was der Mensch sich wünscht – grundsätzlich – ist, dass der Andere ihn begehrt: Das Begehren des Menschen hat seinen Platz im Bereich der Vermittlung, es ist das Begehren, sein Begehren anerkannt zu bekommen. Er hat ein Begehren zum Gegenstand, nämlich das der anderen, in dem Sinn, dass es für den Menschen keinen Gegenstand gibt, der sein Begehren unmittelbar darstellt; und dies wird auch in seinen primitivsten Bedürfnissen deutlich […] (Lacan 1950, S. 183).
Hier finden sich, in anderen Tonarten als denen von Girard, noch deutlicher die Spuren, die deutlich machen, dass die „Richtung des Begehrens“ nicht aus dem Einzelnen hervorgeht, sondern ihre Erklärung im „Anderen“ findet, da es vor allem der Andere ist, der unsere symbolischen Bedürfnisse nach „Anerkennung“ befriedigen kann. „[…] Im Kampf Mann gegen Mann mit dem Anderen spielt das menschliche Begehren sein tödliches Spiel“.54 Dieser 52
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Hier genügt es, auf das Bild von Prousts Snob zu verweisen, eines richtigen Helden, so kann man sagen, der „Welten“ imitiert, die nahe und zugänglich sind. Die Figur (Legrandin) lebt im selben Dorf wie die anderen, die Mediatoren (die Guermantes), die er für alles beneidet – Geburt, Reichtum, etc. Die Nachahmung kann hier zu nichts außer Wettbewerb und innerem Leiden führen. Es ist wichtig, eine weitere Frage, die Girards Werk aufwirft und den „Schüler“ und das „Vorbild“ betrifft, nicht außer Betracht zu lassen. Sie bringt eine „Differenzierung der Rollen“ mit sich: die „untergeordnete“ des Schülers und die „übergeordnete“ des Vorbilds. Diese Asymmetrie, die eine zeitliche und / oder soziale Distanz zwischen den beiden Personen mit sich bringt, erweist sich als entscheidend dafür, ihren Konflikt auf Eis zu legen. In Bezug darauf spricht Girard von zwei verschiedenen Typen der „Mediation“: der „inneren“ und der „äußeren“. Was sie unterscheidet, ist die Distanz zwischen „wünschender Person“ und dem „Vorbild-Mediator“. Wenn die Distanz zwischen ihnen entsteht, weil „die möglichen Welten des Mediators und die der Person sich nicht berühren“ und sie unterschiedliche Stellungen in der Sozialstruktur einnehmen, werden die mimetischen Konflikte so lange vermieden, bis einer sich dazu entscheidet den anderen zu entmachten („externe Mediation“). Wenn umgekehrt die Distanz gering ist und ihre „Welten“ sich durchdringen, kann die Rivalität, indem von der Macht zum Handeln übergegangen wird, in einen Konflikt ausarten. Bei der „inneren Mediation“ hingegen, ist der Mediator nicht nur ein „Vorbild“ für seinen „Schüler“, sondern stellt auch ein „Hindernis“ bei der Erreichung des „Ziels“ dar: Ihn zu bezeichnen und vor den Augen der „begehrenden Person“ vom Rest der Welt zu isolieren, wird zugleich den Ort des Konflikts erhellen. Recalcati (2004, S. 8), als Kommentar zu Sartre.
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„Nahkampf mit dem Anderen“ erweist sich zugleich als „tödlich“, denn das Aufkommen von Überheblichkeit geht über die symbolische Befriedigung des Bedürfnisses nach „Anerkennung“ hinaus und schleicht sich als ein Zustand von Angst ein. FALL A: MORD Der Täter spricht von seinem „Kampf Mann gegen Mann“ mit einem „bedeutsamen Anderen“, darüber, was er für eine Beziehung zu demjenigen hatte, der das Opfer seiner tödlichen Geste werden sollte. Die Tatsache, dass es danach keine Anerkennung gab, ließ mich wütend werden... aber nicht Anerkennung im Sinne „Du hast mir 482 EUR gegeben und ich gebe dir fast 248“, also die Hälfte... aber so meine ich das nicht sondern im Sinne des Verhaltens, denn für mich war es eine Genugtuung, wenn er sich mir gegenüber auf eine gewisse Weise verhielt, er hingegen hatte nicht diese Art, unsere Freundschaft zu schätzen zu wissen... denn Freundschaft geht über Geld hinaus... . Er hatte eine größere Entscheidungsmacht als ich. Ich tendiere im Allgemeinen dazu, mit Menschen eine gleichberechtigte Beziehung herzustellen. Aber seine Beziehungen waren sehr komplex und kompliziert. Ich fühlte mich als Mensch herabgewürdigt… es war so, als ob er mir meine Würde wegnehmen würde... das Wort Würde beschreibt ganz genau mein Verhältnis zu X damals. Mir ist das auch mit anderen Menschen passiert [dass sie mich meiner Würde beraubt haben], aber das waren Menschen, die mich nicht interessierten. Mit X fühlte ich mich hingegen sogar ganz wohl, man kennt sich ja nicht umsonst 35 Jahre, nur um... da war schon mehr, das ist klar... .
Überlassen wir nun Massimo Recalcati das Wort: Wenn der Andere der symbolischen Anerkennung solch ein Anderer ist, dass er den Untergebenen in seiner Einzigartigkeit durch eine Antwort, die ihn eben als Untergebenen anerkennt, in seinen Einzelheiten beschreiben kann, so zerreißt das Begehren des Anderen im Sinne des genitivus objectivus den dialektischen Schleier des Spiels der wechselseitigen Anerkennung und bringt das bedrohliche, unheimliche, fremde Gesicht des Anderen zum Vorschein. […] Das Begehren steht in einer engen Beziehung zur Angst, denn die Verfassung des Untergebenen hängt einerseits vom Anderen ab […], doch andererseits flieht er prinzipiell vor jeder Bestimmung. Vielmehr bleibt die Bestimmung dessen, was ich bin, auf rätselhafte Weise an das Begehren des Anderen geheftet (Recalcati, 2004, S. 13–14).55
Die Lektüre von Fragmenten dieser Autoren lässt uns verstehen, dass, wie sehr auch das Begehren meistens als etwas vornehmlich „Persönliches“ vorgestellt wird, das aus dem tiefsten Inneren eines Menschen hervorgeht, wir es doch auch belauschen können – beginnend bei den „bedeutungsvollen sozialen 55
„Das hegelianische Begehren ist das Begehren eines Begehrenden, während das lacansche Begehren zur dunklen Macht eines Begehrens wird, das vom Anderen stammt, in dem Sinne, dass er die Angst des ‘Was willst du?’ bei sich führt“ (Recalcati, 2004, S. 14).
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Interaktionen“, die zwischen „mimetischen Rivalen“, zwischen „Schüler“ und „Vorbild“ stattfinden. Girard definiert dies als ein „Begehren gemäß dem Anderen“, das sich vom romantischen „Begehren gemäß sich selbst“ (Girard, 1961, S. 8) unterscheidet – sich aber, wie wir hinzufügen, nicht weit vom „Begehren gemäß des Self“ befindet. Genau hier können wir eine erste Brücke zwischen Girards Begriff „Begehren“ und dem interaktionistischen Role-taking schlagen. Während nämlich das Self, wie wir wissen, einen Ursprung und eine Existenz hat, die ausgeprägt „sozial“ sind, entsteht und ernährt sich das „Begehren“ seinerseits von den Blicken der „Mediatoren“. Während wir mit uns selbst sprechen, nehmen diejenigen Stimmen Gestalt an, die im Parlament unserer „Phantom-Gemeinschaft“ das meiste Sagen haben; ihnen zur Seite treten jene, welche die Blicke der „Mediatoren“ in verführerische, verzaubernde und befehlende Worte übersetzen, um „Handlungsverläufe“ nur in Richtung einiger „Ziele“ zu lenken. Unsere „Kosmologie“ wird somit sowohl von „bedeutungsvollen Anderen“, als auch von „Mediatoren des Begehrens“ strukturiert, die durch Prozesse des Role-taking in unterschiedlichen Zeiten unserer Existenz „verinnerlicht“ wurden.“ Da wir immer die bedeutungsvollen Vorbilder unserer „Phantom-Gemeinschaft“ mit uns tragen, werden diese die Selbstbilder formen und die Auswahl zukünftiger Vorbilder / Objekte des Begehrens lenken“ (Morris, 2004).
Sechstes Einzelbild. Soziale Welten und Reflexivität Im Rahmen eines Interviews mit dreißig Jugendlichen der Catalina Mountain School in Tucson, Arizona, wurde der US-amerikanische Kriminologe Bernard Harcourt (2006, S. 7–12) von ihrer Faszination für Pistolen und allgemein für Schusswaffen stark beeindruckt. Seine Interviews zeigen die verführerische Anziehungskraft der Pistolen, die bei den Jugendlichen sogar „moralische“ und „politisch-ökonomische Dimensionen“ annimmt. Obwohl es Tötungsinstrumente sind, werden sie zu begehrten, attraktiven und erotisierten „Objekten“ der „Macht“, die ihrem Besitzer erlauben, sein „zugehöriges Umfeld“ zu „kontrollieren“ und zu „dominieren“. In den Lücken, in denen sich „Emotionsarbeiten“, „Forderungen nach Anerkennung“, Anweisungen der „Vorbilder-Mediatoren“ und der „PhantomFreunde“ und Ängste, die das „Anderssein“ an sich schon hervorruft, angesiedelt haben, finden wir Ufer (wieder), die unseren „Elan“ ins Innere von sozial strukturierten „Kosmologien“ zu kanalisieren vermögen. Die Biografie eines jeden, der in einer „lebendigen Gegenwart“ – welche die Vergangenheit, die
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Gegenwart und die Zukunft, Erinnerungen und Erwartungen einschließt – tätig ist, bestimmt, in welchem Ausmaß und wie tief die Pflichten, die Normen, der Status und die sozialen Rollen vom einzelnen sozial Handelnden „verinnerlicht“ wurden. Jeder Mensch ist einzig auf seine soziale „Welt“ ausgerichtet, und die Lösung für das Problem der Beziehung zwischen agency und Struktur, findet sich in diesem „kosmologischen“ Verhältnis. Dies bemerkt meisterlich Pierpaolo Donati: Die sozio-kulturellen Strukturen beeinflussen das menschliche Handeln nur durch die innere Reflexivität der Person, welche die Daten des äußeren Kontextes in ihre Strategien integrieren muss und sich mit ihnen auseinandersetzen muss […]. Es handelt sich dabei nicht um eine Konditionierung von außen, die direkt das menschliche Handeln beeinflusst (Donati, 2006, S. 12).
Die „innere Reflexivität“ ist das missing link, das zwischen den „Herrschaftsstrukturen“ vermittelt und das die Art und Weise, wie wir mit unseren Entscheidungen uns ihnen gegenüber positionieren:56 „Sobald wir durch Reflexionen entschieden haben, was wir tun können, also welche Art von Handelnden wir werden möchten, müssen wir auch objektive Lehren darüber akzeptieren, was die Gesellschaft durchgehen lässt und was nicht“ (Archer, 2003, S. 123). Keine „soziale Welt“, keine „physische Gemeinschaft“ ist jemals das Vorbild, das direkt und transparent die „Phantom-Gemeinschaft“ dessen, der in ihr lebt, informiert. „Authentisch“ zu sein, den Schlüssel zur eigenen „Authentizität“ zu finden, bedeutet nicht, sklavisch dem Horizont zu folgen, welches nach dem Vorbild geschaffen wurde, das „vorherrschende individuelle Typen“ durchgesetzt haben, die eine bestimmte „physische Gemeinschaft“ kennzeichnen: man ist nicht „man selbst“ bloß deshalb, weil man sich einer absurden „PhantomGemeinschaft“ angeschlossen hat, die in manchen „sozialen Welten“ vorherrscht sondern, weil man Letztere für „konsistent“ bezüglich der Totalität der eigenen „Kosmologie“ hält. FILM: DEPARTED. UNTER FEINDEN Der irische Boss Frank Costello bringt „seine“ „kosmologische“ Beziehung zur
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Der „Sozialität“ ist, zusammen mit der „Herrschaft“, „[…] ist eine konstitutive Dimension der Verhandlungen, gerade weil er in unser Innenleben eingeschrieben ist. Deshalb ist es falsch die innere Konversation als eine völlig autonome Aktivität darzustellen, die von einer isolierten ‘Monade’ realisiert wurde, für die der äußere soziale Kontext nur ein Hintergrundelement der atmosphärischen Zeit ist, nicht mehr und nicht weniger“ (Archer, 2003, S. 212).
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„sozialen Welt“ zum Ausdruck, um den jungen Colin Sullivan in die Sicht „seiner“ Welt einzuführen.57 Frank: „Ich will kein Produkt meiner Umwelt sein, sondern will, dass die Umwelt ein Produkt von mir ist. Früher hatten wir die Kirche, die ein anderes Wort war für „wir hatten einander“. Die Ritter von Kolumbus waren richtige Knochenbrecher, echte Itaka, sie nahmen sich ihren Teil der Stadt. Zwanzig Jahre, nachdem kein Ire hier einen scheiß Job kriegen konnte, wurde einer von uns Präsident, möge er in Frieden ruhen. Das ist es, was die Nigger einfach nicht begreifen und wenn ich den Negerlein etwas auf den Weg gebe, dann das: Niemand schenkt dir etwas, du musst es dir nehmen... Die Kirche will, dass du gehorchst. Niederknien, aufstehen, niederknien, aufstehen...Wenn dir das gefällt, weiß ich nicht, wie ich dir helfen kann. Ein Mann geht immer seinen eigenen Weg... niemand schenkt dir was, du musst es dir nehmen... Non serviam... Die Itaker aus Northend unten in Providence wollten mir Vorschriften machen, und ganz plötzlich ist ihnen was zugestoßen... Wenn du beschließt, etwas zu werden, dann kannst du es werden. In der Kirche sagen sie dir das nicht… als ich so alt war wie du, hieß es, man wird entweder Cop oder Verbrecher. Heute sage ich dir dazu folgendes: wenn du eine geladene Waffe vor der Nase hast, wo ist dann der Unterschied? Hm? Das ist mein Junge... .“
FALL A: MORD Ein Satz, den ich hasse, ist: „Sie haben mich da mitreingezogen“. Niemand zieht dich mit rein. Meiner Meinung nach ist es auf der Welt... der modernen italienischen Welt so... dass niemand niemanden mit reinzieht... In Sierra Leone ziehen sie die Kinder [Soldaten] mit rein, geben ihnen Koks. Dort wirst du mit nur acht Jahren mit reingezogen... aber mit fünfundzwanzig zieht dich niemand mit rein. Ich habe Dinge im Bereich Drogen gemacht, bei denen den Leuten vor Erstaunen die Augen rausgefallen sind und sie gesagt haben: „Das ist doch nicht möglich!“ Einer hat zu mir gesagt: „Verdammt, ich würde mir wirklich gerne eine Spritze setzen, habe aber kein Geld, wenn ich die Uhr zum Pfandleiher bringe?“ Und ich habe ihm geantwortet: „Hör zu, du musst nichts pfänden, ich habe hier mein Tütchen... es kostete damals zehntausend Lire, es war sehr viel billiger in den achtziger Jahren. Du setzt sie dir und wenn du das Geld hast, gibst du es mir einfach wieder“. Und die anderen: „Du spinnst ja!“ Und ich: „Nein, er hat Lust, sich eine Spritze zu setzen, dann soll er es auch tun!“ Und sie: „Hast du es denn?“ Und ich: „Nein, ich hab nichts. Ich mach es heute Abend oder morgen“. Die anderen waren wehrlos, weil Heroin wie ein Fluch ist, es ist etwas, das dich mitzieht... auch wenn du dagegen ankämpfen wolltest, laufen dir Schauer über den Rücken, dir geht es schlecht, du fängst an zu niesen, dir läuft die Nase, du fängst an wegen jedem Scheiß an zu lachen. Wenn einer auf Turkey ist und eine Spritze braucht... schwitzt er, er beginnt... Ich hatte immer ein Verhältnis zum Heroin, das mich sagen ließ: „Ich muss diese Sache hier gewinnen“. Und tatsächlich, am Tag, an dem es mir passiert ist, habe ich gesagt: „Jetzt schlag ich dich, du hast mich bisher geschlagen, jetzt werde ich dich schlagen und mir nie wieder eine Spritze setzen“. Doch ist das eine Sache zwischen mir und einem Objekt, nicht zwischen mir und einem Menschen, da war niemand, der mich gezwungen Heroin zu nehmen... . 57
Über die Beziehung zwischen „Erzieher“ und „Schüler“ s. Kap. 4.
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FALL F: MORD Ich bin der Meinung, dass wenn man schon lebt, man es mit all seinen Facetten, guten und schlechten, tun sollte. Ich hatte die Gelegenheit, diese Art von Leben nicht zu führen. Ich ging einer Arbeit nach, die mir mein Vater beigebracht hat, der einen Handwerksbetrieb hatte. Schon mit fünfzehn Jahren verdiente ich zwei Millionen Lire im Monat. Ich hatte also die Wahl... aber ich habe dieses Leben gewählt, weil es bequemer ist. Es ist weniger schön, aber dafür bequemer. Ich war nie ein Typ, der sich an Regeln gehalten hat. Trotzdem stand ich jeden Morgen auf, denn wenn du „auf der Straße lebst“, musst du dich an Uhrzeiten halten. Beispielsweise kannst du um elf Uhr vormittags nicht an der Bar rumhängen, weil es so viele Dinge zu tun gibt: um diese Uhrzeit nimmt man sich die Wohnungen vor, denn dann gehen die Damen zum Einkaufen hinaus. Mittags hingegen, nimmt man sich die Supermärkte vor, weil dann am meisten da ist. Ich habe schon alles Mögliche ausgeraubt. Wenn es um Wohnungen ging, ging ich immer sehr instinktiv vor: Ich kam zur richtigen Uhrzeit in einen Innenhof, beobachtete und dann wusste ich sofort, was ich zu tun hatte. Dann bin ich auch ein guter Kletterer, ich bin sehr agil und komme leicht in den dritten oder vierten Stock. Alle wollten immer mit mir kommen, weil sie wussten, dass die Sache mit mir sicher ist... . Ich ging niemals zurück, ich hielt niemals an... .
Fall C: MORD Wieso ich nach X gekommen bin? Weil ich einen Haufen Menschen aus meinem Land dort gesehen habe, denen es gutging... mit schicken Autos: „Wieso alle... und nicht auch ich?“ Wenn man hier in X wohnt, was tut man da wohl oder übel? Das erste, was jemand tut, der nach X kommt ist die Gegenden aufzusuchen, wo es wohl oder übel Leute gibt... ich sage nicht unbedingt aus dem gleichen Land... aber der gleichen Gegend... denn sie haben mehr Kontakt unter sich, denn man hat wohl oder übel die gleiche Mentalität. Bis zum Mord war ich nicht vorbestraft gewesen, ich hatte nie Probleme mit dem Gesetz. Ich war ein anständiger Mensch. In meiner Familie gab es keine kriminelle Mentalität, die Mentalität so eine Sache zu tun... Doch dann, weil ich in der Klemme steckte, gab ich mich doch mit diesen Leuten aus meinem Viertel ab, die nicht arbeiteten, weil sie alle möglichen Geschäfte machten. Ich habe mich unter sie gemischt und als ich sie besser kennenlernte, habe ich angeboten Drogen zu verkaufen. Meine Absicht war, mir wieder ein bisschen Geld beiseite zu legen und wieder ein anständiges Leben zu führen. Arbeiten dieser Art waren nicht mein Ding, ich fühlte mich nicht wohl dabei... aber ich fand keine andere Lösung, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war alleine hier und ich dachte immer daran in mein Land zurückzukehren... Dort hatte ich Freunde, meine Familie... also versuchte ich auf jede Art... es war der einzige Ausweg, ein bisschen Geld zu verdienen und nach Hause zurückzukehren und alles zu rekapitulieren. Ich wollte unter allen Umständen das wiederhaben, was ich verloren hatte... und die einzige Lösung, die ich dafür fand, war diese... .
Die Massenmedien als soziale Welten Betrachtet man somit die Massenmedien, indem man sie als „soziale Welten“ konzipiert, die die Menschen einschließen oder ausschließen, vereinen oder
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trennen, so wird klar, dass das Aufkommen eines auf globaler Ebene einzigartigen Informationssystems, das immer allen zugänglich ist, einen großen Einfluss auf viele „soziale Gruppen“ hatte, die bis zu seinem Erscheinen hauptsächlich – in jedem Winkel der Erde – von ihren zugehörigen Kulturen zu einer Klasse, einer ethnischen Gruppe oder einem Territorium beeinflusst gewesen waren.58 Da das Fernsehen in der Lage ist „reale Begebenheiten“ (und die der fiction) sichtbar darzustellen, eröffnet es die Möglichkeit zu zeigen „wie die Welt erscheint“ und „was die Welt“ an anderen Orten, in anderen geografischen Räumen und aus der „Perspektive anderer Rollen“ „empfindet“, indem es die Zuschauer von ihren „physischen Standorten“ „entfernt“ und ihnen eine weitere Sicht verschafft, als jene, die traditionell von den Referenzgruppen eingenommen wird. Das Fernsehen erlaubt – im Grunde genommen – „ein ‚no sense of place’“ (Meyrowitz, 1985, S. 37), indem es allen Nutzern einen größeren Horizont als den gewöhnlichen bietet und damit das verändert, was Mead als den „generalisierten Anderen“ definiert hat, also die abstrakte Referenzgruppe (inklusive ihrer Parameter, Werte und Überzeugungen), die der Handelnde sich im Laufe seiner sozialen Interaktionen eingeprägt hat und dessen „Rolle“ er einnimmt, um seine eigenen Handlungen zu lenken. Mit dem Erscheinen des Fernsehens kann man stattdessen von „medial generalisierten Anderen“ sprechen, die von hunderttausenden von Individuen geteilt werden oder doch geteilt werden können, die nun aus einer neuen Perspektive Nutzen ziehen, um ihre Handlungen und die Situationen, in die sie gestellt sind, zu betrachten. So besehen tragen also die elektronischen Medien dazu bei, einige Sozialisierungs- und „Violentisierungsprozesse“ neu zu bestimmen. Was nämlich die gewalttätigen „Phantom-Gemeinschaften“ angeht, lässt sich sagen, dass die Bilder, die „Welten“, die realen oder erfundenen Persönlichkeiten der gewalt-
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Die wichtigsten sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und technischen Veränderungen der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, betreffen die „Revolution“, die in den sozialen Beziehungen und dem kulturellen Verständnis aufgrund des Erfindung der elektronischen Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, bewirkt worden ist. Man denke nur daran – wie Joshua Meyrowitz (1985, S. 17, S. 25 und S. 33) erinnert – dass bis vor wenigen Jahrzehnten die einzige Art, direkt an „Bilder und Geräusche des gegenseitigen Verhaltens“ zu kommen, in der direkten Interaktion „von Angesicht zu Angesicht“ bestand, und es das Radio und Fernsehen waren, die die traditionelle Verbindung zwischen „physischer Kollokation“ und „sozialer Situation“ zerstörten.
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tätigen fiction, die die Fernseh-Szene (und auch die Kino-Szene) bewohnen59 – „reflexiv“ – als „Phantom-Andere“ verinnerlicht werden können, und beginnen können, unsere „Selbstgespräche“ in Konkurrenz zu den während der sozialen Interaktionen „von Angesicht zu Angesicht“ verinnerlichten zu beleben.60 FILM: ELEPHANT Kurz bevor sie das Blutbad an der Columbine High School anrichten, schauen sich Eric und Alex eine Dokumentation über Adolf Hitler und die NaziPropaganda an, die im Fernsehen übertragen wird, und kommentieren sie. 61 Eric: „Oh, was läuft da?“ „Wo sind die Flaggen, das wurde in Deutschland aufgenommen, oder?“ Alex: „Ja, abgefahrenes Zeug.... Irgend so ein Nazischeiss... .“ Eric: „Kann man Naziflaggen heute noch irgendwo kaufen?“ Alex: „Sicher, wenn man verrückt genug ist… .“ Eric: „Hey, sieh dir das an... wer ist’n das, das ist Hitler, richtig?“ Alex: „Ja… .“ Es klingelt an der Tür und ein Paket, das das vorher gekaufte Gewehr enthält, wird zugestellt. Alex: „Oh ja, steiles Teil … .“ Eric: „Fantastisch... .“ Erzählerstimme des Dokumentationsfilms: „Unter den beiden Diktatoren war ein Bündnis entstanden, das innerhalb weniger Jahre die Welt verwüsten würde... .“
Im lieblichen Italien der sechziger Jahre sind es, in den ökonomisch rückständigeren Regionen, die Filme über Herkules und Maciste, die die Stimmen der sich in der Entwicklung befindenden „Phantom-Gemeinschaften“ verstärken: FALL E: MORD Wir stritten jeden Tag... manchmal auch mehrmals an einem Tag... oft auch, weil wir es mochten... vor allem dann, wenn wir aus dem Kino kamen und einen Film, wie einer von denen mit Herkules... Wir kamen raus... und machten lauter Dumm59
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Zum Interesse der Medien an Gewalttaten, besonders Mord, siehe die hochinteressanten Schlussfolgerungen der empirischen Studie, die von Forti und Robero Redaelli (2005, S. 3–191) durchgeführt wurde. Zu diesen Themen s. Ceretti (2005a, S. 435–453). Durch die Bilder und die Erzählerstimme im Dokumentarfilm treten einige „medial generalisierte Andere“ als Fragmente auf und bilden die „Kosmologie“ der beiden Akteure, indem sie dazu beitragen ihren „Elan „ in Richtung der Mordtat zu lenken. Es ist bemerkenswert, dass in der Realität Eric Harris und Dylan Klebold, die Verantwortlichen für das Massaker an der Columbine High School, Fans des Films Natural Born Killers waren und das Akronym N.B.K. als Name für ihre Mission verwendeten.
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Siebentes Kapitel heiten... Gang gegen Gang, Viertel gegen Viertel, ein Chaos... wir stritten immer, so war das im Viertel, in dem ich gelebt habe.
Andere Male sprechen die Stimmen der dargestellten Figuren in der „Phantom-Gemeinschaft“ der Interviewten mit mehr Überzeugung: FALL F: MORD Meine Lieblingsfilme? Der Pate, Carlito’s Way, Scarface, Good Fellas. Wieso, zum Beispiel, wurde Carlito umgebracht? Wieso tritt er einen Typen in seiner Bar zusammen und schmeißt ihn dann runter, tötet ihn aber nicht... wenn ich es gewesen wäre, hätte ich ihn getötet... . Er wollte ihn aber nicht töten, weil er sagte, dass er ansonsten zurück ins Gefängnis gemusst hätte. Fakt ist, dass er bereits aus einer komischen Situation kam, weil er gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war und er gemerkt hat, dass sein kleiner Cousin Mist mit Drogen gebaut hat. Und dann machte er sich noch Sorgen darum, den da stehenzulassen? Was kümmert es dich... . Bring ihm um, oder nicht? Wenn du in einem gewissen Milieu steckst... kannst du dir keine Skrupel mehr erlauben... denn wenn du Skrupel hast und die anderen haben sie nicht in Bezug auf dich, machen sie dich fertig.
Analog zu diesen Überlegungen und auf wirklich grauenhafte Art, erzählt der Autor der Erzählung von Carlito, wieso er sich dazu entschlossen hat, sein Opfer kaltzumachen: Fall F: Mord Er sagte zu mir: „Was habe ich dir denn getan, dass du mich töten willst?“ Und ich: „Ich will dich nicht töten, zumindest jetzt noch nicht. Aber ich werde dich sicherlich töten. Ich hab dir ja schon den ersten Messerstich verpasst und kann dich nicht mehr zu deinem Rudel zurückkehren lassen“. Ich denke so: „Ich kann dich nicht mit gesunden Beinen und einem Messerstich in der Seite zu deinem Rudel zurückkehren lassen. Nein. Auf keinen Fall. Denn wenn ich dich dann nicht umbringe, kann das Folgen für mich haben. Wenn du dich im Rudel befindest und ich bin beispielsweise mit einem Mädchen zusammen, kannst du mich auch hintergehen“. Denn sie [die Schwarzen] sind Schurken. Vielen wird das Gesicht zerschnitten. Ich aber nicht. Ich bringe dich um, aber das Gesicht zerschneide ich dir nicht. So denke ich darüber.
Siebtes Einzelbild. Die Zeit der Reflexivität und des Selbstgesprächs Wenn wir Akte vollziehen, dringen die „Erfahrungen“, die wir in der „Vergangenheit“ „erlebt“ haben, massiv ein und leben in unserer „Gegenwart“ fort62 und verleihen der Stimme, zusammen mit allen anderen inneren Gesprächs62
„Die Begebenheiten der Vergangenheit fahren in der Gegenwart fort als solche zu leben und nicht in der Form einfacher heraufbeschworener Erinnerungen“ (Minkowski, 1951, S. 91). „Dieser Übergang geschieht vor allem durch Vorkommnisse, die sich in eine sich verändernde Welt ‘einschreiben’ und nicht durch Vorkommnisse, die sich in meinem Gedächtnis festgesetzt haben“ (Minkowski, 1936, S. 204).
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partnern, dieser „persönlichen Erzählung“ Ausdruck, diesem „Bericht über die Handlung, den wir [immer] während des Handelns erstatten“ (Minkowski, 1933, S. 43). „Ich habe noch nie einen so schrecklichen und so schönen Tag gesehen...“, sagt sich Alex, während er seine Waffe im Verlauf des Massakers an der Columbine lädt. FALL A. MORD Der Interviewte erzählt die Geschichte, die ihn „persönlich“ bei einem Selbstmordversuch begleitete, der ein paar Jahre vor der Begehung des Mordes stattgefunden hat. Ich sagte mir immer wieder: „Mach das jetzt, zieh es durch“, denn in mir war auch der Wunsch es nicht zu tun. „Du machst das, weil du am Ende angelangt bist... du bist nichts wert... du musst das tun, du denkst schon seit langem darüber nach, seitdem du in Y. warst, also schon seit zwei, drei Monaten. Du musst es tun!“ Also nahm ich ein Schneidegerät – und hier, ich weiß nicht ob man’s sieht, hab ich eine Narbe – ich zog es einfach so heraus, weil die Klinge recht stabil war und hab angefangen... dann habe ich aufgehört... ich hatte ein bisschen Angst. Dann habe ich „trum“ gemacht und endlich fühlte ich den Schnitt und das warme Blut, das herausläuft... ich nahm die Zigaretten, rauchte fünft davon und als ich dachte, dass ich sterben würde, weil ich voller Blut war, nahm ich die Uhr, zerschlug sie und versetzte mir einen letzten Schlag... aber verdammt, ich fand die Halsschlagader nicht. Mit der Zeit trat immer weniger Blut aus, immer weniger, immer weniger... und ich sah mir das Meer an... „Man sieht, dass ich heute nicht sterben muss“, sagte ich mir, und dann blieb ich eine Weile da und sah mich um und dann sagte ich: „Ich muss ins Krankenhaus“. Ich habe den Kopf gedreht, bin fünfhundert Meter weit getorkelt und dachte: „Jetzt ist es mir nicht mehr egal, jetzt will ich auf einmal wieder leben... stattdessen verrecke ich!“ Es wäre eine Tragikomödie geworden, wie alle meine Dinge, tragisch und lächerlich... . Aber es waren zwei Fischer dort. Ich kam in die Nähe und sagte zu ihnen: „I’ve tried to kill myself“… „ich habe versucht mich umzubringen“. Einer von ihnen schaute mich an und sagte: „Trink einen heißen Tee“. Nachdem er mir Papiertaschentücher auf die Wunde gelegt hat, fügte er hinzu: „Rauch ein paar Zigaretten, denn da, wo ich dich hinbringe, erlauben sie dir nicht zu rauchen“. Sie brachten mich ins Krankenhaus und ich wurde mit dreizehn Stichen genäht... .
Minkowski meint: „Die Vergangenheit zeigt sich nicht in Gestalt von aufeinanderfolgenden Stufen, die jede unabhängig von der anderen ihren eigenen Wert besitzt; im Gegenteil, sie zieht sich zusammen […]. Wir haben es hier mit einer konzentrierten, einer zusammengeballten Vergangenheit zu tun, aus der unser Elan von neuem ausbricht, um uns zur Zukunft hin zu führen“ (Minkowski, 1933, S. 165).63
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„Man könnte in diesem Sinne beinahe von einem prospektiven Gedächtnis sprechen, von einem Gedächtnis, in dem die auf einen Klumpen zusammengeballte Vergangen-
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FALL G: SEXUELLE GEWALT UND MORD Der „Elan“ in Richtung Zukunft wird durch die Anwesenheit einer „PhantomGemeinschaft“ gehemmt, welche von Stimmen „bedeutsamer Anderer“ dominiert wird, die seit jeher in ihr wohnen und vom Subjekt absoluten Gehorsam, absolute Hingabe verlangen, ohne jede Möglichkeit die eigene Gegenwart geltend zu machen. Sie bringen mich immer in Situationen, aus denen ich nicht mehr hinauskomme... und das war mein Problem: viel Wut, die falsch gelenkt war, die sich dann auf eine absolut Fremde entladen hat... die die Folgen meiner dunklen Phase bezahlt hat... . Meine Freundin… mit einem ständigen Hin und Her waren wir seit acht Jahren zusammen... plus den drei Jahren, die wir zusammengewohnt haben. Sie machte Gelegenheitsarbeiten, zum Beispiel als Kellnerin, ansonsten nichts. Sie hatte keine große Lust zu arbeiten. Sagen wir es einmal so: ich musste schließlich auch samstags und sonntags arbeiten, weil jemand ja das Geld nach Hause bringen musste. Meine Freundin wollte eine Wohnung anmieten... aber ich sagte zu ihr: „Ich habe doch ein Haus, wir müssen es mit meinem Bruder teilen, aber ich habe ein Haus... wieso sollten wir eine Wohnung anmieten?“ denn es mussten die Raten vom Auto gezahlt werden... ich musste zwei Autos unterhalten, meins und ihres... Essen kaufen, Kleidung. Es war unerträglich, denn als ich und meine Freundin schon dabei waren, uns zu trennen, fingen sie und meine Mutter einen Krieg an, obwohl meine Mutter nicht einmal bei uns, sondern bei ihrem Freund wohnte. Sie fingen einen Krieg an und ich stand dazwischen. Die Probleme mit meiner Freundin waren immer auch mit Problemen mit meiner Mutter verbunden. Die beiden konnten sich einfach nicht ausstehen... und ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich befand mich zwischen zwei Fronten. Man kann sich vorstellen, was ich für einen psychologischen Stress gefühlt habe... ich war wütend, ich war frustriert, frustriert... Meine Mutter konnte meine Freundin nicht leiden, sie mochte sie nicht, es gefiel ihr nicht, dass eine andere Frau mich leiden ließ. Sie folgte mir überall hin, auch um zu sehen, ob ich zu ihr ging... Es ist etwas eigenartig... Sie rief mich an und sagte: „Hey, du bist zu ihr gegangen! Was machst du da? Sie hat dich verlassen... wieso verfolgst du sie immer?“ Ich hatte mein eigenes Leben mit meiner Freundin, ich lebte in meinem Haus auch mit meinem Bruder zusammen. Die [ausschlaggebende] Sache ist die: Sie, seitdem ich mit ihr zusammen kam und mit ihr zusammengezogen bin, stand mir immer im Weg... erst kam sie nie zu mir... dann immer, war mir immer im Weg... ich machte etwas und es passte ihr nicht, dann machte ich etwas anderes und es passte ihr auch nicht. Sie fand immer einen Grund mich auszulachen, immer einen Grund mir Steine in den Weg zu legen, auch wenn es um unwichtige Dinge ging. Wenn sie die Teller abwusch, beschwerte sie sich, weil sie Gast war... aber wenn sie sie nicht wusch, sagte sie: „dieses Haus ist doch kein Hotel“. Sie widersprach sich immer... sie nutze die Situation zu ihrem Vorteil aus, so wie sie es wollte... . Ich versuchte zu fliehen... . heit vor allem als Überholtes oder zu Überholendes in Erscheinung tritt und nicht als Vergangenheit im geläufigen Sinn des Wortes“ (Minkowski, 1933, S. 163). S. dazu in Kap. 4 die Absätze, die der „Gewaltbereitschaft“ gewidmet sind.
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Bereits Mead hatte angenommen, dass der „Erfahrungsfluss“ der „Gegenwart“ eine „Vergangenheit“ umfassen, noch eine „Zukunft“ einschließen kann, wenn die „Reflexivität“ nicht diese Merkmale gewissen Zeilen der „Erfahrung“ zuspricht“ (Mead, 1927, S. 398). Um bedeutsam zu behaupten und sich zu sagen „das ist meine Gegenwart“, um diese als solche zu konstruieren, muss auch jemand, der destruktiv handelt, sich ständig den Verlauf der Handlungen, die er begangen hat, erzählen: „Handlung“, „Erzählung“ und „Erinnerung“, die unter einem weiten Dach vereint sind, fließen an einem Punkt – der „Gegenwart“ – zusammen, die sich als (gewalttätige) „Zukunft“ zeigt.64 In der Spanne dieses Augenblicks, der an sich stets eine Dauer hat, entwickeln sich die Freiräume, um handeln zu können, und gerade diese Möglichkeit, mit sich selbst zu sprechen, erlaubt es, zu übertreiben, das Unmittelbare zu durchstoßen, sich mögliche Alternativen vorzustellen und den „Tatendrang“ in die Richtung einer Bilderabfolge und symbolischer Vorstellungen zu lenken, die mit der eigenen „Kosmologie“ in Einklang zu bringen sind. Erlebte „Erfahrungen“ und „Erinnerungen“ strömen so in unsere Situationsbestimmungen“ und werden verwendet, um „die Gegenwart“ in die Erzählung einzubringen, die aus den „Skripten“ entstehen, die uns formen und die wir selbst, im Angesicht neuer Begebenheiten, ständig neu interpretieren und schreiben: „Besteht das Leben nicht vielleicht aus einer ständigen und unumgänglichen Erneuerung der Lebensperspektive?“ (Minkowski, 1936, S. 194). „Und wird die Vergangenheit nicht vielleicht dauernd neu konstruiert, indem sie in eine „lebendige Gegenwart“ integriert wird? Sicherlich geschieht die „Verschiebung“ von der „Vergangenheit“ in die „Gegenwart“ nicht auf lineare Art, sondern jeder von uns fühlt, dass in ihm eine „radikale Veränderung der Verhaltensweise“ von statten geht“.65 FALL A: MORD Es ist eine Tatsache, dass man einen Mord niemals vergessen kann... das vergisst man nicht... man kann es einen Augenblick lang vergessen, weil ich vielleicht die Augen dabei geschlossen hatte, wie manche Raubvögel, die die Augen schließen, 64
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„Die Gegenwart ist ein besonderer Akt, der Erzählung und Handlung vereinigt. Und wie es Erzählung in der „Gegenwart gibt, schließt die Gegenwart notwendig Gedächtnisphänomene mit ein (Minkowski, 1933, S. 40). „Denn diese „Gegenwart ist kein Zeitpartikel, der auf lächerliche Weise zwischen der Vergangenheit und der Zukunft eingeklemmt ist, sondern eine Weise die Zeit zu leben, die von jener, die die Vergangenheit charakterisiert, völlig verschieden ist. Sie trennt nicht ab und isoliert nicht, sondern sie integriert sich, entfaltet sich und strahlt aus, indem sie den Horizont der Zukunft vor uns öffnet. Dies sind Perspektiven, die die Vergangenheit nicht kennt.[…]. [Gegenwart und Vergangenheit sind] deshalb […] nicht vergleichbar.“ (Minkowski, 1933, S. 172).
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Siebentes Kapitel wenn sie töten... und ich hatten vielleicht tatsächlich auch die Augen zu... denn den Schlag habe ich einfach so verübt, blind... mit ganzer Gewalt.
Wenn es der „persönliche Elan“ ist, der dem Leben einen Sinn verleiht und den Horizont der Zukunft öffnet, so durchtrennt sein Abbrechen den Verlauf der „erlebten Zeit“ und eröffnet eine Zeit, die sich wiederholt und sich um die in der Vergangenheit erlebten Traumata dreht. Es handelt sich hauptsächlich um Begebenheiten, die mit dem Thema des „Bösen“ verbunden sind: „Das Böse […] dringt ins Werden ein und hinterlässt immer Spuren, „Beweisstükke“ zurück. […]. […] Das Böse [kann] sich nicht ohne eine Spur in der Vergangenheit auflösen“ (Minkowski, 1933, S. 165). FALL G: SEXUELLE GEWALT UND MORD Ich roch nur das Blut, hatte die Hände voller Blut... das ist ein Gedanke, der mich immer noch quält... ich war voller Blut... diese Sache verfolgt mich... wenn ich etwas rieche, das dem Geruch von Blut ähnelt, raste ich aus... . Ich war erst dreizehn und häutete schon Lämmer... aber das ist etwas anderes... Lämmer sind Teil der Nahrungskette... einen Menschen zu töten ist nicht das gleiche... unschuldiges Blut zu vergießen, ist etwas, das dich innerlich verunreinigt... und alles verändert... das Lamm hingegen ist wie eine Opfergabe, es ist Teil der Nahrungskette, sie werden nur dafür gezüchtet... Menschen werden nicht geboren, um getötet zu werden... sie werden geboren, um zu leben und einen natürlichen Tod zu sterben... und nicht, um erstochen zu werden.
Achtes Kapitel Gewisse Distanzen. Folgerungen Die Worte des Bösen. Eine rechte Distanz Einige Kriminologen, die zu denjenigen gehören, welche interdisziplinären Einflüssen gegenüber besonders offen und aufgeschlossen sind, haben bereits vor Jahren das Thema des „Bösen“ in ihren Forschungsbereich eingebracht: „Das Verbrechen – das grausame, das an einem Menschen begangen wird – ist eine der menschlichen Verhaltensweisen, die auf besonders spektakuläre Weise das Böse maximiert“, schreibt Adolfo Francia (1984, S. 194). „Was zum Thema Verbrechen produziert wurde, kann als regelrechter Diskurs über das Böse angesehen werden, das sich entwickelt hat […], indem es sich verändert und sich von Zeit zu Zeit mit neuen Paradigmen, mit neuen Erkenntnismethoden und neuen Wahrheiten im epistemischen Sinne anreichern“, schreiben wiederum Verde und Kollegen (2006, S. 21). Von Anfang an sind das „Böse“ und die „Diskurse“, die es begleiten, die beunruhigenden Gäste dieses Buches gewesen, und wir sind ihnen mehrmals mittels der Geschichten, der „Erzählungen“ von Akteuren grausamer Gesten begegnet. Wer über Menschen und Objekte, die er „beobachtet“, Hypothesen aufstellt, teilt mit ihnen bedeutungsvolle Dimensionen „symbolischer Universen“, denen gegenüber er jedoch stets eine „gewisse“ Distanz registriert. Anders gesagt, wer beobachtet, positioniert sich zugleich „innerhalb“ und „außerhalb“ des „symbolische Universums“, das er beschreiben möchte (Sini, 2005, S. 150). Das Bewusstsein, dass die Darstellung der Welt der Anderen „so wie sie ist“ – „objektiv“ – zu einer paradoxen „Auslöschung“ ihrer „symbolischen Universen“ führen würde und nichts anderes bedeuten würde, als das „beobachtete Objekt“ in eine gänzlich fremde Dimension abzudrängen (nach Blumer die „schlimmste Form des Subjektivismus, d.h. die Ersetzung des „Universums des Anderen“ durch das eigene), ist auf allen diesen Wegen als Begleiter vor und neben uns hergegangen.1 Eine „objektive“ Welt, die von der Kategorie der 1
In Bezug auf die psychiatrische Begutachtung, führen Verde und Kollegen (2006, S. 104) kritische Bemerkungen ein, die sich voll mit unserer Argumentation ergänzen: „Die soziale Notwendigkeit, dem Verbrechen einen Sinn zu geben, führt zu dem Risiko [...], die Subjektivität des Gutachters, seine Menschlichkeit, aus den Augen zu verlie-
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Achtes Kapitel
„Notwendigkeit“ dominiert wird, würde im Übrigen keinen Raum für Zweifel und Forschung lassen. Im vollen Bewusstsein der Gefahr dieses Hindernisses ist unsere nächste methodologische Aufgabe gewesen, die Distanz zwischen „Beobachter“ und „Beobachtetem“ so weit wie möglich zu verringern. Doch lauerte noch eine weitere Gefahr: Der Wunsch, ein „anderes Universum als solches“ zu beschreiben, konnte auch dazu verleiten, sich vollständig der „eigenen interpretativen Kategorien“ zu entledigen, indem man darauf verzichtet, „externe“ Fragen nach den symbolischen Beweisen für dieses „andere Universum“ zu stellen. Diese Vorgehensweise wäre ebenfalls „falsch“ gewesen. Es sind nämlich genau die – niemals neutralen oder unbefangenen – Fragen und die Hypothesen, welche der „externe Beobachter“ aufstellt, die das Ausmaß der Fähigkeit, sich einem „anderen symbolischen Universum“ „anzunähern“ und es zu verstehen, festlegen. Diese Distanz, die eine Unvergleichbarkeit / Eigenständigkeit zwischen „Beobachter“ und „Beobachtetem“ markiert, sagt uns zugleich, wie und was man von der „überraschenden Tatsache“, die es zu analysieren gilt, wissen kann und was nicht:2 Wenn wir uns anderen symbolischen Universen annähern, die uns fremd sind, geht es nicht einfach darum […], uns im Bemühen „sie zu verstehen“ ihnen anzupassen, wenn man mit diesem „sie verstehen“ meint, „sie zu unseren zu machen“, uns mit ihnen gleichzusetzen. […]. Man muss vor allem verstehen, welche symbolischen Universen und Selbstverständlichkeiten uns „fremd“ sind, denn aus großer Distanz betrachtet müssen sie uns weitgehend fremd, unverständlich und vor allem „unbewohnbar“ bleiben. Indem wir sie zu einem Forschungs- und Berichtsgegenstand machen, werden sie uns gewiss vertrauter und transparenter, […] besser in Bilder und Worte übersetzbar, die für uns einen Sinn haben (aber nicht unbedingt für sie); doch es gestattet uns auf keinen Fall, nach ihren Selbstverständlichkeiten und ihrer „Logik“ zu leben, zu fühlen und zu denken“ (Sini, 2005, S. 154).
Den heuristischen Wert und die epistemologischen Matrixen dieser Probleme, die von Athens und uns aufgeworfen wurden, werden wir eingehender in der Epistemologischen Nachbemerkung besprechen. Es verbleiben vor unseren getrübten Augen die Überreste und Konsequenzen dieses sogenannten Bösen, welche die Dämme für jeden Anspruch auf umfassende wissenschaftliche Erklärung überwinden.
2
ren, und macht dabei den Täter zum Objekt eines Wissens, auf dem sich die durch das Verbrechen in die Krise geratene Stabilität wiederherstellt; das psychiatrische Gutachten läuft seinerseits Gefahr, auf einen authentischen „Text der Verfolgung“ reduziert zu werden, der ein Instrument des Ausschlusses und der Entfernung desjenigen aus dem Gesellschaftskörper darstellt, der eindeutig als „Anderer“, Fremder, angesehen wird.“ S. dazu Kap. 9.
Gewisse Distanzen. Folgerungen
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Die „Worte des Bösen“, gesprochen von dem, der getötet hat, und in die vorigen Kapitel eingefügt, haben es ermöglicht, uns im Innern ihres Urhebers umzusehen und in ihn hinein zu fühlen, und sie haben sich in unsere Körper und unsere Seelen eingeschrieben. In diesem abschließenden Kapitel möchten wir gemeinsam mit den Lesern eine „richtige Distanz“ zu diesen „verbrecherischen“ Erfahrungen schaffen, ohne jedoch „Austreibungsbewegungen“ zu vollführen und damit wieder in die Falle zu tappen, in der jene, die brutale Verbrechen begangen zu haben, als die „Anderen“ angesehen werden. Aus ihnen spricht etwas und ist etwas geschehen, das auch in uns existiert und das wir wiedererkennen können (Verde, 2000) – eben das „Böse“. In „ihnen“ ist „[…] der gleiche ‘schlechte und bösartige’ Teil tätig, der in jedem Menschen existiert und sie im selben Augenblick auf dramatische Weise mit uns vereint, in dem wir sie verzweifelt von uns fernhalten wollen indem wir sie sie als ‘die Anderen’, die ‘Kranken’, die ‘Monstren’ etikettieren (Ponti / Fornari, 1995, S. 169).
Das Übermaß des Bösen FILM: DER SCHMALE GRAT Erzählerstimme: „Dieses Böse...woher kommt es? Wie stiehlt es sich in die Welt? Aus welchem Samen... aus welcher Wurzel ist es erwachsen? Wer tut das? Wer tötet uns, beraubt uns des Lebens und des Lichts, verhöhnt uns mit dem Anblick dessen, was wir hätten wissen können… Kommt unser Untergang der Erde zugute? Hilft er dem Gras beim Wachsen, der Sonne beim Scheinen? Ist diese Dunkelheit auch in dir? Hast du diese Nacht durchschritten?“
Schon immer hat uns das gewaltsame Eindringen des „Bösen“ verletzlicher gemacht, weil wir verletzt wurden: Aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar.3
Der erste Mord, der erste Akt des gewalttätigen Eindringen des „Bösen“ entsteht nach dem Bericht der Bibel, durch eine unterdrückte, verschwiegene, verdrängte Wut: Da ergrimmte Kain sehr (wörtlich: Kain kochte sehr) (Gen 4, 5), aber er schafft es nicht, seine Wut in Worte zu bringen und antwortet Gott nicht, der ihn zu einem Gespräch einlädt (Gen 4, 6–8). So wird die innerlich kultivierte und genährte Wut zu Groll und Hass; Hass aber ist in der Lage, das kalt zu tun, was die Wut nur heiß tun kann. Und so tötet Kain Abel (Manicardi, 2006, S. 83–84).
3
Genesis VI 5.
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Achtes Kapitel
Doch was sagt uns diese „Zerstörungswut“ Kains? Freud war vielleicht der erste, der ihr einen Namen gab und sie als Es bezeichnete. Aber er war sicherlich nicht der erste, der ihre Existenz erahnte. Der biblische Erzähler weiß bereits genau, dass die Sünde Kains nicht einfach einen Regelbruch darstellt, sondern vor allem einen aggressiven, ständig lauernden Impuls, bereit für einen Hinterhalt. Die Sünde hat Sehnsucht nach Kain. Sie begehrt Kain mit animalischer Lust […]. Dieses Verlangen ist kein normales Verlangen. Es ist die dunkle Seite des Lebens […]. In der Welt von Kain und Jahweh gibt es eine animalische Begierde zu zerstören, die sowohl das Opfer als auch den Mörder zerstört (Brueggemann, 2001, S. 81).
Der biblische Erzähler weiß auch, dass das Leben keine ‘Unterhaltung im Garten’ ist, sondern ein beschwerlichen Zusammenleben mit umsichtigen Geschwistern, das durch das rätselhafte Verhalten Gottes noch beschwerlicher ist […]. Unsere Leben sind erfüllt mit Disharmonien, Spannungen und Schatten […]. Diesem Phänomen gegenüber senkt sich unser Antlitz […] und wir reagieren entweder mit gewalttätigen Impulsen, oder mit einer tiefen Depression (Brueggemann, 2001, S. 80).
Auch wenn die ungebremste Mordlust unter Kontrolle gehalten werden kann, wurde Kain von ihr dominiert. Er wird für immer von seinen Heimatorten verbannt, doch erhält er auch einen Schutz: „die Schuld wird verurteilt. Aber der Schuldige erhält eine überraschende und unbegründete Gnade“ (Brueggemann, 2001, S. 84). Kain, der verbannte Mörder, wird mit dem Geschenk des Lebens und der Nachkommenschaft gesegnet. Dieser Nachkommenschaft entspringen die Künste und die Städte.
Die Ambiguität des Bösen Diese rhapsodischen, doch sehr beredten Zitate mögen sogar dann, wenn man sie aus dem Kontext reißt, nicht im Einklang mit dem bis hierher zurückgelegten langen Weg erscheinen, sie helfen jedoch, uns an die ersten „Erzählungen“ zu erinnern, woraus der Mensch das Wissen über die Ambiguität zieht, die das „Böse“ und das „Gute“ in seiner Existenz ausmachen. Das „Böse“ sitzt tief, doch auch das „Gute“. Wenn das vorhin Gesagte einen Sinn ergibt – und das tut es – dann können wir uns auf keine Weise vorstellen, dass nur das „Gute“ oder nur das „Böse“ eindeutig der „Ambiguität“ im Kern des Menschen überlegen ist, dass man das eine ohne die Möglichkeit des Anderen haben kann. Jede „Kosmologie“, sofern sie eine ist, ist stets potentiell offen für jede Art von Dialog zwischen „Gut“ und „Böse“. Letzteres, auch wenn es in Form von „Gewalt“ ausgeübt wird, ahmt nicht das Muster einer mechanischen „Geste“
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nach, die sich von oben nach unten an den Rändern der Symbolisierung durchsetzt: Vielmehr geschieht sie durch das Anhören der „inneren Konversation“ mit der eigenen „Phantom-Gemeinschaft“ und in der Gegenwart eines „bedeutungsvollen“ Austauschs zwischen Opfer und Täter. In diesem Sinn nimmt „Böses zu tun“ – wie wir bereits versucht haben zu zeigen – eine „relationale“ Dimension an.
Kann man sich immunisieren? Das „Böse“ (wie auch immer man diese Kategorie interpretiert und dekliniert) gibt es offensichtlich; und es wirkt in der Geschichte in Formen, deren Radikalität über die Manifestationen von Fragilität, Unreinheit und Bösartigkeit hinausgeht. Es dringt ein als das Teuflische, sowohl als grundlose Handlung, die von einer individuellen Laune ausgelöst wird, aus Freude am Ungehorsam und am unkonventionellen Verhalten als auch als anmaßende und blasphemische Herausforderung, die von der Freude an Grausamkeit und Zerstörung, dem Willen zur Profanierung und zur schweren Beleidigung, als verbrecherisches Vergnügen am Bösen um des Bösen willen; dem entspricht im Bereich des Schmerzes das Leid, das durch die abscheulichste und kalkulierteste Grausamkeit entsteht, das Leid des Gerechten und Unschuldigen, des Dieners Gottes, und vor allem die Verzweiflung und Selbstzerstörung (Pareyson, 1995, S. 210–211).
Wenn die – individuelle oder kollektive – „Gewalt“ ungebremst und zerstörerisch am Horizont unseres alltäglichen Lebens ausbricht, erscheint die einfache Bestrafung des Schuldigen bisweilen unzureichend: tief in uns sind wir auf der Suche nach Ritualen der Entschädigung und nach „Erklärungen“, die die Verbindungen, welche das Verbrechen durchtrennt hat, wiederherstellen können (Verde et al., 2006, S 32). Die mitunter fanatische Suche nach Mitteln, die in der Lage sind „uns immun zu machen“ und das „Böse“ „auszutreiben“, rührt genau von dem „Überschuss“ her, den seine Verbreitung in unseren „Kosmologien“ – seien sie „gewalttätig“ oder „nicht gewalttätig“ – sowie in „unseren Institutionen“ hervorruft. Wir können an dieser Stelle nicht unterlassen, die Gedanken zweier Meister aufzugreifen, die bezüglich dieser emotionalen Verluste Warnungen aussprechen: Das Strafrecht, das sich mit dem Bösen beschäftigt, entsteht auf einem Nährboden, der mit den Grundvoraussetzungen einer Gemeinschaft zu tun hat, die Praktiken der Unterdrückung, der Grausamkeit und der Verleugnung des Anderen eindämmen will (Pulitanò, 2007a, S. 44). Laizität bedeutet, die Entscheidungen und die Verzichte zu bedenken, die mit jeder Entscheidung verbunden ist, Denken und authentisches Empfinden – welches im-
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Achtes Kapitel mer streng ist – nicht mit der fanatischen Überzeugung und den leidenschaftlichen emotionalen Reaktionen zu vermengen (Magris, 2005, S. 109–110). Als oberstes Ordnungsprinzip kennzeichnet der Grundsatz der Laizität – so sagt uns das Verfassungsgericht – die Staatsform: es bestimmt sie im pluralistischen Sinne, stellt eine Regel des Zusammenlebens in gleicher Freiheit der verschiedenen Religionen, Kulturen und Traditionen auf; also Laientum als Pluralismus nicht nur der Religionen, sondern auch der Kulturen und Traditionen; als Zusammenleben in gleicher Freiheit und nicht irgendeine Freiheit. Für das Strafrecht, das sich als Mittel zur Wahrung von Interessen rechtfertigt (‘Rechtsgüter’), die das Zusammenleben betreffen, bedeutet Laizität des Staates, dass die Schutzfunktionen, in denen die Strafjustiz ihre Legitimierung finden kann, das Zusammenleben in gleicher Freiheit betreffen, die offen für einen Pluralismus der Kulturen, ob religiös oder nicht, sind (Pulitanò, 2007b, S. 284).
Trifft es also zu, dass man „laizistisch“ und mit Gründen hoffen kann, manche „Formen des Bösen“ eindämmen und einige seiner mehr oder weniger abweichende und erschütternden Erscheinungsformen korrigieren zu können,4 so ist es doch etwas völlig anderes, sich seine Ausrottbarkeit als solche vorzustellen. Das gewalttätigste und verheerendste Abdriften ist in der Vergangenheit immer gerade dann aufgetreten, wenn man die Forderung nach der totalen und endgültigen Ausrottung gestellt hat. Nicht das „Böse“ ist beseitigt worden – auch nicht „die Bösen“ – sondern die „Körper“, die jeweils als seine Inkarnationen angesehen wurden und letztlich zur absoluten conditio inhumana des „Lagers“, des „nómos der Moderne“ (Agamben, 1995), geführt haben. Wo es ein „absolutes Böses“ gibt, da muss es auch einen „absoluten Feind“ geben. Wer auch immer sein Akteur ist, er bewegt sich in unseren Lebenswelten. Jede Möglichkeit, die Abläufe zu korrigieren und die Folgen dieses Sich-bewegens (besser gesagt: Einsickerns) einzudämmen, setzt voraus, dass man zunächst einmal die „schattige“ Durchdringung des Bösen anerkennt: ein Schatten, aus dem man nicht entkommen kann, dessen Folgen man aber bekämpfen und eindämmen kann. Vergisst man dies, so, übernimmt man Leitmotiv der aktuellen „Sicherheitspolitik“ Europas und in Übersee (Harcourt, 2001; Simon, 2007), welches verspricht, die Bürger durch Anwendung neo-hygienischer Maßnahmen „immunisieren“, die, mitunter sogar rechtlich, auf den gleichen Voraussetzungen baruhen, mit denen man Müll oder Störfaktoren entsorgt. Die Entfernung von Seiten der Bevölkerung kann, auch physisch, durch die Verbannung in separate und undurchlässige Orte auftreten – die oben erwähnten „Lager“ – 4
Die Erfahrung der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission ist bis heute das vielleicht außergewöhnlichste Beispiel eines kollektiven Rituals, das auf die Massengewalt reagieren vermochte. S. dazu: Lollini (2005), Ceretti (2005b).
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geschehen, die dazu dienen die Bürger vor der „Verseuchung durch Gewalt“ zu schützen (Ceretti / Cornelli, 2008, S. 117). Der „strafrechtliche Sphäre“ bietet sich bekanntlich noch mehr als andere an, als Speicher von Forderungen nach „Immunisierung“ / „Sekurität“ zu dienen, und schafft einen Ort, an dem die Illusion von „Immunität“ Gestalt annimmt, indem sie zwischen „uns“ und „ihnen“ unterscheidet und die Spannungen, die durch das Aufeinandertreffen von „Normalität“ und „Devianz“ entstehen, reduziert. Den unmittelbarsten Bezug dazu stellt das Konzept eines Feindstrafrechts dar,5 welches kürzlich von Günther Jakobs (2003) entwickelt wurde und dem Bürgerstrafrecht gegenübergestellt wird, das die Existenz eines Binärcodes im Strafrecht hervorhebt: liberal rechtsstaatlich für die Inbegriffenen, repressiv für die „Anderen“, unter denen sich sicherlich die „gefährlichen Gewalttäter“ befinden.6 Hingegen verdanken wir Niklas Luhmann – einem weiteren Autor, der in mancher Hinsicht sehr weit von unserem Verständnis weit entfernt ist – aufschlussreiche Ausführungen, die auf die „soziale Immunisierung“ einen anderen Blick als den von Jakobs werfen. Von diesem Autor möchten wir einen einzigen, sehr prägnanten Begriff übernehmen. Luhmann schreibt: Das System wird nicht gegen das „Nein“ immun, sondern mit seiner Hilfe; man schützt sich nicht vor Veränderungen, sondern dank der Veränderungen. So vermeidet es eine Versteifung innerhalb fundierter Verhaltensschemata, die nicht mehr mit der Umwelt im Einklang stehen. Das Immunsystem […] schützt vor der Vernichtung durch Verneinung. (Luhmann, 1984, S 496).
5 6
Über das „Feindstrafrecht“ ist die Debatte im Ausland und in Italien sehr lebendig. S. dazu Donini / Papa (2007); Gamberini / Orlandi (2007). „Das Strafrecht, das auf diese Weise verstanden wird, hat die Funktion, das politische Versprechen der Immunisierung sofort wahrnehmbar zu machen, indem es die Komplexität der sozialen Spannungen auf den binären Kodex Bürger / Feind reduziert. Doch erweist sich dieses Versprechen sofort als trügerisch: Auf der einen Seite verkündet es der Gemeinschaft, sie vor Gefahren zu bewahren, andererseits schwächt es sie grundlegend, indem sie immer isoliertere Individuen schafft, die jedem Kontakt misstrauisch begegnen und in jeder Situation verängstigt reagieren. Die immunisierende Logik lähmt den sozialen Kreislauf, der das Herz jeder Gemeinschaft darstellt, und damit das stabilste Immunsystem, denn er wird in der kontinuierlichen – auch konfliktreichen – Erfahrung mit dem Anderssein gebildet. […] In dieser Theoretisierung, die sehr konservativ und regressiv ist und von jedem demokratischen Juristen bekämpft wird, tritt, in anderer Form, das Paradigma des ‘Täterstrafrechts’ auf, das aber gedacht und praktiziert wird seit der politisch-semantischen Umwandlung des Begriffs der Staatsbürgerschaft von einem Kriterium, das alle in den Rechtsstaat und die Wohlstandsgesellschaft einschließt, zu einem Parameter, anhand dessen die ‘Anderen’ vom dem Schutz ihrer Rechte, auch der Grundrecht, ausgeschlossen werden“ (Ceretti / Cornelli, 2008, S. 117–118).
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Achtes Kapitel
Kurz gesagt lautet sein Vorschlag, das „Böse“ nicht von sich zu weisen, sondern damit umzugehen, indem der Gesellschaft eine ausreichende innere Komplexität für den Umgang mit Konflikten geboten wird.7 Bei genauerem Hinsehen sind im „Universum der Justiz“ bereits heute Erfahrungen nachweisbar, die sich der Logik der „Immunität“ entziehen und die sich darum bemühen, die Kommunikationskanäle und die Formen von Beziehungen, die für das Zusammenleben konzipiert sind, zu (re)aktivieren: Die Praktiken, die auf die Bewegung der opferorientierten Justiz zurückführbar sind,8 führen, auch in embryonaler Form, Forderungen nach einem „brüderlichen Recht“ ein, einem „Recht, das von Brüdern, Männern und Frauen, beschworen wird, mit einem Pakt, in dem man „sich entschließt“, Mindestgrundsätze des Zusammenlebens „zu teilen“. „Es ist ein vereinbartes Recht, das in die Zukunft blickt ist“ (Resta, 2005, S. 132). Es ist freilich enttäuschend, das Fehlen eines politischen Projektes zu konstatieren, das diese Praktiken als Forderung nach einem erstrebenswerten Gesellschaftssystems formuliert. In der Tat erscheinen diese Praktiken ohne einen Richtungsweiser, der in der Lage ist, sie auf den kulturellen und politischen Bereich zu projizieren, als zerbrechliche Auswüchse, die nicht in der Lage sind, dem Einfluss der Zeit standzuhalten (Cornelli, 2008; Ceretti / Cornelli, 2008). Die Anmaßung – eine in den verschiedensten Formen immer wiederkehrende Versuchung – das „Böse“ ausrotten zu können, die dem Menschen eigene „Ambiguität“ zu überwinden, ist – folglich – ein „unkalkulierbar Böses“. 7
8
Luhmann interessiert im Besonderen das Rechtssystem als immunitäres Gesellschaftssystem, das immer dann einsetzt, wenn das Erlaubt / Unerlaubt-Schema herangezogen wird. Das Recht ist nur dann angemessen, wenn es der Gesellschaft eine ausreichende innere Komplexität für den Umgang mit Konflikten zur Verfügung stellt. Das Recht wird nicht benötigt, um „Konflikte zu vermeiden. Wenn es mit der Unterdrückung von Konflikten, die in nahen Gesellschaften vor sich gehen, nach einem interaktionistischen Modell konfrontiert wird, so bringt es sogar eine enorme Vielfalt möglicher Konflikte mit sich. Die Justiz versucht bloß den gewalttätigen Ausbruch der Konflikte zu vermeiden, indem sie für jede Art von Konflikt die angemessene Kommunikationsform bereithält“ (Luhmann, 1984, S. 397). Die opferorientierte Justiz kann als ein Paradigma des Rechts definiert wehren, welches das Opfer, den Täter sowie die Gemeinschaft bei der Suche nach Lösungen für die Folgen, die der von der Straftat verursachte Konflikt ausgelöst hat, einbezieht, mit dem Ziel der Wiedergutmachung des Schadens, der Versöhnung der verschiedenen Parteien und der Verstärkung des kollektiven Sicherheitsgefühls. Die strafrechtliche Mediation, die besser als Victim-Offender Mediation definiert wird, ist eines der wichtigsten Instrumente, von der die opferorientierte Justiz Gebrauch macht. S. dazu Ceretti / Di Ciò / Mannozzi (2001).
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Weitere abschließende Bemerkungen Wenn wir, als Sozialwissenschaftler, beschließen, eine Methode anzuwenden, so treffen wir eine Entscheidung über die Art, in der wir die untersuchte Person oder Sache darstellen werden. Sogleich machen wir uns die Hände schmutzig: Wir haben eine, auch ethische, Entscheidung getroffen (Harcourt, 2005, S. 235). Und dies haben wir getan. Unsere letzte Überlegung kann sich nur an unsere „Gewalttäter“ richten. Wir möchten alles berücksichtigen, was wir in den „Gesichtern“, denen wir begegnet sind, „gehört“ und gesehen haben: Sie haben erzählt, was sie dachten und erfuhren, während sie ihre Straftaten begingen, während sie diese Situationen erlebten, die sich in „ihre“ einzigartigen „Kosmologien“ eingeschrieben haben. Sie standen (wenn auch nicht immer auf ganz „transparente“ Art) mit den inneren Forderungen in Kontakt, auf die sie in diesen „dramatischen“ Augenblicken gerade „antworteten“ – und die uns auch „reflexiv“ etwas zu erwidern vermochten. Wie wir gelernt haben,9 ist dies eine der unverzichtbaren Bedingungen, um die höchst beschwerliche und mühsame – doch stets mögliche! – „allmähliche Veränderung“ in Richtung einer Struktur aus Werten und Symbolen „nichtgewalttätiger“ Art zu beginnen (ohne Bindestrich, wie es Aldo Captini [1967] vorschlug, um die Positivität des Begriffs hervorzuheben), in Richtung konstruktiver Methoden des Umgangs mit Konflikten als Alternativen zum Gebrauch von „Gewalt“ und, allgemein, von „Herrschaft“: „Nichtgewalttätige Revolution ist keine Sache, sondern ein Prozess, der sich in der Zeit vollzieht, und eine Relation, die sich zunächst im Raum verwirklicht; sie ist die Textur eines Beziehungsnetzes, sie ist eine Suche, eine Spannung. Sie ist Kreativität“ (Cozzo, 2004, S. 312). Wie Dostojekwski seinen Roman Schuld und Sühne schließt, […]beginnt [hier] bereits eine neue Geschichte, die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Sinneswandlung, des allmählichen Überganges aus einer Welt in eine andere, des Bekanntwerdens mit einer neuen, ihm bis dahin völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte den Stoff zu einer neuen Erzählung liefern […] (Dostoevskij, 1866, S. 703).
Doch auch für uns ist geht diese Erzählung hier zu Ende.
9
Vgl. dazu in Kap. 2 zur „dramatischen Veränderung des Selbst“ und in Kap. 3 zu den „absteigend gewalttätigen Karrieren“.
Neuntes Kapitel Auf dem Wege zu neuen Prämissen. Eine erkenntnistheoretische Nachbemerkung The need for researchers to revise their hypotheses or their definition of the problem should not be construed as a bad sign, but as a positive indication that they are learning something from their study of actual cases and, thereby, their contact with the empirical world. Lonnie Athens
Wie man zu einer Kosmologie gelangt In den wichtigsten Passagen, die die Untersuchungen von Athens und uns geleitet haben, wurden „nicht-geleitete Interviews“ mit dem Ziel angewendet, Erzählungen von „gewalttätig Handelnden“ zu sammeln, um dann zu der Präzisierung „sensibilisierender Begriffe“ mittels eines ununterbrochenen Verfeinerungsprozess ihrer Bedeutung zu gelangen: „Situationsinterpretationen“, „Phantom-Gemeinschaften“, „Selbstgespräche“, „dramatische Veränderungen des Selbst“, „Phasen des Violentisierungsprozesses“ und „Kosmologien“ sind allesamt „sensibilisierende Begriffe“, Sinnträger, Brücken, die zu einer empirischen Welt geschlagen werden, um Wissenshorizonte über Gewalt zu errichten.1 Diese Methode, Forschung zu betreiben, erfordert nicht die Bildung von „Kontrollgruppen“, denn die Absicht geht nicht dahin, statistische Daten vorweisen zu können oder Verbindungen zwischen Variablen zu ermitteln, sondern dahin, genau jede Instanz einer „überraschenden Tatsache“ gründlich zu beschreiben (in unserem Fall das „grundsätzlich gewalttätige Verhalten“). Die kritische Bemerkung gegenüber Athens, er habe eine Theorie aufgestellt, die ziemlich schwach sei, da sie eine zu brüchige Struktur habe, da sie sich nur auf etwa hundert Interviews stütze, erscheint also nicht beachtlich und besitzt nicht jene wissenschaftlich delegitimierende Kraft, die einige Forscher ihr 1
„Der Idealtyp quantitativer Recherche stellt ins Zentrum seiner Analysen noch nicht die Fälle, sondern die Variablen, die mit ihnen einhergehen. Für die qualitative Recherche dienen die Variablen, oder besser gesagt, die Eigenheiten, der Kennzeichnung der Fälle, welche Zentrum des Interesses der Analyseverfahren bleiben. Die Erzählanalyse der empirischen Dokumentation ist durch die Anerkennung der spezifischen Bedeutung der Sprache als Medium des Handlungssinnes gekennzeichnet“ (Cardano, 2003, S. 20).
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Neuntes Kapitel
gerne zusprechen würden. Die quantitativ nicht gerade beträchtliche Anzahl von Interviews würde die Wissenschaftlichkeit des Vorhabens nur dann in Frage stellen, wenn sie einen naiv induktiven und „statistikverherrlichenden“ methodologischen Horizont angenommen hätte. Es ist nämlich nicht die Anzahl der Fälle oder die Menge der Informationen, die es erlauben, zu einer „Kosmologie“ zu gelangen: es ist vielmehr die Elastizität der „sensibilisierenden Begriffe“, welche die perspektivische Öffnung, die aus Hypothesen besteht, begründet. Daten mit Hilfe von „nicht-leitenden“, „unstrukturierten“ – fortschreitend durchgeführten – Interviews zu sammeln, hilft dabei, die „Phasen des beobachteten Prozesses“, die anfänglich nicht bemerkt werden, zu erkennen und die Auswirkung und den Einfluss auf die folgenden Fälle zu ergründen. Es gibt eine ernsthafte und konsolidierte methodologische Tradition, welche diese Voraussetzungen grundlegend berücksichtigt: die „analytische Induktion“ – von der man sagen kann, dass sie Athens gewiss nicht fremd war (Athens, 2007b), und der sich sicher auch seine Lehrer Mead und Blumer eingeschrieben haben. Beide haben ihre Wichtigkeit hervorgehoben, indem sie im Negativfall, der Falsifizierung der Hypothese, den Schlüssel dazu erblickt haben, die wissenschaftliche Erkenntnisse voranzutreiben (Becker, 1998, S. 242). Die Kriminologen, die im vergangenen Jahrhundert die Methodologie der „analytischen Induktion“ (bzw. des sog. „Negativfall“) angewendet haben, sind Alfred Lindesmith (1938), Sutherland (1942), Cressey (1953) und Becker (1953; 1998). Letzterer hat beispielsweise in seinen Untersuchungen zum devianten Vergnügen aus dem Gebrauch von Marihuana die prozessualen Phasen beschrieben, die seine Konsumenten dazu bringen, dieses Ergebnis zu erzielen. Athens ist seinerseits so vorgegangen, dass er bei jedem Fall die Validität seiner Hypothesen über die Gewalt verifiziert hat, indem er sie Fall für Fall neu fokussierte. Die „analytische Induktion“ wendet man nämlich sowohl dazu an, „Bilder zu schaffen“, als auch dazu, „Gegenbeweise zu finden“, welche entscheidend sind, um diese Bilder zu verfeinern: „Der grundlegende Punkt ist, dass die Einsicht, dass eure Ideen falsch sind, die beste Art ist, um etwas Neues zu lernen“ (Becker, 1998, S. 148 und S. 142). Kurz gesagt, sollte eine Hypothese gemäß dieser Konzeption [der analytischen Induktion] jede Tatsache in ein vorgegebenes Universums einpassen, indem folgendes Verfahren befolgt wird: die Hypothese formulieren und sie in Bezug auf einen Fall verifizieren; passt sie nicht zur Realität, die Hypothese abändern oder auch das Universum, auf das sie angewendet wird, neu definieren und sie der Prüfung anhand eines
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weiteren Falles unterwerfen, u.s.w. Fall für Fall. Diese Methodologie besteht darin, Fälle zu finden, welche die Hypothesen entkräften (Sutherland, 1942, S. 39).
Diese Methodologie gelangt zur Bildung von Hypothesen – die stets provisorisch bleiben – indem sie diese nach und nach immer stringenter macht. The growing point of science, um einen prägnanten Begriff von Mead zu verwenden, besteht in der Registrierung einer „Anomalie“, einer „überraschenden Tatsache“, die an einem bestimmten Punkt der Untersuchung der mittlerweile gefestigten Hypothese widerspricht. Alle diese Operationen werden vom Geist der „Abduktion“ formuliert. Bekanntlich interpretiert Pierce die „Abduktion“ als eine „inferentielle Prozedur“, die zu der „Bildung neuer Hypothesen“ führt, ausgehend von der „Beobachtung von Tatsachen“. Diese besteht aus der Formulierung eines neuen Gedankens in Form einer „explikativen Hypothese“: indem sie den epistemische Besitzstand um neue Elemente erweitert, ist die „Abduktion“ in der Tat die einzige Inferenz, die als erweiternd bezeichnet werden kann. Indem wir die Entwicklung von Athens Theorie über gewalttätiges Verhalten aus diesem epistemischen Blickwinkel neu betrachten, entnehmen wir aus ihr, dass, um aus den „beobachteten Tatsachen“ – im Wege der Erzählung – ein empirisch fundiertes Wissen zu ziehen, besondere Aufarbeitungen nötig sind: „Jede Proposition, die den beobachteten Tatsachen hinzugefügt wird, kann Hypothese genannt werden. Eine Hypothese sollte vor allem als Frage formuliert werden. Deshalb sollte sie mittels eines Experiments, dessen Bedingungen wir in die Tat umzusetzen vermögen, auf die Probe gestellt werden“ (Peirce, 1965, S. 174). Es versteht sich in Athens’ – und unserem – Fall von selbst, dass der Begriff „Experimente“ durch „nicht-strukturierte Interviews“ ersetzt werden muss. Gerade mi Hilfe dieser hat er einige Hypothesen über gewalttätiges Verhalten formuliert und verfeinert. Unter einer Hypothese verstehe ich – schreibt ebenfalls Peirce – nicht eine bloße Vermutung über ein beobachtetes Objekt […], sondern auch jede andere vermutete 2 Wahrheit, aus der Tatsachen wie die beobachteten zum Vorschein kommen [...]. Eine Hypothese zu entwickeln und zu vertreten, egal ob in Form einer einfachen Frage oder als Proposition, die sich in irgendeiner Weise des Vertrauens würdig erweist, ist ein Folgerungsprozess, den […] ich mit dem eigenartigen Namen Ab-
2
„Dies schließt im Allgemeinen eine Präferenz für eine irgendeine Hypothese gegenüber anderen ein, welche die Tatsachen ebenso gut erklären können, da diese Präferenz sich weder auf irgend ein Vorwissen bezieht, das sich auf die Wahrheit der Hypothesen stützt, noch auf irgend einen Beweis irgend einer Hypothese, nachdem diese Hypothesen auf der Grundlage anderer Beweise akzeptiert worden sind“ (Peirce, 1965, S. 175).
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Neuntes Kapitel duktion versehe, denn seine Legitimität hängt von völlig anderen Grundlagen ab 3 als andere Arten der Inferenz (Peirce, 1965, S. 175). Abduktion ist [somit] eine Methode, um eine allgemeine Vorhersage zu formulieren, ohne eine positive Gewissheit zu haben, dass sie in einem bestimmten Fall oder üblicher Weise eintreffen wird. Ihre Rechtfertigung besteht darin, dass sie die einzig mögliche Hoffnung ist, unser zukünftiges Verhalten rational zu regeln […] (Peirce 1903, S. 299).
Die hier zitierte Definition von „Abduktion“ ist sehr weit gefasst. In diesem Sinne kann sie auch als bloßer Vorschlag für eine Hypothese verstanden werden, die auf etwas anderes als das Beobachtete hinweist; im engeren Sinne hingegen […] geht sie von einer Ursache aus, der eine gewisse Wirkung zugeschrieben wird, und indem sie dies tut, geht sie von einer Regel aus, deren Merkmale die untersuchte Ursache und die eingetretene Wirkung sind; infolge dessen kann die Abduktionsregel als Vorhersage von entsprechenden Wirkungen, ausgehend von entsprechenden Ursachen, dienen. Und an diesem Punkt wird man die Hypothese abschließend beurteilen können (Tuzet, 2006, S. 105).
Peirce schreibt der „abduktiven Inferenz“ folgende Form zu: Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; Wäre A wahr, so würde C selbstverständlich sein; Daher gibt es Grund zu der Annahme, dass A wahr ist (Peirce, 1903b, S. 231).
Versuchen wir nun, diese Propositionen mithilfe der von Athens (und von uns) entwickelten Vorgehensweisen zu übersetzen: Die überraschende Tatsache C wird beobachtet (ein „grundsätzlich gewalttätiges Verhalten“); Wäre A wahr („Situationsinterpretationen“, „gewalttätige Phantom-Gemeinschaft“, „Phasen des Prozesses der Violentisierung“ und „Kosmologie der Gewalt“), wäre C (ein „grundsätzlich gewalttätiges Verhalten“) als normale Tatsache begründet; Daher gibt es Grund zu der Vermutung, dass A wahr sei („Situationsinterpretation“, „gewalttätige Phantom-Gemeinschaft“, „Phasen des Prozesses der Violentisierung“ und „Kosmologie der Gewalt“).
„Abduktion ist also ein Prozess, dessen die Forscher sich bedienen, um sich einer „überraschenden Tatsache“ anzunähern, um das, was sich als sinnlos darstellt, weil es nicht den Erwartungen entspricht, weniger „distant“, weniger
3
„Lange bevor ich die Abduktion als Inferenz in Betracht gezogen habe, haben die Logiker erkannt, dass das Verfahren, eine Hypothese als Erklärung anzunehmen – also genau das, was Abduktion ist – an gewisse Bedingungen geknüpft ist. Eine Hypothese kann also, auch als Hypothese, nicht akzeptiert werden, wenn nicht angenommen wird, dass sie für die Fakten, oder zumindest für einige von ihnen, eine Begründung liefern“ (Peirce, 1965, S. 175).
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„fremd“ werden zu lassen:4 Indem man nämlich eine kausale Terminologie verwendet, ist das Resultat, auf das der Forscher stößt (die „überraschende Tatsache“) […] die Wirkung, die hypothetisch einem bestimmten Gesetz zugeschrieben wird, aufgrund dessen sie zur Wirkung einer bestimmten Ursache wird. Die Zuschreibung zu einem […] Gesetz bleibt eine mutmaßliche, hypothetische, doch die Vorhersage, die daraus folgen kann, ist der Verifizierung oder Falsifizierung zugänglich – womit sich der Wahrheitsgehalt der Hypothese bestimmen lässt (Tuzet, 2006, S. 67). Selbst in Bezug auf die große Unterscheidung zwischen erklärenden und elaborierenden Inferenzen, können Beispiele gefunden werden, welche zwischen diesen beiden Klassen stehen und Merkmale von beiden haben. Das gleiche gilt für die Unterscheidung zwischen Induktion und Hypothese. Größtenteils ist die eng umfasst und festgelegt. Mit der Induktion stellen wir fest, das Fakten, welche bereits beobachteten Fakten ähneln, auch auf nicht untersuchte Fälle zutreffen. Mit der Hypothese schließen wir auf die Existenz einer Tatsache, die sich stark von allem Beobachteten unterscheidet und aus der, durch bekannte Gesetze, etwas Beobachtetes notwendigerweise resultiert. Ersteres ist eine Beweisführung vom speziellen zum allgemeinen Gesetz; Letzteres vom Effekt zur Ursache. Ersteres klassifiziert, Letzteres erklärt […] (Peirce, 1878 S. 194).5
Auch der Kriminologe muss, um von einem „Effekt“ auf eine „Ursache“ zu schließen, sich abduktiver Inferenzen bedienen. Der Weg beginnt stets damit, dass „erste Prämissen“ aufgestellt werden, die sich – für uns – im Laufe der „Interviews“ herausstellen.6 Natürlich wird bei Athens, wie soeben erwähnt, 4
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„[...] Wie sieht nun eine gute Abduktion aus? Oder wie sollte eine Erklärungshypothese aussehen, damit sie als Hypothese akzeptabel ist? Natürlich muss sie Tatsachen erklären können. Doch welche anderen Bedingungen muss sie erfüllen, um akzeptabel zu sein? Nun, man bezeichnet etwas als annehmbar oder gut, wenn es seinen Zweck erfüllt. Doch was ist der Zweck einer Erklärungstheorie? Ihr Zweck ist es sich der Probe eines Experiments zu unterwerfen und somit das Unvorhergesehene ausschließen, sowie die Konstruktion eines Habitus mit positiven Erwartungen zu erreichen, die nicht enttäuscht wird. Also ist jede Hypothese, durch die Abwesenheit gegenteiliger Gründe, akzeptabel, vorausgesetzt, dass sie durch Experimente verifizierbar ist und nur dann […] (Peirce, 1903, The Essential, Vol.2, S. 229). Der große Unterschied zwischen Induktion und Hypothese besteht darin, dass die Induktion in ähnlichen Fällen auf das Vorhandensein von solchen und so beschaffenen Phänomenen, wie sie beobachtet worden sind, schließt, während die Hypothese etwas annimmt, was sich von dem, was wir unmittelbar beobachtet haben, unterscheidet, häufig auch etwas, was unmittelbar zu beobachten gar nicht möglich ist. Infolge dessen nimmt, wenn wir uns um eine Induktion außerhalb jeder Beobachtungsgrenze bemühen, die Interferenz an der Natur der Hypothese teil“ […] (Peirce, 1878, S. 474). „[...] Wahrnehmungsurteile sollten als extreme Fälle der abduktiven Inferenz angesehen werden, von denen sie sich hinsichtlich der Tatsache unterscheiden, dass sie sich jenseits jeder Kritik befinden. Die abduktive Suggestion kommt wie ein Geistesblitz zu uns. Es ist ein Akt der Einsicht, allerdings einer extrem fehlbaren Einsicht (Peirce,
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der „Effekt“ durch die Formulierung eines neuen „Gesetzes“ erklärt, das in der Lage ist, ihn, wenn auch nur hypothetisch, zu erklären. Das Anwachsen des Wissensstandes geschieht also dann, wenn man die Dinge mit einem neuen Blick betrachtet und es gelingt, die Beobachtungen mit Vorstellungen, die sich von denen anderer, ebenso fehlbarer, Beobachter unterscheiden, neu auszurichten. Um die Elemente dieser „anderen Sichtweise“ zusammenzufügen, fährt man nicht in der Weise fort, dass man nachweist, dass etwas sein muss (Deduktion) oder indem man nachweist, dass etwas tatsächlich wirkt (Induktion). Man beschränkt sich auf die Aussage, dass etwas sein kann (Abduktion) (Hanson, 1958, S. 105–106). Der Forscher erarbeitet zunächst sein Interpretationsschema der Daten („nicht-geleitete Interviews“ und ihre „Untersuchungen“); dann bildet er eine oder mehrere explikative Hypothesen („Situationsinterpretationen“, „gewalttätige Phantom-Gemeinschaften“, „Phasen des ViolentisierungsProzesses“ und „Kosmologie der Gewalt“), auch wenn seine Schlüsse stets problematische und hypothetische bleiben. „So zu tun, als erwäge man alle gedanklich möglichen Hypothesen ganz genau, wäre […] [nämlich] weder rational; noch wäre es in faktisch realisierbar“ (Sini, 1983, S. 15). „Von der Organisation einer Vielfalt ‘überraschender Fakten’ ausgehend, die bis zu dem Zeitpunkt nicht erklärbar waren, wird er schließlich sehen, wie die Tatsachen durch die ‘Hypothesen’, die durch die richtige abduktive Entscheidung „im grenzenlosen und fast unendlichen Bereich möglicher Mutmaßungen[…] zugeschnitten werden“, Bedeutsamkeit erlangen (Sini, 1983, S. 14–15). Dieser Ansatz verpflichtet dazu, die Methode neu zu bestimmen, mit der Theorien entwickelt werden, die, wie Norwood Hanson formuliert, zu begriffliche Gestalten werden, begriffliche Methoden, um Tatsachen als Gesamtheit zu konstruieren: Theorien werden nicht gebildet, indem man fragmentarische Daten beobachteter Phänomene einfach zusammenwürfelt; sie sind vielmehr das, was es einem ermöglicht, Phänomene als zugehörig zu einer bestimmten Kategorie zu beobachten […]. Sie werden ‘verkehrt herum’, rückführend [d.h. abduktiv] gebildet. Theorien
1903, S. 227). „Wenn das Wahrgenommene oder das Wahrnehmungsurteil nicht von Natur aus mit der Abduktion verwandt wäre, so würde man erwarten, dass das Wahrgenommene völlig frei von jeder Art Merkmal, das zu den Interpretationen gehört, wäre, während es auf der anderen Seite solche Merkmale bräuchte, wäre es bloß eine unaufhörliche Reihe von etwas Einzelnem und Bewussten und würde zu den Abduktionen gehören. […] „Es ist nicht notwendig jenseits der normalen Beobachtungen des täglichen Lebens zu gehen, um eine Vielfalt an Fällen zu entdecken, in denen Wahrnehmung interpretativ ist (Peirce 1903, S. 229).
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sind eine Gesamtheit aus Schlüssen auf der Suche nach einer Prämisse (Hanson, 1958, S. 109).
Die Definition von Hanson zeigt, dass man angefangen bei der Organisation, mit der die Daten versehen werden, etwas „konstruiert“, das man „explikative Hypothese“ nennen kann, und dass deshalb jede Organisationsform im Verhältnis zu einer anderen heterogen und unvereinbar sein muss. Über Theorien ebenso wie über konzeptuelle Gestalten zu sprechen, bedeutet auch den Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Modellierung und den Visualisierungsformen zu erkennen und hervorzuheben (Borutti, 2002). Theorien – schreibt Silvana Borutti, die sich damit auf das Denken Hansons bezieht – können nicht in einem abstrakten, methodologischen und metalinguistischen Raum verglichen werden, sondern treten allenfalls mit historischen Kontexten in Kontakt. In diesem Sinne ist die These von der Unvergleichbarkeit eine These über die Gesellschaftsgebundenheit und die Geschichtlichkeit der Bedeutungen und der begrifflichen Gesamtheiten […]. Die These der Unvergleichbarkeit besagt im Wesentlichen, dass jedes wissenschaftliche Modell einen Horizont der Visualisierung und der Objektivierung mit sich bringt und dass es keine Form der Visualisierung gibt, die ein absolutes Bezugssystem bilden kann (Borutti, 2002).7
So steht erneut auch das Problem der „Konstruktion wissenschaftlicher Objekte“ zur Diskussion, der wissenschaftlichen Sprache als Agent der „Konstruktion des Inhalts“, ein Problem, mit dem sich die zeitgenössische Erkenntnistheorie auseinandersetzt, wenn sie sie Frage nach dem „wissenschaftlichen Modell“ aufwirft. Die „Modelle“ sind als metaphorische Netze gedacht, welche eine Welt entwerfen, sie sind unersetzliche Operatoren der „Konstruktion“, sie sind das, was die Objekte sichtbar macht, sie sind „Hypothesen“, welche die Tatsachen in ihrer Darstellung neu organisieren. Erkenntnistheoretisch betrachtet bedeutet dies im Wesentlichen, dass die wissenschaftliche Bezeichnung ein „Beobachtungstreffen“ mit den Phänomenen ermöglicht, dass sie keine „Objekte“ reproduziert, sondern sie „konstru7
Zur Unvergleichbarkeit kriminologischer Theorien gestatten wir uns den Hinweis auf Ceretti (1992, S. 252 ff. und S. 338 ff.). Was die Aufgabe als Forscher auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften noch belastender sein lässt, ist der Umstand, dass die theoretische Produktion der Geisteswissenschaften sich vor dem Hintergrund sozialer, institutioneller, machtorientierter „Praktiken“ vollzieht, welche das gemeinsame Feld bilden, von dem aus man sich vorgeht, begreift und handelt. Mit anderen Worten: Explikative Hypothesen werden von einer Person aufgestellt, die selber ein Produkt dessen ist, was den „Gegenstand“ ihrer Untersuchung bildet. „Bei der Bildung ‘explikativer Hypothesen’ wird der Geisteswissenschaftler, der Kriminologe, folglich auch die verschiedenen Beziehungen bestimmen müssen, die er mit den grundlegenden Praktiken eingeht, und die je nach seiner Art und Weise, den Gegenstand zu sehen und zu konstruieren, auf verschiedene Art und Weise zum Ausdruck kommen werden“ (Ceretti, 1992, S. 340).
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iert“, dass die Beobachtung als erkenntnistheoretische Erfahrung überdacht wird und dass die „Theorien“ als ebenso „zeitgebundene Sichtweisen“ angesehen werden“ (Borutti, 1991, S. 39–77).
Abduktion, Deduktion, Induktion. Hinweise Den Gedankengang von Athens und den unsrigen auch im Lichte ihrer erkenntnistheoretischen Implikationen zu überdenken, war so, als ob man versuchen würde, die Bewegungen der „Herzkammer der Uhr“ zu verstehen, die Operationen verständlich zu machen, welche zu Änderungen der „Sicht“ auf das Phänomen der Gewalt sowie zur Möglichkeit der Bildung „eines Repertoires von wenig erforschten Hypothesen“ geführt haben. Bei Untersuchungen wie der unseren […] besteht die Wissenschaftlichkeit […] eher darin, die Bedeutungen aus dem empirischen Material zu extrahieren als nachprüfbare und verallgemeinerbare Beziehungen zwischen Reihen von Daten herzustellen. Denn die Bedeutungen hängen ihrerseits zu einem großen Teil von dem ab, was sie Akteure sagen, wobei das Problem der Glaubwürdigkeit des Interviews aufkommt. Hierzu stellen wir fest, dass das, was die Handelnden uns sagen, uns nicht nur über bestimmte Tatsachen und soziale Beziehungen informiert, sondern auch (und vielleicht vor allem) über die Handelnden selbst, über ihre Darstellung der sozialen Welten und Interaktionen, in denen sie verstrickt sind. Folglich besteht unser Interesse weniger darin, die „Wahrheit“ der Interviews zu ermitteln, als darin, diese Darstellungen aufzuarbeiten und zu verstehen (Dal Lago / Quadrelli, 2003, S. 24).
Mit diesen Ansichten, denen wir völlig zustimmen, haben wir uns bereits auseinandergesetzt. Es bleibt noch die Tatsache, dass die Verfahren, mit denen ein hohes Maß an Wissenschaftlichkeit einer Hypothese garantiert werden soll, über die „fruchtbare Phase“ der „Abduktion“ – die Gewinnung von Bedeutung aus empirischem Material – hinausgehen. Diese weiteren Phasen können vom Geisteswissenschaftler nicht weggelassen werden. In der wissenschaftlichen Methodologie von Peirce, um bei seinem Denken zu bleiben, muss man: [...] die Konsequenzen der Hypothese aus der Deduktion ziehen, sie mit dem Ergebnis des Experiments durch Induktion vergleichen und die Hypothese verwerfen, eine neue ausprobieren, sobald die erste widerlegt wurde, so wie es wahrscheinlich passieren wird. Wie lange es dauern wird bis wir die Hypothese finden, die allen Tests standhält, können wir nicht wissen, aber wir hoffen, dass es letztendlich passieren wird (Peirce, 1901, S. 107). In der methodologischen Ordnung des Philosophen ist „Deduktion“ demnach jener Schluss, der die vorstellbaren Konsequenzen aus einer Hypothese zieht: anhand
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gewisser Prämissen werden in allen Fällen, in denen sie wahr sind, bestimmte Schlüsse wahr sein. Die „Induktion“ ihrerseits überprüft eine Hypothese, indem sie die Folgerungen, welche im Wege der Deduktion gezogen wurden, überprüft (Tuzet, 2006, S. 140 und S. 171). Induktion schließt Abduktion nicht aus, denn um valide zu induzieren, müssen wir vorher die relevante Eigenschaft, die einer Untersuchung ausgesetzt werden soll, bestimmen. Hätten wir nicht die Möglichkeit, die untersuchte Eigenschaft vorherzubestimmen, indem wir sie abduktiv auswählen, wäre die Erkenntnis durch eine unbestimmte Anzahl potentiell induzierbarer Eigenschaften zur Unbeweglichkeit verdammt. […]. Die Abduktion geht der Induktion in dem Sinne voraus, dass sie ihr eine zu überprüfende Hypothese formuliert, doch hängt sie auch von ihr ab, was die Überprüfung der Hypothese betrifft. Man kann es auch so sagen: Abduktion ohne Induktion ist leer, Induktion ohne Abduktion ist blind (Tuzet, 2006, S. 182).8
Jedenfalls erlaubt der begriffliche Apparat und das Repertoire der Hypothesen, die Athens und wir selbst angewendet haben, auf der aktuellen Höhe der Ausarbeitung bereits, sich auf eine theoretische Formel zu stützen, welche die Genealogie des gewalttätigen Verhaltens sichtbar macht, indem sie über die gewohnten Horizonte hinausgeht und eine neue – und ebenso fehlbare – „Vorstellung vom Sehens“ artikuliert. Zusammengefasst: „Die erfolgreichen Theorien entstehen nicht nur als ein bloßes Raten, sondern auch aus guten Gründen“ (Peirce, 1878, S. 195). Wann – und ob – die induktiven Schlüsse im Anschluss an diese „guten Gründe“ tatsächlich möglich sind, ist eine Frage, die offen bleiben muss.
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„Diese Überlegungen zur Induktion und Abduktion sind wichtig, um einige Diskussionen zur Induktion, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, ins richtige Licht zu rücken. Das sogenannte neue Dilemma der Induktion, das von Nelson Goodman (1954) in der Mitte des letzten Jahrhunderts formuliert worden ist, fragt nicht danach, ob Induktion gerechtfertigt sei, sondern danach, welche Induktion es ist. Nicht, ob man eine Regelmäßigkeit, die in den vorangegangenen Fällen begegnet ist, auf zukünftige Fälle ausdehnen kann, sondern welches die Prädikate sind, welche von den bekannten Fällen auf die unbekannten Fälle induktiv übertragen werden können. Anders ausgedrückt liegt das Problem in der Wahl der Hypothese, die übertragen werden soll – oder, um es mit P. zu sagen, es handelt sich um ein abduktives Problem der Auswahl der Hypothese“ (Tuzet, 2006, S. 184).
ANHANG
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Filmographie AMERICAN HISTORY X (1999). Ein Film von Tony Kaye. Mit Edward Norton (Derek), Avery Brooks (Prof. Bob Sweeney), Edward Furlong (Danny), Beverly D'Angelo, Elliott Gould, Fairuza Balk (Stacey), Ethan Suplee, Stacy Keach. Genre: Drama. Dauer: 120 min. USA. BOWLING A COLUMBINE (2002). Ein Film von Michael Moore. Genre: Dokumentarfilm. Dauer: 120 min. USA. DEPARTED – UNTER FEINDEN (2006). Ein Film von Martin Scorsese. Mit Leonardo DiCaprio (Billy Costigan), Matt Damon (Colin Sullivan), Jack Nicholson (Frank Costello), Ray Winstone (Mr. French), Vera Farmiga (Madolyn), Mark Wahlberg, Martin Sheen und Alec Baldwin. Genre: dramatischer Thriller. Dauer: 149 min. USA. DOGVILLE (2003). Ein Film von Lars von Trier. Mit Nicole Kidman (Grace), Stellan Skarsgård (Chuck), Siobhan Fallon, Chloë Sevigny, Patricia Clarkson (Vera), Jeremy Davies, Philip Baker Hall, Paul Bettany (Tom), Lauren Bacall, James Caan (Padre di Grace), Harriet Andersson, Ben Gazzara, Blair Brown. Drama. Dauer: 165 min. Dänemark, Frankreich, Schweden, Norwegen. ELEPHANT (2003). Ein Film von Gus Van Sant. Mit Eric Deulen (Eric), Alex Frost (Alex), Elias McConnell, Timothy Bottoms, Matt Malloy. Drama. Dauer 81 min. USA. FULL METAL JACKET (1987). Ein Film von Stanley Kubrick. Mit Matthew Modine, Adam Baldwin, Kevyn Howard, Dorian Harewood, Lee Ermey (Sergente Maggiore Hartman), Vincent D'Onofrio, Arlise Howard, Ed O’Ross, John Terry, Kirk Taylor, Ian Tayler, Ngoc Lee, Papillon Soo Soo, Leanne Hong, Tim Colceri. Kriegsfilm. Dauer 116 min. USA.
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Filmographie
GOMORRA (2008). Ein Film von Matteo Garrone. Mit Toni Servillo (Franco), Gianfelice Imparato, Maria Nazionale, Salvatore Cantalupo, Gigio Morra, Salvatore Abruzzese, Marco Macor (Marco), Ciro Petrone (Ciro), Carmine Paternoster (Roberto). Drama. Dauer 135 min. Italien. NATURAL BORN KILLERS (1994). Ein Film von Oliver Stone. Mit Robert Downey Jr. (Giornalista), Juliette Lewis (Mallory), Tommy Lee Jones, Woody Harrelson (Mickey), Tom Sizemore, Rodney Dangerfield, Maria Pitillo, Pruitt Taylor Vince, Balthazar Getty. Drama. Durata 120 minuti. USA. NO COUNTRY FOR OLD MEN (2007). Ein Film von Ethan e Joel Cohen. Mit Tommy Lee Jones (Sceriffo Ed Tom Bell), Javier Bardem (Anton Chigurh), Josh Brolin (Llewelyn Moss), Woody Harrelson (Carson Wells), Kelly Macdonald (Carla Jean Moss), Garret Dillahunt (Wendell), Tess Harper (Loretta Bell), Barry Corbin (Ellis), Rodger Boyce (Sceriffo di El Paso). Drama. Dauer 122 min. USA. PULP FICTION (1994). Ein Film von Quentin Tarantino. Con Rosanna Arquette (Yolanda), Harvey Keitel, Samuel L. Jackson (Jules), Uma Thurman (Mia), Bruce Willis, Tim Roth (Zucchino), John Travolta (Vincent), Eric Stoltz, Maria de Medeiros, Amanda Plummer, Ving Rhames, Christopher Walken, Alexis Arquette, Paul Calderon, Frank Whaley. Genere Hard boiled. Durata 150 minuti. Produzione USA. DER SCHMALE GRAT (THE THIN RED LINE, 1998). Ein Film von Terrence Malick. Mit Sean Penn, James Caviezel, Nick Nolte, Elias Koteas, George Clooney, John Travolta, John Savage. Genere Guerra. Dauer 170 min. USA. TROPA DE ELITE (2007). Ein Film von José Padilha. Mit Wagner Moura (Capitano Roberto Nascimento), Caio Junqueira, Maria Ribeiro, André Ramiro, Fernanda Machado, Milhem Cortaz. Actionfilm. Dauer 115 min. Brasilien, Argentinien.