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German Pages XII, 442 [449] Year 2020
Christina Viehmann
Korsett und Machtressource Die Medienöffentlichkeit in Verhandlungen von gesellschaftlichen Entscheidern
Korsett und Machtressource
Christina Viehmann
Korsett und Machtressource Die Medienöffentlichkeit in Verhandlungen von gesellschaftlichen Entscheidern
Christina Viehmann Mainz, Deutschland Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 02 – Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2019 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Diese Dissertation ist im Rahmen des Projektes „Korsett oder Machtressource? Die Medienöffentlichkeit in politisch-ökonomischen Verhandlungen“ entstanden, das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 378742364 gefördert wurde. ISBN 978-3-658-32008-9 ISBN 978-3-658-32009-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-32009-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Ein wissenschaftliches Buch zu schreiben ist ein zwiespältiges Unterfangen. Auf der einen Seite steht die Qual – für den Schreibenden wie den Lesenden gleichermaßen: Der Schreibende zweifelt – mal am Geschriebenen, mal an sich selbst, mal an dem Aufwand und der investierten Lebenszeit. Der Lesende hat statt eines knackigen Aufsatzes ein umfangreiches Buch vor sich. Sucht er etwas Bestimmtes, so sollte er besser der Technik des Querlesens von großen Textmengen mächtig sein. Es gibt jedoch für beide – Schreibenden wie Lesenden – auch eine lohnende Seite: Lässt man sich erstmal darauf ein, so erlebt man auch erhellende Momente – vor allem dann, wenn es einem gelingt, derart tief in die Thematik einzusteigen (oder sich einführen zu lassen), dass man zumindest punktuell, für den spezifisch betrachteten Ausschnitt der Realität erkennen kann, was die Welt im Innersten zusammenhält. Diese Momente der Erkenntnis sind berauschend. Die Qual lässt sich mindern und die lohnende Seite noch mehr genießen, wenn man diesen Weg zur Promotion nicht alleine geht. Allen voran möchte ich meinem Promotionsbetreuer Oliver Quiring danken. Viele der erhellenden Momente wären mir ohne den wertvollen Austausch mit ihm in den vergangenen Jahren verwehrt geblieben. Gleichzeitig ermutigte er einen dazu und ermöglichte den notwendigen Freiraum, um seine eigenen Gedankengänge zu entwickeln und reifen zu lassen. Darüber hinaus gilt der Dank Thomas Koch, der das Korreferat dieser Arbeit übernommen hat. Danke sagen möchte ich auch meinen Kollegen am Institut für Publizistik, die durch ihr inhaltliches Feedback, fruchtbare Diskussionen, viele Hinweise und Tipps sowie moralische Unterstützung zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Für all das möchte ich mich ganz, ganz herzlich bedanken bei: Anna Schnauber-Stockmann, Pablo Jost, Benno Viererbl, Nora Denner, den Mitgliedern des Doktorandenkolloquiums am IfP und meinem (aktuellen und ehemaligen) Lehrstuhlteam Marc Ziegele, Mathias Weber, Marlene Schaaf und Markus Schäfer. V
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Vorwort
Ein besonderer Dank gilt Benjamin Hertlein und Robin Riemann, die die Arbeit mit großer Sorgfalt korrekturgelesen haben. Schließlich lässt sich ein solches Projekt nur mit Menschen an seiner Seite stemmen, die bedingungslos an einen glauben. Tausend Mal Danke deshalb an meine Eltern Heinrich und Theresa Köhler, meine Freunde und vor allem an meinen Partner Andreas Viehmann!
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Thematischer Aufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konzeptionsleitende Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vorgehen zur Bearbeitung der Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 4 9
Teil I: Problemstellung und theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten . . . 2.1 Mögliche Perspektiven: Funktionseliten und Entscheidungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kommunikationswissenschaftliche Perspektive: Das Verhältnis zwischen Medien und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern . . . . . 2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses: Der Medialisierungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Konzeption der Voraussetzungen und Ursachen von Medialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Überblick zum Forschungsstand: Folgen der Medialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Folgen für die kommunikativen Handlungen der Entscheidungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1.1 Annahmen zu Medialisierungsfolgen für das kommunikative Handeln . . . . . . . . . 2.3.2.1.2 Folgen für die Bedeutung verschiedener Kommunikationsaktivitäten . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1.3 Folgen für die inhaltliche Gestaltung der Kommunikationsaktivitäten . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1.4 Medialisierungsfolgen für die Mesoebene: Organisationale und strukturelle
17 17 20 23 29 35 37 38 41 48
VII
VIII
Inhalt
Anpassungen zur Bewältigung der Kommunikationsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.3.2.2 Folgen für das Kernentscheidungshandeln . . . . . . . . . 59 2.3.2.2.1 Annahmen zu Medialisierungsfolgen für das Kernentscheidungshandeln . . . . . . . . 60 2.3.2.2.2 Generalisierte Einflusswahrnehmungen . . 64 2.3.2.2.3 Folgen für die Ergebnisse des Kernentscheidungsprozesses . . . . . . . . . . . . . 67 2.3.2.2.4 Folgen für den Kernentscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.3.2.2.5 Folgen für das Verhältnis von Entscheidungsherstellung zu -darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.3.2.2.6 Randbedingungen von Medialisierungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.3.2.2.7 Medialisierungsfolgen auf der Mesoebene der Kernentscheidungsstrukturen . . . . . . . . 85 2.4 Zusammenfassung des Forschungsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.5 Resümee und Identifikation der zentralen Desiderata . . . . . . . . . . . . . 97 2.5.1 Differenzierung der Folgen: Was heißt Entscheiden? . . . . . . . 101 2.5.2 Modellierung der zugrundeliegenden Mechanismen: Wie wird das Entscheiden beeinflusst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.5.3 Berücksichtigung der Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft . . . . . . . . . . . . 3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung . 3.1.1 Relevanz und normative Bewertung von Verhandlungen als gesellschaftlicher Kernentscheidungsmechanismus . . . . . 3.1.2 Definitorische Merkmale und Wesen von Verhandlungen . . 3.1.2.1 Auslöser von Verhandlungen: Interessenskonflikte unter Interdependenz . . . . . . . . . 3.1.2.2 Lösung: Gemeinsame Entscheidung in Form eines Kompromisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3 Lösungsweg: Soziale Interaktion via kommunikativen Austausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4 Besonderheiten des sozialen Austauschprozesses: Verhandeln unter den Bedingungen von Dynamik, Unsicherheit und im Verhandlungsdilemma . . . . . . .
119 121 122 129 133 134 136 138
Inhalt
3.1.3 Grundständige Betrachtung: Parameter des Verhandlungsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Spezifische Betrachtung: Merkmale und Parameter von institutionalisierten Verhandlungen komplexer Akteure . . . 3.1.5 Zwischenfazit: Verhandlungen zwischen Funktionseliten als Mechanismus der gesellschaftlichen Kernentscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Grundlagen: Anspruchsgruppen von Verhandlungsakteuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Push und Pull zwischen Verhandlungsakteuren und Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Perspektive der Verhandlungsakteure: Funktionen der (Massen-)Medien und der allgemeinen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Perspektive der Medienöffentlichkeit: Berichterstattung und öffentliche Kommunikation über Entscheidungsprozesse von Funktionseliten . 3.2.3 Spannungsreiche Implikationen: Ergänzung der Modellparameter um die Bezugspunkte zur Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
141 152 165 169 170 185 185 200 220
Teil II: Modellbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4 Abhängige Konstrukte: Konzeption des Entscheidungshandelns in der Medienarena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena . . . . . . . . . . . 4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zwischen den Arenen: Wechselwirkungen und instrumentelle Aktivitäten zwischen Verhandlungs- und öffentlicher Medienarena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Schlüsselkomponente: Strategisch-taktische Überlegungen der Entscheider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zwischenfazit: Konzeption der abhängigen Zielkonstrukte . . . . . .
233 239 250 270 278 298
IX
X
Inhalt
5 Unabhängige Konstrukte: Die kognitive und emotionale Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Aufmerksamkeit für und Nutzung von medial vermittelter öffentlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation von medial vermittelter öffentlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Kognitive Reaktionen auf medial vermittelte öffentliche Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Emotionale Reaktionen auf medial vermittelte öffentliche Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Zwischenresümee: Verarbeitung von medial vermittelten und öffentlichen Inhalten und Folgen daraus für das Entscheidungshandeln der Funktionseliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens im Aushandlungsmodus – die Verhandlungsumwelt . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Brücke zwischen Mikro und Meso – die organisationale Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Individual- und Backgroundfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Zwischenfazit: Die intervenierende Rolle der Kontexte . . . . . . . . . . . 7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zusammenfassung der Konzeptionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Ausgangsüberlegungen und konzeptionsleitende Forschungslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Zentrale Modellbestandteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Diskussion der Modellimplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Kritische Reflexion: Limitationen, Leistungen und Anwendungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Ausblick: Der Versuch einer Antwort – mediale und öffentliche Beobachtung im Kontext der Entscheidungsfindung gesellschaftlicher Funktionseliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301 307 310 313 320 324 333 339 350 358 370 373 377 377 377 383 391 400 406
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abbildungen Abb. 1
Differenzierung von Ursachen, Merkmalen und Folgen der Medialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Abb. 2 Grundständige Systematisierung der Einflussparameter in Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Abb. 3 Schematische Darstellung der Konstellation von Verhandlungen komplexer Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Abb. 4 Erweiterte Systematisierung der Einflussfaktoren für institutionalisierte Verhandlungen zwischen komplexen Akteuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abb. 5 Erweiterte Darstellung der Akteursbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Abb. 6 Ausdifferenzierte Systematisierung der Einflussfaktoren für Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismus in der Mediengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Abb. 7 Detailbetrachtung des Zielkonstrukts Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Abb. 8 Detailbetrachtung des Zielkonstrukts Kommunikationsaktivitäten in der medienvermittelten und öffentlichen Arena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Abb. 9 Detailbetrachtung der Wechselbeziehung zwischen medienvermittelter öffentlicher und Verhandlungsarena . . . . . . . . 271 Abb. 10 Detailbetrachtung der strategisch-taktischen Überlegungen . . . . 286 Abb. 11 Detailbetrachtung des unabhängigen Kernkonstrukts: kognitiv-emotionale Verarbeitung von medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abb. 12 Umweltfaktoren und Rahmenbedingungen des Kernzusammenhangs zwischen der psycholog. Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit und dem Entscheidungshandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Abb. 13 Übersicht über die Rollen der Kontextfaktoren im Kernzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Tabellen Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3
Übersicht über die Merkmale der Verhandlungsumwelt . . . . . . . . . 339 Übersicht über die Merkmale der organisationalen Umwelt . . . . . . 350 Übersicht über die Merkmale der Umwelt Medien und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Einleitung 1 Einleitung
1.1
Thematischer Aufriss
1.1
Thematischer Aufriss
1
In pluralistischen Massengesellschaften gilt es, zahlreiche Koordinationsprobleme und Konflikte zwischen divergenten Interessen zu lösen: Etwa wenn es um die Frage geht, wie öffentliche Mittel im Wohlfahrtsstaat (um-)verteilt werden, externe Kosten etwa aus der Umweltverschmutzung von den Mitgliedern der Gemeinschaft getragen werden oder wenn ein Unternehmen seinen größten Konkurrenten am Markt übernimmt und damit ein Monopol erschafft, das zu Lasten der Verbraucher gehen könnte. Diese Koordinationsprobleme und sozialen Konflikte gehen oft mit weitreichenden Folgen für große Teile der Bevölkerung einher, sodass der Lösungsdruck hoch ist. Gleichzeitig sorgt die steigende Multidimensionalität der Koordinationsprobleme dafür, dass dezentrale Lösungsmechanismen wie Mehrheitsentscheidungen oder der Marktmechanismus den Problemen immer weniger gerecht werden können (Czada, 2014, S. 118; Keller, 1991, S. 22, 95; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 436; Strömbäck & Esser, 2014, S. 3). Stattdessen sind zunehmend sog. Funktionseliten in gesellschaftlichen Führungspositionen – etwa Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Verwaltung oder Politik – gefragt, die sozialen Konflikte über komplexe, koordinative Governancemechanismen wie Verhandlungen zu lösen, da diese die Vielzahl an Problemdimensionen berücksichtigen können (Grande, 2000, S. 122; M. Hartmann, 2004, S. 62; Hoffmann-Lange, 2007, S. 56–57; Keller, 1991, S. 4, 22, 95; Sarcinelli, 2011, S. 128). Die Funktionseliten treffen dabei meist abgeschirmt von öffentlicher Beobachtung Entscheidungen (Fawzi, 2018, S. 1137), die weitaus mehr Menschen als sie selbst in wesentlich größerem Ausmaß betreffen (Lichtenstein, Gregory, Slovic & Wagenaar, 1990, S. 91). Trotzdem ist die Frage selten eindeutig zu beantworten, inwieweit es dabei notwendig oder
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1 Einleitung
wünschenswert ist, die Öffentlichkeit einzubeziehen bzw. sich der öffentlichen Beobachtung beispielweise über Massenmedien auszusetzen (vgl. auch: Sarcinelli, 2011, S. 76), wie folgende Beispiele verdeutlichen: Diese Fragen nach Transparenz und dem Einbezug der Öffentlichkeit wurden etwa intensiv im Rahmen des Aushandlungsprozesses zum Transatlantischen Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP diskutiert (Buchter & Tatje, 2014), das zwischen 2013 und 2016 zwischen der Europäischen Union und den USA – bislang ohne einen Abschluss – verhandelt wurde. Befürchtet wurde, dass hinter verschlossenen Verhandlungstüren weniger das Allgemeinwohl denn mächtige Partikularinteressen im Fokus stehen: So wurde insbesondere die Tatsache, dass sog. Schiedsgerichte vorgesehen sind, vor denen die Interessen multinationaler Unternehmen gegen Staaten eingeklagt werden können, als Hinweis interpretiert, dass das Abkommen primär den Interessen der profitorientierten Wirtschaft diene, wohingegen die einfachen Bürger die Kosten – beispielweise niedrigere Standards bei der Lebensmittelproduktion (Stichwort: Chlorhühnchen) – aus dem Abkommen tragen müssten (Buchter & Tatje, 2014). Die mangelnde Transparenz der Aushandlungen rund um TTIP verhindere dabei, dass die Öffentlichkeit von solchen Problemen vor Abschluss des Vertragswerkes überhaupt Notiz nehme, geschweige denn sie im Sinne demokratischer Deliberation debattieren könne (Buchter & Tatje, 2014). Demgegenüber stehen jedoch auch Beispiele, die aufzeigen, dass es nicht immer sinnvoll ist, die – mitunter volatilen, wenig rationalen – öffentlichen Stimmungen zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich vor allem um solche Entscheidungen, die den Eindruck erwecken, dass sie nicht primär an der Sache orientiert waren, sondern vor allem dem ad hoc gebildeten, wenig rational anmutenden öffentlichen Stimmungsbild nachgeben wollten. Das Resultat sind – getrieben von der Angst vor Gesichtsverlust – symbolpolitische Maßnahmen ohne inhaltliche Substanz oder Entscheidungen, die sachlicher Gründe entbehren oder ihnen sogar widersprechen. Insbesondere letzteres scheint von dem Hintergrund der Qualität von Entscheidungen für das Wohl der Gesellschaft besorgniserregend. Ein Beispiel für eine Entscheidung, die durch medial erzeugten öffentlichen Druck verändert wurde und wo es vermeintlich an Sachgründen mangelte, hat sich in Berlin zugetragen: Es ging um die künftige Verwendung der Flächen rund um den Checkpoint Charlie. Im Zuge von Verhandlungen hatte sich die Stadt Berlin mit einem Immobilienentwickler auf ein Vorgehen verständigt und diesbezüglich auch eine Absichtserklärung abgegeben. Als dann aber der Startschuss für die Baumaßnahmen fallen sollte, waren die Absichtserklärungen gegenüber dem Immobilienentwickler hinfällig und das Bauvorhaben wurde unterbunden. Grund war eine öffentliche Medienkampagne gegen den Immobilienentwickler,
1.1 Thematischer Aufriss
3
weil sich manche an den Bebauungsvorhaben störten. Vordergründig wurde zwar argumentiert, dass man sich die Chance nicht nehmen lassen möchte, letzte offene Flächen in zentralster Lage zukunftsweisend zu gestalten. Gleichzeitig räumte Berlins regierender Bürgermeister aber ein: „Es war eine Berichterstattung, der sich auch die Politik nicht hätte entziehen können“ (Budras & Kloepfer, 2018, S. 29). Während Entscheidungen von breiter gesellschaftlicher Reichweite also im Idealfall in Ruhe, unter Abwägung aller Details und differenziert in Form eines Kompromisses getroffen werden, kann öffentliche und mediale Aufmerksamkeit Entscheidungsdruck erzeugen. Dies begründet sich vor allem darin, wie in der Öffentlichkeit und medial über solche Entscheidungsprozesse kommuniziert wird: Statt den langwierigen, vielschichtigen Prozess zu begleiten, wird ereignis- und ergebnisorientiert, gerne auch in wettkampfbezogener Sprache mit Fokus auf Konflikte, Verluste und Schäden kommuniziert (vgl. beispielweise die Ergebnisse einer Inhaltsanalyse zur Berichterstattung über Tarifverhandlungen: Köhler & Jost, 2017). In der Gesamtschau legen die zuvor dargelegten Beispiele nahe, dass Medien bzw. ihre Berichterstattung und öffentliche Aufmerksamkeit im Kontext von weitreichenden gesellschaftspolitischen Entscheidungen nicht unbedeutend oder gar folgenlos sind. Eine eindeutige normative Bewertung ihrer Rolle ist jedoch nicht möglich (vgl. z. B. auch die Diskussion bei Fritz, 2012, S. 11–15). Vielmehr verdeutlichen die verschiedenen Fälle die Ambivalenz, mit der die Rolle von Öffentlichkeit und insbesondere der Medien in solchen Entscheidungsprozessen einhergeht: Transparenz als (demokratietheoretisch) notwendige Bedingung für effektive Kritik und Kontrolle der Funktionseliten durch die Bevölkerung einerseits; eine geschützte, aber intransparente Atmosphäre der konstruktiven Kompromissfindung andererseits, die vor Gesichtsverlust bewahrt und die Ruhe ermöglicht, um die Komplexität der Koordinationsprobleme bewältigen zu können (Czada, 2014, S. 120, 123; F. Esser & Matthes, 2013, S. 191; Koch-Baumgarten, 2014, S. 182; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 8–9). Versucht man sich der Frage nach der Rolle von Medien und Öffentlichkeit bei der Lösung von gesellschaftlichen Koordinationsproblemen durch Funktionseliten vor dem Hintergrund fundierterer Erkenntnisse zu nähern, so muss man überrascht feststellen, dass auch die Wissenschaft nur vage und wenig eindeutige Antworten parat hat.1 Während insbesondere das wahlrelevante (Massen-)Verhalten des
1 Ähnliches konstatieren Meade und Stasavage (2006, S. 123) für Verhandlungen im politischen Sektor; Koch-Baumgarten und Voltmer (2009, S. 299) für Policy-Entscheidungen; Bitterwolf und Seeliger (2013, S. 38); Koch-Baumgarten (2013, S. 27) für die Tarifpolitik und Preusse und Zielmann (2010, S. 298) auf generalisiertem Level für das Beziehungsdreieck aus Interessenverbänden, politisch-administrativem System und 3
4
1 Einleitung
Publikums im Kontext der Medienöffentlichkeit umfangreiche wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299; vgl. für einen Überblick bspw. Graber, 2004), ist der Blick auf Eliten selten. Dieser Befund ist umso überraschender, bedenkt man, dass bereits vereinzelte Einflüsse medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Funktionseliten mit weitreichenden Folgen für große Teile der Bevölkerung einhergehen können (Kepplinger, 2007, S. 3) – beispielweise dann, wenn Politiker in ihrem Abstimmungsverhalten zu einem neuen Gesetzesvorhaben im Parlament beeinflusst werden. Eine Ursache für diesen Mangel an belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen ist darin begründet, dass diese spezielle Population und insbesondere ihre Entscheidungsprozesse für die sozialwissenschaftliche Forschung oft nur eingeschränkt zugänglich sind (Fawzi, 2014, S. 23; Kepplinger, 2007, S. 20; Meade & Stasavage, 2006, S. 123; Pettigrew, 1992, S. 164; Rudzio, 2011, S. 466). Vor allem aber der Mangel an substanzieller und kohärenter theoretischer Konzeption resultiert darin, dass sich selbst der vorhandene, aber disperse Forschungsstand kaum untereinander vergleichen oder gar zusammenführen lässt. Dieses Bild eines Sammelsuriums an theoretischen und empirischen Schnipseln soll nachfolgend skizziert werden, um darin die zentralen Desiderata dieser Forschungsperspektive schlaglichtartig aufzuzeigen und davon ausgehend die konzeptionsleitenden Fragen zu identifizieren.
1.2
Konzeptionsleitende Fragestellungen
Zur Betrachtung des übergreifenden Erkenntnisinteresses, ob und wenn ja welchen Einfluss Medien und öffentliche Aufmerksamkeit in gesellschaftlich relevanten, weil folgenreichen Entscheidungsprozessen von Funktionseliten haben, liefern verschiedene Perspektiven eine Schablone. Jedoch scheint keine davon wirklich passgenau, vielmehr hinterlassen alle blinde Flecken: Wenn man sich der Intersektion von Medien und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern widmet, ist zunächst die Medialisierungsperspektive, wie sie im Kontext der politischen Kommunikation diskutiert und erforscht wird, naheliegend. Ziel ist es dabei, die Folgen aus der zunehmenden Durchdringung aller Bereiche der Gesellschaft, insbesondere aber der Politik, durch die (traditionellen und digitalen) Massenmedien zu identifizieren und zu erklären (Donges, 2008, S. 217; Donges & Jarren, 2014, S. 188; F. Esser, 2013, S. 156; Marcinkowski, 2014, S. 6; Schulz, 2004, Medien und Spörer-Wagner und Marcinkowski (2011, S. 416) für das Zusammenspiel aus Medien und den Governancestrukturen politischer Systeme.
1.1 Thematischer Aufriss
5
S. 90; Strömbäck & Esser, 2014, S. 11). Inzwischen lässt sich ein beachtlicher Bestand an empirischer Forschung ausmachen, der eine Vielzahl an Medialisierungsfolgen auf verschiedene Akteure – primär aus dem politischen Sektor – aufzeigt (Donges, 2008; Elmelund-Præstekær, Christian, Hopmann & Nørgaard, 2011; Haßler, Maurer & Oschatz, 2014; Kepplinger, 2002; Kunelius & Reunanen, 2012; Strömbäck, 2011a). Dennoch offenbart die Medialisierungsperspektive analytische und konzeptionelle Schwachstellen (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1039; Kunelius & Reunanen, 2012; Marcinkowski, 2014): Zum einen wurde lange Zeit pauschal die Medialisierung „der Politik“ betrachtet (zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Fawzi, 2014, S. 116; vgl. z. B. Studien, die den Einfluss „der Medien“ auf „die Politik“ untersuchten: Kepplinger, 2009c; Strömbäck, 2011a). Erweitern lassen sich diese sehr allgemeinen Befunde um Untersuchungen, die konkret Effekte auf das öffentliche Kommunikationshandeln der jeweiligen Akteure in den Blick genommen haben (vgl. beispielweise die Studien von: Blumler & Esser, 2019; Donges, 2008; Haßler et al., 2014). Auch wenn das öffentliche Kommunikationshandeln zweifelsohne einen zentralen Bestandteil des Handelns von gesellschaftlichen Funktionseliten darstellt (Blumler & Kavanagh, 1999, S. 214; T. E. Cook, 2006, S. 167; Donges, 2008, S. 213; M. Hartmann, 2004, S. 66; Pontzen, 2006, S. 87; Röttger, 2015, S. 13), so ist es doch weder der Kern noch die Haupttätigkeit.2 Überdies erfolgten viele dieser Untersuchungen auf Basis von singulären Einzelindikatoren, von denen unklar ist, wie sie sich zu übergreifenden theoretischen Konstrukten verhalten (siehe z. B. Kunelius & Reunanen, 2012; Strömbäck, 2011a). Hinzu kommt ein detailistisch anmutender Fundus an Studien, die versucht haben, in den Kern des Entscheidungsprozesses (insbesondere in der Politik) vorzudringen (vgl. z. B. Baugut & Grundler, 2009; Kunelius & Reunanen, 2012; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Dabei handelt 2
An dieser Stelle sei bereits vorab auf die hier verwendeten Begrifflichkeiten verwiesen, die im Verlauf der Arbeit an verschiedenen Stellen elaboriert und diskutiert werden (siehe insbesondere Kapitel 4): Entscheiden, Entscheidungshandeln, Entscheidungsfindung werden synonym verwendet und beziehen sich auf die Gesamtheit der Handlungen, die die gesellschaftlichen Funktionseliten vollziehen, um eine Lösung für das gesellschaftlichen Koordinationsproblem zu finden. Dieses Entscheidungshandeln wird wiederum weiter differenziert in a) Kernentscheidungshandeln – also dasjenige Handeln, das im Kern dazu dient, eine Entscheidung zu treffen, d. h. die Auswahl einer aus mehreren Alternativen. Modelliert wird es über Verhandlungen (vgl. Kapitel 3.1), weshalb alternativ auch von Verhandeln die Rede sein wird. b) Kommunikatives Handeln, Kommunikationshandeln, kommunikative Aktivitäten – also all jene Handlungen, die dazu dienen, parallel zum oder nach Abschluss des Kernentscheidungshandelns über diesen Prozess und dessen Ergebnisse mit verschiedenen Bezugsgruppen und der Öffentlichkeit zu kommunizieren. 5
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1 Einleitung
es sich aber vorwiegend um (qualitative) Einzelfallbetrachtungen, die zwar sehr tiefgründig und differenziert potenzielle Effekte im Zusammenhang einzelner, sehr spezifischer Entscheidungsinstanzen aufzeigen, deren Generalisierbarkeit aber unklar ist. Die sehr spezifischen Betrachtungswinkel in diesen Studien erschweren es überdies, die Befunde gehaltvoll zusammen zu führen. Die abhängige Variable der Medialisierungsstudien wurde demnach selten theoretisch gehaltvoll ausgearbeitet oder systematisch differenziert und in der Folge wurde auch das eigentliche Kernentscheidungshandeln – abseits konkreter Einzelfälle wie der Reform eines bestimmten Gesetzes (vgl. z. B. Melenhorst, 2015) – weder in seinen Charakteristika und Determinanten konzipiert noch differenziert und auf breiter empirischer Basis untersucht (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1035; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299; Kunelius & Reunanen, 2012, S. 57; Marcinkowski, 2014, S. 14). Vor allem aber das dynamische Wechselspiel zwischen Einflüssen auf das öffentliche Kommunikationshandeln und das nicht-öffentliche Kernentscheidungshandeln blieb bislang außen vor (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 423). Ausgehend hiervon leiten sich die ersten Unterfragestellungen ab, die auf eine Konkretisierung des Entscheidungshandelns abzielen: Wie lässt sich das Kernentscheidungshandeln der Funktionseliten im Kontext der Medienöffentlichkeit konzipieren? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das öffentliche Kommunikationshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten? Zum anderen offenbart die Medialisierungsperspektive eine analytische Schwachstelle, wenn es darum geht, wie Medialisierung von statten geht. Wie zeitigt die zunehmende Durchdringung durch die Massenmedien Folgen in anderen Gesellschaftsbereichen? Die Annahme ist, dass medienbezogene Rationalitäten und Kalküle (die sog. Medienlogik) immer bedeutsamer im Denken, Räsonieren und letztendlich auch Handeln der Entscheidungsträger werden (F. Esser, 2013, S. 156; Marcinkowski, 2014, S. 6). Wie sich ein solcher Prozess jedoch vollzieht, wird nicht oder nur bedingt konzeptualisiert oder tatsächlich empirisch modelliert (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 342). Hier liegt der Bezug zur Medienwirkungsforschung nahe, die klassischerweise versucht eine Antwort darauf zu geben, welche Einflüsse von den Medien – und insbesondere ihren Inhalten – ausgehen (ähnlich: Donges, 2008, S. 222). In der Gesamtschau haben Forscher dabei einen kaum zu überblickenden Korpus an Evidenz zusammengetragen, der variantenreich aufzeigt, ob, wie und unter welchen Umständen Medien und deren Inhalte Einfluss auf Wissen, Meinungen, Einstellungen, Emotionen und Verhalten der Rezipienten ausüben. Ein Gros dieser Forschung konzentriert sich jedoch auf den Durchschnittsrezipienten, während gesellschaftliche Eliten zumeist nicht gesondert betrachtet werden (Kepplinger, 2007, S. 3, 2008, S. 328; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299; van Aelst & Walgrave,
1.1 Thematischer Aufriss
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2016, S. 496). Dabei sprechen mehrere Gründe gegen eine einfache Transferierbarkeit der Erkenntnisse auf Funktionseliten (vgl. für eine Übersicht: Kepplinger, 2008): Entscheidungsträger sind etwa einer viel höheren Dosis an medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation ausgesetzt, sie haben Primärerfahrungen mit Medien und direkte Kontakte zu Journalisten; auch sind Medienwirkungen auf Wissen, Meinungen, Einstellungen und Verhalten der Normalbürger nicht mit Wirkungen auf die Urteilsbildung oder das Entscheidungsverhalten im professionellen Kontext vergleichbar – so leiten etwa spezifische, d. h. aus dem professionellen Kontext stammende Heuristiken und professionalisierte Strategien die Urteilsbildung von Funktionseliten (Kepplinger, 2008, S. 332; Sevenans, Walgrave & Epping, 2016, S. 608). Neben der Problematik der Übertragbarkeit von Erkenntnissen sorgt ein weiterer Aspekt dafür, dass die Medienwirkungsforschung bei der Frage nur bedingt hilfreich ist, welchen Einfluss Medien und öffentliche Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen haben: Das klassische Verständnis der Medienwirkungsforschung greift zu kurz, wenn es sich primär auf konkrete Inhalte im Sinne von konkreten kommunikativen Botschaften bezieht (Kepplinger, 2008, S. 328). Wie die oben dargelegten Beispiele verdeutlichen, sind die Einflüsse der Medien und der öffentlichen Aufmerksamkeit auf das Entscheidungshandeln der Funktionseliten subtil und unter Umständen auch indirekt (Kepplinger, 2008, S. 328). Entsprechend spricht Marcinkowski (2014, S. 17) im Kontext der Medialisierung von Politik auch von einem „effect beyond content“, der allein dadurch entsteht, dass die Medien existieren und entsprechend ihrer Logik agieren, was die Funktionseliten wiederum antizipieren und in ihrem Handeln berücksichtigen. Damit zielt er auf das medien- und öffentlichkeitsbezogene Bewusstsein sowie die entsprechenden Wahrnehmungen und Überlegungen der Funktionseliten jenseits konkreter Medieninhalte ab, die berücksichtigt werden müssen, will man sich der subtilen und indirekten Einflüsse nähern (siehe auch: Kepplinger, 2008, S. 329). Daher scheinen hier insbesondere wahrnehmungsbezogene Medienwirkungsansätze vielversprechend (vgl. Influence of Presumed Media Influence: Gunther & Storey, 2003; Hostile Media Effekt: Vallone, Ross & Lepper, 1985). Davon ausgehend leitet sich das zweite Set an Unterfragestellungen ab, das fragt, wie sich die Mechanismen konzipieren lassen, die medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit den Weg in den Entscheidungsprozess von Funktionseliten bahnen: Welche Rolle spielt die psychologische Verarbeitung von und die Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit (d. h. das medien- und öffentlichkeitsbezogene Bewusstsein, die entsprechenden Wahrnehmungen und Überlegungen) im Zusammenhang mit dem Kernentscheidungshandeln der Eliten einerseits und ihrem öffentlichen Kommunikationshandeln andererseits? 7
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1 Einleitung
Trotz der Probleme beim Zugang sowie des Mangels an einer umfassenden theoretischen Modellierung von Einflüssen der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Funktionseliten lassen sich wegweisende und einsichtsreiche Pionierarbeiten identifizieren. Diese Ergebnisse, die im Kontext des Medialisierungsparadigmas (Kunelius & Reunanen, 2012; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010), des sog. CNN-Effektes (Gilboa, 2005), der Policy-Agenda-Setting-Perspektive (Sevenans et al., 2016; van Aelst & Walgrave, 2011; Walgrave & van Aelst, 2006), des Ansatzes reziproker Effekte (Kepplinger & Zerback, 2009; Kepplinger, 2010a) und der Forschung zu Medieneinflüssen auf Policy-Entscheidungen (Fawzi, 2014, 2018; Melenhorst, 2015) zustande gekommen sind, zeichnen jedoch kein eindeutiges Bild. Eine Ursache hierfür ist die Vielzahl an Kontexten (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300), in denen Funktionseliten versuchen, soziale Konflikte und Koordinationsprobleme zu lösen – man denke etwa an das engere politische System mit Gesetzen und Verordnungen, aber auch die Koordination auf dem internationalen Parkett, wenn ein internationales Abkommen (z. B. Freihandel, Migration, Klimaschutz) geschlossen werden soll, oder die Lösung von sozialen Konflikten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen durch Akteure der Zivilgesellschaft (z. B. Tarifverhandlungen) bis hin zu Koordination im ökonomischen Sektor (Fusion von Unternehmen). Diese Vielzahl an Kontexten bringt unzählige Freiheitsgrade mit sich, die es wiederum erschweren, den originären und relativen Einfluss der Medien – beispielweise neben ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, rechtlichen Vorgaben und Ressourcen der beteiligten Organisationen (Koch-Baumgarten, 2013, S. 27) – herauszudestillieren. Koch-Baumgarten und Voltmer (2009, S. 300) raten daher im Kontext der Forschung zu Medieneinflüssen auf Policy-Entscheidungen dazu, die Einflüsse zu kontextualisieren, d. h. die strukturellen Rahmenbedingungen und Charakteristika der jeweiligen Umwelten zu berücksichtigen. Daraus leitet sich das dritte Set an Unterfragestellungen ab, das auf die Konkretisierung der Rahmenbedingungen zielt: Welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, um die Einflüsse aus der psychologischen Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit auf das Kernentscheidungs- und öffentliche Kommunikationshandeln gesellschaftlicher Funktionseliten zu konzipieren und zu untersuchen? Welche Effekte gehen von den entsprechend relevanten Rahmenbedingungen auf den Kernzusammenhang zwischen psychologischer Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit einerseits und dem Handeln der Funktionseliten andererseits aus?
1.3 Vorgehen zur Bearbeitung der Fragestellungen
1.3
Vorgehen zur Bearbeitung der Fragestellungen
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Vorgehen zur Bearbeitung der Fragestellungen
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Zusammenfassend sollten demnach drei Voraussetzungen erfüllt sein, will man sich der Erforschung von Medieneinflüssen auf das Entscheiden von gesellschaftlichen Funktionseliten widmen: Erstens muss geklärt werden, was mit Kernentscheiden konkret gemeint ist, damit man es neben dem Kommunikationshandeln der Funktionseliten modellieren und empirisch untersuchen kann. Zweitens müssen die psychologischen Mechanismen berücksichtigt werden, über die die subtilen und indirekten Einflüsse aus der medialen und öffentlichen Beobachtung kanalisiert werden. Drittens müssen die strukturellen Rahmenbedingungen und Kontexte identifiziert werden, um den relativen Einfluss von Medien und öffentlicher Aufmerksamkeit extrahieren zu können. Diesen drei Anforderungen sucht die vorliegende Arbeit gerecht zu werden. Mit Blick auf die erste Anforderung bietet es sich ausgehend von der politikwissenschaftlichen Governance-Perspektive an (Benz, 2007), Verhandlungen als Mechanismus zur Kernentscheidungsfindung zwischen gesellschaftlichen Funktionseliten zu betrachten (vgl. Kapitel 3.1): Verhandlungen stellen einen weitverbreiteten und effizienten Weg dar, um divergente Interessen von interdependenten Akteuren zu koordinieren (L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3). Sie eignen sich in besonderem Maße zur Lösung sozialer Konflikte in modernen Gesellschaften, da sie einer großen Interessenvielfalt begegnen und deren komplexe Verstrickungen bewältigen können (Meade & Stasavage, 2006, S. 124; Schrott & Spranger, 2007, S. 3). Entsprechend nehmen Verhandlungen in ihrer Bedeutung zur Lösung sozialer Konflikte und Koordinationsprobleme zu (z. B., um politische Streitfragen zu bearbeiten, zur Ausarbeitung von internationalen Abkommen, zur Lösung der Koordinationsfragen bei Unternehmensfusionen und -übernahmen oder bei Tarifkonflikten), während andere Kernentscheidungsmechanismen das Nachsehen haben (insb. hierarchische Steuerung, vgl. Czada, 2014, S. 118). Auch ein Großteil der oben aufgeworfenen Koordinationsprobleme wird im Rahmen von Verhandlungen gelöst (insbesondere sog. distributive Streitfragen, vgl., Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 8). Gerade im Verhandlungskontext offenbart sich die Notwendigkeit, die psychologischen Mechanismen der kognitiven und affektiven Verarbeitung zu berücksichtigen (zweite Voraussetzung), will man mediale und öffentliche Einflüsse untersuchen: Verhandlungen als Lösungsmechanismus für gesellschaftlich relevante Problemstellungen werden meist hinter verschlossenen Türen geführt (Korte & Fröhlich, 2009, S. 77; Sarcinelli, 2011, S. 78). Maßgeblich hierfür ist die normativ geprägte verhandlungstheoretische Perspektive, wonach nur im geschützten, nicht-öffentlichen Raum eine kompromissfreundliche Atmosphäre erzeugt werden kann (Gutmann & 9
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1 Einleitung
Thompson, 2010, S. 1125; Lehmbruch, 2000, S. 26; Sarcinelli, 2011, S. 78). Trotz ihrer Ambivalenz (siehe Kapitel 1.1) hat gerade diese Maßgabe der Nicht-Öffentlichkeit viele Forschende aus der politischen Kommunikation dazu veranlasst, Medien und Öffentlichkeit in diesen Situationen der Kernentscheidungsfindung einen geringen Einfluss zu attestieren – hier sei die Logik des entsprechenden Systems maßgeblich, etwa die politische oder die ökonomische Verhandlungslogik (F. Esser, 2013, S. 166; Fawzi, 2014, S. 43, 2018, S. 1138; Jarren & Donges, 2011, S. 205; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 307; Melenhorst, 2015, S. 298; Sarcinelli, 2011, S. 127). Diese Konklusion muss jedoch vor dem Hintergrund der folgenden Überlegungen revidiert oder zumindest eingeschränkt werden: Verhandelnde bewegen sich nicht im luftleeren Raum (vgl. Kapitel 3.2, in dem der Bezug der Entscheidungsakteure zu verschiedenen Anspruchsgruppen dargelegt wird). Vielmehr nehmen sie als Entscheidungsträger in zentralen gesellschaftlichen Positionen eine exponiertere öffentliche Rolle ein (Pettigrew, 1992, S. 164). Die Prominenz der beteiligten Akteure geht aber nicht nur mit besseren Chancen für öffentliche Aufmerksamkeit einher (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 36), sondern zugleich auch mit einem höheren Reputationsrisiko (Eisenegger, 2004, S. 287). Je nach Betroffenheit der Bevölkerung ist auch das öffentliche und mediale Interesse am Sachverhalt groß (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 6, 2011, S. 429). Die Handelnden sind auf Legitimation bei den relevanten Bezugsgruppen angewiesen, um erfolgreich zu sein bzw. wenigstens keinen Widerspruch zu erzeugen (Zerfaß, 2014, S. 32). Schließlich bergen Konflikte stets das Potential der Eskalation, die mitunter öffentlich stattfinden kann. Dieses öffentliche Eskalationspotential kann von den Beteiligten nicht ignoriert werden – im Gegenteil: Manche machen es sich gar zu Nutze, um ihre Ziele in der Auseinandersetzung zu erreichen (R. Brown, 2010, S. 138; F. Esser & Matthes, 2013, S. 191; Jarren, 1994, S. 665; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 11). Spätestens wenn die Entscheidung jedoch gefällt ist, muss sie vor den relevanten Bezugsgruppen gerechtfertigt und „verkauft“ werden, sonst sind zum einen die Akzeptanz der erarbeiteten Lösung und damit ihr Erfolg in der Umsetzung gefährdet. Zum anderen müssten die Entscheidungsträger langfristig um ihre Legitimation fürchten (Benz, 2007, S. 115; Koch-Baumgarten, 2013, S. 15; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 85). In der Folge scheint es demnach plausibel, dass die Funktionseliten mediale und öffentliche Kommunikation wahrnehmen, verarbeiten, antizipieren und in ihren strategischen Überlegungen berücksichtigen (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 21). Dies kann dann wiederum Folgen für das Handeln am Verhandlungstisch, aber auch für die öffentlichen Kommunikation haben – und das, obwohl rein formal ein öffentlichkeitsfreier Raum erzeugt wurde. Dies wird berücksichtigt, indem ein breites Set aus kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen zu wahrnehmungsbasierten Medieneinflüssen (Jonathan
1.3 Vorgehen zur Bearbeitung der Fragestellungen
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Cohen, Tsfati & Sheafer, 2008; Post, 2017; Tal-Or, Tsfati & Gunther, 2009), neuere Perspektiven auf emotionale Reaktionen (Matthes & Beyer, 2017; Post, 2019) und generelle kognitive Verarbeitungsmechanismen im Verhandlungskontext als Antwort auf die Medienöffentlichkeit (vgl. hier bspw. reziproke Effekte, Kepplinger, 2007, 2009a, 2010d) einbezogen werden. In Summe ist anzunehmen, dass mediale und öffentliche Kommunikation sowohl zum Korsett werden können, indem sie den eigenen Handlungsspielraum begrenzen, als auch als Ressource fungieren können, wenn sie für die eigenen Ziele instrumentalisiert werden. Welche Perspektive in welcher Situation die treffendere ist, ist eine empirische Frage. Die Voraussetzung ist jedoch eine Modellierung, die die zuvor dargelegten Schwachstellen ausmerzt. Der (dritte) Anspruch an Kontextualisierung wird erfüllt, indem spezifische Umwelten des Handelns der Funktionseliten berücksichtigt werden, die sich hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Medien und Öffentlichkeit einerseits und ihrer funktionserfüllenden Tätigkeit andererseits als relevant erwiesen haben (z. B. formale Merkmale der Verhandlungsumwelt oder Eigenschaften, die die generalisierte Beziehung der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit beschreiben). Die Identifikation und systematische Modellierung der relevanten Rahmenbedingungen soll es erlauben, die spezifischen Einflüsse der Medien zu extrahieren. Überdies wird im Rahmen der gesamten Modellierung darauf Wert gelegt, nicht nur den Bezug zu politischen Entscheidungsprozessen als einen sehr prominenten Kontext herzustellen (hierauf bezieht sich ein Großteil der Forschung), sondern explizit auch andere Entscheidungsinstanzen – etwa aus der Wirtschaft oder unter Einbezug von Verbänden aus der Zivilgesellschaft – in den Blick zu nehmen. Die oben aufgezeigten Lösungen und Modellierungen werden in zwei Schritten erarbeitet: In einem ersten Schritt wird das forschungsleitende Problem beschrieben und der theoretische Hintergrund dargelegt. Hierbei ist es das Ziel, die konzeptuellen Überlegungen und Argumente der bisherigen Forschung zusammenzuführen und aufzuarbeiten (vgl. Kapitel 2 und 3). Zunächst geht es darum, in der Breite theoretische Ansätze, Überlegungen und Modellierungen ebenso wie empirische Ergebnisse zu sammeln, die für die Frage nach der Rolle von Medien in Entscheidungsprozessen von Eliten erhellend sein können (vgl. Kapitel 2). Hierbei werden die Problemstellungen der Arbeit ausgeleuchtet, die drei Kerndesiderata im Detail ausgebreitet und all jene Erkenntnisse „mitgenommen“, die für die weitere Betrachtung notwendig und hilfreich sind. Kapitel 3 liefert dann die zentralen theoretischen Hintergründe, indem zunächst Verhandlungen als Governancemechanismus zur Lösung von gesamtgesellschaftlichen Koordinationsproblemen und sozialen Konflikten präsentiert werden (vgl. Kapitel 3.1). Verhandlungen sollen dabei so in ihren Merkmalen und Determinanten aufgearbeitet werden, dass sie aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive nutzbar gemacht werden kön11
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1 Einleitung
nen, um Kernentscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern in der Mediengesellschaft zu modellieren. Diese Hintergrundbetrachtung baut anschließend die Brücke zur Medienöffentlichkeit: Es wird einerseits aufgezeigt, welchen Bezug Verhandlungsakteure zur Medienöffentlichkeit haben (Funktion von Medien und Öffentlichkeit aus Sicht der Verhandlungsakteure). Andererseits wird schlaglichtartig abgebildet, in welchem öffentlichen Kommunikationsumfeld sich diese Akteure bewegen: Welche Stimmungen, Argumente, und Darstellungsweisen herrschen vor, wenn Medien und Öffentlichkeit über Kernentscheidungsprozesse von Funktionseliten in den verschiedensten Bereichen – Politik, Wirtschaft usw. – kommunizieren (vgl. Kapitel 3.2)? Diese Hintergrundbetrachtung soll der theoretischen Modellierung den Weg bahnen, die im zweiten Teil der Arbeit erfolgt. Dort wird ein theoretisches Modell dargelegt, das die Einsichten aus den relevanten Forschungsperspektiven verknüpft und somit die zentralen Zusammenhänge modelliert. Das Vorgehen erfolgt dabei von hinten nach vorne: Erst werden die zu erklärenden bzw. abhängigen3 Faktoren im Modell (vgl. Kapitel 4), das Handeln der Funktionseliten, konzipiert und ausdifferenziert. Im Resultat wird insbesondere zwischen dem Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena und dem kommunikativen Handeln in der öffentlichen Medienarena unterschieden. Verknüpft werden beide über eine zentrale Stellschraube: Die strategischen Überlegungen und Kalküle der Entscheidungsakteure. Diese strategischen Überlegungen und letztlich auch das Handeln der Funktionseliten werden wiederum durch die psychologische Verarbeitung von medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit und Kommunikation beeinflusst. Die verschiedenen Dimensionen dieser Verarbeitung werden in Kapitel 5 dargelegt und elaboriert (erklärende bzw. unabhängige Faktoren im vorgelegten Modell). Schließlich folgen die Rahmenbedingungen (vgl. Kapitel 6): Die Verhandlungsakteure bewegen sich nicht im luftleeren Raum, sondern nehmen eine boundary spanning role zwischen verschiedenen Umwelten ein – der eigenen organisationalen Umwelt (vgl. Kapitel 6.2), der konkreten Verhandlungsumwelt (vgl. Kapitel 6.1) mit dem Kontrahenten und der medialen und öffentlichen Umwelt (vgl. Kapitel 6.3). Darüber hinaus erweisen sich noch globale Backgroundfaktoren sowie Faktoren des Verhandlungsindividuums als gehaltvoll (vgl. Kapitel 6.4). Abschließend wird das Modell in Kapitel 7 zusammengefasst und kritisch reflektiert, indem seine Er-
3 Im Zuge der Modellbildung werden die Begriffe abhängige und unabhängige Faktoren verwendet. Diese sind nicht in einem streng empirisch-analytischen Sinn als Variablen mit einer Operationalisierung und Ausdifferenzierung von Ausprägungen für eine konkrete empirische Messung zu verstehen. Vielmehr werden diese Begriffe verwendet, um den Gedanken der Ursache-Wirkungs-Logik zu transportieren.
1.3 Vorgehen zur Bearbeitung der Fragestellungen
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kenntnispotentiale, aber auch Limitationen aufgezeigt und diskutiert werden. Dies soll es erlauben, daraus eine spezifische Agenda für künftige Forschung abzuleiten: Einerseits werden konkrete Wege im Sinne von Anwendungsbereichen aufgezeigt, wie dieses theoretisch deduzierte Modell in empirische Forschung überführt werden kann. Andererseits wird die übergreifende Klammer zur eingangs aufgeworfenen, normativ-geprägten Frage aufgegriffen und diskutiert. Im Ergebnis soll also ein theoretisch elaboriertes Modell entstehen, das aufzeigt, welche Folgen die psychologische (d. h. kognitive, wahrnehmungsbasierte, aber auch emotionale) Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit für das Handeln von gesellschaftlichen Funktionseliten in der Verhandlungsarena einerseits und in der öffentlichen Medienarena andererseits hat. Dieses Modell kann dann künftiger Forschung als Basis dienen, um davon ausgehend Hypothesen abzuleiten und deren allgemeine Gültigkeit (d. h. in verschiedenen Kontexten) zu prüfen. Im Resultat soll das Modell dazu beitragen, die eingangs dargestellte Ambivalenz in der normativen Bewertung von Medien und Öffentlichkeit im Kontext von Elitenhandeln aufzulösen, indem es klar benennen, erklären und vorhersagen kann, wann Medienöffentlichkeit sich wie im Verhandlungs- und damit Kernentscheidungskontext von gesellschaftlichen Funktionseliten bei gesellschaftlich relevanten, weil folgenreichen Problemfragen bemerkbar macht.
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Teil I Problemstellung und theoretischer Hintergrund
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Teil I
Stellt man die Frage, welchen Forschungsstand es zur Rolle von Medien in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten gibt, so ist die Antwort „Es gibt eigentlich kaum etwas“ mindestens ebenso gerechtfertigt wie „Es gibt sehr viel!“. Ursächlich für die Ambivalenz der möglichen Antworten ist die Vielfalt der Perspektiven, die sich zumindest potenziell und/oder peripher mit der Thematik beschäftigen. Es fehlt bislang an einer Zusammenführung dieser Perspektiven unter einem Dach, sodass die vorhandenen Erkenntnisse sehr disparat sind und sich kaum gegenseitig informieren. Nachfolgend soll eine Bestandsaufnahme des dispersen Forschungsstandes erfolgen (vgl. Kapitel 2), um damit einen Schritt in Richtung Zusammenführung der Perspektiven zu gehen. Dieses Unterfangen soll aufzeigen, wo konzeptionelle Aktivitäten und Forschung konkret ansetzen müssen, um sich dem Themenfeld gewinnbringend zu widmen. Zugleich erlaubt eine solche Betrachtung die zentralen Begrifflichkeiten einführend darzustellen. Allerdings muss darauf verwiesen werden, dass diese Herangehensweise zwangsläufig lückenhaft bleiben muss. Der Anspruch besteht darin, einen ersten Aufschlag vor dem Hintergrund des hier verfolgten Forschungsinteresses zu machen, der je nach Bedarf gezielt erweitert und ergänzt werden kann. Nachdem die zentralen Desiderata auf Basis einer breiten Sichtung des Forschungsstandes aufgezeigt wurden, soll anschließend ein erster Schritt hin zu einer stärkeren Fokussierung gemacht werden: Ausgangspunkt sind die einzelnen Desiderata, die in Kapitel 2 identifiziert wurden. Zu diesen soll anschließend ein substanzieller theoretischer Unterbau geliefert werden (vgl. Kapitel 3). Zuerst werden Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismen zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen und Konflikten in ihren Eigenschaften und Prädiktoren aufgearbeitet (vgl. Kapitel 3.1). Anschließend wird die Brücke zur Medienperspektive gebaut, indem einerseits der Bezug der Funktionseliten bzw. Verhandlungsakteure zur Medienöffentlichkeit dargelegt und andererseits das öffentliche Kommunikationsumfeld, in dem sie sich bewegen, charakterisiert werden (vgl. Kapitel 3.2). In der Summe soll also ein Überblick zum Forschungsinteresse generiert werden, der sowohl die notwendige Breite hat, um die Thematik umfassend abzustecken, als auch die nötige Tiefe, um ein substanzielles Fundament zu haben, auf dem die Modellbildung in Teil II fußen kann.
2
Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Die Problemstellung, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen wird, zeichnet sich wie viele andere Themen in der Kommunikationswissenschaft durch ihren interdisziplinären Charakter aus. Entsprechend ergeben sich verschiedene Ausgangspunkte, um sich der Thematik zu nähern.
2.1
Mögliche Perspektiven: Funktionseliten und Entscheidungstheorien
2.1
Mögliche Perspektiven: Funktionseliten und Entscheidungstheorien
Eine Möglichkeit ist, bei den Akteuren anzusetzen, die hier im Fokus stehen: gesellschaftliche Entscheidungsträger im Sinne von Funktionseliten. Darunter sollen Akteure verstanden werden, deren Aufgabe (meist qua Position) darin besteht, Lösungen für Probleme und Herausforderungen von gesellschaftlicher Reichweite in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen zu finden, um so die Kontinuität der sozialen Ordnung zu gewährleisten. Aus diesem Grund sind die Urteile und Entscheidungen der Funktionseliten für große Teile der Bevölkerung oder zumindest für eine größere Gruppe an Menschen in dem jeweiligen Teilbereich folgenreich ( M. Hartmann, 2004, S. 10; external strategic elites: Keller, 1991, S. 20; management elites: Pettigrew, 1992, S. 163; politische Eliten: Rudzio, 2011, S. 466). Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die gesellschaftlichen Entscheidungsträger zwar als individuelle Akteure auftreten, jedoch oftmals in organisationale und institutionelle Strukturen eingebunden sind, als deren Repräsentanten sie fungieren und wodurch ihr Handeln überhaupt erst ermöglicht, aber auch restringiert wird (Keller, 1991, S. 100; Turner, 1992, S. 233; van Kleef, Steinel, van Knippenberg, Hogg & Svensson, 2007, S. 129). Dadurch ergibt sich ein facet-
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Viehmann, Korsett und Machtressource, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32009-6_2
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
tenreiches Wechselspiel zwischen der Mikroebene des individuellen Entscheiders und der Mesoebene der dahinterstehenden Institution bzw. Organisation, das im Rahmen der vorliegenden Auseinandersetzung berücksichtigt werden soll. Funktionseliten finden sich zunächst in der Politik und Verwaltung, wo solche gesellschaftlich relevanten Entscheidungen via Gesetze und Regulierungen getroffen werden. Weitere Betätigungsfelder sind etwa die Justiz, wenn beispielweise ein Urteil in Arbeitsmarktfragen gefällt wird, das Implikationen für die Arbeitsverhältnisse von vielen Beschäftigten hat, oder aber die Wirtschaft, wenn Unternehmer oder Vorstände über die künftige Geschäftspolitik beispielweise hinsichtlich der Verlegung von Produktionsstätten entscheiden. Auch Inhaber von Spitzenpositionen in Militär, Wissenschaft, Medien und Gewerkschaften werden – je nach Auslegung und Tätigkeitsprofil – hinzu gezählt (M. Hartmann, 2004, S. 10–12; Keller, 1991, S. 20; Reunanen, Kunelius & Noppari, 2010, S. 288). Bedingt durch exponierte Positionen an zentralen gesellschaftlichen Schaltstellen und ihrem großen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung ziehen Eliten oftmals das Interesse der Allgemeinheit und der Medien auf sich und genießen hohe Prominenz (Pettigrew, 1992, S. 164). Eliten stellen also einen weit verbreiteten Akteurstypus in der massenmedial vermittelten öffentlichen Kommunikation dar (Wallner, Gruber & Herczeg, 2012, S. 54). Fragt man jedoch umgekehrt danach, welche Rolle Medien und ihre Aufmerksamkeit für die Eliten selbst und ihr Entscheidungshandeln spielen, vermag der entsprechende Forschungszweig, die Elitenforschung, darauf keine Antwort zu geben. Sie ist primär berufssoziologisch geprägt und nimmt die Schichtzugehörigkeit und andere soziodemographische Eigenschaften, Ausbildungs- und Karrierewege sowie grundlegende Einstellungen und Wertvorstellungen von verschiedenen Eliten in einer Gesellschaft in den Blick (M. Hartmann, 2004, S. 66–67; vgl. beispielweise die Übersichten bei Best & Vogel, 2018, S. 348–355; Rudzio, 2011, S. 465–488). Die Erkenntnisse daraus für die Rolle von Medien in ihren Entscheidungsprozessen sind jedoch begrenzt. Denn Eigenschaften wie der Bildungshintergrund sind vor allem als moderierende Faktoren potenzieller Medieneinflüsse relevant (Valkenburg & Peter, 2013, S. 223), vermögen jedoch nicht den Kernzusammenhang zwischen der Auseinandersetzung mit medienvermittelter öffentlicher Kommunikation und dem Entscheiden der Funktionseliten zu erklären. Darüber hinaus wird vor allem aus einer normativ-theoretischen Brille die Frage nach dem Verhältnis von Elite und Masse gestellt (vgl. bspw. Best & Vogel, 2018, S. 342–344; M. Hartmann, 2004, Kap 2). Für die vorliegende Betrachtung ist daraus vor allem die Einsicht relevant, dass die heutigen, eher auf Leistungsselektion basierenden Funktionseliten mehr als frühere herkunftsbasierte Herrschaftseliten auf öffentliche Zustimmung angewiesen sind (M. Hartmann, 2004, S. 71–72; Keller, 1991, S. 97), da sich die „soziale Anerkennung von ihrer gesellschaftsstrukturellen Herkunftsdetermination emanzipiert“ hat
2.1 Mögliche Perspektiven: Funktionseliten und Entscheidungstheorien
19
(Eisenegger, 2004, S. 264–265). Darüber hinaus vermisst man an dieser Stelle aber die gezielte empirische Betrachtung, welche konkreten Auswirkungen aus diesem Verhältnis auf das Entscheidungshandeln der Eliten resultieren (Ausnahme: eine kurze Diskussion dazu findet sich bei Best & Vogel, 2018, S. 346). Knüpft man unabhängig von den Eliten unmittelbar am Kernentscheidungshandeln an, so findet sich ein heterogener Korpus an Entscheidungstheorien aus den vielfältigsten Perspektiven (Hansson, 1991; Steele & Stefánsson, 2016). Entscheiden kann zunächst als intentionale Auswahl einer Option aus mehrere Alternativen begriffen werden, das heißt im Kernentscheidungshandeln4 werden verschiedene Alternativen aus einem verfügbaren Spektrum gegeneinander abgewogen und die ausgewählte Option wird anschließend gegenüber den nicht gewählten Optionen begründet (Korte & Fröhlich, 2009, S. 25; Schimank, 2005, S. 49). Insbesondere die normativ geprägte spieltheoretische Modellierung nimmt dabei einen großen Raum ein (vgl. z. B. Lichtenstein et al., 1990; Luce & Raiffa, 1957; Nash, 1950). Die Perspektive auf Öffentlichkeit und Medien findet in diesem Zusammenhang allerdings nur randständig statt: Präskriptiv, wie es charakteristisch für viele spieltheoretische Ansätze ist (Raiffa, 1982, S. 21; Scharpf, 2006, S. 16), wird unter restriktiven Annahmen (z. B. unitaristische Entscheider und eine Öffentlichkeit, die mit einer Stimme spricht, Lichtenstein et al., 1990, S. 94) ein Entscheidungsproblem optimiert und zwar unter der Bedingung, dass die Ansprüche einer irrational handelnden Öffentlichkeit (z. B. durch verzerrte Risikowahrnehmungen) berücksichtigt werden müssen (Lichtenstein et al., 1990; Pidgeon & Gregory, 2004). Die Medien werden dabei maximal in ihrer Rolle als neutraler Vermittler von Information einbezogen (vgl. z. B. Lichtenstein et al., 1990, S. 101). Letztendlich scheinen diese stark axiomatisch geprägten Ansätze wenig geeignet, um der Breite des hier verfolgten Forschungsinteresses gerecht zu werden, d. h. das Annahmenkorsett ist schlicht zu eng, um den interessierten Ausschnitt der Realität zu betrachten. Abseits dieser normativ geprägten Tradition an Entscheidungstheorien, existieren auch zahlreiche deskriptiv orientierte Ansätze, die es sich zum Ziel gesetzt haben, reales Kernentscheidungshandeln zu erklären (z. B. sozialpsychologische und politikwissenschaftliche Ansätze, Hansson, 1991, S. 5–6). Um Kernentscheidungshandeln zu modellieren, wie es in der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll 4 Ergänzend soll an dieser Stelle Handeln von Verhalten abgegrenzt werden: Handeln stellt eine Spezialform von Verhalten dar und zwar insofern als es aus Sicht des Handelnden subjektiv sinnhaft erfolgt, d. h. das damit eine bestimmte Absicht verfolgt wird (Kernentscheidungshandeln wird also mit der Absicht betrieben, eine Entscheidung zu treffen, während beispielweise ein Gähnen am Verhandlungstisch zwar durchaus auch Handeln sein kann, wenn es mit einer Absicht erfolgt, aber ohne diese ist es einfach „nur“ Verhalten; vgl. hierzu Schimank, 2010, S. 29; Weber, 1922, S. 1). 19
20
2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
– nämlich als kollektives Koordinationsproblem, das mit gesellschaftlicher Relevanz einhergeht und das über Entscheidungen von Funktionseliten gelöst wird – bietet sich insbesondere das politikwissenschaftlich geprägte und sozialpsychologisch erforschte Governancekonzept der Verhandlungen an (vgl. Kapitel 3.1 zur Herleitung und Modellierung von Verhandlungen als kollektiver Kernentscheidungsmechanismus zur Lösung gesellschaftlich relevanter Koordinationsprobleme; ähnlicher Vorschlag zur Modellierung von Kernentscheidungsprozessen: Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 7). Entsprechend kann man sich der Problemstellung auch aus Perspektive der Verhandlungsforschung nähern. In diesem Zusammenhang formulierten Linda Putnam und Michael Roloff bereits 1992 in einem Sammelband mit dem Titel „Communication and Negotiation“: „Media, then, are not simply containers for conducting bargaining or covering it as a news event; rather they are actively involved in shaping negotiation situations and outcomes“ (L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 4). In Anbetracht der Zeit, die seitdem ins Land gegangen ist, und der sehr geringen Ambiguität ihrer Aussage überrascht es, dass es sich hierbei bis heute im Wesentlichen um eine Annahme handelt, die weder theoretisch weiter ausgebaut noch empirisch eingehend belegt wurde. Wie es der Titel des Sammelbandes suggeriert, ist die Einsicht weit verbreitet, dass (direkte) Kommunikation zwischen den Verhandlungsbeteiligten sehr bedeutsam ist, da sie den zentralen Interaktionsmechanismus zwischen den Kontrahenten darstellt (L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 1). Entsprechend wurde auch die Rolle der Medien im Verhandlungskontext eingehender betrachtet (für eine Übersicht siehe: Bazerman, Curhan, Moore & Valley, 2000, S. 293; Thompson, Wang & Gunia, 2010, S. 493). Allerdings beziehen sich diese Erkenntnisse primär auf die Frage, welche Folgen die Wahl des Kommunikationsmediums (face-to-face, Telefon, E-Mail, andere computervermittelte Varianten) für den Verhandlungsablauf und das -ergebnis hat. Es geht also um die Rolle von Medien im Sinne einer Übermittlungstechnologie. Massenmedial vermittelte öffentliche Kommunikation blieb dabei jedoch weitestgehend außen vor.
2.2
Kommunikationswissenschaftliche Perspektive: Das Verhältnis zwischen Medien und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern
2.2
Kommunikationswissenschaftliche Perspektive
Abhilfe für die mangelnde Berücksichtigung von massenmedial vermittelter Kommunikation kann die Kommunikationswissenschaft leisten. Zwar spielt hier – bis auf wenige Ausnahmen (Fawzi, 2014; Fritz, 2012; Kunelius & Reunanen, 2012; Schrott & Spranger, 2007; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, 2011) – die Verhandlungs-
2.2 Kommunikationswissenschaftliche Perspektive
21
perspektive kaum eine Rolle, aber zumindest bietet die politische Kommunikationsforschung (und z. T. die PR-Forschung) Anknüpfung an die spezielle Population der gesellschaftlichen Entscheidungsträger (insb. Entscheidungsträger aus der Politik). Klassischerweise liegt der Fokus hier auf dem (Macht-)Verhältnis zwischen Medien und Politik bzw. Journalisten und Politikern (für eine knappe Übersicht siehe: Sarcinelli, 2011, S. 122–124). Die Labels zur Beschreibung dieses Verhältnisses sind zahlreich und reichen von einer Betonung der Dominanz des Politischen (und seiner Öffentlichkeitsarbeit) (z. B. Determinationshypothese, die auf Studienergebnissen von Baerns, 1985, S. 98–99 basiert; Indexing, „Manufacturing consent“-Modell zum Verhältnis Medien und US Regierung, vgl. Bennett, 1990; Robinson, 2001) bis hin zu Szenarien, die eine Übermacht der Medien zeichnen (Kolonialisierung der Politik durch die Medien in der sog. Mediokratie, vgl. T. Meyer, 2002, S. 7; Patterson, 1993, S. 21). Man kann inzwischen aber von einem vorsichtigen Konsens darüber sprechen, dass es sich beim Verhältnis von Journalisten und Politikern um eine wechselseitige Abhängigkeit von und Orientierung aneinander handelt (Bennett & Livingston, 2003, S. 360; Brants, de Vreese, Möller & van Praag, 2010, S. 28; T. E. Cook, 2006, S. 159; Davis, 2009, S. 205; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299; Raupp, 2009, S. 268; Sarcinelli, 2011, S. 123; Strömbäck, 2011a, S. 426). Journalisten sind darauf angewiesen, (exklusive) Informationen aus der Politik zu erhalten, die sie als Nachrichten weiterverarbeiten können (Brants et al., 2010, S. 28; Marx, 2009, S. 9; Strömbäck, 2011a, S. 426). Insbesondere der Ausbau und die Professionalisierung der Public-Relations-Aktivitäten von Politikern (und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern) führten dabei aber dazu, dass sie als Quellen von Nachrichten einen prägenden Einfluss darauf nehmen können, welche Information wie vermittelt wird (Davis, 2009, S. 205). Auf der anderen Seite können sich politische Akteure, aber auch Funktionseliten generell, der Notwendigkeit nicht entziehen, öffentliche Zustimmung generieren oder zumindest eine ablehnende Haltung der Öffentlichkeit gegenüber ihren Aktivitäten vermeiden zu müssen (Keller, 1991, S. 97). Daher sind sie auf die medial hergestellte Publizität und (eine aus ihrer Sicht wohlwollende) Interpretation von aktuellem Geschehen angewiesen (Brants et al., 2010, S. 28; Davis, 2009, S. 205; Marx, 2009, S. 9; Sarcinelli, 2011, S. 82; Strömbäck, 2011a, S. 426). Hier spricht für die Machtpotentiale von Journalisten, dass diese in letzter Instanz über den konkreten Spin einer Meldung und das Packaging sowie Framing von Informationen entscheiden (Davis, 2009, S. 206; Sellers, 2010, S. 207). Dieses Interaktions- bzw. Intereffikationsverhältnis (Bentele, Liebert & Seeling, 1997) kann demnach sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen: Je nach strukturellen Rahmenbedingungen (z. B., Art des Akteurs), situativem Kontext (z. B., Vorhandensein eines Konfliktes) oder spezifischen Eigenschaften und Bedürfnissen der beteiligten Akteure kann das Machtgefüge mal die eine, mal die 21
22
2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
andere Seite begünstigen (Blumler & Esser, 2019, S. 857; Raupp, 2009, S. 268–276; Strömbäck & Esser, 2014, S. 21; van Aelst, Sehata & van Dalen, 2010) und gestaltet sich mal antagonistisch und mal kooperativ und symbiotisch, sodass schon fast von Klüngel die Rede sein kann (Brants et al., 2010, S. 27–28, 30–31; T. E. Cook, 2006, S. 160; Raupp, 2009, S. 269). Zusammenfassend kann das Verhältnis als „delicate balance between the two, a tango of give and take“ (Brants et al., 2010, S. 28) begriffen werden (vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Baugut & Grundler, 2009, S. 343–344, 348). Wobei diese potenzielle Vielfalt in den Interaktionsbeziehungen nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass bedingt durch Regelmäßigkeit und Intensität auch eine gewisse Routinisierung und Institutionalisierung der Beziehung auf der Ebene der beteiligten Individuen üblich ist (Davis, 2009, S. 204–205). Die Erkenntnisse aus diesem Forschungsbereich erhellen insbesondere die Beziehungsebene zwischen Journalisten bzw. Medien und Entscheidungsträgern (vgl. beispielweise Davis, 2007, 2009; Strömbäck, 2011a; van Aelst et al., 2010): Beispielweise konnten Brants und Kollegen (2010) in ihrer Untersuchung zeigen, dass Misstrauen gegenüber den Medien – als eine mögliche Dimension der Beziehung zwischen Journalisten und Entscheidungsträgern – damit korreliert, wie zufriedenstellend die politischen Akteure die Berichterstattung über sich empfinden, was wiederum Folgen für ihr Handeln haben könnte. In der Summe lassen sich aus diesen Erkenntnissen zur Beziehungsebene vielfältige Mechanismen für die hier vorliegende Problemstellung ableiten, die Einflüsse aus der Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Kommunikation auf das Entscheidungsverhalten von gesellschaftlichen Funktionseliten begünstigen (siehe Kapitel 3.2 für eine tiefergehende theoretische Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Medien und Entscheidungsträgern und Kapitel 6.3 zur Modellierung der Merkmale und Bedingungen, die die Interaktion der Entscheidungsträger mit der medialen und öffentlichen Umwelt prägen). Nichtsdestotrotz fokussiert das Gros der Forschungsaktivitäten in diesem Bereich auf die Abfrage von Selbst- und Fremdbildern von Journalisten und Politikern und versucht ausgehend davon zu beantworten, wer denn nun den Tango zwischen Medien und Politik führt (vgl. z. B. Brants et al., 2010; Kepplinger, 2009c; Strömbäck, 2011a und für einen Überblick: Davis, 2009, S. 205–206). Die potenziell vielfältigen Differenzierungsmöglichkeiten bzw. der Variantenreichtum in diesem wechselseitigen Einflussverhältnis werden kaum systematisch ausgeleuchtet. Zudem vermisst man Erkenntnisse darüber, welche Schlussfolgerungen die Akteure aus diesem spezifischen Interaktionsverhältnis für ihre strategischen Überlegungen ziehen (ordne ich mich beispielsweise den als einflussreich wahrgenommenen Medien unter oder versuche ich deren Einflusssphäre – wenn möglich – zu umschiffen?). Es bleibt also offen, welche Folgen das dann für das konkrete Handeln der beteiligten
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
23
Akteure hat (Davis, 2009, S. 206; Kepplinger, 2008, S. 329; Raupp, 2009, S. 266; Strömbäck, 2011a, S. 426). Auch vermag die Individualebene aus einzelnen Politikern und Journalisten Einflüsse auf organisationaler (oder gar systemischer Ebene) nur bedingt aufzuzeigen (vgl., Kepplinger, 2008, S. 327; z. B. Selektion des politischen Personals nach Medien- statt Sachkompetenz oder zunehmende Ressourcenverschiebungen in Organisationen zugunsten der Öffentlichkeitsarbeit und zu Lasten der entscheidungsrelevanten Kernbereiche). Dabei soll gerade auch die Einbettung von Funktionseliten in ihr organisationales Umfeld als zentrale Rahmenbedingung ihres Entscheidungshandelns in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden. Ein Ansatz, der diesen eingeschränkten Blick auf das Verhältnis zwischen Journalisten und Politikern bzw. anderen gesellschaftlichen Entscheidungsträgern überwinden will (Strömbäck, 2011a, S. 426) und damit noch deutlich umfassender zur Betrachtung der hier verfolgten Problemstellung beiträgt, ist das Medialisierungsparadigma.
2.3
Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses: Der Medialisierungsansatz
2.3
Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
Der Medialisierungsansatz5 zählt heute zu den prominentesten und elaboriertesten Versuchen, das Verhältnis zwischen Medien und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu beschreiben und zu erklären (Blumler & Esser, 2019, S. 856; Brants & van Praag, 2017, S. 403). Mittlerweile koexistieren unter dem Paradigma mehrere 5 Uneinigkeit besteht im deutschen Sprachgebrauch u. a. bezüglich der Begrifflichkeit (Birkner, 2017, S. 13). So ist einerseits die Rede von „Medialisierung“ (z. B. Imhof, 2006; Raupp, 2009; Reinemann, 2010), andere sprechen hingegen von „Mediatisierung“ (z. B., Haßler, 2017; Kepplinger, 2008; Krotz, 2007). Die Erklärungen zu den vermeintlichen Unterschieden sind zahlreich und beziehen sich auf unterschiedliche Dimensionen (vgl. hierzu die Übersichtsdarstellung bei Birkner, 2017, S. 14–19) – etwa inhaltliche vs. technische Dimension des medial-induzierten sozialen Wandels (Steinmaurer, 2003, S. 107) oder aber die Unterscheidung in einen Metaprozess des technischen und sozialen Wandels mit vielfältigen bewussten und unbewussten Folgen vs. die konkrete Anpassung von Akteuren an die Erfolgsbedingungen der Massenmedien (Haßler, 2017, S. 26). Aus Mangel an einer einheitlichen Differenzierung zwischen den Begriffen, ist es nicht möglich auf einem etablierten Begriffsverständnis aufzubauen. Daher wird das hier vertretene Verständnis von Medialisierung nachfolgend explizit dargelegt. Mit Blick auf die Begrifflichkeit wird hier „Medialisierung“ bevorzugt, weil der Begriff „Mediatisierung“ bereits mit anderen Bedeutungsinhalten verknüpft oder verwandt ist (Schulz, 2011, S. 30). 23
24
2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Denkschulen – j e nach Differenzierung mindestens die folgenden beiden: sozial-konstruktivistische vs. institutionelle Perspektive (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1033; Hepp, Hjarvard & Lundby, 2015, S. 317; Kunelius & Reunanen, 2012, S. 57; Meyen, Thieroff & Strenger, 2014, S. 272). Für die Frage, welchen Einfluss Medien auf das Handeln von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern ausüben, empfehlen sich vor allem institutionelle und damit (im entferntesten Sinne) verwandte systemtheoretische Ansätze. Insbesondere die Medialisierung von Politik wurde nämlich vor diesen Hintergrundfolien eingehend betrachtet (vgl. etwa Blumler & Esser, 2019; Brants & van Praag, 2017; Fritz, 2012; Landerer, 2013; Marcinkowski, 2014; Marcinkowski & Steiner, 2014; Strömbäck, 2008; Strömbäck & Esser, 2014). Bedenkt man, dass viele gesellschaftliche Entscheidungsträger in der Politik zu Hause sind, so bieten sich diese Perspektiven auch für die vorliegende Problemstellung als Basis an.6 Hinter dem Medialisierungsparadigma verbirgt sich der Grundgedanke, dass Medien zu einem omnipräsenten und durchdringenden Umweltfaktor für Akteure und Organisationen aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen werden (Donges, 2008, S. 217; Donges & Jarren, 2014, S. 188; F. Esser, 2013, S. 156; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299; Marcinkowski, 2014, S. 6). Entsprechend formulierten auch Strömbäck und Esser (2014, S. 11): „the media increasingly permeate all aspects of private, social, political, cultural and economic life, from the micro (individual) to the meso (organisational) and the macro (societal) level of analysis“ (ähnlich: Brants & van Praag, 2017, S. 396). Abseits dieses sehr breiten Verständnisses liefert die institutionelle Perspektive eine hilfreiche Konkretisierung, will man sich den Gedanken des Durchdringens im Hinblick auf das Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten genauer erschließen: Demnach kann Medialisierung als langfristiger Prozess verstanden werden, im Zuge dessen die Medienlogik als institutionelles Set an Regeln, Handlungsrationalitäten und Normen zur Herstellung 6 Neben der Tatsache, dass sich ausgehend von der institutionellen und systemtheoretischen Perspektive bereits ein umfangreicher Korpus an theoretisch-konzeptueller und empirischer Vorarbeit für den Bereich Politik identifizieren lässt, auf dem man aufbauen kann, gibt es auch mindestens zwei inhaltliche Gründe, diese Perspektiven gegenüber den sozial-konstruktivistischen vorzuziehen: Der vertretene Medienbegriff scheint geeigneter für die hier verfolgte Perspektive, weil explizit berücksichtigt wird, dass es sich bei Medien um gesellschaftliche Institutionen und Organisationen und nicht nur eine Übermittlungstechnologie handelt (Hjarvard, 2008, S. 109); gleichzeitig werden die Folgen aus dem, was man unter Medialisierung versteht, wesentlich enger auf das Handeln von Akteuren in ihren funktionalen Rollen im jeweiligen System bezogen (Kepplinger, 2008, S. 329) und nicht allgemein auf die gesellschaftliche Konstruktion von Realität oder alltägliche Kommunikationspraktiken wie es etwa konstruktivistische Ansätze versuchen (siehe für eine Differenzierung der verschiedenen Denkschulen Birkner, 2017, S. 14; Hepp, Hjarvard & Lundby, 2015, S. 317).
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
25
und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit zunehmend an Bedeutung in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gewinnt und dort die jeweils vorherrschenden Handlungsrationalitäten und Regeln verändert, modifiziert, überlagert, ergänzt oder sogar (in Teilen) ersetzt (F. Esser, 2013, S. 160–161; F. Esser & Matthes, 2013, S. 177; Fawzi, 2014, S. 55; Hjarvard, 2008, S. 113; Marcinkowski, 2014, S. 6; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Übertragen auf das Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten hieße das, dass die Regeln, Prozeduren und Handlungsrationalitäten des Entscheidens von denen der Medienlogik verändert und überlagert oder sogar ersetzt werden. Ganz plastisch: Die gesellschaftlichen Entscheidungsträger werden an manchen Stellen versuchen, die Medienlogik schlicht zu ignorieren, in anderen Fällen sich damit zu arrangieren, sich (passiv) an sie anzupassen und in wieder anderen Situationen sie so zu verinnerlichen und ggf. zu modifizieren, dass sie sie zu ihren eigenen Zwecken instrumentalisieren können (Brants & van Praag, 2017, S. 397). Einfluss nehmen heißt demnach im Medialisierungsparadigma, dass medienbezogene Überlegungen und Kalküle Einzug halten in das Denken und Handeln von Entscheidungseliten. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Medien und Politik kann diese Entwicklung als „the very essence“ (Strömbäck & Esser, 2014, S. 6), als „dimension of effect“ (Marcinkowski, 2014, S. 13) oder auch als fortgeschrittene Stufe einer übergreifenden Entwicklung verstanden werden, die mehrere Subprozesse umfasst (vgl. auch Strömbäck, 2008). Zunächst entwickeln sich Medien für die breite Öffentlichkeit zur wichtigsten Quelle für aktuelle (gesellschafts-)politische Informationen (Mediation; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6); in einem nächsten Schritt gewinnen die Medien zunehmend an Autonomie gegenüber der Politik und entwickeln sich zu einer eigenständigen gesellschaftlichen Institution, sodass ihre eigenen Maßstäbe und nicht diejenigen anderer gesellschaftlicher Systeme (z. B. der Politik) zunehmend das Handeln von Medienakteuren prägen (Asp & Esaiasson, 1996, S. 80; Marcinkowski, 2014, S. 13; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Dies äußert sich schließlich – in einer dritten Phase – darin, dass Medieninhalte zunehmend so gestaltet werden, dass sie den originären Anforderungen und Handlungsprinzipien des Mediensystems selbst statt den Bedürfnissen der Politik genügen (Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Diese Entwicklung spiegelt demnach die erfolgreiche Loslösung der Medien von ihrer vermeintlichen Funktion als primäres Vermittlungsorgan der politischen Sphäre wieder (Marcinkowski, 2014, S. 11). Die journalistischen Akteure professionalisieren sich, indem sie den Versuchen seitens der Politik, die Realitätsdarstellung in ihrem Sinne zu prägen, mehr und mehr einen Riegel vorschieben und ihren eigenen Stempel aufdrücken – sie erleben also einen Funktionswandel weg vom reinen Vermittler hin zu einem stärkeren Kritiker und Kontrolleur (F. Esser & Matthes, 2013, S. 181). Die verschiedenen Phasen sind dabei nicht als in sich abgeschlossene 25
26
2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Prozesse zu verstehen, die in strikter Reihenfolge nacheinander ablaufen. Vielmehr wollen die Autoren sie auch als verschiedene Dimensionen verstanden wissen, die parallel, zeitlich versetzt und in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß ablaufen können (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 343; Strömbäck & Esser, 2014, S. 7). Dabei unterstreicht dieses nach verschiedenen Phasen differenzierende Konzept den dynamischen und langfristigen Charakter von Medialisierung als übergreifender sozialer Wandungsprozess (F. Esser, 2013, S. 158; Marcinkowski, 2014, S. 9).7 Für die weitere Betrachtung ist dieses Konzept jedoch unbefriedigend, da die vorliegende Problemstellung nicht den dynamischen Prozess der Medialisierung zum Gegenstand hat. Auch gründet dieses phasenweise Verständnis von Medialisierung stark auf der historischen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Medien und Politik (ähnlich auch die Überlegungen von Asp & Esaiasson, 1996, S. 81; Blumler & Kavanagh, 1999; Brants & van Praag, 2006, 2017, S. 398–399), während es in Bezug auf andere gesellschaftliche Teilsysteme eine Erklärung schuldig bleibt. So muss etwa mit Blick auf die Ökonomie festgestellt werden, dass hier das Gegenteil, nämlich eine zunehmende Abhängigkeit statt Autonomie der Medien von kommerziellen Bedürfnissen und profitorientierten Interessen der Fall ist (Brants & van Praag, 2017, S. 397; Eisenegger, 2004, S. 270; F. Esser, 2013, S. 156; Heinrich & Lobigs, 2004, S. 214–215; McManus, 2009; Reinemann, 2010, S. 289). Bedingt durch eine steigende Konkurrenz auf den Medienmärkten einhergehend mit sinkenden Auflagen, rückläufigen und stärker umkämpften Werbeetats, erfolgt die Produktion von Nachrichten zunehmend nachfrageorientiert, d. h. die Aufmerksamkeit in einem möglichst großen Publikumssegment ist die Zielmarke (Brants et al., 2010, S. 30; Brants & van Praag, 2017, S. 395). Entsprechend soll über Darstellungstechniken wie Sensationalismus, Dramatisierung und Game Framing die größtmögliche Aufmerksamkeit beim Publikum generiert und über Werbewirksamkeit monetarisiert werden (Fritz, 2012, S. 5).
7 Im Hinblick auf den dynamischen Charakter des Medialisierungsprozesses besteht weitestgehend Konsens: Auch viele andere Autoren konzipieren Medialisierung als einen Prozess der zunehmenden Bedeutung von Medien in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, wobei sie aber unterschiedliche Schwerpunkte setzen: vgl. etwa Schulz (2004, S. 88–89), der mit Extension, Substitution, Amalgamation, Accomodation vier medienbezogene Aspekte des allgemeinen (nicht speziell politikbezogenen) sozialen Wandels differenziert; Imhof (2006, S. 207), der ausgehend von Habermas‘ (1990) Strukturwandel der Öffentlichkeit vom neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit im Zusammenhang verschiedener gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse (funktional, segmentär, stratifikatorisch) spricht oder Marcinkowski und Steiner (2014), die Medialisierung als Prozess der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme verstehen.
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
27
Darüber hinaus impliziert ein solcher phasenweise Zugang eine gewisse Eindimensionalität und Zielhaftigkeit, als gäbe es einen Endzustand, den der historische Entwicklungsprozess nehmen wird (vgl. Brants & van Praag, 2017, S. 401; Marcinkowski, 2014, S. 10). Begreift man Medialisierung jedoch als Teil eines allgemeinen sozialen Wandlungsprozesses vergleichbar mit Entwicklungen wie der Industrialisierung, Individualisierung oder Globalisierung von Gesellschaften (Asp & Esaiasson, 1996, S. 88; Blumler & Kavanagh, 1999, S. 210–211; Hjarvard, 2008, S. 127; Krotz, 2007, S. 12), der auf Basis einer Vielzahl an interagierenden Faktoren in verschiedenen Geschwindigkeiten und mit Fort- und Rückschritten stattfindet, dann scheint dieses Verständnis wenig fruchtbar. Vor allem auch deshalb, weil trotz der steten Betonung, dass es sich bei Medien und Politik um ein wechselseitiges Orientierungs- und Einflussverhältnis handele (Mazzoleni & Schulz, 1999, S. 249; Strömbäck & Esser, 2014, S. 8), eher eine Dominanz der Medien über die Politik suggeriert wird (Hjarvard, 2008, S. 114; Raupp, 2009, S. 267–268). Einen Blick, der unabhängig(er) von den Spezifika in einem bestimmten gesellschaftlichen Teilbereich ist und dabei der Vielschichtigkeit des Entwicklungsprozesses gerecht(er) wird, ermöglicht das Verständnis von Medialisierung, wie es Marcinkowski (2014, S. 12; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 74) vorschlägt (ähnlich: Fawzi, 2014, S. 36; Reinemann, 2010, S. 282–283): Demnach könne man den Medialisierungsprozess begreifen als kausale Verknüpfung zwischen (vgl. Abbildung 1) • Ursachen, die im Mediensystem ebenso wie in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen verortet werden können (interne funktionale Differenzierung der gesellschaftlichen Systeme, die mit Autonomiegewinn einerseits und zunehmender Interdependenz andererseits einhergeht), • den Merkmalen des Wandlungsprozesses selbst (also etwa das Ausmaß, mit dem die Medienlogik sowohl auf individueller wie struktureller Ebene zur bedeutsamen Handlungs- und prozeduralen Maxime in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen wird) und • den Folgen8 , etwa für den Prozess und die Ergebnisse gesellschaftlicher Entscheidungsfindung.
8 An dieser Stelle wurde gezielt der Begriff der Folgen dem der Wirkungen vorgezogen, um „an die Unterscheidung von (mikroanalytischer) Wirkungs- und (meso- bzw. makroanalytischer) Folgenforschung“ anzuschließen, d. h. das recht enge Verständnis der Medienwirkungen dezidiert weiter zu fassen (Marcinkowski & Steiner, 2010, S. 53). 27
28
2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Auch wenn es bei Strömbäck (2011a, S. 425) zumindest anklingt – demnach stellten insbesondere Phase eins der Mediation, aber auch Phase zwei des zunehmenden Autonomiegewinnes Voraussetzungen für die Phasen drei und vier (Medienlogik dominiert zunehmend Medienberichterstattung und politische Akteure passen sich zunehmend der Medienlogik an) dar – so mangelt es doch den meisten Phasenkonzepten an einer vergleichbaren klaren analytischen Differenzierung des Prozesses wie das bei Marcinkowski (2014) mit den Ursachen bzw. Voraussetzungen, den Merkmalen und den Folgen der Medialisierung der Fall ist. Die Konsequenz: Die mangelnde analytische Klarheit (Marcinkowski, 2014, S. 10) erschwert sowohl die theoretische Konzeptualisierung der Detailprozesse im Medialisierungsprozess als auch deren Operationalisierung und empirische Untersuchung. Diese Differenzierung widerspricht dabei nicht dem Anspruch, dass Medialisierung über eine starre Ursache-Wirkungslogik hinausgehe (Schulz, 2004, S. 90), da abhängige und unabhängige Faktoren in diesem Konzeptionsvorschlag je nach Ausschnitt der Realität, der jeweils in den Blick genommen wird, ihre Rollen tauschen können (Marcinkowski, 2014, S. 10; vgl. auch Fawzi, 2014, 36; Kepplinger, 2007, S. 9).
Ursachen … Mediensystem Funktionale Autonomie und eigenständige Logik Interne Differenzierung Erweiterung der sozialen Reichweite Politisches System Funktionale Autonomie und eigenständige Logik Unterschiedlicher Bedarf nach öffentlicher Aufmerksamkeit Erschwerte Bedingungen zur Generierung von öffentlicher Aufmerksamkeit
Ausmaß und Merkmale …
Strukturelle Verankerung der Medienlogik
Einbezug der Medienlogik in die Überlegungen der Individuen
Folgen …
Prozess des Entscheidens
Ergebnis des Entscheidungsprozesses
… der Medialisierung von Politik.
Abb. 1 Differenzierung von Ursachen, Merkmalen und Folgen der Medialisierung Quelle: Eigene Darstellung nach Marcinkowski (2014, S. 14).
Mit Blick auf die hier verfolgte Forschungsfrage nach dem Einfluss von medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit im Entscheiden von gesellschaftlichen Funkti-
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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onseliten, erlaubt diese Differenzierung des Medialisierungsprozesses nun auch eine klare Einordnung: Ziel ist es nämlich nicht, den langfristigen Prozess von Ursachen, über die Merkmale bis hin zu den Folgen nachzuzeichnen. Vielmehr geht es darum, das Ausmaß an Medialisierung (als ein Merkmal dieses Prozesses) im Sinne der Bedeutung von medien-induzierten und -bezogenen Handlungsrationalitäten im Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten (als eine Folge des Prozesses) theoretisch-konzeptionell zu fassen und so empirisch bestimmbar zu machen. Es handelt sich also um eine Momentaufnahme in der vierten Phase bzw. Dimension im Phasenmodell von Strömbäck (2008; Strömbäck & Esser, 2014), in der sich die Akteure an die Erfolgsbedingungen der Medien anpassen. Das hier verfolgte Forschungsinteresse will keinesfalls negieren, dass es sich bei Medialisierung um einen langfristigen und dynamischen Prozess handelt. Ziel ist es hier aber nicht, diesen nachzuzeichnen, sondern vielmehr zu erklären, wie (nicht warum) medienbezogene- und induzierte Rationalitäten und Handlungsprinzipien – auch im Vergleich zu anderen Rationalitäten und Handlungsprinzipien (z. B. moralische, ökonomische, etc.) – das Entscheidungshandeln prägen können und welche Folgen das für die Kernentscheidungsfindung (z. B. Wahl einer Strategie) und ihre Ergebnisse hat (vgl. hell hinterlegte Bereiche in Abbildung 1). Für eine solche Betrachtung ist es notwendig, die Ursachen und Auslöser des Medialisierungsprozesses als gegeben anzunehmen (vgl. dunkel hinterlegte Bereiche in Abbildung 1). Um hinsichtlich dieser zugrundeliegenden Annahmen bei der hier vorgenommenen Modellierung transparent zu sein, sollen diese nachfolgend offen gelegt werden (vgl. im Detail auch Kapitel 3.2). Überdies erlaubt die Detailbetrachtung des bisherigen Forschungsstandes zu diesen Ursachen sowie zu den Folgen des Medialisierungsprozesses, weitere Anknüpfungspunkte für die hier angestrebte Modellierung zu identifizieren.
2.3.1 Konzeption der Voraussetzungen und Ursachen von Medialisierung Ziel soll es nachfolgend sein, die grundlegenden Annahmen zu den Ursachen für die Medialisierung von gesellschaftlichen Akteuren darzulegen. Sie dienen der hier vorgenommenen Betrachtung als fixe Ausgangspunkte und sollen daher nicht dynamisch, d. h. sich entwickelnd modelliert werden. Die Grundzüge des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels, in dem Medialisierung einen Teilprozess darstellt, lassen sich mit dem Gedanken der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften fassen (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 7; Luhmann, 1977, S. 31; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 76): Komplexe Mas29
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
sengesellschaften differenzieren sich in verschiedene Subsysteme aus, wobei jedes Subsystem eine ganz spezifische Funktion für das Gesamtsystem, die Gesellschaft, erbringt. Dabei sind die jeweiligen Systeme und deren Funktionen einerseits klar voneinander unterscheidbar (jedes System erbringt unterschiedliche Funktionen) und andererseits nicht austauschbar (d. h. die Funktionserfüllung durch das eine System kann nicht durch die eines anderen Subsystems kompensiert werden) (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 75). Jedes System spezialisiert sich darauf, seine Funktion für die Gesellschaft optimal zu erbringen. Dazu bilden diese Teilsysteme spezifische Regeln, Routinen und Prozeduren aus (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 7; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 77). Gleichzeitig sind sie dabei auf die Leistungen anderer Teilsysteme angewiesen – denn während sie sich auf ihre Kernaufgabe spezialisieren, unterlassen sie es, sich anderen Zielen zu widmen, die sie nicht in derart optimaler Weise erfüllen können (Luhmann, 1977, S. 45; Marcinkowski, 2014, S. 18; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 79; Schimank, 2009, S. 330; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 342). Diese abstrakte Konzeption der Gesellschaft als funktional differenziertes soziales Gebilde eignet sich, um das Verhältnis von verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen, darunter auch das der Medien, zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zu beschreiben. Medien bilden demnach ein eigenständiges gesellschaftliches Teilsystem, das im Zuge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft an Autonomie gewonnen hat (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 74; Meyen et al., 2014, S. 271), weil es eine ganz spezifische Leistung erbringt: die Herstellung und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit. D. h. die Medien schaffen einen Diskursraum zur gesellschaftlichen Selbst- und zur Fremdbeobachtung der gesellschaftlichen Teilsysteme untereinander (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 75; Sarcinelli, 2011, S. 120; ähnlich: Medien verfügen über Diskursmacht in einer Gesellschaft, Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 306). Dazu haben die Medien spezifische Regeln, Prozeduren und Routinen ausgebildet (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 78). An dieser Stelle ist die Anbindung an die institutionelle Perspektive auf Medialisierung möglich (vgl. hierzu F. Esser, 2013; Strömbäck, 2008; Strömbäck & Esser, 2014), wonach sich Medien vom bloßen Übermittlungskanal (Mediation) zu einer souveränen Institution entwickeln und damit auch als eigenständiger gesellschaftlicher und politischer Akteur auftreten können (F. Esser, 2013, S. 159; Hjarvard, 2008, S. 113). Denn Medienorganisationen teilen sich eine gemeinsame soziale Handlungssphäre, verfolgen ähnliche Ziele, unterliegen vergleichbaren internen Entwicklungsprozessen (z. B. Entwicklung von Medientechnologien, Kommerzialisierung) und bilden dazu geteilte, medienspezifische Regeln, Routinen und Prozeduren aus (z. B. Zunahme eines interpretativen im Vergleich zu einem deskriptiv-berichtenden Berichterstat-
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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tungsstil: Salgado & Strömbäck, 2012; siehe auch F. Esser, 2013, S. 160).9 Da auf diese Weise eine gemeinsame (oder zumindest recht homogene) Art der Produktion von sozialer Realität entsteht, können Medien als gesellschaftliche Institution Macht auf andere Akteure ausüben, die davon abhängig sind, welche Gestalt diese medial produzierte Realität annimmt (F. Esser, 2013, S. 160). Aus dieser funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und der Entstehung eines intern spezialisierten und autonomen Teilsystems Medien folgt: Kein anderes gesellschaftliches Teilsystem kann soziale Realität mit einer derart großen Reichweite, Vielfalt, Aktualität und einem derart hohen sozial bindenden Charakter produzieren (Blumler & Esser, 2019, S. 857; Kepplinger, 2008, S. 332; Marcinkowski, 2014, S. 18; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 78; Noelle-Neumann, 1996, S. 214–216). Demnach stellen Medien in Demokratien die zentrale Diskursplattform her, auf der die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure (Bürger, Politiker, Parteien, Unternehmen, NGOs, usw.) miteinander in Kontakt treten und sich austauschen (F. Esser & Matthes, 2013, S. 198). Entsprechend zeigt auch eine Befragung von Strömbäck (2011a), dass schwedische Abgeordnete den Medien einen hohen und in Teilen sogar sehr hohen Einfluss auf die Öffentlichkeit zuschreiben. Nichtsdestotrotz darf an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die Medien auf die Leistungen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme, etwa der Ökonomie, der Wissenschaft oder der Politik angewiesen sind, um ihre eigene Leistung erbringen zu können (Marcinkowski, 2014, S. 18; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 79). Ähnliche Bedingungen finden sich auch in den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen – beispielweise der Politik. Ziel ist es hier, kollektiv verbindliche Entscheidungen herzustellen und durchzusetzen. Diese Leistung kann kein anderes gesellschaftliches Teilsystem in vergleichbarer Universalität, Reichweite und dem verbindlichen Charakter erbringen (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 9; Luhmann, 1977, S. 35; Noelle-Neumann, 1996, S. 214–216). Aufgrund dieser Entscheidungshoheit ist die Politik auch eines der zentralen Systeme, in dem die hier im Fokus stehenden Funktionseliten angesiedelt sind. Nichtsdestotrotz finden sich auch in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen Eliten mit einer hohen, d. h. für viele Menschen relevanten Entscheidungsgewalt, nur sind diese Entscheidungen dann bezogen auf einen bestimmten Teilbereich (z. B. zur Klärung juristischer Fragen in der Justiz, unternehmerisches Handeln in der Wirtschaft, vgl. Sarcinelli, 2011, S. 75). 9 An dieser Stelle sei bereits darauf verwiesen, dass Strömbäck und Esser (2014, S. 12; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 342) hier vor allem von Nachrichtenmedien im Kontext der politischen Kommunikation sprechen und nicht den Anspruch erheben, dass jegliche Medienorganisationen und -angebote als eine Institution begriffen werden können. Die Differenzierung des Medienbegriffs wird an späterer Stelle dieser Arbeit (vgl. Kapitel 2.5.2 und 5) in Angriff genommen. 31
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Um ihre Funktion zu erfüllen, sind Akteure im politischen Sektor – zumindest in demokratischen Systemen – auf öffentliche Aufmerksamkeit als Legitimationsgrundlage ihres Handelns angewiesen und müssen daher – je nach Bedarf an (wohlwollender) öffentlicher Aufmerksamkeit – auf die Leistung der Medien zurückgreifen (F. Esser, 2013, S. 162; F. Esser & Matthes, 2013, S. 197; Kepplinger, 2008, S. 327; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 306; Meyen et al., 2014, S. 271; Nölleke & Scheu, 2018, S. 198; Sarcinelli, 2011, S. 120). So sind sich beispielsweise die Vertreter der größten Parteien in vier europäischen Ländern weitestgehend einig, dass die Medien sehr bedeutsam sind und zwar nicht nur generell, für die Gesellschaft, sondern gerade auch für die eigenen Organisationsziele (Donges, 2008). Aber auch abseits der Politik, in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen besteht für gesellschaftliche Entscheidungsträger die Notwendigkeit öffentliche Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu erzeugen (Czerwick, 2009, S. 152; Eisenegger, 2004, S. 269; Fawzi, 2014, S. 84–85, 302, 2018, S. 1138; Hermanutz & Weigle, 2017; Karmasin, 2015, S. 345; Keller, 1991, S. 4; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80): Nicht nur Politiker wollen wiedergewählt werden, auch in der Wirtschaft wollen Unternehmen durch eine hohe Reputation den Verkauf ihrer Waren und Dienstleistungen ankurbeln oder sich als Arbeitgeber für Spitzenkräfte empfehlen. Zivilgesellschaftliche Akteure benötigen, wenn sie Einfluss nehmen wollen, den Rückhalt unter den eigenen Anhängern. Schließlich sind die Durchsetzung von gesellschaftlichen Regelungen durch die Verwaltung oder die Ausübung von staatlicher Gewalt durch die Polizei auch nur möglich, wenn die Öffentlichkeit diesen Akteuren und Institutionen zumindest nicht vollkommen ablehnend gegenübersteht, sie im besten Fall sogar akzeptiert und unterstützt. Während also die funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme mit der Entstehung eines weitestgehend autonomen Teilsystems „Medien“ als Voraussetzung der Medialisierung begriffen werden kann, ist die damit einhergehende Tatsache, dass Medien zur wichtigsten gesellschaftlichen Diskursplattform werden und andere gesellschaftliche Teilsysteme auf die Leistungen der Medien angewiesen sind, als konkrete Ursachen der Medialisierung zu verstehen. In diesem Gefüge bezeichnet der unmittelbare Prozess der Medialisierung den Zugriff anderer gesellschaftlicher Teilsysteme auf die Leistungen, die das Mediensystem für die Gesellschaft erbringt – nämlich die Herstellung und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit. Diese kann in öffentliche Unterstützung münden, muss es aber natürlich nicht (Marcinkowski, 2014, S. 18; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 79). Vor dem Hintergrund dieser Konzeption ist Medialisierung vergleichbar mit Prozessen wie der Politisierung, Ökonomisierung oder Judizialisierung, wo gesellschaftliche Teilsysteme (u. a. auch die Medien) auf die Leistungen anderer Systeme, nämlich auf die von Politik, Ökonomie und Justiz zurückgreifen (Marcinkowski & Steiner,
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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2014, S. 76). Damit ist jedoch nicht gemeint, dass diese „performance relations“ (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 79) zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen symmetrisch ablaufen – Ungleichgewichte sind durchaus möglich. Inwiefern solche Ungleichgewichte bestehen, ist aber eine empirische und weniger eine konzeptionelle Frage. Zentraler Vorteil dieser systemtheoretischen Konzeption der Voraussetzungen und Ursachen von Medialisierung ist die Tatsache, dass der oft einseitige Blickwinkel, wonach Medien in andere Systeme eindringen, sie unterdrücken oder okkupieren (vgl. beispielsweise die Wortwahl bei F. Esser, 2013, S. 160; Mazzoleni & Schulz, 1999, S. 250), hier schon in der Konzeption vermieden wird (Marcinkowski, 2014, S. 18): „it (the mediatization of the political sphere, Anmerkung CV) serves first and foremost to make politics possible“ (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 88). Es geht also weniger darum, dass andere gesellschaftliche Teilsysteme sich den Medien unterordnen, als dass sie vielmehr die Leistungen der Medien aktiv und souverän für ihre Zwecke in Anspruch nehmen, sie manchmal für sich instrumentalisieren, aber sich manchmal auch gezwungen sehen, darauf zurückgreifen zu müssen (F. Esser, 2013, S. 162; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 74). Zentrale ursächliche Stellschraube von Medialisierung ist demzufolge die Frage, wie sehr und warum andere Systeme auf öffentliche Aufmerksamkeit und Akzeptanz und damit letztlich die Leistung der Medien angewiesen sind (F. Esser & Matthes, 2013, S. 185; Landerer, 2015, S. 48; Marcinkowski, 2014, S. 11; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80). In der Summe wird also die Medienlogik (im Sinne der Regeln, Prozeduren und Prinzipien des Mediensystems) im Zuge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und der Medialisierung (im Sinne eines Rückgriffs anderer gesellschaftlicher Subsysteme auf die Leistungen der Massenmedien) zum zentralen Transmissionsriemen für die Interaktion zwischen den Akteuren in den verschiedenen Subsystemen. Aber damit nicht genug – es ist anzunehmen, dass die Leistungen, die von den Medien erbracht werden, und damit auch die Logik der Medien, für die Politik und die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme immer bedeutsamer werden: Die Notwendigkeit, öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen und zu den eigenen Gunsten beeinflussen zu können, stellt sich in jüngerer Vergangenheit als besonders herausfordernd dar: Im politischen Bereich scheint der Legitimationsdruck ausgelöst durch zunehmende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung, eine Abwendung vom Politischen in Anbetracht immer komplexerer Zusammenhänge und sinkendem Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen zu steigen (Imhof, 2006, S. 200; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 301; Marcinkowski, 2014, 11, 18; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 88). Auch die Reputationsrisiken in der Ökonomie steigen im Lichte einer zunehmenden Moralisierung der öffentlichen Debatte über Unternehmen und ihre Vertreter (Eisenegger, 2004, S. 289; Heinrich 33
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
& Lobigs, 2004, S. 218; Vonwil & Lackus, 2006, S. 101). Während sich also die Beziehung der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche zur Öffentlichkeit immer spannungsreicher gestaltet, beeinträchtigen Entwicklungen in der (medienvermittelten) Öffentlichkeit selbst dieses Zusammenspiel zusätzlich (Imhof, 2006, S. 200): Die Informationsflut über verschiedenste Kommunikationskanäle verschärft den Wettbewerb in der Aufmerksamkeitsökonomie des Publikums, sodass es gezielter Aufbereitungs- und Darstellungsstrategien bedarf, um sich Gehör und positive Resonanz zu verschaffen (so nehmen es zumindest die Beteiligten selbst wahr, vgl. die Ergebnisse von Baugut & Grundler, 2009, S. 351). In der Folge werden Merkmale wie Negativismus, Skandalisierungen und emotionalisierende Narrative in der öffentlichen und medienvermittelten Debatte zunehmend prävalenter (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 303; Reinemann, 2010, S. 285; man denke beispielsweise an populistische Kommunikationsstrategien, die auf einfache und emotional rührende Argumentationen setzen; vgl. Mazzoleni & Schulz, 1999; Mazzoleni, 2014; Umbricht & Esser, 2016; oder ein interventionistischer bzw. interpretativer Berichterstattungsstil, vgl. Salgado & Strömbäck, 2012). Selbst in Bereichen, die eher abseits der unmittelbaren öffentlichen Aufmerksamkeit stehen (z. B. Verwaltung, vgl. Czerwick, 2009; Fawzi, 2014, S. 302) und nicht unmittelbar von öffentlicher Zustimmung abhängen, steigt das öffentliche Potential: Bedingt durch den Fokus auf Konflikte und Drama in der öffentlichen Debatte erhöht sich die Gefahr, dass bereits kleinere Verfehlungen ins Zentrum des öffentlichen Diskurses rutschen und so öffentlicher Druck entsteht (vgl. z. B. die Entstehung von Skandalen oder Shitstorms, Eisenegger, 2004, S. 270; Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 3; Sabato, Stencel & Lichter, 2000). In der Summe gibt es also zahlreiche Indizien, die darauf hindeuten, dass gesellschaftliche Funktionseliten einen höheren Bedarf danach wahrnehmen, öffentliche Aufmerksamkeit und die Art, wie öffentlich über die eigenen Entscheidungen und das eigene Handeln kommuniziert wird, zu beeinflussen (F. Esser & Matthes, 2013, S. 185; Mazzoleni & Schulz, 1999; Raupp, 2009, S. 267). Im Zuge dessen – so wird vermutet – werden die Mechanismen, mit denen Medien die Aufmerksamkeitsökonomie des Publikums dirigieren, auch zum Bestandteil des Handlungs- und Urteilsrepertoires in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen – etwa wenn ein Gesetzesvorhaben nicht nur rein vor dem Hintergrund politischer Kalküle entwickelt wird, sondern dabei auch medienbezogene Überlegungen eine Rolle spielen (so werden Gesetze beispielweise mit öffentlichkeitswirksamen Beinamen wie „Gute-KiTa-Gesetz“ oder „Starke-Familien-Gesetz“ versehen; vgl. außerdem Marcinkowski, 2014, S. 16; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 74; Melenhorst, 2015, S. 301). Die bisherige Forschung hat sich bereits zahlreich und differenziert mit solchen Folgen auseinan-
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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dergesetzt, die aus der Medialisierung, also dem zunehmenden Rückgriff anderer gesellschaftlicher Teilsysteme wie der Politik oder der Ökonomie auf mediale Leistungen, resultieren. Diese Ergebnisse sollen nachfolgend überblickshaft dargestellt und ihre Implikationen für die hier verfolgte Fragestellung herausgearbeitet werden.
2.3.2 Überblick zum Forschungsstand: Folgen der Medialisierung In Anbetracht der dimensionalen Vielfalt (vgl. Schulz, 2004; Strömbäck, 2008; Strömbäck & Esser, 2014) des Medialisierungsphänomens werden ihm auch eine Vielzahl an Folgen zugeschrieben. Diese beziehen sich auf das Informationsverhalten der Bürger (erste Phase der Medialisierung; vgl. für eine Übersicht zu konkreten empirischen Befunden hierzu F. Esser & Matthes, 2013, S. 192–197), die Frage nach der institutionellen Autonomie von Medien (zweite Phase der Medialisierung, vgl. z. B. Udris & Lucht, 2011), wie Medien über aktuelles Geschehen berichten (dritte Phase der Medialisierung, vgl. z. B. Mazzoleni, 1987; Strömbäck & Dimitrova, 2011) und welche Folgen für das Handeln von politischen Eliten und anderen gesellschaftlichen Entscheidungsträgern resultieren (vierte Phase der Medialisierung; siehe z. B. Borucki, 2014; Donges, 2008; Fawzi, 2014, 2018; Kepplinger, 2002; Kunelius & Reunanen, 2012; Melenhorst, 2015; Schrott & Spranger, 2007; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Da hier das Entscheidungsverhalten von gesellschaftlichen Funktionseliten im Kern des Interesses liegt, werden die Folgen für die Bürger und die Frage, inwiefern sie eine ausreichend gute Informationsbasis haben, nicht weiter beachtet (dies wurde an anderer Stelle bereits ausführlich getan, siehe z. B. die Übersicht von Graber, 2004). Vielmehr wird ein engerer Blickwinkel auf die spezielle Population der Entscheidungsträger und damit die Folgen auf der vierten Medialisierungsdimension – der „dimension of effect“ (Marcinkowski, 2014, S. 13) eingenommen. Dieser Erkenntnisstand soll dann als Fundament für die eigene Modellierung dienen (vgl. Teil II). Die Diskussion der Medialisierungsfolgen für gesellschaftliche Entscheidungsträger nimmt bei verschiedenen Schreckensszenarien ihren Ausgang – etwa wenn Mazzoleni und Schulz (1999, S. 250; ähnlich: T. Meyer, 2002) von „mediatized politics“ reden: „politics has lost its autonomy, has become dependent in its central functions on mass media and is continuously shaped by interactions with mass media“ (Mazzoleni & Schulz, 1999, S. 250). Demnach haben die Medien die Politik okkupiert, überformt und gewissermaßen entmachtet, handeln als eigenständige politische Akteure, die eigene (Partikular-)Interessen verfolgen, für die zumindest angezweifelt werden kann, ob diese der demokratietheoretisch begründeten Auf35
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
gabe der Medien entsprechen (vgl. für einen Überblick hierzu auch Brants & van Praag, 2017, S. 402; F. Esser, 2013, S. 156; Koch-Baumgarten, 2013, S. 23; Raupp, 2009, S. 267; Schrott & Spranger, 2007, S. 3). Dadurch werden demokratische Prinzipien unterwandert, da Medien sich dem Willen des Souveräns entziehen und nicht in vergleichbarem Maße wie politische Akteure zur Verantwortung gezogen werden könnten (Fawzi, 2018, S. 1146; Mazzoleni & Schulz, 1999, S. 248). Auch tragen die Medien zu einem stetigen Bedeutungsverlust der klassischen gesellschaftlichen Intermediäre bei: So fragt etwa Sarcinelli (2011, S. 220) „Von der Parteien- zu Mediendemokratie?“, weil die Medien die Funktionen der Interessensaggregation und -artikulation von Parteien auf ein verändertes und wesentlich volatileres Fundament stellten (Jarren & Donges, 2011, S. 126; Koch-Baumgarten, 2013, S. 23; Pritchard, 1992, S. 104; Sarcinelli, 2011, S. 223). Insgesamt kann aber festgestellt werden, dass diese anfänglichen normativ-aufgeladenen und negativ konnotierten Perspektiven auf die Folgen, die aus der Medialisierung für Politik und Gesellschaft resultieren, inzwischen deutlich differenzierter betrachtet werden (Brants & van Praag, 2017, S. 402; Fritz, 2012, S. 13–15; Raupp, 2009, S. 268; vgl. insbesondere die Konzepte von Blumler & Esser, 2019; Marcinkowski & Steiner, 2014; Strömbäck & Esser, 2014). Im Zuge der Verfeinerung der Konzepte wird dem Gedanken der wechselseitigen Durchdringung Rechnung getragen (F. Esser, 2013, S. 157; Fawzi, 2014, S. 55; Marcinkowski, 2014, S. 18; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 88; Raupp, 2009, S. 268–269). Vor allem die Notwendigkeit empirischer Forschung wird dabei zunehmend unterstrichen, um zu einer Antwort auf die Frage zu kommen, ob Medien und die Medialisierung funktionale oder dysfunktionale Folgen für die Gesellschaft und ihre Teilsysteme – oder konkret für das hier verfolgte Ziel, die Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Funktionseliten – haben (F. Esser, 2013, S. 159; Fawzi, 2014, S. 58; Green-Pedersen & Stubager, 2010, S. 663). Argumentativ wird die Entstehung von Medialisierungsfolgen über zwei zentrale Vorbedingungen begründet: 1) Die mediale Selektion, Produktion und Aufbereitung von Themen erfolgt vor dem Ziel, das Publikum über den Nachrichtenwert zu maximieren. 2) Die Medien sind die zentrale Informationsquelle für den Bürger und damit zugleich die zentrale Kommunikationsplattform für Eliten, die Aufmerksamkeit und Zustimmung bei den Bürgern generieren wollen und/oder müssen (vgl. hierzu auch Kapitel 2.3.1 zu den Voraussetzungen von Medialisierung). Da die Berichterstattung – wie aus 1) folgt – nicht den Anforderungen an eine nüchterne Aufbereitung von Informationen genügt, sondern zunehmend durch kommerzielle, am Verkaufswert orientierte Interessen geprägt ist (vgl. hierzu auch Landerer, 2013, S. 243–244) und die Eliten aber über diesen Kommunikationskanal gehen müssen, wenn sie die breite Öffentlichkeit erreichen wollen, hat das Folgen: Zum
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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einen für die kommunikativen Handlungen der Akteure in der Öffentlichkeit, zum anderen für ihren Kernentscheidungsprozess und dessen Ergebnisse (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 343–344). Aus diesen Bereichen wird nachfolgend ein Raster entwickelt, um die Forschung zu den verschiedenen Folgen der Medialisierung für gesellschaftliche Entscheidungsträger systematisch aufarbeiten zu können. Die Betrachtung erfolgt also einerseits mit Blick auf das kommunikative Handeln der Entscheidungsträger (vgl. Kapitel 2.3.2.1) und andererseits mit Blick auf ihr Kernentscheidungshandeln und seinen inhaltlichen Output (vgl. Kapitel 2.3.2.2). Die Betrachtung in beiden Bereichen beginnt jeweils mit der Sichtung der zentralen Annahmen, die in der Literatur zu den Folgen der Medialisierung diskutiert werden (vgl. Kapitel 2.3.2.1.1 zu den Annahmen zu Medialisierungsfolgen für das kommunikative Handeln und Kapitel 2.3.2.2.1 zu den Annahmen zu Medialisierungsfolgen für das Kernentscheidungshandeln). Anschließend werden jeweils die empirischen Befunde dazu präsentiert. Die Darstellung dieser Befunde orientiert sich dabei an den zuvor dargestellten Annahmen, um so gewissermaßen einen Abgleich – was wird angenommen und was bestätigt sich – ermöglichen zu können. Dabei wird, wo es in Anbetracht der Befundlage möglich ist, zwischen den Folgen für die Mikroebene der individuellen Entscheider und für die Mesoebene ihrer Organisationen differenziert.
2.3.2.1 Folgen für die kommunikativen Handlungen der Entscheidungsträger Ein Gros dieser Betrachtungen und Analysen konzentriert sich dabei auf die kommunikativen Handlungen im politischen Bereich, wobei im Wesentlichen die Mikroebene einzelner Politiker und in selteneren Fällen die Mesoebene politischer Organisationen in den Blick genommen wurde. Selbst wenn die Mesoebene der Organisationen in den Blick genommen wurde, dann wurde sie aber oft wie ein individueller Akteur behandelt, d. h. die Besonderheiten, die aus dem Charakter als komplexe Organisation erwachsen, wurden kaum berücksichtigt (ähnlich resümieren Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 345 zum Forschungsstand). Daher wird in der nachfolgenden Darstellung der Befunde nur dann explizit zwischen der Mikroebene individueller Akteure und der Mesoebene von Organisationen differenziert, wenn die Mesoebene auch gehaltvoll in die Analyse einbezogen wurde. Den Anfang markieren die in der Literatur diskutierten Annahmen zu den Folgen der Medialisierung für das kommunikative Handeln der Entscheidungsakteure, die dann in den darauffolgenden Kapiteln (ab Kapitel 2.3.2.1.2) mit tatsächlichen empirischen Befunden abgeglichen werden. Die Darstellung der Befunde nimmt dabei zuerst das reine Ausmaß an kommunikativen Aktivitäten differenziert nach verschiedenen Kanälen in den Blick (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2). Anschließend werden 37
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
potenzielle Medialisierungsfolgen in der inhaltlichen Gestaltung der Kommunikationsaktivitäten (vgl. Kapitel 2.3.2.1.3) sowie auf der Mesoebene der organisationalen Strukturen zur Bewältigung der Kommunikationsaufgaben betrachtet (vgl. Kapitel 2.3.2.1.4).
2.3.2.1.1 Annahmen zu Medialisierungsfolgen für das kommunikative Handeln Insgesamt wurden vielfältige Phänomene für individuelle Politiker, aber auch Parteien, Verbände und – vereinzelt auch – Unternehmen als potenzielle Resultate aus der Medialisierung in der Literatur beschrieben: Zunächst gelte es, die eigene, öffentlich exponierte Rolle wahrzunehmen und sich mit der öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit zu arrangieren. Dies gelinge beispielsweise gut, wenn sich Politiker sympathisch, authentisch, empathisch, unterhaltsam und volksnah geben – so vermuten es zumindest Brants und Kollegen (2010, S. 31). Bei Unternehmen sei zumindest vereinzelt zu beobachten, dass die stärker moralisch aufgeladene Wirtschaftsberichterstattung mit dem Versuch einhergehe, in der PR die Performanzdimension zu betonen und der Moraldebatte so etwas entgegen zu setzen (Eisenegger, 2004, S. 289). Die zunehmende Verbreitung von digitalen Kommunikationstechnologien stelle dabei eine besondere Herausforderung dar, impliziere sie doch – je nach Prominenz – eine Dauerbeobachtung oder zumindest das Potential dazu (Strömbäck & Esser, 2014, S. 10). Neben dieser eher passiven, reaktiven Haltung zu öffentlicher und medialer Aufmerksamkeit seien aber auch vielfältige (pro-)aktive Herangehensweisen denkbar (vgl. reflexive mediatization bei Marcinkowski, 2014, S. 18, self-mediatization bei F. Esser, 2013, S. 162; siehe auch: Sellers, 2010, S. 216): Ziel kann es dabei unter anderem sein, Aufmerksamkeit oder wohlwollende und vorteilhafte Berichterstattung zur eigenen Person, den Themen, mit denen man sich beschäftigt, und den eigenen Positionen initiieren zu wollen (T. Meyer, 2002, S. 12; Strömbäck & Esser, 2014, S. 8). Über das Initiieren von Berichterstattung und öffentlicher Kommunikation hinaus sei schließlich auch denkbar, dass Politiker versuchen, eine negative Darstellung zu vermeiden oder aber gezielt Maßnahmen ergreifen, um sich der öffentlichen Beobachtung und damit auch medialer Aufmerksamkeit gänzlich zu entziehen (Fawzi, 2014, S. 311; Marcinkowski, 2014, S. 18). Konzeptionell kann die Art und Weise, wie politische Akteure der Literatur zufolge mit den Medien und der Öffentlichkeit umgehen, also auf einem Kontinuum von passiv-reagierend bis proaktiv-instrumentell angeordnet werden (Marcinkowski, 2014, S. 8; Strömbäck & Esser, 2014, S. 10). Insbesondere für die aktiven Umgangsstile mit der Medienöffentlichkeit instrumentalisierten politische Akteure ihr Wissen um die medialen Selektions-, Produktions- und Aufbereitungsmechanismen,
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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d. h. sie ermächtigen sich der Medienlogik und machen sich das Wissen um deren Wirkprinzipien für die eigenen Ziele – sei es Aufmerksamkeit zu generieren oder gezielt zu vermeiden – zunutze (T. E. Cook, 2006, S. 163; F. Esser, 2013, S. 162). Im Resultat könne dann die so initiierte Berichterstattung wieder Rückwirkungen im politischen Prozess erzeugen, indem beispielweise aufgrund erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit ein Thema auch im politischen Entscheidungsprozess eher berücksichtigt wird (Sellers, 2010, S. 14). Ganz konkret werden hier in der Literatur verschiedenste Strategien und Maßnahmen aufgezählt, wobei grundsätzlich angenommen wird, dass gesellschaftliche Eliten infolge der Medialisierung in ihrer öffentlichen Kommunikation wesentlich proaktiver, aufwendiger und flexibler als in der Vergangenheit agieren (Sellers, 2010, S. 217; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 344): Ein umfangreicheres Monitoring bilde oft das Fundament, um die eigene Informationslage zu aktuell debattierten Themen zu verbessern und – sobald vorteilhafte oder ungünstige Themenkomplexe aufkommen – unmittelbar reagieren zu können (Eisenegger, 2004, S. 270; F. Esser & Matthes, 2013, S. 185–186; Jarren & Donges, 2011, S. 127; Strömbäck, 2011b, S. 375). Dies gehe dann in ein umfangreiches Nachrichten- und Event Management über, um im Prozess des Agenda Building seine eigenen Themen weit oben auf der politischen und öffentlichen Tagesordnung platzieren zu können (Blumler & Esser, 2019, S. 856, 865; Strömbäck, 2011b, S. 375). Besonders im Wahlkampf erfolge die Gestaltung und das Management der gesamten Kampagne bis ins kleinste Detail vor dem Hintergrund medienbezogener Kalküle – wenn es beispielsweise um die Auswahl von geeigneten Akteurskonstellationen für Medienauftritte geht (manche versuchten z. B. die direkte Konfrontation mit dem Kontrahenten in der Öffentlichkeit zu vermeiden) (Blumler & Esser, 2019, S. 865–867; Farrell & Webb, 2000). Aber auch in Routinezeiten erfolge die öffentliche Selbstdarstellung und Kommunikation hinsichtlich der Auswahl von Themen, diskutierten Lösungen, des Framings und der Narrative sowie der Personen, die im Fokus stehen, vor dem Ziel, das „self-initiated stage-management and media-friendly packaging“ (F. Esser, 2013, S. 162) zu optimieren (vgl. auch Sellers, 2010, S. 218; Strömbäck, 2011b, S. 375). Maxime sei demnach nicht (mehr), ob die Darstellung politischen Maßgaben und Notwendigkeiten genüge, sondern vor allem, ob sie den Kriterien und Ansprüchen der Medienöffentlichkeit gerecht werde (Schrott & Spranger, 2007, S. 3). Deshalb werde Kommunikationsmaterial beispielsweise so aufbereitet, dass es von Journalisten mit nur wenig Aufwand, relativ unmittelbar weiterverarbeitet werden kann (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 345). Diese Formen der öffentlichen Selbstdarstellung unter Einbezug von Strategien aus dem Marketing und der PR zur Maximierung von Aufmerksamkeit beim Publikum würden dabei insbesondere von populistischen politischen Akteuren perfektioniert (Kriesi, Bernhard & Hänggli, 39
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
2009, S. 357). Mazzoleni (2014, S. 47, 50) spricht sogar von einer Komplizenschaft der Medien mit dem Populismus. Aber auch abseits von populistischen Akteuren könne die Optimierung der Kommunikation von politischen Akteuren vor marketing- und PR-technischen Gesichtspunkten zu einem Phänomen führen, das als „spiral of mediatization“ (Strömbäck, 2011a, S. 425) oder „spiral of mistrust“ (F. Esser & Matthes, 2013, S. 186) bezeichnet wird: Denn Journalisten würden wiederum auf diese Versuche reagieren, sie für politische oder gar selbstdarstellerische Ziele instrumentalisieren zu wollen, indem sie Maßnahmen ergreifen, um die Distanz zu den politischen Akteuren zu wahren und so ihre Kritik- und Kontrollfunktion noch angemessen erfüllen zu können (F. Esser & Matthes, 2013, S. 186). Im persönlichen und professionellen Verhältnis zwischen politischen Akteuren und Journalisten entstehe Misstrauen und beide Seiten würden jeweils bestmöglich versuchen, die Reaktionen der Gegenseite zu antizipieren und so vorausschauend darauf zu reagieren (F. Esser & Matthes, 2013, S. 186; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 307). Die Folge sei ein spiralartig entwickelndes Szenario, in dem die kommunikativen Maßnahmen der Politiker PR-strategisch durchdekliniert und optimiert sind und Journalisten Berichterstattungsstile etablieren, die sich durch eine übermäßig kritische, wenn nicht gar aggressive Haltung gegenüber der Politik auszeichnen, um sich vor jeglicher Instrumentalisierung zu schützen (F. Esser & Matthes, 2013, S. 186; Strömbäck, 2011a, S. 425). Neben dem kommunikativen Output könnten sich aber auch die Art, wie politische Akteure und andere gesellschaftliche Entscheidungsträger kommunikative Aufgaben in ihre jeweiligen organisationalen Strukturen einbetten und darin bewältigen, im Zuge der Medialisierung verändern (Marcinkowski, 2014, S. 16; Röttger, 2015, S. 12; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 343–344). In diesem Zusammenhang werden oftmals der personelle und finanzielle Ausbau und die Aufwertung von Public-Relations-Abteilungen im organisationalen Gefüge benannt (Blumler & Esser, 2019, S. 856; Donges, 2008, S. 157; F. Esser, 2013, S. 162; Koch-Baumgarten, 2014, S. 189; Raupp, 2009, S. 275; Strömbäck, 2011a, S. 426; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 344). Außerdem erfahre PR als Berufsrolle eine Ausdifferenzierung (Eisenegger, 2004, S. 289; Raupp, 2009, S. 275) und Professionalisierung (Jarren & Donges, 2011, S. 127). In der Folge steige die Macht, die Öffentlichkeitsarbeit und PR-Abteilungen im Organisationsgefüge zukommt (Koch-Baumgarten, 2014, S. 190; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 344). Auch das Spitzenpersonal werde nicht mehr nur unter der Maßgabe von Sachkompetenz ausgewählt. Vielmehr spiele auch Medienkompetenz, Erfahrung im Umgang mit öffentlichem Druck und weiche Faktoren wie Charisma eine Rolle (Koch-Baumgarten, 2014, S. 190; Sheafer, 2001, S. 730–731).
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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So überzeugend und plausibel sich all diese Annahmen zu den Folgen der Medialisierung auch lesen lassen, es bedarf empirischer Studien, um prüfen zu können, ob sich diese an der Realität behaupten können. Nachfolgend soll die tatsächlich vorhandene empirische Evidenz hierzu aufgearbeitet werden. Vom grundlegenden Prinzip her müsste empirische Evidenz den (kausalen) Zusammenhang zwischen einer Bedeutungsänderung der Medien und ihrer Berichterstattung einerseits und einem Wandel in den Kommunikationsaktivitäten der Entscheider andererseits untersuchen, will sie dem Medialisierungsphänomen auf den Grund gehen (ähnlich argumentieren Nölleke & Scheu, 2018, S. 200–201). Hierzu bedürfte es repräsentativer, d. h. auf breiten und diversifizierten Entscheidungsträgersamples beruhenden Längsschnittstudien, um die Verknüpfung zwischen diesen zwei langfristig angelegten Wandlungsprozessen valide untersuchen zu können. Die Ansprüche sind also hoch, sodass es kaum überrascht, dass die vorhandene empirische Evidenz dem bislang nicht genügen konnte.
2.3.2.1.2 Folgen für die Bedeutung verschiedener Kommunikationsaktivitäten Eine Option, sich dem komplexen Zusammenhang zwischen verschiedenen langfristigen Wandlungsprozessen empirisch zu nähern, besteht darin, die Akteure selbst danach zu fragen, ob und wenn ja, welche Wandlungsprozesse sie wahrgenommen haben: Die Bedeutung, die kommunikativen Aktivitäten über verschiedene Kanäle – Massenmedien, soziale Medien usw. – zugeschrieben wird, ist sowohl bei Parteien als auch bei Interesseverbänden in den vergangenen Jahren gestiegen (Donges, 2008; Hoffjann & Gusko, 2014; Jentges, Brändli, Donges & Jarren, 2012). So haben etwa Monitoringaktivitäten (z. B. Pressespiegel; Befragungen von Mitgliedern, Bürgern und Experten; Inhaltsanalysen; Webmonitoring), wenn auch nur moderat, aber in ihrer Bedeutung zugenommen (Jentges et al., 2012, S. 400). In einer Befragung unter Abgeordneten des deutschen Bundestages und der Landtage in allen Bundesländern10 gaben die Befragten überdies an, dass die Außenkommunikation ihrer Parteien sich mehr als früher an Medien orientiere (Pontzen, 2006, S. 121). Während diese Befunde zunächst als Indizien für Medialisierung interpretiert werden könnten, muss an dieser Stelle aber relativiert werden: Die Zunahme der
10 Anlage der Studie von Pontzen (2006): Schriftliche Befragung von Bundes- und Landtagsabgeordneten aller deutschen Landtage im Jahr 2005; n (Bundestag) = 144 (Rücklaufquote 24 %); n (Landtage) = 287 (keine Angabe zu Rücklaufquoten); Stichprobe zwar nicht im strengen Sinne repräsentativ, aber frei von deutlichen Verzerrungen (Pontzen, 2006, S. 79). 41
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(wahrgenommenen) Bedeutung von kommunikativen Maßnahmen im Allgemeinen und Monitoringaktivitäten im Besonderen bezieht sich vor allem auf digitale Kanäle und das vor allem mit Blick auf die interne Kommunikation (Donges, 2008, S. 214; Hoffjann & Gusko, 2014, S. 280; Jentges et al., 2012, S. 397, 399- 400). Externe und vor allem klassische massenmedial-bezogene Kommunikation ist von diesem wahrgenommenen Bedeutungszuwachs nicht oder nur sehr moderat betroffen (Hoffjann & Gusko, 2014, S. 276; Jentges et al., 2012, S. 397). Dieses Muster bestätigt sich, blickt man nicht nur auf die wahrgenommene Bedeutungsveränderung, sondern auf die Veränderungen der tatsächlichen Kommunikationsaktivitäten: Die Nutzung von Onlineplattformen wie Facebook und Twitter sowie anderweitige onlinevermittelte Kommunikation über eigene Websites und Anwendungen wie Podcasts scheint zu zunehmen (Bernhard, Dohle & Vowe, 2016, S. 80; Vogel, 2010, S. 158–160). Allerdings zeigen hier die Ergebnisse einer Befragung von Verbandsvertretern11, dass diese Nutzung nicht unbedingt strategisch austariert stattfindet: Ein Großteil der Verbände nutzt diese Kanäle zwar mehr oder minder standardmäßig, besitzt in dieser Hinsicht aber kein klares Zielgruppenkonzept (Hoffjann & Gusko, 2014, S. 280). Stellt man dem die klassischen Kommunikationsinstrumente über Massenmedien gegenüber, so ist die Zahl der Pressemitteilungen laut einer vergleichenden Fallstudie der größten Parteien in vier europäischen Ländern12 sogar rückläufig (Donges, 2008, S. 221). Ähnliches zeigen auch Jentges und Kollegen (2012, S. 397) für Pressemitteilungen und -konferenzen in ihrer quantitativen Befragung13 von Interessenverbänden in 11 Anlage der Studie von Hoffjann und Gusko (2014): 23 qualitative Leitfadeninterviews mit Leitern der Verbandskommunikation in verschiedenen Verbänden als Vorstudie. Hauptstudie: Quantitative Online-Befragung von 160 Verbandsvertretern (Grundgesamtheit: 921 beim Bundestag akkreditierte Verbände; Hoffjann & Gusko, 2014, S. 274). 12 Anlage der Studie von Donges (2008): Untersuchung der beiden jeweils größten Parteien in Deutschland, dem Vereinigten Königreich, der Schweiz und Österreich, wobei das Sample immer je eine konservative und eine sozialdemokratische Partei umfasste. Analyse basierte auf einer Methodenkombination aus je zwei Interviews mit den Kommunikationsverantwortlichen und Generalsekretären sowie Dokumentanalysen von Unterlagen der Parteien (z. B. Organigramme, Rechenschafts- und Geschäftsberichte, usw.) in politischen Routinezeiten aus den zentralen Parteibüros (Donges, 2008, S. 162–163; 166–168). 13 Anlage der Studie von Jentges, Brändli, Donges und Jarren (2012): Quantitative Online-Befragung von politisch aktiven Verbänden und Interessenverbänden in Deutschland im Frühjahr/Sommer 2011, N = 1246 (Rücklaufquote: 23 % der Grundgesamtheit aller Verbände und Interessengruppen in Deutschland, Basis der Identifikation waren verschiedene Quellen wie die Lobbyliste des Bundestages, das EU-Lobbyregister und der OECKL, usw.; vgl. Jentges, Brändli, Donges & Jarren, 2012, S. 387).
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Deutschland, Vogel (2010, S. 158–160) in ihrer qualitativen Analyse der strukturellen Veränderungen in der Regierungskommunikation von Deutschland, der Schweiz und Großbritannien zwischen 1990 und 200814 und Reunanen et al. (2010, S. 297) für politische Entscheider aus drei Politiknetzwerken in Finnland15. Die zuvor dargestellten Befunde könnte man u. U. als Anlass nehmen, um zu konstatieren, dass Medialisierung stattfinde – zwar nicht (mehr) mit Blick auf die traditionellen publizistischen Massenmedien, aber hinsichtlich neuer Medien. Dem sei hier das Argument entgegnet, dass der Einzug digitaler Medientechnologien in die politische Kommunikation als technologische Innovation betrachtet werden muss und es daher sehr plausibel erscheint, dass hier Anpassungen im Sinne einer Adaption neuer Technologien stattfinden (eine ähnliche Differenzierung bringen Negrine & Lilleker, 2002, S. 320–321 mit Blick auf die Professionalisierung der politischen Kommunikation im Lichte verschiedener Medientechnologien allgemein auf). Die Einbindung dieser digitalen Medientechnologien muss sich erst etablieren, daher wachsen wahrgenommene Bedeutung und auch Aktivitäten. Dies ist aber vermutlich weniger ein Indiz einer dominanten, überbordenden und gesellschaftlich institutionalisierten Logik sozialer Netzwerke oder des Web 2.0, sondern ein Prozess, der sich nach seiner Konsolidierung auf einem Sättigungslevel einpendelt. Demgegenüber ist das Level an medienorientierter Kommunikation im Hinblick auf traditionelle Medien bei den meisten Organisationen bereits auf recht hohem Niveau (vgl. für Wirtschaftsverbände16 z. B. Schütte, 2010) und hat dieses Sättigungslevel vermutlich bereits erreicht. 14 Anlage der Studie von Vogel (2010): Vergleich der Regierungskommunikation in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz zwischen 1990 und 2008 hinsichtlich struktureller Veränderungen; Datenbasis: Dokumentanalysen, 6 Experteninterviews (Vogel, 2010). 15 Anlage der Studie von Reunanen, Kunelius und Noppari (2010): Qualitative Interviews mit 60 Entscheidungsträgern in Finnland und eine anschließende quantitative Befragung (Frühjahr 2009) von insgesamt 419 Entscheidern (Vertreter aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen: Gewerkschaften, Wirtschaft, Verwaltung, NGOs, Justiz, Politik, Wissenschaft) aus den Politiknetzwerken zu drei Politikthemen (Tarifkonflikt von Krankenpflegepersonal in 2007; Konsolidierungsprozess dreier Universitäten in Helsinki; Debatte um Polizeibefugnisse im Zusammenhang von öffentlichen Protesten und Demonstrationen), die intensiv debattiert und konfliktreich ausgetragen wurden (Reunanen, Kunelius & Noppari, 2010, S. 289). 16 Anlage der Studie von Schütte (2010): Bundesweite Befragung zum Berufsfeld Öffentlichkeitsarbeit in Agenturen (n = 231, Rücklauf: 20 %), Unternehmen (n = 340, Rücklauf: 19 %) und Wirtschaftsverbänden (n = 144, Rücklauf: 21 %). In dem Beitrag von Schütte 2010 werden nur die Befunde zu den Wirtschaftsverbänden berichtet, die im November 2004 befragt wurden (Schütte, 2010, S. 156). 43
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Lediglich ein Aspekt deutet mehr oder minder klar auf eine zunehmende Bedeutung der Medien und einem damit einhergehenden Wandel in den kommunikativen Aktivitäten der Entscheider hin: Die persönliche Interaktion mit Journalisten scheint zu zunehmen. So sei die Zeit, die Politiker für den Kontakt mit Medienvertretern und Journalisten aufwenden, gestiegen (Elmelund-Præstekær et al., 2011; Linsky, 1986, S. 81–82; Reunanen et al., 2010). Für Interessenverbände lässt sich ein relativer Wandel zeigen: Waren es früher Ministerialbeamte (Sebaldt, 1997, S. 255), so sind heute Medien zum wichtigsten Routinekontakt für deutsche Verbandseliten avanciert (für Wirtschaftsverbände, vgl. Schütte, 2010, S. 162). Diese Interaktionsanlässe scheinen dabei nicht ausschließlich von den Entscheidern auszugehen, auch die Medien adressieren zunehmend die Entscheider, wie Donges (2008, S. 214) es im Rahmen seiner vier Länder vergleichenden Studie zur Parteienkommunikation aufzeigt (vgl. auch Davis, 2007, S. 191). Aufschluss zur Gestalt dieser Interaktionsanlässe zwischen Entscheidern und Journalisten geben Fokusgruppeninterviews mit Politikjournalisten von der BBC17 (Blumler & Esser, 2019). Sie liefern Hinweise, dass der zuvor aufgeführte Spiralprozess im Verhältnis zwischen Journalisten und Politikern tatsächlich existiert: Die interviewten BBC-Journalisten erklärten, dass die politischen Akteure derart professionalisiert und abgeklärt im Umgang mit Medienvertretern sind, dass sie mitunter auf eindringlichere Mittel zurückgreifen müssen, um ihnen doch noch das ein oder andere brisante Detail zu entlocken (Blumler & Esser, 2019). Beispielsweise werden die Fragestile in Interviews angriffslustiger gestaltet (Blumler & Esser, 2019). Das scheint aber nur vordergründig, d. h. in der öffentlich stattfindenden Interaktion zwischen Journalisten und Politikern der Fall. Blickt man hinter die Kulissen, so relativiert sich das Bild einer aggressiv-konfrontativen Interaktion: Die sinkende Zahl an Pressemitteilungen wird u. a. damit erklärt, dass man stattdessen auf informelle, exklusive Kontakte zu Journalisten setze. Dies sei ein direkterer, schnellerer und durchaus auch effektiver Kanal, um seine Sicht der Dinge in der Hoffnung auf Einzug in den massenmedial vermittelten Diskurs anzubringen (Hoffjann & Gusko, 2014, S. 278; Reunanen et al., 2010, S. 297). So gaben in einer Befragung von 568 Landtagsabgeordneten18 knapp 44 % an, dass 17 Anlage der Studie von Blumler und Esser (2019): Methodenkombination aus a) Textanalyse der Fragestile in den BBC-Interviews, die in den letzten drei Wochen vor der Wahl am 7. Mai 2015 ausgestrahlt wurden, b) Dokumentanalyse der zentralen Kampagnenaktivitäten der beiden großen Parteien und c) Fokusgruppeninterview mit leitenden und erfahrenen Politikjournalisten bei der BBC (durchgeführt im September 2015; keine Angabe zur Fallzahl; vgl. Blumler & Esser, 2019, S. 858). 18 Anlage der Studie von Kepplinger und Marx (2008): Onlinebefragung der Mitglieder aller deutschen Landtage im Herbst 2007, N= 568 (Rücklauf: 31 %; Kepplinger & Marx, 2008).
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es ihnen bei den meisten Journalisten gelingt, Themen für die Berichterstattung im privaten Austausch anzuregen (vgl. Kepplinger & Marx, 2008, S. 192; ähnlich: Pfetsch & Mayerhöffer, 2011). Auch scheint unter Entscheidern der Eindruck vorzuherrschen, dass man diese informellen Beratungs- und Austauschanlässe sowohl hinsichtlich der Informationen, die weitergegeben werden, als auch hinsichtlich ihrer Deutung besser kontrollieren könne als andere Kanäle (Borucki, 2014, S. 344; Davis, 2007, S. 191; Reunanen et al., 2010, S. 297). Konkludierend sprechen viele Forscher von einer Ausweitung von Informalitätsnetzwerken zwischen Journalisten und Entscheidern (Borucki, 2014, S. 344; Davis, 2007, 191, 193; Reunanen et al., 2010, S. 297). Borucki (2014, S. 345) verweist dabei in ihrer Multimethoden-Studie zur Medialisierung der Regierungskommunikation in Deutschland zwischen 1982 und 201019 explizit auf dieses vermeintlich schizophrene Verhältnis zwischen Journalisten und politischen Entscheidern hin: Einerseits gelte das Ideal eines distanzierten und professionellen Verhältnisses (wie es sich in der vordergründigen, öffentlichen Interaktion zu zeigen scheint; siehe oben und z. B. bei Blumler & Esser, 2019), gleichzeitig existieren mitunter sogar freundschaftliche, persönliche Beziehungen, im Zuge derer ein reger informeller Austausch hinter den Kulissen stattfindet. Dem lassen sich ergänzend die Befunde von Reunanen und Kollegen (2010) zur Interaktion der politischen Entscheider mit Journalisten in Finnland hinzufügen: Die informellen Austauschbeziehungen hätten sich in Form von ungeschriebenen Gesetzen institutionalisiert und damit professionalisiert. Die öffentliche Position und damit einhergehende Rollenerwartungen und -verpflichtungen werden von der jeweils anderen Seite respektiert und man versucht sich trotz des engen Austausches so zu verhalten, dass man den anderen nicht in Bredouille bringt, mit diesen Rollenerwartungen in Konflikt zu geraten (Reunanen et al., 2010, S. 298). Neben der Option, zwei langfristige Wandlungsprozesse zueinander in Beziehung zu setzen, kann man auch versuchen, die Medialisierungslogik in ein Querschnittsdesign zu übersetzen: Wenn in der langen Frist ein Bedeutungszuwachs der Medien 19 Anlage der Studie von Borucki (2014): Untersuchung der Veränderungen der Regierungskommunikation in der langfristigen Perspektive von 1982 bis 2010; Datensammlung erfolgte dem Prinzip des theoretical Sampling folgend: (Primärdaten/Hauptdaten:) 44 Experteninterviews mit ehemaligen und aktuellen Regierungs- und Ministeriumssprechern, Parteifunktionären, Beratern und Hauptstadtjournalisten; (Ergänzung um:) diskursanalytische und qualitative Inhaltsanalyse von Primärquellen (Bundeshaushaltspläne, Organigramme, Bundestagsdrucksachen, Bundesrechnungshofberichte sowie Medienberichterstattung); halbstandardisierte, nicht-repräsentative Onlinebefragung von allen Personen, die aufgrund ihrer institutionellen Einbettung an Regierungskommunikation beteiligt sind (n=49, Borucki, 2014, S. 8, 13, 121ff.). 45
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und ihrer Berichterstattung zu einem Wandel im Kommunikationsverhalten führt, dann muss in der statischen Betrachtung gelten, dass diejenigen, die den Medien mehr Bedeutung beimessen ein anderes Kommunikationsverhalten zeigen als jene, die den Medien gering(ere) Einflusspotentiale zuschreiben. Bereits 1986 zeigte Linsky (1986, S. 85) im Rahmen seiner Befragung von 483 ehemaligen US-Politikern und Beamten (Kongressabgeordnete, Senatsmitglieder, Ministerialbeamte) aus verschiedenen Politikfeldern einen solchen Zusammenhang auf: Je größer der Medieneinfluss, den die befragten Politiker wahrnahmen, desto mehr Zeit investierten sie in ihre Medienarbeit und desto eher versuchten sie, Berichterstattung zu initiieren. Dieser Zusammenhang zwischen wahrgenommenem Einfluss der Medien und den Medienaktivitäten der Entscheider wurde später durch mehrere Studien untermauert, die im Kontext des Influence-of-Presumed-Media-Influence-Ansatzes entstanden sind (Amann, Dohle & Raß, 2012; Jonathan Cohen et al., 2008). Allerdings muss erneut zwischen etablierten publizistischen Massenmedien und neuen digitalen Medien differenziert werden: Während sich ein Zusammenhang zwischen dem wahrgenommenen Einfluss und den Kommunikationsaktivitäten mit Blick auf die traditionellen Massenmedien zeigt, gilt das nicht für Web2.0-Anwendungen: Mit Blick auf die Frage, wie intensiv die eigenen politischen Botschaften über Facebook und Twitter verbreitet wurden, erwies sich der wahrgenommene politische Einfluss, den Bundestagsabgeordnete in einer Studie20 aus den Jahren 2012 und 2013 diesen Web 2.0-Anwendungen zuschrieben, als unerheblich (Bernhard et al., 2016, S. 82–83). Dieser Befund untermauert die oben aufgeworfene These, dass es sich bei neuen digitalen Medientechnologien (noch) um einen Prozess der Technologieaneignung handelt. Die Akteure nutzen diese zwar in zunehmendem Ausmaß, aber nicht, weil sie vor dem Hintergrund ihrer Kommunikationsziele darauf angewiesen sind (vgl. Kapitel 2.3.1 zu den Ursachen der Medialisierung), sondern, weil sie den Anschluss nicht verpassen wollen21.
20 Anlage der Studie von Bernhard, Dohle und Vowe (2016): Zwei Befragungen von Abgeordneten des deutschen Bundestages (nt1 = 194; nt2 = 149) im Frühjahr 2012 und 2013 (Response Rates: 31 % und 24 %); keine Verzerrungen hinsichtlich soziodemografischer Eigenschaften, aber in der ersten Welle haben überdurchschnittlich viele Sozialdemokraten teilgenommen (Bernhard, Dohle & Vowe, 2016, S. 79). 21 Eine andere Interpretation dieser Befunde zu digitalen Medientechnologien würde sich u. U. ergeben, wenn man das sozialkonstruktivistische Paradigma auf Medialisierung zugrunde legen würde. Es fokussiert genau diesen Aspekt des Wandels in den kommunikativen Praktiken und Aneignungsprozessen im Zuge des Aufkommens und der Ausbreitung neuer Medientechnologien (vgl. z. B. Hepp, Hjarvard & Lundby, 2015). Hier steht allerdings die institutionelle Perspektive im Fokus, wonach Medialisierung bedeutet, dass Medien und ihre Logik sich als durchdringende Prinzipien des Denkens
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Eine weitere Option in der Logik von Querschnittsdesigns besteht darin, die tatsächlichen Kommunikationsaktivitäten zwischen verschiedenen Akteursgruppen zu vergleichen. Daraus ließe sich dann schließen, wer potenziell stärker medialisiert ist. Eine Befragung (Fawzi, 2014) verschiedenster Akteursgruppen aus dem Politikfeld Energie22 erlaubt beispielweise eine solche vergleichende Betrachtung: So versuchten im Durchschnitt über alle befragten Akteursgruppen hinweg 61 % regelmäßig Medienberichterstattung über ihre Organisation zu initiieren. Dabei zeigte sich, dass diese Bestrebungen bei den befragten Politikern mit 71 % deutlich ausgeprägter waren als bei den befragten Verbandsfunktionären (nur 52 % versuchten hier regelmäßig Berichterstattung über die eigenen Organisation zu initiieren; Fawzi, 2014, S. 191). Diese Unterschiede zeigten sich auch, wenn man den Zeitaufwand ins Visier nahm, den die Akteure laut Selbstangabe täglich im Durchschnitt in die Medienarbeit investierten: Während Politiker rund 1,8h damit verbrachten, den Medienspiegel zu lesen oder aktiv Medienstrategien zu planen, waren Verbandsfunktionäre (ohne PR-Funktion) nur 1,2h damit beschäftigt (Fawzi, 2014, S. 193). Daraus könnte man schlussfolgern, dass Politiker medialisierter als Verbandsfunktionäre sind, wenn man der Ausgangsannahme folgt, dass der Bedeutungswandel der Medien eine Ursache für diese Unterschiede im Kommunikationsverhalten ist. Schließlich wird noch versucht, die Akteure direkt danach zu fragen, inwiefern die theoretisch abgeleiteten Medialisierungsfolgen auf sie zutreffen: Befragungsstudien aus Belgien23 (van Aelst, Brants et al., 2008), den Niederlanden24 (Brants et
und Handelns in anderen Bereichen der Gesellschaft etablieren, weil die Akteure auf deren Leistung angewiesen sind (vgl. Ausführungen in Kapitel 2.3 und 2.3.1). 22 Anlage der Studie von Fawzi (2014): Schriftliche Befragung von Akteuren aus dem Themenfeld Energiepolitik: Politiker, Ministerialbeamte, Verwaltungsvertreter, Wissenschaftler, Verbandsvertreter, Journalisten; Grundgesamtheit: 1046 Personen, N = 338; Rücklaufquote: 32 %, Feldphase fand im Frühjahr 2011 statt (Fawzi, 2014). 23 Anlage der Studie van Aelst, Brants et al. (2008): Online und schriftliche Befragung von Journalisten, die sich auf belgische Politik konzentrierten (n = 248, Responsequote: keine Angabe) und Mitglieder des belgischen Parlaments (n = 202; Responsequote: 85 %) im Frühjahr 2006; keine nennenswerten Verzerrungen in der Stichprobe der Politiker (van Aelst, Brants et al., 2008, S. 500). 24 Anlage der Studie von Brants, de Vreese, Möller und van Praag (2010): Online und schriftliche Befragung von Journalisten, die sich auf niederländische Innenpolitik konzentrierten (n = 104, Responsequote: 65 %) und Mitglieder des niederländischen Parlaments (n = 70; Responsequote: 46 %) im Zeitraum Herbst 2006 bis Anfang 2007; keine nennenswerten Verzerrungen in der Stichprobe der Politiker (Brants, de Vreese, Möller & van Praag, 2010, S. 32). 47
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al., 2010) und Schweden25 (Strömbäck, 2011a) zeigen in diesem Zusammenhang auf, wie wichtig es Politikern ist, mediale und öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und in ihrem Sinne vorteilhaft zu beeinflussen. Den befragten Parlamentariern wurden Statements vorgelegt, die die verschiedenen proaktiv ausgerichteten Herangehensweisen an die Medienöffentlichkeit charakterisierten (i. e., „Politiker würden fast alles tun, um die Aufmerksamkeit der Medien zu bekommen“; „Es ist für Politiker wichtiger, Medienberichterstattung zu initiieren, denn hart zu arbeiten“; „Politiker instrumentalisieren Journalisten oft, indem sie vertrauliche Informationen leaken“). Bei allen drei Items lagen die durchschnittlichen Zustimmungswerte weit über der theoretischen Skalenmitte (bzw. die befragten Politiker stimmten ihnen bis auf wenige Ausnahmen mehrheitlich zu) und zeichneten sich demnach durch eine starke Ausrichtung an den medienbezogenen Kalkülen aus. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung führten die Ergebnisse von Pfetsch und Mayerhöffer (2011), die 2008/2009 Politiker und politische Sprecher26 dazu befragt haben, welche Mittel und Wege sie für geeignet erachten, um öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu generieren: Während 72 % Talkshowauftritte für geeignet hielten, erachteten nur knapp 10 % die eigentlich für die politische Debatte vorgesehene Plattform – nämlich die Rede im Parlament – für zielführend. Ihre Grenzen scheint diese Orientierung an einer kommerziell-motivierten Medienlogik jedoch bei Unterhaltungsformaten zu finden: In der Befragung von Bundestags- und Landtagsabgeordneten (N = 431) zeigte sich, dass der Auftritt in Talkshowformaten (insbesondere politische Talkshows) als akzeptabel erachtet wurde, während Auftritte von Politikern in originären Unterhaltungsformaten als wenig wünschenswert galt (Pontzen, 2006, S. 102).
2.3.2.1.3 Folgen für die inhaltliche Gestaltung der Kommunikationsaktivitäten Neben dem reinen Ausmaß an kommunikativen Aktivitäten kann auch der Inhalt in den Blick genommen werden. Mit Blick auf Wahlkämpfe deuten die Befunde klar in Richtung Medialisierung: In einer Fallstudie zum britischen Wahlkampf 25 Anlage der Studie von Strömbäck (2011a) : Schriftliche Befragung von Journalisten, die sich auf schwedische Innenpolitik konzentrierten (n = 168, Responsequote: 44 %) und Mitglieder des schwedischen Parlaments (n = 158; Responsequote: 45 %) im Zeitraum November 2007 bis Anfang 2008; keine nennenswerten Verzerrungen in der Stichprobe der Politiker (Strömbäck, 2011a, S. 429). 26 Anlage der Studie von Pfetsch und Mayerhöffer (2011): Befragung von 360 Politikern, politischen Sprechern und Journalisten bei Politik- und Hauptstadtmedien in 2008/2009; telefonisch oder persönlich-mündliche Befragung mit Onlinefragebogen; Ausschöpfungsquote 41 %, (Pfetsch & Mayerhöffer, 2011).
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2015 fanden Blumler und Esser (2019) deutliche Hinweise, dass die Gestaltung der Kampagnen – insbesondere die der Torys – stark medialisiert waren. Neben dieser Momentaufnahme, deuten weitere Ergebnisse auch auf eine zunehmende Bedeutung in der dynamischen Betrachtung: In der Befragung von Pontzen (2006, S. 100) waren die Bundes- und Landtagsabgeordneten (N = 431) mit 90 % einhellig der Meinung, dass Personalisierung (als ein wichtiges Element einer kommerziell-orientierten Medienlogik, vgl. Landerer, 2015, S. 128) auch als Wahlkampfstrategie an Bedeutung gewonnen habe. Nebst der subjektiven Einschätzung von Politikern zeigt auch eine langfristige Betrachtung27 der inhaltlichen (und ressourcentechnischen, siehe unten) Ausgestaltung von Wahlkampagnen, dass sich hier ein deutlicher Trend im Sinne der Medialisierung ausmachen lässt (Farrell & Webb, 2000). Da Wahlkampagnen jedoch als Kristallisationsmomente potenzieller Medialisierungsfolgen gelten (Blumler & Esser, 2019, S. 858; Reinemann, 2010, S. 291) – schließlich ist in diesem Kontext die Notwendigkeit öffentlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung maximal ausgeprägt – stellt sich die Frage, ob sich ein vergleichbarer Trend auch in politischen Routinezeiten bzw. für Entscheidungsakteure, die sich nicht unmittelbar im öffentlichen Werbeprozess befinden, abzeichnet. Nur wenige Studien ermöglichen es von ihrer Anlage her, eine Verknüpfung zwischen dem Bedeutungswandel der Medien und damit einhergehenden Veränderungen in den kommunikativen Aktivitäten der Entscheider zu ziehen. Eine Annäherung in dieser Hinsicht liefert folgender Forschungsstrang: Laut eigener Wahrnehmung der Entscheidungsträger habe in der Politik auch auf inhaltlicher Ebene ein Wandlungsprozess in den Kommunikationsaktivitäten stattgefunden: Die Kommunikationsmaterialien werden aufwendiger gestaltet (Donges, 2008, S. 214), es komme zu zeitlicher Beschleunigung und Verknappung von Aussagen (Borucki, 2014, S. 339) und die Inszenierung von Ereignissen nehme zu (Kranenpohl, 2001, S. 188). Das zeigen verschiedene Auseinandersetzungen mit der Thematik, die qualitative Interviews mit den beteiligten Akteuren – Vertreter von Parteien, Regierungssprechern usw. – geführt haben. Über den deutschen bzw. europäischen Kontext hinaus verdeutlicht die Studie von Sellers (2010) ähnliche Entwicklungen für die USA: In seiner Analyse von vier US-Kongressdebatten28 sieht man, dass 27 Anlage der Studie von Farrell und Webb (2000): Betrachtung der langfristigen Entwicklung verschiedener Ressourcen (Personal, Budget), die Parteien für den Wahlkampf aufwenden, in neun westeuropäischen Ländern im Zeitraum zwischen Mitte der 60er Jahre und Ende der 80er Jahre (abhängig von der entsprechenden Verfügbarkeit der Daten). 28 Studiendesign: Multimethodenansatz mit Dokumentanalysen und qualitativen Interviews, inhaltsanalytische Betrachtung der Kommunikationsaktivitäten von Abgeordneten und der korrespondierenden Berichterstattung (Sellers, 2010). 49
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Kongressabgeordnete in ihrer Kommunikation gezielt versuchten, sich in der Informationsflut durchzusetzen, indem sie bei der Gestaltung ihrer Botschaften auf Kürze, Einfachheit und einschlägige Botschaften achteten („Style over Substance“ Sellers, 2010, S. 218) und mitunter auf subtile Elemente des negative Campaigning zurückgriffen (Sellers, 2010, S. 220). Konkret funktioniere das so, dass eine Botschaft mit einem wahren Kern so ausgeschmückt wird, dass sie einen vorteilhaften Spin bekommt (Sellers, 2010, S. 221). Ursächlich für den Bedeutungsgewinn dieser Gestaltungsmittel in der öffentlichkeitsorientierten politischen Kommunikation von Abgeordneten seien einerseits die volatilere Unterstützungsbasis im Elektorat und andererseits die Herausforderung in immer kompetitiver ausgerichteten Medienmärkten Aufmerksamkeit für die eigenen Anliegen generieren zu müssen und sich in der Informationsflut durchzusetzen, wobei die Journalisten in den USA immer weniger dem Indexing-Paradigma entsprächen (d. h. sie reproduzieren immer weniger den Elitenkonsens, vgl. Bennett, 1990; Robinson, 2001) (Sellers, 2010, S. 216–217). So aufschlussreich, weil sehr differenziert diese Ergebnisse zur subjektiven Sicht der individuellen Akteure auf potenzielle Veränderungen in ihrem Kommunikationsverhalten auch sind, so wenig erlauben sie doch eine Verallgemeinerung, weil sie im Kontext sehr spezifischer Konstellationen und Fälle sowie auf Basis nicht generalisierbarer Samples gewonnen wurden. Aber auch quantitative Studien zur Selbsteinschätzung der Akteure (Fawzi, 2014; Pfetsch & Mayerhöffer, 2011) auf breiteren und diverseren Entscheidungsträgersamples aus der Politik stützen den Eindruck, den die zuvor dargelegten Befunde hinsichtlich Medialisierung vermittelten. Allerdings wurde in diesen quantitativen Befragungen kein Wandlungsprozess nachgezeichnet, vielmehr wurde abgefragt, inwiefern potenzielle Medialisierungsindikatoren aktuell zutreffen: Im Zuge der Agenda Setting-Phase im politischen Prozess orientierten sich die Akteure aus der Energiepolitik (N = 338; Rücklaufquote: 32 %) an der Medienlogik, indem sie beispielsweise versuchten Pressekonferenzen möglichst prominent zu besetzen (71 % Zustimmung), indem sie medientaugliche Themen gegenüber anderen Themen bevorzugten (72 % Zustimmung bei allen befragten Akteursgruppen; unter Politikern sogar 80 % Zustimmung) und indem sie Argumente überspitzt präsentierten (45 % Zustimmung; Politik: 60 %, Verbände: 55 %, Fawzi, 2014, S. 268). Lediglich das absichtliche Eskalieren lassen der politischen Auseinandersetzung, um auf ein Thema aufmerksam zu machen, schien den Akteuren aus dem Bereich Energiepolitik zu weit zu gehen (18 % Zustimmung; Fawzi, 2014, S. 268). Dramatisieren scheint dagegen eher akzeptiert zu sein: In der Befragung von Politikern und politischen Sprechern aus der Studie von Pfetsch und Mayerhöffer (2011; N = 360) gaben 43 %
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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an, dass sie eine dramatisierte Darstellung für (sehr) wirkungsvoll erachten, um öffentliche Aufmerksamkeit für die eigenen politischen Anliegen zu generieren. Die Befunde mit Blick auf die inhaltliche Gestaltung der Kommunikationsaktivitäten scheinen eine recht klare Sprache zu sprechen: Die Entscheider (aus der Politik) scheinen ihre Kommunikationsinhalte mehr und mehr an der Medienlogik auszurichten, indem sie auf kurze, eingängige und überspitzte Statements setzen, bei der Themenauswahl darauf achten, was medial fruchten könnte usw. Allerdings sind alle diese Erkenntnisse allein auf Basis der subjektiven Einschätzungen und Wahrnehmungen der beteiligten Akteure – im Querschnitt (sieht man mal von den qualitativen Abfragen wahrgenommener Wandlungsprozesse ab) – erzielt worden und diese können mitunter starken Verzerrungen unterliegen. Daher lohnt auch ein Blick auf die tatsächlichen Veränderungen in der inhaltlichen Gestaltung von Kommunikationsaktivitäten: Auf Basis einer Inhaltsanalyse der Generaldebatten zwischen 2000 und 2010 im deutschen Bundestag sowie der korrespondierenden Medienberichterstattung in neun Print- und Onlinemedien (N = 2189 Aussagen in den untersuchten Medien) beförderten Jost, Sülflow und Mauerer (2015) zwei Erkenntnisse zu Tage: Die Berichterstattung griff überdurchschnittlich häufig die negativen Aussagen der Politiker aus den Debatten im Parlament auf. Die Opposition kritisierte die Regierung im Laufe der Zeit immer mehr. Unterstellt man den Oppositionsparteien, dass sie dieses Muster in der Berichterstattung erkannt und als Maßstab für ihre eigenen kommunikativen Handlungen verwendet haben, so lässt sich die zunehmende Kritik, die die Opposition im Laufe der Jahre an der Regierung übte, als Indikator für einen Medialisierungsprozess interpretieren. Für die Regierungsakteure zeigte sich kein vergleichbares Muster. Die Autoren vermuten dahinter die Ursache, dass die Parteiräson höher anzusiedeln ist als die Aufmerksamkeitslogik der Medien, denn um den Mechanismus zu bedienen, hätte die Regierung die eigene Partei kritisieren müssen. Eine weitere Betrachtung der tatsächlichen Kommunikationsaktivitäten, allerdings nicht in der dynamischen Perspektive im Zeitverlauf, sondern im Querschnitt, legten Haßler und Kollegen (2014) im Zusammenhang mit den UN-Klimakonferenzen 2011 und 2012 vor (vgl. für eine ausführliche Analyse auf breiterer empirischer Basis mit ähnlichen Befunden: Haßler, 2017). Sie untersuchten das Ausmaß der Medialisierung in den Kommunikationsaktivitäten der politischen Akteure, indem sie diese anhand verschiedener theoretisch abgeleiteter Medialisierungsindikatoren29 mit der korrespondierenden Berichterstattung 29 Dabei handelt es sich um Indikatoren für Personalisierung, Negativismus und Aktualitätsbezug; außerdem wurden die Klimaprotokolle als Ausgangsmaterial verwendet, um daraus Informationseinheiten zu destillieren. Diese wurden nach verschiedenen 51
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in verschiedenen Medien (Qualitäts- und Boulevardprintmedien; TV-Berichterstattung) verglichen (N = 819 Beiträge über alle Quellen hinweg). Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass der Grad an Medialisierung nicht sehr hoch war – vor allem im Vergleich zu dem in der Literatur häufig identifizierten hohen Ausmaß an Medialisierung in Wahlkampfzeiten. Überdies bestanden kaum signifikante Unterschiede zwischen den beiden – mediale und politische – Kommunikationsquellen. Auch der Vergleich zwischen offline und online Kanälen zeigte nur minimale Unterschiede, was dahingehend interpretiert wurde, dass es (noch) keine Orientierung an einer spezifischen Onlinelogik gab, sondern die politischen Akteure in beiden Sphären ähnlich kommunizierten (Haßler et al., 2014).30 Auch eine Analyse zum Medialisierungsgrad der Kommunikationsaktivitäten der EU31 gelangt zu dem Schluss, dass dieser eher gering sei, wenn man die Orientierung an journalistischen Nachrichtenfaktoren als Maßstab heranzieht (C. O. Meyer, 2009). Ursächlich hierfür sei, dass das Handeln und die Position der Europäischen Kommission im politischen Mehrebenensystem europäischer Politik nicht gut mit Nachrichtenfaktoren wie Konflikt (vs. ausgleichender Charakter zwischen vielen starken nationalen Playern), Nähe (vs. Ferne zu den Bürgern als höchste und entfernteste Ebene des politischen Systems) und Personalisierung (vs. Unbekanntheit der Kommissare) korrespondiere (C. O. Meyer, 2009). All diese Befunde zur inhaltlichen Gestaltung der Kommunikationsaktivitäten – sei es in einer dynamischen Betrachtung wie bei Jost und Kollegen (2015) oder in einem Querschnittsdesign vor dem Hintergrund theoretisch abgeleiteter Medialisierungsindikatoren wie bei Haßler und Kollegen (2014) und Meyer (C. O. Meyer) – zeichnen ein ambivalentes Bild, was darauf hindeutet, dass die BefundDimensionen klassifiziert: Einmal danach, ob sie den Bereichen policy, polity oder politics zuzuordnen sind (je mehr politics-Informationseinheiten, desto eher kann man von Orientierung an einer kommerziell-motivierten Medienlogik ausgehen). Andererseits erfolgte eine Differenzierung der Informationseinheiten danach, ob es sich um vage Aussagen, konkrete Pläne oder allgemeine politische Ziele handelt (insbesondere vage Aussagen entsprächen einer kommerziell-orientierten Medienlogik, vgl. Haßler, Maurer & Oschatz, 2014, S. 332–333). 30 Wobei hier berücksichtigt werden muss, dass keine Social Media-Kanäle analysiert wurden. 31 Anlage der Studie C. O. Meyer (2009): Ableitung von fünf Medialisierungsindikatoren aus der Literatur und Reflexion derer vor dem Hintergrund aktueller Forschung und eigener qualitativer Interviews mit Akteuren aus dem Umfeld der Europäischen Kommission (21 Interviews mit Verantwortlichen aus dem Kommunikationskontext in 1997/1998 und 16 Interviews mit ebensolchen Akteuren aus 2007). „Ergebnisteil“ zieht aber nur vereinzelt explizite Bezüge zu diesen Interviews, die Befunde aus der Literaturübersicht dominieren.
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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lage auch hier nicht eindeutig ist. Dabei muss berücksichtigt werden, dass hier „nur“ die inhaltliche Ausgestaltung der Kommunikationsaktivitäten in den Blick genommen wurde, während der Zusammenhang zur veränderten Bedeutung der Medien und ihrer Logik nur angenommen, aber nicht geprüft werden konnte. Aufschlussreich kann in diesem Zusammenhang daher eine ländervergleichende Betrachtung auf quantitativer Basis sein: Analog zu dem Zusammenhang zwischen dem wahrgenommenen Einfluss und der Intensität der Medienarbeit (siehe oben) liefert eine Studie aus Israel, Kanada und Belgien (Amsalem, Sheafer, Walgrave, Loewen & Soroka, 2017) Einsichten zum Zusammenhang zwischen der strategischen Bedeutung von medienbezogenen Kalkülen und der inhaltlichen Gestaltung der Kommunikationsaktivitäten: Auf Basis einer Befragung von 111 Abgeordneten in den drei Ländern und einer damit verknüpften Inhaltsanalyse der Debattenbeiträge dieser Abgeordneten im jeweiligen Parlament (öffentliche Beiträge) zeigen die Autoren folgenden Zusammenhang: Je mehr Bedeutung die Abgeordneten medienbezogenen Kalkülen in ihren strategischen Überlegungen zuschrieben, desto höher der Grad an Vereinfachung, den ihre parlamentarischen Debattenbeiträge offenbarten. Dieser Zusammenhang zeigte sich aber nur in politischen Kontexten, in denen die Medien als zentraler Machtfaktor für die Wiederwahl begriffen wurden (Belgien und Israel, nicht in Kanada, Amsalem et al., 2017). Dies deutet darauf hin, dass die alleinige Betrachtung der inhaltlichen Gestaltung von Kommunikationsaktivitäten wichtige Kontextfaktoren nicht erfasst – etwa die Frage danach, wie lohnend Medienaktivitäten erachtet werden – und daher zu solch unterschiedlichen Befunden gelangt.
2.3.2.1.4 Medialisierungsfolgen für die Mesoebene: Organisationale und strukturelle Anpassungen zur Bewältigung der Kommunikationsaufgaben Einen etwas klareren Eindruck zeichnet dagegen die Empirie hinsichtlich der Mesoebene der organisationalen Strukturen: Insbesondere eine vergleichende Fallstudie von Donges (2008) ist in diesem Zusammenhang wegweisend. Er zeigt anhand von Dokumentanalysen und qualitativen Interviews mit Vertretern der zwei jeweils größten Parteien aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und aus Großbritannien auf, dass massenmedial vermittelte Kommunikation als zunehmend bedeutsamer für die Organisationsziele wahrgenommen wurde und entsprechend auch die Notwendigkeit gesehen wurde, dem Bedeutungszuwachs mit geeigneten Maßnahmen hinsichtlich der organisationalen Struktur zu begegnen. Entsprechend habe sich der Blick auf kommunikative Maßnahmen vom Anhängsel der Politik zu einem substanziellen Bestandteil der organisationalen politischen Aktivitäten gewandelt. In diesen Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen erkenne 53
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man demnach deutliche Medialisierungshinweise. Entsprechende Entwicklungen lassen sich auch hinsichtlich der quantitativen Ressourcenausstattung und der qualitativen Ressourcenallokation von Parteien erkennen: In einer Langfristbetrachtung von 42 Parteien in neun westeuropäischen Staaten zeigt sich, dass mehr und mehr Personal insbesondere in solchen Bereichen eingesetzt wurde, die sich dem Campaigning und dem Kontakt zu Medien widmen sollten (Farrell & Webb, 2000). Diese sehr klaren Entwicklungen beziehen sich allerdings auf das Wahlkampfverhalten der Parteien, das ja wiederum als das Kristallisationsmoment der Medialisierung gilt (Blumler & Esser, 2019, S. 858; Reinemann, 2010, S. 291). Für die Bewältigung der kommunikativen Aufgaben in Routinezeiten können dagegen nur bedingt Anpassungen in der organisationalen Struktur beobachtet werden (Donges, 2008): Es habe strukturelle Veränderungen gegeben – einerseits eine Zentralisierung von kommunikationsbezogenen Aufgaben, um alles aus einer Hand bearbeiten zu können. Anderseits könne bei manchen auch eine Spezialisierung nach Aufgabengebiet – insbesondere interne und externe Kommunikation – beobachtet werden. Ein allgemeiner Trend zu einer stärkeren Ressourcenausstattung kann dagegen kaum festgestellt werden. Während manche Parteien zwar mehr Personal mit kommunikationsbezogenen Aufgaben betrauten, galt dies für finanzielle Ressourcen insbesondere vor dem Hintergrund rückläufiger Mitgliederzahlen (und damit Einnahmen) nicht (Donges, 2008, S. 214). Auch die Befragung von Bundestags- und Landtagsabgeordneten (N= 431) durch Pontzen (2006, S. 98) indiziert den personellen Ausbau in der Parteikommunikation. Während die Ressourcenausstattung ein gemischtes Bild zeichnet, zeigt sich eine Professionalisierung im Hinblick auf die Kompetenzen: Mehr als die Hälfte der Befragten gab zum Befragungszeitpunkt in 2005 an, dass man bereits auf externe Expertise in der Kommunikation wie PR-Agenturen zurückgegriffen und dass man bereits an Medientrainings teilgenommen und an seiner Mimik und Gestik mit Blick auf (medien-)öffentliche Auftritte gefeilt habe (Pontzen, 2006, S. 99). In der Summe ergab sich hinsichtlich der Medialisierung von Parteien auf der organisationalen und strukturellen Ebene ein gemischtes Bild, das aber durchaus Anzeichen aufwies, die die Medialisierungsthese stützten. Auch im Hinblick auf Verbände aus der Zivilgesellschaft zeigt sich ein ähnlich gemischtes Bild: Zwar wird die öffentlichkeitsbezogene Kommunikationsarbeit als sehr wichtig erachtet (z. B. galten Medien und Journalisten als wichtig(st)e Zielgruppe und medienbezogene Tätigkeiten stellten einen zentralen Bestandteil der Aktivitäten von PR-Fachleuten bei Wirtschaftsverbänden dar, vgl. Schütte, 2010, S. 161–162) bzw. stieg in ihrem Stellenwert zum Teil sogar an (vgl. die qualitativen
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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Befunde für sechs Verbände im Bereich erneuerbare Energien von Seibt, 201432). Allerdings spiegelt sich das nicht in den Befugnissen wieder, die die Kommunikationsabteilungen in der organisationalen Entscheidungshierarchie zugeteilt bekommen: Einer Befragung von Wirtschaftsverbänden (N = 144) im November 2004 zufolge verfügten nur 11 % der PR-Abteilungen über eine selbständige Entscheidungskompetenz (Schütte, 2010, S. 170), sodass hier nicht von souveränen Handeln vor dem Hintergrund medien- und öffentlichkeitsbezogener Kalküle ausgegangen werden kann. Damit korrespondieren auch Befunde, wonach je knapp ein Drittel der Befragten in einer breit angelegten Befragung von PR-Praktikern bei Verbänden (n = 395) im Jahr 2009 den Mangel an eigenen Durchsetzungsmöglichkeiten in der eigenen Organisation beklagte und sich oft als bloße Verlautbarungsstelle der Verbandsleitung fühlte (Bentele & Seidenglanz, 2010, S. 183). Auch mit Blick auf die personelle Ressourcenausstattung muss konstatiert werden, dass die Kommunikationsabteilungen in Verbänden mit durchschnittlich vier Mitarbeitern (im Jahr 2009) eher eine überschaubare Größe aufwiesen (Bentele & Seidenglanz, 2010, S. 184). Zwar schienen sich die Kommunikationsverantwortlichen bei Verbänden nach einer eigenständigeren Rolle hinsichtlich ihrer Befugnisse und Kompetenzen zu sehnen. Allerdings spiegelte sich das nicht in einem niedrigen formalen Status in der organisationalen Hierarchie wieder: Mehr als Zweidrittel der befragten Verbandsvertreter in der Berufsfeldstudie Pressesprecher von Bentele und Seidenglanz (2010, S. 182) gaben an, statushoch auf Leitungsebene angesiedelt zu sein. Auch das finanzielle Budget für PR bei den Verbänden war laut dieser umfassenden Nabelschau der Kommunikationsaktivitäten bei Unternehmen, Verbänden und öffentlichen Institutionen33 im Jahrzehnt vor der Erhebung (2009) kontinuierlich gestiegen – und das, obwohl eine Wirtschaftskrise in den Zeitraum fiel und gleichzeitig das PR-Budget bei privatwirtschaftlichen Unternehmen deutlich einbrach (Bentele & Seidenglanz, 2010, S. 184). Relativierend zu den steigenden Budgets können hier jedoch die Befunde von Hoffjann und Gusko (2014, 277, 280) angebracht werden, die nicht das Budget für PR-Aktivitäten ganz allgemein betrachte32 Anlage der Studie von Seibt (2014): Qualitative Längsschnittanalyse der Entwicklung von PR-Aktivitäten bei sechs Verbänden im Bereich erneuerbare Energien; Dokumentanalyse von Pressemitteilungen, Webpräsenzen, Satzungen, Imagebroschüren gepaart mit qualitativen Interviews mit Personen, die die Kommunikation der Verbandes überblicken; Analysezeitpunkte für die Dokumentanalyse waren jeweils die Neuerungen des Erneuerbare-Energie-Gesetzes (Seibt, 2014, S. 252). 33 Es werden in dem zitierten Beitrag (Bentele & Seidenglanz, 2010) vor allem die Befunde der Verbände im Vergleich zu den anderen Bereichen in den Blick genommen. Der Beitrag enthält entsprechend nicht die Detailbefunde zu den Unternehmen und öffentlichen Institutionen (die hier durchaus auch von Interesse gewesen wären). 55
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
ten, sondern danach differenzierten, ob es für Medienarbeit eingesetzt werden sollte: Blickt man nämlich nur auf das spezifische Budget für klassische Medienarbeit, so war laut Eigenangabe der Verbandskommunikateure sowohl in personeller als auch finanzieller Hinsicht in den vergangenen Jahren keine Zunahme zu verzeichnen. Lediglich im Bereich Social Media sei die Ausstattung leicht angestiegen (Hoffjann & Gusko, 2014, S. 280). Davon weichen wiederum die qualitativen Ergebnisse von Seibt (2014) für die sechs langfristig untersuchten Verbände im Bereich erneuerbare Energien ab: Hier wurde eine Zunahme in der personalen Ausstattung für medien- und öffentlichkeitsbezogene Kommunikationsaktivitäten registriert. Bei der Interpretation dieses Befunds muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Bereich erneuerbare Energien in den vergangenen Jahren stark im öffentlichen Fokus stand, was potenzielle Medialisierungsfolgen begünstigt haben dürfte (Seibt, 2014, S. 262). Ähnlich wie bei den Parteien lässt sich aber eine Professionalisierung in den Kompetenzen ausmachen: Die Hälfte der befragten Wirtschaftsverbände (N = 144) in der Studie von Schütte gab an, regelmäßig auf externe Expertise in Form von Leistungen durch PR-Agenturen zurückzugreifen (Schütte, 2010, S. 160). Eine Besonderheit, die diese beiden Typen an Mitgliederorganisationen – also sowohl Parteien als auch Verbände – betrifft, ergibt sich, wenn man die Bedeutung, die die Medien in der Interaktion mit den eigenen Mitgliedern erfahren haben, betrachtet: Die Mitglieder der Parteien waren für die befragten Politiker auf Bundes- und Landesebene (N = 431) in der Studie von Pontzen (2006) nach wie vor eine wichtige Orientierungsgröße, da sie als sehr bedeutsam für den Erfolg der Partei und auch mit Blick auf die inhaltliche Ausrichtung und personelle Besetzung von wichtigen Parteiposten erachtet wurden (Pontzen, 2006, S. 127). Ähnliches ergibt sich für die befragten Wirtschaftsfachverbände (N = 144) in der Studie von Schütte (2010, S. 161). In der Interaktion mit eben diesen Anhängern scheinen Medien darüber hinaus an Bedeutung gewonnen zu haben: Beispielweise gewann die Kommunikation der Parteispitze mit der Basis über Medien im Vergleich zu früher an Bedeutung, während das persönliche Gespräch das Nachsehen hatte (Pontzen, 2006, S. 125). Auch in der Befragung verschiedener Akteure aus dem Bereich Energiepolitik (N = 338, davon 56 Politiker und 96 Verbandsvertreter) gaben 71 % der Politiker und 55 % der Verbandsvertreter an, die eigenen Mitglieder über Medienarbeit über die eigenen Aktivitäten informieren zu wollen (Fawzi, 2014, S. 215). Demgegenüber spielte dieser Aspekt in Organisationen, die über gute Möglichkeiten der internen Kommunikation verfügten, keine große Rolle (z. B. weil sie deutlich kleiner waren oder weil sie nicht Mitglieder, sondern Mitarbeiter als abhängig Beschäftigte adressierten wie die befragten Akteure in der Verwaltung, n = 61; oder der Wissenschaft, n = 49; Fawzi, 2014, S. 216).
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Ein weiterer Bereich, in dem gesellschaftliche Entscheidungsträger verortet werden können, sind politische Institutionen. In diesem Zusammenhang liegen Befunde zur Medialisierung der Kommunikation der Regierung einerseits (Borucki, 2014; Vogel, 2010) und der Europäischen Kommission (C. O. Meyer, 2009) andererseits vor. Auch hier setzt sich das facettenreiche Bild fort: Hinsichtlich der Ressourcen zeigte sich in der langfristigen Betrachtung von strukturellen Veränderungen in der Regierungskommunikation von Deutschland, Großbritannien und der Schweiz lediglich für Großbritannien ein deutlicher Ausbau (Vogel, 2010, S. 157). Für die Europäische Kommission identifizierte C. O. Meyer (2009) dagegen einen Ausbau – und zwar in personeller, finanzieller und kompetenztechnischer Hinsicht. Dies überrascht jedoch auch nicht, bedenkt man die in den vergangenen Jahrzehnten immer lauter werdende Kritik am Demokratiedefizit der EU und der stetig geäußerten Notwendigkeit, die Nähe zum Bürger suchen zu müssen, da man sich der Unterstützung längst nicht mehr sicher sein kann (vgl. z. B. Eichenberg & Dalton, 2007). Blickt man auf die organisationale Einbindung bzw. Entscheidungskompetenz, die die Kommunikationsabteilungen innerhalb der Institutionen des politischen Systems erfahren, so ist eine Studie von Röttger (2015) aufschlussreich: Basierend auf 69 Leitfadeninterviews mit Öffentlichkeitsarbeitern, Pressesprechern, PR-Beratern und Partei-Geschäftsführern von Ministerien und politischen Organisationen auf Bundesebene kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die PR in den politischen Organisationen nur sehr begrenzt über Macht verfügte.34 Der Rückgriff auf externe Kompetenz scheint aber auch im Bereich der politischen Institutionen (ähnlich wie bei den Parteien und Verbänden) zunehmend zum Standardrepertoire zu gehören (Borucki, 2014, S. 12). Bislang selten in den Blick genommen wurden die Veränderungen in den prozeduralen Strukturen der medienbezogenen Kommunikationsarbeit. Analog zum Ausbau der Ressourcen für PR macht C. O. Meyer (2009) in seiner Analyse der Kommunikationsaktivitäten der Europäischen Kommission spannende Trends in den Abläufen der Pressearbeit aus: Zum einen wurden eigene Strukturen geschaffen (z. B. eigene Portale zur Interaktion mit den Medien und Ausbau des Fundus an audiovisuellem Material), um dem Neuigkeitsbedürfnis der Journalisten einen kontrollierbaren Ankerpunkt zu bieten. Zum anderen wurden die Abläufe so strukturiert, dass sie mit den Aufmerksamkeitsrhythmen der Medien korrespondierten und es dabei gleichzeitig möglich war, die Kontrolle über 34 Gemessen wurde das an der Frage, ob die PR-Verantwortlichen auch Einfluss auf die interne Organisationssteuerung nehmen können – d. h. dass sie u. U. auch die Herstellung von Entscheidungen und nicht nur die externe Umweltsteuerung in Form von nach außen gerichteter Kommunikation mitgestalten können (Röttger, 2015, S. 29). 57
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die eigenen Informationsflüsse zu behalten (dabei handelte es sich insbesondere um die Standardisierung der Abstimmungsregeln: wer kommuniziert?; wie werden die Kommunikationsabteilungen besetzt und wie ist auf bestimmte Vorfälle und Anfragen zu reagieren?). Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch für Organisationen außerhalb der Politik ausmachen: Vonwil und Lackus (2006) haben 76 Unternehmen in der Schweiz untersucht und sie nach dem Grad ihrer Exponiertheit in der Öffentlichkeit differenziert. Hintergedanke war die Annahme, dass der Grad an öffentlicher Exponiertheit das Ausmaß an öffentlichem Druck symbolisiert, mit dem Unternehmen konfrontiert werden könnten. Dieser öffentliche Druck und damit das Potential für Reputationsverlust seien gestiegen: Einerseits bedingt durch die zunehmende moralisch-aufgeladene Art der öffentlichen Debatte über Unternehmen (Eisenegger, 2004); andererseits aufgrund der Tatsache, dass die Grenzen zwischen verschiedenen Teilöffentlichkeiten mehr und mehr verschwimmen, d. h. vernetzte Kommunikationsarenen und damit die Herausforderung entstehen, in der Kommunikation mit den verschiedensten Stakeholdern stets konsistent und widerspruchsfrei zu agieren. Im Ergebnis zeigte sich denn auch, dass die Kommunikationsverantwortlichen bei den Unternehmen integrierte Konzeptionen der Unternehmenskommunikation als Antwort auf diese Entwicklungen in der Medienöffentlichkeit als wichtig erachteten – und zwar abhängig vom Grad ihrer Exponiertheit in der Öffentlichkeit. Ging es jedoch um die tatsächliche Umsetzung, so schien die Scheu vor den damit einhergehenden Kosten – so zumindest die Erklärung der Autoren – größer. Die formale, zeitliche und inhaltliche Abstimmung zwischen interner und externer Kommunikation war nämlich bei allen untersuchten Unternehmen unabhängig vom Exponiertheitsgrad nur schwach ausgeprägt (Vonwil & Lackus, 2006). Insofern konnte zwar wieder in der Wahrnehmung ein Medialisierungspotential ausgemacht werden, das sich aber ähnlich wie bei den Parteien nicht in vergleichbarem Umfang in strukturellen und organisationalen Anpassungen niederschlug. So kann konkludierend nicht davon ausgegangen werden, dass die kommunikative Interaktion zwischen Politikern, Parteien und Verbänden mit den Medien als übermäßig medialisiert erachtet werden kann. Die einleitend dargestellten Annahmen reichen weit über das hinaus, was sich empirisch belegen lässt. Entsprechend resümiert auch Koch-Baumgarten (2014, S. 191) auf Basis einer Sichtung des – zugegebenermaßen eher älteren – Forschungsstandes, dass die Kommunikation der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften keineswegs als medialisiert bezeichnet werden könne. Lediglich solche Kanäle und Plattformen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten selbst erst entwickelt haben (Social Media Plattformen, Web Issues Monitoring), sind in ihrer Bedeutung gestiegen, wobei das ein Stück weit auch in der Natur der Sache eines sich entwickelnden Massenmediums liegt.
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Deutliche Hinweise für Medialisierung finden sich jedoch in der Wahlkampfgestaltung und in der Wahrnehmung der Akteure. So haben die Akteure zumindest den Eindruck, dass mediale Aufmerksamkeit erzeugen und zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen sehr bedeutsam sind und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden sollten – die Umsetzung in der Praxis hinkt aber hinterher. Auch können die Anpassungen auf organisationaler und struktureller Ebene als vorsichtige Indizien dafür gewertet werden, dass die untersuchten Akteure versucht haben, auf einen Bedeutungswandel der Medien zu reagieren. Weniger eindeutig ist das Bild, wenn man das reine Ausmaß an Medienarbeit (v. a. im Hinblick auf die publizistischen Massenmedien) und die inhaltliche Gestaltung der Kommunikationsaktivitäten betrachtet. Abschließend bleibt hier festzuhalten, dass sich dieses Bild auf Basis der vorliegenden empirischen Studien ergibt. Diese genügen aber von ihrer Anlage her nicht den Anforderungen an ein Studiendesign, das notwendig wäre, um tatsächlich Medialisierungsfolgen valide zu untersuchen. Meist wird immer nur ein Teilabschnitt in der Anforderung – langfristige Betrachtung, um den (kausalen) Zusammenhang zwischen einer sich wandelnden Bedeutung der Medien einerseits und einer Veränderung in den Kommunikationsaktivitäten andererseits aufdecken zu können – adressiert. Nichtsdestotrotz lassen sich einige richtungsweisende Befunde für die künftige Forschungstätigkeit ausmachen: Insbesondere die Bedeutsamkeit der Kontexte und Rahmenbedingungen (vgl. z. B. die Studie von Amsalem et al., 2017 und die Befunde zur Anpassung in der organisationalen Struktur der Verbände) muss in künftiger Forschung systematisch berücksichtigt werden (z. B. systematischer Vergleich verschiedener Akteurstypen). Dann, so die Hoffnung, ergibt sich u. U. ein klareres Bild zu den Medialisierungsfolgen hinsichtlich der kommunikativen Aktivitäten der Entscheidungsträger.
2.3.2.2 Folgen für das Kernentscheidungshandeln Während die Folgen der Medialisierung für die öffentlichen Kommunikationshandlungen von gesellschaftlichen Funktionseliten und das entsprechende organisationale Fundament in Form von PR-Abteilungen relativ naheliegend erscheinen, sind potenzielle Folgen für das nicht-medienbezogene Handeln der Akteure, ihr Kernentscheidungshandeln, weitaus weniger augenscheinlich. Nichtsdestotrotz lassen sich auch hier sowohl argumentativ-konzeptionelle als auch empirische Vorarbeiten identifizieren, die sich sowohl auf die Mikroebene einzelner Akteure – insbesondere aus der Politik – als auch auf die Mesoebene der dahinterstehenden Organisationen sowie der entsprechenden Strukturen beziehen. Die nachfolgende Darstellung erfolgt erneut, indem zuerst die Annahmen präsentiert werden, die in der Literatur zu den Medialisierungsfolgen für das Kernentscheidungshandeln 59
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
diskutiert werden. Anschließend (ab Kapitel 2.3.2.2.2) werden diese Annahmen mit der empirischen Realität konfrontiert. Dabei wird zunächst auf Forschung eingegangen, die den generellen Einfluss der Medien aus Sicht der individuellen Wahrnehmung der Akteure in den Blick nimmt (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2). Diese Perspektive erweist sich allerdings als sehr undifferenziert, sodass anschließend die Folgen der Medialisierung nach den Ergebnissen und dem Prozess des Kernentscheidungshandelns differenziert werden (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3 und 2.3.2.2.4). Nachdem schließlich die Folgen der Medialisierung für das relative Verhältnis zwischen kommunikativem und Kernentscheidungshandeln betrachtet wurden (vgl. Kapitel 2.3.2.2.5), werden Erkentnisse zu den Randbedingungen der Medialisierungsfolgen (vgl. Kapitel 2.3.2.2.6) sowie Medialisierungsfolgen auf der Mesoebene der Kernentscheidungsstrukturen (vgl. Kapitel 2.3.2.2.7) in den Blick genommen.
2.3.2.2.1 Annahmen zu Medialisierungsfolgen für das Kernentscheidungshandeln Konkret wird in der Literatur angenommen, dass das nicht-medienbezogene Handeln von Politikern und anderen Entscheidungsträgern durch die zunehmende Notwendigkeit beeinflusst werde, auf mediale Leistungen zurückgreifen und damit medienbezogene Kalküle in das eigene Handeln einzubeziehen. Das heißt nicht, dass medienbezogene Kalküle und Rationalitäten die Logiken des jeweiligen Systems vollständig überlagern oder ersetzen, vielmehr stellt die mediale und öffentliche Umwelt ein Anreizsystem für Funktionseliten dar, das dazu führt, dass deren entscheidungsbezogene Kalküle modifiziert und stellenweise transformiert werden oder mit denen der Medienöffentlichkeit verschmelzen (F. Esser, 2013, S. 161; Fritz, 2012, S. 9; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 86; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 421). Im Fokus steht dabei das Handeln des Akteurs in seiner jeweiligen Funktion. Das heißt, bei den hier betrachteten Funktionseliten geht es um das Kernentscheidungshandeln in ihrem jeweiligen Professionsbereich – beispielweise politisches Kernentscheidungshandeln von Politikern oder unternehmerisches Handeln in der Wirtschaft usw. Lange galt hier das Credo, dass der Einfluss der Medien in dieser Sphäre nicht sehr groß sein kann, da das Kernentscheiden selbst abseits der öffentlichen Beobachtung stattfindet (Fawzi, 2018, S. 1138; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 307; Sarcinelli, 2011, S. 127). Lediglich in besonderen Situationen wie der Konflikteskalation zwischen Kontrahenten seien Einflüsse wahrscheinlich (Fawzi, 2018, S. 1138; Robinson, 2001, S. 531–536). Diese Perspektive muss aber im Lichte neuerer Erkenntnisse und einem differenzierteren Verständnis von Einflüssen mehr und mehr revidiert werden (vgl. z. B. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 21).
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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Drei potenzielle Veränderungen infolge der Medialisierung werden in der wissenschaftliche Debatte diskutiert: 1) Zunächst ist denkbar, dass die zunehmende Bedeutung medienbezogener Kalküle dazu führt, dass die Ergebnisse des funktionsbezogenen Handelns der Entscheidungsträger, d. h. die Ergebnisse ihres Kernentscheidungsprozesses, anders ausfallen als wenn Medien und ihre Logik keine Rolle spielen würden (Voltmer & Koch-Baumgarten, 2010, S. 4). Konkret könnte etwa die öffentliche Berichterstattung der Medien zu einem Thema zu einer „diskursiven Verengung politischer Handlungsoptionen“ (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 302) führen. So zeigten Kepplinger und Lemke (2016) beispielweise in einer vergleichenden Studie der Berichterstattung in Deutschland, der Schweiz, Großbritannien und Frankreich über den Reaktorunfall in Fukushima 2011, dass die Medien in den deutschsprachigen Ländern eine Verbindung zu den heimischen Atomprogrammen zogen, während die Journalisten in Frankreich und Großbritannien den Unfall eher als Folge einer Naturkatastrophe in einem fernen Land präsentierten. Durch diese Verknüpfung in der deutschen Berichtersterstattung hätten die Journalisten, so die Interpretation der Autoren, den Reaktorunfall in Japan für die deutsche Debatte um Kernenergie instrumentalisiert, um vergleichbar mit Aktivisten Unterstützung für ihre Position im Konflikt zu sammeln. Entsprechende unmittelbare Reaktionen der deutschen Bundesregierung (vorrübergehende Schließung und Sicherheitsüberprüfung von Kernkraftwerken) sowie die langfristige Entscheidung, aus der Kernenergie auszusteigen, könnten demnach durch diese Art der Berichterstattung und die dadurch ausgelösten Stimmungen in der Öffentlichkeit begünstigt worden sein (Kepplinger & Lemke, 2016, S. 366–367). Darüber hinaus ist auch denkbar, dass die Orientierung an der Medienlogik manche Lösungsoptionen als weniger attraktiv (oder attraktiver) als andere erscheinen lässt, d. h. deren relatives Gewicht ändert (F. Esser, 2013, S. 162; Fritz, 2012, S. 13). Ein solches Gedankenspiel haben Heinrich und Lobigs (2004, S. 225) im Kontext der Diskussion um eine zunehmend moralisch-aufgeladene öffentliche Debatte von Unternehmen gewagt (empirische Evidenz für eine stärkere moralische Aufladung findet sich bei Eisenegger, 2004): Hier argumentieren sie, dass ein Unternehmen Entscheidungen, die eine moralische Komponente beinhalten, anders treffen werde, weil das befürchtete Reputationsrisiko im Falle einer öffentlichen moralisch aufgeladenen Debatte zu hoch wäre (Heinrich & Lobigs, 2004, S. 225). Als Beispiel nennen sie die Verlagerung eines Produktionsstandortes ins Ausland, weil dort Arbeitskraft günstiger verfügbar sei. Gerade solche Entscheidungen träfen bei der Bevölkerung einen empfindlichen Nerv, da sie Fragen der Verteilungsgerechtigkeit tangierten. Die Angst vor konkreten wirtschaftlichen Einbußen – beispielsweise durch einen Konsumboykott – in Folge einer moralisch geführten öffentlichen Debatte und einem damit einhergehenden Reputationsschaden, führe dazu, dass 61
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
solche potenziellen Kosten antizipiert und in die Entscheidung einbezogen würden. Im Resultat kann die Entscheidung auch gegen die Standortverlagerung ausfallen, wenn ein solches Boykottverhalten für wahrscheinlich und die potenziellen Kosten daraus als hoch eingestuft werden (Heinrich & Lobigs, 2004, S. 225). Ähnliche Zusammenhänge sind laut Koch-Baumgarten (2014, S. 188) auch in der Politik denkbar: „Massenmediale Politikdarstellung und -bewertung entfaltet als antizipierte Bürgermeinung eine Wirkung in nicht-öffentlichen Politikverfahren und damit auf die Politikentscheidung und Gesetzgebung“. 2) Überdies kann sich auch die Art und Weise des Entscheidens, also der Kernentscheidungsprozess selbst ändern (Voltmer & Koch-Baumgarten, 2010, S. 4). So kann die zunehmende Notwendigkeit, die Medienöffentlichkeit im Blick zu haben, gepaart mit einer hohen medialen und öffentlichen Resonanz für ein Thema, (zeitlichen) Entscheidungsdruck erzeugen (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 305). Überdies könnten sich auch die Kriterien des Kernentscheidungsprozesses wandeln (F. Esser, 2013, S. 161) oder die eigentlichen Kernentscheidungen werden nicht mehr primär in dem institutionell vorgesehenen, sondern zunehmend im medial-vermittelten öffentlichen Kontext getroffen, wo andere Spielregeln gelten (Koch-Baumgarten, 2013, S. 13; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 86). Dies wird beispielweise für Verhandlungen als weit verbreiteter Kernentscheidungsmechanismus befürchtet (Fritz, 2012, S. 7–11; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 417): Im nicht-öffentlichen Verhandlungsgeschehen gelten Maxime wie Diskretion, Kompromissorientierung sowie gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen als Basis der Interaktion, während die Medienöffentlichkeit maximale Transparenz anstrebt, dabei aber insbesondere Individuen (gerne auch als Gewinner und Verlierer) in den Blick nimmt und Konflikte sowie Kontroversen fokussiert (Fritz, 2012, S. 6; ähnlich argumentieren Koch-Baumgarten und Voltmer, 2009, S. 303 für den politischen Prozess im Allgemeinen: ereigniszentrierte, personalisierte und vereinfachende Medienberichterstattung vs. langfristige, verfahrenszentrierte und komplexe Entscheidungsverfahren). In der Folge wird befürchtet, dass Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismus in Konfrontation mit der Medienöffentlichkeit an Qualität verlören (Fritz, 2012, S. 11; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 9–10; ähnlich für den politischen Prozess im allgemeinen: Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 306). Auch deshalb, weil sich dann Prinzipien des Verhandelns mit denen des Campaigning verschränken (Czada, 2014, S. 133; Koch-Baumgarten, 2014, S. 189), sodass „personale und massenkommunikative Persuasionsstrategien“ (Hoffjann, 2010, S. 68) Hand in Hand gehen (ähnlich: Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 6). In der Folge sei anzunehmen, dass Überzeugungstaktiken, die einst in der Kernentscheidungsarena gespielt wurden, nun in die öffentliche Arena migrieren (Sellers, 2010, S. 221). Andererseits ist aber auch denkbar, dass die zu-
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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nehmende Bedeutung der öffentlichen Arena die strategischen Handlungsoptionen erweitert – man denke beispielweise an die Situation, wenn die Lösungsfindung im Verhandlungskontext stockt – dann können die Verhandlungsakteure versuchen, die Blockade über öffentlich vermittelte Kommunikation zu lösen. Natürlich kann dieser Weg nicht nur – zur normativ positiv bewerteten – Lösung des Konfliktes eingeschlagen werden: Denkbar ist auch, dass über die Bande der Öffentlichkeit Druck auf den anderen ausgeübt werden soll (z. B. über Leaking, Indiskretion), wenn einer der Verhandlungsbeteiligten hinter verschlossenen Türen den Eindruck hat, an dieser Stelle nichts mehr erreichen zu können (Fritz, 2012, S. 7–11; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10–11, 2011, S. 421) – dann werde die „diskursive Macht“, die über öffentliche Kommunikation in den Medien erzeugt werde, „gegen die Verfahrensmacht ausgespielt“ (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 306). Neben diesen Varianten der Öffnung und der Einbeziehung von Medienöffentlichkeit in Kernentscheidungsprozesse ist aber auch denkbar, dass der Kernentscheidungsprozess so umgestaltet wird, dass er weniger anfällig für medieninduzierte Einflüsse ist: Analog zu den Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Kommunikation – wo Akteure gezielt versuchen, sich ihr Wissen um die Logik der Medien zu Nutze zu machen, um sich vor öffentlicher Beobachtung abzuschirmen (siehe oben) – können sich diese Akteure auch ihren Wissensvorsprung in der Logik ihres eigenen Systems zu Nutze machen, um ihre Handlungsprozeduren so zu verändern, dass sie gegenüber medieninduzierten Einflüssen immun(er) werden (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 87). Als Beispiele werden hier genannt (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 86): Die Verlagerung der eigentlichen Kernentscheidungen in andere institutionelle Arenen, Veränderungen in den Vertraulichkeitsanforderungen (z. B. werden Smartphones im Kontext von Verhandlungen verboten), Schaffen von organisationalen Puffern, die Medieneinflüsse abfedern oder kanalisieren können (z. B. Rollentrennung von Entscheidungspersonen und öffentlichen Repräsentanten). 3) Im Lichte dieser Folgen für das Kernentscheidungshandeln kommen manche zu dem Schluss, dass medien- und öffentlichkeitsbezogene Aktivitäten zunehmend kernentscheidungsbezogene Aktivitäten verdrängen, sodass die Funktionseliten ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr adäquat nachkommen würden. Gerade im politischen Bereich wird immer wieder befürchtet, dass inszenierte Symbolpolitik substantielle politische Kernentscheidungen zunehmend in den Hintergrund dränge oder gar obsolet mache (Fawzi, 2014, S. 57; Korte & Fröhlich, 2009, S. 22; Lichtenstein et al., 1990, S. 101; C. O. Meyer, 2009, S. 1049; Sarcinelli, 2011, S. 134). Analog zur Beweisführung bei den Medialisierungsfolgen im kommunikativen Handeln müsste auch im Hinblick auf das Kernentscheidungshandeln ein Zusammenhang zwischen medialem Bedeutungswandel und Veränderungen im Kernentscheidungsprozess aufgezeigt werden. Während das öffentlichkeitsorientierte 63
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Handeln wenigstens prinzipiell auch Außenstehenden zugänglich ist, gilt das für das Kernentscheidungshandeln nicht. Ganz im Gegenteil, allzu oft versuchen sich gesellschaftliche Funktionseliten dabei der öffentlichen Beobachtung zu entziehen (siehe Kapitel 2.3.2.2.7), womit zugleich auch die wissenschaftliche Investigation erschwert wird. Entsprechend beleuchtet die empirische Evidenz zu diesem Bereich möglicher Medialisierungsfolgen mehr noch als beim anderen Bereich nur einen sehr kleinen Ausschnitt oder – anders gesagt – beleuchtet viele, sehr spezielle und damit sehr kleine Ausschnitte der Realität, ohne dass klar ist, wie sich diese im Gesamtzusammenhang zueinander anordnen.
2.3.2.2.2 Generalisierte Einflusswahrnehmungen Einen Ansatzpunkt, den viele Forschende im Bereich der politischen Kommunikation wählten, ist die Entscheidungsakteure nach dem Resultat möglicher Medialisierungsfolgen auf das Kernentscheidungshandeln – nämlich nach dem generellen Einfluss der Medien auf die Politik – zu fragen. Zahlreiche Studien belegen dabei, dass Politiker durchschnittlich einen hohen oder sogar sehr hohen Einfluss der Medien auf die Politik wahrnahmen (Jonathan Cohen et al., 2008, S. 341, 343; Fawzi, 2014, S. 231; Kepplinger, 2009c, S. 310; Pfetsch & Mayerhöffer, 2011; Strömbäck, 2011a, S. 430). Dieser wurde zugleich als problematisch erachtet (Walgrave, 2008, S. 455), da sich die befragten Politiker – zumindest in einer Studie von Kepplinger35 (2009c, S. 310) – einen geringeren Einfluss wünschten. Auch die Befragung von Pontzen (2006, S. 84; N = 431 MdLs und MdBs) deutet diese Sichtweise an, da die Medien eher als zu einflussreich wahrgenommen wurden und im Gegenzug der eigentliche Ort politischen Handelns, das Parlament, das Nachsehen hatte. Der Einfluss der Medien auf die Politik war, folgt man der Wahrnehmung der befragten politischen Akteure, zudem auch deutlich größer als in die Gegenrichtung, also von der Politik auf die Journalisten (Baugut & Grundler, 2009, S. 345; Fawzi, 2014, S. 240; Kepplinger, 2009c, S. 310; Pontzen, 2006, S. 81). Relativierend erweisen sich an dieser Stelle Befunde, in denen versucht wurde, den wahrgenommenen Medieneinfluss zu anderen Einflussfaktoren in Bezug zu setzen: In der qualitativen Studie von Vogel (2010, S. 166) zu den strukturellen Veränderungen der Regierungskommunikation in Deutschland, der Schweiz und Großbritannien zwischen 1990 und 2008 wurde der mediale Wandel von den 35 Anlage der Studie von Kepplinger (2009c): Schriftliche Befragung der Abgeordneten des deutschen Bundestags (n = 187, Rücklaufquote: 31 %) und der Mitglieder der Bundespressekonferenz (n = 235; Rücklaufquote: 38 %) im Frühjahr 2008 zu Selbst- und Fremdbildern von Journalisten und Politikern in der Hauptstadt (Kepplinger, 2009c, S. 309).
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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befragten Akteuren in allen drei Ländern als eine Ursache neben anderen strukturellen Wandlungsprozessen im politischen System gesehen. Wobei das Resultat auch kein vollständiger Machtverlust der politischen Akteure war. Vielmehr hätten Machtverschiebungen innerhalb des politischen Systems stattgefunden (Vogel, 2010, S. 176). Überdies schauten die politischen Akteure diesem Bedeutungswandel der Medien nicht passiv zu, sondern versuchten sich diesen im Sinne des self-mediatization-Gedankens zu Nutze zu machen (Vogel, 2010, S. 177). Einige wenige Studien versuchen den dynamischen Charakter, den ein Nachweis zu möglichen Medialisierungsfolgen eigentlich abbilden müsste, zu greifen, indem sie Veränderungen in der wahrgenommenen Bedeutung adressieren: Eine Sekundäranalyse von Befragungsdaten dänischer Abgeordneter aus den Jahren 1980 und 200036 offenbart, dass die Mandatsträger die Medien im Jahr 2000 mehr als früher als eigenständigen – und damit u. U. auch ernstzunehmenden – politischen Akteur wahrnahmen (Elmelund-Præstekær et al., 2011). Auch die Befunde von Fawzi (2014, S. 194) und Landerer (2015, S. 257) schlagen in diese Kerbe: die Befragten aus dem Bereich Energiepolitik (N= 338) bzw. die Schweizer Parlamentarier aus drei Politiknetzwerken (N = 50, siehe unten für weitere Informationen zur Anlage der Studie) waren mit überwältigender Mehrheit der Ansicht, dass der Einfluss der Medien sehr stark zugenommen habe. Differenziert man den wahrgenommenen Einfluss weiter nach verschiedenen Mediengattungen, so zeigt sich, dass insbesondere das Fernsehen (und hier insbesondere das öffentlich-rechtliche) und dicht gefolgt oder gleichauf damit die überregionalen Qualitäts- und Boulevardzeitungen als (sehr) einflussreich im Hinblick auf die Politik wahrgenommen wurden (Fawzi, 2014, S. 234; Pontzen, 2006, S. 95; Walgrave, 2008, S. 452). Hörfunk und Magazine hatten laut einer Befragung von MdBs und MdLs (N= 431) eher einen moderaten und das Internet (zumindest zum Zeitpunkt von Pontzens Befragung im Jahr 2005) eher wenig Einfluss (Pontzen, 2006, S. 95). Neuere Studien offenbaren, dass das Internet aus Sicht von Bundestagsabgeordneten inzwischen durchaus als einflussreich wahrgenommen wird (Bernhard et al., 2016, S. 79; Fawzi, 2014, S. 234). Die Untersuchung von Bernhard et al. (2016, S. 79; Befragung von N = 343 MdBs in 2012 und 2013) erlaubt es überdies, den politischen Einfluss des „Internets“ von dem verschiedener Social Media Plattformen zu differenzieren. Sie zeigt auf, dass die Social Media-Plattformen 36 Ergänzende Hinweise zur Studie von Elmelund-Præstekær, Christian, Hopmann und Nørgaard (2011): Laut Angabe der Autoren weisen die Daten keine nennenswerten Verzerrungen im Vergleich zur Verteilung zentraler Merkmale in der Grundgesamtheit aller Abgeordneten zu den jeweiligen Erhebungszeitpunkten auf; n(1980) = 85, n(2000) = 113 (keine Angaben zur Rücklaufquote; Elmelund-Præstekær, Christian, Hopmann & Nørgaard, 2011, S. 390). 65
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Facebook und Twitter im Vergleich zu politischen Onlineinhalten generell, z. B. auf Websites, als weniger einflussreich wahrgenommen wurden37. Eine weitere Differenzierung kann nach verschiedenen Phasen im (politischen) Entscheidungsprozess erfolgen: In seiner Befragung von 483 ehemaligen US-Politikern und Beamten (Kongressabgeordnete, Senatsmitglieder, Ministerialbeamte) zeigt Linsky (1986, S. 137–140, 235), dass sich der wahrgenommene Einfluss U-förmig über den politischen Entscheidungsprozess hinweg entwickelte: Großen Einfluss nahmen die Befragten zu Beginn, im Zuge der Problemidentifikation (Agenda Setting-Phase), wahr. Anschließend, im Zuge der Problemformulierung, sank der wahrgenommene Einfluss stark ab, stieg dann mit der Verabschiedung des Gesetzes wieder an und hielt sich über die Implementation und Evaluation der Entscheidung auf einem hohen Level. Dieses Muster ließ sich in der Befragung von politischen Akteuren in der Energiepolitik im Jahr 2011 reproduzieren (Fawzi, 2018, S. 1142–1143) – allerdings auf deutlich höherem Niveau, d. h. das U wurde auf der Achse „wahrgenommener Einfluss“ in allen Phasen nach oben verschoben. Mit Blick auf den hier im Fokus stehenden Kernentscheidungsprozess, die Phase der Politikformulierung, nahmen 46 % (N= 338) einen (eher) starken Einfluss der Medien wahr (Fawzi, 2014, S. 243, 2018, S. 1142). Überdies erwies sich der wahrgenommene Einfluss in dieser Phase als stärkster Prädiktor für den wahrgenommenen Gesamteinfluss (Fawzi, 2018, S. 1144), d. h. den politischen Entscheidern schien der mediale Einfluss an dieser Stelle besonders einprägsam zu sein. Diese Unterschiede im wahrgenommenen Einfluss je nach Phase im politischen Prozess deuten überdies ein weiteres Spezifikum an: Je allgemeiner nach dem wahrgenommenen Einfluss „auf die Politik“ gefragt wurde, desto höher fiel die Angabe aus. Je konkreter und spezifischer gefragt wurde – beispielweise mit Blick auf bestimmte Bereiche oder Phasen oder unter Berücksichtigung bestimmter Randbedingungen, desto differenzierter war das Urteil (Landerer, 2015, S. 261; Walgrave, 2008, S. 453). So wurde dieser medial erzeugte politische Druck vor allem dann als hoch wahrgenommen, wenn die Entscheidungsträger den Medien einen hohen Einfluss auf ihre jeweils relevanten Stakeholder (z. B. Wähler, Investoren und Geldgeber etc.) zuschrieben (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 67), wenn sie die Medien generell als wirksames strategisches Mittel politischen Handelns begriffen und wenn sie den Eindruck hatten, dass die Medien an Bedeutung gewonnen hatten (Fawzi, 2014, S. 282). In Landerers (2015) Untersuchung der Rolle der Medien in 37 Ähnlich konkludiert auch Fawzi (2014, S. 234), dass sich die hohe Bedeutung, die Social Media in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte im Hinblick auf das Handeln von Politikern zugeschrieben werde, in den Antworten der Akteure aus der Energiepolitik nicht widerspiegele.
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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drei politischen Entscheidungsprozessen in der Schweiz38 offenbaren sich überdies Unterschiede im wahrgenommenen Einfluss, je nachdem, ob die befragten Abgeordneten (N = 50) dem Gewinner- oder Verliererlager im Abstimmungsprozess entstammten und, ob allgemein nach dem Wandel des politischen Einflusses der Medien vs. nach ihrem Einfluss auf die konkrete Kompromisssuche gefragt wurde (Landerer, 2015, S. 260–261). Ausgehend davon plädiert Landerer (2015, S. 262) dafür, Medieneinflüsse auf das Kernentscheidungshandeln weniger generalisiert, auf abstraktem Level zu untersuchen, sondern stattdessen zu versuchen, das konkrete Handeln differenzierter abzubilden. Dies erscheint auch notwendig, da die Betrachtung des generellen wahrgenommenen Einflusses eine trügerische Konklusion nahelegt: Nimmt man die oben dargestellten Befunde als Indizien für das Ausmaß an Medialisierung im Kernentscheiden von politischen Entscheidern, so muss die Schlussfolgerung lauten, dass dieses sehr hoch ist. Ungeachtet der Frage, ob das Medialisierungslevel tatsächlich „hoch“ ist (es fehlen Vergleichsmaßstäbe, die sich beispielweise in der Längsschnittbetrachtung durch den historischen Vergleich ergeben hätten), bleibt vollkommen unklar, was hier unter „Einfluss“ zu verstehen ist. Genau genommen versteht vermutlich jeder Befragte etwas Unterschiedliches darunter und die generalisierte Abfrage erlaubt es, alle diese mitunter sehr verschiedenen Eindrücke unter das allgemeine Label „wahrgenommener Einfluss der Medien auf die Politik“ zu fassen. Daher soll nachfolgend versucht werden, dieses etwas detailreicher aufzuschlüsseln.
2.3.2.2.3 Folgen für die Ergebnisse des Kernentscheidungsprozesses Dabei kann zunächst auf die Ergebnisse der Kernentscheidungsprozesse von Funktionseliten geblickt werden: In der konkreten Frage, ob sich die Aktivitäten der Entscheidungsträger inhaltlich vor dem Hintergrund öffentlicher und vor allem medialer Aufmerksamkeit verändern, ist zunächst eine Studienreihe aus den 80er Jahren interessant (auch wenn sie nicht vor dem theoretischen Hintergrund des 38 Anlage der Studie von Landerer (2015): Befragung von Abgeordneten des Schweizer Parlaments, die Mitglied von themenverwandten Ausschüssen in drei Entscheidungsinstanzen waren (Reform des Bankengesetzes infolge der Finanzkrise, Reform der Invalidenversicherung, parlamentarische Entscheidungsfindung zu Steuerabkommen mit Deutschland und dem UK). Die Abgeordneten wurden nach ihrer Aktivitäten in den Ausschüssen gerankt, anschließend wurden 76 (der insgesamt 246 Parlamentarier in der Schweiz) kontaktiert und N = 50 (Rücklaufquote: 66 %) haben teilgenommen; Feldzeit erfolgte in 2012; Befragung umfasste eine Mischung aus standardisierten geschlossenen und offenen Fragen; darüber hinaus war noch eine Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung zu den drei Entscheidungsinstanzen Teil der Untersuchung (Landerer, 2015, S. 115). Diese Befunde werden an dieser Stelle jedoch nicht berichtet. 67
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Medialisierungsparadigmas durchgeführt wurde). Eine Forschergruppe aus den USA (F. L. Cook et al., 1983; Leff, Protess & Brooks, 1986; Protess, Leff, Brooks & Gordon, 1985; Protess et al., 1987) hat den Einfluss investigativer Medienberichterstattung auf die öffentliche und politische Agenda sowie politisches Handeln im Rahmen von vier Feldexperimenten untersucht. In den verschiedenen Cases (z. B. aus dem Kontext Umweltschutz, Polizeigewalt, usw.) zeigten sich sehr unterschiedliche Konstellationen: Mal hatten die Berichte Einflüsse auf die öffentliche und die politische Agenda (F. L. Cook et al., 1983), mal nur auf die politische, nicht jedoch auf die öffentliche Agenda (Leff et al., 1986). Auch in den politischen „Antworten“ gab es eine große Varianz – angefangen bei substantiellen politischen Maßnahmen im Kontext von Berichten zu Polizeigewalt (Leff et al., 1986) bis hin zu symbolpolitischen Maßnahmen wie Parlamentsanhörungen als es um den Umgang der Regierung mit Gewaltakten gegen Frauen ging (Protess et al., 1985). Schlussfolgernd stellte die Forschergruppe fest, dass investigative Medienberichterstattung sehr relevant für substanzielles politisches Handeln im Sinne des hier betrachteten Kernentscheidungshandelns sei. Der Effekt wurde verstärkt, wenn Journalisten auch im persönlichen Kontakt mit den Politikern auf eine Reaktion insistierten (F. L. Cook et al., 1983; Protess et al., 1987), wenn es durch die Medienberichte gelang, die Meinung der Politiker zu dem Thema zu beeinflussen (Protess et al., 1987), und, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen es begünstigten (z. B. Nähe zum Wahltermin, vgl. Leff et al., 1986; generelles Level an Druck in Öffentlichkeit und durch Interessenverbände, Protess et al., 1987). Das klassische Wirkungsmodell, wonach Medien die öffentliche Meinung beeinflussen, die dann wiederum politisches Kernentscheidungshandeln von Politikern bedingt (Kepplinger, 2008, S. 330–331), müsste im Lichte dieser Erkenntnisse daher um direkte Wirkkanäle zwischen Medien und politischem System erweitert werden (Protess et al., 1987, S. 181). Diese vier Feldexperimente deuten trotz ihres sehr spezifischen Fokus und einiger Probleme hinsichtlich der Konfundierung von Effekten bereits die Vielschichtigkeit potenzieller Medienwirkungen auf politisches Handeln an. Insbesondere die Frage, ob und inwieweit Medienberichterstattung einen Einfluss auf die politische Agenda hat – also die Themen und Probleme, derer sich die Politik annimmt –, wurde inzwischen substantiell und unter Einbezug verschiedenster Forschungsdesigns untersucht (Davis, 2007; van Aelst & Walgrave, 2011; Walgrave & van Aelst, 2006; Walgrave, 2008; Zoizner, Sheafer & Walgrave, 2017). Dabei ergeben sich je nach Zugang sehr unterschiedliche Erkenntnisse (vgl. hierzu auch: van Aelst & Walgrave, 2011; Walgrave, 2008, S. 445–447): In einer Befragung schrieben Politiker in Schweden den Medien (Fernsehen, Radio und Zeitungen) im Mittel einen höheren oder zumindest vergleichbaren Einfluss auf die politische Tagesordnung zu wie dem
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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Premierminister (dahinter folgten außerdem noch Akteure wie die Kabinettsmitglieder, die Abgeordneten, politische Parteien und Interessengruppen; Strömbäck, 2011a). Dieses Muster ergibt sich in leicht abgeschwächter Form auch in anderen Ländern (Niederlande, Belgien, Dänemark), wo laut individueller Wahrnehmung von Politikern Medien zu den einflussreichsten Akteuren zählten, wenn es um die Gestaltung der politischen Tagesordnung ging (van Aelst & Walgrave, 2011; Walgrave, 2008; ähnliche Befunde liefern Pfetsch & Mayerhöffer, 2011 auch für die Bundesrepublik; die Befunde aus der Befragung Pontzen 2006, S. 82 deuten dagegen eher auf moderatere Agenda Setting-Effekte der Medien in der Politik hin). Basierend auf zeitreihenvergleichenden Ansätzen zwischen der Medienagenda und der politischen Agenda lassen sich zwar Effekte finden (vgl. z. B. Bonafont & Baumgartner, 2013). Diese erweisen sich aber im Vergleich zu den oben dargestellten Erkenntnissen aus Befragungsstudien als moderat (siehe z. B. Walgrave, Soroka & Nuytemans, 2008; einen gegenteiligen Effekt zeigen z. B. Jones & Wolfe, 2010; einen konditionalen Agenda Setting-Effekt – abhängig von der Relevanz des jeweiligen Themas für die betrachteten politischen Akteure im Sinne des issue ownership – finden Green-Pedersen & Stubager, 2010; für eine Übersicht siehe van Aelst & Walgrave, 2011, S. 296–298; Walgrave & van Aelst, 2006, S. 88–92). Ursächlich für diese Diskrepanz in den Befunden, so wird vermutet, ist unter anderem, dass diese Makroperspektive differenziertere Zusammenhänge, die sich vor allem zeigen, wenn man die tieferliegenden Informationsverarbeitungsprozesse von politischen Akteuren berücksichtigt, nicht zu erkennen vermag (Sevenans et al., 2016, S. 606). Dem wird entgegen gehalten, dass die Erkenntnisse aus Befragungen von individuellen Politikern den Einfluss überschätzen, weil die befragten Politiker verschiedene, von den Medien ausgehende Einflussschienen in ihrer Wahrnehmung nur schwer auseinanderdividieren und damit reflektieren könnten (van Aelst & Walgrave, 2011, S. 303). In der Summe scheinen Medien durchaus einflussreich mit Blick auf die Gestaltung der politischen Tagesordnung zu sein. Jedoch ist dieser Einfluss von verschiedenen Randbedingungen abhängig (z. B. Routine- vs. Wahlkampfzeiten; symbolpolitische vs. tatsächliche politische Agenda; Art des politischen Akteurs, dessen Agenda betrachtet wird; vgl. Green-Pedersen & Stubager, 2010; Walgrave & van Aelst, 2006; Walgrave, 2008). Abgesehen davon sind diese Erkenntnisse für die hier verfolgte Perspektive aber nur am Rande relevant: Das politische Agenda Setting betrifft eine sehr frühe Phase im politischen Entscheidungsprozess (Fawzi, 2018, S. 1136; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300). Die Betrachtung hier setzt aber erst an dem Zeitpunkt an, wenn die Themen auf der Agenda bereits feststehen und bearbeitet werden müssen. Die vorliegende Auseinandersetzung fokussiert also diejenige Phase, die als Kernentscheidungsprozess begriffen wird (Fawzi, 2018, S. 1135; Kunelius & Reunanen, 2012, S. 56). Nichtsdestotrotz kann dabei natürlich 69
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nicht außer Acht gelassen werden, dass bereits die Frage, welche Probleme überhaupt in den Entscheidungsprozess gelangen, durch mediale Einflüsse geprägt wird. Mit Blick auf den Kernentscheidungsprozess finden sich vergleichbar zu den Studienergebnissen der Forschergruppe rund um Protess (F. L. Cook et al., 1983; Leff et al., 1986; Protess et al., 1985; Protess et al., 1987) auch an anderen Stellen in der Literatur Hinweise auf solche singulären Episoden, in denen Medien mit ihrer Berichterstattung einen Einfluss auf die Substanz der Entscheidungen hatten. Aus 46 semistrukturierten Interviews mit Abgeordneten des britischen Parlaments konnte Davis (2007) zahlreiche Beispiele dafür extrahieren, „when the weight of a media campaign had been responsible for initiating or altering new legislation and budgetary decisions“ (Davis, 2007, S. 186). Auch die interviewten hochrangigen Politiker aus dem Bereich Gesundheitspolitik in der Studie von Baugut und Grundler (2009)39 berichteten von solchen Effekten: Die Interviewten schlussfolgerten im Rahmen der Interviews, dass die Gesundheitsreform in ihrer inhaltlichen Gestaltung qualitativ besser ausgefallen wäre, wenn es keine mediale Aufmerksamkeit gegeben hätte (Baugut & Grundler, 2009, S. 275). Wenngleich es sich dabei um eine Spekulation handelt (schließlich weiß niemand, wie sich die Situation ohne Aufmerksamkeit tatsächlich gestaltet hätte), so macht es doch den Eindruck deutlich, den die Beteiligten aus dem Prozess mitgenommen hatten. Schließlich können auch die vielen (Fall-)Studien zum sog. CNN-Effekt als Belege in diesem Zusammenhang gesehen werden: Demzufolge kann die Echtzeitberichterstattung von TV-Nachrichtensendern (wie sie erstmals bei CNN im Kontext des Irakkrieges in nennenswertem Umfang auftrat) Folgen für außenpolitische Entscheidungsprozesse haben (z. B. das Eingreifen in internationale Konflikte oder bei humanitären Krisen). Diese Art der Berichterstattung hatte in den untersuchten Fällen solche Dynamiken in der öffentliche Stimmung ausgelöst (z. B. über tragische Bilder aus den Krisen- und Konfliktgebieten), dass die politischen Akteure keine andere Wahl mehr hatten als einzugreifen (Gilboa, 2005, S. 28; Robinson, 2001, 39 Anlage der Studie von Baugut und Grundler (2009): Sie haben 32 qualitative Interviews mit hochrangigen Politikern und Journalisten im thematischen Kontext der Gesundheitsreform geführt, um deren Verhältnis im Berliner Hauptstadtuniversum zu betrachten. Unter den Akteuren befanden sich u. a. Fraktionsvorsitzende, Mitglieder des Fraktionsvorstandes, fachpolitische Sprecher, Mitglieder in thematisch relevanten Ausschüssen und Arbeitsgruppen sowie deren Sprecher (Politiker n = 17) und Leiter der Hauptstadtbüros bei den großen überregionalen Tageszeitungen, Nachrichtenmagazinen und Fernsehsender (Journalisten n = 15). Die Feldzeit fand Anfang 2008 statt. Die Gesundheitsreform wurde als thematischer Kontext gewählt, um einen konkreten Ansatzpunkt in der Interviews zu haben und weil dieser Themenkomplex intensiv öffentlich und auch unter den Parlamentariern debattiert wurde (Baugut & Grundler, 2009, S. 181, 189).
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S. 524). Allerdings kommt ein Überblick zum Status Quo der CNN-Effekt-Forschung zu dem Schluss, dass ein Großteil der (fallbasierten) Studien die Effekte überschätzt (Gilboa, 2005, S. 27). Die Kritik an der Dominanz von fallbasierten Betrachtungen kann auch auf die Forschung zu Medieneinflüssen auf die Ergebnisse von politischen Kernentscheidungsprozessen generell übertragen werden. Wenn Untersuchungen nämlich versuchten, von einzelnen Cases und/oder den subjektiven Eindrücken der Beteiligten zu extrahieren und einen aggregierteren Blickwinkel einzunehmen, dann stützten sie die zuvor dargestellten, recht einmütig wirkenden Befunde nicht: Eine Dokumentanalyse zum Zusammenhang zwischen den parlamentarischen Aktivitäten zur Hartz IV Reform und der Berichterstattung in der FAZ über die Reform zeigt nur einen schwachen Zusammenhang auf (Spiegel, 2007, S. 77). Die Korrelation war allerdings dann hoch, wenn man die Betrachtung auf die zehn wichtigsten Themen in der Berichterstattung und die zehn am häufigsten durch die Politik geänderten Reformaspekte verengte (z. B. bei der Regelsatzhöhe oder die Option von Hinzuverdiensten; Spiegel, 2007, S. 79). Mehrere Studien, die den Zusammenhang zwischen Medienberichterstattung und den öffentlichen Ausgaben als Resultat politischer Entscheidungsprozesse untersuchten, zeigten ebenfalls nur sehr moderate Zusammenhänge auf (Berichterstattung von Lokalmedien und kommunale Ausgaben in 191 dänischen Gemeinden über 13 Jahre hinweg; vgl. Mortensen & Serritzlew, 2006; Berichterstattung über Kriminalität und öffentliche Ausgaben für Sicherheit; Pritchard & Berkowitz, 1993). Obwohl explizit nach dem Einfluss kontroverser und intensiver Berichterstattung gefragt wurde, deuten auch Befunde aus der quantitativen Befragung von verschiedenen Akteuren aus dem Bereich Energiepolitik40 (Fawzi, 2014, S. 249) darauf hin, dass das finale Ergebnis des Kernentscheidungsprozesses nur bedingt beeinflusst werde – 49 % sagten, es entstehe kein Einfluss (ähnlich auch die Ergebnisse von Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). In der Summe entsteht der Eindruck, dass die Medien weniger standardmäßig und kontinuierlich einen Einfluss auf die Inhalte der Kernentscheidungsprozesse ausübten. Vielmehr scheinen subtilere Prozesse am Werk. Zwei solcher spezifischer Einflussmechanismen lassen sich auf Basis bisheriger Forschung ausmachen: 1. Da die Medienaufmerksamkeit für Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Eliten sehr stark variieren kann – so zeigt sich für Gesetzesvorhaben im poli40 Ergänzende Hinweise zur Studie von Fawzi (2014): N = 338, quantitative Befragung von Politikern, Verbandsvertretern, Ministerialbeamten und Verwaltungsvertretern sowie Wissenschaftlern und Journalisten im Bereich Energiepolitik, vgl. Fußnote 22 auf Seite 49. 71
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tischen System, dass ein Großteil keinerlei Aufmerksamkeit und einige wenige dafür aber übermäßig viel Beachtung erfahren (vgl. Van Aelst, Melenhorst, van Holsteyn & Veen, 2015 und Kapitel 3.2.2.2) –, kann angenommen werden, dass insbesondere die Erfahrungen mit diesen intensiven Spitzenmomenten medialer Aufmerksamkeit im Zuge des Entscheidungsprozesses das Einflusspotential prägen. Dies drückte sich auch in der Aussage eines interviewten Abgeordneten aus der Studie von Davis (2007) aus: „The media can, as it were, suddenly get into its collective head the idea that a particular proposal is wrong … and the policy-making process … has suddenly whipped itself up into a storm“ (Davis, 2007, S. 186). Dafür sprechen auch die Befunde von Kepplinger und Zerback (2012) zu Medieneinflüssen auf Richter und Staatsanwälte.41 Knapp 30 % der befragten juristischen Experten gab an, dass negative Berichterstattung im Kontext eines Gerichtsverfahrens einen Einfluss auf das Strafmaß haben kann (Kepplinger & Zerback, 2012, S. 484). Das Gerichtsurteil werde dabei vor allem durch negative Emotionen signifikant beeinflusst, die durch die Medienberichterstattung über die eigenen Fälle ausgelöst wurden. Ebenfalls signifikant erwies sich überdies, wenn negative Berichterstattung als sehr einflussreich mit Blick auf andere professionell agierende juristische Personen wahrgenommen wurde (Kepplinger & Zerback, 2012, S. 486). Beide Aspekte, also negative Emotionen und ein hoher vermuteter Einfluss treten vermutlich vor allem dann ein, wenn intensiv und u. U. kontrovers über den juristischen Fall berichtet wird. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass es sich um eine Befragungsstudie im Querschnitt handelt, sodass damit kein strenger Kausalnachweis geführt werden kann. Überdies zeichnet sich die Stichprobe durch Selbstselektion aus, d. h. dass vermutlich insbesondere solche Personen geantwortet haben, die bereits intensive Erfahrungen mit Medienberichterstattung im Zusammenhang mit ihren Fällen gemacht haben (Kepplinger & Zerback, 2012, S. 487). 2. Der zweite, eher subtil wirkende Einflussmechanismus wurde von Davis (2007, S. 187) als „anticipatory news media effect“ bezeichnet. Gemeint ist damit, dass politische Akteure „policy decisions with future news headlines in mind“ (Davis, 2007, S. 188) treffen. Die Befunde aus seiner Studie zum Zusammenspiel zwischen Medien und Abgeordneten in Großbritannien legen dabei nahe, dass diese auf Antizipationen beruhenden Effekte sehr weitreichend sind, da manche 41 Anlage der Studie von Kepplinger und Zerback (2009, 2012): Online-Befragung von 271 Staatsanwälten und 447 Richtern in 2006 (Rücklaufquote: 21–25 %; N gesamt = 718); Grundgesamtheit der Befragung bildeten alle Richter und Staatsanwälte in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Rheinland-Pfalz und Sachsen; da keine Daten zur Verteilung von zentralen Merkmalen wie Demografie in der Grundgesamtheit vorliegen, ließ sich die Repräsentativität des Samples nicht beurteilen (Kepplinger & Zerback, 2009, S. 223).
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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in diesem Zusammenhang gar von „media obsession“ sprachen (Davis, 2007, S. 188). Konkret führte die Antizipation von potenzieller Berichterstattung bzw. potenziellen öffentlichen Reaktionen dazu, dass die Parlamentarier Regeln berücksichtigen, die sie als Teil der Medienlogik begriffen – beispielhaft hierzu ist folgender Interviewausschnitt: „The concern was always how can we get coverage, and the only way you get coverage is by saying something new, and by saying something new you were having to announce something.“ (Davis, 2007, S. 188). Dabei zeigt sich ähnlich wie in einer Studie von Kepplinger (2010a), dass diese antizipatorischen Medieneffekte weitaus prävalenter zu sein scheinen als Effekte, die als Reaktion auf Medienberichterstattung erfolgen (Davis, 2007, S. 188). Kepplinger (2010a) legt mit seiner Untersuchung zur Rolle von Medien in Entscheidungen von 151 umsatzstarken Unternehmen aus den Branchen Maschinenbau, Chemie und Nahrungsmittelindustrie eine der wenigen Studien42 abseits des politischen Bereiches vor. Auch hier steht am Ende die Schlussfolgerung, dass allein die Erwartung künftiger Berichterstattung einen substantiellen Einfluss auf die Entscheidungen der befragten Unternehmen haben kann (Kepplinger, 2010a, S. 196). In der schriftlichen Befragung gaben nur 7 % der befragten Unternehmensvertreter an, dass die potenziellen Reaktionen der Medien bei Entscheidungen des Unternehmens keine Rolle spielten; wohingegen knapp die Hälfte versuchte, sie so weit wie möglich zu berücksichtigen, ohne am Kern der Entscheidung etwas zu ändern. Weitere 27 % waren sogar der Ansicht, dass sie hin und wieder auch am Kern der Entscheidungen etwas ändern (ähnliche Befunde erzielten Kunelius & Reunanen, 2012, S. 68 für Entscheidungsakteure aus drei Politiknetzwerken in Finnland). Einschränkend muss für Kepplingers Untersuchung jedoch berücksichtigt werden, dass in der Studie die Kommunikationsverantwortlichen befragt wurden, die in der Regel nicht diejenigen Personen sind, die diese Unternehmensentscheidungen treffen (z. B. Standortentscheidungen, Entscheidungen zur Unternehmenserweiterung/-fusion/-verkleinerung). Eine Studie, die als Evidenz für das Zusammenwirken beider Mechanismen herangezogen werden kann, ist die qualitative Fallanalyse von Melenhorst (2015) zur einer Gesetzesänderung in den Niederlanden im Jahr 2013.43 Sie konkludierte 42 Ergänzende Hinweise zur Studie von Kepplinger (2010a): Durchgeführt Anfang 2001; Grundgesamtheit waren die jeweils die 100 umsatzstärksten Unternehmen in den drei Branchen, Rücklauf betrug mit N = 151 gut 50 % und die Eigenschaften der Stichprobe entsprächen laut Autor denen der Grundgesamtheit, sodass annähernd von Repräsentativität ausgegangen werden kann (Kepplinger, 2010a, S. 193). 43 Anlage der Studie von Melenhorst (2015): qualitative Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung (Print, TV, Radio; zwei Wochen vor der ersten Beratung des Gesetzes 73
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basierend auf ihrer Nabelschau: „MPs seem to anticipate media coverage mainly when it comes to the actual votes, because they know that this is the moment journalists might pay attention to the bill. (…)Because it was not in line with public opinion, parties that were hesitant realized that not supporting the bill could lead to unfavorable media coverage and ultimately public and political damage“ (Hervorhebung durch CV), was letztendlich dazu führen konnte, dass die Abgeordneten im Zweifel entgegen ihrer ursprünglichen Position votierten (Melenhorst, 2015, S. 309). Neben medieninduzierten Einflüssen auf die Entscheidungsagenda und das Ergebnis des Kernentscheidungsprozesses, kann man auch Einflüsse auf dessen nachträgliche Bewertung betrachten. Diese Perspektive wurde jedoch äußerst selten eingenommen. Mit dem Ziel, den wahrgenommenen Einflusses der Medien nach verschiedenen Phasen zu differenzieren, haben Studien von Linsky (1986, S. 138) und Fawzi (2014, S. 254; Fawzi, 2018, S. 1143) diesen Aspekt beleuchtet. Beide zeigen, dass in der Evaluationsphase am Ende eines politischen Entscheidungsprozesses der wahrgenommene Einfluss der Medien als vergleichsweise hoch erachtet wurde (jeweils relativ zu den anderen Phasen). Die aktuelleren Befunde von Fawzi (2014, S. 254) im deutschen Setting (verschiedene Akteursgruppen im Bereich Energiepolitik, N = 338) offenbaren, dass die Mehrheit der Befragten (58 %) den Eindruck hatte, dass die Medienberichterstattung nicht nur relevant in der Frage ist, ob ein Thema als abgeschlossen erachtet oder weiter bearbeitet wird, sondern auch, wie das Ergebnis des Entscheidungsprozesses in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird (93 %) und wer als Gewinner und Verlierer gesehen wird (94 %).
2.3.2.2.4 Folgen für den Kernentscheidungsprozess Die im vorherigen Kapitel aufgezeigten komplexen Wirkmechanismen deuten darauf hin, dass Medien nicht nur auf die Ergebnisse der Entscheidungsprozesse einen Einfluss haben, sondern auch darauf, wie Entscheidungen von gesellschaftlicher Relevanz im Kern getroffen werden. In diesem Zusammenhang geben verschiedene Studien Aufschluss, die über qualitative und einige wenige quantitative Befragungen versucht haben, sich diesem Kernentscheidungsprozess, der gewöhnlich hinter verschlossenen Türen stattfindet, zu nähern: Da viele Entscheidungen über Verhandlungen zwischen gesellschaftlichen Funktionseliten getroffen werden, haben
im Parlament und zwei Wochen nach Veröffentlichung des Gesetzes 2011–2012) und parlamentarischer Dokumente, die im Zusammenhang mit dem Gesetzesvorhaben veröffentlicht wurden. Darüber hinaus Tiefeninterviews mit Politikern (n = 15; Abgeordnete, Minister, und hochrangige Verwaltungsangehörige) und Journalisten (n = 9 bei Print, Radio, TV), die im Zusammenhang mit dem Thema aktiv waren (Melenhorst, 2015, S. 299).
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sich Spörer-Wagner und Marcinkowski (2010) Verhandlungsakteure und ihren Umgang mit der Medienöffentlichkeit näher angesehen. Basierend auf qualitativen Interviews mit 32 Akteuren aus drei verschiedenen Verhandlungszusammenhängen zwischen 2002 und 200544 kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die Kompromissfindung zwischen den Verhandlungsakteuren zwar nicht unmittelbar gestört wurde, aber bestehende Konflikte mindestens reflektiert, wenn nicht sogar verstärkt wurden. Denn die zunehmende Ausbreitung und durchdringende Kraft der Medienöffentlichkeit (wie sie sich etwa in hohem Berichterstattungsvolumen und einer hohen Präsenz von Journalisten am Verhandlungsort äußerte) und deren Inkompatibilität mit der Verhandlungsarena setzte die Beteiligten zunehmend unter Druck. In der Folge zeigten sich wiederholt Fehler und Mängel im Umgang mit der Medienöffentlichkeit – etwa (unbeabsichtigte) Indiskretion, unprofessionelles Nachrichtenmanagement und unkoordinierte Stellungnahmen –, die letztendlich bei den Verhandlungsakteuren zusätzliche Kapazitäten gebunden haben, d. h. es mussten zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden, um den Schaden aus den Kommunikationsfehlern gering zu halten (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Deutlicher fällt in diesem Zusammenhang das Urteil der Gesundheitspolitiker aus. Sie empfanden die mediale und öffentliche Beobachtung im Zusammenhang mit ihrer Arbeit an der Gesundheitsreform als störend für die Kompromissfindung (Baugut & Grundler, 2009, S. 347). Als ursächlich hierfür wurden Aspekte ausgemacht, die bereits bei Spörer-Wagner und Marcinkowski (2010) angeklungen sind: Es wurde Handlungsdruck erzeugt – und zwar sollten sich die Entscheider öffentlich äußern und positionieren (Baugut & Grundler, 2009, S. 271). Dies wurde als belastend wahrgenommen, da es keine adäquate Reaktion auf diese Ansprüche zu geben schien: Äußerte man sich nicht, dann bedienten sich die Journalisten umfangreicher Spekulationen auf Basis von Informationen, auf die man keinerlei Einfluss gehabt hatte – d. h. man verzichtete auf die Chance, die eigenen Deutungen zu etablieren. Je weniger beide Seiten im Konflikt preisgaben, desto schwieriger wurde es zugleich für die Journalisten, eine solide Informationsbasis aufzubauen. Da die Medienschaffenden – bedingt durch ökonomischen Druck – aber berichten mussten (so zumindest ihr Eindruck), stieg die Gefahr von Falschmeldungen (vgl. hierzu Baugut & Grundler, 2009, S. 344). Äußerten sich die Entscheider jedoch vorschnell zum Verhandlungsgeschehen hinter verschlossenen Türen, dann 44 Anlage der Studie von Spörer-Wagner und Marcinkowski (2010): Untersuchte Verhandlungsinstanzen waren die Rürüp-Kommission, der Vermittlungsausschuss zur Hartz-Gesetzgebung sowie der Koalitionsausschuss der rot-grünen Bundesregierung 2002–2005, der sich vorwiegend mit sozial- und arbeitsmarktpolitischen Fragen beschäftigte, sodass er als eine Verhandlungsinstanz begriffen wurde (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 22). 75
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konnten sie von dieser Position eigentlich nicht mehr abweichen ohne dass ein Gesichtsverlust drohte, d. h. man hatte gewissermaßen eine Pfadabhängigkeit für das weitere Geschehen geschaffen (Baugut & Grundler, 2009, S. 271). Insbesondere dann, wenn es zum Standard wird, sich stets zu allem zu äußern und dem Druck schnell nachzugeben und sich zu positionieren, kann mitunter die Erwartungshaltung geprägt werden, dass man als Entscheidungsakteur stets bereit sein muss und sich stets zu allen Belangen äußern muss – unabhängig davon, ob man tatsächlich eine Meinung oder Position zu einer Sachlage hat – so zeigten es Befunde aus Interviews mit Politikern aus der Schweiz (Landerer, 2015, S. 267). All das hat wiederum Rückwirkungen auf das Geschehen hinter verschlossenen Türen – und hier geht die Studie von Baugut und Grundler (2009) im Erkenntnisgewinn über die von Spörer-Wagner und Marcinkowski (2010) hinaus, weil letztere primär die öffentlichkeitsbezogenen Strategien berücksichtigte, aber kaum danach fragte, was eigentlich hinter verschlossenen Türen passierte. Wie sehen diese Rückwirkungen auf das Verhandlungsgeschehen nun aus? Da man unter der Bedingung unvollständiger Information agiert, kann jegliche Form der Berichterstattung – also auch die Spekulationen der Journalisten, die potenziellen Falschmeldungen oder vorschnelle öffentliche Äußerungen eines Verhandlungsbeteiligten – eine spezifische Eigendynamik am Verhandlungstisch auslösen (vgl. hierzu auch die Befunde von Sellers, 2010, S. 210). Diese Eigendynamik entsteht, weil die berichteten Informationen als Input für die strategische Planung dienen. Schließlich weiß man nie, was das Gegenüber tatsächlich denkt, ob er nicht doch etwas zu Journalisten gesagt hat und was das war. Schließlich finden sich auch in den eigenen Reihen unterschiedliche Positionen, von denen man mitunter nicht unbedingt weiß, wie sie sich verteilen oder wie mächtig einzelne Positionen sind. Auch in dieser Innenperspektive herrscht also Unsicherheit (Baugut & Grundler, 2009, S. 268–269). Die Informationen, die über die öffentliche und mediale Kommunikation verbreitet werden, können im Lichte dieser Unsicherheit und Unwissenheit als Anhaltspunkte dienen: So gaben die befragten Akteure aus der Energiepolitik beispielweise mit deutlicher Mehrheit an, dass sie die Berichterstattung über energiepolitische Themen dazu nutzen, um sich über den Verlauf von Verhandlungen, also den Entscheidungsprozess, und die Strategien und Interessen anderer Akteure in dem Themenfeld zu informieren (Fawzi, 2014, S. 202). Insbesondere der informelle Austausch mit Journalisten, wie er bereits in Kapitel 2.3.2.1 aufgezeigt wurde, ist auch als solche strategisch relevante Informationen zu werten: Ein substantieller Teil der Landtagsabgeordneten in der Studie von Kepplinger und Marx (2008, S. 192; N = 568) sowie die Mehrheit der finnischen Entscheider aus drei Politiknetzwerken in der Studie von Reunanen und Kollegen (2010, S. 297; N = 419) stützen die Einsicht, zu der auch Davis (2007, S. 190) im Zuge der 46 semi-strukturierten Interviews
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mit britischen Parlamentariern gelangt: „They read and talked to key journalists with a view to finding out what other politicians thought, the general mood of the political parties, and even what issues and policy options should be put forward.“ Demnach prägt dieser strategisch relevante Input letzthin auch das Handeln in der Kernentscheidungsarena. Ein Beispiel für eine solche Dynamik, die durch Berichterstattung ausgelöst wird, lieferte ein Politiker in der Studie von Baugut und Grundler (2009): „Die Medien haben die Kompromissfindung erschwert und haben sie vor allen Dingen auch in eine Richtung gelenkt, weil immer wenn stand ‚X oder Y wird benachteiligt‘, gab es einen Aufschrei und dann musste da auch nochmal nachgebessert werden“ (Baugut & Grundler, 2009, S. 269). Als Ursache dafür, dass mediale Berichterstattung im Kontext der Gesundheitsreform den oftmals eher negativ konnotierten Handlungsdruck erzeugt hat, wurde die Tatsache gesehen, dass der übermäßige Fokus auf Streit in der Berichterstattung die bestehenden Konfliktlinien eher verstärkt, denn dazu beigetragen hat, sie zu lösen (Baugut & Grundler, 2009, S. 347). Ähnliche Muster ergaben sich bereits im Rahmen der drei Verhandlungsinstanzen aus der Studie von Spörer-Wagner und Marcinkowski (2010). Statt also einen seriösen und sachlichen Diskurs zu ermöglichen, inszeniere, überspitze und emotionalisiere die mediale Darstellung den Konflikt, sodass der Blick vom Wesentlichen abgelenkt werde (Baugut & Grundler, 2009, S. 269; Reunanen et al., 2010, S. 302). Dieser medieninduzierte Verstärkungsmechanismus von Konflikten gilt als einer der Ursachen dafür, warum politische Akteure es als idealtypisch erachten, erst nach Abschluss des Entscheidungsprozesses öffentlich zu kommunizieren (Baugut & Grundler, 2009, S. 342; Reunanen et al., 2010, S. 301). Insbesondere die Ergebnisse der quantitativen Befragung von finnischen Entscheidungsträgern (N = 419) aus drei Politiknetzwerken im Jahr 2009 (Kunelius & Reunanen, 2012; Reunanen et al., 2010) können uns dabei weiter helfen, die Dynamiken besser zu verstehen, die medial vermittelte und öffentliche Kommunikation im Verhandlungsgeschehen auslösen können – insbesondere deshalb, weil hier nicht nur negative Folgen, sondern auch positiv-verstärkende Effekte aufgezeigt wurden (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 66): Während positive Berichterstattung zwar als Rückenwind für die eigene Arbeit wahrgenommen wurde, konnte ein negativer Tenor in der Mediendarstellung keine vergleichbar bremsende Wirkung erzielen.45
45 Einordnend soll hier angeführt werden, dass die abgefragten Einzelitems in ihren Zustimmungswerten stark schwankten und zwar abhängig davon, ob die Effekte positiv vs. negativ geframed abgefragt wurden. Dies lässt darauf schließen, dass beim Antwortverhalten der finnischen Entscheider soziale Erwünschtheit eine Rolle gespielt hat (ähnliches zeigt Fawzi, 2014, S. 220 in ihrer Studie, als gefragt wurde, ob man Medien 77
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Diese Perspektive auf Medienberichterstattung als Stütze zeigte sich auch darin, dass mediale und öffentliche Aufmerksamkeit neben Aspekten wie der eigenen Expertise, der eigenen politischen Performanz und dem Netzwerk als wichtige Machtquelle wahrgenommen wurde (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 68; Reunanen et al., 2010, S. 294). Wie man sich diese Wirkung als Machtquelle vorstellen kann, dazu sind Befunde aus verschiedenen Befragungsstudien aufschlussreich: Medienaufmerksamkeit für die eigene Person oder die eigenen Aktivitäten vermag den Einfluss im politischen Prozess zu steigern (Reunanen et al., 2010, S. 302), indem sie beispielweise in Ausschüssen eher gehört werden, in Verhandlungen eine wichtigere Rolle spielen und bei der Verteilung von Mitteln stärker berücksichtigt werden (Fawzi, 2014, S. 258). Jeweils noch knapp die Hälfte der befragten Funktionseliten aus Finnland hatte darüber hinaus den Eindruck, dass Medienaufmerksamkeit den Handlungsdruck erhöhen konnte, aber so eben auch dazu beitragen konnte, dass die eigenen Vorhaben Fortschritte machten. Diese positive Konnotation von Druck kann durch einen weiteren Befund von Baugut und Grundler (2009, S. 273) ergänzt werden: Die Politiker aus dem Themenfeld Gesundheitsreform nahmen ihn nicht nur als belastend, sondern je nach Situation auch als lösendes Moment in verfahrenen Situationen wahr. Wenn keiner mehr auf den anderen zugehen wollte, dann konnte medial erzeugter öffentlicher Druck auch dazu beitragen, dass überhaupt eine Einigung erzielt wurde. Alternativ kann auch eine Beschleunigung im Einigungsprozess das Resultat sein (Linsky, 1986, S. 107; Pfetsch, 1993, S. 97), wobei unklar ist, ob das positiv oder negativ zu werten ist. Vor allem dann nämlich, wenn erhöhtes Tempo die inhaltliche Qualität der Entscheidungen zu beeinträchtigen drohte, fällt die Bewertung eher negativ aus (Pfetsch, 1993, S. 97). Es zeigten sich demnach differenzierte Dynamiken, die durch mediale und öffentliche Kommunikation am Verhandlungstisch ausgelöst werden können. Diese münden nicht zwangsläufig in einer Abwärtsspirale, selbst dann nicht, wenn die Medien intensiv und kontrovers berichten, wie es die Befunde von Fawzi (2014, S. 249) aufzeigen: Die Befragten aus der Energiepolitik (N = 338) erwarteten zwar mehrheitlich, dass diese Art der Berichterstattung – intensiv und kontrovers – Folgen für die Kompromissbereitschaft (73 %), die Dauer des Einigungsprozesses (69 %) und das Klima am Verhandlungstisch (87 %) haben wird. Ob diese Folgen aber positiv oder negativ zu werten sind, da spalteten sich die Meinungen: Während für das Klima noch mehrheitlich negative Folgen erwartet wurden (65 % negative und 21 % positive Folgen), waren jeweils die Lager, die positive vs. negative Folgen selbst als strategisches Mittel einsetzt oder ob die Befragten den Eindruck hatten, dass andere das tun).
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bei der Dauer des Einigungsprozesses erwarteten (41 % negative und 29 % positive Folgen) und mehr noch bei der Bereitschaft zur Kompromissfindung (39 % negative 35 % positive Folgen) in ihrer Größe vergleichbar. In ihrer abschließenden Betrachtung kommen Kunelius und Reunanen zu dem Schluss, dass auf Basis ihrer Erkenntnisse ein Großteil der finnischen Entscheider als medialisiert gelten kann, denn sie nahmen mediale und öffentliche Aufmerksamkeit nicht nur als wichtige Machtquelle wahr, sondern schrieben ihnen auch (zumindest moderate) Einflüsse auf ihr Handeln zu (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 68). Im Überblick über verschiedene Funktionseliten in den untersuchten Politiknetzwerken zeigte sich dieses Muster insbesondere unter Gewerkschaftsvertretern, Politikern und Aktivisten. Weniger ausgeprägt war es dagegen unter Vertretern der Justiz und der Wirtschaft (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 69). Ähnlich konkludiert auch Fawzi (2014, S. 293) „Medien machen in der Tat Politik“ – und zwar auch abseits von aufgeregten Wahlkampfphasen und trotz der Tatsache, dass Entscheiden weiterhin abseits der öffentlichen Beobachtung stattfinde. Daher müssen aus ihrer Sicht Journalisten als eigenständige und einflussreiche politische Akteure in der politischen Entscheidungsfindung begriffen werden (Fawzi, 2014, S. 305). Die qualitative Teilstudie zu den Politiknetzwerken in Finnland (N = 60 Interviews Ende 2007 bis Anfang 2008, vgl. Kunelius & Reunanen, 2012, S. 61) veranschaulichte überdies einen weiteren, mitunter sehr zentralen Aspekt: Ähnlich wie die Verhandlungsakteure in Deutschland (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010) sahen die Entscheidungsträger aus den verschiedenen themenbezogenen Politiknetzwerken in Finnland die Medienöffentlichkeit tatsächlich auch als Plattform für strategische Optionen (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 67; das bestätigen auch die Befunde von Borucki, 2014, S. 340; Davis, 2007, S. 189; Fawzi, 2014, S. 220; Landerer, 2015, S. 266; Sellers, 2010, S. 208; Gilboa, 2000 identifizierte auf Basis seiner Beobachtungen zum Umgang mit Medien in internationalen Verhandlungen sechs Strategien und drei davon waren explizit darauf ausgerichtet, sich das Wirkpotential der Medien für die eigenen Ziele zu Nutze zu machen). Konkret werde versucht, sich über eine geschickte öffentliche Themensetzung und über die Etablierung von vorteilhaften Deutungen einen Vorteil gegenüber dem Gegner zu verschaffen (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 67; Sellers, 2010, S. 208–210). Insbesondere der vermeintlich unterlegene Akteur im politischen Entscheidungsprozess scheint die Medienöffentlichkeit eher als eine solche strategische Option zu begreifen (Davis, 2007, S. 189) – schlicht deshalb, weil es ihm an alternativen Mitteln fehle, um seinen Einfluss gegenüber dem vermeintlichen überlegenen Gegner geltend zu machen. Als eine besonders kontrovers bewertete, aber dennoch immer häufiger eingesetzte Maßnahme, um den medialen und öffentlichen Diskurs für die eigenen Vorhaben zu instrumentalisieren, erweist sich das Leaking von Informationen 79
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(Baugut & Grundler, 2009, S. 342; Borucki, 2014, S. 12; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Dabei werden punktuell gezielt vertrauliche Informationen aus der nicht-öffentlichen Kernentscheidungsarena publik gemacht, um öffentliche Unterstützung zu generieren oder eine bestimmte Sichtweise auf die Dinge in der Öffentlichkeit zu etablieren (Linsky, 1986, S. 238). Als Folge daraus werde der einstige Arkanbereich gesellschaftlicher Entscheidungsfindung zunehmend durchlässiger und transparenter (Borucki, 2014, S. 12). Dies wurde vor allem deshalb auch als Problem gesehen (Linsky, 1986, S. 238), weil es zur Verhärtung der Fronten führen kann (Baugut & Grundler, 2009, S. 270). Wird eine Position oder Information aus dem Verhandlungsgeschehen nämlich erst einmal öffentlich, dann ist derjenige, den es betrifft im Zugzwang, sich zu positionieren – und weil er das öffentlich tut, wird es sehr schwierig, davon zu einem späteren Zeitpunkt wieder abzurücken. Leaking bzw. Indiskretionen seien aber nicht nur das Resultat eines entscheidungsstrategischen Kalküls, sondern könnten auch eingesetzt werden, weil sich die individuellen Akteure (mitunter auch auf Kosten des Gegners) profilieren wollten, um mitunter sogar ganz individuelle karrieristische Ziele zu verfolgen (Baugut & Grundler, 2009, S. 294; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Schließlich zeigten einige Studienergebnisse noch auf, wie Indiskretionen auch im Beziehungsspiel mit den Medien strategisch eingesetzt werden: Aus Angst vor Spekulationen und negativer medialer Resonanz, wenn man sich vollkommen abschottet, versuchen Entscheidungsakteure gezielt vermeintlich exklusive Informationen zu platzieren, um im Zusammenspiel mit den Medien eine wohlwollende Stimmung aufrecht zu erhalten (Baugut & Grundler, 2009, S. 294; Linsky, 1986, S. 239). In der Summe sprechen die zuvor dargelegten Befunde zu Medialisierungsfolgen auf den Kernentscheidungsprozess dafür, dass analog zum Ergebnis des Kernentscheidungsprozesses eben auch die Art und die Qualität der Debatte und Interaktion zwischen den Entscheidungsbeteiligten verändert und im schlimmsten Fall beeinträchtigt wird. Hierzu lassen sich weitere Befunde ergänzen, die diesen Eindruck aus der bisherigen Forschung stützen: In einem einmaligen Design liefern Meade und Stasavage (2006) eindrückliche Belege dafür, welche Folgen das Bewusstsein um öffentliche Beobachtung für die deliberative Qualität des Diskurses in eigentlich nicht-öffentlichen Verhandlungsinstanzen haben kann. Sie analysierten die Redetranskripte des Federal Reserve’s Federal Open Market Committee (FOMC) in den USA, das bis 1993 geheim tagte. Nach 1993 wurde beschlossen, die aktuellen Transkripte mit einer Verzögerung von fünf Jahren zu veröffentlichen und alle vor 1993 entstandenen Transkripte wurden ebenfalls öffentlich zugänglich gemacht. Es war den Forschern folglich möglich, den Diskurs im Gremium dahingehend zu vergleichen, ob es einen Unterschied machte, dass die Beteiligten über eine potenzielle Veröffentlichung des Gesagten wussten (nach 1993) oder nicht (vor
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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1993). Es zeigte sich, dass die Beteiligten nach der Transparenzoffensive, also unter Bewusstsein potenzieller öffentlicher Beobachtung, signifikant weniger kritische Positionen gegenüber hochrangigen oder machtvollen Personen im Gremium äußerten und im Laufe des Prozesses seltener ihre Meinung änderten, d. h. seltener von ihrer eingangs geäußerten Position abwichen (Meade & Stasavage, 2006, S. 130). Das ist insofern beeindruckend, weil potenzielle Sanktionen aus der Öffentlichkeit oder den eigenen Anspruchsgruppen ja nicht direkt, sondern frühestens in fünf Jahren zu erwarten gewesen wären. Die zunehmende Indiskretion erhöhe genau dieses Risiko der öffentlichen Beobachtbarkeit, was sich auch in der inhaltlichen Debatte in Kernentscheidungsprozessen bemerkbar mache: So berichteten die Gesundheitspolitiker in der Studie von Baugut und Grundler (2009, S. 277) etwa von einer sinkenden Qualität der sachlichen Auseinandersetzung, stattdessen würden „Schaufensterreden“ geführt (das bestätigen auch die Befunde von Fawzi, 2014, S. 269–270). Selbst Sitzungen hoher Parteigremien und Fraktionssitzungen hätten aufgrund von zunehmenden Indiskretionen inzwischen einen quasi-öffentlichen Charakter, was dazu führe, dass man sich öffentlichkeitskonform verhalte und von interner Kritik absehe (Baugut & Grundler, 2009, S. 314). Welche Aspekte der Debatte sich konkret verändern, dazu kann zusätzlich die Studie von Melenhorst (2015) herangezogen werden, wo der öffentlich stattfindende Gesetzgebungsprozess in Zusammenspiel mit der Medienaufmerksamkeit und -darstellung in einem spezifischen Case (gesetzliche Regulierung der Besoldung von hohen Angestellten im öffentlichen Dienst in den Niederlanden) betrachtet wurde. Es zeigte sich, dass insbesondere parlamentarische Anfragen mehr oder minder eine unmittelbare Reaktion auf Medienberichterstattung darstellten und oftmals wurde sogar direkt auf Medienberichte Bezug genommen (z. B. war die erste Frage im Rahmen der parlamentarischen Fragestunden mit der Regierung oft die, ob die entsprechenden Beiträge in den Medien rezipiert wurden und was sie dazu zu sagen haben; vgl. Melenhorst, 2015, S. 306). Tatsächliche Änderungsvorschläge mit Blick auf das Gesetzesvorhaben schienen dagegen keine Reaktion auf Medienberichterstattung zu sein (Indiz hierfür: deutlich substanziellere und sachbezogene Argumente). Ursächlich hierfür sei laut Interpretation der Autorin, dass die Änderungsvorschläge auf einem anderen Generalisierungslevel anzusiedeln sind. Sie spiegeln eher den größeren Verlauf einer Debatte wieder, sodass der Bezug zur tagesaktuellen Berichterstattung nicht unmittelbar gegeben sei (allerdings müsse an der Stelle bedacht werden, dass der größere Verlauf der Debatte durch die erstgenannten parlamentarischen Anfragen mitgeprägt werde, vgl. Melenhorst, 2015, S. 307–308). Demnach zeigt sich vor allem ein Einfluss der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit auf diejenigen Aspekte des Kernentscheidungsprozesses, die in ihrer zeitlichen Entwicklung und ihrem inhaltlichen Tiefegrad mit 81
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
der aktuellen Berichterstattung korrespondieren. Übergreifende Diskurse wurden dagegen weniger, bzw. wenn dann kumulativ beeinflusst.
2.3.2.2.5 Folgen für das Verhältnis von Entscheidungsherstellung zu -darstellung In der Debatte, ob die medien- und öffentlichkeitsbezogenen Aktivitäten der Entscheidungsträger zu Lasten ihres inhaltich-substanziellen Kernentscheidungshandelns – beispielweise bei Politikern im Parlament – gehen, finden sich Hinweise darauf, dass dies nicht der Fall ist: In einer Untersuchung von israelischen Abgeordneten46 (Jonathan Cohen et al., 2008) zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen den Medienaktivitäten der Abgeordneten (wie sie von Journalisten eingeschätzt wurden) und ihren parlamentarischen Aktivitäten (Zahl der eingebrachten Gesetzänderungen, Beteiligung an Abstimmungen, Anwesenheit in Tagen, Zahl der Plenumsansprachen, etc.). Diese Ergebnisse sprechen demnach dafür, dass sich kommunikative Anstrengungen und politisch-substanzielle Aktivitäten wechselseitig begünstigen könnten. Blickt man auf den Status Quo, also die Frage wie bedeutsam und vereinnahmend die Aktivitäten in diesen beiden Sphären relativ zueinander sind, so sprechen Befunde aus verschiedenen Bereichen dafür, dass beide derzeit gleichauf liegen: Den Vertretern von Wirtschaftsverbänden (N = 144) in der Studie von Schütte (2010, S. 173) war es genauso wichtig, positive Medienresonanz zu erzeugen wie ihre Interessen in Entscheidungsprozesse einzubringen. Die Bundestags- und Landtagsabgeordneten (N = 431) in der Studie von Pontzen (2006, S. 87) gaben zum Befragungszeitpunkt 2005 an, dass sich der Zeitaufwand mit 51 % auf die Herstellungs- und mit 49 % auf die Darstellungspolitik verteile. Ergänzt man diese Befunde jedoch um Erkenntnisse zu den Entwicklungstrends in diesem Bereich, so kommt man zu der Einsicht, dass die Befürchtungen um Kompensationseffekte zwischen dem darstellerisch-motivierten öffentlichen Handeln und dem inhaltlich-substanziellen Kernentscheidungshandeln doch nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Die qualitativen Ergebnisse aus der Studie zu den finnischen Entschei46 Anlage der Studie von Jonathan Cohen, Tsfati und Sheafer (2008): Feldzeit Frühjahr 2005; Befragung der Abgeordneten des israelischen Parlaments (N = 56; Rücklaufquote: 47 %); ergänzt um Daten zu ihren parlamentarischen Aktivitäten, einer Inhaltsanalyse von Medienbeiträgen in elektronischen Nachrichtenmedien, in denen die Abgeordneten erwähnt wurden, sowie einer Einschätzung von 20 Journalisten zu dem Medienverhalten der Abgeordneten. Die Zusammensetzung des Samples wich in einigen zentralen Punkten (z. B. waren Minister unterrepräsentiert) von der der Grundgesamtheit aller Abgeordneten im Knesset ab, sodass nicht von optimaler Repräsentativität der Befunde ausgegangen werden kann (Jonathan Cohen, Tsfati & Sheafer, 2008, S. 334–335).
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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dungsträgern von Kunelius und Reunanen (2012) deuteten diesen Aspekt zumindest an: Die interviewten Entscheider aus drei Politiknetzwerken räumten ein, dass es durchaus Mühe koste, der Öffentlichkeit wie einer gefährlichen Versuchung zu widerstehen und sich stattdessen auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 65). Deutlicher sind die Ergebnisse von Pontzen (2006, S. 88, 111–112), Borucki (2014, S. 337) und Fawzi (2014, S. 261, 301), wo die befragten Akteure allesamt angaben, dass sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Sphären deutlich zugunsten der Darstellungsebene und zulasten der Aktivitäten in der Kernentscheidungsarena entwickelt habe. Besonders eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse aus der Langzeitbetrachtung (1949–1994) von Kepplinger (2002). Er zog verschiedene Indikatoren zum substanziellen Entscheiden im deutschen Bundestag heran (Zahl der parlamentarischen Sitzungen, Zahl der verabschiedeten Gesetze; Zeit, die zur Diskussion von Gesetzen aufgewendet wurde) und stellte sie verschiedenen Aktivitäten der Abgeordneten gegenüber, die seiner Einschätzung nach primär der öffentlichen Information und Darstellung dienten (große und kleine Anfragen, schriftliche Fragen und Fragestunden, aktuelle Stunden etc.). Während die entscheidungsbezogenen Aktivitäten seit 1949 auf einem relativ konstanten Level verharrten, waren die informations- und darstellungsbezogenen Aktivitäten stark angestiegen, was Kepplinger zu der Schlussfolgerung veranlasste, dass die Abgeordneten mehr und mehr auch im parlamentarischen Kontext Maßnahmen ergreifen, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und sich selbst darzustellen.
2.3.2.2.6 Randbedingungen von Medialisierungsfolgen Alles in allem lässt sich für die Medialisierungsfolgen auf die Inhalte und die Art der Entscheidungsfindung ein wenig einheitliches Bild zeichnen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass eine Vielzahl an Randbedingungen relevant zu sein scheint: Beispielweise sorgen rigide Strukturen wie sie in Form des Ressortprinzips in der Bundesregierung oder im Mehrebenensystem der EU auftauchen, dafür, dass Medialisierungsfolgen geringer ausfallen (Borucki, 2014, S. 341; C. O. Meyer, 2009). Ähnliches gilt für eine komplexe Materie und die Dominanz technokratischer Netzwerke47 (C. O. Meyer, 2009). Immunisierend gegen potenzielle Medieneinflüsse wirkt überdies die Stärke des Vertrauensbandes zwischen den verschiedenen Ak47 Damit sind Netzwerke und Zirkel in Entscheidungsprozessen gemeint, die vor allem fachbezogene Spezialisten und Experten versammeln und nicht aus gewählten Repräsentanten bestehen (Haring, 2010, S. 246). Solche Netzwerke gelten mitunter als schwer zugänglich und zugleich als nicht sehr außenorientiert (Haring, 2010, S. 249). 83
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
teuren in einem politischen Netzwerk (Reunanen et al., 2010, S. 293). Demgegenüber begünstigen mediale Aufmerksamkeit, insbesondere intensive Berichterstattung sowie öffentliche Kommunikation zu ein Thema potenzielle Medialisierungsfolgen (Seibt, 2014, S. 262). Auch Huber (2012, S. 283) berichtet davon, dass mediale Einflüsse im Kontext der EU-Politik vor allem bei außergewöhnlichen Ereignissen und hoher medialer Aufmerksamkeit (z. B. Gipfel) zu erwarten seien, nicht jedoch im Zuge der alltäglichen Routinepolitik, weil diese kaum mit den medialen Selektions- und Aufmerksamkeitskriterien korrespondiere. Mediale Aufmerksamkeit ist aber nicht nur in der unmittelbaren Kernentscheidungssituation, sondern auch auf einer generellen Ebene von Bedeutung: Es zeigt sich, dass die Macht von gesellschaftlichen Funktionseliten nicht nur von ihrer Kompetenz, ihrer Position, ihrem persönlichen Netzwerk und ihrem Organisationspotential (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 62), sondern zunehmend auch von Faktoren abhängt, die in der Medienöffentlichkeit von Bedeutung sind. Hier wurde beispielweise auf die öffentliche Resonanzfähigkeit bzw. die diskursive Macht oder auch die Prominenz von Akteuren verwiesen (Koch-Baumgarten, 2014, S. 188; Kunelius & Reunanen, 2012, S. 62; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 8; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 504). Denn die Aufmerksamkeit der Medien, die mit den genannten Aspekten einhergeht, kann beispielsweise dafür sorgen, dass andere einen für sehr einflussreich halten und einem viele Machtressourcen zuschreiben (Imageeffekte auf die zugeschriebene Macht; Kunelius & Reunanen, 2012, S. 64) und, dass die Akteure in der Folge sogar tatsächlich Vorteile in der Zuteilung von Machtressourcen erfahren (z. B. höhere Position auf Wahllisten, van Aelst, Maddens, Noppe & Fiers, 2008, S. 206). Das Risiko von Indiskretionen vergrößert sich mit der Zahl unterschiedlicher Positionen am Verhandlungstisch (Baugut & Grundler, 2009, S. 314). Schließlich zeigt sich auch, dass Entscheidungsakteure vor allem dann auf den öffentlichen Diskurs „reagieren“, wenn sie dem Thema, das gerade diskutiert wird, substantielle Relevanz für ihre Vorhaben beimessen (Green-Pedersen & Stubager, 2010), und wenn sie den Eindruck haben, dass die öffentliche Debatte relevant für ihre Interaktion mit ihren Anspruchsgruppen ist (z. B. zeigten sich Unterschiede im zugeschriebenen Einfluss medialer Kommunikation zwischen B2B und B2C-Unternehmen; vgl. Kepplinger, 2010a, S. 199). Darüber hinaus deuten verschiedene Befunde darauf hin, dass die Position, die ein Akteur im Machtgefüge des jeweiligen Entscheidungssystems innehat, relevant dafür ist, ob er empfänglich für potenzielle Medialisierungsfolgen ist. Landerer (2015, S. 272) zeigt in seiner Untersuchung zur Rolle der Medien in politischen Entscheidungsprozessen in der Schweiz eindrücklich auf, dass insbesondere Politiker (N = 50) von Parteien von den Rändern des politischen Spektrums deutlich medialisierter agierten als die aus der Mitte. Sie zeigten nämlich
2.3 Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses
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eine höhere Präferenz für radikale Positionen, sie verfolgten einen konfrontativeren Verhandlungsstil, mehr imagebezogene Ziele in ihren Medienaktivitäten, sie setzten mehr auf symbolisch-motivierte (statt inhaltlich-motivierte) Aktionen im Parlament und sie bedienten sich mehr inszenierter Medienaktionen, statt solche Mittel im Medienkontakt zu wählen, die primär auf die Informationsvermittlung an Journalisten abzielten (Landerer, 2015, S. 250). Vor allem in der Frage, ob sich Entscheidungsträger dafür entscheiden, die öffentliche Arena als strategisches Mittel einzusetzen, erwiesen sich das allgemeine Mobilisierungspotential in der Öffentlichkeit und das potenzielle Aufmerksamkeitspotential bei den Medien als relevant: Wenn ein Thema in der Öffentlichkeit auf Interesse stieß, nicht bereits als entschieden galt und die Medien zumindest rudimentäres Interesse signalisierten, dann versuchten die Akteure dieses mediale und öffentliche Interesse auch gezielt zu adressieren und ließen sich dabei von medienbezogenen Kalkülen leiten bzw. setzten gezielt auf medienbezogene Aktivitäten (Landerer, 2015, S. 272–273). Wenn sie diese Bestrebung, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und Unterstützung zu generieren, jedoch für ein aussichtsloses Unterfangen hielten, versuchten sie es gar nicht erst (Melenhorst, 2015, S. 309). Alles in allem können diese Randbedingungen in ihrer Wirkung wie intervenierende Variablen verstanden werden: Sie bedingen die medieninduzierten Einflüsse auf das Entscheidungshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass die zuvor angestellte Aufzählung alles andere als umfassend ist.
2.3.2.2.7 Medialisierungsfolgen auf der Mesoebene der Kernentscheidungsstrukturen Neben Erkenntnissen dazu, wie sich die Medienöffentlichkeit in den strategischen Überlegungen und dem Vorgehen der individuellen Verhandlungsakteure bemerkbar machte (Baugut & Grundler, 2009; Kunelius & Reunanen, 2012; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010), gelang es Spörer-Wagner und Marcinkowski (2010) überdies auch auf der Ebene der Strukturen von Kernentscheidungsprozessen (Mesoebene) Veränderungen auszumachen, die auf Medialisierung zurückgeführt werden können. In ihrer qualitativen Befragung von Verhandlungsakteuren im Kontext von drei politischen Verhandlungsinstanzen zeigt sich, dass explizit Maßnahmen ergriffen wurden, um das Druckmoment, das durch die Medienöffentlichkeit erzeugt wurde, zu reduzieren: So wurde im Laufe des Aushandlungsprozesses mehr und mehr davon abgesehen, Vorbereitungsmaterialien elektronisch zu versenden. Vielmehr bediente man sich der Ausgabe von Handouts vor Ort (diese konnten schlechter unautorisiert weitergegeben werden). Auch versuchte man Fehlentwicklungen – etwa ausgelöst durch Indiskretion – frühzeitig zu begegnen, 85
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
indem man im Zuge des Verhandlungsprozesses immer mehr dazu überging ad hoc Pressekonferenzen zu veranstalten und so über Erklärungen den weiteren Fortgang der Geschehnisse in seinem Sinne zu prägen, statt den anderen die Interpretation der Lage zu überlassen. Überdies wurde das Verhandlungsgeschehen auf mehrere Arbeitsgruppen aufgeteilt, die sich zur selben Zeit der Kompromisssuche in speziellen Teilbereichen widmen sollten. Dadurch konnte der öffentliche Druck, der auf der Hauptversammlung lastete, besser gestreut werden. Außerdem ließen sich im Verlauf des Verhandlungsprozesses mehr und mehr informelle Abstimmungen zwischen den Verhandlungsakteuren beobachten, die als zusätzlicher Rückzug von der öffentlichen Beobachtung interpretiert wurden (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Dieser (zunehmende) Rückzug ins Informelle findet sich auch in anderen Untersuchungen als strukturelle Lösung, um dem öffentlichen und medial vermittelten Druck zu entfliehen (Baugut & Grundler, 2009, S. 315; Borucki, 2014, S. 339; Gilboa, 2000; Reunanen et al., 2010, S. 303): Da die mediale Aufmerksamkeit während des Kernentscheidungsprozesses oftmals als störend empfunden wurde, wurde sowohl von den finnischen Entscheidungsträgern als auch den hochrangigen Politikern aus dem Themenfeld Gesundheitspolitik das Ideal kund getan, möglichst lange bar jeder öffentlicher Beobachtung zu verhandeln und erst dann vor die Öffentlichkeit zu treten, wenn es auch etwas zu verkünden gäbe (Baugut & Grundler, 2009, S. 342; Reunanen et al., 2010, S. 301–302). Dieser Wunsch wurde vor allem dadurch genährt, dass mit zunehmender medialer Aufmerksamkeit auch die Wahrscheinlichkeit von Indiskretionen anstieg, was als potenzielles Risiko – sowohl für die öffentliche Reputation als auch mit Blick auf den eigenen Verhandlungserfolg – erachtet wurde (Baugut & Grundler, 2009, S. 350). Der Wunsch nach einem sicheren Raum der Kompromisssuche abseits der Öffentlichkeit zeigt sich auch in den Befunden von Pontzen (2006, S. 104): Auf die Frage, ob Ausschusssitzungen künftig mit Bild und Ton übertragen werden sollten (derzeit finden sie in der Regel nicht-öffentlich statt), waren 50 % der 431 befragten MdBs und MdLs der Ansicht, dass das eher nachtteilig wäre – vor allem, weil eine Behinderung der Entscheidungsfindung (54 % stimmten dem zu) zu befürchten sei und die Wirkung auf das öffentliche Image ambivalent beurteilt wurde (Pontzen, 2006, S. 115). Auch für internationale Verhandlungen machte Gilboa (2000) die Beobachtung, dass die Akteure gezielt Strategien ergreifen, um die Medien als Störpotential außen vor zu lassen. Dass sich dieses Ideal – erst im Kern entscheiden, dann öffentlich sprechen – vor dem Hintergrund zunehmenden öffentlichen Drucks nicht immer aufrecht erhalten lässt, zeigt sich in der Studie zur Medialisierung der Regierungskommunikation (Borucki, 2014, S. 341): Hier galt ebenfalls die Regel, dass Kommunikation nach außen erst nach Beschluss erfolgen soll. Diese Regel wurde aber im Alltag, vor allem wenn der öffentliche Druck anstieg, immer wieder unterwandert.
2.4 Zusammenfassung des Forschungsstandes
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Während sich also in Summe verschiedene Mechanismen identifizieren lassen, die dazu dienen, sich von der Öffentlichkeit abzuschotten und so potenziellen Medialisierungsfolgen Einhalt zu gebieten, zeigt die vorhandene Forschung nur wenige Maßnahmen auf, die auf organisationaler und struktureller Ebene des Entscheidungsprozesses ergriffen werden, um dem Medialisierungsprozess beizugeben: In Fawzis (2014, S. 271) quantitativer Befragung der Akteure aus der Energiepolitik (N = 338) gab die Mehrheit an, dass Spitzenpositionen in den jeweiligen Organisationen präferiert mit mediencharismatischen Personen besetzt werden. Noch gut ein Drittel berichtete davon, dass auch die Dauer und Terminierung der Verhandlungen an die Produktionsroutinen der Medien angepasst werde. Zusammenfassend zeigt sich mit Blick auf das nicht-medienbezogene Kernentscheidungshandeln von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern, dass die zunehmende Notwendigkeit auf mediale Leistungen zurückzugreifen, um öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen und günstig zu beeinflussen, auch tatsächlich von den Beteiligten so empfunden wird. In den Wahrnehmungen deuten sich also erneut Medialisierungsfolgen an. Geht man dazu über, sich die konkreten Folgen für die Kernentscheidungsprozesse und die substanziellen Inhalte der Entscheidungen anzusehen, so fällt eine klare Konklusion schwer. Es gibt vielfältige, mitunter sehr invasive Folgen, die zugleich aber sehr subtil und indirekt entstehen und wirken. Man kann nicht negieren, dass medienbezogene und -induzierte Kalküle und Rationalitäten zunehmend auch wichtiger im Kernentscheiden von gesellschaftlichen Funktionseliten – insbesondere in der Politik – geworden sind. Aber inwiefern sich diese Erkenntnisse verallgemeinern lassen, das lässt sich kaum sagen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Ergebnisse hochgradig spezifisch mit Blick auf den situativen Kontext, die Akteurskonstellationen und den jeweiligen Gegenstand sind (vgl. für eine ausführlichere Zusammenfassung der Befunde das nächste Kapitel 2.4).
2.4
Zusammenfassung des Forschungsstandes
2.4
Zusammenfassung des Forschungsstandes
Ziel dieses Gesamtkapitels 2 war es, möglichst breit relevante Überlegungen, Konzepte und empirische Erkenntnisse zu der Frage zu sammeln, ob und wenn ja, welchen Einfluss Medien und öffentliche Aufmerksamkeit im Entscheidungshandeln von Funktionseliten haben können. Drei Ansatzpunkte boten sich dabei an: 1) Die Akteure selbst, also die Funktionseliten; 2) deren Entscheidungshandeln und 3) die Medien bzw. die öffentliche Sphäre. 87
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Mit Blick auf die ersten beiden Ansatzpunkte 1) Funktionseliten und 2) ihr Entscheidungshandeln zeigte sich, dass in diesem Zusammenhang kaum nennenswert über Medien und öffentliche Aufmerksamkeit nachgedacht wurde (vgl. Kapitel 2.1): Funktionseliten stehen zwar aufgrund ihrer Position an zentralen Schaltstellen der Gesellschaft oft im öffentlichen Rampenlicht und sind heute mehr denn je auf öffentlich generierte Legitimation angewiesen (M. Hartmann, 2004, S. 71–72; Keller, 1991, S. 97). Welche konkreten Auswirkungen daraus jedoch für ihr Handeln erwachsen, da bleiben die entsprechenden Forschungszweige der Elitenforschung und der Entscheidungsforschung weitestgehend eine Antwort schuldig. Das Kernentscheidungshandeln wird im Rahmen dieser Arbeit in Form von Verhandlungen modelliert (vgl. Kapitel 3.1). Aber auch hier, im Rahmen der Forschung zu Verhandlungen, wurden die Medien lediglich als technischer Übertragungskanal in den Blick genommen (Bazerman et al., 2000, S. 293; Thompson et al., 2010, S. 493). Massenmedial vermittelte Kommunikation und die Rolle von allgemeinen Debatten in der öffentlichen Sphäre blieben dagegen sowohl bei der Betrachtung der Funktionseliten als auch bei der Auseinandersetzung mit deren Entscheidungshandeln in Form von Entscheidungs- und Verhandlungstheorien weitestgehend außen vor. An dieser Stelle kann die Kommunikationswissenschaft Abhilfe schaffen – d. h. der dritte Ansatzpunkt über die Medien bzw. die öffentliche Sphäre ist vielversprechend (vgl. Kapitel 2.2): Insbesondere die politische Kommunikationsforschung hat das Verhältnis zwischen Medien bzw. Journalisten und Entscheidungsträgern (aus der Politik) in den Blick genommen (Brants et al., 2010, S. 28; T. E. Cook, 2006, S. 159; Davis, 2009, S. 205; Raupp, 2009, S. 268; Strömbäck, 2011a, S. 426). Dabei wurden zahl- und facettenreiche Erkenntnisse zur Beziehung zwischen (politischen) Entscheidungsträgern und Journalisten erzielt, die wiederum relevant sein können, wenn es darum geht, wie Entscheidungsträger massenmedial vermittelte und öffentliche Kommunikation verarbeiten und wie sich das in ihrem Entscheidungshandeln niederschlägt. Die Brücke zu solchen konkreten Folgen für das Entscheidungshandeln wurde aber in diesem Forschungszweig zur Beziehungsebene zwischen Journalisten und Politikern (sowie deren PR-Verantwortlichen) bislang nicht geschlagen. Auch die Frage, wie sich dieses Verhältnis auf der Mesoebene der Organisationen bemerkbar macht, bleibt unklar (Davis, 2009, S. 206; Kepplinger, 2008, S. 329; Raupp, 2009, S. 266; Strömbäck, 2011a, S. 426). Insofern erscheint der Blick auf das Verhältnis zwischen den Akteuren zu kurz zu greifen, da es diese zwei zentralen Aspekte des hier verfolgten Vorhabens – konkrete Folgen für das Entscheidungshandeln von Funktionseliten vor dem Hintergrund ihrer Eingebundenheit in organisationale Strukturen – nicht mit einbezieht. Hierzu lieferte vor allem die Medialisierungsperspektive differenziertere Antworten.
2.4 Zusammenfassung des Forschungsstandes
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Die Medialisierungsperspektive stellt den derzeit wohl umfassendsten Ansatz dar, um Medieneinflüsse auf gesellschaftliche Eliten zu beschreiben und zu erklären (vgl. Kapitel 2.3). Grundgedanke ist, dass Medien für verschiedene gesellschaftlichen Akteure – sei es aus Politik, Justiz oder Wirtschaft – zum relevanten und omnipräsenten Umweltfaktor werden (Donges, 2008, S. 217; Donges & Jarren, 2014, S. 188; F. Esser, 2013, S. 156; Marcinkowski, 2014, S. 6). Konkret bedeutet dies, dass medienbezogene Handlungsrationalitäten, -prinzipien und Regeln zunehmend auch in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen an Bedeutung gewinnen und dort das Handeln und Entscheiden der jeweiligen Akteure prägen, indem sie die dort vorherrschenden Regeln, Normen und Handlungsrationalitäten verändern, überlagern, ergänzen oder sogar ersetzen (F. Esser, 2013, S. 160–161; F. Esser & Matthes, 2013, S. 177; Marcinkowski, 2014, S. 6; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Da es sich bei Medialisierung um einen multidimensionalen, dynamischen Metaprozess handelt, ist eine Konkretisierung seiner verschiedenen Bestandteile und -sphären notwendig, um das hier verfolgte Vorhaben verorten und präzisieren zu können. Hierbei erwies sich die analytische Trennung in Voraussetzungen und Ursachen von Medialisierung, den Merkmalen des Medialisierungsprozesses und seinen Folgen (vgl. Abbildung 1; Marcinkowski, 2014, S. 12) als hilfreich: Ziel ist es in dieser Arbeit nämlich nicht, den langfristigen Prozess von Ursachen, über die Merkmale des Phänomens bis hin zu den Folgen nachzuzeichnen. Vielmehr geht es darum, das Ausmaß an Medialisierung (als ein Merkmal dieses Phänomens) im Sinne der Bedeutung von medien-induzierten und -bezogenen Handlungsrationalitäten im Entscheidungsverhalten von gesellschaftlichen Funktionseliten (als eine Folge aus dem Medialisierungsprozess) theoretisch-konzeptionell zu fassen und so empirisch bestimmbar zu machen (vgl. hellgrau unterlegter Bereich in Abbildung 1). Die Voraussetzungen und Ursachen werden dabei als gegeben angenommen, d. h. sie fungieren bei der hier verfolgten Modellierung als Ausgangspunkte (vgl. Kapitel 2.3.1). Zur Beschreibung dieser Ursachen erwies sich der Gedanke der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften als fruchtbar (Luhmann, 1977; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 75–79): Demzufolge kann angenommen werden, dass Medien als gesellschaftliches Teilsystem analog zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen wie der Politik oder der Wirtschaft eine spezifische Leistung für die Gemeinschaft erbringen – konkret: die Herstellung und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit. Damit die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme ihre spezifische Funktion in der Gesellschaft erfüllen können, sind sie auf die Leistungen anderer Teilsysteme angewiesen. So bedarf etwa die Politik öffentlich generierter Legitimation, um kollektiv verbindliche Entscheidungen herstellen und durchsetzen zu können. Akteure aus dem politischen System greifen daher auf die Leistungen des Mediensystems zurück (=Medialisierung) (Marcinkowski, 2014, 89
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
S. 18; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 79). Das Ausmaß an Medialisierung, d. h. das Ausmaß an Rückgriff auf die Leistungen des Mediensystems wird dabei zentral von zwei ursächlichen Faktoren geprägt: Warum und wie stark ist ein gesellschaftliches Teilsystem auf die Leistungen der Medien angewiesen? Diese zentrale Frage gilt es für die hier im Fokus stehenden Funktionseliten noch eingehender zu betrachten und auszuleuchten, um so die theoretische Grundlage für potenzielle Folgen im Entscheidungshandeln der Funktionseliten zu legen. Konkret muss dabei die Frage geklärt werden, mit welchen (Teil-)Öffentlichkeiten sich ein gesellschaftlicher Entscheidungsträger in welchem Kontext konfrontiert sieht und welche Rolle und Funktion die Medien in diesem Beziehungsgeflecht einnehmen. Dies soll tiefergehend in Kapitel 3.2 erarbeitet werden. In der Summe entstehen aus dieser Notwendigkeit nach öffentlicher Aufmerksamkeit und dem daraus resultierenden Rückgriff auf mediale Leistungen Folgen für das Handeln der Akteure in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (vgl. Kapitel 2.3.2). Der theoretisch-konzeptionelle sowie empirisch-analytische Forschungsstand zu diesen Folgen wurde nach zwei Bereichen differenziert betrachtet: Den Medialisierungsfolgen auf das kommunikative Handeln der Entscheidungsträger einerseits und ihr Kernentscheidungshandeln andererseits. Zieht man die in Kapitel 2.3.2.1.1 dargelegten Annahmen zu den Medialisierungsfolgen für das kommunikative Handeln der Entscheidungsträger heran und gleicht sie mit den Befunden ab, die empirische Forschung dazu hervorgebracht hat (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2 – 2.3.2.1.4), so ist Folgendes festzustellen: Es wurde grundlegend angenommen, dass die Medien zu einer (sehr) bedeutsamen Umweltbedingung für die Entscheidungsträger werden und sich daraus entsprechende Reaktionen im kommunikativen Handeln ergeben. Die Befunde deuten tatsächlich darauf hin, dass die Medien aus Sicht der Akteure zu einem überaus bedeutsamen Umweltfaktor geworden sind (vgl. Brants et al., 2010; Strömbäck, 2011a und Kapitel 2.3.2.1.2). Ob und wie die Entscheidungsträger auf diese Wahrnehmung jedoch im kommunikativen Handeln tatsächlich reagieren, dazu liefert die Forschung keine eindeutige Antwort. Es soll trotz der wenig eindeutigen Befundlage an dieser Stelle der Versuch gemacht werden, diese Ergebnisse zu den Medialisierungsfolgen auf die kommunikativen Handlungen der Entscheidungsträger zu systematisieren: Zunächst kann festgehalten werden, dass es wenige Indizien dafür gibt, dass die Kommunikationsaktivitäten pauschal zugenommen haben (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2). Vor allem die Bedeutung von traditionellen Massenmedien als Kommunikationskanal und der Einsatz von klassischen Instrumenten wie Pressemitteilungen und -konferenzen scheinen sogar zu sinken (vgl. z. B. Donges, 2008; Jentges et al., 2012). Zuwächse sind dagegen in den Aktivitäten im digitalen Bereich sowie der internen Kommunikation zu verzeichnen (vgl. z. B. Hoffjann & Gusko, 2014). Der Ausbau
2.4 Zusammenfassung des Forschungsstandes
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im digitalen Bereich spricht aber eher dafür, dass die Akteure hier versuchen, den Notwendigkeiten eines sich neu entwickelnden Mediums zu genügen, bzw. hier gewissermaßen mit der Innovation mitzuhalten. Lediglich die Kontakte zu Journalisten (die die traditionellen Maßnahmen Pressemitteilung und Pressekonferenz obsolet zu machen scheinen) haben deutlich an Bedeutung gewonnen (vgl. z. B. Borucki, 2014; Reunanen et al., 2010). Hier findet ein sehr regelmäßiger kooperativer Austausch statt. Daher muss das Bild einer „spiral of mediatization“ (Strömbäck, 2011a, S. 425) bzw. „spiral of mistrust“ (F. Esser & Matthes, 2013, S. 186) korrigiert werden: Dieses scheint vor allem in der vordergründigen, öffentlich dargestellten Beziehung zwischen Journalisten und politischen Akteuren bedeutsam, während im Hintergrund mehr und mehr Informalitätsnetzwerke (Borucki, 2014) entstehen. Vergleichsweise eindeutig sind dagegen die Indizien hinsichtlich der Medialisierung von Wahlkämpfen (vgl. z. B. Farrell & Webb, 2000 und Kapitel 2.3.2.1.3). Die politischen Akteure orientieren sich dabei stark daran, was von medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit goutiert wird. In der inhaltlichen Gestaltung von politischen Kommunikationsinhalten abseits des Werbens um Stimmen zeigen sich dagegen nur bedingt Medialisierungsfolgen: Die Entscheider nehmen zwar Anpassungen in der inhaltlichen Gestaltung ihrer Kommunikationsaktivitäten wahr (sie haben zum Beispiel den Eindruck, dass mehr inszeniert werde und dass die Verwendung eingängiger, plakativer Aussagen zugenommen habe; vgl. Sellers, 2010). Diese Veränderungen zeigen sich aber nicht oder nur vereinzelt, wenn man sich den tatsächlichen Kommunikationsoutput ansieht (vgl. z. B., Haßler et al., 2014). Hier sprechen aber vereinzelte Befunde dafür (vgl. Amsalem et al., 2017), dass diese Medialisierungsfolgen auf die Kommunikationsinhalte von verschiedenen Kontextfaktoren abhängig sind – beispielweise der Frage, ob Medienresonanz als Machtfaktor im jeweiligen System gilt. Der Blick auf strukturelle und organisationale Anpassungen (Mesoebene) zur Bewältigung der Kommunikationsaufgaben (vgl. Kapitel 2.3.2.1.4) zeichnet zwar ebenfalls ein schattenfrohes Gemälde, wobei hier der Eindruck etwas stärker dahin geht, dass es an vielen Stellen entsprechende Anpassungseffekte gibt (z. B. hinsichtlich der personellen Ressourcenausstattung der PR-Abteilungen sowie ihrer Professionalisierung, vgl. z. B., Bentele & Seidenglanz, 2010; Pontzen, 2006). Hier lässt sich ebenfalls die Schlussfolgerung ziehen, dass die Berücksichtigung von Kontextfaktoren wie etwa der Bereich, indem die jeweilige Organisation aktiv ist, zum weiteren Verständnis, wann und unter welchen Umständen Medialisierungsfolgen in der organisationalen und strukturellen Bewältigung von Kommunikationsaufgaben auftreten, aufschlussreich sein könnte. Mit Blick auf die Medialisierungsfolgen für das Kernentscheidungshandeln ergibt sich im Abgleich zwischen den Annahmen, die in der wissenschaftlichen 91
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
Debatte diskutiert wurden (vgl. Kapitel 2.3.2.2.1), und den Befunden empirischer Forschung (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2–2.3.2.2.7) folgendes Bild: Grundsätzlich wurde hier angenommen, dass das nicht-medienbezogene Handeln von Politikern und anderen Entscheidungsträgern durch die zunehmende Notwendigkeit, auf mediale Leistungen zurückgreifen und damit medienbezogene Kalküle in das eigene Handeln einbeziehen zu müssen, beeinflusst werde. Die Befundlage stützt diese übergreifende Annahme zunächst: Es gibt vielfache – wenn auch sehr spezifische und vereinzelt gewonnene – Belege dafür, dass medienbezogene Kalküle Einzug in das Kernentscheidungshandeln gefunden haben. Das zeigte sich allein daran, dass bei allen untersuchten Akteuren nahezu einhellig der Eindruck vorherrschte, die Medien hätten einen (sehr) starken Einfluss auf die Politik (der Entscheidungsbereich, der vorwiegend in der Forschung in den Blick genommen wurde; Jonathan Cohen et al., 2008, S. 341, 343; Fawzi, 2014, S. 231; Kepplinger, 2009c, S. 310; Pfetsch & Mayerhöffer, 2011; Strömbäck, 2011a, S. 430 vgl. Kapitel 2.3.2.2.2). Demnach kann das einst propagierte Credo, Medialisierung finde an der Türschwelle der verschlossenen Verhandlungstüren ihre Grenzen (Fawzi, 2018, S. 1138; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 307; Sarcinelli, 2011, S. 127), verworfen werden. Wie genau diese Medialisierungsfolgen konkret aussehen, dazu liefert die bisherige empirische Forschung ein sehr kleinteiliges und damit im Gesamteindruck leider wenig klares Bild: Zunächst wurde angenommen, dass die Ergebnisse des funktionsbezogenen Handelns der Entscheidungsträger im Zuge des Medialisierungsprozesses verändert werden. Konkret hieße das, dass die Ergebnisse eines Kernentscheidungsprozesses durch Medialisierung anders ausfallen als ohne diesen medienbezogenen Wandlungsprozess. Bestätigend seien hier (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3) insbesondere die vielen Einzelfallstudien angeführt, die aus den Bereichen Medieneinflüsse auf Policy-Entscheidungen und Forschung zum CNN-Effekt stammen (vgl. z. B., Davis, 2007; Gilboa, 2005; Protess et al., 1987). Auch die Befunde zum Policy Agenda Setting stützen die Annahme, weil hier – zumindest moderate (vgl. Walgrave & van Aelst, 2006) – Effekte dahingehend beobachtet werden konnten, dass Medien die politische Tagesordnung (mit)prägen. Fokussiert man allerdings den Kernentscheidungsprozess, der zeitlich nach dieser Agenda Setting-Phase angesiedelt ist, und versucht sich von Einzelfallbetrachtungen, die die Effekte ausschließlich auf Basis subjektiver Einschätzungen und Wahrnehmungen der Akteure betrachten, zu lösen, so relativiert sich die eindeutige Befundlage (vgl. z. B. Mortensen & Serritzlew, 2006). Allerdings war es möglich, zwei Mechanismen aus den vorhandenen Forschungsergebnissen zu extrahieren, die dabei helfen, zu verstehen, wann und wie Medialisierungsfolgen auftreten: Zum einen scheint es so, als ob vor allem in Phasen sehr intensiver und mitunter auch sehr kontroverser öffentlicher Diskussion medieninduzierte Einflüsse entstehen können (vgl. Kepplinger & Zerback,
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2012). Zum anderen scheint das Kernentscheidungshandeln vor allem über die Antizipation von künftiger Medienberichterstattung bzw. künftigen öffentlichen Reaktionen beeinflusst zu werden (vgl., Davis, 2007; Kepplinger, 2010a): Konkret heißt das, dass Entscheidungsträger in Erwartung bestimmter medialer oder öffentlicher Reaktionen bestimmte Optionen nicht mehr in Betracht ziehen bzw. andere präferieren und so deren inhaltliche Entscheidung anders ausfällt als wenn sie diese Erwartungen nicht berücksichtigten. Außerdem wurde vermutet, dass sich neben dem Ergebnis auch der Kernentscheidungsprozess verändert. Hier zeigten einige elaborierte qualitative Studien eindrucksvoll vielfältige Einflüsse auf (vgl. Kapitel 2.3.2.2.4): Die Kompromissfindung werde insbesondere durch intensive Berichterstattung erschwert, weil diese die Konflikte überzeichne und damit zur Polarisierung beitrage (vgl. z. B., Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Im Zuge dessen entstehe Handlungsdruck (vgl. z. B., Baugut & Grundler, 2009), d. h. von den Entscheidungsakteuren werde erwartet, dass sie sich öffentlich zu ihren Kernentscheidungsaktivitäten äußern. Tun sie das nicht, drohten Falschmeldungen oder Spekulationen, d. h. sie geben damit gewissermaßen das Zepter über die Deutungshoheit aus der Hand. Äußerten sie sich dagegen, laufen sie Gefahr, sich frühzeitig auf etwas festzulegen, von dem sie nicht mehr abweichen könnten ohne einen Gesichtsverlust zu riskieren. Da die Auseinandersetzung mit dem Kontrahenten unter unvollständiger Information, d. h. unter Unsicherheit erfolgt, könne jegliche Information – und selbst wenn es eine Falschmeldung ist, die über Medien verbreitet wurde – eine spezifische Eigendynamik am Verhandlungstisch auslösen. Denn diese medial vermittelten und öffentlich verfügbaren Informationen gehörten zum strategisch relevanten Input im Verhandlungsgeschehen (vgl. z. B. Fawzi, 2014). Neben diesen negativ konnotierten Wirkungen könne mediale und öffentliche Aufmerksamkeit aber auch als Rückenwind fungieren und dazu beitragen, Blockaden im Kernentscheidungsprozess zu überwinden (vgl. z. B., Kunelius & Reunanen, 2012). Die Frage, ob medialer Druck positiv oder negativ empfunden werde, hängt demnach stark von der Perspektive des Betrachters ab. Schließlich spreche insbesondere die Tatsache, dass die mediale und öffentliche Kommunikation auch als strategisch relevante Plattform für den Erfolg in der Kernentscheidungsarena erachtet werde, dafür, dass die Entscheidungsakteure hier nicht nur passiv reagieren, sondern tatsächlich auch gezielt, proaktiv versuchen, sich der Medienöffentlichkeit zum Zwecke ihrer Zielerreichung instrumentell zu bemächtigen (vgl. z. B., Kunelius & Reunanen, 2012; Sellers, 2010). Ein kontrovers bewertetes, aber anscheinend immer häufiger eingesetztes Mittel sind Indiskretionen, d. h. das Leaking von Informationen aus der Verhandlungsarena (vgl. z. B., Baugut & Grundler, 2009). Alles in allem zeigten verschiedenartige Befunde, dass sich die inhaltlich-argumentative Auseinanderset93
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zung in der Kernentscheidungsarena infolge von Medialisierungsprozessen verändern kann (vgl. z. B., Meade & Stasavage, 2006) und es zu einer Verschränkung der beiden Arenen, d. h. dem Kernentscheidungshandeln und dem kommunikativen Handeln kommt. Auch die Befunde zur Frage, ob substanziell-inhaltlich orientierte Kernentscheidungsaktivitäten durch medienbezogenes Handeln verdrängt werden, sprechen recht eindeutig dafür, dass diese Befürchtungen nicht vollkommen von der Hand zu weisen sind (vgl. z. B., Pontzen, 2006). Dieser Forschungszweig zu den Medialisierungsfolgen für das Kernentscheidungshandeln offenbarte darüber hinaus eine Vielzahl an Randbedingungen, die als intervenierende Faktoren wirken: Beispielweise scheinen rigide Strukturen und eine komplexe Materie Medialisierungsfolgen zu behindern (vgl. z. B. C. O. Meyer, 2009), während öffentliche Resonanzfähigkeit und eine schwache formelle Machtposition im Entscheidungsgefüge Medialisierungsfolgen begünstigen (vgl. z. B. Landerer, 2015). Schlussendlich ließen sich noch Medialisierungsfolgen auf der Ebene der Kernentscheidungsstrukturen ausmachen: Insbesondere hier sprechen eindrückliche Belege dafür, dass die Entscheidungsakteure aus der Politik zunehmend versuchen, sich den negativ konnotierten medieninduzierten Einflüssen zu entziehen, indem sie sich mehr und mehr in informelle Bereiche des Beratens und Kernentscheidungshandelns zurück ziehen (vgl. z. B. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Im Gesamteindruck scheinen die Ergebnisse mit Blick auf die Kernentscheidungsarena recht klar darauf hinzudeuten, dass es hier vielfältige und mitunter auch sehr invasive bzw. weitreichende Medialisierungsfolgen gibt. Dagegen bleibt hinsichtlich der kommunikativen Handlungen eher ein gemischter Eindruck zurück. Allerdings sei hier darauf verwiesen, dass dieser Gesamteindruck trügerisch bzw. der Vergleich der Befunde in beiden Sphären des Handelns von Entscheidungsträgern eigentlich nicht möglich ist, da die Befunde in den beiden Bereichen auf Basis sehr unterschiedlicher Forschungsarbeiten erzielt wurden. Die Studiendesigns im Bereich der Medialisierungsfolgen für das kommunikative Handeln sind deutlich diversifizierter (qualitative und quantitative Befragungen, makroanalytische Zugänge, Dokumentanalysen, Strukturanalysen, Multimethodendesigns). Demgegenüber dominieren in der Forschung zu den Medialisierungsfolgen auf das Kernentscheidungshandeln (qualitative) Fallanalysen, die zudem vorwiegend im Kontext von Entscheidungsinstanzen bzw. Themenfeldern durchgeführt wurden, die intensiv öffentlich debattiert wurden und damit Medialisierungsfolgen begünstigten (vgl. z. B. Baugut & Grundler, 2009; Landerer, 2015; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Nur wenige Ansätze fußen hier auf breiteren und diverseren Samples (siehe z. B. Fawzi, 2014; Pontzen, 2006) und noch weniger Evidenz liegt vor, wenn man versucht, sich von subjektiven Eindrücken der beteiligten Akteure zu
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lösen und das tatsächliche Handeln in der Kernentscheidungsarena zu betrachten (vgl. z. B., Kepplinger, 2002; Mortensen & Serritzlew, 2006). Eine Ursache hierfür ist sicherlich der erschwerte Zugang zur Kernentscheidungsarena, die sich – wie es auch die Forschungsergebnisse nochmals nahelegten (vgl. z. B. Borucki, 2014; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010) – explizit vor der öffentlichen und damit leider auch wissenschaftlichen Beobachtung abschottet. Die Folge daraus ist, dass sich die identifizierten Einflüsse auf das Kernentscheidungshandeln demnach kaum verallgemeinern lassen, weil sie im Zusammenhang sehr spezieller Kontexte und Konstellationen erzielt wurden. Es fehlt dabei auch grundsätzlich an einem kohärenten Verständnis davon, was unter „Entscheiden“ eigentlich zu verstehen ist. Die starke Kontextbezogenheit der fallbasierten Forschung könnte ursächlich dafür sein, dass keine übergreifende, theoretisch gehaltvolle Konzeption des Kernentscheidungshandelns zur Anwendung kommt. Die verschiedenen Forschungsdesigns, die jeweils zum Einsatz kamen, sind vermutlich auch für das Muster verantwortlich, dass sich immer wieder in den Ergebnissen zeigt: Immer dann, wenn man (nur) die subjektiven Einschätzungen und Eindrücke der beteiligten Akteure abfragt, zeigen sich sehr starke Effekte. Diese lassen sich auf Basis von Makrobetrachtungen oder durch das Hinzuziehen objektiver Faktoren nicht bestätigen (bereits die Erkenntnisse zum Policy Agenda Setting der Medien offenbarten dieses Muster, vgl. Walgrave, 2008). Es ist daher zu vermuten, dass sich auch im Kernentscheidungshandeln eine ähnlich gemischte Befundlage ergeben würde, wenn es hierfür mehr makroanalytische Zugänge bzw. solche Designs gäbe, die objektive Indikatoren des Entscheidens einbezögen (vgl. z. B. die Befunde von Mortensen & Serritzlew, 2006; Spiegel, 2007). Welche Erklärungen gibt es für diese Diskrepanz zwischen den Ergebnissen, die auf den subjektiven Wahrnehmungen der Akteure einerseits bauen, und den Erkenntnissen, die auf von außen beobachtbaren (objektiven) Indikatoren andererseits fußen? Eine Ursache könnte sein, dass die tatsächliche Umsetzung der wahrgenommenen Notwendigkeiten mit Kosten verbunden ist. Die Akteure bleiben also hinter ihren eigenen Erwartungen zurück, weil es an entsprechenden finanziellen Ressourcen fehlt (vgl. z. B. die Befunde von Donges, 2008 für Parteien und von Vonwil & Lackus, 2006 für die Umsetzung integrierter Konzepte in der Unternehmenskommunikation). Eine andere Erklärung besteht darin, dass die Wahrnehmungen der Akteure verzerrt sind und beispielweise einzelne, sehr intensive Erfahrungen mit Medienberichterstattung hier den gedanklichen Ankerpunkt für deren Auskünfte bildeten. In der Folge überschätzten die befragten Akteure in ihrer subjektiven Perspektive die medienbezogenen Einflüsse. Es existiert noch eine weitere Erklärung für diese diskrepanten Resultate – nämlich, dass die jeweiligen Studien schlichtweg unterschiedliche Aspekte abbilden: Vergleichbar 95
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zu den Befunden im Policy Agenda Setting zeigt sich auch hier, dass insbesondere makroanalytische Analysen und solche, die objektiv messbare Faktoren (wie zum Beispiel die tatsächliche Zahl der veröffentlichen Pressemitteilungen) einbeziehen, zu der Erkenntnis gelangen, dass die Medialisierungsfolgen eher gering ausfallen. Diese objektiv messbaren Indikatoren repräsentieren den Output aus dem Handeln der Funktionseliten. Diesem sind aber bereits vielfältige Abwägungen und Überlegungen vorausgegangen. Die starken Effekte auf die Wahrnehmungen legen dabei nahe, dass diese Abwägungen, die dem Output vorausgehen, stark von Medialisierungsfolgen betroffen sein könnten. Die vielfältigen, mitunter subtilen und sich gegenseitig kompensierenden Einflüsse in den Wahrnehmungen können durch die Betrachtungen auf Basis makroanalytischer oder objektiv messbarer Indikatoren aber nicht abgebildet werden, weil dort nur das Ergebnis dieser Kalküle in den Blick genommen wird. Will man jedoch verstehen, wie dieses Ergebnis zustande gekommen ist, dann muss man gleichzeitig diese zugrundliegenden Wahrnehmungen, die eben sehr starken medieninduzierten Einflüssen zu unterliegen scheinen, berücksichtigen. In der Gesamtschau bleibt folgendes Urteil: Die Befunde mit Blick auf die kommunikativen Handlungen scheinen valider als jene zum Kernentscheidungshandeln, wenn man die Qualitäten und die Diversität der zugrundeliegenden Studiendesigns berücksichtigt. Es gibt in beiden Bereichen Indizien dafür, dass es Medialisierungsfolgen gibt und dass diese mitunter sehr weitreichend und invasiv ausfallen können. Wann und wie diese auftreten, da besteht in der Forschung noch deutlicher Handlungsbedarf. Allein deshalb, weil das überwiegende Gros der Forschungsdesigns den Ansprüchen zur validen Untersuchung von Medialisierung genau genommen nicht gerecht werden kann: Es fehlt an Längsschnittdesigns, die eine Verknüpfung zwischen dem Wandel medienbezogener Wahrnehmungen und den Veränderungen im tatsächlichen Handeln herstellen können – und zwar sowohl mit Blick auf das Kommunikationshandeln als auch hinsichtlich des Kernentscheidungshandelns. In einigen wenigen Designs wurde versucht, dieses Anforderungsprofil abzubilden, indem die Akteure um eine retrospektive Einschätzung der Wandlungsprozesse gebeten wurden (z. B.: sind die Medien heute wichtiger als früher?). Diese Befunde könnten aber zu unzulässigen Schlussfolgerungen führen, da es im Rahmen der bewussten Selbstreflexion nur schwer möglich ist, solche retrospektiven Einschätzungen bezüglich Veränderungen zu rekonstruieren. Echte Längsschnittdesigns basieren oft auf makroanalytischen Zugängen, die wiederum den Bezug zum Wandel in der wahrgenommenen Bedeutung der Medien – also die subjektiven Wahrnehmungen der Akteure – missen lassen. Schlussendlich scheint sich der gemischte Gesamteindruck nur auflösen zu lassen, wenn man dem folgt, was vereinzelte Befunde nahelegen: Man muss den Kontext des Handelns von ge-
2.5 Resümee und Identifikation der zentralen Desiderata
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sellschaftlichen Funktionseliten systematisch in die Betrachtung einbeziehen, dann lassen sich manch diskrepante Befunde erklären (vgl. z. B. Amsalem et al., 2017, die Unterschiede dafür zeigen, ob Medienresonanz im jeweiligen politischen System als Machtfaktor gilt oder Landerer, 2015, der Unterschiede dafür aufzeigt, ob eine Partei in einer Abstimmung dem Gewinner- oder Verliererlager zuzuordnen ist).
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Resümee und Identifikation der zentralen Desiderata
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Resümee und Identifikation der zentralen Desiderata
In der Gesamtschau führt diese breite Sichtung des Forschungsstandes zu der Folgerung, dass mediale und öffentliche Aufmerksamkeit definitiv nicht folgenlos für das Handeln von Funktionseliten sind. Insbesondere die Medialisierungsperspektive eröffnet dabei die Möglichkeit, ein eindimensionales Wirkungskonzept hinter sich zu lassen (z. B. wer dominiert wen oder Medienbotschaft X erzeugt Effekt Y, vgl. Kepplinger, 2008, S. 333) und differenziertere Einflussschienen zu berücksichtigen, indem der Gedanke des Durchdringens theoretisch-konzeptionell fruchtbar gemacht wird. Das Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten wird insbesondere dadurch beeinflussbar, weil medien- und öffentlichkeitsbezogene Handlungsprinzipien und -rationalitäten darin Berücksichtigung finden. Während dies mit Blick auf das kommunikative Handeln noch naheliegend erschien, zeigen zahlreiche Befunde, dass dieses Durchdringen durch die Medienlogik eben auch für das Kernentscheidungshandeln – selbst wenn es wie bei Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfindet – zutrifft. Mit dem Gedanken der funktionalen Differenzierung und der gleichzeitigen Interdependenz verschiedener Teilsysteme in einer Gesellschaft wird zugleich eine Begründungsgrundlage für diese zunehmende Bedeutung medialer Handlungsprinzipien geliefert. Vor allem die Antworten auf die Fragen, warum und in welchem Ausmaß Entscheidungsträger in spezifischen Gesellschaftsbereichen auf mediale und öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung angewiesen sind, liefern den Schlüssel, um besser verstehen zu können, welche Arten von Einflüssen auf das Entscheiden der Funktionseliten resultieren. Daher muss an dieser Stelle noch eine tiefergehende Auseinandersetzung erfolgen (vgl. Kapitel 3.2). Nachdem die Frage, ob Einflüsse entstehen, relativ eindeutig mit JA beantwortet werden konnte, muss mit Blick auf die Frage, welche Einflüsse entstehen, allerdings differenziert werden: Medien und öffentliche Aufmerksamkeit sind zwar nicht folgenlos im Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten, aber das Ausmaß und die Art der Folgen variieren sehr stark zwischen Entscheidungssituationen und -konstellationen (ähnlich: Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 308 97
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Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 354). Eine knappe und klare Konklusion fällt an dieser Stelle schwer: Insbesondere in den globalen und generalisierten Wahrnehmungen der Akteure spiegelt sich der Bedeutungszuwachs der Medien wieder (vgl. z. B. Brants et al., 2010; Jonathan Cohen et al., 2008; Strömbäck, 2011a). Entsprechend werden auch auf Ebene der Handlungsbereitschaft und -intention Effekte aufgezeigt: Die untersuchten Funktionseliten wollen aufwendiger, umfangreicher und strategisch gehaltvoller kommunizieren (vgl. z. B. Donges, 2008; Strömbäck, 2011a). Auch halten sie Anpassungen in der Struktur ihrer Organisationen für sinnvoll, um den entsprechenden kommunikativen Anforderungen begegnen zu können (vgl. z. B. Donges, 2008; Vonwil & Lackus, 2006). Sieht man von Wahlkämpfen als Situationen, in denen der Bedarf an öffentlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung maximal ist, ab (vgl. z. B. Blumler & Esser, 2019; Farrell & Webb, 2000), so hinkt die tatsächliche Umsetzung dieser Vorhaben den Ansprüchen jedoch oftmals hinterher (vgl. z. B. Donges, 2008; Vonwil & Lackus, 2006). Im Kernentscheidungsprozess selbst scheinen mediale und öffentliche Aufmerksamkeit vor allem ein Stressmoment zu erzeugen (siehe z. B., Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010) und dieser Stress hat wiederum Konsequenzen dafür, wie die Entscheidungen ausfallen. Neben dieser Druckperspektive existiert aber noch eine andere, nämlich die der instrumentellen Nutzung öffentlicher Aufmerksamkeit, um seine Ziele im Kernentscheidungsprozess durchsetzen zu können (vgl. z. B., Kunelius & Reunanen, 2012; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Zusammenfassend muss daher festgehalten werden: Auf die Ausgangsfrage dieser Arbeit, welche Einflüsse ausgehend von medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit im Entscheidungshandeln von Funktionseliten entstehen, liefert der derzeitige Forschungsstand eine lange Liste an unverbundenen theoretisch-konzeptionellen Gedanken und entsprechend auch isolierten empirischen Erkenntnissen. Ein Grund hierfür liegt im Medialisierungskonzept selbst: Hier wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass es sich aufgrund seiner Breite bzw. der Komplexität und Multidimensionalität mehr um ein catch-all Label handele, denn einen klar und kohärent definierten, argumentativ elaborierten und analytisch gehaltvoll konzipierten Ansatz (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1039; Strömbäck & Esser, 2014, S. 5). Darin liegt zugleich aber auch das Potential des Konzeptes (Strömbäck & Esser, 2014, S. 6): Denn es erlaubt eben gerade, sich größeren Zusammenhängen zu widmen, die der Integration mehrere theoretischer Perspektiven bedürfen, um sie erklären zu können. Eine solche Integration verschiedener theoretischer Perspektiven steht allerdings derzeit noch aus (Fawzi, 2018, S. 1139). Insbesondere eine theoretisch begründete und gleichzeitig analytisch fruchtbare sowie konsistente Ableitung von Indikatoren, was wann als medialisiert gelten kann, werde dringend gebraucht (Strömbäck & Esser, 2014, S. 20). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird
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der Versuch einer solchen Konzeption für die Folgen aus medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit für das Entscheidungshandeln von Funktionseliten unternommen. Im Resultat zeigt sich nämlich auch, dass der empirische Forschungsstand der Breite des Phänomens derzeit nicht in Ansätzen gerecht werden kann (zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangen Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 342). Den zahlreichen plausiblen Ausführungen dazu, welche Folgen Medialisierung haben könnte, mangelt es an empirischen Erhebungen, die diese Annahmen systematisch und umfassend prüfen (Koch-Baumgarten, 2014, S. 190). Diese Diskrepanz ist insbesondere deshalb problematisch, weil sie den Boden für Schreckensszenarien nährt, wie sie zu Beginn des Kapitels 2.3 zum Niedergang der demokratischen Prinzipien dargelegt wurden. Diese Perspektiven vermögen zwar Aufmerksamkeit in Gesellschaft und wissenschaftlicher Community für ein Phänomen zu erregen, helfen aber kaum dabei, eine Antwort darauf zu liefern, ob Medien und öffentliche Aufmerksamkeit in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten (dys-)funktional sind. Nur eine solche Antwort erlaubt es aber, Vorschläge zur Gestaltung der Kernentscheidungsprozesse zu erarbeiten und so dazu beizutragen, demokratische Prinzipien besser im gesellschaftspolitischen Alltag zu verankern. Nicht nur ein Mangel an Evidenz, sondern auch die Beschaffenheit der bisherigen Forschungsarbeiten offenbart Optimierungspotential: Mit Blick auf die Wahl der Forschungsdesigns zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen den theoretisch-konzeptionellen Anforderungen und den tatsächlichen Eigenschaften. Medialisierung als mehrdimensionales und dynamisch-prozesshaftes Konstrukt bedarf Forschungsdesigns, die eine große Reichweite sowohl mit Blick auf die temporale Ausdehnung als auch hinsichtlich der Zahl der betrachteten Fälle auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Konstellationen aufweisen (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1038; Marcinkowski, 2014, S. 9). Es dominieren allerdings Querschnittdesigns, oftmals bezogen auf die Kristallisationsmomente der Medialisierung – Wahlkämpfe oder auch Fallbetrachtungen, wo sehr intensive mediale und öffentliche Beobachtung stattfand – und fokussiert auf Akteure aus der Politik (Fawzi, 2018, S. 1134, 1139). Demnach wird selten der tatsächliche Wandlungsprozess nachgezeichnet (Fawzi, 2014, S. 137). Noch dazu ist die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse fraglich, schließlich stellt Politik ein spezifisches System dar, das durchaus Unterschiede – vor allem im Bedarf an öffentlicher Aufmerksamkeit – im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen hat (Fawzi, 2018, S. 1139; Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 10–11). Selbiges gilt für Wahlkämpfe im Vergleich zu Routinezeiten, sodass die Folgen der Medialisierung tendenziell überschätzt würden, wenn man die Erkenntnisse zu Wahlkämpfen versucht auf Routinezeiten zu übertragen (vgl. Reinemann, 2010, S. 291 und die Befunde von Haßler et al., 2014). Es fehlt im Prinzip ein Blick auf Situationen, in denen mediale und öffentliche Beobachtung 99
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marginal sind (ähnlich argumentieren Deacon & Stanyer, 2014, S. 1036). Dabei würde erst ein solcher, systematisch angelegter Vergleich offenbaren, wie invasiv Medialisierung tatsächlich ist. Die qualitativen Analysen, die wenige und sehr spezifische Fälle in den Blick nehmen, haben inzwischen einen sehr reichen Fundus an spezifischen, durchaus differenzierten Erkenntnissen zusammengetragen. Aber die mangelnde systematische und theoretisch begründete Variation der darin betrachteten Fälle (vgl. z. B. Kunelius & Reunanen, 2012; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010) lässt offen, inwieweit und für welche Population die Erkenntnisse generalisierbar sein könnten. Sie scheinen derart spezifisch zu sein, dass eine Zusammenführung schwerfällt und offen lässt, für welche anderen Fallkonstellationen ähnliche Zusammenhänge vermutet werden können (Fawzi, 2014, S. 137, 2018, S. 1139). Es gibt zwar quantitative Studien, diese nehmen aber selten den qualitativ erarbeiteten Forschungsstand als Ausgangspunkt (und prüfen demnach nicht die darin identifizierten Zusammenhänge; für eine Ausnahme vgl. Fawzi, 2014). Daraus entsteht ein weiteres Problem: Es offenbart sich eine Vielzahl an isolierten Indikatoren in der Forschung zu Medialisierungsfolgen (vgl. die Statements zum generalisierten Medieneinfluss auf die kommunikativen Aktivitäten bei Strömbäck, 2011a oder die Liste an Items zur Abfrage, welchen Einfluss Medien auf den Entscheidungsprozess von finnischen Eliten haben, Kunelius & Reunanen, 2012). Diesen mangelt es entweder eines kohärenten theoretischen Unterbaus, aus dem sie abgeleitet wurden. Oder, wenn sie theoretisch angebunden wurden, dann herrscht oft ein Ungleichgewicht zwischen den dahinterstehenden theoretischen Konstrukten und den dazugehörigen Items, weil letztere sich oft auf sehr detaillierte und spezifische Aspekte beziehen. In der Folge lassen sich die Ergebnisse zu den untersuchten Items meist nicht sinnvoll zueinander in Beziehung setzen oder vor dem Hintergrund des theoretischen Konstruktes interpretieren. Neben der mangelnden theoretischen Verankerung scheinen die vielen Einzelindikatoren auch bei weitem nicht das ganze Spektrum an potenziellen Medialisierungsfolgen abzudecken, d. h. sie sind nicht umfassend (vgl. den Gedanken der Abschottung vor Medienöffentlichkeit). Dies gilt insbesondere für die behavioralen Antworten auf Medialisierung, die überdies stark von dem Gedanken der Anpassung an die Medienlogik (statt souveräner Zugriff) inspiriert wurden (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1035). Beispielweise adressieren manche Indikatoren die Medialisierungsfolgen nur auf einem sehr allgemeinen und abstrakten Niveau (vgl. Items von Strömbäck, 2011a). Dadurch können Variationen mit Blick auf verschiedene Einzelhandlungen der Funktionseliten in verschiedenen situativen Kontexten nicht abgebildet werden (z. B. könnte es einen Unterschied machen, ob ein Politiker Aufmerksamkeit generieren will, um den Gegner in einer Sach-
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frage zu demontieren oder um Koalitionsbildung mit anderen Gleichgesinnten zu betreiben). Ähnlich argumentiert Landerer (2015, S. 262), der dafür plädiert, die Medieneinflüsse deutlich spezifischer zu erfassen statt generalisiert nach dem Einfluss der Medien zu fragen. Wenn die Ableitung der Indikatoren auf Basis eines kohärenten theoretischen Fundaments systematisch und analytisch differenziert erfolgt, wird die Gefahr verringert, die Medialisierungsfolgen nur lückenhaft und unvollständig zu erfassen. In der Gesamtschau lassen sich die Defizite in der bisherigen theoretisch-konzeptionellen und analytischen Auseinandersetzung an drei zentralen Aspekten festmachen: 1) Welche Handlungssphären und Aktivitäten der Funktionseliten sind wie betroffen und was heißt das? Dazu bedarf es einer theoretisch gehaltvollen Differenzierung der Indikatoren – also was heißt es, wenn die zunehmende Notwendigkeit, mediale und öffentliche Aufmerksamkeit generieren und wohlwollend steuern zu müssen, sich im Handeln der Eliten niederschlägt und um welches Handeln geht es in diesem Zusammenhang? Außerdem bleibt bislang offen, 2) wie sich konkret die medienbezogenen Kalküle im strategischen Räsonieren, Urteilen und Handeln der Eliten einnisten (die Wirkkanäle und -mechanismen) – sind es tatsächlich die vielfältigen Wahrnehmungen der Funktionseliten, für die der vorhandene Forschungsstand deutliche Medialisierungsfolgen offenbart? Schließlich offenbart die Forschung an unzähligen Stellen, wie zentral 3) die Randbedingungen sind (Amsalem et al., 2017; Koch-Baumgarten, 2014, S. 193; Landerer, 2015). Eine systematische Berücksichtigung derer fehlt ebenfalls. Nachfolgend sollen diese konzeptionellen Leerstellen und Forschungslücken pointiert aufgezeigt werden.
2.5.1 Differenzierung der Folgen: Was heißt Entscheiden? Empirisch lässt sich zeigen, dass Entscheidungsakteure aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen Medien und öffentlicher Aufmerksamkeit eine hohe Bedeutung hinsichtlich der öffentlichen Meinungsbildung, für die eigenen (Organisations-)Ziele oder im Hinblick auf „die Politik“ bzw. die politische Agenda zuschreiben (Brants et al., 2010; Donges, 2008; Fawzi, 2014; Pontzen, 2006; Strömbäck, 2011a; Vonwil & Lackus, 2006). Entsprechend wird die Notwendigkeit gesehen, mehr Aufwand in kommunikative Anstrengungen zu investieren, wenngleich sich das nicht unbedingt in einer Steigerung der tatsächlichen Bemühungen niederschlägt (Donges, 2008; Hoffjann & Gusko, 2014; Vonwil & Lackus, 2006). Abseits der öffentlichen Kommunikationshandlungen, in inhaltlichen Aushandlungsprozessen, kann mediale und öffentliche Aufmerksamkeit eine Stresssituation erzeugen (vgl. Baugut & Grundler, 2009; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). 101
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Darüber hinaus kann ein positiver Tenor aber auch Rückenwind für die eigenen Vorhaben und Projekte bedeuten und die öffentliche und medienvermittelte Sphäre wird als bedeutsame strategische Option im Kernentscheidungsprozess begriffen – etwa wenn Maßnahmen wie Leaking ergriffen werden (Fawzi, 2014; Kunelius & Reunanen, 2012). Versucht man nun, ausgehend von diesem schlaglichtartig dargestellten Forschungsstand, die Frage zu beantworten, welche Folgen mediale und öffentliche Aufmerksamkeit für das Entscheidungshandeln von Funktionseliten hat, so können die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen: Angefangen bei „der Einfluss ist sehr hoch“, wenn man beispielweise auf die generalisierten Wahrnehmungen der Akteure blickt, bis zu „der Einfluss ist sehr niedrig“, wenn man die tatsächliche Umsetzung von als notwendig erachteten Veränderungen im kommunikativen Handeln der Funktionseliten ins Visier nimmt, oder aber „es ist kompliziert“, wenn man sich die detailreichen Einzelerkenntnisse zu politischen Verhandlungen vor Augen führt. Die Vielfalt der potenziellen und tatsächlich untersuchten Indikatoren macht es schwer, klare Schlussfolgerungen abzuleiten. Notwendig ist es daher, theoretisch-konzeptionell darzulegen, was unter „Entscheiden48“ konkret zu fassen ist (ähnlich argumentieren auch: Landerer, 2013, S. 246; Marcinkowski, 2014, S. 15). Im Gegensatz zum alltäglichen „Entscheidungen treffen“ handelt es sich bei der Suche nach Lösungen für (gesamt-)gesellschaftliche soziale Konflikte und Koordinationsprobleme um eine größere Aufgabe, die meist über einen längeren Zeitraum in Form von kollektiven Aushandlungsprozessen erfolgt (Czada, 2014, S. 118; Grande, 2000, S. 122). „Entscheiden“ ist demnach kein singuläres Konstrukt, das sich gar über einzelne Items etwa in einer Befragung abfragen ließe. Vielmehr können verschiedene Handlungen, Prozesse und Aktivitäten dazu dienen, zu einer 48 An dieser Stelle sei nochmal an die hier verwendeten Begrifflichkeiten erinnert, die im Verlauf der Arbeit an verschiedenen Stellen elaboriert und diskutiert werden (siehe unten und insbesondere Kapitel 4): Entscheiden, Entscheidungshandeln, Entscheidungsfindung werden synonym verwendet und beziehen sich auf die Gesamtheit der Handlungen, die gesellschaftliche Funktionseliten vollziehen, um eine Lösung für das gesellschaftlichen Koordinationsproblem zu finden. Dieses Entscheidungshandeln wird wiederum weiter differenziert in a) Kernentscheidungshandeln – also dasjenige Handeln, das im Kern dazu dient, eine Entscheidung zu treffen, d. h. die Auswahl einer aus mehreren Alternativen. Modelliert wird es über Verhandlungen (vgl. Kapitel 3.1), weshalb alternativ auch von Verhandeln die Rede sein wird. b) Kommunikatives Handeln, Kommunikationshandeln, kommunikative Aktivitäten – also all jene Handlungen, die dazu dienen, parallel zum oder nach Abschluss des Kernentscheidungshandelns über die-sen Prozess und dessen Ergebnisse mit verschiedenen Bezugsgruppen und der Öffentlichkeit zu kommunizieren.
2.5 Resümee und Identifikation der zentralen Desiderata
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solchen Entscheidung zu gelangen. Diese gilt es zu bestimmen, um die Einflüsse der Medienöffentlichkeit darauf untersuchen zu können. Im Lichte der eingangs dargestellten Faktoren muss man sich überdies fragen, welche Aktivitäten und Handlungen gerade nicht unter das Entscheiden fallen. So sind sich viele Autoren einig darin, dass die kommunikativen Handlungen – etwa um Legitimation herzustellen oder ein positives öffentliches Bild zu schaffen – einen zentralen Bestandteil der Aktivitäten von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern darstellen (Blumler & Kavanagh, 1999, S. 214; T. E. Cook, 2006, S. 167; Donges, 2008, S. 213; M. Hartmann, 2004, S. 66). Aber sind sie Teil des eigentlichen Kernentscheidungsprozesses? Für eine Abgrenzung sprechen Konzeptionen wie die der politischen Logik von Strömbäck und Esser (F. Esser, 2013, S. 164–165; 2014, S. 15): Sie differenzieren drei Bereiche, nämlich polity (die Strukturen des politischen Systems), policy (die Produktion von politischen Entscheidungen) und politics (Selbstpräsentation und Darstellung von Politikergebnissen). Auch Kunelius und Reunanen (2012, S. 71) differenzieren bei ihrer Sichtung des Forschungsstandes zwischen dem Kernentscheidungsprozess und den kommunikativem Handeln. Bezüglich des Forschungsstandes hinsichtlich des Kernentscheidungshandelns konkludieren sie denn auch: „it is still fairly vague and scarce“ (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 58, 71; ähnlich: Fawzi, 2014, S. 19; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299; Melenhorst, 2015, S. 299). Dieser Zustand des Forschungsstandes zum Kernentscheidungshandeln ist umso überraschender, folgt man Marcinkowski (2014, S. 14), der gar davon spricht, dass Medialisierungsfolgen erst dann eine ernstzunehmende Relevanz besäßen, wenn sie mit Blick auf die Herstellung und Durchsetzung von politischen Entscheidungen virulent wären, da dann die Kernfunktion der politischen Sphäre tangiert wäre (ähnlich: Kunelius und Reunanen, 2012, S. 57, die in diesem Zusammenhang von „the ‚core‘ level of mediatization“ sprechen). Für die Differenzierung zwischen Kernentscheidungshandeln und kommunikativem Handeln spricht überdies, dass für diese beiden Sphären aufgrund ihres unterschiedlichen Bezugs zu Öffentlichkeit deutliche Unterschiede im Ausmaß der Medialisierung vermutet werden (F. Esser, 2013, S. 166; Marcinkowski, 2014, S. 14; Schrott & Spranger, 2007, S. 4; Strömbäck & Esser, 2014, S. 16): Während Medien als sehr einflussreich im Hinblick auf die öffentliche Darstellung von Politik (F. Esser, 2013, S. 175) und ggf. noch hinsichtlich der politischen Agenda gelten (Strömbäck, 2011a, S. 432), wird angenommen, dass ihr Einfluss im Kernentscheidungsprozess marginal sei (F. Esser, 2013, S. 175; F. Esser & Matthes, 2013, S. 177; Jarren & Donges, 2011, S. 205). Die empirische Evidenz ist stark (einzel-)fallbezogen, sodass übergreifende Konklusionen in Anbetracht von sehr spezifischen, z. T. indirekten sowie subtilen und mitunter widersprüchlichen Erkenntnissen schwer fallen (ähnlich argumentiert auch: Fawzi, 2014, S. 22; vgl. für eine überblickshafte Diskussion: Koch-Baumgarten 103
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
& Voltmer, 2009). Zumindest für die politische Tagesordnung zeigt sich aber, dass der Medieneinfluss auf die symbolpolitische Agenda (also das, was Politiker in ihren Statements als Vorhaben benennen) deutlich größer ist als auf die tatsächliche Agenda (also die politischen Maßnahmen, die sie tatsächlich umsetzen; vgl. hierzu: Walgrave & van Aelst, 2006, S. 94–95; Walgrave, 2008, S. 446). Fasst man die Erkenntnisse zu den verschiedenen Handlungssphären – d. h. Kernentscheidungshandeln einerseits und kommunikatives Handeln in der Öffentlichkeit andererseits – nun einfach zusammen, so steht man zwangsläufig vor der Herausforderung, sehr unterschiedliche oder sogar konträre Erkenntnisse vereinen zu müssen (das zeigt sich allein in der Diskussion der verschiedenen Forschungsdesigns, die in diesen Bereichen zum Einsatz kamen, vgl. Kapitel 2.4). Wichtige Unterschiede werden so eher maskiert, denn gehaltvoll aufbereitet. Ziel muss es also sein, das Kernentscheidungshandeln als solches zu beschreiben und in einen differenzierten, aber eindeutigen sowie möglichst umfassenden Indikatorenkatalog zu übersetzen. Zugleich muss dabei das Kernentscheidungshandeln von anderen Aktivitäten der Entscheidungsträger wie etwa deren kommunikativen Handeln in der Öffentlichkeit abgegrenzt werden (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 423). Nur so hat man die Möglichkeit, eindeutig(ere) Schlussfolgerungen bezüglich des Kernentscheidungshandelns in der Mediengesellschaft zu ziehen und das Zusammenspiel mit anderen Sphären des Handelns – etwa in der medial vermittelten öffentlichen Arena – gehaltvoll und einsichtsreich modellieren zu können. Diese Desiderata werden in den konzep tionsleitenden Fragen 1a und 1b der vorliegenden Arbeit adressiert: ▶ 1a) Wie lässt sich das Kernentscheidungshandeln der Funktionseliten im Kontext der Medienöffentlichkeit konzipieren? ▶ 1b) Welche Rolle spielt das öffentliche Kommunikationshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten im Zusammenhang mit dem Kernentscheidungshandeln? Überdies steuern vorgelagerte kognitive und emotionsbasierte Prozesse die Aktivitäten im Rahmen des Entscheidens (Brett & Thompson, 2016, S. 70–72; Druckman, 1977, S. 23, 25; Olekalns & Adair, 2013, S. 17), die es ebenfalls zu berücksichtigen gilt (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 21). Dies erfolgt im Kontext der bisherigen Forschung bislang nur unzulänglich: Während nämlich relativ große Einigkeit darin besteht, dass die Medienlogik zunehmend bedeutsamer im Handeln von Akteuren in nicht-medialen gesellschaftlichen Teilsystemen wird (Donges, 2008, S. 217; Donges & Jarren, 2014, S. 188; F. Esser, 2013, S. 156; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299; Marcinkowski, 2014, S. 6), bleiben viele die Antwort schuldig, wo und wie dieser Bedeutungszuwachs der Medienlogik genau stattfindet. Viele
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sprechen vage von Kalkülen, Antizipation der Medienlogik, self-mediatization oder des „anticipatory behavior of political actors“ (Strömbäck & Esser, 2014, S. 21) um auszudrücken, dass es nicht eine stupide Unterordnung politischer Akteure unter die Medienlogik ist, sondern dass es ein differenzierteres und subtileres Zusammenspiel aus Wahrnehmungen, strategisch-motivierten Überlegungen und Vermutungen der Akteure ist, in das sich die Prinzipien der Medienlogik einnisten und so einen Einfluss ausüben (vgl. z. B. Blumler & Esser, 2019, S. 859; F. Esser, 2013, S. 162, 178; F. Esser & Matthes, 2013, S. 199; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 497–498; die Unterscheidung in simple bzw. first-oder vs. reflexive bzw. second-order mediatization versucht dieses komplexe Zusammenspiel ebenfalls zu fassen: Marcinkowski, 2014, S. 14; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80). Der Schlüssel sind aus Sicht der vorliegenden Arbeit die strategisch-taktischen Überlegungen und Abwägungen der Entscheidungsträger (Einschätzungen zu verschiedenen Strategieoptionen in den verschiedenen Handlungsarenen im Zusammenhang mit den eigenen Zielen und Motiven sowie den verfügbaren Handlungsoptionen). Diese beinhalten sowohl kognitive als auch affektbasierte Bestandteile. Sie werden zwar in der Medialisierungsliteratur als solche benannt (z. B.: „political actors deliberately draw news media logic into their own considerations and action rationales [Hervorhebung CV]“, Blumler & Esser, 2019, S. 856; ähnlich: Davis, 2009, S. 208; Reinemann, 2010, S. 285), aber selten expliziert und damit auch nicht theoretisch-gehaltvoll modelliert oder gar empirisch operationalisiert. Insbesondere eine systematische und detailreiche Aufschlüsselung, was unter der Logik des jeweiligen Systems (im Sinne einer logic of appropriateness; March & Olsen, 2006; Strömbäck & Esser, 2014, S. 14) zu fassen ist, kann an dieser Stelle hilfreich sein (vgl. hierzu Kapitel 4.4), um zu spezifizieren, zwischen welchen Prinzipien und Kalkülen sich ein Akteur bei seinen strategischen Überlegungen bewegt (z. B. Notwendigkeit der Kompromissorientierung im Kernentscheidungskontext vs. öffentliche Aufmerksamkeit für eindeutige Gewinner-Verlierer-Rollenverteilung). Berücksichtigt man diese Überlegungen und Abwägung nicht, ist kaum zu verstehen, warum sich die Akteure dazu entscheiden, in einer bestimmten Art und Weise zu handeln (z. B. going public im Rahmen des nicht-öffentlichen Aushandlungsprozesses). Ähnlich argumentiert auch Strömbäck (2011a, S. 426) für die Folgen aus der Medialisierung: Ein politischer Akteur orientiert sich in seiner öffentlichen Kommunikation an der Medienlogik (z. B. Pressemitteilungen besonders personalisiert aufbereiten). Es macht aber vor dem Hintergrund der Interpretation einen zentralen Unterschied, ob diese Orientierung aus Druck zur Anpassung oder aber im Sinne der Selbstermächtigung und Instrumentalisierung des Wissens um die Medienlogik erfolge. Erst die Berücksichtigung der Abwägungen und Kalküle in Kombination mit dem Handeln ermöglicht an dieser Stelle eine Differenzierung. 105
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Dadurch ließen sich vermutlich auch die Diskrepanzen in den Befunden auflösen, die sich in Kapitel 2.3.2 zwischen den wahrgenommenen Folgen der Medialisierung einerseits und den tatsächlichen Effekten auf das Handeln der Entscheidungsträger andererseits ergeben haben. Die vorliegende Arbeit sucht diese Desiderata zu adressieren, indem sie Kernentscheidungshandeln über den Governancemechanismus des Verhandelns konzipiert und modelliert (vgl. Kapitel 3.1, ähnliches schlägt auch Marcinkowski, 2014, S. 14–15 vor). Um dabei dem zuvor formulierten Anspruch an differenzierter und umfassender Ableitung von Indikatoren gerecht zu werden, wird hierzu der Schulterschluss mit der sozialpsychologischen Verhandlungsforschung gesucht. Auf dieser Basis kann dann in Teil II dieser Arbeit die Modellierung des Entscheidens gesellschaftlicher Funktionseliten in der Mediengesellschaft erfolgen (vgl. Kapitel 4), indem erst die Indikatoren der Verhandlungsforschung herangezogen werden (z. B. Wahl der Verhandlungsstrategie, vgl. Kapitel 4.1) und in einem zweiten Schritt von den kommunikativen Handlungen der Entscheidungsträger abgegrenzt (vgl. Kapitel 4.2), aber auch in ihrer potenziellen Wechselwirkung beschrieben werden (z. B. Leaking als öffentliche Maßnahmen mit Verhandlungsbezug, vgl. Kapitel 4.3). Basis hierfür bildet der Gedanke, dass Verhandlungsakteure sich in unterschiedlichen Arenen – mindestens der nicht-öffentlichen Verhandlungs- und der öffentlichen Medienarena – bewegen. Die zentrale Verknüpfung zwischen beiden Arenen erfolgt über die strategisch-taktischen Überlegungen und Abwägungen der Entscheidungsakteure (vgl. Kapitel 4.4).
2.5.2 Modellierung der zugrundeliegenden Mechanismen: Wie wird das Entscheiden beeinflusst? Eine zweite konzeptionelle und vor allem auch empirische Lücke setzt an der Frage an, wie diese strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheidungsakteure und – in der Folge – auch ihr Handeln, sowohl in Bezug auf die Kernentscheidungsfindung als auch hinsichtlich ihrer kommunikativen Anstrengungen, durch mediale und öffentliche Aufmerksamkeit beeinflusst werden. Es geht also darum, die Wirkmechanismen zu spezifizieren (ähnlich argumentieren Sevenans et al., 2016, S. 606, für die zugrundeliegenden Mechanismen beim Policy Agenda Setting). Damit ließe sich der Gedanke des „Durchdringens“ analytisch fruchtbar beschreiben und empirisch messbar machen. Hier offenbart die Medialisierungsforschung allerdings eine ihrer zentralsten Lücken. Die hier verfolgte Fragestellung suggeriert zunächst einen Zusammenhang, der denjenigen in der klassischen Medienwirkungsforschung sehr ähnlich ist: Infolge
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der Nutzung medienbezogener Stimuli entstehen Effekte auf das Wissen, die Meinungen und Einstellungen, die Emotionen oder das Handeln von Rezipienten (Potter, 2011, S. 903). Dieser Forschungsbereich hat eine Vielzahl an Theorien hervorgebracht (z. B. Medien-Priming: Roskos-Ewoldsen, Roskos-Ewoldsen & Dillmann Carpentier, 2009; Kultivierung: Potter, 2014; Elaboration Likelihood Modell: Petty, Brinol & Priester, 2009), die inzwischen verlässliche empirische Bestätigung erfahren haben und in ihren Interaktionsmechanismen ausdifferenziert wurden (Valkenburg & Peter, 2013, S. 221). Allerdings gibt es Grund zur Annahme, dass sich viele der Erkenntnisse aus der Medienwirkungsforschung nicht eins zu eins auf Eliten übertragen lassen (Sheffer, Loewen, Soroka, Walgrave & Sheafer, 2018): Blickt man zunächst auf den Ausgangspunkt von potenziellen Wirkungen, so kann dies schon deshalb vermutet werden, weil sich das Mediennutzungsverhalten von Entscheidern und der Gesamtbevölkerung signifikant voneinander unterscheiden (Schenk & Mangold, 2011). Außerdem vermutet Kepplinger (2008, S. 332), dass gesellschaftliche Entscheidungsträger aufgrund ihres Involvements (es wird über ihre Themen oder sogar über sie als Person berichtet) Medien mehr und intensiver nutzen (ähnlich: Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 307; Marcinkowski, 2014, S. 17; Melenhorst, 2015, S. 298). Auch bei der Art der Effekte ergeben sich Ansatzpunkte, um Unterschiede zum Durchschnittsrezipienten anzunehmen: Der Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Wirkung ist meist konditional, d. h. er wird durch interindividuelle Unterschiede (z. B. Bildungsgrad, Geschlecht, Persönlichkeitsmerkmale) ebenso wie den sozialen Kontext moderiert (Valkenburg & Peter, 2013, S. 223). Zumindest für den politischen Bereich zeigt die Elitenforschung aber, dass diese alles andere als ein Spiegel der Gesellschaft sind (Rudzio, 2011, S. 486–487; Sheffer et al., 2018, S. 303): Sie sind im Durchschnitt höher gebildet, vertreten politisch Einstellungen, die weiter links angesiedelt sind als die ihrer Wähler und es ist anzunehmen, dass sie über mehr Erfahrung im Umgang mit Medien verfügen (z. B. über persönliche Kontakte zu Journalisten, vgl. hierzu Kepplinger, 2010b). Alles in allem können diese Unterschiede dazu führen, dass Funktionseliten anders auf Medieninhalte reagieren als der durchschnittliche Rezipient. Beispielweise lässt sich für wahrnehmungsbasierte Medienwirkungen wie den Third Person Effekt zeigen, dass dieser bei Menschen mit höherem Wissen stärker ausfällt (Paul, Salwen & Dupagne, 2000, S. 78; Salwen & Dupagne, 2001). Entsprechend zeigen Studien, in denen sowohl Politiker als auch Bürger befragt wurden, dass erstere einen stärkeren Einfluss der Medien auf die öffentliche Meinung vermuteten als die befragten Bürger (Dohle & Vowe, 2013, S. 23; Johansson, 2004, S. 265). Auch mit Blick auf die Meinungen, Einstellungen und das Verhalten, das potenziell durch Medien beeinflusst wird, ergeben sich Unterschiede: Es geht nicht um private Meinungen und Positionen, sondern um professionsbezogenes Urteilen 107
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und Handeln bei dem auf andere Aspekte wert gelegt wird (vgl. Sevenans et al., 2016, S. 608); oder bei dem sie über mehr Hintergrundwissen sowie gefestigtere ideologische Positionen verfügen (vgl., Kepplinger, 2008, S. 332–333; Vis, 2019, S. 42). Dieses wurde im Zuge der beruflichen Sozialisation erlernt (Rudzio, 2011, S. 483) und unterscheidet sich von dem, wie Laien reagieren (vgl. z. B. die Ausführungen von Lichtenstein et al., 1990, zu der Frage, inwieweit sich die Risikoeinschätzungen von Laien und Experten unterscheiden, weil sie unterschiedliche Heuristiken und Rationalitäten zur Urteilsbildung heranziehen; siehe außerdem Vis, 2019, S. 42). Entsprechend ist anzunehmen, dass potenzielle Medienwirkungen jeweils unterschiedlich ausfallen. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass es schlichtweg auch an empirischer Evidenz fehlt: Ein Großteil der Medienwirkungsforschung nimmt die Masse der Rezipienten in den Blick, während gesellschaftliche Entscheidungsträger darin zahlenmäßig nur eine Marginalie darstellen, die überdies noch schwer(er) zu rekrutieren sind (nicht zu reden von Experimenten, die auf studentischen Convenience Samples bauen, weil sie nur an relativen Effekten interessiert sind; Kepplinger, 2008, S. 328). D. h. es fehlt an konkreten Daten, die Vergleiche zwischen Funktionseliten und Durchschnittsrezipienten ermöglichen, um daraus belastbare Schlussfolgerung zur Übertragbarkeit der Erkenntnisse ableiten zu können (eine Ausnahme stellt hier die wegweisende Studienreihe von Protess et al., 1987 dar, die aufgezeigt hat, dass das Agenda Setting, das von Medienberichterstattung ausging, in der breiten Bevölkerung ganz anders ausfiel als bei den politischen Entscheidungsträgern; weitere Ausnahmen: Dohle & Vowe, 2013; Johansson, 2004; Sheffer et al., 2018). Die bisherigen Erkenntnisse zu Folgen der Medialisierung auf Eliten legen überdies noch ein weiteres Problem offen: Der traditionelle Wirkungsbegriff der Medienwirkungsforschung (zumindest derjenige, der vielen empirischen Designs zugrunde liegt), könnte zu kurz greifen und damit zentrale Effekte auf Eliten gar nicht erst erfassen. Deshalb schlägt Marcinkowski (2014, S. 16) vor, die Folgen der Medialisierung als „a very specific type of media effect“ zu begreifen, indem man auch die Möglichkeit in Betracht zieht, dass ein „effect beyond content“ (Marcinkowski, 2014, S. 17) entsteht. Viele der Wirkungsmodelle in der Wirkungsforschung gehen davon aus, dass erst die Rezeption eines manifesten Inhalts zu Effekten führt (Kepplinger, 2008, S. 328).49 Demgegenüber steht aber der Gedanke des 49 Siehe für eine Ausnahme beispielweise Maletzke (1982, S. 10), der ein breiteres Verständnis von Medienwirkungen vorschlägt: „alle Veränderungen bei Individuen und in der Gesellschaft, die durch Aussagen der Massenkommunikation oder durch die Existenz von Massenmedien entstehen“.
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„Durchdringens“ in der Medialisierungsperspektive (Meyen et al., 2014, S. 274; Schulz, 2004, S. 88–90; Strömbäck & Esser, 2014, S. 9). Dieser Gedanke impliziert, dass bereits das Wissen um die Existenz der Medien sowie die Annahme, dass das eigene Handeln unter medialer Beobachtung steht, Folgen haben kann (vgl. hierzu ursprünglich K. Lang & Lang, 1953). Außerdem kann die Erwartung, dass Medien in einer bestimmten Art und Weise über Themen und Ereignisse berichten und dadurch bestimmte öffentliche Dynamiken auslösen, Wirkungen erzeugen (i. e., „primacy of anticipation over content“; vgl. Marcinkowski, 2014, S. 17; siehe außerdem: Hepp et al., 2015, S. 320; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 422; Strömbäck & Esser, 2014, S. 10). Kepplinger (2008, S. 336) verweist in diesem Zusammenhang auf ein funktionales Wirkungsmodell, das auf dem klassischen Kausalmodell aufsetzt (ähnlich argumentiert: Fawzi, 2014, S. 100): Die Funktionseliten haben früher die Erfahrung gemacht, dass Medien beispielweise auf Konflikte mit Aufmerksamkeit reagieren und dass sie diese in einer bestimmten Art und Weise darstellen – etwa besonders zugespitzt und dramatisiert. Dies hat wiederum die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Konfliktthema (und weg von anderen Themen) gelenkt und verschiedene Teilöffentlichkeiten und Stakeholder sind in der Folge mit bestimmten Erwartungen und Ansprüchen an die Funktionseliten herangetreten, wie mit dem vermeintlichen Konflikt umzugehen sei. Die Erfahrungen, dass Medien in einer bestimmten Weise (re-)agieren und zudem zur Ursache solcher öffentlicher Dynamiken werden können, bildet wiederum die Basis für die künftigen Erwartungen und Antizipationen der Entscheidungsträger, die in der klassischen Wirkungsforschung nur selten eine Rolle spielen (Strömbäck & Esser, 2014, S. 10; vgl. auch die Befunde von Davis, 2007, S. 186). Ähnlich verhält es sich mit indirekten Effekten auf die Entscheidungsträger, die beispielweise durch gruppendynamischen Prozesse im Zuge der Medienberichterstattung entstehen können (Kepplinger, 2008, S. 328–329). Schließlich dienen diese Erfahrungen wiederum als Basis für die strategischen Planungen der Akteure: In der Erwartung einer bestimmten Wirkung, können Funktionseliten gezielt versuchen, Berichterstattung und öffentliche Kommunikation in einer gewünschten Art und Weise zu initiieren oder zu beeinflussen (Kepplinger, 2008, S. 334; Raupp, 2009, S. 272). Aber nicht nur der Wirkungsbegriff, auch die zugrundeliegenden Wirkungsmodelle der Wirkungsforschung greifen oft zu kurz: Sucht man zunächst nach einer Erklärung für Medienwirkungen auf gesellschaftliche Entscheidungsträger, so finden sich vornehmlich indirekte, mehrstufige Wirkungsmodelle (vgl. z. B. auch Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 11; Pritchard, 1992, S. 105). Demnach werden gesellschaftliche Entscheidungsträger in ihrem Handeln vor allem dadurch beeinflusst, dass deren relevante Teilöffentlichkeiten (Anhänger, Parteimitglieder, Wähler) durch Medien beeinflusst werden, die dann wiederum mit veränderten 109
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Anforderungen an die Funktionseliten herantreten und einen Wandel im Kernentscheidungshandeln fordern. Diese indirekten Wirkungsmodelle blenden dabei aber aus, dass gesellschaftliche Funktionseliten auch direkten Wirkungen unterliegen können, die noch dazu besonders ausfallen können, weil sie selbst und ihre Themen Gegenstand der medialen Betrachtung sind (Kepplinger, 2008, S. 330, 2010d; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 422). Insbesondere die Befunde von Fawzi (2014, S. 294) zur Bedeutung der Medien in der Energiepolitik zeigen, dass dieser indirekte Wirkmechanismus über die öffentliche Meinung – zumindest aus Sicht der beteiligten Akteure selbst – nur bedingt zutrifft: Die befragten Akteure gingen zwar von einem hohen Einfluss der Medien auf die Bürger aus, schrieben letzteren aber nur bedingt Einfluss auf die eigenen politischen Entscheidungen in der Energiepolitik zu. Deutlich klarer nahmen sie dagegen die direkten Wirkungen der Medien auf sich und ihr Handeln im Policy-Prozess der Energiepolitik wahr. Diese Befunde aus der Energiepolitik sprechen demnach sogar dafür, dass der direkte im Vergleich zum indirekten Wirkkanal der deutlich stärkere ist. Viele der allgemeinen Wirkungstheorien fußen überdies auf dem Grundgedanken der Lerntheorie (Kepplinger, 2008, S. 333). Dieser muss jedoch mit Blick auf potenzielle Medialisierungsfolgen erweitert werden, da Medienwirkungen im Sinne der Medialisierung nicht primär implizieren, dass medienvermittelte Kommunikation die Einstellungen der Entscheidungsträger zu dem Gegenstand verändern, über den gesprochen wird (d. h. sie „lernen“ nicht primär etwas zu dem Thema, über das gesprochen wird). Vielmehr sind die Einstellungen der Funktionseliten zu den Medien selbst betroffen – also beispielweise für wie wichtig sie Medien erachten oder für wie einflussreich sie mit Blick auf verschiedene Teilöffentlichkeiten gehalten werden (Kepplinger, 2008, S. 329; Marcinkowski, 2014, S. 17–18). Viele der Wirkkonzeptionen in der Medienwirkungsforschung greifen also zu kurz und selbst wenn sie adäquat für die Beschreibung der hier fokussierten Wirkmechanismen wären, mangelt es an einer belastbaren empirischen Basis, um die vorhandenen Erkenntnisse auf diese spezielle Population übertragen zu können. Aber auch die Medialisierungsforschung hilft in der Frage nach den zugrundeliegenden Wirkmechanismen nur bedingt weiter. Zunächst legen folgende Befunde den Schluss nahe, dass die zugrundeliegenden Verarbeitungsprozesse von öffentlicher und medialer Kommunikation berücksichtigt werden müssen: Im Zusammenhang mit den Medialisierungsfolgen haben sich die Antizipationen der Entscheidungsakteure sowie deren Einschätzungen zum Einfluss der Medien als sehr bedeutsam erwiesen (vgl. die Ergebnisse von Brants et al., 2010; Donges, 2008; Kepplinger, 2010a; Strömbäck, 2011a). Auch die Tatsache, dass Einflüsse auf das Kernentscheidungshandeln und die kommunikativen Handlungen eher indirekt und subtil (vgl. die Ergebnisse von Melenhorst, 2015; Spörer-Wagner
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& Marcinkowski, 2010), kanalisiert über die Schlüsselkomponente der strategisch-taktischen Überlegungen (vgl. Kapitel 2.5.1) erfolgen, spricht dafür, dass eine wahrnehmungs- und verarbeitungsorientierte Perspektive hilfreich sein könnte. Entsprechend konkludiert auch Strömbäck (2011a, S. 436) aus seiner Studie: „perceptions matter, and they may matter more than actual realities (…) Hence, as both politicians and political news journalists perceive the media to be highly influential, they will behave accordingly and may consequently, through a self-fulfilling prophecy, make the media highly influential“ (ähnlich: F. Esser & Matthes, 2013, S. 192; Fawzi, 2014, S. 311, 2018, S. 1135; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 217; Meyen et al., 2014, S. 274; Walgrave & van Aelst, 2006, S. 100; Weichselbaum, 2016, S. 226–227). Entsprechend definieren auch Donges und Jarren (2014, S. 188) Medialisierung als eine „reaction of political actors to their perceptions that the news media have become an influential factor in their environment“ (Hervorhebung, CV). In Bezug auf die Wirkmechanismen geht es also um folgende Fragen: Was und wie nehmen die Entscheidungsträger das, was öffentlich kommuniziert wird, wahr? Welche Bedeutung schreiben sie dem zu und wie bewerten sie das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Ziele? Welche unmittelbaren Reaktionen entstehen auf kognitiver und emotionaler Ebene? All diese Aspekte, so die Annahme, haben dann wiederum Konsequenzen für die strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheidungsträger. In der Medialisierungsforschung werden diese Aspekte allerdings nicht berücksichtigt, sieht man von wenigen Randverweisen auf solche Einflussschneisen wie den Influence of Presumed Media Influence ab (vgl. z. B. Fritz, 2012, S. 7; Reinemann, 2010, S. 286; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 21, 2011, S. 422; Strömbäck, 2011a, S. 436). Diese Aspekte werden im konzeptionsleitenden Fragenkomplex 2) adressiert: ▶ 2) Wie lassen sich die Mechanismen konzipieren, die medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit den Weg in den Entscheidungsprozess von Funktionseliten bahnen? Welche Rolle spielt die psychologische Verarbeitung von und Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit (d. h. das medien- und öffentlichkeitsbezogene Bewusstsein, die entsprechenden Wahrnehmungen und Überlegungen) im Zusammenhang mit dem Kernentscheidungshandeln der Eliten einerseits und ihrem öffentlichen Kommunikationshandeln andererseits? Zur Modellierung dieser Wirkmechanismen bieten sich verschiedene Ansätze zu wahrnehmungsbasierten Medienwirkungen an – etwa der Influence of Presumed Media Influence (Gunther & Storey, 2003), der Hostile Media Effekt (Vallone et al., 1985), ebenso wie reziproke Effekte (Kepplinger, 2007) oder das, was Marcin111
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
kowski (2014, S. 17) „mental mediatization“ nennt. Ihnen allen ist gemeinsam, dass Wahrnehmungen bzw. die individuelle kognitive Verarbeitung von vergangener und künftig erwarteter öffentlicher Kommunikation die Basis für jegliche Form der Wirkung darstellen. Dabei muss aber insbesondere im Vergleich zum Influence of Presumed Media Influence sowie dem Hostile Media Effekt ein breiterer Blickwinkel gewählt werden: Es geht nicht nur darum, ob potenzielle Einflüsse ausgehend von ganz konkreten Medieninhalten vermutet werden. Vielmehr muss breiter gefragt werden, bei wem welche Einflüsse unter welchen Bedingungen angenommen werden, womit diese Einflussvermutungen interagieren (Kepplinger, 2008, S. 329 nennt hier beispielweise gruppendynamische Prozesse aus der eigenen Bezugsgruppe, also z. B. der eigenen Partei) und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Beim Stichwort Interaktionen muss überdies auf potenzielle emotionale Reaktionen verwiesen werden. Hier ist der Forschungsstand allerdings noch rudimentärer (siehe für Ausnahmen: Kepplinger & Zerback, 2012; Matthes & Beyer, 2017; Post, 2019). Dabei ist anzunehmen, dass ebenso wie auf kognitiver Ebene vielfältige Bewertungs- und Interpretationsprozesse stattfinden, auch emotionale Reaktionen auf öffentliche und mediale Kommunikation denkbar sind (Matthes & Beyer, 2017), die wiederum Folgen für die strategisch-taktischen Überlegungen und das Kernentscheidungs- sowie kommunikative Handeln der Funktionseliten haben können. Ausgehend davon muss in letzter Konsequenz auch bei dem Begriff von Medien und Öffentlichkeit, der dieser Arbeit zugrunde liegt, der hohen Bedeutung von Wahrnehmungen und psychologischer Verarbeitung Rechnung getragen werden. Unter Medienöffentlichkeit sollen im Rahmen dieser Arbeit all jene öffentlichen und medial vermittelten Kommunikationsinhalte verstanden werden, die die Entscheidungsträger wahrnehmen oder künftig erwarten und für sich, ihre Ziele und ihre Aufgabenerfüllung als relevant erachten (ähnlich konzipiert Weichselbaum, 2016, S. 224 wahrgenommenen öffentlichen Druck).50 Dabei ist es unerheblich, ob die Quelle dieser Kommunikationsinhalte traditionelle Massenmedien, digitale Kommunikationskanäle oder interpersonale Kommunikation 50 Konzeptionell vereint das hier vorgestellte Konzept von Medienöffentlichkeit den Öffentlichkeitsbegriff von Gerhards und Neidhart (1990) sowie Habermas (1997) mit dem sozialpsychologischen Verständnis von öffentlicher Meinung bei Noelle-Neumann (1982). Damit geht es über das grundständigere Verständnis von Öffentlichkeit als intermediäres Kommunikationssystem zum Austausch von Informationen und Meinungen zwischen verschiedenen Akteuren in einer Gesellschaft hinaus und bezieht den auf subjektiven Wahrnehmungen beruhenden potenziell handlungsleitenden Charakter von öffentlicher Meinung mit ein. Vergleiche für eine ausführlichere Diskussion zu den Grundlagen der vorliegenden Konzeption von Medienöffentlichkeit Kapitel 5.
2.5 Resümee und Identifikation der zentralen Desiderata
113
mit den Anhängern der eigenen Organisation ist (mit denen beispielweise darüber gesprochen wird, welcher Tenor öffentlich gerade vorherrscht). Wichtig ist nur, dass es sich bei diesen Kommunikationsinhalten nicht um private Informationen handelt (d. h. es muss ein Bewusstsein um deren Öffentlichkeit geben) und dass sie für relevant erachtet werden. Grundlage für diese Relevanzzuschreibung sind die Bedeutung und die wahrgenommenen Ansprüche von verschiedenen Stakeholdern und Teilöffentlichkeiten, die der Entscheidungsträger wahrnimmt (Brants & van Praag, 2017, S. 404, vgl. auch die Ergebnisse in der Studie von Kunelius & Reunanen, 2012, S. 67) und welche Bedeutung er verschiedenen Kommunikationskanälen (z. B. massenmedial vermittelt vs. soziale Netzwerke vs. Flyer, der bei den Ortversammlungen der eigenen Organisation verteilt wird) zuschreibt, um diese Teilöffentlichkeiten zu erreichen und mit ihnen erfolgreich kommunizieren zu können (vgl. Kapitel 3.2). Dieses Konzept der Medienöffentlichkeit setzt also einen anderen Schwerpunkt als es im institutionellen Ansatz vorgesehen ist: Folgt man der Argumentation im institutionellen Ansatz, so bilden Nachrichtenmedien im Sinne eines „transorganisationalen Verständnisses“ (T. E. Cook, 2006, S. 161) aufgrund ähnlicher Zielsetzungen, vergleichbarer Organisationsstrukturen und einem ähnlichen Umfeld geteilte Regeln und Routinen zur Selektion, Produktion und Aufbereitung von Nachrichten aus (T. E. Cook, 2006, S. 160, 163; F. Esser, 2013, S. 159–161; Strömbäck & Esser, 2014, S. 12). Unabhängig davon, ob es eine solche geteilte, objektiv beobachtbare Logik der Nachrichtenmedien tatsächlich gibt 51, ist das Argument hier, dass es entscheidend ist, was die Funktionseliten als solche wahrnehmen (Marcinkowski, 2014, S. 8; ein ähnliches Argument liefert Weichselbaum, 2016, S. 226, für wahrgenommenen öffentlichen Druck). Die entsprechende Konzeptualisierung sowie die Diskussion der Implikationen, die aus diesem Konzept der wahrgenommenen Medienöffentlichkeit und ihrer wahrgenommenen Logik resultieren, sollen in Kapitel 5 dieser Arbeit erfolgen.
51 Manche Autoren kritisieren durchaus, dass die Vorstellung, es gäbe eine gemeinsame Medienlogik, zu kurz greife, wenn man die Vielzahl an verschiedenen Kanälen und Angeboten berücksichtigt, die überdies weiterhin im Wachstum begriffen ist (Brants & van Praag, 2017, S. 400–401; Meyen, Thieroff & Strenger, 2014, S. 280). 113
114
2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
2.5.3 Berücksichtigung der Kontexte Schließlich legen die bisherigen theoretisch-konzeptionellen Vorarbeiten ebenso wie die vorhandenen empirischen Ergebnisse nahe, dass die Einflüsse aus medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit auf die Entscheidungsträger stark entlang verschiedenster Rahmenbedingungen variieren (Hepp et al., 2015, S. 320; Protess et al., 1987, S. 183; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 423; Strömbäck & Esser, 2014, S. 7; siehe für einen Überblick im Bereich des Policy Agenda Setting: Walgrave & van Aelst, 2006). Genannt werden hier beispielweise Merkmale des Entscheidungsprozesses selbst wie die Phase der Auseinandersetzung (vgl. Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 304; Protess et al., 1987, S. 182) oder Merkmale des Themenfeldes, das im Fokus steht (korrespondiert es bspw. mit Nachrichtenfaktoren?, vgl. Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 303). Darüber hinaus werden als relevante Rahmenbedingungen die Eigenschaften der beteiligten Akteure bzw. der entsprechenden Organisationen benannt (z. B. Regierung vs. Opposition, vgl. Walgrave et al., 2008; Unterschiede je nach Größe, Ressourcen und Organisationsstruktur; vgl. Koch-Baumgarten, 2014, S. 174; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 85; institutionelle Merkmale, vgl. Schrott & Spranger, 2007, S. 5). Die Merkmale der Medien und Öffentlichkeiten, von denen ein Einfluss ausgehen soll (z. B. Medium, vgl. Walgrave et al., 2008). Schließlich legen weitere Betrachtungen nahe, dass auch globale Faktoren wie kulturelle, ökonomische, rechtliche und technologische Rahmenbedingungen (Hepp et al., 2015, S. 317) oder generelle gesellschaftspolitische Stimmungen (Walgrave, 2008, S. 446) sowie individuelle Merkmale der jeweiligen Funktionseliten berücksichtigt werden sollten (z. B. das Selbstverständnis, vgl. Zoizner et al., 2017). Wie für die Folgen der Medialisierung generell gilt auch hier, dass der empirische Forschungsstand mit der Vielzahl an Annahmen nicht mithalten kann (siehe für Ausnahmen: Amsalem et al., 2017; Donges, 2008; Landerer, 2015; Protess et al., 1987; Schrott & Spranger, 2007). Eine Studie, die sich explizit der Rolle solcher Randbedingungen im Medialisierungskontext gewidmet hat, legen Schrott und Spanger (2007) vor: In der Fallanalyse von vier Verhandlungssystemen (Konklave, Vermittlungsausschuss im US Kongress, Koalitionsverhandlungen in Deutschland, Bundesrat in der Schweiz), die sich in Charakteristika wie den institutionellen Merkmalen, dem Kernentscheidungsprozess und den beteiligten Akteuren unterschieden, zeigte sich, dass Informalität ebenso wie Exitoptionen sowie ein hohes Maß an Transparenz Medialisierungseffekte erhöhten. Daher konkludieren sie, dass Medialisierungseffekte stark konditional mit Blick auf die Strukturen und Prozesse in den Verhandlungssystemen seien. Trotz dieser Vielzahl an Erkenntnissen zur Bedeutung von Rahmenbedingungen, werden diese kaum systematisch in die Modellbildung einbezogen (Deacon &
2.5 Resümee und Identifikation der zentralen Desiderata
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Stanyer, 2014, S. 1034; Schrott & Spranger, 2007, S. 4). Berücksichtigt man sie jedoch nicht, läuft man Gefahr, die Einflüsse der Medienöffentlichkeit im Entscheidungsgeschehen entweder zu unter- oder zu überschätzen, da man wichtige Faktoren außer Acht gelassen hat, die ihre Einflüsse begünstigen bzw abschwächen können (beispielweise wählten Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010 in ihrer qualitativen Fallanalyse explizit Fälle aus, die unter intensiver öffentlicher Beobachtung standen, was starke Medialisierungseffekte begünstig haben könnte). Demnach ist zu vermuten, dass sich manche Widersprüche zwischen den vorhandenen Erkenntnissen auflösen lassen, wenn man die relevanten Umweltfaktoren einbezieht (Koch-Baumgarten, 2014, S. 191). Erst durch die explizite Modellierung dieser Umweltfaktoren wird es möglich, Erkenntnisse zu erzielen, die über verschiedene Kontexte hinweg generalisierbar sind (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 354; Strömbäck & Esser, 2014, S. 8). Denn nur so kann es gelingen, den originären Einfluss medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit aus der Gemengelage verschiedenster Einflüsse auf das Entscheiden von gesellschaftlichen Funktionseliten zu destillieren. Ziel muss es daher sein, relevante Rahmenbedingungen zu identifizieren und in ihren Wirkmechanismen zu spezifizieren. Diese Notwendigkeit der Kontextualisierung wird in den konzeptionsleitenden Fragestellungen 3a und 3b adressiert: ▶ 3a) Welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, um die Einflüsse aus der psychologischen Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit auf das Kernentscheidungs- und öffentliche Kommunikationshandeln gesellschaftlicher Funktionseliten zu konzipieren und zu untersuchen? ▶ 3b) Welche Effekte gehen von den entsprechend relevanten Rahmenbedingungen auf den Kernzusammenhang zwischen psychologischer Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit einerseits und dem Handeln der Funktionseliten andererseits aus? Zur Beantwortung dieser konzeptionell-orientierten Teilfragestellungen sollen zunächst die zentralen Umwelten der Funktionseliten als grobe Rahmenstruktur dienen. Funktionseliten bewegen sich im Zuge ihres Entscheidungshandelns in (mindestens) drei zentralen Umwelten: 1) die Kernentscheidungsarena, die meist abseits der öffentlichen Beobachtung angesiedelt ist und der kollektiven Lösungsfindung dienen soll – zumindest im vorliegenden Fall, wo Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismus modelliert werden (vgl. Kapitel 3.1 und Schrott & Spranger, 2007; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, 2011). 2) Die mediale und öffentliche Arena, d. h. die Medienöffentlichkeit, deren Ansprüche die Funktions115
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2 Problemstellung: Medien und Entscheidungen von Funktionseliten
eliten vor dem Hintergrund ihrer Legitimationsnotwendigkeit bei verschiedenen Teilöffentlichkeiten begegnen müssen, sich ihrer aber zugleich auch bemächtigen können, um ihre Zieldurchsetzung zu fördern (vgl., Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009; Marcinkowski, 2014; Strömbäck & Esser, 2014). 3) Die organisationale Umwelt, die das Handeln der Entscheidungseliten überhaupt erst ermöglicht und sie zugleich auch restringiert (z. B. die eigene Partei, das Unternehmen, in dem ein Wirtschaftsentscheider angesiedelt ist; die Institution, in der Funktionseliten eine führende Position einnehmen, vgl. Keller, 1991, S. 100; Turner, 1992, S. 233; van Kleef et al., 2007, S. 129). Die Eigenschaften und Merkmale, die das Handeln in diesen drei Umwelten prägen, sollen aus dem bestehenden Korpus an interdisziplinärer Forschungsliteratur extrahiert und als Modellparameter unter diesen drei Dächern konzipiert werden (vgl. Kapitel 6.1–6.3; z. B. welche Merkmale kennzeichnen die Interaktion mit den Mitgliedern/Anhängern der eigenen Organisation; welche Aspekte sind in der Interaktion mit der Medienöffentlichkeit relevant?). Diese Modellierung der Umwelten und ihrer Parameter ermöglicht es, die Vielzahl an potenziellen Entscheidungssituation und -konstellationen abzubilden, die im Zusammenhang des vorliegenden Forschungsinteresses denkbar sind.
2.6 Zwischenfazit 2.6 Zwischenfazit
Durch die breite Sichtung des Forschungsstandes war es möglich, sich vor dem Hintergrund der hier verfolgten Problemstellung zu orientieren. Für die Frage, welchen Einfluss Medien und öffentliche Aufmerksamkeit im Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten haben, konnte im vorangegangenen Kapitel zunächst geklärt werden, um wen es sich bei Funktionseliten handelt (vgl. Kapitel 2.1), welche Antworten die Kommunikationswissenschaft zu liefern vermag (vgl. Kapitel 2.2) und wie variantenreich, aber gleichzeitig auch fruchtbar der Medialisierungsansatz (vgl. Kapitel 2.3) ist, um sich der Problemstellung zu nähern. Hieraus bleibt die Konklusion, dass es an vielen Stellen an einer kohärenten theoretischen Konzeption mangelt und entsprechend ein empirischer Forschungsstand resultiert, der eine Vielzahl an isolierten Einzelerkenntnissen produziert hat, die nur schwer zusammengeführt werden können. Insbesondere drei zentrale Lücken konnten dabei identifiziert werden, die es zu bearbeiten gilt, wenn man eine Antwort auf die Frage nach den Medieneinflüssen auf das Entscheiden von Funktionseliten geben möchte:
2.6 Zwischenfazit
117
1. Es bedarf einer klaren Spezifikation, was unter dem komplexen Konstrukt „Entscheidungshandeln“ zu verstehen ist und wie es sich von anderen Aktivitäten der Funktionseliten, insbesondere ihrem kommunikativen Handeln, abgrenzen lässt. 2. Die Wirkmechanismen, über die die Medienöffentlichkeit einen Einfluss auf das Kernentscheidungshandeln und die kommunikativen Handlungen der Eliten hat, müssen definiert und konzeptualisiert werden. Hierbei gilt es insbesondere der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass die Wahrnehmungen, Überlegungen, emotionale Reaktionen und Erwartungen der Funktionseliten zentral zu sein scheinen. 3. Schließlich gilt es, den Kernzusammenhang zwischen psychologischer Verarbeitung von medialer und öffentlicher Kommunikation und dem Kernentscheidungs- sowie kommunikativen Handeln von Funktionseliten zu extrahieren. Hierzu müssen die relevanten Randbedingungen und Umwelten, in denen sich Funktionseliten bewegen, identifiziert und dann in ihren Merkmalen modelliert werden, um für deren Einflüsse kontrollieren zu können.
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Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft 3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
3
Die breite Sichtung des Forschungsstandes zum Zusammenspiel von Medien und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern hat gezeigt, dass es eine Vielzahl an potenziellen Ansatzpunkten gibt, man jedoch einen sparsamen und konsistenten Zugang vergeblich sucht (vgl. Kapitel 2). In der Kommunikationswissenschaft bzw. der politischen Kommunikationsforschung wird dabei traditionell die Frage nach dem Machtverhältnis (wer determiniert wen?; vgl. Kapitel 2.2) gestellt (Brants et al., 2010; Davis, 2009; Raupp, 2009; Strömbäck, 2011a). Über das persönliche (Macht-) Verhältnis zwischen Journalisten und Entscheidern hinaus bietet insbesondere die Medialisierungsperspektive einen elaborierteren Zugang (vgl. Kapitel 2.3). Sie versucht, über den Gedanken des Durchdringens den Einfluss der Medien zu fassen – und zwar, indem sie neben dem Individuum auf der Mikroebene auch die Meso- und Makroebene in den Blick nimmt und zugleich vom engen Wirkungsbegriff abstrahiert und beispielweise auch Folgen allein aus der Existenz der Medien vorsieht (Marcinkowski, 2014, S. 17; Strömbäck & Esser, 2014, S. 11). Versucht man davon ausgehend den Blickwinkel darauf zu verengen, welchen konkreten Einfluss Medien und öffentliche Kommunikation auf den tatsächlichen Kernentscheidungsprozess gesellschaftlicher Eliten haben, so lassen sich nur noch vereinzelte und zugleich kaum miteinander verknüpfte Ansätze und Forschungsarbeiten finden (vgl. Kapitel 2.3.2.2; siehe z. B. Forschung zu Policy Agenda Setting: Walgrave & van Aelst, 2006; Forschung zu den Medialisierungsfolgen auf nicht-medienbezogenes Handeln: Kunelius & Reunanen, 2012; Melenhorst, 2015; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010; reziproke und andere wahrnehmungsbasierte Effekte: Jonathan Cohen et al., 2008; Kepplinger & Marx, 2008; Forschung zum Medieneinfluss auf Policy-Entscheidungen: Fawzi, 2018; CNN-Effekt: Gilboa, 2005). Im Resultat lässt die bisherige Forschung also eine Systematik vermissen, die sich fragt, was genau „Entscheiden“ im Kontext der Mediengesellschaft bedeutet (Anforderung 1), wie
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Viehmann, Korsett und Machtressource, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32009-6_3
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
genau Medien in diesem Zusammenhang einflussreich sein können (Anforderung 2) und welche Kontextfaktoren und Umwelten berücksichtigt werden müssen, um den medialen und öffentlichen Einfluss aus der Vielzahl an potenziellen Faktoren extrahieren zu können (Anforderung 3) (vgl. Kapitel 2.5.1 bis 2.5.3). Um der ersten Anforderung zu genügen, sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit Verhandlungen zwischen Funktionseliten als ein verbreiteter Mechanismus der kollektiven gesellschaftlichen Entscheidungsfindung herangezogen und medieninduzierte Einflüsse darin modelliert werden. Verhandlungen sollen also dazu dienen, den Kernentscheidungsprozess der gesellschaftlichen Funktionseliten zu modellieren. Konkret bedeutet dies, dass die kommunikationswissenschaftlichen Ansätze zur Erklärung von Medieneinflüssen auf gesellschaftliche Eliten (hier insbesondere das Medialisierungsparadigma) mit Ansätzen der Verhandlungsforschung verknüpft werden. Die Verhandlungsforschung als hochgradig interdisziplinäres Forschungsfeld hat es sich zum Ziel gesetzt, das Verhandeln zwischen Akteuren mit konträren Interessen zu erklären. Jedoch bleibt die Mediengesellschaft in dieser Forschungstradition weitestgehend außen vor (vgl. Kapitel 2.1, siehe für Ausnahmen L. L. Putnam & Roloff, 1992). Bevor also eine Modellierung von Medieneinflüssen im Verhandlungskontext im zweiten Teil dieser Arbeit erfolgen kann (vgl. Kapitel 4), müssen zunächst die zentralen Grundlagen der Verhandlungstheorien aufgearbeitet werden (vgl. Kapitel 3.1). Diese Aufarbeitung soll den Hintergrund der vorliegenden Betrachtung aufspannen und damit eine Einordnung der Parameter im Zuge der späteren Modellierung ermöglichen. Die Überleitung zu „den Medien“ schafft Kapitel 3.2, indem dargelegt wird, welche Bezugspunkte die Verhandlungsakteure zu Medien, der allgemeinen Öffentlichkeit und verschiedenen Teilöffentlichkeiten haben. Diese Betrachtung legt die Basis, um zu verstehen, wie Medien und öffentliche Aufmerksamkeit sich auf das Entscheidungshandeln auswirken können (Anforderung 2, vgl. Kapitel 2.5.2). Diese Wirkkanäle basieren nämlich, so die zentrale Vermutung, auf den Wahrnehmungen, Überlegungen und emotionalen Reaktionen der Entscheidungsträger, die auf Grundlage ihrer Interaktion mit verschiedenen Bezugsgruppen im Kontext der Medienöffentlichkeit entstehen. Dem Anspruch an Kontextualisierung von potenziellen Einflüssen der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln wird hier ebenfalls Rechnung getragen (vgl. Anforderung 3, Kapitel 2.5.3). Um den Einfluss aus medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit aus der Vielzahl potenzieller Einflussfaktoren auf das Entscheidungshandeln extrahieren zu können, müssen die potenziellen Kontexte und Umwelten identifiziert werden, in denen sich die Funktionseliten bewegen. Dies erfolgt einerseits im Zuge der Auseinandersetzung mit der Verhandlungsforschung, wo sich die Merkmale der Verhandlungsumwelt (z. B. Regeln, Prozeduren, frühere
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
121
Beziehung zum Verhandlungspartner) sowie die organisationale Eingebundenheit der Entscheider als bedeutsam erweisen (vgl. Kapitel 3.1.4). Andererseits liefert die Betrachtung der Beziehung, die gesellschaftlichen Funktionseliten zu verschiedenen Bezugsgruppen pflegen, Hinweise auf die Qualitäten der Medienöffentlichkeit als dritte relevante Umwelt. Ein Zwischenfazit (vgl. Kapitel 3.2.3) bringt diese medien- und öffentlichkeitsbezogenen Erkenntnisse zusammen. Während also Kapitel 2 die Breite in der Sichtung des Forschungsstandes im Blick hatte, soll hier in Kapitel 3 an den zentralen Knackpunkten im theoretisch-konzeptionellen Unterbau die Tiefe geliefert werden. Beides wird anschließend den theoretischen Modellaufbau in Teil II leiten.
3.1
Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
3.1
Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
Das nachfolgende Kapitel dient als Basis, um Verhandlungen als eine Form des Kernentscheidungshandelns von gesellschaftlichen Funktionseliten zu konzipieren. In einem ersten Schritt wird dazu zunächst erklärt, welche Kernentscheidungsund Konfliktaustragungsmechanismen es in demokratischen Gesellschaften gibt, welche Relevanz Verhandlungen in diesem Set an Steuerungsinstrumenten haben und welche Problemdimensionen sich bei der normativen Bewertung von Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismus für gesellschaftliche Konflikte und Interessensgegensätze ergeben (vgl. Kapitel 3.1.1). Vor allem die damit einhergehenden öffentlichkeits- und demokratietheoretischen Herausforderungen werden hier dargelegt. Anschließend gilt es, Verhandlungen in ihren grundlegenden definitorischen Merkmalen aufzuarbeiten (vgl. Kapitel 3.1.2) und zentrale Einflussparameter des Verhandlungsgeschehens und -ergebnisses darzustellen (vgl. Kapitel 3.1.3). Diese beiden Kapitel setzen dabei an grundständigen Verhandlungsmodellen an, die das Ziel haben, jegliche Form von Aushandlungsprozessen zu beschreiben und zu erklären. Auf dieser Basis lassen sich wiederum die Charakteristika und Einflussfaktoren von institutionalisierten Verhandlungen komplexer Akteure, wie es bei Verhandlungen zwischen gesellschaftlichen Funktionseliten der Fall ist, spezifizieren (vgl. Kapitel 3.1.4). Dadurch entsteht ein Modellrahmen, der die zentralen Parameter von Verhandlungen als gesellschaftlichen Kernentscheidungsmechanismus umfasst, und in den die Medienperspektive integriert werden kann.
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3.1.1
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Relevanz und normative Bewertung von Verhandlungen als gesellschaftlicher Kernentscheidungsmechanismus
In Massengesellschaften als komplexe soziale Gemeinschaften prallen zahlreiche Interessen aufeinander, die unter der Bedingung der Interdependenz zwischen den Individuen zu Spannungen und Konflikten führen (Coser, 1972, S. 21; Strasser, 2010, S. 485; Ury, Brett & Goldberg, 1988, S. 414). Die Lösung dieser sozialen Konflikte stellt eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der kollektiven Ordnung dar. In allen Gesellschaftsbereichen sind daher kollektiv verbindliche Entscheidungen – also die gemeinsame, intentionale Auswahl einer Option aus mehreren Alternativen (Korte & Fröhlich, 2009, S. 25; Schimank, 2005, S. 49)– gefragt, um eine friedliche Steuerung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu gewährleisten (Keller, 1991, S. 20). So muss beispielsweise eine Lösung dafür gefunden werden, wie Kollektivgüter wie öffentliche Sicherheit, Infrastruktur und Umweltschutz in einer Gemeinschaft gewährleistet werden können und wie sich die verschiedenen Akteure in einer Gesellschaft daran beteiligen (Individuen, Unternehmen, Verbände, der Staat). Es existieren verschiedene Mechanismen, um eine Lösung solcher Konflikte, d. h. eine Entscheidung von gesellschaftlicher Reichweite herbeizuführen. Dabei wird zwischen der hierarchisch-autoritären Steuerung (z. B. Präsidialerlasse des amerikanischen Präsidenten), Mehrheitsentscheidungen in Form von Abstimmungen und Wahlen, dem Marktmechanismus und Verhandlungen unterschieden (Holzinger, 2007, S. 313; Korte & Fröhlich, 2009, S. 181; Lehmbruch, 2000, S. 15; Scharpf, 1991, S. 5; M. G. Schmidt, 2011, S. 277). Während bei Mehrheitsentscheidungen und dem Marktmechanismus eine dezentrale Koordination von Individuen erfolgt, stellen die hierarchische Steuerung sowie Verhandlungen Mechanismen dar, in denen Entscheidungen von breiter gesellschaftlicher Relevanz von einigen wenigen Personen, nämlich gesellschaftlichen Funktionseliten getroffen werden (M. Hartmann, 2004, S. 62; Holzinger, 2007, S. 313; Keller, 1991, S. 4). Potenzielle Medieneinflüsse auf das Entscheiden dieser Eliten könnten demnach weitreichende Folgen für große Teile der Bevölkerung haben (Kepplinger, 2007, S. 3). Während die Kommunikationswissenschaft bereits Erkenntnisse zu Medienwirkungen auf normale Rezipienten und deren wahlrelevantes Verhalten hat (vgl. Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 299), sind Wirkungen auf elitenbasierte Kernentscheidungsprozesse bislang nur randständig untersucht worden (Fritz, 2012, S. 1). Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt demnach auf elitenbasierten Kernentscheidungsprozessen und hier insbesondere auf Verhandlungen (ein ähnliches Vorgehen schlägt Marcinkowski, 2014, S. 15 vor), weil sich diese Form der Kernentscheidungsfindung gerade im Vergleich zur hierarchisch-autoritativen Steuerung zunehmend verbreitet (Czada, 2014, S. 118; Korte & Fröhlich, 2009, S. 74; Sarcinelli, 2011, S. 128; Spörer-Wagner
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
123
& Marcinkowski, 2011, S. 418). Gleichzeitig unterscheiden sich beide in ihren Regelsystemen und Bedingungen diametral (Lehmbruch, 2000, S. 19). Daher ist eine gemeinsame Betrachtung von elitenbasiertem Entscheiden in Verhandlungen einerseits und hierarchisch-autoritativen Steuerungsprozessen andererseits kaum sinnvoll zu leisten. Trotz oder gerade wegen ihrer unterschiedlichen Merkmale treten diese Steuerungsmechanismen im gesellschaftlichen Alltag selten in Reinform, sondern durchaus gemeinsam auf: Beispielweise findet man im Rahmen eines Gesetzgebungsprozesses neben dem Aushandeln der Gesetzesdetails auch hierarchie-gestützte Entscheidungen (zum Beispiel in den Ministerien), wie bestimmte Details gehandhabt werden sollen, und am Ende wird in dem entsprechenden Gremium, dem Parlament, abgestimmt. Da aber Aushandlungsprozesse in diesem komplexen Gesamtprozess der gesellschaftlichen Kernentscheidungsfindung zunehmend bedeutsamer werden, sollen sie im Fokus der Modellierung stehen, auch wenn reale gesellschaftliche Kernentscheidungsprozesse mitunter sehr facettenreiche Mischformen sind. Die Bedeutsamkeit von Verhandlungen als gesellschaftlichem Kernentscheidungs- und Steuerungsmechanismus zeigt sich im politischen Bereich vor allem am Konzept der Verhandlungsdemokratie (Czada, 2014, S. 117; Lehmbruch, 2000, S. 17). Darunter wird unter Rückgriff auf Lijphart (1999) und in Abgrenzung zur Wettbewerbsdemokratie „ein Modell politischer Integration und Beteiligung“ verstanden, „in dem das Mehrheitsprinzip zurücktritt zugunsten der Konfliktregelung durch Konsultation und Verhandlung mit dem Ziel einer einvernehmlichen Problemlösung“ (Czada, 2014, S. 125). Da gerade in jüngerer Vergangenheit gesellschaftliche Strukturen zunehmend an Prägekraft einbüßten (z. B. soziale Milieus, große gesellschaftliche Organisationen wie Kirchen, Parteien und Verbände) und daher Individualisierungstendenzen mit einer steigenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft Hand in Hand gehen, steigt nicht nur die Komplexität der sozialen Konflikte, auch die Unsicherheit der Entscheidungsträger nimmt angesichts volatilerer gesellschaftlicher Stimmungslagen zu (Czada, 2014, S. 118; Korte & Fröhlich, 2009, S. 241; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 1; Strömbäck & Esser, 2014, S. 3). Verhandlungen, die die verschiedenen Positionen einbinden bzw. abbilden, ermöglichen es in diesem „Resonanzraum fluider Öffentlichkeit“ (Korte & Fröhlich, 2009, S. 241) zu einer Lösung zu gelangen (Czada, 2014, S. 118; Korte & Fröhlich, 2009, S. 241). Entsprechend werden immer mehr gesellschaftliche Konfliktlinien mit einer eigenen „Gipfelkonferenz“, einem „runden Tisch“ oder einer „Kommission“ bedacht (z. B. Konjunkturgipfel, Islamkonferenz, Rürup-Kommission), die Lösungen über den Prozess des Aushandelns erarbeiten (Czada, 2014, S. 120; Sarcinelli, 2011, S. 80; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 419). 123
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Auch in der Wirtschaft werden Entscheidungen von breiter gesellschaftlicher Relevanz häufig über Aushandlungsprozesse getroffen: So sind die Interaktionen zwischen Unternehmen (z. B. Übernahmen wie bei Air Berlin durch die Lufthansa im Herbst 2017), zwischen verschiedenen Rollenträgern im ökonomischen Sektor (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) sowie zwischen Funktionsträgern aus Politik und Wirtschaft (z. B. Dieselgipfel im Jahr 2017) durch Verhandeln geprägt. Bedeutsam sind Verhandlungen im ökonomischen Bereich vor allem deshalb, weil der Marktmechanismus bei der Interaktion von wenigen Akteuren (bilaterale Auseinandersetzungen), aber auch mit Blick auf die Entstehung von Institutionen keine zufriedenstellende Lösung liefert (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 35; Holler, 1992, S. 2–3). Trotz ihrer Bedeutsamkeit und des hohen Verbreitungsgrades fällt die normative Bewertung von Verhandlungen als Kernentscheidungs- und Steuerungsmechanismus für gesellschaftlich relevante Probleme nicht eindeutig aus (Scharpf, 1991, S. 30). Positiv wird zunächst die Möglichkeit des aktiven Interdependenzmanagements zwischen den beteiligten Akteuren bewertet: Da einer ausgehandelten Option alle Verhandelnden zustimmen müssen (Holzinger, 2007, S. 311; Lehmbruch, 2000, S. 26), wird es nötig, die Interessen aller Beteiligten – zumindest prinzipiell – zu berücksichtigen, wodurch der Beziehungsaufbau und eine langfristige Kooperation begünstigt werden (Ury et al., 1988, S. 429). Insbesondere dann, wenn die Auseinandersetzung mit einem hohen Konfliktpotential einhergeht und Minderheiteninteressen tangiert werden, stellt der Einbezug aller Positionen einen erfolgsversprechenden Weg der gesellschaftlichen Integration und Problemlösung dar (Lehmbruch, 2000, S. 25). Gerade im Fall von komplex verwobenen Interessen bieten Verhandlungen durch den wechselseitigen Austausch die Möglichkeit, kreative Lösungen zu finden, von denen alle Beteiligten profitieren (Lamm, 1975, S. 14). Dies lässt sich beispielsweise an Koalitionsverhandlungen verdeutlichen: Während dem einen Koalitionspartner die Umweltpolitik besonders am Herzen liegt, ist es bei dem anderen die Europapolitik. Über den Austausch im Rahmen einer Verhandlung ist es möglich, eine Lösung zu finden, die beide zufriedenstellt, indem nämlich jeder Koalitionspartner bei dem Bereich Zugeständnisse macht, der ihm nicht so wichtig ist, und sich dafür in seinem Kernbereich durchsetzen kann. Da sich dadurch alle Beteiligten besser stellen als ohne die Verhandlungslösung, werden Verhandlungen auch vor dem Hintergrund der kollektiven Wohlfahrtssteigerung positiv bewertet (Holzinger, 2007, S. 312; Scharpf, 1991). Im Vergleich zu Abstimmungen, die meist nur eindimensionale Fragen beantworten können, aber auch im Vergleich zur hierarchiegestützten Steuerung sind Verhandlungen gerade in mehrdimensionalen und komplizierten Problemfragen effizienter (Schrott & Spranger, 2007, S. 3): Die Qualität der Entscheidung kann erhöht werden, indem
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im Entscheidungsprozess selbst bereits eine Vielzahl an unterschiedlichen Positionen diskutiert und in eine gemeinsame Lösung integriert wird (Czada, 2014, S. 135; Meade & Stasavage, 2006, S. 124). Dadurch können Fehlsteuerungen (aus Mangel an Wissen um geeignete Optionen) vermieden und Entscheidungskosten verringert werden (Beyme, 1997, S. 45). Trotz der potenziellen Vorzüge von Verhandlungslösungen wird diese Form der gesellschaftlichen Kernentscheidungsfindung auch kritisch betrachtet. Zunächst lassen sich trotz – oder gerade wegen – des Aushandelns immer wieder Koordinationsdefizite beobachten (Holler & Illing, 2006, S. 1; Scharpf, 1991, S. 30). Da im Verhandlungsprozess alle beteiligten Positionen potenziell Gehör finden, wird diesen Beteiligten auch Macht im Sinne einer Vetooption zuteil (Benz, 2007, S. 111; Korte & Fröhlich, 2009, S. 182; Lehmbruch, 2000, S. 26). Denn: Eine erfolgreiche Verhandlungslösung, die anschließend auch implementiert werden soll, bedarf der Zustimmung aller Beteiligten (Holzinger, 2007, S. 311; Schrott & Spranger, 2007, S. 6). Dieser Prozess der Kompromiss- und Zustimmungsfindung ist jedoch anfällig für eine Vielzahl an potenziellen Einflüssen (vgl. Kapitel 3.1.3 und 3.1.4), die wiederum zur Folge haben können, dass keine Lösungen (z. B. Abbruch von Verhandlungen) oder dass suboptimale Lösungen (z. B. Kompromiss als kleinster gemeinsamer Nenner) zustande kommen (Lehmbruch, 2000, S. 27). Zum zweiten knüpft die Kritik vor allem am Mangel an Transparenz an, der den Kernentscheidungsprozess über Verhandlungen in vielen Fällen kennzeichnet (Czada, 2014, S. 116; Korte & Fröhlich, 2009, S. 77; Sarcinelli, 2011, S. 81; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 418). Ursächlich hierfür ist die Tatsache, dass Verhandlungen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden (Sarcinelli, 2011, S. 76; vgl. z. B. auch §69 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Bundestages, die regelt, dass die Ausschüsse, wo das Gros der Gesetzesarbeit stattfindet, nicht-öffentlich beraten). Dies steht umso mehr in hartem Widerspruch zum öffentlichen Interesse, je relevanter die Entscheidung für breite Teile der Gesellschaft ist (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 418). Denn analog zur steigenden Relevanz von Verhandlungen als gesellschaftlicher Steuerungsmechanismus kann angenommen werden, dass das öffentliche und mediale Interesse ebenfalls ansteigt, je bedeutsamer der Verhandlungsgegenstand und die Entscheidungen für breite Teile der Gesellschaft sind (Langer & Sagarzazu, 2017, S. 341; van Aelst et al., 2015, S. 537; z. B. wenn es um Verteilungsfragen geht: Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 6, 2011, S. 429). Einflüsse, die aus dieser öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit resultieren, sollen vermieden werden, indem hinter verschlossenen Türen nach einer Lösung gesucht wird. Zwar müssen sich die Verhandlungsakteure bei gesellschaftlich relevanten Entscheidungen an125
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schließend öffentlich für das Ergebnis verantworten, jedoch bleibt der Weg dahin geheim (Benz, 2007, S. 115). Im Detail geht es darum, einen angemessenen Rahmen für die Kompromissfindung zu schaffen. Dieser setzt voraus, dass die Verhandlungspartner ihre Interessen zumindest in Teilen offen legen, aufeinander zugehen und bereit sind, Abstriche bei ihren Positionen zu machen (Gutmann & Thompson, 2010, S. 1127; Lehmbruch, 2000, S. 26). Eine öffentliche Beobachtung dieses Austauschprozesses birgt die Gefahr des Gesichtsverlustes insbesondere vor denjenigen, deren Interessen in der Verhandlung vertreten werden sollen (B. R. Brown, 1977, S. 285; Fritz, 2012, S. 7; Lehmbruch, 2000, S. 26). Wenn also ein Verhandlungsakteur bei einem Kernanliegen der eigenen Anhänger Abstriche andeutet, um einen Schritt auf den Kontrahenten zu zugehen und so eine Einigung im Verhandlungsprozess erzielen zu können, könnte ihm das bei öffentlicher Beobachtung als Verrat an den eigenen Interessen ausgelegt werden, da die Anhänger die Notwendigkeit, dem Gegner entgegen zu kommen, nicht unmittelbar sehen. In der Konsequenz werden also die Handlungsspielräume der Verhandlungspartner eingeschränkt, was wiederum zu Koordinationsdefiziten führen könnte, da die Beteiligten keine gemeinsame Einigungsbasis identifizieren können (Czada, 2014, S. 120). Entsprechend wird vermutet, dass bei einer Öffnung von Verhandlungen gegenüber der Öffentlichkeit die sachliche Auseinandersetzung im Vergleich zur parteilich motivierten das Nachsehen hat, sodass „sachfremde, am Publikum orientierte, gesichtswahrende oder parteipolitische Konflikte“ (Czada, 2014, S. 122) dominieren (ähnlich: Elster, 1995b, S. 251; Fritz, 2012, S. 7; mindset of political compromise bei Gutmann & Thompson, 201052). Die Kehrseite dieser vermeintlich kompromissfreundlichen Atmosphäre ist jedoch die Gefahr der Verantwortungsdiffusion (Czada, 2014, S. 118; Fritz, 2012, S. 14; Korte & Fröhlich, 2009, S. 184) – gerade bei unpopulären Entscheidungen: Die 52 Ähnlich argumentieren Gutmann und Thompson (2010, S. 1125), wenn sie von „mindset of political compromise“ sprechen. Ihrer These zufolge müssen für einen substantiellen politischen Prozess, der gehaltvolle Entscheidungen mit Blick auf verschiedene politische Themen hervorbringt, Kompromisse erzielt werden. Diese bedürfen eines mindset of political compromise – also Einstellungen und Haltungen, die es erlauben, solche Kompromisse zu erzielen (z. B. prinzipielles Vertrauen darin, dass alle Beteiligten an einer Lösung interessiert sind; Bereitschaft Abstriche bei den eigenen Positionen zu machen). In Zeiten des Campaigning dagegen seien andere Prinzipien maßgeblich, die vor allem darauf abzielen, öffentliche Unterstützung für sich und seine Position zu generieren. Dazu müsse mit Härte und klarer Abgrenzung zu anderen die eigene Position vertreten werden, statt Zugeständnisräume gegenüber der politischen Gegenseite aufzuzeigen und damit Kompromissbereitschaft zu signalisieren. Insbesondere die Tendenz zum „permanent campaigning“ wird vor diesem Hintergrund mit Sorge betrachtet (Gutmann & Thompson, 2010, S. 1129).
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Öffentlichkeit kann nicht nachvollziehen, wer welche Zugeständnisse gemacht hat oder welche Tauschgeschäfte (sog. Package-Deals) eingegangen wurden, um das ausgehandelte Ergebnis zu erzielen. Entsprechend wird befürchtet, dass bei zunehmender Bedeutung von Verhandlungslösungen als gesellschaftlichem Steuerungsmechanismus immer mehr der Eindruck eines in sich klüngelnden Elitenkartells entsteht, demokratische Institutionen nur noch als Farce wahrgenommen werden und so die Legitimität des demokratischen Entscheidungsprozesses insgesamt in Frage gestellt wird (Czada, 2014, S. 120). Gerade in jüngerer Zeit lassen sich entsprechend auch Forderungen nach mehr Transparenz von Aushandlungsprozessen beobachten (Czada, 2014, S. 116; beispielsweise im Zuge der Verhandlungen zum transatlantischen Handelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA, Buchter & Tatje, 2014). Auch gibt es immer mehr Verhandlungssysteme wie beispielweise die Ethikkommission zur Energiewende 2011, die unter den Augen der Öffentlichkeit stattfinden, indem sie nicht nur über Rundfunk und Presse intensiv begleitet, sondern auch per Livestream ins Internet gestreamt werden (Czada, 2014, S. 116, 121, 128). Diesen wird jedoch unterstellt, dass sie die damit einhergehende Medienaufmerksamkeit vor allem dazu nutzen, politisches Marketing zu betreiben (vgl. Czada, 2014, S. 133 zur Islamkonferenz oder zum Integrationsgipfel). In dieser Auseinandersetzung lässt sich also ein Trade-Off zwischen der demokratisch wünschenswerten Transparenz einerseits und der Problemlösekapazität sowie Qualität der verhandelten Lösungen andererseits identifizieren (Elster, 1995b, S. 251). In Anbetracht der Zielsetzung dieser Arbeit – die Rolle von Medien in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern nachzuzeichnen – könnte eingewandt werden, dass das Spannungsfeld zwischen Forderungen nach Transparenz und einem angemessenen Rahmen für die Kompromissfindung nur für den politischen, nicht jedoch für andere gesellschaftliche Bereiche zutrifft. Während nämlich die Notwendigkeit der Legitimation und damit Verantwortlichkeit von gewählten Repräsentanten gegenüber dem Elektorat einleuchtend sind, vertreten privatwirtschaftliche Akteure wie Unternehmen ihre Partikularinteressen. Dennoch ist auch der privatwirtschaftliche Bereich nicht vollkommen unabhängig von den Stimmungen in der Öffentlichkeit (vgl. Kapitel 3.2): Es kann zumindest von einem Interesse nach einem positiven öffentlichen Image ausgegangen werden, das notwendig ist, um Gewinne zu erzielen (Arlt, 1998, S. 52; Karmasin, 2015, S. 345). Generell bedürfen Akteure der Legitimität bei ihren relevanten Bezugsgruppen, wenn sie ihre Ziele erreichen und nicht am Widerstand von relevanten Bezugsgruppen scheitern wollen (Hoffjann, 2015, S. 19, 154; Zerfaß, 2014, S. 25–26). Zudem stellten Meade und Stasavage (2006, S. 124) auch mit Blick auf Verhandlungen zwischen nicht-gewählten Entscheidern fest, dass die Forderungen nach mehr Transparenz 127
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lauter werden. Insofern kann geschlussfolgert werden, dass je nach Bereich die Forderungen nach Transparenz und klarer Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung für die erzielten Lösungen unterschiedlich vehement formuliert werden. Nichtsdestotrotz sehen sich alle Verhandlungsakteure – zumindest in gewissem Ausmaß – diesem Anspruch an Öffnung gegenüber den relevanten Bezugsgruppen (Mitglieder, Anhänger, Investoren, Wähler, Mitarbeiter) konfrontiert (ähnlich argumentieren Keller, 1991, S. 97 für Funktionseliten und Nölleke & Scheu, 2018, S. 205 für Entscheider aus den Bereichen Gesundheit, Wissenschaft und Politik). Wie genau sich das jeweilige Verhältnis zu Medien, der allgemeinen und verschiedenen Teilöffentlichkeit gestaltet und welche Folgen sich daraus für die Einflüsse ergeben, die mediale und öffentliche Kommunikation im Verhandlungsgeschehen ausüben, das soll in Kapitel 3.2 eingehender aufgearbeitet werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Verhandlungen ein zentraler und immer wichtiger werdender Mechanismus zur Lösung sozialer Konflikte und Koordinationsprobleme und damit zur Kernentscheidungsfindung in einer Gesellschaft sind. Die normative Bewertung von Verhandlungen als gesellschaftlichem Kernentscheidungs- und Steuerungsmechanismus fällt jedoch ambivalent aus: Zwar erweisen sich Verhandlungen im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Kernentscheidungsmechanismen als effizient, wohlfahrtsfördernd und besonders geeignet, um die Interdependenz zwischen verschiedenen Akteuren aktiv zu bewältigen. Jedoch treten immer wieder Koordinationsdefizite auf, weil die Kompromissfindung durch die Vielzahl an Einflüssen fragil scheint. Die Gefahr des Scheiterns der Verhandlung bzw. von suboptimalen Lösungen ist groß. Insbesondere aber die Intransparenz, die vielen gesellschaftlich relevanten Verhandlungen anheim ist, bietet Anknüpfungspunkte für Kritik. Wenn Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz verhandelt werden, dann betrifft das breite Teile der Bevölkerung. Die Themen haben also das Potential zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses zu werden. Der Ausschluss der Öffentlichkeit dient dazu, vermeintlich negative Einflüsse aus dieser öffentlichen und medialen Beobachtung zu verhindern und einen angemessenen Rahmen für die Kompromissfindung zu schaffen. Die Kehrseite ist jedoch die eingeschränkte Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung für die erzielte Lösung. Die in jüngerer Vergangenheit immer lauter werdende Forderung nach mehr Transparenz geht in Teilen auch mit einer tatsächlichen Öffnung von manchen – insbesondere neuartigen (Czada, 2014, S. 116) – Verhandlungssystemen einher. Gerade vor dem Hintergrund dieser sehr grundlegenden und aktuell wieder aufkommenden Debatte um die Transparenz von Verhandlungssystemen überrascht es (vgl. auch Beispiele in Kapitel 1.1), dass es kaum wissenschaftliche Evidenz zu den tatsächlichen Folgen von öffentlicher und medialer Beobachtung für das Verhandlungsgeschehen gibt (für Ausnahmen
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vgl. Baugut & Grundler, 2009; Meade & Stasavage, 2006; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Um daher für die normative Bewertung eine fundierte Grundlage zu schaffen, ist es Ziel der vorliegenden Arbeit, die Auswirkungen öffentlicher und insbesondere medial vermittelter Kommunikation im Verhandlungskontext zu konzipieren, um so eine Basis zur empirischen Untersuchung für künftige Forschung bereit zu stellen. Dazu soll im Folgenden eine Auseinandersetzung mit den definitorischen Merkmalen (vgl. Kapitel 3.1.2) und zentralen Einflussparametern von Verhandlungen (vgl. Kapitel 3.1.3 und 3.1.4) erfolgen. Dabei wird zunächst auf grundständige Verhandlungsmodelle eingegangen, die alle Formen von Aushandlungsprozessen – also auch private, zwischen Individuen stattfindende Auseinandersetzungen – beschreiben. In Teilkapitel 3.1.4 werden diese grundständigen Verhandlungsmodelle dann um Merkmale und Einflussparameter von Verhandlungen als gesellschaftlichem Steuerungsmechanismus erweitert.
3.1.2 Definitorische Merkmale und Wesen von Verhandlungen Seien es Ehepartner, die die Frage erörtern, ob Fußball oder eine Liebes-Schmonzette beim gemeinsamen Fernsehabend geschaut wird, ob Eltern mit ihren Kindern über eine angemessene Zubettgehzeit diskutieren, oder ob Kollegen untereinander vereinbaren, wer die unliebsame Aufgabe übernehmen muss, die der Vorgesetzte vom Team erledigt sehen möchte – der Prozess des Aushandelns zwischen unterschiedlich gelagerten Interessen ist all diesen alltäglichen Beispielen gemeinsam. Was im Kleinen, Zwischenmenschlichen beginnt, setzt sich auch auf den nationalen und internationalen Bühnen gesellschaftlicher Entscheidungsträger fort (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3), sodass Verhandlungen in den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen als übergreifender Steuerungsmechanismus fungieren: Verhandlungen kennzeichnen nicht nur die internationalen Beziehungen zwischen Staaten, auch nationale Gesetze oder Regierungskoalitionen sind das Ergebnis von Verhandlungen. Im privatwirtschaftlichen Sektor wird über Übernahmen und Fusionen, Gehälter oder Arbeitszeiten in Tarifverträgen oder etwa die Nutzung von Patenten zwischen Unternehmen verhandelt. In Anbetracht dieser – zugegebenermaßen unvollständigen – Aufzählung überrascht es nicht, dass Thompson (2010, S. 492; ähnlich: Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 1; Scharpf, 1991, S. 5; Thompson, 1990, S. 515) resümiert: „Anytime people cannot achieve their goals without the cooperation with others, they are negotiating. By this definition, negotiation is a ubiquitous social activity.“ 129
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Verhandlungen sind also ein nahezu allgegenwärtiger Mechanismus der koordinierten kollektiven Entscheidungsfindung (Benz, 2007, S. 106; Trötschel et al., 2017, S. 803), d. h. der gemeinsamen, intentionalen Auswahl einer Option aus mehreren Alternativen (vgl. für allgemeine Definition von Entscheidung: Korte & Fröhlich, 2009, S. 25). Entsprechend fand auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Verhandlungen in unterschiedlichen Disziplinen – etwa der Ökonomie, der Politikwissenschaft und der Psychologie – statt (Brett & Thompson, 2016, S. 76; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 6). Ziel soll es an dieser Stelle sein, eine grundlegende Konzeption von Verhandlungen zu erarbeiten. In Anbetracht der Vielfältigkeit der Anwendungsgebiete und der Forschungsperspektiven stellt sich dabei jedoch die Herausforderung, eine allgemeingültige Definition53 zu identifizieren und so eine Basis für die Integration der Erkenntnisse aus den verschiedenen Bereichen zu schaffen. Eine vergleichsweise abstrakte Beschreibung liefert die mathematisch geprägte Spieltheorie, die in der Ökonomie zur Erklärung von Verhandlungen als kooperative Spiele54 dient: „Gegenstand der Spieltheorie ist die Analyse von strategischen Entscheidungssituationen, d. h. von Situationen, in denen (a) das Ergebnis von den Entscheidungen mehrerer Entscheidungsträger abhängt, so daß ein einzelner das Ergebnis nicht unabhängig von der Wahl der anderen bestimmen kann; (b) jeder Entscheidungsträger sich dieser Interdependenz bewußt ist; (c) jeder Entscheidungsträger davon ausgeht, daß alle anderen sich ebenfalls der Interdependenz bewußt sind; (d) jeder bei seinen Entscheidungen (a), (b) und (c) berücksichtigt. Aufgrund der Eigenschaften (a) bis (d) sind Interessenskonflikte und/oder Koordinationsprobleme charakteristische Eigenschaften von strategischen Entscheidungssituationen.“ (Hervorhebungen i. O., Holler & Illing, 2006, S. 1) 53 Im Englischen ist die Begriffsvielfalt zur Beschreibung von Verhandlungen noch größer. So ist einerseits die Rede von negotiation, andererseits von bargaining. Dabei werden beide Begriffe je nach Autor als übergreifendes Konzept bzw. Subtyp des anderen verstanden (Lamm, 1975, S. 21). In dieser Arbeit wird der Begriff Verhandlungen zur Beschreibung des generellen Kernentscheidungs- und Steuerungsmechanismus gebraucht. Wenn von einer spezifischen oder mehreren Verhandlungsrunden die Rede ist, so wird das an der entsprechenden Stelle explizit abgegrenzt. Wie später noch zu sehen sein wird, wird der Begriff des Bargaining zur Bezeichnung eines spezifischen Verhandlungsmodus herangezogen (vgl. Kap. 3.1.2.3). 54 Bei kooperativen Spielen können die Verhandlungsparteien miteinander kommunizieren und bindende Vereinbarungen treffen. Beide Eigenschaften sind bei nicht-kooperativen Spielen nicht gegeben. Sie beinhalten dagegen, dass beide Akteure gleichzeitig und ohne jegliche Koordination eine Entscheidung treffen (Holler & Illing, 2006, S. 3).
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In dieser Tradition werden Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismen vor allem mit Blick auf die Interdependenz zwischen den beteiligten Akteuren begriffen. Einen ähnlichen Fokus auf den Interdependenzaspekt legen Walton und McKersie (1965, S. 3) aus Perspektive der Verhaltensökonomie, wenn sie von Verhandlungen als „the deliberate interaction of two or more complex social units which are attempting to define or redefine the terms of their interdependence“ sprechen. Allerdings betonen sie im Gegensatz zur spieltheoretischen Perspektive explizit die soziale Dimension und den interaktiven Charakter, rekurrieren dabei aber nicht auf dem strategischen Aspekt der Auseinandersetzung. Auch in der politikwissenschaftlichen Tradition wird ausgehenden von den Schriften von Elster (1989, 1995a) die Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren in Form einer kommunikativen Auseinandersetzung hervorgehoben: „bargaining as a decision-oriented form of communication that aims to achieve a compromise between divergent interests“ (Schrott & Spranger, 2007, S. 6). Zusätzlich wird die Art der angestrebten Entscheidung konkretisiert, indem explizit von einem Kompromiss gesprochen wird. Im Gegensatz zu den ökonomisch geprägten Perspektiven spielt der Interdependenzaspekt jedoch keine explizite Rolle, stattdessen wird die Ursache der Auseinandersetzung – der Interessenskonflikt – als definitorisches Merkmal hervorgehoben. Auch in zahlreichen sozialpsychologischen Perspektiven scheint die soziale Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren als Lösung für Interessenskonflikte der dominante Grundgedanke zu sein (Druckman, 1977, S. 22; Hüffmeier, Freund, Zerres, Backhaus & Hertel, 2014, S. 868; Lamm, 1975, S. 21; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 2; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3; Trötschel et al., 2017, S. 803). Aber vor allem Putnam und Roloff (1992), die aus einer sozialpsychologisch-kommunikationsorientierten Perspektive auf den Gegenstand blicken, liefern auf Basis der Überlegungen von Sawyer und Guetzkow (1965, S. 466) sowie Stein (1988, S. 221) eine Definition, die nicht nur diese drei Kernaspekte einschließt, sondern auch den Interdependenzaspekt aus der spieltheoretischen sowie verhaltensökonomischen Perspektive aufnimmt. Aufgrund der vergleichsweise umfassenden Perspektive soll diese Definition auch für die vorliegende Arbeit maßgeblich sein: Verhandeln meint demzufolge “…two or more interdependent parties who perceive incompatible goals and engage in social interaction to reach a mutually satisfactory outcome.” (L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3)55 55 Zum einen soll „goals“ hier nicht im engeren Sinne ausschließlich als „Ziele“ verstanden werden. Es sind beispielweise auch Szenarien denkbar, in denen beide Akteure dasselbe Ziel erreichen wollen, aber die Frage, wie dieses Ziel zu erreichen ist, trennt sie in ihren 131
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Die Auseinandersetzung mit zentralen Definitionen von Verhandlungen aus den unterschiedlichen Forschungstradition offenbart zugleich eine wichtige Erkenntnis: Trotz der Vielzahl an möglichen Verhandlungskonstellationen und -szenarien sowie unterschiedlicher Disziplinen, die sich damit auseinandergesetzt haben, scheint das Verständnis davon, was eine Verhandlung ist, recht ähnlich zu sein. Verhandlungen werden in den verschiedenen Definitionen im Wesentlichen über drei Dimensionen begriffen (vgl. Benz, 2007, S. 106; Druckman, 1977, S. 22; Holler & Illing, 2006, S. 1; Hüffmeier et al., 2014, S. 868; Lamm, 1975, S. 21; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 2; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3; Schrott & Spranger, 2007, S. 6; Trötschel et al., 2017, S. 803–805; Walton & McKersie, 1965, S. 3): • Auslöser: Interessenskonflikte zwischen Akteuren bei gleichzeitiger Interdependenz der Akteure • Lösung: Gemeinsame Entscheidung in Form eines Kompromisses • Lösungsweg: Soziale Interaktion in Form eines direkten/kommunikativen Austausches zwischen den Akteuren In Anbetracht dieser Überschneidungen erscheint es nachvollziehbar, dass sowohl Pruitt und Carnevale (1993, S. 3) als auch Walton & McKersie (1965, S. 2) zu dem Schluss kommen, dass Verhandlungen – unabhängig davon, ob sie im politischen oder ökonomischen, im zwischenmenschlichen oder institutionellen Bereich stattfinden – mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Walton und McKersie (1965, S. 2) führen diese Gemeinsamkeiten insbesondere darauf zurück, dass Konflikte als Auslöser vieler Verhandlungen sehr ähnliche Prozesse in Gang setzen.56 Diese Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Verhandlungssystemen bildeten wiederum die Grundlage für eine allgemeine Theorie von Verhandlungen und erlaubten zumindest im Grundsatz den Transfer von Erkenntnissen aus einem Bereich auf den anderen. Diese gemeinsamen definitorischen Merkmale stellen die grundlegenden Charakteristika von Verhandlungen dar und beanspruchen dabei, sowohl für zwischenAnsichten. Im Fokus stehen also vielmehr unterschiedliche Positionen und Interessen. Zum anderen ist „mutually satisfactory“ nicht im Sinne von gleichermaßen zufriedenstellend zu verstehen. Vielmehr geht es um eine Lösung, die so zufriedenstellend für die Verhandlungspartner ist, dass sie ihr zustimmen können. Es kann dennoch durchaus der Fall eintreten, dass ein Verhandlungsakteur weitaus zufriedener mit der Lösung ist als der andere. 56 So konstatiert beispielweise Putnam (1988, S. 433), dass das Verhandlungskonzept von Walton und McKersie (1965), das sich eigentlich auf Tarifverhandlungen bezieht, „strikingly applicable to international conflict and cooperation“ ist.
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menschliche, private als auch institutionalisierte Aushandlungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Entscheidungsträgern zu gelten. Da sie zudem zentrale Konsequenzen für das Zusammenspiel mit der Mediengesellschaft haben (vgl. Kapitel 3.2 und 4.4) sollen sie im Folgenden eingehender betrachtet werden.
3.1.2.1 Auslöser von Verhandlungen: Interessenskonflikte unter Interdependenz Der Impetus, der eine gemeinsame Entscheidungsfindung über Verhandlungen einleitet, sind in der Regel soziale Konflikte (Lamm, 1975, S. 21; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 5; Trötschel et al., 2017, S. 803; van Kleef et al., 2007, S. 129; Walton & McKersie, 1965, S. 2). Dieser „Wettstreit zwischen voneinander abhängigen Akteuren um die Durchsetzung unvereinbarer Positionen“ (Trötschel et al., 2017, S. 803; ähnlich: Lamm, 1975, S. 4; Strasser, 2010, S. 485) ist ein ständiger Begleiter im alltäglichen sozialen und gesellschaftlichen Miteinander (Coser, 1972, S. 21; Strasser, 2010, S. 485; Ury et al., 1988, S. 414). Die Lösung solcher sozialer Konflikte kann entweder durch unkoordiniertes Handeln der beteiligten Kontrahenten, durch Steuerung durch eine dritte Partei (Gericht, andere legitimierte Autorität) oder gemeinsames Aushandeln und damit koordiniertes Entscheiden erfolgen (Lamm, 1975, S. 14–15; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 4). Insbesondere der Austausch unterschiedlicher Positionen im Verhandlungsprozess führt dazu, dass soziale Konflikte nicht als etwas per se Negatives, sondern auch als Katalysator für gesellschaftliche Veränderung mit integrierender und stabilisierender Wirkung begriffen werden (Coser, 1972, S. 14; Raiffa, 1982, S. 7; Ury et al., 1988). Die Akteure in einem sozialen Konflikt können Individuen, Gruppen, Organisationen oder Institutionen sein (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 2). Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit Blick auf ihre Ziele und Interessen zweckgerichtet und absichtsvoll, d. h. strategisch handeln und ihre Ressourcen entsprechend einsetzen (Walton & McKersie, 1965, S. 9; siehe für allgemeine Definition von Akteur: Donges & Jarren, 2017, S. 28; Schimank, 2010, S. 44). Idealtypisch gehen viele Verhandlungsmodelle von zwei konkurrierenden Akteuren aus (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 35; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 7; Susskind, 2006, S. 277), wobei angenommen wird, dass sich in Mehrparteien-Verhandlungen ähnliche Mechanismen und Zusammenhänge ergeben (Lamm, 1975, S. 22). Die unvereinbaren Positionen zwischen den Kontrahenten können sich dabei auf sehr unterschiedliche Aspekte beziehen (Strasser, 2010, S. 485; Trötschel et al., 2017, S. 803), wobei insbesondere zwei Klassen unterschieden werden: Interessens- und Wertkonflikte (Atran & Axelrod, 2008, S. 226; Trötschel et al., 2017, S. 804; Wade-Benzoni et al., 2002, S. 42). Unter ersteren wird der Konflikt um den Austausch und die Verteilung von knappen Ressourcen verstanden (Czada, 2014, S. 121; Hüffmeier et al., 2014, S. 868; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 2; Thompson 133
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& Hastie, 1990, S. 99). Man denke hier beispielweise an einen Tarifkonflikt zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaft und die Frage, wer sich mit seinen Gehaltsvorstellungen eher durchsetzen kann. Wertkonflikte beziehen sich dagegen auf die Unvereinbarkeit von Normen und Werten (Thompson & Hastie, 1990, S. 98; Wade-Benzoni et al., 2002, S. 42). Hierunter fallen solche moralisch aufgeladenen Fragen wie die Abstimmung im Bundestag über die Präimplantationsdiagnostik. Die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung geht allerdings davon aus, dass insbesondere Interessenskonflikte wirksam über Mechanismen des Verhandelns beigelegt werden können (Gutmann & Thompson, 2010, S. 1130; Trötschel et al., 2017, S. 804). Dagegen lassen sich Wertkonflikte, die oftmals die soziale Identität und zentrale Werte der Beteiligten fundamental tangieren, nur bedingt über Aushandlungsprozesse auflösen (Atran & Axelrod, 2008, S. 224, 242; Wade-Benzoni et al., 2002, S. 44). Aufgrund der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit – die Rolle von Medien in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern zu untersuchen – wird der Fokus vor allem auf Interessenskonflikte gelegt, da diese auf gesamtgesellschaftlicher Ebene im Wesentlichen über Repräsentanten in Form von gesellschaftlichen Funktionseliten entschieden werden.57 Dabei wird nicht ausgeschlossen, dass Normen und Moralvorstellungen in der Auseinandersetzung eine Rolle spielen (beispielsweise als Argumente, um den Kontrahenten zum Einlenken zu bewegen) (Gutmann & Thompson, 2010, S. 1130). Jedoch stellen diese nicht den Kerngegenstand dar, d. h. es ist nicht das primäre Ziel, die Gegenseite von den eigenen Werten zu überzeugen (Benz, 2007, S. 111; Czada, 2014, S. 121; Susskind, 2006, S. 271). Solche Wertdebatten werden vielmehr in gesamtgesellschaftlichen Diskursen beraten, denn in Entscheidungen unter Repräsentanten geklärt. Schließlich drückt sich die Interdependenz zwischen den beteiligten Akteuren in einem sozialen Konflikt dadurch aus, dass die Kontrahenten ihre Interessen nicht ohne den anderen durchsetzen können (Hüffmeier et al., 2014, S. 868; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3; Schelling, 1960, S. 5; Trötschel et al., 2017, S. 804) und sich dessen auch bewusst sind (Korte & Fröhlich, 2009, S. 177).
3.1.2.2 Lösung: Gemeinsame Entscheidung in Form eines Kompromisses Ziel ist es schließlich, diesen Interessenskonflikt zwischen den interdependenten Akteuren beizulegen, wobei alle Beteiligten dies möglichst zum eigenen Vorteil tun 57 Beispielweise zeigt sich allein daran, dass bei moralischen Fragen die standardmäßige Fraktionsdisziplin bei Abstimmungen im Bundestag aufgehoben wird, welch besondere und vergleichsweise seltene Situation solche moralisch-aufgeladenen Wertkonflikte darstellen.
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
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wollen (Lamm, 1975, S. 16). Wenn der Konflikt über Verhandlungen gelöst wird, so erfolgt dies über eine kollektive Entscheidung in Form eines Kompromisses (Benz, 2007, S. 106; Czada, 2014, S. 121; Lamm, 1975, S. 21; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3). Die erzielte Lösung muss also für alle beteiligten Verhandlungspartner akzeptabel sein, da nach dem Konsensprinzip entschieden wird (Holzinger, 2007, S. 311; Korte & Fröhlich, 2009, S. 182; Schrott & Spranger, 2007, S. 6).58 Um eine solche Lösung erreichen zu können, müssen mindestens die folgenden beiden Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen müssen die Verhandlungspartner grundsätzlich bereit sein, eine Lösung über den Prozess des Aushandelns zu finden (Lamm, 1975, S. 20; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 7). Zum anderen muss ein sogenannter Einigungsraum zwischen den Positionen der Verhandlungspartner existieren (Lamm, 1975, S. 15), d. h. es muss einen gewissen Spielraum geben, indem sich die Positionen überschneiden (Trötschel et al., 2017, S. 806). Dies lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen: In einem Tarifkonflikt, indem nur Löhne verhandelt werden, fordert die Gewerkschaft fünf Prozent mehr Lohn, während die Arbeitgeberseite ein Angebot von zwei Prozent macht. Eine Einigung zwischen beiden kann nur erzielt werden, wenn sich das untere Limit der Gewerkschaft (z. B. 3,1 %) und das obere Limit der Arbeitgeberseite (z. B. 3,2 %) überschneiden. Wie in Kapitel 3.1.1 dargelegt, kann gerade die öffentliche Beobachtung dazu führen, dass dieser Prozess des aufeinander Zugehens im Verhandlungskontext eingeschränkt wird, sodass beide Verhandlungspartner keinen gemeinsamen Einigungsraum identifizieren können. Zentral für den Prozess der Einigung ist darüber hinaus, welche Eigenschaften eine potenzielle Lösung hat (Trötschel et al., 2017, S. 808; Walton & McKersie, 1965, S. 4–5): Bei Verhandlungen, die nur einen singulären Konfliktgegenstand haben (also nur die Löhne wie im Beispiel zuvor), zeichnet sich die Lösung dadurch aus, dass der Gewinn des einen Verhandlungsakteurs zugleich der Verlust des anderen sein muss (sog. zero-sum-games) (Allen, Donohue & Stewart, 1990, S. 87; Hüffmeier et al., 2014, S. 868; Schelling, 1960, S. 5). Dagegen können Verhandlungen, in denen Paketlösungen möglich sind, weil es mehr als einen Konfliktgegenstand gibt, auch in einer win-win-Situation enden (sog. varying-sum-games) (Pruitt & Lewis, 1975; Thompson, 1990, S. 516; Thompson & Hastie, 1990, S. 99; Trötschel et al., 2017, S. 808). Dies ist beispielweise dann der Fall, wenn sich ein Verhandlungspartner bei Verhandlungsgegenstand A durchsetzen kann (z. B. Löhne im Tarifkonflikt),
58 In Ausnahmefällen wird die finale Entscheidung in Verhandlungen nicht in Form eines Konsenses, sondern in Form eines Mehrheitsentscheides getroffen (z. B. Europäischer Rat). Dies stellt aber eher die Ausnahme dar (Benz, 2007, S. 114), sodass diese Sonderfälle in der vorliegenden Arbeit ausgeklammert werden. 135
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
während dem anderen Verhandlungspartner dafür Zugeständnisse beim Verhandlungsgegenstand B gemacht werden (z. B. Laufzeit des Tarifvertrages).
3.1.2.3 Lösungsweg: Soziale Interaktion via kommunikativen Austausch Das Kernstück der Verhandlung und das Bindeglied zwischen Interessenskonflikten und einem Kompromiss ist die soziale Interaktion zwischen den beteiligten Verhandlungsakteuren (Benz, 2007, S. 106; Druckman, 1977, S. 22; Holler & Illing, 2006, S. 1; Hüffmeier et al., 2014, S. 868; Lamm, 1975, S. 21; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 2; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3; Schrott & Spranger, 2007, S. 6; Trötschel et al., 2017, S. 803–805; Walton & McKersie, 1965, S. 3). Es handelt sich bei diesen Interaktionen um die „Gesamtheit derjenigen, auf den Gegenspieler gerichteten Handlungen und sonstigen Verhandlungsweisen (…), die zur Verfolgung eines oder mehrerer Ziele in einer Verhandlung ausgeführt werden“ (Lamm, 1975, S. 25). Damit kann das Handeln der Verhandlungsakteure in soziologischem Sinne als soziales Handeln begriffen werden: Im Gegensatz zu „Verhalten“ im Allgemeinen agieren sie absichtsvoll, und da sie sich dabei auf andere beziehen, wird nicht von „Handeln“ allgemein, sondern von „sozialem Handeln“ im Speziellen gesprochen (Schimank, 2010, S. 38; Weber, 1922, S. 1). Die Verhandlungspartner versuchen dabei ihre Interessen auszutauschen und gemeinsam auszuloten, wie ein Kompromiss zwischen den Positionen aussehen könnte (Benz, 2007, S. 106; Lamm, 1975, S. 15). Dieser Austauschprozess kann in verschiedene Subprozesse unterteilt werden (Druckman, 1977, S. 26; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3): Zum einen den kommunikativen Dialog59, der im Austausch von Informationen bezüglich der Interessen und Präferenzordnungen bestehen kann, aber auch Persuasions- und Drucktaktiken (z. B. Bluffs, Drohungen) umfassen kann (Lamm, 1975, S. 15–18; Schrott & Spranger, 2007, S. 6; Thompson, 1990, S. 516; Trötschel et al., 2017, S. 804; van Kleef et al., 2007, S. 133; vgl. debate bei Druckman, 1977, S. 26). Zum anderen werden im Laufe der Verhandlungen Forderungen und Angebote, aber auch Zugeständnisse mit Blick auf den Verhandlungsgegenstand gemacht, d. h. man rückt von seiner Ausgangsposition 59 Dieser kommunikative Austausch mit dem Verhandlungsgegner am Verhandlungstisch ist nicht als Teil der kommunikativen Handlungen zu verstehen, wie sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit adressiert werden. Das kommunikative Handeln der Funktionseliten richtet sich, so das Verständnis in der vorliegenden Arbeit, an die Medien und die öffentlichen Sphäre (hierunter fallen auch teilöffentliche Sphären in der Interaktion mit den Mitgliedern der eigenen Organisation), wohingegen diese Kommunikation mit dem Kontrahenten in der nicht-öffentlichen Verhandlungssphäre Teil des Kernentscheidungshandelns ist (vgl. für eine ausführlichere Diskussion hierzu Kapitel 5).
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
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ab und im Idealfall nähern sich die Verhandlungspartner schrittweise einander an (Lamm, 1975, S. 16; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 420; Thompson, 1990, S. 516; Trötschel et al., 2017, S. 804; van Kleef et al., 2007, S. 133). Abgesehen von dieser allgemeinen Grundform lassen sich unterschiedliche Modi der Interaktion beobachten. Wie bereits angedeutet (vgl. Kapitel 3.1.2.1) geht mit Wertkonflikten ein anderer Interaktionsmodus als mit Interessenskonflikten einher. Bei der Auseinandersetzung um Normen und Grundüberzeugungen ist es das Ziel, den Kontrahenten von seinen Ansichten zu überzeugen (und nicht nur die Zustimmung des anderen zu sichern), um zu einer gemeinsamen Verständigungsbasis zu gelangen (Czada, 2014, S. 121; Susskind, 2006, S. 271–272). Dies erfolgt primär über den Prozess des Arguing (Holzinger, 2010, S. 37): Rationale Argumente bestimmen den Dialog, der von gegenseitigem Respekt und Zuhören geprägt sein muss, wobei die stärkere Argumentation gewinnt (Czada, 2014, S. 121; Elster, 1995a, S. 147; Susskind, 2006, S. 271). Dieser Modus der Auseinandersetzung knüpft an das demokratietheoretische Ideal der Deliberation an (Fishkin, 2009, S. 80ff.; Habermas, 1997, Kapitel VII). Allerdings zeigt sich in der Realität, dass das Überzeugen mit Blick auf Normen und Werte schwer zu erreichen ist, weil diese oftmals zentral mit der eigenen Identität verknüpft sind (Susskind, 2006, S. 274; Wade-Benzoni et al., 2002, S. 44). Zugleich führt die vermeintliche Bedrohung der eigenen Identität durch eine andere Werthaltung des Gegenüber zu Abwehrhandlungen, weshalb das Ideal des respektvollen Austausches über rationale Argumente sehr flüchtig ist (Susskind, 2006, S. 272). Bei Interessenskonflikten – also wenn es darum geht, wer das größere Stück vom Kuchen erhält – sollen die eigenen Interessen möglichst umfänglich durchgesetzt werden (Czada, 2014, S. 121). Der Gegner soll weniger überzeugt als vielmehr seine Zustimmung zu einer – subjektiv betrachtet – möglichst vorteilhaften Lösung abgerungen werden. Dies erfolgt im Modus des Bargaining. Dabei sollen die Handlungsoptionen des Gegners eingeschränkt und er zum Einlenken bewegt werden, indem zum einen kommunikative Taktiken (Drohungen, Bluffs, Versprechungen) und zum anderen Konzessionstaktiken (inhaltliche Zugeständnisse mit Blick auf den Verhandlungsgegenstand) eingesetzt werden (Susskind, 2006, S. 276). Während Arguing und Bargaining zwei grundlegend unterschiedliche Interaktionsmodi in Verhandlungen darstellen (Elster, 1995a, S. 147), die sich im zugrundliegenden Konflikt unterscheiden, lassen sich im Bargaining verschiedene Strategien ausmachen: Distributives und integratives Bargaining (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Walton & McKersie, 1965, S. 4–5; vgl. auch hardline vs. softline Taktiken bei Hüffmeier et al., 2014, S. 868, positionsorientiertes vs. kompromissorientiertes Verhandeln bei Benz, 2007, S. 111). Während erstere Strategie primär darauf abzielt, seinen eigenen Gewinn zu maximieren (auch: claiming value, Trötschel 137
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
et al., 2017, S. 823), ist letztere darauf ausgerichtet, seine Ziele bestmöglich durchzusetzen, indem der gemeinsame zu verteilende Gewinn insgesamt erhöht wird (auch: creating value, Trötschel et al., 2017, S. 823). Dies führt in der Konsequenz dazu, dass distributives Verhandeln häufig konfliktreicher und kompetitiver ist, weil es primär darum geht, die eigene Position durchzusetzen (Benz, 2007, S. 111; Hüffmeier et al., 2014, S. 868). Beim integrativen Bargaining werden hingegen die Interessen beider Verhandlungspartner berücksichtigt (Susskind, 2006, S. 279). Dadurch ist der Austausch wesentlich kompromissorientierter und im Ergebnis können Lösungen erzielt werden, die beide Verhandlungspartner zufriedenstellen (Benz, 2007, S. 111; Hüffmeier et al., 2014, S. 868) – insbesondere dann, wenn es mehr als einen Konfliktgegenstand gibt (varying sum games, vgl. Kapitel 3.1.2.2) und die Partner sich in ihren Präferenzordnungen unterscheiden (also nicht beide denselben Verhandlungsgegenstand für sich beanspruchen) (Hüffmeier et al., 2014, S. 868; Thompson & Hastie, 1990, S. 101). Die Differenzierung in Arguing und Bargaining sowie die Frage, ob mit integrativer oder distributiver Strategie verhandelt wird, ist keine schwarz-weiß Differenzierung. Vielmehr mischen sich in realen Verhandlungssituationen die Interaktionsmodi. Beispielsweise beobachtet Czada (2014, S. 118) einen Trend hin zur Moralisierung von politischen Debatten, der dazu führt, dass das Bargaining im politischen Prozess zunehmend auch Elemente des Arguing enthält. Vor allem aber mit Blick auf die Strategien findet ein dynamisches Wechselspiel zwischen integrativem und distributivem Bargaining statt, das von verschiedenen Faktoren abhängig ist (Benz, 2007, S. 111). Bevor jedoch die Einflussfaktoren des Verhandlungsgeschehens systematisiert werden (vgl. Kapitel 3.1.3), sollen zunächst die Besonderheiten des sozialen Austauschprozesses in Verhandlungen dargestellt werden, die aus den zuvor dargelegten Wesensmerkmalen resultieren.
3.1.2.4 Besonderheiten des sozialen Austauschprozesses: Verhandeln unter den Bedingungen von Dynamik, Unsicherheit und im Verhandlungsdilemma Diese definitorischen Merkmale von Verhandlungen resultieren in mindestens drei Besonderheiten, die den sozialen Austauschprozess zwischen den Kontrahenten entscheidend prägen. Insbesondere der Interessenskonflikt bei gleichzeitiger Interdependenz als Auslöser der Interaktion führt dazu, dass Verhandlungen als mixed-motive-games begriffen werden. Dieser Gedanke geht auf Thomas Schelling (Schelling, 1960, S. 4) zurück und beschreibt die Tatsache, dass Verhandlungsakteure in der Regel von zwei Motiven geleitet werden, die jedoch in Widerspruch zueinander stehen – das sog. Verhandlungsdilemma (Holzinger, 2007, S. 312; McKersie & Walton, 1992, S. 280). Einerseits streben beide Parteien eine Einigung an, was
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
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eine kooperative Strategie im Sinne des integrativen Bargaining nahelegen würde (z. B. Offenlegen aller Interessen und Präferenzen). Andererseits versuchen alle Beteiligten auch ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Bei Interessenskonflikten unter voneinander abhängigen Akteuren empfiehlt sich hierzu auf den ersten Blick ein kompetitives Vorgehen im Sinne des distributiven Bargaining (d. h. keine Rücksichtnahme auf die Interessen des Gegners, Verzögerungstaktiken, etc.), was jedoch einer Einigung eher hinderlich ist (Benz, 2007, S. 113; Druckman, 1977, S. 41; Holzinger, 2007, S. 312; Hüffmeier et al., 2014, S. 868, 2014, S. 868; Lamm, 1975, S. 19; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3; Thompson et al., 2010, S. 499; Trötschel et al., 2017, S. 804). Dieses Wechselspiel der beiden sich wiederstreitenden Motive gewinnt insbesondere deshalb an Prägekraft, weil Verhandlungen dynamisch sind und keine statische, einmalige Entscheidung darstellen (Holmes, 1992; Olekalns & Adair, 2013, S. 16). Die Positionen der Verhandlungsakteure liegen zu Beginn am weitesten auseinander. Schritt für Schritt erarbeiten sich die beteiligten Parteien – so das Ideal – dann eine Einigung, sodass die Verhandlung insgesamt als ein Prozess der Konvergenz zwischen den divergenten Positionen begriffen werden kann, an dessen Ende ein Kompromiss steht (Bazerman, Magliozzi & Neale, 1985, S. 309; Druckman, 1977, S. 26; Holmes, 1992, S. 88; Hüffmeier et al., 2014, S. 868). Aus diesem dynamischen Charakter resultiert, dass es nicht die eine Verhandlungsstrategie gibt, sondern durchaus Anpassungen im Zuge der Verhandlung vorgenommen werden (Olekalns & Weingart, 2008; Olekalns & Adair, 2013, S. 16). Diese Anpassungen im Handeln am Verhandlungstisch sind dabei vor allem das Resultat von psychologischen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsmechanismen (kognitive und affektive Prozesse). Dabei verarbeiten die Verhandlungsakteure im Rahmen von strategischen Kalkülen die aktuelle Verhandlungssituation und das Verhalten des Gegners unter Berücksichtigung der umgebenden Rahmenbedingungen (Olekalns & Adair, 2013, S. 16). Nichtsdestotrotz grenzen mindestens zwei Aspekte die zuvor beschriebene Flexibilität ein: Verhandlungsprozesse sind geprägt durch das Prinzip der Reziprozität (Brett & Thompson, 2016, S. 70; Weingart, Thompson, Bazerman & Carroll, 1990). Jede Aktion des einen Verhandlungsakteurs wird mit einer Reaktion des anderen beantwortet, wobei der Spielraum bei fortschreitender Interaktion eingeschränkt wird, sodass eine gewisse Pfadabhängigkeit entsteht (Brett & Thompson, 2016, S. 70; Holmes, 1992, S. 95; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 426). Wenn also ein Verhandlungsakteur zu einer distributiven Verhandlungsstrategie wechselt, so ist es unwahrscheinlich, dass der gegnerische Akteur unbeirrt weiter an integrativem Bargaining festhält (Brett & Thompson, 2016, S. 70; Weingart et al., 1990). Disruptive Veränderungen im Verhandlungsgeschehen, sog. Turning Points sind eher die Ausnahme und das Resultat von Krisen (Druckman & Olekalns, 2011, S. 1). Neben 139
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
der Reziprozität impliziert das Ziel der Einigung auch einen natürlichen Verlauf, d. h. in irgendeiner Form müssen sich die Positionen annähern, da andernfalls der Abbruch oder das Scheitern der Verhandlungen droht (Holmes, 1992, S. 90). Daher ist es unwahrscheinlich – wenn auch nicht unmöglich –, dass nach einem Prozess der Konvergenz wieder zurück zu den Ausgangspositionen gesprungen wird. Dies äußert sich darin, dass sich gerade bei wiederholt auftretenden Verhandlungssystemen, wo sich eine Beziehung zwischen den Verhandlungspartnern etabliert hat, auch gewisse Routinen herausgebildet haben, die in vereinzelten Wendepunkten gipfeln können, aber Großteiles nach festen Schemata bis hin zur Einigung ablaufen (McGinn, 2006, S. 133–134). Schließlich führen die Allgegenwärtigkeit möglicher Dilemmata sowie die Flexibilität des Austauschprozesses zu einem hohen Maß an Unsicherheit (Olekalns & Adair, 2013, S. 17). Für die Verhandlungsakteure ist es a priori unmöglich, einzuschätzen, welche Strategie zum höchsten Gewinn führen wird. Auch sorgen die beiden widerstreitenden Motive (eigenen Gewinn maximieren vs. kooperieren, um Einigung zu erzielen) dafür, dass selbst bezüglich der eigenen Präferenzen immer wieder Ungewissheit entsteht (Galinsky & Mussweiler, 2001, S. 657). In spieltheoretischen Verhandlungsmodellen wird dieser Unsicherheitsaspekt allerdings ausgeklammert, indem angenommen wird, dass ein streng rational orientiertes Kosten-Nutzen-Kalkül unter der Bedingung der vollständigen Information vollzogen wird (Nash, 1950, S. 155; Schröder, 2010, S. 262). Diese idealtypischen Annahmen erscheinen allerdings zu streng, um reale Verhandlungssituationen angemessen beschreiben zu können: Die Verhandlungsakteure können weder die Kosten noch den Nutzen einer potenziellen Lösung – gerade bei komplexen Verhandlungsgegenständen wie sie zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Problemlagen auftreten – vorab exakt einschätzen (Schröder, 2010, S. 262). Diese Rationalitätslücke sorgt für Unsicherheit und führt dazu, dass auch kognitiv-affektive Aspekte außerhalb des strengen Kosten-Nutzen-Kalküls an Bedeutung gewinnen (z. B. Frames, Heuristiken, Images, Normen und Werte, künftiges Verhältnis zum Verhandlungspartner) (Olekalns & Adair, 2013, S. 17; Schröder, 2010, S. 266). In der Gesamtschau machen also Unsicherheit, Dynamik und Dilemmata den Verhandlungsprozess zu einer herausfordernden Situation, in der die Verhandlungsakteure oftmals unter Druck eine Vielzahl an Informationen verarbeiten müssen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Verhandlungen unabhängig vom Bereich, in dem sie geführt werden, und unabhängig von der Disziplin, in der sie erforscht werden, sehr ähnlich begriffen werden – nämlich als Interessenkonflikte zwischen interdependenten Akteuren, die über soziale Interaktion gelöst werden, indem eine gemeinsame Entscheidung in Form eines Kompromisses erarbeitet wird.
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
141
Dieser Aushandlungsprozess ist durch Unsicherheit und Dynamik gekennzeichnet und wird als mixed-motive-game beschrieben. Um sich nun der Frage nach der Rolle der Medienöffentlichkeit zu nähern, soll ein Blick auf die zentralen Parameter geworfen werden, die in der Verhandlungsforschung als einflussreich im Verhandlungsgeschehen identifiziert worden sind. Dies erfolgt im Sinne der zuvor beschriebenen Eingrenzung nur auf Verhandeln im Sinne des Bargaining, da für den Modus des Arguing andere Parameter von Bedeutung sind (siehe für eine Übersicht Holzinger, 2010; Susskind, 2006). Diese Systematik soll eine Basis schaffen, um die Medienöffentlichkeit in das Verhandlungsgefüge einzubetten. Der Fokus auf grundständige Konzeptionen von Verhandlungen wird hier zunächst beibhealten. Diese grundlständigen Modelle beanspruchen sowohl für private, zwischenmenschliche Verhandlungen als auch für Verhandlungen als überindividuelle Steuerungsmechanismen zu gelten (vgl. Kapitel 3.1.3). Erst danach erfolgt eine Spezifikation auf Verhandlungen zwischen komplexen Akteuren, die über Repräsentanten in institutionellem Rahmen verhandeln (vgl. Kapitel 3.1.4), wie es für Verhandlungen als gesamtgesellschaftlicher Entscheidungs- und Steuerungsmechanismus der Fall ist.
3.1.3 Grundständige Betrachtung: Parameter des Verhandlungsgeschehens Um die Rolle von Medien und öffentlicher Kommunikation im Verhandlungsgeschehen zu verorten, bedarf es zunächst einer Modellierung des Verhandlungsgeschehens sowie seiner zentralen Einflussfaktoren. Grundlage hierfür bilden Modelle des Bargaining aus der Verhandlungsforschung, die im Folgenden diskutiert und dargestellt werden sollen. Allerdings zeigt sich dabei zunächst Folgendes: Während das Verständnis davon, was eine Verhandlung ist, noch relativ homogen zu sein scheint (vgl. Kapitel 3.1.2), fand die Modellierung des Verhandlungsgeschehens im Sinne des Bargaining und seiner Einflussfaktoren in den verschiedenen Disziplinen der Verhandlungsforschung sehr unterschiedlich statt. Abgesehen von Praxishandbüchern, die auf Basis individueller Erfahrungen und wenig wissenschaftlicher Evidenz Tipps für gute Verhandlungsführung geben (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 7; siehe für ein Beispiel: Lewicki, Saunders & Barry, 2010) lassen sich im Wesentlichen zwei wissenschaftliche Grundkonzepte von Verhandlungen identifizieren (Brett & Thompson, 2016, S. 75; Thompson et al., 2010, S. 492): Eine ökonomisch-mathematische Modellierung im Sinne der Spieltheorie (vgl. z. B. Luce & Raiffa, 1957; Nash, 1950) sowie eine verhaltensökonomisch geprägte, später sozialund kognitionspsychologisch adaptierte Konzeption von Verhandlungen (vgl. z. B. 141
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Druckman, 1977; Pruitt & Carnevale, 1993; Thompson, 1990; Walton & McKersie, 1965). Zunächst soll ein kurzer Exkurs diese Denkschulen charakterisieren, um vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung nachvollziehbar zu machen, warum in der vorliegenden Modellierung sozialpsychologische Ansätze als Grundlage der Modellierung herangezogen wurden. Nach diesem Exkurs wird dann die Synopse der verschiedenen Prädiktoren präsentiert.
Exkurs: Denkschulen in der Verhandlungsforschung Die spieltheoretischen Ansätze befassen sich im Kern mit der Frage, wie die Verhandlungsmasse optimal zwischen den Kontrahenten aufgeteilt werden kann (Holzinger, 2007, S. 312; Thompson, 1990, S. 515). Als Kriterium gilt hierbei die Pareto-Optimalität der Lösung, d. h. dass es kein anderes Verhandlungsergebnis geben darf, dass einen Akteur besser stellt ohne einen anderen Akteur gleichzeitig schlechter zu stellen (Holler, 1992, S. 23; Holler & Illing, 2006, S. 25; Trötschel et al., 2017, S. 808), sodass die Verhandlungslösung kollektiv betrachtet die Gesamtwohlfahrt steigert (Benz, 2007, S. 107; Scharpf, 1991, S. 12–13). Die Modellierung solcher Verhandlungsspiele erfolgt unter strikten Annahmen: Den Akteuren wird im Sinne des Rational-Choice-Paradigmas unterstellt, dass sie ausschließlich rational, (egozentrisch) nutzenmaximierend und unter vollständiger Information (z. B. bezüglich der Präferenzen des anderen) handeln (Fritz, 2012, S. 7; Luce & Raiffa, 1957, S. 5; Nash, 1950, S. 155; Scharpf, 1991, S. 10). Ausschlaggebend für das strategische Handeln und die Verhandlungslösung sind nur die individuelle Nutzenfunktion sowie der sog. Drohpunkt (d. h. die individuelle Rückfalloption jedes Akteurs, wenn die Verhandlungen scheitern) (Benz, 2007, S. 107; Holler & Illing, 2006, S. 25; Luce & Raiffa, 1957, S. 4) – andere Faktoren wie beispielweise das Verhandlungsgeschick oder der soziale Kontext bleiben außen vor (Nash, 1950, S. 155; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 8). Tatsächlich zeigt sich allerdings, dass Verhandlungen selten optimal im Sinne der spieltheoretischen Konzeption verlaufen und pareto-optimale Lösungen eher Ausnahme denn Regel sind (Thompson & Hastie, 1990, S. 99; Thompson et al., 2010, S. 492). Selbst im engeren ökonomischen Kontext schlussfolgert Schröder (2010, S. 264), dass Verhandlungen nicht nur die wirtschaftlichen Fakten im Sinne einer Kosten-Nutzen-Abwägung im Fokus haben, sondern auch „politisiert, moralisiert, emotionalisiert“ ablaufen. Das wiederum ist der Ansatzpunkt verhaltensökonomischer Ansätze, die später mit sozial- und kognitionspsychologischen Theorien verknüpft und angereichert wurden (Bazerman et al., 2000, S. 282; Thompson, 1990, S. 515).60 Im Kern ist es deren Ziel, zu erklären, wie Abweichungen vom rationalen 60 Neben der Ökonomie und der Sozialpsychologie hat sich vor allem die Politikwissenschaft mit Verhandlungen beschäftigt. Hier ergibt sich allerdings folgendes Bild: Während es
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Optimum zustande kommen (Bazerman et al., 2000, S. 282). Dazu werden die restriktiven Annahmen der spieltheoretischen Modelle aufgegeben und eine Vielzahl an Einflussfaktoren berücksichtigt. Vor allem die Tatsache, dass Verhandlungen durch Unsicherheit und Rationalitätslücken bei der Verarbeitung des Verhandlungsgeschehens gekennzeichnet sind (vgl. Kapitel 3.1.2.4), führt dazu, dass Aspekte der kognitiv-affektiven Verarbeitung einen hohen Stellenwert erfahren (Olekalns & Adair, 2013, S. 17; Schröder, 2010, S. 265) und der soziale Kontext berücksichtigt wird (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 8; Walton & McKersie, 1965, S. 3). Aufgrund dieser unterschiedlichen Perspektiven auf Verhandlungen werden spieltheoretische Modelle auch als normativ-präskriptive, die Modelle der verhaltensökonomisch geprägten und psychologisch angereicherten Perspektive als deskriptive Ansätze bezeichnet (Bazerman et al., 2000, S. 282; Raiffa, 1982, S. 21; Scharpf, 2006, S. 16; Thompson, 1990, S. 515; Thompson et al., 2010, S. 492). In der Auseinandersetzung mit der übergreifenden Fragestellung dieser Arbeit hat sich herausdestilliert, dass psychologische Wirkmechanismen berücksichtigt werden müssen (vgl. Kapitel 2.5.2), um mediale und öffentlichkeitsbezogene Einflüsse adäquat konzeptualisieren zu können. Insofern scheint es wenig zielführend, spieltheoretische Modelle weiter zu verfolgen, die solche Einflüsse quasi per Definitionem ausschließen. Vielmehr werden Modelle der verhaltensökonomisch inspirierten, sozialpsychologischen Forschung herangezogen, um die relevanten Einflussfaktoren zu systematisieren. Die Systematisierung basiert dabei auf einer Synopse einschlägiger Werke und neuerer Übersichtsaufsätze der verhaltensökonomischen und sozialpsychologischen Verhandlungsforschung (Bazerman et al., 2000; Brett & Thompson, 2016; Druckman, 1977; Lamm, 1975, S. 24–26; Olekalns durchaus Modelle zur Konzeption von Verhandlungen im Sinne des Arguing gibt (vgl. Holzinger, 2010 sowie Konzepte der deliberativen Demokratietheorie, Habermas, 1997, Kap VII), verzichtet die politikwissenschaftliche Perspektive weitestgehend auf eine eigenständige Modellierung von Verhandlungen in Interessenskonflikten (Bargaining). Vielmehr werden diese Aushandlungsprozesse als Teilprozess von größeren Entwicklungen und/oder mit Bezug zu einem spezifischen Anwendungsfeld konzipiert (z. B. im Policy-Prozess, vgl. Wenzelburger & Zohlnhöfer, 2015, S. 18; in Bezug auf Verflechtungen in politischen Mehrebenensystemen, vgl. Benz, 2007; oder als Teil der internationalen Beziehungen, vgl. Moravcsik, 1993; R. D. Putnam, 1988), ohne dabei in die „Black Box“ des Verhandlungsgeschehens selbst zu blicken. Wenn doch ein Blick in die Black Box des Verhandelns geworfen wird, so kommen insbesondere Adaptionen der spieltheoretischen Verhandlungsmodelle zum Einsatz (vgl. akteurszentrierter Individualismus, Scharpf, 2006). Diese bringen allerdings ähnliche Probleme mit Blick auf die Modellierung von Medieneinflüssen mit sich wie ihre Vorbilder – nämlich insbesondere, dass zu strikte und idealisierte Annahmen getroffen werden (Scharpf, 2006, S. 25–26). Daher wird hier keine originär politikwissenschaftliche Perspektive auf Verhandlungen aufgearbeitet. 143
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
& Adair, 2013; Pruitt & Carnevale, 1993; Thompson et al., 2010; Trötschel et al., 2017; Walton & McKersie, 1965) (vgl. Abbildung 2).
Systematisierung der Prädiktoren im Verhandlungsgeschehen Als Ausgangspunkt der vorliegenden Systematisierung soll die Annahme dienen, dass ein manifester oder latenter61 Interessenskonflikt zwischen zwei interdependenten Akteuren vorliegt und diese willens sind, den Konflikt zu lösen (vgl. Kapitel 3.1.2.1 für Auslöser von Verhandlungen). Dies stellt die grundlegende Entscheidungssituation dar, mit der sich die hier fokussierten gesellschaftlichen Funktionseliten konfrontiert sehen. Es geht demnach nicht darum, die Entstehung des sozialen Konfliktes an sich zu erklären, vielmehr wird dieser als gegeben angenommen. Welche Parameter beeinflussen nun zum einen die soziale Interaktion zwischen den Kontrahenten und zum anderen die verhandelte Lösung? Zunächst kann das Verhandlungsergebnis als eine zentrale zu erklärende Größe des Kernentscheidungshandelns in der Verhandlungsarena (vgl. rechter Block in Abbildung 2) im Wesentlichen über folgende zwei Merkmale beschrieben werden (Curhan, Elfenbein & Eisenkraft, 2010, S. 691; Hüffmeier et al., 2014, S. 868; Thompson, 1990, S. 517; Trötschel et al., 2017, S. 814–815): Zum einen die ökonomisch-rationellen Eigenschaften des Ergebnisses, d. h. welche Lösungen wurden für den Konflikt vereinbart? Wie hoch sind der individuelle und der gemeinsame Nutzen? Wie schnell wurde das Ergebnis erzielt? Wie symmetrisch war die Verteilung der Konzessionen zwischen den Kontrahenten? (Trötschel et al., 2017, S. 805; siehe auch: Druckman, 1977, S. 18–19; Thompson, 1990, S. 517).62 Zum anderen die subjektiv-sozialen bzw. sozioemotionalen Eigenschaften des Ergebnisses (Druckman, 1977, S. 41; Hüffmeier et al., 2014, S. 875; Olekalns & Adair, 2013, S. 9; Thompson et al., 2010, S. 494; Trötschel et al., 2017, S. 805): Diese beziehen sich auf verschiedene Wahrnehmungs- und Bewertungskomponenten in Bezug auf den Verhandlungsprozess und das Ergebnis – etwa die Zufriedenheit mit dem Ergebnis vor dem Hintergrund eigener Erwartungen und Ziele, die Bewertung des Verhandlungsverlaufs und der eigenen Leistung sowie Implikationen für das Verhältnis zum Gegner (vgl. das Subjective-Value-Inventory von Curhan, Elfenbein & Xu, 2006; Curhan et al., 2010).
61 D. h. die Beteiligten nehmen einen Konflikt wahr – ungeachtet dessen, ob er tatsächlich existiert. 62 Das sind im Wesentlichen auch die Faktoren, die in der spieltheoretischen Perspektive maßgeblich sind (Trötschel et al., 2017, S. 815). Die nachfolgenden sozioemotionalen Merkmale spielen dagegen keine/kaum eine Rolle in den spieltheoretischen Modellen.
…
Motive (Eigeninteresse vs. gemeinsame Wohlfahrt) & Ziele (Präferenzen für Outcomes)
Sozioemotionale Merkmale der Interaktion: Zuschreibungen an und Einstellungen zum Gegner: Macht, Vertrauen, Wahrnehmung der Gegenseite (z.B. seine Präferenzen, Spekulationen zur gegnerischen Strategie, Reputation)
Strukturelle Bedingungen der Verhandlungssituation: Machtressourcen im Verhandlungskontext (BATNA), Verhandlungsgegenstand, Zahl der Beteiligten, Belastungsmomente (Zeitdruck), Wahl des Kommunikationsmediums
Verhandlungsumwelt: Bedingungen der Interaktion mit dem Verhandlungsgegner
Kontextfaktoren: Der Verhandlungsakteur in verschiedenen Umwelten
gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer Kontext; kulturelle Faktoren, …
Background-Faktoren
• persönlicher Hintergrund und Erfahrungen • Persönlichkeitsmerkmale: z.B. Big 5; Need for structure • Subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen & Normen • Geschlecht •…
Akteursmerkmale
Konative Dimension: Wahl der Verhandlungsstrategie (integrativ vs. distributiv) inkl. Konzessions- und Kommunikationstaktiken (z.B. Ankereffekte setzen, Drohungen aussprechen)
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
Ökonomisch-rationelle und subjektiv-soziale Merkmale des Verhandlungsergebnisses
Strategischtaktische Überlegungen (auf kognitiver und emotionaler Ebene)
Merkmale des Verhandlungsgeschehens
Merkmale des Verhandlungsgeschehens
Rahmenbedingungen
Legende:
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung 145
Abb. 2 Grundständige Systematisierung der Einflussparameter in Verhandlungen
Quelle: Eigene Darstellung.
145
146
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Das Verhandlungsergebnis kommt wiederum durch die Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten zustande. Dieses Verhandlungsgeschehen umfasst dabei Aspekte, die zum einen auf einer konativen und zum anderen auf einer kognitiven und emotionalen Dimension verortet werden können. Die konative Dimension ist das Kernstück des sozialen Interaktionsprozesses zwischen den Verhandlungsgegnern (vgl. Kapitel 3.1.2.3) und kann als die „Gesamtheit derjenigen, auf den Gegenspieler gerichteten Handlungen und sonstigen Verhandlungsweisen (…), die zur Verfolgung eines oder mehrerer Ziele in einer Verhandlung ausgeführt werden“ (Lamm, 1975, S. 25) begriffen werden (ähnlich: Walton & McKersie, 1965, S. 3; vgl. auch soziologisches Konzept des sozialen Handelns, Schimank, 2010, S. 38; Weber, 1922, S. 1). Entscheidend ist hier insbesondere die Frage, welche Verhandlungsstrategie im Sinne eines „plan of action, specifying broad objectives and the general approach that should be taken to achieve them“ (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3) zum Einsatz kommt. Dabei wird zwischen einer distributiven und einer integrativen Strategie (vgl. Kapitel 3.1.2.3) unterschieden (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Walton & McKersie, 1965, S. 4–5; vgl. auch hardline vs. softline Taktiken bei Hüffmeier et al., 2014, S. 868, positionsorientiertes vs. kompromissorientiertes Verhandeln bei Benz, 2007, S. 111, claiming und creating value bei Trötschel et al., 2017, S. 823). Diesen beiden Strategien können wiederum verschiedene Konzessions- und Kommunikationstaktiken zugeordnet werden (Lamm, 1975, S. 25; Olekalns & Adair, 2013, S. 12; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3). So versuchen Verhandlungsakteure, die eine distributive Strategie verfolgen, beispielweise Ankereffekte durch ihr erstes Angebot zu erzeugen (Galinsky & Mussweiler, 2001; Gunia, Swaab, Sivanathan & Galinsky, 2013). Sie machen außerdem nur zögerlich Konzessionen und bedienen sich eher Drohungen sowie Bluffs (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3). Dagegen geben Verhandlungsakteure, die eine integrative Strategie als Maßgabe haben, eher Informationen über ihre Interessen preis, versuchen aktiv zuzuhören und suchen nach Möglichkeiten, um die Verhandlungsmasse zu erweitern, sodass für alle Beteiligten ein Nutzen entsteht (Expanding the pie) (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3; Thompson & Hastie, 1990, S. 99) (für eine Übersicht zu verschiedenen Taktiken im Rahmen der distributiven und integrativen Verhandlungsstrategien siehe: Brett & Thompson, 2016, S. 70). Die Wahl der Strategie und damit das tatsächliche Handeln im Verhandlungsgeschehen werden maßgeblich durch die psychologische Verarbeitung der Situation begleitet und beeinflusst (Druckman, 1977, S. 23; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 8). Diese soll in Form von strategisch-taktischen Überlegungen und Abwägungen begriffen werden, die auf zwei Dimensionen stattfinden können:
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
147
Auf der kognitiven Dimension Verarbeitung sollen im Folgenden alle Prozesse der Auswahl, Interpretation und Bewertung des eigenen und gegnerischen Konfliktverhaltens im Zuge des Verhandlungsprozesses verortet werden (Lamm, 1975, S. 10). Darunter fallen beispielweise das Monitoring der Situation, die nachträgliche Interpretation von bereits erfolgtem und die Antizipation von künftigem eigenen und gegnerischen Handeln sowie daraus resultierende strategische Überlegungen (Druckman, 1977, S. 23; Lamm, 1975, S. 10; Scharpf, 1991, S. 9). Bedingt durch die Unsicherheit als zentrales Kennzeichen der Verhandlungssituation (vgl. Kapitel 3.1.2.4) wird nicht – wie in spieltheoretischen Modellen angenommen – streng rational verarbeitet, vielmehr unterliegen diese kognitiven Verarbeitungsprozesse zahlreichen Verzerrungen, weil unter Zuhilfenahme von kognitiven Frames und Entscheidungsheuristiken verarbeitet wird (Brett & Thompson, 2016, S. 70–71; Olekalns & Adair, 2013, S. 17; Schröder, 2010, S. 265; Trötschel et al., 2017, S. 815–818). So konnte beispielweise nachgewiesen werden, dass Verhandlungsakteure ungeachtet der realen Konfliktkonstellation zu fixed-pie-perceptions neigen. Dabei nehmen die Verhandlungsteilnehmer an, dass sich die eigenen Präferenzen genau entgegengesetzt zu denen des Gegners verhalten und die Verhandlung ein vermeintliches Nullsummenspiel ist, sodass keine integrativen – d. h. beidseitig zufriedenstellenden – Lösungen möglich sind, was wiederum zur Wahl einer eher kompetitiven Strategie führt (Thompson & Hastie, 1990). Des Weiteren erwies sich auch das Framing des Verhandlungsergebnisses als Gewinn oder Verlust als folgenschwer für die Wahl der Verhandlungsstrategie (Bazerman et al., 1985; vgl. für den generellen Effekt des Framing in Entscheidungsproblemen: Tversky & Kahneman, 1981). Neben der kognitiven Dimension bezieht sich insbesondere neuere Forschung zunehmend auch auf den Einfluss von Emotionen in der psychologischen Verarbeitung der Verhandlungssituation (emotionale Dimension) (Barry, Smithley Fulmer & Goates, 2006; Brett & Thompson, 2016, S. 72; Druckman, 1977, S. 25; Olekalns & Adair, 2013, S. 17; Trötschel et al., 2017, S. 820–822). Hierbei wird zwischen intrapersonellen und interpersonellen affektiven Reaktionen unterschieden, die wiederum die Wahl der Strategie und in der Konsequenz auch das Verhandlungsergebnis beeinflussen können (van Kleef, Dreu & Manstead, 2004, S. 57). Während erstere sich auf den subjektiven affektiven Zustand eines Verhandlungsakteurs beziehen (d. h. die jeweiligen situativen Stimmungen und Emotionen; vgl. Barry et al., 2006, S. 100; van Kleef et al., 2004, S. 57), werden unter interpersonellen emotionalen Reaktionen jegliche Äußerungen emotionaler Art (verbale und non-verbale Gefühlsausdrücke) gegenüber den anderen Verhandlungsbeteiligten verstanden (Morris & Keltner, 2000; Trötschel et al., 2017, S. 820). Für diese beiden affektiven Aspekte impliziert die empirische Evidenz ein differenziertes Muster an potenziellen Wirkungen auf die konative Dimension im Verhandlungsgeschehen (vgl. für einen Überblick: Barry 147
148
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
et al., 2006, S. 103–105; Brett & Thompson, 2016, S. 72): So hat sich beispielsweise gezeigt, dass Wut am Verhandlungstisch zwar zu mehr Konzessionen seitens der Gegenseite führt, während einem als fröhlich wahrgenommenen Verhandlungsakteur eher mit hohen Forderungen begegnet wird (van Dijk, van Kleef, Steinel & van Beest, 2008; van Kleef et al., 2004). Im Resultat führte Wut gegenüber dem Kontrahenten allerdings zu niedrigeren gemeinsamen Outcomes (Allred, Mallozzi, Matsui & Raia, 1997; Kassinove, Roth, Owens & Fuller, 2002; van Dijk et al., 2008). Die eigenen Stimmungen beeinflussen das eigene Verhandlungshandeln nämlich valenzkonform (Barry et al., 2006, S. 105; Trötschel et al., 2017, S. 821), d. h. eine positive Stimmung führt zu kooperativerem Verhandeln (Forgas, 1998) und eine negative Stimmung resultiert dagegen in kompetitiverem Verhandeln (Forgas, 1998; Kassinove et al., 2002). Zusammenfassend kann mit Blick auf die Mechanismen des Verhandlungsgeschehens festgehalten werden: Bedingt durch den Prozesscharakter von Verhandlungen, die sich dynamisch über die Zeit entwickeln, interagieren die psychologischen Verarbeitungsmechanismen auf der kognitiven und emotionalen Dimension sowie das tatsächliche Handeln der Kontrahenten auf der konativen Dimension miteinander (Walton & McKersie, 1965, S. 10). Insofern kann das Kernentscheidungshandeln über Verhandlungen nur dann umfassend beschrieben werden, wenn nicht nur die tatsächlichen Taktiken am Verhandlungstisch (seien es Konzessionen oder der kommunikative Austausch zwischen den Konfliktpartnern), sondern zugleich deren strategisch-taktischen Überlegungen und Abwägungen auf kognitivem und emotionalem Level einbezogen werden. Sowohl das letztendliche Ergebnis des Aushandlungsprozesses als auch das Verhandlungsgeschehen auf kognitiver, emotionaler und konativer Ebene werden wiederum durch Kontextfaktoren in verschiedenen Umwelten geprägt (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 8; Trötschel et al., 2017, S. 806; vgl. zur Illustration linke Blöcke in Abbildung 2), wobei die grundständige Modellierung im vorliegenden Kapitel zunächst nur die Verhandlungsumwelt berücksichtigt (Erweiterung um organisationale Umwelt in Kapitel 3.1.4 und um mediale und öffentliche Umwelt in 3.2). Hier gilt es einerseits die strukturellen Rahmenbedingungen der spezifischen Verhandlung zu berücksichtigen: Große Bedeutung wird hier insbesondere den Merkmalen des Verhandlungsgegenstandes beigemessen (z. B. Zahl der verhandelten Gegenstände, Teilbarkeit und Wert der Verhandlungsgegenstände) (Lamm, 1975, S. 25; Trötschel et al., 2017, S. 807). Darüber hinaus hängt insbesondere der Komplexitätsgrad des Verhandlungsgeschehens von der Zahl der beteiligten Parteien ab (Bazerman et al., 2000, S. 300; Lamm, 1975, S. 25). Tendenziell gilt, dass mit steigender Zahl an Verhandlungspartnern auch die Zahl der Konfliktdimensionen zunimmt, die Kommunikation untereinander erschwert wird und es Phänomene wie Koalitionsbildungen gibt (Bazerman et al., 2000, S. 302; Benz,
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
149
2007, S. 113). Schließlich werden in der bisherigen Forschung auch noch Aspekte wie die Wahl des Kommunikationsmediums im Verhandlungskontext (face-to-face vs. medienvermittelt über Telefon, E-Mail; Bazerman et al., 2000, S. 293; Thompson et al., 2010, S. 493) sowie die Rolle von Belastungsmomenten wie Zeitdruck (siehe z. B. Druckman, 1994; Gino & Moore, 2008) für das Verhandlungsgeschehen und -ergebnis berücksichtigt)(Lamm, 1975, S. 25; Olekalns & Adair, 2013, S. 7; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 59). Ein besonderes Augenmerk wird darüber hinaus auf die Machtressourcen eines Verhandlungsakteurs gelegt: Im Gegensatz zum relationalen Konzept von Macht aus der psychologischen Forschung (siehe unten und vgl. für eine überblickshafte Diskussion: Brett & Thompson, 2016, S. 74), kann Macht auch als strukturelles Phänomen begriffen werden, das sich auf die verfügbaren Alternativen, d. h. Rückfalloptionen des Verhandlungsakteurs im Falle des Abbruchs von Verhandlungen stützt (Brett & Thompson, 2016, S. 76; Pinkley, Neale & Bennett, 1994; vgl. auch Drohpunkt in spieltheoretischen Konzepten Benz, 2007, S. 107). Diese sog. Best alternative to negotiated agreement (BATNA, Fisher & Ury, 1981, S. 104) bestimmt darüber, wie glaubwürdig man mit dem Abbruch und damit dem Scheitern der Verhandlungen drohen kann (Benz, 2007, S. 110). Im Verhandlungsgeschehen zeigt sich, dass Akteure, die eine vorteilhaftere BATNA haben, eher zu kompetitiveren Verhandeln neigen (Brett & Thompson, 2016, S. 74; Susskind, 2006, S. 269) und ein höheres Verhandlungsoutcome erzielen (Pinkley et al., 1994). Andererseits prägen sozio-emotionale Merkmale die Interaktion mit dem Gegner in der Verhandlungsumwelt. Eine zentrale Rolle nehmen hier zum einen die Ziele und Motive der Verhandlungsakteure ein. Die Ziele beziehen sich darauf, welche Lösung des Interessenkonfliktes die Kontrahenten jeweils anstreben und wie ihre Präferenzen hierbei gelagert sind (Druckman, 1977, S. 21; Lax & Sebenius, 1986, S. 73; Olekalns & Adair, 2013, S. 8; Turner, 1992, S. 237), wobei der Begriff „Präferenz“ bereits eine Wertung ausdrückt – nämlich welchen subjektiven Wert ein Verhandlungsakteur den Gegenständen zuschreibt, die verhandelt werden (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Lax & Sebenius, 1986, S. 76; Trötschel et al., 2017, S. 812). Vor allem aber die sozialen Motive der Verhandlungsakteure gelten als zentraler prägender Faktor des Verhandlungsgeschehens und in der Konsequenz auch des Ergebnisses (Benz, 2007, S. 108; Scharpf, 1991, S. 9; Trötschel et al., 2017, S. 818): Beim Verhandeln werden die Kontrahenten im Wesentlichen von zwei widerstreitenden Motiven geleitet – zum einen ein egoistisch-orientiertes kompetitives Motiv, zum anderen ein prosoziales kooperatives Motiv (Benz, 2007, S. 108; Brett & Thompson, 2016, S. 72; Druckman, 1977, S. 41; Scharpf, 1991, S. 10; Schelling, 1960, S. 4). Da diese widerstreitenden Motive das Verhandlungsgeschehen entscheidend prägen, werden Verhandlungen auch als mixed-motive-games begriffen (vgl. Kapitel 3.1.2.4; 149
150
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Schelling, 1960, S. 4; Trötschel et al., 2017, S. 818). Wegweisend in der Forschung zur Rolle von Motiven in Verhandlungen ist das Dual-Concern-Model von Pruitt und Rubin (Rubin, Pruitt & Kim, 1994, S. 29–37), das Verhandlungsstrategien als Resultat der spezifischen sozialen Motivlage modelliert. Hierbei zeigt die empirische Verhandlungsforschung ein überaus beständiges Ergebnis (Brett & Thompson, 2016, S. 72; Olekalns & Adair, 2013, S. 6): Während Verhandlungsakteure mit ausgeprägten egoistischen Motiven vor allem die Durchsetzung ihrer Eigeninteressen im Blick haben und deshalb eher distributive Strategien verfolgen, berücksichtigen Verhandlungsakteure mit ausgeprägten prosozialen Motiven eher die Interessen der Gegenseite und versuchen eine beiderseitig zufriedenstellende – d. h. integrative – Lösung zu finden (siehe z. B., Dreu, Weingart & Kwon, 2000; Pruitt & Lewis, 1975). Neben den Zielen und Motiven sind die Zuschreibungen an den und Einstellungen gegenüber dem Verhandlungspartner grundlegend dafür, wie das Verhandlungsgeschehen sich gestaltet und zu welchem Ergebnis die Kontrahenten gelangen (Olekalns & Adair, 2013, S. 17). So wird etwa die zugeschriebene Macht im Sinne eines relationalen Konstruktes als relevant für die Interaktion zwischen den Verhandlungsakteuren erachtet (Brett & Thompson, 2016, S. 74; Magee & Galinsky, 2008, S. 7). Außerdem spielen hier Einstellungen zum Gegner (Olekalns & Adair, 2013, S. 10; z. B. das Vertrauen in den Gegner, Druckman & Olekalns, 2013) und insbesondere die Bewertung früherer Interaktionen mit dem Kontrahenten (Curhan et al., 2010; Lamm, 1975, S. 25) eine Rolle. Schließlich wird der Wahrnehmung des Gegners (Olekalns & Adair, 2013, S. 10; z. B. Einschätzung der Präferenzen der Gegenseite in Abgleich mit den eigenen Zielen, Lamm, 1975, S. 25, Vermutungen bezüglich seiner Strategiewahl, Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 36, seiner Reputation, Tinsley, O’Connor & Sullivan, 2002) sowie der wahrgenommenen Abhängigkeit (Druckman & Olekalns, 2013) vom Gegner Bedeutung für das Verhandlungsgeschehen beigemessen. Einen interessanten Befund aus diesem Bündel an Faktoren liefert beispielsweise die Studie von Tinsley et al. (2002): Sie zeigt, dass Verhandlungsakteuren mit einem distributiven Image auch eher mit distributiven Strategien begegnet wird, d. h. der Gegner greift direkt zu einem kompetitiveren und aggressiveren Stil. Sowohl die Ziele und Motive als auch die Attribute an und Einstellungen gegenüber dem Verhandlungspartner können sich im Zuge des Verhandlungsgeschehens durchaus verändern und damit auch neue Kontextbedingungen darstellen, wobei die Frage nach dem Ausmaß ihrer Volatilität zentral ist: Beispielsweise können Motive sowohl im Sinne hochvolatiler psychologischer States als auch im Sinne von stabilen psychologischen Traits begriffen werden (Trötschel et al., 2017, S. 818). Um den vereinfachenden Charakter eines Modells zu erhalten, soll im Rahmen dieser Arbeit angenommen werden, dass sich diese Kontextbedingungen – im Gegensatz
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
151
zu den kognitiven, emotionalen und konativen Parametern des Verhandlungsgeschehens selbst – nur in begrenztem Maße wandeln (z. B. rund um Wendepunkte in der Auseinandersetzung). Die Background-Faktoren bilden eine sehr große Klammer um das Verhandlungsgeschehen, indem sie zum einen den aktuellen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kontext einbeziehen (Brett & Thompson, 2016, S. 75; Olekalns & Adair, 2013, S. 14). So zeigt sich beispielsweise für Tarifverhandlungen, dass die Konzessionsbereitschaft der Verhandlungspartner durch makroökonomische Gegebenheiten wie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die Elastizität der Arbeitsnachfrage geprägt wird (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 36). Zum anderen fallen in die Kategorie der Background-Faktoren kulturelle Faktoren (siehe für eine Übersicht: Brett & Thompson, 2016, S. 75; Thompson et al., 2010, S. 504), die beispielsweise entlang der Dimensionen Kollektivismus–Individualismus (siehe z. B. Gelfand & Realo, 1999), Machtdistanz und Konzeption von Zeit unterschieden werden (Bazerman et al., 2000, S. 300). Eine deutlich engere Klammer bilden dagegen die Merkmale des Verhandlungsakteurs. Hierbei lässt sich eine Vielzahl an interindividuellen Unterschieden ausmachen, die einflussreich für die Frage sind, wie das Verhandlungsgeschehen und das -ergebnis aussehen. In der bisherigen Verhandlungsforschung werden insbesondere der persönliche Hintergrund und die bisherigen Erfahrungen der Verhandlungsakteure (Lamm, 1975, S. 25), das Geschlecht (Olekalns & Adair, 2013, S. 7), Persönlichkeitsmerkmale (z. B. für Big 5 siehe Sharma, Bottom & Elfenbein, 2013; für Need for structure siehe Velden, Beersma & Dreu, 2010; für Risikoaversion siehe Harnett, Cummings & Hamner, 1973) und subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen sowie Normen (Benz, 2007, S. 108) diskutiert. Insgesamt wird die Rolle dieser Faktoren aber mit vielen Zweifeln bedacht: Aus zahlreichen einschlägigen Forschungsüberblickarbeiten wird nämlich geschlussfolgert, dass hiervon nur geringe Effekte auf das Verhandlungsgeschehen und -ergebnis ausgehen (Bazerman et al., 2000, S. 281; Brett & Thompson, 2016, S. 72; Olekalns & Adair, 2013, S. 7). Gerade frühere Forschung habe bedingt durch den Rückgriff auf Studierendensamples in Experimentaldesigns den Einfluss dieser Merkmale stark überschätzt (Druckman, 1977, S. 30). Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden: Bei der Betrachtung der kommunikationswissenschaftlichen Perspektiven auf Medieneinflüsse in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Eliten hat sich gezeigt (vgl. Kapitel 2), dass die kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozesse berücksichtigt werden müssen, die im Vorfeld und während der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen. Spieltheoretische Konzepte zur Beschreibung von Verhandlungen blenden diese Aspekte jedoch weitestgehend aus. Insbesondere Modelle der verhaltensökonomisch 151
152
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
geprägten, sozialpsychologischen Verhandlungsforschung stellen diesbezüglich jedoch einen angemessenen Rahmen dar, um Verhandlungen für das Vorhaben dieser Arbeit zu konzipieren. Im Rahmen der Betrachtung dieser grundständigen Verhandlungsmodelle, die den Anspruch erheben, für jegliche Formen der Verhandlung anwendbar zu sein, hat sich gezeigt, dass nicht nur die zu erklärenden Größen – das Verhandlungsgeschehen und -ergebnis – durch eine Vielzahl an Merkmalen beschrieben werden können. Auch die Faktoren, die diese prägen und beeinflussen, sind zahlreich. Zudem lassen sich vielfältige Interaktionsbeziehungen sowohl innerhalb der Dimensionen des Verhandlungsgeschehens auf kognitiver, emotionaler und konativer Ebene als auch zwischen den Rahmenbedingungen identifizieren (Druckman, 1977, S. 29). Während die in Kapitel 3.1.2 beschriebenen Merkmale und die in diesem Kapitel zusammengetragenen Parameter prinzipiell für jegliche Form der Verhandlung zur Lösung eines Interessenskonfliktes (i. e. Bargaining) gelten, lassen sich für Verhandlungen, die als Kernentscheidungsmechanismen für (gesamt-)gesellschaftliche Probleme dienen, einige Besonderheiten identifizieren. So führt insbesondere die Tatsache, dass kollektive Interessen über Repräsentanten verhandelt werden, zu einer Komplexitätssteigerung der Verhandlungssituation (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 152; Turner, 1992, S. 233). Auf Basis der zuvor präsentierten grundständigen Verhandlungsmodelle sollen nun im folgenden Kapitel die spezifischen definitorischen Merkmale von Verhandlungen als Lösungsmechanismen für gesellschaftlich relevante Problemlagen ergänzt und die daraus resultierenden Parameter in die Übersicht aufgenommen werden.
3.1.4 Spezifische Betrachtung: Merkmale und Parameter von institutionalisierten Verhandlungen komplexer Akteure Es wurde bereits dargelegt, dass Verhandlungen als Lösungsmechanismen in sehr unterschiedlichen Lebens- und Gesellschaftsbereichen zum Einsatz kommen. Dabei führt insbesondere die Tatsache, dass der Auslöser von Verhandlungen ein sozialer Konflikt zwischen interdependenten Akteuren ist, dazu, dass Aushandlungsprozesse unabhängig vom konkreten Gegenstand oder Gesellschaftsbereich unter sehr ähnlichen Mechanismen ablaufen (vgl. Kapitel 3.1.2). Im Gegensatz zu privaten Verhandlungen zwischen Individuen – etwa wenn ein Gebrauchtwagen seinen Besitzer wechselt oder die Höhe des Taschengeldes zwischen Eltern und Kindern ausgehandelt wird – gehen jedoch Verhandlungen zur Lösung von überindividuellen oder gar (gesamt)gesellschaftlichen Konflikten oder Interessensgegensätzen mit einigen Besonderheiten einher (vgl. Abbildung 3):
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
153
In Verhandlungen, in denen Lösungen für große Bevölkerungsteile oder zumindest für mehr Menschen, als die unmittelbar am Verhandlungstisch beteiligten, erarbeitet werden, stehen sich meist nicht individuelle Akteure, sondern vielmehr korporative oder kollektive Akteure gegenüber (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 154; van Kleef et al., 2007, S. 130; vgl. zur Differenzierung der Akteursbegriffe: Scharpf, 2006, S. 101–106). Somit erfährt der Akteursbegriff bei der Beschreibung von Verhandlungen als gesamtgesellschaftlicher Entscheidungs- und Steuerungsmechanismus eine Ausdifferenzierung. Diese komplexen Akteure verhandeln über Repräsentanten, die in der Regel nicht ihre individuellen, sondern vielmehr die kollektiven Interessen der dahinterstehenden Organisation und ihrer Mitglieder vertreten (z. B. Verbände, Institutionen, Unternehmen) (Strøm & Müller, 1999, S. 1; Trötschel et al., 2017, S. 829; Turner, 1992, S. 233; van Kleef et al., 2007, S. 129). Die Repräsentanten sind zudem Teil von gesellschaftlichen Funktionseliten – beispielweise Entscheidungsträger aus Politik oder Wirtschaft und sehen sich damit verschiedenen (Teil-)Öffentlichkeiten mit verschiedensten Anspruchshaltungen gegenüber (vgl. Kapitel 3.2; Czada, 2014, S. 117; Lichtenstein et al., 1990, S. 91). Schließlich finden solche Verhandlungen oftmals in einem institutionalisierten Rahmen statt, der nicht nur durch gesetzliche Regelungen, sondern auch spezifische Spielregeln und Routinen des Aushandelns gekennzeichnet ist (Verhandlungskontext in Abbildung 3, vgl. Trötschel et al., 2017, S. 803). Mit diesen Eigenschaften gehen Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismen für gesellschaftliche Probleme über einfache Grundmodelle des individuellen Verhandelns von zwischenmenschlichen Konflikten hinaus (das entspräche in Abbildung 3 nur der Interaktion zwischen Verhandlungsakteur I und II um den Verhandlungsgegenstand) (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 7; Turner, 1992, S. 233; van Kleef et al., 2007, S. 130). Medieneinflüsse auf das Verhandlungsgeschehen und -ergebnis können gerade durch diese Merkmale in besonderer Weise kanalisiert werden. Daher sollen sie im Folgenden dargestellt und die Systematisierung der Parameter entsprechend erweitert werden.
153
Quelle: Eigene Darstellung. Verhandlungsakteur I
Teilöffentlichkeit I (z.B. Mitglieder, Anhänger)
Organisationaler Rahmen
Verhandlungsgegenstand
Allgemeine Öffentlichkeit
Verhandlungskontext Organisationaler Rahmen
Teilöffentlichkeit II (z.B. Mitglieder, Anhänger)
Verhandlungsakteur II
154 3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Abb. 3 Schematische Darstellung der Konstellation von Verhandlungen komplexer Akteure
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
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Komplexe Akteure und ihre Repräsentanten Durch den Fokus auf komplexe Akteure, die über Repräsentanten verhandeln, wird die Annahme unitaristischer Entscheidungsakteure aus grundständigeren Verhandlungsmodellen aufgehoben (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 7; Turner, 1992, S. 233). Weil es sich bei den gesellschaftlichen Funktionseliten aus Politik, Wirtschaft Justiz usw. – also denjenigen Akteuren, die überwiegend Lösungen von gesellschaftlicher Relevanz verhandeln – um Vertreter von Verbänden, Parteien, Staaten, Unternehmen oder politischen Institutionen handelt, wird diese Perspektiverweiterung um komplexe soziale Einheiten notwendig, da ein alleiniger Fokus auf die Individuen am Verhandlungstisch entscheidende Einflussparameter ausblendet (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 36; Keller, 1991, S. 100; R. D. Putnam, 1988, S. 433; Strøm & Müller, 1999, S. 12; Turner, 1992, S. 233). Zunächst gilt es aber zu klären, was unter komplexen Akteuren verstanden werden kann, bevor die Konsequenzen daraus für das Verhandlungsgeschehen abgeleitet werden: Grundlegend kann jegliche Ansammlung von Individuen, die eine gemeinsame Absicht verfolgen, als komplexer Akteur begriffen werden (Scharpf, 2006, S. 96). Diese komplexen Akteure können ähnlich wie individuelle Akteure intentional handeln, d. h. auch als Verhandlungspartei zur Lösung eines Interessenskonfliktes auftreten. Gerade bei Verhandlungen, die als Kernentscheidungsmechanismus für soziale Konflikte und Koordinationsprobleme in der Gesellschaft eingesetzt werden, stehen sich nicht Individuen, sondern Gruppen von Individuen gegenüber, die eine gemeinsame Absicht und ein gemeinsames Ziel verbindet. Dieses absichtsvolle Handeln des komplexen Akteurs ist dabei jedoch das Resultat der internen Interaktionen der individuellen Akteure, die den komplexen Akteur bilden (z. B. Mitglieder, Anhänger, Mitarbeiter) (Scharpf, 2006, S. 97). So müssen etwa die individuellen Vorstellungen der Glieder des komplexen Akteurs – beispielweise die der Mitglieder einer Partei – mit Blick auf das Verhandlungsziel und die Strategie akkumuliert und kristallisiert werden. Die Frage, wie die Interaktionen zwischen den individuellen Mitgliedern gebündelt und deren Einflusspotentiale miteinander verknüpft werden, erlaubt eine weitere Differenzierung von komplexen Akteuren nach ihrem Organisationsprinzip (Schimank, 2010, S. 338): Während kollektive Akteure bottom-up organisiert und daher bei der Festlegung von Zielen und Strategien vom Willen ihrer Mitglieder abhängig sind (z. B. Verbände und soziale Bewegungen), sind korporative Akteure top-down strukturiert, sodass deren strategische Handlungsentscheidungen stärker vom Willen der Mitglieder entkoppelt sind (z. B. Unternehmen und ihre Mitarbeiter). Nichtsdestotrotz können auch korporative Akteure die Ansprüche der Mitglieder nicht vollkommen außer Acht lassen, da sie auf deren Leistung angewiesen sind. Hinzu kommen aber andere bedeutsame Anspruchsgruppen (z. B. Kunden), für 155
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die sie Leistungen erbringen und von denen ihre Existenz abhängig ist (Scharpf, 2006, S. 104–105; Schimank, 2010, S. 337).63 Mit Blick auf Verhandlungen können sich demnach die internen Willensbildungsprozesse von Verbänden, Parteien und anderen demokratisch aufgebauten Organisationen einerseits und Unternehmen andererseits diametral unterscheiden. Auch die Bedeutsamkeit verschiedener Anspruchsgruppen variiert in diesen Organisationen (siehe hierzu Kapitel 3.2). Prinzipiell stehen sich am Verhandlungstisch zwar individuelle Akteure – meist in Teams – gegenüber, diese vertreten aber nicht primär sich selbst, sondern die Interessen einer dahinterstehenden Gruppe oder Organisation (Benz, 2007, S. 115; Druckman, 1977, S. 29; Lamm, 1975, S. 19; Trötschel et al., 2017, S. 828; van Kleef et al., 2007, S. 129; für internationale Beziehungen spricht R. D. Putnam, 1988, S. 434, von einem two-level-game). Daher müssen diese organisationsinternen Prozesse, die an den Repräsentanten am Verhandlungstisch herangetragen werden, berücksichtigt werden (Frey & Adams, 1972; Raupp, 2009, S. 277). Da es aber letztendlich trotzdem Individuen sind, die verhandeln, bleibt die Bedeutsamkeit der psychologischen Prozesse, wie sie in Kapitel 3.1.3 dargelegt wurden, gegeben (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 152; Walton & McKersie, 1965, S. 3). Im Resultat agieren die Repräsentanten unter zwei Logiken, die mitunter widersprüchliche Implikationen liefern können (boundary role conflict bei McKersie & Walton, 1992, S. 281; Walton & McKersie, 1965, S. 284, vgl. außerdem: Benz, 2007, S. 115; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 157; R. D. Putnam, 1988, S. 432). Einerseits ist es am Verhandlungstisch notwendig, Konzessionen zu machen und sich zu einigen, um den Interessenskonflikt zu lösen. Andererseits fordern die Mitglieder und andere Anspruchsgruppen, dass ihre Interessen möglichst umfänglich vertreten werden und daher keine oder maximal minimale Zugeständnisse an die Gegenseite gemacht werden (Benz, 2007, S. 115; Douglas, 1992, S. 264; Klimoski, 1972, S. 364; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 56; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 8; Susskind, 2006, S. 278; Turner, 1992, S. 235). Dieses Spannungsverhältnis ist insbesondere dann stark ausgeprägt, wenn es sich um zero-sum-games handelt (z. B. bei Entscheidungen über Verteilungsfragen), in denen klare Gewinner und Verlierer entstehen (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 420). Paradigmatisch hierfür ist eine Situation, die Shapira (1990 zit. nach Pruitt & Carnevale, 1993, 63 Eine etwas andere Spezifizierung und Differenzierung von kollektiven und korporativen Akteuren nimmt Schimank (2010, S. 329) vor, der danach fragt, ob es bindende Vereinbarungen gibt, die das Handeln der komplexen Akteure und seiner individuellen Mitglieder regeln (z. B. Satzung, Arbeitsverträge). In der Konsequenz unterscheidet er zwischen kollektiven Akteuren ohne bindende Vereinbarungen (z. B. lose soziale Bewegungen ohne Organisationsstruktur) und korporativen Akteuren mit top-down und bottom-up Organisationsstruktur (z. B. Unternehmen und Verbände).
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
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S. 154) schildert: In einer Tarifverhandlung hatten sich Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter binnen weniger Stunden auf ein beiderseitig zufriedenstellendes Ergebnis geeinigt. Statt jedoch unmittelbar nach Verhandlungsende das Ergebnis zu verkünden, verweilten die Verhandlungsparteien noch für zwei weitere Tage im Verhandlungshotel. Sie fürchteten, dass ihre jeweiligen Anhänger das schnelle Ergebnis missinterpretierten und der Eindruck entstünde, die Verhandlungsführer hätten die Interessen der Anhänger leichtfertig aufgegeben. Nach diesen zwei Tagen haben die Verhandlungsführer beider Seiten das Ergebnis dann als hart umkämpftes Resultat präsentiert. Insbesondere dann, wenn unter den Anhängern nämlich der Eindruck entsteht, hre Interessen würden nur unzureichend vertreten, können Probleme bei der Implementierung einer verhandelten Entscheidung die Folge sein (R. D. Putnam, 1988, S. 437; Scharpf, 1991, S. 39; Susskind, 2006, S. 282). Aus diesen zuvor dargestellten Wesensmerkmalen von komplexen Akteuren, die über Repräsentanten verhandeln, resultieren nun Faktoren, um die die Systematisierung der zentralen Einflussparameter aus Kapitel 3.1.3 erweitert werden kann (vgl. Abbildung 4): Ergänzung um Merkmale der organisationalen Umwelt Neben den Bedingungen, die die Interaktion mit dem Gegner prägen (die Verhandlungsumwelt, vgl. Kapitel 3.1.3), müssen nun auch Faktoren berücksichtigt werden, die die Interaktion mit den eigenen Anhängern kennzeichnen. Diese Sphäre stellt die organisationale Umwelt des Verhandlungsakteurs dar (vgl. Block links unten in Abbildung 4). Dabei wird angenommen, dass allein die Tatsache, dass physisch anwesende oder psychologisch wahrgenommene Zuschauer – also die potenziellen Anhänger, deren Interessen vertreten werden sollen – vorhanden sind, den Verhandlungsprozess entscheidend verändert (B. R. Brown, 1977, S. 285; Turner, 1992, S. 238). Dabei kann jedoch weiter differenziert werden: Zum einen bedingen die formalen Merkmale der Interaktion zwischen dem Verhandlungsakteur und den Anhängern der Organisation die besagten Veränderungen: Die Intensität des Widerspruchs zwischen der Verhandlungslogik und der Mitglieder- bzw. Anhängerlogik hängt vor allem von der Art des Mandats ab, das der Repräsentant innehat (Benz, 2007, S. 115; R. D. Putnam, 1988, S. 449; decision latitude bei Druckman, 1977, S. 30). Dieses kann von einem reinen Überbringer der Forderungen bis hin zu hoher eigenständiger Entscheidungsgewalt sehr unterschiedlich ausgeprägt sein (Druckman, 1977, S. 30). Inwieweit das Mandat dem Repräsentanten Grenzen absteckt, zeigt sich vor allem an der Frage, ob und inwieweit dieser gegenüber den Anspruchsgruppen formal rechenschaftspflichtig ist (Accountability, van Kleef et al., 2007, S. 130). Vor allem Repräsentanten, die einem restriktiven Mandat und damit hohem Druck durch die Anhängerschaft ausgesetzt sind, brauchen länger für 157
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eine Einigung/einen Kompromiss (Klimoski, 1972), d. h. sie sind weniger effizient und sie verhandeln (in individualistisch geprägten Kulturkreisen) eher kompetitiv denn kompromissorientiert (Druckman, 1994; Gelfand & Realo, 1999; van Kleef et al., 2007, vgl. für Forschungsübersichten zu den Folgen aus der Art des Mandats für das Verhandeln: Benz, 2007, S. 115; Druckman, 1977, S. 31; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 57; Trötschel et al., 2017, S. 829; van Kleef et al., 2007, S. 130). Eng damit verknüpft ist auch die Frage, welche Position ein Verhandlungsakteur in der Organisation hat, für die er als Repräsentant verhandelt. Verschiedene Forschungsübersichten verweisen etwa darauf, dass Personen in hochrangigen Positionen als souveräner im Verhandlungsgeschehen gelten (z. B. sind sie eher bereit größere Zugeständnisse an den Gegner zu machen) als solche, die auf untergeordneten Positionen sitzen (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 57; Turner, 1992, S. 239; van Kleef et al., 2007, S. 130). Neben diesen formalen Merkmalen spielen auch die psychologischen Prozesse eine Rolle, in denen sich die Interaktion mit den widerspiegelt. Darunter werden verschiedene Zuschreibungen an und Einstellungen gegenüber den Anhängern gefasst: Hier gilt es zunächst die soziale Gruppenidentität des Repräsentanten zu erwähnen (Thompson et al., 2010, S. 502; van Kleef et al., 2007, S. 131). Während die formale Position in der Organisation die Distanz zur eigenen Gruppe auf struktureller Ebene widerspiegelt, ist die so-ziale Gruppenidentität deren psychologisches Pendant (Turner, 1992, S. 239). Dieses Merkmal wird über Ansätze zur sozialen Identität (Tajfel, Billig, Bundy & Flament, 1971) sowie der Self-Categorization Theory (Turner, John, C., Oakes, Penelope, J., Haslam, S., Alexander & McGarty, 1994) konzipiert. Insbesondere Personen, die der Gruppe angehören wollen, aber nur eine Randposition innerhalb der Gruppe haben, versuchen sich vor den Gruppenmitgliedern zu profilieren (van Kleef et al., 2007).
Formale Merkmale Organisation: Größe/ Heterogenität der Organisation, Organisationsstruktur/-kultur Formale Merkmale der Interaktion mit Anhängern: Art des Mandats/Accountability, Position in der Organisation Zuschreibungen an und Einstellungen gegenüber den Anhängern: Identifikation mit der sozialen Gruppe, wahrgenommene Ansprüche, Beziehung zu den Anhängern, Relevanzzuschreibung zu verschied. Anspruchsgruppen, Motiv: Face Saving ggü. den Anhängern …
Organisationale Umwelt: Bedingungen der Interaktion mit den Anhängern
Kontextfaktoren: Der Verhandlungsakteur in verschiedenen Umwelten
gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer Kontext; kulturelle Faktoren, …
Background-Faktoren
• persönlicher Hintergrund und Erfahrungen • Persönlichkeitsmerkmale: z.B. Big 5; Need for structure • Subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen & Normen • Geschlecht •…
Indiv. Verhandlungsakteur
Strukturelle Bedingungen der Verhandlungssituation: Machtressourcen im Verhandlungskontext (BATNA), Verhandlungsgegenstand, Zahl der Beteiligten, Belastungsmomente (Zeitdruck), Wahl des Kommunikationsmediums Typus der Verhandlung (öffentlich vs. geheim, zwischen Teams vs. individuellen Repräsentanten), Verfahrensregeln & Routinen Sozioemotionale Merkmale der Interaktion: Zuschreibungen an und Einstellungen zum Gegner: Macht, Vertrauen, Wahrnehmung der Gegenseite (z.B. dessen Verhältnis zu seinen Anhängern) Motive (Eigeninteresse vs. gemeinsame Wohlfahrt) & Ziele (Präferenzen für Outcomes, individuelle Ziele des Verhandlungsakteurs) …
Verhandlungsumwelt: Bedingungen der Interaktion mit dem Verhandlungsgegner
Konative Dimension: Wahl der Verhandlungsstrategie (integrativ vs. distributiv) inkl. Konzessions- und Kommunikationstaktiken (z.B. Ankereffekte setzen, Drohungen aussprechen)
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Ökonomisch-rationelle und subjektiv-soziale Merkmale des Verhandlungsergebnisses
Strategischtaktische Überlegungen (auf kognitiver und emotionaler Ebene)
Merkmale des Verhandlungsgeschehens
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
(z.B. Impression und Erwartungsmanagement)
Merkmale des Verhandlungsgeschehens
Medienbezogene Faktoren
Paralleler Austausch mit den eigenen Anhängern
Rahmenbedingungen
spezifische Faktoren für institutionalisierte Verhandlungen zwischen kollektiven Akteuren
Legende:
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Abb. 4 Erweiterte Systematisierung der Einflussfaktoren für institutionalisierte Verhandlungen zwischen komplexen Akteuren
Anmerkung. Ergänzte Prädiktoren sind durch Unterstreichung hervorgehoben.
Quelle: Eigene Darstellung.
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Um sich zu profilieren, folgt der Repräsentant dem, was er an Ansprüchen und Erwartungen der Anspruchsgruppen wahrnimmt (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 37; Turner, 1992, S. 236–237; Walton & McKersie, 1965, S. 5–6). Gerade an diesen Ansprüchen kristallisiert sich die Position des Repräsentanten zwischen zwei – mitunter widersprüchlichen – Logiken oder wie Walton und McKersie (1965, S. 5–6) es beschreiben: „one from across the table and one from his own organization“. Ob der Repräsentant sich dadurch unter Druck gesetzt fühlt, knüpft auch an der wahrgenommenen Beziehung zu den eigenen Anspruchsgruppen an (Lamm, 1975, S. 25; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 57)(für eine Übersicht siehe Turner, 1992, S. 242). Ein zentraler Indikator in der vielschichtigen Beziehung zwischen Repräsentant und Anspruchsgruppen ist das Vertrauen, das diese ihm entgegen bringen (Turner, 1992, S. 239). So äußert sich mangelndes Vertrauen beispielweise indirekt über intensivere Monitoring-Aktivitäten der eigenen Anhänger (Turner, 1992, S. 240). In der Gesamtschau zeigt eine Vielzahl an Studien, dass Repräsentanten, die den Eindruck haben, dass die Beziehung zu den eigenen Anspruchsgruppen problematisch ist – z. B. weil sie ihm misstrauen oder ihn kritisieren – eher zu distributiven Strategien neigen und kompetitiver am Verhandlungstisch agieren (vgl. z. B. Druckman, 1994; Frey & Adams, 1972, für Forschungsüberblicke siehe: Pruitt & Carnevale, 1993, S. 57; Turner, 1992, S. 236, 240; van Kleef et al., 2007, S. 130). Dabei gilt es zu beachten, dass unterschiedliche Anspruchsgruppen unterschiedlich bedeutsam sein könnten. Während bislang vereinfachend der Repräsentant (als Individuum oder im Team) und die Anspruchsgruppen dichotom gegenübergestellt wurden, legt das Netzwerkmodell von Pruitt (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 157) nahe, dass es für das Verständnis der Restriktionen und der Dynamiken in einem Verhandlungsprozess bedeutsam sein kann, zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen und ihrer jeweiligen Bedeutung zu differenzieren (vgl. hierzu Kapitel 3.2). Trotz all der vermeintlich negativen Folgen von Druck durch die Anspruchsgruppen auf den Repräsentanten, können diese auch als taktischer Kniff im Aushandlungsprozess eingesetzt werden: So können Repräsentanten gegenüber dem Gegner Zugeständnisse verweigern, weil ihnen sprichwörtlich die Hände gebunden sind und die eigenen Anspruchsgruppen ein solches Ergebnis niemals akzeptieren würden (Benz, 2007, S. 115; R. D. Putnam, 1988, S. 440; Turner, 1992, S. 245). Neben diesen Zuschreibungen an und Einstellungen gegenüber den eigenen Anspruchsgruppen lässt sich noch ein soziales Motiv als bedeutsam ausmachen – nämlich das Bedürfnis des Repräsentanten sein Gesicht zu wahren (Face Saving; B. R. Brown, 1977, S. 275; Druckman, 1977, S. 41). Dabei ist der Repräsentant darum bemüht, einen fähigen, durchsetzungsstarken und zuverlässigen Eindruck zu erzeugen (B. R. Brown, 1977, S. 276). Dieses Motiv entsteht primär durch die Tatsache, dass das Handeln des Repräsentanten durch andere beobachtet wird
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(B. R. Brown, 1977, S. 283; Druckman, 1977, S. 32) und es ist insbesondere dann stark ausgeprägt, wenn auf der Beziehungsebene zu den Anhängern der Eindruck entsteht, dass er nicht ihre volle Rückendeckung genießt und an ihm und seinen Fähigkeiten gezweifelt wird (z. B. wenn intensives Monitoring seiner Aktivitäten betrieben wird) (B. R. Brown, 1977, S. 285). Schlussendlich können auf der organisationalen Ebene noch weitere formale Eigenschaften identifiziert werden: Analog zu den Merkmalen des Verhandlungsakteurs in den grundständigen Verhandlungsmodellen (vgl. Abbildung 2) können nun auch Merkmale der jeweiligen Organisation identifiziert werden. Die Akteursmerkmale werden demnach auf zwei Ebenen differenziert: Zum einen auf der Mesoebene der komplexen Akteure und andererseits auf der Mikroebene ihrer individuellen Repräsentanten. Während der persönliche Hintergrund, das Geschlecht, die Persönlichkeitsmerkmale und subjektive Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen Individualmerkmale des Repräsentanten sind (vgl. Kapitel 3.1.3), kann die Organisation insbesondere durch Merkmale wie ihre Größe, das Ausmaß der Heterogenität ihrer Mitglieder, ihre Organisationskultur und -struktur beschrieben werden. Ergänzung der Einflussfaktoren in der Verhandlungsumwelt Neben diesen organisationsbezogenen Merkmalen muss auch die Verhandlungsumwelt um einige Prädiktoren ergänzt werden (vgl. Block links oben in Abbildung 4), um der gestiegenen Komplexität bedingt durch komplexe statt individuelle Akteure Rechnung zu tragen: Zunächst spiegelt sich die zusätzliche Komplexität in einer Erweiterung bei den strukturellen Bedingungen des Verhandlungskontextes wieder. Hier wird zur besseren Beschreibung der Rahmenbedingungen nun zusätzlich zwischen verschiedenen Grundtypen von Verhandlungen unterschieden. Eine solche Unterscheidungsdimension stellt die Frage dar, ob zwischen Teams, die einen dahinterstehenden komplexen Akteur vertreten, oder zwischen individuellen Repräsentanten verhandelt wird. Gerade Verhandlungen in Teams erhöhen die Komplexität der Verhandlungssituation zusätzlich. So müssen beispielsweise unterschiedliche Ansichten dazu, wie verhandelt werden soll, miteinander in Einklang gebracht werden (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 161). Studien zeigen dabei, dass Teams kompetitiver verhandelten als Individuen (Insko, Schopler, Hoyle, Dardis & Graetz, 1990) und zum Beispiel auch eher zu Täuschungsmanövern griffen – außer wenn sich ehrliches Verhalten strategisch auszahlte (T. R. Cohen, Gunia, Kim-Jun & Murnighan, 2009). Daher schlussfolgerten T. R. Cohen et al. (2009), dass Verhandlungsteams eher als individuelle Verhandlungsakteure ihr Verhandlungshandeln strategisch gezielt auf ihre Verhandlungsziele austarieren. Dafür spricht auch, dass sie – aufgrund erhöhter Verarbeitungskapazitäten – besser 161
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darin sind, komplexe Aufgaben zu lösen und integrative Potentiale zu entdecken (Hill, 1982, S. 533; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 162). Überdies müssen auch auf der sozio-emotionalen Ebene der Verhandlungsumwelt die Bedingungen der Interaktion mit dem Gegner erweitert werden: Zum einen führt die Perspektiverweiterung auf komplexe Akteure dazu, dass auch die Wahrnehmungen des Gegners vielfältiger sein können. Da es sich auch beim Gegner um einen kollektiven oder korporativen Akteur handelt, spielt seine wahrgenommene Beziehung zu seinen eigenen Anspruchsgruppen ebenfalls eine Rolle bzw. ergänzt das Bild, das man sich vom Gegner macht. Zum anderen wird es notwendig, zwischen den Zielen des komplexen Akteurs als Ganzes und denen des individuellen Repräsentanten in der Verhandlungssituation zu differenzieren (Ausmaß an Zielkongruenz; Turner, 1992, S. 237): So verfolgt der individuelle Repräsentant durchaus auch Ziele, die über die der dahinterstehenden Organisation hinausgehen – beispielsweise die eigene Machtsicherung oder -ausweitung. Ergänzung der Merkmale zur Beschreibung des Verhandlungsgeschehens Schließlich bleibt die Perspektiverweiterung auf komplexe Akteure, die über Repräsentanten verhandeln, auch mit Blick auf das unmittelbare Verhandlungsgeschehen und -ergebnis nicht folgenlos (vgl. Block rechts oben in Abbildung 4): Die Notwendigkeit, sowohl der Anhänger- als auch der Verhandlungslogik gerecht zu werden, führt nicht nur zu widersprüchlichen Anforderungen am Verhandlungstisch selbst. Gleichzeitig müssen die Repräsentanten versuchen, in ihrer Anhängerschaft um Zustimmung für eine potenzielle Verhandlungslösung zu werben (intraorganizational bargaining bei Walton & McKersie, 1965, S. 5, siehe auch: Turner, 1992, S. 234). Dieser Austausch mit den eigenen Anhängern erfolgt nicht nur, indem vor dem eigentlichen Verhandeln bereits intensiv mit den eigenen Anhängern interagiert wird. Auch parallel zum nichtöffentlichen Verhandlungsgeschehen müssen die Akteure versuchen, die Anhänger gewissermaßen bei Laune zu halten – ohne dabei den Anspruch an Vertraulichkeit im Verhandlungskontext zu unterwandern oder Widersprüche zu erzeugen. Spätestens nach der Einigung müssen sich die Repräsentanten für die erzielte Lösung verantworten (Benz, 2007, S. 115; Korte & Fröhlich, 2009, S. 214; McKersie et al., 2008, S. 93). Gerade diese Aspekte sprechen für eine Gratwanderung zwischen öffentlicher Aufmerksamkeit – zumindest in den relevanten Bezugsgruppen – und dem Verhandlungsgeschehen hinter verschlossenen Türen. Im Verhandlungsgeschehen finden also zwei Interaktions- und Kommunikationsprozesse parallel statt – einer mit dem Gegner über den Verhandlungstisch hinweg und einer zurück in die eigenen Reihen – (R. D. Putnam, 1988, S. 436; Turner, 1992, S. 233, 235), die sich wechselseitig beeinflussen und damit zentrale
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Konsequenzen für das Verhandlungsergebnis haben (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 153; Walton & McKersie, 1965, S. 3). Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Erwartungs- und Impression Management bei den Anspruchsgruppen (Druckman, 1977, S. 31; Turner, 1992, S. 238): So kann eine Aktion am Verhandlungstisch beispielweise gar nicht auf den Gegner bezogen sein, sondern instrumentell erfolgen, um die eigenen Anspruchsgruppen zu befrieden (z. B. zu Beginn sehr viel Härte zeigen, um eigene Loyalität gegenüber den Anhängern zu demonstrieren)(Pruitt & Carnevale, 1993, S. 156; van Kleef et al., 2007, S. 146). Dennoch darf der Kommunikationsprozess mit den Anspruchsgruppen nicht als einseitig in Form von Verlautbarungen des Repräsentanten an die Anhänger begriffen werden. Vielmehr führt die reziproke Natur dieser Interaktion mit den eigenen Anhängern zu einer Konvergenz und Verschmelzung der Positionen der Anhänger mit denen des Repräsentanten (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 156; Turner, 1992, S. 235; Walton & McKersie, 1965, S. 5). Neben den zahlreichen Erweiterungen, die durch die Perspektiverweiterung auf komplexe statt unitaristische Akteure einhergehen, resultieren auch aus der Tatsache, dass Verhandlungen zur Lösung überindividueller Probleme institutionalisiert und unter Einbezug von Funktionseliten ablaufen, einige Besonderheiten.
Institutionalisierte Verhandlungen unter Beteiligung von Funktionseliten Die grundständigen Verhandlungsmodelle gehen vereinfachend davon aus, dass sich die Verhandlungspartner einmalig gegenüberstehen, den Konflikt lösen und danach getrennte Wege gehen (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 8; Susskind, 2006, S. 277). Gerade bei Fragen von gesellschaftlicher Relevanz stehen sich aber oftmals immer wieder dieselben Akteure gegenüber (z. B. Parteien in den gesetzgebenden Organen, Tarifpartner, Staaten in internationalen Beziehungen). Diese wiederkehrenden Interaktionsanlässe sorgen zum einen dafür, dass die Auswirkungen einer Verhandlung auf die Beziehung zum Gegner nicht außer Acht gelassen werden können, da diese die Ausgangsbasis für künftige Entscheidungsprozesse im Aushandlungsmodus darstellt (Teil der sozioemotionalen Outcomes in der Verhandlungsumwelt). Beispielsweise wird sich übermäßiges Drohen und Bluffen nicht positiv auf das Vertrauensverhältnis auswirken, was in künftigen Verhandlungen dazu führen kann, dass der Gegner einem von Anfang an mit einer kompetitiveren Strategie begegnet. Zum anderen kommt es durch diese regelmäßigen Interaktionsinstanzen zur Institutionalisierung der Verhandlungsprozesse, da über Institutionen Unsicherheit bewältigt und die kollektive Ordnung gewährleistet werden kann (H. Esser, 2000, S. 14–15; Lehmbruch, 2000, S. 18), sodass das Verhandeln dadurch effizienter gestaltet werden kann. Konkret sind „Institutions (…) the rules of the game in a 163
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society or, more formally, (…) the humanly devised constraints that shape human interaction. In consequence they structure incentives in human exchange, whether political, social, or economic“ (North, 1990, S. 3). Als solche stellen Institutionen gewissermaßen die „Produktionsfunktion“ des Handelns der Akteure dar („die Regeln des Spiels“; H. Esser, 2000, S. 6). Institutionen können dabei von einer übergeordneten Herrschaftsinstanz verordnet (z. B. Gesetzgeber schafft gesetzliche Regeln), von den Verhandlungsparteien selbst vereinbart (z. B. ein Vertrag über die Verfahrensabläufe) oder durch die regelmäßige soziale Interaktion – quasi als ungeschriebenes Gesetz – entstanden sein (z. B. Routinen) (H. Esser, 2000, S. 38). Solche formalen Verfahrensregeln, aber auch informelle Routinen stecken als strukturelle Parameter der Verhandlungssituation gewissermaßen den Rahmen ab, in dem sich die Verhandlungsparteien bewegen können, ohne (rechtliche oder soziale) Sanktionen fürchten zu müssen (Lamm, 1975, S. 25; Schrott & Spranger, 2007, S. 5). Schließlich gelten Akteure, deren Verantwortung darin besteht, dem gesellschaftlichen Wohl zu dienen und die kollektive Ordnung in einer Gesellschaft zu wahren, als gesellschaftliche Funktionseliten (Keller, 1991, S. 4). Da die Akteure, die über Verhandlungen Lösungen für gesellschaftliche Problemlagen erarbeiten, genau diese Aufgabe erfüllen, d. h. dem Gemeinwohl dienen und die soziale Ordnung wahren, zählen sie per Definitionem zu dieser Minderheit, die Führungspositionen in der Gesellschaft eingenommen haben (M. Hartmann, 2004, S. 62; Hoffmann-Lange, 2007, S. 56–57). Bedeutsam ist die Tatsache vor allem deshalb, weil diese Funktionseliten nicht nur nach der tatsächlichen Effizienz ihrer Problemlösung bewertet werden (Keller, 1991, S. 4), sondern auch nach den öffentlich wahrgenommenen Qualitäten ihrer Leistung (M. Hartmann, 2004, S. 66). Bei Verhandlungen als Lösungsmechanismen für überindividuelle Probleme gibt es demnach mindestens zwei strukturelle Berührungspunkte mit der Öffentlichkeit: Zum einen die Tatsache, dass Entscheidungen von gesellschaftlicher Relevanz die Aufmerksamkeit vieler – zumindest potenziell – wecken können und zum anderen, dass gesellschaftliche Funktionseliten u. a. über ihr öffentlich wahrgenommenes Wirken bewertet werden. In der Konsequenz wird insbesondere bei diesen Verhandlungssystemen die grundlegende, verfahrenstechnische Frage relevant, ob öffentlich oder hinter verschlossenen Türen verhandelt wird (Benz, 2007, S. 114; Lamm, 1975, S. 25). Die Implikationen einer öffentlich geführten Auseinandersetzung auf die Qualität der Lösung sind – wie in Kapitel 3.1.1 dargelegt – ambivalent: So wird einerseits von einer disziplinierenden Wirkung durch öffentliche Aufmerksamkeit ausgegangen („civilizing force of hypocrisy“ Elster, 1995b, S. 257), andererseits bedingt das Motiv, das eigene Gesicht wahren zu wollen, einen besonders durchsetzungswilligen und damit harten, wenig kompromissorientierten Verhandlungsstil (B. R. Brown, 1977, S. 285; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 58). Meade und Stasavage (2006) kommen im
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
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Rahmen ihrer Studie zu dem Schluss, dass die Öffnung von Verhandlungssystemen für die Öffentlichkeit die Qualität der Debatten beeinträchtige, die am Verhandlungstisch geführt werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Verhandlungen, die als Konfliktaustragungs- und Steuerungsmechanismus für gesamtgesellschaftliche Problemlagen eingesetzt werden, mit einigen besonderen Merkmalen einhergehen: Es verhandeln nicht individuelle, sondern komplexe Akteure über Repräsentanten miteinander. Zudem sind daran gesellschaftliche Funktionseliten beteiligt und die Aushandlungsprozesse erfolgen häufig in einem institutionalisierten Rahmen. In der Folge müssen grundständige Verhandlungsmodelle hinsichtlich der Einflussparameter deutlich erweitert werden und steigen damit in ihrem Komplexitätsgehalt. Insbesondere die Ausdifferenzierung des Akteursbegriffs, aber auch die vielschichtige Interaktion mit den Anspruchsgruppen bedingen zusätzliche Dimensionen, die bei der Beschreibung und Erklärung von Verhandlungen berücksichtigt werden müssen. Denn gerade damit verlässt der Aushandlungsprozess das Private und birgt mehrere Ankerpunkte für öffentliche Aufmerksamkeit, denen zwar einerseits mit verfahrenstechnischen Regeln – Verhandeln hinter verschlossenen Türen – begegnet werden soll. Zum anderen können sich die Verhandlungsakteure dem nicht vollständig entziehen, da sie mindestens mit den eigenen Anspruchsgruppen interagieren müssen, um eine erfolgreiche Lösung erarbeiten zu können.
3.1.5 Zwischenfazit: Verhandlungen zwischen Funktionseliten als Mechanismus der gesellschaftlichen Kernentscheidungsfindung Die kommunikationswissenschaftliche Perspektive auf Medieneinflüsse in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Eliten lässt insbesondere einen zentralen Aspekt vermissen: Eine gehaltvolle Konzeption des Kernentscheidungsprozesses selbst (vgl. Kapitel 2.5.1). Verhandlungen stellen eine Möglichkeit dar, diese Kernentscheidungsfindung theoretisch und analytisch zu modellieren, da sie – neben der hierarchischen Steuerung, der Mehrheitsentscheidung und dem Marktprinzip – einen zentralen und verbreiteten Mechanismus zur Konfliktaustragung und Steuerung von gesellschaftlichen Interessensgegensätzen darstellen (vgl. Kapitel 3.1). Dieser Kernentscheidungsmechanismus wird dabei – ähnlich wie die hierarchie-gestützte Steuerung – vor allem von gesellschaftlichen Funktionseliten getragen, während das Marktprinzip und die Mehrheitsentscheidung dezentrale Koordinationsmechanismen zwischen Individuen darstellen. 165
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Die Rolle der Öffentlichkeit stellt in dieser Sphäre des Kernentscheidungshandelns von Eliten einen Ansatzpunkt für eine kontroverse Debatte dar: Zwar werden Verhandlungen vor allem aufgrund ihrer Fähigkeit zur Interdependenzbewältigung positiv bewertet. Kritik knüpft dagegen an der Intransparenz und der mangelnden Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung an, da zahlreiche Verhandlungssysteme zur Lösung von gesellschaftlich relevanten Problemfragen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Die kontroverse Diskussion setzt vor allem an der Annahme an, dass die kompromissorientierte Interdependenzbewältigung den Ausschluss der Öffentlichkeit erfordert, um erfolgreich zu sein. Welche tatsächlichen Wirkungen mediale und öffentliche Beobachtung auf das Verhandlungsgeschehen und damit das eigentliche Entscheiden der beteiligten gesellschaftlichen Eliten haben kann, ist bislang weitestgehend ungeklärt und erschwert damit eine evidenzbasierte normative Bewertung. Um also eine Modellierung von medialer und öffentlicher Beobachtung im Verhandlungsgeschehen zu ermöglichen, wurde zunächst (vgl. Kapitel 3.1.2) eine grundlegende definitorische Auseinandersetzung mit Verhandlungssystemen angestrebt. Grundlage dessen waren allgemeine Verhandlungskonzepte, die den Anspruch erheben, auf jegliche Form des Aushandelns anwendbar zu sein. Dabei zeigte sich, dass Verhandlungen in ihrem Wesenskern als (wahrgenommene) Interessenkonflikte zwischen interdependenten Akteuren begriffen werden können, die über soziale Interaktion gelöst werden, indem eine gemeinsame Entscheidung in Form eines Kompromisses erarbeitet wird. Dieser Aushandlungsprozess geht jedoch mit einigen Herausforderungen einher, da es sich nicht um eine statische Situation, sondern eine dynamische Entwicklung handelt, in der Unsicherheit und das Spannungsverhältnis von widerstreitenden Motiven (Einigung anstreben vs. eigenen Gewinn maximieren) bewältigt werden müssen. Insbesondere Verhandlungsmodelle, die ursprünglich aus der Verhaltensökonomie stammten und später sozial- und kognitionspsychologisch adaptiert wurden, erlaubten es, diese Herausforderungen im Aushandlungsprozess abzubilden, indem sie eine Vielzahl an potenziellen Einflussfaktoren einschließen. Eine Synopse von einschlägigen Standardwerken sowie aktueller Übersichtsliteratur ermöglichte es, diese zentralen Parameter aus verschiedenen grundständigen Verhandlungsmodellen zu systematisieren und so die relevanten Dimensionen zur Beschreibung von Aushandlungsprozessen zu identifizieren (vgl. Kapitel 3.1.3). Die zu erklärenden Größen sind dabei der ausgehandelte Kompromiss (d. h. das Verhandlungsergebnis) und sein Zustandekommen (d. h. das Verhandlungsgeschehen). Das Verhandlungsergebnis kann zum einen durch seine ökonomisch-rationellen und zum anderen durch seine subjektiv-sozialen Eigenschaften beschrieben werden. Das Ergebnis ist wiederum das Resultat des Verhandlungsgeschehens auf konativer, kognitiver
3.1 Verhandlungen als Mechanismus der kollektiven Problemlösung
167
und emotionaler Ebene: Während die konative Ebene das tatsächliche Handeln am Verhandlungstisch beschreibt (z. B. Wahl einer distributiven vs. einer integrativen Verhandlungsstrategie), beziehen sich die anderen beiden Dimensionen auf die psychologischen Verarbeitungsprozesse, d. h. die strategisch-taktischen Überlegungen und Abwägungen, die das tatsächliche Handeln begleiten. Kontextbedingungen prägen wiederum die Ausgangssituation der Verhandlung: Neben allgemeinen Background-Faktoren sowie Akteursmerkmalen lassen sich vor allem zahlreiche (strukturelle und sozioemotionale) Bedingungen identifizieren, die die Interaktion mit dem Gegner vorprägen (Verhandlungsumwelt). Diese sind zwar im Laufe einer Verhandlung durchaus wandelbar (insb. Ziele und Motive sowie Einstellungen gegenüber dem/Zuschreibungen an den Gegner) – wobei angenommen wird, dass sich diese im Vergleich zu den hochvolatilen Merkmalen des Verhandlungsgeschehens (strategisch-taktische Überlegungen und Strategiewahl am Verhandlungstisch) selbst nur in begrenztem Ausmaß verändern. Diese grundständige Heuristik von Verhandlungen, dessen Parameter prinzipiell jegliche Form des Aushandelns beschreiben sollen, wurde außerdem um Faktoren erweitert, die aus dem besonderen Fokus auf Verhandlungen zur Lösung von überindividuellen Problemen resultieren (vgl. Kapitel 3.1.4): Da Verhandlungen als gesellschaftliche Kernentscheidungs- und Konfliktaustragungsmechanismen oftmals nicht zwischen Individuen, sondern vielmehr zwischen komplexen Akteuren ausgetragen werden, die über Repräsentanten verhandeln, steigt der Komplexitätsgrad der Verhandlungssituation und es müssen zusätzliche Parameter berücksichtigt werden, um das Verhandlungsgeschehen und -ergebnis adäquat beschreiben zu können. Ähnliche Konsequenzen resultieren aus der Tatsache, dass diese Verhandlungsformen oftmals institutionalisiert sind und unter Beteiligung von Funktionseliten geführt werden. So muss einerseits die Betrachtung der Kontexte um die organisationale Umwelt erweitert werden: Neben den Bedingungen, die die Interaktion mit dem Gegner prägen, müssen nämlich zusätzlich auch Faktoren berücksichtigt werden, die die Interaktion mit den eigenen Anspruchsgruppen beschreiben. Zudem wird das Verständnis des Verhandlungsgeschehens selbst komplexer: Neben der unmittelbaren Interaktion mit dem Gegner am Verhandlungstisch, müssen parallele Interaktionsprozesse mit den eigenen Anspruchsgruppen (z. B. Maßnahmen zum Erwartungsmanagement) berücksichtigt werden. Im Ergebnis hat dieses Kapitel gezeigt, dass Verhandlungen eine Möglichkeit darstellen, das Kernentscheidungshandeln von gesellschaftlichen Eliten zu konzipieren. Zudem bieten Verhandlungen zwischen gesellschaftlichen Entscheidungsträgern zahlreiche Bezugspunkte zur Medienöffentlichkeit, die mitunter kontrovers diskutiert werden: Abgesehen von privaten, zwischenmenschlichen Verhandlungen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter betrachtet werden, beschäftigen sich 167
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Verhandlungen zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme mit Fragen, die große Teile der Bevölkerung potenziell interessieren bzw. deren Aufmerksamkeit wecken. Mindestens jedoch die unmittelbar betroffenen Anspruchsgruppen (z. B. Bürger, die von einem konkreten Gesetz betroffen sind; Parteimitglieder und -anhänger, deren Führungsebene ein Gesetz aushandelt; Arbeitnehmer und Unternehmer einer Branche, für die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einen Tarifvertrag aushandeln) sind involviert, sodass hier aus Sicht der Verhandlungsteilnehmer die Notwendigkeit besteht, über das Ergebnis des Aushandlungsprozesses und sein Zustandekommen zu informieren und sich so letztlich zu legitimieren. Sind die Anspruchsgruppen nämlich nicht mindestens bereit, das ausgehandelte Ergebnis zu tolerieren, so müssen die Verhandlungsakteure kurz- und langfristig mit negativen Konsequenzen rechnen: Die Implementierung der Entscheidung ist mitunter gefährdet, die eigenen Chancen der Einflussnahme könnten durch mangelnden Rückhalt untergraben werden, die Legitimation als Repräsentant der kollektiven Interessen könnte hinterfragt oder gar die Abwendung der Anspruchsgruppen muss befürchtet werden. Gleichzeitig sollen im Aushandlungsprozess selbst Einflüsse der öffentlichen und medialen Beobachtung explizit verhindert werden, indem die Verhandlungspartner den Kompromiss hinter verschlossenen Türen erarbeiten. Diese Vermeidung von Öffentlichkeit stellt jedoch gerade ein Indiz dafür dar, dass es derartige Einflüsse von Medien und (Teil-)Öffentlichkeit(en) gibt bzw. dass die Verhandlungsteilnehmer sie zumindest befürchten. Allerdings fehlt es bislang an belastbarer wissenschaftlicher Evidenz zu dieser Frage. In der Summe scheinen Verhandlungen also für das Vorhaben der vorliegenden Arbeit einen geeigneten Ansatzpunkt darzustellen, um die Medienöffentlichkeit in Kernentscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten zu modellieren. Die Systematisierung der Vielzahl an relevanten Einflussfaktoren stellt hierfür einen gehaltvollen Ausgangspunkt dar, da es darüber gelungen ist, die relevanten Dimensionen, die das Verhandlungsgeschehen beschreiben und bestimmen, zu identifizieren. Nun soll genau an der zuvor aufgezeichneten Schnittstelle zur Medienöffentlichkeit angedockt werden und diese vor dem Ziel aufgearbeitet werden, die Systematisierung der Parameter um relevante Merkmale aus dem Zusammenspiel mit Medien und Öffentlichkeit zu erweitern.
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
3.2
Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
3.2
Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
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Die bisherige Betrachtung von Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismus zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme (vgl. Kapitel 3.1) hat bereits zahlreiche Ansatzpunkte aufgezeigt, wo die Verhandlungsakteure trotz geschlossener Verhandlungstüren in Kontakt mit Medien und Öffentlichkeit kommen. Dabei entstand vor allem der Eindruck, dass Öffentlichkeit als Bedrohung der Kompromisssuche wahrgenommen wird und deshalb aus dem unmittelbaren Verhandlungsgeschehen ausgeschlossen werden muss (Czada, 2014, S. 120; Gutmann & Thompson, 2010, S. 1127; Lehmbruch, 2000, S. 26). Wenn das gelingt, so die Hoffnung, dann seien Medien und Öffentlichkeit kaum mehr einflussreich für den Lösungsprozess im Aushandlungsmodus (Fawzi, 2014, S. 43; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 431). Lediglich in der konflikthaften Eskalation der Auseinandersetzung in Form von Streiks oder öffentlichen Protestaktionen scheint die Öffentlichkeit eine willkommene Plattform und die Medien ein mächtiger potenzieller Verbündeter (vgl. zum Beispiel für Tarifverhandlungen Renneberg, 2014, S. 86). Berücksichtigt man an dieser Stelle jedoch das Einflusskonzept, wie es dem Medialisierungsparadigma zugrunde liegt (vgl. Kapitel 2.3), so scheint die Annahme nicht plausibel, dass der Ausschluss von Medien und Öffentlichkeit dazu führt, dass diese ohne Einfluss sind: Dem Gedanken des Durchdringens folgend existieren weitaus subtilere und indirektere Einflussschienen, nämlich indem die Medienlogik Einzug in die strategischen Überlegungen und Abwägungen der Verhandlungsakteure hält und somit auch hinter verschlossenen Verhandlungstüren wirksam sein kann (F. Esser, 2013, S. 160–161; Fawzi, 2014, S. 44; Marcinkowski, 2014, S. 6; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Ursache und zugleich zentrale Stellschraube für dieses Eindringen der Medienlogik in die strategischen Überlegungen und Abwägungen ist die Annahme, dass Verhandlungsakteure als gesellschaftliche Funktionseliten auf mediale und öffentliche Aufmerksamkeit oder Unterstützung angewiesen sind (Benz, 2007, S. 115; Czada, 2014, S. 122; Keller, 1991, S. 97; vgl. hierzu Kapitel 2.3.1 und 3.1). Man muss daher fragen, wann, wie und warum das der Fall ist, um die subtilen und indirekten Einflüsse identifizieren und modellieren zu können, die daraus entstehen, dass sich Verhandlungsakteure an der Medienlogik orientieren, sie verinnerlichen oder sie gezielt instrumentalisieren, um in der Medienöffentlichkeit erfolgreich zu sein (Blumler & Esser, 2019, S. 857; F. Esser, 2013, S. 162; Landerer, 2015, S. 48; Marcinkowski, 2014, S. 11; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80). Erst wenn diese Fragen beantwortet werden, wird es möglich, den Gedanken des Durchdringens aus der Medialisierungsperspektive analytisch gehaltvoll zu modellieren (vgl. An169
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
forderung 2; Kapitel 2.5.2) Diese Brücke zur Medienöffentlichkeit soll im folgenden Teilkapitel gebaut werden. Zunächst werden dazu die mannigfaltigen Beziehungen der Verhandlungsakteure zu ihren Anspruchsgruppen und Teilöffentlichkeiten beschrieben (vgl. Kapitel 3.1.1). Dabei deutet sich bereits ein komplexes Beziehungsgeflecht an, in dem die Medienöffentlichkeit verschiedenartige Positionen einnimmt. Dies wird anschließend genauer aufgearbeitet (vgl. Kapitel 3.2.2), indem einmal die Perspektive der Verhandlungsakteure eingenommen und gefragt wird, welche Funktionen die Medienöffentlichkeit für sie hat (vgl. Kapitel 3.2.2.1). Umgekehrt wird außerdem darauf eingegangen, welches mediale und öffentliche Interesse an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen besteht und wie darüber kommuniziert und berichtet wird (vgl. Kapitel 3.2.2.2). Diese Betrachtung erlaubt es schließlich, medien- und öffentlichkeitsbezogene Parameter zu extrahieren, um die das grundständige Verhandlungsmodell (vgl. Abbildung 4) erweitert werden kann (vgl. Kapitel 3.2.3). Damit soll der letzte theoretische Baustein geliefert werden, um in Teil II dieser Arbeit die Rolle der Medien in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten modellieren zu können.
3.2.1 Grundlagen: Anspruchsgruppen von Verhandlungsakteuren Die zentralen Stellschrauben für die Frage, wie stark der Einfluss der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln der Verhandlungsakteure ausfällt, sind die Art und Intensität der Beziehung zur Medienöffentlichkeit (Marcinkowski, 2014, S. 11; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80). Diese Einsicht resultierte aus der Auseinandersetzung mit den Ursachen der Medialisierung in Kapitel 2.3.1. Wie sich diese Beziehung in verschiedenen situativen Kontexten gestaltet, das gilt es eingängiger zu betrachten. Statt jedoch isoliert auf Medien und die breite Öffentlichkeit zu blicken, muss vielmehr eine umfassendere Perspektive eingenommen werden, die die wichtigsten Anspruchsgruppen und Umwelten der Entscheidungsakteure berücksichtigt. Nur dann lässt sich der besonderen Rolle der Medienöffentlichkeit als eigene Anspruchsgruppe einerseits und als Vermittler bzw. Arena zur Kommunikation und Interaktion mit anderen Anspruchsgruppen andererseits Rechnung tragen (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 347). Es gibt zahlreiche Ansätze, um die Umwelten, Arenen, Anspruchsgruppen oder Teilöffentlichkeiten zu konzipieren bzw. zu systematisieren (Fassin, 2009, S. 120; Röttger, Kobusch & Preusse, 2018, S. 74). Nachfolgend werden insbesondere solche Ansätze herangezogen, die einerseits ein solches Generalisierungslevel haben, um
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
171
für Funktionseliten in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären anwendbar zu sein und gleichzeitig dem spezifischen Fokus – dem Entscheidungshandeln zur Lösung gesellschaftlicher Koordinationsprobleme und sozialer Konflikte – gerecht werden können. Funktionseliten können sich heute weniger denn je darauf zurückziehen, „nur“ ihre Kernfunktion in ihrem jeweiligen Teilbereich zu erfüllen. Insbesondere die zunehmende Performanzorientierung bei der Bestellung von gesellschaftlichen Eliten (im Gegensatz zum früheren Zugang über Herkunft, vgl. Eisenegger, 2004, S. 264–265; M. Hartmann, 2004, S. 71; Keller, 1991, S. 57) führt dazu, dass ihre Leistungen auch öffentlich zur Kenntnis genommen werden müssen (Fawzi, 2014, S. 28; Keller, 1991, S. 97). Daher spricht Keller (1991, S. 4) auch davon, dass Eliten nicht nur effektiv hinsichtlich ihrer Funktionserfüllung, sondern auch verantwortlich sein müssen und zwar gegenüber denjenigen, deren Angelegenheiten sie regeln (Landerer, 2015, S. 50). Diese öffentliche Anerkennung wird kommunikativ hergestellt und muss stets reproduziert und abgesichert werden (Eisenegger, 2004, S. 265; Korte & Fröhlich, 2009, S. 21). Aus diesen Überlegungen ergibt sich zunächst die zentrale Tatsache, dass Entscheidungsakteure neben dem Kernentscheidungshandeln auch öffentlich kommunizieren müssen. Neben diesem Rechenschaftsgedanken kommt in der Interaktion mit der Gesellschaft aber noch ein zweiter Aspekt hinzu: „strategic elites are both agents and symbols“ (Keller, 1991, S. 102), sodass sie überdies auch als (moralische oder anderweitige) Orientierungsinstanz wahrgenommen werden (Eisenegger, 2004, S. 265, 272; Keller, 1991, S. 5). Demnach muss davon ausgegangen werden, dass Funktionseliten und entsprechend auch die jeweiligen Organisationen, in die sie eingebunden sind, rege soziale Austauschbeziehungen mit verschiedenen Teilsegmenten der Gesellschaft unterhalten. Das erscheint selbstverständlich für den politischen Bereich, gilt aber auch – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß (Marcinkowski, 2014, S. 11; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80) – für andere Bereiche wie für Unternehmensentscheider und ihre Unternehmen oder Repräsentanten von zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Verbänden oder hochrangigen Akteuren in der Verwaltung (vgl., z. B. Arlt, 1998, S. 52; Czerwick, 2009, S. 152; Fawzi, 2014, S. 84–85, 302; Röttger et al., 2018, S. 71). Um diese Austauschbeziehungen greifbar zu machen, bietet sich das Stakeholder-Konzept an (Fassin, 2009, S. 114; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 125; Röttger et al., 2018, S. 71). Klassischerweise werden darunter „any group or individual who can affect or is affected by the achievement of the organization’s objectives“ (Freeman, 1984, S. 46) verstanden. Das wechselseitige Potential zur Einflussnahme zwischen dem Entscheidungsakteur sowie seiner Organisation einerseits und der Anspruchsgruppe andererseits bilden also die Grundlage für die Austauschbeziehung (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 125). Je nachdem, wo diese dann vornehmlich stattfindet, 171
172
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
kann von einer spezifischen Interaktions- bzw. Kommunikationsarena gesprochen werden (z. B. bei einem Unternehmen die interne Arena mit den Beschäftigten sowie die Marktarena mit den Konkurrenten und Kunden, vgl. Schmid & Lyczek, 2008, S. 70). So schlagen Strömbäck und van Aelst (2013, S. 346) beispielweise vor, für politische Parteien zwischen einer elektoralen, einer internen, einer parlamentarischen und einer medialen Arena zu differenzieren, die sich jeweils in der Art ihrer Mitglieder, der Art, wie Entscheidungen darin getroffen werden, und vor allem in den strategischen Zielen unterscheiden, die Parteien dort verfolgen. Diese Kommunikations- und Interaktionsarenen konstituieren wiederum verschiedene Handlungsfelder der Organisation (Schmid & Lyczek, 2008, S. 70; Jentges et al., 2012, S. 386, sprechen von verschiedenen Bezugslogiken). Je bedeutsamer die Entscheidungsakteure eine Interaktionsarena erachten, bzw. die Anspruchgsgruppen, die sie über diese erreichen, umso mehr richten sie die Gesamtheit ihrer Aktivitäten darauf aus, in dieser Arena erfolgreich zu sein (d. h. u. U., dass sie bestimmte Arenen sogar instrumentell nutzen, um die Ziele in einer anderen Arena zu optimieren; vgl. Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 346). Die Breite des Stakeholder-Konzeptes verdeutlicht zwar, wie vielfältig sich die Austauschbeziehungen im sozialen Umfeld gestalten können. Schließlich handelt es sich bei Stakeholdern um alle Gruppen und Individuen, die ihre Ansprüche potenziell an eine Organisation und ihre Repräsentanten herantragen und dadurch Folgen für das organisationale Handeln haben könnten (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 627; Karmasin, 2015, S. 350–351; Röttger et al., 2018, S. 71). Allerdings geht damit zugleich die Problematik einher, dass es in Anbetracht der Vielzahl potenzieller Stakeholder schwer fällt, die Umwelten, in denen sich Entscheidungsträger bewegen, sparsam zu beschreiben und gehaltvoll zu modellieren (Fassin, 2009, S. 116–117). Dies ist allerdings notwendig, will man sich die Folgen aus diesen spezifischen Beziehungen für das Verhältnis zur Medienöffentlichkeit ansehen. Zwei Aufgaben müssen daher bei der sog. Stakeholder-Analyse bewältigt werden: Zuerst gilt es die Stakeholder zu identifizieren, die im Zusammenhang mit dem Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten eine Rolle spielen (Röttger et al., 2018, S. 72). Zum zweiten gilt es, diese zu priorisieren (Röttger et al., 2018, S. 74) – schließlich berücksichtigen Entscheidungsträger in Anbetracht knapper Ressourcen niemals alle potenziellen Anspruchsgruppen. Zur Identifikation wird in der Literatur vorgeschlagen, all jene Individuen und Gruppen zunächst grundlegend zu erfassen, die potenziell einen Einfluss auf das Handeln desjenigen Akteurs haben können, der im Fokus der Stakeholder-Analyse steht (J. E. Grunig & Hunt, 1984, S. 138; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 126; Karmasin, 2015, S. 342; Zerfaß, 2010, S. 328). Hier ergibt sich aus dem hohen Generalisierungsniveau der vorliegenden Betrachtung allerdings ein Problem: Je nachdem,
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
173
welcher Entscheidungsakteur aus welchem gesellschaftlichen Funktionsbereich konkret in den Blick genommen wird, können ganz unterschiedliche Stakeholder identifiziert werden.64 Insofern fällt es schwer, eine kompakte Liste an relevanten Stakeholdern zu extrahieren, die für alle Entscheidungsakteure gleichermaßen gültig ist. Eine Lösung besteht darin, diesen ersten Schritt der Identifizierung von Stakeholdern direkt mit dem zweiten der Priorisierung zu verknüpfen. Dann wird es möglich, Typen von Stakeholdern zu identifizieren, die sich darin unterscheiden, dass sie für die Funktionseliten unterschiedlich wichtig sind (Zerfaß, 2010, S. 330). Die Idee ist hier, dass diese Stakeholder-Typen für alle Entscheidungsakteure im Entscheidungskontext von Bedeutung sind. Welche Individuen und Gruppen das jedoch im Detail sind, hängt vom konkreten gesellschaftlichen Teilbereich oder Anwendungsfall ab, in dem man sich bewegt. Verschiedenste Vorschläge wurden zur Priorisierung entwickelt, die im Wesentlichen versuchen, Stakeholder nach ihrem Einflusspotential auf bzw. dem Grad der Betroffenheit durch den Akteur, um den es geht, zu differenzieren (Röttger et al., 2018, S. 74). Da der Stakeholder-Ansatz seine Wurzeln in der Managementlehre hat (Fassin, 2009, S. 114), ist es wenig überraschend, dass viele Differenzierungsvorschläge darauf beruhen, ob eine Anspruchsgruppe manifeste ökonomische Relevanz hat: Bezogen auf Unternehmen handele es sich bei primären Stakeholdern um solche, die über marktbezogene Prozesse, und bei sekundären Stakeholdern um solche, die über nicht-marktbezogene Prozesse mit ihm verbunden sind (Karmasin, 2015, S. 342). Andere argumentieren auf Basis der Art der Ansprüche und unterscheiden zwischen legitimen, weil vertraglich zugesicherten und einforderbaren Ansprüchen (z. B. die von Mitarbeitern, Investoren) und solchen Ansprüchen, die einer vertraglichen Basis zwar entbehren (z. B. weil sie auf einer ethisch-moralischen Grundlage fußen) aber trotzdem einen Einfluss haben können, der aber oft vermittelt über zwischengeschaltete Einheiten erfolgt (z. B. NGOs können einen Einfluss ausüben, indem sie die primären Stakeholder beeinflussen; Fassin, 2009, S. 116–117; Hoffjann, 2015, S. 73; Röttger et al., 2018, S. 67). Grundlegend geht es 64 z. B. sieht sich ein Politiker mit seinen politischen innerparteilichen und außerparteilichen Gegnern, seinen Parteimitgliedern, seinen Wählern, Lobbyisten und Vertretern von Interessengruppen, Verbänden und sozialen Bewegungen, Verwaltungsvertretern, Journalisten, ggf. auch Gerichten konfrontiert, wenn er an einer politischen Entscheidung mitwirkt; ein Vorstandmitglied in einem Unternehmen, das eine unternehmenspolitische Entscheidung treffen will, sieht sich wiederum mit anderen Vorstandsmitgliedern, die eine andere Position vertreten, den Arbeitsnehmern, den Kunden, den Investoren und Geschäftspartnern, den Konkurrenten, dem politisch-administrativen Umfeld, betroffenen und involvierten Interessengruppen und Verbänden, Journalisten, ggf. Gerichten usw. gegenüber (vgl. z. B. Strömbäck, Mitrook & Kiousis, 2010, S. 77). 173
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
also einerseits um Gruppen, „that are critical, crucial, essential, important, or vital“ für die Kerninteressen des im Fokus stehenden Akteurs (sog. strategic publics bei J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 123). Demgegenüber stehen solche Gruppen, die zwar ebenfalls einflussreich sein können, aber vor allem vermittelt, weil es ihnen an einem unmittelbaren Hebel in die Organisation mangelt, über den sie ihre Unterstützung oder Missbilligung gegenüber dem Entscheidungsakteur ausdrücken könnten (Fassin, 2009, S. 117; Röttger et al., 2018, S. 67; vgl. hier auch Ausführungen von Karmasin, 2015, S. 343 zu tertiären Stakeholdern). Eine andere Differenzierung, die vor allem den situativ-dynamischen Charakter eines Konfliktes abzubilden vermag (Röttger et al., 2018, S. 69), ist der Ansatz situativer Teilöffentlichkeiten von Grunig und Hunt (1984). Zentral ist darin die spezifische, situationsgebundene Wahrnehmung von Stakeholdern. Sie entscheidet darüber, wie aktiv sich diese gegenüber dem Akteur verhalten, der im Fokus der Betrachtung steht. Wenn diese Stakeholder in Bezug zum Akteur – im vorliegenden Fall zu den Entscheidungsakteuren im jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereich – ein Problem wahrnehmen (problem recognition, J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 135), den Eindruck haben, dass sie etwas dagegen ausrichten können (constraint recognition; vergleichbar mit self-efficacy; vgl. J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 135) und sich zugleich persönlich davon betroffen fühlen (level of involvement, vgl. J. E. Grunig & Hunt, 1984, S. 145; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 125), dann werden sie aktiv, wollen Informationen, kommunizieren intensiv und vollziehen sehr bewusste und aktive Verarbeitungsprozesse (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 128; Röttger et al., 2018, S. 68), was wiederum das Potential zu langfristigen Einstellungsänderungen birgt (Petty et al., 2009, S. 133) und auch in Verhaltenskonsequenzen (z. B. Konsumboykott) resultieren kann (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 137). Insgesamt lassen sich Stakeholder so je nach Aktivierungs- und Aktivitätsgrad auf einem Kontinuum von Nicht-Teilöffentlichkeit bis zu aktivistischen Teilöffentlichkeiten differenzieren (J. E. Grunig & Hunt, 1984, S. 145; Röttger et al., 2018, S. 69). Folgenreich ist diese Unterscheidung insofern, als Akteure auf aktive Teilöffentlichkeiten reagieren müssen, da sie andernfalls riskieren, dass ein größeres Problemfeld entsteht (sog. Issue), das auch weitere, zu dem Zeitpunkt noch latente, also nicht aktive Stakeholder aktiviert (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 146). Wie lassen sich nun auf dieser Grundlage die relevanten Anspruchsgruppen von Funktionseliten konzipieren, wenn es darum geht, gesellschaftlich relevante Entscheidungen im Aushandlungsmodus zu treffen? Zunächst ermöglicht es insbesondere die Verhandlungsforschung, diejenigen Typen von Anspruchsgruppen zu identifizieren, die in diesem Kontext unmittelbar relevant sind, weil sie einen Einfluss auf das Verhandlungsergebnis nehmen können: Das Gegenüber in der Verhandlungsarena und die Individuen und Gruppen, deren Interessen von den
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
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Entscheidungsakteuren vertreten und entschieden werden. Letztere wurden im Verhandlungsmodell zunächst pauschal als „Anhänger“ (vgl. Kapitel 3.1.4) modelliert. Jedoch zeigte sich an einigen Stellen bereits, dass diese Gruppe weitaus differenzierter verstanden werden muss (z. B. als die Differenzierung zwischen kollektivem und komplexem Akteur eingeführt wurde; vgl. Kapitel 3.1.4). Diese Differenzierung soll nachfolgend weiter ausgeführt werden. Beide Typen, also der Verhandlungsgegner sowie diese, auf Basis ihrer spezifischen Interessen unmittelbar betroffenen Anspruchsgruppen (Anhänger der Verhandlungsparteien, aber auch Mitarbeiter oder Kunden wenn man beispielweise ein Unternehmen in den Blick nimmt), stellen der zuvor eingeführten Differenzierung zufolge meist primäre Anspruchsgruppen des Entscheidungsakteurs dar, weil sein Erfolg und sein Einfluss unmittelbar von diesen Bezugsgruppen abhängen (z. B. bei Gewerkschaften, anderen Verbänden und Parteien die Mitglieder, bei Politikern die potenziellen Wähler und bei Unternehmen die Kunden). In jedem Fall handelt es sich bei diesen Gruppen aber um Stakeholder, die durch den aktuellen Konfliktanlass zu einer aktiven Teilöffentlichkeit geworden sind. Neben diesen beiden Kernbezugsgruppen können weitere, sonstige sekundär relevante Stakeholder identifiziert werden. Bei diesen kann es sich je nach Anwendungsfall um ganz unterschiedliche Akteure handeln: Im Fall von Tarifverhandlungen oder bei Unternehmensentscheidungen gilt das politisch-administrative System als potenzieller Bezugspunkt, weil es über Regulierung Rahmenbedingungen schafft, die die Handlungsbedingungen der Beteiligten ändern können (Dribbusch, Lehndorff & Schulten, 2017, S. 199). In jedem Fall zählen zu diesem Typus an sonstigen, lediglich sekundär relevanten Stakeholdern die allgemeine Öffentlichkeit und die Medien. Dies suggeriert eine nachgeordnete Bedeutsamkeit dieser beiden Entitäten. Die nachfolgende detailliertere Auseinandersetzung mit diesen drei Typen an Anspruchsgruppen spezifiziert jedoch die Bedingungen, in denen sich das Einflusspotential der Medienöffentlichkeit potenziert (vgl. Abbildung 5, die auf Abbildung 3, auf Seite 163 aufbaut und diese erweitert sowie spezifiziert):
Verhandlungsgegner – Kontrahent im Entscheidungsprozess Die Modellierung von Kernentscheidungsprozessen gesellschaftlicher Funktionseliten über den Governancemechanismus der Verhandlungen (vgl. Kapitel 3.1) betont den sozialen Charakter dieses Lösungsweges (Schimank, 2010, S. 38): Statt allein eine Entscheidung zu treffen, beispielsweise gestützt durch eine hierarchisch hoch angesiedelte Position, wird bei Verhandlungen kollektiv eine Lösung in Form eines Kompromisses gesucht (Benz, 2007, S. 115). Demnach sind Entscheidungsakteure in dieser Situation, dem Verhandlungskontext, mit mindestens einem Gegenüber konfrontiert (vgl. Interaktion zwischen Verhandlungsakteur I und 175
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
II im Verhandlungskontext in Abbildung 5). In Strömbäck und van Aelsts (2013, S. 349) Arenenmodell für politische Parteien ist für diese Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner beispielweise die parlamentarische Arena vorgesehen. Die relevanten Parameter in der Interaktion mit dem Gegner wurden bereits in Kapitel 3.1.3 und 3.1.4 in der Auseinandersetzung mit der Verhandlungsforschung aufgezeigt (z. B. spielen hier verschiedene Beziehungsdimensionen wie Einstellungen gegenüber und Vertrauen in den Verhandlungspartner eine Rolle; vgl. Olekalns & Adair, 2013, S. 10). Bedingt durch die zunehmende Notwendigkeit der Interdependenzbewältigung in komplex und divers miteinander verstrickten Gesellschaften findet diese Form der Kernentscheidungsfindung im Aushandlungsmodus immer mehr Verbreitung (Czada, 2014, S. 118; Korte & Fröhlich, 2009, S. 74; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 418). Deshalb wird es für gesellschaftliche Funktionseliten in Entscheidungssituation immer mehr zum Normalfall, dass sie sich gemeinsam mit anderen auf die Kompromisssuche begeben müssen (vgl. z. B. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 419). Der Verhandlungsgegner bzw. -partner wird also für gesellschaftliche Entscheidungsträger zu einem Stakeholdertypus, mit dem regelmäßig interagiert werden muss. Das Ausmaß der Interdependenz zwischen den am Aushandlungsprozess Beteiligten hängt dabei davon ab, ob eine Lösung gefunden werden muss und wie dringlich dies ist (ist beispielweise keine Lösung auch eine Option?; vgl. z. B. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 430). Diese Auseinandersetzung mit dem Kontrahenten ist dabei durch den Widerstreit gegensätzlicher Motive gekennzeichnet: Einerseits ist es das Ziel, das Koordinationsproblem zu lösen, also zu einer gemeinsamen Entscheidung zu gelangen, andererseits will jeder beteiligte Akteur seine Interessen möglichst umfänglich durchsetzen. Man spricht deshalb auch von einem mixedmotive-game (Thompson et al., 2010, S. 499; vgl. auch Kapitel 3.1.2.4). Das resultiert in einem spannungsreichen Zustand der Unsicherheit (Olekalns & Adair, 2013, S. 17). Die Verhandlungsakteure interagieren in einer geschützten Atmosphäre, d. h. hinter verschlossenen Verhandlungstüren, miteinander, indem sie kommunikative Botschaften und Konzessionen am Verhandlungstisch austauschen (Druckman, 1977, S. 26; L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 418). Nichtsdestotrotz wird in seltenen Fällen der geschützte Raum willentlich aufgegeben und über Indiskretion (sog. Strategie des Going Public) Öffentlichkeit erzeugt. Dies scheint vor allem dann potenziell aussichtsreich zu sein, wenn am Verhandlungstisch Impasse herrscht. Dabei ist die breite Öffentlichkeit nicht der primäre Adressat. Vielmehr soll über die Bande der Öffentlichkeit ein Signal an den Gegner gesandt werden (Davis, 2007, S. 190; Davison, 1974, S. 184; Fritz, 2012, S. 7–11; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10–11, 2011, S. 421).
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
177
Das Verhandlungsergebnis hängt allerdings nicht nur von der Interaktion mit dem Kontrahenten ab. Lewicki und Litterer (1985, S. 214) sprechen in dem Zusammenhang von „audiences“, worunter sie “individuals or groups who are not directly involved in a negotiation, but to whom a negotiator will direct messages in an effort to influence the outcome of negotiations“ verstehen. Diese werden nachfolgend eingehender betrachtet.
Interessenbasiert-involvierte Anspruchsgruppen: Mitglieder, Kunden, Wähler Diese audiences sollen hier mit dem abstrakt klingenden Begriff der interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen gefasst werden (vgl. Abbildung 5, S. 178), weil sie zweierlei eint: 1) Ihre Interessen sind durch das Entscheidungshandeln der Entscheidungsakteure betroffen und sie haben 2) die Möglichkeit, die Erfüllung ihrer Ansprüche bei den Entscheidungsakteuren einzufordern bzw. sie dafür zu sanktionieren, wenn das nicht erfolgt. Damit erfüllen sie das Kriterium des hohen Involvementlevels in Grunig und Hunts Situational Theory of Publics (1984, S. 145) und sie zählen zu den primären Stakeholdern, weil sie die Möglichkeit haben, ihre Ansprüche gegenüber dem Entscheidungsakteur wirksam einzufordern (Fassin, 2009, S. 116; Röttger et al., 2018, S. 67). In der Verhandlungsforschung entsprechen sie dem, was als Anhänger modelliert wird (Turner, 1992; van Kleef et al., 2007), denn im Verhandlungskontext stehen sich zwar meist individuelle Verhandlungsakteure gegenüber, diese haben aber ganz unterschiedliche Interessen im Rücken, denen sie Rechnung tragen müssen (Benz, 2007, S. 115; Druckman, 1977, S. 29). Das Zusammenspiel aus Konfliktaustragung mit dem Gegner am Verhandlungstisch und der Interaktion mit den jeweiligen Stakeholdern, die durch die Entscheidung betroffen sind, kann in einem Spannungsverhältnis resultieren, dessen Ausmaß beispielweise davon abhängt, wie sich das Mandat des Entscheidungsakteurs gestaltet (freies vs. restriktives Mandat, Benz, 2007, S. 115; vgl. Kapitel 3.1.4). Die abstrakt klingende Bezeichnung dieses Stakeholder-Typus suggeriert bereits die Vielzahl an potenziellen Individuen und Gruppen, die als solche betroffenen Anspruchsgruppen auftreten können (in Abbildung 5 soll das durch die verschiedenartig gestalteten Objektwolken verdeutlicht werden). Dies soll am Beispiel von Tarifakteuren im Tarifkonflikt verdeutlicht werden: Während es bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (kollektive Akteure, die bottom-up organisiert sind, vgl. zur Differenzierung kollektive vs. korporative Akteure Kapitel 3.1.4) vor allem die aktuellen und potenziellen Mitglieder sind, auf deren Unterstützung die Akteure angewiesen sind (Koch-Baumgarten, 2014, S. 178), potenziert sich die Zahl der Anspruchsgruppen, die zum Typus der interessenbasiert-involvierten gezählt 177
Quelle: Eigene Darstellung. Sonstige Stakeholder
Sonstige Stakeholder
Verhandlungsakteur I
Interessenbasiert-involvierte Anspruchsgruppen
Kommunikation über direkte(re) Kanäle (z.B. Intranet, Verbandsmedien, Social MediaKanäle, etc.)
Organisationaler Rahmen
Verhandlungsgegenstand
Allgemeine Öffentlichkeit
Medien (Traditionelle und digitale Massenmedien)
Verhandlungskontext
Kommunikation über direkte(re) Kanäle (z.B. Intranet, Verbandsmedien, Social MediaKanäle, etc.)
Organisationaler Rahmen
Interessenbasiert-involvierte Anspruchsgruppen
Sonstige Stakeholder
Sonstige Stakeholder
Verhandlungsakteur II
178 3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Abb. 5 Erweiterte Darstellung der Akteursbeziehungen (vgl. Abbildung 3)
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
179
werden müssen, schnell bei einem Unternehmen, das einen Haustarifvertrag aushandelt (korporativer Akteur, der top-down strukturiert ist). Hier gibt es zwar keine Mitglieder, aber Mitarbeiter, die zugleich auch (potenzielle) Mitglieder der gegnerischen Partei, also der Gewerkschaft, sind. Überdies noch die Kunden, die über die Preise von Waren und Dienstleistungen, und die Investoren, die mit einer geringeren Rendite, potenziell höhere Lohnkosten mitfinanzieren müssten. Bei einem Arbeitgeberverband gilt es zusätzlich zu bedenken, dass er als kollektiver Akteur, der andere komplexe Akteure – nämlich Unternehmen – vertritt, wiederum beachten muss, dass diese Mitgliedsunternehmen ihrerseits Kunden, Mitarbeiter und Investoren haben, sodass ein komplexes Beziehungsgeflecht innerhalb und zwischen den verschiedenen Stakeholdern entsteht (ähnlich beschreibt es Fassin, 2009, S. 119 für Stakeholder im Allgemeinen). Löst man den Blick vom konkreten Anwendungsfall der Tarifpolitik, so lassen sich für die Bereiche Politik und Zivilgesellschaft ebenfalls Mitglieder als primäre Stakeholder von Verbänden im Allgemeinen und Parteien identifizieren. Diese könnten in einer konkreten Entscheidungssituation je nach Betroffenheit auf den Plan gerufen und damit zu aktivierten Teilöffentlichkeiten werden. Von den Mitgliedern sind die Verbände und Parteien insofern abhängig, als sie die zentrale Legitimationsbasis für deren Handeln konstituieren (Strøm & Müller, 1999, S. 4). Daher versuchen sie, deren Anliegen und Interessen bestmöglich in ihren Aktivitäten, also auch in konkreten Entscheidungssituationen, umzusetzen und so deren Rückhalt und Unterstützung zu sichern (Koch-Baumgarten, 2014, S. 178). In diesen internen Arenen gilt es also, die Unterstützungslogik als primäre Bezugslogik zu berücksichtigen, weil sie die Interaktion mit der eigenen Basis strukturiert und es so erlaubt, den internen Zusammenhalt zu maximieren (Jentges et al., 2012, S. 386; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 350). Im politischen Bereich der Parteien muss allerdings noch eine zweite Legitimationsstruktur berücksichtigt werden, nämlich die der (potenziellen) Wähler in der elektoralen Arena. Hier muss noch mehr als in der internen Arena mobilisiert und geworben werden, um die Wählstimmen zu maximieren (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 347). Zusammenfassend handelt es sich bei diesem Stakeholder-Typus im Kontext des Entscheidungshandelns von Funktionseliten um all jene primären Stakeholder (primär, weil sie über unmittelbare Hebel verfügen, um dem Entscheidungsakteur ihre Unterstützung zu entziehen), die durch den Gegenstand, nämlich den aktuellen Konflikt, im Sinne der Situational Theory of Publics (J. E. Grunig & Hunt, 1984) aktiviert wurden (problem recognition, level of involvement sind hoch, constraint recognition niedrig). Wenn es sich beim Verhandlungsakteur um einen Verband handelt, dann sind dies meist die Mitglieder. Bei Unternehmen ist mit Mitarbeitern, Kunden und Investoren die Vielfalt an Stakeholdern größer, die zu diesen 179
180
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen gezählt werden können. Im politischen Bereich muss zusätzlich der Wähler als zentrale Legitimationsquelle berücksichtigt werden. Dieser Überblick zeigt, dass es über die Ableitung des Typus „interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppe“ zwar möglich wird, die Beziehung zum Entscheidungsakteur zu charakterisieren, dass es aber weiterhin stark vom jeweiligen Akteur und Bereich abhängt, welche Gruppen das konkret sind (vgl. Anforderung 3 nach Modellierung der Kontext; Kapitel 2.5.3). Dies unterstreicht erneut die Notwendigkeit, bei der Modellierung die Relevanz verschiedener Stakeholder, wie bereits aus dem Netzwerkmodell von Pruitt (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 157) für Verhandlungen abgeleitet (vgl. Kapitel 3.1.4), berücksichtigen zu müssen. Die komplexen, weil u. U. mehrgliedrigen Beziehungen innerhalb und zwischen diesen Stakeholdern erschweren ein effektives und fein austariertes Stakeholder-Management (Fassin, 2009, S. 119). Entsprechend sind die Bemühungen und die Kanäle, mit diesen zu kommunizieren, ebenso vielfältig wie die Individuen und Gruppen, die zum Typus der interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen gehören. Die meisten Organisationen haben mit ihren internen Stakeholdern, also Mitgliedern oder Mitarbeitern, verschiedenste interne Kommunikationskanäle wie Mitglieder-/Mitarbeiterzeitschriften, ein Intranet oder geschlossene Gruppen in Social Media etabliert (Kriesi et al., 2009, S. 350; Zerfaß, 2014, S. 48). Da Investoren und Kunden aus dem B2B-Sektor (also nicht Endverbraucher, sondern andere Unternehmen) eine Fachöffentlichkeit bilden, lassen sich diese relativ gezielt über Fachmedien adressieren. Insbesondere dann, wenn diese Fachöffentlichkeiten zahlenmäßig klein sind, sind auch direkte Kanäle der Kommunikation (Newsletter, direct Mailings, usw.) denkbar (Zerfaß, 2014, S. 46). Diffuser wird allerdings der Bezug zu Kunden im Sinne von Endverbrauchern oder Wählern: Da diese jeweils eine sehr große und heterogene Gruppe bilden, gibt es kaum andere Kommunikationskanäle als die Massenmedien, um sie zu adressieren (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 81; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 347; Zerfaß, 2014, 51, 55). Ähnlich verhält es sich bei einer sehr heterogenen Mitgliederbasis, wo die eigenen internen Kommunikationskanäle nicht sehr effektiv sind: Auch hier werden immer wieder die Massenmedien als wichtiger Kommunikationskanal genannt (Hoffjann & Gusko, 2014, S. 286; Jarren, 1994, S. 664; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 350). Lediglich Social Media hat sich in den vergangenen Jahren zu einem zusätzlichen Kanal entwickelt, um in direkten Kontakt mit diesen Gruppen treten zu können (Hoffjann & Gusko, 2014, S. 286; Kriesi et al., 2009, S. 351; Zerfaß, 2014, 51, 54–55). Dieser Kanal könnte insbesondere deshalb erfolgreich sein, weil diese interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen als aktivierte Teilöffentlichkeiten gezielt nach Informationen suchen (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 128) und so mit dem Pull-Charakter der Social Media-Kommunikation gut korrespondieren.
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
181
Sonstige sekundär relevante Stakeholder Neben dem Verhandlungsgegner und den interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen lassen sich noch weitere Anspruchsgruppen identifizieren, die unter Umständen relevant im Zuge des Entscheidens im Aushandlungsmodus werden können (vgl. Abbildung 5, sonstige Stakeholder). Prägende Eigenschaften sind hier einerseits, dass es sich um sekundäre und externe Stakeholder handelt – also solche Anspruchsgruppen, die nicht über unmittelbare Hebel bzw. Sanktionsmöglichkeiten (z. B. auf Basis eines Vertrages) zum Entscheidungsakteur und seiner Organisation verfügen. Vielmehr erfolgt die potenzielle Einflussnahme vermittelt über andere Einheiten oder peripher, in dem sie die größere Umwelt des Entscheidungsakteurs prägen (Fassin, 2009, S. 117; Röttger et al., 2018, S. 76). Andererseits ist bei diesen Anspruchsgruppen von einem deutlich geringeren Aktivierungslevel im Sinne der Situational Theory of Publics (J. E. Grunig & Hunt, 1984, S. 145) auszugehen, da ihre Interessen nicht unmittelbar durch die Entscheidung betroffen sind (geringes Involvementlevel). Ähnlich wie beim Typus der interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen umfasst auch dieser Typus der sonstigen sekundär relevanten Stakeholder sehr unterschiedliche Individuen und Gruppen: Bei Tarifverhandlungen oder bei Unternehmensentscheidungen spielt das politisch-administrative System beispielweise eine solche peripher relevante Rolle, da es über Gesetzgebung und Regulierung die Rahmenbedingungen des Entscheidens beeinflussen kann (vgl. Dribbusch et al., 2017, S. 199; man denke beispielweise an das Tarifeinheitsgesetz im Jahr 2015, das als Reaktion auf die konfliktreichen Auseinandersetzungen einiger Spartengewerkschaften verabschiedet wurde; vgl. Tagesschau.de, 2015). Aus Perspektive von Akteuren aus dem politischen Kernbereich können dies Interessengruppen, soziale Bewegungen oder Verbände sein, die versuchen, die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen (Lobbying; Jentges et al., 2012, S. 386; Koch-Baumgarten, 2014, S. 181). Unabhängig vom konkreten Beschäftigungsfeld der Funktionseliten zählen in jedem Fall auch die Massenmedien und die breite Öffentlichkeit zum Typus der sonstigen sekundär relevanten Stakeholder (ähnlich: Fassin, 2009, S. 120; Koch-Baumgarten, 2014, S. 179; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 347). Sie stellen keine primären Stakeholder dar (d. h. sie verfügen nicht über formale Möglichkeiten und unmittelbare Hebel, um Einfluss auf den Entscheidungsakteur auszuüben). In der Regel sind sie auch nicht unmittelbar von der Entscheidung betroffen (Ausnahme ist z. B. medienpolitische Gesetzgebung). Aber sie können dennoch einflussreich sein: Öffentlichkeit kann zunächst als frei zugängliches und unabgeschlossenes Kommunikationssystem begriffen werden, in dem der Austausch von Information und Meinungen in einer Gesellschaft stattfindet (Gerhards & Neidhardt, 1990, 181
182
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
S. 15–16).65 Konkretisieren lässt sich das mit Habermas (1997, S. 436), der darunter „ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen“ versteht und weiter erläutert: „dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, daß sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten.“ Damit qualifiziert sich Öffentlichkeit als Intermediär zwischen Bürgern, Politik und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 12), gilt aber zugleich aufgrund der Vielzahl potenzieller Teilnehmer und Themen auf verschiedensten Ebenen der Gesellschaft als diffus, weitläufig und überkomplex (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 19; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 127). Die Massenmedien stellen dabei die zentrale inhaltliche, soziale und technische Vermittlungs- und Strukturierungsinstanz für die öffentlichen Kommunikationsprozesse zwischen den verschiedenen Teilnehmern und Teilpublika dar (siehe Abbildung 5)(Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 24; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 127; Habermas, 1997, S. 435). Einflusspotentiale auf den Entscheidungsprozess von gesellschaftlichen Funktionseliten entstehen insbesondere deshalb, weil weder die Kommunikationsprozesse in der breiten Öffentlichkeit noch die der Massenmedien einem neutralen Vermittlungsprozess im Sinne eines Spiegels der Wirklichkeit entsprechen (Fawzi, 2014, S. 21; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 216; vgl. Kapitel 3.2.2.2). Vielmehr liefern sowohl die allgemeine Öffentlichkeit als auch die Medien eine verzerrte Konstruktion sozialer Realität, die sich – um ein paar Schlagworte zu nennen – durch einen ausgeprägten Fokus auf Konflikte, Polarisierung und Zuspitzung sowie Negativismus auszeichnet (Aalberg, 2014, S. 382; Lengauer, Esser & Berganza, 2011, S. 10; Patterson, 1993, S. 7). Wie muss man sich diese peripheren Einflussschienen der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation als sekundäre Stakeholder-Einheit nun vorstellen? Zunächst kann (medial vermittelte) öffentliche Kommunikation als Informationsinput dienen – nämlich dazu, was gerade allgemein öffentlich debattiert wird, welche vorherrschenden Positionen es dabei jeweils gibt und wo es Streitpunkte gibt (Fawzi, 2014, S. 105). Bedingt durch die breite gesellschaftliche Relevanz der Entscheidungsprobleme, die in der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen werden (vgl. Kapitel 1), ist zumindest von einer grundständigen Aufmerksamkeit seitens der Medien und der breiten Öffentlichkeit für den konkreten Entscheidungsgegenstand auszugehen (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 18). Über medienvermittelte öffentliche Kommunikationsprozesse wird die gesellschaftlichen Problemwahrnehmung und 65 Frei zugänglich heißt, dass die Teilnahme zum Beispiel als Teil des Publikums nicht an weitere Merkmale wie Status gebunden ist. Unabgeschlossen bedeutet, dass niemand von Öffentlichkeit ausgeschlossen werden kann, zugleich aber auch Informationen, die öffentlich verbreitet werden, in eine nicht greifbare Umwelt diffundieren.
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
183
-interpretation maßgeblich geprägt (Koch-Baumgarten, 2013, S. 24). Beispielweise konnte Schmidt (1993) in einer langfristig angelegten Analyse (1946–1985) der Berichterstattung der New York Times über Gewerkschaften zeigen, dass der zunehmende und überproportionale Fokus auf Streikaktivitäten mit einer negativen Entwicklung der öffentlichen Meinung gegenüber den Arbeitnehmervertretern einherging. Aber nicht nur die der breiten Öffentlichkeit, sondern auch die gegenstandsrelevanten Meinungen und Einstellungen der primären Anspruchsgruppen können so beeinflusst werden (Kepplinger, 2008, S. 329). Der periphere Einfluss entsteht, weil der so entstehenden öffentlichen Meinung auch ein steuerndes Element inhärent ist: Sie setzt den Akzeptanzraum, in dem sich ein Entscheidungsakteur bewegen kann, ohne soziale Isolation fürchten zu müssen (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 12; Noelle-Neumann, 1996, S. 91). Darauf verweist bereits Noelle-Neumann (1982, S. 256) in einer zweiten, weniger bekannten Variante ihrer Definition von öffentlicher Meinung: „Öffentliche Meinung ist ein Einverständnis von Menschen einer Lebensgemeinschaft in einer affektbesetzten, also wertbesetzten Frage, das sowohl der Einzelne wie die Regierung (oder generell gesellschaftliche Entscheidungsträger, Anmerkung CV) unter Androhung der Sanktion der Ausstoßung oder des Sturzes mindestens durch einen Kompromiss im öffentlich sichtbaren Verhalten zu respektieren hat“. Der Handlungsrahmen, der so für die Entscheidungsakteure entsteht (Davis, 2007, S. 186; Kepplinger, 2007, S. 10; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 218; Koch-Baumgarten, 2013, S. 26), kann dabei jedoch unterschiedlich stark zum Ausdruck kommen. Denkbar ist nicht nur ein sich sanft abzeichnender Rahmen, den die Akteure zwar wahrnehmen, aber durchaus überschreiten können, wenn sie nur genug von ihrer Sache überzeugt sind (vgl. Scherer, 1992). Das andere Ende des Kontinuums ist massiver Handlungsdruck (vgl. Weichselbaum, 2016), der durch öffentliche Skandalisierung in den Medien erzeugt wird (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 3). Das gesellschaftliche Klima zum Entscheidungsgegenstand (d. h. der öffentlich erzeugte Akzeptanzraum an potenziellen Handlungen) kann dann auch Rückwirkungen auf den Entscheidungsprozess haben (vgl., z. B. Koch-Baumgarten, 2013, S. 20; Kumar, 2007, 125, 148). Beispielweise korrespondierte in einer Studie von Flynn (2000) aus dem Themenkomplex Tarifpolitik die Streikdauer mit dem Ausmaß an Berichterstattung im Vorfeld eines Tarifkonfliktes. Seine Erklärung dafür: Durch das ausgeprägte öffentliche Rampenlicht sahen sich die Verhandlungsakteure gezwungen, rigider an ihren Positionen festzuhalten und dadurch waren sie weniger bereit, im Entscheidungsprozess aufeinander zuzugehen. Demgegenüber kann eine wohlwollende und unterstützende Berichterstattung auch dazu beitragen, dass ein Entscheidungsakteur in seinem Vorhaben Rückenwind erhält, d. h. dass sein Handlungsrahmen positiv beeinflusst wird. So wurde zumindest die Wirkung der 183
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Berichterstattung der LA Times für die „Justice for Janitors“ Kampagne (Erickson, Fisk, Milkman, Mitchell & Wong, 2002) oder die der New York Times und des Globe für den Teamsters Streik bei UPS 1997 (Ryan, 2004) interpretiert. Stellt man die Frage danach, wie die Entscheidungsakteure mit der breiten Öffentlichkeit und den Medien interagieren, dann lassen sich insbesondere zwei Punkte aufwerfen: Zum einen hat sich bereits oben gezeigt, dass sie versuchen, mediale Diskurse zu induzieren oder derart zu prägen, dass sie ihren kommunikativen Zielen mit dem Gegner (über Bande) und den interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen (z. B. Mitglieder) dienlich sind. Zum anderen hat die Interaktion mit Öffentlichkeit und Medien aber auch einen Selbstzweck: Die Sozialnatur des Menschen, die sich in der Angst vor sozialer Isolation offenbart (Noelle-Neumann, 1996, S. 90), liefert zugleich die Erklärung dafür, dass es Akteure im öffentlichen Rampenlicht (und das gilt für viele der hier betrachteten Funktionseliten) als ein Ziel eigener Qualität erachten, positiv da zu stehen und eine negative Konnotation ihrer Person oder ihres Tuns zu vermeiden (Röttger et al., 2018, S. 76; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 351). Dazu betreiben sie einer Reputationslogik folgend intensive öffentliche Selbstpräsentation (Jentges et al., 2012, S. 386). Schlussfolgernd kann demnach festgehalten werden, dass sich gesellschaftliche Funktionseliten und die Organisationen, in die sie eingebunden sind, verschiedenen Anspruchsgruppen gegenübersehen, wenn sie sich im Entscheidungsprozess zur Lösung gesellschaftlich relevanter Koordinationsprobleme und sozialer Konflikte befinden. Die potenzielle Vielfalt dieser Anspruchsgruppen ist groß, sodass drei Typen abgeleitet wurden, um eine Systematisierung der Gruppen nach ihrer Relevanz (verfügen sie über unmittelbare, z. B. rechtlich begründete oder marktbasierte, Hebel der Einflussnahme auf den Entscheidungsakteur?) und ihrem Aktivierungsgrad (Level an Involvement in das Entscheidungsproblem; Douglas, 1992, S. 266) zu ermöglichen. Der Anspruch ist hier, dass diese drei Stakeholder-Typen für alle gesellschaftlichen Funktionseliten in Entscheidungssituationen virulent sind. Wer das aber im Einzelfall konkret ist, hängt vom Entscheidungsakteur und dem Gesellschaftsbereich ab, in dem dieser aktiv ist. Der Bezug zum Verhandlungskontrahenten, den interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen sowie den sonstigen sekundär relevanten Stakeholdern erfolgt in unterschiedlichen Arenen bzw. über verschiedenste Kanäle. Neben der Tatsache, dass Medien und Öffentlichkeit eine eigene Anspruchsgruppe bilden, offenbarten sich auch in der Interaktion der Entscheidungsakteure mit den anderen beiden Stakeholder-Typen Ansatzpunkte für eine spezifische Funktion, die die Medienöffentlichkeit dabei erfüllt (vgl. Indiskretion oder Kommunikation mit sehr heterogenen interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen). Auch wenn die Medien und Öffentlichkeit zunächst einmal nur peripher relevant zu sein scheinen, weil sie über keine formalen Wege
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
185
verfügen, Einfluss auf die Entscheidungsakteure auszuüben, steckt gerade in dieser Doppelrolle als eigenständige Anspruchsgruppe einerseits und als Scharnier in der Interaktion mit den anderen beiden Stakeholder-Typen andererseits das Potential für vielfältige und mitunter auch starke Einflusspotentiale (Hoffjann, 2015, S. 91). So verweisen Gerhards und Neidhart (1990, S. 3) beispielsweise auf Skandale: In diesen Situationen zeige sich, wie massiv der Handlungsdruck werden kann, den Medien über das Erzeugen öffentlicher Kommunikation – und damit auch nur eine vermeintlich periphere Umweltbedingung – herstellen können. Diese angedeuteten Zusammenhänge gilt es nachfolgend eingehender zu betrachten.
3.2.2 Push und Pull zwischen Verhandlungsakteuren und Medienöffentlichkeit In der Doppelrolle der Medienöffentlichkeit steckt bereits das Potenzial für vielfältige Einflüsse auf die Verhandlungsakteure. Nichtsdestotrotz darf der Blick auf das Verhältnis zwischen Medienöffentlichkeit und Entscheidungsakteuren nicht einseitig bleiben: Verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass sich das volle Ausmaß an medialisierungsbedingten Einflüssen nur erschließen lässt, wenn die Wechselseitigkeit des Verhältnisses (vgl. auch Kapitel 2.2), d. h. die Pull- und Push-Prozesse, die jeweils von beiden Seiten ausgehen, berücksichtigt werden (Blumler & Esser, 2019, S. 859; Marcinkowski, 2014, S. 11; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 87). Dies gilt es nachfolgend aufzuarbeiten, indem einerseits die Perspektive der Verhandlungsakteure eingenommen wird und die doppelte Funktion der Medien auseinanderdividiert wird (vgl. Kapitel 3.2.2.1). Andererseits soll gefragt werden, wie sich das Verhältnis aus Sicht der Medien und der Öffentlichkeit gestaltet (vgl. Kapitel 3.2.2.2): Welches Interesse haben sie an solchen Entscheidungssituationen und wie kommunizieren bzw. berichten sie darüber? Erst diese Betrachtung offenbart das Spannungsverhältnis zwischen Medienöffentlichkeit und Verhandlungsarena, in dem sich die gesellschaftlichen Funktionseliten bewegen.
3.2.2.1 Perspektive der Verhandlungsakteure: Funktionen der (Massen-)Medien und der allgemeinen Öffentlichkeit Die Auseinandersetzung mit den Anspruchsgruppen von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern im vorherigen Kapitel hat die Doppelrolle der Medien bereits angedeutet. Ähnlich konstatieren auch Strömbäck und van Aelst (2013, S. 347) für das Handeln von politischen Parteien: „it is important yet still not sufficient to consider the media yet another arena, separate from the other arenas. (…) what makes the role of the media particularly important is the dual and integral role 185
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
of the media in all other political processes“ (Hervorhebung i. O.). Entsprechend wird öffentliche Meinung aus Sicht der Public Relations „sowohl als Rahmenbedingungen für Organisationshandeln als auch als wesentliche Zielgröße“ (Röttger et al., 2018, S. 76) erachtet. Insbesondere die funktionale Perspektive auf das Zusammenspiel aus Medien und politischen Entscheidern, wie sie von van Aelst und Walgrave (2016) konzipiert wurde, ermöglicht es, diese Doppelfunktion von Medien und breiter Öffentlichkeit zu beschreiben. Vorteil ist hier das aktive Akteursverständnis, das diesem Ansatz zugrunde liegt (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 498). Dadurch werden nämlich nicht nur kausale Erklärungen (d. h. Medien beeinflussen Entscheidungsakteure), sondern auch finale Begründungszusammenhänge berücksichtigt (d. h. Entscheidungsakteure nutzen aktiv Medien und ihre Funktionen für ihre Zwecke) (Fawzi, 2014, S. 100, 104). Dabei wird die Frage aufgeworfen, wie aktive und souveräne Akteure mit den Medien interagieren, sie u. U. auch instrumentalisieren, sich hin und wieder aber natürlich auch schlicht von ihnen beeinflussen lassen. Das ursprünglich auf den politischen Bereich ausgelegte Konzept soll hier auf den breiteren Gegenstand der vorliegenden Arbeit, gesellschaftliche Entscheidungsträger im Allgemeinen, ausgeweitet werden. Vorab soll jedoch der hier zugrundeliegende Öffentlichkeits- und Medienbegriff nochmals transparent gemacht werden: Wie zuvor bereits eingeführt (vgl. Ableitung der Anspruchsgruppe sonstige sekundär relevante Stakeholder in Kapitel 3.2.1) stellt die breite Öffentlichkeit ein offenes, aber dadurch auch diffuses und überkomplexes Kommunikationssystem dar, das die Mitglieder und Teilsysteme einer Gesellschaft miteinander verbindet (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 15–16, 19). Die Medien bilden dabei die technische, soziale und inhaltliche Vermittlungs- und Strukturierungsinstanz der öffentlich stattfindenden Kommunikationsprozesse (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 24; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 127; Habermas, 1997, S. 435). Zentraler Ansatzpunkt für Einflüsse auf die Entscheidungsträger ist die Tatsache, dass es sich bei Medien und breiter Öffentlichkeit nicht um neutrale Vermittlungsinstanzen handelt, die einem demokratietheoretisch begründeten Ideal entsprechen (z. B. Deliberation mit Blick auf die Öffentlichkeit; Brants & van Praag, 2017, S. 403; Habermas, 1997, Kap VII). Vielmehr führen die spezifischen Selektions-, Aufbereitungs- und Präsentationsmechanismen dazu, dass eine eigene soziale Konstruktion der Realität entsteht (Fawzi, 2014, S. 21; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 216; wie diese aussieht, damit befasst sich Kapitel 3.2.2.2). Der Begriff der Medienöffentlichkeit verbindet beide (Medien und breite Öffentlichkeit) bzw. lässt deren Grenzen verschwimmen, indem er die Perspektive der Entscheidungsakteure einnimmt und argumentiert, dass es vor allem darauf ankommt, was die Funktionseliten aus der Gesamtheit aller öffentlichen Kommunikationsinhalte
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
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wahrnehmen und wie sie dies einordnen, bewerten und interpretieren, d. h. welche Bedeutung sie dem zuschreiben (vgl. Kapitel 2.5.2). Die Quelle dieser Wahrnehmungen – also ob es die Titelstory der Lokalzeitung oder das persönliche Gespräch mit dem Parteimitglied auf der Ortsversammlung war – ist irrelevant bzw. nur insofern relevant, weil es hier darauf ankommt, welche Bedeutung der Entscheider diesen Quellen zuschreibt. Welche Funktionen erfüllen nun Medien und breite Öffentlichkeit, bzw. die Medienöffentlichkeit als individuell wahrgenommenes Destillat der beiden, aus Sicht der Entscheidungsakteure?
Medien und Öffentlichkeit als passive und aktive Informationsquelle Die Kommunikationsprozesse in der breiten Öffentlichkeit und den Medien stellen zunächst eine Quelle der Information dar (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 499). Die Entscheidungsakteure erfahren ebenso wie der Rest der Gesellschaft aus den Medien, welche Themen, Positionen und Akteure aktuell diskutiert werden. Demnach nutzen Entscheidungsträger die Medien als Quelle, um ihre Umwelt zu beobachten (Davis, 2007, S. 186; Fawzi, 2014, S. 202; Schenk & Mangold, 2011, S. 246; Voltmer & Koch-Baumgarten, 2010, S. 3). Eine Folge, die daraus resultieren kann, dass Entscheidungsträger Medien zur allgemeinen Information nutzen, ist, dass Medienberichterstattung über die Auswahl, Platzierung und Aufmachung von Themen zum Agenda Building beiträgt (R. Brown, 2010, S. 138; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 501), wie es insbesondere im politischen Bereich vielfach empirisch aufgezeigt wurde (vgl., van Aelst & Walgrave, 2011; Walgrave & van Aelst, 2006). In der Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen könnte dieses Agenda Building durch die Medien von geringerer Bedeutung sein bzw. in geringerem Ausmaß stattfinden (ähnlich argumentieren van Aelst & Walgrave, 2016, S. 511; Voltmer & Koch-Baumgarten, 2010, S. 2), weil diese Gesellschaftsbereiche nicht den Anspruch haben, sich der Breite aller gesellschaftlich aufkommenden Themen anzunehmen, und deshalb die Granularität und Spezifika ihrer Issues nicht mit denen in der breiten Öffentlichkeit korrespondiert. In der Folge ist das Themensetzungspotential vermutlich geringer. Neben diesen Informationen zur allgemeinen Nachrichtenlage finden sich in der Berichterstattung vermutlich auch Inhalte zu dem Themenbereich, mit dem sich die Funktionseliten jeweils beschäftigen. Im Vergleich zur unbeteiligten Gesamtbevölkerung muss bei den Funktionseliten hier jedoch Folgendes bedacht werden: Es ist anzunehmen, dass sie in ihrem Gegenstandsbereich ein weitaus höheres Informationslevel haben als es die Medienberichterstattung oder die allgemeine öffentliche Kommunikation aufweisen (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 349; sie beschäftigen sich meist über einen längeren Zeitraum mit dem Thema, haben vielfältige Informationsquellen; ähnlich: van Aelst & Walgrave, 2016, S. 511). Folglich 187
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gilt diese Informationsfunktion von Medien und Öffentlichkeit vor allem für die allgemeine Nachrichtenlage, nicht jedoch mit Blick auf Wissensinhalte zu ihrem konkreten Gegenstandsbereich (Davis, 2007, S. 187). Diesen Eindruck stützen auch Befunde von Fawzi (2014, S. 202): Sie zeigte, dass Akteure, die im Themenfeld Energiepolitik zentral vs. peripher an den Kernentscheidungsprozessen beteiligt waren, sich signifikant darin unterschieden, ob sie die medienvermittelten Informationen zu diesem spezifischen Themenfeld als Informationsquelle nutzten. So nutzten Abgeordnete und Verwaltungsvertreter, die sich im Kern des Entscheidungsprozesses befanden und damit nicht nur über eine bessere Informationslage verfügten, sondern sich auch tendenziell deutlich intensiver mit der Thematik auseinander gesetzt hatten, die Medien signifikant weniger als Informationsquelle als beispielweise Verbandsvertreter, die keinen direkten Zugang zu der Kernentscheidungsarena hatten (ähnliche Befunde liefert Davis, 2007, S. 187 für Hinterbänkler und Politiker aus den vorderen Reihen im britischen Parlament). Neben der Frage, für welche Art von Informationen die Medien als Quelle dienen, kann auch die Art und Intensität der Mediennutzung diskutiert werden: Die Nutzung von medial vermittelten Informationen unterliegt nämlich dem Primat der Selektivität, weil Entscheidungsträger mehr noch als der Durchschnittsrezipient nur begrenzte Aufmerksamkeitskapazitäten zur Verfügung haben (Schenk & Mangold, 2011, S. 239; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 500). Es gibt Vermutungen und vereinzelte empirische Hinweise darauf, dass Funktionseliten Medieninhalte generell sehr intensiv nutzen (Davis, 2007, S. 185) bzw. die Berichterstattung zu ihrem Gegenstandsbereich bedingt durch hohes Involvement sogar besonders intensiv nutzen (Kepplinger, 2008, S. 332; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 307; Melenhorst, 2015, S. 298; Post, 2019, S. 215). Offen bleibt aber, wie sich der selektive Nutzungs- und Rezeptionsvorgang vollzieht, welche Informationen wie verarbeitet und mitgenommen werden (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 502; siehe für erste Annäherungen an diese Informationsverarbeitungsperspektive bei gesellschaftlichen Funktionseliten: Sevenans et al., 2016; Walgrave & Dejaeghere, 2017). Ungeklärt ist auch, ob aus der Medienberichterstattung dieselben oder andere Wirkungen als mit Blick auf den Durchschnittsrezipienten resultieren (Hinweise dahingehend liefern z. B. Sheffer et al., 2018). Dies ist mindestens fraglich, schließlich wirken die besonderen Merkmale der Funktionseliten als Moderatoren von potenziellen Medienwirkungen (vgl. Valkenburg & Peter, 2013, S. 223; ähnlich argumentieren: Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 217). Auch ist unklar, wie sich massenmedial vermittelte Kommunikation im Vergleich zu anderen Informationsquellen verhält (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 502), d. h. auf welchem konkreten Mix aus Quellen sich die individuell wahrgenommene Medienöffentlichkeit bildet. Erste Hinweise dahingehend liefert eine Studie aus dem Jahr 2005, die die Mediennutzung von
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Entscheidern aus Wirtschaft und Verwaltung66 mit der der Gesamtbevölkerung verglich: Hier zeigte sich, dass die Entscheider überdurchschnittlich viel überregionale Qualitätszeitungen, insbesondere solche mit ausgeprägtem Wirtschaftsprofil (Handelsblatt, Financial Times, FAZ) nutzten, wohingegen die Nutzung der Regionalzeitungen sich kaum von der der Gesamtbevölkerung unterschied. Fernsehen spiele im Rezeptionsrepertoire der Entscheider dagegen eine geringere Rolle als bei der Gesamtbevölkerung (Schenk & Mangold, 2011). Weitergehende Einsichten in diese Verarbeitungsaspekte könnten gerade dahingehend aufschlussreich sein, wie sich medialisierungsbedingte Einflüsse ihren Weg in das Entscheidungshandeln der Eliten bahnen (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 217; vgl. Anforderung 2 aus Kapitel 2.5.2 zur Diskussion dieses Desiderats und Kapitel 5 zur theoretischen Modellierung dieser Verarbeitungsprozesse). Diese, von van Aelst und Walgrave (2016, S. 499–500) bezeichnete passive Informationsfunktion kann zusätzlich um eine aktive Perspektive ergänzt werden: Schließlich können Entscheidungsakteure auch Information aus der öffentlichen Kommunikation zu ihrem Themenfeld ziehen, die sie strategisch nutzbar machen können oder müssen (Voltmer & Koch-Baumgarten, 2010, S. 3). Das betrifft einerseits den Verhandlungsgegner. Andererseits lassen sich Informationen extrahieren, die die eigenen interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen betreffen. Schließlich lassen sich solche strategisch relevanten Informationen auch auf die Öffentlichkeit als Ganzes beziehen. Das soll nachfolgend ausgeführt werden. Mit Blick auf den Gegner geht es darum, Argumente und Positionen zu sammeln, die strategisch gegen ihn verwendet werden können, indem sie beispielsweise als Argumentationsgrundlage am Verhandlungstisch zum Einsatz kommen (Fawzi, 2014, S. 202; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 500). So offenbarte eine Analyse der Haushaltsdebatten im Bundestag aus den Jahren 1985, 1996 und 2004, dass Medienberichte die wichtigste Quelle für externe Verweise darstellten (gefolgt von ausländischen Politikern, Gruppierungen der Zivilgesellschaft und Experten). D. h. die Politiker verwendeten Medieninhalte als Referenz, um ihre Argumentation in der Debatte mit den politischen Kontrahenten in der parlamentarischen Verhandlungsarena zu stützen (Vowe, 2006, S. 449ff.). Denkbar ist aber auch ein weitaus subtilerer Einsatz, nämlich dass Aussagen vom und zum Gegner in den Medien im Sinne von Hinweisen zu seinen Zielen, Motiven und weiteren strategischen Plänen
66 Einschränkend im Vergleich zum Verständnis von Funktionseliten, wie es in dieser Arbeit vertreten wird (vgl. Kapitel 1.1 und 2.1), muss mit Blick auf die Entscheider in der Studie von Schenk und Mangold (2011) berücksichtigt werden, dass diese über ihre berufliche Position (voll berufstätig und monatliches Nettogehalt von mind. 2900 Euro/2600 Euro in West/Ost) bestimmt wurden. 189
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
gedeutet werden. Darauf kann dann die eigene Strategie am Verhandlungstisch – etwa wann mache ich Konzessionen in welchem Umfang? – ausgerichtet werden (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 307; Raupp, 2009, S. 278). Ein solches „Zwischen den Zeilen-Lesen“ ist auch mit Blick auf die interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen von Bedeutung: Die Entscheidungsakteure schätzen anhand dessen, was öffentlich kommuniziert wird, potenzielle Wirkungen auf die eigenen Anspruchsgruppen ab und versuchen darauf proaktiv zu reagieren. So ist für politische Akteure beispielsweise die Rede von „news media as a surrogate for public opinion“ (Pritchard, 1992, S. 105), d. h. die Berichterstattung dient als Proxy für die dominanten Stimmungen, Themen und das Bild der eigenen Organisation bei den Bürgern (Fawzi, 2014, S. 202; Pfetsch, 1997, S. 51). Voraussetzung dafür, dass die Medienberichterstattung eine solche Wirkung entfaltet, ist, dass die Entscheidungsakteure ihr einen nicht unerheblichen Einfluss auf die betreffenden Anspruchsgruppen zuschreiben (Marcinkowski, 2014, S. 13; Meyen et al., 2014, S. 276). Je höher also der unterstellte Einfluss, desto eher nehmen sie die Medienberichterstattung als Proxy und desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihr Handeln darauf ausrichten (Fawzi, 2014, S. 280; hierbei handelt es sich um die klassische Wirkungsannahme des Influence of Presumed Media Influence, vgl. Gunther & Storey, 2003; Tal-Or et al., 2009). Entsprechend äußert sich auch ein Abgeordneter in der Studie von Davis (2007) zur Beziehung zwischen Medien und Parlamentariern in Großbritannien: „if the media can affect public opinion, and politicians have to be sensitive to public opinion, then indirectly they are affected by the media“ (Davis, 2007, S. 188; ähnlich: Meyen et al., 2014, S. 282). Diese Funktionsbeziehung zwischen gesellschaftlichen Entscheidungsträgern und Medien als aktive, d. h. strategisch relevante Informationsquelle mit Blick auf die eigenen Anspruchsgruppen gewinne darüber hinaus immer mehr an Notwendigkeit: Im Lichte zunehmender Komplexität gesellschaftspolitischer Entscheidungsprobleme und erodierender Loyalitäten der Bürger gegenüber traditionellen gesellschaftliche Akteuren und Institutionen (vgl. sinkende Mitgliederzahlen bei Parteien und Verbänden, Ideologie dient kaum noch als Orientierungsanker, Brants & van Praag, 2017, S. 395), suchen gesellschaftliche Entscheidungsträger die so entstehende Unsicherheit zu überwinden, indem sie dauerhaft versuchen, wandelnde Dynamiken und Stimmungen im öffentlichen Meinungsbild im Blick zu haben, um den eigenen Kurs ggf. anpassen zu können (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 84). Dies verweist schließlich auch auf das allgemeine steuernde Potential von öffentlicher Meinung im Kontext dieser aktiven Informationsfunktion der Medien. Bereits in Kapitel 3.2.1 wurde dieser Aspekt aufgeworfen, indem dargelegt wurde, dass Medien und breite Öffentlichkeit auch als eigene Stakeholder gegenüber den Entscheidungsakteuren auftreten und über ihre Kommunikationsprozesse peripher
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
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wirksam sein können, weil sie das Potenzial haben, den (wahrgenommenen) Raum an verfügbaren Handlungsoptionen zu prägen (Davis, 2007, S. 186; Kepplinger, 2007, S. 10; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 218): Einerseits kann öffentliche Meinung, wenn sie als Unterstützung für die eigenen Position wahrgenommen wird, die eigenen Einflusschancen erhöhen wie es beispielweise Verbandsfunktionäre im Hinblick auf ihre Einflussversuche im politisch-administrativen Bereich beobachtet haben wollen (Fawzi, 2014, S. 220, 258; Preusse & Zielmann, 2010, S. 344). Platt gesagt: wenn die eigene Position wohlwollend medial und öffentlich aufgenommen und kommentiert wird, dann kann das strategisch genutzt werden, weil man dann zuversichtlicher ist, seine Vorhaben umsetzen zu können, und auch mit der entsprechenden Zuversicht im Entscheidungsprozess auftritt (ähnlich interpretiert Kumar, 2007, S. 125, die Rolle der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Teamsters Streik gegen UPS 1997). Andererseits kann mangelnde öffentliche Unterstützung natürlich auch einschränkend wirken, indem aus Angst vor sozialer Isolation beispielweise bestimmte Handlungsoptionen nicht mehr in Betracht gezogen oder im Falle von ausgeprägtem öffentlichem Druck und Skandalisierung sogar weitergehende Konsequenzen gezogen werden (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 3, 12; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 218; als Beispiel sei hier auf Rücktritte von Politikern verwiesen; vgl. Weichselbaum, 2016). Die Eigenschaft als aktive Informationsquelle umfasst nicht nur die massenmedial verbreiteten Inhalte, sondern auch die persönliche Interaktion mit den Journalisten (van Aelst et al., 2010, S. 312): Diese gelten mitunter als Insider (vor allem bei spezialisierten Journalisten, die sich über Jahre hinweg mit den Themen befassen), sodass sie Hintergrundinformationen, ggf. sogar aus dem gegnerischen Lager, und – bedingt durch ihre langjährige Erfahrung – auch wertvolle Ratschläge und Einschätzungen haben, von denen die Entscheidungsakteure strategisch profitieren könnten (Baugut & Grundler, 2009, S. 203; Davis, 2009, S. 205; Kepplinger & Marx, 2008, S. 191–192; Reunanen et al., 2010, S. 297). Gerade diese auf Interpretationen, Vermutungen und Deutungen basierenden strategisch relevanten Informationen, die Entscheidungsakteure aus der medialen und anderweitig vermittelten öffentlichen Kommunikation ziehen, unterstreicht abermals die Notwendigkeit, bei der Konzeption von Medien und Öffentlichkeit die Wahrnehmungsperspektive der Betroffenen einzunehmen: Relevant ist nicht primär, was in den Medien tatsächlich geschrieben oder gesagt wird, sondern vor allem das, was die betroffenen Entscheider wahrnehmen und als wichtig erachten (Weichselbaum, 2016, S. 226). Damit soll nicht gesagt werden, dass die Wahrnehmung des Akteurs vollkommen entkoppelt von dem ist, was tatsächlich in den Medien und anderweitiger öffentlicher Kommunikation dargestellt und diskutiert wird. Vermutlich korrelieren beide Konstruktionen von Realität hoch miteinander 191
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
(Kepplinger, 2010e, S. 46–47; Weichselbaum, 2016, S. 246), denn andernfalls wäre die hohe prägende Kraft, die massenmedialer Wirklichkeitsvermittlung mit Blick auf die Bevölkerung insgesamt zugeschrieben wird (Blumler & Esser, 2019, S. 857; Kepplinger, 2008, S. 332), kaum zu erklären. Nichtsdestotrotz gibt es aber, bedingt durch selektive Wahrnehmung und Verarbeitung, Abweichungen zwischen diesen beiden Varianten der sozial konstruierten Realität. Überdies sind durchaus auch andere Quellen denkbar, die den Entscheidungsakteuren einen Eindruck davon vermitteln, was öffentlich kommuniziert wird: Beispielsweise Diskussionen innerhalb fragmentierter Teilpublika auf diversen Onlinekanälen (eigene Website, internes Organisationsforum, Social Media) oder ein Gespräch mit einem Mitglied der eigenen Organisation, das einem davon berichtet, welchen Eindruck vom Geschehen seine Nachbarn und Freunde haben.
Medien und Öffentlichkeit als Kommunikationsarena Neben der Informationsfunktion spezifizieren van Aelst und Walgrave (2016, S. 499) noch die Arenafunktion: Gesellschaftliche Entscheidungsträger nutzen die Medien, um sich selbst und ihre Botschaften öffentlich zu präsentieren (vgl. auch Jentges et al., 2012, S. 386). Massenmedien eignen sich hierzu in besonderem Maße, weil sie wie kein anderer gesellschaftlicher Teilbereich öffentliche Aufmerksamkeit in großer Reichweite und sozialer Bindungskraft erzeugen und steuern können (Blumler & Esser, 2019, S. 857; Kepplinger, 2008, S. 332; Marcinkowski, 2014, S. 18; Noelle-Neumann, 1996, S. 214–216). Die Motivation dahinter ist ein positives öffentliches Image zu erzeugen, die eigene Reputation zu stärken, eine gesellschaftliche Debatte (nach seinem Gusto) anzustoßen und mindestens Verständnis, besser noch Unterstützung für die eigenen Positionen zu generieren (F. Esser, 2013, S. 155; van Aelst et al., 2010, S. 311; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 501, 504). Wenn das gelingt, handelt es sich keineswegs (nur) um immaterielle oder nicht greifbare Belohnungen, vielmehr können auch ganz konkrete Vorteile aus öffentlicher Prominenz erwachsen: Im Bereich der Politik werden Akteure, die mehr im öffentlichen Rampenlicht stehen, beispielweise höher auf Wahllisten platziert (van Aelst, Maddens et al., 2008). Verbändevertreter haben den Eindruck, dass sie bessere Chancen haben, im politisch-administrativen System Einfluss zu nehmen, wenn sie über den entsprechenden Rückhalt in der Bevölkerung verfügen (Fawzi, 2014, S. 258; Preusse & Zielmann, 2010, S. 344). Überdies könne aus hoher Medienpräsenz tatsächlich auch resultieren, dass Akteure eine entscheidende(re) Rolle im eigentlichen Kernentscheidungsprozess, den Verhandlungen, spielen – indem sie nämlich in entsprechenden Ausschüssen eher gehört werden als solche mit geringerer Medienpräsenz (Fawzi, 2014, S. 258; Reunanen et al., 2010, S. 302).
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
193
Das Ausmaß, indem öffentliche (Selbst-)Präsentation betrieben wird, variiert jedoch stark zwischen den Bereichen, in denen die gesellschaftlichen Funktionseliten aktiv sind (Fawzi, 2014, S. 84): Im Gegensatz zu politischen Akteuren, die gesellschaftliche Legitimation in der Breite generieren müssen, sind Funktionseliten aus der Wirtschaft oder bei Verbänden enger umgrenzten Partikularinteressen verpflichtet (Fawzi, 2014, S. 73). Auch sind ihre Handlungsarenen deutlich häufiger öffentlichkeitsfern ausgerichtet, indem sie z. B. Lobbying über direkte und/ oder informelle Kontakte in die Ministerialbürokratie betreiben (Fawzi, 2014, S. 84; Koch-Baumgarten, 2010, S. 245; Leif & Speth, 2006, S. 15). Deshalb wird beispielsweise bei Verbandsfunktionären honoriert, wenn diese integer, sachlich kompetent, diskret sowie kooperativ sind (Sebaldt, 1997, S. 68, 360). Allerdings ist in jüngerer Vergangenheit immer mehr die Position zu vernehmen, dass diese im Hintergrund agierende, intransparente Form der Einflussnahme vor demokratischen Gesichtspunkten ungünstig ist (Czada, 2014, S. 116), sodass auch an Verbände als gesellschaftliche Intermediäre zunehmend der Anspruch der breiten Legitimation herangetragen wird (Fawzi, 2014, S. 85; Koch-Baumgarten, 2010, S. 246). Ähnliches kann auch für Unternehmen festgestellt werden, die sich zunehmend mit einer Debatte konfrontiert sehen, die auch moralische Ansprüche an sie heranträgt (Eisenegger, 2004). Die Befunde aus einer Befragung von verschiedenen Akteuren aus der Energiepolitik (N = 338, Responsequote: 32 %) korrespondieren mit den zuvor dargestellten Beobachtungen: die Mehrheit der befragten Verbandsvertreter (63 %) deklarierte, dass sie über Medienarbeit auch die Bürger von ihrer Tätigkeit überzeugen wollen. Das heißt, es kann keine Rede von Öffentlichkeits- oder Medienferne sein. Nichtsdestotrotz war dieser Zustimmungswert bei den Verbandsfunktionären aber im Vergleich zu politischen Akteuren (95 %) und Vertretern aus der Verwaltung (87 %) deutlich geringer (Fawzi, 2014, S. 213–215). In der medial erzeugten Arena soll aber nicht nur mit der allgemeinen und breiten Öffentlichkeit kommuniziert werden. Vielmehr versuchen die Entscheidungsakteure auch ihre jeweils relevanten Anspruchsgruppen im Entscheidungsprozess zu adressieren und mit ihnen über die öffentliche und mediale Arena zu interagieren (Fawzi, 2014, S. 74). In Kapitel 3.2.1 wurde mit Blick auf den Verhandlungsgegner bereits darauf verwiesen, dass Indiskretion hin und wieder als Verhandlungsstrategie zum Einsatz kommt (vgl. auch die Befunde in Kapitel 2.3.2.2.4, z. B. von Baugut & Grundler, 2009, S. 342; Davis, 2009, S. 207; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Während Indiskretion jedoch oft einen negativen Beigeschmack hat, weil sie impliziert, dass der Kontrahent unter Druck gesetzt wird (Baugut & Grundler, 2009, S. 282), können via Öffentlichkeit und Medien auch Signale an den Gegner
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gesandt werden, die Verhandlungsbereitschaft zeigen (Davison, 1974, S. 184).67 Die Verhandlungskontrahenten interagieren dann quasi über die Bande der Öffentlichkeit miteinander (Davis, 2003, S. 679; van Aelst et al., 2010, S. 312). So zeigt Sellers (2010) für den US Kongress, dass vor allem solche Akteure, die in der parlamentarischen Arena das Nachsehen hatten (z. B. weil sie eine Minderheitenposition haben), gezielt versuchten, die Debatte in die öffentliche Arena zu verschieben (sog. „Going Public“-Strategie), was insbesondere dann erfolgreich sei, wenn die eigene Position mit der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung kongruent ist. Ein ähnliches Muster lässt sich auch bei Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) identifizieren, denen es an einem etablierten Zugang zum politisch-administrativen System fehlt, um ihren Einfluss auszuüben: Sie versuchen über ausgeprägte Protestpolitik in Form von inszenierten Aktionen öffentlich auf ihre Interessen aufmerksam zu machen und über öffentlichen Druck Einfluss auf den Kontrahenten im politisch-administrativen System auszuüben (Steiner & Jarren, 2009, S. 254). In beiden Fällen zielen die Aktivitäten darauf ab, die eigene Machtbasis indirekt zu stärken, indem öffentliche Unterstützung für sich und seine Positionen generiert wird (vgl. auch Kepplingers Konzept des publizistischen Konflikts, Kepplinger, 2009b, S. 15; ähnlich auch die Befunde von Fawzi, 2014, S. 286). Denkbar ist aber auch, die Machtbasis des Gegners zu attackieren und zu versuchen, ihm diese über Mechanismen wie Negative Campaigning zu entziehen (van Aelst et al., 2010, S. 312). So gaben in einer Befragung zur Rolle der Medien in der Energiepolitik deutlich mehr als die Hälfte der befragten Bundestagsabgeordneten an, dass sie versuchten Medienberichterstattung dazu zu nutzen, öffentlich auf die Schwächen des Gegners hinzuweisen (Fawzi, 2014, S. 222). Auch eine Analyse der Kommunikationsaktivitäten von Tarifakteuren im Kontext von neun verschiedenen Tarifverhandlungen zwischen 2003 und 2015 zeigt, dass insbesondere Gewerkschaften die Angebote der Gegenseite in ihren Pressemitteilungen explizit aufgriffen und gleichzeitig versuchten, sie in ein negatives Licht zu rücken. Die Arbeitgeber schwiegen sich mit Blick auf die Forderungen der Gewerkschaften dagegen aus, d. h. sie griffen sie nicht explizit in ihren eigenen Kommunikationsmaterialien auf (Köhler & Jost, 2017, S. 100). Eine mögliche Erklärung dafür, warum insbesondere Gewerkschaften zu diesem Mittel griffen, liefern Kane und Newman (Kane & New67 Dabei scheint es mit Blick auf die normative Bewertung jedoch immer auch darauf anzukommen, für wie wünschenswert man Druck in der spezifischen Situation erachtet: Beispielweise verweisen Korte und Fröhlich auch auf Öffentlichkeit als „plebiszitäres Element zur Disziplinierung“ (Korte & Fröhlich, 2009, S. 341). In eine ähnliche Richtung deuten auch einige Aussagen der interviewten Politiker in der Studie von Baugut und Grundler (2009, S. 273). Wenn öffentlicher Druck der eigenen Position nützt, kann die Bewertung nämlich durchaus positiv ausfallen.
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man, 2017, S. 24): „Public opinion also plays a key role in shaping the fate of union strikes, as expanding the scope of conflict with management to the court of public opinion (that is, ‘going public’) has proven to increase the success of labor strikes“. Unabhängig davon, ob die eigene Machtbasis gestärkt oder die des Gegners geschwächt werden soll – diese Wege über die Öffentlichkeit korrespondieren nicht mit den Idealen der Verhandlungsdemokratie, wie sie für den Backstagebereich des politischen Kernentscheidens oft beansprucht werden (Czada, 2014, S. 125; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 349). Grundsätzlich kann ausgehend von den zuvor dargelegten Ausführungen angenommen werden, dass der Weg über die Bande der Öffentlichkeit vor allem dann intensiv genutzt wird, wenn es sich zwar um eine situativ aktivierte Teilöffentlichkeit im Sinne der Situational Theory of Publics (J. E. Grunig & Hunt, 1984) handelt, die aber sonst über keine formalen und unmittelbaren Einflussschienen zum Kontrahenten verfügt (sekundäre Stakeholder; vgl. Fassin, 2009, S. 117; Röttger et al., 2018, S. 67). Dann ist das Involvement groß genug und die Alternativoptionen so rar, dass die Risiken einer dauerhaften Schädigung der Beziehung zwischen den Kontrahenten (insb. das gegenseitige Vertrauensverhältnis), wie sie durch das Spiel über die Öffentlichkeit zu befürchten ist (Czada, 2014, S. 124; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 353), in Kauf genommen werden (Landerer, 2015, S. 51). Im Zuge eines routinemäßigen Entscheidungsprozesses wie etwa bei einem wenig aufsehenerregenden Gesetzgebungsprozess kommt dem Spiel über die massenmediale Arena dagegen eine nachrangige Rolle zu (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 310; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 353). Auch mit den interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen – insbesondere Mitglieder der eigenen Organisation, aber auch Mitarbeiter und Kunden bei Unternehmen oder Wähler bei politischen Akteuren – wird über massenmedial vermittelte Kanäle interagiert: Hier befinden sich die Entscheidungsakteure oft im Zwiespalt, da sie zwar einerseits (interne) Kanäle bevorzugen, die sie selbst kontrollieren können (wer sagt was in welcher Art und Weise?), dabei dann aber mangelnde Reichweite, Frequenz und auch Glaubwürdigkeit im Vergleich zur massenmedial vermittelten Kommunikation in Kauf nehmen müssen (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 353; Zerfaß, 2010, S. 361, 363). Vor diesen drei Gesichtspunkten – d. h. wenn man schnell, sehr viele unterschiedliche Menschen erreichen will und dabei eine möglichst hohe Persuasionswirkung erzielen möchte, indem eine unabhängige Instanz die eigenen Botschaften verbreitet – versuchen gesellschaftliche Entscheidungsakteure vermutlich über die Massenmedien zu gehen. Zum Ziel der Legitimationskommunikation adressieren beispielweise Verbände ihre Mitglieder auf Mitgliederversammlungen, über interne Mailinglisten, in eigenen Verbandszeitungen, auf eigenen Websites, aber auch über massenmediale Berichterstattung, um sie darüber zu informieren, welche Arbeit sie leisten, und sie so von 195
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der Existenzberechtigung der Organisation zu überzeugen oder um Imagepflege zu betreiben, die zur Bildung einer gemeinsamen Identität beiträgt (Koch-Baumgarten, 2014, S. 182; Preusse & Zielmann, 2010, S. 344–345). Während die Massenmedien für ein Gros der Verbände lange Zeit eher eine nachrangige Rolle spielten (in der Tarifpolitik bspw. nur eine „ergänzende Machtressource“, vgl. Koch-Baumgarten, 2013, S. 21, 2014, S. 182), lassen die Ergebnisse von Pontzen (2006, S. 125) mit Blick auf den politischen Bereich sogar die Vermutung zu, dass die Massenmedien nicht nur ein, sondern inzwischen sogar ein überaus wichtiger Kanal sind – das gilt zumindest für die Interaktion der Parteispitze mit den Mitgliedern. In eine ähnliche Richtung deuten auch Ergebnisse aus einer Befragung von Akteuren aus der Energiepolitik (N = 338; davon nBundestagsabgeordnete = 56; nVerbände&NGOs = 96; Responsequote der Befragung: 32 %): 71 % der Bundestagsabgeordneten und noch gut 55 % der Verbandsfunktionäre versuchten über Medienarbeit Berichterstattung zu initiieren, die den eigenen Mitgliedern die eigene Arbeit aufzeigt (Fawzi, 2014, S. 215–216). Dabei habe aus Sicht der Verbände die massenmediale Vermittlung vor allem in Anbetracht einer zunehmenden Erosion der Mitgliederbasis mehr und mehr an Bedeutung gewonnen (Fawzi, 2014, S. 75, 216; Hoffjann & Gusko, 2014, S. 267; Preusse & Zielmann, 2010, S. 345). Neben den Kanaleigenschaften sorgen also insbesondere die Art der Beziehung und die Art der Interaktion zwischen Organisation und interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen dafür, dass die Relevanz der Arenafunktion variiert: Die Bedeutung der massenmedialen Vermittlungsleistung steigt, je weniger es den Akteuren gelingt, ihre Anspruchsgruppen präzise zu identifizieren und dezidiert zu adressieren (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 139). Blickt man hierzu in die PR-Praxis, so zeigt sich, dass diese präzise Identifikation der relevanten und involvierten Stakeholder zunächst eine Kostenfrage ist. Deshalb werden Zielgruppen häufig anhand von einfach identifizierbaren soziodemografischen Eigenschaften gebildet, die als Proxy für die Einstellungs- und Verhaltensdimensionen dienen sollen, an denen man eigentlich interessiert ist (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 129–133). Vor allem, wenn es sich um zahlenmäßig große und heterogene Anspruchsgruppen mit geringer Milieubindung handelt, wird es schwer, diese zielgenau auszumachen (vgl. Abbildung 5: hier wird dieser Aspekt durch die unterschiedliche Streuung der verschiedenartig gestalteten Objektwolken angedeutet) (Steiner & Jarren, 2009, S. 260–261). Das dezidierte Adressieren wiederum ist problematisch, wenn diese zielgerichtete Identifikation nicht oder nur mangelhaft gelingt. Aber selbst wenn eine Organisation ihre Anspruchsgruppen zielgerichtet ausmachen kann, muss sie auch fähig sein – zum Beispiel, indem sie die finanziellen, personalen und kompetenzbasierten Ressourcen aufbringen kann – um reichweitenstarke und wirkmächtige Kommunikationskanäle zu etablieren (Fawzi, 2014, S. 75).
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Klassisches Beispiel sind hier die potenziellen Wähler bei politischen Parteien (vgl. auch Reinemann, 2010, S. 284; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 347): In Zeiten immer volatilerer öffentlicher Stimmungen (was man beispielsweise an der steigenden Zahl an Wechselwählern sieht, Jandura & Reinemann, 2013, S. 13–14) und sinkender Milieubindungen der Wähler (Jandura & Reinemann, 2013, S. 17), wird es immer schwieriger, tatsächliche und potenzielle Sympathisanten der eigenen Partei zu erkennen. Da es für den Wahlerfolg einer Partei aber angesichts ihrer steigenden Zahl mehr und mehr auf diese Wechselwähler ankommt, werden in Wahlkampfzeiten massive Budgets (vgl. u. a. die Befunde von Farrell & Webb, 2000) und u. U. auch fragwürdige Targeting-Methoden aufgefahren, um diese möglichst zielgenau identifizieren und erreichen zu können (vgl. z. B. den Skandal um die Datensammlung und Instrumentalisierung durch das Unternehmen Cambridge Analytica auf Facebook während der US-Präsidentschaftswahl 2016). Je schwieriger es also ist, die eigenen Anspruchsgruppen genau zu identifizieren und dezidiert zu adressieren, umso mehr ist es in der kommunikativen Interaktion mit ihnen notwendig, nach dem Gießkannenprinzip über die Öffentlichkeit zu gehen und zu hoffen, dass diese Botschaft in der breiten Öffentlichkeit auch die eigenen Anspruchsgruppen erreicht (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 139; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 350, 353). Dass Entscheidungsakteure tatsächlich diesem Prinzip in der Interaktion mit ihren Stakeholdern folgen, suggerieren auch die Ergebnisse aus der Analyse der Kommunikationsaktivitäten von Gewerkschaften und Arbeitgeber(-verbänden) im Kontext von neun Tarifverhandlungen: Insbesondere diejenigen, die eine heterogene und zahlenmäßig große Gruppe adressieren mussten (z. B. viele verstreute Endkunden bei Bahn und in der Luftfahrt oder viele Mitglieder in den verschiedensten Teilsegmenten wie bei Verdi), betrieben intensive Öffentlichkeitsarbeit über massenmediale Kanäle (sie veröffentlichten also im Vergleich zu anderen besonders viele Pressemitteilungen, die im Durchschnitt auch besonders mediengerecht aufbereitet waren; vgl. Köhler & Jost, 2017: 99). Ähnlich sind auch die Befunde der Befragung von Akteuren aus der Energiepolitik von Fawzi (2014, S. 216) zu deuten: Hier zeigt sich, dass solche Organisationen, die eine große Mitgliederbasis adressieren mussten (Parteien, Verbände), die Medien eher als Möglichkeit erachteten, um die eigenen Anspruchsgruppen über ihre Aktivitäten zu informieren als Organisationen, die sich durch eine eng umgrenzte Struktur auszeichneten und ihre Mitglieder bzw. Mitarbeiter (aus der Verwaltung oder bei Wissenschaftsinstituten) wesentlich klarer identifizieren konnten (Fawzi, 2014, S. 216). Vor allem die Tatsache, dass Massenmedien eben keine wohlfeilen Vermittler der Politik bzw. anderer gesellschaftlicher Eliten sind, sorgt dafür, dass man sich bei seinen Bemühungen in der öffentlichen Kommunikation nie des Erfolgs sicher 197
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sein kann (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 36). Dies gilt umso mehr, da oftmals mehrere Akteure um die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit konkurrieren (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 27; Raupp, 2009, S. 278). Daher müssen die Funktionseliten, wenn sie über die massenmediale Arena kommunizieren wollen, deren spezifische Prinzipien und Regeln beachten (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 26; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 500; Voltmer & Koch-Baumgarten, 2010, S. 4). Die medialen Selektions- und Präsentationsmechanismen können nämlich dafür sorgen, dass die Kommunikationsbemühungen der Funktionseliten durch das Aufmerksamkeitsraster fallen oder sie verleihen den Botschaften der Funktionseliten ihren eigenen Spin, sodass im Resultat zwar öffentliche Aufmerksamkeit, aber mit wenig vorteilhafter Konnotation entsteht (Douglas, 1992, S. 258; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 505).68 Erfolgreich(er) sind insbesondere solche Akteure, die eine hohe institutionelle Position innehaben, sich professioneller PR- und Nachrichtenmanagementtechniken bedienen und wenn es keine prominente Gegenposition gibt, die den eigenen Deutungen Konkurrenz macht (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 506). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Betrachtung der Funktionen, die die Medien und die Öffentlichkeit für die gesellschaftlichen Entscheidungsträger erfüllen, eindrücklich aufgezeigt hat, dass die Medienöffentlichkeit nicht nur eine eigene, zusätzliche Anspruchsgruppe von Entscheidungsakteuren darstellt, sondern überdies eine weitere Rolle hat – nämlich im Zusammenspiel zwischen den Entscheidungsakteuren und ihren anderen Anspruchsgruppen, dem Verhandlungsgegner sowie den interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen. Das große Potenzial für verschiedenartige medialisierungsbedingte Einflüsse ergibt sich vor allem durch diese Scharnierposition. Dies gilt einerseits mit Blick auf die Informationen, die Funktionseliten über die Anspruchsgruppen aus der medial vermittelten, öffentlichen Kommunikation ableiten und strategisch nutzbar machen. Andererseits gilt das im Zusammenhang mit der Arenafunktion, d. h. der Tatsache, dass Entscheidungsakteure über die Medien mit den anderen Anspruchsgruppen kommunizieren. Zur Beantwortung der Frage, wie sich die Intensität und die Art der Beziehung zu Medienöffentlichkeit gestaltet, was wiederum als Schlüssel für Medialisierungsfolgen gilt (vgl. Kapitel 2.3.1), lassen sich zwei Gedanken aufwerfen, die ihren Ausgangspunkt bei den zwei zuvor dargestellten Funktionen der Medienöffentlichkeit nehmen:
68 Ein ähnliches Muster lässt sich oft im Kontext von Streiks beobachten (vgl. Köhler & Jost, 2017, S. 71): Diese öffentliche Form der Konflikteskalation zieht zwar öffentliche und mediale Aufmerksamkeit auf sich, geht aber mit einem sehr negativen Tenor einher, sodass auch die beteiligten Akteure es schwer haben dürften, in diesem Umfeld ein für sie günstiges Framing zu etablieren.
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
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Die Bedeutung und die Bedingungen mit Blick auf die Arenafunktion hängen von verschiedenen Randbedingungen ab. Das ist zunächst der Aktivitätsbereich, in dem die Entscheidungsakteure tätig sind, da sich hier die Frage stellt, wie stark die Akteure darauf angewiesen sind, Legitimation in der Breite der Gesellschaft erzielen zu müssen. In der Auseinandersetzung mit dem Gegner ist für die Bedeutung der Arenafunktion überdies entscheidend, inwieweit anderweitige Machtressourcen (also zum Beispiel institutionelle Macht wie die Mehrheit im Parlament) und etablierte sowie legale Mittel der Einflussnahme (z. B. institutionalisierter Zugang zum politisch-administrativen System) vorhanden sind. Der Weg über die Medienarena erfolgt nämlich vor allem beim Mangel an anderweitigen Machtressourcen und bei gleichzeitig hohem Involvement. Denn dann ist das Risiko, ein auf Kooperation ausgerichtetes Verhältnis durch den Einbezug der Medienöffentlichkeit zu stören, das geringere Übel. In der Interaktion mit den Anspruchsgruppen stellt sich an dieser Stelle die zentrale Frage, wie gut sich die interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen identifizieren und adressieren lassen. Das hängt von zweierlei ab: einerseits von der Art dieser Anspruchsgruppen (wie viele? wie heterogen? wie stark ist deren Milieubindung?); andererseits von den verfügbaren Ressourcen zur Identifikation und zur Etablierung von entsprechende Kommunikationskanälen. Überdies sind situative Aspekte relevant: wenn schnelle und möglichst glaubwürdige Kommunikation von Nöten ist (z. B. im Krisenfall), dann könnten Medien ebenfalls von Vorteil sein. Diese Parameter, die über die Bedeutsamkeit der Arenafunktion entscheiden, sind auch zentral, fragt man nach den Voraussetzungen für medialisierungsbedingte Folgen: Es sind genau diese Faktoren, die die Notwendigkeit aus Sicht von gesellschaftlichen Funktionseliten nähren, öffentliche Aufmerksamkeit erregen und Unterstützung generieren zu müssen (F. Esser & Matthes, 2013, S. 185; Marcinkowski, 2014, S. 11; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80). Damit legen sie das Fundament, auf dessen Basis die Regeln, Routinen und Handlungsrationalität der Medienöffentlichkeit (die sog. Medienlogik) mehr und mehr Bedeutung im Kontext der entscheidungsbezogenen strategisch-taktischen Überlegungen und Abwägungen der Funktionseliten im Entscheidungshandeln erhalten (vgl. Kapitel 2.3). Denn sie bestimmen wiederum, wie sich die Entscheidungsakteure gegenüber öffentlich kommunizierten und/oder massenmedial vermittelten Informationen verhalten. Das wiederum tangiert die zuvor dargestellte aktive und passive Informationsfunktion der Medien. Wenn viele dieser Bedingungen für medialisierungsbedingte Folgen erfüllt sind, d. h. die Notwendigkeit, öffentliche und medial vermittelte Aufmerksamkeit erzeugen und steuern zu können, hoch ist, dann ist auch Folgendes anzunehmen: dass die Bedeutung von Medien als Informationsquelle im Vergleich zu anderen Informationsquellen zunimmt. Gleichzeitig verändert sich dadurch 199
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der Umgang der Entscheidungsakteure mit den Medien, d. h. die Verarbeitung der Inhalte, die Interaktion mit den Journalisten und das Ausmaß, in dem medial vermittelte Inhalte strategisch genutzt werden. D. h. die konkrete Interaktion der Entscheidungsakteure mit der Medienöffentlichkeit gestaltet sich unter diesen Bedingungen anders – nämlich vermutlich intensiver und differenzierter, was den medialisierungsbedingten Einflüssen ihren Weg bahnt (vgl. zur Modellierung dieser Kanalisierungsmechanismen Kapitel 5). Diese Abhängigkeit von medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit erhält vor allem Brisanz, bedenkt man den Charakter, den öffentliche und medienvermittelte Kommunikation hat. Dies soll nachfolgend betrachtet werden, indem gefragt wird, welches Interesse Medien und Öffentlichkeit an Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten haben und wie sie darüber kommunizieren und berichten.
3.2.2.2 Perspektive der Medienöffentlichkeit: Berichterstattung und öffentliche Kommunikation über Entscheidungsprozesse von Funktionseliten Die in der Öffentlichkeit diskutierten und medial vermittelten Inhalte sind der realweltliche Bezugspunkt zwischen Entscheidungsakteuren und Medienöffentlichkeit mit Blick auf beide zuvor dargestellten Funktionen: Es sind diese Inhalte, die die Entscheidungsakteure potenziell wahrnehmen können und als informativen Input verarbeiten. Außerdem orientieren sie sich an den Merkmalen dieser Kommunikationsinhalte und versuchen sie zu antizipieren, wenn sie die Medienöffentlichkeit als Arena zur Verbreitung ihrer eigenen Botschaften nutzen.69 Daher soll nachfolgend ein streiflichtartiger Überblick dazu gegeben werden, wie öffentlich und medial über Entscheidungsprozesse von Funktionseliten kommuniziert wird. Da diese Entscheidungsprozesse im Kontext verschiedener Berichterstattungsfelder aufgegriffen werden, soll sich dieser Überblick auch auf verschiedene Bereiche erstrecken: Angefangen beim sehr breiten Blickwinkel auf öffentliche und medial vermittelte Kommunikation über allgemeine gesellschaftspolitische Themen über die Betrachtung der spezifischer eingrenzbaren Bereiche Wirtschaftsberichterstattung, Berichterstattung über politische Verhandlungen und Policy-Entscheidungs69 Dieser Aspekt deutet aber zugleich auch darauf hin, dass die Entscheidungsakteure über ihre Kommunikationsaktivitäten natürlich auch einen gewissen Einfluss darauf nehmen können, welche Gestalt die Berichterstattung hat (vgl. Kapitel 2.2). Es sollte daher nachfolgend stets berücksichtigt werden, dass die Entscheidungsakteure medialer und öffentlicher Kommunikation nicht als exogen vorgebebene Größe gegenüber stehen, sondern durchaus auch selbst Teil des Entstehungsprozesses sind (vgl. z. B. Davis, 2009, S. 204–205).
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prozesse bis hin zu einem sehr speziellen Bereich von Verhandlungen – nämlich der Berichterstattung über Tarifpolitik. Hier finden Verhandlungen in großer Regelmäßigkeit statt, sodass auch sehr regelmäßig über diese berichtet wird. Daher liegen hier im Vergleich zu Verhandlungen in anderen Gesellschaftsbereichen, die nicht so regelmäßig und damit vorhersehbar stattfinden, mehr Forschungsbefunde vor. Diese eignen sich insbesondere dazu, das stark politikfokussierte Bild auf Verhandlungsprozesse zu ergänzen.
Allgemeine öffentliche Kommunikation über gesellschaftspolitische Themen Blickt man zunächst in die allgemeine Öffentlichkeit als offenes und freies Kommunikationssystem, das als Intermediär die Bürger mit dem politischen und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen verbindet (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 12, 15), so kommen verschiedene Autoren zu dem Schluss, dass dieses nur bedingt dem deliberativen Ideal entspricht (Brants & van Praag, 2017, S. 403; Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 15). Bei der Selektion der Inhalte, die öffentlich debattiert werden, dominieren evolutionär-geprägte Aufmerksamkeitsmechanismen wie Negativismus und Konflikt (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 18; Lengauer et al., 2011, S. 3; vgl. auch publikumsbezogenes Konzept der Nachrichtenfaktoren bei Eilders, 2006). Der Diskurs, der dann im System Öffentlichkeit stattfindet, ist durch Laienkommunikation geprägt, da er nur einfache Zusammenhänge verarbeiten kann, wobei die Aufmerksamkeitszyklen kurzlebig und sprunghaft sind (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 18, 45). Daher schlussfolgern Gerhards und Neidhardt (1990, S. 35): „Öffentliche Kommunikation ist in politischer Hinsicht in einem starken Maße Problemkommunikation. Sie zieht in ihren Prozessen der Informationssammlung eher negative als positive Situationsdefinitionen an und engagiert eher opponierende als akklamierende Teile der Bevölkerung. Sie dient, sieht man sie von ‚unten‘, vor allem als Klagemauer der Frustrierten. Das setzt die Adressaten von Kritik und Forderungen mehr oder weniger unter Druck und veranlaßt von ‚oben‘ her Versuche der Rechtfertigungen, Gegendarstellungen, Zurückweisungen, Versprechungen etc.“. Noch weiter gehen Brants und van Praag (2017, S. 403), die mit ihrem Konzept der vox populi darlegen, warum sich nicht der gut informierte, rational argumentierende Bürger und seine Diskussionskultur durchsetzen, sondern vielmehr die „angry citizen, floating voter, and the turned off and turned out public“ (Brants & van Praag, 2017, S. 404). Diese Bürger schlagen im gesellschaftlichen Diskurs, basierend auf ihrem Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen, einen emotionalen, wenig vernunftgeleiteten Ton an, der im Zweifel in einer „populist democracy“ resultieren könnte (Brants & van Praag, 2017, S. 404). Problematisch sei in diesem Zusammenhang insbesondere, dass diese vox populi nicht mehr nur am 201
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Stammtisch in der Kneipe geäußert, sondern über digitale Kommunikationsräume auch zunehmend in der breiten Öffentlichkeit wahrnehmbar werde (Brants & van Praag, 2017, S. 404): Während der Zugang zu den Massenmedien – früher als einzige Vermittlungsstruktur für öffentliche Kommunikationsprozesse – einem Elitenbias unterliegt (siehe weiter unten), kann in den Agoren sozialer Netzwerke potenziell jeder seine Stammtischparolen einem breiten Publikum zugänglich machen, wobei insbesondere die lauten, schrillen und emotional vorgetragenen Positionen Erfolg zu haben scheinen. So offenbart etwa eine Analyse von 1000 Nutzerkommentaren zu politischen Nachrichten auf der Website und der Facebookseite der Washington Post (Rowe, 2015), dass sich nur wenige Kommentare durch deliberative Qualitäten wie die Begründung der eigenen Position (Website: 41 %; Facebook: 35 %) oder das Aufzeigen von Lösungsalternativen (Website: 6 %; Facebook: 2 %) auszeichneten. Ziegele, Quiring, Esau und Friess (2018) illustrieren auf Basis einer Inhaltsanalyse von Artikeln und dazugehörigen Nutzerkommentaren auf den Facebookseiten von neun reichweitenstarken Online-Nachrichtenplattformen überdies den Wirkmechanismus: Ihre Ergebnisse zeigen, dass affekt-adressierende Kommunikation (z. B. über emotionale Bilder) die Diskussion unter einem Artikel zwar anheizte (d. h. es nahmen mehr und verschiedene Nutzer daran teil), sie zugleich aber auch weniger zivil werden ließ. In der Summe kann konkludiert werden, dass vor allem solche Diskurse die digitalen Plattformen bestimmen und sich ausbreiten, die emotional und in rohem Ton geführt werden.
Berichterstattung der Medien über (gesellschafts-)politische Themen Auch die journalistische Kommunikation unterliegt Verzerrungen, schließlich orientieren sich die Journalisten an dem, was öffentlich gewünscht und potenziell rezipiert wird (Brants & van Praag, 2017, S. 404; Raupp, 2009, S. 277). Bedingt durch diese Orientierung am Marktwert, aber auch im Zuge der Professionalisierung des Journalismus70 (Aalberg, 2014, S. 381; F. Esser & Matthes, 2013, S. 181; Lengauer et al., 2011, S. 3–4), sind bestimmte Merkmale in der aktuellen Berichterstattung über gesellschaftlich relevante und politische Themen weit verbreitet: Zunächst stellen viele Autoren einen übermäßig negativen Ton fest (vgl. die Übersichten bei Hopmann, 2014, S. 396; Lengauer et al., 2011, S. 9–11). Dieser gehe weit über eine kritische Haltung, wie sie im Rahmen der journalistischen 70 Ein Ziel, das im Zuge der Professionalisierung angestrebt wird, ist die eigene Autonomie gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zu sichern. Das ist zugleich ein wesentlicher Bestandteil der funktionalen Differenzierung, die als Voraussetzung derjenigen Prozesse gilt, wie sie im Rahmen der Medialisierung stattfinden (vgl. Kapitel 2.3.1).
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
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Kritik- und Kontrollfunktion erwartet wird, hinaus (Patterson, 1993, 7, 18). Einige Studien können dabei in der längerfristigen Betrachtung darlegen, dass sich dieser Negativismus sogar ausbreitet (Kepplinger, 1998, S. 136–139; Reinemann & Wilke, 2007; Semetko & Schoenbach, 2003; dem widersprechen wiederum die Ergebnisse von Donsbach & Büttner, 2005). Die Dominanz des Negativen scheint dabei relativ universal zu sein, zumindest zeigt sie sich über verschiedene (westliche) Länder und verschiedene Medienangebote hinweg (Deutschland, Italien, Österreich, USA; öffentlich-rechtlich vs. privat: Plasser, Pallaver & Lengauer, 2009). Nichtsdestotrotz muss relativierend hinzugefügt werden, dass die Mehrheit der Nachrichten über Politik verschiedenen Studien zufolge neutral im Ton ist (vgl., z. B. Vreese, Banducci, Semetko & Boomgaarden, 2006; vgl. für eine Übersicht Lengauer et al., 2011, S. 9). Die Schlussfolgerung des übermäßigen Negativismus basiert vor allem auf dem Verhältnis der explizit wertenden Äußerungen zueinander (positiver vs. negativer Ton). Neben dem generellen Tenor zeigen Studien, dass auch die Akteure – insbesondere Politiker – häufiger negativ als positiv bewertet werden (Brandenburg, 2005; Kepplinger, 1998, S. 182–185; Lengauer, 2007, S. 239–241; Reinemann & Wilke, 2007). Eng verwandt mit dem Negativismus ist das Hervorheben von Konflikten (Lengauer et al., 2011, S. 6). Hier findet sich zahlreiche Evidenz, die das sog. Konflikt-Framing als markantes Merkmal der Politikberichterstattung ausweist (Donsbach & Büttner, 2005; van Dalen, 2012; im Kontext von Wahlkämpfen: Lengauer, 2007, S. 248; Plasser et al., 2009; oder in der Berichterstattung über einen EU-Gipfel: Semetko & Valkenburg, 2000). Dagegen scheint konsensuales Framing eher die Ausnahme zu sein (Lengauer et al., 2011, S. 10; z. B. zeigen Plasser et al., 2009, dass nur knapp 10 % der Artikel in der Berichterstattung zu den Wahlen in Italien 2006, Österreich 2006, den USA 2004 und Deutschland 2005 diesen Frame enthielten, N = 1358). Weitere, in der Politikberichterstattung verbreitete generische71 Frames sind zum einen der strategische Game Frame und zum anderen das episodische Framing (Aalberg, 2014, S. 382). Bei ersterem handelt es sich um die Darstellung von politischen Prozessen und Auseinandersetzungen als strategisches Spiel (im Kontext von Wahlkämpfen oft auch als horse race journalism bezeichnet). Im Zuge dessen wird auf eine wettkampforientierte Sprache zurückgegriffen, die strategischen Vorgehensweisen und Motive der Akteure in den Vordergrund gestellt und ausführlich kommentiert, wer gerade die Nase vorn hat (vgl. Aalberg, de Vreese & Strömbäck, 2017; Patterson, 1993, S. 73–74; Plasser et al., 2009; Strömbäck & van Aelst, 2010; van Dalen, 2012; für eine Übersicht siehe Aalberg, 2014, S. 384). In einer interna71 Dabei handelt es sich in Abgrenzung zu themenspezifischen Frames um strukturelle Eigenschaften von Nachrichten über verschiedene thematische Zusammenhänge hinweg (Aalberg, 2014, S. 376). 203
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tional vergleichenden Analyse der Politiknachrichten in Print und TV sowie den korrespondierenden Websites konnten die Autoren rund um Aalberg etwa in einem Viertel der Berichte das strategische Game Framing identifizieren (Aalberg et al., 2017, S. 47). Diese Art der Politikdarstellung gehe, so die Befürchtung, zu Lasten der Vermittlung der substantiellen Inhalte und Positionen hinter politischen Entscheidungen und korrespondiere mit Nachrichtenfaktoren wie Drama, Schaden und Negativismus (Aalberg, 2014, S. 380). Zumindest mit Blick auf die Gefährdung der Substanz politischer Inhalte können Aalberg und Kollegen (2017, S. 47) anhand einer 16 Länder umfassenden Inhaltsanalyse jedoch Entwarnung geben. Ähnliche Folgen werden auch für das episodische Framing befürchtet: Demnach gehe der übermäßige Fokus auf singuläre (und mitunter schadensbringende) Einzelereignisse zu Lasten der Vermittlung von übergreifenden (Themen-)Zusammenhängen (sog. thematisches Framing; Iyengar, 1996)(Aalberg, 2014, S. 377). Thematisches Framing finde sich vor allem in öffentlich-rechtlichen TV-Angeboten sowie nationalen Qualitätsmedien, während episodische Frames die privaten TV-Nachrichtenangebote und die regionale Print- sowie Boulevardberichterstattung dominieren (Brekken, Thorbjørnsrud & Aalberg, 2012; Strömbäck & van Aelst, 2010). Welche Dynamiken sich ausgehend von dem Fokus auf singuläre Ereignisse in der Berichterstattung ergeben können, dazu hat Stanyer (2014) den Forschungsstand zusammengetragen: Demnach könne ein Ereignis, das die Aufmerksamkeitsschranken der medialen Öffentlichkeit erstmal passiert habe, aufgrund der Ko-Orientierung zwischen Journalisten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit generieren, wobei eine konsonante Berichterstattung über verschiedene Medien hinweg wahrscheinlich sei (Stanyer, 2014, S. 155–156). Insbesondere Ereignisse von außergewöhnlichem Charakter, sog. Schlüsselereignisse (Kepplinger, 2011, S. 85–86), können das Berichterstattungsvolumen plötzlich und massiv verändern (Kepplinger & Habermeier, 1995) und dazu beitragen, dass sog. Berichterstattungswellen entstehen (vgl. media hypes bei Vasterman, 2005 und media storms bei Boydstun, Hardy & Walgrave, 2011). Dies gelte insbesondere dann, wenn das Schlüsselereignis große öffentliche Resonanz erzeugt und wenn sich hochrangige politische Akteure dessen annehmen, sie quasi mit ihrer Prominenz verstärken (Stanyer, 2014, S. 160). Das heißt konkret, ein Schlüsselereignis, das beispielweise seitens prominenter Politiker mit symbolpolitischen Maßnahmen bedacht wird, kann dadurch überproportional viel Berichterstattung erzeugen, obwohl keinerlei substanzielle politische Entscheidungen getroffen wurden. Neben der Frage, welche Ereignisse aufgegriffen werden, ist auch zentral, welche Akteure dargestellt werden und zu Wort kommen (vgl. für eine Übersicht Hopmann, 2014, S. 391). Hierbei zeigt sich relativ einhellig die Dominanz von hochrangigen politischen Akteuren und Regierungsvertretern (Benson & Hallin,
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2007; Dimitrova & Strömbäck, 2009; Kim & Weaver, 2003). In ihrer langfristigen Betrachtung (Inhaltsanalyse der TV-Nachrichten in einem öffentlich-rechtlichen und einem privaten Nachrichtensender in Flandern, Belgien zwischen 2003 und 2016; n = 10042) erzielten Beckers und van Aelst (2018) zwar den Befund, dass Bürger zumindest ähnlich oft wie (hochrangige) politische Akteure vorkommen (nämlich in knapp einem Drittel der untersuchten Nachrichtenbeiträge), dabei aber die Länge ihrer Sprechzeit nur etwa halb so lang ausfiel. In der Breite der Forschungsergebnisse ergibt sich alles in allem die Einsicht, dass bestimmte Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Gegenstand der Politikberichterstattung zu werden: Mediale Aufmerksamkeit scheint sich zuverlässig auf charismatische und attraktive Personen sowie hohe formale Macht zu fokussieren (Sheafer, 2001; Vos, 2014; Waismel-Manor & Tsfati, 2011). Mit Blick auf die Sprechzeit lässt sich für politische Akteure zeigen, dass deren sog. sound bites immer kürzer werden (Bucy & Grabe, 2007; Donsbach & Büttner, 2005; Reinemann & Wilke, 2007). Dies wird oft als Indikator dafür gesehen, dass Journalisten sich zunehmend die Interpretation der Sachlage zu Eigen machen. Die authentisch wirkenden O-Töne der Protagonisten werden mit der Weltsicht der Journalisten verknüpft und die Protagonisten selbst haben immer weniger die Gelegenheit, ihre Sicht darzulegen bzw. ihre Deutung zu etablieren. Stattdessen erzählen Journalisten ihre Sicht der Dinge und binden die Akteure als opportune Zeugen (Hagen, 1993) in ihre Darstellung ein. Dies ist vor allem deshalb möglich, weil Berichterstattung immer weniger nur eine reine Deskription der Realität liefern, als vielmehr angereichert durch Interpretationen und Deutungen zur Orientierung in der komplexen Welt beitragen soll (sog. interventionistische oder interpretative Berichterstattungsstrategie, vgl. F. Esser & Umbricht, 2014; Salgado, Strömbäck, Aalberg & Esser, 2017, S. 57; Strömbäck & Dimitrova, 2011). In einer international vergleichenden Inhaltsanalyse von Politiknachrichten in Print und TV (16 Länder, siehe oben) zeichneten sich im Durchschnitt etwa 35 % der Artikel durch diesen interpretativen Berichterstattungsstil aus (Salgado et al., 2017, S. 68). Dabei griffen die Journalisten beim privaten Fernsehen eher zu diesem Berichterstattungsstil als ihre Kollegen beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Noch deutlich häufiger als im Fernsehen stößt man als Leser jedoch in Zeitungen auf diesen interpretativen Stil (Salgado et al., 2017, S. 69). Manche Autoren argumentieren, dass Journalisten auf diese Weise zu eigenständigen (politischen) Akteuren werden, die ihre persönlichen Interessen in das Geschehen einbringen (vgl. instrumentelle Aktualisierung, Kepplinger, Brosius & Staab, 1991). Auch die Ergebnisse einer Inhaltsanalyse zur Berichterstattung über Tarifkonflikte (Jost & Koehler, 2018) deuten darauf hin, dass Journalisten sich durchaus von ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen leiten lassen, wenn sie über aktuelles Geschehen berichten: Grundlage ist ein Ver205
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gleich der Berichterstattung über Tarifkonflikte, an denen die Journalisten selbst beteiligt waren (Tarifkonflikte von Redakteuren), mit der Berichterstattung über Tarifkonflikte ohne Beteiligung der Journalisten. Es zeigt sich, dass Journalisten in der Berichterstattung über ihre eigenen Tarifkonflikte Gewerkschaftsvertreter häufiger als Akteure aufgriffen, Streikaktionen eher als legitime Mittel präsentierten, sie bewerteten die Angebote der Arbeitgeberseite negativer und deren Verhalten in Streikphasen kritischer als in der Berichterstattung über Tarifkonflikte ohne eigene Beteiligung. Andere weitverbreitete Indikation für Medialisierung bzw. die Dominanz der Medienlogik in der Berichterstattung finden dagegen nur bedingt empirische Evidenz: Bei der Überprüfung der Annahme, dass die Berichterstattung zunehmend auf Einzelpersonen fokussiere und dabei ihre rollenfernen und privaten Eigenschaften betone (Personalisierung), ließen sich nur ambivalente Ergebnisse erzielen (van Aelst, Sheafer & Stanyer, 2012). Adam und Maier (2010, S. 231) kommen in ihrer Übersicht zu dem Schluss, dass Parteien und Themen zwar das Nachsehen gegenüber individuellen politischen Akteuren haben (vgl. auch die Studien von Donsbach & Büttner, 2005; Sheafer, Weimann & Tsfati, 2008). Eine zunehmende Bewertung anhand von rollenfernen Evaluationskriterien ließe sich dagegen nicht so eindeutig bestätigen (vgl. z. B. Reinemann & Wilke, 2007). Zumindest aber die Dominanz individueller im Vergleich zu kollektiven politischen Akteuren scheint ein stabiles Ergebnis zu sein – blickt man auf die Ergebnisse aus der vergleichenden Inhaltsanalyse der Politiknachrichten in 14 westeuropäischen Staaten sowie Israel und den USA im Jahr 2012 (van Aelst, Sheafer & Hubé, Nicolas, Papathanassopoulos, Stylianos, 2017, S. 128). Auch die These der Verdrängung von sog. hard news zu politischen oder wirtschaftlichen Themen durch soft news (insb. Human Interest) sollte nur vorsichtig akklamiert werden (Brants & van Praag, 2017, S. 399). Blickt man beispielweise auf die Nachrichtenthemen in den sechs bedeutsamsten deutschen TV-Nachrichten im Jahr 2018 (das Jahr, zu dem derzeit die aktuellsten Zahlen vorliegen), so dominieren im Durchschnitt über alle Nachrichtensendungen hinweg politische Themen mit ca. 45 % des Gesamtinhalts und gemeinsam mit Wirtschaftsthemen, die stabil bei ca. 6 % liegen, stellen sie ca. die Hälfte aller Inhalte der gesamten Sendezeit (der Rest ist ein buntes Sammelsurium aus Wetter, Human Interest, Sport, Justiz und Gesellschaft; Krüger & Zapf-Schramm, 2019, S. 47). Der Wert ist überdies seit 2005 (d. h. seitdem es diesen vergleichenden Themenüberblick über die reichweitenstärksten deutschen TV-Nachrichten gibt) weitestgehend stabil (Krüger & Zapf-Schramm, 2012, S. 532; bzw. sogar leichter Anstieg von Politikthemen seit 2014; vgl. Krüger & Zapf-Schramm, 2017, S. 65). Allerdings zeigen Reinemann und Wilke (2007) im Zeitraum zwischen 1949 und 2005 durchaus einen Rückgang an sog. hard news in der Wahlkampfberichterstattung in den nationalen Qualitätszeitungen, wobei
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
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der Anteil aber im Jahr 2005 (Ende ihres Untersuchungszeitraumes) immer noch bei mehr als der Hälfte aller untersuchten Beiträge lag. Die hohe Bedeutung von Politik gilt insbesondere für die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen heute, heute journal, Tagesschau und Tagesthemen (jeweils zwischen 42 % und 52 % Politikanteil) und ist bei den privaten Nachrichtenangeboten dagegen deutlich geringer ausgeprägt (RTL: 23 %, SAT1: 31 % Politiknachrichten) (Krüger & Zapf-Schramm, 2019, S. 48). Auch die etwas differenziertere Betrachtung der Frage, wie viel Substanz die Politikberichterstattung der Medien zu bieten hat, kommt zu dem Schluss, dass deutlich mehr als die Hälfte der untersuchten Politiknachrichten in der 16 Länder umspannenden Studie aus dem Jahr 2012 sich durch Indikatoren auszeichnete, die auf eine „hard news“-Orientierung in der Berichterstattung hindeuten (Indikatoren auf der Inhalts- und Stilebene, u. a. unemotionaler Stil, Referenz zu Autoritäten, Darstellung der Hintergründe von Entscheidungen; Reinemann, Stanyer & Scherr, 2017, S. 137). In der Gesamtschau finden sich gesellschaftliche Entscheidungsträger in einem öffentlichen Kommunikationsumfeld wieder, das durchaus Spannungspotential bietet, bedenkt man, dass der Fokus auf negative Aspekte, Konflikt und prominente Einzelereignisse sehr ausgeprägt ist und überdies mehr die Frage nach Gewinnern und Verlierern (Game Framing) im Vordergrund steht als die konkreten Inhalte eines Entscheidungsprozesses. Dabei scheinen bestimmte Akteure, nämlich solche mit hoher formaler Macht, einen Vorteil zu haben, sich öffentlich präsentieren zu können. Der Befürchtung, ausschließlich ihre Person sowie ihr Privatleben stünden im Vordergrund einer ausschließlich an Klatsch und Tratsch interessierten Berichterstattung, kann vorsichtig widersprochen werden. Einige Spezifika ergeben sich noch, widmet man sich den spezifischen Bereichen Wirtschaft, der Berichterstattung über konkrete Policy-Entscheidungen sowie Tarifpolitik. Diese sollen nachfolgend dargestellt werden.
Öffentliche und medial vermittelte Kommunikation über Wirtschaftsthemen Neben der aktuellen Berichterstattung zu politischen Themen finden sich vor allem in der Wirtschaftsberichterstattung ebenfalls Bezüge zu gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen. Daher wird nachfolgend ein Blick in dieses Ressort geworfen: Vor allem die massive Kritik, die infolge der Finanzkrise gegenüber dem Wirtschaftsjournalismus geäußert wurde, legt zunächst nahe, dass sich hier für Funktionseliten ein weniger spannungsreiches Umfeld (als beispielweise im politischen Bereich) ergibt: So wurde etwa die Expertise der Journalisten bemängelt (vgl., z. B. Guerrera, 2009; Tambini, 2010; Tett, 2010; für eine Übersicht siehe Damstra, Boukes 207
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& Vliegenthart, 2018, S. 5), was sich u. a. darin äußert, dass man nach ökonomischen Detailerklärungen in der Berichterstattung vergeblich suchen müsste (Schiffrin & Fagan, 2013). Ebenso wurden manche Wirtschaftsbereiche in der medialen Aufarbeitung vernachlässigt (und dabei handelte es sich insbesondere um die für die Finanzkrise sehr relevanten Bereiche der Kredit- und Derivatmärkte, vgl. Starkman, 2009; Tett, 2010). Der Mangel an ökonomischer Expertise, aber auch zunehmender Zeitdruck in der Produktion von Inhalten resultiere unter anderem darin, dass sich Wirtschaftsjournalisten viel stärker als in anderen Bereichen auf die Expertise ihrer Quellen stützen müssten und dadurch eine entsprechende Abhängigkeit entstünde (Guerrera, 2009; Strauß, 2019; Tambini, 2010). Überdies existierten enge Verstrickungen zwischen Journalisten und mächtigen Akteuren in der Wirtschaft, da sie bedeutsame Werbekunden und, aufgrund ihres ökonomischen Elitenstatus, auch bedeutsame Quellen der Berichterstattung sind (vgl. Davis, 2000; Kollmeyer, 2004; Strauß, 2019; Tambini, 2010). Daher wurde die Haltung der Wirtschaftsjournalisten oft als wenig kritisch oder investigativ-aufklärerisch kritisiert (Starkman, 2009; Strauß, 2019; Tambini, 2010). Die Berichterstattung folge und verstärke sogar die Entwicklungen und Trends der Wirtschaft, statt ihr etwas entgegen zu setzen. Zumindest attestierte Tobler (2004) im Zusammenhang mit der New Economy-Blase, dass in der Aufbruchsphase vor allem ein sehr positiv-verstärkendes mediales Umfeld zu verzeichnen war, das mit dem Platzen der Blase stark ins negativ-kritisierende verfiel. All diese Aspekte sprechen dafür, dass Wirtschaftsentscheider im Verhältnis zu den Medien eine überlegene Position eingenommen haben (und noch immer einnehmen?). Dadurch können sie – zumindest in Maßen – Einfluss darauf nehmen, worauf sich die mediale Aufmerksamkeit richtet und wie Medien über ökonomische Ereignisse und Themen berichten, da sie als Quellen der Berichterstattung in Anbetracht mangelnder eigener Expertise der Journalisten eine hohe Deutungsmacht haben. Andere Erkenntnisse sprechen jedoch dafür, dass die Unterschiede in der Art der Darstellung von politischen und wirtschaftlichen Themen kaum (mehr72) vorhanden sind. Demnach finde sich eine ähnlich kritische bzw. inzwischen sogar schon übermäßig negative Perspektive auf Wirtschaft wie auf Politik:73 In einer der 72 Beispielweise interpretieren Kalogeropoulos, Svensson, van Dalen, Vreese und Albæk (2015) die Tatsache, dass es kaum Unterschiede zwischen Wirtschafts- und Politiknachrichten gibt, als Indikator dafür, dass ein Wandel nach der Finanzkrise stattgefunden haben muss. Es fehlen aber entsprechende Langzeitanalysen, um einen solchen Wandel auch empirisch zu zeigen. 73 Diese Ausdrucksweise verdeutlicht bereits die normative Ambivalenz, die mit der Bewertung eines negativen Tons in der Berichterstattung einhergehen kann: Einerseits
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wenigen Betrachtungen, die die Berichterstattung über politische und ökonomische Themenschwerpunkte vergleichend untersuchen, zeigt sich, dass politische und ökonomische Akteure ungeachtet des Themenschwerpunktes im Beitrag (Wirtschaft vs. Politik) gleichermaßen bewertet wurden, nämlich überwiegend negativ (Kalogeropoulos, Svensson, van Dalen, Vreese & Albæk, 2015, S. 1004). Auch mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung sowie diejenige einzelner ökonomischer Indikatoren lässt sich eindrückliche Evidenz für einen Fokus auf Negatives ausmachen: Über negative Entwicklungen wird weitaus häufiger denn über positive Entwicklungen berichtet (Damstra & Boukes, 2018; Kalogeropoulos et al., 2015; Kollmeyer, 2004; Quiring, 2004, S. 86–87; Soroka, 2012; Soroka, Daku, Hiaeshutter-Rice, Guggenheim & Pasek, 2018; vgl. für eine Übersicht: Damstra et al., 2018, S. 2). Dass ein negativer Fokus bereits vor der Finanzkrise in der Wirtschaftsberichterstattung vorherrschte, dafür liefern die Analysen von Tobler (2004) und Eisenegger (2004) Nachweise. Sie zeigen überdies auf, dass der negative Tenor mit einer stark moralisch-wertenden Komponente einherging: So konkludiert Tobler (2004, S. 259) hinsichtlich der Berichterstattung nach dem Platzen der New Economy-Blase, dass die Medien „die Rolle einer moralisierenden Inquisition“ eingenommen hätten und „über alarmistische Empörungskommunikation einer weit um sich greifenden Vertrauenskrise Vorschub“ geleistet hätten. Mit Blick auf Unternehmen schlussfolgert Eisenegger (2004, S. 289) aus seiner Inhaltsanalyse zur Berichterstattung über zwölf Schweizer Großkonzerne (1999–2002), dass ein neues und zugleich höheres Reputationsrisiko drohe, da eine „Bedeutungssteigerung der Sozialreputation“ (Eisenegger, 2004, S. 283) zu Lasten der performanzbasierten Reputation zu verzeichnen sei. Aber selbst wenn man die moralisierende Komponente außen vor lässt, kann festgestellt werden, dass die Wirtschaftsberichterstattung viel Raum bietet, um über das Entscheiden von Funktionseliten aus der Wirtschaft zu sprechen: In ihrer Inhaltsanalyse der Print- und Onlineberichterstattung über Wirtschaftsthemen in den fünf reichweitenstärksten Zeitungen in Dänemark im Zeitraum von März bis Mai 2012 (n = 492) zeigen die Forscher rund um Kalogeropoulos (2015), dass mit deutlichem Abstand Unternehmensnachrichten das prävalenteste Thema und individuelle Unternehmensvertreter sowie deren Unternehmen die sichtbarsten Akteure waren. Dagegen waren abstraktere Themenkomplexe wie Arbeitslosigkeit oder Steuern sowie andere Akteure, beispielweise aus der Politik, von nachrangiger ist Negativismus Ausdruck einer kritischen Haltung im Sinne der Watchdog-Funktion (Kalogeropoulos, Svensson, van Dalen, Vreese & Albæk, 2015, S. 995), andererseits kann es in übermäßigem Ausmaß auch als Zynismus ausgelegt werden (Patterson, 1993, S. 18). Wo die kritische Grenze ist, ist unklar (vgl. hierzu auch Koehler & Jost, 2019, S. 234, 247). 209
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Bedeutung.74 Aus Perspektive der Entscheidungseliten aus der Wirtschaft und ihrer Präferenz für Nicht-Öffentlichkeit im Kontext von Entscheidungsprozessen spricht dieser Befund dafür, dass sich auch hier – ähnlich wie in der Politik – ein spannungsreiches Verhältnis zu Medien ergibt. Lediglich das etwas schwächer ausgeprägte Konflikt-Framing indiziert, dass die Zuspitzung der Kontroversen nicht ganz so stark wie im Politischen erfolgt (Kalogeropoulos et al., 2015). Mit Blick auf die allgemeine, d. h. nicht medial vermittelte, öffentliche Kommunikation über Wirtschaft ist wenig bekannt: Obwohl die Bürger massive Wissensdefizite mit Blick auf ökonomische Themen und Zusammenhänge haben (Wobker, Lehmann-Waffenschmidt, Kenning & Gigerenzer, 2012), entbehrt das Themenfeld nicht seiner Relevanz, schließlich rangieren Wirtschaftsthemen stets unter den bedeutsamsten Themen, die die Menschen umtreibt (European Commission, 2018, S. 23–24). Eine der wenigen vorhandenen Studien, die sich mit Wirtschaftskommunikation online befasst, legt den Schluss nahe, dass sich dort der Fokus auf Negatives nicht ganz so stark wie in der medial konstruierten Offlinewelt durchsetzt: Auf Twitter reagierten Nutzer in der Tonalität ihrer Posts stärker auf positive denn negative Entwicklungen (Soroka et al., 2018). Die Potentiale der Skandalisierung in der Onlineumwelt – beispielweise über Shitstorms (vgl. Himmelreich, 2019) – stellen jedoch gerade für ökonomische Funktionseliten ein besonderes oder zumindest ungewohntes Reputationsrisiko dar, bedenkt man das Ausmaß an Moralisierung, das in die Debatte um Unternehmen und ihr Handeln eingekehrt ist (Eisenegger, 2004, S. 281; Vonwil & Lackus, 2006, S. 98). In der Summe fällt die Schlussfolgerung hinsichtlich der medialen Wirtschaftsberichterstattung gemischt aus: Einerseits wird Wirtschaftsjournalisten vorgeworfen, sie könnten ihrer Kritikfunktion in Anbetracht mangelnder Expertise und hoher Quellenabhängigkeit kaum gerecht werden. Andererseits zeigt sich ähnlich wie in der Politikberichterstattung ein ausgeprägter Fokus auf negative Aspekte, der zusätzlich mit einer moralisierenden Komponente einhergeht. Die allgemeine öffentliche Kommunikation beruht auf sehr geringem Wissen bei gleichzeitig hohem Interesse an Wirtschaftsthemen.
74 Nun handelt es sich hierbei zwar um Ergebnisse einer Inhaltsanalyse der Berichterstattung in Dänemark. Die Tatsache, dass es sich bei Dänemark und Deutschland um Vertreter des demokratisch-korporatistischen Modells nach Hallin und Mancinis (2004) Systematisierung handelt, spricht dafür, dass zumindest ein gewisses Maß an Vergleichbarkeit gegeben sein könnte (Kalogeropoulos, Svensson, van Dalen, Vreese & Albæk, 2015, S. 1005) .
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Berichterstattung über Entscheidungsprozesse im Aushandlungsmodus Einige wenige Studien haben sich damit beschäftigt, wie (politische) Entscheidungsprozesse im Aushandlungsmodus medial dargestellt werden. Diese sollen nachfolgend aufgearbeitet werden, um die Einsichten zur allgemeinen Politik- und Wirtschaftsberichterstattung um diesen spezifischen Fokus zu ergänzen. Übergreifend zeigt sich, dass nur ein Bruchteil der Entscheidungsprozesse, die in einem Gesellschaftsbereich vollzogen werden, überhaupt mediale Aufmerksamkeit erfährt. Evidenz hierzu stammt vor allem aus dem politischen Bereich, nämlich für die alltägliche Arbeit der Parlamentarier (Negrine, 1999), die Politikagenda (Bonafont & Baumgartner, 2013; van Santen, Helfer & van Aelst, 2015), einzelne Gesetze (van Aelst et al., 2015) und die Frage, ob und welche Bestandteile des Haushaltsplans, der im Parlament diskutiert und entschieden wird, medial thematisiert werden (Langer & Sagarzazu, 2017). In ihrer Inhaltsanalyse der Berichterstattung über insgesamt 603 Gesetze, die in den Niederlanden im Zeitraum zwischen 2006 und 2011 verabschiedet wurden, gelangten van Aelst und Kollegen (2015) zu der Einsicht, dass nur 22 % der Gesetze überhaupt medial beachtet wurden. Gleichzeitig erfuhren einzelne Gesetze überproportional viel Aufmerksamkeit. Ähnliche Befunde erzielten Langer und Sagarzazu (2017) für die Berichterstattung über die Haushaltspläne des britischen Parlaments zwischen 2008 und 2012 in sechs national erscheinenden Nachrichtenmedien: Auch hier erfuhren nur ganz wenige Einzelheiten aus den Haushaltsplänen Aufmerksamkeit, diese dann aber in überproportionalem Ausmaß. In der Frage, welche Aspekte es im politischen Entscheidungsprozess über die – offenbar sehr hohe – mediale Aufmerksamkeitsschranke schaffen, kommen die Autorenteams beider Studien zu dem Schluss, dass klassische Nachrichtenfaktoren hier zentral zur Erklärung beitragen können: Je höher die politische Bedeutsamkeit eines Gesetzes (gemessen über die Intensität, mit der sich das Parlament mit einem Gesetz beschäftigt hat) und je stärker das Ausmaß an politischem Konflikt, das mit dem Gesetz einherging (gemessen über die Mehrheitsverhältnisses bei der Abstimmung zum Gesetz; ähnlich: Landerer, 2015, allerdings beruhte Landerers Analyse auf nur drei politischen Entscheidungsinstanzen), desto wahrscheinlicher war es, dass ein Gesetz medial Berücksichtigung fand (van Aelst et al., 2015). Die Betrachtung der Berichterstattung zu britischen Haushaltsplänen zeigt überdies, dass insbesondere solche Einzelbestandteile des Gesamthaushalts in den Medien Widerhall fanden, die höhere Kosten oder potenziell negative Folgen (Steuererhöhungen bzw. Ausgabenkürzungen) implizierten. Förderlich für die Aufmerksamkeit der Medien war außerdem, wenn sich auch die Regierung explizit damit befasste und wenn die Gesetze Folgen für den einzelnen Bürger (und nicht primär 211
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nur Unternehmen) und hier insbesondere für Bürger aus der Mitteklasse (als das Gros der Wählerschaft und damit auch des Medienpublikums) hatten (Langer & Sagarzazu, 2017, S. 351–352). Diese Aufmerksamkeitsraster scheinen überdies relativ universellen Charakter zu haben, da sich in der Studie keine Unterschiede zwischen Boulevard- und Qualitätsmedien ergaben. Auch die ideologische Ausrichtung der Medien oder die Frage, von welcher Regierungspartei der Haushaltsplan stammte, waren unerheblich (Langer & Sagarzazu, 2017, S. 351). Aber auch abseits des Kernbereiches Politik zeigt sich dieses Muster für die mediale Kommunikation über Entscheidungsprozesse: Eine Untersuchung der Berichterstattung von New York Times, Washington Post und LA Times über Entscheidungen des US Supreme Court zwischen 1955 und 2001 (N = 5123) kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Großteil der Entscheidungen keine mediale Aufmerksamkeit erfährt (Strother, 2017, S. 578). Da sich ein Großteil des Geschehens nicht-öffentlich abspielt und das Gericht überdies auch keine Öffentlichkeitsarbeit im klassischen Sinne betreibt, orientierten sich die Journalisten an formalen und strukturellen Merkmalen: So signalisierte vor einer Entscheidung insbesondere die Beteiligung von Interessengruppen politische Bedeutsamkeit und Konflikthaftigkeit; nach der Entscheidung trieb vor allem die Tatsache, dass vom Status Quo abgewichen wurde, die Berichterstattung (Strother, 2017, S. 585–586). Neben der Frage, welche Entscheidungsprozesse medial aufgegriffen werden, ist auch von Interesse, wie über sie berichtet wird. Einsichten liefert hier eine langfristige Betrachtung (punktueller Vergleich zu mehreren Zeitpunkten beginnend in den 60ern bis 2005) von Floss und Marcinkowski (2008): Im Fokus der Studie steht die Berichterstattung über Verhandlungen im Vergleich zu mehrheitsbasierten oder hierarchischen Entscheidungen in Deutschland und der Schweiz (N = 878). In der deutschen Berichterstattung zeigten sich über die verschiedenen Entscheidungsmodi sowohl der Personalisierungs- als auch der Konfliktframe in vergleichbarem Umfang (je knapp ein Drittel bzw. ein Viertel der Berichterstattung). Demgegenüber waren das sog. „collective action“-Framing (36 % vs. 21 %) sowie das „consensus“-Framing75 (26 % vs. 3 %) in den Artikeln zu Verhandlungen deutlicher ausgeprägt als in Artikeln zu mehrheitsbasierten oder hierarchischen Entscheidungsprozessen. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die Berichterstattung den Entscheidungsmodus zumindest in seinen Grundzügen reflektiert. Allerdings suggerierten die Trends in der langfristigen Perspektive, dass die für Verhandlungen 75 Consensus Framing = wird das Entscheidungshandeln im respektvollen, wechselseitigen Aushandlungsmodus präsentiert; kollektiver Orientierungsframe = wird das Entscheidungshandeln als kollektive Leistung oder Handlung dargestellt (vgl. Floss & Marcinkowski, 2008, S. 2–3).
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wichtige Kompromiss- und Verständigungsorientierung in der Berichterstattung an Bedeutung verloren hat und zugunsten einer Zuspitzung im Konfliktmodus gewichen sei (während „consensus“- und „collective action“-Framing an Bedeutung einbüßten, wurde Konflikt-Framing wichtiger; vgl. Floss & Marcinkowski, 2008). Einen ähnlichen Eindruck hinterlassen die Ergebnisse von Landerer (2015), der die Berichterstattung von sechs Qualitäts- und Boulevardzeitungen über drei politische Entscheidungsprozesse in der Schweiz analysiert hat: Die Berichterstattung wirkte eher nüchtern bzw. gemäßigt, da je nur knapp ein Fünftel der untersuchten Artikel sich durch Eigenschaften wie Simplifizierung, Personalisierung, Boulevardstil oder Skandalisierung auszeichneten, die einer kommerziellen Medienlogik zugeschrieben werden. In eine ähnliche Richtung deutet auch der Befund, dass – entgegen der Erwartungen – radikale Themenaspekte und -positionen weniger Anklang gefunden haben als die etablierten Positionen und Perspektiven auf die Entscheidungsmaterie. Demnach stellte Devianz kein relevantes Darstellungsmittel dar. Lediglich der ausgeprägte Negativismus und die deutliche Hervorhebung der Konflikthaftigkeit76 fügten sich nicht ganz in den Eindruck einer eher nüchternen Darstellung der drei politischen Entscheidungsprozesse in der Schweiz. Über diese Einzelbefunde hinaus fehlt es jedoch an systematischen Analysen zur Berichterstattung über Entscheidungsprozesse im Aushandlungsmodus. Jedoch können auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse einige Vermutungen angestellt werden: Da manche Entscheidungen sehr viel Aufmerksamkeit erhalten, während andere nahezu untergehen, kann angenommen werden, dass das Einflusspotential der Medien bei diesen intensiv betrachteten Fällen sehr hoch ist (van Aelst et al., 2015, S. 547) – schließlich stellt es für die beteiligten Akteure tendenziell eine Ausnahmesituation dar (d. h. die meisten haben keine Routinen im Umgang mit so intensiver, plötzlicher Aufmerksamkeit; ähnlich argumentiert Raupp 2009, S. 281 für Medialisierungseffekte). Insbesondere der spezifische Umgang mit der Konflikthaftigkeit der Entscheidungsprozesse birgt zahlreiche Implikationen: Zunächst ist davon auszugehen, dass der Verhandlungsanlass eher mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht als der langwierige, komplexe und auf Verständigung bedachte Aushandlungsprozess im 76 Das sehr ausgeprägte Konflikt-Framing muss aber vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass Landerer (2015) gezielt drei Entscheidungsinstanzen ausgewählt hat, die sich durch sehr hohe Konfliktintensität auszeichneten (Landerer, 2015, S. 119). Entsprechend überrascht der hohe Anteil an Konflikt-Framing nicht, sondern liefert vielmehr einen weiteren Beleg dafür, dass Medienberichterstattung über Entscheidungsprozesse die Charakteristika dieser zu reflektieren scheint (in dieses Bild fügt sich auch der Befund, wonach die Hervorhebung des Konfliktes auch mit der tatsächlichen Konflikthaftigkeit der Entscheidungsprozesse ansteigt, vgl. Landerer, 2015, S. 203). 213
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Kompromiss- und Konvergenzmodus, der anschließend folgt (ähnlich argumentiert Douglas, 1992, S. 250 und in eine ähnliche Richtung deuten die Ergebnisse von Landerer, 2015, S. 240, wonach die parlamentarische Beratungsphase weniger Berichterstattung erzeugte als der prä-parlamentarische Offset der politischen Konflikte). Schließlich handelt es sich beim Verhandlungsanlass um einen sozialen Konflikt in seiner Maximalausprägung – die Kontrahenten liegen zu diesem Punkt am weitesten auseinander. Vor allem bei Verhandlungsanlässen, die einen distributiven Konflikt und sog. „zero-sum games“, die Gewinner und Verlierer produzieren (vgl. Kapitel 3.1.2.2), zum Gegenstand haben, ist Medienaufmerksamkeit zu erwarten (ähnlich argumentieren: Landerer, 2015, S. 273; Sarcinelli, 2011, S. 127; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 425). Ist der Aushandlungsprozess erstmal gestartet, dann wäre in Anbetracht der Vielschichtigkeit und des hohen Detailgrades der Vereinbarungen eine sehr hohe Übersetzungsleistung der Medien von Nöten. Für die Wirtschaftsberichterstattung ließ sich zeigen, dass dazu vor allem auf Simplifizierungen zurückgegriffen werde, um den komplexen Gegenstand auch für Laien eingängig darzustellen (Clark, Thrift & Tickell, 2004). Der Fokus auf Konflikte in der Nachrichtenauswahl unterstreicht zudem das Potential von Leaking, um politischen Handlungsdruck auszuüben (van Aelst et al., 2015, S. 546). Das Nachrichtenpotential, das mit dem Leaking einhergeht, wird beispielweise dadurch illustriert, dass die Veröffentlichung der Geheimdokumente im Kontext der TTIP-Verhandlungen im Mai 2016 sogar zu den zehn bedeutsamsten Nachrichtenthemen in deutschen TV-Nachrichten zählte (Krüger & Zapf-Schramm, 2017, S. 79). Die Schattenseite dessen zeigt sich, wenn sich die Verhandlungsbeteiligten tatsächlich um einen Kompromiss bemühen: Dann kann die (zunehmende) Konfliktorientierung in der Berichterstattung zu einer öffentlichen Zuspitzung und Überzeichnung der Antagonismen führen, die am Verhandlungstisch gar nicht gegeben sein muss (Raupp, 2009, S. 278). Die Akteure finden sich dann u. U. in einem öffentlichen Klima mit Erwartungshaltungen wieder, die auf eine konflikthafte Auseinandersetzung gepolt sind und müssen sich darin rechtfertigen und positionieren (so erwarten die eigenen Anhänger zum Beispiel eine besonders harte Haltung gegenüber dem Gegner). Druck von außen entsteht auch dann, wenn der nicht-öffentliche Charakter der Verhandlung die Journalisten zu intensiven Spekulationen – im Sinne des Game Framing – motiviert (bspw. wie wohl der aktuelle Stand ist, wer potenzieller Gewinner und Verlierer sein könnte?). Druckpotential entsteht überdies, wenn die Journalisten die Verhandlungsteilnehmer bei den wenigen Anlässen, zu denen sie sich öffentlich zum Geschehen äußern, zu Positionierungen und öffentlichen Commitments drängen (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10).
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Berichterstattung und öffentliche Kommunikation über Tarifpolitik Ein Großteil der Forschung zum Zusammenspiel aus Medien und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern konzentriert sich auf den Kernbereich des Politischen. Während sich gesellschaftliche Funktionseliten aber in den verschiedensten Bereichen finden und dort Entscheidungen mit Folgen für breite Teile der Bevölkerung treffen, ist der Blick auf ihr Zusammenspiel mit den Medien und der Öffentlichkeit abseits der Politik rar. Aus diesem Grund ist es oft schwierig, Implikationen für Bereiche abseits der Politik abzuleiten. Eine Gelegenheit über den Tellerrand des Politischen zu blicken, bietet sich im Folgenden: Es soll als Exkurs auf die Medienberichterstattung über Tarifverhandlungen als prominenter Sonderfall von Entscheidungsprozessen im Aushandlungsmodus geblickt werden. Dies ist möglich, weil Tarifverhandlungen (im Gegensatz zu anderen Verhandlungen, die oft ad hoc einberufen werden) sehr regelmäßig stattfinden und damit vorhersehbar und planbar sind. Damit empfehlen sie sich in besonderem Maße für empirische Forschung. Überdies ermöglicht es die Vielzahl an Wirtschaftsbereichen, in denen sie stattfinden, einen breiten Vergleich über verschiedene Konflikt- und Verhandlungsinstanzen sowie Akteurstypen anzustrengen. Diese Befunde sollen nachfolgend präsentiert und mit denen zur Berichterstattung über Aushandlungsprozesse im politischen Bereich verglichen werden, um die Erkenntnisse zum Politischen zu ergänzen. Fragt man zunächst, wie wichtig die Tarifpolitik als Nachrichtenthema ist, so kann man sehen, dass sie – ähnlich wie Entscheidungsprozesse im Allgemeinen – in den Nachrichten ein stetiger, aber eher nachrangiger Begleiter des alltäglichen Geschehens ist. In ihrer langfristigen Untersuchung der sechs bedeutsamstem deutschen Hauptabendnachrichten zeigen Krüger und Zapf-Schramm, dass auf die Tarifpolitik durchschnittlich ein Sendeanteil um die 1 % an allen Inhalten entfällt (Krüger & Zapf-Schramm, 2012, S. 532; Krüger, 2015, S. 89; Krüger & Zapf-Schramm, 2019, S. 52). Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Tarifpolitik deshalb im alltäglichen Nachrichtenrauschen untergeht. Fast in jedem Jahr finden sich tarifpolitische Spitzenmomente, die massive mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen (einen ähnlichen Eindruck hat Tenscher, 2006, S. 18): So finden sich Tarifkonflikte immer wieder unter den Top zehn Nachrichtenthemen auf monatlicher Betrachtungsbasis (Krüger, 2015, S. 93–95; Krüger & Zapf-Schramm, 2019, S. 62, 64)77 sowie in einzelnen Jahren sogar unter den wichtigsten zehn Nachrichtenthemen 77 vgl. folgende unvollständige Aufzählung aus den vergangenen Jahren: Warnstreiks im öffentlichen Dienst im März 2014; Pilotenstreiks bei der Lufthansa im April 2014; Lokführer- und Pilotenstreiks im September, Oktober und November 2014 (Krüger, 2015, S. 93–95); Streik bei der Lufthansa im November 2016; Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst im April 2018 (Krüger & Zapf-Schramm, 2019, S. 62); Tarifkonflikte bei der 215
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im gesamten Jahr78 . Demnach scheint es sich bei Tarifkonflikten ähnlich wie mit Entscheidungsprozessen im Allgemeinen zu verhalten: Auf einige wenige entfällt überproportional viel Aufmerksamkeit. Grundsätzlich offenbaren sich auch in der Berichterstattung über Tarifpolitik einige Charakteristika, die bereits im Kontext der medialen Politikdarstellung (siehe oben) identifiziert wurden: In einer Studie unter Beteiligung der Autorin dieser Arbeit, die insgesamt neun Tarifauseinandersetzungen zwischen 2003 und 2015 in neun Medienangeboten in den Blick genommen hat79 (Jost & Koehler, 2018; Koehler & Jost, 2019; Köhler & Jost, 2017), lässt sich eine stark ereignisfokussierte Darstellung aufzeigen. 72 % der Artikel zeichneten sich durch ein solches episodisches Framing aus, wohingegen nur knapp ein Drittel der Artikel durch das Aufgreifen von Forderungen, Angeboten, Ursachen und Folgen ein thematisches Framing etablierte (Köhler & Jost, 2017, S. 39). Ähnlich wie bei der Berichterstattung über politische Entscheidungsprozesse (vgl. Langer & Sagarzazu, 2017; van Aelst et al., 2015) zeigte sich in der medialen Darstellung von Tarifkonflikten eine Verzerrung entlang von klassischen Nachrichtenfaktoren: Die untersuchten Medien schenkten vor allem solchen Auseinandersetzungen überproportional viel Aufmerksamkeit, die mit potenziell weitreichenden Folgen für die allgemeine Bevölkerung einhergingen (Köhler & Jost, 2017, S. 53). Auch berichteten sie vor allem über solche Phasen in der Auseinandersetzung, die ein hohes Maß an Konflikthaftigkeit aufwiesen (55 % aller Artikel zu Tarifkonflikten bezogen sich auf die Streikphase; nur knapp 26 % auf die Verhandlungsphase; vgl. Köhler & Jost, 2017, S. 68). Genau wie es Galtung und Ruges (1965) Additivitäts hypothese prophezeit, spitzte sich diese schiefe Aufmerksamkeitsverteilung noch zu, wenn beides zusammenkam – ein Konflikt mit vermeintlich weitreichenden Folgen in der Streikphase: Insbesondere dann wurde sehr intensiv berichtet (Köhler & Jost, 2017, S. 54). Auch andere Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Medien vor Deutschen Bahn, Ryanair und Amazon im Dezember 2018 (Krüger & Zapf-Schramm, 2019, S. 64). 78 In den Jahren 2006 (Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst, Rang 6; Krüger & Zapf-Schramm, 2012, S. 536); 2007 (Bahn-Tarifkonflikt, Rang 3; Krüger & Zapf-Schramm, 2012, S. 536) und 2014 (Lokführer- und Pilotenstreiks, Rang 7; Krüger, 2015, S. 92). 79 Untersuchte Tarifkonflikte: Gebäudereiniger, Telekommitarbeiter, Metall- und Elektroindustrie; zwei Konflikte von Redakteuren; Ärzte, Lufthansa Bodenpersonal; Lokomotivführer der Deutschen Bahn und Piloten der Lufthansa. Untersuchte Medien: überregionale Qualitätszeitungen (FAZ, FR, taz, Welt, SZ), Boulevardzeitungen (Bild, Berliner Kurier); Nachrichtenagentur (dpa) Wirtschaftsfachblatt (Handelsblatt). N = 1309 Artikel. Für eine Übersicht zur methodischen Anlage der Studie siehe: Köhler & Jost, 2017, S. 14–24.
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allem den Streikaktivitäten der Gewerkschaften ihre Aufmerksamkeit schenken (P. Hartmann, 1975; D. E. Schmidt, 1993). Aufschlussreich ist hier insbesondere das Ergebnis von Schmidt (1993) aus ihrer Analyse der Berichterstattung über Gewerkschaften im Zeitraum zwischen 1946 und 1985: Die Zahl der Artikel zu Streikaktivitäten nahm zu, obwohl die Streikaktivitäten selbst rückläufig waren, sodass dem Publikum ein überzeichnetes Bild der Konflikthaftigkeit von Tarifpolitik vermittelt wurde. Dieser übermäßige Fokus auf Arbeitskämpfe lässt sich vor allem durch den Kontrast zum sonst sehr routinierten, abseits der Öffentlichkeit stattfindenden und konsensual-orientierten Verhandeln erklären (Koch-Baumgarten, 2013, S. 14, 31; Tenscher, 2006, S. 18). Streikaktivitäten tragen den Konflikt an die Öffentlichkeit, sodass ein publizistischer Konflikt entsteht (Kepplinger, 2009b, S. 9). Dies geht nicht nur mit einer sehr intensiven, sondern auch kontroversen Berichterstattung einher. Entsprechend lässt sich zeigen, dass Journalisten in diesen Konfliktmomenten – d. h. in der Streikphase, aber auch bei Konflikttypen, die mit hoher Betroffenheit einhergehen – die meisten Bewertungen in die Berichterstattung einbringen. Diese fallen dann noch negativer als im Durchschnitt aus (die Berichterstattung war auch im Gesamttenor eher negativ; vgl. Köhler & Jost, 2017, S. 56, 71). Wie für Entscheidungsprozesse im Aushandlungsmodus generell vermutet (siehe oben), kann auch hier, in diesen intensiv betrachteten Spitzenmomenten der Auseinandersetzungen, davon ausgegangen werden, dass die Antagonismen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretern durch die Berichterstattung tendenziell überzeichnet und der Konflikt in der medial hergestellten Öffentlichkeit eher zugespitzt, denn kompromissorientiert dargestellt wird. Im Resultat können so eine zunehmende Polarisierung, eine aufgeheizte öffentliche Stimmung und kontroverse öffentliche Debatten befürchtet werden, die als nicht zuträglich für eine konsensuale Orientierung am Verhandlungstisch erachtet werden (Köhler & Jost, 2017, S. 65). Als vorsichtigen empirischen Beleg für eine solch zugespitzte und aufgeladene Art der öffentlichen Kommunikation über manche Tarifauseinandersetzungen kann eine Analyse der Nutzerkommentare zu Artikeln mit dem Thema Tarifkonflikt auf zwei der reichweitenstärksten deutschen Online-Nachrichtenagebote im Jahr 2015 interpretiert werden (Jost & Köhler, 2019): In diesem tarifpolitisch besonders intensiven Jahr (Lesch, 2016) kommentierten die Nutzer vor allem in einem emotional aufgeladenen und mitunter sogar aggressiven Ton (insgesamt 60 % der insgesamt 3572 analysierten Nutzerkommentare zeichneten sich mindestens durch eines der beiden Merkmale aus). Dagegen basierten nur knapp ein Viertel der Nutzerbeiträge auf diskursiv-differenzierenden Elementen wie Evidenzen oder einer differenzierenden Argumentation. Als Treiber dieser Kommentierstile konnten dabei nicht nur die individuelle Betroffenheit der Kommentierenden, sondern auch 217
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die generelle, d. h. gesellschaftliche Bedeutsamkeit der Konflikte sowie die Art der medialen Aufbereitung identifiziert werden (Jost & Köhler, 2019). Abseits dieser Fokussierung auf Konflikte mit hoher Betroffenheit und die Phasen im Konflikt, die durch Streikaktivitäten seitens der Arbeitnehmerseite gekennzeichnet waren, konnte die Gesamtberichterstattung und damit eine relative Mehrheit aller Artikel dennoch als eher unaufgeregt und knapp charakterisiert werden. Die Konfliktphasen sowie die konfliktreichen Auseinandersetzungen stachen in der medialen Darstellung nur besonders hervor, weil sich die Journalisten hier solcher Merkmale wie einen stark kritisch-kontroversen Ton und emotionalisierender Elemente bedienten. Eine zentrale Frage in der Berichterstattung über Tarifkonflikte ist stets, zu wessen Gunsten sie erfolgt: Verschiedene Ergebnisse legen hier den Schluss nahe, dass es tendenziell die Arbeitgeberseite ist, die von der Art der medialen Darstellung der Tarifpolitik profitiert (zu einer ähnlichen Konklusion kommen Kane & Newman, 2017, S. 3). Dabei ist die Bandbreite an inhaltlichen Elementen, über die Partei genommen werden kann, groß: Der generelle Themenrahmen, d. h. das Framing (Davis, 2000; Kollmeyer, 2004; Strauß, 2019) sowie die Dominanz von machtvollen, kapitalstarken Quellen (Kollmeyer, 2004; Kumar, 2007, S. 40) in der Wirtschaftsberichterstattung im Allgemeinen sowie in der konkreten Berichterstattung über Tarifpolitik im Speziellen (Gunster, 2008; P. Hartmann, 1975; Knight, 2001; Koch-Baumgarten, 2013; Köhler & Jost, 2017, S. 39, 59, 72; Ryan, 2004) drohen die Arbeitnehmerseite zu marginalisieren. Neben diesen übergreifenden Frames in der Berichterstattung zeigt sich das Ungleichgewicht auch in der Darstellung der einzelnen Akteure: Auch hier deutet sich ein negativ-kritisches Umfeld für die Vertreter der Arbeitnehmerinteressen an (Kane & Newman, 2017, S. 3; Knight, 2001; Köhler & Jost, 2017, S. 101; Tracy, 2006). Schließlich lässt sich ein solcher Bias auch an der Darstellung der Positionen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden festmachen: So wurden im Rahmen der neun untersuchten Tarifauseinandersetzungen die Angebote der Arbeitgeberseite tendenziell substantieller dargestellt (d. h. häufiger mit einer Begründung versehen) und positiver bewertet als die der Gewerkschaften (Köhler & Jost, 2017, S. 46). Vergleichbar sind hier die Ergebnisse von Hartman (1975) und Koch-Baumgarten (2013), die aufzeigen, dass Gewerkschaften nicht nur negativer bewertet wurden, sondern deren Position auch als weniger legitim präsentiert wurde. In der Gesamtschau fügt sich das Bild, wie es sich für die Medienberichterstattung über Tarifkonflikte ergibt, in den Gesamteindruck ein, der bereits für die allgemeine Politik- und Wirtschaftsberichterstattung sowie für die Darstellung von Policy-Entscheidungen im Aushandlungsmodus aufgezeigt wurde: Die stark detailbezogene und komplexe Regelungsmaterie, bei der es auf juristische Spitz-
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findigkeiten ankommt, die in einem langwierigen Prozess ausgehandelt wird und bei der selten eindeutige Gewinner und Verlierer auszumachen sind, sondern vielmehr ein Package-Deal als kollektive Kompromisslösung resultiert – all diese Aspekte sprechen eher für eine geringe mediale Attraktivität der Thematik. In der Frage, ob über eine solche Entscheidungsinstanz prominent berichtet werden soll, orientieren sich Journalisten an klassischen Nachrichtenfaktoren, d. h. vor allem breite Betroffenheit in der Bevölkerung, hohe Konflikthaftigkeit und die Beteiligung hochrangiger, prominenter Akteure dienen ihnen als Indizien. In der Folge wird über das Gros der Entscheidungsprobleme kaum, über einige wenige aber besonders viel berichtet. Die Berichterstattung in diesen prominent betrachteten Fällen kann dann mitunter intensiv und kontrovers ausfallen (vgl. hierzu auch Kepplingers Konzept der publizistischen Konflikte: Kepplinger, 2009b), indem sie viele Merkmale bedient, die als Begleiterscheinungen einer eher kommerziell ausgerichteten Medienlogik gelten (vgl. F. Esser & Matthes, 2013, S. 181; Landerer, 2015, 127–130): Übermäßiger Negativismus, episodisches Framing, Hervorhebung und Zuspitzung der Auseinandersetzung (Konflikt- und Game Framing) sowie der Einsatz emotionalisierender Darstellungsmittel und Human Interest Framing. Wie kann man sich die Folgen einer solcher medialen Berichterstattung nun vorstellen? Gerade bei den medial intensiv bedachten Konflikten könnte die Art der Darstellung in einem polarisierten und aufgeheizten öffentlichen Klima resultieren, das der Kompromisssuche eher eine Bürde ist. So lässt sich beispielweise zeigen, dass die unvorteilhafte interpretatorische Einbettung der Gewerkschaften deren öffentliche Unterstützungsbasis erodieren kann (Kane & Newman, 2017; D. E. Schmidt, 1993). Gerade in solchen gesellschaftlichen Konfliktsituationen entstehen auf Basis der Berichterstattung oft sog. Hostile Media-Wahrnehmungen bei den involvierten Gruppen, die wiederum Folgen für die Mobilisierungsbasis der Konfliktparteien haben können (Christen, Kannaovakun & Gunther, 2002; Post, 2017). Schließlich ließ sich zeigen, dass hohe mediale Aufmerksamkeit mit einer längeren Streikdauer korrespondiert (Flynn, 2000), was nahelegt, dass sich auch Folgen für die Fronten am Verhandlungstisch ergeben (Koch-Baumgarten, 2013, S. 15). All diese Befunde deuten demnach darauf hin, dass sich die Konfliktdynamik im Lichte der medialen Konfliktbegleitung und -aufarbeitung verändern kann (zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt auch Koch-Baumgarten, 2013 im Zuge ihrer Analyse der medialen Konstruktion der Tarifauseinandersetzung zwischen der IG Metall und Gesamtmetall 1956/57 in Schleswig-Holstein). Wie sich im Umkehrschluss aber nicht vorhandene mediale Aufmerksamkeit auswirkt, dazu hinterlässt der aktuelle Forschungsstand eine Lücke. Die vorherigen Darstellungen legen aber mindestens zwei Gründe nahe, warum auch das Nichtvorhandensein medialer Aufmerksamkeit mindestens ebenso folgenreich im unmittel219
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
baren Konfliktverlauf sein kann: Wenn nämlich seitens der Entscheidungsakteure grundsätzlich der Bedarf besteht (vgl. Kapitel 3.2.1), öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren und öffentlich gut dazustehen, dann kann man annehmen, dass sie parallel zum Konfliktgeschehen Maßnahmen ergreifen, um öffentliches Aufsehen zu erzeugen und Unterstützung zu generieren. Unklar ist im Zuge dessen aber, welche Implikationen daraus für den Entscheidungsprozess hinter verschlossenen Verhandlungstüren resultieren. Alternativ ist auch denkbar, dass die Entscheidungsakteure aufgrund früherer Erfahrungen mit zugespitzter und emotional aufgeladener Berichterstattung, stets die Befürchtung mit sich tragen, dass dies erneut geschehen und sich ungünstig auf die Kompromisssuche mit dem Verhandlungspartner auswirken könnte. Allein diese Vorahnung könnte sie dann dazu veranlassen, Maßnahmen zu ergreifen, um sich vor dem öffentlichen Fokus abzuschirmen, was ebenfalls Folgen für das Verhandlungsgeschehen haben könnte. Sowohl die Folgen aus intensiver medialer Aufmerksamkeit als auch die potenziellen Konsequenzen aus dem Mangel derselben hängen entscheidend davon ab, wie die Beteiligten das Geschehen wahrnehmen, bewerten und einordnen. Demnach reicht es nicht, sich nur rein auf die manifesten Inhalte öffentlicher und medial vermittelter Kommunikation zu stützen. Der subjektiven Perspektive der beteiligten Funktionseliten muss ebenfalls Rechnung getragen werden (ähnlich argumentiert Landerer, 2015, S. 115). Wie man sich in Summe nun die verschiedenartigen Einflüsse auf die Konfliktdynamik, d. h. den Entscheidungsprozess der Funktionseliten im kollektiven Aushandlungsmodus, vorstellen kann und welche Parameter konkret berücksichtigt werden müssen, um das vielschichtige Verhältnis zwischen Medienöffentlichkeit und Funktionseliten beschreiben und fassen zu können, das wird nachfolgend in einem Zwischenfazit zusammentragen.
3.2.3 Spannungsreiche Implikationen: Ergänzung der Modellparameter um die Bezugspunkte zur Medienöffentlichkeit Die Ausgangsannahme, die der Betrachtung in diesem Kapitel zugrunde lag, war folgende: Ursache und zugleich zentrale Stellschraube für das Eindringen der Medienlogik in die strategischen Überlegungen und Abwägungen der Entscheidungsakteure ist die Tatsache, dass Verhandlungsakteure auf mediale und öffentliche Aufmerksamkeit oder Unterstützung angewiesen sind (Benz, 2007, S. 115; Keller, 1991, S. 97; vgl. hierzu Kapitel 2.3.1 und 3.1). Man muss daher fragen, wann, wie und warum das der Fall ist, um die subtilen und indirekten Einflüsse identifizieren und modellieren zu können, die im Zuge der Medialisierung prognostiziert werden.
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
221
Die Betrachtung im vorangegangenen Kapitel, die aus dieser Frage resultierte, legte die Grundannahmen der vorliegenden Arbeit offen, auf denen die Modellierung in den folgenden Abschnitten fußen soll. Knüpft man an dieser Stelle nochmal an Marcinkowskis (2014, S. 14; vgl. auch Abbildung 1, auf S. 27) Differenzierung zwischen den Ursachen, dem Phänomen und seinen Merkmalen sowie den Folgen der Medialisierung an, so bewegen wir uns im Bereich der Ursachen der Medialisierung von Entscheidungsprozessen. Die Fragen, wie sich das Medialisierungsphänomen im Entscheidungskontext vollzieht und welche Folgen es für den Entscheidungsprozess und sein Ergebnis haben kann, stehen anschließend im Fokus der Modellbildung. Wie wurde nun versucht, eine Antwort auf die Frage nach der Beziehung zu Medien und Öffentlichkeit zu finden? Das Stakeholderkonzept diente hier als Grundlage (vgl. Kapitel 3.2.1). Gemeint sind damit all jene Gruppen und Individuen, die von dem Handeln eines Akteurs oder einer Organisation beeinflusst werden oder die den Akteur bzw. die Organisation mit ihrem Handeln beeinflussen können (Freeman, 1984, S. 46). Die Interaktionen mit diesen Anspruchsgruppen basieren also auf dem wechselseitigen Potential der Einflussnahme. Die Stakeholder konstituieren dabei verschiedene Interaktions- und Kommunikationsarenen (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 125; Schmid & Lyczek, 2008, S. 70). Blickt man davon ausgehend auf gesellschaftliche Entscheidungsträger, so sind nach dem oben genannten Verständnis unzählig viele Gruppen denkbar, die als Stakeholder in Frage kommen. Es bedarf also der Reduktion auf einige wenige, zentrale Stakeholder. Die Lösung bestand darin, relevante Stakeholder-Typen in der Entscheidungssituation zu identifizieren. Dies erfolgte, indem alle potenziell auftretenden Stakeholder einmal danach differenziert wurden, wie einflussreich sie gegenüber dem Entscheidungsakteur sein können (haben sie direkte Einflusskanäle?; basierend auf der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Stakeholdern; vgl. Fassin, 2009, S. 116; Röttger et al., 2018, S. 67) und zum anderen, wie involviert und persönlich betroffen sie durch das Entscheidungshandeln sind (basierend auf der Situational Theory of Publics, vgl. J. E. Grunig & Hunt, 1984, S. 145). Der Vorteil dieser Identifikation von Stakeholder-Typen besteht darin, dass man annehmen kann, dass alle Entscheidungsakteure unabhängig vom konkreten Bereich, in dem sie aktiv sind, mit diesen Anspruchsgruppen-Typen konfrontiert sind. Je nach Bereich handelt es sich dabei aber um verschiedene Gruppen, die es dann jeweils konkret zu identifizieren gilt. Wer sind nun diese Stakeholder-Typen, mit denen sich die Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidungsprozesses im Aushandlungsmodus konfrontiert sehen? Zuerst der Verhandlungsgegner, außerdem die interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen und schließlich sonstige sekundär relevante Stakeholder, wobei letztere Medien und Öffentlichkeit als eigene, wenn zunächst auch nur peripher relevante Anspruchsgruppe, einschließen. 221
222
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Bereits die Ableitung dieser Stakeholdertypen erlaubt es, Implikationen für die angestrebte Modellierung von Medieneinflüssen im Entscheidungshandeln abzuleiten (vgl. Abbildung 6): Verhandlungsgegner und interessenbasiert-involvierte Anspruchsgruppen wurden bereits in der Verhandlungsforschung thematisiert und die Interaktion mit ihnen soll in Form der organisationalen und der Verhandlungsumwelt modelliert werden. Hinzu kommt nun noch die Umwelt „Medien und Öffentlichkeit“. Hier müssen die Parameter insbesondere die Doppelfunktion widerspiegeln, die Medien und Öffentlichkeit zukommt. Diese spezifischen Funktionen, die Medien und Öffentlichkeit für den Entscheidungsakteur erfüllen, wurden auf Basis der funktionalen Differenzierung von van Aelst und Walgrave (2016) beschrieben (vgl. Kapitel 3.2.2.1): Demnach dienen Medien und breite Öffentlichkeit einerseits als Informationsquelle; andererseits als Arena, über die die Entscheidungsakteure ihre Botschaften an verschiedene Teilöffentlichkeiten vermitteln. Neben den spezifischen Funktionen hat sich gezeigt, dass weitere Faktoren und Eigenschaften die Interaktion mit der medialen und öffentlichen Umwelt prägen können: Zunächst kann die Prominenz eines Akteurs bzw. bereits vorhandenes öffentliches Interesse oder sogar Unterstützung für sein Anliegen als weiche Machtressource begriffen werden, da es solchen Akteuren vermutlich wesentlich einfacher und schneller gelingt, Aufmerksamkeit und Unterstützung zu generieren (ähnlich: „Medienpräsenz ist eine politische Machtprämie“, Korte & Fröhlich, 2009, S. 263). Darüber hinaus sind in der medialen und öffentlichen Umwelt auch harte, d. h. personale, finanzielle oder kompetenzbasierte Ressourcen von Vorteil, weil dann beispielsweise die eigene Öffentlichkeitsarbeit wesentlich effizienter und effektiver gestaltet werden kann. Schließlich kann auch angenommen werden, dass die persönliche Beziehung zu Journalisten bedeutsam sein kann, bedenkt man, dass diese auch als aktive Informationsressource fungieren können. Schließlich legen die zuvor ausgeführten Aspekte nahe, dass auch die grundlegenden Einstellungen des Entscheidungsakteurs gegenüber (einzelnen) Medien in dieser Umwelt bedeutsam sind (z. B. je höher die Reputation und der Einfluss, den er einzelnen Medien zuschreibt, desto mehr Bedeutung misst er den Inhalten bei, die über diese Kanäle vermittelt werden; vgl. Kepplinger, 2010d, S. 139). Hieran knüpft auch die Perspektive des wahrgenommenen Machtverhältnisses an: Wie sich bereits in Kapitel 2.2 zum Verhältnis Medien und Entscheidungsakteure herauskristallisiert hat, kann das Intereffikationsverhältnis mal zugunsten der einen, mal zugunsten der anderen Seite ausfallen, sodass sich ein dynamisches Wechselspiel in der Frage ergibt, wer den Tango zwischen Medien und Entscheidern führt. Neben der Ergänzung der Modellparameter um die Umwelt der Medienöffentlichkeit, lassen sich aus der vorliegenden Betrachtung jedoch noch weitere Ergänzungen ableiten, die insbesondere das Entscheidungshandeln der Funktionseliten tangieren:
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Nutzung Wahrnehmung/Antizipation der Inhalte Bewertung und Interpretation Kognitive Reaktionen: Influence of Presumed Media Influence; Hostile Media Emotionale Reaktionen
Verarbeitung von medialer und öffentlicher Kommunikation
Merkmale des Verhandlungsgeschehens
Medienbezogene Faktoren
Rahmenbedingungen
spezifische Faktoren für institutionalisierte Verhandlungen zwischen kollektiven Akteuren
Legende:
Verarbeitung öffentlicher Kommunikation
Strukturelle Rahmenbedingungen: Ausmaß an Kommerzialisierung Interaktion mit der Medienöffentlichkeit: Harte und weiche Machtressourcen Sozioemotionale Merkmale der Interaktion: Beziehung zu Medien/Journalisten, Beziehung zur allg. Öffentlichkeit; Funktionen von Medien und breiter Öffentlichkeit (Informationsfunktion & Arenafunktion) …
Mediale und öffentliche Umwelt: Bedingungen der Interaktion
Kontextfaktoren: Der Verhandlungsakteur in verschiedenen Umwelten
Formale Merkmale des komplexen Akteurs: Organisationsstruktur & -kultur, Größe & Ressourcenausstattung, Heterogenität der Mitgliederbasis Interaktion Repräsentant – Stakeholder: Formale Merkmale: Art des Mandats, Status, Mobilisierungsbasis Sozioemotionale Merkmale: Gruppenidentität, Motiv: Face Saving, wahrg. Vertrauen & wahrg. Ansprüche der Anhänger …
Organisationale Umwelt: Bedingungen der Interaktion mit den Anhängern
persönlicher Hintergrund, Geschlecht, Seniorität, Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Big 5; Need for Structure), subjektive (Gerechtigkeits-)normen, Selbstverständnis, individuelle Ziele
Individueller Verhandlungsakteur
Strukturelle Merkmale des Verhandlungskontextes: Strukturelle Konfliktkonstellation (z.B. Zahl der Beteiligten), strukturelle Machtkonstellation (z.B. BATNA), Konfliktaustragungsstruktur, Phase im Entscheidungsprozess, Eigenschaften des Gegenstandes Sozioemotionale Merkmale der Interaktion: Eigenschaften der Beziehung zum Gegner (wahrgenommenes Machtverhältnis, Vertrauen, Zuschreibungen an und Wahrnehmungen vom Gegner, gemeinsame Historie, Ausmaß an Unsicherheit); Motive (Eigeninteresse vs. gemeinsame Wohlfahrt) & Ziele (Präferenzen für Outcomes); Involvement in das Entscheidungsproblem …
Verhandlungsumwelt: Bedingungen der Interaktion mit dem Verhandlungsgegner
Wechselwirkungen zwischen Verhandlungsund kommunikativem Handeln in beiden Arenen
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Ökonomisch-rationelle und subjektiv-soziale Merkmale des Verhandlungsergebnisses
Merkmale des Verhandlungsgeschehens Konative Dimension des Kernentscheidungshandelns: Wahl der Verhandlungsstrategie (integrativ vs. distributiv) inkl. der Konzessionsund Kommunikationstaktiken (Ankereffekte setzen, Drohungen aussprechen)
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
Strategischtaktische Überlegungen (auf kognitiver und emotionaler Ebene)
Kommunikation über Zwischen- und Endstände im Aushandlungsprozess: Abhängig von der Art der adressierten Anspruchsgruppe (z.B. interessenbasiert-involvierte Anspruchsgruppen vs. breite Öffentlichkeit) und den kommunikativen Zielen (z.B. Überzeugen, Aufmerksamkeit vermeiden) werden verschiedene Maßnahmen (Erwartungsmanagement, Impression Management, Frame Building, etc.) ergriffen
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena:
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit 223
Abb. 6 Ausdifferenzierte Systematisierung der Einflussfaktoren für Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismus in der Mediengesellschaft
Quelle: Eigene Darstellung.
223
Background-Faktoren: gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer Kontext; kulturelle Faktoren, …
224
3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
Bereits die Auseinandersetzung mit den Anhängern im Kontext der Verhandlungsforschung (vgl. Kapitel 3.1.4) hat Hinweise darauf gegeben, dass neben der Interaktionsebene Verhandlungstisch noch eine weitere Ebene berücksichtigt werden muss: Das kommunikative Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena. Es hat sich gezeigt, dass es nicht reicht, mit dem Verhandlungsgegner hinter verschlossenen Türen einen guten Deal zu machen. Vielmehr muss man parallel mit den eigenen Anhängern interagieren, diese mitnehmen, um am Ende auch Akzeptanz für das gute Verhandlungsergebnis generieren zu können. Im Resultat sind an dieser Stelle also Kompensations-, Verstärkungs- und Spanungseffekte zwischen der nicht-öffentlichen Verhandlungsarena und der Interaktionsarena mit den eigenen Anhängern, d. h. den eigenen interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen, zu erwarten. Die zuvor angestellte Betrachtung hat dabei aufgezeigt, dass mit diesen interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen nur selten ausschließlich über interne und damit durch den Entscheidungsakteur kontrollierbare, nicht-öffentliche Kanäle interagiert werden kann. Weitaus häufiger findet diese Interaktion in einer (halb-)öffentlichen Arena statt, wobei der Grad an Öffentlichkeit als Kontinuum gedacht werden muss und abhängig von den Eigenschaften der Beziehung zu diesen interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen ist (wie heterogen und zahlenmäßig groß sind sie? Wie gut können sie identifiziert und adressiert werden?). Insbesondere die Vielzahl an potenziellen Gruppen, die zum Stakeholder-Typus der interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen gezählt werden können, legt nahe, dass es für dieses kommunikative Handeln nicht die eine öffentliche Arena geben kann. Vielmehr muss man von verschiedenen Teilbereichen der öffentlichen und medialen Arena ausgehen, in denen verschiedene Zielgruppen über verschiedene Maßnahmen adressiert werden sollen bzw. in denen mit verschiedenen Anspruchsgruppen interagiert wird: Nicht nur die Selbstdarstellung in der breiten medial-vermittelten Öffentlichkeit, sondern auch die deutlich abgeschirmtere Interaktion mit den eigenen Mitgliedern, die aber auch mit wachsender Zahl einen immer höheren Grad an Öffentlichkeit impliziert, weil man sich nie sicher sein kann, dass hier nichts „nach außen“ dringt. Aber auch die Interaktionsbetrachtung mit dem Verhandlungsgegner offenbarte, dass neben dem Geschehen am Verhandlungstisch auch parallel das kommunikative Handeln in der öffentlichen Arena berücksichtigt werden muss, weil es hier potenzielle Wechselwirkungen zwischen den Arenen geben kann: Etwa, wenn strategisches Handeln am Verhandlungstisch mit öffentlichen Maßnahmen ergänzt werden sollen (Indiskretion, Going Public; vgl. Fritz, 2012, S. 7–11; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10–11, 2011, S. 421). Die Auseinandersetzung mit dem Bezug der Entscheidungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit hat nicht nur aufgezeigt, dass sie sich als zusätzliche Handlungsarena qualifizieren, wo sie indirekt wirken, indem Funktionseliten versuchen ihre
3.2 Der Bezug der Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit
225
Kommunikationsinhalte und -wirkungen zu antizipieren und ihre Botschaften entsprechend darauf zuzuschneiden (funktionale bzw. finale Wirkungsperspektive, vgl. Kepplinger, 2008, S. 334). Vor allem der Verweis auf die Funktion von Medien und Öffentlichkeit als passive und aktive Informationsquelle (vgl. Van Aelst & Walgrave, 2016, S. 499–502) impliziert auch direkte Effekte (direkt im Sinne einer klassischen Wirkungslogik): Massenmedial vermittelte und öffentliche Kommunikation dient den Entscheidungsträgern als Quelle der Informationen zur allgemeinen Nachrichtenlage. Darüber hinaus liefern sie aber auch strategisch relevante Inhalte – beispielsweise solche, anhand derer Wirkungen auf die eigenen Anhänger abgeschätzt werden oder auf Basis derer Vermutungen zum Entscheidungsraum des Gegners angestellt werden können. Diese Perspektive unterstreicht in besonderem Maße die Bedeutung der Verarbeitung, Deutung und Interpretation von medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation (vgl. Anforderung 2, Kapitel 2.5.2). Konzeptionell wird dieser Aspekt im Modell als zentrale beeinflussende Instanz des Kernentscheidungs- und des kommunikativen Handelns von Entscheidungsakteuren berücksichtigt. Diese kognitiven und emotionalen Verarbeitungsaspekte und -dimensionen bilden die unabhängige Variable des hier vorgeschlagenen Modells. Die Zentralität der Wahrnehmungen und kognitiven sowie emotionalen Verarbeitung spiegelt sich zudem in der besonderen Konzeption von Medien und Öffentlichkeit im Rahmen dieser Arbeit – nämlich als wahrnehmungsbasierte Medienöffentlichkeit (vgl. Kapitel 2.5.2 und in der Modellierung in Kapitel 5) – wider. Diese Wahrnehmungen sind dabei nicht vollkommen entkoppelt von den tatsächlichen Inhalten der öffentlichen Kommunikation. Diesbezüglich ließ sich zeigen (vgl. Kapitel 3.2.2.2), dass zwar nur wenige Entscheidungsaktivitäten vom Radar der Medienöffentlichkeit erfasst werden, während das Gros unbeachtet bleibt oder maximal mit einer Randmeldung bedacht wird. Besondere Chancen, Aufmerksamkeit zu erregen, haben insbesondere solche Entscheidungsinstanzen, die mit einer breiten Betroffenheit in der Bevölkerung einhergehen und sehr konfliktreich sind. Wenn die Medien berichten, dann etablieren sie Aufbereitungs- und Darstellungsmechanismen, die dem Medialisierungsparadigma entsprechen (d. h. vermutlich durch Kommerzialisierung und Professionalisierung im Medienbereich getrieben sind; vgl. F. Esser, 2013, S. 166; Strömbäck & Esser, 2014, S. 17): Die Antagonismen zwischen den Kontrahenten werden zugespitzt, indem intensives Konflikt- und Game Framing betrieben wird. Die mediale Erzählung fokussiert sich auf einzelne Episoden, statt übergreifende thematische Zusammenhänge aufzuzeigen. Es dominieren hochrangige Akteure. Parteinahme und damit zusätzliche Polarisierung sind nicht unüblich. Dieses öffentliche und mediale Kommunikationsumfeld bildet die Basis für die Wahrnehmungen und die Verarbeitung der Entscheidungsakteure (Weichselbaum, 2016, S. 226). Dabei kann davon ausgegangen werden, dass Ent225
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3 Hintergrund: Verhandlungen in der Mediengesellschaft
scheidungsakteure diese Merkmale nicht eins zu eins so wahrnehmen, sondern, bedingt durch selektive Nutzung und Verarbeitung, Wahrnehmungsverzerrungen unterliegen (wie es beispielweise durch den Hostile Media Effekt, vgl. Vallone et al., 1985, beschrieben wird). Diese Perspektive bildet den Kern der Betrachtung in Kapitel 5, wenn die Verarbeitungs- und Wahrnehmungsaspekte modelliert werden. Eine letzte Erweiterung betrifft die strategisch-taktischen Überlegungen, die im unmittelbaren Vorfeld des Entscheidungshandelns der Funktionseliten anzusiedeln sind. Hier hat sich bereits in der Auseinandersetzung mit der Verhandlungsforschung gezeigt, dass das Handeln aus weit mehr als der Wahl der Verhandlungsstrategie sowie dem Einsatz geeigneter Taktiken besteht. Vielmehr müssen die strategisch-taktischen Überlegungen auf kognitiver Ebene unter Einbezug der emotionalen Ebene ebenfalls berücksichtigt werden (vgl. Kapitel 3.1.3). Die Beschäftigung mit der Medialisierungsperspektive und der Frage, wie man sich konkret das „Durchdringen“ durch die Medienlogik vorstellen muss (vgl. Kapitel 2.5.1) deutet ebenfalls auf die Bedeutung strategisch-taktischer Abwägungen hin. Dieser Aspekt wurde durch die Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit in ihrer Funktion als Arena im vorherigen Kapitel nochmals unterstrichen (vgl. Kapitel 3.2.2.1). In der Summe führen diese Betrachtungen zu folgendem Schluss: Zentraler Ankerpunkt für wahrnehmungs- und verarbeitungsbedingt kanalisierte Einflüsse der Medienöffentlichkeit auf das Kernentscheidungs- und kommunikative Handeln der Funktionseliten sind deren strategisch-taktische Überlegungen und Abwägungen. Diese müssen dabei umfassend verstanden werden, d. h. die Entscheidungsakteure führen alle Eindrücke, Voreinstellungen und Bedingungen aus den Umwelten, ihre aktuelle Wahrnehmung und Deutung der Kommunikationsinhalte aus der Medienöffentlichkeit und ihre strategischen Entscheidungen in der öffentlichen und der Verhandlungsarena darin zusammen. Da es nämlich Kompensations-, Verstärkungs- und Behinderungsphänomene im Zusammenspiel der beiden relevanten Arenen – Verhandlungs- vs. mediale öffentliche Arena – zu geben scheint, müssen Entscheidungsakteure auch beide Arenen gleichermaßen im Rahmen dieser strategisch-taktischen Überlegungen einbeziehen. Diese Dualität der strategisch-taktischen Überlegungen in Bezug zur Verhandlungsarena einerseits und zur öffentlichen und Medienarena andererseits, stellt in dieser Arbeit wiederum den zentralen Ankerpunkt dar, um Medialisierung in ihrem Ausmaß inhaltlich gehaltvoll greifbar machen zu können (ähnlich: Korte & Fröhlich, 2009, S. 269; Reinemann, 2010; vgl. hierzu Kapitel 4.4). Damit kann das Ziel, eine Momentaufnahme der Medialisierung des Entscheidungshandelns von gesellschaftlichen Funktionseliten theoretisch gehaltvoll zu modellieren, nun erfüllt werden (vgl. Kapitel 2.3). Die nachfolgenden Kapitel in Teil II dieser Arbeit widmen sich diesem Vorhaben.
Teil II Modellbildung Teil II Modellbildung Teil II Modellbildung
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228
Teil II Modellbildung
Nachdem nun die theoretische Grundlagenarbeit im ersten Teil dieser Arbeit abgeschlossen wurde, soll nachfolgend der Blick auf die Systematisierung der Modellparameter gerichtet werden (vgl. Abbildung 6). In diesem Teil der Arbeit ist es das Ziel, diese Einflussparameter als Kernkonstrukte eines theoretischen Modells aufzubereiten und die Verknüpfungen zwischen ihnen zu elaborieren. Im Ergebnis wird ein theoretisches Modell angestrebt, das systematischer empirischer Forschung eine solide Basis bereitstellen soll. Hinsichtlich der strukturellen Konzeption repräsentieren Teil I und Teil II in dieser Arbeit gedankliche Schritte angefangen bei einer sehr grundsätzlichen und breiten theoretischen Aufarbeitung der Thematik (vgl. Teil I) hin zu einem theoretisch-substantiell deduzierten, analytisch-gehaltvoll verdichteten Modell (Teil II). Im Zuge der breiten theoretischen Verortung der Frage, welche Rolle Medien und Öffentlichkeit in Entscheidungsprozessen von Funktionseliten spielen (vgl. Teil I), haben sich insbesondere die Medialisierungsperspektive und damit verwandte Ansätze und empirische Aktivitäten empfohlen (vgl. Kapitel 2): Basierend auf einem aktiven, strategisch handelnden – und nicht passiv, von den Medien unterworfenen – Akteursbild (vgl. Kapitel 2.2), erlauben sie es, die subtilen und indirekten Einflüsse zu beschreiben und analytisch-konzeptionell zu fassen, die im Zusammenspiel zwischen Medien und gesellschaftlichen Funktionseliten eine Rolle spielen. Nichtsdestotrotz ließen sich drei Desiderata identifizieren, die es zu adressieren gilt, damit die Modellierung erfolgreich sein kann (vgl. Kapitel 2.5). Diese drei Desiderata leiten im Wesentlichen das Vorgehen in der vorliegenden Arbeit. Nachfolgend werden die drei Desiderata daher nochmals rekapituliert und dargelegt, wie sie nun in der Modellbildung aufgegriffen werden. Diese Darstellung soll also gewissermaßen als Brücke zwischen den theoretischen Grundlagen in Teil I und der nun folgenden analytisch-motivierten Modellbildung fungieren. Die erste Lücke zielt auf die Konzeption des Handelns von Funktionseliten, wenn sie ein Entscheidungsproblem breiter Relevanz in der Mediengesellschaft adressieren: ▶ 1a) Wie lässt sich das Kernentscheidungshandeln der Funktionseliten im Kontext der Medienöffentlichkeit konzipieren? ▶ 1b) Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das öffentliche Kommunikationshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten? (vgl. Kapitel 2.5.1) Zur Konzeption des Kernentscheidungshandelns von gesellschaftlichen Funktionseliten erwiesen sich Verhandlungen als geeigneter Mechanismus (vgl. Kapitel 3.1). Die Auseinandersetzung mit der sozialpsychologischen Perspektive der Verhandlungsforschung erlaubte es dabei, Wesensmerkmale (Kapitel 3.1.2) und die zentralen Parameter (Kapitel 3.1.3 und 3.1.4) abzuleiten, um das Kernentscheidungshandeln
Teil II Modellbildung
229
im Aushandlungsmodus beschreiben und analytisch fassen zu können. In Kapitel 4 soll nun an diesem Punkt angesetzt werden, indem die Aktivitäten der Entscheider in der Verhandlungsarena mit der Kommunikationsperspektive verknüpft werden. Zentral ist dabei der Gedanke, dass das Kernentscheidungshandeln vom kommunikativen Handeln klar abgegrenzt werden muss, um zu gehaltvollen Erkenntnissen gelangen und auch die Interaktion zwischen beiden fassen zu können (nur so lassen sich auch die unterschiedlichen Befunde zur Medialisierung dieser beiden Handlungssphären miteinander in Einklang bringen, vgl. Kapitel 2.3.2.1 und 2.3.2.2). Als verbindendes Konstrukt zwischen Medienöffentlichkeit und der Verhandlungsarena haben sich in Kapitel 3 die strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheidungsakteure empfohlen. Diese bilden gewissermaßen den Höhepunkt der Modellierung in Kapitel 4, weil anhand derer das Ausmaß an Medialisierung des Handelns von Funktionseliten beschrieben werden kann. Zugleich bauen diese strategisch-taktischen Überlegungen die Brücke zur kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung der Funktionseliten mit den Inhalten, Botschaften und Stimmungen in der Medienöffentlichkeit, was als zweite konzeptionelle Lücke ausgemacht wurde: ▶ 2) Wie lassen sich die Mechanismen konzipieren, die medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit den Weg in den Entscheidungsprozess von Funktionseliten bahnen? Welche Rolle spielt die psychologische Verarbeitung von und Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit und Kommunikation (d. h. das medien- und öffentlichkeitsbezogene Bewusstsein, die entsprechenden Wahrnehmungen und Überlegungen) im Zusammenhang mit dem Kernentscheidungshandeln der Eliten einerseits und ihrem Kommunikationshandeln andererseits? (vgl. Kapitel 2.5.2) Die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung, Verarbeitung, Einordnung und Interpretation der (medial vermittelten) öffentlich kommunizierten Inhalte vermag eine Antwort darauf zu liefern, wie sich die Einflüsse, die mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit sowie Kommunikation einhergehen, ihren Weg in das Entscheidungshandeln der Funktionseliten bahnen. Als zentrale Stellschraube in diesem Zusammenhang verweist die Medialisierungsforschung auf die Art und Intensität der Beziehung zwischen Medienöffentlichkeit und gesellschaftlichen Funktionseliten (vgl. Kapitel 2.3.1). Die Auseinandersetzung mit der Frage, wann, warum und wie stark gesellschaftliche Funktionseliten auf mediale und öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung angewiesen sind (vgl. Kapitel 3.2) – d. h. wann und warum sie mit dieser wie interagieren – offenbarte ein vielfältiges Beziehungsgeflecht, indem sich die Funktionseliten bewegen. Darin nehmen Medien und 229
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Teil II Modellbildung
Öffentlichkeit eine Scharnierposition ein, die mit vielfältigen Einflusspotentialen einhergeht (vgl. Kapitel 3.2.2.1). Um diese greifen zu können, wird hier vorgeschlagen, die subjektive Perspektive der betroffenen Entscheidungsakteure einzunehmen und zu fragen, was diese an öffentlich kommunizierten Inhalten wahrnehmen und welche Bedeutung und Wirkung sie diesen zuschreiben (wahrnehmungsbasiertes Konzept der Medienöffentlichkeit). Diese Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen und kognitiven sowie emotionalen Reaktionen der Funktionseliten auf die öffentlichen und medial vermittelten Kommunikationsinhalte verweist insbesondere auf wahrnehmungsbasierte Modelle aus der Medienwirkungsforschung (reziproke Effekte, Kepplinger, 2010d, sowie „mental mediatization“ Marcinkowski, 2014, S. 16; vgl. außerdem Forschung zum Influence of Presumed Media Influence sowie dem Hostile Media Phänomen: Gunther & Storey, 2003; Tal-Or et al., 2009; Vallone et al., 1985) sowie neuere Ansätze, die zusätzlich die affektiv-emotionale Dimension solcher Wirkungen berücksichtigen (vgl. z. B. Matthes & Beyer, 2017; Post, 2019). Dies soll in Kapitel 5 aufgearbeitet werden. Neben der Konzeption des Entscheidungshandelns und der Frage, wie sich medien- und öffentlichkeitsbezogene Einflüsse ihren Weg dahin bahnen, griff die dritte Forschungslücke auf, was getan werden muss, um solche Einflüsse möglichst valide identifizieren zu können. Dazu wurde auf die Notwendigkeit der Kontextualisierung verwiesen: ▶ 3) Welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, um die Einflüsse aus der psychologischen Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit auf das Kernentscheidungs- und öffentliche Kommunikationshandeln gesellschaftlicher Funktionseliten zu konzipieren und zu untersuchen? Welche Effekte gehen von den entsprechend relevanten Rahmenbedingungen auf diesen Kernzusammenhang zwischen psychologischer Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit und dem Handeln der Funktionseliten aus? (vgl. Kapitel 2.5.3) Mit Blick auf diese Anforderung der Kontextualisierung erlaubte es die Verhandlungsforschung, die primär relevanten Umwelten zu identifizieren, in denen sich die Funktionseliten im Zuge des Kernentscheidungsprozesses bewegen (vgl. Kapitel 3.1): die Verhandlungsumwelt einerseits, in der die interdependenten Verhandlungsakteure versuchen, einen Kompromiss für ihre Interessengegensätze zu finden und so den sozialen Konflikt bzw. das Koordinationsproblem zu lösen. Andererseits die organisationale Umwelt, da die beteiligten Akteure nicht ihre eigenen Interessen, sondern als Repräsentanten die einer dahinterstehenden Organisation und ihrer Mitglieder vertreten (vgl. Kapitel 3.1.4). Diese wurden anschließend in der
Teil II Modellbildung
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Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Bezug die Verhandlungsakteure zu Medien und Öffentlichkeit haben, um Prädiktoren aus dieser dritten Umwelt, der Medienöffentlichkeit, ergänzt (vgl. Kapitel 3.2). Die Modellierung der zentralen Parameter in diesen drei Kontexten – Verhandlungs-, Organisations- und Medienöffentlichkeitsumwelt – erfolgt in Kapitel 6. Als Schablonen bzw. Hintergrundfolien der Systematisierung der Einflussfaktoren dienten insbesondere das Modell reziproker Effekte von Kepplinger (2007, 2010d) sowie das Differential Susceptibility to Media Effects Model von Valkenburg und Peter (2013). Ersteres sucht Medieneffekte auf diejenigen Akteure zu beschreiben, über die die Medien berichten, die sog. Protagonisten der Medienberichterstattung (Kepplinger, 2007, 2010d). Dabei verknüpft es die besonderen Eigenschaften dieser Protagonisten (z. B. hohes Involvement in die Thematik) mit der kognitiven und emotionalen Verarbeitung der Berichterstattung über sie (insb. Wahrnehmung der Inhalte, Bewertung und Einordnung ebenso wie kognitive und emotionale Reaktionen) und leitet daraus Implikationen für potenzielle Verhaltensreaktionen ab (ähnlich auch das Konzept der „mental mediatization“ von Marcinkowski, 2014, S. 16). Das Differential Susceptibility to Media Effects Model von Valkenburg und Peter (2013) liefert dabei eine Basis, um die Kontextfaktoren in ihrer Wirkung auf den Kernzusammenhang zwischen Verarbeitung medialer und öffentlicher Kommunikation sowie den Folgen daraus für das Kernentscheidungs- und kommunikative Handeln der Funktionseliten zu modellieren. Es abstrahiert dabei von konkreten Einflussfaktoren und systematisiert stattdessen verschiedene Typen an Faktoren, die Medieneffekte begünstigen/behindern können. Dadurch hilft es, monokausale und unidimensionale Medienwirkungsmodelle zu vermeiden. Auf Basis dieser beiden Ansätze ließen sich übergeordnete Einflussdimensionen gewissermaßen als leere analytische Container extrahieren, in die die zahlreichen Parameter aus der grundständigen Theoriearbeit in Kapitel 3 einsortiert wurden. Auch auf die Frage, wie diese übergeordneten Faktorenbündel miteinander korrespondieren, liefern die Modellschablonen bereits erste Hinweise. Diese gilt es nachfolgend unter Rückgriff auf spezifischere Forschungsarbeiten zu elaborieren. Die Darstellung nimmt dabei ihren Ausgangspunkt bei den Zielkonstrukten, die im Modell als abhängige Konstrukte konzipiert werden: Das Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena sowie das kommunikative Handeln in der medialen und öffentlichen Arena (vgl. Kapitel 4). Anschließend werden die zentralen beeinflussenden Mechanismen in den Blick genommen (vgl. Kapitel 5): Auf Basis der kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung mit und Verarbeitung von Inhalten aus der Medienöffentlichkeit werden, so die Annahme, Einflüsse der Medienöffentlichkeit auf das Kernentscheidungshandeln und das Kommunikationshandeln kanalisiert. Diese Verknüpfung aus der individuellen psychologischen Auseinandersetzung 231
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Teil II Modellbildung
mit der Medienöffentlichkeit (explanans) und den Zielvariablen in der Verhandlungs- sowie medialen Öffentlichkeitsarena (explanandum) bildet den Kernzusammenhang der vorliegenden Arbeit. Sie adressiert die Kernfrage nach der Rolle der Medienöffentlichkeit im Entscheidungshandeln der Funktionseliten. Darüber hinaus werden mit der organisationalen, Verhandlungs- und Medienöffentlichkeitsumwelt die Rahmenbedingungen aufgearbeitet, in denen sich die Funktionseliten bewegen (vgl. Kapitel 6). Abschließend erfolgt eine reflektierende Diskussion des theoretisch-deduzierten Modells, Ansatzpunkte für empirische Forschung werden aufgezeigt und ein erster Versuch wird unternommen, die eingangs aufgeworfene normativ konnotierte Frage nach der Rolle der Medienöffentlichkeit in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten auf Basis des bisherigen Forschungsstandes zu beantworten (vgl. Kapitel 7): In der Summe soll diese Modellierung es erlauben, eine differenzierte theoretisch-deduzierte Antwort darauf abzuleiten, ob und welche Effekte von öffentlicher und medialer Beobachtung tatsächlich auf die Entscheidungsfindung von gesellschaftlichen Funktionseliten ausgehen (vgl. Problemstellung in Kapitel 1.1). Nur so lässt sich die Frage nach dem wünschenswerten Ausmaß der Transparenz in Entscheidungssystemen auf Basis solider und differenzierter Erkenntnisse normativ einordnen.
Abhängige Konstrukte: Konzeption des Entscheidungshandelns in der Medienarena
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4 Abhängige Konstrukte 4 Abhängige Konstrukte
Gesellschaftliche Entscheidungsträger haben die verantwortungsvolle Aufgabe, geeignete Lösungen für Koordinationsprobleme und soziale Konflikte von breiter gesellschaftlicher Relevanz zu erarbeiten. Dabei haben ihre Entscheidungen Folgen für weitaus mehr Menschen als nur sie selbst (M. Hartmann, 2004, S. 62; Keller, 1991, S. 4; vgl. Definition gesellschaftliche Funktionseliten Kapitel 2.1). Es hat sich aber gezeigt, dass allein das, also eine „gute Entscheidung“ zu treffen, nicht ausreicht. Vielmehr muss diese Performanz auch öffentlich zur Kenntnis genommen werden (Keller, 1991, S. 97; Landerer, 2015, S. 50). Insofern besteht neben dem Anspruch, eine optimale Lösung für das Koordinationsproblem auszuhandeln, die Notwendigkeit, diesen Prozess kommunikativ zu begleiten oder mindestens nach erfolgter Entscheidungsfindung zu rechtfertigen (Eisenegger, 2004, S. 265; Korte & Fröhlich, 2009, S. 21). Diese Notwendigkeit muss dabei nicht zwangsläufig als exogener Druck oder Zwang verstanden werden (z. B. gesetzlich vorgeschriebene Transparenzmaßgaben wie etwa bei börsennotierten Unternehmen, vgl. Zerfaß, 2014, S. 52, oder öffentlicher Druck, eine Entscheidung zu rechtfertigen). Denkbar ist auch, dass gesellschaftliche Funktionseliten die öffentliche Kommunikation nebst der Kernentscheidungsfindung freiwillig als Mittel zum Zweck – gewissermaßen als strategisches Instrument – nutzen, um beispielweise ihre Einflusschancen über breite öffentliche Unterstützung zu erhöhen (vgl. Kapitel 3.2.2.1 sowie Fawzi, 2014, S. 76; Grande, 2000, S. 138; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 504). Daher stellt die öffentlichkeitsorientierte Kommunikationsarbeit neben dem Kernentscheidungshandeln einen zentralen Bestandteil der Aktivitäten von gesellschaftlichen Funktionseliten dar (Blumler & Kavanagh, 1999, S. 214; Donges, 2008, S. 213; Fawzi, 2014, 191, 193; M. Hartmann, 2006, S. 66; Röttger, 2015, S. 13). Für Landtags- und Bundestagsabgeordnete kommt Pontzen (2006, S. 87) in einer Befragung im Jahr 2005 (N = 431) sogar zu dem Ergebnis, dass sich beide Bereiche mit Blick auf die Zeit, die dafür
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Viehmann, Korsett und Machtressource, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32009-6_4
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aufgebracht wird, in etwa die Waage halten (51 % Kernentscheidungs- und 49 % kommunikatives Darstellungshandeln). Gesellschaftliche Entscheidungsträger agieren also in – mindestens – zwei Arenen: der (medienvermittelten) Öffentlichkeit und der Entscheidungsarena (vgl. Abbildung 6). Diese Arenen sollen nachfolgend als Grundlage dienen, um die abhängigen Konstrukte der hier angestrebten Modellierung zu konzeptionieren, indem über die Arenen die verschiedenen potenziellen Aktivitäten der Entscheidungsträger beschrieben werden. Vergleichbare Unterscheidungen wurden bereits von mehreren Autoren vorgeschlagen bzw. zur Konzeption des Handelns von gesellschaftlichen Funktionseliten – vor allem Politikern – herangezogen. Insbesondere die Theatermetapher von Goffmann (1959) diente vielen dabei als Ausgangsgedanke: Er unterschied zwischen der inszenierten „performance“ von Menschen auf einer sog. frontstage, die darauf abzielt, gegenüber einem Publikum ein möglichst vorteilhaftes Bild von sich zu vermitteln (Goffmann, 1959, S. 15–16, 107). Das Pendant zu dieser frontstage ist die backstage, auf der die Maskerade fallen gelassen wird, man sein wahres Gesicht zeigt und sich nicht verstellen muss, wo all die verborgenen, unerwünschten Merkmale des Selbst zum Vorschein kommen (Goffmann, 1959, S. 111–113). Diese Metapher, bezogen auf allgemeines menschliches Verhalten, fand in unterschiedlichen Bereichen Anklang. Vor allem die Vorderbühne und wie sich politische Akteure auf dieser bewegen, stand im Fokus von Edelmanns (1985) Forschungsinteresse: Dabei ergab sich für ihn der Unterschied zwischen symbolic politics einerseits und Politik, die die tatsächliche Durchsetzung von politischen Interessen zum Gegenstand hatte, andererseits (Edelmann, 1985, S. 5). Erstere ziele – vergleichbar zu Goffmanns (1959, S. 15–16) performance-Gedanke – durch eine ausgeprägte Selbstinszenierung, die von emotional aufgeladenen Narrativen begleitet werde und dabei stark auf die Symbolkraft von Handlungen setze, darauf ab, die Bürger zu beruhigen und ihnen den Eindruck zu vermitteln, man kümmere sich kompetent und engagiert um ihre Anliegen (Edelmann, 1985, 8, 17). Gleichzeitig sei es so möglich, die öffentliche Aufmerksamkeit von der Hinterzimmerpolitik abzulenken, wo verschiedene, mitunter auch mächtige (Partikular-)Interessen, ihre Vorstellungen an der Öffentlichkeit vorbei durchsetzen konnten, weil das Gros des Demos dort nämlich keinen Zugang habe (Edelmann, 1985, 5, 17; ähnlich Goffmann, 1959, S. 113 zur Hinterbühne im Theater). Der Gedanke, dass es im Bereich des Politischen verschiedene Handlungsebenen gibt, die sich im Ausmaß der öffentlichen Beobachtbarkeit unterscheiden, findet sich bis heute in der politikwissenschaftlichen Theorie – wenn auch weniger negativ konnotiert als bei Edelmann: So ist etwa die Rede von der „Ebene der Realpolitik“ in der Verhandlungsdemokratie und der „Ebene der Publizität“ in der Mediendemokratie (Grande, 2000, S. 123, 127–128). Alternativ wird zwischen Dar-
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stellungs- und Herstellungspolitik unterschieden. Erstere bezieht sich auf die mediale Vermittlung von Politik sowie all jene Aktivitäten, die im Stile einer symbolträchtigen Inszenierung dazu beitragen sollen, dass diese Vermittlung optimal abläuft. Deshalb folgen Akteure in dieser Handlungsarena den Aufmerksamkeitskriterien der Massenmedien. Die Herstellungspolitik beschreibt dagegen das Handeln im Routine-Gesetzgebungsprozess, das den Verfahrensmerkmalen des Politischen folgen sollte (Korte & Fröhlich, 2009, S. 13; Sarcinelli, 2011, S. 120, 127–129). In diesem Zusammenhang ist Sarcinelli (2011) jedoch in zweierlei Hinsicht um Klarstellung bemüht: Zunächst betont er aufbauend auf und zugleich abgrenzend zu Edelmann (1985), dass Symbolpolitik als negativ konnotiertes Konzept im Sinne von „politische Schauspielerei, hohles Spektakel, für eine auf Täuschung angelegte politische Inszenierung, für politisch-unpolitisches Placebo“ (Sarcinelli, 2011, S. 137) die funktionalen Aspekte dieser Form der Vermittlung des Politischen ausblende (Sarcinelli, 2011, S. 141, 145, 151). Dies geht zweitens damit einher, dass die Unterscheidung zwischen Herstellungs- und Darstellungspolitik nicht exkludierend zu verstehen sei, sondern vielmehr geht es „um zwei in spezifischer Weise aufeinander bezogene, gleichwohl unterschiedlichen Funktionslogiken folgende Teilsysteme des politischen Produktionsprozesses“ (Sarcinelli, 2011, S. 120), die über verschiedene Regeln das Handeln der politischen Akteure leiten. Der Gedanke, dass verschiedene Regelsysteme und Rahmenbedingungen leitend sind, findet sich auch in der Unterscheidung zwischen polity, politics und policy wieder. Diese wurden als verschiedene Bestandteile der politischen Logik in der Medialisierungsforschung konzipiert (F. Esser, 2013, S. 164; Strömbäck & Esser, 2014, S. 15). Während sich polity auf die institutionelle Struktur des politischen Systems bezieht, verkörpert die policy-Sphäre die Entscheidungsarena (d. h. die „production side of politics“) und die politics-Sphäre die „self-presentational side of politics“ (F. Esser, 2013, S. 165). Dass mit den Arenen verschiedene Handlungslogiken einhergehen, die sich entsprechend auch in den kognitiven und einstellungsbasierten Strukturen der Akteure widerspiegeln, verdeutlicht die Unterscheidung zwischen „governing“ und „campaigning“, wie sie von Gutmann und Thompson (2010) vorgeschlagen wurde: Während für das governing ein „mindset of political compromise“ (Gutmann & Thompson, 2010, S. 1125) notwendig sei, das es erlaubt, Kompromisse einzugehen, um Lösungen für substantielle politische Interessenskonflikte zu finden (Gutmann & Thompson, 2010, S. 1127), geht es beim Campaigning darum, öffentliche Unterstützung zu generieren, wodurch grundlegende Prinzipien der Kompromissfindung ausgeschaltet würden (man beharrt auf seinen Positionen und versucht sich gegenüber den Kontrahenten scharf abzugrenzen statt Räume für Kompromisse aufzuzeigen; Gutmann & Thompson, 2010, S. 1128). 235
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Konstitutiv für die Existenz der verschiedenen Handlungsebenen mit ihren Regeln und Prinzipien sowie deren einstellungsbasierte und kognitiven Repräsentationen im Sinne eines mindset of political compromise ist die Tatsache, dass Akteure damit einhergehend verschiedene Ziele verfolgen: Strøm und Müller (1999, S. 5–9) haben ein Konzept vorgeschlagen, das später von Landerer (Landerer, 2013, S. 247, 2015) aufgegriffen wurde, um die Logik des Handelns von politischen Akteuren zu konzipieren. Diese Ansätze beziehen sich auf die „ultimate goals“ (Landerer, 2013, S. 247), die politische Akteure verfolgen – nämlich substantiellen Einfluss auf die Politikinhalte nehmen, politische Ämter besetzen und Wahlerfolge erzielen (vote- vs. policy- vs. office-seeking). Es ergibt sich den jeweiligen Autoren zufolge die Implikation, dass selten die Ziele in allen Bereichen gleichzeitig maximiert werden können. Vielmehr gehe der Erfolg in einem Bereich zu Lasten des Erfolgs in anderen Bereichen: „Occasionally, party leaders may find themselves in the fortunate situation that strategies that maximize one of their objectives are also the best means to the others. Much more commonly, however, there are likely to be trade-offs between their different goals, and party leaders find that they have to compromise on some goals in order to reach others“ (Strøm & Müller, 1999, S. 10). Die Hauptimplikation aus dieser Unterscheidung zwischen einer Produktionsebene gesellschaftlicher Entscheidungen, die abseits der Öffentlichkeit auf einer Hinterbühne anzusiedeln ist, und einer Präsentationsebene der Entscheidungen, die auf der öffentlichen Vorderbühne verortet wird, ist Folgende: Das Handlungsrepertoire von gesellschaftlichen Funktionseliten umfasst ganz unterschiedliche Aktivitäten. Diese Aktivitäten folgen unterschiedlichen Regeln und werden zur Erreichung verschiedener Ziele eingesetzt. Einerseits solche Aktivitäten, die tatsächlich im Kern dazu dienen, eine Entscheidung zur Lösung des gesellschaftlichen Koordinationsproblems herbei zu führen (hier in der Arbeit stets als Kernentscheidungshandeln bezeichnet). Andererseits Aktivitäten, bei denen es um die symbolische Aussagekraft, d. h. die öffentliche Darstellung, Vermittlung und Inszenierung geht (hier in dieser Arbeit als kommunikatives Handeln bezeichnet) – also beispielweise die ausgefeilte Gestaltung der kommunikativen Botschaften, um maximale Aufmerksamkeitswirkung bei den gewünschten Adressaten zu erzielen (Edelmann, 1985, S. 8; Landerer, 2015, S. 135). Analog dazu spiegelt sich diese Differenzierung auch darin wieder, welche Handlungen im Zuge der Systematisierung der Einflussfaktoren in Teil I den beiden Arenen im Modell zugeordnet wurden (vgl. Abbildung 6): In der Kernentscheidungsarena, die über Verhandlungsprozesse konzipiert wird (Verhandlungsarena), geht es um strategisches Handeln am Verhandlungstisch (i. e., Strategiewahl), während die mediale und öffentliche Arena die Gestaltung des kommunikativen Handelns beschreibt.
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Bedenkt man an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Anspruchsgruppen von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern in Kapitel 3.2.1, so ließen sich neben der Verhandlungsarena und der medienvermittelten öffentlichen Arena noch zahlreiche weitere Arenen ableiten. Manche sprechen etwa von der internen Arena, um die Interaktionsebene mit den eigenen Organisationsmitgliedern (Mitarbeiter, Mitglieder bei einem Verband), oder der Marktarena, um die Interaktion mit Kunden oder Investoren auf Basis von marktbasierten Prozessen zu beschreiben (Schmid & Lyczek, 2008, S. 70). Mit Blick auf die Modellierung der Einflüsse, die aus der Interaktion von Entscheidungsträgern mit der Medienöffentlichkeit auf deren Entscheidungshandeln resultieren, wird allerdings davon abgesehen, weitere Arenen zu differenzieren. Dies gründet vor allem auf folgender Überlegung: Für die vorliegende Problemstellung ist vor allem die Unterscheidung relevant, ob das Handeln der Entscheidungsträger in einem öffentlich zugänglichen und beobachtbaren Rahmen erfolgt oder nicht-öffentlich stattfindet. Denn mit dieser Unterscheidung gehen, wie oben zu sehen war, unterschiedliche Bezugslogiken einher, die im Wesentlichen als inkompatibel zueinander erachtet werden (Fawzi, 2014, S. 297; Floss & Marcinkowski, 2008, S. 5; Jarren, 1994, S. 665; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 303; Korte & Fröhlich, 2009, S. 233; Landerer, 2015, S. 50; Sarcinelli, 2011, S. 120): „einerseits diskretes Aushandeln, andererseits medientaugliches Verwerten“ (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 416). Sarcinelli (2011, S. 131) spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Spannungsverhältnis, das Politiker zu der vermeintlichen ‚Schizophrenie‘ veranlasst, sich im Entscheidungsbereich von Politik anders zu verhalten als im Vermittlungsbereich“. Trotzdem ist diese Unterscheidung nur idealtypisch und nicht im Sinne eines schwarz-weißen Schemas zu verstehen – wonach die Verhandlungsarena vollkommen abseits der öffentlichen Beobachtung stattfindet, während die mediale Öffentlichkeit die maximal öffentliche Variante ist. Auch in der Verhandlungsarena finden sich verschiedene Öffentlichkeitsgrade (vgl. Czada, 2014) – etwa wenn in der Tarifpolitik zu Beginn in der sog. große Runde verhandelt wird, die sich Zug um Zug verkleinert, wenn es an die Details geht. Umgekehrt ist die mediale Öffentlichkeit ebenfalls so zu verstehen, dass hier verschiedene Grade an Öffentlichkeit denkbar sind: Die Interaktion mit den Mitgliedern der eigenen Organisation gilt klassischerweise als interne (d. h. nach außen möglichst abgeschottete) Kommunikation, wobei hier nie ausgeschlossen werden kann, dass etwas „nach draußen“ dringt.80 Demnach 80 Beispielhaft sei hier folgende Passage aus einem Artikel der FAS angebracht, in dem die Folgen aus der Monsanto-Krise, insbesondere die verweigerte Entlastung des Vorstandes auf der Hauptversammlung der Aktionäre im April 2019, diskutiert werden: „Trotzdem scheint die Bayer-Führung begriffen zu haben, dass sie etwas ändern muss. In einem 237
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ist auch in der medialen und öffentlichen Arena ein Kontinuum an verschiedenen Öffentlichkeitsgraden denkbar. Zentral ist aber, dass die grundlegende Ausrichtung und Richtschnur in der Verhandlungsarena die der Nicht-Öffentlichkeit und in der medialen und öffentlichen Arena die der (gezielten) Öffentlichkeitsherstellung ist. Diese unterschiedlichen Bezugslogiken resultieren wiederum in Unterschieden in den strategischen Kalkülen, Motiven und Wahrnehmungen der Entscheidungsakteure, wobei es vermutlich zu zahlreichen Spannungsmomenten kommt (Korte & Fröhlich, 2009, S. 233; Sarcinelli, 2011, S. 131; Schrott & Spranger, 2007, S. 7), da die Inkompatibilität zwischen den Arenen von den Entscheidungsakteuren überbrückt werden muss (siehe Kapitel 4.4; vgl. auch die Ergebnisse von Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Diese Spannungsmomente müssen identifiziert und beschrieben werden, um besser verstehen zu können, welche Rolle Medien und Öffentlichkeit in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten spielen (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 423; Strøm & Müller, 1999, S. 12). Wenngleich die Unterscheidung auch idealtypisch ist, so ist sie dennoch hilfreich, um diese Spannungsmomente greifbar zu machen und die vorliegende Problemstellung zu adressieren: Indem nun diese zwei grundlegenden Handlungsarenen gesellschaftlicher Funktionseliten differenziert werden, lassen sich die verschiedenen Aktivitäten, die zum typischen Handlungsrepertoire in den jeweiligen Arenen zählen, identifizieren, vor dem Hintergrund ihrer Motive, Kalküle und Rahmenbedingungen modellieren und voneinander abgrenzen (ähnlich argumentieren: Edelmann, 1985, S. 12; Fawzi, 2014, S. 224). Dadurch lassen sich die konzeptionsleitende Fragestellungen 1a und 1b danach, wie sich „Entscheiden“ konzeptionell fassen und vom kommunikativen Handeln abgrenzen lässt, adressieren (vgl. Kapitel 2.5.1). Dadurch kann auch vermieden werden, nur einen Teil der Aktivitäten zu berücksichtigen, während andere relevante Handlungen der Entscheidungsträger außen vor bleiben. So zeichnet sich beispielsweise im aktuellen Stand der empirischen Medialisierungsforschung die Tendenz ab (vgl. Kapitel 2.3.2), dass häufig(er) – oder zumindest differenzierter – die öffentlichen Kommunikationsaktivitäten untersucht wurden, während die Kernentscheidungsaktivitäten außen vor geblieben sind (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 57; Landerer, 2015, S. 117; Melenhorst, 2015, S. 299; Sarcinelli, 2011, S. 126; Schrott & Spranger, 2007, S. 3). Damit läuft man aber Gefahr, voreilig vom Ausmaß der Medialisierung in einem Bereich auf den Medialisierungsgrad in anderen Aktivitätenbereichen zu schließen, ohne die entsprechende Evidenz zu haben (Reinemann, 2010, S. 287; vgl. hierzu auch das Brief an die Mitarbeiter, der der F.AS. vorliegt, gibt man sich zerknirscht: ‚Wir verstehen die Stimmung unserer Aktionäre und teilen ihre Enttäuschung(…)‘“ (Hervorhebung CV) (Kremer, 2019, S. 17).
4.1 Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
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Resümee aus dem bisherigen Forschungsstand zu Medialisierungsfolgen in Kapitel 2.4 und 2.5). Auch erlaubt es diese umfassende(re) Konzeption des Handelns gesellschaftlicher Funktionseliten, spezifische und charakteristische Handlungsmuster zu identifizieren – beispielsweise inwieweit sich gesellschaftliche Funktionseliten an Aktivitäten der öffentlichen Kommunikation wie Pressekonferenzen beteiligen und inwieweit sie an Kernentscheidungsprozessen wie an einer Kommissionssitzung zu einem aktuellen Thema teilnehmen. Erst dieses Zusammenspiel aus Aktivitäten auf der Herstellungs- und Darstellungsebene von gesellschaftlich relevanten Entscheidungen erlaubt es, das Ausmaß an Medialisierung gehaltvoll und differenziert zu beurteilen (vgl. hierzu Kapitel 4.4 sowie Reinemann, 2010, S. 288; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 423). Im Folgenden werden die beiden Arenen – die Verhandlungsarena (vgl. Kapitel 4.1) und die medienvermittelte Öffentlichkeitsarena (vgl. Kapitel 4.2) – näher beschrieben und jeweils konkrete Handlungen dargestellt, die die Entscheidungsträger in diesen Arenen vollziehen. Nachdem abgleitet und abgegrenzt wurde, welche Aktivitäten zum Standardrepertoire in welcher Arena zählen, sollen anschließend potenzielle Wechselbeziehungen aufgeschlüsselt werden (vgl. Kapitel 4.3). Damit sind solche Aktivitäten gemeint, die eigentlich zum Standardrepertoire in einer Arena zählen, aber instrumentell eingesetzt werden, um ein Ziel in einer anderen Arena zu erreichen (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 346). Schließlich soll die Betrachtung in Kapitel 4.4 zugespitzt werden, indem das zentrale Konstrukt in den Blick genommen wird, das das Handeln der Funktionseliten in den verschiedenen Arenen bestimmt: Die strategisch-taktischen Überlegungen, Abwägungen und Kalküle. Anhand derer wird es erstens möglich, sich dem vielfach vage gebrauchten Konzept der Logiken in der Medialisierungsforschung gehaltvoll zu nähern. Zweitens erlauben es diese zentral angesiedelten Überlegungen, das Ausmaß an Medialisierung oder den Grad an Medialisierung analytisch gehaltvoll zu modellieren.
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Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
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Entscheidungsfindung in modernen Gesellschaften erfordert die Koordination diskrepanter, aber voneinander abhängiger Interessen, die oft in mehreren Dimensionen miteinander verflochten sind (L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 1). Zur Bewältigung dieser Koordinationsprobleme sieht die politikwissenschaftliche Governance-Perspektive verschiedene Koordinationsmechanismen vor – etwa Verhandlungen, den Marktmechanismus, die hierarchiegestützte Steuerung oder Entscheidungen über Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip (Holzinger, 2007, S. 313; Lehmbruch, 239
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2000, S. 15; Scharpf, 1991, S. 5). Im Gegensatz zu anderen Koordinationsmechanismen gewinnen Verhandlungen immer mehr an Bedeutung (Korte & Fröhlich, 2009, S. 240; Marcinkowski, 2014, S. 15), weil sie besonders geeignet sind, komplexe Koordinationsprobleme effizient zu lösen (da z. B. alle Perspektiven gehört und in die Lösung integriert werden, ist die Akzeptanz für solche Lösungen im Vergleich zu anderen Koordinationsmechanismen höher; siehe Meade & Stasavage, 2006, S. 124; Schrott & Spranger, 2007, S. 3; Thompson et al., 2010, S. 492). Konkret ist mit Verhandlungen ein Mechanismus gemeint, der „two or more interdependent parties who perceive incompatible goals and engage in social interaction to reach a mutually satisfactory outcome“ umfasst (L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3). Die Kernentscheidungsfindung, d. h. die Koordination zwischen den unterschiedlich gelagerten und zugleich voneinander abhängigen Interessen erfolgt dann dergestalt, dass die beteiligten Akteure in einem kollektiven Aushandlungsprozess verschiedene Alternativen aus einem verfügbaren Spektrum gegeneinander abwägen, eine Option auswählen und diese anschließend gegenüber den nicht gewählten Optionen abgrenzen (Korte & Fröhlich, 2009, S. 25; Schimank, 2005, S. 49; vgl. hierzu auch Kapitel 2.1). In Anbetracht ihrer Charakteristika und ihrer zunehmenden Relevanz erscheinen Verhandlungen ein geeigneter Mechanismus zu sein, um die Kernentscheidungsfindung von gesellschaftlichen Funktionseliten zur Lösung sozialer Konflikte und Koordinationsprobleme zu modellieren und darin entsprechend des Ziels dieser Arbeit Medieneinflüsse zu konzipieren (siehe für die Details und theoretischen Grundlagen hierzu Kapitel 3.1).
Über welche Prozesse, Mechanismen und Aktivitäten lässt sich nun das Kernentscheidungshandeln von Funktionseliten in der Verhandlungsarena beschreiben? Es ist im Folgenden das Ziel, diejenigen Faktoren einzuführen, die im Modell die Kernentscheidungsfindung der Eliten als einen Teil der abhängigen Zielkonstrukte abbilden (vgl. Abbildung 6 für einen Gesamtüberblick und Abbildung 7 für eine Detailbetrachtung).
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Merkmale des Verhandlungsergebnisses: Ökonomisch-rationell: Konnte ein Ergebnis erzielt werden?, Individueller Nutzen, gemeinsamer Nutzen Subjektiv-sozial: instrumentelle Bewertung des Verhandlungsergebnisses, Bewertung der eigenen Rolle und Leistung, Bewertung des Verhandlungsprozesses, Bewertung der Interaktionsbeziehung zum Verhandlungspartner
Merkmale des Verhandlungsgeschehens Konative Dimension des Kernentscheidungshandelns: Wahl der Verhandlungsstrategie Integratives Bargaining: offener, ehrlicher Austausch, Identifikation von Ausgleichsoptionen, Diskretion und Vertrauen als Leitbilder + großzügigere (Initial-)Konzessionen Distributives Bargaining: Bluffs, Drohungen, emotionale Appelle, Indiskretion als ultima ratio + aggressive Erstangebote und minimale Konzessionen
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
4.1 Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena 241
Abb. 7 Detailbetrachtung des Zielkonstrukts Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
Quelle: Eigene Darstellung.
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4 Abhängige Konstrukte
Die Konzeption des Verhandelns fußt in dieser Arbeit auf sozialpsychologischen Ansätzen (vgl. Kapitel 3.1 sowie Bazerman et al., 2000; Brett & Thompson, 2016; Druckman, 1977; Olekalns & Adair, 2013; Pruitt & Carnevale, 1993; Thompson et al., 2010; Walton & McKersie, 1965). Diese setzen einerseits an den Merkmalen des Verhandlungsergebnisses und andererseits an den Eigenschaften des Verhandlungsprozesses an (vgl. Kapitel 3.1.3).
Konzeption des Kernentscheidungshandelns: Ergebnisdimension Das Ergebnis kann einerseits durch seine ökonomisch-rationellen Merkmale (z. B. die Gewinne, die jede Seite erzielen konnte) und andererseits anhand seiner sozioemotionalen bzw. subjektiv-sozialen Merkmale (z. B. die subjektive Bewertung des Ergebnisses) beschrieben werden (Druckman, 1977, S. 18–19; Hüffmeier et al., 2014, S. 868; Thompson, 1990, S. 517; Trötschel et al., 2017, S. 814–815). Bei den ökonomisch-rationellen Eigenschaften stellt sich zunächst die Frage, ob überhaupt ein Ergebnis erzielt werden konnte. Insbesondere dann, wenn ein Ergebnis einen Verhandlungsbeteiligten schlechter stellen würde als seinen Ausgangspunkt (sog. reservation point, Thompson, 1990, S. 517, siehe auch: Trötschel et al., 2017, S. 814; bzw. Best alternative to negotiated outcome, BATNA; vgl. Fisher & Ury, 1981, S. 104), ist es unwahrscheinlich, dass eine Einigung zustande kommt (Ausnahme sind Verhandlungen, die eine Lösung finden müssen; vgl. Benz, 2007, S. 109–110; Schrott & Spranger, 2007, S. 9). Existiert ein gemeinsamer Verhandlungsraum zwischen den Verhandlungspartnern (vgl. Kapitel 3.1.2.2), so kann ein Ergebnis erzielt werden, das anhand seiner – im ökonomischen Sinne – nutzenstiftenden Eigenschaften bewertet werden kann: Einerseits anhand der Höhe des gemeinsamen Nutzens, den die Verhandlungspartner mit dem Ergebnis erzielen (d. h. inwiefern ist es gelungen, den gemeinsamen Nutzen zu maximieren? sog. creating resources: Thompson, 1990, S. 517; Thompson et al., 2010, S. 493; Trötschel et al., 2017, S. 815) und andererseits danach, wie hoch der individuelle Nutzen ausfällt, den die Verhandlungsbeteiligten jeweils für sich erzielen konnten (sog. claiming resources; Thompson, 1990, S. 517; Thompson et al., 2010, S. 493; Trötschel et al., 2017, S. 815). Insbesondere, wenn die Ertragsstruktur der Auseinandersetzung einem varyingsum-game entspricht (d. h. wenn der Gewinn des einen nicht zwangsläufig der Verlust des anderen ist, sondern man aufgrund mehrerer Verhandlungsgegenstände z. B. auch Package-Deals abschließen kann, vgl. Kapitel 3.1.2.2), hängt es stark vom Zusammenspiel der Verhandlungspartner ab, ob es ihnen gelingt, den gemeinsamen Gesamtnutzen aus einer Verhandlung zu maximieren (Thompson & Hastie, 1990; siehe auch Wahl der Verhandlungsstrategie unten; Walton & McKersie, 1965, S. 5). Vergleicht man nun diese ökonomisch-rationellen Eigenschaften des Ergebnisses mit der subjektiven Bewertung desselben, so können unter Umständen ganz
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unterschiedlichen Schlussfolgerungen resultieren. Daher wird es in der Verhandlungsforschung als notwendig erachtet, neben den ökonomisch-rationellen auch die subjektiv-sozialen Eigenschaften des Ergebnisses in der Modellierung von Verhandlungen zu berücksichtigen (Thompson, 1990, S. 517). Zur Beschreibung dieser subjektiv-sozialen Eigenschaften des Verhandlungsergebnisses wurden verschiedene Bewertungsdimensionen identifiziert (vgl. z. B. Thompson, 1990, S. 518), wobei sich insbesondere das Subjective Value Inventory (Curhan et al., 2006) etabliert hat (Trötschel et al., 2017, S. 815). Grundlage dessen ist eine breit angelegte empirische Studie, die die psychologischen Bewertungsdimensionen von Verhandlungsbeteiligten im Hinblick auf das Verhandlungsergebnis clusteranalytisch identifiziert und über skalenbildende Verfahren verdichtet hat (Curhan et al., 2006). Insgesamt werden davon ausgehend vier Subdimensionen bzw. Subskalen unterschieden, die das Gesamtkonstrukt der subjektiven Bewertung abbilden sollen (Curhan et al., 2010, S. 691): die instrumentelle Bewertung des Verhandlungsergebnisses (z. B. korrespondiert es mit den eigenen Zielen, ist es ausgeglichen und wie ist es bspw. vor dem Hintergrund von Gerechtigkeitsnormen einzuschätzen), die Bewertung der eigenen Rolle und Leistung (z. B. Zufriedenheit mit der eigenen Leistung), die Bewertung des Verhandlungsprozesses (z. B. wahrgenommene Effizienz, Intensität der Auseinandersetzung) und die Bewertung der Interaktionsbeziehung mit dem Verhandlungspartner (z. B. generell ein positiver/negativer Gesamteindruck des Gegenüber). Versucht man nun die gedankliche Brücke zur Medienöffentlichkeit zu bauen, so erscheint es zunächst wenig plausibel, dass unmittelbare Auswirkungen auf die objektiv-rationellen Eigenschaften des Verhandlungsergebnisses entstehen: Ob und was die Verhandlungsbeteiligten an medialer und öffentlicher Kommunikation in der aktuellen Auseinandersetzung wahrnehmen, wird vermutlich keinen direkten Einfluss auf die Höhe des individuellen und gemeinsamen Nutzens (im ökonomischen Sinne) haben. Diese Vermutung stützen auch Befunde zu den Medialisierungsfolgen auf die Ergebnisse des Kernentscheidungsprozesses: Immer dann, wenn objektive Indikatoren (wie beispielweise die Höhe von Ausgaben in einem bestimmten Politikbereich; vgl. Mortensen & Serritzlew, 2006; Pritchard & Berkowitz, 1993) herangezogen wurden, zeigten sich keine oder nur sehr vereinzelte Zusammenhänge mit der Medienaufmerksamkeit bzw. der Art der Berichterstattung. Diese medieninduzierten Wahrnehmungen können dagegen sehr wohl einflussreich sein, wenn es um die subjektive Bewertung des Verhandlungsergebnisses geht. Ein Indiz in diese Richtung liefern die Ergebnisse von Fawzi (2014, S. 254; ähnlich: Linsky, 1986, S. 235): In ihrer Befragung von verschiedenen Akteuren aus dem Bereich Energiepolitik zu ihrer Wahrnehmung des Medieneinflusses im politischen Entscheidungsprozess gaben durchschnittlich 77 % der 338 Befragten 243
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4 Abhängige Konstrukte
an, dass die Medien einen starken oder sogar sehr starken Einfluss darauf haben, wie das Ergebnis des politischen Entscheidungsprozesses bewertet wird. Wie kann man sich diesen Einfluss auf die subjektive Bewertung des Verhandlungsergebnisses vorstellen? Medienberichterstattung oder aber die Diskussion in der Öffentlichkeit und insbesondere unter den eigenen Anhängern kann beispielweise die Vergleichsmaßstäbe prägen, die angelegt werden81, um das Ergebnis, die eigene und die gegnerische Leistung oder den Verhandlungsprozess zu bewerten (zur Rolle von Vergleichsmaßstäben in der subjektiven Bewertung des Ergebnisses siehe bspw.: Galinsky, Seiden, Kim & Medvec, 2002; vgl. zur Übersicht hierzu: Trötschel et al., 2017, S. 828). Unklar ist aber, welche Dimensionen der subjektiven Bewertung (eigene Leistung, Bewertung des Gegners, etc.) wie mit den verschiedenen Aspekten der Verarbeitung von medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation interagieren. Darüber hinaus ist denkbar, dass in der Interaktion mit der Medienöffentlichkeit zusätzliche Bewertungsdimensionen entstehen – etwa wie ein Verhandlungsergebnis öffentlich bzw. in bestimmten Öffentlichkeiten angenommen wird. Dafür spricht beispielweise, dass mediale und öffentliche Aufmerksamkeit von den Verhandlungsbeteiligten auch als Rückenwind für die eigenen Vorhaben, als Machtressource verstanden wird (Kunelius & Reunanen, 2012). Inwiefern sich das aber im Kontext der Bewertung des Entscheidungshandelns bemerkbar macht, findet sich in der vorhandenen Forschung bislang nicht. Ein potenzieller Einfluss von Medien und Öffentlichkeit auf diese subjektive Bewertung des Verhandlungsergebnisses wäre insofern dann auch nicht folgenlos für das objektive Ergebnis, als gezeigt werden konnte, dass die subjektive Bewertung einer Verhandlung sich auf die ökonomisch-rationellen Merkmale von künftigen Verhandlungsergebnissen auswirken kann: Verhandlungspartner, die eine erste Verhandlungsinstanz positiver bewerteten, waren eher bereit, wieder mit dem Kontrahenten zu verhandeln und konnten in einer zweiten Verhandlungsinstanz einen höheren gemeinsamen und individuellen Nutzen erzielen (Curhan et al., 2010). Entsprechend könnten so Medieneinflüsse im Hinblick auf das ökonomisch-ra81 Potenzielle Ansatzpunkte zur weitergehenden Modellierung solcher Einflüsse sind die Konzepte des Medienpriming und -framing (vgl. Scheufele & Tewksbury, 2007). Überdies sei hier noch auf einen indirekten Mechanismus verwiesen: In der Befragung von Fawzi (2014, S. 254) zeigte sich, dass den Medien auch ein Einfluss darauf zugeschrieben wurde, wie das Ergebnis des politischen Entscheidungsprozesses in der Öffentlichkeit bewertet wird bzw. wer als Gewinner/Verlierer gesehen wird. Wenn die Entscheider nun aufgrund der Art und Weise, wie das Ergebnis medial präsentiert wird, den Eindruck haben, dass es öffentlich nicht positiv aufgenommen wird, könnte das wiederum auf ihre eigene Bewertung zurückwirken – insbesondere dann, wenn es für sie bedeutsam ist, wie bestimmte Öffentlichkeiten das Ergebnis bewerten.
4.1 Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
245
tionelle Ergebnis entstehen, indem sie vermittelt über die subjektive Bewertung früherer Verhandlungen wirken.
Konzeption des Kernentscheidungshandelns: Wahl der Verhandlungsstrategie Neben dem Verhandlungsergebnis soll überdies der Verhandlungsprozess im Rahmen der abhängigen Zielkonstrukte des vorliegenden Modells zur Systematisierung von Medieneinflüssen auf das Handeln von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern berücksichtigt werden. Dieser beinhaltet im Wesentlichen zwei Dimensionen: Einerseits die strategisch-taktischen Überlegungen, die sowohl auf kognitiven als auch emotionalen Prozessen fußen. Andererseits die Wahl der Verhandlungsstrategie sowie deren taktische Umsetzung in Form von kommunikativen Botschaften82 und Konzessionen am Verhandlungstisch (konative Dimension des Verhandlungsgeschehens, vgl. Kapitel 3.1.3). In der hier vorgenommenen Modellierung werden die strategisch-taktischen Überlegungen und Abwägungen allerdings aus der Verhandlungsarena herausgezogen. Stattdessen werden sie einerseits als verbindendes Element zum kommunikativen Handeln in der medialen und öffentlichen Arena positioniert. Sie schaffen so also eine Verbindung zum zweiten Teil der abhängigen Zielkonstrukte (vgl. Kapitel 4.2). Andererseits bauen diese strategisch-taktischen Überlegungen eine Brücke zur psychologischen Auseinandersetzung mit den wahrgenommenen und als relevant empfundenen Inhalten der Medienöffentlichkeit – den unabhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell (vgl. Kapitel 5). Eine ausführliche Diskussion dieser strategisch-taktischen Überlegungen erfolgt in Kapitel 4.4 (vgl. Abbildung 6). Der Verhandlungsprozess wird daher im Folgenden „nur“ über die Wahl der Verhandlungsstrategie – d. h. die konative Dimension des Verhandlungsgeschehens (vgl. Kapitel 3.1.3) – im Sinne eines “plan of action, specifying broad objectives and the general approach that should be taken to achieve them“ (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3) beschrieben (vgl. für die Detailbetrachtung Abbildung 7). Die Übersetzung ins Handeln erfolgt dann über entsprechende Taktiken: „Strategies are translated in specific tactics in order to use them“ (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3). In der Verhandlungsforschung werden zwei übergeordnete Strategien unterschieden (vgl. Kapitel 3.1.2.3) – integratives und distributives 82 Obschon auch am Verhandlungstisch eine kommunikative Interaktion zwischen den Verhandlungsbeteiligten erfolgt, zählt diese Form des kommunikativen Austausches nicht zum kommunikativen Handeln, wie es im Zentrum dieser Arbeit steht. Wie in Kapitel 4 dargelegt, bezieht sich das kommunikative Handeln auf die Aktivitäten in der medialen und öffentlichen Arena, die durch die Bedingung der Nicht-Öffentlichkeit von der Verhandlungsarena und damit auch von der Kommunikation mit dem Gegner hinter verschlossenen Verhandlungstüren abgegrenzt wird. 245
246
4 Abhängige Konstrukte
Bargaining (Walton & McKersie, 1965, S. 5; alternative Bezeichnungen: hardline vs. softline Strategien; vgl. Hüffmeier et al., 2014, S. 867; positionsorientiertes vs. kompromissorientiertes Verhandeln; Benz, 2007, S. 111) – und beide sind durch unterschiedliche Kommunikations- und Konzessionstaktiken am Verhandlungstisch gekennzeichnet (Olekalns & Adair, 2013, S. 12; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 3). Während integratives Bargaining kompromissorientiert ist, um die beste Lösung für alle Parteien zu erreichen, zielt distributives Bargaining auf eine egoistische Maximierung der eigenen Gewinne ab und ist daher konfrontativer Natur (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Hüffmeier et al., 2014, S. 870; Trötschel et al., 2017, S. 822). Auf der Ebene der kommunikativen Interaktion impliziert eine integrative Verhandlungsstrategie einen offenen und ehrlichen Austausch, wobei nach außen hin Diskretion gewahrt wird (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 425; Susskind, 2006, S. 280). So wird es möglich, auch vorläufige Lösungen einzubringen, diese weiter zu diskutieren und zu modifizieren, sich – bildlich gesprochen – mal einen Schritt nach vorn und dann wieder zwei zurück zu bewegen, ohne, dass Gesichtsverlust gefürchtet werden muss. So lassen sich letztlich trade-off-Potentiale zwischen den Interessen der Verhandlungspartner identifizieren, die es erlauben, die gemeinsamen Gewinne zu maximieren (Weingart et al., 1990). Als zentrale Voraussetzung hierfür gilt aber ein intaktes und stabiles Vertrauensverhältnis zwischen den Verhandlungspartnern (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 425). Dem stehen im Rahmen der distributiven Verhandlungsstrategie auf der Ebene des kommunikativen Austausches Drohungen, Bluffs, emotionale Appelle sowie generell eine manipulativ ausgerichtete Informationsvermittlung gegenüber (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 425; Susskind, 2006, S. 277). Da hier die Maximierung des Eigennutzes primäres Ziel ist, gehört Indiskretion zumindest potenziell – wenn auch eher als Ultima Ratio – zum Repertoire an verfügbaren Taktiken. Ähnlich wie bei Bluffs und Drohungen, wird dadurch aber das Vertrauen in den Gegner und den gemeinsamen geschützten Raum unterminiert, die Unsicherheit zwischen den Parteien erhöht sich und die Konzessionsbereitschaft sinkt (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 426; Thompson et al., 2010, S. 501). Auf Ebene der Konzessionen zeichnet sich distributives Bargaining oft durch extreme und aggressive Erstangebote und minimale Konzessionen im Verlauf des Verhandlungsgeschehens aus (Brett & Thompson, 2016, S. 69; Druckman, 1994, S. 529; Hüffmeier et al., 2014, S. 867; Susskind, 2006, S. 277; Weingart et al., 1990), während im Zuge des kooperativeren integrativen Bargaining über viele und mitunter hohe Konzessionen darauf abgezielt wird, auch den Gegner zu entsprechenden Zugeständnissen zu bewegen (Druckman, 1994, S. 529; Harnett et al., 1973, S. 528; Hüffmeier et al., 2014, S. 867). Insbesondere über großzügige Initialkonzessionen
4.1 Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
247
signalisiere man dem Gegner, dass man gewillt ist, auf seine Bedürfnisse und Wünsche einzugehen (Hüffmeier et al., 2014, S. 869). Metaanalysen auf Basis von experimentellen Studien, die den Zusammenhang zwischen der Verhandlungsstrategie und dem Verhandlungsergebnis analysiert haben, kommen zu dem Schluss, dass distributives Bargaining in einem höheren individuellen Nutzen resultiert (Allen et al., 1990; Hüffmeier et al., 2014; Kong, Dirks & Ferrin, 2014) – insbesondere dann, wenn der Verhandlungsakteur einem sehr restriktiven Mandat seitens seiner Anhänger unterliegt und wenn wenig Unsicherheit bezüglich der Verhandlungszone des Gegners herrscht (Hüffmeier et al., 2014). Integrative Strategien schneiden besser ab, wenn ein hohes Maß an Reziprozität zwischen den Verhandlungsakteuren gegeben ist, d. h. die Interaktion sehr kleinschrittig und intensiv ausfällt (Hüffmeier et al., 2014), und wenn man den gemeinsamen Nutzen als Bewertungsgrundlage des Ergebnisses heranzieht (Kong et al., 2014). Dagegen fällt es den Verhandlungsbeteiligten, die auf eine distributive Strategie setzen, schwer, Potentiale für gegenseitigen Ausgleich und damit eine Steigerung des Gesamtnutzens zu identifizieren (Brett & Thompson, 2016, S. 69). Überdies führen integrative Strategien zu einer besseren Bewertung auf der subjektiv-sozialen Ergebnisdimension (Hüffmeier et al., 2014). Diese differenzierten Befunde der Metaanalysen zum Zusammenhang zwischen Verhandlungsgeschehen und -ergebnis deuten auf einen zentralen Aspekt hin: Die Wahl der Strategie und ihre Manifestierung in Form von kommunikativen und Konzessionstaktiken am Verhandlungstisch prägen die Dynamik im Verhandlungsgeschehen (vgl. Kapitel 3.1.2.4 sowie Druckman, 1994; Hüffmeier et al., 2014, S. 867), da die Strategiewahl des einen Verhandlungspartners in der Regel nicht unbeantwortet bleibt – der Kontrahent reagiert darauf, indem er seine Strategie anpasst: Durch ein extremes Erstangebot im Zuge einer distributiven Strategie erhofft man sich beispielweise, dass das Erwartungslevel des Gegners sinkt und er den Eindruck bekommt, hier sei nicht viel zu holen. Gibt der Kontrahent dem extremen Angebot tatsächlich mit großzügigen und schnellen eigenen Konzessionen nach, so entsteht beim aggressiv Verhandelnden der Eindruck, beim Gegner sei eine hohe Gebebereitschaft vorhanden, d. h. er korrigiert sein Erwartungslevel sogar noch weiter nach oben (Allen et al., 1990, S. 100; Hüffmeier et al., 2014, S. 869). Zentrale Voraussetzung hierfür ist aber die Glaubwürdigkeit, mit der die aggressive Strategie verfolgt wird, wobei gleichzeitig ein grundlegender Wille zur Lösung signalisiert werden muss, da andernfalls eine Blockade droht (Hüffmeier et al., 2014, S. 869; Susskind, 2006, S. 278). Dieses Beispiel zur Dynamik in der Interaktion zwischen den Verhandlungsparteien verdeutlicht eindrücklich, wie zentral die strategisch-taktischen Abwägungen der Verhandlungspartner am Verhandlungstisch sind. Diese speisen sich aus einer Vielzahl an Informationen (Erwartungen, Vermutungen zu 247
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4 Abhängige Konstrukte
den Vorhaben und Motiven des Gegners, etc.). Genau hier, an diesen strategisch-taktischen Überlegungen setzen potenzielle Einflüsse der Medien und Öffentlichkeit an, indem sie nämlich die zugrundeliegenden Wahrnehmungen, Eindrücke und Empfindungen entscheidend prägen (vgl. Kapitel 4.4 und 5). Wie könnte dieser Einfluss auf das Entscheidungshandeln am Verhandlungstisch nun aussehen: Betrachtet man die Merkmale der beiden Verhandlungsstrategien, so scheint zunächst plausibel, dass insbesondere die aggressive(re) Form des distributiven Bargaining als Folge der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit wahrscheinlicher werde. Dies legen zumindest die Befunde zu den Medialisierungsfolgen auf den Kernentscheidungsprozess nahe (vgl. Kapitel 2.3.2.2.4): So zeigten die qualitativen Fallanalysen von Baugut und Grundler (2009), Kunelius und Reunanen (2012), sowie Spörer-Wagner und Marcinkowski (2010), dass die Kompromissfindung erschwert wurde, weil Medienberichterstattung über das Verhandlungsgeschehen die bestehenden Konflikte übermäßig betont und damit zu einer Polarisierung der Situation beigetragen habe. Überdies seien Spekulationen und fehlerhafte Berichterstattung ein Problem gewesen. Auch sei Druck auf die Verhandlungsbeteiligten erzeugt worden, das Verhandlungsgeschehen öffentlich zu kommentieren, wodurch man aber Gefahr lief, sich frühzeitig auf eine Position festzulegen, von der man anschließend ohne Gesichtsverlust nicht mehr abweichen konnte. Mediale und öffentliche Kommunikation erweiterte so die Informationsgrundlage, die strategisch berücksichtigt werden musste. Und das wenig vorteilhafte, weil fehlerhafte und konfliktreiche medienvermittelte Bild resultierte in Eigendynamiken am Verhandlungstisch. Schließlich konnte gezeigt werden, dass bei öffentlicher Aufmerksamkeit die Medien mithin sogar zu einer attraktiven strategischen Option wurden, was das Risiko an Indiskretionen steigen ließ bzw. zumindest die Furcht vor ebendiesen vergrößerte. Im Ergebnis verschlechterte sich aber der Diskurs am Verhandlungstisch, sog. „Schaufensterreden“ wurden mehr und mehr zum Standard (Baugut & Grundler, 2009, S. 277). Alle diese Aspekte deuten darauf hin, dass mediale Aufmerksamkeit und Berichterstattung bzw. öffentliche Kommunikation, die die zuvor aufgeworfenen Eigenschaften (Konflikt betonen) aufweist, eher distributives Bargaining begünstigt denn eine Basis für einen vertrauensvolle Beziehung zwischen den Verhandlungspartnern schafft, die als Voraussetzung für das integrative Bargaining gilt. In der dynamischen Gestaltung der Interaktion kann Medienaufmerksamkeit demnach über das Erzeugen von Druck dazu beitragen, entweder die Fronten zu verhärten, aber auch einen Stillstand zu überwinden – entscheidend ist die Ausganskonstellation. In der Summe ergibt sich auf diese Weise dann auch der zweite indirekte Mechanismus, über den die Medienöffentlichkeit Einfluss auf das objektive Verhandlungsergebnis nehmen kann: Wie die Metaanalysen demonstrierten, ist die Verhandlungsstrategie eine
4.1 Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
249
zentrale Determinante des Verhandlungsergebnisses. Wenn die Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit nun die Verhandlungsstrategie prägt, dann prägt sie indirekt, vermittelt über diese auch das objektive Ergebnis (ähnliche Befunde erzielte Melenhorst, 2015). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass klare Aussagen an dieser Stelle schwierig sind, weil viele der Studien einzelfallbezogen vorgehen und damit die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse in Anbetracht sehr spezifischer Rahmenbedingungen, unter denen sie zustande gekommen sind, problematisch ist (vgl. Kapitel 2.3.2.2.4). Man vermisst an dieser Stelle ganz grundlegend, dass in der Forschung tatsächlich ein gehaltvoller Bezug zum Handeln am Verhandlungstisch hergestellt wird. Die Verhandlungsforschung blendet öffentliche und medial vermittelte Kommunikationsprozesse gänzlich aus. Die Betrachtungen aus Richtung der politischen Kommunikation fokussieren meist auf die öffentlichkeitsbezogenen Kommunikationsmaßnahmen von Verhandlungsakteuren, aber nicht deren eigentliches Verhandeln (es werden maximal einzelne besonders prominente Phänomene wie das Leaking betrachtet; vgl. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Nichtsdestotrotz kann im Gegensatz zu der weit verbreiteten Annahme, hinter verschlossenen Verhandlungstüren, abseits der Öffentlichkeit, seien die Medien und die Öffentlichkeit wirkungslos (Sarcinelli, 2011, S. 127), im Lichte der vorhandenen Einsichten entschieden widersprochen werden (vgl. Kapitel 2.4; zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt auch Fawzi, 2014, S. 242). Vielmehr liegen Hinweise vor, dass sowohl der Kernentscheidungsprozess als auch dessen Ergebnis – zumindest dessen abschließende Bewertung – von der Tatsache, dass die Medienlogik zunehmend alle Bereiche der Gesellschaft und so auch den von gesellschaftlichen Funktionseliten durchdringt, nicht unbeeinflusst bleiben (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3 und 2.3.2.2.4). Wie diese Befunde jedoch einzuordnen sind (d. h. wie invasiv die gefundenen Effekte tatsächlich sind), in welcher Kombination sie auftreten, ob und unter welchen Konstellationen sie auftreten – all diese Fragen sind offen und bedürfen einer systematischen Betrachtung. Beispielweise konnte im Zuge der Befunde zu den Medialisierungsfolgen auf das Kernentscheidungshandeln (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3) die Vermutung herausgearbeitet werden, dass es vor allem Spitzenmomente medialer Aufmerksamkeit und die Antizipation bzw. die Furcht vor derselben sind, die Einflüsse nach sich ziehen. Die geforderte systematische Betrachtung bedarf aber nicht nur einer theoretisch angereicherten Basis zur Beschreibung des Kernentscheidungshandelns (wie hier mit Verhandlungen geschehen), sondern sie muss dieses Kernentscheidungshandeln zugleich unmittelbar und ebenfalls systematisch zum Kommunikationshandeln in der medialen und öffentlichen Arena in Beziehung setzt (wie es nachfolgend geschehen soll). Wenngleich man auch argumentieren könnte, dass in Anbetracht 249
250
4 Abhängige Konstrukte
der demokratietheoretischen Relevanz nur die Folgen für das Kernentscheidungshandeln bedeutsam sind (vgl. Marcinkowski, 2014, S. 14), so dürfen die Folgen für das öffentlichkeits- und medienbezogene Kommunikationshandeln trotzdem nicht außer Acht gelassen werden. Beides stellen verknüpfte Prozesse im gesamten entscheidungsbezogenen Handeln von Funktionseliten in der Mediengesellschaft dar (Blumler & Kavanagh, 1999, S. 214; Reinemann, 2010, S. 288; Sarcinelli, 2011, S. 120; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 423), sodass eine Handlungsdimension ohne die andere nur unzulänglich betrachtet werden könnte (i. e. Verschränkung der Handlungsarenen, siehe hierzu auch Kapitel 4.3). Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle zunächst festhalten, dass potenzielle medien- und öffentlichkeitsinduzierte Einflüsse zum einen Auswirkungen auf die sozioemotionalen (und indirekt auch die ökonomisch-rationellen) Eigenschaften des Verhandlungsergebnisses haben könnten. Zum anderen könnten Folgen für die Wahl der Verhandlungsstrategie entstehen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass vor allem distributives Bargaining und darin insbesondere Indiskretion eine zunehmende Rolle spielen. Zwischengeschaltet sind hier die strategisch-taktischen Überlegungen der Verhandlungsakteure, die wie eine Art Scharnier wirken, wie in Kapitel 4.4 zu sehen sein wird. Darüber hinaus müssen zusätzlich die Aktivitäten der Funktionseliten in der medialen und öffentlichen Umwelt berücksichtigt und vom Kernentscheidungshandeln abgegrenzt werden. Nur so lässt sich umfassend und differenziert der potenzielle Einfluss aus der medialen Durchdringung auf das Handeln der Eliten im Kontext des gesellschaftlichen Entscheidungsproblems modellieren und letztlich auch empirisch fassen. Würde man demgegenüber nur die Folgen für das Kernentscheidungshandeln oder nur die Folgen für das Kommunikationshandeln betrachten, liefe man Gefahr, das Ausmaß der Medialisierung zu unter- bzw. überschätzen (vgl. Kapitel 2.5.1). Daher soll nachfolgend das Kommunikationshandeln in der medialen und öffentlichen Arena grundständig aufgearbeitet werden.
4.2
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena
4.2
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
Spätestens wenn eine Entscheidung am Verhandlungstisch getroffen wurde, wird von den Entscheidungsträgern erwartet, dass sie ihre Aktivitäten öffentlich erklären und rechtfertigen (Benz, 2007, S. 115; Czada, 2014, S. 122; Röttger, 2015, S. 13; Sarcinelli, 2011, S. 120). Doch das reicht oft nicht: Manchmal entsteht bereits während des Verhandlungsprozesses selbst öffentlicher Druck, der darauf drängt,
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
251
dass über Zwischenstände informiert und Erklärungen dazu abgegeben werden (Baugut & Grundler, 2009, S. 271; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10). Denkbar ist natürlich auch, dass sich die Verhandlungsakteure freiwillig und gezielt der Medienöffentlichkeit zuwenden, um ihre Zielerreichung über öffentliche Unterstützung zu fördern (Grande, 2000, S. 138; Kunelius & Reunanen, 2012, S. 67; Sellers, 2010, S. 208–210; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 504). Entsprechend müssen und/oder wollen die Verhandlungsakteure parallel zu ihren Aktivitäten am Verhandlungstisch auch kommunikativ in der öffentlichen und medialen Arena aktiv werden (Röttger, 2015, S. 13). Dieses Kommunikationshandeln ist in zweierlei Sicht abzugrenzen: Erstens geht es hier explizit um kommunikative Maßnahmen, die außerhalb der geschlossenen Verhandlungstüren in einer öffentlichen Arena stattfinden (wobei hier Öffentlichkeit in verschiedenen Abstufungen denkbar ist, siehe Kapitel 4 und weiter unten in diesem Kapitel). Es gibt zwar, wie in Kapitel 4.1 zu sehen war, auch kommunikative Taktiken am Verhandlungstisch. Diese finden aber im privaten Raum der Verhandlungsarena statt und werden daher konzeptionell nicht hierunter gefasst (vgl. Abbildung 6 für den Gesamtüberblick und Abbildung 7 für eine Detailbetrachtung der Aktivitäten in der Verhandlungsarena). Die zweite Abgrenzung erfolgt gegenüber der Begrifflichkeit des kommunikativen Handelns bei Habermas (1987), der darunter verständigungsorientiertes Handeln („Prozeß der Verständigung zwischen Angehörigen einer Lebenswelt“; Habermas, 1987, S. 386) versteht und es gegenüber strategischem Handeln als „wechselseitige Beeinflussung von zweckrational handelnden Gegenspielern“ (Habermas, 1987, S. 385) abgrenzt. Wie unten noch zu sehen sein wird, ist hier mit kommunikativem Handeln im Sinne der kommunikativen Aktivitäten oder der Kommunikation der Entscheider in der medialen und öffentlichen Arena (alle Begriffe werden synonym zueinander verwendet) aber genau solches strategisches Handeln gemeint: Es soll einem spezifischen Zweck dienlich sein, d. h. es wird zur Erreichung eines bestimmten Zieles im kollektiven Entscheidungsprozess – strategisch – eingesetzt.83 Diese öffentlichen Kommunikationsaktivitäten standen bereits häufig im Fokus der Medialisierungsforschung (ähnliches konstatieren: Kunelius & Reunanen, 2012, S. 57; Landerer, 2015, S. 117; Marcinkowski, 2014, S. 13–14). Nichtsdestotrotz sucht man vergeblich nach einer umfassenden und differenzierten Konzeption, um das 83 An dieser Stelle soll nur die begriffliche Abgrenzung erfolgen. Auf eine eingehende Auseinandersetzung damit, ob und wie das Verständnis Habermas‘ (1987, S. 384–388) von strategischem Handeln mit dem korrespondiert, was hier als kommunikatives Handeln in der Medienarena verstanden wird, wird vor dem Hintergrund mangelnder Relevanz für die Zielsetzung dieser Arbeit verzichtet. Es soll lediglich – aufgrund der Ähnlichkeit – eine begriffliche Verwirrung vermieden werden. 251
252
4 Abhängige Konstrukte
Kommunikationshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten in der medialen und öffentlichen Arena als Teil ihres alltäglichen professionellen Handelns zur Lösung von Entscheidungsproblemen zu beschreiben. Entweder werden sehr pauschale Maße verwendet, um das Kommunikationshandeln zu beschreiben – beispielweise der Aufwand und die allgemeine Motivation, mit der Medienarbeit ganz generell betrieben wird – oder es werden ganz spezifische Maßnahmen wie das Leaking von Informationen oftmals auch nur über singuläre Items abgefragt (vgl. z. B. Bernhard et al., 2016; Jonathan Cohen et al., 2008; Strömbäck, 2011a sowie den Überblick zum Forschungsstand Folgen der Medialisierung für die kommunikativen Aktivitäten in Kapitel 2.3.2.1). Es bedarf also eines Rahmens, über den sich das Kommunikationshandeln der Funktionseliten möglichst umfassend, aber auch differenziert greifen und beschreiben lässt. Die Auseinandersetzung mit den Stakeholdern von gesellschaftlichen Funktionseliten und die Frage, wie man die Beziehung zu diesen am besten gestaltet, stellt hier den Ansatzpunkt dar (vgl. Kapitel 3.1.1). Diese Perspektive – das sog. Stakeholdermanagement (J. E. Grunig & Hunt, 1984, S. 7; Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 250) – verweist dabei auf Forschung zu Organisationskommunikation und – vor dem Hintergrund des Entscheidungshandelns zur Lösung gesellschaftlich relevanter Probleme – insbesondere auf politische Public Relations. Dies soll nachfolgend einordnend dargestellt und die spezifischen Konzepte dargelegt werden, um das kommunikative Handeln der Funktionseliten als zweiten Block der abhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell (vgl. Abbildung 6 für einen Gesamtüberblick und Abbildung 8 für einen Detailüberblick) fassen zu können.
PR als Mittel zur Herstellung von Legitimität Die zentrale Ausgangsannahme der vorliegenden Arbeit geht davon aus, dass die Medialisierung des Entscheidungshandelns von gesellschaftlichen Funktionseliten ihre Ursache darin nimmt, dass diese auf öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung angewiesen sind (vgl. Kapitel 2.3.1 und 3.1.1; Karmasin, 2015, S. 345; Keller, 1991, S. 4; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80; Sarcinelli, 2011, S. 120). Dies rührt wiederum daher, dass Funktionseliten der Legitimation ihres Handelns bedürfen. Denn ohne Legitimität müssen Entscheidungsträger mit Kritik, Ablehnung und Protest im Zuge ihres Entscheidens rechnen. Das kann u. U. sogar darin münden, dass sie ihre Entscheidungen nicht erfolgreich implementieren und damit ihre Funktion nicht (mehr) erfüllen können und daher um ihre Machtbasis bangen müssen (Hoffjann, 2015, S. 19, 154; Jarren, 1994, S. 663; Zerfaß, 2014, S. 25–26). Bei der Herstellung von Legitimität eines Akteurs bzw. seiner Organisation bei verschiedenen Bezugsgruppen geht es darum, „die eigenen Ziele und Absichten
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
253
als im gemeinsamen Interesse liegend oder als aus übergeordneten gemeinsamen Zielen folgend zu rechtfertigen“ (Fuchs-Heinritz, 2011, S. 401). Zwar sind letztlich alle Funktionseliten ungeachtet ihres spezifischen gesellschaftlichen Teilbereiches auf diese weitreichende Akzeptanz der Interessen und Ziele bei den relevanten Bezugsgruppen angewiesen (Hoffjann, 2015, S. 154; Röttger, 2015, S. 14), allerdings findet der Prozess der Legitimation84 unterschiedlich stark über die allgemeine und massenmedial vermittelte Öffentlichkeit statt, d. h. Funktionseliten in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen sind unterschiedlich stark auf die Interaktion mit verschiedenen Teilöffentlichkeiten – darunter auch die massenmediale und breite Öffentlichkeit – angewiesen (vgl. Kapitel 3.1.1 sowie Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 351). Überdies teilen viele Beobachter in diesem Zusammenhang den generellen Eindruck, dass dieser Legitimationsdruck und somit auch die Notwendigkeit nach öffentlichkeitsbezogener bzw. medial vermittelter Legitimation in den vergangenen Jahrzehnten massiv gestiegen ist und sich auf immer dispersere Bezugsgruppen ausgeweitet hat (Eisenegger, 2004, S. 277, 289; Hoffjann, 2015, S. 155; Raupp, 2009, S. 267). In der Summe lässt sich festhalten, dass Legitimation notwendig ist und unter zunehmend herausfordernden Bedingungen hergestellt werden muss. An dieser Stelle kommen die Public Relations ins Spiel: Als Subeinheit einer Organisation versucht sie diese bei den relevanten Bezugsgruppen zu legitimieren (Hoffjann, 2015, S. 19; Karmasin, 2015, S. 347–348; Röttger, 2015, S. 14). Darin besteht also die Kernfunktion von PR für Organisationen. PR gilt dabei als Teil der allgemeinen Organisationskommunikation, die sich spezifizieren lässt, indem zum einen das Attribut „strategisch“ hinzugezogen wird und zum anderen der funktionale Bezugspunkt der Herstellung von Legitimität berücksichtigt wird (Hoffjann, 2015, S. 107): Im Gegensatz zu jeglicher Form der Kommunikation in, von, über und mit Organisationen ist strategische Organisationskommunikation „the purposeful use of communication by an organization to fulfill its mission“ (Hallahan, Holtzhausen, van Ruler, Verčič & Sriramesh, 2007, S. 3; ähnlich: Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 251; Röttger, Gehrau & Preusse, 2013, S. 11; Zerfaß, 2014, 23, 29), wobei PR diese „mission“ über Legitimation und damit Sicherung von Handlungsspielräumen zu erzielen sucht. Damit lässt sich PR von anderen Bereichen der Organisationskommunikation wie beispielweise dem Marketing abgrenzen, das auch dem übergreifenden organisationalen Ziel (z. B. der Wertschöpfung) dient, aber nicht, indem es Legitimität hergestellt, sondern indem es zur Absatzsteigerung beiträgt (Hoffjann, 2015, S. 107; Zerfaß, 2014, S. 44). 84 Während sich Legitimität auf den Zustand bezieht, dass jemandes Handeln als rechtmäßig anerkannt wird, umschreibt Legitimation den Prozess zur Herstellung derselben (Fuchs-Heinritz, 2011, S. 401). 253
254
4 Abhängige Konstrukte
Konkret geht es bei PR darum, die Handlungsspielräume sowohl kurzfristig, d. h. während der aktuellen Handlungen, als auch grundsätzlich bzw. in Zukunft in Form von Erfolgspotenzialen zu sichern (Zerfaß, 2014, S. 29). Für gewöhnlich wird diese Legitimationskommunikation auf das gesellschaftliche Umfeld ausgerichtet und etwa von der internen Kommunikation mit den Mitarbeitern und Investoren abgegrenzt (Hoffjann, 2015, S. 153; Zerfaß, 2014, S. 44–45). Diese Abgrenzung soll hier nicht vorgenommen bzw. übernommen werden.85 Vielmehr steht allein der funktionale Bezug, nämlich die Legitimationskommunikation zur Sicherung der aktuellen und künftigen Handlungsfreiräume und -potenziale im Fokus des hier vertretenen PR-Verständnisses. Dieser funktionale Bezug bezieht sich dann auf alle als relevant eingestuften Bezugsgruppen (siehe auch Zerfaß, 2010, S. 349): Darunter können neben der allgemeinen Öffentlichkeit, dem politisch-administrativen System auch organisationsinterne Gruppen wie Mitglieder, Mitarbeiter oder aber lose mit der Organisation verbundene Stakeholder wie Anhänger bei Verbänden und Investoren, Anwohner, Kunden usw. bei Unternehmen gemeint sein (vgl. Identifikation verschiedener Stakeholdertypen in Kapitel 3.2.1). Ziel ist es dabei, die Bedürfnisse und Ansprüche dieser mitunter sehr verschiedenen (internen und externen) Stakeholder so in die allgemeine Strategie des Akteurs zu integrieren, dass es für das übergreifende Ziel („the mission“, siehe oben) förderlich oder zumindest nicht hinderlich ist (Zerfaß, 2010, S. 324–325, 2014, S. 52, 65). Noch weiter fokussieren lässt sich die Perspektive, blickt man auf politische Public Relations, die sich spezifisch mit der Herstellung von Legitimität im Kontext von gesellschaftlich relevanten, weil folgenreichen Entscheidungen beschäftigen und damit dem Blickwinkel der vorliegenden Arbeit – nämlich die Rolle von Medien im Zusammenhang mit dem Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten – am nächsten kommen. Politische PR werden dabei analog zu PR im Allgemeinen verstanden als „das Management von Interdependenzbeziehungen zwischen einzelnen politischen Institutionen und seinen ‚Umwelten‘ mit dem Ziel einer permanenten Reproduktion von Strukturen als systemischen Handlungsvoraussetzungen von politischen Akteuren im Prozeß der Herstellung allgemein verbindlicher Entscheidungen. Politische Öffentlichkeitsarbeit hätte also dazu beizutragen, in den jeweiligen Phasen des politischen 85 Diese Abgrenzung überzeugt überdies auch nicht, wenn man bedenkt, dass die Forderung nach einer stringenten Umsetzung von integrierten Kommunikationskonzepten allgegenwärtig in der Literatur zur Organisations- und Unternehmenskommunikation ist und dort ja gerade diese Differenzierung in interne und externe Kommunikation in der praktizierten Organisationskommunikation kritisiert wird (vgl. z. B. Vonwil & Lackus, 2006, S. 102; Zerfaß, 2014, 55ff.). Daher erscheint es hier zielführender, vor dem Hintergrund der Funktionen zu argumentieren (ähnlich auch: Hoffjann, 2015, S. 20).
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
255
Prozesses Unsicherheitszonen durch das Einräumen von kommunikativen Beteiligungsmöglichkeiten zu erkennen, Ressourcen zur informationellen Problemlösung – unter Beteiligung der jeweiligen Politikprozeß-Betroffenen – bereitzustellen und dadurch politische Handlungsspielräume zu schaffen“ (Jarren, 1994, S. 673; ähnlich: Strömbäck & Kiousis, 2011, S. 8).
Es geht also weniger um Legitimation des Handelns im Allgemeinen, sondern ganz konkret um die Herstellung der Legitimität im Zuge des Kernentscheidungshandelns, um so Akzeptanz bei den relevanten Stakeholdern zu erzeugen, mindestens jedoch ihre Ablehnung zu verhindern. Die spezifische Herausforderung bei der Aufgabe, die Handlungsspielräume für die Entscheidungsakteure zu sichern, ergibt sich durch die Besonderheit des Aktionsfeldes: Das Handeln von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern im Allgemeinen und politischen Akteuren im Speziellen hat Folgen für weitaus mehr Betroffene als die unmittelbar am Entscheidungsprozess Beteiligten. Daher wird von ihnen erwartet, dass sie gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und es werden seitens der betroffenen Bürger auch entsprechende Ansprüche an diese Entscheidungsträger herangetragen (Jarren, 1994, S. 654; Keller, 1991, S. 4; Lichtenstein et al., 1990, S. 91). Diese (mitunter auch ethisch-moralisch aufgeladene) Anspruchshaltung an Funktionseliten als gesellschaftliche Problemlöseinstanz unterscheidet sich von den Erwartungen, die an Akteure adressiert werden, wenn sie keine gesellschaftlich relevanten Entscheidungen treffen, sondern „nur“ ihre spezifischen Partikularinteressen ohne unmittelbar ersichtliche Folgen für die Allgemeinheit verfolgen (Jarren, 1994, S. 655).86
86 Diese moralische Komponente, die mit den Anspruchshaltungen im Zusammenhang des Handelns und der Kommunikation von gesellschaftlichen Funktionseliten einhergeht, wird beispielweise daran deutlich, dass PR-Maßnahmen im Kontext von gesellschaftlich relevantem Entscheidungshandeln, insbesondere in der Politik, etwas Anrüchiges und Widersprüchliches anheim ist (Jarren, 1994, S. 656): Einerseits besteht der Anspruch nach umfassender Information und Aufklärung, um die Transparenz und damit die Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung im Zuge des Entscheidungsprozesses zu gewährleisten. Diese politische Kommunikation zu Informationszwecken stellt demnach einen zentralen Bestandteil der Herstellung, Durchsetzung und Begründung von Entscheidungen dar. Andererseits sind die Grenzen zu politischer PR im Sinne von Persuasion fließend und kaum auszumachen (Jarren, 1994, S. 663–664; Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 250). Gerade das Persuasive und Werbende stößt in diesem Zusammenhang aber auf öffentliche Kritik und Ablehnung (Jarren, 1994, S. 656; vgl. hierzu auch die Befunde von Borucki, 2014, S. 343, die zeigt, dass Regierungs-PR „verdeckt“ erfolgte, um dem Vorwurf zu entgehen, man betreibe mit Steuergeldern Propaganda; ähnlich interpretiert auch Vogel, 2010, S. 177 ihre Befunde). 255
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4 Abhängige Konstrukte
Konzeption des Kommunikationshandelns: Wahl der PR-Strategie Wie kann man sich nun konkret das Handeln der gesellschaftlichen Funktionseliten in dieser öffentlichen und medienvermittelten Arena vorstellen, in der sie versuchen, Legitimität unter wachsendem Legitimationsdruck und unter der Besonderheit herzustellen, dass sie mit moralisch aufgeladenen Ansprüchen konfrontiert werden? Welche Merkmale empfehlen sich hier, um das (strategisch-orientierte) kommunikative Handeln der Funktionseliten zu beschreiben? Modelle der strategischen PR- und Kommunikationsplanung verweisen auf verschiedene Konzeptionsschritte, die in diesem Zusammenhang als Ankerpunkte dienen können: Beginnend bei der Problemanalyse wird eine Vorgehensweise bzw. Strategie entwickelt, die dann durchgeführt und anschließend im Lichte ihrer Performanz evaluiert wird (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 609–610; Zerfaß, 2014, S. 68–69).87 Analog zur Konzeption des Kernentscheidungshandelns in der Verhandlungsarena (vgl. Kapitel 4.1) werden hier nur die Aspekte der Strategiewahl bzw. -realisation und Evaluation herangezogen, um das kommunikative Handeln und die Ergebnisbewertung in dieser medialen und öffentlichen Arena zu fassen. Die vorgelagerten Schritte der Problemanalyse und Strategieplanung unter Abwägung verschiedener Alternativen werden dagegen mit den strategisch-taktischen Überlegungen in Bezug auf das Verhandlungsgeschehen zusammengeführt und in Kapitel 4.4 elaboriert (vgl. auch Abbildung 6, in der das kreisförmige Gebilde diese vorgelagerten Überlegungen repräsentiert).88 Diese Zusammenführung mit den strategisch-taktischen Erwägungen im Verhandlungskon87 Die Zahl der Konzeptionsstufen bzw. -phasen unterscheidet sich deutlich zwischen verschiedenen Ansätzen aus der Konzeptionslehre. Der zentrale Unterschied ist, wie stark die einzelnen Schritte auseinanderdividiert und differenziert werden. Übergreifend lassen sich aber diese vier/fünf Schritte herausdestillieren (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 610–611). 88 Dieses Auseinanderziehen der verschiedenen Konzeptionsstufen – Strategiewahl als Teil des Handelns in der medialen und öffentlichen Arena und der Strategieplanung als Teil der strategisch-taktischen Vorüberlegungen (vgl. auch Abbildung 6) – mag analytisch künstlich erscheinen, weil es in der Realität fließend ineinander übergeht. Für die systematische Konzeption des kommunikativen Handelns bedarf es aber dieser analytischen Trennung, die sich an folgendem Unterschied festmachen soll: Die Strategiewahl ist das feststehende und von außen beobachtbare Ergebnis der Strategieplanung. In dieser Strategieplanung geht es wiederum darum, dass zwischen verschiedenen Kalkülen abgewogen wird (ähnlich argumentieren Bentele & Nothhaft, 2014, S. 615–616, 618). Im Unterschied wiederum zur Strategierealisation/-umsetzung handelt es sich bei der Strategiewahl um den übergeordneten Plan, der in der Umsetzung durchaus abgewandelt oder verschiedentlich ausgeführt werden kann (Zerfaß, 2010, S. 359), wobei in der Forschung auch hier oft keine trennscharfe Unterscheidung erfolgt bzw. alternativ wird zwischen Strategie als übergeordnetem Plan und Taktiken als dessen Übersetzung in konkretes Handeln unterschieden (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 616, 618).
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
257
text scheint insbesondere deshalb geboten, da die Unterscheidung – Problemanalyse und Strategieplanung in Bezug auf die mediale und öffentliche Arena einerseits und die strategisch-taktischen Erwägungen in Bezug auf die Verhandlungsarena andererseits (vgl. Kapitel 4.1) – daher rührt, dass hier eine Annäherung an die beiden Arenen aus unterschiedlichen Forschungsbereichen – nämlich der verhandlungsbezogenen Perspektive einerseits und der kommunikationsorientierten Forschung andererseits – erfolgte. Es scheint aber hoch plausibel, dass die Entscheider nicht separat über die Verhandlungsarena einerseits und dann unabhängig davon über die mediale und öffentliche Arena andererseits nachdenken. Vielmehr fließt in den strategischen Kalkülen alles zusammen. Zumindest sollte es optimaler Weise so sein, betrachtet man die immer wiederkehrende Betonung im Kontext der PR-Forschung, dass Organisationskommunikation und PR insofern strategisch sind, als sie der übergeordneten Zielsetzung der Organisation/des jeweiligen Akteurs dienlich sein sollen und im Zuge dessen ein übergreifendes organisationales Management so erfolgen muss, dass es alle Aktivitätenbereiche und Subsysteme einer Organisation – darunter auch den der Kommunikation – berücksichtigt und in eine einheitliche Gesamtstrategie integrieren muss (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 612, 622; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 120).89 Wie diese Strategie vor dem Hintergrund der Kalküle im Hinblick auf die Verhandlungsarena und die mediale und öffentliche Arena entwickelt wird, soll in Kapitel 4.4 dargestellt werden. Hier gilt es zunächst die konkreten Merkmale der Strategiewahl bzw. -realisation und Evaluation im Hinblick auf die kommunikativen Aktivitäten und ihre Ergebnisse abzuleiten (vgl. für Detailbetrachtung Abbildung 8).
89 Es soll hier nicht der Anspruch erhoben werden, dass ein alles berücksichtigender Entscheidungsakteur der Realität entspricht. Es ist sogar mehr als plausibel, dass manche Kalküle bedeutsamer sind als andere. Dies rührt schon allein daher, dass je nach Profession des Individuums – PR-Experte oder Verhandlungsführer – unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand eingenommen werden (vgl. Kapitel 6.4). Die Tatsache, dass die Kalküle unterschiedlich bedeutsam sind, wird in Kapitel 4.4 weiter diskutiert. Hier geht es nur darum, klar zu stellen, dass beide Abwägungen gemeinsam – quasi an einem „Ort“ – stattfinden. 257
Quelle: Eigene Darstellung. Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Evaluation des Kommunikationsprozesses und seiner Ergebnisse: Summativ: Input vs. Output; Outcome Formativ, d.h. prozessflankierend (inkl. situativer Anpassungen)
Wahl der Strategie als Kombination aus • anvisierte Stakeholder (z.B. interessenbasiert-involvierte Anspruchsgruppen vs. breite Öffentlichkeit) • intendierte Wirkungen (Ziele - z.B. Überzeugen, Aufmerksamkeit vermeiden, Erwartungsmanagement, Impression Management – in Abgleich mit selbstbezogenen Positionierungen) • Maßnahmen (inkl. Botschaften & Kanäle, z.B., Media Relations, Campaigning, etc.)
= legitimationsorientierte Kommunikation über Zwischen- und Endstände im Aushandlungsprozess
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena:
258 4 Abhängige Konstrukte
Abb. 8 Detailbetrachtung des Zielkonstrukts Kommunikationsaktivitäten in der medienvermittelten und öffentlichen Arena
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
259
Zunächst lässt sich das kommunikative Handeln der gesellschaftlichen Funktionseliten über die Wahl ihrer PR-Strategie beschreiben: Die PR-Strategie ist analog zur Verhandlungsstrategie eine Ziel-Mittel-Kombination, um unter knappen Ressourcen ein übergeordnetes Ziel – in diesem Fall die Sicherung von aktuellen und künftigen Handlungsoptionen im Entscheidungskontext über die Herstellung von Legitimität – kommunikativ zu adressieren und zu erreichen (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 624). Solche PR-Konzeptionen bzw. Programme lassen sich beschreiben als Kombination aus Kommunikationsmaßnahmen (beschreibbar über Botschaften, Kanäle), über die (in einem bestimmten zeitlichen Rahmen und unter einem bestimmten Ressourceneinsatz) bestimmte Kommunikationswirkungen bei anvisierten Stakeholdern erreicht werden sollen (Hoffjann, 2015, S. 212; Merten, 2013, S. 118; Zerfaß, 2014, S. 69). Das heißt, die Entscheidungsträger müssen strategisch entscheiden, welche Stakeholder relevant sind und welche Ansprüche sie an die Organisation herantragen (könnten) (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 126; Karmasin, 2015, S. 342). Hierzu liefert die Differenzierung verschiedener Stakeholdertypen aus Kapitel 3.2.1 den Ansatzpunkt, die anhand der Unterscheidung in primäre und sekundäre Bezugsgruppen (bedingt durch ihre Einflusspotentiale auf die betroffene Organisation; Fassin, 2009, S. 116–117; Hoffjann, 2015, S. 73; Röttger et al., 2018, S. 67) und anhand ihres Aktivierungsgrades entsprechend der Situational Theory of Publics (J. E. Grunig & Hunt, 1984) identifiziert wurden. Da die Interaktion mit dem Verhandlungsgegner primär in der Verhandlungsarena hinter verschlossenen Türen erfolgt (vgl. Kapitel 4.1), stehen in der öffentlichen Arena vermutlich eher die interessenbasiert-involvierten Stakeholder im Vordergrund, weil sie involviert und damit aktiviert sind und darüber hinaus über die Möglichkeit verfügen, sanktionierend Einfluss auf den Entscheidungsträger und seine Organisation auszuüben (z. B. Mitglieder und Kunden). Je nach Gegenstand des Entscheidungsproblems und der Eskalation des Konfliktes können natürlich auch weitere sekundär relevante Stakeholder wie die Politik oder die breitere Öffentlichkeit auf den Plan gerufen, d. h. aktiviert werden. Sie verfügen aber nicht über unmittelbare Einflusshebel auf den Entscheidungsakteur. Darüber hinaus müssen die Ziele bestimmt werden, die mit Blick auf diese Stakeholdertypen erreicht werden sollen: Geht es beispielweise um eine wohlwollende Stimmung in der allgemeinen Öffentlichkeit oder soll das Mobilisierungspotential unter den eigenen Anhängern gesteigert werden oder deren Erwartungen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden? Es geht also um die Definition eines angestrebten Soll-Zustandes, der in einem bestimmten zeitlichen Rahmen und vor dem Hintergrund eines bestimmten Ressourceneinsatzes erreicht werden soll (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 626). Diese Ziele stellen dabei in der Regel eine Relation zwischen den Bezugsgruppen, der Selbstpositionierung des Akteurs und Wirkungsdimensio259
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4 Abhängige Konstrukte
nen auf verschiedenen Ebenen her (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 626; Hoffjann, 2015, S. 212) – kognitiv, z. B. Wissen; affektiv-emotional, z. B., Involvement; konativ, d. h. Handlungsziele, und sozial-orientiert, z. B. Beziehungsaufbau (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 626; Mast, 2019, S. 122). In der Summe dienen diese Ziele alle dem Zweck der Legitimation des Akteurs. Letztlich muss im Rahmen der Strategie definiert werden, wie die Ziele in Bezug auf die Stakeholder erreicht werden sollen, d. h. es müssen geeignete Maßnahmen identifiziert werden (Hoffjann, 2015, S. 215): Dabei muss die Botschaft, die vermittelt wird, auf das Ziel zugeschnitten sein, das die Entscheidungsträger in Bezug auf die jeweiligen Stakeholder erreichen wollen. Es muss entschieden werden, wie sich diese entsprechend ihres Involvementlevels am Thema und ihrer Einflusspotentiale hinsichtlich der Organisation optimal ansprechen lassen (Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 251; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 352–353). Die Wahl des Kanals bringt Friktionen mit sich, die es zu berücksichtigen gilt: Massenmediale Vermittlung bietet zwar eine große Reichweite, zugleich muss man sich bei journalistischen Kanälen der entsprechenden Selektionskriterien beugen; der Weg über gekaufte massenmediale Reichweite (Werbung) hilft zwar dabei, diese Selektionsschranken zu umgehen, dies geht aber zulasten der Glaubwürdigkeit, die den intendierten Wirkungen erst Gewicht verleihen könnte (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 24; Zerfaß, 2010, S. 361). Eigene Kommunikationsmedien der Akteure (z. B. Mitgliederbriefe, Mailings, Mitgliederzeitschriften, Broschüren) ermöglichen es zwar, die eigene Sicht der Dinge elaboriert zu präsentieren, was aber mit einer deutlich geringeren Reichweite und damit einem geringeren Grad an Öffentlichkeit im Vergleich zu massenmedialen Kanälen einher geht (Zerfaß, 2010, S. 363). Präsenzöffentlichkeiten in Form von Veranstaltungen oder Encounters mit einzelnen Stakeholdervertretern sind schließlich nur einem begrenzten Publikum zugänglich, ermöglichen es aber, in eine dialogische Interaktion zu treten und so die Wirkmacht des persönlichen Gesprächs zu nutzen (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 22; Zerfaß, 2010, S. 365, 373). Wünschenswert zur Konzeption des kommunikativen Handelns von Funktionseliten im Kontext ihres Entscheidungshandelns wäre nun eine möglichst umfassende Liste aller potenziellen kommunikativen Maßnahmen. Leider sucht man nach einer solchen vergebens, weil sich diese Maßnahmenlisten je nach Perspektive unterscheiden (Hoffjann, 2015, S. 215; Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 253). Für Unternehmen, die PR zur Legitimation ihrer kommerziell motivierten Partikularinteressen betreiben, werden beispielweise folgende Kommunikationsinstrumente aufgelistet: Persönliche Kommunikation mit Stakeholdern, Events und Veranstaltungen, Sponsoring, Corporate Publishing, Medien- und Pressearbeit, Mediawerbung (Hoffjann, 2015, S. 216–217; ähnlich: Zerfaß, 2010, S. 360–373). Daher können an dieser Stelle nur lückenhaft Kommunikationsinstrumente gesammelt
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
261
werden, die sich in der entsprechenden Literatur als wichtig im Kontext des Entscheidungshandelns erwiesen haben: Allen voran steht die klassische Medienarbeit, d. h. über massenmediale Kanäle sollen die allgemeine Öffentlichkeit und darunter auch weitere relevante Stakeholder adressiert werden. Mit Blick auf politische PR fasst Jarren (1994, S. 665) die konkreten Ziele, die hierüber verfolgt werden, wie folgt: „Politische Öffentlichkeitsarbeit ist notwendig, um ein Thema abzuwehren, ein Thema zu unterstützen, mit Hilfe eines neuen Themas ein riskantes Thema zu verdrängen, ein Thema umzudefinieren, ein Thema mit eigenen Begriffen zu besetzen.“ Demnach geht es also einerseits darum, Agenda Building zu betreiben (Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 254): Ausgehend von dem Wissen um die Agenda Setting-Effekte der massenmedialen Berichterstattung auf die Themenagenda der Bevölkerung (McCombs & Shaw, 1972), versuchen Entscheidungsakteure, die Agenda der Massenmedien nach ihren Wünschen zu beeinflussen, d. h. Themen(aspekte) zu bewerben, die für sie selbst von Vorteil sind (z. B. weil sie da eine hohe Kompetenz haben, vgl. das Konzept des issue ownership; Petrocik, 1996; siehe auch van Aelst & Walgrave, 2016, S. 501). Über die reine Themensetzung hinaus, geht es andererseits darum, die Deutungshoheit über die Themen in der Berichterstattung zu erlangen, indem man Frame Building betreibt (manche sprechen auch von second level agenda building oder Themenstrukturierung; Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 255; Zerfaß, 2010, S. 362). Als erfolgsversprechende Strategie gilt hier, das Thema so zu problematisieren, dass es von allgemeiner Relevanz – im besten Fall mit Bezug zu den alltäglichen Erfahrungen der Rezipienten – erscheint (Jarren, 1994, S. 666; Kriesi et al., 2009, S. 357; Zerfaß, 2010, S. 362; für eine Übersicht entsprechender Taktiken siehe: Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 38–43). Eine analytisch orientierte Systematisierung solcher Frame-Building-Optionen liefert Hallahan (2011), der das Framing von Situationen, Attributen, Risiken, Argumenten zur Unterstützung bestimmter Maßnahmen, thematische Frames, Verantwortlichkeitszuschreibungen in Frames und den Aufbau von komplexen Narrativen (framing of stories) im Kontext politischer PR unterscheidet. Diese Bemühungen um Themensetzung und -strukturierung gestalten sich insbesondere dann schwierig, wenn auch der Kontrahent versucht, sich in der Öffentlichkeit zu positionieren (Kepplinger, 2009b, S. 15, 25; Koch-Baumgarten, 2013, S. 32). Gerade dann kann die Ressourcenausstattung entscheidend im Wettbewerb um öffentliche Unterstützung sein (Chong & Druckman, 2013, S. 13; Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 27; Kumar, 2007, S. 138). Auf der taktischen Ebene sind in der Medienarbeit Pressemitteilungen und Pressekonferenzen, vor allem aber – und immer bedeutsamer werdend (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2) – Hintergrundgespräche mit Journalisten vorgesehen (Kepplinger & Marx, 2008, S. 192; Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 254; Reunanen et al., 2010, S. 297). Maßgabe ist die Medienlogik, die sich 261
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4 Abhängige Konstrukte
derart auswirkt, dass die Entscheider versuchen, die Ansprüche des Publikums an die Journalisten zu antizipieren und ihnen entsprechende Materialien und Informationsstücke an die Hand zu geben, um ihnen so die Arbeit zu erleichtern und eine Veröffentlichung im gewünschten Sinne zu begünstigen (Raupp, 2009, S. 272). Neben der Medien- und Pressearbeit wird im Hinblick auf Encounterund Präsenzöffentlichkeiten, d. h. in der persönlichen Interaktion mit einzelnen Stakeholdervertretern etwa im Rahmen von Veranstaltungen, noch das sog. Event Management als PR-Instrument vorgesehen (Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 258). Dass neben der reinen Information über Zwischen- und Endstände aus dem Entscheidungsprozess auch aktiv für die eigenen Positionen geworben werden kann, lässt sich über das sog. Campaigning fassen: Im Zuge einer Kampagne geht es darum, über eine besonders geschickte Konfiguration von anvisierter Zielgruppe, Zuschnitt der Botschaften, gewähltem Vermittlungskanal und -zeitpunkt die optimale Grundlage zu schaffen, um die Öffentlichkeit für die eigenen Themen und Positionen zu sensibilisieren, zu aktivieren, zu mobilisieren und ihre Unterstützung zu gewinnen (Donges & Jarren, 2017, S. 174; Kriesi et al., 2009, S. 346–347). Dies erfolgt klassischerweise im Zuge von Wahlkämpfen (und wurde in diesem Zusammenhang auch primär untersucht; vgl. Farrell & Webb, 2000). Aber Campaigning gilt längst nicht mehr nur im Zusammenhang mit dem Urnengang als probates Mittel (Kriesi et al., 2009, S. 346) – sondern auch im Rahmen von Referenden (Scholten, 2014) oder als strategisches PR-Mittel von NGOs und Verbänden (Donges & Jarren, 2017, S. 174–175), um abseits des politisch-administrativen Einflusskanals Politik über öffentliche Unterstützung machen zu können (vgl. z. B. für Gewerkschaften Futh, 2017; Rehder, 2014). Eine Kampagne im Zuge eines solchen Entscheidungsproblems zu starten ist dabei vor allem für solche Akteure attraktiv, die über ausreichend Ressourcen verfügen und sich ein bestimmtes Mobilisierungspotential in der Öffentlichkeit versprechen (denn Anliegen, die ohnehin bereits entschieden sind oder solche, die chancenlos sind, werden nicht über eine Kampagne beworben; vgl. hierzu auch Kapitel 2.3.2.2.6 sowie die Ergebnisse von: Landerer, 2015, S. 272–273; Melenhorst, 2015, S. 309; generell: Kriesi et al., 2009, S. 347). Das A und O dabei sind die gezielt zugeschnittenen und austarierten Narrativen der Kampagnen. Kriesi et al. (2009) unterscheiden diese danach, ob sie Aufmerksamkeit erzeugen sollen oder, ob sie auf Persuasion zielen, wobei bei letzterem insbesondere emotionale politische Appelle wenig erforscht seien (Kriesi et al., 2009, S. 359). Die Wirkkraft der Kampagnen soll dabei durch den Einsatz von Mitteln aus dem politischen Marketing erhöht werden (Strömbäck, Mitrook & Kiousis, 2010, S. 75–76). In der Wahl geeigneter Kanäle können sich die Akteure sowohl eigener als auch massenmedial vermittelter Kanäle bedienen (z. B. eigene Verbandsmedien oder Mailings, Mobilisierung über interpersonale Kommunikation vs. Schalten von
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
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Werbung, Versuche des Agenda bzw. Frame Building; vgl. Kriesi et al., 2009, S. 351). Demnach kann das Campaigning Teil der oben aufgeführten Medienarbeit sein bzw. die Medienarbeit wird Bestandteil der Kampagne. Eine besondere Rolle im Campaigning erfahren digitale Kommunikationskanäle und hier insbesondere die kostengünstigen Mobilisierungspotentiale des Web 2.0 (Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 261; Kriesi et al., 2009, S. 351). Eine Strategie, die sich in der Forschung zur Rolle von öffentlicher Beobachtung im Kontext von Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen immer wieder abzeichnet, ist die Bestrebung, sich der öffentlichen Beobachtung zu entziehen (Baugut & Grundler, 2009, S. 315; Borucki, 2014, S. 339). Das erfolgt insbesondere dann, wenn die Akteure Medien und Öffentlichkeit als Störfaktor im Entscheidungsprozess wahrnehmen, die die effiziente Entscheidungsfindung auf Basis vertraulicher und diskreter Interaktion unterbinden (Reunanen et al., 2010, S. 301–302; Thummes, 2013, S. 42). Diese Versuche können sich dabei auf ganz unterschiedliche Taktiken erstrecken: Neben der Veränderung der Entscheidungsprozesse selbst (Rückzug in diskretere Arenen; vgl. für solche Wechselwirkungen Kapitel 4.3; vgl. Gilboa, 2000; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011), können die Akteure auch versuchen, sich ihr Wissen um mediale und öffentliche Aufmerksamkeitsdynamiken zu Nutze zu machen, und so nach ihren Wünschen – in diesem Fall die Nicht-Öffentlichkeit – zu steuern (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 350). Dabei wird versucht, die unerwünschten Themen von der Agenda zu verdrängen, indem die Debatte beispielsweise auf andere Themen und sekundäre Probleme gelenkt wird, indem die Akteure in ihren öffentlichen Äußerungen zwar vermeintlich viel sagen, dabei aber wenig Substanz vermitteln, indem substantielle in moralische Konflikte umgedeutet werden oder, indem man sich Personalisierungsstrategien bedient, um den Fokus auf die Person statt die Sachfrage zu lenken. Gerade in der direkten öffentlichen Interaktion mit Journalisten – beispielweise in einem Interview – haben sich spezielle Antworttaktiken entwickelt: Salamitaktik bei der Bereitstellung von Informationen, Vergessen der eigentlichen Frage oder nur halb auf die eigentliche Frage antworten (Jarren, 1994, S. 665; Kriesi et al., 2009, S. 355; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 430). Bei all diesen Taktiken muss jedoch die Gefahr bedacht werden, dass dieses Handeln als wenig integer, weil intransparent erachtet wird. Damit kann es, wenn es als Täuschungsversuch seitens der Stakeholder interpretiert wird, zum Reputationsrisiko werden (Arlt, 1998, S. 77; Thummes, 2013, S. 52–53). Dieses Risiko wird überdies durch die besondere Rolle potenziert, die gesellschaftliche Funktionseliten als verantwortungsbewusste Problemlöser in der Gesellschaft einnehmen (sollen) (siehe oben). Diese Sammlung an potenziell relevanten Kommunikationsmaßnahmen im Kontext des legitimationsgenerierenden kommunikativen Handelns von Funkti263
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4 Abhängige Konstrukte
onseliten mutet durchaus lückenhaft an. Dadurch wird zugleich das Desiderat für weitere Forschung offengelegt, wonach eine umfassendere Identifikation relevanter Maßnahmen angestrebt werden sollte. Überdies sind die meisten identifizierten Maßnahmen nicht im Kontext dieses besonderen Anwendungsfalls – Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten – untersucht worden bzw. insgesamt bislang nur wenig beforscht worden (das gilt insbesondere für Vermeidungs- und De-Thematisierungsstrategien; Fawzi, 2014, S. 311; Thummes, 2013, S. 38–39). Die Umsetzung der PR-Strategie erfolgt dann in Form von „Interventionen einer Organisation in der sozialen Realität“ (Hoffjann, 2015, S. 212, siehe auch: Zerfaß, 2010, S. 358, 2014, S. 69). Konkret sind damit Taktiken gemeint, d. h. Maßnahmenpläne, die spezifizieren, welche konkreten Maßnahmen wann und von wem ergriffen werden und welche Kosten dabei voraussichtlich entstehen (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 617; Zerfaß, 2014, S. 69). Taktisches Geschick zeichne sich insbesondere dadurch aus, dass sich die einzelnen Maßnahmenbündel nicht gegenseitig behindern und überdies so flexibel ausgestaltet sind, dass stets die Möglichkeit besteht, auf unvorhergesehene Entwicklungen – zielkonform zu reagieren (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 617; Kriesi et al., 2009, S. 348) – beispielweise auf veränderte Stimmungen an der Basis und bei den relevanten Stakeholdern (Zerfaß, 2010, S. 325, 2014, S. 61). Herausforderungen entstehen dabei einerseits dadurch, dass oft übersehen wird bzw. vorab nicht umfassend antizipiert werden kann, welche Vernetzungen es zwischen verschiedenen Stakeholdern gibt. Diese stehen in Austausch miteinander, sodass sich diese in der Kommunikation nicht beliebig, weil separierbar adressieren lassen, sondern potenzielle Dynamiken und Ansteckungseffekte berücksichtigt werden und die verschiedenen Kommunikationsarenen in Einklang gebracht werden müssen (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 628; Tenscher, 2006, S. 20; Vonwil & Lackus, 2006, S. 103; vgl. hierzu auch message gap-Strategien, wie sie für internationale Verhandlungen diskutiert wurden: Friedman & Kampf, 2014). Vor allem aber die im Zuge medialer Wandlungsprozesse zunehmend volatiler und frequentierter agierende sowie ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgende Medienberichterstattung und öffentliche Kommunikation sind eine prägnante Quelle der Unsicherheit in der Sphäre der kommunikativen Handlungen von Entscheidungsträgern und erschwert deren Planbarkeit (Jarren, 1994, S. 666; Zerfaß, 2014, S. 71). Unvorhergesehene Ereignisse sind dabei gerade im Zusammenhang der Lösung von gesellschaftlichen Entscheidungsproblemen besonders virulent, da die konflikthafte und polarisierende Situation eine besondere Spannungslage im Angesicht der unterschiedlichen Interessenlagen mit sich bringt, die nur schwer in ihrer Dynamik vorhergesehen werden können. Nicht zuletzt sind auch plötzliche öffentliche Angriffe seitens des Gegners nicht unwahrscheinlich (Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 259). Ebenso muss in Anbetracht der besonderen Ansprüche,
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die an die Entscheidungsträger und ihre Kommunikation herangetragen werden, bedacht werden, dass klassische Krisenkommunikationsstrategien, wie sie für das Handeln von kommerziellen Unternehmen entwickelt wurden (Coombs, 2007), im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Funktionseliten nur bedingt anwendbar sind (Coombs, 2011, S. 229; Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 259).
Konzeption der Kommunikationshandelns: Ergebnisevaluation Analog zu den Merkmalen des Verhandlungsergebnisses lässt sich auch in dieser öffentlichen und medialen Arena das Ergebnis der PR-Strategiewahl und ihrer Umsetzung bewerten (vgl. für Details Abbildung 8). Diese Evaluationsphase nimmt in der PR-Konzeptionslehre eine entscheidende Rolle ein (siehe ausführlich hierzu: Zerfaß, 2010, S. 374ff.) – auch deshalb, weil diese wiederum als Input für die Analyse und strategische Planung künftiger kommunikativer Maßnahmen zum Einsatz kommt (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 614). Unterschieden wird zwischen der summativen und der formativen Evaluation: Erstere zielt darauf ab, den Erfolg der kommunikativen Maßnahmen zu messen, d. h. zu prüfen, ob man auf den relevanten Wirkdimensionen (kognitiv, emotional, konativ, sozial) bei den jeweils anvisierten Stakeholdern sein entsprechendes Ziel unter Effizienzgesichtspunkten erreicht hat (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 619; Hoffjann, 2015, S. 213; Zerfaß, 2014, S. 69). Dazu wird einerseits der Input (z. B. eingesetzte Ressourcen) dem Output (was wurde an Kommunikationsinhalten produziert – Messung über Clippings; Medienresonanzanalysen; online: visits, downloads) gegenübergestellt, um so eine Qualitäts- und Effizienzkontrolle zu ermöglichen. Darüber hinaus gilt es, die Outcome-Ebene differenziert zu erfassen: 1) was wurde bei den anvisierten Bezugsgruppen wahrgenommen – direct outcome im Sinne von Wahrnehmungen und Erinnerungen; 2) indirect outcome im Sinne von gewünschten Veränderungen in Einstellungen sowie im Verhalten (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 619; Hoffjann, 2015, S. 213). Schließlich kann noch die sog. outflow-Ebene (value creation) betrachtet werden, d. h. die Wirkung auf die Wertgenerierung der Organisation soll eruiert werden (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 620). Allerdings erweist sich letztere bereits bei kommerziell orientierten Organisation als schwierig (Zerfaß, 2014, S. 67).90 Noch weniger greifbar gestaltet sich dieses Unterfangen, wenn es nicht um ökonomisch messbare Werte, sondern vielmehr um die Entscheidungsfindung von gesellschaftlichen Funkti90 Zwar gibt es betriebswirtschaftliche Kennzahlen zur Beschreibung der Wertschöpfung. Allerdings ist es schwierig, den originären Beitrag der Kommunikation an dieser klar auszuweisen. Kommunikatives Handeln erzeugt nämlich selten materielles Kapital, stattdessen werden immaterielle Werte wie Human-, Struktur- und Beziehungskapital geschaffen (Zerfaß, 2014, S. 67). 265
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onseliten, also gewissermaßen gemeinwohl-orientierte Werte geht (Jarren, 1994, S. 671; Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 259). Neben die summative Evaluation des Kommunikationsergebnisses tritt die formative Evaluation als kontinuierliches bzw. prozessflankierendes Monitoring der Kommunikationsaktivitäten (z. B. wird der Plan eingehalten? Welche unmittelbaren Reaktionen gibt es?), sodass im Zweifel optimierend eingegriffen werden kann (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 620; Zerfaß, 2010, S. 345, 2014, S. 69). In diesem Zusammenhang ist vor allem die Intensität und Professionalität im Hinblick auf das sogenannte Issues Management entscheidend (Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 256–257).
Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit: Folgen für das Kommunikationshandeln Welche Folgen sind mit Blick auf diese beiden Dimensionen des Kommunikationshandelns zu erwarten, wenn sich gesellschaftliche Funktionseliten mit medial vermittelten und öffentlichen Kommunikationsinhalten auseinander setzen?91 Hier verweist die Forschung zu den Medialisierungsfolgen auf das kommunikative Handeln zunächst ganz klar auf Randbedingungen (vgl. Kapitel 2.3.2): Es kann keine Rede davon sein, dass medienvermittelte Kommunikation uniform überall und immer bedeutsamer wird (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2) und geradewegs in den entsprechenden Reaktionen mündet – z. B. Ausbau und Intensivierung der PR-Aktivitäten (vgl. Kapitel 2.3.2.1.1). Will man sich das Ausmaß der Medialisierung im Querschnitt ansehen, so hängt es vielmehr entscheidend davon ab, ob die betroffenen Akteure den Eindruck haben, dass die Medien einflussreich sind (im Längsschnitt: ob sie zunehmend den Eindruck haben, dass die Medien immer einflussreicher werden). Querschnittstudien zeigen, dass je mehr Einfluss den Medien zugeschrieben wurde, desto intensiver fielen die Kommunikationsaktivitäten aus (vgl. z. B. Amann et al., 2012; Jonathan Cohen et al., 2008). Nun kann man diese Wahrnehmung des medialen Einflusses in zweifacher Weise konzipieren: Einmal als generalisierte Zuschreibung, die die Perspektive des Entscheidungsakteurs auf Medien über einen längeren Zeitraum widerspiegelt. Zum anderen als ad hoc gebildete Wahrnehmung im Zuge der Auseinandersetzung mit den aktuellen Inhalten medialer und öffentlicher Kommunikation (d. h. Medien 91 Hier soll nochmals darauf verwiesen werden, dass es nicht Ziel der vorliegenden Arbeit ist, die Folgen der zunehmenden Bedeutung der Medien im Sinne des Medialisierungsparadigmas in der Längsschnittperspektive als dynamische Entwicklung zu konzipieren. Vielmehr geht es um die Modellierung des aktuellen Ausmaßes an Medialisierung (vgl. Kapitel 2.3), sodass eine Übersetzung der Medialisierungslogik in den Querschnitt von Nöten ist (vgl. hierzu auch die Forschungsdesigns, die im Querschnitt angelegt sind, Kapitel 2.3.2.1.2).
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
267
werden als einflussreich bzw. relevant für die aktuell verfolgten Ziele erachtet). Beide Aspekte sollen sich in der vorliegenden Modellierung widerspiegeln und als Ankerpunkte für unterschiedliche Einflüsse der Medienöffentlichkeit auf das Kommunikationshandeln dienen: Ersteres wird als Merkmal der Umwelt „Medien und Öffentlichkeit“ konzipiert (die Annahme ist hier, dass es als intervenierender Faktor wirkt; vgl. Kapitel 6.3). Im zweiten Fall erfolgt die Modellierung als Teil der unabhängigen Variablen – nämlich als Resultat aus der Auseinandersetzung mit den Inhalten der Medienöffentlichkeit (vgl. Kapitel 5). Ausgehend von der zuvor dargelegten Konzeption des Kommunikationshandelns von Entscheidungsakteuren kann nun in Verknüpfung mit der Medialisierungsperspektive folgende Annahme formuliert werden: Je einflussreicher die Medien generell oder ad hoc im Hinblick auf die als relevant empfundenen Stakeholder und die aktuell verfolgten Ziele erachtet werden und je mehr die Entscheidungsakteure sie in diesem Zusammenhang für einen geeigneten Kanal halten oder zumindest einen Kanal, den zu bespielen es notwendig ist, um negative Folgen zu vermeiden, desto mehr treten diejenigen Folgen ein, die im Zuge des Medialisierungsprozesses angenommen und in Teilen auch bestätigt wurden (vgl. Kapitel 2.3.2.1): Demzufolge erfolgt der Rückgriff auf mediale Leistungen und die Orientierung an deren Logik entsprechend umfangreicher (ähnlich argumentieren: Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 353). Dabei kann angenommen werden, dass in der praktischen PR-Arbeit massenmediale Kanäle an Bedeutung gewinnen und großer planerischer und tatsächlicher Aufwand in Kauf genommen wird, um diese Kanäle nach den eigenen Wünschen zu bespielen – also Aufmerksamkeit zu dem Zeitpunkt zu erzeugen, wenn man es selbst möchte und die Hoheit über die Deutung zu behalten. In diesem Zusammenhang zeigen die Befunde zu den Medialisierungsfolgen, dass es weniger klassische Instrumente der Medienarbeit wie Pressemitteilungen oder -konferenzen sind, vielmehr setzen Entscheidungsakteure zunehmend auf den informellen Austausch mit Journalisten (vgl. z. B. Borucki, 2014, S. 344; Reunanen et al., 2010, S. 297). Überdies wird vor allem die Vermutung laut, dass Campaigning als Form der strategischen Kommunikation an Bedeutung gewinnt, weil es aufgrund seines dramaturgisch austarierten Charakters besonders gut mit den Prinzipien der Medienlogik korrespondiert (Donges & Jarren, 2017, S. 175). Außerdem ist anzunehmen, dass Medien nicht nur als Kanal, sondern auch als eigene Stakeholdergruppe an Bedeutung gewinnen. Konkret hieße das: Es wird vermutlich mehr und mehr zu einem Ziel eigener Qualität, in der massenmedial vermittelten und öffentlichen Arena gut dazustehen (vgl. z. B., Brants et al., 2010). Schließlich kann ausgehend von den zuvor dargestellten Einsichten angenommen werden, dass die gestiegene Volatilität und Unvorhersehbarkeit der Dynamiken in der öffentlichen Meinung, in den Stimmungen unter den eigenen Anhängern und in der medial vermittelten 267
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4 Abhängige Konstrukte
Kommunikation ein höheres Maß an Flexibilität erfordern und mit höheren Anforderungen an die formative Evaluation (prozessflankierendes Monitoring, siehe oben) einher gehen. Dies wird auch deshalb angenommen, weil sich ein Akteur des Erfolgs in der massenmedial vermittelten Arena nie sicher sein kann, d. h. er nie die volle Steuerbarkeit inne hat, sondern stets mit dem Spin der Journalisten oder der Umdeutung durch andere Kommunikatoren rechnen muss (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 36; Raupp, 2009, S. 276). Im Zuge der Kommunikationsaktivitäten mit den Medien geht es aber nicht nur um das Erregen von Aufmerksamkeit bzw. das Erzeugen einer wohlwollenden Darstellung. Bedacht werden müssen an dieser Stelle explizit auch Abschottungsmaßnahmen wie sie an mehreren Stellen in der Forschung angedeutet wurden, aber bislang selten systematisch im Rahmen der Forschungsdesigns berücksichtigt wurden (ähnliches resümiert auch Fawzi, 2014, S. 311). Inwiefern der Eindruck, dass die Medien (generell und akut) sehr einflussreich sind, auch in tatsächlichem Handeln resultiert, das hängt wiederum von verschiedenen Umweltbedingungen ab, wie es die Befunde zu Medialisierungsfolgen auf Ebene der organisationalen und strukturellen Bewältigung von Kommunikationsaufgaben nahelegen (vgl. Kapitel 2.3.2.1.4): Manche Organisationen haben sehr viel unternommen (personeller und finanzieller Ausbau, strukturelle Vorkehrungen zum Umgang mit Kommunikationsaufgaben, Professionalisierung; vgl. z. B. Seibt, 2014), während andere hier zurückhaltender waren (vgl. z. B. Donges, 2008; Vogel, 2010). Ähnlich wie bei den Vermutungen zu den Einflüssen der Medienöffentlichkeit auf das Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena (vgl. Kapitel 4.1) fällt es aber schwer, die einzelnen Befunde einzuordnen und darauf zu antworten, wie stark die Reaktionen im Handeln ausfallen (können), weil es an systematischer – insbesondere vergleichender Forschung fehlt. Wann und wie treten bestimmte Einflüsse auf, wann hingegen verzichten die Akteure darauf, die Medienlogik als Richtschnur zu nehmen? Die hier vorgeschlagene Systematisierung der Kommunikationsaktivitäten leistet in zweifacher Hinsicht einen ersten Schritt, um dieses Ausmaß der Medialisierung in den Kommunikationsaktivitäten der Entscheidungsakteure gehaltvoll(er als bisher) zu untersuchen: Erstens erlaubt sie es, zu spezifizieren, was konkret mit „die Medien werden als einflussreich wahrgenommen“ gemeint sein kann, weil es die anvisierten Stakeholder und die entsprechenden Ziele explizit einbezieht. Es bleibt nämlich oftmals offen, in welcher Hinsicht einflussreich eigentlich zu verstehen ist (vgl. hierzu auch das Resümee zu 2.3.2.2.2). Zweitens erlaubt es die umfassendere Betrachtung des Kommunikationshandelns über Einzelindikatoren oder pauschale Abfragen hinaus, die Folgen aus der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit an dieser Stelle differenzierter zu erfassen als es bislang ge-
4.2 Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten Arena
269
schah (beispielweise, indem auch Abschottungsmaßnahmen und die Evaluation der Kommunikationsergebnisse berücksichtigt werden). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aktivitäten der gesellschaftlichen Funktionseliten in der Arena der medial vermittelten Öffentlichkeit über die Kombination aus folgenden Aspekten beschrieben werden können: die Wahl der kommunikativen Strategie als Kombination aus Stakeholdergruppe, die sie ansprechen wollen (z. B. die breite Öffentlichkeit vs. die eigenen Unterstützer, Kunden, Parteimitglieder), die kommunikativen Ziele, die sie in Bezug auf die Stakeholder anstreben (Aufmerksamkeit, Unterstützung, Vermeidung von Opposition, Überzeugen, unter Druck setzen) und die Maßnahmen zur Ansprache der jeweiligen Zielgruppe, um die entsprechenden kommunikativen Ziele zu erreichen (Hintergrundgespräche mit Journalisten, Kampagnen inszenieren, Veröffentlichung einer Stellungnahme über den eigenen Social Media Account). Im Gegensatz zum Einsatz strategischer PR-Maßnahmen von Unternehmen, die ihre kommerziell-motivierten Partikularinteressen vertreten, bewegt sich das kommunikative Handeln der gesellschaftlichen Funktionseliten in einem besonders spannungsreichen Feld an moralisch aufgeladenen Anspruchshaltungen – Stichwort: gesellschaftliche Problemlöser. Diese Anspruchshaltungen beziehen sich nicht nur auf das eigentliche Kernentscheidungshandeln, sondern erstrecken sich auch auf die Frage, wie kommuniziert werden soll und darf. Ergänzt wird die Wahl der Kommunikationsstrategie durch die Evaluation des Kommunikationsergebnisses und des -prozesses (summative und formative Evaluation der kommunikativen Maßnahmen). Diese Aspekte bilden den zweiten Block an Zielkonstrukten zur Erklärung von Medieneinflüssen auf gesellschaftliche Entscheidungsträger. Insbesondere dann, wenn die Medien mit Blick auf die anvisierten Stakeholder und die angestrebten Ziele als einflussreich wahrgenommen werden, können Folgen vermutet werden, wie sie im Rahmen des Medialisierungsparadigmas formuliert wurden (zunehmende Bedeutung der massenmedialen Kanäle, der Medienöffentlichkeit als eigene Stakeholdergruppe, mehr Flexibilität wird im Umgang notwendig, Zunahme an Campaigning-Aktivitäten, aber auch Abschottungsmaßnahmen). Bereits die Inkompatibilität der Prinzipien, die die Verhandlungsarena einerseits und die mediale und öffentliche Arena andererseits kennzeichnen, suggeriert, dass die beiden Arenen nicht unabhängig voneinander existieren. Vielmehr scheint es mehr als plausibel, dass verschiedenste Wechselwirkungen – etwa in Form von gegenseitiger Verstärkung oder gar Behinderung – auftreten. Diese Wechselbeziehungen sollen nachfolgend im Fokus stehen, um die systematische Ableitung von Handlungen in den beiden Arenen mit dieser Betrachtung der Intersektion zwischen beiden zu komplettieren. 269
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4 Abhängige Konstrukte
4.3
Zwischen den Arenen: Wechselwirkungen und instrumentelle Aktivitäten zwischen Verhandlungsund öffentlicher Medienarena
4.3
Zwischen den Arenen
Sowohl die Aufarbeitung der Parameter in der medienvermittelten öffentlichen Arena (vgl. Kapitel 4.2) als auch die Elaboration der Konstrukte in der Verhandlungsarena (vgl. Kapitel 4.1) haben an zahlreichen Stellen bereits Intersektionen mit der jeweils anderen Handlungsarena offenbart. Entsprechend gilt es schon fast als Allgemeinplatz, dass diese beiden Arenen nicht isoliert voneinander existieren (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 302; vgl. Abbildung 6 für eine Verortung im Gesamtmodell). Da mit den Arenen unterschiedliche Schwerpunkte in der Zielsetzung der Akteure einhergehen, ist es einleuchtend, dass ihre Koexistenz nicht immer reibungsfrei verläuft wie es Strøm und Müller (1999) für politische Parteien in ihren jeweils virulenten Handlungsarenen darlegten: „Occasionally, party leaders may find themselves in the fortunate situation that strategies that maximize one of their objectives are also the best means to the others. Much more commonly, however, there are likely to be trade-offs between their different goals, and party leaders find that they have to compromise on some goals in order to reach others“ (Strøm & Müller, 1999, S. 10). Die Handlungen und Aktivitäten in einer Arena werden dann also zum Umweltfaktor für die Handlungsoptionen in der anderen Arena (Landerer, 2013, S. 247; Marcinkowski, 2014, S. 16). Dabei sind im Prinzip zwei mögliche Interaktionsbeziehungen denkbar (vgl. für eine Detailübersicht Abbildung 9): eine gegenseitig förderliche und eine sich behindernde Wechselwirkung. Beispielweise ist nicht jedes Verhandlungsergebnis gleichermaßen geeignet, um es in der Öffentlichkeit zu verkaufen. Umgekehrt verweist Grande (2000, S. 123) auch darauf, dass eine übermäßige Inszenierung und Hervorhebung der eigenen Aktivitäten und Handlungsmöglichkeiten in der öffentlichen Arena Erwartungshaltungen bei den jeweils relevanten Anspruchsgruppen weckt, die wiederum enttäuscht werden könnten, wenn man nicht auch tatsächlich über derartige Handlungsoptionen in der Kernentscheidungsarena (z. B. fehlende Mehrheiten) verfügt (ähnlich: Sarcinelli, 2011, S. 121). Denkbar ist aber auch folgende Situation: Einer der Verhandlungspartner möchte sein öffentliches Image aufbessern und gibt sich deshalb in seiner öffentlichen Außendarstellung als kompromissbereiter Akteur. Dieses öffentlich verbreitete Image erreicht auch den Gegner und sorgt dafür, dass dieser am Verhandlungstisch kompromissorientierter auftritt.
4.3 Zwischen den Arenen
271
Instrumentelle Aktivitäten in der medialen/öffentl. Arena (z.B. Precommitments, Abschottungsmaßnahmen)
Wechselwirkungen: Wechselseitige Verstärkungs- bzw. Behinderungseffekte
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena
Instrumentelle Aktivitäten in der Verhandlungsarena (z.B. zugespitztes Vortragen der eigenen Positionen)
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Abb. 9 Detailbetrachtung der Wechselbeziehung zwischen medienvermittelter öffentlicher und Verhandlungsarena Quelle: Eigene Darstellung.
Die Relevanz solcher Wechselwirkungen für die vorliegende Betrachtung und Modellierung ergibt sich daraus, dass die Entscheidungsakteure diese in ihrer strategischen Planung berücksichtigen und mitunter auch gezielt versuchen, sie zu antizipieren: Beispielweise ist in diesem Zusammenhang oft die Rede von der „boundary spanning role“ (L. Grunig, Grunig & Ehling, 1992, S. 67), die die PR für Organisationen erfüllt, weil sie durch ihre Grenzposition dazu beitragen soll, dass alle relevanten Information aus den verschiedenen Umwelten zusammenfließen und im organisationalen Handeln entsprechend Berücksichtigung finden können. Nur wenn man solche potenziellen Wechselwirkungen berücksichtigt, kann man beispielweise verstehen, warum bestimmte Handlungen mitunter auch ausbleiben – nämlich deshalb, weil sie neben den vorteilhaften Effekten in einer Arena zu vermeintlich schädlichen Wirkungen in der anderen Arena beitragen, die man nicht in Kauf nehmen will. Je mehr Entscheidungsträger etwa die Kernentscheidungsfindung als wichtig erachten, desto mehr werden sie so handeln, dass sie das 271
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4 Abhängige Konstrukte
Kernentscheidungsziel nicht gefährden (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 353). Das bedeutet: Wenn die öffentliche Kommunikation ein Hindernis für den Verhandlungserfolg darstellt, werden die Entscheidungsträger alles tun, um ihren Erfolg im Verhandlungskontext zu sichern und öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden. Nur wenn Aufmerksamkeit und Unterstützung in der medienvermittelten Öffentlichkeit als hilfreich angesehen werden, werden Aktivitäten in diesem Bereich nicht als Bürde betrachtet, sondern als ein Handlungsfeld, das der Mühe lohnt und in die strategischen Überlegungen einbezogen werden sollte. Umgekehrt kann es auch das Ziel sein, die öffentliche Wirkung, d. h. beispielweise ein positives öffentliches Image, zu maximieren. Dann fallen die Überlegungen eher zugunsten der Erfolgsmaximierung in der öffentlichen Medienarena und u. U. zu Lasten der Verhandlungsarena aus (ähnliche Gedankengänge formulieren Landerer, 2015, S. 47–48, 270 für politische Akteure, die zwischen den Zielen in der parlamentarischen und der elektoralen Arena abwägen, und Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 11, für Verhandlungsakteure, die zwischen legitimacy- vs. efficiency-driven strategischen Optionen an der Schnittstelle Verhandlungsarena und Öffentlichkeit abwägen). Je wichtiger ein Entscheidungsakteur also die jeweilige Handlungsarena für seinen Erfolg erachtet, desto mehr wird er deren Prinzipien achten und das Handeln in den anderen Arenen so ausrichten, dass es nicht in Widerspruch zu dieser gerät. Neben der Berücksichtigung potenzieller Wechselwirkungen muss aber auch in Betracht gezogen werden, dass diese ganz gezielt anvisiert werden: Dann werden bestimmte Handlungen in einer Arena nur deshalb verfolgt, weil sie ein bestimmtes Resultat in der anderen Arena generieren sollen (Grande, 2000, S. 138; Landerer, 2013, S. 247; Strøm & Müller, 1999, S. 6). Denkbar sind zunächst instrumentell motivierte Aktivitäten in der Medienöffentlichkeit, um den Verhandlungsablauf zu seinen eigenen Gunsten zu beeinflussen (Korte & Fröhlich, 2009, S. 263; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10, 2011, S. 421). Dabei machen sich die Entscheidungsakteure ihr Wissen um die Medienlogik zu Nutze, um möglichst zielgerichtet eine Wirkung im Verhandlungsgeschehen zu erzeugen (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 11; Tenscher, 2006, S. 20). Diese Wirkung kann einerseits darin bestehen, öffentliche Aufmerksamkeit und Stimmungen zu den eigenen Gunsten zu mobilisieren (vgl. Mobilisierungstaktik bei Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 427 oder die Strategien public diplomacy, media diplomacy und media-broker diplomacy, wie sie Gilboa, 2000 für die Rolle von Medien in internationalen Verhandlungen herausgearbeitet hat): Dabei wird der argumentative Austausch am Verhandlungstisch gewissermaßen auf die öffentliche Arena ausgeweitet und die Kontrahenten versuchen „quasi über die Bande der Medienberichterstattung“ (Tenscher, 2006, S. 20) miteinander zu interagieren. Nicht die allgemeine Öffentlichkeit oder andere Teilöffentlichkeiten sind in dem
4.3 Zwischen den Arenen
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Zusammenhang die Zielgruppen. Vielmehr ist das Gegenüber am Verhandlungstisch das eigentliche Ziel der kommunikativen Aktivitäten. An ihn sollen indirekt Signale gesendet werden, indem eine bestimmte öffentliche Wirkung erzeugt wird (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 349). Interessanterweise ist es gar nicht notwendig, dass eine tatsächliche öffentliche Wirkung entsteht, vielmehr reicht es bereits, dass der Gegner glaubt, eine solche Wirkung könnte entstehen, wie es Cook (2006, S. 168) darlegte: Demnach können kommunikative Anstrengungen in Bezug auf die Medien auch mit dem Ziel erfolgen, die Wahrnehmungen des Gegners zu beeinflussen. Unabhängig davon, ob man mit den Kommunikationsmaßnahmen tatsächlich die Öffentlichkeit für sich gewinnen konnte, geht es vor allem darum, dass beim Gegner genau dieser Eindruck entsteht. Dies gelingt, indem vor allem solche Medien die eigenen Botschaften aufgreifen, die einerseits von der Gegenseite wahrgenommen und von dieser zugleich als einflussreich mit Blick auf die (relevanten Teile der) Öffentlichkeit erachtet werden (darauf verweisen auch Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 351). Eine solche Wirkung kann etwa erzeugt werden, wenn einer der Verhandlungspartner auf sog. Pre-Commitments setzt: Dabei bekennt sich der jeweilige Entscheider öffentlich zu einer ganz bestimmten Position (man denke an die berüchtigten roten Linien). Durch ein solches öffentliches Bekenntnis wird die Glaubwürdigkeit unterstrichen, mit der man diese Position vertritt, da jedes Abrücken davon mit einem öffentlichen Gesichtsverlust einhergehen würde (d. h. der Akteur konnte sein Wort nicht halten, vgl. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 8). Man versucht so gewissermaßen Tatsachen für die Verhandlungsarena zu schaffen. In Anbetracht des drohenden Imageschadens signalisiert man damit nämlich, dass man eigentlich keine Wahl mehr hat als sich hierbei durchzusetzen (Flynn, 2000, S. 158; Fritz, 2012, S. 7). Darüber hinaus sind insbesondere Indiskretionen bzw. Leaks die prominentesten Beispiele für solche instrumentellen Handlungen über die öffentliche Arena (Baugut & Grundler, 2009, S. 342; Borucki, 2014, S. 12; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 11, 2011, S. 421). Wie bereits in Kapitel 4.1 als Taktik im Rahmen von distributiven Verhandlungsstrategien aufgezeigt geht es dabei darum, dass gezielt Informationen aus der Verhandlungsarena bzw. in Bezug auf den Gegner öffentlich verbreitet werden, um eine öffentliche Stimmung (oder den Eindruck davon) zu seinen eigenen Gunsten zu erzeugen (Linsky, 1986, S. 238). Das Leaking gilt insbesondere deshalb als wirksames Instrument, weil man sich der medialen Aufmerksamkeit fast sicher sein kann – schließlich bedient es nicht nur den Nachrichtenfaktor Neuigkeitswert, sondern auch den der Konflikthaftigkeit, da die Verbreitung der Information eine Regelüberschreitung darstellt (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 421). Die Kehrseite dessen ist, dass durch diese Regelüberschreitung die Vertrauensbasis zwischen den Verhandlungspartnern gestört 273
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wird, was die Lösungssuche insgesamt, mindestens jedoch einen integrativen Lösungsweg erschwert (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 421, 433; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 349, 353). Dabei kommt verschärfend hinzu, dass die so ausgelöste Dynamik nicht umkehrbar ist, sondern die eingeleitete Eskalation einer Pfadabhängigkeit folgt – ist eine Information erst mal öffentlich, so kann man sie nicht mehr zurückholen und ebenso kann man das zerstörte Vertrauen nur schwer kurzfristig wiederaufbauen. Die Art, wie Medien dann berichten, trägt zusätzlich zur Zuspitzung und Polarisierung zwischen den Positionen bei (vgl. hierzu Kapitel 3.2.2.2 und Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 350). Dass die medienvermittelte und öffentliche Arena tatsächlich als eine sehr bedeutsame strategische Plattform erachtet wird, hat sich bereits im Zusammenhang mit den Folgen der Medialisierung auf das Entscheidungshandeln gezeigt (vgl. Kapitel 2.3.2.2.4 sowie Borucki, 2014, S. 340; Davis, 2007, S. 189; Fawzi, 2014, S. 220; Landerer, 2015, S. 266; Sellers, 2010, S. 208). Entsprechend konkludiert auch Fawzi (2014, S. 222–223) aus ihrer Studie zur Rolle der Medien in der Energiepolitik: „Mit der Darstellung ihrer Politik wollen politische Akteure somit die Herstellung von Politik in die gewünschte Richtung beeinflussen.“ Das sei in der Praxis quasi „common sense“ (Fawzi, 2014, S. 220), nicht jedoch in der Forschung, schließlich wurde „dieser Zusammenhang (…) in der Literatur bislang kaum diskutiert“ (Fawzi, 2014, S. 222–223). Die wenigen Autoren, die sich diesen instrumentell motivierten Aktivitäten gewidmet haben, haben dabei sogar versucht, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen der strategisch-instrumentelle Einsatz der Medienöffentlichkeit besonders aussichtsreich sein müsste: In der medialen und öffentlichen Umwelt gilt das Ausmaß des medialen Interesses für das Geschehen als wichtig. Zumindest wird mit Blick auf Indiskretionen argumentiert, dass dieser Mechanismus erst lohnenswert ist (d. h. der potenzielle Vertrauensverlust, der damit einhergeht, erst in Kauf genommen wird), wenn man eine entsprechende Resonanzfläche zur Verfügung hat (Fritz, 2012, S. 8). Andernfalls droht der vorteilhafte Effekt ohne positive Wirkung über öffentliche Aufmerksamkeit zu verpuffen und es bleibt nur der potenzielle Vertrauensverlust. Ebenfalls förderlich ist es, wenn die eigene Position, die man so platzieren möchte, mit dem derzeit öffentlich geteilten Wertekonsens korrespondiert (Bitterwolf & Seeliger, 2013, 38, 50). Alternativ können die Kontrahenten auch versuchen a priori einen solchen vorteilhaften öffentlichen Resonanzboden zu erzeugen, in dem sie versuchen abseits bzw. im Vorfeld zum eigentlichen Kernentscheidungsprozess eine öffentliche Debatte anzustoßen und darin eine für sich vorteilhafte öffentliche Deutung zu etablieren (Kumar, 2007, S. 133). Schließlich kann vermutet werden, dass dieser Weg über die Medienöffentlichkeit und die damit einhergehende Orientierung an der Medienlogik vor allem
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dort honoriert wird, wo eine kommerzielle Medienlogik weit verbreitet bzw. fest verankert ist (d. h. je kommerzialisierter das Mediensystem eines Landes oder je mehr ein Medium einer kommerziellen Medienlogik folgt, vgl. Fritz, 2012, S. 10). Neben diesen Merkmalen der medialen und öffentlichen Umwelt kann noch eine Randbedingung aus der Verhandlungsumwelt ausgemacht werden: Nämlich dann, wenn sich das Geschehen am Verhandlungstisch als sehr zäh erweist und man das Gefühl hat, nicht voran zu kommen, dann wird die Medienöffentlichkeit zur attraktiven strategischen Plattform (Baugut & Grundler, 2009, S. 269; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 430). Diese Mobilisierungsperspektive auf die Medienöffentlichkeit stellt jedoch nur eine Seite der Medaille dar. In ihrer Konzeption verschiedener öffentlichkeitsbezogener Verhandlungsstrategien verweisen Spörer-Wagner und Marcinkowski (2011, S. 422) explizit darauf, auch die Kehrseite von öffentlicher und medialer Aufmerksamkeit zu berücksichtigten: Es kann auch das Ziel sein, öffentliche Aufmerksamkeit und damit verbundene Wirkungen gezielt zu vermeiden wie es beispielweise folgende Aussage eines Abgeordneten aus dem Schweizer Parlament ausdrückt, die im Zuge einer kombinierten qualitativ-quantitativen Untersuchung zu Medieneinflüssen im Rahmen von drei Entscheidungsinstanzen zustande gekommen ist: „the best decisions are taken when the media do not know about them“ (Landerer, 2015, S. 267). Konkret versucht man die Wechselwirkungen zwischen den beiden Arenen so zu steuern, dass sie das Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena nicht behindern. Dazu reicht es nicht, einfach nichts in der medialen Arena zu tun. Vielmehr werden gezielt Maßnahmen ergriffen, um mediale und öffentliche Aufmerksamkeit zu reduzieren oder sich ihrer zu entziehen. Die Befunde zu Medialisierungsfolgen haben etwa gezeigt (vgl. Kapitel 2.3.2.2.7), dass strukturelle Veränderungen im Kernentscheidungsprozess vorgenommen werden, um sich der öffentlichen Beobachtung zu entziehen (Zunahme an informellen Räumen, Schaffen von Pufferräumen usw., vgl. z. B. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Alternativ versucht man in der öffentlichen Kommunikation gezielt Maßnahmen zu ergreifen, um vom Kern des Geschehens abzulenken (vgl. Kapitel 4.2, z. B. personalisierte Vermeidungstaktik: man stellt prominente Personen nach vorne, die dann die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und von heiklen Sachverhalten ablenken sollen; vgl. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 430). Ähnliche Vermeidungstaktiken im Zusammenspiel mit den Medien wurden bereits von Gilboa (2000) für internationale Verhandlungen identifiziert, der beispielsweise von den Strategien secret diplomacy und closed door diplomacy spricht. Sei es die Mobilisierung der Öffentlichkeit oder die Abschottung vor derselben – dieser Fokus auf die instrumentell motivierten Aktivitäten in der medialen und öffentlichen Arena blendet dabei oft aus (und das gilt auch für die ansonsten 275
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sehr differenziert ausgearbeiteten Strategien bei Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011), dass auch Wechselwirkungen in die andere Richtung das potenziell anvisierte Ziel sein können: Umgekehrt sind nämlich auch instrumentell motivierte Maßnahmen am Verhandlungstisch denkbar, die als erfolgsversprechend in der Medienöffentlichkeit erachtet werden. Einen ersten Hinweis auf diese Perspektive liefert der Blick in die PR-Forschung bzw. -Konzeption. PR könne demnach das Ziel, Legitimität für das Handeln der jeweiligen Organisation herzustellen, nur dann sinnvoll verfolgen, wenn sie nicht nur die Möglichkeit der Außensteuerung über externe Kommunikation habe, sondern wenn sie zugleich Einfluss auf die organisationale Selbststeuerung nehmen könne (Hoffjann, 2015, S. 157–160; Röttger, 2015, S. 16–17, 29). Konkret heißt das, dass Legitimation einerseits kommunikativ über öffentlichkeitsbezogene Maßnahmen erzeugt werden kann (Medienarbeit, Campaigning). Gleichzeitig muss aber auch die Möglichkeit bestehen, auf das operationale Handeln einer Organisation und dann im Zweifel auch auf deren Handeln am Verhandlungstisch einwirken zu können, wie es diese Aussage für die Rolle von PR im Unternehmenskontext deutlich macht: „die Unternehmensführung [denkt] kommunikationsrelevante Implikationen von vornherein mit, die Kommunikation sitzt sozusagen ‚mit am Tisch‘.“ (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 622; ähnlich: Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 251). Allerdings offenbaren die Befunde aus einer Studie von Röttger (2015) für politische Organisationen, dass es sich hierbei um ein Ideal handelt, das in der Realität kaum erreicht wird. Zumindest verfügte die PR in politischen Organisationen diesen Befunden zufolge kaum über die Macht, die interne Organisationssteuerung so zu beeinflussen, dass sie kongruent mit ihren Zielen gewesen wäre (Röttger, 2015, S. 29). Dies spricht dafür, dass diese Perspektive der instrumentellen Nutzung der Verhandlungsarena zu öffentlichkeitsbezogenen Zielen zumindest bislang noch nicht intensiv genutzt wird. Demgegenüber stehen allerdings Befunde von Fawzi (2014, S. 269–270; N = 338 Entscheidungsakteure aus der Energiepolitik): In ihrer Befragung von Akteuren aus der Energiepolitik gaben 74 % an, dass sie versuchen, das Verhandlungsergebnis medientauglich aufzubereiten und 57 % versuchen, ihre Redebeiträge in Kommissionssitzungen und Gremien, d. h. in nicht-öffentlichen Sitzungen medientauglich aufzubereiten (z. B. besonders zugespitzt zu formulieren). Dies spricht dafür, dass auch in der nicht-öffentlichen Verhandlungssphäre Maßnahmen ergriffen werden, um sich das Inszenierungspotential in der Öffentlichkeit zu sichern. Insgesamt bleibt an dieser Stelle aber festzuhalten, dass diese Perspektive, d. h. die instrumentelle Nutzung der Verhandlungsarena, um darüber den Erfolg in der öffentlichen und Medienarena zu sichern, noch deutlich seltener eingenommen wurde. Gleichzeitig würden solche Befunde auf ein sehr umfassendes Ausmaß an Orientierung an der Medienlogik und damit Medialisierung hindeuten (vgl. weiter
4.3 Zwischen den Arenen
277
hinzu Kapitel 4.4). Mit Blick auf die Implikationen aus diesen Wechselwirkungen bleibt folgendes festzuhalten: Die Frage, ob die Wechselwirkung zwischen medialer Öffentlichkeitsarena und der Verhandlungsarena als funktional und positiv bewertet wird, hängt stark von der Perspektive ab, die man einnimmt: So kann beispielsweise über Leaking Druck auf einen Verhandlungsakteur ausgeübt werden, was schließlich zum Einlenken desselben führt. Das ist aus Sicht des unter Druck gesetzten negativ, weil er entgegen seiner ursprünglichen Präferenzen nachgegeben hat (eine ähnliche Situation schildert Kumar, 2007, S. 151 für die Tarifauseinandersetzung zwischen der Gewerkschaft Teamsters und UPS). Aus Sicht des Druck Ausübenden wird das hingegen als funktional erachtet, weil ein vermeintlicher Stillstand im Verhandlungsgeschehen überwunden werden konnte (Grande, 2000, S. 138; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10) und das zum eigenen Vorteil. Auch die Befunde von Fawzi (2014) untermauern diesen Eindruck (N = 338 Entscheidungsakteure aus der Energiepolitik): In einer Befragung von Akteuren aus der Energiepolitik schrieben 39 % der Befragten einer intensiven und kontroversen Berichterstattung über den Verlauf von Verhandlungen im Bereich der Energiepolitik einen negativen, 35 % hingegen einen positiven Einfluss auf die Kompromissfindung zu (Fawzi, 2014, S. 249). Vermutlich ist die Frage an dieser Stelle entscheidend, zu wessen Gunsten die intensive und kontroverse Berichterstattung ausfiel. Diese Information war jedoch nicht Bestandteil der Studie. In der Summe zeigt sich, dass vielfältige Wechselwirkungen zwischen den Aktivitäten in beiden Arenen entstehen. Das bedeutet zunächst, dass die Funktionseliten vor der Herausforderung stehen, sowohl Entscheidungs- als auch Darstellungsstärke zu beweisen, indem sie den mitunter widersprüchlichen Prinzipien in den beiden Arenen gleichzeitig gerecht werden müssen (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 416). Dabei scheinen mehrere Dimensionen relevant (z. B. Bedeutung der Arenen, Ausmaß an öffentlicher Beobachtung, bisherige Entwicklungen in den jeweiligen Arenen), wenn man verstehen will, welche Wechselwirkungen entstehen und wie sie bewertet werden. Insbesondere die Antwort auf die letzte Frage, also ob sie für das Ziel, eine gute Lösung für das gesellschaftliche Koordinationsproblem bzw. den sozialen Konflikt zu finden, funktional bzw. dysfunktional sind, hängt stark von den Motiven, Zielen und Intentionen ebenso wie den verfügbaren Optionen der Beteiligten ab. Die strategisch-taktischen Überlegungen der Verhandlungsakteure verbinden dabei diese Ausgangspräferenzen mit den wahrgenommenen Optionen in der jeweiligen Situation und der Entscheidung, wie letztlich in den beiden Arenen agiert werden soll. Der zentralen Rolle dieser Abwägungen wird Rechnung getragen, indem die Modellierung der abhängigen Konstrukte – das Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena und das kommunikative 277
278
4 Abhängige Konstrukte
Handeln in der medienvermittelten öffentlichen Arena – nun um diese ergänzt und damit komplettiert wird.
4.4
Schlüsselkomponente: Strategisch-taktische Überlegungen der Entscheider
4.4 Schlüsselkomponente
Die Medialisierungsthese geht davon aus, dass die Medienlogik als institutionelles Set an Regeln, Handlungsrationalitäten und Normen zur Herstellung und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit zunehmend an Bedeutung in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gewinnt und dort die jeweils vorherrschenden Handlungsrationalitäten und Regeln verändert, modifiziert, überlagert, ergänzt oder sogar (in Teilen) ersetzt (F. Esser, 2013, S. 160–161; F. Esser & Matthes, 2013, S. 177; Fawzi, 2014, S. 55; Hjarvard, 2008, S. 113; Marcinkowski, 2014, S. 6; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Übertragen auf das Kernentscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten hieße das, dass die Regeln, Prozeduren und Handlungsrationalitäten des Entscheidens von denen der Medienlogik verändert und überlagert oder sogar ersetzt werden (vgl. Kapitel 2.3). Es stellt sich nun die Frage, wo der Ort ist, an dem diese Prozesse des Veränderns, Ersetzens und Überlagerns stattfinden. Die vorliegende Konzeption sieht vor, hierzu die strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheidungsakteure in den Blick zu nehmen, die sie anstellen, wenn sie ein Entscheidungsproblem unter den Bedingungen der Medienöffentlichkeit angehen und lösen (siehe Abbildung 6 für eine Verortung im Gesamtmodell). Während das Handeln in den beiden Arenen jeweils darüber beschrieben werden soll, welche tatsächliche Strategie nun gewählt wird (vgl. Kapitel 4.1 für die Unterscheidung in distributive und integrative Verhandlungsstrategie und Kapitel 4.2 für die Konzeption einer Kommunikationsstrategie über die Kombination aus Zielen, anvisierte Stakeholder und Maßnahmen), beschreiben diese strategisch-taktischen Überlegungen deren Auswahl. Nur wenn es gelingt, diese Kalküle und Abwägung greifbar zu machen, wird es möglich, das Handeln der Akteure zu verstehen, weil nur dann eine Verknüpfung zu den dahinterliegenden Motiven, Zielen und Interessen hergestellt werden kann. Um das zu verdeutlichen, sei an dieser Stelle ein Szenario wiedergegeben, das Cook (2006, S. 168) geschildert hat: Zwei Politiker konkurrierender Parteien geben eine gemeinsame Pressekonferenz zu einer aktuellen politischen Streitfrage. Die Motive dahinter können vielfältig sein: Man deutet eine Koalitionsbildung und damit Kooperationswillen über Parteigrenzen hinweg an, man will den Eindruck vermitteln, dass man den anderen auf seine Linie gebracht hat, man verspricht sich einfach nur Medienaufmerksamkeit, weil man mit einem
4.4 Schlüsselkomponente
279
Auftritt mit dem politischen Kontrahenten Nachrichtenwert erzeugt – erst wenn man die strategisch-taktischen Überlegungen dahinter kennt, wird dieses Handeln sinnvoll einordenbar (vgl. hierzu auch die instrumentell motivierten Handlungen in der jeweils anderen Arena, wie sie in Kapitel 4.3 beschrieben wurden). Hierbei werden zwei zentrale Annahmen getroffen: Erstens, die strategisch-taktischen Abwägungen erstrecken sich auf die Aktivitäten in beiden Arenen. Sie sind dem kommunikativen Handeln in der medienvermittelten öffentlichen Arena und dem Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena gleichermaßen vorgelagert (ähnlich argumentieren Korte & Fröhlich, 2009, S. 269). Zweitens wird vorausgesetzt, dass die Strategieplanung in engem, wenngleich nicht perfektem Zusammenhang zum tatsächlichen Handeln steht (Roloff & Jordan, 1992, S. 22). Metaanalysen im Verhandlungskontext stützen diese Annahme zum Zusammenhang zwischen Planung im Vorfeld der Verhandlungen und dem tatsächlichen Verhandlungsverlauf (Druckman, 1994; Roloff & Jordan, 1992, S. 34). Diese strategiebezogenen Überlegungen und Abwägungen werden allerdings oft gemeinsam mit dem tatsächlichen Handeln gedacht und nur selten als analytisch eigenständige, dem Handeln vorgelagerte Konstrukte in den Blick genommen (zu einem ähnlichen Befund für die Verhandlungsforschung gelangen Liu, 2015, S. 1, 8; Roloff & Jordan, 1992, S. 32). Zudem wurde nach Wissen der Autorin bislang nicht der Versuch unternommen, über diese Kalküle verschiedene Sphären des Handelns zu verknüpfen. Daher gestaltet sich die Frage problematisch, welche Aspekte unter diese Kalküle gefasst werden sollen.
Konzeption der strategisch-taktischen Überlegungen Ausgangspunkt dieser Konzeption soll der Begriff der Strategie sein, worunter „situationsübergreifende, erfolgsorientierte Ziel-Mittel-Umwelt-Kalküle“ (Raschke, 2002, S. 210) verstanden werden. Eine ähnliche Kombination verstehen auch Pruitt und Carnevale (1993, S. 3) darunter, wenn sie von einem „plan of action, specifying broad objectives and the general approach that should be taken to achieve them“ sprechen. Taktiken seien dann die Übersetzung dieses Plans in konkretes Handeln (ähnlich: Olekalns & Weingart, 2008, S. 138). In der Summe kann festgehalten werden, dass die strategischen Überlegungen die Ziele mit den Maßnahmen, um diese zu erreichen, verknüpfen (vgl. auch Bentele & Nothhaft, 2014, S. 615; Brett & Thompson, 2016, S. 69). Einige Autoren ergänzen an dieser Stelle zusätzlich potenzielle Hindernisse – oder neutraler formuliert – Umweltfaktoren, die das Zusammenspiel aus Zielen und Maßnahmen beeinflussen könnten (Roloff & Jordan, 1992, S. 22). Um dieses dynamische Geflecht verschiedener kognitiver und emotionaler Aspekte abbilden zu können, bedient man sich oft komplexer Szenarien (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 614; Zerfaß, 2010, S. 345; vgl. auch Ausführungen von Roloff & 279
280
4 Abhängige Konstrukte
Jordan, 1992, S. 34; Thompson, 1990, S. 524). Der Gedanke von Szenarien verdeutlicht, dass es nicht möglich ist, singulär nur einen Faktor zu verändern, da stets auch die anderen beeinflusst werden (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 625). Deshalb besteht in der Strategieplanung eine zentrale Herausforderung darin, die verschiedenen Parameter gleichzeitig zu maximieren, indem sie sorgfältig gegeneinander abwogen und zueinander in Beziehung gesetzt werden (Hoffjann, 2015, S. 208). Welche Aspekte umfasst nun ein solches Strategieszenario? Auf Basis von Erfahrungen aus der Praxis berichten Roloff und Jordan (1992, S. 35) davon, dass man zunächst einen möglichst großen Pool an Ziel-Maßnahmen-Kombinationen erarbeitet. Darüber hinaus werden Überlegungen dazu angestellt, unter welchen Bedingungen man einen Wechsel in der Verhandlungsstrategie einleiten will oder muss (z. B. Übergang von einer kooperativen zu einer kompetitiveren Strategie), um sein Verhandlungsziel halten zu können. Folgendes Beispiel veranschaulicht das: In ihrer Fallanalyse zum Tarifkonflikt um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zwischen der IG Metall und Gesamtmetall in Schleswig-Holstein 1956/57 stellte Koch-Baumgarten (2013, S. 51) fest, dass eine Forderung zur Gleichstellung relativ früh im Konflikt aufgegeben wurde. Sie vermutete, dass die Gewerkschaft auf die Strategie gesetzt hatte, einen ganzen Forderungskatalog zu präsentieren, den sie Schritt für Schritt abbauen konnte, um sich in ihrer Kernforderung auf jeden Fall durchzusetzen (siehe für ähnliche Beispiele auch Kumar, 2007, S. 127–128). Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang vor allem die Überlegungen zum Gegner: Primär geht es um Vermutungen zu den Zielen und zugrundeliegenden Motiven sowie den Maßnahmen, die er ergreifen wird (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 36; Olekalns, Robert, Probst, Smith & Carnevale, 2005, S. 380; Schimank, 2010, S. 43); aber auch um die Frage, wie der Gegner auf die eigenen Taktiken potenziell reagieren könnte (Roloff & Jordan, 1992, S. 36). Die PR-Perspektive erweitert den Blick auf andere Stakeholder (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 613; Hoffjann, 2015, S. 210) – wobei hier insbesondere die interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen in Form von Mitgliedern der eigenen Organisation in verschiedenen Beispielen erwähnt werden (vgl. Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 37; Kumar, 2007, S. 128). Dabei werden insbesondere Fragen dazu gestellt, wie sich verschiedene als relevant empfundene Stakeholder am besten über welche Kanäle adressieren lassen und welche Risiken und Anpassungsnotwendigkeiten sich in dem Zusammenhang ergeben (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 352–353). Die Medien und die allgemeine Öffentlichkeit in ihren Funktionen als Scharnier zu den anderen Bezugsgruppen, aber auch als eigenständige Stakeholder werden folglich ebenfalls Gegenstand dieser Erwartungen und Überlegungen: Wie es die Befunde zu den Medialisierungsfolgen auf das Entscheidungshandeln gezeigt haben (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3), spielen Antizipationen mit Blick auf Medienberichterstattung eine zentrale Rolle
4.4 Schlüsselkomponente
281
in der Frage, welche Maßnahmen im Kernentscheidungsprozess und/oder in der öffentlichen Kommunikation ergriffen werden können und sollen (vgl. anticipatory news media effect, Davis, 2007, S. 187). Die PR kann an dieser Stelle zusätzlich die Konzeption dieser strategisch-taktischen Überlegungen ergänzen, indem sie ein stärker ausdifferenziertes Instrumentarium liefert, um die Analyse der relevanten Problemdimensionen im Vorfeld beschreiben zu können, die dann in die Strategieplanung münden (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 613): Diese Problemanalyse fokussiert sich einerseits auf die eigene Organisation und deren interne Gegebenheiten (z. B. welche Ressourcen stehen zur Verfügung?), und andererseits auf die externe Umwelt mit den vielfältigen Gruppen, die jeweils ihre Ansprüche an die Organisation herantragen (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 613; Hoffjann, 2015, S. 210; ähnlich für Analyse der Situation in Verhandlungen: Thompson, 1990, S. 518). Als konkrete Informationsquellen fließen darin etwa Erkenntnisse aus Markt- und Meinungsforschung (Zerfaß, 2010, 337ff.), Mitarbeiter- und Mitgliederbefragungen, digital erzeugte Daten (z. B. Nutzungsdaten von den eigenen Social Media Kanälen oder Foren), Befunde aus der Evaluation früherer Arbeit (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 614), Ergebnisse aus dem Issues Management (Kiousis & Strömbäck, 2014, S. 256–257; Zerfaß, 2010, S. 333ff.) u. v. m. ein. Darüber hinaus gilt aber vor allem auch das, was die Entscheidungsträger als relevante Informationen in der medial vermittelten und öffentlichen Kommunikation wahrnehmen, als Quelle. Dies ließ sich eindrucksvoll durch verschiedene Studien zu Medialisierungsfolgen auf das Kernentscheidungshandeln zeigen (vgl. Kapitel 2.3.2.2.4), in denen spezifische Inhalte in den Medien bestimmte Eigendynamiken am Verhandlungstisch erzeugt haben, sodass davon ausgegangen werden konnte, dass diese medial vermittelten Informationen strategisch verarbeitet wurden (Baugut & Grundler, 2009, S. 269; Davis, 2007, S. 190; Fawzi, 2014, S. 202; Kepplinger & Marx, 2008, S. 192; Reunanen et al., 2010, S. 297). Insgesamt wird der verschiedenartige Input im Zuge dieser Analysephase dann in Verfahren zur problemlösenden Analyse komprimiert und zugespitzt (klassischerweise kommen hier Management-Tools wie die SWAT-Analyse zum Einsatz; vgl. Bentele & Nothhaft, 2014, S. 614; Hoffjann, 2015, S. 211; Zerfaß, 2010, S. 342–344). Je höher in diesem Analyse- und Planungsprozess das Ausmaß an Unsicherheit ist, desto intensiver erfolgt die Strategieplanung (Roloff & Jordan, 1992, S. 34). Neben diesem Merkmal der Situation, lassen sich noch weitere Aspekte ausmachen, die einen Einfluss auf diese strategisch-taktischen Überlegungen haben. Für die Entscheidung, ob man beispielweise auf Täuschungsmanöver am Verhandlungstisch setzen möchte (als ein Merkmal von distributiven Verhandlungsstrategien), benennen Gaspar und Schweitzer (2013) drei relevante Faktorendimensionen, die so auch für die strategischen Entscheidungen generell von Bedeutung sein dürften: 281
282
4 Abhängige Konstrukte
Die zuvor bereits aufgeworfenen situativen- bzw. Prozessmerkmale der Entscheidungssituation, die Strukturen der Entscheidungssituation (z. B. erwartete Gewinne; Macht der Beteiligten) sowie die Merkmale des Entscheiders selbst (z. B., Ausmaß, in dem dieser self-monitoring betreibt, hat einen Einfluss auf die Differenziertheit der strategischen Planung; vgl. hierzu Jordan & Roloff, 1997, S. 38). Eine weitere zentrale Herausforderung im Zusammenhang mit der Strategiekonzeption resultiert daraus, dass die Planung nicht nur im Vorfeld des Kernentscheidungsprozesses – quasi „in Ruhe“ – erfolgt, sondern im dynamischen Verlauf stetig angepasst werden muss (Liu, 2015, S. 1; Roloff & Jordan, 1992, S. 34). Insbesondere folgende Beschreibung von Liu (2015, S. 8) macht diese Volatilität deutlich: “planning (…) should be considered an ongoing process that continues throughout the negotiation. Due to various obstacles, negotiators may not be able to gather sufficient information about the other party before the negotiation; even if they think they do, new information may still arise that requires their prompt adjustment and adaptation. In some situations, negotiation parties may change in the middle of the negotiation, new issues may emerge, coalitions may form, BATNAs may improve or deteriorate, relationships may develop, and the overall context of the situation may change as well. Each time something changes, or new information becomes available, negotiators need to update their assessments.”
Auch in der PR-Planung wird diese Problematik der dynamischen Anpassungsnotwendigkeit gesehen. Als Reaktion darauf sollte ein stetiges prozessflankierendes Monitoring eingerichtet werden (vgl. formative Evaluation von Kommunikationsergebnissen, Kapitel 4.2), um neuen Bedingungen und Entwicklungen mit einer Anpassung der Strategie begegnen zu können (Zerfaß, 2010, S. 345, 2014, S. 69). Als klassisches Instrument gilt hier die dauerhafte Etablierung von Issues Monitoring (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 615). Die Volatilität ergibt sich insbesondere aus der sozialen Interaktion mit anderen, allen voran dem Gegner (Bazerman & Chugh, 2006, S. 9; Roloff & Jordan, 1992, S. 33), aber natürlich auch den anderen Anspruchsgruppen. Einordnend muss aber festgehalten werden: Die Dynamik im Kernentscheidungsprozess sorgt zwar dafür, dass die Ziele angepasst werden oder auch die strategischen Szenarien, die dem Vorgehen zugrunde liegen, modifiziert werden (Liu, 2015, S. 2). Nichtsdestotrotz kann auch von einem gewissen Maß an Kontinuität bzw. Trägheit ausgegangen werden, weil die Handlungen im Kernentscheidungsprozess in hohem Maße pfadabhängig und in Interaktion mit dem Gegner dem Prinzip der Reziprozität folgen (Brett & Thompson, 2016, S. 70). Beispielweise wird durch den ersten Eindruck vom Gegner (z. B. ob seine ersten Botschaften kompetitiv oder kooperativ waren) ein sehr starker Frame erzeugt, der die Interpretation des weiteren Verlaufs maßgeblich prägt
4.4 Schlüsselkomponente
283
(Olekalns et al., 2005, S. 398; Thompson & Hastie, 1990). Auch zeigen Befunde aus einem Simulationsexperiment, dass Verhandlungsakteure nur in den seltensten Fällen unmittelbar und abrupt, viel häufiger eher träge darauf reagieren, wenn der Gegner sein strategisches Handeln anpasst (Olekalns et al., 2005, S. 395–396). Die Kombination aus hoher Unsicherheit, hoher Dynamik und einer Vielzahl an Informationen, die im strategisch-orientierten Analyse- und Planungsprozess gleichzeitig berücksichtigt werden müssen, resultiert schließlich darin, dass die Entscheider auf Heuristiken zurückgreifen (Olekalns & Adair, 2013, S. 17; Roloff & Jordan, 1992, S. 34; Sullivan, Shaw, McAvoy & Barnum, 1993, S. 978). Unter Heuristiken kann man „methods for arriving at satisfactory solutions with modest amount of computation“ (Simon, 1990, S. 11) verstehen. Im strategischen Planungsprozess bedeutet das, dass die Entscheider unter der Bedingung begrenzter Verarbeitungskapazitäten nur auf bestimmte Informationen zurückgreifen – insbesondere solche, die aktuell im kognitiven System gut verfügbar sind (sog. availability heuristic, Tversky & Kahneman, 1974, S. 1127–1128; vgl. Forschungsüberblick von Vis, 2019, S. 45–46) – und gleichzeitig andere Informationen, die ebenfalls relevant sind, nicht berücksichtigen (Bazerman & Chugh, 2006, S. 7; Thompson, 1990, S. 518, 524). In der Folge ist es ihnen zwar möglich, effizient Entscheidungen zu treffen, allerdings resultieren diese in Verzerrungen (vom rationalen Ideal) (Bazerman & Chugh, 2006, S. 8) und viele Entscheidungsakteure sind sich nicht bewusst, dass ihre Kalküle solchen Verzerrungen unterliegen (Bazerman & Chugh, 2006, S. 15). In der Forschung existiert derweil solide Evidenz für folgende Verzerrungsphänomene, die den strategischen Planungsprozess entscheidend prägen (für eine Übersicht vgl. Bazerman & Chugh, 2006, S. 8): Im Rahmen von Aushandlungsprozessen spielen Ankereffekte (d. h. das Erwartungslevel wird stark durch das erste Angebot vorgeprägt; Tversky & Kahneman, 1974, S. 1128–1130) eine große Rolle (Galinsky & Mussweiler, 2001; Gunia et al., 2013); das Framing am Verhandlungstisch trägt dazu bei, wie risikofreudig der Verhandlungsakteur auftritt (Bazerman et al., 1985; Tversky & Kahneman, 1981), und die Entscheider unterliegen der sog. overconfidence, d. h. sie überschätzen die Wahrscheinlichkeit, dass der Verhandlungsverlauf zu ihren Gunsten ausgeht und unterschätzen die Wahrscheinlichkeit von für sie ungünstigen Entwicklungen (Bazerman, Moore & Gillespie, 1999, S. 1288–1289). Schließlich überschätzen sie das Ausmaß an Inkompatibilität zwischen den eigenen und den gegnerischen Positionen und unterliegen fälschlicherweise sog. „fixed-pie“-Annahmen, was dazu führt, dass sie es unterlassen, nach Lösungen zu suchen, die für beide Kontrahenten einen Gewinn darstellen könnten (Bazerman et al., 1999; Thompson & Hastie, 1990). Eine besonders eindrucksvolle Studie, die zwar abseits des Verhandlungskontextes durchgeführt wurde, aber politische Entscheider im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung untersucht hat, legen Forscher 283
284
4 Abhängige Konstrukte
aus Israel, Kanada und Belgien vor (Sheffer et al., 2018): Sie haben auf Basis von Vignettenexperimenten (die verschiedene Entscheidungsszenarien abbildeten) mit Regional- und nationalen Politikern sowie entsprechenden Bevölkerungssamples in den drei Ländern aufgezeigt, dass Politiker Policy-Optionen, die als Status Quo geframed waren (unabhängig ihres tatsächlichen Inhaltes) den Vorzug gaben, dass sie an Entscheidungen, in die sie bereits viel investiert hatten, festhielten, obwohl sich im Verlauf mehr und mehr gezeigt hatte, dass diese nicht optimal waren und, dass ihr Risikoprofil, wie bei den allgemeinen Verhandlungsakteuren oben, stark durch die Art des Framing geprägt war. All diese Merkmale der kognitiven Verarbeitung im Rahmen der Entscheidungsprobleme waren überdies stärker ausgeprägt als bei den politischen Laien, d. h. der Bevölkerung in den entsprechenden Ländern. Damit liefern die Autoren rund um Sheffer et al. (2018) Hinweise dafür, dass professionelle Entscheider durchaus anderen Verarbeitungsmechanismen und Kalkülen unterliegen als Laien und demnach Erkenntnisse zu diesen nicht einfach auf Experten übertragen werden können (vgl. Diskussion hierzu in Kapitel 2.5.2 und 3.2.2.1). Schließlich kann vor diesem Hintergrund der Verfügbarkeit von Informationen auf einen zentralen Befund im Zusammenhang mit den Medialisierungsfolgen verwiesen werden (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3): Diese legten nahe, dass Medien nicht standardmäßig das Kernentscheiden beeinflussen, sondern vor allem dann, wenn sie plötzlich, intensiv und kontrovers über ein Thema berichteten (Davis, 2007, S. 186). Dann fielen die Einflüsse aber mitunter auch invasiv und durchdringend aus. Diese Erfahrungen plötzlicher und intensiver Medienaufmerksamkeit könnten prägend für den Umgang der Entscheidungsträger mit den Medien sein, auch wenn sie nur vereinzelt aufgetreten sind. Sie haben diese quasi im Hinterkopf, wenn sie sich für künftige Entscheidungsprozesse vorbereiten und strategisch planen (ähnlich Vis, 2019, S. 46). Neben den kognitiven Prozessen dürfen allerdings auch affektive Zustände92 nicht außer Acht gelassen werden (Liu, 2015, S. 8). In ihrem Überblick zum Stand der Forschung kommen Barry et al. (2006, S. 105) zu dem Schluss, dass positive affektive Zustände im Wesentlichen zur Wahl einer kooperativeren Verhandlungsstrategie beitragen (z. B. verarbeitet man intensiver und wählt eher eine integrative 92 Ohne den Anspruch einer differenzierten Diskussion sei die hier angewandte Differenzierung zwischen affektiven Zuständen, Emotionen und Stimmungen dargelegt: affektive Zustände beziehen sich auf den übergreifenden nicht neutral empfundenen Status; Emotionen sind eine Unterdimension affektiver Zustände und haben im Gegensatz zur anderen Unterdimension, den Stimmungen, einen konkreten Auslöser, d. h. sie sind objektbezogen, sie sind deutlich intensiver, aber von kürzerer Dauer im Empfinden als Stimmungen (vgl. hierzu: Barry, Smithley Fulmer & Goates, 2006, S. 100; Rothermund & Eder, 2011, S. 166).
4.4 Schlüsselkomponente
285
Strategie, Forgas, 1998), während negative affektive Zustände eher in distributivem Bargaining resultieren (z. B. Einsatz von Täuschungsmanövern, van Dijk et al., 2008; vgl. für generelle Tendenz zu kompetitiverem Verhandeln: Forgas, 1998; Kassinove et al., 2002). Neben diesen individuell empfundenen Emotionen gilt es auch, die sog. interindividuellen Emotionen zu berücksichtigen (vgl. Kapitel 3.1.3 sowie Morris & Keltner, 2000), d. h. die Stimmungen und emotionalen Zustände, die die Entscheider im Entscheidungsprozess von Seiten des Gegners, aber natürlich auch aus den Reihen der eigenen Mitglieder wahrnehmen und in ihrer strategischen Planung berücksichtigen. Hier ließ sich in einem aufwendigen Forschungsdesign zeigen (van Kleef et al., 2004), dass einem versöhnlich auftretenden Verhandelnden aggressiveren Forderungen begegnet wird, während die Konzessionen bei einem aggressiv auftretenden Verhandelnden höher ausfielen, man also eher nachgab. Gerade bei diesen interindividuellen Emotionen verweisen Befunde auch auf ein Einflusspotential der Medien (vgl. Kapitel 2.3.2.2.4): Medialer und öffentlicher Kommunikation wird nämlich ein maßgeblicher Einfluss auf dieses Klima am Verhandlungstisch zugestanden (Fawzi, 2014, S. 249). Ausgehend von den zuvor dargestellten Einsichten zur Strategieplanung in der Verhandlungstheorie und der PR-Forschung kann Folgendes als Wesensmerkmale der strategisch-taktischen Überlegungen festgehalten werden (vgl. Abbildung 10): Die Entscheidungsakteure handeln ausgehend von komplexen Überlegungen und Abwägungen, die deren Ziele in beiden Handlungsarenen mit potenziell erfolgsversprechenden Maßnahmen verbinden. Dabei versuchen sie potenzielle Umweltfaktoren zu berücksichtigen, die für die Zielerreichung ein Hindernis oder einen Vorteil darstellen könnten. Diese Abwägungen erfolgen unter den Bedingungen der Unsicherheit, einem hohen Maß an Dynamik und begrenzten Verarbeitungskapazitäten. Aus diesen Gründen kommen im Rahmen der strategisch-taktischen Abwägungen zum einen kognitive Heuristiken zum Einsatz. Zum anderen spielen affektive Zustände wie akute Emotionen, aber auch allgemeinere Stimmungen der Verhandelnden eine Rolle. Beide Aspekte, die kognitive Verarbeitung auf Basis von Heuristiken sowie die Bedeutsamkeit von affektiven Zuständen führen dazu, dass Verzerrungen vom vermeintlichen rationalen Ideal auftreten. Insgesamt muss an dieser Stelle berücksichtigt werden, dass die Konzeption dieser strategisch-taktischen Überlegungen keineswegs umfassend, sondern maximal als die Integration erster Ansatzpunkte in der Verhandlungs- und PR-Forschung zu verstehen ist. Sie weist daher blinde Flecken auf und sucht vor allem nach empirischer Anreicherung. Hier muss es das Ziel sein, diese Flecken zu identifizieren und so das Konzept der strategisch-taktischen Überlegungen von Entscheidungsakteuren vor dem Hintergrund der Medienöffentlichkeit zu vervollständigen. Nichtsdestotrotz erlaubt es diese explizite Berücksichtigung der strategisch-taktischen Überlegungen 285
Quelle: Eigene Darstellung. Verarbeitung öffentlicher Kommunikation
Strategisch-taktische Überlegungen = Ziel-Mittel-UmweltKalküle • Verzerrungen durch kognitive Heuristiken & affektive Zustände • Medien- und Verhandlungslogik als Maximierungsfunktionen
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena
286 4 Abhängige Konstrukte
Abb. 10 Detailbetrachtung der strategisch-taktischen Überlegungen
4.4 Schlüsselkomponente
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in Abgrenzung zum Handeln der Entscheidungsakteure einen Kerngedanken des Medialisierungskonzepts in das Modell zu integrieren: Über diese lässt sich nun die ganze Bandbreite des facettenreichen Wechselspiels zwischen passiver Anpassung an oder gar Unterwerfung unter die Anforderungen bis hin zur Ermächtigung und Instrumentalisierung der Medienöffentlichkeit abbilden (vgl. Kapitel 2.2 sowie z. B. Kepplinger, 2008, S. 335). Zu Beginn dieses Kapitels wurde angekündigt, dass diese strategisch-taktischen Kalküle – bildlich gesprochen – als der Ort begriffen werden können, an dem sich die potenzielle Durchdringung durch die Medienlogik abspielt (Marcinkowski, 2014, S. 6; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Nachdem nun dargelegt wurde, was unter den strategisch-taktischen Abwägungen zu verstehen ist, soll nachfolgend die Idee der Verknüpfung mit der Medienlogik ausgearbeitet werden.
Verknüpfung: Handlungslogiken und strategisch-taktische Kalküle Der Begriff der Logik bzw. der Medienlogik ist einer der zentralsten im Medialisierungsparadigma. Keine theoretische Konzeptionierung oder empirische Modellierung vor der Hintergrundfolie des Medialisierungsparadigmas kommt umhin, auf das Kernkonstrukt der Medienlogik – meist in Abgrenzung zu einer anderen Logik, etwa der politischen Logik – zu verweisen. In der Konzeption des Logikbegriffes erweist sich Landerers (2013, S. 248) Verständnis von „logic as a mindset“, als ein „Denkmodell“, das als Richtschnur für die Überlegungen und Handlungen der Akteure in der jeweiligen Arena verstanden werden kann, als hilfreich. Ähnlich konzipieren es auch Strömbäck und Esser (2014, S. 14), die basierend auf March und Olson (2006) von einer „logic of appropriateness“ sprechen, um die formalen und informellen Regeln, Prinzipien und Routinen einer institutionellen Sphäre wie etwa der politischen oder der medialen zu beschreiben. Bezogen auf die strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheidungsakteure setzen diese Logiken über ihre Prinzipien und Handlungsrationalitäten den Rahmen, in dem Ziele und Maßnahmen miteinander kombiniert werden. Sie definieren also, welche Maßnahmen unter welchen Umweltbedingungen am erfolgversprechendsten erachtet werden können, um die Ziele zu erreichen. Die Logiken erfüllen gewissermaßen die Aufgabe einer Maximierungsfunktion, die den Akteuren dabei hilft, ihre strategisch-taktischen Planungen so zu vollziehen, dass sie ihre Ziele möglichst erfolgreich und effizient erreichen. Allerdings würde man den Logikbegriff missverstehen, wenn man ihn dogmatisch auslegen würde: Diese logics of appropriateness machen manche Handlungen wahrscheinlicher als andere, aber sie determinieren sie nicht (March & Olsen, 2006, S. 695). Ausgehend von diesem Grundverständnis einer Logik in Kombination mit der Differenzierung verschiedener Handlungsarenen von gesellschaftlichen Funk287
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4 Abhängige Konstrukte
tionseliten lassen sich nun verschiedene, spezifische Logiken identifizieren, die als Maximierungsfunktion für das Handeln und den Erfolg in der jeweiligen Arena begriffen werden können. Es handelt sich dabei jeweils um die Prinzipien, Regeln, Routinen und Handlungsrationalitäten, die für die Kernentscheidungsarena einerseits und die öffentliche Medienarena andererseits gelten. Gemeint ist damit konkret, dass Entscheidungsakteure, die in den jeweiligen Arenen die entsprechenden Prinzipien befolgen und danach handeln, sich im Rahmen des dort jeweils Erwartbaren bewegen und wahrscheinlich auch Erfolg haben werden; erst wenn sie davon abweichen, gefährden sie nicht nur ihren Erfolg in der jeweiligen Handlungssphäre, sondern es drohen mitunter auch soziale oder sogar juristische Sanktionen (Strömbäck & Esser, 2014, S. 14). Das Entscheidungshandeln kann, je nachdem welchen Governancemechanismus man als Grundlage der Konzeption wählt, ganz unterschiedlichen Logiken folgen (Marcinkowski, 2014, S. 15) – beispielweise dem Marktmechanismus, dem Mehrheitsprinzip oder der autoritativen Steuerung, wenn das hierarchiegestützte Entscheiden das Mittel der Wahl ist. Da hier Verhandlungen als Mechanismus ausgewählt wurden, um das Kernentscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten zu beschreiben (vgl. Kapitel 3.1), soll auch die Logik von Verhandlungen als Grundlage dienen, um die Handlungsprinzipien sowie formalen und informellen Regeln des Kernentscheidens zu konzipieren. Es handelt sich bei der Verhandlungslogik demnach um ein spezifisches Set an Prinzipien des Kernentscheidungshandelns. Mit Blick auf das Zusammenspiel mit der Medienöffentlichkeit könnte ein anderer Kernentscheidungsmechanismus und entsprechend auch eine anders gelagerte Kernentscheidungslogik mitunter besser oder schlechter mit der medialen und öffentlichkeitsbezogenen Logik korrespondieren (davon gehen zum Beispiel Floss & Marcinkowski, 2008, S. 6 für mehrheitsbasierte Entscheidungen im Vergleich zu Verhandlungen aus). Dies ist aber eine Frage, die einer gesonderten Betrachtung bedürfte und an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden soll. In der Gesamtschau der verhandlungsbezogenen Literatur kann alles in allem festgehalten werden, dass die Verhandlungsarena – d. h. die Kernentscheidungsfindung auf der Hinterbühne des Elitenhandelns – durch Prinzipien wie Interessenausgleich, Deliberation und kollektive Kernentscheidungsfindung gekennzeichnet ist (Czada, 2014, S. 122; Grande, 2000, S. 127; Landerer, 2015, S. 50; Reunanen et al., 2010, S. 295; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 9–10). Hinter verschlossenen Türen zählt die Kompetenz der Akteure, mit den sachlichen, organisatorischen und institutionellen Merkmalen des Kernentscheidungsprozesses umgehen zu können. Dort sollen die Akteure Alternativen gegeneinander abwägen, um komplexe Package-Deals abzuschließen, statt klare Gewinner und Verlierer zu identifizieren. Letztlich erfährt so nicht die individuelle Leistung des Einzelnen eine Würdigung,
4.4 Schlüsselkomponente
289
sondern die Verantwortlichkeiten verwischen zugunsten einer kollektiven Entscheidung. Das Abschirmen vor öffentlicher Beobachtung wird dabei als notwendig erachtet, um kompromissfähig zu sein: Nur dann können die Verhandlungspartner, ohne Gesichtsverlust fürchten zu müssen, von ihren ursprünglichen, durch die eigenen Stakeholder aufgetragenen Positionen abrücken. Sie können das Ergebnis als gemeinsame Gesamtleistung verkaufen, ohne für Details bürgen zu müssen. Langfristige Lösungen, Kompromisse und Diskretion sind daher die Maßstäbe (F. Esser, 2013, S. 164; Floss & Marcinkowski, 2008, S. 5; Fritz, 2012, S. 5; Grande, 2000, S. 128; Gutmann & Thompson, 2010, S. 1125). Inwiefern diese Prinzipien im Verhandlungsgeschehen aufrechterhalten werden können, das wird in Anbetracht der zunehmenden Durchdringung durch die Medienöffentlichkeit und ihrer Logik in Frage gestellt. Zu befürchten sei gar, dass die Qualität und Quantität der verhandlungsbasierten Entscheidungen sinke (Schrott & Spranger, 2007, S. 6; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 9–10). Versucht man nun prägende Prinzipien für das kommunikative Handeln in der medialen und öffentlichen Arena abzuleiten, um sie denen aus der Verhandlungsarena gegenüberzustellen, dann stellt Landerers (2015, S. 132) Konzept der publikumsorientierten Logik eine fruchtbare Basis dar. Demzufolge sind alle Prinzipien maßgeblich, die das gezielte Erregen von Aufmerksamkeit und Unterstützung in spezifisch anvisierten Stakeholdergruppen bzw. Teilöffentlichkeiten maximieren. An dieser publikumsfokussierten Logik orientieren sich nicht nur die Medien selbst, wenn sie über aktuelles Geschehen berichten und dabei durch kommerzielle Motive getrieben ein maximal großes Publikum erreichen wollen. Auch Entscheidungsträger nutzen diese Prinzipien als Leitlinie, wenn sie die Notwendigkeit verspüren, auf mediale und öffentliche Kommunikation zurück zu greifen (Landerer, 2015, S. 48; Marcinkowski, 2014, S. 16; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 74). Konkret sind charismatische Persönlichkeiten gefragt und es geht um Gestaltungs- und Inszenierungsmerkmale wie das Abstellen auf Negatives sowie Verluste und Schaden, das Hervorheben und Zuspitzen von Konflikten sowie den Fokus auf Individuen und die Unterscheidung in Gewinner und Verlierer sowie die Betonung von Unterschieden statt Gemeinsamkeiten (Floss & Marcinkowski, 2008, S. 5; Fritz, 2012, S. 5; Grande, 2000, S. 124, 129; Landerer, 2015, S. 246; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 9). Es sind diese Prinzipien, von denen angenommen wird, dass sie zum Erfolg in der jeweiligen Arena führen. Dabei handelt es sich weniger um Regeln in Form eines umfassenden, niedergeschriebenen Katalogs. Vielmehr sind viele dieser Rationalitäten vage und wenig greifbar (Donges & Jarren, 2014, S. 183). Sie basieren stark auf dem, was die Akteure selbst als erfolgsversprechend wahrnehmen bzw. von dem sie glauben, dass es zum Erfolg führen wird (ähnlich begreifen auch Marcinkowski, 289
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4 Abhängige Konstrukte
2014, S. 8 sowie Nölleke & Scheu, 2018, S. 200 Medienlogik als subjektive Konstruktion der handelnden Akteure). Dadurch wird auch nachvollziehbar, warum es kaum schlüssig ist, von der einen Medienlogik und der einen Verhandlungslogik zu sprechen (Donges & Jarren, 2014, S. 186). Vielmehr ist deren konkrete Gestalt von der subjektiven Perspektive der Akteure abhängig – welche Erfahrungen haben sie in diesen Arenen bereits gemacht, welchen Hintergrund haben sie, d. h. durch welche Brille blicken sie auf das Geschehen, was ist ihnen wichtig (Nölleke & Scheu, 2018, S. 201)? Da Entscheidungsakteure ähnlich sozialisiert werden, d. h. sie machen vergleichbare Erfahrungen und da der jeweilige Bereich, in dem sie aktiv sind, ebenfalls bestimmte Strukturen schafft, die für alle gemeinsam gelten, kann davon ausgegangen werden, dass sich die subjektiven Verständnisse der Medien- und der Verhandlungslogiken verschiedener Entscheidungsträger ähneln, aber dennoch, je nach interindividuellen Unterschieden, eben auch voneinander abweichen. Eine solche gemeinsame Verständigungsbasis hinsichtlich der Medienlogik legen auch die Befunde von Nölleke und Scheu (2018) nahe: Auf Basis einer Sekundäranalyse von 36 semistrukturierten Interviews mit Entscheidungsträgern aus Politik, der Gesundheitsbranche und der Wissenschaft verdeutlichen sie, dass diese Akteure trotz der unterschiedlichen Sphären, derer sie entstammen, ein recht ähnliches Verständnis von Medienlogik hatten. Dabei orientierten sich die Interviewten weniger an einzelnen Medien, sondern bezogen sich vielmehr auf grundlegende Prinzipien der Herstellung und Steuerung öffentlicher Aufmerksamkeit, wobei die Nähe zu den Handlungsrationalitäten der traditionellen journalistischen Massenmedien (im Gegensatz zu neuen Medien) noch am größten war. Zwar legen die Befunde eine hohe Gemeinsamkeit im subjektiven Verständnis von Medienlogik nahe, was zu dem Schluss führen könnte, dass man doch von der einen übergreifenden Medienlogik 93 ausgehen kann (vgl. news media logic bei Strömbäck & Esser, 2014, S. 12, 17). Statt jedoch diese Perspektive auf Medienlogik als exogen vorgegebene Einheit einzunehmen, wird hier dezidiert in Rechnung gestellt, dass die Medienlogik im Sinne einer subjektiven Maximierungsfunktion für die Medienöffentlichkeit davon abhängt, welche individuellen Schwerpunkte der Entscheidungsakteur setzt (vgl. hierzu auch: Nölleke & Scheu, 2018, S. 197; 93 Diese Perspektive ist insbesondere unter denjenigen Autoren verbreitet, die ein institutionelles Verständnis von Medienlogik vertreten: Demnach resultiere eine gemeinsame Medienlogik (der Nachrichtenmedien) als institutionalisiertes Set an Regeln und Prozeduren aus der Tatsache, dass diese ähnlich strukturiert sind, ähnliche Ziele verfolgen, sich in einem ähnlichen politischen und ökonomischen Umfeld bewegen (T. E. Cook, 2006, S. 160, 163; F. Esser, 2013, S. 159–161; Strömbäck & Esser, 2014, S. 12). Medienlogik entspringe gewissermaßen einem „transorganizational understanding“ der Nachrichtenmedien als „collective institution“ (T. E. Cook, 2006, S. 161).
4.4 Schlüsselkomponente
291
Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 352–353): Welche Zielgruppe will er erreichen? Welchen Kanal hält er für geeignet? Welche Merkmale und Prinzipien des Kanals und der Zielgruppe gilt es aus seiner Sicht zu berücksichtigen? Dies kann in einem gemeinsamen Kernverständnis von der öffentlichen Aufmerksamkeitslogik resultieren, aber es bleibt so weiterhin das Potenzial, individuelle Unterschiede fassen zu können, die zugleich aber zentral für die Folgen im Entscheiden sein könnten. Um den Anschluss zu existierenden theoretisch-konzeptionellen Vorarbeiten zum Logikbegriff zu ermöglichen, soll hier elaboriert werden, wie sich die vorliegende Konzeption der Logiken in den beiden Handlungsarenen von gesellschaftlichen Funktionseliten zu den vorhandenen Arbeiten verhält: Zunächst wird über die dezidierte Differenzierung der Handlungsarenen auch eine dezidiert differenzierte Konzeption der Handlungsrationalitäten – im Sinne von verschiedenen Teillogiken in den Sphären medienvermittelte Öffentlichkeit und Verhandlungsarena – möglich. Dabei wird nicht angenommen, dass Entscheider entweder der publikumsorientierten Logik in der medienvermittelten öffentlichen Arena oder der Verhandlungslogik in der Kernentscheidungsarena folgen. Vielmehr leiten beide Teillogiken die Gesamtheit des Handelns von gesellschaftlichen Funktionseliten. Durch diese Abgrenzung der Logik in der Verhandlungsarena von der Logik in der medienvermittelten Öffentlichkeit wird in dieser Arbeit der Kritik begegnet, dass die Logik anderer (nicht-medialer) Systeme oftmals nur verkürzt und eindimensional konzipiert wird (Landerer, 2013, S. 245–246, 2015, S. 45; Strömbäck & Esser, 2014, S. 14) und in der Folge auch die empirische Operationalisierung einer differenzierten Basis entbehrt und stattdessen auf Einzelindikatoren fußt (vgl. Brants et al., 2010; Strömbäck, 2011a). Als Vorbilder für dieses differenziertere Verständnis dienten die Ansätze von Landerer (2013, 2015) und Strömbäck und Esser (2014; F. Esser, 2013). Strömbäck und Esser definieren die politische Logik über drei Teilbereiche (F. Esser, 2013, S. 164–165; Strömbäck & Esser, 2014, S. 15) – polity (System an Regeln und institutionellen Arrangements), policy (Produktion und Implementierung von politischen Entscheidungen) und politics (Generieren von öffentlicher Unterstützung). Landerer (2013, S. 250) differenzierte vor dem Ziel, eine gehaltvolle Verknüpfung von Medien- und politischer Logik herstellen zu können, zwischen einer normativen/ policy-orientierten und einer kommerziellen/publikumsorientierten Logik (ähnlich zum politics-Bestandteil bei Strömbäck & Esser, 2014, S. 15). Beide Logiken resultieren aus der Frage, welche übergeordneten Ziele die Akteure in ihrer jeweiligen Arena verfolgen. Landerer nimmt dabei an, dass Politiker und Journalisten beide einerseits ihrer normativ, auf Basis demokratietheoretischer Überlegungen abgeleiteten Funktion nachkommen wollen und gleichzeitig den Erfolg im kommerzialisierten System der öffentlichen Aufmerksamkeitsökonomie suchen. Diese gemeinsamen 291
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4 Abhängige Konstrukte
übergeordneten Ziele stellen die Verbindung zwischen Journalisten und Entscheidern dar, wobei sich das in ihrem konkreten Handeln jeweils unterschiedlich niederschlägt (allein schon deshalb, weil beide aus demokratietheoretischer Perspektive unterschiedliche Aufgaben erfüllen) (Landerer, 2013, S. 248). Die hier vorgeschlagene Konzeption greift dabei den Gedanken von Landerer zentral auf – nämlich, dass die Entscheider mit ihrem Handeln gleichzeitig unterschiedliche Ziele verfolgen (Landerer, 2013, S. 248), die aus unterschiedlichen Motiven resultieren (Erfolg im Kernentscheidungshandeln und Erfolg in der medienvermittelten Öffentlichkeit). Diese Ziele sollen mittels unterschiedlicher Maßnahmen erreicht werden, wobei unterschiedliche, mitunter sogar widersprüchliche (informelle und formelle) Regeln (und damit Logiken) die Handlungsgrundlage bilden. Die hier vorgeschlagene Logik für Verhandlungssysteme korrespondiert dabei mit Landerers normativer policy-Logik, wobei sie explizit auf Verhandlungssysteme (im Gegensatz zu anderen Governancemechanismen) zugeschnitten wurde. Die publikumsorientierte Logik basiert grundlegend auf dem Gedanken von Landerer (2013, S. 250), dass sich Journalisten und Politiker (hier: generell Entscheider) an allgemeinen Kalkülen zur Herstellung und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit orientieren müssen, wenn sie sich im Wettkampf um begrenzte Aufmerksamkeits- und Verarbeitungskapazitäten in der Öffentlichkeit und bei den relevanten Bezugsgruppen durchsetzen wollen (ähnliche Überlegungen formulierten Brants & van Praag, 2017, S. 403–405 mit ihrem Gedanken der vox populi und Raupp, 2009, S. 277). Ausgehend von dieser Auseinandersetzung mit den Logiken bleibt mit Blick auf das Kernkonstrukt der strategisch-taktischen Überlegungen insbesondere Nachholbedarf hinsichtlich des konkreten Zusammenspiels zwischen den Kalkülen in beiden Arenen – also den medien- und öffentlichkeitsbezogenen Abwägungen (die publikumsorientierte Logik der medial vermittelten und öffentlichen Sphäre) mit jenen aus der Verhandlungsarena (Verhandlungslogik) (ähnliches konstatieren Landerer, 2015, S. 45 und Marcinkowski, 2014, S. 15 für das Zusammenspiel aus Medienlogik und politischer Logik): Welche Aspekte aus beiden Logiken sind jeweils wichtig? Wie verhalten sich die Anforderungen vom Verhandlungstisch zu denjenigen, die aus der medienvermittelten Öffentlichkeit wahrgenommen werden – ergänzen sie sich oder stehen sie in Widerspruch zueinander? Gibt es situative Unterschiede im Zusammenspiel zwischen beiden Handlungslogiken– d. h. wann ist die eine, wann die andere prägender (ein ähnliches Argument bringen Strömbäck & Esser, 2014, S. 16, für Routine- vs. Wahlkampfzeiten in der Politik)? Insbesondere der Gedanke der Inkompatibilität zwischen den Anforderungen und Handlungsprinzipien in der medialen Öffentlichkeitsarena und der Verhandlungsarena verleitet mitunter zu der vereinfachten Annahme, dass es sich hier um
4.4 Schlüsselkomponente
293
eine dichotome Abwägung handelt, d. h. dass die Akteure entweder den Erfolg in der Medienöffentlichkeit zu maximieren suchen oder einen guten Kompromiss in der Verhandlung anstreben. In der Realität versuchen Entscheidungsakteure aber beides zu einem gewissen Grad gleichzeitig zu maximieren (Landerer, 2015, S. 51). Dieses Prinzip der simultanen und wechselseitigen Maximierung wird gerade auch dadurch verdeutlicht, dass bestimmte Aktivitäten in einer Arena, wie in Kapitel 4.3 dargestellt, vor dem Hintergrund des Erfolgsstrebens in der anderen Arena vollzogen werden. Die Frage ist nur, wie das Mischverhältnis aussieht (Landerer, 2015, S. 52). Denn gerade dieses Mischverhältnis gibt Auskunft darüber, wie medialisiert das Handeln der gesellschaftlichen Funktionseliten im Wechselbad zwischen Verhandlungs- und Medienarena ist.
Konzeption des Medialisierungausmaßes: Was heißt nun medialisiert? Abschließend können diese strategisch-taktischen Abwägungen zwischen den Anforderungen und Optionen in der Verhandlungsarena einerseits und der medienvermittelten Öffentlichkeitsarena andererseits als geeigneter Ansatzpunkt dienen, um das Ausmaß an Medialisierung in der Entscheidungsfindung zu bestimmen und zu konzipieren. Diese Überlegungen sollen nachfolgend ausgeführt werden. An dieser Stelle sei zunächst die Zielsetzung dieser Arbeit nochmal in Erinnerung gerufen (vgl. Kapitel 2.3): Es geht nicht darum, den langfristigen Medialisierungsprozess von seinen Ursachen, über seine Ausprägung bis hin zu den Folgen nachzuzeichnen. Vielmehr werden die Ursachen – also diejenigen Bedingungen, die dazu führen, dass die Notwendigkeit entsteht, auf mediale und öffentliche Aufmerksamkeit zuzugreifen – als gegeben hingenommen (vgl. Kapitel 2.3.1 und Kapitel 3.2). Es geht hier darum, das Ausmaß an Medialisierung zu einem bestimmten Zeitpunkt als ein Merkmal des Medialisierungsphänomens zu fassen und mit den damit einhergehenden Folgen im Handeln der Entscheidungsträger zu verknüpfen. Dadurch soll es möglich sein, eine analytisch gehaltvolle Momentaufnahme der Medialisierung von gesellschaftlichen Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidungshandelns liefern zu können. Dieser Transfer von einer Entwicklungs- und Prozessperspektive auf eine punktuelle Betrachtung bedarf aber einer Übersetzungsleistung. Hierbei diente die Analyselogik von Studien zu Medialisierungsfolgen im Querschnittsdesign als konzeptionelles Vorbild (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2). Grundgedanke war dabei, dass je medialisierter ein Akteur, desto mehr Einfluss schreibt er den Medien zu und ausgehend davon unterscheidet er sich in seinem Kommunikationshandeln von anderen Akteuren, die nicht derart medialisiert sind und die den Medien nicht derart viel Einfluss zuschreiben (vgl. hierzu Amann et al., 2012; Jonathan Cohen et al., 2008; Meyen et al., 2014, S. 282; Reinemann, 2010, S. 285; Strömbäck, 2011a). 293
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Ausgehend hiervon sei zur Konzeption des Medialisierungsausmaßes bzw. -grades nun folgender Gedankengang angebracht: Wenn die Entscheidungsfindung der gesellschaftlichen Funktionseliten immer mehr medialisiert wird, dann gewinnen diese zunehmend den Eindruck, dass öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung für ihr Verhandlungsziel hilfreich oder sogar notwendig ist (Landerer, 2013, S. 240; Marcinkowski, 2014, S. 11; Meyen et al., 2014, S. 282; Nölleke & Scheu, 2018, S. 199; Pontzen, 2006, S. 169). Das ist die hier vorgenommene Spezifizierung dessen, was in der früheren Forschung als „die Medien werden als einflussreich wahrgenommen“ verstanden wurde. Als Folge daraus sind folgende Entwicklungen plausibel: Als Reaktion auf ihren Eindruck, dass die Medien zu einem einflussreichen Umweltfaktor geworden sind, modifizieren und erweitern sie ihre öffentlichen Kommunikationsaktivitäten (Donges & Jarren, 2014, S. 189–191). Diese Anpassung ist kein passiver Akt der Unterwerfung der Entscheidungsträger unter die Medienlogik. Vielmehr haben die Entscheidungsträger verinnerlicht, wie sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit den Produktions-, Selektions- und Präsentationsmechanismen der Medien strategisch nutzen, um ein möglichst großes Publikum für ihre Zwecke zu gewinnen (Blumler & Esser, 2019, S. 856; Marcinkowski, 2014, S. 19) – ein Pull-Prozess (Blumler & Esser, 2019, S. 856), der als „self-mediatization“ bezeichnet wurde (F. Esser, 2013, S. 162; Strömbäck & Esser, 2014, S. 21). Gleichzeitig ist aber auch denkbar, dass sie ihr Wissen um die Medienlogik instrumentalisieren, um sich gezielt vor öffentlicher Beobachtung abzuschirmen (Baugut & Grundler, 2009, S. 315; Marcinkowski, 2014, S. 13; Reunanen et al., 2010, S. 303). Eine gesteigerte Version der Medialisierung tritt dann ein, wenn der Erfolg in der Öffentlichkeit zum reinen Selbstzweck wird. Dann ordnen die Entscheidungsträger den Erfolg im Kontext der Kernentscheidungsfindung sogar dem Erfolg in der Öffentlichkeit unter (z. B. würde ein Entscheidungsträger freiwillig die Kompromissfindung eskalieren lassen, um den Konflikt zwischen den Verhandlungspartnern öffentlich zu inszenieren, Landerer, 2015, S. 50; Befunde, die in diese Richtung deuten, liefert Fawzi, 2014, S. 269–270). Zusammenfassend drückt sich diese stufenweise Medialisierung also wie folgt aus: Die Auswirkungen der Medialisierung werden erst auf Vorderbühne sichtbar (F. Esser, 2013, S. 175; F. Esser & Matthes, 2013, S. 200; Marcinkowski, 2014, S. 14; Pontzen, 2006, S. 171; Reinemann, 2010, S. 291). Hier betreiben gesellschaftliche Funktionseliten dann ein ausgeprägtes „self-initiated stage-management“ (F. Esser, 2013, S. 163), um ein möglichst großes Publikum aufmerksam zu machen und öffentliche Unterstützung zu generieren (d. h. das, was Landerer 2013, S. 253, 2015, S. 53 als die kommerzielle bzw. publikumsorientierte Logik bezeichnet). Reinemann (2010, S. 288) nennt hierfür konkret die Indikatoren Offenheit gegenüber Medien, Professionalisierung der Medienaktivitäten, Zunahme von
4.4 Schlüsselkomponente
295
Medienaktivitäten, Orientierung an der Medienlogik bei öffentlichen Aussagen. In einem nächsten (Medialisierungs-)Schritt erfolgen dann auch die Handlungen auf der Hinterbühne, d. h. im eigentlichen Kern der Entscheidungsfindung, primär unter Berücksichtigung von medienbezogenen Kalkülen (Landerer, 2015, S. 46; Marcinkowski, 2014, S. 16; Reinemann, 2010, S. 288, wobei letzterer an dieser Stelle leider keinen derart ausdifferenzierten Indikatorenkatalog wie für die Darstellungsebene anbietet). Infolgedessen wird die Verhandlungslogik durch die Prinzipien der medienvermittelten Öffentlichkeit (d. h. die Medienlogik) ergänzt, überlagert und modifiziert oder ersetzt (F. Esser, 2013, S. 161; F. Esser & Matthes, 2013, S. 192). Vergleichbar zu der zuvor dargestellten stufenweisen Vorstellung von Medialisierung ist Marcinkowskis (2014, S. 13; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80) Differenzierung zwischen einer first-order bzw. simple und einer second-order bzw. reflexive Medialisierung (ähnlich auch: Meyen et al., 2014, S. 275, 282): Erstere bezieht sich darauf, dass die Entscheidungsakteure die medial vermittelte Realität als gültige Realitätskonstruktion akzeptieren und sie zum Ausgangspunkt ihres Handelns machen – d. h. sie als bedeutsam empfinden und daher als strategisch relevante Information berücksichtigen. In einem zweiten Schritt verinnerlichen sie die Prinzipien und Handlungsrationalitäten der Medienöffentlichkeit (i. e. die Medienlogik) und machen sie zum Maßstab ihres eigenen Handelns, was sich nicht nur im individuellen kommunikativen Handeln (z. B. vermehrte informelle Kontakte zu Journalisten, vgl. Kapitel 2.3.2.1.2) zeigt, sondern auch den Umbau auf Ebene der organisationalen Strukturen und Kernentscheidungsprozedere umfasst (z. B. Schaffen von organisationalen oder institutionellen Puffern, um Druck durch Medien abzupolstern, vgl. Kapitel 2.3.2.2.7). Ausgehend hiervon können folgende konkrete Ansatzpunkte herangezogen werden, um das Medialisierungsausmaß bzw. den Grad der Medialisierung eines Entscheidungsakteurs im Rahmen seines Entscheidungskontextes zu beschreiben: 1. Wie sehen die subjektiven Vorstellungen der Entscheidungsakteure von Verhandlungs- und Medienlogik aus? Wie ausdifferenziert und wie gut verankert sind sie im Kontext der strategisch-taktischen Abwägungen der Entscheider? (= kognitive Verankerung) Ein hoher Grad an Medialisierung ist dann gegeben, wenn die medienbezogenen Vorstellungen, Kalküle und Handlungsrationalitäten (im Vergleich zu den verhandlungsbezogenen) stark ausdifferenziert und in den strategisch-taktischen Überlegungen vielseitig und tiefgreifend verankert sind. Dann ist anzunehmen, dass sich der Entscheidungsakteur bereits vielfältige Gedanken im Hinblick auf die Medienöffentlichkeit gemacht hat, sie als adäquate oder zumindest gültige 295
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Realitätskonstruktion akzeptiert und ausgehend von ihrer Gestalt sein Handeln ausrichtet (Marcinkowski, 2014, S. 7; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80). Neben diesem Ausmaß, der Differenziertheit und dem Verankerungsgrad dieser medienbezogenen Überlegungen ist außerdem von Interesse: 2. Wie verhalten sich diese beiden Logiken im Sinne von Maximierungsfunktionen im Rahmen der strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheider zueinander (= proaktiver Handlungsmaßstab) – und zwar mit Blick auf das Handeln in der a. medial vermittelten und öffentlichen Arena? b. Kernentscheidungsarena? Ausgehend hiervon ist der Medialisierungsgrad umso höher, je mehr die Medienlogik die zentrale und bestimmende Maximierungsfunktion ist und zwar nicht nur in der öffentlichen Arena, also für das kommunikative Handeln der Entscheider, sondern auch für das Handeln in der Kernentscheidungsarena (ähnlich: F. Esser, 2013, S. 161; Landerer, 2015, S. 188; Reinemann, 2010, S. 288). Übergreifend besteht die Idee eines hohen Medialisierungsgrades demnach darin, dass sich in den strategisch-taktischen Überlegungen die Balance zwischen medienbezogenen und verhandlungsbezogenen Aspekten zugunsten ersterer verschiebt und sich das erstens in der Ausdifferenzierung und Verankerung dieser Überlegungen zeigt (i. e. kognitive Verankerung der publikumsorientierten Medienlogik) und zweitens darin, wie bestimmend diese Kalküle für das Handeln in a) der medienvermittelten und öffentlichen Sphäre und b) in der Kernentscheidungssphäre der Verhandlungen sind (i. e. publikumsorientierte Medienlogik als proaktiver Handlungsmaßstab). Das Äquivalent zu diesem hohen Medialisierungsgrad von individuellen Akteuren auf der Mesoebene der Organisationen ist das, was Raupp (2009, 266, 279–280) als die „PR-induzierte Orientierung organisationalen Handelns an der Medienlogik“ versteht (im Falle sehr hoher Medialisierung würden alle organisationalen Entscheidungen durch die Brille der PR-Abteilung getroffen). Wenn es gelingt, dieses Zusammenspiel der Abwägungen in Bezug zur medienvermittelten öffentlichen Arena und zur Verhandlungsarena systematisch und differenziert zu adressieren, dann lässt sich ein detaillierter Einblick in die Intersektionen zwischen beiden Arenen gewinnen, was als zentrales Desiderat der derzeitigen Forschung gilt (Edelmann, 1985, S. 12; Marcinkowski, 2014, S. 15). Erste Hinweise in diesem Zusammenhang liefern die Befunde zu den Medialisierungsfolgen in Kapitel 2.3.2: Die befragten Entscheider schrieben den Medien einen hohen bis sehr hohen Einfluss zu (Jonathan Cohen et al., 2008, S. 341, 343; Fawzi, 2014, S. 231; Kepplinger, 2009c, S. 310; Pfetsch & Mayerhöffer, 2011; Strömbäck, 2011a, S. 430) und davon ausgehend sahen sie auch die Notwendigkeit, diesem Einfluss
4.4 Schlüsselkomponente
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beispielweise mittels kommunikativer Anstrengungen zu begegnen (Brants et al., 2010; Donges, 2008; Strömbäck, 2011a; van Aelst, Brants et al., 2008). Dies könnte als Hinweis darauf gelesen werden, dass medienbezogene Kalküle zumindest schon vielfach und substanziell in den strategisch-taktischen Überlegungen verankert sind (i. e. kognitive Verankerung der publikumsorientierten Medienlogik). Offen lässt diese generalisierte Abfrage des wahrgenommenen Medieneinflusses allerdings, wie differenziert die Vorstellungen der gesellschaftlichen Funktionseliten bezüglich der publikumsorientierten Medienlogik sind. Gleicht man die Befunde zu den Medialisierungsindikatoren im öffentlichkeitsbezogenen, kommunikativen Handeln (vgl. Kapitel 2.3.2.1) mit den oben aufgeworfenen Indikatoren ab (vgl. Reinemann, 2010, S. 288), so scheint im Angesicht dieser Wahrnehmungseffekte und der daraus entstehenden Empfindung, man müsse darauf reagieren, eine Offenheit gegenüber Medien recht eindeutig vorhanden. Die Professionalisierung und Zunahme von Medienaktivitäten sowie die Orientierung an der Medienlogik bei öffentlichen Aussagen haben dagegen einen gemischten Eindruck erzeugt (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2, 2.3.2.1.3 und 2.3.2.1.4). In der Entscheidungsarena scheinen medienbezogene Kalküle durchaus als Maßgabe des Handelns zu wirken (vgl. die Befunde, wonach medienvermittelte Informationen als strategisch relevanter Input eingesetzt werden, Kapitel 2.3.2.2.4, oder die Maßnahmen zu Abschottung vor den Medien, vgl. Kapitel 2.3.2.2.7). Allerdings ist die Befundlage hier nur als erster Hinweis zu sehen, dem es an einer generalisierbaren Basis fehlt (wegen vieler, fallbezogener qualitativer Studien). Folglich gibt es Hinweise, dass die publikumsorientierte Medienlogik in beiden Handlungsarenen als proaktiver Handlungsmaßstab wirkt. Implikationen zum relativen Gewicht von Medien- und Verhandlungslogik lassen sich darüber hinaus aus folgenden Befunden ableiten: Einige Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Handeln von Politikern und Verbandseliten haben dargelegt, dass inhaltlich-substanzielles und darstellerisch-motiviertes Handeln der Funktionseliten als etwa gleich bedeutend erachtet wurden (Pontzen, 2006, S. 87; Schütte, 2010, S. 173). Darüber hinaus erfuhr das Darstellerische einen Aufwärtstrend in seiner Bedeutung – und zwar z. T. auch zulasten der Herstellungsebene von Entscheidungen (Fawzi, 2014, S. 261; Kepplinger, 2002; Pontzen, 2006, S. 111–112). Daraus könnte man schließen, dass die medien- und öffentlichkeitsbezogenen Kalküle gegenüber denjenigen in der Verhandlungsarena durchaus Gewicht haben. Dabei bleibt es aber stark von den Rahmenbedingungen (z. B. gesellschaftliche Sphäre der Entscheider, Prinzipien in diesen Sphären, usw.) abhängig, wie schwer dieses Gewicht des Darstellerischen ausfällt (vgl. Befunde zu Randbedingungen der Medialisierungsfolgen in Kapitel 2.3.2.2.6) und ob es zu einer tatsächlichen Konkurrenz für das inhaltlich-substantiell motivierte Handeln wird. Vor allem aber die Tatsache, dass die Medienöffentlichkeit zunehmend als strategische Option über 297
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4 Abhängige Konstrukte
solche Maßnahmen wie Leaking instrumentalisiert wird (vgl. Baugut & Grundler, 2009; Fawzi, 2014; Kunelius & Reunanen, 2012; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010), deutet den Weg an, den die künftige Entwicklung hier beschreiten könnte.
4.5
Zwischenfazit: Konzeption der abhängigen Zielkonstrukte
4.5 Zwischenfazit
Ziel des vorliegenden Kapitels war es, die abhängigen Konstrukte im Modell zur Beschreibung von Medieneinflüssen auf das entscheidungsbezogene Handeln von gesellschaftlichen Funktionseliten zu konzipieren. Ausgangspunkte dieser Modellierung waren dabei die folgenden konzeptionsleitenden Fragen (vgl. zur Ableitung derer Kapitel 2.5.1) ▶ 1a) Wie lässt sich das Kernentscheidungshandeln der Funktionseliten im Kontext der Medienöffentlichkeit konzipieren? ▶ 1b) Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das öffentliche Kommunikationshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten? Konzeptionsleitende Frage 1a) wurde adressiert, indem Verhandeln als zentraler Mechanismus vorgesehen wurde, um Entscheidungen von breiter gesellschaftlicher Relevanz zu treffen (vgl. Kapitel 3.1). Hierbei dienten die Merkmale Wahl der Verhandlungsstrategie und Merkmale des Verhandlungsergebnisses als Ankerpunkte, um das Handeln der gesellschaftlichen Funktionseliten in dieser Kernentscheidungssphäre zu beschreiben (vgl. Kapitel 4.1). In der Auseinandersetzung mit den Desiderata existierender Forschung hat sich klar herausdestilliert (vgl. Kapitel 2.5.1), dass es zugleich ungemein wichtig ist, abzustecken, welche anderen relevanten Handlungssphären es gibt, die aber nicht den Kern des Entscheidungsprozesses ausmachen. Dies wurde über die konzeptionsleitende Frage 1b) adressiert. Hierzu wurde zunächst das kommunikative Handeln der gesellschaftlichen Entscheidungsträger in der medial vermittelten und öffentlichen Arena vom Kernentscheidungshandeln in der nicht-öffentlichen Verhandlungsarena abgegrenzt und über die Merkmale Wahl der Kommunikationsstrategie und Bewertung des Kommunikationsergebnisses beschrieben (vgl. Kapitel 4.2). Durch diese klare Abgrenzung wurde es nicht nur möglich, eine trennscharfe Modellierung zwischen beiden Handlungssphären vorzulegen, sondern zugleich auch deren Wechselwirkungen differenziert und analytisch gehaltvoll fassen zu können. Dies erfolgte in Kapitel 4.3, indem dort instrumentell motivierte Handlungen in einer Arena zur Zielver-
4.5 Zwischenfazit
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folgung in der anderen Arena beschrieben wurden. Schließlich ermöglichte es die umfangreiche Auseinandersetzung mit den Handlungssphären im Rahmen der Verhandlungs- wie der Medialisierungsforschung (vgl. Kapitel 3.1 und Kapitel 2.3), ein zentrales verbindendes Konstrukt zu identifizieren, das beide Handlungssphären miteinander verknüpft: Die strategisch-taktischen Überlegungen und Kalküle der Entscheider – hier wird über den differenzierten Einbezug verschiedenartiger Informationen darüber entschieden, wie sie in welcher Arena handeln (vgl. Kapitel 4.4). Diese strategisch-taktischen Überlegungen verbinden aber nicht nur die beiden Handlungssphären miteinander. Sie stellen zugleich auch den zentralen Einflusskanal für die Einflüsse aus der Medienöffentlichkeit dar: Hier fließen die Ergebnisse aus der Wahrnehmung und Verarbeitung der medial vermittelten und öffentlich kommunizierten Inhalte als strategisch relevanter Informationsinput in die Handlungssphäre der Entscheider ein. Im nächsten Abschnitt wird erläutert, wie diese Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit – auf Basis von Wahrnehmungen, Bewertungen und Interpretationen – zunächst die strategisch-taktischen Überlegungen prägt, die in der Folge wiederum das Handeln der Entscheidungsträger leiten. Dabei wird die zweite konzeptionelle Lücke adressiert (vgl. Anforderung 2 in Kapitel 2.5.2) und die unabhängigen Faktoren des Modells vorgestellt: die Modellierung der psychologischen Prozesse, die Medieneinflüsse auf das Entscheidungshandeln der Eliten kanalisieren.
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Unabhängige Konstrukte: Die kognitive und emotionale Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit
5
5 Die Verarbeitungsperspektive 5 Die Verarbeitungsperspektive
In diesem Abschnitt geht es um die Frage, wie medienbezogene Kalküle in die strategisch-taktischen Überlegungen der gesellschaftlichen Funktionseliten einfließen. Diese bilden, wie zuvor dargelegt (vgl. Kapitel 4.4), die Grundlage für die Aktivitäten in der Verhandlungsarena und in der medienvermittelten öffentlichen Arena (z. B. die öffentliche Kommunikation über die eigenen Verhandlungsaktivitäten und Erfolge). Damit wird der zweite Komplex an konzeptionsleitenden Fragestellungen dieser Arbeit adressiert, der auf die Mechanismen abzielt, die medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit den Weg in den Entscheidungsprozess von Funktionseliten bahnen (vgl. Kapitel 2.5.2). Die unabhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell sollen also konzeptioniert werden. Ausgangspunkt dafür ist folgender Gedanke: Wenn Akteure Verhandlungen zu einem Thema von breiter gesellschaftlicher Relevanz führen, dann wissen sie, dass sie spätestens nach Abschluss der Verhandlungen wieder vor die Öffentlichkeit treten müssen und Verantwortung für ihre Entscheidungen – mindestens gegenüber ihren relevanten Anspruchsgruppen – übernehmen müssen (Benz, 2007, S. 115). Daher erscheint es nicht plausibel, dass die medienvermittelte Öffentlichkeit bei der Kernentscheidungsfindung der Verhandlungspartner hinter verschlossenen Türen außen vor bleibt, wie es von manchen Autoren angenommen wurde (F. Esser, 2013, S. 175; F. Esser & Matthes, 2013, S. 177). Vielmehr berücksichtigen die Verhandlungsführer die medienvermittelte Öffentlichkeit im Rahmen ihrer strategischen Abwägungen (Davis, 2007, S. 190; Fawzi, 2014, S. 202; Kepplinger & Marx, 2008, S. 192; Reunanen et al., 2010, S. 297; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 500). Um diese Einflüsse fassen zu können, müssen die psychologischen Mechanismen bei den Entscheidungsträgern berücksichtigt werden, über die diese Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit stattfindet: Die Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation der öffentlichen Kommunikation und der öffentlichen Meinung
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Viehmann, Korsett und Machtressource, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32009-6_5
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rund ihr das Entscheidungsproblem (Ähnliches schlussfolgern Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 21 und Fawzi, 2014, S. 311 aus ihren Befunden). Diese Verarbeitungskomponenten bilden die unabhängigen Faktoren im vorliegenden Modell zur Erklärung von Medieneinflüssen auf das Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten (vgl. für eine Gesamtübersicht aller Modellparameter Abbildung 6 auf Seite 237 und für eine Detailbetrachtung dieser Verarbeitungskomponenten Abbildung 11). Mit der Berücksichtigung dieser Verarbeitungskomponenten wird das indirekte Wirkungsmodell überwunden (Medien wirken auf Bürger, die wiederum – beispielweise über Wahlen – Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungsträger ausüben, vgl. Kapitel 2.3.2.2.3), das klassischerweise in der politische Kommunikationsforschung als Leitbild galt (Kepplinger, 2008, S. 330–331) (das legen auch die Befunde von Fawzi, 2014, S. 294, nahe). Einen vergleichbaren Fokus legen auch Nölleke und Scheu (2018) sowie Donges (2008; Donges & Jarren, 2014), die als eine der wenigen Autoren ebenfalls versuchten, die Wahrnehmungsperspektive als explizites Schlüsselelement in der Entstehung von Medialisierungsfolgen auf das Handeln von gesellschaftlichen Eliten in ein analytisch-differenziertes Medialisierungskonzept zu integrieren: Ausgehend von der zugrundliegenden Annahme, dass die Akteure medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen (Ursache für Medialisierung, vgl. hierzu auch Kapitel 2.3.1 und 3.2.1), ist die Frage, welche Medialisierungsfolgen auf das Entscheidungshandeln entstehen, zentral davon abhängig, welche medien- und öffentlichkeitsbezogenen Wahrnehmungen bei ihnen entstehen (Donges & Jarren, 2014, S. 188–190; Nölleke & Scheu, 2018, S. 201–202). Damit knüpfen sie an frühere Schriften an, die der subjektiven Wahrnehmung der medial vermittelten und öffentlichen Kommunikation ungeachtet ihres tatsächlichen objektiven Inhalts ein maßgebliches Einflusspotenzial auf das Handeln von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern zuschreiben (ideelle Grundlage für wahrnehmungsbasierte Effekte: Thomas-Theorem, vgl. Thomas & Thomas, 1928, S. 572; siehe hierzu: Strömbäck, 2011a, S. 427, 436; Weichselbaum, 2016, S. 226–227, 229). Dies führt zum Konzept der Medienöffentlichkeit, wie es bereits an verschiedenen Stellen dieser Arbeit dargelegt wurde (vgl. Kapitel 2.5.2 und 3.2.3) und hier nochmal zentral aufgegriffen werden soll. Der Kerngedanke ist dabei, dass die Medienöffentlichkeit sich über die Wahrnehmungen der Akteure konstituiert: Unter Medienöffentlichkeit sollen im Rahmen dieser Arbeit all jene öffentlichen und medial vermittelten Kommunikationsinhalte verstanden werden, die die Entscheidungsträger wahrnehmen oder in der Zukunft erwarten und für sich, ihre Ziele und ihre Aufgabenerfüllung als relevant erachten – unabhängig davon, ob sie über traditionelle Massenmedien oder computervermittelte Kommunikation oder beispielsweise über die persönliche Kommunikation mit den eigenen
Verarbeitung öffentlicher Kommunikation
Verarbeitung von medialer und öffentlicher Kommunikation Psych. Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit erfolgt über mehrere Verarbeitungsstufen: 1. Aufmerksamkeit & Nutzung 2. Wahrnehmung/Antizipation, Bewertung & Interpretation 3. Kognitive Reaktionen: z.B. Influence of Presumed Media Influence; Hostile Media 4. Emotionale Reaktionen
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
Strategisch-taktische Überlegungen = Ziel-Mittel-UmweltKalküle • Verzerrungen durch kognitive Heuristiken & affektive Zustände • Medien- und Verhandlungslogik als Maximierungsfunktionen
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena
5 Die Verarbeitungsperspektive 303
Abb. 11 Detailbetrachtung des unabhängigen Kernkonstrukts: kognitiv-emotionale Verarbeitung von medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation
Quelle: Eigene Darstellung.
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5 Die Verarbeitungsperspektive
Mitgliedern oder Wählern vermittelt wurden. Besonders einflussreich scheinen in diesem Zusammenhang die persönlichen, oft informellen Kontakte zu Journalisten zu sein, wie es die Befunde zu den Medialisierungsfolgen aufgezeigt haben (vgl. Kapitel 2.3.2.1.2 sowie z. B. Kepplinger & Marx, 2008, S. 191–192; Protess et al., 1987, S. 180). Demnach steht im Rahmen der vorliegenden Modellierung kein spezifisches Medium oder Medienangebot im Fokus. Vielmehr können alle Plattformen, Angebote und -gattungen bzw. sonstige Informationsquellen für öffentlich verbreitete Inhalte von Interesse sein. Einzig die Frage, ob die dort kommunizierten und/oder vermittelten Inhalte wahrgenommen und als relevant erachtet werden, ist hier entscheidend (ähnlich argumentiert Kepplinger, 2007, S. 7). Diese Perspektive wird beispielweise durch die Befunde von Green-Pedersen und Stubager (2010) gestützt: Sie zeigen in ihrer langfristigen Betrachtung (1984–2003), dass nur solche Informationen der Medienagenda, die eine strategische Relevanz für die untersuchten Politiker hatten (im Sinne des issue ownership-Ansatzes, vgl. Petrocik, 1996), einen signifikanten Einfluss auf deren Kernentscheidungshandeln im Parlament hatten (i. e. Zusammenhang zwischen den Nachrichtenthemen des wichtigsten Radiosenders in Dänemark; n = 104417 Nachrichtenbeiträge; und den Themen der Anfragen durch Oppositionspolitiker im Parlament, n = 47 324 Anfragen, ähnliche Befunde: Vliegenthart & Walgrave, 2011). Ähnlich zum hier vorgestellten Konzept von Medienöffentlichkeit konzipiert Weichselbaum (2016, S. 224) die subjektive Druck-Wahrnehmung von politischen Akteuren aus dem Kommunikationsraum politische Öffentlichkeit. Er begreift darunter den Druck der politischen Öffentlichkeit, wie er sich in politikbezogener Medienberichterstattung äußert und durch die betroffenen politischen Akteure wahrgenommen wird. Dies kann, muss aber nicht, in Zusammenhang mit dem tatsächlichen Ausmaß an Druck durch die politische Öffentlichkeit stehen. Die Wahrnehmung ist ausreichend und handlungsleitend (Weichselbaum, 2016, S. 227). Im Gegensatz zu Weichselbaums Konzept der subjektiven Druck-Wahrnehmung verzichtet das hier vorgestellte Konzept der Medienöffentlichkeit allerdings darauf, die Implikationen für das Handeln, die aus dieser Wahrnehmung der medial vermittelten und öffentlichen Kommunikation potenziell resultieren, direkt in den Begriff zu integrieren. Der Begriff des Drucks impliziert nämlich, dass der Entscheidungsträger das Wahrgenommene in seinen Implikationen negativ bewertet (er nennt hier: Einschränkung der Handlungsoptionen in inhaltlicher und/oder zeitlicher Hinsicht, Weichselbaum, 2016, S. 221) und dass es zum Impetus für sein Handeln wird (z. B. Rücktritt von politischen Ämtern). Stattdessen soll das hier vorgeschlagene Konzept der Medienöffentlichkeit sowohl die Bewertungsdimension (wird das Wahrgenommene positiv, negativ oder ambivalent bewertet?) als auch die Handlungsimplikationen (wird das Wahrgenommene zum Anlass von
5 Die Verarbeitungsperspektive
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Handeln seitens der Funktionseliten und welche Handlungen in welcher Arena resultieren daraus?) offenlassen. Einzig die Kriterien, dass die wahrgenommenen Inhalte nicht privat sind (d. h. öffentlich wahrnehmbar sein müssen) und als relevant für die eigenen Ziele und Handlungen empfunden werden müssen, werden hier als Spezifizierung der Wahrnehmungskomponente vorgesehen. Konzeptionell vereint das hier vorgestellte Konzept von Medienöffentlichkeit Ideen aus den Öffentlichkeitsbegriffen von Gerhards und Neidhart (1990) sowie Habermas (1997) mit dem sozialpsychologischen Verständnis von öffentlicher Meinung bei Noelle-Neumann (1982). Öffentlichkeit kann demnach als ein frei zugängliches und unabgeschlossenes intermediäres Kommunikationssystem zwischen Bürgern, Politik und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen verstanden werden, in dem der Austausch von Information und Meinungen in einer Gesellschaft stattfindet und diese verdichtet und synthetisiert werden (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 12, 15–16; Habermas, 1997, S. 436). Die sozialpsychologische Konzeption, wie sie von Noelle-Neumann (1982, S. 91–92) formuliert wurde, fasst öffentliche Meinung als „Meinungen im kontroversen Bereich, die man öffentlich äußern kann, ohne sich zu isolieren. (…) Im verfestigten Bereich der Traditionen, Sitten, vor allem aber der Normen sind jene Meinungen und Verhaltensweisen öffentliche Meinung, die man öffentlich äußern oder einnehmen muß, wenn man sich nicht isolieren will“ (Hervorhebung im Original). Im Gegensatz zur Gesamtheit aller verbreiteten Informationen und Meinungen aus dem intermediären Kommunikationssystem Öffentlichkeit wie es Gerhards und Neidhardt (1990) verstehen, spezifiziert sich die auf Wahrnehmungen der Akteure fußende Medienöffentlichkeit hier durch die Kriterien öffentlich wahrnehmbar und relevant. Als solche bildet sie im Prinzip die Vorstufe zu den Meinungen, die man öffentlich äußern muss bzw. kann, um sich nicht zu isolieren, aus dem Konzept von Noelle Neumann (1982). Denn erst die Wahrnehmung der Inhalte und ihre Einschätzung als relevant kann dazu führen, dass von ihr dieses Druckmoment ausgehen kann. In Noelle-Neumanns sozialpsychologischem Verständnis spielt genau das hinein, was Weichselbaum (2016) als subjektiv empfundenen Druck beschreibt: Dass von den wahrgenommenen öffentlichen Kommunikationsinhalten der negativ empfundene Impetus ausgehen kann, sich fügen zu müssen. Davon grenzt sich das hier vorgeschlagene Konzept der Medienöffentlichkeit wiederum ab, indem es die Bewertungsdimension sowie die Handlungsimplikationen offenlässt. Durch die Offenheit des Medienöffentlichkeitskonzeptes abseits der Bewertung und des Handlungsimpetus, der von den öffentlich wahrgenommenen Inhalten ausgeht, wird es nun möglich, diese medien- und öffentlichkeitsbezogenen Wahrnehmungen als generelle Verarbeitungskomponenten zu modellieren. Dabei sollen anders als bei Nölleke und Scheu (2018, S. 199) nicht nur die Wahrnehmungen bezüglich 305
306
5 Die Verarbeitungsperspektive
des potenziellen Einflusses der Medien herangezogen werden (sog. Presumed Media Influence), sondern ein umfassenderes Konzept zugrunde gelegt werden, dass den Rezeptionsprozess als Ganzes im Hinblick auf die Medienöffentlichkeit modelliert: Die Konzepte „mental mediatization“ (Marcinkowski, 2014, S. 17) und reziproke Effekte (Kepplinger, 2007, 2010d) stellen dabei fruchtbare Ansätze dar, um diese Wahrnehmungen, Bewertungen und Interpretationen der Entscheidungsträger im Hinblick auf die Medienöffentlichkeit zu konzipieren. Beide Konzepte beschreiben Medieneffekte auf Personen, die – im Gegensatz zu gewöhnlichen Rezipienten – selbst Gegenstand der Medienberichterstattung bzw. der öffentlichen Kommunikation sind (sog. Protagonisten, Kepplinger, 2010d, S. 135; Marcinkowski, 2014, S. 17; z. B. Politiker, Richter, NGO-Vertreter, CEOs – oder für den vorliegenden Fall: Verhandlungsakteure; siehe zum Beispiel folgende Studien zu den verschiedenen Akteursgruppen: Kepplinger & Glaab, 2007; Kepplinger & Zerback, 2009; Kepplinger, 2009a; Kepplinger & Zerback, 2012). Deshalb spricht Marcinkowski (2014, S. 16) auch von „a very specific type of media effect“. Spezifiziert man die Frage danach, was es heißt, dass die Protagonisten selbst Gegenstand der Berichterstattung werden, so stößt man auf ein breites Verständnis: Es geht nicht nur in engem Sinne darum, dass über den Protagnisten als Person berichtetet wird. Reziproke Effekte sind auch dann zu erwarten, wenn eine Organisation bzw. eine soziale Gruppe, derer die Protagonisten angehören oder sich zugehörig bzw. verbunden fühlen, in der medialen Berichterstattung oder öffentlichen Kommunikation thematisiert werden (Kepplinger, 2010d, S. 135). Kepplinger geht sogar noch weiter und spricht davon, dass sich die Akteure generell lediglich durch den berichteten Zusammenhang angesprochen fühlen müssen (Kepplinger & Marx, 2008, S. 195). Zentral sei dabei nämlich das Gefühl der persönlichen Betroffenheit, was durch die Berichterstattung und den darin hergestellten Bezug zu den Protagonisten ausgelöst werde (Kepplinger, 2010d, S. 135; Neumann, 2015, S. 195). Insgesamt ist an dieser Stelle aber bislang nur vereinzelt erforscht worden, wie sich verschiedene Formen des „Angesprochen seins“ auf die Verarbeitung und potenzielle reziproke Effekte auswirken können (siehe z. B. Korn & Einwiller, 2013; Korn, 2018 für reziproke Effekte bei Mitarbeitern, wenn über das eigene Unternehmen berichtet wurde; Neumann, 2015 bei ehemaligen Mitgliedern der rechtsextremen Szene und Karadas, Neumann & Reinemann, 2017, bei türkischen Migranten, wenn über deren jeweilige Binnengruppe berichtet wurde; bei allen dreien erweist sich die Identifikation mit der Gruppe/Organisation als zentral, allerdings handelt es sich bei keiner der drei Akteurstypen um Entscheider im hier verstandenen Sinne). Kepplinger und Marx (2008, S. 195) vermuten dabei, dass die Zusammenhänge schwächer werden, je weniger die Protagonisten die Medieninhalte auf sich selbst bzw. ihre Identität und ihr Handeln beziehen können.
5.1 Aufmerksamkeit für und Nutzung von medial vermittelter …
307
Solche reziproken Effekte ergeben sich aus einem mehrstufigen Verarbeitungsprozess: 1) Erstens müssen die Protagonisten auf medienvermittelte öffentliche Kommunikationsinstanzen aufmerksam werden und diese nutzen. 2) Zweitens müssen sie den Inhalt wahrnehmen und bewerten. Schließlich führt dieser Akt der Verarbeitung zu 3) kognitiven und 4) emotionalen Reaktionen (Kepplinger, 2007, S. 11–13, 2010d, S. 140–142). In der Summe wird über diese Prozesse bei den Protagonisten eine subjektive Wahrnehmung der Medienöffentlichkeit geprägt. Die einzelnen Verarbeitungsstufen sollen nachfolgend detailreicher betrachtet werden:94
5.1
Aufmerksamkeit für und Nutzung von medial vermittelter öffentlicher Kommunikation
5.1
Aufmerksamkeit für und Nutzung von medial vermittelter …
Zunächst ist die Frage danach relevant, auf welche medial vermittelten und öffentlich kommunizierten Inhalte die Entscheidungsträger aufmerksam werden und wie intensiv sie diese nutzen. Diese Nutzungsperspektive gilt aus Sicht der klassischen Wirkungsforschung als das Fundament, auf dessen Grundlage sich das Wirkungspotential der Medien entfalten kann (Fawzi, 2014, S. 183, wobei auch hier bereits erweiternd darauf verwiesen wird, dass auch abseits der konkret genutzten Inhalte Wirkungen entstehen können, beispielweise über Antizipation; siehe Kapitel 2.5.2 und 5.2 weiter unten). 94 Abgrenzung zu Kepplingers (2007, 2010d) Modell: Kepplingers Ansatz reziproker Effekte wird nicht vollständig in die vorliegende Modellierung integriert, sondern nur in Teilen – wenngleich es als zentrale Inspirationsquelle für die gesamte hier vorgenommene Modellierung diente. Es soll kurz dargelegt werden, welche Aspekte nicht oder nur in Teilen übernommen wurden, um hier eine klare Anknüpfung zu ermöglichen: Hier wie bei Kepplinger stehen die Variablen zur Beschreibung der Wahrnehmung und Verarbeitung medialer Kommunikation im Zentrum (Kepplinger, 2007, S. 11–13). Die primären Variablen in Kepplingers Modell, Art und Inhalte der Medienberichterstattung (Kepplinger, 2007, S. 10), werden nicht als eigenständige Konstrukte im vorliegenden Modell berücksichtigt, weil hier die Annahme vertreten wird, dass erst deren Wahrnehmung und Verarbeitung zu relevanten Effekten führt. D. h. erst die Tatsache, dass ein Entscheider einen bestimmten Inhalt wahrnimmt und als relevant empfindet, zum Beispiel weil er in einem Medium mit hoher Reichweite erschienen ist – bei Kepplinger gehört das zu Variable Art des Medieninhalts (Kepplinger, 2007, S. 10)–, hat in der hier vorgenommenen Modellierung Effekte (ähnlich argumentieren Nölleke & Scheu, 2018, S. 200). Die Betrachtung der tertiären Variablen (Folgen auf das Handeln; Kepplinger, 2007, S. 13–15) erfolgte bereits in Kapitel 4 über die Modellierung der strategisch-taktischen Überlegungen (vgl. Kapitel 4.4) und des Handelns in der Verhandlungs- (vgl. Kapitel 4.1) und der medienvermittelten öffentlichen Arena (vgl. Kapitel 4.2). 307
308
5 Die Verarbeitungsperspektive
Hier ist zunächst aufschlussreich, über welche generellen Nutzungsrepertoires gesellschaftlichen Funktionseliten hinsichtlich öffentlicher und medial verbreiteter Inhalte verfügen: Eine Befragung von verschiedenen Akteursgruppen im Themenfeld Energiepolitik (N = 338, Politiker, Ministerialbeamte, Journalisten, Verbandsfunktionäre, Wissenschaftler) zeigt, dass insbesondere Zeitungen und Onlinemedien von einer Mehrheit täglich zu beruflichen Zwecken genutzt wurden (die Bedeutsamkeit von Printmedien als Informationsquelle bestätigen auch die Befunde von Landerer, 2015, S. 242–243 für Parlamentarier aus der Schweiz). Das Fernsehen folgte an dritter Stelle, während Fachmedien und Web 2.0-Angebote nur von einer Minderheit täglich genutzt wurden (Fawzi, 2014, S. 186). Im Vergleich zur Bevölkerung nutzten sie Zeitungen damit deutlich intensiver, das Fernsehen spielte dagegen eine geringere Rolle (Fawzi, 2014, S. 184; ähnliche Befunde legen Schenk & Mangold, 2011 für Entscheider aus Wirtschaft und Verwaltung vor). Abgesehen von diesen massenmedialen Quellen fehlt es allerdings an einer breiteren Perspektive, die auch weitere potenzielle Informationsquellen einbezieht. Damit bleibt die Frage offen, aus welchem Gesamtmix an Inhalten sich die Entscheider informieren und damit ihren Eindruck von öffentlich wahrnehmbaren Inhalten bilden (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 502). Beispielsweise kann ein Kollege von einem Beitrag in einer prestigeträchtigen Zeitung erzählen, den er jüngst gelesen habe und der inhaltlich einen Bezug zu ihrem Tätigkeitsfeld hatte (vgl. für dieses Beispiel Sevenans et al., 2016, S. 609). Diese Information bildet dann wiederum einen Teil dessen, was der Entscheidungsträger als öffentlich verbreitete Inhalte im Sinne der wahrnehmungsbasierten Medienöffentlichkeit wahrnimmt. Eine reine Abfrage der genutzten Massenmedien würde das nicht erfassen. Abgesehen von der Frage nach den Informationenquellen, die als potenzieller Input dienen, muss außerdem der Aspekt der Selektivität berücksichtigt werden: Entscheider unterliegen mehr noch als der Durchschnittsrezipient der Notwendigkeit, Inhalte aus einer übergroßen Informationsflut vor dem Hintergrund begrenzter Verarbeitungskapazitäten selektieren zu müssen (Schenk & Mangold, 2011, S. 239; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 500; Walgrave & Dejaeghere, 2017, S. 234). Gerade die organisationalen Strukturen, in die die Entscheider eingebunden sind, können hier als Filtermechanismen fungieren. Um der Informationsflut Herr zu werden und den Entscheidern so den Rücken für die zentralen Inhalte frei zu halten, haben die Unternehmen, Parteien und Verbände, in denen die gesellschaftlichen Funktionseliten eingebunden sind, nämlich gewisse Prozeduren etabliert – beispielweise wurden Mustervorlagen zur Informationssammlung ausgearbeitet und spezialisiertes Personal zur Informationsselektion eingesetzt (Walgrave & Dejaeghere, 2017, S. 236). Die Entscheider selbst bedienen sich in einem nächsten Schritt Heuristiken als weitere individuelle Selektionsmechanismen: Hier zeigt eine Interviewstudie mit
5.1 Aufmerksamkeit für und Nutzung von medial vermittelter …
309
hochrangigen belgischen Politikern von Walgrave und Dejaeghere (2017, S. 237–238), dass vor allem die politische Ideologie, die themenspezifische Spezialisierung und Effektivitätsüberlegungen (worauf sollte ich mich konzentrieren, um den meisten Output/Erfolg generieren zu können?) eine Rolle spielten. Die Bedeutung der themenfeldspezifischen Spezialisierung sowie der Ideologie (hier gemessen über parteibezogenes Issue Ownership) zeigte sich auch in einer Studie von Sevenans und Kollegen (2016). Darüber hinaus identifizierten sie die Prominenz, mit der ein Thema in den Medien bedacht wurde, als weiteren Ansatzpunkt, wenn Politiker versuchten relevante Inhalte zu selektieren (Sevenans et al., 2016). Fragt man in einem zweiten Schritt nach dem Ausmaß der Nutzung, so gelten Entscheidungsträger als „news junkies“ (Davis, 2007, S. 185), was auch die Befunde von Fawzi (2014, S. 185) stützen: Jeder vierte Befragte in ihrer Studie zu Entscheidungsakteuren in der Energiepolitik gab an, dass er alle vier abgefragten Massenmedien täglich nutzte. Die britischen Abgeordneten (N = 46) in der qualitativen Interviewstudie von Davis (2007, S. 185) ergänzen dieses Bild: Sie berichteten davon, dass viele im Büro quasi einen Livenachrichtenticker in Form eines TV-Nachrichtensenders oder der Website der BBC dauerhaft im Blickfeld haben. Während die zuvor dargelegten Befunde zwar generell einen hohen Konsum von Medieninhalten nahelegen, lassen sie jedoch offen, ob und wie die Intensität sich verändert, wenn die Inhalte einen (persönlichen) Bezug zu den Entscheidern herstellen. Mit Blick auf die Intensität der Nutzung wird nämlich argumentiert, dass Entscheidungsträger die Medienberichterstattung bzw. öffentliche Kommunikation intensiver als Unbeteiligte nutzen weil sie als Protagonisten unmittelbar von den Inhalten betroffen sind (Kepplinger, 2010d, S. 135). Erste Befunde in diese Richtung legen Kepplinger und Zerback in ihrer Studie zu reziproken Effekten auf Richter und Staatsanwälte vor (N = 271 Staatsanwälte und N = 447 Richter; Rücklaufquoten: 21–25 %): Hier berichtete ein substantieller Teil davon, dass sie Berichterstattung über ihre eigenen Fälle intensiver rezipierten als die Darstellung anderer juristischer Fälle in den Medien (z. B. wurden Beiträge mehrfach gelesen) (Kepplinger & Zerback, 2009, S. 225, 2012, S. 481). Ursächlich hierfür sei der hohe Grad an Betroffenheit durch den berichteten Gegenstand (Kepplinger, 2007, S. 11, 2010d, S. 140). Ergänzend können hier die Befunde von Kepplinger und Marx (2008, S. 189, 194) zu Landtagsabgeordneten herangezogen werden, wonach die Nutzung vor allem dann intensiv ausfällt (d. h., umfangreicher, aufmerksamer und es wurden auch Medien genutzt, die normalerweise nicht zum Standardrepertoire gehörten), wenn die Entscheidungsträger den Eindruck hatten, dass die Berichterstattung kritisch und anprangernd im Tenor war. Diese hohen und intensiv rezipierten Mediendosen bilden den Autoren zufolge die Basis für besonders starke Medieneffekte (Kepplinger & Marx, 2008, S. 193). 309
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5 Die Verarbeitungsperspektive
Das hohe Involvement geht nämlich nicht nur mit einer intensiven Nutzung und damit sehr hohen Mediendosen im Vergleich zu unbeteiligten Rezipienten einher (Kepplinger, 2010d, S. 140). Legt man Erkenntnisse zur Verarbeitung von Durchschnittsrezipienten zugrunde (vgl. zum Beispiel das Elaboration-Likelihood-Modell, Petty et al., 2009) so kann davon ausgehend vermutet werden, dass die Inhalte auch intensiver und aufmerksamer rezipiert und im Vergleich zu anderen Rezipienten wesentlich elaborierter verarbeitet werden, wenn sie persönliche Relevanz für die Person haben und Involvement erzeugen (Petty et al., 2009, S. 136). Dies macht sich im nächsten Verarbeitungsschritt bemerkbar:
5.2
Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation von medial vermittelter öffentlicher Kommunikation
5.2
Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation …
Medienberichterstattung und öffentliche Kommunikation sind für diese Protagonisten nicht nur Quellen für Informationen über das aktuelle Geschehen oder die Aktivitäten anderer Akteure (vgl. Kapitel 3.2.2.1 und van Aelst & Walgrave, 2016, S. 499–500), sondern auch dafür, wie die Entscheidungsträger selbst wahrgenommen werden und wie ihr Handeln sowie das ihrer Organisation bzw. Gruppe in der Öffentlichkeit diskutiert werden (Marcinkowski, 2014, S. 17, spricht von einem Spiegel, der ihnen vorgehalten wird). Bei der Verarbeitung dieser medienvermittelten öffentlichen Kommunikation – also ihrer Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation – reflektieren die Akteure den Inhalt vor dem Hintergrund verschiedenster Kalküle (Kepplinger, 2007, S. 11, 2010d, S. 140): z. B. stimmt das Dargestellte mit meinen Erfahrungen und Wahrnehmungen überein? Was ist anders, warum ist es anders, welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem öffentlichen Bild der Ereignisse für meine eigenen Ziele und Aktivitäten? Allerdings existiert kaum Forschung zu der Frage, welche Merkmale des Inhalts (z. B. die Tonalität, die Frames, die Präsentation verschiedener Akteure oder Positionen) relevant sind: Grundsätzlich zeigen Befunde, dass Entscheidungsakteure ein hohes Maß an Konfliktorientierung in der Berichterstattung zu ihrem Themenbereich wahrnahmen (Fawzi, 2014, S. 196). Vor allem im Zusammenhang mit kritischer Berichterstattung hatten die meisten Entscheidungsakteure in der Studie von Kepplinger und Marx (2008, S. 197) den Eindruck, dass die eigenen Fehler übermäßig dramatisiert sowie aufgebauscht und erklärende Umstände des Handelns kaum dargestellt würden. Zwar nicht die Mehrheit, aber dennoch ein substanzieller Teil der Landespolitiker, die in der Studie befragt wurden, war der Ansicht, dass ihnen Fehler oder Versäumnisse zu Unrecht – also fälschlicher-
5.2 Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation …
311
weise – vorgeworfen wurden. Ein Großteil der landespolitischen Entscheider sah darüber hinaus ganz grundsätzliche Mängel und Fehler in der Berichterstattung (ähnlich auch die Befunde in der Studie von Kepplinger & Zerback, 2012, S. 481 zu Richtern und Staatsanwälten). Vergleichbar sind hier auch die Befunde von Fawzi, wonach Befragte aus der Energiepolitik nur einer Minderheit der berichtenden Journalisten ausreichend Fachwissen in ihrem Bereich Energiepolitik attestierten (Fawzi, 2014, S. 196). Abgesehen von der Konfliktorientierung und dem Eindruck, dass eigenes Fehlverhalten falsch dargestellt würde, scheinen die Kommentare und tiefergehenden Analysen der Journalisten (Davis, 2007, S. 192) ebenso wie Informationen zu den Positionen anderer relevanter Akteure im Entscheidungskontext (Fawzi, 2014, S. 202; Melenhorst, 2015, S. 300) nicht unbedeutend. Gerade Hinterbänkler versuchten dabei aus Mangel an Insiderwissen Informationen zu generellen Gesprächsthemen und Stimmungen in verschiedenen inneren Kreisen unter den Parlamentariern auszumachen, wie es die qualitative Befragung von britischen Parlamentariern durch Davis aufzeigt (Davis, 2007, S. 194). Auch in der Befragung von Fawzi (2014, S. 204–205) zeigt sich, dass insbesondere solche Akteure, die nicht in den Kernentscheidungsprozess eingebunden waren, die Medieninhalte auch als Quelle für strategisch relevante Informationen – beispielweise zum Verlauf von Verhandlungsprozessen – nutzten. Für eine Mehrheit bei allen befragten Akteursgruppen aus der Energiepolitik bestätigte sich überdies der Gedanke, dass die Medienöffentlichkeit einem den Spiegel vorhält. Die Befragten aus Politik, Wissenschaft, Medien, Wirtschaft und von Verbänden gaben jeweils mehrheitlich an, dass sie anhand der medialen Darstellung versuchten, die Akzeptanz ihrer Themen und Projekte abzuschätzen sowie einen Eindruck davon zu bekommen, wie die eigene Organisation in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird (Fawzi, 2014, S. 202). Eine umfassende Betrachtung dazu, welche Merkmale der Berichterstattung aus Sicht der Entscheidungsakteure relevant sind, steht allerdings noch aus. Selbiges gilt für die Frage, welche Folgen aus diesen Eindrücken resultieren (ähnliches konkludiert Fawzi, 2014, S. 311). Kepplinger (2007, S. 10, 2010d, S. 139) vermutet, dass insbesondere die Tonalität, die Intensität, das Thema und das Ausmaß an Konsonanz in der Berichterstattung über verschiedene Medien hinweg von Bedeutung sein könnten (ähnliche Vermutungen hinsichtlich der Konsonanz der Berichterstattung äußern: Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 217; Melenhorst, 2015, S. 300). Empirische Hinweise in diesem Zusammenhang liefern die Studien von Elmelund-Præstekær et al. (2011) und Fawzi (2014, S. 189, 197), die gezeigt haben, dass Politiker Medien positiver bewerteten und einen höheren Einfluss der eigenen Organisation im Entscheidungsprozess wahrnahmen, je mehr sie den Eindruck hatten, dass sie viel Aufmerksamkeit von den Medien erhielten. 311
312
5 Die Verarbeitungsperspektive
Trotzdem lassen auch diese Befunde offen, welche Folgen daraus wiederum für das Entscheidungshandeln der Entscheidungsträger resultiert. Neben den wahrgenommenen Merkmalen vergangener Berichterstattung und öffentlicher Kommunikation weist Marcinkowski (2014, S. 17) auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin: Mental mediatization beschreibe Effekte, die ihren Ursprung nicht primär oder ausschließlich im eigentlichen Medieninhalt nehmen müssen (ähnlich: Kepplinger, 2010d, S. 137; Meyen et al., 2014, S. 275, 282). Allein das Wissen um die Existenz der Medien und die Gewissheit, dass sie die Handlungen des Verhandlungsführers in einer bestimmten Art und Weise darstellen werden (z. B. den Fokus mehr auf negative als auf positive Aspekte ausrichten), hat Auswirkungen auf die Verhandlungsführer, indem sie diese antizipierten Reaktionen der Medien und der Öffentlichkeit in ihre Überlegungen einbeziehen („effect beyond content“ bzw. „primacy of anticipation over content“, Marcinkowski, 2014, S. 17; vgl. auch: Strömbäck & Esser, 2014, S. 11). Auch hier ist unklar, welche Merkmale dieses Wissens um die Existenz der Medien relevant sind. Diese Frage stellt sich umso mehr, bedenkt man, dass sich das Mediensystem selbst in einem tiefgreifenden Wandel befindet, wie er etwa durch Prozesse der extension, substitution und amalgamation in Schulz‘ (2004, S. 88–90) Medialisierungskonzept bzw. den Überlegungen von Imhof (2006, S. 199–204) zum neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit zum Ausdruck kommt. Diese Wandlungsprozesse nehmen die Entscheider ihrerseits wahr und versuchen sie im Rahmen ihrer strategischen Planungen und Überlegungen zu berücksichtigen (vgl. hierzu z. B. die Befunde von Pontzen, 2006, 90, 93). Diese Antizipationen erstrecken sich dabei nicht nur auf die Medien im engeren Sinne, sondern auch auf die allgemeinen öffentlichen Reaktionen, wie es Brants und van Praag (2017, S. 404) eindrücklich darstellen: „The powers of the public, however, are implicit — but with that, not less powerful. (…) politicians anticipate what they assume to be the public’s wishes, wants, irritations and angers — assumptions that can be wide of the mark. But this law of anticipated reaction creates the ultimate exercise of power: without being coerced, politicians (…) increasingly do what they expect the public want.“ Dass diese Antizipation von künftiger Berichterstattung und öffentlichen Reaktionen sehr bedeutsam sein kann, darauf deuten die Befunde von Davis (2007, S. 187–188) hin, der bei britischen Parlamentariern „anticipatory news media effects“ identifiziert. Auch bei Unternehmensentscheidern zeigt Kepplinger (2010a), dass die künftig erwarteten medialen Reaktionen tatsächlich auch im Kern der Unternehmensentscheidungen Berücksichtigung finden. Dieser Gedanke der Wirkmacht von Antizipationen ist keineswegs neu, sondern zeigt sich auch in den Ursprüngen des reziproke Effekte-Konzeptes: Die Begrifflichkeit der reziproken Effekte ist nämlich der Pionierstudie von Kurt Lang und Gladys Engel Lang (1953) im Zusammenhang
5.3 Kognitive Reaktionen …
313
mit der TV-Berichterstattung über die McArthur Day Parade in Chicago entlehnt. Dabei zeigte sich, dass die Protagonisten vor Ort – d. h. auf den Zuschauertribünen der Parade – ihr Verhalten immer dann anpassten, wenn sie sich im Fokus der Fernsehkameras wähnten – im Bewusstsein, dass sie vor einem weitaus größeren Publikum als dem unmittelbar sichtbaren agierten (K. Lang & Lang, 1953, S. 10). Lang und Lang beschrieben demnach Effekte, die aus der Antizipation von öffentlichem Rampenlicht entstanden. Eine wesentlich selbstverständlichere Perspektive auf diese anticipatory news media effects findet sich schließlich in der PR, wo es als explizite Aufgabe definiert wird, die Erwartungen des Publikums zu antizipieren und in der Ausgestaltung der Kommunikationsaktivitäten zu berücksichtigen, um den Journalisten so Material zu liefern, dass sie mit wenig Aufwand verwerten können. Journalisten und Akteure, die PR-Maßnahmen ergreifen, orientieren sich demnach an der gleichen sozialen Entität, nämlich dem Publikum als generalisiertem Dritten (Raupp, 2009, S. 272). Schließlich führen medienvermittelte öffentliche Kommunikationsinstanzen nicht nur zu solcher primärer Verarbeitung in Form von Wahrnehmungen und Reflexionen, sondern auch zu weitreichenderen kognitiven – und noch seltener untersuchten – emotionalen Reaktionen (siehe für Ausnahmen Kepplinger & Glaab, 2007; Kepplinger & Zerback, 2009, 2012; Post, 2019 untersucht sie zwar nicht empirisch, aber modelliert sie theoretisch). Diese kognitiven und emotionalen Reaktionen unterscheiden sich von den Medieneffekten, wie sie für Durchschnittsrezipienten untersucht wurden, wie nachfolgend zu sehen sein wird.
5.3
Kognitive Reaktionen auf medial vermittelte öffentliche Kommunikation
5.3
Kognitive Reaktionen …
Die Auseinandersetzung der Entscheidungsträger mit den medial verbreiteten und öffentlich diskutierten Kommunikationsinhalten umfasst schließlich auch weitergehende kognitive Reaktionen. Diese stellen die dritte Verarbeitungsstufe im hier konzipierten Rezeptionsprozess der Funktionseliten dar. Um diese zu modellieren, erfolgt nachfolgend eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven auf wahrnehmungsbasierte Medienwirkungen. Zunächst soll im Hinblick auf diese kognitiven Responses aber folgender Gedankengang aufgeworfen werden: Bei Durchschnittsrezipienten führt die Verarbeitung von Medieninhalten zu einer veränderten Wahrnehmung oder Einstellung gegenüber dem Objekt, über das berichtet wurde (z. B. wenn die Medien einen Politiker in einem ungünstigen Licht darstellen, dann bewerten die Rezipienten dieses Beitrages den Politiker anschließend negativer, 313
314
5 Die Verarbeitungsperspektive
vgl. Krosnick & Kinder, 1990). Reziproke Effekte bzw. Effekte im Sinne der mental mediatization beziehen sich dagegen auf eine Veränderung der Wahrnehmungen und Einstellungen gegenüber den Medien selbst (etwa: Zuschreibungen von Macht an die Journalisten/Medien; naive Theorien, wie das Mediensystem funktioniert, Annahmen über die Auswirkungen der Medienberichterstattung auf Laien usw., vgl. Kepplinger, 2008, S. 329; Marcinkowski, 2014, S. 17–18; Meyen et al., 2014, S. 275, 282). Solche Wahrnehmungen von und Zuschreibungen an bzw. Einstellungen gegenüber den Medien selbst werden durch Ansätze wie den Influence of Presumed Media Influence (IPMI, vgl. Gunther & Storey, 2003; Tal-Or et al., 2009), den Third Person Effect (TPE, vgl. Bryant, Salwen & Dupagne, 2007; Davison, 1983) oder den Hostile Media Effekt (HME, vgl. Post, 2019; Vallone et al., 1985) konzeptioniert. Mit Blick auf Entscheidungsakteure implizieren sie folgende Kernannahme: Ungeachtet ihres tatsächlichen Einflusses, kann die Medienöffentlichkeit – d. h. die öffentlich und medial vermittelten Inhalte, die die Entscheidungsträger wahrnehmen und für relevant erachten – folgenreich sein, weil die Entscheidungsträger dieser einen hohen Einfluss auf die Öffentlichkeit, mindestens aber auf ihre jeweils als relevant erachteten Stakeholder zuschreiben (Donges & Jarren, 2014, S. 188; F. Esser & Matthes, 2013, S. 192; Strömbäck, 2011a, S. 427). Die empirischen Befunde von Kunelius und Reunanen (2012, S. 67) bekräftigen die dargelegte Perspektive. Diese Wirkungsvermutungen bilden den Kern dessen, was im hier vorgeschlagenen Modell als kognitive Reaktionen aus der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit konzipiert wird. Im Rahmen der hier vorgenommenen Modellierung wird allerdings zwischen zwei Typen solcher medienbezogener Wirkungsvermutungen unterschieden: Während sich die nachfolgenden Ausführungen auf ad hoc gebildete Wirkungsvermutungen im Lichte aktueller öffentlicher und medial vermittelter Debatten beziehen, werden zusätzlich generalisierte Wirkungsvermutungen – gewissermaßen als eine vergleichsweise stabile Einstellung der Entscheidungsträger gegenüber den Medien – im Rahmen der Umwelt Medien und Öffentlichkeit berücksichtigt (vgl. Kapitel 6.3). Beide Wirkungsvermutungen (die generalisierten und die ad hoc gebildeten) hängen vermutlich eng zusammen, jedoch können je nach Eigenschaften der aktuellen Debatte die ad hoc gebildeten Vermutungen differenzierter ausfallen und mitunter auch von den generalisierten Vermutungen abweichen. Die grundlegendste Ausprägung dieser wahrnehmungsbasierten Medieneffekte ist der Influence of Presumed Media Influence (IPMI, vgl. Tal-Or et al., 2009, S. 100): Damit wird das Phänomen beschrieben, dass Menschen den Medien eine Wirkung auf andere Menschen zuschreiben (sog. Wahrnehmungskomponente) und ausgehend davon handeln (sog. Verhaltenskomponente). Der Third Person Effekt (TPE) stellt eine spezifische Ausprägung des IPMI dar: Hier geht es nicht allein um
5.3 Kognitive Reaktionen …
315
die Wahrnehmung eines potenziellen Medieneinflusses, sondern vielmehr um eine wahrgenommene Differenz, wonach Medien mehr Einfluss auf andere als einen selbst ausüben (Davison, 1983, S. 3; Tal-Or et al., 2009, S. 100). Eine Metaanalyse über 32 Studien liefert robuste Evidenz für die Wahrnehmungskomponente des TPE, d. h. für die Existenz dieser Differenz in der Wahrnehmung potenzieller Medienwirkungen (Effektgröße r = .50; Bryant et al., 2007, S. 92). Wenngleich die empirische Evidenz zur Verhaltenskomponente weitaus weniger umfangreich ist (Bryant et al., 2007, S. 82; Perloff, 1999, S. 368; Xu & Gonzenbach, 2008, S. 382),95 so gibt es doch zahlreiche Hinweise, dass diese Wahrnehmung potenzieller Medieneinflüsse bzw. eine wahrgenommene Differenz in der Wirkung auf sich selbst und andere Folgen für das Verhalten hat (vgl. Rojas, 2010; Tal-Or, Cohen, Tsfati & Gunther, 2010; Tsfati & Cohen, 2005). Dies impliziert, dass solche Wirkungsvermutungen auch bei den hier im Fokus stehenden Entscheidungseliten einen Einfluss auf deren Entscheidungshandeln haben könnten. Der Hostile Media Effekt erweitert diese Perspektive zusätzlich um die Frage, wie die Medieninhalte wahrgenommen werden: Wenn Medien über gesellschaftlich kontroverse Themen berichten, dann haben die jeweiligen Lager in dem gesellschaftlichen Konflikt den Eindruck, dass die mediale Darstellung zu ihren Ungunsten ausfällt (Christen et al., 2002; Vallone et al., 1985). Einer Metanalyse von Hansen und Kim (2011) über 34 Studien zum HME zufolge kann von einer soliden Evidenz für diese Hostile Media Wahrnehmungen ausgegangen werden (Effektgröße: r = .296, vgl. Hansen & Kim, 2011, S. 173). Ausgehend von diesen Wahrnehmungen einer verzerrten medialen Darstellung befürchten die Menschen, dass diese von ihnen als ungünstig wahrgenommene Darstellung Effekte auf andere Unbeteiligte haben könnte (Wirkungsvermutungen im Sinne des IPMI; vgl. z. B. Rojas, 2010, S. 347–348). Schließlich können daraus Folgen für das Handeln der Akteure resultieren (Hansen & Kim, 2011, S. 171). Diese Zusammenhänge zwischen dem HME und daraus resultierende Wirkungsvermutungen und Folgen für das Handeln wurden sehr eindrucksvoll von Tsfati und Cohen (2005) im Zusammenhang mit dem israelischen Siedlungsbau im Gazastreifen aufgezeigt (siehe in einem anderen thematischen Zusammenhang auch die Studie von Rojas, 2010): Je mehr die befragten Siedler den Eindruck hatten, dass die Medien den Siedlungsbau in ein negatives Licht rückten, desto mehr vermuteten sie auch einen negativen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu diesem Thema in Israel und desto weniger waren sie bereit, die Siedlung aufzugeben und desto eher waren sie willens, sich gewaltsam 95 Eine Metanalyse zum Zusammenhang zwischen der Wahrnehmungsdifferenz im Sinne des TPE und Verhaltenskonsequenzen kommt auf eine sehr schwache Effektgröße von r = .13 (Xu & Gonzenbach, 2008, S. 380). 315
316
5 Die Verarbeitungsperspektive
gegen eine mögliche Evakuierung der Siedlungsgebiete zu wehren. Gerade mit Blick auf die hier betrachteten Funktionseliten, deren Aushandlungsprozesse ihren Ursprung in einem gesellschaftlichen Konflikt nehmen, scheinen solche Hostile Media Effekte nicht unwahrscheinlich. Entsprechend wurden solche wahrnehmungsbasierten Medieneffekte nicht nur für das Gros der Durchschnittsrezipienten, sondern gerade auch im Hinblick auf gesellschaftliche Entscheidungsträger untersucht (vgl. z. B. Amann et al., 2012; Bernhard et al., 2016; Jonathan Cohen et al., 2008; Dohle & Bernhard, 2014; Matthes, Maurer & Arendt, 2019; Post, 2017). Für verschiedene Entscheidungsträger aus dem Themenfeld Energiepolitik ließ sich beispielsweise zeigen, dass diese der Medienberichterstattung sowohl auf sich selbst als auch mit Blick auf die Bevölkerung eine Wirkung zuschrieben – d. h. sie negierten nicht, dass die Medien mit ihrer Berichterstattung zum eigenen Themenbereich (Energiepolitik) Einfluss auf sie selbst ausüben können (Fawzi, 2014, S. 237). Dennoch fiel die Wirkungsvermutung auf die Bevölkerung ganz im Sinne des Third Person Effektes deutlich höher aus (Fawzi, 2014, S. 239). Ähnliches fördern Kepplinger und Marx (2008, S. 200) auch für Landtagsabgeordnete zu Tage: Hier vermuteten die landespolitischen Entscheider insbesondere starke Effekte von kritischer Berichterstattung über die eigene Partei auf Wähler sowie die Fraktionen der politischen Gegner. Kaum beeinflusst würden dagegen die eigene Parteiführung sowie die eigenen Fraktionskollegen. Dieser Befund korrespondiert damit klar mit den Annahmen zur Rolle von sozialer Distanz im Zusammenhang mit Wirkungsvermutungen (sog. „social distance corollary“, Perloff, 1999, S. 364; ähnlich auch die Befundlage zu vermuteten Wirkungen von Berichterstattung über Gerichtsverfahren auf Laien vs. professionelle Akteure im Gerichtssaal aus der Studie zu reziproken Effekten auf Richter und Staatsanwälte von Kepplinger & Zerback, 2012, S. 483 sowie die Ergebnisse von Amann et al., 2012 für die Wirkungsvermutungen von Lokalpolitikern mit Blick auf die lokale Bevölkerung vs. andere Politiker vs. einen selbst). Auch mit Blick auf das Auftreten von Hostile Media Effekten lässt sich empirische Evidenz für den speziellen Personenkreis der gesellschaftlichen Entscheidungsträger ausmachen: Fawzi (2014, S. 198–199) zeigt etwa einen relativen Hostile Media Effekt für Entscheidungsakteure aus der Energiepolitik. Die Befragten aus der Energiepolitik waren überwiegend der Ansicht, dass die Berichterstattung im Zusammenhang mit Energiepolitik eine ablehnende Haltung gegenüber der Kernenergie einnehme. Dieser Eindruck war aber weitaus deutlicher unter denjenigen verbreitet, die sich selbst als Befürworter der Kernenergie positionierten. Insbesondere die Auseinandersetzung mit potenziell intervenierenden Faktoren im Zusammenhang mit diesen wahrnehmungsbasierten Medienwirkungen legt nahe, dass die Entscheidungsträger in besonderem Maße von solchen wahrneh-
5.3 Kognitive Reaktionen …
317
mungsbasierten Effekten betroffen sein könnten: Merkmale wie hohes Involvement (Hansen & Kim, 2011) Expertise bzw. Wissen zu einem Themenbereich (vgl. z. B. Salwen & Dupagne, 2001) und große soziale Distanz zu denjenigen, für die Effekte vermutet werden (vgl. z. B. Jeremy Cohen, Mutz, Price & Gunther, 1988), haben sich als Treiber von wahrnehmungsbasierten Effekten wie dem TPE oder dem HME erwiesen (vgl. generell die Diskussionen hierzu bei Kepplinger, 2007, S. 12, 2010d, S. 141–142; Perloff, 1999; Tal-Or et al., 2009, S. 101). So zeigen beispielweise Salwen und Dupagne (2001), dass die Differenz in der wahrgenommenen Wirkung auf sich selbst vs. andere vor allem bei solchen Menschen besonders groß ausfällt, die ihr eigenes Wissen bzw. Expertise zu dem jeweiligen Themenbereich, in dessen Kontext die Wirkung von Berichterstattung betrachtet wird, als sehr hoch einschätzen. Für die Entscheidungsträger in der vorliegenden Betrachtung kann ebenfalls vermutet werden, dass diese sich selbst im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mehr Wissen, zumindest zu dem Themenfeld zuschreiben, in dem sie aktiv sind und für das potenzielle Medienwirkungen relevant wären. Das ist allein schon deshalb plausibel, weil sich sonst kaum schlüssig begründen ließe, wieso ausgerechnet sie eine solch verantwortungsvolle Aufgabe wie Entscheidungen mit großer Reichweite und Relevanz in dem Bereich übernehmen sollten. Die Befunde aus der Metaanalyse von Hansen und Kim (2011) verdeutlichen, dass Hostile Media Wahrnehmungen besonders stark bei hohem Involvement ausfallen. Diese hohe persönliche Betroffenheit wird ja gerade auch für die hier im Fokus stehenden Entscheidungsträger als Protagonisten der medial vermittelten und öffentlichen Kommunikation angenommen (vgl. Kapitel 5.1), sodass auch bei ihnen mitunter sehr starke HME auftreten sollten. Obwohl es, wie zuvor dargelegt, mehr als wahrscheinlich erscheint, dass solche wahrnehmungsbasierten Effekte gerade bei gesellschaftlichen Funktionseliten als Folge ihrer Rezeption von medial verbreiteten Inhalten auftreten, geht die bisherige Diskussion zu wahrnehmungsbezogenen Medieneinflüssen auf gesellschaftliche Entscheidungsträger oft nicht über den reinen Verweis auf die potenzielle Relevanz solcher Effekte hinaus (vgl. z. B. Donges & Jarren, 2014, S. 189; Marcinkowski, 2014, S. 18; Nölleke & Scheu, 2018, S. 199). Entsprechend wurde die Chance zu einer differenzierteren Konzeption solcher Effekte bislang nicht ausgeschöpft. Dabei besteht bei diesen wahrnehmungsbasierten Wirkungsvermutungen noch Differenzierungspotential: Insbesondere wenn man die Gestalt dieser Wirkungsvermutungen facettenreicher als die rudimentären Grundmechanismen begreift, dann lässt sich das Portfolio an wahrnehmungsbezogenen Wirkungen noch deutlich breiter fassen (ähnliches schlagen auch Rojas, 2010, S. 358–359 und Jensen & Hurley, 2005 als Schlussfolgerung aus ihren Studien zum TPE und HME vor). Neben generalisierten Vermutungen zum „Einfluss der Medien“ und einer sehr 317
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5 Die Verarbeitungsperspektive
vereinfachten Wirkungsvorstellung im Sinne der Stimulus-Response-Tradition – ein Medienstimulus hat Einfluss auf Einstellungen und Verhalten des Publikums – könnten sich die medienbezogenen Wirkungsvorstellungen beispielweise auch auf folgende Aspekte beziehen: Was löst sie konkret aus? Welche spezifischen Wirkungen? (vgl. hierzu z. B. Jensen & Hurley, 2005, die zwischen verschiedenen potenziellen Wirkungen in den Wirkungsvermutungen differenzieren) Wie stark sind die potenziellen Wirkungen? Wovon hängen sie ab? Beispielweise argumentiert Marcinkowski (2014, S. 13) mit Blick auf das Medialisierungskonzept, dass es gar nicht darauf ankomme, ob die Medien tatsächlich die wichtigste Informationsquelle der Bürger seien. Zentral sei lediglich der Eindruck der Entscheidungsträger. Ihre Vorstellungen und Wahrnehmungen davon, wo die Bürger sich wie umfangreich informieren seien hier der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Dies legen auch die Befunde von Eveland, Nathanson, Detenber und McLeod (1999) nahe, wonach das wahrgenommene Ausmaß an Mediennutzung in einer Gruppe mit dem Ausmaß des TPE, der mit Blick auf diese Gruppe entstand, korrespondierte. Ähnlich einsichtsreich könnten auch die Befunde sein, wonach die wahrgenommene Relevanz einer Nachricht für eine spezifische Gruppe den wahrgenommenen Einfluss auf dieselbe bedingt (Jensen & Hurley, 2005). Gerade das spannungsreiche und dynamische Zusammenspiel zwischen Entscheidungsakteur und denjenigen, deren Interessen er repräsentiert, könnte demnach durch solche Wirkungsvermutungen zentral beeinflusst werden. Dafür sprechen auch die Erkenntnisse, die Tal-Or und Drukman (2010) erzielt haben: Immer dann, wenn jemand sich in einer Situation befand, die zu Impression Management motivierte (d. h. eine öffentliche Situation, in der man gut dastehen möchte), dann fiel der TPE höher aus als wenn diese Anreizstruktur nicht gegeben war (privates Setting, wo es keine Möglichkeit gab, sich vorteilhaft gegenüber anderen zu präsentieren). Diese Zusammenhänge könnten noch stärker ausgeprägt sein, wenn es nicht nur um Impression Management bei Unbeteiligten, sondern, wie im Fall der eigenen Anhänger bei den hier betrachteten Funktionseliten, um solche Stakeholder geht, die einen Einfluss auf den eigenen Erfolg haben könnten. Die Stakeholder liefern auch den Ansatzpunkt, um weitere Differenzierungskriterien bei den sog. Dritten zu berücksichtigen, für die die Wirkungen vermutet werden (Ähnliches konkludieren auch Jensen & Hurley, 2005): Über den Gedanken der sozialen Distanz hinaus (vgl. hierzu insbesondere die Befunde von Eveland et al., 1999) kann man versuchen, stärker die Beziehung zwischen demjenigen, der die Wirkungsvermutungen anstellt, und denjenigen, für die Wirkungen vermutet werden, abzubilden. Beispielweise kann man im Rahmen des vorliegenden Konzeptes zwischen den verschiedenen Stakeholdertypen der Entscheidungsakteure (vgl. Kapitel 3.1.1) unterscheiden.
5.3 Kognitive Reaktionen …
319
Neben diesen wahrnehmungsbasierten Wirkungsvermutungen und dem Potenzial, sie wesentlich differenzierter als bislang geschehen zu modellieren, sind noch weitere kognitive Responses denkbar, die als Resultat der Auseinandersetzung der Entscheider mit den medial verbreiteten öffentlichen Kommunikationsinhalten in der Medienöffentlichkeit entstehen können: Hier verweist Kepplinger (2007, S. 12, 2010d, S. 141–142) darauf, dass sich die Art und Weise, wie öffentliche Meinung eingeschätzt wird oder wie das Verhalten anderer im eigenen Umfeld interpretiert wird, abhängig von der Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation der Berichterstattung jeweils unterschiedlich gestalten könnte. Wenn beispielweise ein kritischer Tenor in der Berichterstattung vorherrscht, dann könnten Entscheidungsträger zurückhaltendes Verhalten der Anhänger als Folge aus dieser Berichterstattung interpretieren, obwohl es u. U. gar nichts damit zu tun hatte. Aber nicht nur solche Fehlinterpretationen sind denkbar. Zugleich kann Berichterstattung auch tatsächliche Dynamiken in den jeweils betroffenen Gruppen und Organisationen auslösen (darauf verweist Kepplinger, 2008, S. 328) – z. B. verschlechtert sich die Stimmung in einer Partei, wenn die Medien übermäßig kritisch über deren zentrales Eckpunktepapier berichten. Solche gruppendynamischen Prozesse können wiederum mit den Einflussvermutungen der Entscheider interagieren und diese verstärken oder abschwächen bzw. in eine spezifische Richtung drehen (Kepplinger, 2008, S. 329, 2010b, S. 157). Das heißt, dass in der Forschung an dieser Stelle der Bedarf besteht, sich ein differenzierteres Verständnis solcher medien- und stakeholderbezogenen Wahrnehmungen und kognitiver Responses anzueignen und dabei insbesondere den dynamischen Wechselbeziehungen zwischen diesen Wahrnehmungskomponenten Rechnung zu tragen. Wie muss man sich ausgehend von diesen Wirkungsvermutungen und anderweitigen kognitiven Responses nun die Folgen für das Handeln der Entscheidungsträger vorstellen? Diese Wahrnehmungen (Wahrnehmungskomponente) sollen, so die Annahme der wahrnehmungsbasierten Medienwirkungsansätze, Konsequenzen für das Verhalten haben (sog. Verhaltenskomponente). Die kausale Richtung dieses postulierten Zusammenhangs wird beispielweise durch die Befunde von Tal-Or et al. (2010) gestützt. Die Konzeption von Verhalten wird in der Forschung jedoch recht breit gehandhabt, sodass mitunter auch Verhaltensabsichten und manchmal auch nur Einstellungen zu interessierten Handlungen unter diese Verhaltenskomponente subsumiert werden (Tal-Or et al., 2009, S. 104). Folgt man diesem eher breiten Verständnis von Verhalten, dann wurde dieser Zusammenhang zwischen Wahrnehmungen und Verhaltensfolgen auch für Entscheidungsträger bereits untersucht: Wenn sie von einem starken Einfluss auf die Öffentlichkeit ausgingen, waren sie deutlich motivierter, Medienarbeit zu betreiben und steckten auch tatsächlich deutlich mehr Aufwand in ihre Medienarbeit (für israelische Politiker 319
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5 Die Verarbeitungsperspektive
des Knesset: Jonathan Cohen et al., 2008; für Lokalpolitiker aus Köln für nationale Qualitätszeitungen: Amann et al., 2012; gegenläufige Befunde im Zusammenhang mit wahrgenommenen Einfluss von Social Media und Aktivitäten auf Social Media: Bernhard et al., 2016). Wenn Politiker jedoch den Eindruck hatten, dass die Medien ihnen gegenüber eher antagonistisch eingestellt waren, dann sank die Wahrscheinlichkeit, dass sie Kontakt zu Journalisten suchten. Dagegen waren sie eher bereit, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie sich auf Konflikte und Dramen kaprizierten (Matthes et al., 2019). In einer Untersuchung zur Auseinandersetzung zwischen Fluglärmkritikern und Flughafenverfechtern im Umfeld des Frankfurter Flughafens zeigte sich, dass Hostile Media Wahrnehmungen und wahrgenommene Medieneinflüsse im Sinne des Influence of Presumed Media Influence einen Einfluss auf die Kommunikationsabsichten der Antagonisten hatten und sie überdies eher bereit waren, einen inzivilen Ton in der öffentlichen Auseinandersetzung zu akzeptieren (Post, 2017). Die meisten Studien zur Verhaltenskomponente im Kontext dieser wahrnehmungsbasierten Medieneffekte befassen sich jedoch ausschließlich mit den öffentlichen Kommunikationsaktivitäten der Protagonisten (für eine Ausnahme siehe Dohle & Bernhard, 2014, die den Zusammenhang zwischen Einflussvermutungen und Bereitschaft zur Zensur unter Politikern untersucht haben, aber zu z. T. widersprüchlichen Befunden gelangten). Die Kernentscheidungsfindung (d. h. die Aktivitäten außerhalb der Öffentlichkeit in der eigentlichen Verhandlungsarena) sind bislang nur selten vor dem Hintergrund des IPMI oder HME oder anderer medienbezogener Wirkungsvermutungen untersucht worden.
5.4
Emotionale Reaktionen auf medial vermittelte öffentliche Kommunikation
5.4
Emotionale Reaktionen …
Darüber hinaus sollten die emotionalen Reaktionen in diesem Zusammenhang zwischen der Wahrnehmungs- und Verhaltenskomponente (stärker) berücksichtigt werden (ähnlich: Nabi, 2009, S. 205, 216): Matthes und Beyer (2017) belegen beispielweise, dass der Hostile Media Effekt nicht nur durch kognitives, sondern auch durch affektives Involvement getrieben wird. Und wenn es um den Zusammenhang mit dem tatsächlichen Handeln geht, so liefern Kepplinger und Zerback (2009, 2012) empirische Evidenz für Richter, über deren Verfahren in den Medien kritisch berichtet wurde: Die negativen Emotionen, die durch solche kritischen Nachrichten geweckt werden, können nach Einschätzung der befragten Richter und Staatsanwälte Auswirkungen auf das Urteil haben (insbesondere die Höhe der Strafe und ob es erleichternde Haftbedingungen geben sollte). In der Summe
5.4 Emotionale Reaktionen …
321
liegt es also nahe, neben weitergehenden kognitiven Reaktionen im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit auch emotionale Reaktionen als weitere Verarbeitungsstufe zu berücksichtigen. Die emotionalen Reaktionen bilden im vorliegenden Modell die letzte Verarbeitungsstufe in der Auseinandersetzung der Funktionseliten mit der Medienöffentlichkeit. „Emotionen sind objektgerichtete, unwillkürlich ausgelöste affektive Reaktionen, die mit zeitlich befristeten Veränderungen des Erlebens und Verhaltens einhergehen“ (Rothermund & Eder, 2011, S. 166). Als solche lassen sich Emotionen von Stimmungen abgrenzen: Letztere haben nämlich kein Bezugsobjekt und stellen daher diffuse positive oder negative affektive Zustände dar. Sie dauern außerdem länger an als konkrete Emotionen. Stimmungen und Emotionen ist jedoch der affektive, d. h. gefühlsbezogene Charakter, und die unwillkürliche Auslösung gemein, d. h. es handelt sich um automatisch ausgelöste Reaktionen auf bestimmte Situationen (Rothermund & Eder, 2011, S. 166). Wenngleich in der Forschung Uneinigkeit über das konkrete Wesen von Emotionen herrscht (Rothermund & Eder, 2011, S. 167; Schmidt-Atzert, Peper & Stemmler, 2014, S. 20), so besteht in weiten Teilen der Emotionspsychologie zumindest Übereinstimmung in den wesentlichen Komponenten, durch die sich Emotionen auszeichnen (Nabi, 2009, S. 206; Wirth & Schramm, 2005, S. 4). Demnach handelt es sich bei Emotionen um multidimensionale Konstrukte, die eine a) kognitive, b) affektive/erlebensbezogene, c) physiologische, d) ausdrucksbezogene und schließlich e) motivationale bzw. konative Komponente haben (Kleinginna & Kleinginna, 1981, S. 355; Rothermund & Eder, 2011, S. 167). Konkret ist damit gemeint, dass Emotionen auf kognitiver Ebene die Wahrnehmung und Bewertung einer Situation mit Blick auf die eigenen Ziele und Vorhaben umfassen (Kleinginna & Kleinginna, 1981, S. 350; Rothermund & Eder, 2011, S. 170) und, mit einem verbalisierbaren, subjektiven Gefühlserleben (Kleinginna & Kleinginna, 1981, S. 349; Rothermund & Eder, 2011, S. 168; Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 25) sowie Veränderungen in den Aktivitäten des autonomen Nervensystems einhergehen (i. e., physiologische Reaktion, Rothermund & Eder, 2011, S. 170; Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 25). Sie drücken sich außerdem im Verhalten, d. h. in der Mimik, Gestik, Stimme etc. der Betroffenen aus (Kleinginna & Kleinginna, 1981, S. 351; Rothermund & Eder, 2011, S. 172; Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 25) und beinhalten eine motivationale Komponente, d. h. sie sind mit einer Handlungsbereitschaft verknüpft (Kleinginna & Kleinginna, 1981, S. 351; Rothermund & Eder, 2011, S. 174), wodurch die Brücke zu den Handlungen gebaut wird (vgl. Verhaltenskomponente bei den wahrnehmungsbezogenen Medienwirkungen; siehe oben Kapitel 5.3). Für die vorliegende Betrachtung ist insbesondere der Aspekt der Handlungssteuerung durch Emotionen von besonderem Interesse: Hier konnte gezeigt werden, dass die Art der ausgelösten Emotionen zentral für die Schlussfol321
322
5 Die Verarbeitungsperspektive
gerungen ist, die ein Akteur mit Blick auf seine Handlungen zieht (Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 235). So resultierte Angst bspw. eher darin, dass Akteure protektiv ausgerichtete Handlungen als angemessen erachteten, wohingegen Ärger eher Bestrafung als leitendes Motiv in der Handlungssteuerung nahelegte (Nabi, 2003). Ähnliches zeigt sich bei der Risikobewertung: Negative Emotionen führten dazu, dass negative Folgen einer Handlung und Entscheidung als wahrscheinlicher angesehen wurden als bei positiven Emotionen (Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 239). Unklar ist hier, ob diese Handlungssteuerung nur bei Laien derart markant ausfällt, oder ob auch bei Funktionseliten, die im professionellen Kontext handeln, ähnliche Effekte wie beispielweise bei Angst oder hinsichtlich der Risikobewertung zu Tage treten. Darüber hinaus können Emotionen auch antizipatorisch wirken: D. h. die emotionale Reaktion auf ein in der Zukunft erwartetes Ereignis kann vorweggenommen werden, indem man versucht, bereits proaktiv auf potenzielle emotionale Responses zu reagieren und diese in seine Planungen einzubeziehen (Rothermund & Eder, 2011, S. 178). Zusammenfassend kann ausgehend von den zuvor dargestellten Eigenschaften von Emotionen im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Medienöffentlichkeit folgendes vermutet werden: Die durch die Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit erzeugten emotionalen Reaktionen beeinflussen im Sinne von Heuristiken die strategisch-taktischen Abwägungen der Entscheidungsakteure (vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 4.4; ähnlich argumentiert Nabi, 2009, S. 210 im Zusammenhang mit medieninduzierten Emotionen und der Informationsverarbeitung sowie Entscheidungsfindung von Rezipienten im Allgemeinen – nicht spezifisch auf Entscheidungsträger bezogen). Um die Entstehung von Emotionen im Zusammenhang mit einem medienbezogenen Stimulus zu erklären, hat sich unter anderem die Cognitive Appraisal Theorie etabliert (Nabi, 2009, S. 206; Wirth & Schramm, 2005, S. 3): Ausgangspunkt darin ist eine Situation, die wahrgenommen und bewertet wird (Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 135). Zentral ist nicht die objektive Situation, sondern deren subjektive Bewertung vor dem Hintergrund der persönlichen Ziele, Werte und Wünsche (sog. Appraisals) (Rothermund & Eder, 2011, S. 186; Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 135; Siemer & Reisenzein, 2007; Siemer, Gross & Mauss, 2007). Es wird dabei zwischen verschiedenen Typen von Appraisals differenziert (meist primäre und sekundäre Appraisals, vgl. Rothermund & Eder, 2011, S. 187; Wirth & Schramm, 2005, S. 5, siehe alternative Differenzierung: Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 20): Im Zentrum stehen die Relevanz und Vereinbarkeit einer Situation bzw. eines Ereignisses mit den eigenen Zielen und Werten (Zielrelevanz und Zielkongruenz, meist zusammengefasst als primary Appraisals, Rothermund & Eder, 2011, S. 187). Darüber hinaus umfasst die Bewertung Fragen der Verantwortungsattribution (Eigen- vs.
5.4 Emotionale Reaktionen …
323
Fremdverschulden) sowie der Kontrollierbarkeit des Ereignisses (Potential für Coping, meist zusammengefasst als secondary Appraisals, Rothermund & Eder, 2011, S. 187). Emotionen sind demnach „psychophysiologische Reaktionen auf die Bedeutung einer Situation“ (Rothermund & Eder, 2011, S. 189). Eine solche Situation, in der diese emotionalen Reaktionen als Folge von Appraisalprozessen entstehen, kann sodann auch in der Auseinandersetzung mit den medial vermittelten öffentlichen Kommunikationsinhalten entstehen. Die Bedeutung der Bewertungen vor dem Hintergrund der eigenen Ziele (die sog. Appraisals) schlägt sich entsprechend auch als ein Kernmerkmal in der hier vorgenommenen Konzeption von Medienöffentlichkeit wieder: Denn das individuelle Relevanzempfinden vor dem Hintergrund der eigenen Ziele und Vorhaben ist das zentrale spezifizierende Kriterium bei der wahrnehmungsbezogenen Konzeption von Medienöffentlichkeit (siehe oben, Kapitel 5). Emotionen stehen über die motivationale Komponente aber nicht nur in engem Zusammenhang mit den Handlungen von Akteuren. Auch die anderen Stufen der Verarbeitung scheinen auf vielfältige Weise durch die emotionalen Responses beeinflusst zu werden: Emotionen gelten nämlich als Relevanz-Detektoren, d. h. sie lenken die Aufmerksamkeit (Kleinginna & Kleinginna, 1981, S. 351; Rothermund & Eder, 2011, S. 177). Darüber hinaus werden emotionserregende Ereignisse besser gespeichert und leichter erinnert (A. Lang, 2000, S. 54; Rothermund & Eder, 2011, S. 177; vgl. für eine Übersicht zu Effekten medieninduzierter Emotionen auf Speicherung und Erinnerung: A. Lang, 2000, S. 61–62). Die bislang differenzierteste Auseinandersetzung mit emotionalen Reaktionen von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern in der Auseinandersetzung mit Medien und Öffentlichkeit liefern die Forschungsarbeiten von Kepplinger (Kepplinger & Zerback, 2009; Kepplinger, 2010b, 2010c, 2010d; Kepplinger & Zerback, 2012): Mit Blick auf die auslösenden Merkmale zeigte sich in der Studie zu reziproken Effekten bei Richtern und Staatsanwälten, dass insbesondere die Intensität der Nutzung und auf der inhaltlichen Ebene die wahrgenommene Intensität der Kritik sowie die wahrgenommene Richtigkeit der medialen Darstellung mit den emotionalen Reaktionen korrespondierten (Kepplinger & Zerback, 2009, 2012, S. 486). Im Zusammenhang mit der negativen medialen Darstellung (der negative Tenor der medialen Darstellung wurde als Szenario in der Studie vorgegeben bzw. diente als Rahmen der Abfrage von Emotionen, vgl. Kepplinger & Zerback, 2012, S. 482) wurden dann insbesondere die passiven Emotionen Ärger und Hilfslosigkeit ausgelöst. Es resultierte aber auch die aktivierende Emotionen Empörung – wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß (Kepplinger, 2010c, S. 210; Kepplinger & Zerback, 2012, S. 482). Darüber hinaus illustriert eine Studie, in der die emotionalen Reaktionen von Personen mit Medienerfahrung solchen ohne Medienerfahrung (jeweils als 323
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5 Die Verarbeitungsperspektive
Protagonisten in der Berichterstattung) gegenüber gestellt wurden, die kognitiven Appraisalprozesse, die im Zuge der Emotionsentstehung von statten gehen: Die Entstehung von Emotionen bei den Protagonisten werde demnach begünstigt, weil die Mediendarstellung die Personen öffentlich exponiert und damit die Angst vor einem potenziellen Imageschaden vor einem großen unbekannten Publikum entstehen lässt. Denn die Protagonisten haben bei einer vermeintlich ungünstigen Darstellung kaum eine Möglichkeit, diese Darstellung bei allen Zuschauern zu korrigieren (Kepplinger, 2010b, S. 156). Diese Angst, falsch dargestellt und verstanden zu werden, wird überdies dadurch potenziert, dass die Protagonisten meist viel besser als die Journalisten und die Öffentlichkeit über den Sachverhalt Bescheid wissen, d. h. jede öffentliche Darstellung des Themas muss fast zwangsläufig verkürzt wirken, wie es Befunde im Zusammenhang einer Befragung von Landtagsabgeordneten nahelegten (Kepplinger & Marx, 2008, S. 195, 197). Aufschlussreich sind schließlich noch die Erkenntnisse zu den Unterschieden in der Verarbeitung der emotionalen Reaktionen zwischen Medienunerfahrenen und Medienerfahrenen (unter letztere Gruppe würde man dann auch die Entscheidungsträger zählen): Beide empfanden zwar sehr ähnliche Emotionen in Reaktion auf negative Berichterstattung über ihre Person – nämlich Ärger, Hilfslosigkeit und Verlassenheit (Kepplinger, 2010b, S. 163). Aber die Erfahrenen erwiesen sich besser darin, die emotionalen Reaktionen zu kontrollieren (Kepplinger, 2010b, S. 163) und sie zeigten sich nicht ganz so empfänglich wie die Unerfahrenen für vermeintliche Reaktionen Dritter auf die Medienberichterstattung (Kepplinger, 2010b, S. 168). Allerdings muss bei diesen Befunden einschränkend berücksichtigt werden, dass hier nicht explizit Entscheider, sondern solche Personen untersucht wurden, die laut Selbstangabe oft in den Medien dargestellt werden (also zum Beispiel auch Prominente ohne gesellschaftliche Führungsaufgabe).
5.5
Zwischenresümee: Verarbeitung von medial vermittelten und öffentlichen Inhalten und Folgen daraus für das Entscheidungshandeln der Funktionseliten
5.5 Zwischenresümee
Ziel des vorangegangenen Kapitels war es, die unabhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell zu konzipieren, um Einflüsse der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten beschreiben und erklären zu können. Leitend waren dabei folgende konzeptionsorientierte Fragestellungen:
5.5 Zwischenresümee
325
▶ 2) Wie lassen sich die Mechanismen konzipieren, die medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit den Weg in den Entscheidungsprozess von Funktionseliten bahnen? Welche Rolle spielt die Verarbeitung von und Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit und Kommunikation (d. h. das medienund öffentlichkeitsbezogene Bewusstsein, die entsprechenden Wahrnehmungen und Überlegungen) im Zusammenhang mit dem Kernentscheidungshandeln der Eliten einerseits und ihrem Kommunikationshandeln andererseits? Die Modellierung über die Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Funktionseliten mit der Medienöffentlichkeit auf Basis von kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozessen erwies sich als analytisch fruchtbarer Weg. Abschießend bleibt aus der Betrachtung der verschiedenen Verarbeitungsstufen von öffentlichen und medial vermittelten Inhalten folgendes festzuhalten: Kernstück für die Erklärung von medieninduzierten Einflüssen auf das Entscheidungshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten ist die konzeptionelle Verknüpfung zwischen Wahrnehmungskomponente und Verhaltenskomponente, wie sie im Zusammenhang der wahrnehmungsbasierten Medieneffekte postuliert wurde (vgl. z. B. Tal-Or et al., 2009; Tal-Or et al., 2010; Xu & Gonzenbach, 2008). Wie muss man sich diesen Zusammenhang nun konkret übertragen auf das Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten vorstellen? Die Verhandlungsakteure bilden ihre Wahrnehmungen ausgehend von der Nutzung sowie kognitiven und emotionalen Verarbeitung von medienvermittelter öffentlicher Kommunikation, die sie im weitesten Sinne im Kontext ihrer Tätigkeit aufnehmen (dabei müssen sie nicht persönlich Gegenstand der Berichterstattung und/oder öffentlichen Kommunikation sein, es reicht, dass sie sich durch die Inhalte angesprochen und betroffen fühlen, vgl. Kepplinger, 2010d, S. 135; Neumann, 2015, S. 195). Die Verbindung zu den strategisch-taktischen Überlegungen der Verhandlungsakteure stellt genau das dar, was mit Verhaltenskomponente (bei den wahrnehmungsbasierten Medienwirkungen, vgl. Kapitel 5.3) bzw. der motivationalen Komponente bei den emotionalen Reaktionen (vgl. Kapitel 5.4) konzipiert wird. In diese strategisch-taktischen Überlegungen fließt nun das Ergebnis aus dem stufenweisen Verarbeitungsprozess von medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation ein, wie es in diesem Kapitel konzipiert wurde. Diese strategisch-taktischen Überlegungen bilden dann wiederum die Grundlage für das Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena (vgl. Kapitel 4.1) und das kommunikative Handeln in der öffentlichen Medienarena (vgl. Kapitel 4.2). Ein vergleichbares Argument liefert Post (2019), die polarisierende Kommunikation von Antagonisten in gesellschaftlichen Konflikten als Resultat von wahrnehmungsbasierten Medieneffekten modelliert. Sie geht dabei davon aus, dass das 325
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5 Die Verarbeitungsperspektive
Ausmaß an Feindseligkeit, das die Antagonisten in der Medienberichterstattung über ihre Konflikte wahrnehmen (klassischer HME), relevant dafür ist, inwiefern die Beteiligten auf polarisierende Kommunikationsmaßnahmen zurückgreifen (Folgen für das Handeln). Diese Effekte werden dabei, so nimmt es die Autorin an, durch verschiedene kognitive, affektive und verhaltensbezogene Reaktionen auf die wahrgenommene Feindseligkeit moderiert – zu nennen sind hier beispielweise die Einflüsse auf andere, die die Antagonisten aus der Berichterstattung vermuten (IMPI) sowie die Wut (emotionale Reaktion), die sie in Anbetracht der vermeintlichen Polarisierung in der Berichterstattung empfinden (vgl. für eine Modellübersicht Post, 2019, S. 226). Aber auch in dieser sehr elaborierten Konzeption – schließlich berücksichtigt Post als eine der wenigen auch die affektive Dimension (Post, 2019, S. 224–225) – wird nur die öffentliche Kommunikation, nicht aber das Kernentscheidungshandeln gegenüber dem Gegner betrachtet. Daher fällt es insgesamt schwer, Implikationen abzuleiten, welche konkreten Einflüsse sich aus der Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation von medienvermittelter öffentlicher Kommunikation sowie der emotionalen Reaktionen für die strategisch-taktischen Überlegungen und die Gesamtheit des strategischen Handelns der Entscheidungsakteure ergeben. Nichtsdestotrotz erlauben viele vereinzelte Befunde, nachfolgend einige Annahmen zu formulieren: Zunächst stellt sich die Frage, welche Aspekte auf den verschiedenen Stufen der Verarbeitung von Medienöffentlichkeit potenzielle Folgen für das Entscheiden haben könnten. Hier ist zuvorderst das Ausmaß an Aufmerksamkeit entscheidend, das die Entscheidungsakteure für ihre Belange und Tätigkeiten in der Öffentlichkeit und den Medien wahrnehmen (Ähnliches vermuten: Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 217; Melenhorst, 2015, S. 300; Schrott & Spranger, 2007, S. 14). Ob die Öffentlichkeit und die Medien dem Handeln der Entscheidungsträger ihre Aufmerksamkeit schenken, ist schon allein deshalb bedeutsam, da dies mehr Ausnahme denn Regel zu sein scheint. Zumindest suggerieren die Befunde zur Berichterstattung über öffentlichkeitsferne elitengetriebene Entscheidungsprozesse (z. B. Gesetzgebung, Melenhorst, 2015; Tarifverhandlungen, Köhler & Jost, 2017; oder Gerichtsverfahren, Strother, 2017), dass die Medien diesen nur selten, dann aber besonders intensiv und kontrovers ihre Aufmerksamkeit schenken (vgl. Kapitel 3.2.2.2). Insofern kann angenommen werden, dass umfangreiche mediale Aufmerksamkeit für die Entscheidungsträger eher eine Ausnahmesituation darstellt. Da solche Ausnahmesituationen zugleich mit viel Involvement einhergehen, sind mitunter auch starke Einflüsse zu erwarten. Das hohe Maß an Aufmerksamkeit begünstigt zunächst die Wahrscheinlichkeit von emotionalen Reaktionen. Denn hier hat sich gezeigt, dass die Angst vor einem öffentlichen Imageschaden und den fehlenden Möglichkeiten, diesen wieder zu korrigieren, zentral für die Entstehung
5.5 Zwischenresümee
327
von Emotionen sind (vgl. Kapitel 5.4 sowie Baugut & Grundler, 2009; Kepplinger, 2010b, S. 156). Auch interagiert hohe öffentliche Aufmerksamkeit aller Voraussicht nach mit den Überlegungen und Wirkungsvermutungen hinsichtlich der eigenen Anhänger: Mediale Aufmerksamkeit stellt nämlich ein Beobachtungsfenster dar, über das die Anhänger die Entscheider potenziell beobachten könnten. Die Verhandlungsforschung hat diesbezüglich gezeigt, dass Verhandlungsakteure, die sich von ihren Anhängern beobachtet fühlen, kompetitiver verhandeln (van Kleef et al., 2007, S. 132). Zugleich kann öffentliche Aufmerksamkeit seitens der Entscheider auch als Chance begriffen werden, nämlich dann, wenn die potenzielle öffentliche Resonanz als Mobilisierungsgrundlage verstanden wird: Dafür spricht etwa der Befund, dass die Entscheidungsträger es bei fehlender Aufmerksamkeit oft gar nicht erst versuchen, die Medien auf sich aufmerksam zu machen oder gar über sie zu mobilisieren, weil sie ihre Chancen insbesondere bei einem Mangel an Neuigkeitswert und Konflikt als aussichtlos empfinden (diesen Eindruck schildert Melenhorst, 2015, S. 309 aus ihren Ergebnissen; ähnlich argumentieren Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 308). Wenn jedoch Aufmerksamkeit gegeben ist, dann kann angenommen werden, dass sie das Inszenierungspotenzial nutzen, indem sie sich als harter Konfliktpartner gerieren, der dem Gegner keinen Meter nachgibt (Fritz, 2012, S. 9). Eine solche Konfliktinszenierung ist vor allem in einem stark kommerzialisierten Mediensystem wahrscheinlich, weil eine kommerziell ausgerichtete Medienlogik solches Verhalten goutiert (Fritz, 2012, S. 10). Neben der wahrgenommenen Aufmerksamkeit liegen außerdem noch Befunde für negativ empfundene Berichterstattung vor. Dieser Bereich hat bislang die elaboriertesten Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen der Verarbeitung von medial vermittelter öffentlicher Kommunikation und dem Entscheidungshandeln gesellschaftlicher Funktionseliten hervorgebracht. Dabei ließ sich insbesondere mit den Emotionen und Wirkungsvermutungen, die ausgehend von negativ empfundener Berichterstattung entstehen, ein facettenreiches Zusammenspiel aufzeigen. In der Studie zu reziproken Effekten bei Richtern und Staatsanwälten korrelierten die Emotionen und die Wirkungsvermutungen auf andere professionelle Akteure im Gerichtssaal, die aus negativer Berichterstattung über ihre Verfahren resultierten, signifikant mit der Frage, ob Folgen für das Urteil erwartet wurden (Kepplinger & Zerback, 2012, S. 486). Konkret korrespondierten eine intensive Nutzung der kritischen Berichterstattung über die eigenen Fälle mit negativen Emotionen und starken Wirkungen, die für andere professionelle Akteure vor Gericht erwartet wurden. Diese Emotionen und Wirkungsvermutungen standen dann wiederum in signifikanten Zusammenhang mit der Einschätzung, dass diese mediale Darstellung einen Einfluss auf das Strafmaß haben kann. Allerdings muss bei diesen Ergebnissen einschränkend berücksichtigt werden, dass es sich aufgrund 327
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5 Die Verarbeitungsperspektive
des nicht-experimentellen Querschnittsdesigns nicht um Kausalitäten handelt und die Stichprobe potenziellen Verzerrungen durch Selbstselektion der Teilnehmer unterliegt, d. h. dass vermutlich insbesondere solche Richter und Staatsanwälte daran teilgenommen haben, die früher bereits besondere Erfahrungen mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit ihren Fällen gemacht haben (Kepplinger & Zerback, 2012, S. 487). Eine weitere Studie deutet an, dass die Wahrnehmung und Verarbeitung von medial vermittelten Informationen Folgen für den Kernentscheidungsprozess haben kann: In ihrer Befragung von verschiedenen Akteuren aus der Energiepolitik bat Fawzi (2014, S. 244) um eine Einschätzung zu den Folgen von intensiver und kontroverser Berichterstattung über Verhandlungen als Kernelement des Entscheidungsprozesses in der Energiepolitik (Ergebnisse für alle Akteursgruppen außer Journalisten, n = 235–253). Ausgehend von diesem von der Forscherin vorgegebenen Szenario (kritische Berichterstattung) vermutete eine deutliche Mehrheit der Befragten Folgen für das Verhandlungsklima, die Kompromissfindung sowie die Dauer der Entscheidungsfindung. Bei der Frage, ob auch das Ergebnis und dessen Qualität beeinflusst würden, äußerte sich knapp die Hälfte der Befragten zustimmend (Fawzi, 2014, S. 249). Ambivalent wird dieses Bild jedoch, wenn man konkreter darauf schaut, welche Folgen erwartet wurden: Während eine eindeutige Mehrheit negative Folgen aus kritischer Berichterstattung für das Verhandlungsklima sowie die Qualität der Entscheidungen erwartete, sahen nicht wenige Befragte auch positive Folgen für die Dauer des Entscheidungsprozesses, die Bereitschaft zur Kompromissfindung oder das Ergebnis der Verhandlung (Fawzi, 2014, S. 249). Insofern scheint die Frage, welche Folgen resultieren und vor allem, wie sie bewertet werden, keinem einfachen schwarz-weiß Schema zu folgen, sondern vom spezifischen Blickwinkel auf die Situation geprägt zu sein, wie sich weiter unten noch zeigen wird. Schließlich ist anzunehmen, dass die wahrgenommenen Inhalte in der Medienöffentlichkeit vor allem dann Folgen im Handeln haben, wenn sie strategisch relevant sind. Das legen die Befunde nahe, wonach Politiker vor allem auf solche Medieninhalte reagierten, die ihnen im Sinne des issue ownerships (Petrocik, 1996) nahe lagen (Green-Pedersen & Stubager, 2010; Sevenans et al., 2016; Vliegenthart & Walgrave, 2011). Insbesondere die Befunde von Thesen (2013) sind hier aufschlussreich: Er zeigt, dass Parteien vor allem dann auf Medieninhalte reagierten, wenn sich diese strategisch instrumentalisieren ließen. So reagierte die Opposition vor allem dann auf Medienberichterstattung, wenn ein negativer Tenor stark ausgeprägt war und die Regierung als verantwortliche Instanz präsentiert wurde. Denn dann ließen sich Fehler der Regierung anprangern. Umgekehrt reagierte die Regierung vor allem bei positivem Tenor in der Berichterstattung, weil sie die Themen dann in ihre eigene Erfolgsnarrative einbinden konnte.
5.5 Zwischenresümee
329
Zusammenfassend lassen es bestehende Befunde also zu, ausgehend von dem generellen Ausmaß an wahrgenommener öffentlicher und medialer Aufmerksamkeit, einem negativen Tenor in der medienvermittelten und öffentlichen Diskussion sowie davon ausgehenden Emotionen und Wirkungsvermutungen und der Bewertung der Inhalte als strategisch relevant Folgen für das Entscheidungshandeln anzunehmen. Hier stellt sich aber die Frage, welche Folgen dies sind? Mit Blick auf die kommunikativen Aktivitäten in der Medienöffentlichkeit lassen sich zusammenfassend folgende Hinweise ableiten: Je höher der wahrgenommene Einfluss, desto mehr medienbezogene Aktivitäten ergreifen die Entscheidungsakteure (Amann et al., 2012; Jonathan Cohen et al., 2008), desto mehr versuchen sie beispielsweise auch, Berichterstattung in ihrem Sinne zu initiieren (Linsky, 1986, S. 85) und desto mehr orientieren sie sich dabei an der Medienlogik, indem sie beispielweise auf eine vereinfachende Darstellung ihrer Botschaften (Amsalem et al., 2017) oder auf polarisierende Elemente in ihren Kommunikationsaktivitäten setzen (Post, 2017, 2019). Während die Folgen für die kommunikativen Aktivitäten durchaus auf differenzierter empirischer Basis fußen, ist die Evidenz mit Blick auf die Folgen auf das Kernentscheidungshandeln deutlich weniger belastbar. Meist wurden die nachfolgend postulierten Zusammenhänge nicht direkt untersucht, sondern ergaben sich vielmehr als Beiprodukt eines breiteren Fokus: Es gibt Hinweise darauf, dass sich ausgehend von der Wahrnehmung, man stehe unter öffentlicher Beobachtung, negative Folgen für die Qualität des Diskurses ergeben. Konkret haben sich die Teilnehmer im Federal Open Market Committee (FOMC) der US Notenbank damit zurückgehalten, kritische Positionen zu äußern, nachdem eine Transparenzoffensive eingeführt wurde, die alle Gesprächsprotokolle aus diesem Gremium mit einem Verzug von fünf Jahren veröffentlichte. D. h. selbst ein solch schwaches öffentliches Potenzial (erst in fünf Jahren wären Folgen aus der Veröffentlichung der Debattenbeiträge zu erwarten), hatte Folgen für den Diskurs hinter verschlossenen Türen (Meade & Stasavage, 2006). Darüber hinaus berichteten die Befragten aus verschiedenen qualitativen und quantitativen Befragungen, dass wahrgenommene öffentliche Aufmerksamkeit mit Handlungsdruck korrespondierte (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 66; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 429). Dieser Handlungsdruck entsteht unter anderem in der zeitlichen Dimension des Entscheidungsprozesses (Linsky, 1986, S. 236): Dadurch würden ad hoc Entscheidungen statt ruhigem und besonnenem Durchdenken und Abwägen begünstigt (so vermutet es Fritz, 2012, S. 13). Dies kann als Einbußen in der Qualität der Entscheidungen interpretiert werden (vgl. hierzu auch die Befunde von Fawzi, 2014, S. 249). Damit korrespondieren auch die Befunde, wonach die Art der medial vermittelten Kommunikation zu inhaltlichen Anpassungen in den ausgehandelten Lösungen führen können, indem 329
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5 Die Verarbeitungsperspektive
sie den potenziellen Handlungsraum für die Entscheidungsträger aufspannen bzw. verändern und mitunter auch einschränken. Beispielsweise schlussfolgern Jones und Wolfe (2010, S. 31–32) aus ihren Befunden, dass die Medien „set the tone for subsequent policy cange“. Auch Melenhorst (2015, S. 301) zeigt in ihrer Studie, dass Abgeordnete Änderungsvorschläge an einem Gesetz abhängig von der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit einbrachten (ein weiteres Beispiel hierfür aus dem Bereich Tarifpolitik liefern Dribbusch et al., 2017, S. 210, 212). Schließlich geht mediale und öffentliche Aufmerksamkeit und die Art, wie in der Medienöffentlichkeit über aktuelles Geschehen kommuniziert wird (vgl. Befunde hierzu in Kapitel 3.2.2.2), vermutlich mit der Wahl eines konfrontativeren Verhandlungsstils einher (diese Vermutung wurde bereits in Kapitel 4.1 bei der Konzeption des Kernentscheidungshandelns formuliert; ähnliches vermutet auch: Fritz, 2012, S. 9): Hinweise darauf liefern beispielweise die Ergebnisse von Flynn (2000), wonach die Dauer von Streiks (als sehr konfrontative Maßnahme in Tarifkonflikten) umso höher ausfiel, je mehr Medienberichterstattung ein Tarifkonflikt im Vorfeld der Arbeitskampfmaßnahmen erfuhr. Dieser Zusammenhang erwies sich als signifikant trotz der Kontrolle vieler anderer Faktoren, die sich in der Forschung als relevant für die Streikdauer herausgestellt haben (z. B. Branche; Teilnehmerzahl beim Streik; frühere Historie). Sucht man nach den Ursachen dafür, dass mediale Aufmerksamkeit mit negativen Folgen für die Kompromissfindung einhergeht, so wird darauf verwiesen, das Nachgeben und Konzessionen machen in der Öffentlichkeit als Schwäche gelten; selbiges gilt, wenn man seine Meinung im Zuge der Verhandlung ändert (Fritz, 2012, S. 11–12). Neben dem, was die Öffentlichkeit als richtiges und gutes Verhandeln goutiert, drohe bei öffentlichen Zugeständnissen an den Kontrahenten aber noch ein weiteres Problem: Die eigenen Anhänger könnten einen beschuldigen, ihre Interessen nicht konsequent vertreten zu haben. Entsprechend regt öffentliche Aufmerksamkeit zur Polarisierung an (ähnlich Post, 2019), weil die Verhandlungsakteure in der Öffentlichkeit versuchen, sich vom anderen möglichst sichtbar abzugrenzen, auch wenn die Unterschiede in den Positionen mitunter gar nicht so groß sind. Die Verhandlungsakteure nehmen extremere Verhandlungspositionen ein, was die Kompromisssuche am Verhandlungstisch erschwert, aber gleichzeitig gut in der Medienöffentlichkeit ankommt, weil sich diese Positionen gut zuspitzen lassen. Dadurch, so vermutet es Fritz (2012, S. 12) weiter, würden etwa Verhandlungsakteure mit extremen Positionen bevorteilt (Fritz, 2012, S. 12). So aufschlussreich diese zuvor geäußerten Vermutungen von Fritz (2012, S. 12) jedoch sind, so sehr entbehren sie einer entsprechend umfangreichen empirischen Basis. Vielmehr zeigt sich auf der anderen Seite, dass öffentlicher Druck nicht zwangsläufig zu mehr Konfrontation und damit einem Erschweren der Kompromisssuche führen muss. Öffentlicher Druck kann die Verhandlungsbeteiligten auch zum Einlenken
5.5 Zwischenresümee
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bewegen, was einer Lösung bei verhärteten Fronten am Verhandlungstisch durchaus zuträglich ist (vgl. hierzu beispielweise die Befunde aus der Fallanalyse von Kumar, 2007, S. 151 im Kontext des UPS-Streiks der Gewerkschaft Teamsters 1997). In der Summe scheint also zentral zu sein, welche Inhalte in der medial vermittelten und öffentlichen Kommunikation wahrgenommen werden, wie sie in Abgleich mit den eigenen Zielen und Bedürfnissen bewertet werden und wie sich die Gesamtsituation mit dem Kontrahenten gerade gestaltet, wenn es darum geht, ob Druck zum Einlenken bewegt oder vielmehr zum Anlass für verhärtete Fronten wird. In diesem Zusammenhang liefert das nachfolgende Beispiel aufschlussreiche Einsichten: Im Kontext der Migrationskrise in Europa im Jahr 2015 haben Migranten versucht eine drohende Abschiebung und Ausweisung abzuwenden, indem sie über öffentliche Aufmerksamkeit die Entscheidungsträger dazu bewegen wollten, ihre Entscheidung zu revidieren. In drei Fällen, bei denen es den Betroffenen gelungen war, doch noch eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, zeigte sich, dass insbesondere starke Frames, die an grundlegende kulturelle Werte appellierten, denen man kaum etwas entgegensetzen konnte, zum Erfolg führten. Dies war vor allem dann der Fall, wenn zusätzlich ressourcenstarke Frameunterstützer auftraten und Journalisten sich wie Aktivisten engagierten (Ihlen & Thorbjørnsrud, 2014). D. h. eine spezifische Konstellation aus Inhalten und Akteurskonstellationen führte dazu, dass bereits getroffene Entscheidungen revidiert wurden, was als sehr starker Einfluss auf die Entscheidungsfindung gewertet werden kann. Mit Blick auf die abschließende Bewertung des Ergebnisses durch die entscheidungstragenden Eliten und ihre Antwort auf die Frage, ob der Entscheidungsprozess nun beendet sei, lassen erneut die Befunde von Fawzi (2014, S. 253) Vermutungen dazu zu, dass die Verarbeitung und Auseinandersetzung mit medienvermittelter öffentlicher Kommunikation nicht folgenlos ist: Die befragten Akteure aus der Energiepolitik teilten recht einhellig die Einschätzung, dass mediale Berichterstattung die öffentliche Bewertung des Verhandlungsergebnisses und die Frage, wer in der Öffentlichkeit als Gewinner und Verlierer gesehen wird, beeinflussen kann (Fawzi, 2014, S. 254). Diese Einschätzungen korrelierten wiederum stark mit der eigenen Einschätzung der Eliten, ob die Medien einen Einfluss auf die Evaluationsphase bei politischen Entscheidungen haben. Insofern kann man vermuten, dass ausgehend von dieser Einschätzung, ob die Medien ein gutes oder schlechtes Bild des Entscheidungsergebnisses präsentieren, abgeschätzt wird, wie die Öffentlichkeit dazu steht und ob man das Thema abschließen kann oder es im Lichte öffentlichen Handlungsdrucks weiter verfolgen muss (Fawzi, 2014, S. 253). Konkludierend kann an dieser Stelle festgehalten werden: Trotz dieser Vielzahl an Annahmen, die sich hinsichtlich einzelner Zusammenhänge zwischen der psychologischen Verarbeitung von medial vermittelten und öffentlich verbreiteten 331
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Kommunikationsinhalten einerseits und dem Entscheidungshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten andererseits ergeben, fehlt es an einem systematisch ausgerichteten, umfassenden Blick. Insbesondere die Frage, welche Inhalte welche Folgen haben können, ist bislang nur rudimentär betrachtet worden. Man sieht gewissermaßen nicht das ganze Bild, sondern – wie in einem Bilderrätsel – nur einzelne Ausschnitte und der Rest bleibt im Dunkeln. Neben diesen Folgen für das kommunikative Handeln in der medial vermittelten öffentlichen Sphäre und für das Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena bleibt an dieser Stelle überdies unklar, wie solche medieninduzierten wahrnehmungsbasierten Einflüsse das Verhältnis zwischen diesen beiden Sphären des Handelns zueinander verändern. Abgesehen von den zuvor dargestellten einzelnen Zusammenhängen zwischen der Verarbeitung von medienvermittelter öffentlicher Kommunikation und dem Entscheidungshandeln der Eliten muss an dieser Stelle übergreifend folgender Gedanke berücksichtigt werden: Die zuvor dargelegte stufenweise Verarbeitung von medial vermittelten und öffentlichen Kommunikationsinhalten und ihr Bezug zum Handeln der Entscheidungsträger in der Verhandlungsarena und in der medial vermittelten öffentlichen Arena sind im Prinzip zu monokausal gedacht. Denn theoretisch sind Wechselbeziehungen zwischen den Handlungen der Entscheidungsträger und dem, was in der Medienöffentlichkeit diskutiert wird, denkbar (Kepplinger, 2010d, S. 138). Die Medien berichten über etwas, das die Entscheidungsakteure zum Handeln veranlasst. Dieses Handeln wird wiederum zum Ausgangspunkt neuer Berichterstattung (Kepplinger, 2010d, S. 138, 145). So kann eine spezifische – sich verstärkende oder sich abschwächende – Eigendynamik im Zeitverlauf entstehen (Kepplinger, 2010d, S. 138), wie man es im Zusammenhang mit der ein oder anderen Verhandlungsinstanz in der Vergangenheit beobachten konnte (man denke beispielweise an das Zusammenspiel aus Medienberichterstattung und dem Vorsitzendenden der Lokomotivgewerkschaft Claus Weselsky im Zusammenhang mit dem Bahntarifkonflikt 2014). Die Betrachtung solcher Dynamiken geht aber über das hier konzipierte Grundmodell hinaus und deutet eher die Perspektive für künftige Forschung an. Sowohl die Konzeption des Entscheidungshandelns der gesellschaftlichen Funktionseliten über ihre Aktivitäten in der Verhandlungsarena (Kernentscheidungshandeln) und in der medial vermittelten öffentlichen Arena (Kommunikationshandeln) in Kapitel 4 als auch die Modellierung der unabhängigen Konstrukte im vorliegenden Kapitel haben an zahlreichen Stellen bereits angedeutet, dass der Zusammenhang durch eine Vielzahl an Randbedingungen geprägt zu sein scheint. Diese sollen keineswegs eine Randnotiz im vorliegenden Modell bleiben, sondern im nachfolgenden Kapitel elaboriert werden.
Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren 6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Mit dem Ziel, ein Konzept vorzuschlagen, das die Medialisierung der Entscheidungsfindung von gesellschaftlichen Funktionseliten erfasst, wurden in den vorangegangenen Kapiteln die Konstrukte des Kernprozesses aufgearbeitet: Die psychologische Verarbeitung von medienvermittelten öffentlichen Kommunikationsinhalten als unabhängiges Konstrukt beeinflusst das Handeln der gesellschaftlichen Eliten am Verhandlungstisch und ihre öffentlichen Kommunikationsaktivitäten (zwei Blöcke abhängiger Konstrukte) – jeweils vermittelt über die zentrale Stellschraube der strategisch-taktischen Überlegungen der Verhandlungsakteure. Allerdings könnte man einwerfen, dass sich diese Beziehung völlig anders gestaltet, denkt man etwa an nationale Verhandlungen über Regierungskoalitionen im Vergleich zu internationalen Verhandlungen über Handelsabkommen oder Geschäftsverhandlungen über die Fusion zweier Unternehmen. So legen auch die vorhandenen Einsichten zur Medialisierung nahe, dass dieser Prozess keineswegs linear und überall in gleicher Weise von statten geht (Hepp et al., 2015, S. 320; Strömbäck, 2011a, S. 426; Strömbäck & Esser, 2014, S. 7). Vielmehr scheint es eine beträchtliche Variabilität zu geben, die von verschiedensten Faktoren wie der Phase im Entscheidungsprozess oder dem Land und dem Gesellschaftsbereich, in dem sich der Entscheidungsprozess abspielt, bedingt wird (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 313; Schrott & Spranger, 2007, S. 15; Strömbäck & Esser, 2014, S. 7; Walgrave & van Aelst, 2006, S. 91). In der Summe resultiert der Schluss, dass die Einflüsse, die von Medien und Öffentlichkeit auf das Entscheiden der gesellschaftlichen Funktionseliten ausgehen, entlang einer Vielzahl von Rahmenbedingungen variieren (Hepp et al., 2015, S. 320; Protess et al., 1987, S. 183; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 423; Strömbäck & Esser, 2014, S. 7). Die Forschungstradition zu Medieneinflüssen auf Policy-Entscheidungen macht einen Vorschlag (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300, 2010, S. 215), wie mit
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Viehmann, Korsett und Machtressource, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32009-6_6
333
Quelle: Eigene Darstellung. •
•
•
• • Nutzung Wahrnehmung/Antizipation der Inhalte Bewertung und Interpretation Kognitive Reaktionen: Influence of Presumed Media Influence; Hostile Media Emotionale Reaktionen
Verarbeitung von medialer und öffentlicher Kommunikation
Verarbeitung öffentlicher Kommunikation
Strukturelle Rahmenbedingungen: Ausmaß an Kommerzialisierung Interaktion mit der Medienöffentlichkeit: Harte und weiche Machtressourcen Sozioemotionale Merkmale der Interaktion: Beziehung zu Medien/Journalisten, Beziehung zur allg. Öffentlichkeit; Funktionen von Medien und breiter Öffentlichkeit (Informationsfunktion & Arenafunktion) …
Mediale und öffentliche Umwelt: Bedingungen der Interaktion
Kontextfaktoren: Der Verhandlungsakteur in verschiedenen Umwelten
Formale Merkmale des komplexen Akteurs: Organisationsstruktur & -kultur, Größe & Ressourcenausstattung, Heterogenität der Mitgliederbasis Interaktion Repräsentant – Stakeholder: Formale Merkmale: Art des Mandats, Status, Mobilisierungsbasis Sozioemotionale Merkmale: Gruppenidentität, Motiv: Face Saving, wahrg. Vertrauen & wahrg. Ansprüche der Anhänger …
Organisationale Umwelt: Bedingungen der Interaktion mit den Anhängern
persönlicher Hintergrund, Geschlecht, Seniorität, Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Big 5; Need for Structure), subjektive (Gerechtigkeits-)normen, Selbstverständnis, individuelle Ziele
Individueller Verhandlungsakteur
Strukturelle Merkmale des Verhandlungskontextes: Strukturelle Konfliktkonstellation (z.B. Zahl der Beteiligten), strukturelle Machtkonstellation (z.B. BATNA), Konfliktaustragungsstruktur, Phase im Entscheidungsprozess, Eigenschaften des Gegenstandes Sozioemotionale Merkmale der Interaktion: Eigenschaften der Beziehung zum Gegner (wahrgenommenes Machtverhältnis, Vertrauen, Zuschreibungen an und Wahrnehmungen vom Gegner, gemeinsame Historie, Ausmaß an Unsicherheit); Motive (Eigeninteresse vs. gemeinsame Wohlfahrt) & Ziele (Präferenzen für Outcomes); Involvement in das Entscheidungsproblem …
Verhandlungsumwelt: Bedingungen der Interaktion mit dem Verhandlungsgegner
Wechselwirkungen zwischen Verhandlungsund kommunikativem Handeln in beiden Arenen
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
Ökonomisch-rationelle und subjektiv-soziale Merkmale des Verhandlungsergebnisses
Merkmale des Verhandlungsgeschehens Konative Dimension des Kernentscheidungshandelns: Wahl der Verhandlungsstrategie (integrativ vs. distributiv) inkl. der Konzessionsund Kommunikationstaktiken (Ankereffekte setzen, Drohungen aussprechen)
Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
Strategischtaktische Überlegungen (auf kognitiver und emotionaler Ebene)
Kommunikation über Zwischen- und Endstände im Aushandlungsprozess: Abhängig von der Art der adressierten Anspruchsgruppe (z.B. interessenbasiert-involvierte Anspruchsgruppen vs. breite Öffentlichkeit) und den kommunikativen Zielen (z.B. Überzeugen, Aufmerksamkeit vermeiden) werden verschiedene Maßnahmen (Erwartungsmanagement, Impression Management, Frame Building, etc.) ergriffen
Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena:
334 6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Abb. 12 Umweltfaktoren und Rahmenbedingungen des Kernzusammenhangs zwischen der psycholog. Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit und dem Entscheidungshandeln (Anm. zur Abb. s. folgende Seite)
Background-Faktoren: gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer Kontext; kulturelle Faktoren, …
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
335
Anmerkung zur Farbgebung in Abbildung 12: Die Merkmale, wie sie aus grundständigen Modellen der Verhandlungsforschung extrahiert wurden (vgl. Kapitel 3.1.3), sind in schwarzer Schriftfarbe gehalten. Ergänzt sind Faktoren, die aus der Tatsache resultieren, dass es sich um komplexe Akteure handelt, die in institutionalisierten Verhandlungen über Repräsentanten verhandeln (vgl. Kapitel 3.1.4). Diese wurden durch Unterstreichung hervorgehoben. Die weise Schriftfarbe auf dunklem Hintergrund markiert Bereiche mit Bezug zur Medienöffentlichkeit (vgl. Kapitel 3.2.3).
dieser Variabilität umgegangen werden kann (vgl. Kapitel 2.5.3): Statt zu versuchen, sich dem Phänomen auf einem generalisierten Level zu nähern und damit Gefahr zu laufen, potenzielle Medieneinflüsse im Kontext eines „multikausalen Bedingungsgefüges“ (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300) zu über- oder unterschätzen, sollte man versuchen die relevanten Rahmenbedingungen zu identifizieren (ähnlich: Strömbäck & Esser, 2014, S. 8). Im Bereich Politik werden beispielweise das Politikfeld (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 308, 2010, S. 215), die Phase im Politikzyklus sowie der Zeitpunkt im Zyklus zwischen zwei Wahlterminen als relevante Merkmale diskutiert (Strömbäck, 2011a, S. 426); spezifisch für Verhandlungen wird auf Merkmale wie den Verhandlungsgegenstand, den Einigungsraum zwischen den Kontrahenten sowie ihre gemeinsame frühere Historie verwiesen (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 8; Trötschel et al., 2017, S. 806). Diese Rahmenbedingungen bilden den dritten Bestandteil des hier vorgeschlagenen Modells: Die Identifikation und Modellierung relevanter Umwelten und ihrer Merkmale, im Rahmen derer sich die Entscheidungsakteure im Zuge der kollektiven Entscheidungsfindung bewegen und die ihr Handeln prägen. Nur wenn man die relevanten Umweltfaktoren gezielt in die Betrachtung einbezieht und kontrolliert, wird es möglich, valide und über den spezifischen Kontext hinweg generalisierbare Aussagen zum Medieneinfluss abzuleiten und ihm nicht fälschlicherweise den Einfluss anderer Faktoren zuzuschreiben (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1034; Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 354; Strömbäck & Esser, 2014, S. 8). Dabei hat die bisherige Auseinandersetzung mit den verschiedenen, in diesem Zusammenhang relevanten Theoriefeldern (vgl. Teil I) nahe gelegt, drei Umwelten eingängiger zu betrachten (vgl. für eine Gesamtübersicht Abbildung 6 auf S. 237 und Abbildung 12 zur Übersicht über diese Umweltfaktoren). 1. die Verhandlungsumwelt (siehe Kapitel 6.1) 2. die organisationale Umwelt (siehe Kapitel 6.2) 3. die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit (siehe Kapitel 6.3) 335
336
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Die Verhandlungsakteure bewegen sich im Zuge ihrer Entscheidungsfindung in diesen drei Umwelten, sodass diese den zentralen Zusammenhang zwischen der Verarbeitung von medienvermittelten öffentlichen Kommunikationsinhalten und den strategischen Aktionen der Verhandlungsbeteiligten beeinflussen können. Neben diesen drei Umwelten gilt es außerdem noch zwei weitere Klammern zu berücksichtigen, die relevant hinsichtlich der Verarbeitung von medial vermittelter öffentlicher Kommunikation sowie den daraus resultierenden Folgen für das Handeln der Entscheidungsträger sind: Zum einen die individuellen Merkmale des Verhandlungsakteurs (z. B. sein Hintergrund, seine Erfahrungen, seine Persönlichkeitseigenschaften, vgl. Kapitel 3.1.3). Zum anderen globalere Hintergrundfaktoren wie der gesellschaftliche Zeitgeist sowie allgemeine politische, ökonomische und kulturelle Trends und Entwicklungen (vgl. Kapitel 3.1.3). Diese beiden Merkmale werden in Kapitel 6.4 betrachtet. Die Merkmale dieser Umwelten sowie die der individuellen und der globalen Backgroundklammer können im Zusammenhang zwischen der Verarbeitung von medial vermittelter öffentlicher Kommunikation und dem Entscheiden der gesellschaftlichen Funktionseliten mindestens vier verschiedene Rollen einnehmen (vgl. Abbildung 13): 1) Sie können als zusätzliche unabhängige Konstrukte – neben der kognitiven und emotionalen Verarbeitung – einen Einfluss auf das Entscheiden der Funktionseliten ausüben. Beispielhaft sei hier auf die Komplexität des Verhandlungsgegenstandes verwiesen – je höher diese ausfällt, desto länger dauert erfahrungsgemäß der Einigungsprozess ganz unabhängig davon, ob und wie medial und öffentlich darüber kommuniziert wird. Die Kontrolle dieser Einflüsse ist dennoch wichtig, da man sonst Gefahr läuft, ihren Einfluss fälschlicherweise der Medienöffentlichkeit zuzuschreiben. 2) Diese Kontextfaktoren können auch als Mediatoren im Kernzusammenhang wirken: Beispielweise erzeugt die Wahrnehmung einer hitzigen öffentlichen Debatte über das Entscheidungsproblem (Unabhängiges Konstrukt: Verarbeitung) ein hohes Maß an Betroffenheit (Mediator), was wiederum die Schlussfolgerungen, die man im Zuge der strategisch-taktischen Überlegungen zieht (Abhängiges Konstrukt: Entscheidungshandeln), anders ausfallen lässt als wenn kein so hohes Maß an Betroffenheit erzeugt worden wäre (z. B. ist man dann eher bereit, zum strategisch motivierten Spiel über die Medienarena, indem man auf Indiskretionen setzt, vgl. Kapitel 4.3). 3) Drittens können die Umweltfaktoren auch als Moderatoren den Kernzusammenhang beeinflussen. Illustrierend sei hierzu an folgendes Beispiel gedacht: Als Reaktion auf einen sehr kritischen Tenor in der öffentlichen Debatte wird eine umfangreiche Aufklärungskampagne vorgesehen, bei der die Öffentlichkeit
Vorgelagerte unabhängige Faktoren 1. 2. 3. 4.
Verarbeitung öffentlicher Kommunikation
Weitere unabhängige Einflussfaktoren (Kontrollfaktoren)
Nutzung Wahrnehmung … …
Verarbeitung von medialer und öffentlicher Kommunikation
UNABHÄNGIGES KONSTRUKT:
Moderierender Umweltfaktor
Mediierender Umweltfaktor
Handlungsarenen gesellschaftlicher Entscheidungsträger
ABHÄNGIGES KONSTRUKT: Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena
= Ziel-Mittel-Umwelt-Kalküle • … • …
Strategisch-taktische Überlegungen
ABHÄNGIGES KONSTRUKT
ABHÄNGIGES KONSTRUKT: Kommunikatives Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren 337
Abb. 13 Übersicht über die Rollen der Kontextfaktoren im Kernzusammenhang
Quelle: Eigene Darstellung.
337
338
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
über verschiedenste Kanäle bespielt wird (klassische Medien, aber auch Social Media-Kanäle mit aufwendigen interaktiven Inhalten). Dies kann aber nur bei solchen Entscheidungsakteuren erfolgen, die über ausreichend Ressourcen für PR und Öffentlichkeitsarbeit verfügen. D. h. die Ressourcenausstattung für die öffentlichen Kommunikationsaktivitäten stellt hier einen Moderator dar. 4) Denkbar ist schließlich noch eine vierte Rolle, nämlich, dass ein Faktor bereits die unabhängigen Faktoren im hier vorgeschlagenen Modell beeinflusst. Dies ist zum Beispiel beim Involvement der Fall (vgl. Kapitel 5). Je involvierter ein Akteur in die Thematik ist, desto intensiver wird er medial vermittelte und öffentliche Kommunikationsinhalte im Zusammenhang mit dem Entscheidungsproblem nutzen, sie intensiver verarbeiten, umfangreichere kognitive und emotionale Reaktionen zeigen, was sich letztlich im Entscheidungshandeln niederschlagen dürfte. Modelltheoretisch bilden solche Faktoren vorgelagerte unabhängige Faktoren, die das hier im Fokus stehende unabhängige Konstrukt zu einem Mediator machen. Die verschiedenen Umweltfaktoren sowie Background- und Individualmerkmale sollen nachfolgend aufgearbeitet werden. Dabei besteht nicht der Anspruch einer umfassenden Aufbereitung. Vielmehr sollen die zentralsten Merkmale, die sich in der Gesamtauseinandersetzung der vorliegenden Arbeit immer wieder als relevant hervorgetan haben, aufgegriffen und in die Modellierung integriert werden. Worin gründet ihre Relevanz in der bisherigen Betrachtung? Diese Faktoren erwiesen sich als einflussreich und zwar entweder für das Verhandeln in der Kernentscheidungsarena oder für die kommunikativen Aktivitäten in der medial vermittelten und öffentlichen Arena oder weil sie bereits die unabhängigen Faktoren im hier vorgeschlagenen Modell, die Verarbeitung der öffentlich wahrgenommenen Kommunikationsinhalte, prägten. Im Sinne der zuvor eingeführten „Rollen“ handelt sich also um zusätzliche unabhängige Faktoren mit Blick auf das Entscheidungshandeln oder um vorgelagerte Faktoren der unabhängigen Konstrukte. Inwiefern diese Faktoren tatsächlich auch als intervenierende Faktoren – also in Form von Mediatoren oder Moderatoren – auf den Kernzusammenhang einwirken, soll in der nachfolgenden Detailbetrachtung auf Grundlage der – zugegebenermaßen dünnen – Befundlage aus der vorhandenen Forschung andiskutiert werden. Dennoch bleibt der genaue Wirkmechanismus bei manchen Faktoren unklar bzw. es sind mehrere Konstellationen denkbar, wie es das Beispiel mit dem Involvement als vorgelagerter unabhängiger Faktor als auch als Mediator verdeutlicht. Schlussendlich lässt sich diese Zuordnung allein theoretisch-konzeptionell nicht lösen, sondern beschreibt vielmehr eine Agenda für empirische Forschung, die außerhalb der Reichweite der vorliegenden Arbeit liegt.
6.1 Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens …
339
6.1
Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens im Aushandlungsmodus – die Verhandlungsumwelt
6.1
Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens …
Zunächst muss der Verhandlungskontext selbst berücksichtigt werden (vgl. Tabelle 1). Damit sind alle strukturellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Verhandlungsumgebung gemeint, die die Interaktion mit dem Gegner prägen. Außerdem fallen hierunter sozioemotionale Merkmale der Interaktion. Diese umfassen die Motive, Ziele und das Involvement der Verhandlungsakteure mit dem Entscheidungsproblem. Ergänzend kommen noch grundlegende Merkmale der Beziehung zum Gegner auf sozioemotionaler Ebene hinzu, die die Auseinandersetzung mit dem Kontrahenten über die spezifische Entscheidungssituation hinaus formen. Im Gegensatz zu vielen grundständigen Verhandlungsmodellen wird hier nämlich nicht von einer einmaligen Interaktionsinstanz ausgegangen. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass gesellschaftliche Funktionseliten auf regelmäßiger Basis miteinander interagieren, um Problemfragen von gesellschaftlicher Reichweite zu lösen. Dadurch entsteht eine Beziehungsebene zwischen den Kontrahenten, die die spezifische Situation überdauert und künftigen Auseinandersetzungen als Fundament dient (vgl. z. B. die Befunde von Curhan et al., 2010). Tab. 1
Übersicht über die Merkmale der Verhandlungsumwelt
Merkmal
Funktion für den Kernzusammenhang Strukturelle Merkmale des Verhandlungskontextes (Moderator) Strukturelle Konflikt konstellation • Zahl der Beteiligten • Größe der Verhandlungsteams • Etablierungsgrad der Akteurskonstellation • Größe des Einigungsraumes zwischen den Kontrahenten
Annahmen zur Wirkweise
Je höher das Konfliktpotential in der Konstellation, desto größer der Anreiz, die Medienöffentlichkeit als strategische Option zu nutzen. Damit einhergehende Unsicherheit steigert zusätzlich den Wert von Informationen aus der Medienöffentlichkeit als strategischen Input. Je mehr Konflikt, desto komplexer und unübersichtlicher oft auch die Konfliktkonstellation, was die kommunikative Vermittlung erschwert und daher potenzielle Einflüsse weniger wahrscheinlich macht.
339
340
Merkmal Strukturelle Machtkonstellation • Was gilt als Macht faktor? • Besitz von strukturellen Machtressourcen (BATNA) • Individuelle Position im Machtgefüge
Institutionell vorgesehene Konfliktaustragungs struktur
Phase im Entscheidungsprozess
Eigenschaften des Gegenstandes
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Funktion für den Annahmen zur Wirkweise Kernzusammenhang Moderator Je niedriger die eigene strukturelle Machtposition und je eher Erfolg in der Medienöffentlichkeit als Machtressource gesehen wird, desto günstiger die Anreizstruktur, um den Weg über die Medienöffentlichkeit als strategische Option zu nutzen und in der Folge auch die wahrgenommenen Informationen aus der Medienöffentlichkeit im strategischen Handeln zu berücksichtigen. Moderator Je mehr die Konfliktaustragungsstruktur mit den Strukturen in der medienvermittelten Öffentlichkeit korrespondiert, desto bedeutsamer sind die medieninduzierten Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit für das Entscheidungshandeln der Funktionseliten. Moderator Je konfliktreicher die Phase und je mehr sich die Akteure in einer Situation des allgemeinen Werbens um Unterstützung bei den relevanten Stakeholdern befinden, desto größer das Potential für Einflüsse, die von den medieninduzierten Eindrücken und Wahrnehmungen der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln ausgehen. Moderator Je mehr sich das Entscheidungsproblem durch Eigenschaften auszeichnet, die öffentliches Interesse erzeugen, desto eher bedingen sie auch Einflüsse, die von den wahrgenommenen medial vermittelten und öffentlichen Kommunikationsinhalten auf den Entscheidungsfindungsprozess ausgehen.
6.1 Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens …
341
Merkmal
Funktion für den Annahmen zur Wirkweise Kernzusammenhang Sozioemotionale Merkmale der Interaktion Motive & Ziele Moderator & Ziele und Motive haben einen Mediator maßgeblichen Einfluss auf die Wahl der Strategie am Verhandlungstisch und in der medial vermittelten öffentlichen Arena. In dieser Eigenschaft können sie potenzielle Wirkungen aus der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit auf die Strategiewahl verstärken oder kompensieren. Die Ziele und Motive können sich aber auch selbst in Folge der Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit verändern und dann als Mediatoren den Kernzusammenhang prägen. Involvement in das Moderator & Hohes Involvement führt zu a) Entscheidungsproblem Mediator ausgeprägteren Reaktionen im strategisch-taktischen Räsonieren auf Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit. b) geht hohes Involvement mit einer intensiveren und elaborierteren Verarbeitung im Zusammenhang mit den strategisch-taktischen Überlegungen einher. Zusätzlich kann das Involvement selbst als Ergebnis aus der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit verändert werden und dann mediierend wirken.
341
342
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Merkmal
Funktion für den Annahmen zur Wirkweise Kernzusammenhang Mediator & Je besser, insbesondere stabiler die Eigenschaften der BezieModerator Beziehung zum Gegner, je weniger hung zum Gegner Unsicherheit in diesem Zusam• wahrgenommenes menhang vorherrscht, je mehr sich Machtverhältnis der Verhandler dem Kontrahenten • Vertrauen ebenbürtig oder gar überlegen • Zuschreibungen und fühlt, desto geringer sollte die Wahrnehmungen Rolle sein, die die Eindrücke aus • Historie der Medienöffentlichkeit in den • Ausmaß an Unsicherheit strategisch-taktischen Überlegungen spielen. Denn: Der Verhandler fühlt sich bereits gut oder sogar besser als andere Kommunikatoren in der Öffentlichkeit informiert und misst dieser Information nicht so viel Wert bei. Schließlich muss aber mit Blick auf diese Wirkmechanismen auch berücksichtigt werden, dass die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit diese Dimensionen des Verhältnisses auch verändern können, sodass eine mediierende Wirkung im Hinblick auf die strategisch-taktischen Überlegungen entsteht.
Die strukturellen Merkmale des Verhandlungskontextes bilden gewissermaßen ein stabiles Gerüst um die aktuell ausgetragene Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten. Hier ist zunächst die strukturelle Konfliktkonstellation von Bedeutung. Das betrifft die Frage nach der Zahl der Beteiligten bzw. anders ausgedrückt nach dem Fragmentierungsgrad des Geschehens. Je mehr Beteiligte, desto mehr potenzielle Konfliktlinien und Interessen, desto höher das Konfliktpotenzial (Strøm & Müller, 1999, S. 26), was wiederum als günstige Anreizstruktur begriffen werden kann, um die Medienöffentlichkeit für seine eigenen Ziele zu instrumentalisieren (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 308; z. B. steigt das Risiko von Indiskretionen mit steigender Zahl an Positionen am Verhandlungstisch, Baugut & Grundler, 2009, S. 314). Mit mehr Positionen am Verhandlungstisch steigt zugleich die Unübersichtlichkeit und damit auch das Unsicherheitspotenzial unter den Beteiligten, was ebenfalls einen günstigen Ansatzpunkt für Medieneinflüsse darstellt (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 309). Dem entgegen steht aber,
6.1 Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens …
343
dass mit der steigenden Zahl an Beteiligten auch die Komplexität zunimmt und Personalisierungs- sowie Simplifizierungsstrategien sowohl in der eigenen Kommunikation der Entscheider als auch in der Berichterstattung nur bedingt anwendbar sind (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 309). Medieneinflüsse werden begünstigt, wenn Unsicherheit am Verhandlungstisch herrscht – dieser Aspekt lässt sich analog auch darauf übertragen, wenn eine Verhandlungspartei mit einem zahlenmäßig großen Verhandlungsteam auftritt (im Gegensatz zu einem kleinen Verhandlungsteam oder nur einem Verhandlungsführer). Je mehr Beteiligte, desto größer das Unsicherheitspotenzial, weil jeder im Team die Interessen etwas anders gewichtet (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 161). Es können unterschiedliche Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit entstehen, die sich über gruppendynamische Stimmungsbildungsprozesse selbst verstärken können (z. B. ein Meinungsführer im Verhandlungsteam verbreitet seine Sichtweise auf die Dinge, auch wenn diese nicht dem entspricht, wie es die anderen im ersten Moment empfunden haben; seine dominante Sicht prägt dann aber die aller anderen; ein ähnliches Szenario schildert Kepplinger, 2008, S. 329). Neben dem Fragmentierungsgrad des Entscheidungszentrums ist auch der Etablierungsgrad der spezifischen Akteurskonstellation relevant: Insbesondere lang gewachsene Entscheidungszirkel, in denen sich standardmäßige Routinen und Prozeduren institutionalisiert haben, bieten wenig Angriffsfläche, an denen medienbezogene Eindrücke ihre Wirkung entfalten können (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 309, 2010, S. 221). Immer dann jedoch, wenn diese etablierten Strukturen – mitunter sogar plötzlich – aufbrechen, dann entsteht ein hohes Maß an Unsicherheit und damit auch Potential für Medieneinflüsse (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 311, 2010, S. 223). Schließlich bezieht sich die Dimension der strukturellen Konfliktkonstellation noch auf die Größe des Einigungsraumes zwischen den Kontrahenten. Dieser repräsentiert das Ausmaß des Konfliktes zwischen den Verhandlungspartnern. Je weiter die Positionen auseinander liegen, desto kleiner der gemeinsame Raum an potenziellen Optionen. Davon ausgehend kann angenommen werden, dass je kleiner der Einigungsraum, desto höher ist das Konflikt- und mediale Eskalations- bzw. Instrumentalisierungspotenzial (Landerer, 2015, S. 51–52). In der Summe kann für diese Merkmale angenommen werden, dass je höher das Konfliktpotenzial in der Konstellation, desto eher stellt der Weg über die Medienöffentlichkeit eine strategische Option dar, weil Konflikt mit den Aufmerksamkeitskriterien der Medien korrespondiert (vgl. die Befunde in Kapitel 3.2.2.2). Dem kann jedoch gegenüber gestellt werden, dass ein höheres Maß an Konflikt in der Konstellation oft auch mit einem höheren Maß an Unübersichtlichkeit und Komplexität einhergeht, was eine kommunikative Vermittlung – sowohl durch die beteiligten Akteure selbst als auch in den Medien – erschwert. Allerdings kann vor allem die so entstehende 343
344
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Unsicherheit bei den Verhandlungsakteuren zur Folge haben, dass sie stärker auf die Informationen aus der Medienöffentlichkeit als strategischen Input zurückgreifen. Alles in allem gibt es zwar Hinweise auf eine moderierende Wirkung, die jedoch nicht eindeutig sind. Eng verknüpft mit der Konfliktkonstellation sind die strukturellen Merkmale der Machtkonstellation: Diese zeigen auf, welche Akteure sich auf Basis ihrer strukturellen Eigenschaften wie zueinander positionieren. Hier muss zunächst die Frage berücksichtigt werden, was als Machtfaktor im entsprechenden Entscheidungssystem gilt. Werden nur rollennahe Faktoren wie Performanz, Expertise und Erfahrung (z. B. wurden bei Verbänden lange die Ideale Integrität, sachliche Kompetenz und Diskretion als wünschenswerte Eigenschaften hoch gehalten, vgl. Sebaldt, 1997, S. 68, 360) oder auch rollenferne Merkmale honoriert, wie Prominenz und öffentliches Image (vgl. hierzu auch Kapitel 6.3). In Entscheidungskonstellationen, in denen auch letzteres goutiert wird, wird es auch belohnt, wenn man der publikumsorientierten Medienlogik folgt und desto eher berücksichtigt ein Akteur dann die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit in seinem Handeln (das legen die Befunde von Amsalem et al., 2017 und Kunelius & Reunanen, 2012, S. 68; Reunanen et al., 2010, S. 294 nahe). Abseits der Frage, welche Machtfaktoren ein Entscheidungssystem anerkennt, stellt sich vor allem die Frage nach den strukturellen Machtressourcen des einzelnen Verhandlungsakteurs. Diese hängen zentral von seiner Rückfalloption ab, d. h. welche Alternativen stehen einem Verhandlungsakteur im Falle des Scheiterns der Verhandlungen zu Verfügung (Brett & Thompson, 2016, S. 76; Pinkley et al., 1994). Je komfortabler diese Alternativen sind (die sog. Best alternative to negotiated agreement, BATNA, Fisher & Ury, 1981, S. 104), desto höher seine strukturelle Macht, weil er dann umso glaubwürdiger mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen kann. Außerdem ist die Position im strukturellen Machtgefüge von Interesse: Je näher man am Entscheidungszentrum ist, d. h. je wichtiger ein bestimmter Entscheidungsakteur für die Entscheidungsfindung ist (z. B. weil er eine Vetooption hat oder weil er immer gefragt wird, wenn es um ein bestimmtes Problem geht, vgl. Landerer, 2015, S. 285), desto geringer die Notwendigkeit, über die Medienöffentlichkeit seine Machtbasis auszubauen. Das zeigen zumindest die Befunde, wonach Akteure aus der Opposition (Jost et al., 2015; Walgrave et al., 2008), neue politische Akteure (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 312) oder politische Akteure, die an der Peripherie der politischen Entscheidungsfindung angesiedelt sind, in besonderem Maße darum bemüht sind, sich der Medienöffentlichkeit zu bedienen (z. B. Verbände können nur über Lobbying-Aktivitäten indirekt auf die Entscheidungsfindung einwirken, Fawzi, 2014, S. 268; Hinterbänkler im Vergleich zu Politikern aus der ersten Reihe Davis, 2007, S. 194; Landerer, 2015, S. 267; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 506). Dazu folgen sie in ihrem Handeln besonders stark
6.1 Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens …
345
der publikumsorientierten Medienlogik (Davis, 2007, S. 189; Landerer, 2015, S. 250). In der Summe hat also der vermeintlich unterlegene Akteur besonders viel Anreiz auf die Medien zurückzugreifen (das legen die Befunde von Landerer, 2015 nahe, die entsprechende Unterschiede für Politiker aufzeigen, die dem Gewinner- vs. Verliererlager angehören bzw. die im Machtzentrum vs. -peripherie angesiedelt sind). Das legt einen moderierenden Wirkmechanismus nahe, der von der strukturellen Machtkonstellation auf den Kernzusammenhang ausgeht. Neben diesen beiden großen Blöcken, die an verschiedenen Fragen der Konstellation zwischen den beteiligten Akteuren ansetzen, lassen sich noch weitere strukturelle Einflüsse auf den Kernzusammenhang ausmachen: Hier ist zunächst die institutionell vorgesehene Konfliktaustragungsstruktur zu nennen. Diese bezieht sich auf die Verfahrensregeln und Standardprozeduren am Verhandlungstisch (Schrott & Spranger, 2007, S.4, 7; z. B. sind Exit-Optionen vorgesehen?, vgl. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 429; öffentliche, teilöffentliche oder vollkommen nicht-öffentliche Verhandlungen; Benz, 2007, S. 114). Sie bestimmen die Wahl der Öffentlichkeits- und Verhandlungsstrategie und korrespondieren unterschiedlich gut mit den Prinzipien der Medienöffentlichkeit, was Folgen für potenzielle Medieneinflüsse hat (Floss & Marcinkowski, 2008, S. 6; Schrott & Spranger, 2007, S. 4; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 424–425). Eine Studie von Schrott und Spanger (2007) zeigt in diesem Zusammenhang nämlich, dass Medialisierungseffekte auf Verhandlungssysteme abhängig von ihren institutionellen Charakteristika sehr differenziert ausfallen. Vor allem Charakteristika, die mit den Aufmerksamkeitsprinzipien in der Medienöffentlichkeit korrespondierten, führten dazu, dass entsprechende medien- und öffentlichkeitsbezogene Erwägungen im Verhandlungsgeschehen eher eine Rolle spielten. Analog dazu kann für das vorliegende Modell angenommen werden, dass die medieninduzierten Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit vor allem dann bedeutsam für das Entscheidungshandeln sind, wenn die Konfliktaustragungsstruktur mit den Strukturen in der medienvermittelten Öffentlichkeit korrespondiert (z. B. Passungen im Timing zwischen Verhandlungs- und medialer Öffentlichkeitsarena; Strukturmerkmale, die Konflikt provozieren und so als Aufmerksamkeitspunkte für die Medien dienen können, Transparenzbemühungen und Formalisierungsgrad im Verhandlungskontext, vgl. z. B. Schrott & Spranger, 2007, S. 15). Einen weiteren Ansatzpunkt für potenzielle Einflüsse liefert folgender Aspekt: Ein Entscheidungsproblem durchläuft bis zu seiner Lösung verschiedene Phasen. So wird der Policy-Prozess in der Politik beispielweise in vier Phasen unterschieden, die Problemidentifikation (Agenda Setting-Phase), die Politikformulierung, die Implementation und die Evaluation der Entscheidung. Die Befunde zu den Medialisierungsfolgen zeigen dabei deutliche Unterschiede zwischen den Phasen 345
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
im Entscheidungsprozess (Fawzi, 2014, 2018; Linsky, 1986). Verschiedene Ergebnisse legen dabei nahe, dass Medieneinflüsse vor allem dann zu erwarten sind, wenn sich die entsprechende Phase durch ein hohes Konfliktpotenzial auszeichnet (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 304; z. B. durch Proteste oder Streik oder in den Frühphasen einer Auseinandersetzung, wo die Differenzen zwischen den Entscheidern maximal sind; ähnlich argumentiert Douglas, 1992, S. 250 und das legen auch die Befunde von Fawzi, 2018, S. 1142–1143; Landerer, 2015, S. 240 nahe) und/oder wenn es sich um eine Phase des Werbens handelt, d. h. wenn die Akteure unabhängig vom aktuellen Entscheidungsproblem danach streben, Unterstützung bei den relevanten Stakeholdern zu generieren (z. B. Wahlkampf vs. Routine, vgl. Blumler & Esser, 2019, S. 858; Strömbäck & Esser, 2014, S. 20). Neben der Phase sind auch die Merkmale des Entscheidungsproblems selbst maßgeblich. Sie prägen nicht nur das Verhandlungsgeschehen (Trötschel et al., 2017, S. 808; Walton & McKersie, 1965, S. 4–5), sondern auch die Rolle der Medien darin: Je komplexer, detailbezogener und technischer der Gegenstand der Auseinandersetzung, desto geringer sind Medieneinflüsse (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 304; C. O. Meyer, 2009). Dagegen begünstigen distributive Streitfragen eher mediale Einflüsse als regulatorische (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 424–425) und der emotionale Gehalt ist nicht nur für die Auseinandersetzung am Verhandlungstisch (Conlon & Shelton Hunt, 2002), sondern auch in der Medienöffentlichkeit relevant (Landerer, 2015, S. 273). Diese Einflüsse werden vor allem durch zweierlei bedingt: Zum einen die Frage, inwiefern der Gegenstand öffentliche Aufmerksamkeit erregen kann (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 219) und zum anderen – als direkte Folge daraus – inwiefern sich dieser Gegenstand dann auch öffentlich vermitteln und sogar inszenieren lässt (Landerer, 2015, S. 273). Je geringer das Potential für öffentliche Aufmerksamkeit, desto weniger lohnen Versuche, das Entscheidungsproblem in der Öffentlichkeit zu spielen (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 219–220; Landerer, 2015, S. 272), desto weniger relevante Inhalte sollten die Entscheider dann auch in der Medienöffentlichkeit zu dem Thema wahrnehmen und desto geringer die Rolle dieser Eindrücke im Zusammenhang mit der Strategiewahl der Entscheidungsakteure. In der Summe kann für diese strukturellen Merkmale von einem moderierender Effekt auf den Kernzusammenhang ausgegangen werden: Sie bestimmen im Prinzip das Potenzial für medienbezogene Einflüsse, weil sie maßgeblich dafür sind, ob eine günstige Anreizstruktur dafür besteht, die medienbezogenen Eindrücke und Überlegungen zu berücksichtigen. Wenn diese Merkmale mit den Prinzipien in der Medienöffentlichkeit korrespondieren, dann wirken sie wie ein fruchtbarer Boden, auf dem medienbezogene Einflüsse gedeihen, indem die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit eine prominente Rolle in der Strategiewahl und Räson der
6.1 Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens …
347
Entscheider spielen. Die strukturellen Merkmale sind (zumindest in der kurzen Frist) unabhängig von dem, was die Entscheider in der medienvermittelten und öffentlichen Kommunikation wahrnehmen. Daher kann ein Wirkmechanismus im Sinne eines Mediators ausgeschlossen werden. Neben den strukturellen Merkmalen wird die Interaktion mit dem Gegner auch durch ihre sozioemotionalen Rahmenbedingungen geprägt (vgl. Tabelle 1). Die Verhandlungsforschung hat dabei vor allem auf die Bedeutsamkeit von sozialen Motiven und Zielen hingewiesen (vgl. Kapitel 3.1.3). Ausgehend vom Dual Concern Model von Pruitt und Rubin (Rubin et al., 1994, S. 29–37) wird zwischen zwei widerstreitenden Motiven unterschieden, die das Handeln am Verhandlungstisch maßgeblich prägen: Zum einen ein egoistisch-orientiertes kompetitives Motiv, zum anderen ein prosoziales kooperatives Motiv (Benz, 2007, S. 108; Druckman, 1977, S. 41). Da die spezifische Motivlage in dem dargestellten Zwiespalt das Verhandlungsgeschehen, d. h. die Wahl der Verhandlungsstrategie wesentlich beeinflusst (Brett & Thompson, 2016, S. 72; Dreu et al., 2000), ist auch die Rede von Verhandlungen als mixed-motive game (Schelling, 1960, S. 4). Die Ziele beziehen sich dagegen auf die Präferenzordnungen der Entscheider mit Blick auf die Gegenstände, die verhandelt werden (Lax & Sebenius, 1986, S. 73, 76; Trötschel et al., 2017, S. 812). Für beide, d. h. Motive und Ziele, können mehrere Rollen für den Kernzusammenhang angenommen werden: Betrachtet man sie als Ausgangsbedingungen der Entscheidungssituation, dann steuern sie vermutlich als vorgelagerte unabhängige Faktoren die Auseinandersetzung mit den wahrgenommenen Inhalten in der Medienöffentlichkeit. Sie dirigieren quasi als Relevanzdetektoren den Rezeptionsvorgang der Entscheider. Zusätzlich kann aber auch ein moderierender Zusammenhang angenommen werden: Je höher die kompetitive Orientierung im Rahmen der Motive eines Verhandlungsakteurs, desto eher wird er, nachdem er beispielweise ein Interview mit dem Kontrahenten gelesen hat, indem sich dieser kritisch über ihn geäußert hat, eine kompetitive Strategie wählen und ebenfalls in medienvermittelten öffentlichen Arena auf Konfrontation setzen – beispielweise über Counter-Framing Maßnahmen. In der Summe verstärken sich also die Wirkmechanismen aus der Rezeption und der Motivlage wechselseitig. Ein analoges Szenario kann auch für die Ziele angenommen werden (z. B., wenn vor allem die Maximierung des eigenen Nutzens angestrebt wird). Schließlich ist auch vorstellbar, dass die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit die Ziele und Motive im Laufe des Verhandlungsprozesses verändern und sich diese veränderten Ziele und Motive dann, wie zuvor dargelegt, auf die Strategiewahl am Verhandlungstisch und in der medienvermittelten öffentlichen Arena auswirken. In diesem Fall läge eine Wirkung im Sinne eines Mediators vor. 347
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Vor allem im Zuge der theoretisch-konzeptionellen Aufarbeitung der unabhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell (vgl. Kapitel 5) hat sich das Involvement der Beteiligten als Wesentlich herauskristallisiert: Die subjektiv empfundene Betroffenheit des Entscheiders durch das Entscheidungsproblem und das damit verbundene Geschehen prägt den Rezeptionsprozess mit den wahrgenommenen medial verbreiteten und öffentlichen Inhalten auf allen Stufen – begonnen bei der Nutzung von Inhalten, über deren Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation bis hin zu den daraus resultierenden emotionalen Reaktionen und weitergehenden kognitiven Responses (Hansen & Kim, 2011; Kepplinger, 2007, S. 11, 2010d, S. 135; Matthes & Beyer, 2017; Neumann, 2015, S. 195). Neben dieser Funktion als vorgelagerte unabhängige Faktoren, die den Rezeptionsprozess in der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit beeinflusst, kann auch eine Wirkung auf die abhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell angenommen werden: Je involvierter der Entscheider, desto stärker fallen vermutlich ausgehend von der Verarbeitung der wahrgenommenen öffentlichen Kommunikationsinhalte seine Reaktionen im strategisch-taktischen Räsonieren aus, d. h. in der Frage, welche Strategien am Verhandlungstisch und in der öffentlichen Arena gewählt werden sollen. Demnach würde das Involvement als Moderator die Stärke des Kernzusammenhangs erhöhen. Involvement kann auch als Mediator fungieren, weil das Gefühl der Betroffenheit durch die Rezeption der medial vermittelten und öffentlichen Inhalte zusätzlich genährt werden kann. In der Folge kann wiederum vermutet werden, dass das erhöhte Involvement durch die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit sich darin niederschlägt, dass die strategisch-taktischen Überlegungen umfangreicher und elaborierter ausfallen (das prognostiziert zumindest das Elaboration-Likelihood-Model, wo Involvement als wichtige Bedingung für die Verarbeitung entlang der zentralen Route gilt, vgl. Petty et al., 2009). Schließlich müssen diese sozioemotionalen Rahmenbedingungen der Verhandlungsumwelt noch um die Beziehungsdimension zum Gegner ergänzt werden: Hier spielen Aspekte wie das wahrgenommene Machtverhältnis als psychologisch-relationales Pendant zum strukturellen Machtverhältnis zwischen den Akteuren (siehe oben) eine Rolle (Brett & Thompson, 2016, S. 74; Magee & Galinsky, 2008, S. 7). Darüber hinaus prägt das grundlegende Vertrauen (Druckman & Olekalns, 2013), das die Kontrahenten einander entgegen bringen sowie die generellen Zuschreibungen und Wahrnehmungen an die/der Gegenseite (Olekalns & Adair, 2013, S. 10; z. B. Einschätzung der Präferenzen der Gegenseite in Abgleich mit den eigenen Zielen, Lamm, 1975, S. 25; Vermutungen bezüglich seiner Strategiewahl, Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 36; seine Reputation, Tinsley et al., 2002) die Perspektive, die ein Verhandlungsakteur auf den Gegner hat und wie er ihm am Verhandlungstisch gegenübertritt. Diese Einstellungen zum Gegenüber resultieren aus der gemeinsamen langfristigen Historie der Verhandlungspartner (Bazerman
6.1 Rahmenbedingungen des kollektiven Entscheidens …
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et al., 1985, S. 309; Curhan et al., 2010). Aber auch der jüngere Verhandlungsverlauf im Zusammenhang mit dem aktuellen Entscheidungsproblem kann folgenreich sein, indem er zu Pfadabhängigkeiten in der Interaktion führt (Brett & Thompson, 2016, S. 70; Holmes, 1992, S. 95; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 426). Schließlich wurde in verschiedenen Zusammenhängen darauf verwiesen, dass das Ausmaß an Unsicherheit (Bazerman & Chugh, 2006, S. 9; Olekalns & Adair, 2013, S. 17; Roloff & Jordan, 1992, S. 33), das den Austauschprozess mit dem Gegner begleitet, maßgebliche Folgen für die Interaktion und das damit verknüpfte Handeln der Entscheidungsakteure haben kann. Mit Blick auf den Kernzusammenhang kann ausgehend von diesen Beziehungsdimensionen zum Gegner sowohl ein moderierender als auch ein mediierender Wirkmechanismus vermutet werden: Zentral in der Auseinandersetzung mit dem Gegner ist die Frage, wie gut man über dessen Motive, Ziele, Vorhaben, und Optionen Bescheid zu wissen glaubt (Olekalns et al., 2005, S. 380; Roloff & Jordan, 1992, S. 36; Schimank, 2010, S. 43). Je besser man sich informiert fühlt, desto sicherer und souveräner ist das eigene Vorgehen und umso wahrscheinlicher ist die Wahl einer integrativen Verhandlungsstrategie (ähnlich argumentieren: Hüffmeier et al., 2014; Raupp, 2009, S. 270–272; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 425). Das impliziert mit Blick auf diese sozioemotionalen Merkmale der Beziehung zum Gegner folgende Annahmen: Je besser, d. h. stabiler die Beziehung zum Gegner, je geringer die Unsicherheit, die in diesem Zusammenhang empfunden wird, und je mehr der Verhandlungsakteur den Eindruck hat, er stünde dem anderen mindestens auf Augenhöhe gegenüber (d. h. er sieht seine Machtposition nicht bedroht), desto geringer sollte die Bedeutung der Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit im Zusammenhang mit den strategisch-taktischen Überlegungen ausfallen. So zeigen Reunanen et al. (2010, S. 293) beispielweise, dass die Stärke des Vertrauensbandes zwischen den Kontrahenten immunisierend gegen Medieneinflüsse wirkt. Wenn man sich auf einer sicheren oder gar überlegenen Machtposition wähnt, so ist der Anreiz geringer, über die Bande der Öffentlichkeit seine Machtbasis weiter auszubauen. Vor allem das Screening und die Interpretation der wahrgenommenen Inhalte in der Medienöffentlichkeit mit dem Ziel, strategisch relevante Informationen zum Gegner zu erhalten, sollte dann keine große Rolle spielen, weil die Verhandlungsakteure den Eindruck haben, dass sie bereits gut Bescheid wissen bzw. ohnehin besser als die Medien oder sonstige öffentliche Kommunikatoren Bescheid wissen (vgl. zu der Frage, wie intensiv die strategisch-taktischen Überlegungen erfolgen: Roloff & Jordan, 1992, S. 34). Ergänzend muss hier berücksichtigt werden, dass diese sozioemotionalen Merkmale der Beziehung zum Gegner auch durch die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit verändert werden können (z. B. wenn man den Eindruck hat, der Gegner hätte eine bestimmte Information öffentlich gemacht, die einem 349
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
schadet) bzw. kann hier auch ein dynamisches Wechselspiel entstehen zwischen den Eindrücken, die man vom Gegenüber am Verhandlungstisch sammelt, und dem, was man über und von ihm aus der Medienöffentlichkeit erfährt (darauf deuten bspw. die Befunde von Fawzi, 2014, S. 249).
6.2
Die Brücke zwischen Mikro und Meso – die organisationale Umwelt
6.2
Die Brücke zwischen Mikro und Meso
Gesellschaftlich weitreichende Entscheidungen werden selten von einzeln handelnden Individuen getroffen. Zwar stehen sich am Verhandlungstisch individuelle Personen gegenüber, dahinter befinden sich aber meist komplexe Akteure. Die individuellen Verhandlungsakteure agieren demnach als Repräsentanten von Organisationen oder Institutionen (Benz, 2007, S. 115; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 154; Turner, 1992, S. 233; van Kleef et al., 2007, S. 130) – zum Beispiel als Vertreter einer Partei, einer Regierung, einer Gewerkschaft oder eines Unternehmens. Daher müssen zunächst die Merkmale der dahinterstehenden Organisation, d. h. die formalen Eigenschaften des komplexen Akteurs (Tabelle 2; vgl. zur Differenzierung verschiedener komplexer Akteurstypen Kapitel 3.1.4 sowie Scharpf, 2006, S. 101–106), berücksichtigt werden, da sie das Fundament darstellen, auf dessen Basis der Akteur am Verhandlungstisch und in der medienvermittelten Öffentlichkeit waltet (ähnlich formuliert es Donges, 2008, S. 218, für Parteien). Tab. 2
Übersicht über die Merkmale der organisationalen Umwelt
Merkmal
Funktion für den Annahmen zur Wirkweise Kernzusammenhang Merkmale der Organisation – formale Merkmale des komplexen Akteurs Moderator Es zeigen sich Unterschiede in Organisationsstruktur & Medialisierungsfolgen entlang -kultur verschiedener OrganisationsBeispiele zur Beschreibung typen (z. B. Verband vs. Partei der Organisationsstruktur: vs. Unternehmen; Fawzi 2014, Art und Ausmaß der födeKunelius & Reunanen 2012). Als ralen Gliederung, kollektiursächlich hierfür werden in der ver vs. korporativer Akteur; Literatur zahlreiche Merkmale der Karrieristen vs. Aktivisten Organisationsstruktur und -kultur als maßgeblich Akteure aufgezählt. Es ist allerdings unklar, welche Merkmale zu welchen Folgen führen.
6.2 Die Brücke zwischen Mikro und Meso
Merkmal Größe & Ressourcenausstattung
Heterogenität der Mitgliederbasis
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Funktion für den Annahmen zur Wirkweise Kernzusammenhang Moderator Je größer und besser die Ressourcenausstattung einer Organisation, desto komfortabler das Ausgangslevel des Handelns in beiden Arenen. Moderator Je höher das Maß an Heterogenität, desto mehr Potenzial für Unsicherheit, was in den strategisch-taktischen Überlegungen über Heuristiken und emotionale Reize als alternative Informationsquellen kompensiert werden muss.
Merkmale der Interaktion Organisation – Repräsentant – Anspruchsgruppen Bedeutsamkeit verschiedener Stakeholder Fokus liegt in dieser Umwelt auf: interessenbasiert-involvierte Stakeholder, weil diese die Organisation konstituieren und deren Interessen unmittelbar verhandelt werden Formale Merkmale der Interaktion Repräsentant – Anspruchsgruppen Art des Mandats Moderator Je höher und zentraler die Position, je freier das Mandat und je Moderator Position/Status des Vergrößer die Mobilisierungsbasis, handlungsakteurs innerdesto souveräner agiert der Verhalb der Organisation handler, desto weniger profilierend Mobilisierungsbasis Moderator ist sein Handeln. Sozioemotionale Merkmale der Interaktion Repräsentant – Anspruchsgruppen Soziale Gruppenidentität Mediator Sozioemotionale Dimension des Verhältnisses ist anfällig für Motiv: Face Saving Mediator Eindrücke aus der MedienöffentMediator Wahrgenommenes lichkeit. Je besser das wahrgenomVertrauen seitens der mene Verhältnis zu den eigenen Anspruchsgruppen Anspruchsgruppen, desto weniger Wahrgenommene Ansprü- Mediator profilierend das Handeln. che seitens der Anhänger
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Ganz grundlegend kann unter einer Organisation zunächst „ein für bestimmte Zwecke eingerichtetes soziales Gebilde mit einem formell – bzw. ‚institutionell‘ – vorgegebenen Ziel, mit formell geregelter Mitgliedschaft, einer das Handeln der Mitglieder regelnden institutionellen Verfassung, sowie – meist – einem eigenen ‚Erzwingungsstab‘ zur Durchsetzung dieser Verfassung“ (H. Esser, 2000, S. 5) verstanden werden. Wie es diese verschiedenen definitorischen Kriterien – z. B. die Mitgliedschaft regelnde Verfassung – bereits andeuten, gibt es aber durchaus Unterschiede in der Organisationsstruktur und -kultur zwischen verschiedenen Organisationen. Die Befunde zu Medialisierungsfolgen deuten darauf hin, dass die medienbezogenen Einflüsse entlang dieser Merkmale der Organisationsstruktur und -kultur variieren (vgl. z. B., dass Akteure aus dem Kernbereich Politik vs. Verbände & NGOs unterschiedlichen Aufwand für Medienaktivitäten betreiben; Fawzi, 2014, S. 191, 193; Unterschiede im Medialisierungsgrad zwischen Politikern, Aktivisten, Gewerkschaften, Verwaltung und Justiz bei Kunelius & Reunanen, 2012). Allerdings bleibt an dieser Stelle unklar, welche Merkmale dieser komplexen Akteure bzw. ihrer spezifischen organisationalen Struktur und/oder Kultur diese Unterschiede hervorrufen. Donges (2008, S. 214) verweist beispielweise auf das Ausmaß an föderaler Untergliederung, das zu Unterschieden in der Frage führt, wie stark Öffentlichkeitsarbeit zentral aus einer Hand erfolgt. Auch die Frage, ob es sich um einen kollektiven Akteur handelt, dessen Willensbildung bottom-up erfolgt, oder um einen korporativen Akteur, der top-down strukturiert ist und daher eher vom Willen der Mitglieder entkoppelt ist (Schimank, 2010, S. 338), kann relevant für die Frage sein, wie sich die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit im Entscheidungshandeln niederschlagen. Daraus folgen nämlich zentrale Unterschiede in den internen Willensbildungsprozessen von Verbänden, Parteien und anderen demokratisch aufgebauten bottom-up/kollektiven Organisationen einerseits und Unternehmen als top-down strukturierte korporative Organisationen andererseits. Auch die Bedeutsamkeit verschiedener Anspruchsgruppen variiert in diesen Organisationen (vgl. Kapitel 3.1.4 und Scharpf, 2006, S. 104–105). Eine andere Differenzierung kann danach erfolgen, wie stark die Organisationskultur durch Führungspersonal, sog. Karrieristen oder durch die Aktivisten, sog. Believer, geprägt wird (vgl. hierzu Schumacher, Vries & Vis, 2013). Erstere seien nämlich anfälliger für publikumsorientierte Strategien im Vergleich zu letzteren, die eher an den Inhalten orientiert agierten (Landerer, 2015, S. 296). Neben der Organisationsstruktur wird in der Literatur auch oft die Größe der Organisation und damit einhergehend ihre grundsätzliche Ressourcenausstattung als relevant benannt (Koch-Baumgarten, 2014, S. 174; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 85). Grundsätzlich kann angenommen werden, dass größere und ressourcenstärkere Organisationen mit Widrigkeiten am Verhandlungstisch und in der Medienöffentlichkeit besser umgehen können, weil sie
6.2 Die Brücke zwischen Mikro und Meso
353
beispielweise über mehr Mobilisierungspotential, tendenziell auch mehr Ressourcen für PR und Öffentlichkeitsarbeit und über mehr strukturelle Machtressourcen am Verhandlungstisch – sprich insgesamt ein komfortableres Ausgangslevel – verfügen (vgl. Koch-Baumgarten, 2013, S. 197). Mit der Größe korrespondiert allerdings auch die Heterogenität in der Mitgliederstruktur (Koch-Baumgarten, 2014, S. 193): Je heterogener die Binnenstruktur einer Organisation, desto schwieriger ist es, alle relevanten Perspektiven bspw. über die Kommunikation über eigene Verbandsmedien zu integrieren (vgl. grundsätzlich Steiner & Jarren, 2009, S. 260–263; Rehder, 2014, S. 246 nennt als Beispiel den Weltanschauungs- und Deutungspluralismus in deutschen Großgewerkschaften). Entsprechend begünstigt werden so vermutlich innerorganisationale Spannungslinien, die mit großen Unsicherheitspotenzialen in der innerorganisationalen Entscheidungsfindung einhergehen. Dabei führte Unsicherheit im Zusammenhang mit den strategisch-taktischen Überlegungen vermehrt zum Rückgriff auf kognitive Heuristiken und die Anfälligkeit für emotionale Reize (Olekalns & Adair, 2013, S. 17; Roloff & Jordan, 1992, S. 34; Sullivan et al., 1993, S. 978). Die wenigen spezifischen Befunde deuten an, dass diese formalen Merkmale der Organisation insbesondere als Moderatoren des Kernzusammenhangs wirken könnten. Sie werden zwar selbst nicht durch die Verarbeitung der medial vermittelten und öffentlich kommunizierten Inhalte beeinflusst, können deren Wirkung auf das Entscheidungshandeln aber wie ein Hebel stärker oder schwächer ausfallen lassen. Neben den formalen Eigenschaften der Organisation als komplexer Akteur, gilt es die Merkmale der Interaktion zwischen der Organisation, ihren Anspruchsgruppen und ihren Repräsentanten am Verhandlungstisch einzubeziehen (siehe Tabelle 2), da sie eine zentrale handlungsleitende Struktur, eine Art organisationale Logik, für die Entscheider bilden. Ähnlich argumentieren Strøm und Müller (1999, S. 12): Man müsse auch das interne Interaktionsgeflecht innerhalb von politischen Parteien betrachten, will man das Verhalten ihrer Führungspersonen verstehen. Zentral für die Interaktion in dieser Trias ist zunächst, wer diese Anspruchsgruppen sind und welche Bedeutung sie für die Organisation haben (vgl. hierzu aus verhandlungstheoretischer Sicht das Netzwerkmodell von Pruitt & Carnevale, 1993, S. 157 und aus medien- und öffentlichkeitstheoretischer Perspektive die Differenzierung von primären und sekundären Stakeholdern, Fassin, 2009, S. 116–117; Hoffjann, 2015, S. 73; Röttger et al., 2018, S. 67 sowie das Konzept der Situational Publics bei J. E. Grunig & Hunt, 1984). In Kapitel 3.2.1 wurden drei Stakeholdertypen identifiziert, mit denen sich alle Entscheidungsakteure potenziell konfrontiert sehen: Den Verhandlungsgegner, die interessenbasiert-involvierten Stakeholder und sonstige sekundär relevante Stakeholder (z. B. das politisch-administrative System für Verbände). Die Interaktion mit dem Verhandlungspartner ist für den 353
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Entscheidungsprozess wesentlich und wird daher als eigenständige Umwelt im Rahmen dieses Modells bedacht (vgl. Kapitel 6.1). Auch deutet vieles darauf hin, dass die Medienöffentlichkeit, obwohl nur Teil der Stakeholdergruppe „Sonstige“, nicht nur als Scharnier zu den anderen Anspruchsgruppen fungiert, sondern auch mehr und mehr zu einer Anspruchsgruppe eigener Qualität wird (d. h. es ist ein Ziel an sich, in der Medienöffentlichkeit gut dazustehen; vgl. Kapitel 2.3.2 zu den empirischen Befunden zu Medialisierungsfolgen und Ausführungen in Kapitel 4.2 zur Konzeption des kommunikativen Handelns der Entscheider). Dieser Aspekt wird in der Umwelt Medien und Öffentlichkeit bedacht (vgl. Kapitel 6.3). Die weiteren Stakeholder können wiederum danach ausdifferenziert werden, ob es sich um primäre Stakeholder handelt (also solche, die einen unmittelbaren substantiellen Einfluss auf die Organisation ausüben können; Röttger et al., 2018, S. 67) und wie hoch deren Aktivierungslevel im Sinne der Situational Theory of Publics ist (involvement, problem recognition, etc., J. E. Grunig & Hunt, 1984, S. 145). Dabei ist insbesondere bei denjenigen Anspruchsgruppen, die zum Typus der interessenbasiert-involvierten Stakeholder gehören, davon auszugehen, dass sie vor dem Hintergrund dieser beiden Kriterien für die Organisation von großer Bedeutung sind. Konkret handelt es sich um die Mitglieder von Verbänden und Parteien (Jentges et al., 2012, S. 386; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 350), die Wähler in der Politik (Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 347) und bei Unternehmen um die Mitarbeiter, Kunden und ggf. die Investoren. Vor allem aber diejenige Gruppe, deren Interessen unmittelbar verhandelt wird, ist im Zusammenhang der hier betrachteten organisationalen Umwelt von ausschlaggebender Bedeutung. Beschrieben wird dieses spezielle Verhältnis durch das sog. Prinzipal-Agent-Phänomen (ursprünglich Spence & Zeckhauser, 1978). Es bezieht sich auf solche Phänomene, die entstehen, wenn ein Akteur im Auftrag anderer (ver-)handelt (Miller, 2005, S. 204): Zentral ist dabei insbesondere die Informationsasymmetrie, d. h. der Agent (im vorliegenden Fall der Verhandler) verfügt über deutlich mehr Informationen, die in sein Handeln einfließen, als diejenigen Akteure, die ihn zum Handeln beauftragt haben. Die Gruppe an dahinter stehenden Personen, der sog. Prinzipal, kann aber nur das Ergebnis seines Handelns sehen (Miller, 2005, S. 205). Darüber hinaus ist die Frage nach einem geeigneten Anreizsystem in der Interaktion zwischen Prinzipal und Agenten bedeutsam, damit der Agent im Sinne des Prinzipals (im vorliegenden Fall im Sinne der Organisation und ihrer konstituierenden Mitglieder) agiert (Miller, 2005, S. 206). Der Gedanke der Prinzipal-Agent-Verbindung verdeutlicht die Zentralität, die der Beziehung zu denjenigen Stakeholdertypen zukommt, die einen konstituierenden Einfluss auf die Organisation und den Repräsentanten haben (das sind insbesondere Gruppen und Personen aus dem Typus interessenbasiert-involvierte Stakeholder wie z. B. Mitglieder
6.2 Die Brücke zwischen Mikro und Meso
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eines Verbandes, vgl. Kapitel 3.2.1). Dieser Grundgedanke hilft außerdem dabei, die wesentlichen Merkmale der Interaktion zwischen den individuellen Verhandlungspersonen und den unmittelbar betroffenen und involvierten Anspruchsgruppen abzuleiten und so die Verknüpfung zwischen der Mikroebene des individuellen Verhandlungsakteurs und der Mesoebene der Organisation herzustellen. Diese Merkmale der Interaktion zwischen dem Repräsentanten und den Anspruchsgruppen im Sinne der Prinzipal-Agent-Beziehung, lassen sich zum einen auf einer formalen Ebene ansiedeln (siehe Tabelle 2). Hier spielt die Art des Mandats (decision latitude bei Druckman, 1977, S. 30; Accountability bei van Kleef et al., 2007, S. 130) und die Position bzw. der Status des Verhandlungsakteurs eine Rolle. Je restriktiver das Mandat, desto kompetitiver der Verhandlungsstil, desto länger dauert die Kompromisssuche (Druckman, 1994; Gelfand & Realo, 1999; Klimoski, 1972). Im Gegensatz dazu agieren Verhandlungsakteure, die eine hohe und zentrale formale Position in der Organisation einnehmen, souveräner, d. h. sie machen eher auch mal Zugeständnisse an den Kontrahenten und handeln nicht so stark selbstprofilierend96 wie Repräsentanten auf niedrigen und peripheren formalen Positionen in der Organisation (Pruitt & Carnevale, 1993, S. 57; Turner, 1992, S. 239; van Kleef et al., 2007, S. 132). Ein weiteres formales Merkmal der Interaktion zwischen Repräsentant und Stakeholdern ist das Mobilisierungspotential in der relevanten Anspruchsgruppe (z. B. für Protest oder Streik), was sich als zentral für das Verhandlungsgeschehen erwiesen hat (Koch-Baumgarten, 2013, S. 197). Hieran knüpft auch unmittelbar die Frage danach an, wie in den eigenen Reihen geworben wird. Sellers (2010, S. 216–217) kommt in seiner Studie zu politischen Entscheidungsprozessen in den USA etwa zu dem Schluss, dass insbesondere eine immer volatiler werdende, erodierende Unterstützungsbasis als Ursache dafür gesehen werden kann, dass die Kommunikationsmaßnahmen der politischen Akteure mehr und mehr einer publikumsorientierten Medienlogik folgen. Neben der Frage, ob man es schafft, in den eigenen Reihen Unterstützung zu generieren, stellt sich darüber hinaus auch dieselbe Frage für die breite Öffentlichkeit. Dieses Mobilisierungspotential in den eigenen Reihen findet demnach seine Erweiterung in der Medienöffentlichkeit, was mit zentralen Folgen für die Gestaltung des kommunikativen Handelns einhergeht (z. B. inwiefern und wann Kampagnen eingesetzt werden; vgl. Kapitel 6.3).
96 Mit profilierendem Handeln ist hier insbesondere solches Handeln gemeint, das darauf abzielt, den eigenen Anspruchsgruppen zu demonstrieren, dass man deren Interessen mit Nachdruck und ohne Einschränkung vertritt. Das kann sowohl am Verhandlungstisch durch besonders kompetitives Auftreten erfolgen als auch in der Medienöffentlichkeit, indem entsprechende Botschaften öffentlich verbreitet werden. 355
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
In der Summe kann für diese formalen Merkmale der Interaktion zwischen dem Verhandlungsakteur als Agenten und der Anspruchsgruppe als Prinzipal eine moderierende Wirkung angenommen werden: Je freier das Mandat, je höher und zentraler die Position des Verhandlungsakteurs und je größer das Mobilisierungspotential, desto geringer sollten die Eindrücke aus der Medienöffentlichkeit ins Gewicht fallen, wenn der Entscheider seine strategisch-taktischen Überlegungen anstellt. Dann fällt es dem Entscheider tendenziell leichter, gelassen zu bleiben, wenn er potenziell schädliche Einflüsse aus der Medienöffentlichkeit auf seine unmittelbaren Anspruchsgruppen vermutet, da der Druck, der seitens seiner Auftrags- und Vollmachtgeber auf ihn ausgeübt wird, nicht ganz so groß ist. Darüber hinaus legen vor allem die Befunde zum Third-Person-Effekt nahe (vgl. Jeremy Cohen et al., 1988), dass je näher der Entscheider an seinen Anspruchsgruppen, d. h. je geringer die soziale Distanz, desto geringer fallen auch seine Einflussvermutungen aus, sodass der Impetus, davon ausgehend zu handeln, ebenfalls geringer sein sollte. Druck durch die Anspruchsgruppen kann aber nicht nur über diese formale Ebene der Interaktion abgebildet werden. Allein die Tatsache, dass der Verhandlungsakteur potenzielle Zuschauer seines Handelns wahrnimmt, sich also von den Anspruchsgruppen, deren Interessen er am Verhandlungstisch vertreten soll, beobachtet fühlt, kann den Entscheidungsprozess entscheidend verändern (B. R. Brown, 1977, S. 285; Turner, 1992, S. 238). Diese Wahrnehmung und das Gefühl, beobachtet zu werden, beziehen sich auf die sozioemotionale Ebene der Beziehung zwischen Repräsentanten und Anspruchsgruppen (siehe Tabelle 2). Hier ist zunächst als sozioemotionales Pendant zur formalen Position die soziale Gruppenidentität des Verhandlungsakteurs zu nennen (Thompson et al., 2010, S. 502; Turner, 1992, S. 239). Insbesondere Personen, die einer Gruppe angehören wollen, in dieser aber eher eine Randposition einnehmen, neigen zu profilierendem Handeln (van Kleef et al., 2007; am Verhandlungstisch äußert sich das in kompetitivem Verhandeln, weil man damit scheinbar besonders vehement die Interessen der eigenen Anhänger vertritt). Damit einher geht das soziale Motiv des Face Savings (B. R. Brown, 1977, S. 275; Druckman, 1977, S. 41), also das Bedürfnis vor den eigenen Anhängern sein Gesicht zu wahren und einen fähigen, durchsetzungsstarken und zuverlässigen Eindruck zu erzeugen (B. R. Brown, 1977, S. 276). Das Motiv kann situativ stärker ausgeprägt sein, wenn der Entscheider sich unter Beobachtung fühlt und zugleich an seiner Rückendeckung bzw. Unterstützungsbasis zweifelt (B. R. Brown, 1977, S. 283, 285; Druckman, 1977, S. 32). Dieses wahrgenommene Ausmaß an Unterstützung bezieht sich insbesondere auf das Vertrauen, das er seitens der Anhänger genießt (Turner, 1992, S. 239). Sein profilierendes Handeln orientiert sich dann, wenn er sich nicht genug unterstützt fühlt bzw. die Sorge hat, dass ihm die Anhänger misstrauen könnten (Druckman, 1994; Frey & Adams, 1972), danach, welche Ansprüche und
6.2 Die Brücke zwischen Mikro und Meso
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Erwartungen der Anhänger er wahrnimmt. Diese können sich zum einen auf sein Handeln am Verhandlungstisch (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 37; Walton & McKersie, 1965, S. 5), zum anderen aber auch auf seine öffentliche Kommunikationsaktivitäten wie Informationen zu Verhandlungszwischenständen beziehen (Baugut & Grundler, 2009, S. 271; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 10). Im Gegensatz zu den formalen Merkmalen der Interaktion zwischen dem Repräsentanten und seinen Anspruchsgruppen, kann für diese sozioemotionalen Merkmale, die auf Wahrnehmungen und Eindrücken fußen, angenommen werden, dass sie durch die Auseinandersetzung mit den medial vermittelten und öffentlichen Kommunikationsinhalten der Medienöffentlichkeit selbst geprägt werden. Man denke beispielweise an eine Situation, in der in der Berichterstattung die Kompetenz des Verhandlungsführers angezweifelt wird. Dies könnte bei diesem die Sorge nähren, dass er unter den eigenen Anhängern nicht mehr ausreichend Unterstützung erfährt. Im Resultat entsteht dann ein ähnlicher Effekt wie bei den formalen Merkmalen: Je mehr sich der Verhandlungsakteur unter Druck gesetzt fühlt, desto eher neigt er zu profilierendem Handeln, und zwar nicht nur am Verhandlungstisch, sondern vermutlich auch im Rahmen seiner öffentlichen Kommunikation. Die Wirkung, die hinsichtlich dieser sozioemotionalen Eigenschaften entsteht, entspricht demnach der eines Mediators im Kernzusammenhang zwischen Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit und dem Entscheidungshandeln. In der Gesamtschau der Verhandlungsumwelt im vorangegangenen (vgl. Kapitel 6.1) und der organisationalen Umwelt im vorliegenden Kapitel zeigt sich Folgendes: Im Resultat agieren die Repräsentanten unter zwei Logiken, die mitunter widersprüchliche Implikationen liefern können (boundary role conflict bei McKersie & Walton, 1992, S. 281; Walton & McKersie, 1965, S. 284, vgl. außerdem: Benz, 2007, S. 115; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 157; R. D. Putnam, 1988, S. 432). Einerseits ist es am Verhandlungstisch notwendig, Konzessionen zu machen und sich zu einigen, um den Interessenskonflikt zu lösen. Andererseits fordern die Mitglieder und andere Anspruchsgruppen, dass ihre Interessen möglichst umfänglich vertreten werden und daher keine oder maximal minimale Zugeständnisse an die Gegenseite gemacht werden (Benz, 2007, S. 115; Douglas, 1992, S. 264; Klimoski, 1972, S. 364; Pruitt & Carnevale, 1993, S. 56; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 8; Susskind, 2006, S. 278; Turner, 1992, S. 235). Dieses Spannungsverhältnis ist insbesondere dann stark ausgeprägt, wenn es sich um zero-sum-games handelt (z. B. bei Entscheidungen über Verteilungsfragen), in denen klare Gewinner und Verlierer entstehen (Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 420). Als Königsdisziplin gilt dabei folgendes: „An effective negotiator is one who can influence his opponent’s actions and structure his constituent’s expectations in a direction that makes agreement inevitable“ (Druckman, 1977, S. 32). In dieser doppelten Interaktionsschiene 357
358
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
darf nun die Rolle der Medien und der breiten Öffentlichkeit als weitere Umwelt nicht außer Acht gelassen werden. Diese soll nachfolgend aufgearbeitet werden.
6.3
Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit
6.3
Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit
Neben dem Verhandlungskontext, in dem die unmittelbare Konfrontation und Interaktion mit dem Kontrahenten stattfindet, und der organisationalen Umwelt, die das Zusammenspiel mit den relevanten Stakeholdern beschreibt – allen voran denjenigen, die die Organisation konstituieren und deren Interessen am Verhandlungstisch verhandelt werden –, muss gerade vor dem Hintergrund der hier verfolgten Zielsetzung schließlich noch eine dritte Umwelt berücksichtigt werden: die der Medien und der Öffentlichkeit (vgl. zur Begründungsgrundlage Kapitel 3.2.3). Öffentlichkeit wird in der vorliegenden Arbeit verstanden als ein frei zugängliches und unabgeschlossenes intermediäres Kommunikationssystem zwischen Bürgern, Politik und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, in dem der Austausch von Information und Meinungen in einer Gesellschaft stattfindet und diese verdichtet sowie synthetisiert werden (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 12, 15–16; Habermas, 1997, S. 436). Die Medien stellen dabei die zentrale inhaltliche, soziale und technische Vermittlungs- und Strukturierungsinstanz für die öffentlichen Kommunikationsprozesse zwischen den verschiedenen Teilnehmern und Teilpublika dar (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 24; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 127; Habermas, 1997, S. 435). Es geht nun darum, diejenigen Merkmale zu identifizieren, die die Interaktion zwischen dem Entscheidungsakteur97 und den Instanzen Öffentlichkeit und Medien charakterisieren (siehe Tabelle 3) und im Resultat den Zusammenhang zwischen der subjektiv wahrgenommenen Medienöffentlichkeit (i. e. den wahrgenommenen medial verbreiteten sowie öffentlich kommunizierten Inhalten) und dem Entscheidungshandeln beeinflussen.
97 Mit Entscheidungsakteur ist sowohl der individuelle Verhandelnde als auch seine Organisation gemeint – also sowohl der individuelle als auch der komplexe Entscheidungsakteur als eine Einheit. Nur da, wo die Unterscheidung Relevanz hat, wird explizit zwischen Individuum und Organisation unterschieden.
6.3 Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit Tab. 3
359
Übersicht über die Merkmale der Umwelt Medien und Öffentlichkeit
Merkmal
Funktion für den Kernzusammenhang Strukturelle Rahmenbedingungen Moderator Ausmaß an Kommerzialisierung des Mediensystems/einzelner Angebote/ Plattformen Interaktion mit der Medienöffentlichkeit Machtressourcen Moderator Harte Machtressource: Ressourcenausstattung und Professionalisierung der PR
Weiche Machtressource: Eigene Position in der Medienöffentlichkeit Abhängig von: Prominenz/öffentliches Image; Existenz von Konkurrenten um Aufmerksamkeit/ Deutungshoheit und Fürsprecher, Mobilisierungspotential
Moderator
Annahmen zur Wirkweise
Immer, wenn ein hoher Kommerzialisierungsgrad herrscht, wird eine ausgeprägte Orientierung an der publikumsorientierten Medienlogik besonders honoriert.
Je besser die Ressourcenausstattung und je professionalisierter die PR eines Entscheidungs akteurs, desto eher wird eine publikumsorientierte Medien logik zur Maßgabe des Handelns. Dies gilt insbesondere für das kommunikative Handeln, aber auch für das Kernentscheidungshandeln (weil mit dem Ausbau der PR auch Einfluss auf die Organisationspolitik einhergeht). Je besser die Position in der Öffentlichkeit, desto leichter fällt es dem Entscheider, seine Ziele mit Blick auf die mediale & öffentliche Arena umzusetzen. In kommunikativen Krisen wirkt eine gute Position wie ein Puffer, der die negativen Folgen abfedert.
359
360
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Sozioemotionale Merkmale der Interaktion Mediator Merkmale der Beziehungsebene Entscheidungsakteur – Medien/Journalisten: • Machtverhältnis • Intensität • Grad an Routinisierung und Institutionalisierung • Informalitätsgrad • Vertrauen • Zuschreibungen und Einstellungen ggü. Medien/Journalisten Merkmale der Beziehungsebene Entscheidungsakteur – allgemeine Öffentlichkeit Positives Image in allg. Öf- Moderator fentlichkeit als Ziel eigener Qualität
Perspektive auf die allg. Öffentlichkeit Wahrgenommene Ansprüche aus der allg. Öffentlichkeit
Mediatoren
Je besser das Verhältnis zu Medien und Journalisten, desto eher wird der Weg über die Medienöffentlichkeit als erfolgsversprechende strategische Option erachtet, um seine Ziele in der medial vermittelten öffentlichen Arena und der Kernentscheidungsarena zu erreichen.
Je mehr die allgemeine Öffentlichkeit eine Anspruchsgruppe eigener Qualität erachtet wird, desto sensibler wird der Zusammenhang zwischen den Eindrücken aus der Medienöffentlichkeit und den Folgen für das Entscheidungshandeln. Zudem kann angenommen werden, dass das Handeln in der Verhandlungsarena dem in der medienvermittelten Öffentlichkeit nachgeordnet wird. Je positiver die Beziehung, desto eher wird die Medienöffentlichkeit als erfolgsversprechende strategische Option erachtet.
6.3 Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit
Funktionen von Medien Moderatoren & Mediatoren Betrachtungsdimensionen: • Inwiefern spielt die jeweilige Funktion eine Rolle für die Entscheider? • Wie gut erfüllen die Medien sie? a) Informationsfunktion b) Arenafunktion: Bedeutung und Bewertung verschiedener Interak tionsräume Eigenschaften der Interaktionsräume differenziert nach verschiedenen Stakeholdern • Welche/r Kanal/ Plattform mit welchen Eigenschaften ist vorgesehen? • Welche Ziele werden jeweils verfolgt? • Unter welchen Bedingungen können sie über die Kanäle realisiert werden? • Wie fällt davon ausgehend die Bewertung aus?
361
Je wichtiger die Funktionen und je besser sie durch die Medien erfüllt wird, desto intensiver setzen sie sich mit den öffentlich wahrgenommenen Inhalten auseinander und desto wichtiger werden die daraus gewonnen Informationen im Rahmen der strategisch-taktischen Überlegungen. D. h. die Verzahnung zwischen dem zentralen unabhängigen und den abhängigen Konstrukten im vorliegenden Modell wird stärker. Die Bewertung der Funktionserfüllung ist vermutlich abhängig von der Auseinandersetzung mit den aktuellen Inhalten in der Medienöffentlichkeit, sodass auch eine mediierende Wirkung auf die abhängigen Konstrukte entstehen kann: Je besser die Funktionserfüllung ausgehend von den aktuell wahrgenommenen Inhalten bewertet wird, desto mehr Gewicht erfahren die jeweiligen Informationen in den strategisch-taktischen Überlegungen.
Es lassen sich hier verschiedene Merkmalsbereiche unterscheiden. 1) Erstens müssen strukturelle Merkmale berücksichtigt werden, insbesondere das Ausmaß an Kommerzialisierung in dieser Umwelt: Je kommerzialisierter das Mediensystem bzw. stärker die kommerzielle Ausrichtung einzelner Angebote und Plattformen, über die kommuniziert wird, desto mehr wird es honoriert, wenn Akteure die Prinzipien der publikumsorientierten Medienlogik zur Maßgabe ihres Handelns machen (z. B. Betonung der Konflikthaftigkeit, Fritz, 2012, S. 10; ähnliche Befunde liefern auch Amsalem et al., 2017). Davon ausgehend kann angenommen werden, dass das Ausmaß an Kommerzialisierung nicht nur als (zusätzlicher) unabhängiger Faktor des kommunikativen Handelns, sondern auch als Moderator wirkt: So wird 361
362
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
beispielsweise eine öffentliche Diffamierungskampagne gegen den Kontrahenten als Antwort auf die Auseinandersetzung mit den Inhalten in der Medienöffentlichkeit nur über bestimmte Medienangebote als attraktive Option angesehen (z. B. eher über Boulevard- denn Qualitätsmedien). 2) Blickt man, zweitens, auf die konkrete Interaktion zwischen Verhandlungsakteuren und den Bereichen Medien und Öffentlichkeit, so lassen sich zunächst Machtressourcen als relevante Merkmale identifizieren (vgl. Tabelle 3). Als harte Machtressource gilt hierbei die Ausstattung und Professionalisierung der Public Relations-Aktivitäten eines Verhandlungsakteurs. Ein hoher Professionalisierungsgrad der PR in der eigenen Organisation wirkt ähnlich wie der Kommerzialisierungsgrad des Mediensystems/-angebots als Anreizstruktur, intern: Je professionalisierter die PR, desto eher werden Maßnahmen in Betracht gezogen, die einer kommerziell, d. h. am breiten Publikum orientierten Medienlogik entsprechen. Dabei meint Professionalisierung insbesondere den Aufbau von Wissen und Kompetenz im Umgang mit Medien und Öffentlichkeit (z. B. wie kann ich mir die Prinzipien der Medien zu Nutze machen?, vgl. Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 350) und damit einhergehend auch die effiziente Gestaltung der Interaktion mit Medien und Öffentlichkeit auf struktureller Ebene (z. B. Etablierung von Filtermechanismen, um die Informationsflut gezielt zu sichten; vgl. Walgrave & Dejaeghere, 2017, S. 237–238; ähnliches vermutet auch Raupp, 2009, S. 280). Eine gute Ausstattung mit personellen und finanziellen Ressourcen resultiert nicht nur in umfangreicheren und qualitativ hochwertigeren kommunikativen Aktivitäten (z. B. mehr und intensivere Kontakte zu Journalisten; van Aelst et al., 2010, S. 321; vgl. außerdem Fawzi, 2014, S. 75; J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 129–133; Koch-Baumgarten, 2013, S. 66). Mehr Personal und finanzielle Mittel sind insbesondere in Ausnahmesituation als Puffer von Vorteil, um negative Folgen abfedern zu können, indem man schnell und mit großer Durchschlagskraft reagieren kann (z. B. teure Counter Framing-Kampagnen, vgl. Kriesi et al., 2009, S. 347; ein solches Beispiel zeigt Kumar, 2007, S. 138, im Zusammenhang des Tarifkonflikts zwischen Teamsters und UPS auf). Insofern scheint eine moderierende Wirkung auf den Zusammenhang zwischen wahrgenommene Medienöffentlichkeit und Kommunikationshandeln relativ einleuchtend. Aber die Tatsache, dass eine professionalisierte und gut ausgestattete PR-Abteilung auch mit mehr organisationaler Macht und damit auch Einfluss auf die Organisationspolitik einhergeht (das sehen zumindest idealtypische PR-Konzeptionen vor, vgl. Röttger, 2015, S. 15–16), legt nahe, dass auch für das Verhandeln moderierende Wirkungen vermutet werden können. Neben den harten lassen sich auch weiche Machtressourcen als Merkmal der Interaktion zwischen Entscheider und Medien sowie Öffentlichkeit ausmachen. Diese knüpfen insbesondere an der Position an, die der Entscheidungsakteur im
6.3 Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit
363
Kommunikations- und Interaktionssystem Öffentlichkeit einnimmt: Ein prominenter Akteur oder einer mit einem positiven öffentlichen Image (Fawzi, 2014, S. 258; Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 36; Kumar, 2007, S. 147, 180), der mit wenig unmittelbarer Konkurrenz (z. B. von vergleichbaren Akteuren) mit Blick auf öffentliche und mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung konfrontiert ist (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 27; Raupp, 2009, S. 278–279; Sellers, 2010, S. 216–217), stattdessen (prominente) Fürsprecher und Verbündete in der Öffentlichkeit an seiner Seite weiß (Ihlen & Thorbjørnsrud, 2014; Sellers, 2010, S. 11) und darüber hinaus über ein hohes öffentliches Mobilisierungspotential verfügt (Landerer, 2015, S. 272–273; Melenhorst, 2015, S. 309), besitzt viele weiche Machtressourcen (Koch-Baumgarten, 2014, S. 188; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 504). Denn in dieser Position fällt es ihm leichter Aufmerksamkeit dann zu generieren, wann er es möchte (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 36; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 432). Auch sollten die Hürden geringer sein, wenn er die Deutungshoheit in der Debatte erlangen und öffentliche Unterstützung generieren will (Fritz, 2012, S. 8; Koch-Baumgarten, 2014, S. 188). Diese vorteilhafte Stellung in der Öffentlichkeit sollte dazu führen, dass der Entscheider sein kommunikatives Handeln also insgesamt aus einer komfortableren Position heraus gestalten kann (i. e., moderierende Wirkung): In einer kommunikativen Krise beispielweise wirken ein positives öffentliches Image, eine hohes Mobilisierungspotential als auch Verbündete wie ein Puffer, der die negativen Folgen aus dieser Krise abfedert. Wenn man proaktiv eine öffentliche Debatte nach seinem Gusto anstoßen möchte, dann wirken diese Faktoren wie ein Hebel, der dazu beiträgt, dass dies besser und leichter gelingt (vgl. z. B. Kepplinger, 2009b, S. 15, 25; Koch-Baumgarten, 2013, S. 32). 3) Neben den weichen und harten Machtressourcen in der Interaktion zwischen den Entscheidern und der Umwelt Medien und Öffentlichkeit, lassen sich, genau wie in den anderen beiden bislang identifizierten Umwelten, auch sozioemotionale Merkmale identifizieren. Diese bilden den dritten Bereich an Merkmalen in dieser Umwelt (vgl. Tabelle 3). Bereits in Kapitel 2.2 offenbarte sich die Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Funktionseliten und den Medien – bzw. auf der individuellen Interaktionsebene mit den Journalisten – als ein spannungsreiches Wechselspiel, das gern mit den feurigen Schrittwechseln eines Tangos verglichen wird (vgl. z. B. Strömbäck, 2011a, S. 426; van Aelst et al., 2010). Entsprechend kann diese Beziehung als dynamisches Machtverhältnis begriffen werden, in dem mal der eine, mal der andere „führt“. Zur Konzeption bietet sich insbesondere das Intereffikationsmodell von Bentele und Kollegen an (Bentele et al., 1997; Bentele & Nothhaft, 2008): Demnach finden zwischen Journalisten und Akteuren aus anderen Bereichen (im ursprünglichen Modell sind es PR-Treibende) Induktions- und Adaptionsbeziehungen auf verschiedenen Dimensionen statt (zeitlich, sachlich, sozialpsychologisch). 363
364
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Nimmt man diesen Ansatz als Ausgangspunkt, um die Perspektive der Entscheider zu modellieren, so lassen sich ausgehend von der sozialpsychologischen Dimension in Benteles Modell zwei potenzielle Enden eines Kontinuums im Machtverhältnis zu den Medien ausmachen: Darin steht die wahrgenommene Induktionschance dem wahrgenommenen Adaptionsdruck diametral gegenüber. Die Befunde von Landerer (2015) im Zusammenhang mit Entscheidungsprozessen in der Schweiz liefern eindrückliche Beispiele für diese beiden Pole im Machtverhältnis der Entscheider zu den Medien: Er identifiziert zum einen Politiker, die sich gegenüber den Medien selbstsicher und selbstwirksam fühlten (i. e., hohe wahrgenommene Induktionschance), in der Folge die Medien auch als vielversprechende strategische Option begriffen – man müsse die Funktionsprinzipien der Medien nur für sich zu nutzen wissen (z. B. zur richtigen Zeit anrufen, Landerer, 2015, S. 269–270). Demgegenüber standen Politiker, die sich eher abgehängt fühlten, den Eindruck hatten, dass die Parlamentsarbeit nicht zähle, wenn man nicht auch öffentlich engagiert und aktiv sei (i. e., hoher wahrgenommener Adaptionsdruck); die Medien galten dann eher als Störfaktor denn Ermöglicher (Landerer, 2015, S. 266–267). Neben dem Machtverhältnis lässt sich die Beziehung zu Medien und Journalisten außerdem über ihre Intensität (vgl. z. B. die Befunde von Fawzi, 2014, S. 178; Kepplinger & Marx, 2008, S. 189), das Ausmaß ihrer Routinisierung und Institutionalisierung (Davis, 2009, S. 204–205; Raupp, 2009, S. 273), und den Informalitätsgrad im persönlichen Austausch mit den Journalisten charakterisieren (Borucki, 2014, S. 344; Davis, 2007, S. 191, 193; Reunanen et al., 2010, S. 297). Zentral ist in der Beziehung vor allem aber das Vertrauen, das die Entscheider den Medien und Journalisten entgegen bringen (Brants et al., 2010; Marx, 2009). Hieran knüpft beispielweise auch die Befürchtung, dass im Zuge des Medialisierungsprozesses ein Klima des Misstrauens zwischen Journalisten und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern entstehe (F. Esser & Matthes, 2013, S. 186). Dies lässt sich durch die bislang vorhandenen Befunde aber nicht bestätigen – im Gegenteil, das Verhältnis scheint bedingt durch die hohe Bedeutung von informellen Kontakten (vgl. z. B. Borucki, 2014; Kepplinger & Marx, 2008) eher harmonisch und vertrauensvoll (vgl. z. B. die Befunde von Marx, 2009; Pfetsch & Mayerhöffer, 2011). Schließlich sind noch weitere spezifische Zuschreibungen an die und Einstellungen gegenüber den Medien und Journalisten als mögliche Merkmale der Beziehung denkbar. Hier finden sich aber jeweils nur vereinzelte Hinweise, von denen ausgehend keine klare Begründungslinie für die vorliegende Modellierung abgeleitet werden kann. Zum Beispiel verweisen manche Autoren darauf, dass die Entscheider den Journalisten insgesamt wenig Expertise in ihrem Themenfeld zuschreiben und auch insgesamt eher der Meinung sind, dass das Niveau der Berichterstattung nicht sehr hoch ist (Davis, 2007, S. 187; Fawzi, 2014, S. 197). Würde man jedoch ausgehend davon
6.3 Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit
365
erwarten, dass diese Akteure sich den Medien weniger zuwenden, dann täuscht man: Ungeachtet ihrer negativen Einstellungen nutzen sie die Medien weiterhin als strategische Ressource (Fawzi, 2014, S. 197). Abgesehen von den unklaren Implikation aus diesen Befunden zur Kompetenzzuschreibung an die Journalisten lässt sich aber folgender Grundmechanismus vermuten: Je besser aus Sicht der Entscheider die Beziehung zu Medien und Journalisten, d. h. je machtvoller sie sich ihnen gegenüber fühlen, je intensiver, routinierter, informeller und vertrauensvoller das Verhältnis, desto eher erachten die Entscheidungsträger die Medien als erfolgsversprechende strategische Plattform, um ihre Ziele zu erreichen. Dabei geht es nicht nur um kommunikative Ziele wie die Herstellung von Legitimität, sondern auch den Erfolg in der Verhandlungsarena. So ist etwa denkbar, dass bei einem vertrauensvollen Verhältnis zu den Journalisten eher eine Information aus dem Verhandlungskontext geleaked wird, weil man sich gewiss ist, dass und wie sie den Weg in die Öffentlichkeit findet (man hat den Eindruck der Kontrolle). Schließlich muss aber berücksichtigt werden, dass diese Beziehung stark auf den Eindrücken der Beteiligten fußt und folglich auch durch das geprägt werden kann, was sie aus der Medienöffentlichkeit aktuell wahrnehmen. Insofern ist eine mediierende Wirkung dieser Beziehungsebene zwischen Entscheider und Medien bzw. Journalisten ebenfalls möglich, wenn man von einem volatilen Konstrukt ausgeht. Über das Verhältnis zu den Medien und Journalisten hinaus lässt sich noch eine zweite Beziehungsebene ausmachen, die als Merkmal der Umwelt Medien und Öffentlichkeit den Kernzusammenhang des vorliegenden Modells prägt: Die wahrgenommene Beziehung zur allgemeinen Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu Journalisten und Medien als konkrete Individuen und Organisationen, ist das Verhältnis zur allgemeinen Öffentlichkeit deutlich weniger greifbar, weil es sich nicht an ein konkretes Objekt knüpfen lässt. Nichtsdestotrotz ließ sich im Zuge zunehmender Medialisierung die Tendenz beobachten, dass es mehr und mehr als Zweck per se erachtet wurde, in der breiten Öffentlichkeit gut da zu stehen (Röttger et al., 2018, S. 76; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 351). In der Konsequenz wurde mehr und mehr Selbstdarstellung betrieben, die einer publikumsorientierten Medienlogik folgt (Fawzi, 2014, S. 84; Jentges et al., 2012, S. 386). Davon ausgehend kann angenommen werden, dass der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation von öffentlich kommunizierten Inhalten einerseits und dem Entscheidungshandeln gerade dann sehr eng verzahnt ist (moderierende Wirkung), wenn es als Ziel eigener Qualität erachtet wird, in der Öffentlichkeit ein positives Bild von sich zu erzeugen bzw. ein negatives zu vermeiden. Insbesondere dann kann es als wahrscheinlich erachtet werden, dass die Ziele in der Verhand365
366
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
lungsarena denen in der medial vermittelten öffentlichen Arena zumindest in der Tendenz nachgeordnet werden. Darüber hinaus hat die bisherige Diskussion in der Literatur folgende Dimensionen zur Charakterisierung dieser Beziehung nahegelegt: Zum einen die Frage, welche Perspektive auf die Öffentlichkeit herrscht – gilt sie eher als Stör- oder als Ermöglichungsfaktor (Reunanen et al., 2010, S. 301–302; vor allem im Hinblick auf die Kompromisssuche hinter verschlossenen Verhandlungstüren, vgl. Czada, 2014, S. 120; Lehmbruch, 2000, S. 26). Zum anderen das Ausmaß, indem die Entscheidungsträger den Eindruck haben, dass an sie aufgrund ihrer Rolle in gesellschaftlich relevanten Problemfragen ethisch-moralisch aufgeladene Ansprüche herangetragen werden (i. e., sie sollen gesellschaftliche Verantwortung und damit einhergehend eine moralische Vorbildfunktion übernehmen, vgl. hierzu Jarren, 1994, S. 654–655; Keller, 1991, S. 4). Analog zur wahrgenommenen Beziehung zu Medien und Journalisten (siehe oben) kann auch hier vermutet werden, dass diese Dimensionen der Beziehung zur allgemeinen Öffentlichkeit von dem beeinflusst werden, was die Entscheider in der Medienöffentlichkeit wahrnehmen. Davon ausgehend werden dann wiederum die Handlungen in der öffentlichen und Verhandlungsarena beeinflusst (Mediator). Der Wirkmechanismus, der hier entsteht, könnte dem ähneln, wie er im Zusammenhang mit der Interaktion mit den eigenen Anspruchsgruppen diskutiert wurde (vgl. Kapitel 6.2): Je weniger Druck der Entscheider verspürt, desto freier, souveräner und flexibler mit Blick auf die situativen Anforderungen kann er agieren. Je mehr er jedoch die Öffentlichkeit als Störfaktor begreift und je höher die moralischen Ansprüche an ihn, desto mehr entsteht eine Situation, wie sie im Zusammenhang mit dem restriktiven Mandat beschrieben wurde. Schließlich hat insbesondere die funktionale Perspektive auf Medien und Öffentlichkeit (vgl. Kapitel 3.2.2.1) eine weitere Merkmalsdimension auf dieser sozioemotionalen Ebene der Interaktion zwischen Entscheidern und der Umwelt Medien und Öffentlichkeit nahe gelegt: Die Frage, welche Funktion Medien und Öffentlichkeit für die Entscheidungsträger in welcher Art und Weise wie gut erfüllen, prägt zentral deren Umgang mit dieser Umwelt. Leider fehlt es bislang an Forschung, die dieser Frage dezidiert – d. h. aus einer funktionalen Betrachtungsweise heraus – nachgeht (Fawzi, 2014, S. 310). Auf theoretisch-konzeptioneller Ebene wurden zwei Funktionen identifiziert: Zum einen erfüllen Medien eine Informationsfunktion und zum anderen eine Arenafunktion für (politische) Entscheidungsträger (van Aelst & Walgrave, 2016). Die Fragen, inwiefern diese Funktionen der Medien für die Entscheidungsträger tatsächlich eine Rolle spielen und wie gut die Medien diese Funktionen aus Sicht der Entscheider erfüllen, können als zwei weitere Merkmale der Umwelt Medien und Öffentlichkeit modelliert werden (vgl. Tabelle 3):
6.3 Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit
367
Die Informationsfunktion benennt die Tatsache, dass medial vermittelte oder allgemein öffentlich kommunizierte Inhalte den Entscheidern als Informationsquelle dienen. Dabei wurde zwischen einer passiven und einer aktiven Variante unterschieden. Während erstere allgemeine Informationen zur Orientierung in der aktuellen Nachrichtelage meint (z. B. Trends in der Bevölkerungsmeinung, vgl. Kepplinger & Marx, 2008, S. 191–192; vgl. außerdem: Davis, 2007, S. 186; Fawzi, 2014, S. 202), bezieht sich letztere auf solche Informationen, die die Entscheidungsakteure strategisch nutzbar machen können (z. B. Informationen zum Gegner oder zu potenziellen Ansatzpunkten für einen gemeinsamen Kompromiss, vgl. Davis, 2009, S. 205–207, vgl. außerdem Fawzi, 2014, S. 202; van Aelst & Walgrave, 2016, S. 500). Im Zusammenhang mit der Informationsfunktion spielt die Beziehung zu den Journalisten eine zentrale Rolle (siehe oben), da diese aufgrund ihrer Vernetzung und zentralen Position innerhalb der Entscheidungszirkel (zumindest in der Politik) als wichtige Quelle für solche strategisch relevanten Informationen gelten (Davis, 2009, S. 205; Kepplinger & Marx, 2008, S. 191–192). Die bisherige Forschung lässt im Hinblick auf die Informationsfunktion jedoch einen differenzierteren Blick vermissen: Insbesondere eine gemeinsame Betrachtung und Gegenüberstellung von medialen und nicht-medialen Informationsquellen könnte sehr aufschlussreich sein (zu medialen Quellen vgl., Fawzi, 2014, S. 186; Landerer, 2015, S. 242–243), da bislang unklar ist, welche Rolle Medien im Vergleich zu anderen Quellen spielen (vgl. Kapitel 5.1). Das Konzept der wahrnehmungsbasierten Medienöffentlichkeit in der vorliegenden Modellierung bezieht dabei explizit alle potenziellen Quellen mit ein, zentral ist nur, dass es sich um Inhalte handelt, die potenziell öffentlich wahrnehmbar sind (vgl. Kapitel 5). Die Arenafunktion bezieht sich dagegen darauf, dass Medien und die allgemeine Öffentlichkeit als Plattform dienen können, um mit den verschiedenen Anspruchsgruppen der Entscheidungsträger zu interagieren (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 499). Eine Ausdifferenzierung dieser Arenafunktion kann ihren Ausgangspunkt entsprechend an den Stakeholdern nehmen, wie sie in der organisationalen Umwelt (vgl. Kapitel 6.2 und grundlegend Kapitel 3.2.1) identifiziert wurden. Der Grundgedanke hier war, dass Entscheidungsträger sich verschiedenen Anspruchsgruppen gegenüber sehen, die für sie unterschiedlich bedeutsam sind, unterschiedliche Ansprüche an sie herantragen und bei denen folglich auch ein unterschiedliches Legitimationsbedürfnis besteht (J. E. Grunig & Repper, 1992, S. 125). Diese Notwendigkeit der Legitimation impliziert, dass die Entscheider mit den Anspruchsgruppen kommunikativ interagieren müssen und das erfolgt über verschiedene Interaktionsräume bzw. -arenen (ähnlich für Unternehmen: Schmid & Lyczek, 2008, S. 70; für politische Parteien: Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 346 und Jentges et al., 2012, S. 386, spricht für Verbände von unterschiedlichen Bezugslogiken). 367
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6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Diese Interaktionsräume bilden Bestandteile der Medienöffentlichkeit, insofern sie nicht privat und vollkommen abseits der öffentlichen Beobachtung stattfinden.98 Um die konkrete Gestalt dieser Interaktionsräume zu spezifizieren, müssen Antworten darauf gefunden werden, welche Kanäle und Plattformen unter welchen Bedingungen wie gut dazu geeignet sind, spezifische Ziele mit Blick auf die jeweils anvisierte Anspruchsgruppe zu erreichen (ähnlich Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 352–353). Diese Aspekte – Kanäle und Plattformen, Bedingungen, Bewertungen, Ziele – können als Eigenschaften des Interaktionsraumes begriffen werden und als Basis dafür dienen, die Perspektive auf die Interaktionsräume als Bestandteil der Umwelt Medien und Öffentlichkeit zu modellieren. Denn die Bewertungen der Interaktionsräume vor dem Hintergrund dieser Aspekte kann man sich als Einstellungen der Entscheider gegenüber diesen Interaktionsräumen vorstellen: • Mit Blick auf die Kanäle und Plattformen zur kommunikativen Interaktion mit den Anspruchsgruppen kann zunächst nach dem Öffentlichkeitsgrad und der Frage danach differenziert werden, wie viel Einfluss diesen Kanälen grundsätzlich mit Blick auf die jeweils anvisierten Anspruchsgruppe zugeschrieben wird (vgl. hierzu z. B. Kunelius & Reunanen, 2012, S. 67).99 Der Öffentlichkeitsgrad birgt insbesondere die Frage danach, inwiefern der Weg über die allgemeine Öffentlichkeit und die Massenmedien notwendig ist, um seine Stakeholder zu adressieren (dies gilt als grundlegende Bedingung für Medialisierung, vgl. F. Esser, 2013, S. 162; Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 85; vgl. hierzu insbesondere 3.2.1). Neben den Massenmedien sind noch zahlreiche weitere Kanäle wie eigene Medien, Social Media, Fachmedien usw. denkbar (Zerfaß, 2014, S. 46,48). Die bisherige Forschung zeigt mit Blick auf den wahrgenommenen Einfluss deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Mediengattungen (Amann et al., 2012, S. 501; Fawzi, 2014, S. 234). Eine weitergehende Differenzierung nach verschiedenen Stakeholdern findet sich dagegen seltener (vgl. z. B. die Befunde von Fawzi, 2014, S. 215–216; Pontzen, 2006, S. 125).
98 Vgl. hierzu Kapitel 4, in dem dargelegt wurde, dass die medial vermittelte und öffentliche Arena verschiedene Öffentlichkeitsgrade kennt, die von der massenmedial vermittelten und allgemeinen Öffentlichkeit (maximale Ausprägung) bis hin zur Interaktion mit den Mitgliedern eines Verbandes auf einer Veranstaltung der lokalen Ortsgruppe reicht. 99 Der wahrgenommene Einfluss der Medien wird im vorliegenden Modell in zweifacher Weise berücksichtigt: An dieser Stelle als grundsätzliche Zuschreibung von Einfluss, die unabhängig von der konkreten Situation ist. In Kapitel 5.3 als ad hoc gebildetes Konstrukt auf Basis der aktuellen Wahrnehmungen aus der Medienöffentlichkeit als Teil der zentralen unabhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell.
6.3 Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit
369
• Überdies sind die Ziele von Interesse, die mit Blick auf die verschiedenen Stakeholdertypen verfolgt werden (vgl. Kapitel 4.2 sowie Bentele & Nothhaft, 2014, S. 626). Beispielweise kann es mit Blick auf die interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen das Ziel sein, diese über die eigene Arbeit zu informieren oder Imagepflege bei ihnen zu betreiben sowie eine gemeinsame Identität zu etablieren, um mittelfristig seine Einflusschancen zu sichern (Koch-Baumgarten, 2014, S. 182; Preusse & Zielmann, 2010, S. 344–345); in einer aktuellen Konfliktsituation, kann das Bestreben auch darin bestehen, kurzfristig Aufmerksamkeit zu erzeugen und sie von den eigenen Positionen zu überzeugen (Kriesi et al., 2009, S. 359). • Aus der Kombination von Zielen und Kanaleigenschaften ergeben sich wiederum die Potentiale und Risiken, die die Bedingungen definieren, zu denen über diese Kanäle und Plattformen mit den jeweiligen Anspruchsgruppen interagiert werden kann (z. B. welche Friktionen gelten etwa hinsichtlich Reichweite, Glaubwürdigkeit, Art der Kommunikation über diese Kanäle, vgl. hierzu Zerfaß, 2010, S. 363; welche Anpassungsnotwendigkeiten entstehen bei der Kommunikation über diese Kanäle, vgl. hierzu Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 352–353; wie gut lässt sich die Verbreitung der Botschaften darüber kontrollieren, vgl. z. B. Borucki, 2014, S. 344). • All das resultiert entsprechend in einer Vielzahl an positiven und negativen Bewertungen, die bestimmen, wie wichtig die Arenafunktion in dieser spezifischen Konstellation, d. h. mit Blick auf den spezifischen Interaktionsraum ist und wie gut sie jeweils erfüllt wird (vgl. hierzu bspw. die Befunde von Pfetsch & Mayerhöffer, 2011, die zeigen, dass ein Großteil der 360 befragten Politiker den Weg über die Massenmedien als sehr wirkungsvoll erachtet, um seine politischen Vorhaben darzustellen). Mit Blick auf die Wirkweise auf den Kernzusammenhang wird folgendes angenommen: Je wichtiger die beiden Funktionen und je besser sie durch die Medien erfüllt werden (hier besteht bei der Informationsfunktion noch Differenzierungspotential nach verschiedenen Quellen; bei der Arenafunktion ist das über die Interaktionsräume gegeben), desto intensiver setzen sich die Entscheidungsträger mit den öffentlich wahrgenommenen Inhalten auseinander (vorgelagerte unabhängige Faktoren) und desto wichtiger werden die daraus gewonnen Informationen im Rahmen der strategisch-taktischen Überlegungen (Moderator). Hierbei ist wahrscheinlich, dass insbesondere diejenigen Medien besonders intensiv als Quellen genutzt werden, die im Zusammenhang mit der Informations- und Arenafunktion als sehr wichtig eingestuft wurden. In der Summe kann vermutet werden, dass davon ausgehend die Verzahnung zwischen dem zentralen unabhängigen Konstrukt im vorliegenden 369
370
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
Modell – die Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit – und den abhängigen Konstrukten (insb. die strategisch-taktischen Überlegungen) zunimmt, d. h. der Zusammenhang wird stärker, weil die so gewonnen medienbezogenen Eindrücke im Vergleich zu anderen Überlegungen (z. B. ökonomische, politische, rechtliche) wichtiger werden. Das legt zumindest folgender Befund nahe: Je mehr Bedeutung einem Kanal im Rahmen der Interaktion mit den interessenbasiert-involvierten Anspruchsgruppen zugeschrieben wurde, desto eher wurde dieser mit aufwendigen kommunikativen Maßnahmen bespielt (Amann et al., 2012; Jonathan Cohen et al., 2008). Darüber hinaus ist auch ein mediierender Zusammenhang denkbar: Die Frage, wie gut die Funktionen durch die Medien (konkreter: verschiedene Medienangebote) erfüllt werden, hängt auch davon ab, welche Inhalte aus der Medienöffentlichkeit wahrgenommen werden und wie sie bewertet werden. Wenn beispielweise die Nützlichkeit der wahrgenommenen Inhalte im Hinblick auf die Informationsfunktion als hoch erachtet wird, dann könnten die daraus gewonnen Informationen mehr Gewicht im Rahmen der strategisch-taktischen Überlegungen erfahren (Mediator).
6.4
Individual- und Backgroundfaktoren
6.4
Individual- und Backgroundfaktoren
Die Eigenschaften und Qualitäten dieser drei zuvor dargestellten Umwelten beeinflussen die Auswirkungen, die die kognitive und emotionsbasierte Verarbeitung von medienvermittelter öffentlicher Kommunikation für die Kernentscheidungsfindung am Verhandlungstisch und für die öffentlichen Kommunikationshandlungen der Verhandlungsakteure hat. Während diese Umwelten die spezifischen und mitunter auch konfligierenden Rahmenbedingungen festlegen, unter denen der Verhandlungsbeteiligte agieren muss, können noch zwei weitere Ebenen als relevant für den hier betrachteten Kernzusammenhang ausgemacht werden: Zum einen können Unterschiede in den individuellen Eigenschaften der Verhandlungsakteure Folgen für den hier betrachteten Kernzusammenhang haben: Zoizner, Sheafer und Walgrave (2017) haben zum Beispiel gezeigt, dass das Selbstverständnis eines Politikers (Generalist vs. Spezialist) relevant für die Frage war, wie stark mediale Agenda Setting Effekte bei ihm ausfielen. Über das Selbstverständnis hinaus wurden subjektive (Gerechtigkeits-)Normen (Benz, 2007, S. 108), Persönlichkeitsmerkmale (z. B. für Big 5 siehe Sharma et al., 2013; für Need for structure siehe Velden et al., 2010; für Risikoaversion siehe Harnett et al., 1973), das Geschlecht und der persönliche Hintergrund (z. B. Erfahrung als Verhandlungsführer, vgl. Lamm, 1975, S. 25) als relevante Merkmale für das Verhandlungshandeln identifiziert (vgl. Über-
6.4 Individual- und Backgroundfaktoren
371
sichten: Brett & Thompson, 2016, S. 72; Druckman, 1977, S. 30; Olekalns & Adair, 2013, S. 7). Auch mit Blick auf das Handeln in der medial vermittelten öffentlichen Arena lassen sich Unterschiede abhängig von den individuellen Merkmalen der Beteiligten ausmachen. So hatten etwa Abgeordnete mit mehr Seniorität in einer fünf Länder vergleichenden Studie häufiger Kontakt zu Journalisten als solche, die nicht so viel Erfahrung im Parlament vorzuweisen hatten (van Aelst et al., 2010, S. 321). In einer Studie von Fawzi (2014, S. 281) zeigte sich, dass vor allem solche Akteure die Medien als strategische Option nutzten, die den Eindruck hatten, dass ihre individuellen Karrierechancen zunehmend durch den Erfolg in der Medienöffentlichkeit beeinflusst werden. Dieser Befund legt überdies nahe, dass es nicht reicht, nur die Ziele der Organisation zu berücksichtigen, sondern dass Ziele auch auf der Ebene des Individuums einbezogen werden müssen. Diese korrespondieren zwar meist mit den Zielen der dahinterstehenden Organisation, müssen das aber nicht zwangsläufig (i. e., Ausmaß an Zielkongruenz zwischen individuellen Repräsentanten und Organisation; Turner, 1992, S. 237). In der Summe erweisen sich die individuellen Merkmale zwar sowohl mit Blick auf das Verhandlungsgeschehen als auch hinsichtlich der Medienöffentlichkeit als relevant. Auch steht außer Frage, dass der Rezeptionsprozess der wahrgenommenen medial verbreiteten und öffentlich diskutierten Inhalten maßgeblich durch die interindividuellen Unterschiede verschiedener Akteure geprägt wird (Valkenburg & Peter, 2013). Allerdings fehlt es an dieser Stelle an einer Grundlage, um darüberhinausgehende Implikationen ableiten zu können. Daher verwehren sich Mutmaßungen darüber, inwiefern diese individuellen Merkmale neben ihrer Funktion als zusätzliche oder vorgelagerte unabhängige Faktoren auch als intervenierende Faktoren den Kernzusammenhang beeinflussen. Zum anderen muss noch ein deutlich größerer Blickwinkel, der über die drei Umwelten hinausgeht, eingenommen werden, indem der größere Hintergrund als potenziell relevantes Set an intervenierenden Einflussfaktoren berücksichtigt wird. Hierunter fallen Merkmale wie übergreifende politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen ebenso wie der kulturellen Rahmen (Brett & Thompson, 2016, S. 75; Thompson et al., 2010, S. 504). Beispielweise ist die Einigung im Rahmen von Tarifverhandlungen maßgeblich durch das größere makroökonomische Umfeld wie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage oder Elastizität der Arbeitsnachfrage geprägt (Ashenfelter & Johnson, 1969, S. 36). Vor allem aber die übergreifenden Merkmale des jeweiligen Gesellschaftsbereiches, in dem das Entscheidungsproblem angesiedelt ist, bringt relevante Implikationen mit sich wie es Koch-Baumgarten und Voltmer (2010, S. 215) pointiert für verschiedene Politikbereiche formuliert haben: „the media’s role in the policy process varies significantly depending on the policy field in question. Each policy field constitutes a complex political arena 371
372
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
with its own characteristic structures and dynamics; (…) these processes can be properly investigated only through a policy-specific contextualization that seeks to interpret media influence within a multicausal framework, taking account of the many and diverse factors impacting on political processes“. Ähnlich wie bei der Differenzierung von Medieneinflüssen nach verschiedenen komplexen Akteurstypen (vgl. Kapitel 6.2) ist auch mit Blick auf den Gesellschaftsbereich unklar, welche Merkmale hier zu Unterschieden führen können. Koch-Baumgarten und Voltmer zählen zwar zahlreiche Aspekte auf, z. B. Innovationspotential und Etablierungsgrad des Bereiches (Voltmer & Koch-Baumgarten, 2010, S. 5, 9) oder die Passung der Themen in dem Gesellschaftsbereich mit Nachrichtenfaktoren (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 303). Es bedarf aber weiterer Forschung, um hier die tatsächlich relevanten Aspekte empirisch zu identifizieren. Eng damit verknüpft ist auch die aktuell vorherrschende Stimmung, der Zeitgeist, in dem Bereich (ein Beispiel aus dem Bereich Tarifpolitik liefert Renneberg, 2014, S. 229): Beispielweise scheint im Zusammenhang mit der Tarifpolitik eine Art Mentalitätswandel seit der Jahrtausendwende stattgefunden zu haben. Während zu Beginn ein neoliberaler Zeitgeist herrschte, der die Gewerkschaften mit ihren Rufen nach Regulierung des Arbeitsmarktes für ein schwaches Wirtschaftswachstum und hohe Arbeitslosigkeit mitverantwortlich machte, schien sich der grundlegende Tenor in der öffentlichen Debatte insbesondere nach der Finanzkrise zu wandeln. Dann dominierte vor allem der Blick auf die negativen Folgen aus der Globalisierung, die einen stärkeren Schutz der abhängig Beschäftigten notwendig machten und damit dem Wirken der Gewerkschaften Rückenwind verliehen. Alles in allem sind diese Background-Faktoren zweifelsohne bedeutsam dafür, wie der Kernentscheidungsprozess in der Verhandlungsarena abläuft (Brett & Thompson, 2016, S. 75; Olekalns & Adair, 2013, S. 14), und auf welchem Fundament das kommunikative Handeln der Entscheidungsakteure aufsetzen kann (z. B. die Frage, ob die Akteure in einem Bereich ohnehin viel Aufmerksamkeit genießen oder erst dafür kämpfen müssen?, vgl. Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 303). Allerdings fällt es schwer, darüberhinausgehende konkrete Wirkmechanismen abzuleiten. Nichtsdestotrotz gilt es diese Backgroundfaktoren insbesondere dann zu berücksichtigen, wenn man die zuvor dargelegten Mechanismen in einem international oder historisch vergleichenden Setting untersuchen möchte. Ein solches Untersuchungsdesign wäre insbesondere deshalb ratsam, bedenkt man die Vielschichtigkeit des hier vorgeschlagenen Modells: Eine Möglichkeit, um valide Aussagen zum Medialisierungsgrad eines bestimmten Verhandlungssystems abzuleiten, ist der gehaltvolle Vergleich mit einem anderen Verhandlungssystem und ein solcher Vergleich kann insbesondere dadurch skaliert werden, indem mehrere nationale
6.5 Zwischenfazit
373
Kontexte oder die zeitliche Dimensionen berücksichtigt werden (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1039). Vor allem aber der dynamische Charakter von Medialisierung, der in der vorliegenden Modellierung außen vor gelassen wurde, ruft nach Analysen und Vergleichen im Längsschnitt (Marcinkowski, 2014, S. 9), wo solche Hintergrundfaktoren durchaus variieren können.
6.5
Zwischenfazit: Die intervenierende Rolle der Kontexte
6.5 Zwischenfazit
Ziel des vorangegangenen Kapitels war es, die dritte in dieser Arbeit identifizierte Lücke in der Konzeption von Medieneinflüssen auf das Entscheidungshandeln von Funktionseliten zu adressieren. Der Kernzusammenhang zwischen den wahrgenommenen medial verbreiteten und öffentlich kommunizierten Inhalten in der Medienöffentlichkeit und dem Entscheidungshandeln der Eliten in der Verhandlungs- und der medialen Öffentlichkeitsarena lässt sich nämlich nur valide analysieren, wenn man es schafft, diesen aus einem multikausalen Bedingungsgefüge aus zahlreichen Randbedingungen und Rahmenfaktoren zu extrahieren. Berücksichtigt man die Tatsache, dass Entscheidungshandeln in ganz unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen auftritt und dort unterschiedlichen Medieneinflüssen unterliegt, nämlich nicht, dann läuft man Gefahr, die medienbezogenen Effekte auf die Entscheidungsfindung zu über- oder unterschätzen, weil man die intervenierende Wirkung anderer Faktoren nicht berücksichtigt hat. Leitend war in diesem Zusammenhang ein drittes Set aus konzeptionsleitenden Fragestellungen (vgl. Kapitel 2.5.3): ▶ 3a) Welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, um die Einflüsse aus der psychologischen Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit auf das Kernentscheidungs- und öffentliche Kommunikationshandeln gesellschaftlicher Funktionseliten zu konzipieren und zu untersuchen? ▶ 3b) Welche Effekte gehen von den entsprechend relevanten Rahmenbedingungen auf den Kernzusammenhang zwischen psychologischer Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit einerseits und dem Handeln der Funktionseliten andererseits aus? Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen theoretischen Grundlagen aus der Verhandlungsforschung, der politischen Kommunikation und der PR haben dabei drei Umwelten nahegelegt, in denen sich die Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidungshandelns bewegen. Deren Merkmale galt es als potenziell interve373
374
6 Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren
nierende Faktoren zu berücksichtigen: 1) Die Verhandlungsumwelt beschreibt die Rahmenbedingungen der Auseinandersetzung mit dem Kontrahenten am Verhandlungstisch. 2) Die organisationale Umwelt bezieht sich auf die Eigenschaften des komplexen Akteurs, denn gesellschaftlich relevante Problemfragen werden in der Regel nicht vor Individuen, sondern von dahinter stehenden Organisationen und Institutionen gelöst, für die die individuellen Verhandlungsakteure als Repräsentanten auftreten. Diese Funktion als Repräsentant in der Interaktion mit den dahinterstehenden Interessen, d. h. denjenigen Stakeholdern, deren Interessen am Verhandlungstisch vertreten werden, galt es ebenfalls in dieser Umwelt zu modellieren. 3) Die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit, worunter all die Faktoren gefasst werden, die das Zusammenspiel mit der Medienöffentlichkeit bedingen. Neben diesen Umwelten galt es überdies noch zwei weitere Ebenen an potenziellen Randbedingungen einzubeziehen: Zum einen die individuellen Merkmale des einzelnen Verhandlungsakteurs und zum anderen globale Hintergrundfaktoren, die sich vor allem auf den Gesellschaftsbereich, in dem das Entscheidungsproblem angesiedelt ist, und übergreifende gesellschaftspolitische und ökonomische Trends beziehen. Diese Randbedingungen können unterschiedliche Funktionen für den Kernzusammenhang einnehmen. Identifiziert wurden sie, weil sie entweder die abhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell beeinflussen, also als zusätzliche unabhängige Faktoren fungieren. Oder, weil sie das zentrale unabhängige Konstrukt im vorliegenden Modell beeinflussen und damit in der Forschung als Faktoren identifiziert wurden, die dem Gesamtzusammenhang vorgelagert sind (vgl. Abbildung 13). Es stellte sich davon ausgehend aber die Frage, ob sie auch den Kernzusammenhang an sich prägen und verändern können, d. h. ob sie als intervenierende Faktoren in Form eines Moderators oder Mediators wirken können. Basierend auf in der Literatur vorhandenen Erkenntnissen und Überlegungen wurde versucht, Annahmen zu potenziell moderierenden und mediierenden Wirkungen abzuleiten. Diese entbehren aber derzeit – außer einer logisch begründeten Überlegung – jeglicher empirischer Evidenz als Grundlage. D. h. erst eine empirische Überprüfung wird Aufschluss darüber geben, ob sich die intervenierende Wirkung auf den Kernzusammenhang tatsächlich so gestaltet wie in den vorangegangenen Kapiteln vermutet. In der Gesamtschau kann aber ein übergreifender intervenierender Zusammenhang vermutet werden: All jene Faktoren und Bedingungen, die eine Passung mit der Medienöffentlichkeit herstellen, sorgen dafür, dass der hier postulierte Kernzusammenhang stärker wird, d. h. die Verzahnung zwischen den unabhängigen und den abhängigen Konstrukten im vorgeschlagenen Modell zunimmt. Konkret heißt das, dass dann die Eindrücke, Wahrnehmungen und Interpretationen aus der Medienöffentlichkeit einen höheren Stellenwert in den strategisch-taktischen
6.5 Zwischenfazit
375
Überlegungen der Akteure erhalten – insbesondere im Vergleich zu anderen Kalkülen wie beispielweise politische oder wirtschaftliche Abwägungen. Ein zweites Desiderat lässt sich aus der vorangegangenen Modellierung ableiten: An zahlreichen Stellen hat sich angedeutet, dass die intervenierenden Faktoren auch untereinander stark interagieren, bzw. es vielfältige potenzielle Wechselwirkungen gibt (vgl. auch Druckman, 1977, S. 29). Die Berücksichtigung dieser Wechselbeziehungen liegt außerhalb der hier vorgenommenen Modellierung. Nichtsdestotrotz können gerade so, durch die kumulative oder kompensierende Wirkung aus/zwischen mehreren Kontextfaktoren eine zusätzliche Dimension an potenziell bedeutsamen Einflüssen entstehen. Im folgenden Kapitel sollen die Kernaspekte des Modells nochmals zusammengefasst werden, um davon ausgehend eine übergreifende Diskussion zu den Limitationen und Potenzialen des hier vorgeschlagenen Modells führen zu können.
375
Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick 7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
7.1 7.1
7.1.1
7
Zusammenfassung der Konzeptionierung Zusammenfassung der Konzeptionierung
Ausgangsüberlegungen und konzeptionsleitende Forschungslücken
Die vorliegende Arbeit nahm ihren Ausgangspunkt in der Tatsache, dass es zur Wahrung der sozialen Ordnung in einer Gesellschaft notwendig ist, einer Vielzahl an Koordinationsproblemen Herr zu werden. Diese sozialen Konflikte umspannen immer häufiger zahlreiche, miteinander verwobene Dimensionen, die sich durch Entscheidungsmechanismen wie Abstimmungen und Wahlen oder hierarchiegestützte Steuerung nur bedingt beilegen lassen. Aufgrund dieser zunehmenden Komplexität und Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Streitfragen erfolgt deren Lösung immer öfter, indem auf Verhandlungen zwischen gesellschaftlichen Funktionseliten als wesentlichen Entscheidungsmechanismus zurückgegriffen wird: Entscheidungsträger in gesellschaftlichen Führungspositionen versuchen, oftmals abseits der Öffentlichkeit, am Verhandlungstisch das Koordinationsproblem bzw. den sozialen Konflikt zu lösen (Grande, 2000, S. 122; M. Hartmann, 2004, S. 62; Hoffmann-Lange, 2007, S. 56–57; Keller, 1991, S. 4, 22, 95; Sarcinelli, 2011, S. 128; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 436). Die Nicht-Öffentlichkeit dieses Aushandlungsprozesses ruft jedoch die demokratietheoretisch begründete Frage nach der Transparenz des Entscheidungsprozesses hervor, da nur so die Möglichkeit bestünde, diejenigen, die Entscheidungen von breiter gesellschaftlicher Relevanz treffen, für ihr Handeln verantwortlich zu machen (Sarcinelli, 2011, S. 76). Dem wird aus verhandlungstheoretischer Perspektive entgegnet, dass nur hinter verschlossenen Türen ausreichend Ruhe herrsche, um einen Kompromiss zu erzielen, ohne stets die potenzielle Gefahr eines Gesichtsverlustes bei den relevanten Anspruchsgruppen fürchten zu müssen (Czada, 2014, S. 120, 123; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 8–9). In der Summe fällt © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Viehmann, Korsett und Machtressource, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32009-6_7
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378
7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
die normative Bewertung also ambivalent aus, ob die öffentliche und damit auch mediale Beobachtung der Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Funktionseliten notwendig und/oder wünschenswert ist (vgl. hierzu auch die Diskussion bei Fritz, 2012, S. 11–15). Erhofft man sich aus der wissenschaftlichen Betrachtung der Thematik eine Antwort, so wird man ebenfalls nur bedingt fündig. Ursächlich hierfür ist nicht nur ein Mangel an empirischer Forschung, der vor allem darin begründet ist, dass es sehr schwierig ist, diese spezielle Population – Eliten – im Rahmen von empirischer Forschung zu greifen (Kepplinger, 2007, S. 20). Das Problem setzt schon viel früher an – es fehlt an substanzieller und kohärenter theoretischer Konzeption, was darin resultiert, dass sich selbst der vorhandene, aber disperse Forschungsstand kaum untereinander vergleichen oder zusammenführen lässt. In der Folge sieht man sich zahlreichen konzeptionellen und empirischen Vorarbeiten gegenüber, die aber bislang kaum integriert und konzeptionell aufgearbeitet wurden. An diesem Punkt setzte das übergreifende Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit an, das danach fragte, ob und wenn ja welchen Einfluss mediale und öffentliche Aufmerksamkeit in gesellschaftlich relevanten, weil folgenreichen Entscheidungsprozessen von Funktionseliten haben. Diese Frage sollte nicht empirisch adressiert werden, sondern Ziel war es vielmehr, eine theoretisch-konzeptionelle Grundlage zu schaffen, auf deren Basis künftige Forschung empirische Antworten ableiten kann. Um diese Konzeptionsarbeit leisten zu können, galt es zunächst, das vorhandene theoretisch-konzeptionelle Fundament aufzuarbeiten und den vorhandenen empirischen Forschungsstand zu sichten (vgl. Teil I). Diese Betrachtung nahm dabei an folgenden Ansatzpunkten ihren Ausgang: 1) die Funktionseliten, worunter Akteure an zentralen Schaltstellen der Gesellschaft verstanden werden, deren Aufgabe darin besteht, Lösungen für Probleme von gesellschaftlicher Reichweite zu finden (vgl. Kapitel 2.1 und M. Hartmann, 2004, S. 10; Keller, 1991, S. 20). 2) Demzufolge entscheiden sie über Fragen von breiter gesellschaftlicher Relevanz, d. h. sie wählen eine Option aus mehreren Alternativen aus (vgl. Kapitel 2.1 und Korte & Fröhlich, 2009, S. 25; Schimank, 2005, S. 49). Dabei agieren sie jedoch 3) nicht als Individuen, sondern sind als Repräsentanten in dahinterliegende organisationale Strukturen eingebunden (Keller, 1991, S. 100; Turner, 1992, S. 233). Daher musste in der Betrachtung neben der Mikroebene des individuellen Entscheiders auch die Mesoebene der dahinterstehenden Organisation berücksichtigt werden. Grundsätzlich finden sich diese Funktionseliten in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen – sei es Wirtschaft, Politik, Justiz, Militär, Verwaltung oder bei Verbänden und NGOs, die verschiedene Interessen der Zivilgesellschaft vertreten (M. Hartmann, 2004, S. 10–12). Ihnen allen ist aber gemein, dass sie 4) auf öffentlich generierte Legitimation ihres Handelns angewiesen sind, damit ihre Entscheidungen auf
7.1 Zusammenfassung der Konzeptionierung
379
Akzeptanz stoßen und sie nicht um ihre Machtbasis bangen müssen (vgl. Kapitel 3.2.1 und 4.2., Keller, 1991, S. 97; Zerfaß, 2014, 25–26). Dieses Legitimationsbedürfnis bildet schließlich auch den Ansatzpunkt im Medialisierungsparadigma, das in der vorliegenden Arbeit als zentrale gedankliche Grundlage diente, um die Einflüsse zu modellieren, die von der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln der Eliten ausgehen (vgl. Kapitel 2.3). Die wesentliche These in diesem Paradigma besagt, dass die Medienlogik als institutionelles Set an Regeln, Handlungsrationalitäten und Normen zur Herstellung und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit zunehmend an Bedeutung in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gewinnt (F. Esser, 2013, S. 156; Strömbäck & Esser, 2014, S. 11). Dadurch verändert, modifiziert, überlagert, ergänzt oder ersetzt sie sogar (in Teilen) die dort jeweils vorherrschenden Handlungsrationalitäten und Regeln (Hjarvard, 2008, S. 113; Marcinkowski, 2014, S. 6; Strömbäck & Esser, 2014, S. 6). Entsprechend ist mit „Einfluss nehmen“ das Eindringen von medienbezogenen Überlegungen in die allgemeinen Kalküle der gesellschaftlichen Funktionseliten gemeint (ähnlich: Brants & van Praag, 2017, S. 397). Ursächlich für dieses Durchdringen ist nun genau dieses Legitimationsbedürfnis der Akteure bei ihren jeweils relevanten Anspruchsgruppen, wozu sie auf die Leistungen der Medien zurückgreifen müssen (vgl. Kapitel 2.3.1 sowie F. Esser, 2013, S. 162; Meyen et al., 2014, S. 271). Die zentralen Stellschrauben sind die Antworten darauf, warum und in welchem Ausmaß die Funktionseliten auf die Leistungen der Medien angewiesen sind (Marcinkowski & Steiner, 2014, S. 80). Dieses Legitimationsbedürfnis unterscheidet sich nämlich von Gesellschaftsbereich zu Gesellschaftsbereich und muss in unterschiedlichem Ausmaß über die breite Öffentlichkeit und damit über die Massenmedien generiert werden (Hoffjann, 2015, S. 154; Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 351). Um also die besondere Rolle der Medien für das Handeln der Funktionseliten zu verstehen, galt es, deren Beziehung zu verschiedenen Anspruchsgruppen zu konzipieren (vgl. Kapitel 3.2.1). Daraus ließ sich wiederum ableiten, was es bedeutet, auf die Medien angewiesen zu sein, um Legitimität bei den relevanten Stakeholdern herzustellen: Es zeigte sich, dass Medien und die breite Öffentlichkeit nicht nur eine Anspruchsgruppe unter vielen für die gesellschaftlichen Entscheidungsträger sind. Vielmehr nehmen sie eine Doppelrolle ein, indem sie zusätzlich auch als Scharnier zur Interaktion mit anderen Stakeholdern wie den Mitgliedern eines Verbandes oder den Wählern bei politischen Akteuren wirken (vgl. Kapitel 3.2.1 und ähnlich auch: Strömbäck & van Aelst, 2013, S. 347). Je mehr die gesellschaftlichen Entscheidungsträger auf diese Scharnierfunktion von Medien und breiter Öffentlichkeit angewiesen sind, um ihre Anspruchsgruppen zu erreichen, desto größer ist das Ausmaß an Medialisierungsfolgen – denn umso mehr müssen sich die Entscheidungsträger mit den Prinzipien und den Handlungsrationalitäten in 379
380
7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
Medien und Öffentlichkeit auseinandersetzen und sie in ihrem Handeln berücksichtigen (Marcinkowski, 2014, S. 16). Die Sichtung der empirischen Befunde zu den Folgen der Medialisierung (vgl. Kapitel 2.3.2) zeigte zunächst, dass die empirische Evidenz der Vielzahl und der Reichweite der theoretisch abgeleiteten Annahmen nicht gerecht werden kann. Dies lässt sich vor allem durch die hohen Ansprüche begründen, denen ein Forschungsdesign genügen müsste, um den langfristig stattfindenden Medialisierungsprozess abbilden zu können (vgl. hierzu Kapitel 2.3.2.1.1). Stattdessen bediente man sich oft der punktuellen Abfrage, wie hoch – ganz generell – der Einfluss der Medien eingeschätzt werde (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2). Obschon die befragten Funktionseliten hier sehr weitreichende Einflüsse vermuteten, sind diese Erkenntnisse trügerisch. Der geringe Differenzierungsgrad dieser Art der Abfrage resultiert darin, dass hier ganz unterschiedliche Eindrücke der Funktionseliten zu Medien und Öffentlichkeit in einem Konstrukt subsumiert wurden. Versucht man die Medialisierungsfolgen differenzierter zu ergründen, so offenbart sich ein sehr kleinteiliges und farbenfrohes Bild, das sowohl sehr invasive und weitreichende, zugleich aber auch sehr subtile und oft auch nur punktuell auftretende Einflüsse umfasst (vgl. Kapitel 2.4 und 2.5 für eine Zusammenfassung und ein Resümee zum Forschungsstand). Problematisch ist dabei vor allem, dass diese Befunde in sehr spezifischen Zusammenhängen und Konstellationen gewonnen wurden (es dominieren qualitative Fallstudien). Zugleich fehlt es an einer theoretischen Konzeption, die zwar einerseits ein so hohes Generalisierungslevel hat, um der Verschiedenartigkeit der Phänomene gerecht zu werden, die unter das Label Medialisierung gefasst werden. Andererseits muss diese theoretische Konzeption trotzdem so spezifisch sein, dass sie klar benennen kann, welche Phänomene unter welchen Bedingungen auftreten und als Indikatoren für Medialisierung zu sehen sind (denn der Medialisierungsforschung wurde oft vorgeworfen, zu vage in diesen Indikatoren zu sein, vgl. Deacon & Stanyer, 2014, S. 1039; Strömbäck & Esser, 2014, S. 5). Daraus folgt, dass es schwer fällt, die Vielzahl an Detailbefunden zusammen zu führen (eine Ausnahme hier: Donges, 2008, der klare Dimensionen ableitet und der anderen Forschenden damit als Vorbild diente, ihre Befunde in diese Dimensionen zu verorten; z. B. Nölleke & Scheu, 2018). Daher muss zunächst das theoretisch-konzeptionelle Problem gelöst werden, bevor es gelingt die dispersen Einzelbefunde umfassend und systematisch zusammen zu tragen. In der Summe offenbarte die Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Forschungsstand im Wesentlichen drei konzeptionelle Desiderata, die die Konzeptionsarbeit leiteten:
7.1 Zusammenfassung der Konzeptionierung
381
1. Es galt, das Entscheidungshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten analytisch auszudifferenzieren. Dies erforderte zuerst eine klare Definition, was unter Entscheiden konkret zu verstehen ist um davon ausgehend klar abzugrenzen, was nicht Teil des eigentlichen Kernentscheidungsprozesses ist – nämlich die öffentlichkeits- und medienbezogenen kommunikativen Handlungen der Funktionseliten. Außerdem bedurfte es der Klärung, über welchen Ansatzpunkt medienbezogene Einflüsse das Handeln der Entscheidungsträger, d. h. deren Kernentscheidungshandeln und deren kommunikatives Handeln – prägen können (vgl. Kapitel 2.5.1). Um das Kernentscheidungshandeln zu fassen, erwies sich der Governancemechanismus der Verhandlungen als geeignet (vgl. Kapitel 3.1), weil diese, wie eingangs dargestellt, weit verbreitet und besonders geeignet sind, um mehrdimensionale und damit komplexe Problemlagen zwischen vielfach verwobenen Interessen in einer Gesellschaft zu adressieren (Schrott & Spranger, 2007, S. 3). Dabei wurde ein sozialpsychologisches Verständnis von Verhandlungen zugrunde gelegt, wonach diese als Interessenskonflikte zwischen interdependenten Akteuren verstanden werden, die über soziale Interaktion gelöst werden, indem eine gemeinsame Entscheidung in Form eines Kompromisses erarbeitet wird (L. L. Putnam & Roloff, 1992, S. 3). Dieser Aushandlungsprozess zeichnet sich durch ein hohes Unsicherheitspotenzial sowie eine hohe Dynamik aus und wird als mixed-motive game beschrieben (vgl. Kapitel 3.1.2.4). Im Resultat wird zahlreichen Parameter ein Einfluss auf das Verhandlungsgeschehen zugeschrieben. Zur Modellierung von medien- und öffentlichkeitsbezogenen Einflüssen in Verhandlungen galt es, diese Vielzahl an Parametern zu systematisieren (vgl. Kapitel 3.1.3 und 3.1.4). Dabei ließ sich der Pfad offenlegen, über den die Medienöffentlichkeit sich ihren Einfluss in das Kernentscheidungshandeln im Aushandlungsmodus bahnt: Insbesondere die Wahrnehmungen und die kognitive bzw. emotionale Verarbeitung im Zusammenhang mit dem Verhandlungsgeschehen erwiesen sich als zentrale Anknüpfungspunkte. Diese wurden in der vorliegenden Arbeit in Form von strategisch-taktischen Überlegungen modelliert. Die Spezifizierung sowie Differenzierung der Handlungssphären (Kernentscheidungshandeln und kommunikatives Handeln) und ihre analytische Verknüpfung über diese strategisch-taktischen Abwägungen macht es möglich, die Vielzahl an vorliegenden Befunden zu integrieren und differenzierte Aussagen dazu abzuleiten, welche Rolle die Medienöffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Entscheiden von gesellschaftlichen Funktionseliten spielt. Um jedoch zu verstehen, wie sich diese medien- und öffentlichkeitsbezogenen Einflüsse ihren Weg in das Entscheiden der Funktionseliten bahnen, galt es eine zweite konzeptionelle Lücke zu adressieren: 381
382
7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
2. Die Mechanismen, die Medieneinflüsse auf das Kernentscheidungshandeln einerseits und das kommunikative Handeln der Funktionseliten andererseits kanalisieren, mussten identifiziert und ausgearbeitet werden. Obschon hier eine klassische Medienwirkungsperspektive naheliegend erschien, war dieser Weg aus mindestens zwei Gründen nicht zielführend: Ein Großteil der Befunde in der Medienwirkungsforschung wurde für den Durchschnittsrezipienten erzielt. Da sich gesellschaftliche Funktionseliten in ihren Eigenschaften aber durchaus vom Gros der Rezipienten unterscheiden (vgl. z. B. Rudzio, 2011, S. 486–487), lassen sich diese Befunde nicht eins zu eins auf Eliten übertragen (z. B. sind sie höheren Mediendosen ausgesetzt und es geht um ganz spezifisches Handeln, nämlich professionsbezogenes Handeln; vgl. Kepplinger, 2008, S. 332). Außerdem gehen die Folgen der Medienöffentlichkeit für das Entscheidungshandeln der Funktionseliten über das klassische Medienwirkungsverständnis hinaus, das seinen Ausgangspunkt oft an einer konkreten Nutzungsepisode nimmt (Kepplinger, 2008, S. 328; Marcinkowski, 2014, S. 17). Im Gegensatz zum Wirkungskonzept der Medienwirkungsforschung sind die Einflüsse der Medienöffentlichkeit auf das Entscheiden der Funktionseliten eher subtiler und indirekter Natur. Auch spielen Antizipationen, d. h. Erwartungen bezüglich künftiger medialer und öffentlicher Reaktionen, eine zentrale Rolle (Marcinkowski, 2014, S. 17). Daher erfolgte die Konzeption der Wirkkanäle auf Basis der kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung der Funktionseliten mit all jenen medial vermittelten und öffentlichen Kommunikationsinhalten, die die Funktionseliten wahrnehmen und für relevant erachten (vgl. Kapitel 5). Die hohe Bedeutung dieses Wahrnehmungsaspektes spiegelt sich auch in der wahrnehmungsbasierten Konzeption von Medienöffentlichkeit wider, die dieser Arbeit zugrunde liegt, statt dem institutionellen Medienbegriff zu folgen (T. E. Cook, 2006; Strömbäck & Esser, 2014, S. 12, 17), der gerade in der Medialisierungsforschung weit verbreitet ist. Diese Verarbeitungs- und Wahrnehmungsperspektive in der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit wurde aus zwei Gründen gewählt: Zum einen hat bereits die Frage, was Kernentscheidungshandeln eigentlich bedeutet, auf die zentrale Bedeutung der Wahrnehmungen und Abwägungen in Form der strategisch-taktischen Überlegungen hingewiesen (vgl. Kapitel 4.1). Zum anderen verdeutlichte auch die Sichtung der Befunde zu Medialisierungsfolgen die maßgebliche Funktion, die Wahrnehmungen als Kanalisierungsmechanismen erfüllen (vgl. Kapitel 2.3.2). 3. Dieser Kernzusammenhang zwischen der wahrnehmungsbasierten Verarbeitung der medial vermittelten und öffentlichen Kommunikationsinhalte einerseits und dem Handeln der Funktionseliten in der Verhandlungsarena und der medialen Öffentlichkeitsarena andererseits ist schließlich stark durch eine Vielzahl an
7.1 Zusammenfassung der Konzeptionierung
383
weiteren Einflüssen geprägt (z. B. der Gesellschaftsbereich, in dem das Entscheidungsproblem angesiedelt ist, vgl. auch Kapitel 2.5.3). Valide Aussagen zum Einfluss der Medienöffentlichkeit auf das Entscheiden der Funktionseliten sind jedoch nur möglich, wenn sich dieser Kernzusammenhang aus der Vielzahl an anderen Einflüssen herausdestillieren lässt (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300). Dazu wurde es notwendig, die relevanten Rahmenbedingungen und Kontextfaktoren zu identifizieren und explizit zu modellieren. Nur so kann sichergestellt werden, dass die erarbeitete Konzeption in den verschiedensten Bereichen, in denen gesellschaftlich relevante Entscheidungen durch Funktionseliten getroffen werden, anwendbar ist, weil sie die Spezifika in der jeweiligen Sphäre zu fassen und explizit zu kontrollieren vermag. Andernfalls läuft man Gefahr, den Einfluss der Medienöffentlichkeit zu unter- oder überschätzen, weil man die Wechselwirkung mit anderen Faktoren nicht berücksichtigt hat. Dabei hat die theoretische Auseinandersetzung mit den vielfältigen Forschungstraditionen insbesondere drei zentrale Umwelten nahegelegt, in denen sich Funktionseliten bewegen: 1) Die Verhandlungsumwelt, 2) die organisationale Umwelt und 3) die Umwelt der Medien und der Öffentlichkeit. Zusätzlich erwiesen sich die enge Klammer der individuellen Merkmale der Entscheider und die sehr breite Klammer der Background-Faktoren als einflussreich. Diese drei konzeptionellen (Forschungs-)Lücken sollten über eine theoretisch-deduzierte Modellierung von Medieneinflüssen auf das Entscheiden von gesellschaftlichen Funktionseliten adressiert werden. Die zentralen Modellparameter werden im nachfolgenden Kapitel zusammengefasst.
7.1.2
Zentrale Modellbestandteile
Die drei zuvor dargestellten Desiderata begründeten jeweils konzeptionsleitende Fragestellungen, die die Modellbildung in Teil II dieser Arbeit leiteten. Die Konzeption der abhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell wurde durch folgende Fragen geleitet (vgl. Kapitel 2.5.1): ▶ 1a) Wie lässt sich das Kernentscheidungshandeln der Funktionseliten im Kontext der Medienöffentlichkeit konzipieren? ▶ 1b) Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das öffentliche Kommunikationshandeln der gesellschaftlichen Funktionseliten?
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
Als Grundlage der Differenzierung zwischen dem Kernentscheidungshandeln und dem kommunikativen Handeln diente der Gedanke verschiedener Handlungssphären bzw. -arenen von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern (vgl. Kapitel 4; ähnliche Unterscheidungen: Hinter- und Vorderbühne bei Goffmann, 1959; symbolic politics und substantial politics bei Edelmann, 1985; Darstellungs- und Herstellungspolitik bei Sarcinelli, 2011). Über diese Sphären ließ sich das Repertoire an Handlungen identifizieren, die die Entscheidungsträger in der jeweiligen Arena vollziehen. In der Summe baut die Konzeption der abhängigen Konstrukte des Modells auf der dichotomen Unterscheidung zwischen der nicht-öffentlichen Verhandlungsarena, in der das Kernentscheidungshandeln stattfindet, und der medienvermittelten öffentlichen Arena, in der das Kommunikationshandeln vollzogen wird. Während es prinzipiell möglich ist, zahlreiche weitere Handlungsarenen zu identifizieren (Schmid & Lyczek, 2008, S. 70), war für das vorliegende Modell vor allem die Frage zentral, ob das Handeln in der entsprechenden Arena prinzipiell öffentlich beobachtbar ist. Daraus leitete sich die hier vorgenommene Differenzierung in zwei unterschiedliche Arenen ab. So war es möglich, den Kernbereich des Entscheidens zu identifizieren und von anderen Bereichen, insbesondere dem medien- und öffentlichkeitsorientierten kommunikativen Handeln, abzugrenzen (vgl. auch Sarcinelli, 2011, S. 131; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 416). Das Verhandeln in der Kernentscheidungsarena kann über zwei Merkmalsdimensionen beschrieben werden (vgl. Kapitel 4.1): 1) Das Ergebnis des Verhandlungsprozesses im Sinne seiner ökonomisch-rationellen (Einigung möglich?, individueller, gemeinsamer Nutzen) und seiner subjektiv-sozialen Eigenschaften (Bewertung der eigenen und der gegnerischen Leistung, Bewertung des Prozesses, instrumentelle Bewertung des Ergebnisses, vgl. auch Curhan et al., 2010). 2) Die konative Dimension des Verhandlungsgeschehens, die sich über die Wahl der Verhandlungsstrategie beschreiben lässt und sich durch verschiedene Konzessions- und Kommunikationstaktiken am Verhandlungstisch äußert (kompromissorientiertes integratives oder kompetitiv ausgerichtetes distributives Bargaining?, Hüffmeier et al., 2014, S. 870; Trötschel et al., 2017, S. 822). Das Handeln in der medienvermittelten öffentlichen Arena lässt sich ausgehend von der Notwendigkeit konzipieren, dass Akteure, die Entscheidungen mit breiter gesellschaftlicher Relevanz treffen, auf die Legitimation ihres Handelns bei den betroffenen Gruppen angewiesen sind (Keller, 1991, S. 97). Zur Herstellung dieser Legitimität setzen sie auf kommunikatives Handeln im Sinne von Public Relations-Aktivitäten (Röttger, 2015, S. 14). Diese lassen sich ebenfalls über zwei Merkmalsdimensionen greifen (Grundlage der Modellierung waren die Konzeptionsstufen von PR-Strategien, vgl. Zerfaß, 2014, S. 68–69): 1) Die Wahl der PR-Strategie, die sich als eine Kombination aus Kommunikationsmaßnahmen, über
7.1 Zusammenfassung der Konzeptionierung
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die bestimmte Kommunikationswirkungen bei anvisierten Stakeholdern erreicht werden sollen, beschreiben lassen (Hoffjann, 2015, S. 212; Merten, 2013, S. 118; Zerfaß, 2014, S. 69). 2) Die Evaluation des Kommunikationsprozesses mit Blick auf seine Effizienz und seine Ergebnisse sowie eine formative, d. h. prozessflankierende Evaluation der Kommunikation, um im Zweifel auch intervenierend eingreifen zu können (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 619–620). Verhandlungs- und mediale Öffentlichkeitsarena existieren allerdings nicht unabhängig voneinander. Vielmehr müssen auch Wechselwirkungen zwischen ihnen berücksichtigt werden (vgl. Kapitel 4.3). Diese Wechselwirkungen können dergestalt sein, dass die Aktivitäten in der einen Arena durch die Aktivitäten in der anderen Arena behindert oder verstärkt werden. Gerade die Perspektive auf aktive und souveräne, strategisch handelnde Entscheidungsakteure (vgl. zum hier zugrunde gelegten Akteursbild Kapitel 3.2.2.1) legt nahe, dass sie diese solche potenziellen Wechselwirkungen nicht einfach hinnehmen, sondern sie mitunter sogar gezielt anvisieren. Entsprechend wurde das abhängige Konstrukt im hier vorgeschlagene Modell um die Option von instrumentell motivierten Aktivitäten erweitert, die in einer Arena vollzogen werden, um ein Ziel in der anderen Arena zu erreichen: Beispielweise dienen Pre-Commitments in der Medienarena dazu, den verfügbaren Raum an Optionen in der Verhandlungsarena einzuschränken (vgl. z. B. Flynn, 2000). Dagegen könnte das besonders zugespitzte Vortragen der eigenen Position am Verhandlungstisch weniger an den Gegner als an die Medienöffentlichkeit gerichtet sein (vgl. z. B. Fawzi, 2014, S. 249). Solche instrumentell motivierten Aktivitäten sind nur nachvollziehbar, wenn man die zugrundeliegenden strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheider berücksichtigt (ähnlich: Strömbäck, 2011a, S. 426). Diese dienen im vorliegenden Modell in doppelter Hinsicht als zentrales Brückenelement: Zum einen verknüpfen sie die Aktivitäten in den beiden Handlungsarenen. Zum anderen verbinden sie das Handeln der Entscheider mit ihren dahinterliegenden Motiven, Zielen und Interessen und den Wahrnehmungen und Eindrücken, die sie aus der Medienöffentlichkeit gewonnen haben, also der unabhängigen Konstrukte im vorliegenden Modell. Die strategisch-taktischen Überlegungen können als Ziel-Mittel-Umweltkalküle verstanden werden (vgl. Kapitel 4.4 sowie Raschke, 2002, S. 210): Die Entscheidungsakteure handeln ausgehend von komplexen Überlegungen, die deren Ziele in beiden Handlungsarenen mit potenziell erfolgsversprechenden Maßnahmen verbinden. Dabei versuchen sie potenzielle Umweltfaktoren zu berücksichtigen, die für die Zielerreichung ein Hindernis oder einen Vorteil darstellen könnten (Roloff & Jordan, 1992, S. 22). Diese Abwägungen erfolgen unter den Bedingungen der Unsicherheit, einem hohen Maß an Dynamik und begrenzten Verarbeitungskapazitäten. Aus diesen Gründen kommen im Rahmen der strategisch-taktischen Abwägungen 385
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
zum einen kognitive Heuristiken zum Einsatz (Roloff & Jordan, 1992, S. 32). Zum anderen spielen affektive Zustände der Verhandelnden eine Rolle (Liu, 2015, S. 8). Neben ihrer zentralen Brückenfunktion (oder gerade deshalb) leisten diese strategisch-taktischen Überlegungen überdies einen weiteren zentralen konzeptionellen Beitrag im vorliegenden Modell: Die strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheider sind der Ort, wo alle relevanten Einflüsse zusammenfließen und wo die in der Medialisierungsforschung so zentral bearbeiteten Logiken den Ansatzpunkt ihres Wirkens finden – d. h. die strategischen Abwägungen sind der „Ort “, wo das Durchdringen durch die Medienlogik konkret stattfindet (vgl. Kapitel 4.4). Die Handlungslogiken – die publikumsorientierte Medienlogik und die Verhandlungslogik – wurden als (wahrgenommene) Handlungsprinzipien und Regeln aus den jeweiligen Handlungsarenen abgeleitet (ähnlich Nölleke & Scheu, 2018). Sie definieren also, welche Maßnahmen unter welchen Umweltbedingungen am erfolgversprechendsten erachtet werden können, um die Ziele zu erreichen. Die Logiken erfüllen so gewissermaßen die Aufgabe einer Maximierungsfunktion. Das Ausmaß an Medialisierung zu einem bestimmten Zeitpunkt100 kann nun über zwei Indikatoren im Zusammenhang mit diesen strategisch-taktischen Überlegungen erfasst werden: a) die kognitive Verankerung (in Tiefe und Ausmaß an Ausdifferenzierung) der publikumsorientierten Medienlogik b) das Ausmaß, in dem die publikumsorientierte Logik zur proaktiven Maßgabe des Handelns in der medienvermittelten öffentlichen Arena und in der Verhandlungsarena wird – und zwar relativ zu jeder anderen Handlungslogik, insbesondere aber der Verhandlungslogik (vgl. Kapitel 4.4). Es bleibt nun die Frage, wie die medienbezogenen Überlegungen konkret eindringen. Dieser Aspekt wurde über den Fragekomplex zwei im Rahmen der konzeptionsleitenden Fragestellungen adressiert: ▶ 2) Wie lassen sich die Mechanismen konzipieren, die medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit den Weg in den Entscheidungsprozess von Funktionseliten bahnen? Welche Rolle spielt die Verarbeitung von und Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit und Kommunikation (d. h. das medien- und öffentlichkeitsbezogene Bewusstsein, die entsprechenden Wahrnehmungen und Überlegungen) im Zusammenhang mit dem Kernent-
100 Zur Erinnerung: Es war nicht das Ziel dieser Arbeit, den Medialisierungsprozess in seiner dynamischen Entwicklung nachzuzeichnen, sondern vielmehr theoretisch begründete Indikatoren zu finden, die es erlauben, das Ausmaß an Medialisierung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen (vgl. Kapitel 2.3).
7.1 Zusammenfassung der Konzeptionierung
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scheidungshandeln der Eliten einerseits und ihrem Kommunikationshandeln andererseits? (vgl. Kapitel 2.5.2) Zentraler Fokussierungspunkt über den die Modellierung der Medieneinflüsse erfolgte, waren die Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation der öffentlichen Kommunikation und der öffentlichen Meinung rund um das Entscheidungsproblem der Funktionseliten (ähnliches schlagen Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, S. 21 und Fawzi, 2014, S. 311 ausgehend von ihren Befunden vor). Nur so lassen sich die subtilen und mitunter indirekten Einflüsse greifen, auf die zahlreiche Befunde aus der Medialisierungsforschung hindeuteten (vgl. z. B. Strömbäck, 2011a, S. 436). Ausgehend von der zentralen Bedeutung der Wahrnehmungen wurde entsprechend auch ein wahrnehmungsbasiertes Konzept von Medien und Öffentlichkeit vorgesehen (vgl. Kapitel 5): Unter Medienöffentlichkeit wurden im Rahmen dieser Arbeit all jene öffentlichen und medial vermittelten Kommunikationsinhalte verstanden, die die Entscheidungsträger wahrnehmen oder in der Zukunft erwarten und für sich, ihre Ziele und ihre Aufgabenerfüllung als relevant erachten. Die Quellen dieser Kommunikationsinhalte sind dabei unerheblich, lediglich die Kriterien „öffentlich wahrnehmbar“ (d. h. keine geheimen Informationen) und „für den Entscheider relevant“ müssen erfüllt sein, damit sie zum Teil dessen werden, was hier als Medienöffentlichkeit aus subjektiver Sicht der betroffenen Funktionseliten konzipiert wurde. Auf Basis der Konzepte reziproke Effekte (Kepplinger, 2007) und mental mediatization (Marcinkowski, 2014, S. 17) ließ sich sodann die Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit als mehrstufiger Verarbeitungsprozess konzipieren: 1. Zunächst müssen die Entscheidungsträger auf medial vermittelte und öffentlich verbreitete Inhalte aufmerksam werden und sie nutzen (vgl. Kapitel 5.1). Zentral für die Nutzung ist insbesondere, dass sich die Entscheider diesen Kommunikationsinhalten sehr selektiv aussetzen (Walgrave & Dejaeghere, 2017, S. 234). Je involvierter sie durch den berichteten Gegenstand sind, desto intensiver wird genutzt und rezipiert (Kepplinger, 2007, S. 11). 2. Anschließend ist zentral, wie sie die Inhalte wahrnehmen, bewerten und interpretieren – vor allem vor dem Hintergrund verschiedener Kalküle wie „Ist das wichtig für mich? Passt das zu meinem Bild der Sachlage? Hat es Folgen für meine Ziele und wenn ja welche?“ (vgl. Kapitel 5.2). Neben diesen Wahrnehmungen und Bewertungen von bereits erfolgter medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation gilt es an dieser Stelle aber noch einen weiteren zentralen Aspekt zu berücksichtigen: Allein das Wissen um die Existenz der Medien führt dazu, dass die Entscheider die künftigen Reaktionen der Medien und der 387
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
Öffentlichkeit antizipieren und in ihre Überlegungen einbeziehen („effect beyond content“ bzw. „primacy of anticipation over content“, Marcinkowski, 2014, S. 17). 3. Schließlich entstehen in der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit auch noch weitreichendere kognitive Reaktionen, die im Rahmen des vorliegenden Modells vor allem über wahrnehmungsbasierte Wirkungsvermutungen wie den Influence of Presumed Media Influence (Gunther & Storey, 2003), den Third Person Effekt (Davison, 1983) und den Hostile Media Effekt (Vallone et al., 1985) konzipiert wurden (vgl. Kapitel 5.3). Ausgehend von den grundständigen Wirkungskonzepten im Rahmen dieser Phänomene wurde auf Basis neuerer Forschung (vgl. z. B. Rojas, 2010, S. 358–359) dafür plädiert, eine differenziertere Perspektive mit Blick auf Wirkungsvermutungen zu berücksichtigen: Neben der reinen Einschätzung, welchen „Einfluss die Medien haben“, kann man zum Beispiel auch einbeziehen, welche Merkmale des Inhalts in welchen konkreten Medienangeboten als ursächlich für bestimmte Wirkungen ausgemacht werden. Oder man differenziert bei den Wirkungsvermutungen „auf andere“ nach konkreten Stakeholdern, die sich durch mehr Eigenschaften als nur ihre soziale Distanz zum vermutenden Entscheidungsträger auszeichnen. 4. Neben den weitergehenden kognitiven Reaktionen umfasst das Modell außerdem emotionale Reaktionen auf die wahrgenommenen medial vermittelten und öffentlichen Inhalte (vgl. Kapitel 5.4). Sie sind das Resultat von Bewertungsprozessen, die mit Blick auf die wahrgenommenen Inhalte vollzogen werden (sog. Appraisals, vgl. Rothermund & Eder, 2011, S. 186–189). Außerdem wird den emotionalen Reaktionen eine handlungssteuernde Wirkung unterstellt (Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 235). Diese emotionalen Reaktionen bilden die letzte Stufe des hier vorgeschlagenen Verarbeitungsprozesses. In der Summe wird angenommen, dass diese Verarbeitung von Kommunikationsinhalten aus der Medienöffentlichkeit – ausgehend von der Nutzung, über deren Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation sowie die daraus resultierenden kognitiven und emotionalen Reaktionen – Folgen für das Handeln der Funktionseliten hat. Diese Folgen für das Handeln entstehen, indem die so gewonnenen Informationen aus der Medienöffentlichkeit als Input in die strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheider einfließen (vgl. Kapitel 5.5). Um diesen Kernzusammenhang zwischen den Eindrücken der Entscheidungsakteure aus der Medienöffentlichkeit und ihrem Handeln in der Verhandlungsarena einerseits und in der öffentlichen und medialen Arena andererseits valide untersuchen zu können, mussten schließlich noch die zahlreichen weiteren Einflussfaktoren identifiziert und modelliert werden. Diese Einflüsse resultieren aus den Kontexten, in denen
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die Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidungshandelns aktiv sind. Dies wurde über das dritte Set an konzeptionsleitenden Fragen adressiert (vgl. Kapitel 2.5.3): ▶ 3a) Welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, um die Einflüsse aus der Auseinandersetzung mit medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit auf das Kernentscheidungs- und das öffentliche Kommunikationshandeln gesellschaftlicher Funktionseliten zu konzipieren und zu untersuchen? ▶ 3b) Welche Effekte gehen von den entsprechend relevanten Rahmenbedingungen auf den Kernzusammenhang zwischen der kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit einerseits und dem Handeln der Funktionseliten andererseits aus? Die Berücksichtigung dieser Einflüsse erfolgte über die Modellierung von drei Umwelten, die sich im Zuge der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Handeln der Funktionseliten als maßgebliche Rahmenbedingungen empfohlen haben (vgl. Kapitel 6): 1. Die Verhandlungsarena (vgl. Kapitel 6.1), die abseits der öffentlichen Beobachtung angesiedelt ist und der kollektiven Lösungsfindung dienen soll (vgl. Kapitel 3.1 und Schrott & Spranger, 2007; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010, 2011). Darin erwiesen sich einerseits die strukturellen Merkmale des Verhandlungskontextes als relevant (strukturelle Konfliktkonstellation, strukturelle Machtkonstellation, Phase im Entscheidungsprozess, Eigenschaften des Entscheidungsproblems, institutionell vorgesehene Konfliktaustragungsstruktur). Andererseits ließen sich sozioemotionale Merkmale der Interaktion als einflussreich detektieren (Motive und Ziele des Entscheidungsakteurs sowie sein Involvement in das Entscheidungsproblem, außerdem die Eigenschaften der Beziehung zum Gegner). 2. Die organisationale Umwelt, die das Handeln der Entscheidungseliten überhaupt erst ermöglicht und sie zugleich auch restringiert (z. B. die eigene Partei, das Unternehmen, in dem ein Wirtschaftsentscheider angesiedelt ist; die Institution, in der Funktionseliten eine führende Position einnehmen, vgl. Keller, 1991, S. 100; Turner, 1992, S. 233; van Kleef et al., 2007, S. 129). Denn Entscheidungen von gesellschaftlicher Reichweite werden selten von Individuen getroffen, vielmehr stehen sich komplexe Akteure wie Parteien, Institutionen, Organisationen oder Staaten gegenüber und die individuellen Entscheider fungieren als deren Repräsentanten (vgl. Kapitel 6.2 und Trötschel et al., 2017, S. 829). Entsprechend wurden im Modell zunächst die Eigenschaften des komplexen Akteurs (Größe und Ressourcenausstattung, die Heterogenität seiner Mitglieder und seine Organisationsstruktur und -kultur) berücksichtigt. Darüber hinaus wurden 389
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
die Merkmale der Interaktion zwischen dem Repräsentanten, der dahinterstehender Organisation und den jeweils vertretenen Anspruchsgruppen sowohl auf einer formalen Ebene (Position/Status des Verhandlungsakteurs innerhalb der Organisation, Art des Mandats, Mobilisierungsbasis) als auch auf einer sozioemotionalen Ebene berücksichtigt (soziale Gruppenidentität, Motiv: Face Saving, wahrgenommenes Vertrauen und wahrgenommene Ansprüche und Erwartungen seitens der Anhänger). 3. Die mediale und öffentliche Umwelt, d. h. die Bedingungen der Interkation mit der Medienöffentlichkeit, deren Ansprüche die Funktionseliten vor dem Hintergrund ihrer Legitimationsnotwendigkeit bei verschiedenen Teilöffentlichkeiten begegnen müssen, sich ihrer aber zugleich auch bemächtigen können, um ihre Zieldurchsetzung zu fördern (vgl. Kapitel 6.3 und Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009; Marcinkowski, 2014; Strömbäck & Esser, 2014). Hier wurde zunächst der Grad an Kommerzialisierung als strukturelle Rahmenbedingung in dieser Umwelt berücksichtigt. Die konkrete Interaktion zwischen Entscheidern und der Medienöffentlichkeit wurde dann über harte und weiche Machtressourcen sowie sozioemotionale Merkmale der Interaktion beschrieben. Letzteres umfasst die Beziehung zwischen Entscheider und Medien/Journalisten sowie die Beziehung zwischen Entscheider und allgemeiner Öffentlichkeit. Außerdem müssen die Funktionen in den Blick genommen werden, die die Medienöffentlichkeit für die Entscheider erfüllen (Informationsfunktion und Arenafunktion). Neben diesen drei Umwelten als zentrale prägende Kontexte, in denen sich die gesellschaftlichen Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidungshandelns bewegen, wurden außerdem noch die individuellen Merkmale des Verhandlungsakteurs sowie übergreifende Background-Faktoren als potenziell einflussreiche Merkmale für den Kernzusammenhang im Modell berücksichtigt (vgl. Kapitel 6.5). Das in dieser Arbeit entwickelte Modell zur Konzeption von Medieneinflüssen auf das Entscheiden von gesellschaftlichen Funktionseliten wurde nun in seinen Kernbereichen zusammengefasst – angefangen bei den abhängigen Konstrukten in Form des Handelns in verschiedenen Arenen, über die unabhängigen Konstrukte im Sinne der Verarbeitung von Informationen aus der medial vermittelten und breiten öffentlichen Debatte und schließlich den Umweltfaktoren als intervenierende Faktoren des Kernzusammenhangs. Davon ausgehend erfolgt nun eine Diskussion der Modellzusammenhänge und -implikationen.
7.2 Diskussion der Modellimplikationen
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Diskussion der Modellimplikationen
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Diskussion der Modellimplikationen
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Bei der Ausarbeitung der einzelnen Modellparameter haben sich an verschiedenen Stellen Hinweise auf potenzielle Zusammenhänge ergeben. Im Folgenden sollen die daraus abgeleiteten Annahmen diskutiert (die zentralen Annahmen sind kursiv gedruckt) und dabei aufgezeigt werden, wo Wissenslücken bestehen, die es zu füllen gilt. Die nachfolgend diskutierten Zusammenhänge bilden dabei eine Art Vorstufe für ein Hypothesengerüst und kein ausgearbeitetes und kohärentes System an Thesen, das unmittelbar einer empirischen Prüfung unterzogen werden kann. Vor dieser Prüfung sind noch weitere Schritte der (empirischen) Anreichung zu gehen. Diese sollen nachfolgend ebenfalls aufgezeigt werden. Zunächst erfolgt die Diskussion vermuteter Zusammenhänge und der damit verknüpften Forschungslücken für den Kernzusammenhang. Anschließend wird der Blickwinkel um die Wirkpotentiale der Kontextfaktoren ergänzt.
Annahmen zum Kernzusammenhang des Modells Für den Kernzusammenhang kann Folgendes angenommen werden (vgl. hierzu auch Kapitel 5.5): Die Entscheidungsträger ziehen Informationen aus der Medienöffentlichkeit. Dabei handelt es sich um deren Wahrnehmung, Bewertung und Interpretationen der medial verbreiteten und öffentlich diskutierten Inhalte zu ihrem Entscheidungsproblem sowie die daraus resultierenden weitergehenden kognitiven und emotionalen Reaktionen. Diese Informationen fließen als Input in die strategisch-taktischen Überlegungen ein und prägen dabei die Strategiewahl der Entscheider. In der Folge können diese Informationen aus der Medien-öffentlichkeit über ihren Einfluss auf die strategisch-taktischen Überlegungen das Handeln am Verhandlungstisch und in der medienvermittelten öffentlichen Arena prägen. Ausgehend von diesen Annahmen zum Kernzusammenhang ist zunächst anzumerken, dass die strategisch-taktischen Überlegungen aufgrund ihrer Schlüsselrolle zwischen den unabhängigen und abhängigen Konstrukten dieses Modells auch als Mediator verstanden werden können. Sie mediieren den Zusammenhang zwischen Verarbeitung und Entscheidungshandeln. Die Entscheidung, dieses Schlüsselkonstrukt als Teil der abhängigen Konstrukte zu konzipieren, gründet in der Nähe, die diese zum strategischen Handeln in beiden Arenen haben. Das Handeln der Funktionseliten in der Verhandlungsarena und in der medienvermittelten Öffentlichkeit ist ohne diese Kalküle nicht zu denken. Die Entfernung zur kognitiven und emotionalen Verarbeitung (d. h. die unabhängigen Konstrukte im Modell) ist dagegen größer – schließlich stellt das Ergebnis dieses psychologischen Verarbeitungsprozesses nur einen möglichen Teil des Input dar, der in den strategisch-taktischen Überlegungen einfließt. 391
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
Welche konkreten Informationen aus der Medienöffentlichkeit haben nun potenziell einen Einfluss? Die Annahme, dass die Informationen aus der Medienöffentlichkeit, wie sie über die Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation sowie die damit einhergehenden emotionalen und kognitiven Reaktionen entstehen, einen Einfluss auf das Handeln der Entscheidungsträger haben, gründet ganz grundsätzlich auf den Gedankengängen, wie sie in der Forschung zu medieninduzierten Wahrnehmungseffekten und im Rahmen von medien-induzierten Emotionen formuliert wurden: Nämlich, dass die Wahrnehmungen bzw. medial induzierten Emotionen einen Handlungsbezug haben (vgl. Kapitel 5.3 und 5.4; die Rede ist von handlungssteuernder Wirkung bei Emotionen, Schmidt-Atzert et al., 2014, S. 235; und von der Verhaltenskomponente bei den wahrnehmungsbasierten Medienwirkungsansätzen, Tal-Or et al., 2010). Zunächst sprechen verschiedene theoretisch-konzeptionelle Überlegungen, aber auch empirische Befunde dafür, dass allein das Ausmaß an wahrgenommener Aufmerksamkeit in der Medienöffentlichkeit folgenreich sein kann (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2010, S. 217; Melenhorst, 2015, S. 300; Schrott & Spranger, 2007, S. 14). Grundsätzlich stellt Medienaufmerksamkeit für einen Großteil der Entscheider eher eine Ausnahmesituation dar (vgl. z. B. die Befunde von Melenhorst, 2015), wodurch das Entstehen von starken Wirkungen begünstigt. Je größer das wahrgenommene Ausmaß an Aufmerksamkeit, desto größer der vermutete Einfluss auf andere, insbesondere bei den eigenen Anspruchsgruppen (die Medienöffentlichkeit stellt für diese nämlich ein Beobachtungsfenster dar). Damit einhergehend werden emotionale Reaktionen wahrscheinlicher (weil man Angst hat, vor der großen Menge an potenziellen Zuschauern ein schlechtes Bild zu erzeugen, das man nicht mehr korrigieren kann, vgl. Kepplinger, 2010a, S. 156). Zugleich stellt Aufmerksamkeit aber auch ein Potenzial für Mobilisierung und Inszenierung dar (Fritz, 2012, S. 9). Neben der reinen Aufmerksamkeit erzeugen vor allem negativ empfundene Inhalte diese emotionalen und kognitiven Reaktionen (Fawzi, 2014; Kepplinger & Zerback, 2012). Außerdem legen verschiedene Befunde nahe, dass Folgen auf das Handeln der gesellschaftlichen Funktionseliten vor allem dann entstehen, wenn die wahrgenommenen Inhalte aus der Medienöffentlichkeit als strategisch relevant bewertet werden (Green-Pedersen & Stubager, 2010; Sevenans et al., 2016; Vliegenthart & Walgrave, 2011). Emotionale Reaktionen als Resultat der Verarbeitung von Kommunikationsinhalten aus der Medienöffentlichkeit spielen darüber hinaus vermutlich eine doppelte Rolle: Durch ihre handlungsleitenden Eigenschaften (vgl. z. B. die Argumentation bei Nabi, 2009, S. 210) ziehen sie Folgen für das Entscheidungshandeln der Funktionseliten nach sich (vgl. die Befunde von Kepplinger & Zerback, 2012). Sie interagieren aber zugleich auch mit den anderen Verarbeitungsstufen – beispielweise können sie
7.2 Diskussion der Modellimplikationen
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als Relevanzdetektoren die Aufmerksamkeit leiten (Kleinginna & Kleinginna, 1981, S. 351; Rothermund & Eder, 2011, S. 177) und so einen Einfluss darauf haben, welche Inhalte die Entscheider aus der Medienöffentlichkeit überhaupt erst wahrnehmen. Wenngleich die Emotionen hier also als letzte Verarbeitungsstufe in der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit konzipiert wurden (vgl. Kapitel 5.4), so muss vor diesem Hintergrund doch angenommen werden, dass die Emotionen bereits früher im Rezeptionsprozess ihre Wirkung entfalten können. Entsprechend muss davon ausgegangen werden, dass die verschiedenen Verarbeitungsstufen eher parallel zueinander, denn nacheinander ablaufen. Denn auch die wahrnehmungsbasierten Wirkungsvermutungen (hier im Modell als kognitive Reaktionen aus der Auseinandersetzung mit der Medienöffentlichkeit als dritte Verarbeitungsstufe konzipiert, vgl. Kapitel 5.3) haben das Potential die Wahrnehmung und vor allem die Antizipation künftiger öffentlicher und medialer Reaktionen zu steuern (darauf deuten z. B. folgende Befunde: Kepplinger, 2010b, S. 157). D. h. auch die kognitiven Reaktionen auf die Inhalte in der Medienöffentlichkeit können Rückwirkungen auf vermeintlich frühere Verarbeitungsstufen haben. Die zuvor dargestellten Annahmen zu potenziellen Folgen aus der Verarbeitung von medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation auf das Entscheidungshandeln der Funktionseliten stützen sich vor allem auf Befunde, bei denen sehr viel, intensiv und mitunter kontrovers über die Entscheidungsprozesse berichtet und öffentlich debattiert wurde (Baugut & Grundler, 2009; Landerer, 2015; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Es fehlt an dieser Stelle aber der Blick auf Situationen, in denen mediale und öffentliche Aufmerksamkeit erwünscht, aber nicht vorhanden ist. Eine solche Perspektive könnte noch deutlich differenziertere Zusammenhänge aufzeigen. Blickt man genauer auf die Evidenz zu den einzelnen Stufen des Verarbeitungsprozesses, so zeigen sich weitergehende Lücken: Mit Blick auf die Nutzung liegen zwar Befunde für die klassischen Massenmedien vor (vgl. z. B. Fawzi, 2014, S. 186), es fehlt aber ein ganzheitlicherer Blick darauf, welche Informationsquellen den Entscheidern als Grundlage dienen (van Aelst & Walgrave, 2016, S. 502). Dabei dürfen nicht nur Massenmedien als Quellen berücksichtigt werden, sondern im Prinzip muss alles einbezogen werden, was als potenzieller Informationsinput dienen kann. Mit Blick auf die Nutzung wird außerdem vermutet, dass diese besonders intensiv ausfällt, wenn die Entscheidungsträger durch die Inhalte in irgendeiner Form betroffen sind – sei es, weil sie selbst die Protagonisten in der Berichterstattung sind, weil ihre Organisationen angesprochen werden, oder weil in einem größeren Zusammenhang über das Themenfeld kommuniziert wird, in dem das Entscheidungsproblem angesiedelt ist (vgl. hierzu Kepplinger & Marx, 2008, S. 195). Insgesamt ist bislang nur vereinzelt erforscht worden, wie sich ver393
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
schiedene Formen des „Angesprochen seins“ auf die Verarbeitung und potenzielle Effekte auswirken können (siehe z. B. Karadas et al., 2017; Korn & Einwiller, 2013; Neumann, 2015). Die Ungewissheit setzt sich auch mit Blick auf die Inhalte fort, die in der Medienöffentlichkeit kursieren und seitens der Entscheider wahrgenommen werden: Unklar ist, welche Merkmale der medial vermittelten und öffentlichen Kommunikationsinhalte besonders relevant für die Entscheider sind. Vorhandene Befunde zeigen eher erratisch, dass die Entscheider den Eindruck einer fehlerhaften und konfliktorientierten Berichterstattung haben, sie dennoch als strategisch relevanten Input nutzen – vor allem, wenn es um Informationen zum Gegner geht (Fawzi, 2014). Schließlich lässt sich insbesondere mit Blick auf die kognitiven Reaktionen auf die medienvermittelten und öffentlich diskutierten Kommunikationsinhalte noch konzeptionelles Potential ausmachen: Im Fokus stehen Wirkungsvermutungen im Sinne des IPMI, des TPE oder des HME, wobei oft sehr pauschal untersucht wird, „welchen Einfluss die Medien auf andere“ haben. Eine differenziertere Konzeption könnte an dieser Stelle einen zusätzlichen Beitrag leisten, um potenzielle Wirkungen auf das Entscheidungshandeln zu verstehen (vgl. hierzu die Ausführungen bei Kepplinger, 2007, S. 12). Diese differenziertere Konzeption könnte nicht nur daran ansetzen, welche Art von Wirkungen ausgehend von welchen spezifischen Medieninhalten und -angeboten/‑plattformen vermutet werden (Ähnliches schlussfolgern Jensen & Hurley, 2005). Zugleich könnten auch die Objekte der Wirkungsvermutungen – die Dritten – stärker differenziert werden (insbesondere in ihrer Beziehung zum Entscheider). Abgesehen von diesen Desiderata mit Blick auf die Verarbeitung der Kommunikationsinhalte kann das Blatt aber auch gewendet und gefragt werden: Welche Einflüsse entstehen nun potenziell im Hinblick auf das Handeln der Entscheidungsträger? Zunächst sollen die potenziellen Konsequenzen für die Handlungen in der medialen und öffentlichen Arena diskutiert werden. Insbesondere wenn die Informationen aus der Medienöffentlichkeit im Rahmen der strategisch-taktischen Überlegungen zu dem Schluss führen, dass die Medien mit Blick auf die anvisierten Stakeholder und die angestrebten Ziele ein geeigneter und erfolgsversprechender Kanal für Kommunikationsmaßnahmen sind (z. B. weil den Medien viel Einfluss zugeschrieben wird), dann können Folgen vermutet werden, wie sie im Rahmen des Medialisierungsparadigmas formuliert wurden (vgl. z. B. die Befunde Amann et al., 2012; Amsalem et al., 2017; Jonathan Cohen et al., 2008; Post, 2017): Die massenmedialen Kanäle nehmen an Bedeutung zu, die Medienöffentlichkeit wird zur wichtigen eigenen Stakeholdergruppe, die Kommunikationsaktivitäten erfolgen umfangreicher und aufwendiger – vor allem über informelle Kontakte zu Journalisten, weniger über klassische Elemente wie Pressemitteilungen oder
7.2 Diskussion der Modellimplikationen
395
Pressekonferenzen (vgl. hierzu die Befunde in Kapitel 2.3.2.1.2). Darüber hinaus wird mehr Flexibilität im Umgang mit der Medienöffentlichkeit notwendig, es werden mehr Campaigning-Aktivitäten vollzogen, die Gestaltung der Kommunikationsmaßnahmen folgt generell mehr den wahrgenommenen Anforderungen der publikumsorientierten Medienlogik, aber zugleich werden – je nach situativem Kontext – auch mehr Abschottungsmaßnahmen ergriffen (vgl. Kapitel 4.2). Vor allem letzteres, nämlich das gezielte „Nicht-Erregen“ von Aufmerksamkeit wird zwar an mehreren Stellen in der Forschung angedeutet, aber bislang wurde es nur selten systematisch im Rahmen von konkreten Forschungsdesigns als eine Handlungsoption berücksichtigt (ähnliches resümiert auch Fawzi, 2014, S. 311). Dieser Gedankengang kann noch weitergesponnen werden, indem grundlegender gefragt wird, ob es nicht auch Situationen gibt, in denen Entscheider sich explizit dagegen verwehren, sich der Medienlogik anzupassen (z. B. besteht ein Merkmal von Angela Merkels Kommunikationsstil darin, dass sie es hin und wieder vorzieht, ihre Entscheidungen erst zu kommunizieren, wenn sie bereits getroffen sind, und auf umfangreiche und inszenierende Begleitkommunikation des Entscheidungsprozesses verzichtet). Dieser Aspekt des sich Verwehrens deutet überdies eine weitere Lücke an: Beschrieben wurden hier Kommunikationsmaßnahmen, wie sie in der vorhandenen Literatur zu Public Relations im Allgemeinen und politischen Public Relations im Speziellen diskutiert wurden (vgl. Kapitel 4.2). Dabei kann weder davon ausgegangen werden, dass die hier identifizierten Maßnahmen umfassend mit Blick auf den Betrachtungsgegenstand sind, noch kann mit Sicherheit gesagt werden, dass diese Kommunikationsmittel von Relevanz sind, wenn es um das Entscheidungshandeln von gesellschaftlichen Funktionseliten in der Medienöffentlichkeit geht, weil diese Kommunikationsmaßnahmen bislang nicht vor diesem speziellen Hintergrund untersucht wurden. Mit Blick auf das Kernentscheidungshandeln in der Verhandlungsarena kann dagegen Folgendes angenommen werden: Die Eigenschaften der Medienberichterstattung und der Diskussion in der breiten Öffentlichkeit über Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Funktionseliten (vgl. die inhaltsanalytischen Befunde in Kapitel 3.2.2.2) legen die Vermutung nahe, dass insbesondere eine distributive Verhandlungsstrategie wahrscheinlich wird, wenn Medien und Öffentlichkeit dem Entscheidungsprozess ihre Aufmerksamkeit schenken (ähnlich: Fritz, 2012, S. 9). Denn eine ausgeprägte Konfliktfokussierung, übermäßiger Negativismus, dezidiertes Game Framing und eine deutliche Ereigniszentrierung – alles Merkmale, die das Ergebnis einer kommerziell geprägten Medienlogik sind – schaffen keine vertrauensvolle Atmosphäre wie sie für integratives Bargaining notwendig wäre (vgl. hierzu die Befunde von Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Diese Vermutungen stützen sich beispielsweise auf die Ergebnisse von Baugut und Grundler 395
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
(2009), wonach Indiskretionen (als ein Merkmal einer distributiven Strategie) unter solchen öffentlichen Kommunikationsbedingungen, wie sie mit einer ausgeprägten Publikumsorientierung einhergehen, wahrscheinlicher werden. Die kompetitivere Art der Verhandlung im Zuge eines ausgeprägten distributiven Verhandlungsstils geht schließlich mit Einbußen für die deliberative Qualität des Diskurses am Verhandlungstisch einher (vgl. Meade & Stasavage, 2006; Susskind, 2006; es werden z. B. im Vergleich zum integrativen Bargaining weniger Informationen ausgetauscht). Das Entstehen von Druckmomenten wird wahrscheinlicher (Kunelius & Reunanen, 2012, S. 66; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 429), was den potenziellen Raum an Handlungsoptionen und Verhandlungslösungen verändern kann (Jones & Wolfe, 2010, S. 31–32; Melenhorst, 2015, S. 301). Vermutet wird, dass es zu einer stärkeren Polarisierung kommt und dass sich die Fronten verhärten. Zugleich kann Druck aber auch dazu beitragen, dass sich ein vermeintlicher Stillstand löst, weil ein Verhandlungspartner, der zuvor zu keiner Konzession bereit war, nun gezwungen wird, nachzugeben (Baugut & Grundler, 2009). Im Lichte dieser beiden Implikationen von Druck liegt die Antwort auf die Frage im Auge des Betrachters, ob sich der Handlungsraum dadurch „verbessert“ oder „verschlechtert“ (vgl. Kapitel 5.5). Ebenso bleibt an dieser Stelle die Frage nach der Einordnung solcher Wirkungen unbeantwortet, da unklar ist, wie invasiv diese – gerade auch im Vergleich zu anderen Einflüssen – auf das Entscheidungshandeln sind. Insgesamt fußen diese Vermutungen allerdings auf einem wackligen Fundament, da viele der Studien zu Medieneinflüssen auf Verhandlungen einzelfallbezogen vorgehen und damit die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse in Anbetracht sehr spezifischer Rahmenbedingungen, unter denen sie zustande gekommen sind, problematisch ist (vgl. Kapitel 2.3.2.2.4). Die bestehende Forschung lässt an dieser Stelle ganz grundlegend einen gehaltvollen Bezug zum tatsächlichen Handeln am Verhandlungstisch vermissen. Die vorhandenen Befunde zur Rolle der Medien in politischen Verhandlungsprozessen fokussieren sich nämlich vor allem auf die öffentlichkeitsbezogenen Kommunikationsmaßnahmen von Verhandlungsakteuren, aber nicht auf deren eigentliches Verhandeln (es werden maximal einzelne, besonders prominente Phänomene wie das Leaking betrachtet; vgl. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Wenngleich es sehr unplausibel erscheint, dass das Verhandlungsergebnis im Hinblick auf seine ökonomisch-rationellen Merkmale durch die Informationen aus der Medienöffentlichkeit verändert wird, so können doch die Maßstäbe der subjektiven Bewertung des Verhandlungsergebnisses angepasst werden: Damit würden die Informationen aus der Medienöffentlichkeit die subjektiv-sozialen Eigenschaften des Verhandlungsergebnisses beeinflussen (vgl. Kapitel 4.1). Unklar ist aber, welche Dimensionen der subjektiven Bewertung (eigene Leistung, Bewertung
7.2 Diskussion der Modellimplikationen
397
des Gegners, etc.) auf welche Weise mit den verschiedenen Aspekten der Verarbeitung von medial vermittelter und öffentlicher Kommunikation interagieren. Darüber hinaus ist vorstellbar, aber bislang ebenfalls nicht untersucht, ob in der Interaktion mit der Medienöffentlichkeit zusätzliche Bewertungsdimensionen entstehen – etwa wie ein Verhandlungsergebnis öffentlich bzw. in bestimmten Öffentlichkeiten angenommen wird (vgl. hierzu beispielweise die Befunde von Fawzi, 2014, S. 253 zu den wahrgenommenen Medieneinflüssen in der Evaluationsphase des politischen Prozesses). Schließlich haben einige Studien aufgezeigt, wann auf strategisch motivierte instrumentelle Aktivitäten in einer Arena zur Zielerreichung in der anderen zurückgegriffen werden könnte: Nämlich dann, wenn sich das Geschehen am Verhandlungstisch als sehr zäh erweist und man das Gefühl hat, nicht voran zu kommen, dann wird die Medienöffentlichkeit zur attraktiven strategischen Plattform (Baugut & Grundler, 2009, S. 269; Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2011, S. 430). Für potenzielle Wirkungszusammenhänge in die andere Richtung, d. h. strategisch motivierte Maßnahmen in der Verhandlungsarena, um seine Ziele in der öffentlichen Arena zu erreichen, fehlt es bislang an Erkenntnissen. Dabei darf nicht davon ausgegangen werden, dass diese Wirkrichtung irrelevant ist. Sie wurde bislang nur nicht explizit in der wissenschaftlichen Forschung adressiert. Gleichzeitig würden solche Befunde aber auf ein sehr umfassendes Ausmaß an Medialisierung hindeuten (vgl. Kapitel 4.4). Aber auch insgesamt kommt Fawzi mit Blick auf diese instrumentellen Aktivitäten zu dem Schluss, dass sie in der Praxis quasi „common sense“ (Fawzi, 2014, S. 220) sind, nicht jedoch in der Forschung, da „dieser Zusammenhang (…) in der Literatur bislang kaum diskutiert“ wurde (Fawzi, 2014, S. 222–223). Besonders schwer wiegt aus Perspektive der hier vorgeschlagenen Konzeption die Tatsache, dass die Gestalt der strategisch-taktischen Überlegungen bislang weitestgehend ungeklärt ist. Sie wurden als komplexe Szenarien gefasst (Bentele & Nothhaft, 2014, S. 614), in die verschiedene Informationen einfließen und in denen die Entscheidungsfindung unter Zuhilfenahme von Heuristiken und emotionalen Hinweisreizen stattfindet (vgl. Roloff & Jordan, 1992). Das deutet den komplexen Charakter dieser Konstrukte an. Um diese in Zukunft jedoch klarer fassen zu können, bedarf es in einem nächsten Schritt einer empirischen Grundlegung, die dabei hilft, deren Grenzen und wesentlichen Mechanismen auszumachen.
Potenzielle Zusammenhänge im Hinblick auf die Kontextfaktoren Der Kernzusammenhang zwischen der Verarbeitung von medial vermittelten und öffentlich diskutierten Kommunikationsinhalten in der Medienöffentlichkeit und dem Entscheidungshandeln der Eliten wird in der hier vorgeschlagenen Modellierung 397
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
durch verschiedene Kontexte eingerahmt und bedingt. Für die Kontextfaktoren aus den Umwelten sowie die Merkmale des Individuums und des Backgrounds ließ sich zeigen, dass diese entweder die Handlungsebenen der Entscheidungsträger beeinflussen. Damit treten sie neben der hier im Fokus stehenden zentralen unabhängigen Konstrukte (die Verarbeitung der medial verbreiteten und öffentlich diskutierten Kommunikationsinhalte) als weitere unabhängige Faktoren in Bezug auf die betrachteten abhängigen Konstrukte auf. Oder aber die Kontextfaktoren sind der hier zentral betrachteten unabhängigen Konstrukte vorgelagert, d. h. sie bedingen bereits die Verarbeitung der Inhalte, die aus der Medienöffentlichkeit wahrgenommen wurden. Mit Blick auf den Gesamtzusammenhang sorgen diese Faktoren dann dafür, dass das hier im Fokus stehende unabhängige Konstrukt zu einem Mediator wird (vgl. Kapitel 6). Ungeachtet dessen, ob diese Merkmale als vorgelagerte oder zusätzliche unabhängige Faktoren auftreten, sollte für deren Einfluss bei einer Untersuchung des Kernzusammenhangs kontrolliert werden. Denn: Diese Faktoren haben sich in der bisherigen Forschung als relevant für die Kernkonstrukte im vorliegenden Modell erwiesen. Berücksichtigt man sie nicht, dann besteht die Gefahr, deren Einfluss fälschlicherweise der Medienöffentlichkeit zuzuschreiben und so deren Rolle entweder zu überschätzen oder zu unterschätzen. Eine valide Untersuchung wird ohne diese Kontrollfaktoren nur eingeschränkt möglich sein. Neben ihrer Rolle als zusätzliche oder vorgelagerte unabhängige Faktoren kann außerdem gefragt werden, ob sie auch intervenierend (d. h. als Moderator oder Mediator) auf den Kernzusammenhang zwischen Verarbeitung und Entscheiden einwirken. Die vorhandene Forschung liefert zu dieser Frage allerdings nur sehr punktuell Evidenz. Daher ist es nicht möglich, auf breiter empirischer Basis Annahmen zu solchen intervenierenden Wirkungen abzuleiten. Es wurde dennoch ein Versuch unternommen, der sich im Wesentlichen auf plausible Überlegungen und die Erkenntnisse zum Wirken dieser Einflussfaktoren als zusätzliche oder vorgelagerte unabhängige Faktoren stützte (vgl. Kapitel 6.1–6.4). In der Summe wurde für diese Umweltfaktoren folgende übergreifende Annahme deduziert: Immer dann, wenn die Merkmale der Verhandlungs- und der organisationalen Umwelt einen Rahmen schaffen, der mit den Prinzipien in der Medienöffentlichkeit korrespondiert, und wenn die Zeichen in der Umwelt Medien und Öffentlichkeit für eine enge Verbindung zum Entscheidungsakteur sprechen, dann kann angenommen werden, dass die Merkmale in diesen Umwelten einen verstärkenden Effekt auf den Kernzusammenhang ausüben. D. h. dann sorgen die Umweltbedingungen dafür, dass die Verzahnung zwischen dem zentralen unabhängigen Konstrukt und den abhängigen Konstrukten im hier vorgeschlagenen Modell enger wird. Konkret bedeutet das, dass die Informationen, die aus der Wahrnehmung und
7.2 Diskussion der Modellimplikationen
399
Verarbeitung der Inhalte aus der Medienöffentlichkeit gewonnen werden, eine sehr wichtige Rolle in den strategisch-taktischen Überlegungen der Entscheider spielen. Sie werden mitunter wichtiger als andere Kalküle im Rahmen dieser strategischen Abwägungen. Ihre Bedeutung als strategischer Informationsinput steigt also und damit steigt auch der Einfluss, den sie mit Blick auf das Handeln in der medienvermittelten und öffentlichen Arena und hinsichtlich des Kernentscheidungshandelns in der Verhandlungsarena spielen. Für eine tatsächliche empirische Überprüfung dieser These müsste nun im Einzelnen konkretisiert werden, was es heißt, dass die Merkmale in der Verhandlungs- und der organisationalen Umwelt mit den Prinzipien in der Medienöffentlichkeit korrespondieren bzw. dass eine enge Verknüpfung zwischen Entscheider mit der Umwelt Medien und Öffentlichkeit gegeben ist. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden: Die Merkmale in der Umwelt des Verhandlungskontextes korrespondieren beispielweise gut mit den Prinzipien in der Medienöffentlichkeit (bzw. insbesondere mit ihrer kommerziell geprägten Medienlogik), wenn sie die Konflikthaftigkeit der Auseinandersetzung zuspitzen und zur Polarisierung beitragen. Beispielhaft seien hier die Eingangsrunden bei manchen Tarifverhandlungen genannt, in denen die Tarifpartner mit maximaler Personenstärke auftreten und die vor allem dazu dienen, sich öffentlichkeitswirksam ihre jeweils konträren Positionen lautstark gegenseitig vorzutragen. Dieses Schauspiel erzeugt Aufmerksamkeit. Die eigentliche Kompromisssuche startet dann erst in späteren Runden. Eine enge Verknüpfung zwischen der Umwelt Medien und Öffentlichkeit mit dem Verhandlungsakteur ist beispielsweise dann gegeben, wenn dieser im Lichte einer sehr heterogenen Mitgliederbasis stark auf die Arenafunktion der Medien angewiesen ist – d. h. für ihn ist es sehr wichtig, dass die Medien als Scharnier zu den Anhängern fungieren (vgl. Kapitel 3.2.1). Unter diesen beiden Bedingungen wäre es der hier formulierten Annahme zufolge wahrscheinlich, dass ein verstärkender Effekt auf den Kernzusammenhang zwischen Verarbeitung und Entscheidungshandeln ausgeht. Bedenkt man den Ursprung dieser Faktoren (die Faktoren haben sich als relevante vorgelagerte oder zusätzliche unabhängige Faktoren in der Forschung gezeigt), so scheint es an dieser Stelle mehr als plausibel anzunehmen, dass hier noch zahlreiche dunkle Flecken vorherrschen, die es zu belichten gilt: Bevor es also an die empirische Prüfung der vermuteten Wirkung der Umweltfaktoren geht, sollte zunächst explorativ eruiert werden, ob nicht weitere Umweltfaktoren relevant sind und ob diese nicht zugleich eine wesentlich bedeutsamere Rolle für den Kernzusammenhang spielen als die bislang diskutierten. Sehr pauschal ist bislang auch die Annahme, dass die sozioemotionalen Faktoren aus den verschiedenen Umwelten als potenzielle Mediatoren des Kernzusammenhangs wirken. Grundlage für diese Annahme war die Überlegung, dass diese 399
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7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
sozioemotionalen Faktoren eng mit der Verarbeitung verknüpft sind, da es sich bei diesen ebenfalls um Eindrücke und Zuschreibungen handelt. Es ist also wahrscheinlich, dass sie ausgehend von den Eindrücken aus der Medienöffentlichkeit selbst verändert werden und dann als zusätzliche Verstärker der Einflüsse fungieren, die von der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln ausgehen. Hier bietet sich für weitere Forschung aber noch deutliches Differenzierungspotential. Solche Verstärkereffekte scheinen zwar naheliegend, schließen aber deshalb potenziell kompensierende Wirkungszusammenhänge keineswegs aus. Es fehlt schlicht an einer soliden empirischen Grundlage, um hier klare Aussagen treffen zu können. Diese könnte überdies dazu beitragen, die intervenierende Rolle der individuellen und Backgroundmerkmale zu konkretisieren, für die sich in der hier vorgenommenen Modellierung keine sinnvollen Annahmen ableiten ließen (vgl. Kapitel 6.4). Schließlich wurden diese Umweltfaktoren so behandelt, als wirkten sie unabhängig voneinander. Dabei sind Wechselwirkungen an zahlreichen Stellen mehr als wahrscheinlich. Auch hier besteht also noch weiterer Forschungsbedarf.
7.3
Kritische Reflexion: Limitationen, Leistungen und Anwendungsoptionen
7.3
Kritische Reflexion
Nachdem nun die vielfältigen Annahmen zu potenziellen Zusammenhängen zwischen den Modellparametern gebündelt dargestellt und vor dem Hintergrund bestehender Lücken in der Forschung diskutiert wurden, gilt es nun, einen weiteren Abstraktionsschritt vorzunehmen. Im Folgenden wird das hier konzipierte Modell kritisch reflektiert, indem dessen Limitationen und Leistungen aufgezeigt und potenzielle Lösungen – insbesondere hinsichtlich konkreter Anwendungsoptionen – elaboriert werden. Ein erster limitierender Aspekt des vorliegenden Modells resultiert aus den Kontexten, die für das Entscheidungshandeln der Eliten identifiziert und modelliert wurden: So notwendig die Kontextualisierung des Kernzusammenhangs über die vielen Umweltbedingungen in der Verhandlungs-, der organisationalen und der Umwelt Medien und Öffentlichkeit war, um eine valide Betrachtung zu ermöglichen, so problematisch ist dieses Vorgehen, wenn man an die empirische Umsetzung des Modells denkt: Mit der Vielzahl an Merkmalen aus den Umwelten geht eine Vielzahl an Freiheitsgraden einher. Diese werden zusätzlich gesteigert, da zwischen den verschiedenen Kontextfaktoren Wechselwirkungen wahrscheinlich sind, auf die in der vorliegenden Modellierung bereits verzichtet werden musste, um das Ausmaß an Komplexität nicht übergroß werden zu lassen. Beispielsweise
7.3 Kritische Reflexion
401
gilt Prominenz als relevanter Faktor in der Umwelt Medien und Öffentlichkeit, weil es dadurch möglich wird, öffentliche Aufmerksamkeit leichter zu steuern (vgl. Kapitel 6.3; Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 36); gleichzeitig steht Prominenz aber auch im Zusammenhang mit der Macht am Verhandlungstisch: Wenn man Macht als relationales Konstrukt begreift, das einem von anderen zugeschrieben wird (vgl. Kapitel 6.1), dann kann hohe Prominenz mit einer höheren wahrgenommenen Macht einhergehen (vgl. Kunelius & Reunanen, 2012). Eine empirische Anwendung des Modells ist mit dieser Vielzahl an Freiheitsgraden nicht möglich. Die Lösung besteht darin, besonders relevante Umweltfaktoren zu identifizieren. Allerdings stellt sich hier die Frage, wie man das im Lichte der Vielzahl an potenziellen Entscheidungskontexten – man denke etwa an Koalitionsverhandlungen, die Aushandlung internationaler Verträge oder Tarifverhandlungen – bewerkstelligen soll. Vermutlich werden in diesen verschiedenen Verhandlungsszenarien auch unterschiedliche Umweltfaktoren jeweils besonders relevant sein. Die Forschung zu Medieneinflüssen auf Policy-Entscheidungen, wie sie von Koch-Baumgarten und Voltmer (2009) differenziert und aufschlussreich diskutiert wurde, liefert jedoch auch hier eine Lösungsoption: Ihr Vorschlag der Kontextualisierung bezieht sich nur darauf, die potenziell relevanten Kontextfaktoren zu identifizieren. Mit Blick auf die empirische Betrachtung empfehlen sie außerdem, sich auf bestimmte Bereiche zu konzentrieren und die Spezifika in diesen Bereichen, d. h. die dort jeweils relevanten Faktoren und Bedingungen in ihren Wirkungen zu untersuchen (Koch-Baumgarten & Voltmer, 2009, S. 300). In der Gesamtschau über mehrere solcher Forschungsaktivitäten lassen sich dann kumulativ übergreifende Prinzipien und Wirkmechanismen ableiten. Welche konkreten Bereiche bieten sich an, um den hier betrachteten Gegenstand der Medieneinflüsse auf gesellschaftlich relevante Entscheidungsprozesse zu untersuchen? Eine vielversprechende Option stellt beispielweise die Tarifpolitik dar. Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden eigenen sich aus mindestens zwei Gründen als Untersuchungsgegenstand: Erstens sind Tarifverhandlungen weit verbreitet, zahlreich und beschäftigen sich mit relevanten Fragen des kollektiven Miteinanders in der Gesellschaft (Kißler, 2010, S. 470). Vor allem ihre Quantität ermöglicht Untersuchungen auf Basis einer größeren Fallzahl über spezifische Einzelfälle hinaus (diese Einzelfälle dominieren nämlich bislang die Betrachtung von Medieneinflüssen auf Entscheidungsprozesse). Zweitens bieten sie eine große Vielfalt in einem abgesteckten Rahmen. Im Gegensatz zum politischen System und politischer Teilbereiche wie der Umweltpolitik oder der Gesundheitspolitik, stellen die industriellen Beziehungen ein klarer umgrenztes Teilsystem dar (tarifpolitische Akteure agieren nur in der Tarifpolitik als Quasi-Gesetzgeber), sodass spill-over Effekte aus den Aktivitäten in anderen Teilbereichen 401
402
7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
hier unwahrscheinlich sind (wenn beispielweise ein Politiker bei europapolitischen Angelegenheiten einem Vorhaben zustimmt, obwohl er anderweitige Präferenzen hatte, sich dafür aber mit seiner Position in der Umweltpolitik durchsetzen kann). Gleichzeitig ermöglicht es die Akteursvielfalt industrieller Beziehungen (bspw. Arbeitgeber und Gewerkschaften als unterschiedliche Funktionseliten; unterschiedliche Gewerkschafts- und Arbeitgebertypen) verschiedene Akteurskonstellationen in ihrem Entscheidungshandeln zu untersuchen. Diese Vielzahl der potenziellen Konstellationen und beteiligten Akteure bei gleichzeitig festen gemeinsamen Rahmenbedingungen (z. B., rechtliche Regelungen in der Tarifpolitik, Entscheidungsgegenstände stammen alle aus einem spezifischen Themenfeld und sind sich ähnlich), ermöglicht es, die intervenierende Wirkung einiger weniger, verschiedener Kontexte vor dem Hintergrund einer handhabbaren Zahl an Freiheitsgraden zu betrachten. Mit Blick auf die Übertragbarkeit der Erkenntnisse können Tarifverhandlungen als ein typisches Beispiel für ein Verhandlungssystem zur Lösung von überindividuellen Problemen erachtet werden (ähnlich argumentieren Walton & McKersie, 1965, S. 2). Gewissermaßen als Grenzgänger vereinen sie Eigenschaften, die sie mit Verhandlungssystemen aus den Bereichen Politik und Wirtschaft gemeinsam haben (z. B. sind ökonomische Kalküle prägend für den Aushandlungsprozess, Gewerkschaften gelten als gesellschaftliche Intermediäre mit gesellschaftspolitischem Vertretungsanspruch, sodass ihnen auch die Handlungslogik politischer Organisationen nicht fremd ist; vgl. Armingeon, 2007, S. 95). Dadurch wird das Potenzial geschaffen, die Erkenntnisse, die im Zusammenhang der Tarifpolitik erzielt wurden, auf Entscheidungssysteme in anderen Bereichen übertragen zu können – zumindest, wenn eine grundlegende Ähnlichkeit in den zugrundeliegenden Eigenschaften der jeweiligen Verhandlungssysteme gegeben ist. Dies würde überdies einen deutlichen Differenzierungsbeitrag zur bisherigen Befundlage leisten, die stark durch den Blick auf den Kernbereich Politik geprägt ist. Das verweist zugleich auf eine weitere Limitation der vorliegenden Konzeption: Das Fundament der hier vorgeschlagenen Modellierung baut maßgeblich auf Erkenntnissen aus der Politik. Wenngleich dieser Bereich mit Blick auf gesellschaftlich relevante Entscheidungen enorm bedeutsam ist (Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 9), so zeichnet er sich doch durch einige Besonderheiten aus, die eine einfache Übertragung auf andere gesellschaftliche Teilbereiche zumindest fraglich erscheinen lassen (vgl. z. B. Fawzi, 2018, S. 1139; Gerhards & Neidhardt, 1990, S. 10–11). Insofern bedarf es dringend an Forschung, die die Befundlage in dieser Hinsicht erweitert. Der Blick auf die Tarifpolitik wäre hier ein Anfang, weil auch dieser Bereich bislang nur selten im Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung stand (ähnliches konstatiert z. B. auch Koch-Baumgarten, 2013, S. 27).
7.3 Kritische Reflexion
403
Während die Problematik der Freiheitsgrade aus der Frage nach der empirischen Umsetzbarkeit resultierte, deutet die Dominanz von Vorarbeiten aus dem Bereich Politik auf Grenzen in der Reichweite der theoretischen Konzeption. Ein zweiter Aspekt, der die Validität der Modellierung tangiert, ist die Frage der Dynamik, die sich mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand in zweierlei Hinsicht stellt: Erstens erfolgt der Entscheidungsprozess nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, vielmehr ziehen sich Verhandlungen über einen längeren Zeitraum und umfassen dabei mitunter ganz unterschiedliche Entwicklungen (vgl. Kapitel 3.1.2.4 sowie Holmes, 1992) – sowohl mit Blick auf die strategischen Abwägungen und Handlungen der Entscheider als auch mit Blick auf die Kommunikationsinhalte in der Medienöffentlichkeit. Die vorliegende Konzeption behandelt den Entscheidungsprozess aber nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und zusätzlich wird dabei eine Linearität suggeriert, die bei den Kommunikationsinhalten ihren Ursprung nimmt und auf die Entscheidungsträger einwirkt. In der Realität prägen sich die Handlungen der Entscheidungsträger und das, was in der Medienöffentlichkeit diskutiert wird, jedoch wechselseitig (Kepplinger, 2010d, S. 138). Die Medien berichten über etwas, das die Entscheidungsakteure zum Handeln veranlasst. Dieses Handeln wird wiederum zum Ausgangspunkt neuer öffentlicher Kommunikationsinhalte (Kepplinger, 2010d, S. 138, 145). So kann eine sich verstärkende oder sich abschwächende Eigendynamik im Zeitverlauf entstehen (Kepplinger, 2010d, S. 138). Aber selbst wenn es gelingen würde, diese Dynamik im Laufe eines Entscheidungsprozesses zu fassen, dann bliebe dennoch ein zweiter übergeordneter dynamischer Aspekt außen vor: Medialisierung gilt als langfristiger, sich dynamisch entwickelnder Prozess (Marcinkowski, 2014, S. 9). Ruft man sich jedoch nochmal die Problematik der Freiheitgrade (siehe oben) in Erinnerung, so scheint der hier gewählte Weg über die statische Modellierung unumgänglich. Diese geht zwar im Vergleich zur komplexen Realität mit einigen Vereinfachungen einher. Allerdings ließen sich nur so die vielschichtigen Beziehungen zwischen den Modellparametern zunächst grundständig beschreiben und benennen. Außerdem war es nur so möglich, in den modellierten Konzepten feinfühlig genug zu sein, um auch den subtil auftretenden und indirekt wirkenden Einflüssen aus der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln auf den Grund zu gehen. Darauf wurde in der vorhandenen Forschung zwar vielfach hingewiesen, aber nur selten wurden solche indirekten wahrnehmungsbasierten Wirkkanäle auch tatsächlich modelliert (vgl. z. B. Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Insbesondere das zentrale Konstrukt im vorliegenden Modell, die strategisch-taktischen Überlegungen, wurden vor der Erwägung, diese subtil wirkenden Mechanismen abbilden zu können, konzipiert. Sie ermöglichen es nun, einen Kerngedanken der Medialisierung zu adressieren – nämlich das facettenreiche Wechselspiel zwischen Entscheidungsträgern und 403
404
7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
Medien abzubilden, das von passiver Anpassung an oder gar Unterwerfung unter die Anforderungen bis hin zur Ermächtigung und Instrumentalisierung der Medienöffentlichkeit reicht (vgl. Kapitel 2.2 sowie z. B. Kepplinger, 2008, S. 335; Strömbäck, 2011a, S. 436). Insgesamt diente diese Art der Modellierung dazu, ein Desiderat zu adressieren, das gerade der Medialisierungsforschung immer wieder angelastet wurde – nämlich, dass sie zu vage und unspezifisch in ihren Annahmen und Konzepten sei, und damit mehr einem Sammelbecken an Ideen gleiche, denn als empirisch-analytisch fruchtbares Konzept dienen zu können (Deacon & Stanyer, 2014, S. 1039). Wenngleich die statische Betrachtung der Medieneinflüsse in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten also eine Limitation der vorliegenden Arbeit darstellt, so gelang es gleichzeitig, aus dieser Not eine vermeintliche Tugend zu machen. Will man das Zusammenspiel zwischen Medien und Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidungshandelns nämlich im Querschnitt, d. h. zu einem spezifischen Zeitpunkt betrachten, so bedarf es einer Übersetzung der dynamischen Logik in eine Querschnittsperspektive. Es musste die Frage geklärt werden, wie sich die Medialisierung in der Momentaufnahme bestimmen lässt – d. h. die Verbindung zwischen dem aktuellen Ausmaß an Medialisierung (= Verankerung und Durchdringung des Handelns durch Medienlogik) und den daraus resultierenden Folgen für das Handeln der Eliten musste theoretisch-konzeptionell ausgearbeitet werden. Basierend auf den Studiendesigns, die die wahrgenommenen Medieneinflüsse von Politikern im Querschnitt untersuchten (Strömbäck, 2011a), sowie die Differenzierung von Marcinkowski (2014, S. 14) in Ursachen, Phänomen und Folgen der Medialisierung ließ sich klarstellen: Medialisierung meint den Zusammenhang zwischen der Bedeutungszuschreibung zur Medienöffentlichkeit (wie stark bin ich auf medial erzeugte und öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung angewiesen) und der Rolle, die medienbezogene Überlegungen im strategischen Abwägen und im Handeln der Entscheider spielen (vgl. Kapitel 4.4). Davon ausgehend lässt sich das Ausmaß an Medialisierung über zwei Indikatoren bestimmen: a) Das Ausmaß der kognitiven Verankerung der publikumsorientierten Medienlogik und b) das Ausmaß, indem die publikumsorientierte Medienlogik als proaktiver Handlungsmaßstab dient – und zwar sowohl in der medial vermittelten öffentlichen Arena als auch in der Kernentscheidungsarena. Beide Kriterien sind dabei jeweils relativ zur Bedeutung anderer Handlungslogiken, im vorliegenden Fall vor allem der Verhandlungslogik zu betrachten. Es gilt also beispielweise Fragen wie die folgenden zu klären (ähnliches werfen auch Landerer, 2015, S. 45; Marcinkowski, 2014, S. 15 auf): Welche Aspekte aus beiden Logiken sind jeweils wichtig? Wie verhalten sich die Anforderungen vom Verhandlungstisch zu denjenigen, die aus der medienvermittelten Öffentlichkeit wahrgenommen werden – ergänzen sie
7.3 Kritische Reflexion
405
sich oder stehen sie in Widerspruch zueinander? Gibt es situative Unterschiede im Zusammenspiel zwischen beiden Handlungslogiken – d. h. wann ist die eine, wann die andere prägender (ein ähnliches Argument bringen Strömbäck & Esser, 2014, S. 16, für Routine- vs. Wahlkampfzeiten in der Politik)? Da es allerdings eines absoluten Grenzwertes bzw. an einer Benchmark fehlt, um das so bestimmte Ausmaß an Medialisierung zu bewerten, ist eine vergleichende Untersuchung verschiedener Entscheidungsinstanzen geboten. Deren Auswahl sollte dadurch motiviert sein, dass gezielt relevante Umweltfaktoren möglichst systematisch variiert werden (soweit das bei natürlichen/realen Entscheidungsinstanzen möglich ist). Eine weitere Notwendigkeit hat sich mit Blick auf die Untersuchung potenzieller Einflüsse der Medienöffentlichkeit auf das Entscheiden von Funktionseliten ergeben: Insbesondere die Befunde zu den Medialisierungsfolgen legen nahe, dass es keineswegs der Königsweg ist, ein objektives Maß für das Entscheiden zu finden (z. B. Höhe der Ausgaben für verschiedene Politikbereiche) und damit die Abfrage der subjektiven Eindrücke bei den Beteiligten zu ersetzen (vgl. z. B. die Befunde zum Policy Agenda Setting in Kapitel 2.3.2.2.3). Vielmehr deuten nicht nur die Befunde, sondern implizieren gerade auch die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen in der vorliegenden Arbeit, dass es sich bei den subjektiven Eindrücken der Entscheider (hier modelliert über die strategisch-taktischen Überlegungen) und dem objektiv messbaren Output ihrer Entscheidungen (hier modelliert über die outcome-bezogene Bewertung des Kommunikationsprozesses, vgl. Kapitel 4.2, und über die ökonomisch-rationellen Eigenschaften des Verhandlungsergebnisses, vgl. Kapitel 4.1) um unterschiedliche Konstrukte handelt. Insofern sollte eine gehaltvolle Untersuchung vielmehr bestrebt sein, beide Dimensionen des Handelns abzudecken. Auf der Ebene konkreter Forschungsdesigns könnten insbesondere eine Methodenkombinationen aus Beobachtungen von Entscheidungsprozessen (z. B. Beobachtung von konkreten Verhandlungen), damit verknüpften Befragungen zur Erfassung der subjektiven Abwägungen und Überlegungen der beteiligten Entscheider und eine parallele Erfassung des objektiven Outputs – sowohl mit Blick auf das Kernentscheidungshandeln (z. B. Zwischenstände) als auch hinsichtlich der kommunikativen Aktivitäten – sehr aufschlussreich sein. Dem vorgelagert sollte aber zunächst ein offenes und entdeckendes Vorgehen erfolgen. Denn das hier erarbeitete Modell ist das Resultat der Verbindung von sehr unterschiedlichen Perspektiven – die sozialpsychologische Verhandlungsforschung und die politische Kommunikations- sowie die PR-Forschung usw. Das Zusammenführen von derart unterschiedlichen Forschungsbereichen hat dazu geführt, dass vor allem die dort jeweils prominent diskutierten Faktoren in die Modellbildung eingeflossen sind. Gerade aber durch die Verknüpfung dieser sehr unterschiedlichen Sphären – Verhandeln hinter verschlossenen Türen einerseits, 405
406
7 Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
öffentliche Kommunikation mitunter sogar im aktiven Mobilisierungsmodus andererseits – könnte dazu führen, dass Aspekte relevant werden, die bislang eher eine Randnotiz darstellten und deshalb hier nicht berücksichtigt wurden. Ein Vorbild für ein solches offenes und damit anreicherndes empirisches Verfahren, das aber zugleich auch die Möglichkeit für erste quantifizierende und prüfende Analyseschritte bietet, ist Landerers (2015) Befragung von Schweizer Abgeordneten im Zusammenhang mit drei politischen Entscheidungsprozessen: Hier erfolgte eine Kombination aus standardisierter und offener Abfrage der zentralen Konstrukte bei den beteiligten Abgeordneten sowie eine Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung im Kontext der Entscheidungsprozesse. Die Auswertung dieser drei Datenquellen und insbesondere die interpretative Verknüpfung der Befunde aus diesen Datenquellen brachte sehr einsichtsreiche Erkenntnisse hervor. Neben den limitierenden Aspekten, die aus der statischen Modellierung, der Dominanz von Vorarbeiten aus dem Bereich der Politik und der Vielzahl an Freiheitsgraden im vorliegenden Konzept resultieren, lassen sich aber auch potenziell fruchtbare Implikationen für künftige Forschung ableiten. Solche künftigen Forschungsaktivitäten sind auch dringend notwendig, wenn man diesen überaus relevanten, zugleich sehr komplexen und schwer greifbaren Gegenstand der Medieneinflüsse auf gesellschaftlich relevante Entscheidungsprozesse besser verstehen will und sich ein Urteil dazu bilden will, ob es wünschenswert und/oder notwendig ist, dass sich die gesellschaftlichen Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidungshandelns der Beobachtung durch die Medien und die breite Öffentlichkeit aussetzen. Die in dieser Arbeit vorgenommene theoretisch-konzeptionelle Aufarbeitung der vorhandenen Forschungsliteratur deutet eine potenzielle Antwortperspektive an. Diese soll nachfolgend als erster, vorläufiger Versuch einer Antwort dargelegt werden, um künftiger Forschung einen Ansatzpunkt zur kritischen Prüfung zu liefern.
7.4
Ausblick: Der Versuch einer Antwort – mediale und öffentliche Beobachtung im Kontext der Entscheidungsfindung gesellschaftlicher Funktionseliten
7.4 Ausblick
Wenn es darum geht, ob es wünschenswert und/oder notwendig ist, dass die Öffentlichkeit (über die Medien) Einblicke in Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Funktionseliten erhalten sollte – beispielweise wenn eine neues Gesetz entsteht, internationale Verträge ausgehandelt werden oder wenn Unternehmen über die Fusion ihrer zentralen Geschäftsbereiche beraten –, dann fällt die Antwort
7.4 Ausblick
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sowohl aus normativ-demokratietheoretischer als auch auf Basis der vorhandenen wissenschaftlichen Befunde unklar aus. Deshalb markierte die Frage danach, ob und wenn ja welchen Einfluss mediale und öffentliche Aufmerksamkeit in gesellschaftlich relevanten, weil folgenreichen Entscheidungsprozessen von Funktionseliten haben, den Ausgangspunkt der hier vorgenommenen Betrachtung. Schon der Blick auf das persönliche Verhältnis zwischen den beteiligten Akteuren, den Journalisten einerseits und den Entscheidungsträgern andererseits (vgl. Kapitel 2.2), deutete ein facettenreiches Wechselspiel an, aus dem mitunter spannungsreiche Dynamiken für die Rolle der Medien in Entscheidungsprozessen entstehen können. Eine deutlich differenziertere Grundlage zur Modellierung dieses Phänomens lieferte schließlich die Medialisierungsperspektive (vgl. Kapitel 2.3). Sie erlaubt es nicht nur, vom Individuum zu abstrahieren und beispielweise auch die Mesoebene der Organisation in den Blick zu nehmen. Diese Abstraktionsleistung auf die Mesoebene scheint auch notwendig, wenn man bedenkt, dass gesellschaftlich relevante Entscheidungen primär von komplexen Akteuren getroffen werden (Strøm & Müller, 1999, S. 1; van Kleef et al., 2007, S. 130). Darüber hinaus erlaubt es die Medialisierungsperspektive, die subtilen und indirekten Einflüsse der Medienöffentlichkeit auf das Entscheidungshandeln von Funktionseliten zu fassen. Das haben zahlreiche Einzelbefunde aus dem dispersen Forschungsstand zu Medialisierungsfolgen nahelegt (vgl. Kapitel 2.3.2.1). Die Betrachtung der Ursachen der Medialisierung hat deutlich gemacht (Kap 2.3.1): Je mehr ein gesellschaftliches Teilsystem bzw. die Akteure darin auf öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung angewiesen sind (z. B. um Legitimation für ihr Handeln zu erzeugen), desto größer ist das Einflusspotenzial von Medien und Öffentlichkeit in den entsprechenden Entscheidungsprozessen (Marcinkowski & Steiner, 2014). Auf Basis dieser Ausgangsannahme konnte eine umfangreiche Differenzierung entlang der Frage erfolgen, bei wem gesellschaftliche Entscheidungsträger Legitimität für ihr Handeln erzeugen müssen und welche Rolle Medien und die breite Öffentlichkeit dabei spielen (vgl. die Differenzierung verschiedener Stakeholdertypen in Kapitel 3.2.1). Davon ausgehend konnte wiederum begründet werden, dass sich medien- und öffentlichkeitsbezogene Rationalitäten in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß im Abwägen und Räsonieren der Funktionseliten niederschlagen (vgl. Kapitel 4.4). Wenn ein Politiker beispielsweise auf Legitimation bei der breiten Wählerschaft abzielt, so ist er deutlich mehr auf die Legitimitätsherstellung über die Massenmedien und die breite Öffentlichkeit angewiesen und muss deren Wirkprinzipien deutlich mehr in seinem Räsonieren berücksichtigen als beispielweise der Vorsitzende eines Arbeitgeberverbandes, der Legitimität nur bei einem kleinen Kreis an Unternehmen herstellen muss und dazu auf andere Kanäle zugreifen kann, die er mitunter auch besser steuern kann. 407
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Nichtsdestotrotz muss er dann die Prinzipien und Handlungsrationalitäten dieser anderen Kanäle in seinen strategischen Abwägungen berücksichtigen. Blickt man an dieser Stelle nochmal auf Marcinkowskis (2014, S. 14) Differenzierung in Ursachen, Ausmaß und Folgen der Medialisierung zurück (vgl. Abbildung 1 auf Seite 27), so konnte über diese Spezifizierung der Stakeholdertypen und der mit ihnen einhergehenden (öffentlich generierten) Legitimationsnotwendigkeit der theoretische Unterbau für die Verknüpfung zwischen Ursachen und Ausmaß der Medialisierung für gesellschaftliche Entscheidungsträger geliefert werden. Die Brücke zum Räsonieren im Rahmen der strategisch-taktischen Überlegungen knüpft dann wiederum an die Folgen aus der Medialisierung an. In Summe ließ sich also in dieser Arbeit konkretisieren und modellieren, was es heißt, wenn gesellschaftliche Funktionseliten im Zuge ihres Entscheidens auf Medien und Öffentlichkeit angewiesen sind und welche konkreten Folgen daraus wie für ihr Handeln entstehen können. Diese Frage nach den Folgen von medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit in Entscheidungsprozessen von gesellschaftlichen Funktionseliten erhält ihre Brisanz unter anderem daraus, weil sie auf ein normativ aufgeladenes Spannungsverhältnis verweist: Einerseits wird öffentliche und mediale Beobachtung als Gefährdung der Problemlösequalität von Verhandlungen als Kernentscheidungsmechanismus für gesellschaftlich relevante Koordinationsprobleme erachtet. Andererseits gelten mediale und öffentliche Beobachtung aber als demokratietheoretisch wünschenswerte Herstellung von Transparenz, um die Verantwortungszuschreibung an diejenigen zu ermöglichen, die Entscheidungen über wesentliche Fragen in einer Gesellschaft treffen (vgl. hierzu Kapitel 3.1.1 und Lehmbruch, 2000, S. 26). Die kontroverse Diskussion in diesem Zusammenhang setzt vor allem an der Annahme an, dass die kompromissorientierte Interdependenzbewältigung im Rahmen von Aushandlungsprozessen den Ausschluss der Öffentlichkeit erfordert, um erfolgreich zu sein. Welche tatsächlichen Wirkungen mediale und öffentliche Beobachtung auf das Verhandlungsgeschehen und damit das eigentliche Entscheiden der beteiligten gesellschaftlichen Eliten haben, ist bislang allerdings weitestgehend ungeklärt und erschwert damit eine evidenzbasierte normative Bewertung. Diese Vermeidung bzw. Abschottung vor Öffentlichkeit stellt aber gerade ein Indiz dafür dar, dass es derartige Einflüsse von Medien und Öffentlichkeit gibt bzw. dass die Verhandlungsteilnehmer sie zumindest befürchten. Analog dazu zeichneten frühe Medialisierungsansätze hier vor allem Schreckensszenarien (Mazzoleni & Schulz, 1999, S. 250), die jedoch inzwischen durch differenziertere Perspektiven abgelöst wurden. Dabei haben sich vor allem Ansätze entwickelt, die die Idee des Push- und Pull-Paradigmas zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Medien und anderen gesellschaftlichen Systemen verfolgen
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(Blumler & Esser, 2019; Marcinkowski & Steiner, 2014). Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage zu sehen, wie sie plakativ über die vorliegende Arbeit geschrieben wurde: Welche Rolle spielen Medien und Öffentlichkeit im Entscheidungshandeln – wirken sie für das Handeln der Eliten wie ein Korsett, bilden sie eine Machtressource oder sind sie nicht vielmehr mal das eine, mal das andere? Nachfolgend soll im Lichte der theoretisch erarbeiteten Erkenntnisse der Versuch einer Einordnung vor dem Hintergrund der verschiedenen Dimensionen – Korsett oder Machressource, Gefährdung der Problemlösequalität oder Garant für Transparenz – unternommen werden. Dabei ist der Ausblick eher ernüchternd: Die Öffnung gegenüber der Öffentlichkeit und insbesondere die stärkere Einbindung von Journalisten in und rund um das Geschehen am Verhandlungstisch erwiesen sich oft als kontraproduktiv und das in mehrfacher Hinsicht: Nicht nur die Problemlösequalität des Entscheidungssystems wurde dadurch vermeintlich eingeschränkt. Darauf deuten beispielweise Beobachtungen hin, die Czada (2014, S. 133) gemacht hat: Demnach habe die Kritik an mangelnder Transparenz von Verhandlungssystemen dazu geführt, dass mehr und mehr öffentliche Beobachtung zugelassen wurde. Dies gehe jedoch mit einer zunehmenden Selbstinszenierung zu Lasten der inhaltlich-motivierten Entscheidungsorientierung einher (vgl. auch die Befunde von Baugut & Grundler, 2009). Der Wunsch nach mehr Transparenz schien sich dadurch jedoch ebenfalls nicht bewahrheitet zu haben. Denn diese Öffnung der Entscheidungssysteme wurde oftmals durch öffentlichen Druck erwirkt, um nicht zu sagen erzwungen (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Veröffentlichung der Papiere im Zuge der TTIP-Verhandlungen, European Commission, 2015). Statt die Transparenz zu erhöhen, wurde aber vor allem die Illusion von mehr Transparenz erzeugt. Denn die Entscheidungsträger kümmerten sich durchaus weiterhin um die Lösung der Entscheidungsprobleme – nur eben nicht mehr in den dafür vorgesehenen Rahmen. Vielmehr zogen sie sich in informelle Hintergrundbereiche zurück und vollzogen dort die Kompromisssuche, die sie unter öffentlicher Beobachtung nicht mehr durchführen konnten und/oder wollten (vgl. hierzu auch die Befunde von Spörer-Wagner & Marcinkowski, 2010). Bei diesen informellen Hintergrundrunden kann die Öffentlichkeit aber noch weniger nachvollziehen, wer wann mit wem in der Kernentscheidungsfindung interagiert hat und welche Interessen wie gegeneinander abgewogen wurden. Unter diesen Bedingungen wäre es mitunter sogar noch viel leichter, dass mächtige Partikularinteressen auf Kosten des Gemeinwohls auf die Entscheidungen einwirken (wie es bei TTIP immer befürchtet wurde, vgl. Buchter & Tatje, 2014). Denn die mächtigen Partikularinteressen verfügen im Zweifel über die besseren informellen Kontakte in die Hinterzimmer als der große Rest der Bevölkerung. 409
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In der Summe machen sich die Entscheider also ihr Wissen um die erfolgsversprechenden Rationalitäten und Prinzipien in der Medienöffentlichkeit zu Nutze, um ihr öffentliches Image zu keinem Zeitpunkt zu gefährden bzw. einen Gesichtsverlust in Kauf zu nehmen. Aber mehr noch als das: Manche nutzen das entstandene öffentliche Fenster gleich einer Schaubühne (vgl. hierzu Baugut & Grundler, 2009, S. 277), um sich zu inszenieren und für sich zu werben. An dieser Stelle offenbart sich das fein austarierte Wechselspiel aus Push- und Pull-Prozessen (Blumler & Esser, 2019) im Zusammenspiel zwischen Medien und Entscheidungsträgern: Die Medienöffentlichkeit erzeugt ein Druckmoment. Die Entscheidungsträger winden sich unter der Druck ausübenden Kraft, geben ihr ein Stück weit nach und manchen gelingt es, sich ihr zu entziehen oder sich ihrer sogar für ihre eigenen Ziele zu bemächtigen. Landerers (2015, S. 269–270) Befunde zu den Parlamentariern aus der Schweiz zeigen dabei recht eindrücklich, wie Hinterbänkler ohne anderweitige Machtquellen und vor allem in Ermangelung von Prominenz als Machtressource in der Medienöffentlichkeit eher nachgaben und sich – gleich eines Korsetts – durch den Druck seitens der Medienöffentlichkeit eingeschnürt fühlten, während Politiker aus den vorderen Reihen souverän gegenüber der Medienöffentlichkeit auftraten und sich ihrer nach eigenem Gusto als Machtressource bedienten. Insofern ist sowohl das Bild des Korsetts als auch das der Machtressource zutreffend – die Randbedingungen entscheiden, was für wen in welcher Situation und Konstellation eintritt. Abschließend bleibt die Frage, ob die aufgearbeiteten theoretisch-konzeptionellen Überlegungen im Rahmen dieser Arbeit auch einen Weg aus der Negativspirale aus sinkender Problemlösekapazität durch öffentlichen Druck und sinkender Transparenz durch die Migration in informelle Hintergrundrunden weisen? Die Herausforderung besteht im Prinzip darin, die negativ wirkende Kraft aus dem öffentlich erzeugten Druckmoment konstruktiv zu nutzen (ähnlich argumentiert Weichselbaum, 2016). Ansatzpunkt hierfür könnte die Tatsache sein, dass ein vollkommenes Ignorieren der öffentlichen Stimmung für die Entscheider ebenfalls keine Option ist, da sie ihre Entscheidungen sonst nicht implementieren können und auch langfristig um ihre Machtbasis fürchten müssen (Zerfaß, 2014, S. 25–26). Eine regulierte Einbindung der Öffentlichkeit, d. h. eine Institutionalisierung von Einbindung- und Beteiligungsoptionen könnte dazu beitragen, den fehlleitenden Handlungsdruck, der im Zuge öffentlicher und medialer Beobachtung entstehen kann, zu vermeiden und stattdessen konstruktive Impulse zu erzeugen, die mitunter sogar dazu beitragen könnten, die Problemlösekapazität der Entscheidungsprozesse zu steigern. Solche Versuche werden in unterschiedlichen Formen insbesondere auf lokaler politischer Ebene durch verschiedene Bürgerbeteiligungsformate bereits getestet (vgl. Bertelsmann Stiftung, 2013). Das Problem hier: Während es bei der öffentlichen Begleitung von Entscheidungsprozessen in den Medien, d. h. abseits
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dieser institutionalisierten Beteiligungsrahmen, gelingt, das Interesse zu wecken, indem kommerziell-erprobte, aufmerksamkeitshaschende Darstellungsmechanismen zum Einsatz kommen, fehlt es den institutionalisierten Beteiligungsformaten oft an Anreiz, sodass die Beteiligungsraten oft gering ausfallen. D. h. in der Summe muss es das Ziel sein, das konstruktive Potential derjenigen Mechanismen auszuschöpfen, die einerseits den öffentlichen Druck erzeugen, andererseits aber auch das Interesse der Öffentlichkeit wecken und binden können. Wenn das gelingt, dann wird aus dem einstigen Korsett der Entscheidungsträger eine Machtressource, die konstruktiv im Sinne einer gemeinwohlorientierten Entscheidungsfindung wirkt.
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