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German Pages [479] Year 2023
Kooperation im Kinderschutz Handbuch für eine systemische Praxis
Herausgegeben von Birgit Averbeck / Filip Caby / Björn Enno Hermans / Ansgar Röhrbein
Birgit Averbeck / Filip Caby / Björn Enno Hermans / Ansgar Röhrbein (Hg.)
Kooperation im Kinderschutz Handbuch für eine systemische Praxis
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 40 Abbildungen und 10 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © ER_09/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40811-3
Inhalt
Vorwort von Kay Biesel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Kinderschutz geht nur gemeinsam – einführender Dialog zum Thema Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein 2 Einleitende Gedanken zu den statistischen Aufbereitungen des Themas Kindesmisshandlung und -vernachlässigung – eine (unvollständige) Annäherung an ein komplexes Phänomen . . . . 23 Birgit Averbeck, Ansgar Röhrbein 3 Thematische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.1 Entwicklungspsychologische Grundlagen für den systemischen Kinderschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Sonja Bröning 3.2 »Wenn nicht wir, wer dann?« Zutaten und Grundlagen für (eher) gelingende Kooperationsbeziehungen und Netzwerke . . . . . . . . . . . . 56 Jochen Schweitzer im Interview mit Ansgar Röhrbein 3.3 Rechtliche Perspektiven des systemischen Kinderschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Reinhard Wiesner 3.4 Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 1): Neue Lebenswelten verändern Schutzbedarf radikal . . . . . . . . . . . . . 86 Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke 3.5 Kooperation und Innovation im Studium: Kinderschutz in Studiengängen Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Michael Böwer, Regina Rätz
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4 Fokus Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.1 Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) und der Jugendhilfe im Kinderschutz in klinischen Kontexten . . . . 109 Filip Caby, Rieke Oelkers-Ax 4.2 Kinder psychisch kranker Eltern: Vom »Vergessen« zur Familien orientierung in der Erwachsenenpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Bernward Vieten, Filip Caby 4.3 Kinderschutz: Ein Thema für die Gemeindepsychiatrie? . . . . . . . . . . 130 Birgit Görres, Nils Greve, Birgit Richterich 4.4 Die S3+-Leitlinie Kinderschutz als Schnittstelle von Medizin und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Jessika Kuehn-Velten, Frauke Schwier 4.5 »So jemand darf doch keine Kinder haben!« – Kinderschutz zwischen illegaler Sucht, Hilfe und Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Petra Ape, Birgit Averbeck 4.6 Kinderschutz im Rettungsdienst und die Notwendigkeit einer interund transdisziplinären Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Kathrin Stoltze, Heiko Schumann, Elke Stechbarth 4.7 Kinderschutz bei lebensverkürzenden Erkrankungen von Eltern – Systemiker:innen in der ambulanten und klinischen Hospizund Palliativarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Monika Jost, Anja Novoszel, Tim Reuter, Walter Tewes 4.8 Kinder mit Beeinträchtigungen als Herausforderung im Kinderschutz 191 Andrea Caby, Liane Simon
5 Fokus Sozialraum, Quartier, Kiez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5.1 »Gemeinsam schaffen wir mehr!« – Sozialraumorientiertes Arbeiten mit dem Familienrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Heike Hör 5.2 »Einer allein kann kein Dach tragen« – Kooperativer Kinderschutz in Tageseinrichtungen für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Kim Heinzer, Sabrina Müller, Uwe Hindrichs, Ansgar Röhrbein 5.3 »Und das jetzt auch noch …?« – Zutaten für einen gelingenden Kinder- und Jugendschutz in der Zusammenarbeit zwischen Schule, Fachberatung und Jugendamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Nathalie Kompernaß, Tanja Tschöke, Stefan Schröder, Ansgar Röhrbein
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5.4 Herausforderungen bewältigen – Kinderschutz in Beratungsstellen 234 Ines Ellesser 5.5 Kinderschutz im Jugendverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Tobias Falke
6 Fokus Hilfen zur Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6.1 Systemischer Kinderschutz in stationären Erziehungshilfe einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Petra Hiller 6.2 Kinderschutz in teilstationären Settings – Tagesgruppen als gemeinsamer Lernort für Eltern und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Tabea Karla 6.3 »Kommen Sie doch gern rein!« Kinderschutz in Pflegefamilien und sozialpädagogischen Lebensgemeinschaften – ein Spannungsfeld zwischen öffentlichem Anspruch und privatem Leben . . . . . . . . . . . 277 Monika Rüsch 6.4 Inobhutnahme – Schutz für Kinder und Jugendliche durch Nothilfe im Rahmen eines hilfeorientierten Kinderschutzes . . . . . . . 290 Helmut Maier 6.5 Dialogisch-systemische Hilfeplanung in angeordneten Kontexten – Beispiel Frühe Hilfen und Sozialpädagogische Familienhilfe . . . . . . 307 Birgit Maschke, Gabriele Biehl, Detlef Schütze
7 Fokus Recht und Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7.1 Kinderschutz in kriminalpräventiven Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . 327 Andreas Klink 7.2 Kinderschutz im familiengerichtlichen Kontext: Die Psychosoziale Prozessbegleitung und der Verfahrensbeistand als Chance . . . . . . . . 339 Raimund Schwendner, Filip Caby 7.3 »Es geht doch um unser Kind, oder?« – Kinderschutz in Rosenkriegen aus der Perspektive der familiengerichtlichen Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Annika Falkner 7.4 Rechtsmedizinische Möglichkeiten im Kinderschutz . . . . . . . . . . . . . 366 Sibylle Banaschak, Tanja Brüning
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8 Besondere Orte und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 8.1 Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 2): Neue Gefahren und verteilte Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke 8.2 Kinderschutz in Flüchtlingsunterkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Claas Jörges, Stefanie Horstmann 8.3 Fachberatung durch eine »insoweit erfahrene Fachkraft« im kooperativen Kinderschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Stefan Heinitz
9 Methodische Beispiele im Netzwerk Kinderschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 9.1 Familienrat im Kinderschutz – Reflexionen aus der Praxis . . . . . . . . 404 Heike Hör 9.2 Systemisch orientierte Fallwerkstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Birgit Maschke 9.3 sYpport – der Weg zu einer anderen Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . 421 Birgit Averbeck, Björn Enno Hermans 9.4 Signs of Safety® – eine Methode für besseren Kinderschutz . . . . . . . 427 Manna van ’t Slot, Sabine Epperlein, Filip Caby (Übersetzung) 9.5 Reflektierte Kommunikation – auch im Kinderschutz . . . . . . . . . . . . 435 Filip Caby, Andrea Caby 9.6 »Manchmal lohnt es sich, in den Spiegel zu schauen« – Leitfadengestützte Interviewbögen, die zum Dialog einladen . . . . . . 442 Friederike Gerstenberg, Ansgar Röhrbein
10 Ein Überblick über Gesetzesnormen im Kontext von Kinderschutz . 451 Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) Die Autor:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Zugang zum Onlinematerial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
Vorwort
Kinderschutz gelingt nur gemeinsam. Er wird von verschiedenen Akteuren in unterschiedlichen Organisationen und Institutionen wahrgenommen, um Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen ihres Wohls zu schützen. Zu den Verantwortlichen zählen Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen, dem Bildungssektor, der Polizei und Justiz. Sie alle bringen sich mit ihren jeweiligen disziplinären Expertisen ein, um Kinder insbesondere vor körperlicher Misshandlung, Vernachlässigung, psychischer/emotionaler Misshandlung und sexueller Gewalt zu schützen. Dabei kommt es zu vielfältigen Herausforderungen und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit. Diese sind häufig systemisch bedingt und können sich nachteilig auf die davon betroffenen Familien auswirken. Genau aus diesem Grund sind Veröffentlichungen wie das vorliegende Handbuch »Kooperation im Kinderschutz« so wichtig. Es zeigt auf, welche Systemebenen und Wechselwirkungen es in den kommunalen Kinderschutzsystemen in den Blick zu nehmen gilt, will man Fehler und Irrtümer bei der Wahrnehmung des Schutzauftrags vermeiden. Die Beiträge veranschaulichen, warum systemische Denk- und Arbeitsprinzipien für einen gelingenden Kinderschutz erforderlich sind. Systemisches Handeln ist aber nur unter bestimmten Rahmenbedingungen möglich. Deutlich wird dabei, dass Kinderschutz auf gut ausgebildete und erfahrene Fachkräfte, angemessene organisationale Rahmenbedingungen, stabile Kooperationsbeziehungen und intakte Angebotslandschaften angewiesen ist. Wenn diese Faktoren in der Praxis nicht gegeben sind, müssen sie permanent in Erinnerung gerufen und eingefordert werden. Möge das Handbuch all jenen Akteuren im Kinderschutz Argumentationen und Anregungen bieten, die Kindern, Eltern und Familien in Not solidarisch beistehen wollen und sich nicht davor scheuen, konsequent hilfeorientiert zu arbeiten. Prof. Dr. phil. Kay Biesel Co-Leiter Institut Kinder- und Jugendhilfe, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
1 Kinderschutz geht nur gemeinsam – einführender Dialog zum Thema Kooperation Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein1
Wofür dieses Buch? Was wollen wir damit? Enno Hermans: Aus meiner Sicht ist das Anliegen, in der zugespitzten Debatte um Kinderschutz, die schnell sehr polarisierend verläuft, eine Multiperspektivität und eine systemische Betrachtung hineinzubringen mit den Erfahrungen ganz vieler, um in der Breite mehr Verständnis zu erreichen, das würde ich mal in einem Satz so für mich formulieren. Filip Caby: Ich würde den Schwerpunkt deutlich darauf legen, dass Kinderschutz nicht nur eine One-(Wo)man-Show ist und dass er so viele unterschiedliche Aspekte hat, dass man vernünftigen Kinderschutz wirklich nur im Konzert der Instanzen bzw. der SGB-Säulen betreiben kann. Birgit Averbeck: Das sehe ich auch so und ich finde den Zeitpunkt unseres Beitrags sehr wichtig. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz2 ist jetzt mit neuen Vorgaben zur Kooperation, insbesondere zwischen den Berufsgeheimnisträgern und dem Jugendamt, in Kraft getreten, und es gibt schon Erfahrungen der Akteure. Die gesetzlichen Vorgaben sind so etwas wie Stellschrauben in die eine und in die andere Richtung. Geht die Orientierung im Kinderschutz in Richtung Beteiligung und Hilfe oder aber in Richtung Kontrolle und Intervention? Ich bin gespannt, denn es wird sich zeigen, wie diese neuen Vorgaben zur Kooperation in der Praxis des Miteinanders von Fachkräften gelebt werden. Meine Idee für dieses Buch ist, dass wir die Leser:innen sensibilisieren für den Unterschied, der einen Unterschied macht im Kinderschutz. Ansgar Röhrbein: Und in dem Zusammenhang macht es total Sinn, aus systemischer Perspektive auf die Dinge zu schauen, weil wir gerade darin gut aufgestellt sind, dass wir Komplexität aushalten und mit ihr umgehen kön1 Grundlage dieses Textes ist ein von Ansgar Röhrbein moderiertes Zoom-Gespräch vom 20.09.2021, das aufgenommen, transkribiert und gekürzt wurde. 2 Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) ist am 10.06.2021 in Kraft getreten.
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nen. Dadurch vermeiden wir ja letztendlich einfache Kausalitäten, die häufig aus einem gewissen Druck und einer Sorge heraus entstehen, weil ich mir möglicherweise das eine oder andere nicht zutraue. Das kann dann in eine Bewertung oder zu einer Einschätzung führen, die eventuell der Komplexität der Situation und des Falles sowie der Familie gar nicht gerecht wird. Wir habendiesbezüglich eine Menge zu bieten, die Komplexität in den Blick zu nehmen, sich ihr zu stellen und einen Umgang damit zu finden und so dem System eine Möglichkeit zu bieten, für sich selbst Ideen zu entwickeln und zu entfalten, so wie es z. B. im Familienrat als Methode umgesetzt wird. Was ist das Neue, das wir der bereits existierenden Lehrbücher-Landschaft rund um den Kinderschutz hinzufügen? Was bekommen die Leserinnen und Leser von uns geboten, was andere Werke weniger bereithalten? Filip Caby: Was das Neue sein könnte, ist, dass es uns sehr darum geht, dass wir im Kinderschutz von vornherein gemeinsame Prozesse haben. Dadurch würden die Verluste durch Abgrenzungskämpfe weniger werden, wenn man das so umsetzen kann, so wie wir uns das gedacht haben. Der Prozess wird dadurch insgesamt effektiver, aber auch für die Familien schonender. Enno Hermans: Ich glaube, dass durch diese große Vielfalt von Autorinnen und Autoren sehr deutlich wird, wie breit das Feld ist und welche Bezüge Kinderschutz überall hat. Ich weiß gar nicht, ob es schon ein Buch gibt, an dem so viele Professionen gemeinsam mitgewirkt haben. Diese Pluralität finde ich sehr besonders und dass sich alle aus ihrem jeweiligen Blickwinkel Gedanken zum Thema Kinderschutz machen, aber eben auch immer um die Kooperation und um das, was da den Mehrwert liefern könnte. Birgit Averbeck: Ja, da gebe ich dir recht. Also Kooperation als Mehrwert, aber auch mit den Herausforderungen, die damit verbunden sind, wenn Akteure der verschiedenen Systeme mit ihren ganz unterschiedlichen Finanzierungslogiken, eigenen gesetzlichen Grundlagen und Kulturen des Miteinanderumgehens im Alltag in einem Fall zusammenarbeiten. Die Herausforderungen und Probleme, die dabei entstehen, nicht zu skandalisieren, sondern eher ein Stück zu normalisieren und konstruktive Umgänge mit schwierigen Kooperationssituationen darzustellen, das gibt es bislang in keinem Fachbuch, das ich kenne. Wichtig ist mir, das Geschehen nicht nur auf einer systemtheoretischen Ebene zu beschreiben, sondern an ganz praktischen Fallbeispielen deutlich zu machen, wie man verrückterweise so effektiv miteinander scheitern kann, dass es für die Familie, auf den Prozess hin gesehen, bei guter Reflexion, wieder konstruktiv ist.
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Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein
Ansgar Röhrbein: Da kann ich gut anknüpfen mit etwas Altem, was dann gleichzeitig wieder neu ist. Als 2005 der Paragraf 8a eingeführt wurde, hat Thomas Mörsberger von Beginn an darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um einen »Melde-Paragrafen«, sondern um einen »Kooperationsparagrafen« handle und dieser Aspekt bedeute, dass der »Ball der Mitverantwortung« wandert und die einzelnen Akteurinnen und Akteure in der Kooperation miteinander verbunden sein sollen. Das ist die Chance, im Miteinander eher etwas zu bewirken, anstatt dass es Alleingänge gibt und dadurch bestimmte Facetten des Gesamten aus dem Blick geraten. Natürlich liegt in dieser Form der Zusammenarbeit auch eine ordentliche Herausforderung, und an dem Punkt liefern wir tatsächlich vielfältige Ideen und Anknüpfungspunkte für das gesamte Feld, wie gerade die Netzwerkarbeit im Miteinander gut gelingen kann – und dies ganz im Sinne der Familien, Kinder, Jugendlichen, Mütter und Väter. Es sieht so aus, als hättest du noch einen Gedanken dazu, Filip? Filip Caby: Ja. Ich denke gerade darüber nach, wie ich ihn formuliere. Ich weiß nicht, ob das so klar wird: Also, ich bin der Meinung, wenn alle Beteiligten ihren Job machen, dass sie es den anderen dann ermöglichen, auch ihren Job zu machen. Dieses Zusammenspiel von Leuten, die einerseits ihren Job richtig und gut machen und andererseits aufeinander abgestimmt sind – natürlich mit dem Fokus auf das Kind und seiner Familie –, führt dazu, dass wir da zumindest keine Abgrenzungskämpfe mehr haben. Wir verfügen über ein Konvolut von Menschen, die sich bewusst sind darüber, dass der andere auch was kann. Dazu muss ich aber auch mein Können beisteuern wollen. Birgit Averbeck: Und wenn ich daran anknüpfe, Filip, bedeutet das ja auch, dass ich das in einer Haltung tun muss, die den anderen mit seiner Professionalität und in seiner Profession anerkennt, und eben nicht in einem hierarchischen Gefüge innerhalb eines Netzwerks zu agieren, so nach dem Motto: Ich erteile jetzt einen Auftrag, indem ich eine Kindeswohlgefährdung melde, und du, Jugendamt, hast dich so zu verhalten, wie ich denke, dass es richtig ist. Sondern in einem Miteinander auf Augenhöhe unter Beteiligung der Betroffenen transparent zu agieren. Mir ist wichtig, die Kooperation nicht nur auf uns Fachkräfte in den unterschiedlichen Systemen zu beziehen, sondern die Beteiligung der jungen Menschen und ihrer Familien grundsätzlich an der Gefährdungseinschätzung und der Planung von Hilfen und Interventionen zu ermöglichen und zu jedem Zeitpunkt als Helfer:innen transparent zu handeln. Ansgar Röhrbein: Ja, das stimmt, diese Transparenz, die für uns ja ganz wesentlich ist in unserem Handeln, ist auch eine der wichtigsten Markierungen, eben aus dem systemischen Gedanken heraus, die der Gesetzgeber aufgegriffen hat, sodass wir im Regelfall, sofern der wirksame Schutz des Kindes nicht infrage gestellt ist,
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transparent vorgehen und miteinander nach Lösungen suchen. Das ist ja nach wie vor die große Stärke der Hilfe-Orientierung. Ich bin gespannt, wohin in der nächsten Zeit der Trend gehen wird. Die Würdigung der Ideen und der Gedanken der Beteiligten ist eine ganz wichtige Grundlage für unser Herangehen und Denken. Filip Caby: Mhm, mhm. Birgit Averbeck: Und an der Stelle sehe ich auch eine Schwachstelle im KJSG. In dem Leitbild, das die Bundesregierung für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert hat, wird sehr schön beschrieben, dass Eltern und Kinder nicht als Objekte staatlicher Fürsorge und Interventionen angesehen werden, sondern jederzeit als Expert:innen ihres eigenen Lebens in Entscheidungsfindungen mit einbezogen werden sollen. In den Ausführungen zum § 8a3 und zum § 4 KKG4 wird dieses Leitbild verlassen. Wenn es um den Schutz von Kindern geht, besteht die Gefahr, dass der Staat paternalistisch reagiert und man sehr wohl weiß, was der richtige Weg und das richtige Ziel für eine Familie und ein Kind ist. Betroffene werden eben nicht an der Gefährdungseinschätzung beteiligt, wenn sie sich widerständig zeigen. An der einen oder anderen Stelle wird zwar formuliert, dass Eltern zu informieren sind, wer auf der Helferebene wen über die Familiensituation informiert. Eine Information ist aber keine Beteiligung! Da setzen wir in diesem Fachbuch an: eben deutlich zu machen, wie konkrete Beteiligung, die bei den Menschen intrinsische Motivation wecken kann, in den unterschiedlichen Feldern aussehen könnte. Filip Caby: Ja, noch ein anderer Aspekt ist, dass es nicht nur um Lösungen dieses aktuellen Problems geht, sondern gleichzeitig darum, Perspektiven zu schaffen. Und da sehe ich, dass zumindest beim Kinderschutz, so, wie ich ihn heute oft erlebe, das Perspektivische sehr zu kurz kommt, weil alle froh sind, dass sie es erst mal gelöst haben, und keiner sich mehr darum kümmert, wie es für die Betroffenen weitergeht. Das klingt jetzt ein bisschen schwarz-weiß, ist aber auch eine Idee, die aus diesem Buch hervorgehen kann. Ansgar Röhrbein: Und gleichzeitig denke ich, dass es wichtig ist, dass auch im systemischen Feld eine selbstverständliche Klarheit und Bereitschaft existiert, im Zweifelsfall, wenn es um akute Gefährdungssituationen geht, für den wirksamen Schutz des Kindes zu sorgen. Bedeutsam ist, dass es eben ein Sowohlals-auch von mehreren Möglichkeiten und Handlungsoptionen gibt, wie du, Filip, es gerade beschrieben hast. Es braucht ein Verständnis für die Gesamtgeschichte, um darauf aufbauend tragfähige, längerfristige und mittelfristige 3 Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung.
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Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein
Perspektiven entwickeln zu können. Und das geht eben nicht mal einfach aus dem Ärmel heraus, sondern dafür brauche ich Zeit, Woman- und Manpower. In dieser Annäherung braucht es ein ehrliches Interesse für das System bei gleichzeitigem Respekt vor dem gelebten Leben der Beteiligten. Das ist eine besondere Form der Begegnung und des Sich-miteinander-auf-den-Weg-Machens, die zu tragfähigen Effekten führt, die anhalten. Klar, dass die Art und Weise, die wir uns vorstellen, eine entsprechende Form von qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern voraussetzt und auch die entsprechenden finanziellen Ressourcen, um Familien so begleiten zu können. Enno Hermans: Diese zugespitzten Debatten und diese Polarisierung, diese vermeintlich einfachen Lösungen, die klassischen Schuldzuweisungen stellen häufig so etwas wie eine unzulässige Komplexitätsreduktion dar. Weil die Komplexität emotional, strukturell und auch juristisch häufig kaum aushaltbar scheint, kommt es zur Reduktion, und ein überstabiler Attraktor bildet sich heraus. Es gibt dann scheinbar einfache Lösungsideen, wie es irgendwie gehen könnte. Mit der Illusion, dass es gelingen könnte, alle Kinder vor allem zu beschützen, oder wenn doch nur diese oder jene Institution das machen würde, dann wird es doch gut werden. Wie auch immer: In der Regel werden dabei irgendwelche anderen Wechselwirkungsaspekte außer Acht gelassen. Seien es die Adressat:innen und deren Partizipation und Einbeziehung, sei es, welche Einflussfaktoren und Größen es noch alles gibt. Wenn wir systemisch arbeiten, heißt das immer auch, das Spiel mit Komplexität zu verstehen und zu beherrschen. Konkret gilt es also, Komplexität an bestimmten Stellen und tatsächlich bewusst zu reduzieren oder sich die Reduktion anzugucken, dann aber auch wieder zu erhöhen, um wieder in anderer Weise handlungsfähig zu werden. Das würde ich als ein Ziel dieses Buches verstehen. Auf welche Basics setzen wir? Was lohnt sich noch zu beschreiben, bevor wir dann zu weiteren Spannungsfeldern kommen? Filip Caby: Also, ich glaube – das ist möglicherweise vor allem für Mediziner:innen wichtig –, ich hatte dazu mit Birgit mal einen kurzen Diskurs, dass die Diskussion über den Verzicht auf den Begriff »Tätertum« ein ganz interessanter Aspekt sein könnte. Nur dann müssen wir das irgendwie anders nennen. Wenn es uns gelingt, die Leser:innen an dieser Stelle mitzunehmen, ist das etwas ganz Wichtiges, wenn es gelingt, nicht mehr von Tätern zu sprechen, sondern von Menschen, die genauso wie alle anderen nach Lösungen suchen. Birgit Averbeck: Mhm, stimmt. In unserer Diskussion war ja ein wichtiger Punkt, Menschen nicht nur auf ihre Täteranteile, wenn sie Kinder schädigen,
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zu reduzieren, sondern den Menschen in seinen gesamten kontextuellen und intrapsychischen Situationen anzuschauen. Was für Kinder, egal ob sie mit ihren Eltern zusammenleben oder auch nicht, in der Retrospektive für ihre eigene Identifikation wichtig ist. Eben nicht nur eine Reduzierung auf die Schädigung der Anteile! – Was mir noch wichtig ist bezüglich deiner Frage, Ansgar, ist der Aspekt der Autopoiese, der Nichtsteuerbarkeit von Systemen. Die Jugendhilfe ist in der Hilfeplanung linear-kausal ausgerichtet, das bedeutet, man geht davon aus, dass wir, wenn wir nur einen guten Hilfeplan haben und ein vernünftiges, smartes Ziel formulieren, innerhalb von wenigen Monaten Änderungen in einem Familiensystem erreichen. Klappt nur in der Praxis in der Regel nicht – zumindest nach meinen Erfahrungen. Für Änderungen braucht es intrinsische Motivation, und intrinsische Motivation ist eine Tür, die nur von innen aufgeht. Es bedeutet, wir Fachkräfte müssen versuchen, so an die Lebenswelt der Familie bzw. jedes einzelnen Familienmitglieds anzudocken, dass die Chance besteht, dass diese innere Tür ein Stück geöffnet wird. Es gelingt eher nicht, wenn Fachkräfte zwar in einer guten Kooperation mit Akteur:innen anderer Systeme wie der Lehrerin, der Kinderärztin, dem Psychiater sinnvolle Ziele für Familien formulieren. Wir haben dann eine Chance, wenn diese Ziele anschlussfähig mit dem inneren Erleben der einzelnen Familienmitglieder sind. Ansgar Röhrbein: Und an dem Punkt sind wir ja dann bei so elementaren Aspekten wie der therapeutischen oder beraterischen Beziehung, die eine ganz wichtige Säule in dieser Arbeit darstellt. Wer geht in Kontakt mit Menschen, die vermeintlich Grenzen überschritten haben? Und das in einer Art und Weise, in der sie oder er sich ehrlich interessiert für diese Familie. Für das, was neben diesen Aspekten eben noch in der Familie an Möglichkeiten, an Lösungen und Ressourcen schlummert. Dass da eben auch atmosphärisch respektvoll Schritt für Schritt ein Stückchen Vertrauen oder ein »Sich-gesehen-Fühlen« wachsen kann und dadurch möglicherweise im Inneren des Gegenübers eine Entsprechung entsteht, die dann gegebenenfalls eine solche Tür aufgehen lässt. Filip Caby: Habt ihr den »Tatort«5 von gestern gesehen? Das müssen wir jetzt nicht vertiefen, aber das war ein sehr ernüchternder Fall von Kinderschutz, der dadurch unmöglich zu lösen wurde, dass ein ehemaliges nicht geschütztes Kind selber zum Mörder geworden ist und seinen Misshandler und auch seine Mutter umgebracht hat, die sich damals mit dem »Täter« eingelassen hat. Das ehemalige Kind fand sich in der gleichen Rolle wieder wie sein sogenannter Täter: Als Erwachsener hat es dann angefangen, das Kind seiner Lebensgefährtin zu misshandeln, um es zum Schweigen zu bringen, weil es Zeuge geworden war. Die 5 »Der Reiz des Bösen«, 19.09.2021.
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Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein
Kindesmisshandlung ging in der Familie weiter, weil der Fokus des Geschehens – und damit sind wir wieder bei unserem Buch – auf dem Misshandler lag und nicht mehr bei dem Kind, das zum Opfer wurde. Wenn der Fokus der Profis zu sehr nur einen Aspekt des Geschehens im Blick hat, sorgt man unter Umständen sogar dafür, dass der Missbrauch transgenerational weitergeht. Birgit Averbeck: Du meinst diesen Aspekt der transgenerationalen Weitergabe von Traumata, die destruktiv im Hier und Jetzt wirken, aber ihre Ursache ganz woanders haben? Im Kinderschutz ist es wichtig, Menschen dafür zu sensibilisieren, was jetzt – in der Gegenwart – notwendig ist zu tun oder zu lassen, damit in der Zukunft diese Weitergabe unterbrochen wird. Filip Caby: Genau: Ein als Kind misshandelter Mann hatte Zugang zu Justizdaten und hat alle Frauen rausgepickt, die sich mit seinem ehemaligen Misshandler eingelassen haben, weil er damals als Kind von seiner eigenen Mutter nie gehört wurde. Er ging eine Beziehung ein mit einer alleinerziehenden Mutter, und als Stiefvater war er mächtig genug, um dem Kind seiner Lebensgefährtin unter Gewaltanwendung zu sagen: »Du hältst jetzt den Mund!« Nachdem diese ersten Morde dann sozusagen aufgeklärt waren, hatte keiner mehr das damalige Opfer im Blick, das angefangen hatte, seinerseits ein Kind mit dem Gürtel zu schlagen. Wenn die Profis einen Moment »anders« hingeschaut hätten, hätten sie vielleicht gesehen, dass ein weiteres Kind gefährdet ist. Das gelingt wiederum am besten, wenn man viele unterschiedliche Instanzen zusammen hat. Dann fühlt man sich eingeladen, auch mal anders hinzugucken. Dann wäre dieser Aspekt der Folgetat aufgefallen. Birgit Averbeck: Du hast gerade nach systemtheoretischen Grundlagen gefragt, Ansgar. Was mir noch einfällt, ist die Kybernetik zweiter Ordnung. Wir Fachkräfte sind immer Teil des Systems und nicht nur neutrale Beobachter dessen, was in Familien geschieht. Und das heißt, wir sind Teil des Problem- und des Lösungssystems. Und müssen uns, wenn Kinderschutzfälle über einen längeren Zeitraum schwierig verlaufen, auch immer mal an die eigene Nase fassen und selbstreflexiv nach unserem Anteil fragen. Ansgar Röhrbein: Ja, da haben wir eine Verantwortung. Und zugleich verfügen wir durch die Art, wie wir an die Dinge herangehen, über hilfreiche Instrumente, indem wir sowohl auf die Schutz- als auch auf die Risikofaktoren schauen. Worin sich unsere Herangehensweise teilweise unterscheidet, ist, dass wir die unterschiedlichen Aspekte des Gelingens sowie die kritischen Aspekte wechselseitig in den Blick nehmen – im Unterschied zu vielen Instrumenten und Vorgehensweisen, die tendenziell eher ausschließlich die Risikofaktoren in den Blick nehmen, wodurch eine mögliche Schieflage und Bevormundungsprozesse entstehen können, wie ihr es vorhin auch schon beschrieben habt.
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Wenn wir auf die Spannungsfelder schauen: Haben wir da schon genügend benannt? Filip Caby: Mhm – meinst du die Spannungsfelder bei guter Kooperation? Ansgar Röhrbein: Ich denke z. B. daran, dass in der Öffentlichkeit teilweise nicht unterschieden wird zwischen Menschen mit einer hohen kriminellen Energie und einem Interesse, Missbrauchsdarstellungen zu vermarkten, und Müttern oder Vätern, die häufig aus einer Hilflosigkeit bzw. Ohnmacht heraus oder aus eigenem Unwissen und fehlenden Handlungsalternativen Grenzen überschreiten, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Dieser Aspekt, dass alle in einen Topf geworfen und an den Pranger gestellt werden, scheint in der Öffentlichkeit forciert zu werden, so wie ihr beiden das vorhin schon in Bezug auf die Täterinnen und Tätern beschrieben habt. Durch diese Zuschreibung besteht möglicherweise die Gefahr, dass eine zügige Einteilung erfolgt, die wenig hilfreich ist für das weitere Vorgehen. So wie es in den ersten Absätzen des KKGs6 beschrieben ist, braucht es die Entscheidung im Einzelfall. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu schauen: Braucht die Familie Unterstützung – und wenn ja, welche? Braucht es andere Rahmenbedingungen, damit die Hilfe (besser) greifen kann, oder braucht es in erster Linieden Schutz? Dieses »Entscheiden im Einzelfall« darf nicht in diesem Gesamtkomplex der schnellen Lösungen untergehen, sondern es braucht eine differenzierte Analyse im Miteinander, um genau diese unterschiedlichen Aspekte adäquat, auch für die Planung des weiteren Vorgehens, zu identifizieren und darauf aufbauen zu können. Birgit Averbeck: Ja, das bedeutet, wir brauchen neben der fallabhängigen Kooperation, die im KJSG an verschiedenen Stellen wie etwa der Gefährdungseinschätzung und der verbindlichen Rückmeldeverpflichtung festgelegt ist, eine fallunabhängige Kooperation in Netzwerken. In diesen Netzwerken muss es zunächst mal ganz trivial darum gehen, sich mit den anderen Akteuren bekannt zu machen und die Möglichkeiten und Grenzen des jeweils anderen Systems kennenzulernen. Das geschieht aus meiner Erfahrung leider viel zu wenig. Mediziner:innen kennen oft die Regularien, Möglichkeiten und Grenzen der Jugendhilfe nicht oder nur bedingt, haben aber Hypothesen dazu, die nicht der Realität entsprechen, und umgekehrt auch. Sich die Systemlogiken gegenseitig und fallunabhängig zu erklären, ist aus meiner Erfahrung eine wichtige Grundlage dafür, im Einzelfall weniger über Deutungshoheiten streiten zu müssen. Denn wenn ich mehr von den unterschiedlichen Logiken der jeweils anderen Systeme weiß und die Sichtweise der Familie kenne, hilft das auch ein Stück, die 6 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz.
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Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein
Gesamtkomplexität so zu reduzieren, dass wir zu einer gemeinsamen Lösung im Sinne der Betroffenen kommen können. Was aus meiner Erfahrung ein weiteres Spannungsfeld ist, ist das hierarchische Agieren in Helfernetzwerken. Das hängt auch wieder damit zusammen, dass dort Kulturlogiken aufeinanderstoßen und zu wenig Zeit vorhanden ist, sich auf gemeinsame Werte zu einigen und ein Leitbild zu entwickeln. Es werden schnell Konflikte, Unstimmigkeiten und Irritationen skandalisiert, statt sie entsprechend zu normalisieren und gut aufzuarbeiten. In Richtung Lösung gedacht, brauchen wir bei der systemübergreifenden Kooperation aus meiner Sicht ein gutes Konfliktmanagement, so wie Haim Omer treffend sagt: »Schmiedet das Eisen, wenn es kalt ist.« Gemeinsam mit den Protagonisten aus dem Gesundheits- und Suchtwesen, dem Bildungssystem und der Jugendhilfe in den kommunalen Netzwerken ein Konfliktmanagement aufzubauen, wäre vorausschauend hilfreich. Das gibt es bislang kaum. Im Serviceteil dieses Buchs (Kapitel 10) werden Hinweise darauf gegeben, wie so etwas gehen könnte. Ansgar Röhrbein: Ja, diese fallunabhängigen Arbeitskreise sind wesentlich und wertvoll. Genauso wie die Qualitätsdialoge, die als Instrument für das Zusammenwirken genutzt werden können. Sie eignen sich für das gemeinsame Draufschauen auf bisherige Fallprozesse und für gemeinsame Auswertungen, um daraus immer wieder miteinander zu lernen. Wie kann die Zusammenarbeit in einem guten Sinne weiter gestaltet werden? Selbstverständlich gilt es in allen diesen Kontexten der fallorientierten und -unabhängigen Zusammenarbeit, den Datenschutz in der entsprechenden Art und Weise im Blick zu haben. Das ist ja gerade die Kunst in der Kooperation, gleichzeitig den Vertrauensschutz in Bezug auf die uns anvertrauten Menschen zu gewährleisten. Was ist der Mehrwert? Warum lohnt sich die Arbeit in diesem Bereich? Und wo könnte man zwischenzeitlich auch mal in die Tischkante beißen? Filip Caby: Es ist ja nicht so, weil wir das so schön aufschreiben, dass die anderen das genauso sehen. Das heißt, an der Stelle müssen wir in der Praxis konsequent genau das tun, was in diesem Buch steht, oder daran lernen, woran es scheitert, wenn es uns nicht gelingt, den Prozess gut zu Ende zu bringen. Es müsste gelingen, die Ideen aus dem Buch in die Realität zu kriegen. Nicht, dass es am Ende heißt: Ja, die Systemiker:innen schon wieder. Aber wir haben gute Karten in der Hand, daher denke ich, wir sollten sehr darauf achten, dass die geschätzten Leser:innen neugierig werden und sich eingeladen fühlen, die Dinge anders als bisher zu sehen und sich an der Diskussion um diese Ideen zu beteiligen.
Kinderschutz geht nur gemeinsam
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Ansgar Röhrbein: Ein Aspekt, den ich an der Kooperation wirklich liebe und wo es viel um wechselseitigen Informationsaustausch und Weiterentwicklung geht, sind die gemeinsamen Fachtagungen im Netzwerk und die Fortbildungseinheiten für neue Kolleginnen und Kollegen in der Pflege, der Jugendhilfe, der Schule etc. In diesen Veranstaltungen geht es ja neben der Vermittlung von Wissen immer auch um eine praxisorientierte Draufsicht: Wie machen wir es eigentlich, dass es hilft? Dabei bin ich immer wieder auch Lernender, als derjenige, der im Rahmen der Kooperation in den Dialog geht, weil ich durch die Fragen von Kolleginnen und Kollegen, die neu ins Feld kommen, immer wieder gefordert bin, es gut zu begründen, weshalb ich wofür wie vorgehe. Das halte ich immer wieder für eine total wertvolle selbstreflexive Aufgabe, die mich und die Teilnehmenden gleichermaßen weiterbringt. Nicht nur Wissen zu teilen, sondern gleichzeitig genau zu betrachten, was hilfreiche Verläufe und was die Zutaten dieser Verläufe waren, dass es so geworden ist, wie es geworden ist. Diesen Dialog auf der Metaebene finde ich einfach extrem wertvoll! Anstrengend ist natürlich die hohe Personalfluktuation in allen Institutionen. Gerade wenn wir das Gefühl haben, jetzt haben wir ungefähr alle eine gemeinsame Linie, können wir gleich wieder von vorn anfangen, weil so viele neue Kolleginnen und Kollegen hinzugekommen sind. Gleichzeitig denke ich, das ist tatsächlich unser Job, dies geduldig und liebevoll auf den Weg zu bringen und uns dafür zu engagieren, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Filip Caby: Genau so! Enno Hermans: Ich möchte noch einen anderen Aspekt ergänzen. In einer Kooperation können andere ja auch richtig anstrengend sein. Vielleicht habe ich eine Position, von der ich andere überzeugen will. Ich bin vielleicht gerade total sicher, das Richtigere oder Wichtigere oder was auch immer zu denken oder zu meinen. Und je nachdem, wie solche Positionen vorgetragen werden – von einem selber oder dem Gegenüber –, kann es ja sehr anstrengend sein, das miteinander zu verhandeln. Man ärgert sich vielleicht über andere, weil man überhaupt nicht nachvollziehen kann, wie jemand eine bestimmte Meinung vertreten kann. Sich immer wieder zu konfrontieren, ist kein Selbstzweck, sondern wir tun es um des Falls, um der Kinder und Jugendlichen und um der Familien willen. Und gerade weil wir uns an irgendwelchen Kooperationsbezügen immer wieder abarbeiten, ist es wichtig, sich das immer wieder klarzumachen und nach dem gemeinsamen Ziel zu fragen. Da halte ich es mit dem Satz, den auch Birgit so gern mag: »Im Zweifel den Mut haben, das Risiko einzugehen, dem Anderen eine gute Absicht zu unterstellen.« Selbst wenn man überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann, wie man denn auf diese oder jene Position kommen kann, lohnt es sich zu denken: »Na ja, auch die werden sich aus ihrer Perspektive für diese Menschen einsetzen und engagieren.«
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Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein
Birgit Averbeck: Das sehe ich ganz ähnlich, mir fällt gerade diese Metapher ein, dass es ja ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen bzw. um ein Kind zu schützen. – Aber wo steht, dass so ein Dorf aus lauter freundlichen Menschen besteht, die ein gemeinsames Ziel haben?, habe ich gerade so gedacht. Auch in Dörfern geht es oft um Deutungshoheiten und um Richtig und Falsch und, ja, Verantwortung, Opfer- und Täterschaft und letztendlich um eine Menge an Partikularinteressen. Dann braucht es das eine oder andere gut moderierte Bürgerforum, um das Ganze zu klären. Ich denke, in Netzwerken zum Kinderschutz ist es ganz ähnlich. Es ist mir wichtig, dass es darum geht, die Wechselwirkungen des Miteinanders für die Familie in den Fokus zu stellen. Es geht in erster Linie nicht um uns als Kooperationspartner, sondern es geht darum, was das jeweilige Kind, der junge Mensch, seine Eltern von uns in unserer Unterschiedlichkeit brauchen und wie wir Synergieeffekte nutzen können. Wie müssen die Synergien zusammengesetzt werden, damit wir wirklich hilfreich sind? Wenn wir mal einen Zeitsprung wagen: Was glaubt ihr, wie sieht der Kinderschutz im Jahr 2040 wohl aus? Beschreibt mal eure Vision. Filip Caby: Ich träume einfach mal so ein bisschen vor mich hin. Es wird 2040 eine ganz andere Sensibilität für das Thema geben, die dadurch ermöglicht wird, dass der Prozess, der dann losgeht, nicht so bedrohlich ist, dass Leute sich sofort meinen zurückziehen zu müssen. Und das gelingt durch das, was Enno gerade ausgeführt hat: durch diese gemeinsame wertschätzende Haltung gegenüber allen Beteiligten, dass keiner von den miteinander Kooperierenden »die Weisheit mit Löffeln gefressen« hat, sondern davon ausgeht, dass alle ihre Expertise haben und einbringen. Alle werden einen Löffel von dieser Weisheit gefressen haben! Nur jede(r) auf ihre/seine Art und Weise. Und dann wird es ein geschmeidigeres Vorgehen als das heutige sein, ohne dass es an dem Ernst der Sache vorbeigeht. Es bleibt natürlich ein sehr, sehr ernstes Thema. Aber der Fokus ist so verschoben, dass man sich auch bei schwierigen Konstellationen über Lösungen und nicht nur über Konsequenzen Gedanken machen kann. Birgit Averbeck: Also, was mir spontan als Vision einfällt, ist, dass die Jugendämter in Deutschland rausgekommen sind aus dieser Schmuddelecke der Insti tutionen, die Kinder klauen. Ich sag es mal ganz bewusst ein bisschen polemisierend: Jugendämter sind dann aufgebaut worden zu präventiv agierenden Hilfeinstitutionen, an die man sich niederschwellig und ohne Angst wenden kann, mit deren Tätigwerden nicht gedroht wird. Dafür braucht es ein starkes, selbstbewusstes, eigenes Profil der Jugendhilfe, die ihre eigenen Aufträge lebt und nicht in einem hierarchischen Gefüge Aufträge anderer Systeme unreflektiert
Kinderschutz geht nur gemeinsam
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ausführt. Zudem ist die Jugendhilfe dann finanziell und personell so ausgestattet, dass sie ihre Aufgaben auch erfüllen kann! Was mir noch einfällt: 2040 gibt es aktive Elternvernetzungen im Kontext der Hilfen zur Erziehung analog der Elterninitiativen in der Behindertenhilfe. Eltern in schwierigen Lebenssituationen unterstützen und bereichern sich gegenseitig. Multifamilienarbeit und Multifamilientherapie sind dann als Regelleistung in den Sozialräumen, angedockt an Kitas und Schulen, also an Orte, wo Kinder und junge Menschen sich aufhalten, fest implementiert. Außerdem wurde in das SGB VIII eine Rechtsgrundlage in die Jugendhilfe aufgenommen, die vor einer Inobhut nahme von Kindern die stationäre Aufnahme des gesamten Familiensystems vorsieht. Auch eine Qualitätsoffensive der ambulanten Hilfen zur Erziehung ist, bitte vor 2040, dringend notwendig! Es müssen Studien durchgeführt werden, was wie in der aufsuchenden Arbeit wirkt, und es müssen endlich Qualitätsstandards für ambulante Hilfen eingeführt werden. Enno Hermans: Ich fände es schön, wenn es der Normalfall wäre, dass es solche Kooperationen gibt, wie sie bei uns im Buch beschrieben werden. Dass diese Ansätze, die jetzt vielleicht noch modellhaft wirken, viel selbstverständlicher werden und dass dieser Austausch auf Augenhöhe gelingt, mit der Akzeptanz der einzelnen professionellen Blickwinkel und Kompetenzen, die jeweils zugrunde liegen. Eine wichtige Frage ist beispielsweise, wie wir gerade bei Inobhutnahmen von sehr jungen Kindern die Familien intensiv miteinbeziehen können. Ich habe mir vor einiger Zeit eine Einrichtung im Süden Deutschlands mit einer geradezu umgekehrten Logik angeschaut: Da war klar, wenn ein Kind in Obhut genommen wird, gibt es sofort pauschal zwanzig Stunden aufsuchende Familientherapie pro Woche, und es wird unmittelbar mit kompetenten Fachkräften daran gearbeitet. Hier gibt es einen großen Bedarf, mit einer systemischen Perspektive darauf zu schauen und dafür gerade zu diesem Zeitpunkt maximale Ressourcen zur Verfügung zu stellen – wenn ich das also als Indikator und als Signal dafür nehme: Hier ist was nicht in Ordnung, hier gibt es was zu tun! Hier sind Helfer:innen gefragt, sich den Auftrag dafür abzuholen und Ziele zu klären. Dass das mehr Selbstverständlichkeit wird, fände ich klasse. Ansgar Röhrbein: Ich kann gar nicht viel hinzufügen. Was ich mir noch vorstellen könnte, ist, dass die Erkenntnisse in Bezug auf belastende oder unterstützende Lebensbedingungen von Menschen in einer größeren Selbstverständlichkeit im Hinblick auf Gesundheitsförderung und die Vermeidung von Armutsverhältnissen etc. umgesetzt und angewendet werden. Diese Aspekte sollten frühzeitig in entsprechende Unterstützungs- und Förderprogramme präventiv münden, damit in Familien gar nicht erst eine gravierende Not entstehen muss, das Kind also nicht erst in den Brunnen fallen muss. Schritt für Schritt
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Birgit Averbeck, Filip Caby, Enno Hermans, Ansgar Röhrbein
wird eine größere psychische und körperliche Gesundheit in dem jeweiligen System sichergestellt, analog zu heutigen Modellen wie den »Frühen Hilfen« – und das für alle Generationen. Wir können nur hoffen, dass die Erkenntnisse, die uns inzwischen vorliegen, mehr und mehr in das kooperative Zusammenwirken von Politik, Justiz, Jugendhilfe, Medizin, Schulen, Kitas und Co. einfließen und selbstverständlich umgesetzt werden. Birgit Averbeck: Damit das so erfolgen kann, wie du sagst, Ansgar, ist es ganz wichtig, dass nicht erst 2040, sondern wesentlich früher die Kooperationszeiten in die Arbeitszeitberechnungen inkludiert werden und entsprechend für alle Protagonisten auch die finanziellen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um an fallunabhängigen und fallabhängigen Settings teilnehmen zu können. Da müssen Regelungen, beispielsweise auch für niedergelassene Ärzt:innen und Lehrkräfte, gefunden werden. Des Weiteren müssen die Grundlagen kooperativen Arbeitens und die Grundlagen von Systemtheorie in die Curricula aller Menschen, die in psychosozialen Bereichen und in der Bildung arbeiten, aufgenommen werden. Ansgar Röhrbein: Filip, du hattest auch noch einen Gedanken? Filip Caby: Ja, ich hänge noch ein bisschen an dem, was Birgit eben sagte. Meine Vorstellung ist, egal ob nun für 2025 oder 2040, dass alle beteiligten Insti tutionen in dem Sinne wie eben für die Jugendhilfe geschildert profitieren werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir alle ein bestimmtes Bild voneinander haben. Dieses Bild prägt auch die Art und Weise, wie man kooperiert. Das trifft auf alle zu. Unsere Prozessgestaltung und die gemeinsame Sicht auf die Dinge macht es möglich, sich gegenseitig neu kennenzulernen und sich am Ende neu zu positionieren. Alle würden davon profitieren, nicht nur das eigene Selbstbild im Kooperationsprozess neu zu sondieren, sondern auch die eigene Expertise im gemeinsamen Wirken anders als bisher zu erleben. Und damit ändert sich auch das Erscheinungsbild aller nach außen hin. Ansgar Röhrbein: Okay. Punkt? Punkt!
2 Einleitende Gedanken zu den statistischen Aufbereitungen des Themas Kindes misshandlung und -vernachlässigung – eine (unvollständige) Annäherung an ein komplexes Phänomen Birgit Averbeck, Ansgar Röhrbein
Wer sich mit dem Phänomen von kindlicher Vernachlässigung und Misshandlung befassen will, um einen verlässlichen Überblick zu längerfristigen Zahlen und Auswirkungen zu erhalten, der benötigt ein wenig Ausdauer und Engagement, denn die systematische Erfassung und Statistik hat in Deutschland noch wenig Tradition. Vorab stellt sich die Frage, welche Formen der Misshandlung denn genau darunter zu fassen sind. Nach aktuellem Stand können wir analog zu Abbildung 1 in übergriffige Handlungen und Unterlassungen unterscheiden. In Bezug auf den Begriff des sexuellen Missbrauchs wird inzwischen in Fachkreisen eher der Begriff der sexualisierten Gewalt präferiert, wie überhaupt dafür geworben wird, mit der Sprache sensibel umzugehen und immer auch die Wirkung von Begriffen auf Betroffene im Blick zu behalten (vgl. u. a. Fegert, 2019). Selbstverständlich zeichnen die uns vorliegenden Studien und Erkenntnisse ein dramatisches Bild von möglichen Folgen für die von Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen, gleichwohl zeigt die Forschung auch, dass zwischen zehn und 53 Prozent dieser jungen Menschen trotz allem ein normales Entwicklungsniveau erreichen können (Domhardt et al., 2015; Fegert et al., 2017). Wer daher von »Seelenmord« oder »zerstörter Kindheit« spricht, der sorgt aus Fegerts Sicht (2019) für eine zusätzliche Stigmatisierung und Belastung der Betroffenen, was nicht im Sinne des Kindeswohls und der jeweiligen Bewältigungsmöglichkeiten sein kann.
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Birgit Averbeck, Ansgar Röhrbein
körperliche Misshandlung
Verhaltensweisen bzw. Handlungen
psychische/emotionale Misshandlung
sexuelle Gewalt
körperliche Vernachlässigung
Kindeswohlgefährdung
kognitive Vernachlässigung
Unterlassungen
häuslicher Gewalt ausgesetzt sein
Vernachlässigungen
erzieherische Vernachlässigung
emotionale Vernachlässigung
unzureichende Beaufsichtigung des Kindes
Abbildung 1: Formen von Kindeswohlgefährdungen (in Anlehnung an Witt, Rassenhofer, Pillhofer, Plener u. Fegert, 2013, S. 8141; entnommen und ergänzt aus: Biesel, Brandhorst, Krause u. Rätz, 2019, S. 56)
Des Weiteren ergibt es Sinn, neben den Formen von Kindeswohlgefährdungen unserem Kapitel eine mögliche Definition von Kindeswohlgefährdung voranzustellen. Hierbei haben wir uns an einer Definition der Kolleginnen und Kollegen des Kinderschutz-Zentrums Berlin orientiert, die sie in der hauseigenen Publikation »Kindeswohlgefährdung – Erkennen und Helfen« (2009, S. 32) veröffentlicht haben (siehe Abbildung 2). Die Anzahl an Kindeswohlgefährdungen steigt kontinuierlich, so der medial vermittelte Eindruck, der durch statistische Fakten belegt ist. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das Wohl der Kinder in Deutschland mehrheitlich nicht aufgrund von Unterlassungen oder Misshandlungen von Eltern gefährdet ist. Kindeswohlgefährdungen betreffen eine Minderheit der in Deutschland aufwachsen1
https://www.researchgate.net/publication/261731301_Das_Ausmaß_von_Kindesmissbrauch,_misshandlung_und_-vernachlassigung_in_Deutschland:_Eine_Übersicht.
Einleitende Gedanken
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KINDESWOHLGEFÄHRDUNG ▶ ist ein das Wohl und die Rechte eines Kindes (nach Maßgabe gesellschaftlich geltender Normen und begründeter professioneller Einschätzung)
▶ beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln bzw. ein Unterlassen einer angemessenen Sorge ▶ durch Eltern oder andere Personen ▶ in Familien oder Institutionen
(wie z. B. Heimen, Kindertagesstätten, Schulen, Kliniken oder in bestimmten Therapien)
▶ das zu nicht-zufälligen Verletzungen, ▶ zu körperlichen und seelischen Schädigungen ▶ und/oder Entwicklungsbeeinträchtigungen eines Kindes führen kann, ▶ was die Hilfe und eventuell das Eingreifen ▶ von Jugendhilfe-Einrichtungen und Familiengerichten ▶ in die Rechte der Inhaber der elterlichen Sorge ▶ im Interesse der Sicherung der Bedürfnisse und des Wohls eines Kindes notwendig machen kann.
Abbildung 2: Definition von Kindeswohlgefährdung (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin, 2009, S. 56)
den und lebenden Kinder, wobei unklar ist, wie groß diese Minderheit der Kinder und Jugendlichen tatsächlich ist, die in Familien, Einrichtungen des Bildungswesens, des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe oder in Pflegefamilien regelmäßig nicht geschützt ist. Leider sind diese Werte nicht zweifelsfrei statistisch zu erfassen, auch nicht mittels einer verlässlichen empirischen Dauerbeobachtung bzw. einer über Jahre hinweg bundeseinheitlich geführten Kinderschutzstatistik. Das würde nur das Hellfeld (rechts-)medizinischer und/oder sozialpädagogischdiagnostischer und gemeldeter sowie zur Anzeige gebrachter Kindeswohlgefährdungen beleuchten, nicht aber das tatsächliche Dunkelfeld. Gleichwohl gehen Biesel et al. (2019, S. 57) davon aus, dass anhand »der vorliegenden Daten […] 86,6 Prozent der Kinder in Deutschland nicht in ihrem Wohl gefährdet« sind. Bislang existiert in Deutschland keine bundeseinheitliche Kinderschutzstatistik. Angaben zur Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen sind nur über verschiedene öffentliche Datenregister zu erkennen. Solch eine Bundesstatistik ist wünschenswert, aber auch sie wird die Problematik eines ermittelten Hellfeldes und eines vermuteten Dunkelfeldes, das es immer geben wird, nicht lösen können.
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Birgit Averbeck, Ansgar Röhrbein
Wo finde ich die aktuellen Daten zu Kindeswohlgefährdungen? Die Zahlen bekannt gewordener Kindeswohlgefährdungen sind öffentlich digital zugänglich. Das statistische Bundesamt veröffentlicht regelmäßig die aktuellen Daten zu verschiedenen Formen von Kindeswohlgefährdungen auf seiner Homepage2. Gleiches gilt für die polizeiliche Kriminalstatistik, die zumindest eine Aussage über das sogenannte Hellfeld bereitstellt und für den Bereich der sexualisierten Gewalt bis zum Jahr 2014 rückläufige Zahlen konstatierte (vgl. Abbildung 3).
sexueller Missbrauch von Kindern – insgesamt
40
sexueller Missbrauch von Kindern – weiblich
Fälle/100.000 Kinder in der Gesamtbevölkerung
35
sexueller Missbrauch von Kindern – männlich 30
25
20
15
10
5
19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 20 07 20 08 20 09 20 10 20 11 20 12 20 13 20 14
0
Jahr
Abbildung 3: Anzahl Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern für die Berichtsjahre 1994–2014 der polizeilichen Kriminalstatistik (überarbeitet nach Stadler, Bieneck u. Pfeiffer20123, entnommen aus: Jud, Rassenhofer, Witt, Münzer u. Fegert, 2016, S. 36)
2
Statistische Bundesamt (Destatis): https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/07/ PD21_350_225.html;jsessionid=2ADCD00920AACE3922974AB669581105.live741. 3 https://kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/FB_118.pdf (Zugriff am 31.07.2022).
Einleitende Gedanken
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Erst seit dem Jahr 2012 wird in Deutschland erfasst, wie häufig Jugendämter in Deutschland Kindeswohlgefährdungen registrieren und zu welchem Ergebnis sie kommen (§ 8a Statistik). Der Informationsdienst »KomDat Jugendhilfe – Kommentierte Daten der Jugendhilfe« der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) der TU Dortmund stellt dreimal im Jahr kommentiertes Datenmaterial zu Kindeswohlgefährdungen öffentlich zur Verfügung. Der Dienst versteht sich im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe als Schnittstelle zwischen amtlicher Statistik auf der einen sowie Praxis, Politik und Forschung auf der anderen Seite. Ergebnisse der Auswertungen und Analysen auf der Grundlage der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik werden genauso kompakt präsentiert wie u. a. Beispiele für Möglichkeiten und Grenzen bei der Nutzung dieser Datenanalysen. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) erhebt im Rahmen der polizeilichen Kriminalstatistik seit 2002 Daten über aktenkundige kindliche Opfer von Gewalttaten und stellt diese jährlich im Rahmen einer Pressekonferenz in Berlin vor. Die jeweils aktuellen Daten können über die Homepage des BKA abgerufen werden. Eine Auswahl an Daten und Fakten Die Kriminalstatistik weist von 2015 bis 2017 auf gestiegene Fallzahlen der zur Anzeige gebrachten Fälle hin, die bis 2019, dem ersten Lockdown in der Corona pandemie, wieder sinken, um dann 2020, mit einem Andauern der Corona pandemie, deutlich anzusteigen. Ebenfalls angestiegen sind die Fallzahlen in Bezug auf den sexuellen Missbrauch, wie die Zahlen der Jahre 2017 bis 2020 belegen, was einer intensiven Ermittlungsarbeit der Polizei und einer breiten Öffentlichkeitsarbeit, verbunden mit einer Sensibilisierung von Akteur:innen aller professionellen Systeme, die mit Familien arbeiten, geschuldet sein dürfte (vgl. Abbildungen 4a und 4b). Bei den in den Abbildungen aufgezeigten Fällen handelt es sich ausschließlich um die zur Anzeige gebrachte Kinderschutzdelikte. Die durch die Jugendämter bearbeiteten Fälle von Kindeswohlgefährdungen liegen wesentlich höher, wie die im Folgenden aufgeführten Zahlen zeigen. Es gibt in Deutschland keine Anzeigepflicht von Kinderschutzfällen. Jugendämter sind keine spezialisierten Behörden mit polizeilichen Ermittlungsaufgaben, sondern in erster Linie Hilfeinstitutionen, die den Auftrag haben, Familien zu stärken und Kinder zu schützen. Durch die Coronapandemie scheint das Dunkelfeld von Kindeswohlgefährdungen deutlich zugenommen zu haben, da Kindertagesstätten und Schulen aufgrund der Lockdowns in der Regel wesentlich eingeschränktere Zugänge zu den Kindern und Jugendlichen hatten.
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Birgit Averbeck, Ansgar Röhrbein
Kindesmisshandlungen in Deutschland Opferzahlenentwicklung 4 600
4.542
4 500 4 400
3 700
2017
4.100
2016
3.950
3 900 3 800
4.180
4 100 4 000
4.247
4 200
4.237
4 300
3 600 2015
2018
2019
2020
Körperliche Misshandlungen pro Jahr (nach § 225 StGB)
Abbildung 4a: Anzahl angezeigter Fälle körperlicher Misshandlungen – polizeiliche Kriminalstatistik (PKS, 2020)4
Im Coronajahr 2020 stellten die Jugendämter in Deutschland bei 60 551 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung fest (Statistisches Bundesamt, 2021). Das waren rund 5 000 Fälle oder 9 % mehr als 2019. Bei weiteren 66 557 Minderjährigen kamen die Behörden zu dem Ergebnis, dass zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber Hilfe- oder Unterstützungsbedarf vorlag. In 15 % oder 19 028 dieser insgesamt 127 108 Kinderschutzfälle kam der Hinweis von einer Schule oder Kindertagesstätte (einschließlich Kindertagespflege). Damit setzt sich der bereits seit Jahren anhaltende Trend ansteigender Fallzahlen weiter fort und bleibt in derselben Größenordnung wie vor der Coronapandemie. Gründe können sein, dass die Kindeswohlgefährdungen tatsächlich zugenommen haben, aber auch die professionellen Helfer und die Gesellschaft einfach aufmerksamer geworden sind und die Not von Kindern und Eltern dem Jugendamt eher mitteilen. Eventuell sind auch die statistischen Erfassungen der Jugendämter verbindlicher durchgeführt worden.
4 https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html.
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Einleitende Gedanken
Sexueller Missbrauch an Kindern in Deutschland Opferzahlenentwicklung 16 500 16 000
15 936
15 500 15 000
14 606
13 500
14 600
14 500 14 000
16 921
17 000
13 000 12 500 12 000 2017
2018
2019
2020
Anzahl angezeigter Fälle zu sexueller Gewalt – aufgedecktes Hellfeld
Abbildung 4b: Polizeiliche Kriminalstatistik zu sexueller Gewalt – aufgedecktes Hellfeld (PKS, 2020)4
Hinweise von Schulen, Kitas und der Gesellschaft in der Coronapandemie Im April und Mai 2020 meldeten die Schulen weniger als halb so viele Fälle wie im Vorjahr. Die Zahl der von Schulen gemeldeten Kinderschutzfälle sank von 1 476 im März 2020 auf 674 Fälle im April. Damit hat sich dieser Wert nicht nur gegenüber dem Vormonat, sondern auch im Vergleich zum April des Vorjahres (1 435 Fälle) mehr als halbiert. Im Mai 2020 stieg die Zahl der von Schulen gemeldeten Kinderschutzfälle wieder etwas an (729 Fälle), war aber weiterhin nur etwa halb so hoch wie im Mai des Vorjahres (1 433 Fälle). In den Sommermonaten Juni, Juli und August – in denen das Niveau ferienbedingt in der Regel niedriger ausfällt – näherten sich die Fallzahlen dann wieder den Vorjahreswerten an, blieben aber weiterhin unter deren Niveau. Erst im Herbst und Winter 2020 überschritt die Zahl der von Schulen gemeldeten Kinderschutzfälle dann die Fallzahlen von 2019. Auch die Kitas (einschließlich Kindertagespflege) haben den Jugendämtern im Frühjahr 2020 zeitweise deutlich weniger Kindeswohlgefährdungen und Fälle von Hilfe- oder Unterstützungsbedarf gemeldet. Im Vergleich zu den Schulen fiel der Rückgang jedoch schwächer aus: Während die Kitas im März 2020 noch 422 Kinderschutzfälle gemeldet haben, waren es im April nur 267. Sowohl gegenüber dem Vormonat als auch im Vergleich zum April des Vorjahres (408 Fälle)
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Birgit Averbeck, Ansgar Röhrbein
lag der Wert damit um über ein Drittel niedriger. Im Mai fiel der Unterschied dann zwar etwas geringer aus (2019: 393 Fälle, 2020: 275 Fälle), war aber nach wie vor mit fast einem Drittel auffällig. Im Juni 2020 überschritten die Fallzahlen den Vorjahreswert dann deutlich. Insgesamt waren die betroffenen Kinder in 70 % aller von Kitas oder Schulen gemeldeten Kinderschutzfälle jünger als zwölf Jahre. Besonders hoch waren die Anteile der unter Zwölfjährigen im April und Mai 2020 mit 75 % und 74 % (April und Mai 2019: jeweils 69 %). Die Rückgänge in der monatlichen Entwicklung bei Schulen und Kitas wirkten sich auch auf die Jahresergebnisse aus: Zwar war die Gesamtzahl der Kinderschutzfälle von 2019 auf 2020 um 11 % auf 127 108 gestiegen. Bei den Schulen verlief die Entwicklung durch die Besonderheiten im Frühjahr jedoch gegen den allgemeinen Trend: Hier gingen sie gegenüber 2019 um 3 % auf 14 477 zurück. Bei den Kitas war die Jahresentwicklung zwar nicht rückläufig, der Anstieg fiel aber nur etwa halb so hoch wie der Durchschnitt (+11 %) aus: Von 2019 auf 2020 nahmen die von Kitas gemeldeten Fälle um 6 % auf 4 551 zu. Bei anderen Hinweisgebern gab es beim Thema Kinderschutz im Zuge des ersten Lockdowns keinen Rückgang der Fallzahlen, so z. B. bei Polizei, Gerichten und Staatsanwaltschaften: Im Jahr 2020 sind die von Polizei und Justiz gemeldeten Fälle mit +16 % überdurchschnittlich gestiegen (Durchschnitt: +11 %). Dabei bewegten sich die monatlich gemeldeten Kinderschutzfälle auf relativ hohem Niveau zwischen 2 253 (Februar) und 3 019 (Juli). Besondere Auffälligkeiten waren hier im Frühjahr nicht auszumachen. Ähnliches gilt für die von der Bevölkerung, also von Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder anonym gemeldeten Fälle: Hier schwankten die monatlichen Meldungen zwar etwas stärker zwischen 1 904 (Februar) und 3 062 (Juli) Fällen, im Frühjahr gab es aber auch hier keine nennenswerten Rückgänge. Die Bevölkerung hatte 2020 rund 18 % mehr Kinderschutzfälle als 2019 gemeldet. Arbeit der Jugendämter in der Pandemie Eine Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI, 2021) zeigt, dass deutsche Jugendämter selbst während der Lockdownphasen dem Kinderschutz in den meisten Fällen ähnlich wie vor der Pandemie nachgekommen sind. Bei Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung wird der Kinderschutz tendenziell über den Infektionsschutz gestellt und es finden Besuche und persönliche Kontakte zwischen Fachkräften und Betroffenen in der Regel statt. Jedoch zeigt die Auswertung auch, dass es vor allem während der Phase massiver Kontaktbeschränkungen auch vereinzelte Fälle gab, in denen das Schutzkonzept weit-
Einleitende Gedanken
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gehend zusammengebrochen ist und Familien weder die notwendigen Hilfen erhalten haben noch die flankierenden Maßnahmen zur Kontrolle und Absicherung des Kindes vor akuten Gefahren umgesetzt wurden. Fazit zur Erfassung von Datenmaterial zum Kinderschutz Auch wenn es noch keine einheitliche Systematik in der Datenerfassung gibt, so zeigen die Zahlen, dass eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen von Gewalt und Vernachlässigung betroffen ist. Wir kommen hiermit einer Empfehlung der Streitschrift zum Kinderschutz (Biesel et al., 2019) nach und regen an, Daten zur Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen nicht gegen das Kinderschutzsystem in Deutschland und die dort tätigen Fachkräfte zu richten, sondern für eine kritische Weiterentwicklung zu nutzen. Die Daten sollten nicht zur Skandalisierung, sondern zur Ableitung von empirisch getragenen Strategien zur Verbesserung des Kinderschutzes und zur Entwicklung von bedarfsgerechten Hilfen für Familien in schwierigen Lebenssituationen genutzt werden. Gefährdungen von Kindern können in allen Familien vorkommen. Wir müssen uns verabschieden von allumfassenden Steuerungsmöglichkeiten familiärer Entwicklungen und brauchen individuelle Hilfen, die Rückschläge als normativ integrieren und Eltern und Kindern Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen. Diese »Soft Skills« von Hilfen geben Daten nur bedingt wieder. Literatur Biesel, K., Brandhorst, F., Krause, H.-U., Rätz, R. (2019). Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz. Bielefeld: transcript. Deutsches Jugendinstituts (DJI) (2021). Trotz Corona-Beschränkungen Kinderschutz nicht vernachlässigt. Zugriff am 13.10.2022 unter https://www.dji.de/veroeffentlichungen/aktuelles/ news/article/kinderschutz-trotz-corona-beschraenkungen-nicht-vernachlaessigt.html. Domhardt, M., Münzer, A., Fegert, J. M., Goldbeck, L. (2015). Resilience in survivors of child sexual abuse: A systematic review of the literature. Trauma, Violence & Abuse, 16 (4), 476–493. Fegert, J. M., Rassenhoffer, M., Gerke, J. (2017). Die Folgen des Leids lindern. DJI-Impulse (2) 2017, 17–20. Fegert, J. M. (2019). Entwicklungen im Kinderschutz in Deutschland: Notwendigkeiten, Chancen und ungelöste Probleme im Alltag. Der alltägliche Missbrauch ist der Skandal. Das Jugendamt, 92 (10), 486–490. Jud, A., Rassenhofer, M., Witt, A., Münzer, A., Fegert, J. M. (2016). Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch – Internationale Einordnung, Bewertung der Kenntnislage in Deutschland, Beschreibung des Entwicklungsbedarfs. Hrsg. vom Arbeitsstab des unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Zugriff am 13.10.2022 unter https://beauftragtemissbrauch.de/fileadmin/Content/pdf/Pressemitteilungen/Expertise_Haeufigkeitsangaben.pdf. Kinderschutz-Zentrum Berlin (Hrsg.) (2009). Kindeswohlgefährdung – Erkennen und Helfen (11. Aufl.). Berlin: Kinderschutz-Zentrum Berlin e. V.
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Birgit Averbeck, Ansgar Röhrbein
Stadler, L., Bieneck, S., Pfeiffer, C. (2012). Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011. KFN-Forschungsbericht Nr. 118. Herausgeben vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. (KFN). Zugriff am 13.10.2022 unter https://kfn.de/wp-content/uploads/ Forschungsberichte/FB_118.pdf. Statistisches Bundesamt (2021). Daten aus der Statistik der Kinder- und Jugendhilfe Teil I – Gefährdungseinschätzungen nach § 8a Absatz 1 SGB VIII. Ergebnisse für Deutschland (Sonderauswertung). Zugriff am 13.10.2022 unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Kinderschutz/Tabellen/sonderauswertung-gefaehrdungsseinschaetzungen.html;jsessionid=84896F19AB213DAD7BE812D8C3AADFC8.live721. Witt, A., Rassenhofer, M., Pillhofer, M., Plener, P. L., Fegert, J. M. (2013). Das Ausmaß von Kindesmissbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in Deutschland. Eine Übersicht. In Nervenheilkunde 11/2013. S. 813–818. https://www.researchgate.net/publication/261731301_ Das_Ausmass_von_Kindesmissbrauch_-misshandlung_und_-vernachlassigung_in_Deutschland_Eine_Ubersicht.
3 Thematische Grundlagen
3.1 Entwicklungspsychologische Grundlagen für den systemischen Kinderschutz Sonja Bröning
Die Entwicklung eines Individuums systemtheoretisch betrachten heißt »die Berücksichtigung der »dynamische[n] Wechselwirkung zwischen den biologischen und psychischen Eigenschaften einerseits und den sozialen Bedingungen des Lebens andererseits« (Rotthaus, 2021). Die Entwicklungspsychologie, die nach der Veränderung des menschlichen Verhaltens und Erlebens über die Lebensspanne hinweg fragt (Trautner, 1992), hat sich über die letzten Jahrzehnte einer systemischen Perspektive immer weiter angenähert und diesen Prozess auch noch lange nicht abgeschlossen. Uri Bronfenbrenner (1986) wies in seiner ökosystemischen Theorie erstmals auf die Bedeutung des Kontexts hin. Der bis dahin gängigen Lehrmeinung, dass vor allem intrafamiliale Einflüsse auf die menschliche Entwicklung wirken, hielt er die Bedeutung von Wechselwirkungen zwischen dem Menschen, seiner Familie und verschiedenen Systemumwelten entgegen (vgl. Abbildung 1). Dabei berücksichtigte er nicht nur verschiedene Mikrosysteme, wie die Peergroup (Gruppe der Gleichaltrigen) oder die Schulklasse, sondern auch Systeme, die nur indirekten Kontakt mit dem Setting des Kindes haben, etwa der Arbeitsplatz der Eltern, und auch (auf übergeordneter Ebene) das Makrosystem mit Einflüssen aus Gesellschaft, Kultur, Rechtssystem und weiteren Bereichen. In der Broschüre der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) wird der Kinderschutz dann als systemisch definiert, wenn Professionelle »den Kontext und die Wechselwirkungen der Situation eines Kindes angemessen […] berücksichtigen und alle relevan-
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Abbildung 1: Ökosystemisches Modell von Uri Bronfen brenner (vgl. Scheithauer u. Niebank, 2022, S. 413)
ten Personen und Institutionen mit ein[…]beziehen« (DGSF, 2020, S. 1). Die Entwicklungspsychologie kann den Blick für wichtige Kontextfaktoren und Wechselwirkungen schärfen. In den folgenden Abschnitten sollen mit diesem Ziel folgende Fragen beantwortet werden: Ȥ Welche Systemebenen und Wechselwirkungen sind für die menschliche Entwicklung relevant? Ȥ Was sind zentrale Einflüsse und Risiken im Entwicklungsverlauf, das heißt • pränatal, • in der frühen Kindheit, • im Vor- und Grundschulalter, • in Pubertät und Jugendalter? Ȥ Welche Schlussfolgerungen für den systemischen Kinderschutz ergeben sich daraus? Entwicklungsrelevante Systemebenen und Wechselwirkungen Zunächst werden wesentliche Perspektiven auf Entwicklung skizziert, die über Jahrzehnte längsschnittlicher Forschung hervorgetreten sind: (1) Entwicklung ist ein komplexes, interaktives Zusammenspiel sich laufend verändernder Einflüsse über die gesamte Lebensspanne. Sie erfolgt in mehreren
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Dimensionen, beispielsweise motorische, sensorische, emotionale, soziale, kognitive Entwicklung. Biologische, kognitive und sozioemotionale Prozesse sind in der Entwicklung eng verzahnt, auch wenn sie manchmal aus Vereinfachungsgründen getrennt beforscht und betrachtet werden. Verlässt z. B. eine nahe Bezugsperson den Raum und kehrt nach einiger Zeit wieder, hängt sowohl die Stressreaktion als auch die Effektivität der Beruhigung des Kleinkinds von dessen Physiologie ab (wie ängstlich veranlagt? Wie viele Stresshormone werden ausgeschüttet?), von seiner kognitiven Entwicklung (verstehe ich, was »Mama kommt gleich wieder« heißt?) sowie von sozioemotionalen Faktoren (welche Erfahrungen habe ich bisher damit gemacht, dass die Bezugsperson abwesend ist?). So spielen bei frühen Regulationsstörungen (»Schreibabys«) meist sowohl körperliche Reifungsprozesse als auch emotionale und soziale Faktoren in die Problemdynamik hinein (Ziegenhain, Hermeling, Steiner u. Izat, 2020). Der Entwicklungsstand einer Person kann von Dimension zu Dimension variieren, jedoch gibt es oft Querverbindungen. So hat ein blind geborenes Kind häufig auch Probleme mit der motorischen Entwicklung (Prechtl, Cioni, Einspieler, Bos u. Ferrari, 2001). Viele Merkmale, wie z. B. Persönlichkeitseigenschaften, verändern sich noch bis in das hohe Alter hinein (Costa, McCrae u. Löckenhoff, 2019). (2) Entwicklungsprozesse im Kindes- und Jugendalter zeichnen sich durch eine große Variabilität und Veränderungsgeschwindigkeit aus. Säuglinge werden bereits mit einem umfangreichen Verhaltensrepertoire geboren, dessen Erwerb nicht auf extern gesteuertes Lernen zurückgeführt werden und auch nicht deutlich beschleunigt werden kann. Wir beobachten universell selbstständiges Gehen um den 12./13. Lebensmonat, Zwei-Wort-Sätze um den 18. Lebensmonat, erste logische Operationen um das sechste Lebensjahr. Jede für die Spezies Mensch normale, also nicht deprivierte Umwelt reicht für diese Entwicklung aus. Die Zeitpunkte, zu denen Entwicklungsschritte erfolgen, variieren aber stark, und nicht jeder Entwicklungsschritt wird von allen Kindern durchlebt (z. B. Krabbeln). Somit reicht ein einziger Zeitpunkt meistens nicht aus, um den Entwicklungsstand eines Kindes angemessen erfassen zu können (Siegler, Eisenberg, DeLoache u. Saffran, 2016). Entwicklungstests wie der ET6-6 (Petermann, Stein u. Macha, 2008) für Kinder von null bis sechs Jahren helfen, Defizite, aber auch Stärken in der Entwicklung von Kindern zu einem gegebenen Zeitpunkt zu identifizieren, mit Bezugspersonen zu thematisieren und über die Zeit zu beobachten. Kognitiv, emotional, sozial und motorisch gibt es im Entwicklungsverlauf große Spannweiten. Je älter das Kind wird, umso weiter driften Leistungen in unterschiedlichen Domänen auseinander, und Trainingseffekte (z. B. ob etwas in der Schule oder zu Hause geübt wurde) werden immer deutlicher erkennbar.
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(3) Über den Entwicklungsverlauf ist »neuronale Plastizität«, d. h. prinzipielle Veränderbarkeit, zu beobachten. Das reifende Gehirn ist nicht »starr verdrahtet« wie ein Computer, sondern wird ständig umgebaut und an neue Erfordernisse angepasst. Dies geschieht nach dem Prinzip »use it or lose it«, bei entsprechenden Impulsen und Anforderungen werden also Verbindungen gefestigt und andere werden bei Nichtnutzung geschwächt oder eliminiert (Kolb u. Gibb, 2011). Menschen sind generell auf Interaktion hin angelegt (Yoshikawa u. Kabay, 2015), und das sich entwickelnde Gehirn ist für externe, kontextuelle Einflüsse sehr empfänglich. Die mit grundlegenderen Funktionen zusammenhängenden Hirnareale (d. h. die weiter hinten liegenden sensorischen und motorischen Bereiche) reifen in der Entwicklung eines Kindes früher aus als die an höheren Funktionen beteiligten Gebiete (der Aufmerksamkeit und der angemessenen Ausführung), die zum Teil erst im späteren Jugendalter oder sogar jungen Erwachsenenalter vollständig zur Reife gelangen (Gogtay et al., 2004). Die in den ersten Lebensjahren rasant erfolgende Synaptogenese wird durch einen zweiten zentralen Prozess ergänzt, nämlich die Umhüllung von Nervenbahnen mit einer Myelinschicht. Dies steigert die Geschwindigkeit der Weiterleitung elektrischer Signale und somit die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Das Gehirn bleibt über die Lebensspanne veränderbar und formbar – man spricht von »Neuroplastizität« (Voss, Thomas, Cisneros-Franco u. de Villers-Sidani, 2017). (4) Kinder sind von Anfang an »Akteure« und steuern ihre Entwicklung mit. Zwillingsstudien weisen auf eine starke genetische Grundlage des kindlichen Temperaments hin (z. B. Ando et al., 2004). Durch ihre Reaktionen auf die sich ihnen bietende Umwelt rufen Säuglinge je nach Temperament, also ihren angeborenen physiologischen Gegebenheiten (z. B. Bewegungsbedarf, Reizbarkeit, Intensität des emotionalen Ausdrucks), Reaktionen aus der Umwelt hervor. So wird ein leicht reizbarer Säugling weniger Zeit bei anderen Erwachsenen als den nahen Bezugspersonen verbringen, weil er schneller anfängt zu weinen und klar signalisiert, die Beruhigung etwa durch die Mutter zu benötigen. Dadurch macht er/sie von Anfang an andere Erfahrungen (evozierende Anlagewirkung) als weniger sensible Kinder. Im Altersverlauf nimmt die Möglichkeit der bewussten Einflussnahme auf Aktivitäten und Umwelten immer mehr zu (aktive Anlagewirkung). Adoptivstudien zeigen, dass beim Intelligenzquotienten der Grad der Übereinstimmung mit Adoptiveltern im Lauf der Entwicklung abnahm, während er mit den biologischen Eltern zunahm (Tucker-Drob u. Briley, 2014). Die mit dem Alter zunehmende Unabhängigkeit lässt den Kindern bzw. Jugendlichen mehr Freiräume, sich aktiv förderliche Umgebungen zu suchen, die zu ihren (genetisch determinierten) Präferenzen passen.
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(5) Wie günstig eine Entwicklung verläuft, hängt nicht allein von den kindlichen Anlagen oder der Umwelt ab, sondern von der Passung des Zusammenspiels aus beidem (»goodness of fit«). Die Dynamik, die aus der Passung der Eigenschaften von Bezugspersonen und Kindern resultiert, kann günstiger oder weniger günstig sein. So können sich eine leicht reizbare Mutter und ein sehr nervöses Baby schnell gegenseitig emotional in Stress versetzen, vor allem, wenn weitere, situative Stressoren hinzukommen und auf wenig Ressourcen zurückgegriffen werden kann. Auch kontextuelle, kulturelle Einflüsse spielen in dieser Passung übergreifend eine Rolle, so passt ein extrovertiertes und willensstarkes Kind besser in eine individualistische Kultur als ein sehr zurückhaltendes Kind, das in kollektivistischen Kulturen mehr Wertschätzung erfahren würde (vgl. Super et al., 2020). Letztlich sind es, gerade zu Beginn der Entwicklung, die familiären, tagtäglichen Interaktionen, über die diese Einflüsse bewusst oder unbewusst vermittelt werden (Conger, Conger u. Martin, 2010). Gelingen diese, ist die zentrale Grundlage für gesunde Entwicklungsprozesse gelegt. Die Entwicklung wird also gleichermaßen durch das Kind selbst und seinen Kontext beeinflusst. Daher nutzen die meisten Instrumente zur Analyse von Gefährdungssituationen und Entwicklungsbilanzen die Risikound Schutzfaktorenperspektive (Petermann u. Petermann, 2005), in der personale Vulnerabilitäten und kontextuelle Stressoren (Risikofaktoren) ebenso einbezogen werden wie personale und soziale Ressourcen des Kindes (Schutzfaktoren).
Systemisch Arbeitende achten in der Analyse konkreter Situationen im Kinderschutz auf Wechselwirkungen, die sich in festgefahrenen, oft über Jahre entstandenen dysfunktionalen Mustern zwischen Kind, Familie und weiterem Kontext zeigen. Hier stecken oft die Probleme für den Kinderschutz, jedoch auch die Lösungsansätze.
Entwicklungseinflüsse und Wege in das Risiko Lebensphasen sind nicht isoliert voneinander zu sehen, sondern zeichnen sich oft durch Kontinuität des Geschehens und der Einflüsse aus. Dennoch werden sie im Folgenden genutzt, um zentrale Entwicklungseinflüsse zu verdeutlichen, die dann über die Kindheit und Jugend wie Zahnräder ineinandergreifen.
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Pränatale Einflüsse
Kinder kommen nicht als Tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt, auf die Welt. Sie bringen ihre Anlagen mit. Eltern staunen immer wieder über die Unterschiedlichkeit von Geschwisterkindern. Vom ersten Tag an unterscheiden sich Säuglinge in allen Facetten ihres Temperaments, etwa in Eigenschaften wie Weinhäufigkeit, Schlafbedarf, motorische Unruhe, Sensibilität gegenüber neuen Stimuli. Die durch Chess und Thomas (1977) stimulierte Forschung zeigt, dass das früh erhobene kindliche Temperament eine hohe zeitliche Stabilität besitzt (z. B. Kandler, Riemann u. Angleitner, 2013). Genetische Einflüsse sind hier und bei vielen weiteren Merkmalen durch Zwillingsstudien festgestellt worden. Untersuchungen des Genoms zeigen jedoch, dass es keine 1:1-Zuordnung zwischen Merkmal und bestimmten Genorten gibt. Es gibt nicht das »Sensibilitäts-« oder »Aggressions-Gen«, sondern unsere DNA liefert auf sehr grundlegende Weise den Code für die Produktion von Proteinen in unseren Zellen, die dann wiederum Einfluss auf sensorische, neuronale, und weitere Prozesse nehmen. So könnte die festgestellte Vererbung erhöhten Fernsehkonsums mit einem genetisch basierten niedrigen motorischen Aktivitätsniveau kombiniert mit einem Bedarf an raschen externen Stimuli einhergehen, weitere Kontextfaktoren kommen dann hinzu. Weiterhin »im Gepäck« haben Säuglinge bei der Geburt für viele Domänen von Physik bis Psychologie ein »intuitives Kernwissen«, wie neuere Studien zeigen. So sind bereits Säuglinge erkennbar überrascht, wenn Gesetze der Schwerkraft scheinbar außer Kraft gesetzt werden, sie haben rudimentäre Vorstellungen von den Intentionen anderer und bevorzugen sehr früh prosoziale Verhaltensweisen (Baillargeon, Setoh, Sloane, Jin u. Bian, 2014; Hamlin u. Wynn, 2011). Schließlich beeinflussen auch pränatale Erfahrungen, z. B. bezogen auf Ernährung und weitere sensorische Stimuli vor allem im letzten Schwangerschaftsdrittel, die nachgeburtliche Entwicklung (Siegler et al., 2016). Pränatale Risiken entstehen in unserem Kulturkreis häufig durch Substanzkonsum der Mutter und andere Teratogene, die das ungeborene Leben schädigen. Diese Verhaltensweisen erhöhen auch das Risiko für Frühgeburten, die wiederum eigene Entwicklungsrisiken mit sich bringen (Quesada et al., 2012). Auch Störungsbilder wie die fetale Alkoholspektrumstörung können die Folge sein, sie werden aufgrund ihrer Symptomvielfalt häufig nicht erkannt oder mit ADHS verwechselt (Landgraf, Giese u. Heinen, 2016). Weitere pränatale Risiken entstehen durch das Alter der Mütter (unter 18 Jahren und ab Mitte dreißig ist die Schwangerschaft mit deutlich mehr Risiken behaftet), eine Fehloder Mangelernährung der Mutter oder Stress während der Schwangerschaft.
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So sind die Feten von Frauen, die von hoher Stressbelastung während der Schwangerschaft berichten, die ganze Zeit hindurch körperlich aktiver als die Feten von Frauen, die sich weniger gestresst fühlten (DiPietro, Hilton, Hawkins, Costigan u. Pressman, 2002). Diese erhöhte Aktivität hängt wahrscheinlich mit den Hormonen Adrenalin und Kortisol zusammen, die von der Mutter bei Stress ausgeschüttet werden. Die Wirkungen von Stress können nach der Geburt fortdauern und sind mit Verhaltensproblemen in der Kindheit assoziiert. Hier spricht man von einer »fetalen Programmierung« der physiologischen Eckdaten, die den Körper im Erwachsenenalter regulieren (Lindsay, Buss, Wadhawa u. Entringer, 2019). Frühkindliche Einflüsse
Die ersten Lebensjahre haben eine herausragende Bedeutung in der kindlichen Entwicklung. Dies liegt vor allem an der rasanten Hirnentwicklung in dieser Zeit, vor allem der Synaptogenese, also der Verknüpfung von Nervenzellen untereinander. Bei Geburt wiegt das Gehirn ca. 25 % des erwachsenen Gehirns, bis zum Alter von fünf Jahren vervierfacht sich seine Größe, bis zum Alter von sechs Jahren ist es im Schnitt bei 90 % der Erwachsenengröße angelangt. Die Synaptogenese betrifft alle Funktionen, die den Menschen besonders auszeichnen: vom Hören und Sehen bis hin zu Sprache, Schreiben und Gefühlserleben (Holt u. Mikati, 2011). Die sensorisch-motorische, aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt ist hierbei unerlässlich und findet im Kontext von Mediennutzung und Großstadtwohnungen zunehmend weniger statt. Wesentlich für die frühkindliche Entwicklung sind weiterhin die tagtäglichen Interaktionen mit bedeutsamen Anderen. Je nach Art und Dosis des »Inputs« von außen fallen Anpassungsleistungen des Kindes an die Umwelt unterschiedlich aus. In der ersten Zeit sind vor allem die primären Bezugspersonen hierfür maßgeblich. Während schon Kleinkinder z. B. Hilfe holen oder aktiv andere Personen zur Bedürfnisbefriedigung ansprechen können, sind die Kleinsten in der Befriedigung ihrer physiologischen Bedürfnisse (Sauerstoff, Essen/Trinken, Wärme, Schlaf-wach-Rhythmus, sensorische Stimulation) »in einem nicht verhandelbaren Ausmaß« (Brisch, Mögel, Simoni, von Kalkreuth u. Kruppa, 2009, S. 11) auf ihr nahes Umfeld und die Bezugspersonen angewiesen. Dies gilt auch für die Befriedigung psychologischer Bedürfnisse, insbesondere nach emotionaler Zuwendung (Bindung), Erkundung der Umwelt (Exploration) und dem Erleben eigener Wirksamkeit (Kompetenz; Ryan u. Deci, 2017). Intuitiv dosieren Bezugspersonen im guten Falle die Reize aus der Umwelt so, dass Kinder über die Zeit in ihrem Handeln und dem Umweltgeschehen Berechenbarkeit,
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Möglichkeit der Einflussnahme und Sinn erkennen (Kompetenzerfahrung). Als »Explorationspartner« bieten sie den Kindern die Möglichkeit, ihr Umfeld zu erkunden und zu verstehen. Und als »Bindungspartner« und »sicherer Hafen« stehen sie im guten Fall intuitiv und verlässlich zur Verfügung und erkennen feinfühlig, in welchem Ausmaß Belastungen aufgefangen werden müssen (Brisch et al., 2009). Die Bindungsentwicklung ist in den ersten Lebensmonaten von besonderer Bedeutung. Ab einem Alter von etwa acht Monaten haben Kinder bereits spezifische, im Gefühl verankerte Bindungen zu unterschiedlichen Bindungspersonen entwickelt und zeigen verschiedene Verhaltensweisen, je nachdem, welcher Elternteil sich z. B. nähert. Während man früher der Auffassung war, dass vor allem die Feinfühligkeit und Bindungssicherheit der primären Bezugspersonen maßgeblich für die Ausprägung des kindlichen Bindungstyps sei, ist mittlerweile deutlich, dass auch hier das »Goodness of fit«-Prinzip gilt: Das kindliche Temperament nimmt ebenfalls Einfluss auf dessen entstehende Bindungssicherheit. Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass eine sichere Bindungsqualität eine gelungene soziale Anpassung begünstigt (Grossmann u. Grossmann, 2007). Im Umgang mit Belastungen zeigen sicher gebundene Kinder ein hohes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen und eine hohe Ich-Flexibilität sowie die Fähigkeit, ihre Impulse, Bedürfnisse und Gefühle dynamisch an den jeweiligen situativen Kontext anzupassen (Spangler u. Zimmermann 1999). Im Längsschnitt erweist sich die Stabilität eines Bindungstyps als »mittel«, Veränderung ist also durchaus möglich, jedoch wahrscheinlicher, wenn sich auch im Umfeld etwas verändert, indem z. B. ein Kind in einer Pflegefamilie neue Erfahrungen macht oder sich die Erziehungskompetenz der Eltern durch Training verbessert (Raby, Steele, Carlson u. Sroufe, 2015). Frühkindliche Risiken betreffen vielfach die Bindungs(un)sicherheit und ihre weitreichenden Folgen. Der Bindungstheorie und -forschung zufolge kommt es im Verlauf der Bindungsentwicklung zur Entstehung innerer, im Gefühl verankerter Vorstellungen (»Repräsentationen«) von Bindungserfahrungen. Diese betreffen sowohl das Selbst (liebenswert? Wirksam handelnd?) in nahen Beziehungen als auch das Gegenüber (Grenzen achtend? Verlässlich? Verfügbar?). Bindungsunsicherheit kann entweder eher beziehungsvermeidenden und emotionsunterdrückenden Charakter haben oder von Beziehungsangst und überbordender Emotionalität geprägt sein. In Studien zeigten sich vielfältige Einflüsse unsicherer Bindung auf relevante psychologische Merkmale wie Selbstwert, Selbstregulation, Aggressivität, Mentalisierungsfähigkeit (die Fähigkeit, emotionale Zustände in sich selbst und anderen zu »lesen«), psychische Gesundheit bis hin zu späteren Liebesbeziehungen und die Beziehung zu
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den eigenen Kindern (Groh, Fearon, van Ijzendoorn, Bakermans-Kranenburg u. Roisman, 2017; Pascuzzo, Moss u. Cyr, 2015). Personen mit unsicherem Bindungstyp sind deutlich häufiger in klinischen Stichproben als in der allgemeinen Bevölkerung zu finden, wo der Prozentsatz als »sicher« klassifizierter Personen bei ca. 60 % liegt (Cassidy u. Shaver, 2002). Elterliche Belastungen und frühe Widrigkeiten wie psychische Krankheit der Eltern oder Partnerschaftskonflikte, etwa im Zuge einer Trennung, können zu fehlender Responsivität, Passivität oder auch intrusivem Verhalten dem Kind gegenüber führen, seltener auch zu Gewalt und Vernachlässigung. Dort, wo die elterliche Zuwendung und Wärme fehlen oder Bezugspersonen häufig wechseln, kommt es zu Anpassungsstörungen (Pechtel u. Pizzagalli, 2011). Eine Studie unter rumänischen Kindern, die emotional depriviert in Institutionen »verwahrt« wurden, zeigte eindrucksvoll, wie weit diese Störungen gingen: Institutionalisierte Waisenkinder wiesen ernsthafte Entwicklungsstörungen, z. B. einen stark verminderten IQ, reduzierte Hirnaktivität, deutlich sichtbare Bindungs- und Sprachschwächen und Defizite im körperlichen Wachstum, trotz hinreichender Ernährung auf. Erschreckender noch war das Muster, das die Forscher beobachteten: Kinder, die vor ihrem zweiten Lebensjahr in eine Pflegefamilie kamen, konnten oft einige dieser Fähigkeiten verbessern. Kleinkindern, die nach dem zweiten Geburtstag in Pflegefamilien kamen, gelang das meist nicht (Bos et al., 2011). Die »Bukarest-Studie« fand weiter heraus, dass Kinder aus Waisenhäusern verkürzte Telomere (Chromosomenenden) aufwiesen, was als Biomarker für vorzeitiges zelluläres Altern gilt (Drury et al., 2012). Weitere Forschung bestätigt, dass frühe und gravierende Entwicklungsrisiken auf vielfältige Weise durch molekulare Mechanismen zu veränderten physiologischen Prozessen führen, die ein gesundheitliches Risiko im weiteren Lebenslauf darstellen. Dazu zählen eine erhöhte Vulnerabilität für Stress (Gunnar u. Quevedo, 2007) neuronale oder endokrine Störungen des Immunsystems und chronische Entzündungen. Die Entwicklungspsychologie spricht daher von einer frühen biologischen »Einbettung (»biological embedding«) der frühen Widrigkeiten in den Körper des Kindes (Berens, Jensen u. Nelson, 2017). Störungen in der Eltern-KindBeziehung möglichst früh zu erkennen und auszugleichen, ist somit ein wichtiges Präventionsziel im Kinderschutz, etwa im Rahmen der Frühen Hilfen. Lazarus’ Stressmodell (Lazarus u. Folkman, 1984) verdeutlicht, dass die subjektive Bewertung von Stressoren und Bewältigungsressourcen die Bewältigung von Widrigkeiten maßgeblich beeinflusst.
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Systemisch Arbeitende treffen daher trotz ihres Fachwissens in spezifischen Kontexten wie Pflegefamilien oder durch Sucht belasteten Familien nicht zu viele Annahmen über die Entwicklungsbilanz eines Kindes, sondern fragen genau nach: nach den Umständen, den Folgen, dem Zusammenwirken verschiedener Einflüsse und vor allem nach der subjektiven Bewertung der Belastungen durch die Mitglieder einer Familie. Auch behalten sie die intergenerationale Perspektive im Blick, indem sie berücksichtigen, dass Eltern mit geringer Erziehungs- und Beziehungskompetenz meist auch selbst bereits physiologische und biografische Vulnerabilitäten in sich tragen.
Einflüsse im Vor- und Grundschulalter
Nach kurzer Zeit ist ein Fohlen »einsatzbereit« – menschliche Kinder brauchen viele Jahre, bis sie eigenverantwortliche Mitglieder der Gesellschaft werden können. Der evolutionäre Vorteil liegt im Anpassungsprozess an die jeweilige Umwelt, der über Sozialisationsprozesse erfolgt. Im Vor- und Grundschulalter ist dies besonders eindrücklich erkennbar: Wie ein Schwamm saugt ein Kind Informationen aus seinem Umfeld darüber auf, wie es sich verhalten soll, was relevante Andere tun, was zu seiner Identität z. B. als Mädchen oder Junge gehört, welche Anstrengungen zur Deckung seiner Bedürfnisse erfolgreich sind und welche nicht und welches Verhalten negative oder positive Konsequenzen hat. Der Radius erweitert sich: Zu den nahen Bezugspersonen kommen nun weitere Einflüsse etwa von Pädagog:innen, Gleichaltrigen und anderen Personen hinzu. Nun stellt sich zunehmend die Frage, ob ein Kind ausreichend Gelegenheit hat zu explorieren, also zu lernen und die Welt zu erkunden. Piaget, der große Kognitionsforscher, zeigte, dass Kinder einen starken Eigenantrieb dafür haben, zu explorieren. Jedoch betonte er nicht ausreichend die Rolle der sozialen Interaktion. Ein Kind entfaltet vor allem im Dialog mit »more-skilled adults« oder weiter entwickelten Kinder das volle Potenzial seiner Lernfähigkeit, und zwar häufig vermittelt über die Sprache (Vygotsky, 1962; Siegler et al., 2016). Intuitiv betreiben solche Dialogpartner:innen »scaffolding«; d. h. ein auf das Kind abgestuftes Unterstützen im Lernsetting. Studien zum Einfluss von Fremdbetreuung in Kindertagesstätten fanden beispielsweise nur dann einen positiven Einfluss auf die Schulleistungen der Kinder in der Grundschule, wenn genau diese Art von
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gestützter Exploration strukturell möglich war (guter Betreuungsschlüssel) und auch stattfand (Seiler, Müller u. Simoni, 2017). In vielen Studien haben sich Kultur (Denk- und Verhaltensmuster und Werte der jeweiligen Gesellschaft), ethnische Zugehörigkeit, sozioökonomischer Status (Status in der Gesellschaft durch Beruf, Bildung und Einkommen), und Gender (die durch Gesellschaft und Kultur geprägten Geschlechtseigenschaften einer Person) als besonders einflussreiche Kontextfaktoren gezeigt (Santrock, 2013). Wie sehr diese kontextuellen Einflüsse in jedem Moment der Entwicklung wirksam sind, zeigen interkulturelle Vergleiche. Rothbaum, Pott, Azuma, Miyake und Weisz (2000) kontrastieren z. B. Erfahrungen von Kindern in der kollektivistisch und hierarchisch geprägten Kultur Japans und Kindern der individualistischen, an Autonomie orientierten Kultur der Vereinigten Staaten. Mütterliche Dialoge mit ihren Kindern sind in Japan von Beginn an im Schnitt weniger von Informationen und Fragen, dafür mehr von Wir-Gefühl erzeugenden emotionalen Botschaften und rhetorischen Fragen durchzogen. Japanische Kinder werden weniger fremdbetreut, erleben weniger Trennungen von der primären Bezugsperson und mehr körperliche Nähe, dafür weniger Blickkontakt und Ermutigung zur Exploration der Außenwelt als US-amerikanische Kinder. Konflikte werden in Japan weniger durch Konfrontation und mehr durch Schweigen und Distanzierung adressiert. Zu Hause gelten für japanische Kinder weniger strenge Regeln, dafür außerhalb des Hauses ein strikter Verhaltenskodex. Die Liste lässt sich bis weit in das Erwachsenenalter und in soziale Beziehungen hinein fortsetzen. Vermittelt über die täglichen Interaktionen formen sich in zunehmendem Maße die kindliche Selbstbeschreibung (Selbstkonzept) und die emotionale Bewertung der eigenen Person (Selbstwert): Wo stehe ich in dieser Welt und was ist meine Rolle?
Systemisch Arbeitende sind sensibel für Unterschiede in den Werten kulturell verschiedener Familien, anstatt das Geschehen nur durch ihre eigene »Brille« zu betrachten.
Auch das aktuell geltende Männer- und Frauenbild in der jeweiligen Gesellschaft ist für das Selbstkonzept bedeutsam, wie eine Fülle an Forschungsarbeiten zeigt. Zwei Beispiele illustrieren, wie Rollenbilder unbewusst transportiert und angenommen werden. In der Studie »Reading is for girls« (Wolter, Braun u. Hannover, 2015) hatten traditionelle Geschlechtsrollenvorstellungen von Erzieher:innen in Kitas (»Lesen ist für Mädchen!«) einen negativen Einfluss auf die
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Lesemotivation und -fähigkeiten von Jungen in der Grundschule. In der Studie »Pretty as a princess« (Coyne, Linder, Rasmussen, Nelson u. Birkbeck, 2016) zeigte sich, dass Mädchen, die viel mit »Disney-Prinzessinnen« spielten, nach einem Jahr mehr geschlechtsrollenspezifisches Verhalten zeigten als Mädchen, die dies nicht taten. Dieser Zusammenhang wurde durch eine Präferenz der Eltern für geschlechtsbezogene Stereotype verstärkt. Häufig ist das Lernen am Modell, also an dem, was eine Person tut, noch einflussreicher als das, was sie sagt (vgl. MacBlain, 2018). Von Karl Valentin stammt der Satz: »Wir müssen unsere Kinder gar nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach.« Studien zeigen, dass dies in besonderem Maße dann gilt, wenn ein Kind das Modell mag oder bewundert und wenn das gezeigte Verhalten als erfolgreich eingestuft wird. So ist es nicht verwunderlich, dass der berühmte »Klassenkasper« oft mehr Nachahmende findet als die eher unbeliebte Lehrerin, die zur Ruhe mahnt. Vor allem Kinder mit einem Defizit an Zuwendung und Sicherheit werden selten Gelegenheiten auslassen, Aufmerksamkeit zu erhalten, selbst wenn es sich um »negative Aufmerksamkeit« handelt.
Systemisch Arbeitende werden in den Verhaltensweisen, die Kinder zeigen, immer auch nach dem kompetenten »Lösungsversuch« des Kindes Ausschau halten, der mit diesem Verhalten unternommen wird. Anstatt nur das Symptom zu kurieren, ist es dann möglich, das Defizit zu identifizieren und gegebenenfalls anderweitig zu erfüllen.
Risiken im Vor- und Grundschulalter ergeben sich organisch aus dem bisher Beschriebenen. Bei fehlender Anregung wirkt sich die menschliche Neuroplastizität eher zum Nachteil aus. Nach dem Prinzip »use it or lose it« bleiben wesentliche Verknüpfungen im Gehirn aus, wie Leger und Mitautoren (2015) eindrucksvoll demonstrieren (zwar an Mäusen – aber das Prinzip ist übertragbar). Dies zeigt sich in verschiedenen Domänen, z. B. im Spracherwerb, wo Defizite – wenn sprachliche Kompetenzen vor der Pubertät nicht hinreichend erworben wurden – später kaum vollständig aufzuholen sind. Aber auch die grundsätzliche Motivation, zu explorieren, also die »Lernfreude«, unterliegt »wie andere Motivsysteme auch, einer erfahrungsbedingten Modifikation« (Schneider u. Schmalt, 2000, S. 161). Interessanterweise wird immer deutlicher, dass es nicht nur die fehlende Anregung und Kompetenzerfahrung ist, die die kindliche Exploration beeinträchtigt, sondern auch mangelnde psychische Sicherheit. Kinder, die sich bedroht, aufgewühlt oder belastet füh-
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len, spielen und lernen schlechter. Je schneller ein Kind sich beruhigen kann und je stressresistenter es ist, desto eher kann es wieder explorieren, also ein Interesse für das Geschehen im »Außen« entwickeln. Eine gute Bindung hat somit Vorteile für soziale Kompetenzen und akademische Leistungen (Grossmann u. Grossmann, 2007), weil sie positiv mit der Fähigkeit zur Emotionsregulation assoziiert ist. Im Kontrast dazu ist eine unsichere Bindung häufig mit niedrigem Selbstwert und eingeschränkter Emotionsregulation verbunden (Goodvin, Meyer, Thompson u. Hayes, 2008; Pascuzzo, Moss u. Cyr, 2015), was Aggression und antisoziales Verhalten fördern kann (Donnellan, Trzesniewski, Robins, Moffitt u. Caspi, 2005). Sinnvoll ist es daher (und in Kita und Schule leider nicht immer gegeben), wenn vulnerable Kinder in Lernkontexten konstante Bezugspersonen vorfinden, die ihnen ermöglichen, schneller aus emotionalem Stress herauszufinden. Insgesamt steigt das Entwicklungsrisiko mit einer Kumulation von Belas tungsfaktoren wie Psychopathologie der Eltern, Gewalterfahrung in Paarbeziehungen, kindliche Dysregulation, Probleme der Eltern-Kind-Beziehung, ungeplante Schwangerschaft und Armut. Studien wie die repräsentative Kid-Studie des Nationalen Zentrums für Frühe Hilfen (Liel et al., 2020) zeigen, dass die Entwicklungsrisiken niemals unabhängig von Kontextfaktoren sind. Vor allem Armut hing mit fast allen Belastungsfaktoren zusammen und machte auch eine Kumulation dieser Faktoren wahrscheinlicher. In der KiGGS-Studie (Klipker, Baumgarten, Göbel, Lampert u. Hölling, 2018) zeigten Kinder und Jugendliche mit niedrigem Sozialstatus deutlich mehr psychische Auffälligkeiten als solche mit höherem Sozialstatus. Wichtige »Stellschrauben« für eine positive kindliche Entwicklung sind in dieser Phase weiterhin die emotionale Kompetenz und Feinfühligkeit der Eltern sowie ein Erziehungsstil, der von Zuwendung und altersgerechten Anforderungen zugleich geprägt ist (»autoritativer Erziehungsstil«). Die ElternKind-Beziehung und die Beziehung der Eltern untereinander setzt häufig auch den Maßstab für weitere Familienbeziehungen, z. B. der Geschwister untereinander. Ein Bestandteil von »Zuwendung« ist auch das sogenannte elterliche »Monitoring«, d. h. positive Kontrolle der Aktivitäten des Kindes in Schule und Freizeit, neuerdings auch in der Mediennutzung. Je risikoreicher die Umgebung, desto zentraler ist dieses »Monitoring«, wie Untersuchungen aus benachteiligten Wohngegenden in den USA gezeigt haben (Siegler et al., 2016). Beides leidet, wenn die Kapazitäten der Eltern anderweitig gebunden sind, etwa durch beruflichen Stress, Finanzsorgen, konfliktreiche Trennung oder Suchtprobleme. Wie die Resilienzforschung zeigt, sind verlässliche erwachsene Bezugspersonen außerhalb der Familie ebenfalls bedeutsam für die kindliche Entwicklung. Bei-
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spielsweise zeigte eine US-amerikanische Studie (Berry et al., 2014), dass Kinder aus Risikokontexten weniger gestresst waren (erfasst durch Kortisolmessung), je länger sie fremdbetreut wurden. Bei Kindern mit geringem Entwicklungsrisiko war es genau umgekehrt. Familienergänzende Betreuung in Krippe, Kita und Ganztag ist daher – unter den bereits benannten Bedingungen für Fremdbetreuungsqualität – eine wichtige Ressource im Kinderschutz. Letztlich bleiben bei aller Bedeutung der Interaktionen mit relevanten Anderen die kindlichen Merkmale einflussreich für die Entwicklung. So zeigte sich in einer längsschnittlichen Forschungsarbeit (Feldman, 2015), dass die kurz nach der Geburt gemessene Regulationsfähigkeit des Säuglings (u. a. gemessen durch den Tonus des Vagusnervs) eine vergleichbar starke Wirkung auf die Regulations- und Empathiefähigkeit des Kindes im Alter von zehn Jahren hatte wie die Eltern-Kind-Beziehung. Einflüsse in Pubertät und Jugendalter
Mit Einsetzen der Pubertät fällt der Startschuss für einen »Umbau« im Gehirn des jungen Menschen. Neuropsycholog:innen wie die Forscherin Eveline Crone (2011) haben in den letzten Jahren dokumentiert, dass in dieser Zeit einschneidende Veränderungen in der Organisation des Gehirns stattfinden, wobei Geschwindigkeit und Zeitpunkt der Entfaltung von Hirnregionen unterschiedlich sind. So wird die für emotionale »Kicks« zuständige Region (Amygdala) schon vergleichsweise früh aktiver, während der Emotionen durch rationale Kontrolle zügelnde Bereich (präfrontaler Kortex) vergleichsweise spät ausreift. Auch gut regulierte Kinder müssen sich auf die neuen emotionalen Gegebenheiten einstellen. Die differenzierte Bewertung mehrdeutiger Emotionen oder komplexer moralischer Fragen bleibt noch länger schwierig und entwickelt sich bis in das junge Erwachsenenalter hinein. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung der Beziehungen zu Gleichaltrigen und die Intensität von Freundschaften und ersten Liebesbeziehungen mit Einsetzen der Pubertät stetig zu (Siegler et al., 2016). Damit verbunden sind große Chancen für die Empathieentwicklung und die Ausprägung sozialer Kompetenzen. Gerade bezogen auf Ersteres zeigen sich in Studien häufig die weiblichen Personen im Vorteil, was meist auf den sozialisationsbedingt stärkeren Beziehungs- und Emotionsfokus zurückgeführt wird. Die Empathieentwicklung im Jugendalter sagte in einer Studie Unterschiede in der Sozialkompetenz im Erwachsenenalter voraus (Allemand, Steiger u. Fend, 2015). Das Urteil Gleichaltriger beeinflusst auch das Selbstkonzept in zunehmendem Maße. Dieses wird realistischer, zum Teil aber auch kritischer, denn der
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zunehmende Vergleich mit anderen Jugendlichen und die körperlichen und psychischen Veränderungen bringen Verunsicherung. So ist ein Absinken des durchschnittlichen Selbstwerts nach Beginn der Pubertät typisch (Robins, Trzesniewski, Tracy, Gosling u. Potter, 2002). Eltern spielen in dieser Phase weiterhin eine wichtige Rolle, wenn sie ihr Kind emotional unterstützen und ihrem steigenden Autonomiebedürfnis altersgerecht entgegenkommen (Allen, Porter, McFarland, McElhaney u. Marsh, 2007). Das Zusammenwirken schneller und langsamer heranreifender Hirnregionen erklärt viele typische Verhaltensweisen in der Adoleszenz. Belohnungen im Hier und Jetzt sind sehr verlockend, während abstrakte Ziele in der Zukunft weniger attraktiv wirken und die Risikowahrnehmung noch lange unterentwickelt bleibt (Crone, 2011). Neue und z. T. riskante Verhaltensweisen werden erprobt, versprechen sie doch intensive Erfahrungen. Aber auch die konstruktive Nutzung dieses emotionalen »Schwungs« für Kreativität, soziales und politisches Engagement und außergewöhnliche Lernsprünge in sportlichen und künstlerischen Domänen sind typisch für diese Phase (Kleibeuker, De Dreu u. Crone, 2016). Risiken in Pubertät und Jugendalter: Nach einer (vergleichsweise) stabilen Grundschulzeit läuten Pubertät und der Übergang zur weiterführenden Schule eine Zeit an, die von Bezugspersonen häufig als Zeit von raschen Entwicklungen beschrieben wird. Die Anforderungen an Erziehungskompetenzen nehmen durch die gestiegenen kognitiven Fähigkeiten der Kinder und ihr steigendes Autonomiebedürfnis zu, Konflikte gewinnen an Schärfe. Der Umgang mit omnipräsenten digitalen Medien und schulischen Anforderungen wird anspruchsvoller. Bisher eher im Ansatz vorhandene Problemverhaltensweisen verfestigen sich und neue kommen durch die Peergroup hinzu. Risikoverhaltensweisen wie übermäßiger Substanz- oder Medienkonsum, ungeschützter Geschlechtsverkehr, rücksichtsloses Fahrverhalten und viele weitere können die Folge sein. Bei vielen Risikoverhaltensweisen handelt es sich um ein »passageres Phänomen«, das bei weiterer Hirnreifung von selbst wieder verblasst. Kinder und Jugendliche, die sehr früh in derartiges Problemverhalten einsteigen (»early age of onset«; Ganzer, Bröning, Kraft, Sack u. Thomasius, 2016), in Schule und Freizeit keine hinreichenden Herausforderungen und Kompetenzerlebnisse sowie Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation haben, sind jedoch gefährdet für Verläufe, die eher zur Problemintensivierung und -chronifizierung führen. Das familiäre Umfeld spielt für diese Fähigkeiten, wie bereits beschrieben, eine wichtige Rolle (Bröning et al., 2017). Allerdings ist das Geschehen für jede Problemlage komplex. Am Beispiel Gewaltentstehung im Jugendalter haben Scheithauer, Rosenbach und Niebank (2012) empirische Einflüsse zusammengetragen, die diese Komplexität verdeutlichen (Tabelle 1).
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Tabelle 1: Risikoerhöhende Faktoren für die Entstehung interpersonaler Gewalt im Jugendalter (Scheithauer, Rosenbach u. Niebank, 2012) Bereich
Risikoerhöhende Bedingungen
a) Individuelle Faktoren
schon früheres gewalttätiges und delinquentes Verhalten – männliches Geschlecht – Substanzmissbrauch – Defizite in der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung – neuroendokrine, neurochemische und genetische Faktoren – niedrige Herzfrequenzrate – niedriges Hautleitfahigkeitsniveau – antisoziale Einstellung/Gewalt unterstützende Überzeugungen – niedriger IQ – psychische Störungen – Ethnizität, Zugehörigkeit zu Minderheiten – Ängstlichkeit – Hyperaktivität und Konzentrationsprobleme – negatives Selbstwertgefühl – Dysfunktion des Frontallappens – Geburtskomplikationen
b) Familiäre Faktoren
Zeuge familiärer Gewall – körperliche Züchtigung und Misshandlung – niedriger sozio-ökonomischer Status – antisoziales/kriminelles Verhalten der Eltern – negative Eltern-Kind-Beziehung – von den Eltern getrennt – strafende Erziehung – Zurückweisung und Vernachlässigung – sexueller Missbrauch – vernachlässigte Beaufsichtigung des Kindes – chronische Erkrankungen, psychische Störungen der Eltern
c) Schule
schlechte Schulleistungen – geringe Lernmotivation – Verweis von der Schule
d) Peer- Faktoren
wenige soziale Beziehungen – Ablehnung durch Peers – aggressives/ antisoziales Verhalten von Peers – Kontakt zu delinquenten Peers und Gangmitgliedern
e) Umwelt-/ Nachbar schafts- Faktoren
Armut – gewalthaltige Videos, Computerspiele, Medien – hohe Delinquenzbelastung – Zugang zu Schusswaffen – hohe Arbeitslosenrate – geringe soziale Unterstützung
Kinder aus suchtbelasteten Familien sind sowohl über ihre Anlagen als auch über die Erfahrungen im Umfeld eine Risikogruppe für die Entwicklung von Suchtstörungen (Bröning et al., 2019). Aber auch bei unsicherer Bindung und Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle bieten vor allem psychoaktive Sub stanzen die Aussicht auf Selbstberuhigung und einen Ausgleich des fehlenden Belohnungscharakters in Beziehungen (Schindler u. Bröning, 2014). Ein früher Einstieg in den Gebrauch psychoaktiver Substanzen beeinträchtigt die körperliche und psychische Gesundheit (Chassin, Sher, Hussong u. Curran, 2013), erhöht das Risiko für spätere Substanz-bezogene Störungen (Ganzer et al., 2016) und mindert die Möglichkeiten späterer sozialer Teilhabe. Systemisch Arbeitende wissen, dass Jugendliche in der Beratung aufgrund gering ausgeprägter Risikowahrnehmung oft wenig Interesse an den langfristigen Folgen ihres Tuns haben (van den Bos u. Hertwig, 2017). Jugendliche entwickeln eine Gesprächs- und Beratungsmotivation eher über ihre eigene Problem-
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definition sowie über den Belohnungscharakter der Beratung: das Interesse an ihrer Person und ein Beziehungsangebot. Häufig haben sie »gute familiäre Gründe« für ihr Verhalten und werden dennoch oft als der »Indexpatient«, also »der Problemträger«, definiert. Arbeit mit dem ganzen Familiensystem schafft hierfür Entlastung. Sinnfindung, positive Aktivitäten, die Entwicklung von Zielen und wirksamen Schritten dorthin sowie stabile, zugewandte Ansprechpartner:innen können eine positive Veränderung auch langfristig sichern. Die Mannheimer Risikokinder-Studie soll als Abschluss dieses Abschnitts dienen (Hohm et al., 2017). Sie verdeutlicht die eingangs angesprochene Verbindung zwischen den beschriebenen phasenbezogenen Entwicklungseinflüssen und -risiken. Eindrucksvoll erforschten die Wissenschaftler:innen an 384 Kindern aus risikobehafteten Kontexten, wie Resilienz, also die Fähigkeit, aus widrigen Lebensbedingungen unbeschadet hervorzugehen, über 25 Jahre entstand (Abbildung 2). Dabei identifiziert die Studie zentrale Resilienzbausteine für unterschiedliche Altersstufen, in denen sich vieles bereits Formulierte widerspiegelt, und zeigt Querverbindungen auf: .490 .375 Positives Selbstkonzept
.149 Positives Selbstkonzept
.244
.186 .135
Resilienz
Selbstwirksamkeitserwartung
.160
Anzahl Freunde
.299 Frühe sprachliche Kompetenzen
.207
.439
Schulische Kompetenzen
.329 Positive Eltern-Kind- Beziehung
.157
Positive Eltern-Kind- Beziehung
.297 Positives Temperament
3 Monate
2 Jahre
8 Jahre
16 Jahre
19 Jahre
25 Jahre
Abbildung 2: Resilienzbausteine aus der Mannheimer Risikokinder-Studie (Hohm et al., 2017).
Im Alter von drei Monaten entwickelt sich die positive Eltern-Kind-Beziehung in Interaktion mit dem Temperament des Kindes und hängt mit einer positiven Eltern-Kind-Beziehung im Alter von zwei Jahren zusammen. Dies wiederum ist verknüpft mit frühen sprachlichen und schulischen Kompetenzen, die wiederum mit einem positiven Selbstkonzept und dem sozialen Leben im Schul-
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alter assoziiert sind. Durch diese Erfahrungen entsteht über die Zeit letztlich die sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung: »Ich bin Akteur und Handelnder in meinem Leben und kann etwas bewirken« – trotz oder vielleicht sogar durch belastende Startbedingungen. Zusammen mit einer sicheren Bindung bietet sie die beste Voraussetzung für die weitere Entwicklung im Erwachsenenalter. Schlussfolgerungen für eine systemische Kinderschutzpraxis Bis heute bleibt die entwicklungspsychologische Forschung oft hinter ihrer eigenen Erkenntnis zur Bedeutung von Kontext und Beziehung zurück, indem etwa Befunde aus weißen Mittelschichtstichproben auf die Entwicklung aller Menschen generalisiert werden oder Schlüsse über Entwicklungsverläufe aus Querschnitts-Stichproben gezogen werden. Kulturell vielfältige und langfristig angelegte Studien sind zeit- und kostenintensiv. Aber auch bei bestem Studiendesign und repräsentativer Stichprobenziehung wissen Systemiker:innen, dass die Komplexität der Wirklichkeit sich niemals vollständig in empirischer Wissenschaft einfangen lassen wird. Somit müssen auch alle Schlussfolgerungen für Gelingensbedingungen einer systemischen Kinderschutzpraxis vorläufig bleiben. Wer systemisch arbeitet, gesteht sich ein, dass »das Gelingen« in letzter Konsequenz weitgehend unverfügbar bleibt (Rosa, 2018), sich der Steuerung durch Fachkräfte von außen und auch der Quantifizierung durch empirische Daten entzieht. Zu sehr ist die Wirklichkeit der subjektiven Deutung unterworfen, sowohl der Deutung der Fachkräfte als auch der Deutung von Adressat:innen. In dieser Perspektive bleiben auch Adressat:innen des Kinderschutzes autonom und »füreinander in sozialen Interaktionen grundsätzlich undurchschaubar« (Systemische Gesellschaft, 2021). Die Systemische Gesellschaft schließt aus der Beobachterabhängigkeit jeglicher Erkenntnis sogar, dass »Objektivität als Kriterium guten Wissens entfällt« (2021). Kann es dennoch Handlungsmöglichkeiten geben? Aus entwicklungspsychologischen Erkenntnissen ergeben sich einige Schlussfolgerungen für die systemische Arbeit im Kinderschutz: (1) Multifaktorialität statt Schuldzuweisung: Wo die Kausalität der rekursiven Vernetzung und Multifaktorialität weicht, verliert die Schuldfrage an Gewicht. Auch Handlungen, von denen mit guten Gründen angenommen werden kann, dass sie in ihren Auswirkungen dem Kindeswohl schaden, sind nicht auf einfache Ursachen oder rein maligne Absichten zurückzuführen (Biesel u. Schnurr, 2018). Multifaktorialität ist auch in der Entwicklungspsychologie entscheidend. Die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, z. B. über die Transmission von Suchtstörungen über Generationen hinweg, können Verständnis für das Gewordensein von Eltern und ihre Ambivalenz herstellen und diese somit entlasten
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und kooperationsbereiter machen. Das Prinzip der Multidimensionalität in der Entwicklungspsychologie hilft, eine reduktionistische Sichtweise etwa auf ein »Störungsbild« zu verhindern und eine ganzheitliche Perspektive auf Kinder und Eltern zu schaffen, die auch Stärken und unproblematische Lebensbereiche nicht aus dem Blick verliert. (2) Akteurs- statt Opfer-Täter-Perspektive: Systemiker:innen betrachten Adressat:innen als Expert:innen ihrer selbst, deren Biografie und Entscheidungen die jeweilige subjektive (Selbst-)Wahrnehmung beeinflussen. Die Entwicklungspsychologie betont ebenfalls die aktive Steuerung des Individuums von Anfang an und liefert z. B. durch Forschungsarbeiten zur Anlage-Umwelt-Wirkung gute Gründe dafür, diese Perspektive einzunehmen, ohne anlagebedingte oder strukturell bedingte Verletzlichkeiten eines Menschen zu leugnen. Eine Haltung, die Klient:innen – in diesem Fall also vor allem Eltern und Kinder – als Akteure und Gestaltende ernst nimmt, zeigt Respekt durch Transparenz, arbeitet partizipativ und begegnet auf Augenhöhe, zieht aber auch zur Verantwortung und nimmt Entscheidungen wichtig und ernst. Gleichzeitig ist sie selbst Akteur, adressiert Akteure im Sozialraum und Hilfesystem des Kindes und auf gesellschaftlicher Ebene und versucht, über diese Zusammenarbeit positive Veränderungen im Sinne der Klient:innen herbeizuführen. (3) Deutungen schaffen und verändern Realitäten: Prominente Psycholog:innen wie Lazarus mit seinem Stressmodell haben gezeigt, dass die subjektive Einschätzung der eigenen Ressourcen für die Bewältigung von Stress und Belastungsfaktoren zentral ist, wichtiger als von außen betrachtete Kriterien. Somit sind systemische Interventionen, die auf die Veränderung bestehender Denk- und Handlungsmuster abzielen, als wirksam anzusehen und können auch im Kinderschutz eingesetzt werden, um festgefahrene Interaktionsmuster zu »verstören«. Entwicklungspsychologische Informationen spielen hier eine wesentliche Rolle, gelten doch wissenschaftliche Erkenntnisse in vielen Bevölkerungsschichten als vertrauenswürdig und beachtenswert. Gleichzeitig helfen sie, ein umfassendes Bild der vorhandenen Risiko- und Schutzfaktoren, der Ressourcen und Vulnerabilitäten herzustellen. So stärken sie, konstruktiv eingesetzt, die Selbstwirksamkeit der Klient:innen. Ein Beispiel hierfür ist die Perspektive der lebenslangen Entwicklung und der damit korrespondierenden Plastizität menschlicher Hirnstrukturen. Diese lässt Veränderungen auch in festgefahrenen Situationen, z. B. durch die Einübung neuer Gewohnheiten, möglich erscheinen. (4) Die Deutung der Wirklichkeit aktualisiert sich im Dialog und in der Interaktion: Zum Beispiel dürfte der Prozess der Planung, Kommunikation und Umsetzung einer Kinderschutzmaßnahme den Erfolg des Geschehens kaum
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weniger beeinflussen als die Maßnahme selbst. Somit kommt der Beziehungsgestaltung und dem Dialog mit Adressat:innen des Kinderschutzes eine zentrale Bedeutung zu. Hier kann Wahrheit (re-)konstruiert werden, konstruktive neue Information gelangt in das System und neue Wege zeichnen sich ab. Durch den kooperativen Austausch zwischen beteiligten Fachkräften entsteht ein ganzheitliches, stimmiges Bild für alle. Auch Biesel und Schnurr (2018) empfehlen, das empirische »objektive« Wissen über Gefährdungslagen und Risikound Schutzfaktoren ebenso in den Kinderschutz mit einzubeziehen wie »die subjektiven, lebensweltlichen Erfahrungen, Deutungen und Wertesysteme der Kinder/Jugendlichen und Erziehungsberechtigten, denn diese sind […] Teil des Problems und Teil der Lösung« (S. 82). Im Sinne von Ryans und Decis Theorie der Selbstbestimmung (2017) ist das gemeinsame Erarbeiten einer Problembeschreibung eine Möglichkeit, die Autonomie als zentrales Grundbedürfnis von Menschen zu fördern. Im eigenen Beitrag zur Lösung erfahren Klient:innen ihre Wirksamkeit. Im Beitrag der Fachkraft sehen sie im besten Fall ein Modell für eine zwischen Nähe und Distanz balancierte Kommunikation und werden über die Zeit »empowered«, ebenfalls für sich selbst und ihr Umfeld zu sorgen. Und indem sie nicht nur als »Problemfall«, sondern auch als »zentraler Teil der Lösung« wahrgenommen werden – bei gleichzeitiger Empathie für kontextuelle oder biografische Schwierigkeiten –, erfahren sie Verbundenheit. Im besten Fall begegnen systemisch Arbeitende ihren Klient:innen auf Augenhöhe, mit Menschlichkeit, Toleranz und einem Blick für deren Ressourcen. Hierfür braucht es das Verständnis für die eigene Entwicklung, Fehlertoleranz sich selbst gegenüber sowie einen von gesunden Grenzen und freundlicher Selbstwahrnehmung geprägten Arbeitsstil. Nach dem Prinzip »walk the talk« geht dieses Leitbild dann von der Theorie in die Praxis über und strahlt aus auf individuelle Lebensverläufe – und auch auf die Entwicklung einer Gesellschaft. Literatur Allen, J. P., Porter, M., McFarland, C., McElhaney, K. B., Marsh, P. (2007). The relation of attachment security to adolescents’ paternal and peer relationships, depression, and externalizing behavior. Child Development, 78 (4), 1222–1239. Allemand, M., Steiger, A. E., Fend, H. A. (2015). Empathy development in adolescence predicts social competencies in adulthood. Journal of Personality, 83 (2), 229–241. Ando, J., Suzuki, A., Yamagata, S., Kijima, N., Maekawa, H., Ono, Y., Jang, K. L. (2004). Genetic and environmental structure of Cloninger’s temperament and character dimensions. Journal of Personality Disorders, 18 (4), 379–393.
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3.2 »Wenn nicht wir, wer dann?« Zutaten und Grundlagen für (eher) gelingende Kooperationsbeziehungen und Netzwerke Jochen Schweitzer im Interview mit Ansgar Röhrbein
Ansgar Röhrbein: Liebe Leserinnen und Leser, ich begrüße an dieser Stelle ganz herzlich Jochen Schweitzer, der sich dankenswerterweise bereiterklärt hat, uns für dieses Buch ein kleines Interview zu seinem Spezialthema der gelingenden Kooperation zu geben. Jochen, du blickst auf eine lange Expertise zurück. In
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deinen zahlreichen Büchern – mehr als zwanzig an der Zahl – und den über hundert Fachartikeln ist dir das Thema Kooperation ein ganz wesentliches gewesen. Vielleicht gucken wir noch mal auf das Jahr 1998, in dem dein Buch »Gelingende Kooperation« erschienen ist. Was war denn damals deine Motivation, dich mit dem Thema Kooperation genauer auseinanderzusetzen? Und was waren damals bereits erste Schlussfolgerungen, die du anhand deiner Studien und deiner Erfahrungswerte daraus ziehen konntest? Jochen Schweitzer: Ansgar, ich erlaube mir, den Startpunkt noch ein bisschen früher zu setzen, ins Jahr 1983. Ich war damals in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im schwäbischen Weinsberg tätig. Dort waren Jugendliche mit heftigen Störungen des Sozialverhaltens zunächst in die Heimerziehung gekommen waren und hatten es dort nicht lange ausgehalten. Es muss auch die Zeit gewesen sein, wo in Baden-Württemberg geschlossene Bereiche der Heimerziehung aufgelöst wurden und die Tür aufgemacht wurde, die Probleme aber blieben und jetzt die Jugendpsychiatrie attraktiv wurde. Denn dort gab es noch Türen, die man schließen konnte, und es gab in engem gesetzlichem Rahmen auch die Möglichkeit, Jugendliche in Erregungssituationen medikamentös zu sedieren. Das war damals nicht so restriktiv geregelt wie später. Binnen zwölf Stunden mussten Richter:innen solche Maßnahmen untersuchen und billigen oder wieder aufheben. Wir hatten häufig zwei Elternteile, die sich über die Erziehung uneinig waren. Ferner ein, häufig zwei Jugendämter, deren räumliche Zuständigkeit strittig war. Wir hatten manchmal Großeltern oder Onkel und Tanten, die sich einmischten. Und wir hatten uns selbst – eine Klinik, die sich nicht ganz sicher war, ob sie diese Jugendlichen nun haben wollte oder nicht. Vor allem, wenn der Jugendliche sehr gewalttätig daherkam, hatten wir schnell im Team eine Spaltung zwischen einigen, die sagen: »Das könnt ihr uns nicht antun, den hierzulassen, das ist zu gefährlich für uns, wenn der mit einem Schnappmesser kommt oder wenn der uns Schläge androht.« Und andere, die sagten: »Na ja, wenn nicht wir, wer dann?« Für mich als damals noch jungen Familientherapeuten war die schwierige Frage: Wer ist hier überhaupt »die Familie«, und wer ist unser primärer Ansprechpartner? Es war schnell klar: »Die Familie« war eine Mischung von Eltern und Großeltern, Jugendamt, entlassender Jugendhilfeeinrichtung und uns selbst als Klinik. So haben wir 1983 aus der Not heraus angefangen, Rundtischgespräche mit allen Beteiligten einzuführen. In deren erstem Durchgang fragten wir: Wie sieht jeder das Problem? Und im zweiten: Was hält jeder für die beste Lösung dieses Problems? Der/die Jugendliche war meist dabei, sofern er/sie das Ganze nervlich durchhielt. Er/sie bekam einen »Buddy« an die Seite gestellt, einen Erzieher oder eine Krankenpflegerin, der/die dann mit ihm rausgehen konnte, wenn er/
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sie sich wieder beruhigen musste und wollte. Meistens wollten die Jugendlichen aber selbst sehr aktiv mit dabei sein. In diesen Rundtischgesprächen, bei etwa 15 bis 20 Jugendlichen, in den Jahren 1983 bis 1986, da konnten wir natürlich alle möglichen Uneinigkeiten zwischen den Akteuren beobachten und wir konnten uns aus den Akten auch ein Bild von den Konflikten der Vorgeschichte machen. Die Erfahrung war, dass diese Rundtischgespräche geholfen haben, für die Zeit der stationären Aufnahme eine relativ entspannte Situation zu schaffen, die aber nicht wirklich für die nächsten ein oder zwei Jahre Bestand hatte. Ich habe dann etwa zwei Jahre danach eine telefonische Katamnese gemacht. Und man kann als Ergebnis zusammenfassen: Die Jugendlichen waren nie dauerhaft dort gelandet, wo dies vereinbart worden war – vor allem nie in dem Heim, aus dem sie zu uns gekommen waren. Am häufigsten waren sie wieder bei den Eltern. Durch das Aktenstudium und unsere Beobachtungen ist uns eine Reihe von Mechanismen der »professionellen Nichtkooperation« aufgefallen. Dann gab es einen großen zeitlichen Sprung in meiner Beschäftigung mit dem Thema. Im Jahr 1992 habe ich überlegt, zu habilitieren. Ich hatte zwei Jahre Zeit dafür, mehr nicht. Ich suchte nach einem Thema, zu dem ich in kurzer Zeit sehr schnell forschen konnte. Ich war ja damals in der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST) als Dozent tätig. Ich dachte, wir könnten doch prüfen, ob eine systemische Weiterbildung – und wenn ja, wie – die Kooperationspraktiken verbessert. Dieser Frage bin ich dann in drei Studien gemeinsam mit sechs Psychologie-Diplomand:innen nachgegangen. Zum Ersten in einer Fallstudie in einer kleinen ambulanten Jugendhilfeeinrichtung zur Kooperation zwischen Pädagogen und Eltern. Zum Zweiten in intensiven Interviews mit fünfzig IGST-Weiterbildungsabsolventen, die in psychiatrischen Diensten arbeiteten, zu Veränderungen ihrer kooperationsbezogenen Ideen und Praktiken im Verlauf ihrer Weiterbildung. Und zum Schluss habe ich einen Fragebogen entwickelt, mit dem wir die 250 Weiterbildungsteilnehmer:innen des Kursjahres 1993 zu ähnlichen Themen befragt haben. In jener Zeit habe ich mich mit Theorien über Kooperation beschäftigt, von experimentellen, verhaltensökonomischen Studien bis zu Schlussfolgerungen aus Erfahrungsberichten. Verhaltensökonomische Experimente sind Spiele, in denen jeder Mitspieler versuchen soll, möglichst viel zu gewinnen. Ihm stehen dafür kooperative und nichtkooperative Spielzüge zur Verfügung, und die Spiele durchlaufen zahlreiche Phasen – sodass man prüfen kann, welche Strategien am Anfang und welche am Ende mehr nützen. Helmut Willke, ein Bielefelder Systemtheoretiker, hatte damals vier Aspekte systemischer Selbstreflexion für die Pflege von Kooperationsbeziehungen beschrieben:
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1. Ein System beobachtet möglichst aus einer Außenperspektive (z. B. einer Videoaufnahme, einer Umfrage, einer Datenanalyse) die Interaktionen zwischen sich und seiner Umwelt. 2. Je nachdem, ob das System mit seinen Beobachtungen zufrieden ist oder nicht (»Bewertung«), wählt es aus einem »Pool möglicher Identitäten« (seinen Verhaltensmöglichkeiten) die bestpassende aus. 3. Mitglieder eines oder mehrerer Systeme versuchen zu verstehen, an welchen Stellen sie sich nicht verstehen. 4. Sofern nun künftige Zusammenarbeit selbstreflexiv geplant werden soll, definieren die Systemmitglieder Rahmenbedingungen, die ihnen für eine erfolgreiche künftige Kooperation wichtig sind. Das war also Phase zwei meines Interesses in der Mitte der 1990er Jahre. Ich habe diese Überlegungen damals genutzt für viele Fallstudien: Wie kann ein regionales Netzwerk zur Behandlung der Anorexia nervosa im Raum Ulm erfolgreich aufgebaut werden? Was muss beachtet werden, wenn Schule und Jugendhilfe (mit und ohne Schulsozialarbeit) mit ihren unterschiedlichen Eigenlogiken kooperieren? Wie kooperieren regionale Netzwerke der Gemeindepsychiatrie in Regionen wie etwa Mainz? Gemeinsam mit meiner Kollegin Liz Nicolai habe ich in sozialpsychiatrischen oder in Jugendhilfe-Verbünden anhand ausgewählter Fälle, die viele der Profis dort beschäftigten, mit Methoden wie Skulptur, Zeitlinie oder Sprechchören untersucht, wie das Ergebnis der Einzelpraktiken bei einem konkreten Indexklienten ankommt und was sozusagen als Ergebnis der vielen Botschaften, die er von den verschiedenen Profis bekommt, bei ihm »hängenbleibt«. Da konnte man sehr schön sehen: Wo ergänzt sich das gut und wo zerreißt das aber auch ein bisschen den Jugendlichen oder das Kind? Meine dritte Themen-Phase lag in den Jahren 2010 bis 2014, als hier in Baden-Württemberg die Netzwerke frühe Hilfen aufgebaut und qualifiziert wurden. Professorin Ute Ziegenhain war von Ulm aus für ein Modellprojekt verantwortlich. Das gab mir die Gelegenheit, in Konstanz und in Heidelberg, also in zwei Universitätsstädten, speziell zum Thema Zusammenarbeit zwischen Medizin, sprich: Kinder- und Frauenärzt:innen einerseits und Jugendhilfe andererseits, in Workshops mit diesen Parteien zu schauen: Wo läuft das hier rund und wo fremdeln die miteinander? Und welche Übersetzungsleistungen braucht es hier? Das sind jetzt ganz kurz meine drei Erfahrungsbereiche: Teil 1: Kooperation dieser Profis mit den Eltern, Teil 2: Was bringt eine systemische Weiterbildung für das Kooperieren? Und Teil 3: Wie funktionieren Netzwerke früher Hilfen?
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Ansgar Röhrbein: Damit hast du die drei wesentlichen Stränge beschrieben, die für dich mit einem Forschungsinteresse verbunden gewesen sind und wo du durch die Betrachtung auf der Metaebene zu hilfreichen Erkenntnissen kommen konntest. Welche strukturellen Modelle und theoretischen Konzepte gibt es? Was hilft den Beteiligten, sich selbst im Handeln bei der Arbeit zu beobachten und daraus kluge Schlüsse zu ziehen? Was kannst du denn als deinen wesentlichen Erkenntnisgewinn hier benennen? Sowohl in Bezug auf diese drei Forschungsstränge als auch aus deiner Praxis als Supervisor? Was sind Aspekte, die klassischerweise in der Kooperation schiefgehen können, und welche theoretischen Zugänge helfen in der Praxis? Jochen Schweitzer: Ich würde aus der Systemtheorie nicht eine besondere einzelne Richtung favorisieren, sondern mich aus verschiedenen Ansätzen zugleich bedienen. Zwei der für mich wichtigsten Denkfiguren möchte ich wie folgt beschreiben: 1. Systemtheorie als eine Weise, Landkarten zu zeichnen, die mir das Spektrum der für einen Fall wichtigen Akteure und der Wechselwirkungen zwischen diesen darzustellen ermöglicht. Ich kann in struktureller Perspektive Systeme (z. B. »Jugendhilfe im Landkreis X«) in Subsysteme untergliedern (z. B. »ambulante aufsuchende vs. stationäre Dienste« oder »private vs. gemeinnützige Träger«) und die dominanten Weisen der Wechselwirkung zwischen ihnen benennen (z. B. »Verdrängungswettbewerb« oder »Oligopol«, »symmetrische Konkurrenz« oder »komplementär unauffälliges, konfliktvermeidendes Auftreten«). 2. Konstruktivistische und narrative Ansätze laden mich dazu ein, die herrschenden Gedanken und Geschichten zu erkunden, die das Vorgehen der Akteure regulieren. Solche herrschenden Gedanken können lauten: »Es darf keine Kindesmisshandlung geben, die unserem Dienst nicht aufgefallen ist – alles andere ist zweitrangig« oder »Lieber zu oft als zu selten einen Verdachtshinweis an das Jugendamt senden«. Diese allgemeinen Ideen möchte ich etwas konkretisieren. Wer ist an einem »Fall« neben mir noch alles beteiligt? Viel zu häufig denken wir, wir seien die Einzigen, die an einem Fall »dran sind«, solange wir nicht aktiv und sorgfältig nach anderen Beteiligten suchen. Der zweite Punkt ist ein Oszillieren zwischen dem Pol »Niemand außer mir kriegt das hin«, einer narzisstischen Überhöhung, und andererseits dem Pol »Ich bin klein und kann hier gar nichts ausrichten«. Größen- und Kleinheitsfantasien wechseln sich in schwierigen Situationen schnell miteinander ab. Beide zusammen machen es schwierig, Kooperationsmöglichkeiten zu finden. Wenn ich das überwunden habe, d. h., wenn ich selbstbewusst sagen kann, was ich alles nicht kann, und ich kann mich einfach erkundigen,
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wer noch alles an der Problemlösung beteiligt ist, dann bin ich einen wichtigen Schritt weiter. Meist sind viel mehr Akteure beteiligt, als ich anfangs denke. Mit einer Landkarte der Beteiligten und ihrer Fähigkeiten vermeide ich eine Selbstüberforderung hinein, weil ich die Hilfe nicht suche, die da sein könnte. Oder ich gerate in eine Abwertung anderer Beteiligter hinein. Ansgar Röhrbein: Ich glaube, das ist ein ganz zentraler Punkt. Die Anerkennung der jeweils anderen Professionen oder Disziplinen bei einem gleichzeitig vorhandenen eigenen gesunden Selbstvertrauen. Wir haben etwas für das Netzwerk zu bieten und ihr ebenfalls. Das sind elementare Bestandteile für die Zusammenarbeit. Welche Rolle spielt dabei die Sprache? Was habt ihr dazu herausgefunden? Jochen Schweitzer: Wenn du davon ausgehst, dass verschiedene soziale Systeme unterschiedliche Eigenlogiken haben, verschiedene Arten zu operieren, dann ist ein Aspekt davon die Sprache: Welche Worte verwende ich, wie ausführlich oder knapp sind die professionellen Codes? Nehmen wir die Medizin und die Sozialpädagogik. Medizin spricht im Durchschnitt viel knapper. Sie versucht in kurzen Hauptwörtern oder Eigenschaftswörtern, gerne auch in Zahlen, eine komplexe Lage kurz mitzuteilen. Das kommt aus der Organmedizin und findet auch in der psychosozialen Medizin Berücksichtigung. Selbst die Psychiater:innen oder Psychosomatiker:innen sind meistens so sozialisiert, sich kürzer zu fassen. Wenn du auf einem Medizinerkongress mehr als 10 Minuten Redezeit bekommst, dann ist dies ein Privileg. Jeder Sozialpädagoge würde 15 Minuten Redezeit für einen Vortrag als Abwertung empfinden oder meinen: Da kann ich doch gar nicht sagen, was mir bedeutsam ist. Neben der verkürzten Sprache ist es zudem der Zeitpunkt, wann ein Treffen stattfindet. Für die Mediziner:innen ist es gut, wenn es mittwochnachmittags ist oder am Samstagmorgen, an Halbtagen, an denen ihre »eigentliche« Arbeit ruht. Für Sozialpädagog:innen ist das eher egal und diese Beschränkung erst mal schwer verständlich. Aber es sind eben die Zeiten, wo die Mediziner frei haben. Ein Drittes ist die Frage: Wie werde ich entlohnt? Die Sozialpädagog:innen haben meistens einen Arbeitsvertrag, in dem Kooperation als ein Teil ihrer Arbeitszeit beschrieben ist. Fast kein(e) Mediziner:in bekommt Geld dafür, dass er/sie mit anderen Fachleuten kooperiert. ÄrztInnen sind deshalb gehalten, das kurz zu machen, weil es unwirtschaftlich ist.1 Wenn ein Mediziner sich eine Stunde für eine Besprechung nimmt, ist das ein wahnsinniges Investment. In einem nächsten Aspekt geht es um die Frage: Wie bedeutsam sind Diagnosen? Für Mediziner sind 1
Im Rahmen der Novellierung des SGB VIII wurde ein neuer § 73c in das SGB V »Kooperationsvereinbarungen zum Kinder- und Jugendschutz« eingebracht. Die kassenärztlichen Vereinigungen sollen mit den kommunalen Spitzenverbänden auf Landesebene Vereinbarungen über die Zusammenarbeit zwischen Kassenärzten und Jugendämtern schließen, die eine Ver-
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Jochen Schweitzer im Interview mit Ansgar Röhrbein
Diagnosen relativ bedeutsam, wenn sie die Therapie steuern, und das tun sie in der Organmedizin seltener als propagiert, aber stärker als in psychosozialen Disziplinen. Wenn wir nur diese fünf Punkte nehmen: die Sprache, die Ausdrucksweise, das Timing, die Vergütung und den unterschiedlichen Umgang mit Diagnosen, dann braucht es genau an diesen Stellen eine gegenseitige Übersetzung. Deshalb ist es, wenn diese beiden Berufsgruppen miteinander kooperieren, gut, sich wechselseitig über solche Unterschiede zu informieren – spätestens dann, wenn sie zum Pro blem werden. Fragen können dann lauten: Unter welchen Bedingungen könnten Sie als Kinderärztin oder als Frauenarzt hier eigentlich teilnehmen? Was bräuchte es, dass es für Sie eine lohnende Angelegenheit wird? Was sich für den einen lohnt, lohnt sich für den anderen noch lange nicht – nicht zwangsläufig jedenfalls, und das muss ich herausfinden, um diese Schnittstellen zu finden. Ansgar Röhrbein: Damit sprichst du eine ganz wesentliche Facette an. Das Wissen um das Ticken des jeweils anderen und die Überlegung, wie kommen wir miteinander zu einer gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion? Der andere Aspekt der Diagnosen, den du eben angesprochen hast, da lohnen sich immer wieder die Fragen: Ist das letztendlich in Stein gemeißelt oder lässt es sich auch ein Stückchen verflüssigen? Und wie können wir eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion hinbekommen? Was ist eigentlich der Fall? Und was sind mögliche Ansatzpunkte, wofür kann die Diagnose hilfreich sein? Und umgekehrt: Wofür kann gerade auch das Vermeiden von diagnostischen oder zuschreibenden Elementen ebenfalls hilfreich sein? Wie ist in dieser Spannung, die da im Kessel ist, trotzdem ein Miteinander möglich? Jochen Schweitzer: Da empfiehlt sich die Idee, dass Diagnosen in zweierlei Weise bewertet werden können: ob sie »richtig« sind im Sinne der Verwendung der diagnostischen Systeme und ob sie »nützlich« sind für die Lebens- und Arbeitspraxis der Beteiligten. Idealerweise sind sie beides, richtig und nützlich. Es ist hilfreich für Sozialpädagog:innen zu erwägen: Diagnosen können auch einfach schlicht falsch sein. Ich nenne mal als Beispiel: ADHS. Hyperaktivität muss nach ICD in mindestens zwei sozialen Systemen auftreten, sonst ist sie noch keine. Wenn das Kind nur im Unterricht zappelig ist, aber zu Hause sehr ruhig und konzentriert dasitzt, reicht das noch nicht für die Diagnose aus. Also man kann schlichtweg Fehler machen im Sinne der ICD-Logik. Es gibt bei den meisten Diagnosen auch Bestimmungen darüber, wie lange eine Symptomatik mindestens gezeigt werden muss und ab wann man die Diagnose vergeben darf. Und in Bezug auf deine zweite gütung von Kooperationsleistungen (z. B. telemedizinischen Fallkonferenzen) bei Anhaltspunkten auf eine Kindeswohlgefährdung (KWG) vorsehen. Diese Regelung gilt leider nicht für Familiensituationen mit Hilfebedarfen unterhalb einer KWG.
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Frage – und ich glaube, das kannst du Medizinern oder insbesondere Pflegekräften sehr leicht nahebringen, zu sagen: Ja, vielen Dank, vielleicht kann die Diagnose für uns auch hilfreich sein. Für uns Systemiker:innen ist dieser zweite Aspekt – und so sage ich das auch immer –, auf den Weg zu gucken, hilfreich – und ich denke, den kennen die Beteiligten auch –, nämlich: Was bewirkt die Diagnose im Miteinander? Das kann man an Beispielen aufzeigen. Also, z. B. gerade ADHS ist in manchen Familien eine sehr hilfreiche Diagnose, weil es die Botschaft enthält: Keiner ist schuld daran. Weder hat die Mutter zu sehr geliebt noch der Vater zu wenig mit dem Kind gespielt. Weder ist das Kind renitent und böse, weil es grundsätzlich nicht will, was man ihm zu tun aufträgt, sondern das Kind hat einfach eine neuronal mitbedingte Umtriebigkeit, das kann für die Familien sehr entlastend sein und es können auf der Basis von Fehlerfreundlichkeit und Experimentieren gemeinsam hilfreiche Lösungen entwickelt werden. Ansgar Röhrbein: Nachvollziehbar. Wenn wir jetzt noch mal auf den Erfahrungsschatz, den du vorhin mit den drei Strängen angesprochen hattest, zurückgreifen, Jochen. Dann hat ja der Staat offensichtlich auch ein Stückchen gelernt, indem er z. B. durch Modellprojekte wie »Keiner fällt durchs Netz« und den Ausbau der »Frühen Hilfen« und ähnlicher Konzepte oder, wie es zuletzt im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) zum Ausdruck gekommen ist, die Idee aufgegriffen hat: Es macht Sinn, dass man zusammenkommt und im Sinne des Auftrags, des Anliegens bzw. des Wunsches der Klientin oder des Klienten tatsächlich auch miteinander denkt und überlegt. Was glaubst du, wodurch sind diese Entwicklungen möglich geworden? Was waren die Entwicklungslinien dahin, dass der Staat gesagt hat: Ja, da ist was dran, wir brauchen das systematisiert? Jochen Schweitzer: Ja, in meiner Sicht unterscheide ich eine Zeit vor 1990, also vor dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) von späteren Jahren. Die Rundtischgespräche, mit denen in den 1980er Jahren vielerorts in Amerika, in Großbritannien, in Deutschland experimentiert wurde – vielleicht waren das Versuche und Irrtümer, die auf verschlungenen Pfaden zu jenen Hilfeplangesprächen geführt haben, die schließlich 1990 im Kinder- und Jugendhilfegesetz als Standard festgelegt wurden. Dass die dann offensichtlich bürokratisch hier und da entartet sind, stellt deren klugen Kern nicht infrage. Das war ja einfach eine sehr fortschrittliche Idee. Genauso wie die Idee, dass der Rechtsanspruch der Eltern auf Maßnahmen, an deren Auswahl sie beteiligt sind, sie ja selbst ermächtigt, zum Steuermann oder zur Steuerfrau der sie selbst betreffenden Maßnahmen zu werden. Ich fand das KJHG einen riesigen Schritt, von dem ich damals total überrascht war. Und ich habe eine große Bewunderung dann auch für das Bundeskinderschutzgesetz, ich glaube, 2012 ist es in Kraft getreten. An dem fand ich genial, dass es sagt: Ihr müsst etwas tun, aber wir lassen euch offen, was ihr tut.
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Diese Kombination von: »Ihr müsst – etwas tun, aber was ihr tun müsst, entscheidet ihr selbst«. und ihr bekommt zahlreiche Beratungs-Hilfen an die Hand gegeben. Das fand ich einfach genial. Das hat so einen Spielraum eröffnet. Was ich jetzt mit Sorge beobachte – ich beriet bis vor kurzem noch zwei Leitungsteams in der Jugendhilfe –, ist, dass offensichtlich seit etwa 2010/2011 eine entgegengesetzte Entwicklung kommt – das kennst du, glaube ich, viel besser als ich –, dass aus der Sorge heraus, dass irgendeinem Kind etwas passieren könnte, das Eingreifen, Durchgreifen, Herausgreifen einen sehr viel höheren Wert bekommen hat und dadurch die Mitarbeiter in den Jugendämtern stärker unter Strom stehen. Und dadurch wiederum diese Stellen weniger attraktiv werden, dadurch wiederum die Mitarbeiter nicht so lange bleiben, dadurch wieder immer mehr unerfahrene Mitarbeiter:innen in die Jugendämter hineinkommen. Das ist, glaube ich, ein gegenläufiger Prozess, aber ich weiß nicht, ob es deiner Wahrnehmung entspricht. Ansgar Röhrbein: Das kann ich durchaus bestätigen, dass gerade von den Kolleg:innen des Allgemeinen Sozialen Dienstes immer mehr erwartet wird. Und gleichzeitig tatsächlich aufgrund des hohen Drucks und der hohen Verantwortung sowie des schlechten Images – denn auch in der Gesellschaft gibt es relativ wenig positive Anerkennung– wir teilweise eine sehr hohe Fluktuation auf diesen Stellen haben. Was genau zu dem führt, was du gerade beschrieben hast, dass Prozesse und Familien letztendlich von Mitarbeiterin zu Mitarbeiterin und von Mitarbeiter zu Mitarbeiter wechseln. Dadurch werden natürlich viele Aspekte, die im Sinne einer gelingenden Kooperation und Hilfeplanung notwendig sind, deutlich erschwert. Jochen, wenn wir noch einmal darauf gucken – und wir haben eben ja bereits festgehalten, dass auch der Gesetzgeber sagt: »Bildet Netzwerke«, wie gelingt es, solche Netzwerke auf kleiner Flamme zu halten, wie du es in einem deiner Vorträge so schön genannt hast? Und im letzten Punkt wäre es ja dann noch mal ganz attraktiv, darauf zu gucken, wie begeistert man Netzwerke, sodass sie richtig Bock darauf haben, miteinander zusammenzukommen und zu arbeiten? Erzähle zunächst mal von der kleinen Flamme. Jochen Schweitzer: Ich habe einmal in einem Vortrag gesagt: Wenn man ein Netzwerk früher Hilfen von vornherein scheitern lassen wolle, stelle man eine unerfahrene, bescheidene und vorsichtige Netzwerkkoordinatorin ein und gewähre ihr selten Ausgang aus dem eigenen Amt. Das ist mir aufgefallen, dass zum Teil noch recht junge Koordinator:innen mit, sagen wir mal, 26 oder 27 Jahren, eingesetzt wurden, und wenn die dann einen fünfzigjährigen Kinderarzt oder eine 45-jährige langjährige Kitaleitung vor sich haben, dann kriegen die schon mal Muffe. Man begrenze die Einladung ins Netzwerk auf die eige-
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nen bisherigen wohlgesonnenen, unkomplizierten und überraschungsarmen Kooperationspartner, also die, bei denen man weiß: »Das geht gut und leicht«. Man werte einzelne Nichtkooperationszeichen als moralisch bedenkliches Zeichen eines immer schon vorhandenen Desinteresses der anderen Seite und man gehe die Sache mit einer wohldosierten Paranoia an: »Die anderen halten nichts von uns«. Oder mit wohldosierten Abwertungen: »Die anderen interessieren sich nicht oder sie sind faul und geldgierig und sie schwafeln zu viel oder sie kommunizieren zu wenig«. Zum Schluss gehe man sie an mit einem Hegemonieanspruch heran, wie etwa: »Das muss ärztlich verantwortet werden«, »Das muss vom Jugendamt kontrolliert werden« oder »Das muss psychotherapeutisch supervisiert werden«. Also indem man eine Hegemonie der eigenen Profession oder der eigenen Institution zur Voraussetzung macht. Ansgar Röhrbein: Danke. Vielleicht passt dazu ganz gut, dass mir letztens eine Kollegin aus einem der Jugendämter gesagt hat: »Na ja, irgendwann muss auch Schluss sein mit dem Koordinieren. Irgendjemand muss ja auch noch die Arbeit machen und konkret für die Familien da sein.« Das führt uns zu der Frage: Wie gelingt es nicht nur, Dinge zu koordinieren und möglicherweise zu verwalten, sondern letztendlich auch Hilfen zu organisieren, sodass die Hilfe in einer geeigneten Art und Weise ankommt? Du hast das vorhin so schön beschrieben, dass sich die Eltern ja am Steuer erleben können. Das ist aus meiner Perspektive noch einmal gewinnbringend, weil es uns in diesem Buch auch darum geht, insbesondere das Recht der Eltern auf Hilfe und die Hilfeorientierung in der Gesetzgebung besonders in den Blick zu nehmen. Wann gelingt es denn eher, den Eltern das Steuer zu überlassen, sodass sie auch in dem jeweiligen Netzwerk eine gute Position einnehmen können? Jochen Schweitzer: Angenommen, man ist sich einig, dass man das überhaupt will. Dann lohnt es sich zu schauen: Zu welchen Kooperationspraktiken sind denn diese Eltern selbst motiviert und in der Lage? Ich kann mir vorstellen, dass es Eltern gibt, die sehr froh sind, wenn sie einen Großteil der Verantwortung abgeben können, also wenn sie sagen können: »Sagen Sie mir doch, was ich tun soll, und ich mach das« (mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit). Und es gibt andere Eltern mit einer Neigung zu symmetrischen Beziehungsgestaltungen. Die werden dann schnell an die Decke gehen. Man sollte damit rechnen, dass Eltern ganz unterschiedliche Vorstellungen von einer guten Kooperation haben können. Insbesondere eben auch, wie aktiv und wie steuernd sie selber sein wollen oder es sich zutrauen. Diese Idee, das zu erkunden und bereit zu sein, die Anforderungen und Zumutungen an die Eltern darauf ein Stück weit einzustellen, das finde ich eine wichtige Sache. Ich glaube, eine zweite Sache, die man nicht unterschätzen darf, ist die Sprache der Profis, also: In welchen Wor-
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Jochen Schweitzer im Interview mit Ansgar Röhrbein
ten spricht man da? Welches Alltagsdeutsch wird da gesprochen? Wir haben vor kurzem ein Seminar für leitende Krankenhausmitarbeiter:innen durchgeführt zum Durchstehen schwieriger Entscheidungen, Fremdwort: Dilemmakompetenz. Wir haben festgestellt: Am schlechtesten laufen unsere Seminare für Leute, die aus der Reinigung oder aus der Elektrowerkstatt oder aus der Hausmeisterei kommen. Denn wir selbst mit Fachhochschul- oder Uni-Abschluss sprechen anders. Ich glaube, dass die Anpassung der Sprechweise der Profis hier ein (Miss-)Erfolgsfaktor ist. Es gibt aus der experimentellen Forschung zu den »Prisoner’s Dilemma Games«, Untersuchungen zu der Frage: Wann lohnt sich Kooperation? Das Ergebnis ist: Es lohnt sich, anfangs in eine Zusammenarbeit einseitig zu investieren, also einen Vertrauensvorschuss zu geben, eher Geld reinzustecken oder selbst mehr Arbeit zu übernehmen. Und danach sehr genau zu schauen: Wie reagieren die Gegenüber? Und sich dann auf eine »Wie du mir, so ich dir«Logik einzustellen, also mehr zu investieren, wenn der andere mehr investiert, und weniger zu investieren, wenn der andere wenig investiert. Wenn ich Letzteres nicht tue, dann überverausgabe ich mich und werde sauer auf die andere Partei. Ansgar Röhrbein: Okay. Ich würde jetzt zum Ende hin noch gern mit dir dem Gedanken nachgehen: Angenommen, du schreibst den Profis einen Beipackzettel im Hinblick auf mögliche gelingende Zutaten, sodass Kooperation eher gelingen kann. Was schreibst du den Kolleginnen und Kollegen auf diesen Zettel? Jochen Schweitzer: Ich würde vier Tipps reinpacken, und der erste wäre der: Schauen Sie darauf, dass Ihre Zusammenarbeit für beide Seiten einen Gewinn abwirft. Und zwar in der jeweiligen Währung. Gehen Sie davon aus, dass sie beide unterschiedliche Währungen haben: Was sich für den einen lohnt, lohnt sich für den anderen nicht unbedingt. Kriegen Sie heraus, in welcher Währung der andere abrechnet, was für den anderen lohnenswert ist, und schauen Sie, ob Sie das auch anbieten können, was sich für ihn lohnt. Zweiter Punkt: Interessieren Sie sich möglichst wenig dafür, warum es bisher so schlecht gelaufen ist, und interessieren Sie sich viel mehr dafür, unter welchen Bedingungen es denn jetzt und künftig gut laufen könnte und wo es auch jetzt schon gut läuft. Dritter Vorschlag wäre der: Versuchen Sie, lieber eine dauerhafte Zusammenarbeit anzubieten als eine Zusammenarbeit immer (erst) dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. In der Medizin nennt man das den Unterschied zwischen einem Liaison- und einem Konsiliar-Dienst. Versuchen Sie, die anderen nicht erst in dem Moment kennenzulernen, wenn die Not am größten ist und wenn der Ärger gekommen ist, sondern versuchen Sie – das gilt, glaube ich, mehr
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für das Vorgehen zwischen den Profis –, eine kontinuierliche Arbeitsbeziehung aufzubauen. Mit den Eltern ist das natürlich etwas schwieriger. Und das Vierte und Letzte wäre: Versuchen Sie, den anderen gut ausschauen zu lassen, gehen Sie davon aus: Der Einzige, der sich hier verändern kann, sind Sie selbst. Versuchen Sie, den anderen nicht zu missionieren, sondern versuchen Sie, selbst das Kooperationsangebot zu machen, welches der andere mutmaßlich eingehen kann. Ansgar Röhrbein: Vielleicht doch noch eine letzte Frage: Was glaubst du, in welcher Art und Weise kann das Thema Kindeswohlgefährdung hier den Beteiligten an der einen oder anderen Stelle ein Beinchen stellen? Jochen Schweitzer: Ich glaube, dass jede gute Berufstätigkeit ein gewisses Risiko akzeptieren muss. Das gilt gerade im Kinderschutz, das war in der Jugendpsychiatrie so. Wenn man nicht bereit ist, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen, dann wird man immer ganz defensive, vorsichtige Maßnahmen ergreifen, die häufig zu einer chronifizierten Situation beitragen, in der nichts vorangeht. Ein gewisses Maß an Vertrauen in die Eltern, in die Kinder, in die anderen Profis, auch wenn ich mir selber nur zu 95 Prozent sicher bin, dass das auch laufen wird, ist, glaube ich, eine Voraussetzung, um eine langfristig gute Arbeit zu machen, weil man sonst sehr schnell in eine misstrauische und zwangsgeprägte Form der Zusammenarbeit gerät. Ansgar Röhrbein: Lieber Jochen, schöner Schlusspunkt. Ich danke dir für deine Zeit und dieses Gespräch. Jochen Schweitzer: Danke dir.
3.3 Rechtliche Perspektiven des systemischen Kinderschutzes Reinhard Wiesner
Einleitung Mit dem Begriff »Kinderschutz« sind viele unterschiedliche Assoziationen, aber auch viele Perspektiven verbunden. Dies wird aus den nachfolgenden Beiträgen deutlich, die das Thema Kinderschutz im Kontext verschiedener Organisationen, Hilfeformen und Methoden betrachten. Vorab soll das Thema aus juristischer Sicht betrachtet werden.
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So wird der Begriff »Kinderschutz« in der fachlichen Diskussion, aber auch im Recht (Gesetze, Rechtsprechung, Fachliteratur) unterschiedlich definiert. Die Basis bildet das gemeinsame Verständnis Ȥ von der Schutzbedürftigkeit des Kindes oder Jugendlichen im Hinblick auf Gefahren für sein Wohl und Ȥ von dem Ziel, diesen Schutz im Rahmen familialer und öffentlicher Verantwortung durch ein breites Spektrum von »Hilfen« zu gewährleisten. Anknüpfend an die Terminologie im Gesundheitswesen wird auch zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention (einer Gefährdung des Kindeswohls) unterschieden. Diese Sichtweise ist aber von vornherein negativ geprägt und öffnet die Tür für eine Überwachungslogik – also eine Perspektive, die Eltern von vornherein mit Misstrauen begegnet und deshalb für Dauerbeobachtung und anlassunabhängige Kontrollen wirbt anstatt auf Empowerment, Verständnis und Wertschätzung zu setzen. Die spezifische Schutzbedürftigkeit des Kindes oder Jugendlichen (»Minderjäh rigen«) wird aus seiner mangelnden Reife und Einsichts- bzw. Selbstbestimmungsfähigkeit abgeleitet und begründet damit die Notwendigkeit für andere Personen, die über diese Reife und Einsichtsfähigkeit verfügen (Erwachsene), Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Schutz und Hilfe für das Kind stehen in einer engen Wechselbeziehung zu der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes oder Jugendlichen und zielen darauf ab, sich selbst überflüssig zu machen (Wapler, 2015, S. 100). 1 Kinderschutz, elterliche Erziehungsverantwortung und staatliche Kindeswohlverantwortung Aus rechtlicher Sicht ist der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl zwischen Eltern und Staat aufgeteilt. Deren (geteilte) Verantwortung für den Schutz von Kindern und Jugendlichen kann wirkungsvoll unterstützt oder auch geschwächt werden durch gesellschaftliche Haltungen bzw. Entwicklungen, die die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen verbessern oder verschärfen (kinder- und familienfreundliche Gesellschaft; familienfreundliche Arbeitswelt etc. einerseits und prekäre Lebenssituationen wie z. B. Arbeitslosigkeit oder Wohnungsnot andererseits).
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Elterliche Erziehungsverantwortung
Der Schutz des einzelnen Kindes und Jugendlichen vor Gefahren für sein Wohl ist zunächst Teil der Erziehungsverantwortung, die das Grundgesetz primär den Eltern (»zuvörderst«) als Recht und Pflicht zuweist (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Elternverantwortung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts »elterliche Rechtsmacht im Interesse und zum Wohl des Kindes« (Jestaedt u. Reimer, 2018, Rn. 71). Elternrecht und Kindesrecht sind damit nicht gegeneinander gerichtet, sondern aufeinander bezogen. Im Rahmen der elterlichen Sorge haben Eltern die Pflicht und das Recht, für das »minderjährige Kind« zu sorgen (§ 1626 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Personensorge – als Bestandteil der elterlichen Sorge – umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen (§ 1631 Abs. 1 BGB). Kinderschutz ist damit integraler Bestandteil der elterlichen Sorge. Hinsichtlich der Ausübung ihrer Elternverantwortung lässt das Grundgesetz den Eltern einen weiten Gestaltungsspielraum: Erziehung ist damit zunächst einmal die private Aufgabe der Eltern. Bis zum Beweis des Gegenteils wird darauf vertraut, dass sie das Beste für ihre Kinder wünschen und ihnen nicht schaden (Wapler, 2015, S. 336). 1.2 Das staatliche Wächteramt
Dem Staat weist das Grundgesetz die Aufgabe zu, über die Ausübung der elterlichen Erziehungsverantwortung zu wachen (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG: »Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft« – sog. staatliches Wächteramt). Das Wächteramt statuiert nicht nur eine objektive Verpflichtung des Staates, Kinder vor Gefahren und Schäden für ihr Wohl zu schützen, sondern gibt dem Kind ein subjektives (Grund-)Recht auf diesen Schutz. Die Schwelle, die das Recht für einen Eingriff in die elterliche Erziehungsverantwortung bzw. dessen Grenze bestimmt, wird mit dem Begriff der »Kindeswohlgefährdung« markiert (§ 1666 BGB). Dieser Begriff wird als sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff bezeichnet. Er bezeichnet die »Demarkationslinie zwischen elterlichem Erziehungsprimat und staatlichem Wächteramt« (Coester, 2020, § 1666 Rn. 64). 1.3 Der Vorrang von Hilfen
Staatliches Handeln zum Wohl und zum Schutz des (einzelnen) Kindes oder Jugendlichen ist aber nicht auf Maßnahmen begrenzt, die mit einem Eingriff in die elterliche Erziehungsverantwortung verbunden sind. So gilt bereits
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für die Ausgestaltung des staatlichen Wächteramts der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zum anderen ermächtigt und verpflichtet das Wächteramt die staatliche Gemeinschaft nicht nur zur Gefahrenabwehr, sondern darüber hinaus auch zur Gefahrenvorsorge im Vorfeld von Kindeswohlbeeinträchtigungen, also zu Präventivmaßnahmen, die verhindern, dass es überhaupt zu Kindeswohlbeeinträchtigungen im Einzelfall kommen kann (Jestaedt u. Reimer, 2018, Rn. 71). Diesem Ziel dient ein breites Spektrum von Hilfen, die das Achte Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe – (SGB VIII) bereithält. Dabei ist zwischen solchen Leistungen, die sich unmittelbar an das Kind/den Jugendlichen richten (z. B. Kindertagesbetreuung oder Aufenthalt in Jugendfreizeitstätten) und bei denen die Eltern ihr Einverständnis erteilen bzw. den Anspruch des Kindes auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege geltend machen, und solchen, die sich unmittelbar an die Eltern richten, wo also die Eltern ihre eigenen Rechte wahrnehmen, zu unterscheiden. Im Kontext des Kinderschutzes steht die Hilfe zur Erziehung als Hilfetypus (§§ 27 ff. SGB VIII) im Vordergrund. Ausgehend von Ȥ dem (verfassungs-)rechtlichen Postulat, dass der Staat (bei Gefahren für das Kindeswohl) nach Möglichkeit zunächst versuchen muss, »durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen« (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zuletzt BVerfG v. 14.06.2014, BVerfG 1 BvR 725/14), und Ȥ der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, dass die Qualität der Eltern-KindBeziehung und der Familienerziehung den wichtigsten Einfluss auf die Sozialisation und Entwicklung von Kindern haben (so schon Mollenhauer, Brumlik u. Wudtke, 1978; BMFSFJ, 2005), hat der Gesetzgeber mit der Verabschiedung des KJHG im Jahr 1990 einen primär unterstützenden Ansatz verfolgt und den Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung den Eltern zugewiesen – mit dem Ziel, die Eltern-Kind-Beziehung in den Blick zu nehmen (systemische Betrachtungsweise) und von dort aus im Rahmen eines kooperativen Prozesses die Eltern zu befähigen, die Erziehung ihrer Kinder selbstständig und eigenverantwortlich sicherzustellen und damit den Kindern gute Bedingungen des Aufwachsens zu gewährleisten (Schone, 2008, S. 11). Damit ist der Gesetzgeber von der individualisierenden, auf das Kind bzw. den Jugendlichen zentrierten Sichtweise des Jugendwohlfahrtsgesetzes abgerückt, bei der es vorrangig um kompensatorische Ersatzerziehung des
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Kindes oder Jugendlichen in der Verantwortung des Staates und – wenn überhaupt – erst nachrangig um Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung ging. 1.4 Die staatliche Schutzverpflichtung außerhalb des Verantwortungsbereichs der Eltern
Die staatliche Verantwortung für die Gewährleistung des Kindeswohls folgt darüber hinaus auch aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates Ȥ einerseits für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Ȥ andererseits für die körperliche Unversehrtheit des Kindes nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Das staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) ist (aber) strikt auf die Elternverantwortung ausgerichtet und entfaltet damit seine rechtliche Wirkung nur dann, wenn und soweit die Kindeswohlbeeinträchtigung mit dem Ausfall der Elternverantwortung im Zusammenhang steht. Es erstreckt sich somit nicht auf den Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gefahren außerhalb des Verantwortungsbereiches der Eltern. Solche Gefahren bestehen Ȥ zum einen in der Öffentlichkeit, die heute zunehmend virtuell (durch elektronische Medien) für die Einflussnahme auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bedeutsam wird, Ȥ zum anderen in Räumlichkeiten, die für die Eltern nur begrenzt einsehbar und kontrollierbar sind, wie z. B. Einrichtungen, in denen Kinder oder Jugendliche während eines Teils des Tages oder über Tag und Nacht betreut werden, oder Pflegefamilien. Den Gefahren in der Öffentlichkeit – namentlich im Internet – kann das nationale Recht nur noch begrenzt abwehrend oder kontrollierend begegnen, sodass sich die Aktivitäten zunehmend auf die Potenziale der Beratung und Kompetenzerweiterung bei Eltern und Kindern/Jugendlichen richten (Medienkompetenz § 14 SGB VIII). Den Gefahren, denen Kinder und Jugendliche in Einrichtungen (»totale Institutionen«) ausgesetzt sind, begegnet der Gesetzgeber durch Rechtsvorschriften über den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen (§§ 45 ff. SGB VIII – »Heimaufsicht«), die sich an den Träger der Einrichtung richten.
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1.5 Kinderschutz in der Schule
Darüber hinaus übernimmt der Staat auch Schutzpflichten für Kinder und Jugendliche im Rahmen seines schulischen Erziehungsmandates nach Art. 7 Abs. 1 GG. Dieses Thema wird bisher noch häufig ausgeblendet, obwohl längst bekannt ist, dass auch in Schulklassen Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Initiative »Schule gegen sexuelle Gewalt«, die inzwischen von allen Bundesländern unterstützt wird, will dazu beitragen, dass alle Schulen Konzepte zum Schutz vor sexueller Gewalt (weiter-)entwickeln, damit Kinderschutz im Schulalltag selbstverständlich wird (www.schule-gegen-sexuelle-Gewalt.de). 1.6 Strukturelle Verantwortung des Staates für die Bedingungen des Aufwachsens als Thema des Kinderschutzes
Neben der Verantwortung für das Wohlergehen des einzelnen Kindes oder Jugendlichen hat die sogenannte strukturelle Verantwortung des Staates (Bund, Länder und Gemeinden) für das Wohl der Kinder und Jugendlichen eine zentrale Bedeutung. Die Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen und damit auch die Risiken für Gefährdungslagen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Lebensbedingungen der Familie (Armut, Bildung, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit u. a.). Dies wird bei einer näheren Betrachtung der Lebenslagen der Adressat(inn)en von Hilfe zur Erziehung deutlich (Fendrich, Pothmann u. Tabel, 2021, S. 20 ff.). Diese strukturelle Verantwortung wird auch in der Maßgabe der UN-Kinderrechtskonvention angesprochen, wonach das Wohl des Kindes als Gesichtspunkt »bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen« ist (Art. 3 Abs. 1 UNKRK). Dieses vorrangige Abwägungsgebot bezieht sich nicht nur auf das individuelle Verhältnis zwischen Eltern und Kind, sondern auch auf Rechtsvorschriften, die abstrakt generell die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Dazu können aufenthalts- und asylrechtliche Vorschriften zählen, aber auch etwa die Bauleitplanung. Allerdings können aus Art. 3 Abs. 1 KRK weder konkrete subjektive Rechte noch bestimmte Pflichten abgeleitet werden (Schmal, 2017, Art. 3 UNKRK Rn. 3 ff.). Dieses Abwägungsgebot spielt in der aktuellen Debatte um die Aufnahme eines Kindergrundrechts in das Grundgesetz eine zentrale Rolle (https://kinderrechte-ins-grundgesetz.de/).
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Kinderschutz zwischen Hilfe und Eingriff
2.1 Potenziale und Grenzen der Prävention
Vorrangiges Ziel staatlichen Handelns ist die Vermeidung von Kindeswohlgefährdung durch ein breites Spektrum von beratenden und unterstützenden Hilfen. Ein zentrales Anliegen des »präventiven« oder besser: dialogischen, resilienztheoretisch fundierten Kinderschutzes (Wolff, 2010; Sann u. Schäfer, 2011) ist es deshalb, die bereits vorhandenen Kontakte mit den (werdenden) Eltern zu nutzen und im Bedarfsfall von dort aus weitergehende Hilfen anzubieten. Die Bedarfe liegen dabei an der Schnittstelle zwischen den Zuständigkeitsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitshilfe. Ausgehend von Modellprogrammen wird der Ausbau sogenannter Früher Hilfen seit dem Jahr 2016 im Rahmen eines Fonds zur Sicherstellung der Netzwerke Früher Hilfen und der psychosozialen Unterstützung von Familien aus Bundesmitteln vorangetrieben (§ 3 Abs. 4 KKG) (www.fruehehilfen.de). Kontrovers diskutiert werden Funktion und Begriffsverständnis Früher Hilfen. Diskussion und Handlungsansätze bewegen sich zwischen frühzeitiger, niedrigschwelliger Information und Unterstützung aller Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern (Baustein einer neuen kommunalen Infrastruktur für Familien) einerseits und einem frühen (sekundärpräventiven) Schutzauftrag im Sinne des staatlichen Wächteramtes für »Risikogruppen« andererseits. Kritisch diskutiert wird, ob Frühe Hilfen durch den Einsatz von Screening- oder Diagnoseverfahren, die sich vorrangig auf vermeintliche Risikogruppen richten, nicht Gefahr laufen, lediglich als eine vorgelagerte Kinderschutzmaßnahme angesehen zu werden (Hünersdorf, 2015). Eine Bestimmung von Risikofaktoren und -gruppen würde zudem von einem Angebot an alle Familien mit Kindern im Alter unter drei Jahren wegführen und stattdessen Familien aus bestimmten Milieus, aus bestimmten Regionen oder in besonderen Lebenslagen stigmatisieren und unter den Generalverdacht stellen, sie würden ihre Kinder vernachlässigen (Deutscher Bundestag, 2013, S. 300 f.; Sann u. Schäfer, 2011, S. 79). Einen nachhaltigen Beitrag (auch zum Kinderschutz) werden Frühe Hilfen, deren primäres Ziel die Verbesserung von Handlungskompetenzen ist, nur leisten können, wenn sie sich an alle »jungen« Familien wenden und auf Wertschätzung und Vertrauen basieren. Nur auf diese Weise ist auch eine Motivierung für die Inanspruchnahme weiterführender Hilfen im Einzelfall möglich (»Lotsenfunktion«). Dies schließt – auch im Kontext einer Frühen Hilfe – angesichts unvorhersehbarer Entwicklungen und Dynamiken eine Gefährdungseinschätzung bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung nicht kate-
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gorisch aus, setzt aber jederzeit Transparenz hinsichtlich des Handlungsauftrags gegenüber Eltern und Kindern voraus. Im Zwischenbericht der Bundesinitiative Frühe Hilfen wird deshalb eine Profilschärfung gefordert (NZFH, 2014, S. 95 f.). 2.2 Die Schwelle der Kindeswohlgefährdung
Ausgehend von der im Grundgesetz geregelten Aufgabe des Staates, über die Ausübung der elterlichen Erziehungsverantwortung »zu wachen« (staatliches Wächteramt: Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG), hat der Gesetzgeber die Gefährdung des Kindeswohls als Schwelle für staatliche Eingriffsmaßnahmen festgelegt (Kindeswohl als »negativer Standard« – Coester, 1991, S. 253, 255, und 2008, S. 2). Die Definition der Kindeswohlgefährdung hat nicht nur Bedeutung als Signal für die Eltern, indem sie die Schranke bzw. Grenze für die Ausübung der elterlichen Erziehungsverantwortung bestimmt, sie ist vor allem die rechtliche Grundlage für die Pflicht des Staates, (weitere) Gefahren für das Wohl des Kindes abzuwehren, und damit für das Handeln des Jugendamts und des Familiengerichts in »Gefährdungssituationen«. Das (Verfassungs-)Recht macht es damit der Praxis (Gerichten, Jugendämtern) nicht einfach. Im wirklichen Leben gibt es keine sicht- oder spürbare »Schwelle« der Beeinträchtigung, sondern ein Kontinuum, das sich zwischen den beiden Polen einer dem Kind im Ganzen angenehmen und förderlichen Lebenssituation einerseits und offenkundig unzumutbaren Zuständen andererseits in einer breiten und variantenreichen Grauzone bewegt (Schone, 2008, S. 12, 25 ff.). Dennoch verlangt das Recht im Einzelfall eine nachvollziehbare Entscheidung dazu, ob und warum die Schwelle der Kindeswohlgefährdung erreicht bzw. überschritten ist. Inhaltlich stehen sich das Recht der Eltern auf Ausübung ihrer elterlichen Erziehungsverantwortung einerseits und das Recht des Kindes/Jugendlichen auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl andererseits gegenüber. Einerseits darf der Staat nicht unverhältnismäßig in das Elternrecht eingreifen (»Übermaßverbot«), andererseits hat er seine Schutzpflicht gegenüber dem Kind/Jugendlichen effektiv zu erfüllen (»Untermaßverbot«). Diese Grauzone der nicht mehr guten, aber noch nicht gefährdenden Erziehung ist gemeint, wenn §°27 SGB VIII von der »Nichtgewährleistung des Kindeswohls« als Voraussetzung für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung spricht – eine Schwelle, die inzwischen als diskriminierend betrachtet wird (Schrödter, 2020). Jedenfalls sind staatliche Interventionen in die elterliche Erziehung an dieser Schwelle nicht zulässig. Der Staat als Wächter kann unzumutbare Erziehung also aktiv und zwangsbewehrt verhindern, nicht jedoch schlechte Erziehung. Wo genau diese »Schwelle« zu finden ist, muss in
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der gesellschaftlichen Diskussion immer wieder neu verhandelt werden – der Diskurs zur Gewalt als Erziehungsmittel ist ein anschauliches Beispiel dafür – und ist in der Praxis zudem auf den Einzelfall herunterzubrechen, d. h., es geht immer um die Gefährdung eines individuellen Kindes in seinen individuellen Lebensverhältnissen (Wapler, 2015, S. 336). Nun ist bereits die Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs »Kindeswohlgefährdung« (als »Entscheidungsmaßstab«) eine Herausforderung. Eine Schwierigkeit bei der Auslegung des Begriffs ergibt sich bereits aus seiner Offenheit gegenüber den sich wandelnden und auch unterschiedlichen Anschauungen über die Bedürfnisse eines Kindes/Jugendlichen in bestimmten Situationen. Der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls ist Einfallstor für außerjuristische Erfahrungen und damit auch Erkenntnisse von Psychologie, Pädagogik und Medizin. Dem Interesse an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit steht die Dynamik wissenschaftlicher Erkenntnisse und gesellschaftlicher Entwicklungen gegenüber. Ebenso uneindeutig wie der Entscheidungsmaßstab (Kindeswohlgefährdung) ist im Einzelfall auch der Entscheidungsgegenstand (die konkrete Situation des Kindes/Jugendlichen). Die Identifizierung der Gefährdungsgrenze – als Maßstab für den Eingriff – kann im Einzelfall nicht im Wege der Subsumtion eines festgestellten Sachverhalts unter einen vorgegebenen Gefährdungsbegriff erfolgen, sondern ist das Ergebnis eines komplexen Abwägungsprozesses, den das Familiengericht und – im Zusammenhang mit einer Gefährdungseinschätzung (§ 8a SGB VIII) – die Fachkraft im Jugendamt in jedem Einzelfall neu vorzunehmen hat (vgl. Schone, 2008, S. 28, unter Verweis auf Coester, 2009, § 1666 BGB Rn. 64). Bei der Feststellung einer Kindeswohlgefährdung geht es um eine fachliche Bewertung beobachtbarer, für das Leben und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (und damit fachlich) relevanter Sachverhalte und Lebensumstände. Der Wortlaut des § 1666 BGB als Grundlage für den Eingriff in das Elternrecht setzt aber nicht nur die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung voraus, sondern darüber hinaus zusätzlich die Feststellung, dass die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden (§ 1666 Abs. 1 BGB). Damit kommt der sogenannte Gefahrabwendungsprimat der Eltern (Coester, 2008, S. 3: »zweite Chance für die Eltern«) zum Ausdruck. Mit dieser Vorgabe wird die vergangenheitsbezogene Betrachtung der Gefährdungsursachen um die notwendige zukunftsorientierte Einschätzung des Beitrags, der von den Eltern zur Abwendung der Gefährdung zu erwarten ist, erweitert (Schone, 2008, S. 28). Auch die damit notwendige Einschätzung des elterlichen Potenzials zur Gefahrenabwehr ist – wie die Feststellung der Kindeswohlgefährdung – kein
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beobachtbarer Sachverhalt, sondern das Ergebnis eines komplexen Abwägungsprozesses, der vor allem Bewertung und Prognose umfasst. 2.3 Die Arbeit der Fachkräfte in den sozialen Diensten
Kernfrage für die Arbeit der Fachkräfte in den sozialen Diensten ist es, wie angesichts komplexer, nie ganz zu durchschauender Lebensverhältnisse, angesichts der strukturellen Unsicherheiten sozialpädagogischer Prognosen und Prozesse dennoch ein zuverlässig fachlich begründetes Handeln möglich gemacht werden kann (Schone, 2008, S. 35). Dabei sind neben der personellen Ausstattung der Jugendämter, den fachlichen Kompetenzen der Fachkräfte und ihrer persönlichen Haltung auch die Anforderungen an Dokumentation und die Bedeutung von Einschätzungshilfen im Blick zu behalten. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch die Haltung gegenüber den Eltern als gefährdete oder gefährliche Eltern – vor dem Hintergrund einer zunehmenden »Versicherheitlichung« (Hünersdorf, 2015, S. 613). So ist das Vertrauen der betroffenen Eltern und Kinder/Jugendlichen in das Hilfesystem ein zentraler Baustein für einen wirksamen Kinderschutz. Dieses Vertrauen ist gegenüber den Fachkräften in den sozialen Diensten vor dem Hintergrund einer zuweilen hysterisch geführten Kinderschutzdiskussion in den Medien und der damit verbundenen Verfestigung eines Bilds vom Jugendamt als »Kinderwegnahmebehörde« häufig nicht vorhanden und muss erst aufgebaut werden. Dazu bedarf es eines sensiblen Umgangs, der auf einer guten Beziehungsebene fußt, ressourcenorientiert ausgerichtet ist und die Betroffenen transparent beteiligt. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass die Fachkräfte sich bezüglich des Kinderschutzes vage oder nicht eindeutig positionieren: Gefahren für Körper, Geist und Seele eines Kindes durch seine Eltern oder andere Erziehungsberechtigte sind von diesen (mit oder ohne Annahme einer Hilfe seitens der Eltern) unmittelbar und konsequent abzuwenden. Es ist mit Eltern beispielsweise nicht verhandelbar, ob sie ihre Kinder schlagen, missbrauchen oder anderen Gefahren aussetzen. Hier hat sich die Kinder- und Jugendhilfe klar zu positionieren und deutlich zu benennen, welche Pflichten die Eltern zum Schutz ihres Kindes haben. In speziellen Schutzkonzepten sind ihnen daher konkrete Sicherstellungs-Aufgaben bzw. Sicherstellungs-Pflichten aufzuzeigen und sie damit aktiv in die Verantwortung zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung einzubeziehen (Radewagen, Lehmann u. Stücker, 2018, S. 10). Eltern sind häufig nicht in der Lage, Hilfeangebote adäquat einzuschätzen und Hilfeprozesse so zu durchschauen, dass ihre echte aktive Beteiligung möglich ist. Bei einer aktiveren Beteiligung an der Ausgestaltung der Hilfe und an Entscheidungsprozessen innerhalb des Hilfeablaufs können Eltern
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Hilfeangebote eher annehmen, da sie aktiv daran mitgearbeitet haben. Dies setzt eine wertschätzende Haltung der Fachkräfte voraus und eine Begegnung mit den Eltern auf Augenhöhe, um Vertrauen aufbauen zu können. 2.4 Das Verfahren der Gefährdungseinschätzung im Jugendamt
Im Kontext der Evaluation spektakulärer »Kinderschutzfälle« hat der Gesetzgeber im Jahr 2005 unter der Überschrift »Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung« ein spezielles Verfahren im Jugendamt zum Umgang mit Hinweisen oder Mitteilungen (»Meldungen«) etabliert, deren Inhalt im Hinblick auf eine Gefährdungssituation von Kindern oder Jugendlichen einzuschätzen ist (§ 8a Abs. 1–3 SGB VIII), darüber hinaus die Jugendämter aber auch verpflichtet, Vereinbarungen mit Trägern von Einrichtungen und Diensten zur Etablierung von Verfahren der Gefährdungseinschätzung abzuschließen (§ 8 Abs. 4 SGB VIII – Näheres dazu unter Nr. 4). Zentrales Ziel dieser Regelung ist es, zur Entwicklung wirksamer Konzepte zum Kinderschutz zunächst die Möglichkeiten der Kooperation mit den Eltern auszuloten, da ihnen verfassungsrechtlich die primäre Erziehungsverantwortung und auch im Fall einer festgestellten Kindeswohlgefährdung der sogenannte Gefahrabwendungsprimat zukommt. Im Rahmen dieses prozesshaften Verfahrens soll im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (ggf. auch in einem multiprofessionellen Team) die Situation des Kindes oder Jugendlichen ausgelotet und bewertet werden und sodann – im Regelfall – zusammen mit dem Kind oder Jugendlichen und seinen Eltern erörtert und ein wirksames Konzept zum Schutz bzw. zur Abwehr einer weiteren Kindeswohlgefährdung entwickelt werden. Kam die Meldung von einem sogenannten Berufsgeheimnisträger, so ist er seit der Änderung von § 8a durch das KJSG in geeigneter Weise an der Gefährdungseinschätzung zu beteiligen. Je nach Einschätzung der Gefährdung und der Prognose hinsichtlich der weiteren Entwicklung sowie der Kooperationsbereitschaft bzw. -fähigkeit der Eltern hat das Jugendamt den Eltern Hilfe anzubieten oder das Familiengericht anzurufen, wenn die Eltern zur Kooperation und Gefahrenabwehr gegenüber dem Kind oder Jugendlichen nicht bereit oder in der Lage sind. Bei unmittelbarer Gefahr hat das Jugendamt das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. In den Jugendämtern sind dazu spezielle Konzepte zum Umgang mit Hinweisen auf Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen sowie mehrschrittige Verfahren etabliert worden, die einer regelmäßigen Überprüfung und Weiterentwicklung bedürfen. Zum Einsatz kommen dabei auch Beurteilungsbogen oder Einschätzungshilfen (z. B. der Stuttgarter Kinderschutzbogen – siehe
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dazu auch, Strobel, Liel u. Kindler, 2008). Solche »Diagnoseinstrumente« können durchaus einen wichtigen Beitrag zur Gefährdungseinschätzung leisten. Allerdings müssen auch die Grenzen im Blick bleiben. Checklisten verführen dazu, Fakten abzufragen, ohne in einen Dialog mit den beteiligten Personen einzutreten. Durch Bewertungsskalen wird eine Objektivität unterstellt, die nicht gegeben ist (Deutscher Bundestag, 2013, S. 371). Schließlich wird darin die Tendenz sichtbar, die Sicherheit im Kinderschutz durch Standardisierung und Reglementierung zu erhöhen und damit die Komplexität der Entstehung und Einschätzung von Kindeswohlgefährdung zu unterschätzen (Schone, 2012, S. 265). Es bedarf deshalb einer kontinuierlichen kritischen Prüfung und Weiterentwicklung dieser Instrumente. 3
Kooperation zwischen Jugendamt und Familiengericht
3.1 Die Abhängigkeit des Jugendamts vom Familiengericht bei der Inobhutnahme
Die Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrags ist nach unserer Rechtsordnung auf Jugendamt und Familiengericht aufgeteilt. Während das Jugendamt im Rahmen der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) befugt ist, mittels einer akuten Krisenintervention in die elterliche Sorge einzugreifen, und die Inobhutnahme möglichst schnell durch eine Kooperation mit den Eltern oder eine familiengerichtliche Entscheidung über den (teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge beendet werden soll, die Inobhutnahme also letztlich die Funktion eines Clearings hat, ist die Entscheidung des Familiengerichts (erst dann) aufzuheben, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht oder die Erforderlichkeit der Maßnahme entfallen ist (§ 1696 Abs. 2 BGB). Aber bereits die Befugnis zur Inobhutnahme setzt beim Widerspruch der Eltern voraus, dass eine rechtzeitige Entscheidung des Familiengerichts nicht erreicht werden kann. Das Ob und Wie-lange der Inobhutnahme hängt daher in der Praxis von der jeweiligen Arbeitsweise des zuständigen Familiengerichts ab. 3.2 Potenziale und Grenzen der Zusammenarbeit im Verfahren nach den §§ 1666, 1666a BGB
Auch wenn es sich bei Verfahren nach den §§ 1666,1666a BGB um ein sogenanntes Amtsverfahren handelt, also kein förmlicher Antrag erforderlich ist, so geht die Initiative doch in aller Regel vom Jugendamt aus – häufig im Gefolge einer Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII. Das Jugend-
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amt ist aber nicht nur der Initiator für das Verfahren, es wirkt auch im Verfahren vor dem Familiengericht mit (§ 50 SGB VIII). Zu diesem Zweck unterrichtet das Jugendamt das Gericht über angebotene und erbrachte Leistungen, bringt erzieherische und soziale Gesichtspunkte zur Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen ein und weist auf weitere Möglichkeiten der Hilfe hin (§ 50 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Auch wenn die Stellungnahme des Jugendamts eine wichtige Grundlage für die Entscheidung des Familiengerichts ist, so bleibt dieses doch dem Grundsatz der Amtsermittlung verpflichtet (§ 26 FamFG), hat also von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Seit der Änderung durch das KJSG hat das Jugendamt auch die zentralen Daten des Hilfeplans, nämlich das Ergebnis der Bedarfsfeststellung, die vereinbarte Art der Hilfegewährung einschließlich der hiervon umfassten Leistungen sowie das Ergebnis etwaige Überprüfungen dieser Feststellungen dem Familiengericht vorzulegen (§ 50 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VIII). Damit schwebt über jedem Hilfeprozess von Anfang an das Damoklesschwert einer Vorlage vor dem Familiengericht, was das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Fachkraft sehr belasten kann. Mit der Erörterung der Kindeswohlgefährdung (§ 157 FamFG) hat der Gesetzgeber im Rahmen der FGG-Reform im Jahr 2008 ein neues Instrument geschaffen, um im Vorfeld einer Entscheidung nach § 1666 BGB Möglichkeiten der Hilfe auszuloten. In der Praxis hat das Jugendamt vor einer Anrufung des Familiengerichts zur Anberaumung eines Erörterungstermins die Chancen und Risiken einer solchen Erörterung abzuwägen – vor allem die Wirkung im Hinblick auf die Bereitschaft der Eltern, sich weiterhin aktiv am Hilfeprozess zu beteiligen (Berneiser, 2016, S. 255, S. 291).
Eine den rechtlichen und fachlichen Anforderungen entsprechende Entscheidung zur Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl muss die unterschiedlichen Funktionen und fachlichen Kompetenzen von Familiengericht und Jugendamt berücksichtigen und sinnvoll miteinander verknüpfen. Dies ist nicht im Rahmen eines Über-/Unterordnungsverhältnisses, das durch Anordnung und Vollzug gekennzeichnet ist, sondern nur durch eine Kooperation der beteiligten Instanzen möglich. Eine zentrale fachliche Herausforderung besteht deshalb darin, trotz der (mit der FGG-Reform gewollten) Aufgabenverschränkung die unterschiedlichen Rollen von Familiengericht und Jugendamt zu beachten (Rollenklarheit trotz Aufgabenverschränkung).
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Aufgaben freier Träger im Kinderschutz
Aus der privatrechtlichen Beziehung des jeweiligen (freien) Trägers zu den Eltern bzw. zu den zu betreuenden Kindern oder Jugendlichen, die durch die Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts (§ 5 SGB VIII) aktiviert wird, übernimmt der freie Träger eine originäre Schutzpflicht für diese Kinder oder Jugendlichen. Dazu zählt nicht nur die Verpflichtung, zur Betreuung anvertraute Kinder/Jugendliche nicht zu schädigen oder sie Gefahren auszusetzen, sondern auch im Interesse und zum Schutz des Kindes/Jugendlichen Hinweisen auf Gefährdungen nachzugehen und diese den Eltern mitzuteilen und sie zur Inanspruchnahme von Hilfen anzuhalten bzw. im Fall der Weigerung die notwendigen Schritte zum Schutz des Kindes einzuleiten, insbesondere das Jugendamt zu informieren – sofern und soweit die Abwendung der Gefährdung in den Verantwortungsbereich der Eltern fällt, also nicht von Personen in der Einrichtung ausgeht. Die originäre Aufgabe der Gefährdungseinschätzung (§ 8a Abs. 4 SGB VIII) stellt die Fachkräfte in den Einrichtungen und Diensten freier Träger vor große konzeptionelle und fachliche Herausforderungen, weil sie sich häufig unsicher fühlen, solche Fragen gegenüber den Eltern zu thematisieren. Sie sind verpflichtet, bei der Gefährdungseinschätzung eine »insoweit erfahrene Fachkraft« hinzuziehen, um anschließend regelmäßig mit den Eltern die Situation zu erörtern und dann zu entscheiden, ob Eltern zu empfehlen ist, eine Hilfe in Anspruch zu nehmen, oder ob das Jugendamt zu informieren ist, damit von dort aus die notwendigen Schritte zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung unternommen werden. Noch komplexer gestaltet sich der Schutzauftrag für Träger von Einrichtungen, wenn Gefahren für Kinder oder Jugendliche von dort tätigen Fachkräften oder anderen Kindern und Jugendlichen ausgehen und die Abwehr dieser Gefahren damit nicht mehr den Eltern zugeordnet werden kann, sondern originäre Aufgabe der Einrichtung selbst ist (und vom Landesjugendamt als Heimaufsichtsbehörde auf der Grundlage der §§ 45 ff. SGB VIII zu kontrollieren ist). In diesem Fall ergeben sich für den Träger der Einrichtung Informationspflichten gegenüber dem Landesjugendamt, dem für die betroffenen Kinder/ Jugendlichen im Einzelfall zuständigen Jugendamt und gegenüber den Eltern sowie gegebenenfalls arbeitsrechtliche Pflichten gegenüber den Fachkräften in der Einrichtung (Ermahnung, Versetzung, Freistellung, Verdachtskündigung etc.). Das Landesjugendamt muss im Rahmen seiner Pflicht zur Gefahrenabwehr prüfen, welches Instrument für den Schutz der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung (Beratung, Auflage, Entzug der Erlaubnis) im Einzelfall erforderlich und verhältnismäßig ist (§§ 45 ff. SGB VIII). Im Rahmen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes sind diese Vorschriften verschärft worden. So wur-
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den unter anderem die Zuverlässigkeit des Trägers als Voraussetzung für die Erteilung der Betriebserlaubnis und die Kontrolle einer ordnungsgemäßen Buchund Aktenführung eingeführt und das Recht zur örtlichen Prüfung verschärft. Der Anwendungsbereich der Vorschriften für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen (§§ 45 ff. SGB VIII) beschränkt sich nicht nur auf Kinder und Jugendliche, die im Rahmen von Hilfen zur Erziehung auf der Grundlage des SGB VIII in der Einrichtung betreut und erzogen werden, sondern umfasst alle Einrichtungen – unabhängig von der Rechtsgrundlage für den Aufenthalt und von dem für die Finanzierung zuständigen Leistungsträger –, in denen Kinder und Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden oder Unterkunft erhalten (§ 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Dazu zählen nicht nur Kindertageseinrichtungen, sondern z. B. auch Einrichtungen, in denen Kinder oder Jugendliche mit unterschiedlichen Formen der Behinderung (auf der Grundlage von §§ 53 ff. SGB XII bzw. ab 2020: §§ 90 ff. SGB IX) untergebracht und erzogen werden. Nicht eindeutig geklärt ist, ob auch Kliniken und andere medizinische Einrichtungen unter den Anwendungsbereich der §§ 45 ff. SGB VIII fallen. So enthält der neue im Rahmen des KJSG eingeführte Einrichtungsbegriff eine Engführung auf solche Einrichtungen, die der Beaufsichtigung, Erziehung, Bildung von Kindern und Jugendlichen dienen. Hierdurch sollen »Einrichtungen«, die besonderen Zwecken außerhalb des Bereichs des SGB VIII dienen und bei denen Betreuung und Unterkunft im weiteren Sinne nur untergeordnete Bedeutung haben, abgegrenzt werden, dabei wird auf Krankenhäuser und Sporteinrichtungen verwiesen (so BT-Drs. 19/26107, S. 102). Für die Anwendung der Vorschrift, wonach Einrichtungen, die außerhalb der Jugendhilfe liegende Aufgaben für Kinder und Jugendliche wahrnehmen, nur dann vom Erlaubnisvorbehalt ausgenommen sind, wenn für sie »eine entsprechende gesetzliche Aufsicht besteht« (§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 1 SGB VIII), bleibt damit kein Raum mehr. Umso wichtiger sind deshalb Aktionen zum Kinderschutz aus dem medizinischen Bereich wie etwa die Aktionen der Deutschen Krankenhausgesellschaft. 5
Kinderschutz in Pflegefamilien
Lange Zeit konzentrierte sich bei Kindern und Jugendlichen, die außerhalb des Elternhauses untergebracht waren, der Blick auf Einrichtungen und die dort dortigen Gefahrensituationen. Mögliche Gefahren für Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien wurden lange Zeit verdrängt, zumal diese Familien doch in der Regel über das Jugendamt zur Bedarfsdeckung ausgesucht worden sind oder jedenfalls ihre Eignung vom Jugendamt festgestellt werden muss. Es waren dann Kinderschutzfälle im Kontext von Familienpflege, über die medial ausführlich
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berichtetet wurde, die den Gesetzgeber veranlasst haben, im Rahmen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes analog zu den Vorschriften über den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen auch in Pflegefamilien die Anwendung von Gewaltschutzkonzepten und die Möglichkeiten der Beschwerde für Kinder und Jugendliche gesetzlich zu verankern (§ 37b SGB VIII). 6
Kinderschutz als interdisziplinäre Aufgabe
Der Auftrag zum Kinderschutz richtet sich aber nicht nur an Jugendämter, Einrichtungen und Dienste der Jugendhilfe und an Familiengerichte, sondern an alle Personen und Professionen, die Aufgaben der Betreuung von Kindern übernehmen oder – wie Angehörige der Gesundheitsberufe – mit Kindern und ihren Eltern in einer Hilfebeziehung stehen. Hier besteht die Herausforderung darin, ein systemisches Verständnis des Kinderschutzes zu entwickeln und sich auf Verfahrensabläufe zu verständigen. Im Hinblick auf das »Gesundheitswesen« bedeutet dies, zunächst einmal die eigenen Potenziale für die Einschätzung der Lebenssituation des Kindes und die notwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung des Kinderschutzes (zusammen mit den Eltern) auszuloten, andernfalls aber das Jugendamt bzw. das Familiengericht in den Stand zu versetzen, Gefahren für das Kindeswohl abzuwehren. Diesem Ziel dient das Verfahren der Gefährdungseinschätzung, die Information des Jugendamts, die Beteiligung an der Gefährdungseinschätzung im Jugendamt und die Rückmeldung seitens des Jugendamts über die getroffenen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr an die Gesundheitsberufe (§ 4 KKG bzw. § 8a SGB VIII). Eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der notwendigen Kooperation ist ein gemeinsames Verständnis des Kinderschutzes unter Achtung der unterschiedlichen Aufgaben und Befugnisse der beteiligten Professionen bzw. Institutionen. Dazu bedarf es nicht nur des kontinuierlichen Austausches in strukturellen Fragen etwa in Runden Tischen, sondern vor allem auch einer ausreichenden Finanzierung ärztlicher Leistungen im Kontext des Kinderschutzes. Dies ist bisher bei den Frühen Hilfen nicht gelungen und wird auch in den Materialien zum Bundeskinderschutzgesetz sowie im Evaluationsbericht der Bundesregierung abgelehnt. Dort wird zwar für eine engere Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen plädiert: Die Aufgabenstellung der gesetzlichen Krankenversicherung sei primär morbiditätsorientiert (Verhütung oder Früherkennung von Krankheiten oder Krankenbehandlung) und in diesem Kontext auch auf die Stärkung der gesundheitlichen Ressourcen ausgerichtet. Keinesfalls dürften aber Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe oder anderer Leistungssysteme im Kinderschutz auf die gesetzliche Kranken-
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versicherung (GKV) verlagert werden (BT-Drs. 17/6256, S. 47). Mit dieser Positionierung hat das Gesundheitssystem seine Mitverantwortung für den Kinderschutz schlicht in Abrede gestellt. Mehr Kooperation der verantwortlichen Akteure im Kinderschutz war auch eines der erklärten Ziele des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes. So soll das Gesundheitswesen stärker in die Verantwortungsgemeinschaft für einen wirksamen Kinderschutz einbezogen werden (BT-Drs. 19/26107, S. 3, 49). Dies wird insbesondere bei der Verpflichtung zur Information des Jugendamts bei einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen (§ 4 Abs. 3 Satz 3 KKG) sowie bei der Beteiligung bei der Gefährdungseinschätzung (§ 8a Abs. 1 SGB VIII) deutlich. Bereits bisher war schon dann eine Beteiligung des Arztes, der Ärztin am Hilfeplanverfahren vorgeschrieben, wenn er oder sie eine Stellungnahme zur abweichenden seelischen Gesundheit zur Klärung einer seelischen Behinderung vorgelegt hat (§ 35a Abs. 1a, § 36 Abs. 4 SGB VIII). Nun hat der Gesetzgeber auch erste Konsequenzen hinsichtlich der Honorierung der Zusammenarbeit zwischen Angehörigen der Heilberufe und der Jugendhilfe gezogen, indem er eine Honorierung bei Fragen der Kindeswohlgefährdung vorsieht (§ 73c SGB V). Diese Regelung wird aber kritisch gesehen, weil sie den falschen Eindruck erweckt, dass damit finanzielle Fehlanreize für unklare Fälle als »Verdacht auf Kindeswohlgefährdung« geschaffen werden, um dann diese Fälle abrechnen zu können. So werde einerseits eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Systemen erwartet, diese werde aber nur dann honoriert, wenn Ärztinnen und Ärzte Kindeswohlgefährdungen melden (so Jörg Fegert in der Sachverständigenanhörung des Deutschen Bundestages zum Gesetzentwurf des KJSG). 7
Datenschutz als Vertrauensschutz
»Kinderschutz vor Datenschutz.« Dieser prägnante und in der Öffentlichkeit immer wieder rezipierte Slogan verkennt die Bedeutung vertraulicher Beziehungen für den Hilfeprozess und damit auch für den Kinderschutz. Was für die Soziale Arbeit insgesamt gilt, hat auch und insbesondere große Bedeutung für den Kinderschutz: Datenschutz ist primär Vertrauensschutz und damit kein Selbstzweck, sondern notwendige Voraussetzung für einen funktionierenden Kinderschutz! Daher gelten für den Kinderschutz die allgemeinen datenschutzrechtlichen Vorgaben des Sozialgesetzbuchs (§ 35 SGB I in Verbindung mit den §§ 67–85 SGB X), die durch spezifische Regelungen im SGB VIII ergänzt werden (§§ 61 ff. SGB VIII). Dabei hat der Gesetzgeber für den Fall, dass gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bekannt geworden sind, Ausnahmen bzw. Gren-
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zen der informationellen Selbstbestimmung (der Eltern bzw. des Kindes oder Jugendlichen) bestimmt. Dazu zählen besondere Befugnisse der Fachkräfte bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (§ 8a Abs. 1 SGB VIII) wie die Befugnis zur Datenerhebung bei Dritten (§ 62 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. d SGB VIII) oder die Befugnis zur Weitergabe an das Familiengericht oder an Fachkräfte zur Einschätzung der Gefährdungssituation (§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2–4 SGB VIII). Da die Regelungen zum Sozialdatenschutz über mehrere Gesetze verstreut sind (SGB I, SGB X, SGB VIII) und zum Teil sehr kasuistisch ausgestaltet sind, besteht in der Praxis häufig eine große Unsicherheit bei ihrer Anwendung. Diese Unsicherheit wird durch die Vorschriften in der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) noch verstärkt. Notwendig ist deshalb die Schulung der Fachkräfte in diesem Terrain, um das rechtliche Instrumentarium produktiv für die Belange des Kinderschutzes einzusetzen (z. B. http://www. landkreis-kronach.de/datenschutzrechtliche-hinweise/hinweisblatt-schutzauftrag-nach-8a-sgb-viii/). Der Kinderschutz ist und bleibt eine komplexe Aufgabe, die von Eltern, Gesellschaft und Staat im Rahmen einer Verantwortungsgemeinschaft zu bewältigen ist. Dabei gilt es, die fachspezifischen Potenziale der jeweiligen Professionen und Institutionen zu identifizieren und sie unter Beachtung ihrer jeweiligen Funktionen bzw. gesetzlichen Aufträge miteinander zu verknüpfen. Rechtliche Grundlagen können dafür einen Rahmen schaffen. Für die praktische Zusammenarbeit bedarf es aber auch einer gegenseitigen Wertschätzung und Kooperationswilligkeit. Eine große Barriere werden wohl noch lange die unterschiedlichen Finanzierungsquellen darstellen – besteht doch offensichtlich häufig die Sorge, das eine System wolle sich zulasten eines anderen Systems seiner Aufgaben entziehen. Stattdessen sollte sich der Blick auf die Adressaten richten: Kinder und Jugendliche im Kontext ihrer Eltern und die Realisierung ihrer Rechte. Literatur Berneiser, C. (2016). Die Erörterung der Kindeswohlgefährdung nach § 157 FamFG – eine »Neuregelung« oder eine bislang unbeachtete Ressource im zivilrechtlichen Kinderschutzverfahren? Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, 7, 255–261 und 8, 291–295. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005). Zwölfter Kinderund Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015). Bericht der Bundesregierung, Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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3.4 Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 1): Neue Lebenswelten verändern Schutzbedarf radikal Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke
Die Gefahren für Kinder und Jugendliche, die von Internet und digitalen Medien in den durch diese veränderten Lebenswelten ausgehen, sind vielfältig. Dabei ist das Smartphone mittlerweile zentral und mehr als ein Ort unter vielen. Es handelt sich vielmehr um den Dreh- und Angelpunkt der alltäglichen Kommunikation vieler Jugendlicher und ist eine bedeutsame Schnittstelle zu ihren analogen Lebenswelten. Diese Veränderungen zeigen Studien zu gewandeltem Verhalten der Kinder und Jugendlichen (Beisch u. Koch, 2021) zu sexualisierter Gewalt online (Giertz, Hautz, Link u. Wahl, 2019) sowie Übersichtsarbeiten zur Medienabhängigkeit (DHS u. FV-Medienabhängigkeit, 2020). Dabei ist bei einigen kindeswohlgefährdenden Themen von einer großen Dunkelziffer der strafrechtlichen Erfassungen auszugehen, da es nicht zu allen Problemformen statistische Erhebungen gibt. Die Themen werden zudem meist als sehr schambesetzt erlebt und deshalb selten gemeldet und erfasst. Systemischer Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten bedeutet dabei nicht nur, einzelne Gefahren herauszugreifen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln, sondern vielmehr die lebensweltlichen Zusammenhänge zu sehen und neben den Gefahren und Risiken auch die Ressourcen und Chancen, auf Basis empirischer Forschung, in den Blick zu nehmen. So untersucht der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) (2017) in der FIM-Studie regelmäßig die Kommunikation und Mediennutzung in Familien. Gerade bei den rasanten digitalen Entwicklungen gilt es, die lebensweltlichen Realitäten wahrzunehmen und zugleich die Potenziale von Netzwerken zu erschließen. Des Weiteren sollten Kooperationen angeregt werden, die einen aufgeklärten und selbstwirksamen Umgang mit digitalen Medien fördern. Dabei helfen Ansätze, die lediglich auf einzelne Personen zielen, höchstens vordergründig weiter. Schließlich sind die Kinder und Jugendlichen in ihrem Alltag in ein soziales Gefüge eingebettet, das in Wechselwirkung maßgeblich mitentscheidet, ob sich ihre Risiken oder demgegenüber ihre Chancen auf förderliche Entwicklung steigern. Mit diesem Beitrag soll ein Überblick zu den Gefahren und Chancen im Umgang mit Medien gegeben werden, der zentrale Ressourcen zur Erkennung
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von Gefahren und Schutzmöglichkeiten in den Blick bringt, wie z. B. Internetportale, aktuelle Studien und spezialisierte Fachveröffentlichungen. So können Präventionskonzepte auf systemischer Grundlage angestoßen und Interventionen sowie Handlungsleitfäden situationsadäquat genutzt werden. Dabei wird in Bezug auf die Gefährdungseinschätzung dargelegt, dass auch die Einschätzenden und gutachterlich Tätigen selbst, wie alle beteiligten Akteure, zirkulär zu Eskalationen oder Deeskalationen beitragen können. Sie sind aus systemischer Perspektive innerhalb des Geschehens zu verorten und werden deshalb in ihren unterschiedlichen Verantwortlichkeiten dargestellt. Familie im Streit um Mediennutzung In der Supervision stellt Frau W, Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) eines Kreisjugendamts, einen aktuellen Fall vor. Sie beschreibt sich selbst als insgesamt offen, wenn auch mit klarer Haltung in Bezug auf Mediennutzung. Die Komplexität rund um das Thema »Umgang mit digitalen Medien« und die damit verbundenen diversen Verstrickungen sowie Herausforderungen in dem vorliegenden Fall führen bei ihr jedoch zu Überforderungserleben. Familie X ist Frau W bekannt, seit sich die Mutter im Rahmen ihrer strittigen Trennung von Herrn P vor vier Jahren hilfesuchend an das Jugendamt gewendet hat.
Frau V 41
A 16
Herr X 45
B 13
Frau X 37
C 2
Herr P 42
D 7
E 7
Abbildung 1: Genogramm der Familie
Die Familie lebt seit ca. drei Jahren als »Patchworkfamilie« zusammen (siehe Abbildung 1). Frau X bringt aus erster Ehe siebenjährige Zwillinge (Mädchen D und Junge E), Herr X aus einer vorherigen Beziehung eine Tochter A (16 Jahre) und einen Sohn B (13 Jahre) mit. Beide getrennt lebenden Elternteile haben ebenfalls Sorgerecht, es sind 14-tägliche Besuchskontakte bei ihnen mit Übernachtung über das Wochenende vereinbart. Die gemeinsame Tochter C der Eheleute X ist gerade zwei Jahre alt geworden. Es zeigen sich in Bezug auf Mediennutzung sehr unterschiedliche Haltungen und Regelvorstellungen in den familiären Subsystemen.
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Zwischen Frau X und Herrn P sind Medien ein Dauerthema, während Frau V in Bezug auf ihre Kinder diesbezüglich keine Einwände hat. Herr P zeigt sich nicht einverstanden mit dem aus seiner Sicht viel zu »laisser-fairen« Umgang der Mutter mit Medien, diese wiederum findet die Haltung ihres Ex-Mannes zu rigide. Dieser Streit belastet die Mutter sehr, was wiederum Auswirkungen auf das Leben ihrer aktuellen Familie hat. Von ihrem Mann erlebt sie wenig Unterstützung in diesem Konflikt, er selbst beschreibt sich diesbezüglich als genervt und angestrengt. Auch auf der Elternebene der Patchworkfamilie zeigen sich große Unterschiede im Umgang mit digitaler Technik sowie unklare Regeln und Absprachen. Über Fernsehkonsum, Umgang mit Gaming-Verhalten und insbesondere über die Smartphone-Nutzung entsteht immer wieder Streit. So nutze Frau X beispielsweise das Handy selbst viel, um sich sozial auszutauschen sowie zur Abstimmung in Elterngruppen und zum Informationserhalt in den WhatsApp-Gruppen zu den Hobbys der Kinder. Letzteres falle in ihr »elterliches Aufgabengebiet«. Herr P nutze Medien generell kaum und halte davon auch nicht viel, er sei auch ohne diese sehr gut aufgewachsen. Er fordere bei den Zwillingen vor allem Freizeitgestaltung in Präsenz. Auch Herr und Frau X sind uneins zum Thema Medien, etwa zur zeitlichen Ausgestaltung sowie zur Nutzung in bestimmten Kontexten (z. B.: Ist das Handy am Tisch erlaubt oder nicht? Wie viel Zeit am Handy ist altersangemessen?). Zudem finden die Eltern keine angemessene Sprachkultur und entsprechend keine Einigkeit. Die Unklarheit der Eltern nutzen die Kinder in ihrem Sinne, was wiederum zu familiären Konflikten führt. Negativszenario: Worst Case Herr P wendet sich mit seinen Bedenken zur Mediennutzung der Zwillinge an Frau W vom ASD. In ihrer Supervision hat sie herausgearbeitet, dass die Mediennutzung der Kinder, laut Empfehlungen von Fachleuten, altersgemäß passend und nicht schädlich sein dürfte. So erklärt sie Herrn P, dass sie die Mediennutzung für unproblematisch halte. Da er nicht die gewünschte Unterstützung vom Jugendamt erfährt, schaltet er das Familiengericht ein. Das Familiengericht spricht Frau X zu, den Umgang mit Medien weiterhin wie bisher gestalten zu dürfen, da der Richter keine Kindeswohlgefährdung erkennen kann. Die Konflikte eskalieren danach immer weiter, entzündet an der Medienthematik, vor dem Hintergrund der massiven Anspannungen auch in der Patchworkfamilie. Der Streit um die Smartphone- und Internetnutzung dominiert dann täglich die familiäre Kommunikation. Ein ruhiges gemeinsames Gespräch zu Medien ist weder in der Patchworkfamilie noch zwischen den Eltern Frau X und Herr P möglich. So wird erst Jahre später bekannt, dass E über das Internet Grooming erlebt und A über Jahre Cybermobbing erfahren hat, ohne dies zu äußern. Zudem wurde C sehr früh durch die älteren Geschwister mit
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den Medien konfrontiert, zu einem Zeitpunkt, als sie die vielen medialen Eindrücke noch gar nicht angemessen verarbeiten konnte. Positivszenario: Best Practice Herr P wendet sich mit seinen Bedenken zur Mediennutzung der Zwillinge an Frau W vom ASD. In ihrer Supervision hat sie herausgearbeitet, dass sie bei den Eltern ihre neutrale Position verlieren könnte, wenn sie sich in Bezug auf die Medienthematik positionieren würde. Deshalb verweist sie an eine systemische Beraterin, die sich in Bezug auf digitale Medien im familiären Kontext qualifiziert hat. Die Beratung erfolgt in verschiedenen Settings des gesamten Familiensystems und ist fachlich als Prozessberatung zu verstehen, die aber auch Anteile von Fachberatung in Bezug auf Medien beinhaltet. Dies markiert die Beraterin jeweils ausdrücklich. Im Beratungsprozess wird deutlich, dass die Kinder und Jugendlichen in der Familie mit den Erwachsenen meist nur im Streit über Medien im Kontakt sind, während die Nutzung von Smartphone und anderen Medien unter Freunden kontrastierend dazu mit Spaß assoziiert wird. Insbesondere die Übung »Medienkreise« (zu finden im Onlinematerial) bringt eine Wende in der familiären Kommunikation über Medien: Indem mehr als nur Strittiges zu Medien kommuniziert wird, entsteht eine Atmosphäre, in der auch andere Seiten des Themas Raum bekommen. Neben Ärger und Frustration kommen auch Freude, Spaß und Neugier ins Spiel. Mit etwas mehr Distanz und gegenseitigem Interesse ist es daraufhin möglich, sowohl die Gefahren als auch die Schutzmöglichkeiten und Chancen zu besprechen. Es entsteht im familiären Gesamtsystem eine größere Offenheit, über die sehr unterschiedlichen Facetten (Konstruktdimensionen) von Medien ins Gespräch zu kommen. Die Kinder erfahren mehr über die Hintergründe der elterlichen Haltungen, und die Eltern bekommen mehr von den medialen Interessen und Bedürfnissen ihrer Kinder mit. Herr P fühlt sich dabei mit seinen Bedenken ernst genommen und kann zusammen mit Frau X und ihren gemeinsamen Kindern besprechen, was in Bezug auf Mediennutzung bedeutsam ist. Das gilt in ähnlicher Weise auch für das Patchworksystem, sodass die älteren Geschwister mit in die Verantwortung für die Mediennutzung der jüngeren genommen werden können. Auf dieser Basis verhindert B, dass sein Freund, der zu Besuch ist, der kleinen C ein Video zeigt, das sie vermutlich emotional überfordern würde. Weitere hinter der Medienthematik liegende Themen können in der systemischen Beratung herausgearbeitet und bearbeitet werden. Die Erwachsenen sind sich auch am Ende der Beratungsphase nicht in allen Einschätzungen und Umgangsweisen einig. Sie sind jedoch im Gespräch miteinander und können gemeinsame Werte entdecken, was es ihnen leichter macht, abweichende Regeln und Umgangsweisen mitzutragen. Die veränderte Kommunikation rund um die Medienthematik wirkt auch im Anschluss an die Beratung nach. Zur Abwehr von digitalen Gefahren war es bedeut-
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sam, dass die Familie durch diverse Übungen, z. B. »Abenteuerreise durchs Netz« (zu finden ebenfalls im Onlinematerial) gemeinsam die Gefahren und Schutzmöglichkeiten im Internet erkundet hat. So konnten erste Anzeichen von Cybermobbing bei A erkannt und besprochen werden. Sie war den virtuellen Angriffen nicht allein ausgeliefert und es konnte gemeinsam aktiv dagegen vorgegangen werden. Bei E konnte frühzeitig sexualisierte Gewalt verhindert werden, da allen Familienmitgliedern Wissen zum Thema »Grooming« vorlag, ein Austausch darüber stattfand und so vereitelt wurde, dass die Kontaktanbahnung durch als Kinder getarnte Erwachsene realisiert werden konnte. Insgesamt gelang es, in der Familie ein Klima und eine Kommunikationskultur zu schaffen, in der Medien nicht nur konsumiert, sondern auch konstruktiv-kritisch besprochen und zu aktiven Gestaltungsmöglichkeiten genutzt werden konnten. Das kooperative Verhalten zeigte sich anschließend auch vermehrt in anderen Themenbereichen der Familie.
Modell: Zirkuläre Reduktion von Konstruktdimensionen Das Fallbeispiel zeigt, dass es beim Umgang mit digitalen Medien leicht zu Kämpfen mit eskalierenden Tendenzen kommen kann. Häufig entsteht dann ein Teufelskreis, bis hin zu einer krisenhaften Engführung mit starken Affekten. Solche eindimensionalen Fokussierungen sind auch jenseits der Medienthematik in der beraterisch-therapeutischen Praxis nicht selten in Krisen zu erleben (Hofer-Moser, Hintenberger, Schwarzmann, De Dominicis u. Brunner, 2020). In solchen Fällen wird dann etwa nur noch um Nutzungszeiten gestritten, während andere wichtige Aspekte der Mediennutzung in der Kommunikation nicht mehr thematisiert oder kategorisch abgewertet werden. Solche Reduktionen bedeutsamer Aspekte sind typisch für Kampf- und Krisensituationen. Die Chancen von Medien können aber nur dann entwicklungsförderlich entfaltet werden, wenn die zentralen Dimensionen von Medien in ihren größeren Zusammenhängen im Spiel sind. Beim Umgang mit und der Reflexion neuer Kulturtechniken ist es bedeutsam, den Horizont zu erweitern und mögliche Reduktionen auf einzelne Dimensionen zu identifizieren. In Bezug auf Medien werden mindestens nachfolgende Dimensionen genutzt, die bedeutsam für die damit einhergehenden Konstrukte sind. Dies kann am dargestellten Fallbeispiel veranschaulicht werden: Konstruktdimensionen von Medien: Ȥ sinnliche Erfahrung, Ȥ emotionale Resonanz, Ȥ Funktionen/Funktionalitäten, Ȥ Gefahrenpotenzial,
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Ȥ Regelungsbedarf, Ȥ Werthaltungen, Ȥ Auswirkung auf Beziehungen. Die Kommunikation zwischen Jugendlichen im Alltag über Medien, wie etwa Smartphones, unterscheidet sich von der einer Erziehungsperson mit einem oder einer Jugendlichen zur gleichen Thematik. Unter den Jugendlichen ist etwa bedeutsam, wie die Optik und Aktualität des Gerätes sind, wie es sich anfühlt (sinnliche Erfahrung) und welche Funktionalitäten das Gerät besitzt. Die Nutzung wird oft emotional als positive Qualität beschrieben, die Spaß, Freude, Befriedigung und Ansehen bringt. In der emotional aufgeladenen Kommunikation zwischen Erziehenden und Jugendlichen im Ringen um Regeln, Absprachen und Bedürfnisse steht demgegenüber die Kommunikation mit Ärger und Frustrationserleben im Vordergrund. Es werden zumeist vor allem Gefahren und notwendige Begrenzungen aus Sicht der Erziehenden thematisiert, die wiederum zu Unverständnis und Widerstand bei den Kindern und Jugendlichen führen. Die dahinterliegenden Werthaltungen, Sorgen und Bedürfnisse sowie mögliche Auswirkungen auf die Beziehungen werden weder unter den Jugendlichen noch zwischen Erziehendem und Jugendlichem thematisiert. Durch diese Reduktion der Konstruktdimensionen kann es leicht zu kommunikativen Eskalationen (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969) kommen, bei denen Jugendliche untereinander zu symmetrischen Eskalationen neigen (Überbetonung des Positiven) und es in der Interaktion zwischen Erziehungspersonen und Jugendlichen primär zu komplementären Eskalationen (Überbetonung der Gefahren) kommen kann (vgl. Abbildung 2). Im vorgestellten Fallbeispiel werden, unter anderem durch die Übung »Me dienkreise« (Erstveröffentlichung: Wenzel, 2018), alle hier vorgestellten Kon struktdimensionen ins Spiel gebracht. Indem nicht ausschließlich auf einzelne Dimensionen fokussiert wird, ist es möglich, aus kommunikativen Kreisläufen herauszufinden. So erzählen beispielsweise nicht nur die Jugendlichen in einer solchen Übung, warum es ihnen schwerfällt, das Smartphone aus der Hand zu legen. Auch die Eltern erzählen vielleicht, wie der verliebte Papa der Mama eine Musikkassette aus dem Radio aufgenommen hat und sie gemeinsam die Musik gehört haben. Die Nutzung der in den Eskalationen fehlenden Dimensionen »Werthaltungen« und »Auswirkung auf Beziehungen« ermöglicht im Rahmen der Übung eine andere emotionale Qualität, die ein kooperatives Miteinander wahrscheinlicher macht. Über Jugendliche wird heute bisweilen gesagt, sie würden sich mehr für Medien interessieren als für Freunde. Empirische Befunde zeichnen demgegen-
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JUGENDLICHE A: Konstruktdimensionen zum Smartphone – Sinnliche Erfahrung – Emotionale Resonanz – Funktionen/Funktionalitäten – Gefahrenpotenzial – Regelungsbedarf – Werthaltungen – Auswirkung auf Beziehungen
JUGENDLICHE A: Konstruktdimensionen zum Smartphone – Sinnliche Erfahrung – Emotionale Resonanz – Funktionen/Funktionalitäten – Gefahrenpotenzial – Regelungsbedarf – Werthaltungen – Auswirkung auf Beziehungen
ERZIEHENDE: Konstruktdimensionen zum Smartphone – Sinnliche Erfahrung – Emotionale Resonanz – Funktionen/Funktionalitäten – Gefahrenpotenzial – Regelungsbedarf – Werthaltungen – Auswirkung auf Beziehungen
JUGENDLICHE: Konstruktdimensionen zum Smartphone – Sinnliche Erfahrung – Emotionale Resonanz – Funktionen/Funktionalitäten – Gefahrenpotenzial – Regelungsbedarf – Werthaltungen – Auswirkung auf Beziehungen
Abbildung 2: Zirkuläre Reduktion von Konstruktdimensionen
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über ein anderes Bild. So weist die JIM-Studie 2021 auf, dass Freunde bei 12- bis 19-Jährigen nach wie vor höchste Bedeutung haben. Treffen mit Freunden ist demnach weiterhin auf Platz eins der Freizeitaktivitäten angesiedelt (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2021). Die Einschätzung, Jugendliche würden sich mehr für Medien statt für Gleichaltrige interessieren, ergibt sich, wenn man die Mediennutzung nicht in den dazugehörigen Kontext stellt. Zwar nutzt die heutige Jugend mehr Medien als in früheren Zeiten, da diese verbreiteter und mobil nutzbar sind. Vor allem sind Medien heute aber Kommunikationstools, was bei früherer Medientechnik weniger der Fall war. So wird »Social Media« in der heutigen Jugendkultur zumeist täglich dazu verwendet, miteinander zu kommunizieren. Deshalb ist es wichtig, die hinter dem Phänomen »mediale Kommunikation« liegenden Werte, wie »Freundschaft« und »Gemeinschaft«, besprechbar zu machen. Auch das Schauen von Filmen und Serien über Bezahlkanäle oder Mediatheken sowie das Streamen und Teilen von Musik, Musikvideos und Podcasts ist heute bei den meisten zu einem festen Bestandteil der Freizeitbeschäftigung und des sozialen Austausches geworden. Insofern ist Jugend heute anders zu denken als noch vor wenigen Jahren, was auch mit einem Bedeutungswandel von Medien einhergeht. Wichtig ist hierbei, das Lebensalter, den Entwicklungsstand sowie den Kontext von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Mediennutzung im Blick zu behalten und mit ihnen im Gespräch darüber zu bleiben. Technische und rechtliche Grundfragen In digitalen Lebenswelten entscheiden die genutzte Technik und das Nutzerverhalten darüber, ob virtuelle Räume tatsächlich geschützt sind oder nicht. Vor dem Hintergrund der medialen Entwicklungen gestalten auf Bundes- und Länderebene auch Gesetzgeber, Regierungen und Rechtsprechung seit vielen Jahren den rechtlichen Rahmen in Bezug auf die technischen Entwicklungen weiter. Den Gefahren entgegenwirkt werden kann dabei nur, wenn die grundlegenden technischen und rechtlichen Gegebenheiten präsent sind. Einen Überblick zu Technikaspekten gibt Tabelle 1.
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Tabelle 1: Technische Aspekte des Kinder- und Jugendschutzes Grundlegende technische Dimensionen Zugangsrechner: Client
Geräte, mit denen die Nutzer ins Netz gelangen (PC, Laptop, Smartphone u. a.). Dabei kann auf jeden Client aber auch von außen zugegriffen werden, wenn keine technischen Schutzmaßnahmen erfolgen: Internetdatentransfer ist immer in beide Richtungen möglich.
Internetrechner: Server
Geräte, die im Netz zur Verfügung stehen und auf die per Internetverbindung zugegriffen werden kann (z. B. Mailserver). Dort bereitgestellte Daten (z. B. in einer Cloud/im Intranet) müssen aktiv vor Zugriff geschützt werden, wenn sie nicht öffentlich zugänglich sein sollen.
Vernetzter Datentransfer
Datenaustausch, der mittels Internettechnologie realisiert wird. Da die Datenübertragung standardmäßig nicht geschützt wird (z. B. unverschlüsselte E-Mails), haben unkalkulierbar viele Internetnutzende die Möglichkeit, den Datentransfer abzufangen, zu verändern, zu speichern oder an Dritte zu übermitteln. Verschlüsselungstechnik beim Transfer (z. B.: SSL-Verschlüsselung per VPN-Tunnel) kann dem wirksam entgegenwirken.
Medien von Kindern und Jugendlichen Messenger
Softwareprogramm/App, mit der kommuniziert werden kann (z. B WhatsApp, Signal, Threema).
Blogs
Interaktive Seiten, die multimediale Inhalte bereitstellen.
Onlinespieleplattformen
Internetplattformen, mittels derer interaktiv Spiele getätigt wer den können, wobei es synchrone und asynchrone Spiele gibt.
Social-Media- Plattformen
Internetportale mit komplexen Kommunikationsmöglichkeiten (z. B. TikTok, Facebook).
Steuerungs- und Kontrollaspekte Nutzungskontrolle
Haben Kinder eigene Geräte mit Zugang zum Internet, so ist die Frage, wie das von den Erwachsenen kontrolliert werden kann. Kontrollaspekte können die Nutzungsdauer betreffen, aber auch die Frage, was mit dem Gerät wann gemacht werden darf und auf welche Internetseiten von wem zugegriffen werden darf.
Zugangskontrolle
Bei Geräten mit sensiblen Inhalten oder Übertragungsmöglichkeiten sollte festgelegt werden, wer darauf Zugriff erhält und wer nicht. Bei Geräten mit Video- und Audioübertragung in Kinderzimmern sollte sichergestellt sein, dass keine Unbefugten von außen auf das Gerät zugreifen können.
Übertragungskontrolle
Beim Transfer sensibler Inhalte durch das Internet sollten sichere Übertragungsmöglichkeiten genutzt werden, das heißt, es sollte Verschlüsselungstechnik nach dem aktuellen Stand der Technik verwendet werden.
Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 1)
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Fernsteuerungsprogramme/Apps Malware/Trojaner
Mittels E-Mails oder dem Installieren schadhafter Software (Malware) können Spionageprogramme (Trojaner) unbemerkt auf Rechnern installiert werden. Damit kann nicht nur unbemerkt die Kommunikation im Raum (z. B. Kinderzimmer) abgehört, sondern der Rechner komplett ferngesteuert werden.
Kinderschutzsoftware
Überwachungs- und Steuerungssoftware gibt es auch für den Kinderschutz. Damit können etwa Internetnutzungszeiten von Kindern/Jugendlichen (über WLAN) gesteuert werden oder auch der Zugriff auf Internetseiten gefiltert werden. Whitelists sind eher für kleinere Kinder geeignet. Diese können dann nur auf Seiten zugreifen, die vorher als unbedenklich in der Liste aufgenommen wurden. Blacklists sind eher für ältere Kinder geeignet, die mehr Möglichkeiten bekommen, da hier nur als bedenklich eingestufte Seiten gesperrt werden und sonst das Internet genutzt werden kann.
Passwörter
Grenzen zu ziehen und Schutzräume zu ermöglichen geschieht bei technischen Medien mittels Passwörtern und Benutzernamen. Sie fungieren wie Schlüssel und Schlösser. Nur wer sichere Passwörter erstellen und sicher verwahren kann, schützt sich in virtuellen Räumen.
Die Tabelle macht deutlich, dass Kinder- und Jugendschutz im heutigen Medienzeitalter ohne ein Mindestmaß an technischem Grundwissen nicht mehr zu gewährleisten ist. Die Gefahren in den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen sind heute umfassender und erscheinen meist in anderer Gestalt als noch vor wenigen Jahren. Eltern und Erziehende sind häufig jedoch mit diesen technischen Aspekten überfordert. Sie sind zumeist selbst anders aufgewachsen, und wenn kein eigenes Interesse zu diesem Thema besteht, auch nicht ausreichend informiert. Hinzu kommt, dass die Fachkräfte, die die Erziehenden beraten sollen, nicht selten mit der Thematik noch überforderter sind als diejenigen, die beraten werden sollen. Bei den Erwachsenen, die die jungen Menschen durch die Gefahrensituationen führen sollen, kann man somit in Bezug auf die neuen medialen Kulturtechniken vielfach davon ausgehen, dass sie damit selbst nicht hinreichend vertraut sind (Burgfeld-Meise u. Meister, 2020). Das ist eine Situation, als würde Kindern das Lesen und Schreiben von funktionalen Analphabeten beigebracht. Das zeigt, dass es bei digitalem Kinder- und Jugendschutz im Kern um Sensibilisierung und Grundbildung geht, die sowohl die Minderjährigen als auch die Erwachsenen betreffen. Programme der Europäischen Union für mehr Sicherheit im Internet, wie das Digital Europe Programm (DIGITAL) mit dem Portal www.klicksafe.de, sind wich-
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tige Bausteine für eine verbesserte Grundbildung, reichen aber im Feld der Kinderund Jugendhilfe nicht aus. Schließlich gibt es bei sozialstaatlichen Dienstleistungen noch darüber hinausgehende Anforderungen. Das bedeutet: Die Privatsphäre der Familien muss auch in den Organisationen und der Internetkommunikation zwischen den Fachkräften geschützt werden. Datenschutz ist schließlich eine grundlegende Facette des Kinder- und Jugendschutzes. Es gibt jedoch noch nicht überall eine technische Infrastruktur zwischen den beteiligten Stellen wie freien Trägern und Jugendamt, um Daten sicher im Internet auszutauschen. Dabei ist manchen Fachkräften nicht bewusst, dass es nicht nur ein Datenschutzverstoß ist, personenbezogene Daten und Geheimnisse unverschlüsselt über das Internet auszutauschen, sondern dass es auch eine strafbare Handlung nach § 203 Strafgesetzbuch (StGB) darstellen kann. Fachkräfte sind dabei nicht nur rechtlich verpflichtet, Datenschutz und Schweigepflicht zu realisieren, Vertraulichkeit stellt bereits für sich einen zentralen fachlichen Grundsatz dar. Diesen Schutz im Internet gilt es also nicht nur mit Blick auf die Familien und die Gefahren durch Dritte sicherzustellen, sondern auch zwischen den Fachkräften zu gewährleisten. Um sich in einem sozialen Rechtsstaat sicher bewegen zu können, bedarf es grundlegender rechtlicher Kenntnisse. Die Digitalisierung bedeutet aber, dass althergebrachtes Recht nicht eins zu eins in den neuen Handlungsfeldern angewendet werden kann. So ist der Gesetzgeber in vielen Rechtsbereichen dabei, die Rechtslage an die digitalen Gegebenheiten anzupassen und unerwünschten Wirkungen und Rechtsunsicherheiten entgegenzuwirken. Erziehende wie Fachkräfte kommen jedoch auch hier oftmals an ihre Grenzen. War früher etwa im Feld der Sozialen Arbeit klar, was der Taschengeldparagraf (§ 110 des Bürgerlichen Gesetzbuches) für Kinder und Jugendliche im jeweiligen Alter bedeutet, so gilt das nicht mehr in Bezug auf die Gesetzeslage im Internet. Die gesetzlichen Regelungen für E-Commerce bei Minderjährigen, aber auch die Frage, worin diese datenschutzrechtlich wirksam einwilligen können, überfordert dabei schon viele Fachkräfte. Folgend bleiben Betroffene mit ihren Problemen allein, wenn sie sich im Härtefall keinen Anwalt leisten können. Das für den Kinder- und Jugendschutz bedeutsame Strafrecht gewinnt durch die Digitalisierung der Lebenswelten neue Bedeutung. Einerseits kann es zur Gefahrenabwehr genutzt werden, andererseits können durch Kriminalisierung jugendlicher Sexualität und damit einhergehende Stigmatisierungseffekte auch weitere Risiken hinzukommen (Klose, 2009). Als Beispiel kann das unter Jugendlichen verbreitete Sexting (Verschicken und Tauschen von eigenen Nacktaufnahmen) genannt werden (Angelides, 2013). Die unterschiedlichen Formen von Sexting sind seit vielen Jahren weit verbreitet, das beschreibt Döring bereits 2012 und stellt dabei auch die Verbreitung, Funktionen und Folgen dar. Die
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in diesem Zusammenhang in Deutschland bedeutsamen Strafrechtsnormen entstammen in ihrem Ursprung aus dem Reichsstrafgesetzbuch des 19. Jahrhunderts. Sie sind noch nicht auf den Stand heutiger Sexualforschung gebracht oder werden über EU-Rechtsreformen tendenziell noch verschärft (Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, 2008), was zu problematischen Kriminalisierungen Jugendlicher führt. Der rechtliche Rahmen rund um den digitalen Kinder- und Jugendschutz hat sich darüber hinaus in den vergangenen Jahren verändert. Die zuständigen Bundesländer regeln mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) die inhaltsbezogenen Fragen in Internet und Rundfunk. Danach ist in Deutschland für die Aufsicht von privatem Rundfunk und der Inhalte der Telemedien die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) zuständig. An die Kommission ist die Einrichtung jugendschutz.net (§ 18 JMStV) organisatorisch angegliedert. Sie unterstützt die KJM bei ihren Aufgaben, indem sie Angebote auf Jugendmedienschutzverstöße (etwa Verbreitungsverbote und Zugriffssteuerung durch Altersverifikationssysteme) hin kontrolliert. Bei Bedarf meldet »jungedschutz. net« Fälle an die KJM, die Verfahren einleiten kann. Auf Bundesebene regelt das Jugendschutzgesetz (JuSchG) die Anforderungen und Pflichten der Diensteanbieter. Konkret geht es etwa um Vorschriften zur Alterskennzeichnung verschiedenartiger Medien. Die Aufgaben der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) (früher: Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien) werden hier beschrieben. »jugendschutz.net« wird auch im Jugendschutzgesetz eigens genannt: »Das gemeinsame Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den Jugendmedienschutz im Internet ›jugendschutz.net‹ nimmt erste Einschätzungen der von den Diensteanbietern getroffenen Vorsorgemaßnahmen vor. ›jugendschutz.net‹ unterrichtet die Bundeszentrale über seine ersten Einschätzungen nach Satz 2. Im Rahmen der Prüfung nach Satz 1 berücksichtigt die Bundeszentrale die Stellungnahme der zentralen Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz« (§ 24b JuSchG). Damit nimmt das Kompetenzzentrum »jugendschutz.net« in der Praxis des Jugendmedienschutzes zentrale staatliche Aufgaben von Bund und Ländern wahr, was sich hinter der Bezeichnung »jugendschutz.net« nicht unbedingt vermuten lässt. So ist kaum bekannt, dass an diese Fachstelle mögliche Verstöße gegen Jugendschutzbestimmungen durch Diensteanbieter gemeldet werden können, die diese dann verbindlich prüft und bei Bedarf Abhilfemaßnahmen einleitet. Für die Arbeit im Kinder- und Jugendschutz wird somit deutlich, dass Fachkräfte zunächst einen Überblick benötigen, was sich durch die Digitalisierung in
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den Lebenswelten ändert. Darüber hinaus bedarf es, wie dargelegt, auch eines Grundverständnisses der technischen und rechtlichen Entwicklungen, um den veränderten Schutzbedarf einschätzen zu können. Die konkreten neuen Gefahren und die relevanten Akteure in ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten (die es zu kennen gilt, um kooperativen Kinder- und Jugendschutz überhaupt ermöglichen zu können) werden in Teil 2 dieses Beitrags dargelegt (Kapitel 8.1). In den Onlinematerialien werden darüber hinaus konkrete systemische Ansätze, Übungen und Interventionen vorgestellt. Diese helfen in der Praxis, den neuen Gefahren angemessen zu begegnen und die beteiligten Akteure kooperativ einzubeziehen. Literatur Angelides, S. (2013). Technology, hormones, and stupidity. The affective politics of teenage sexting. Sexualities, 16, 665–689. Zugriff am 10.02.2022 unter http://dx.doi.org/10.1177/1363460713487289. Beisch, N., Koch, W. (2021). 25 Jahre ARD/ZDF-Onlinestudie: Unterwegsnutzung steigt wieder und Streaming/Mediatheken sind weiterhin Treiber des medialen Internets. Media Perspektiven 51 (10), 486–503. Zugriff am 10.02.2022 unter https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/ files/2021/Beisch_Koch.pdf. Burgfeld-Meise, B., Meister, D. M. (2020). Generationsspezifische Medienzugänge. In T. Fuchs, A. Schierbaum, A. Berg (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel (S. 329–343). Wiesbaden: Springer VS. Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (2008). Stellungnahme zur geplanten Sexualstrafrechtsreform. Zugriff am 10.02.2022 unter https://dgfs.info/wp-content/uploads/2019/04/ SN-2008-Sexualstrafrechtsreform.pdf. DHS, FV-Medienabhängigkeit (2020). Problematisches Computerspielen und Computerspielstörung (Gaming Disorder). Bestandsaufnahme und Positionierung in den Bereichen Prävention und Frühintervention, Beratung, Behandlung und Rehabilitation sowie Forschung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) und des Fachverbands Medienabhängigkeit e. V. (FV-Medienabhängigkeit). Zugriff am 10.02.2022 unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/news/Ergebnispapier_AG_Problematisches_Computerspielen_und_ Gaming_Disorder.pdf. Döring, N. (2012). Erotischer Fotoaustausch unter Jugendlichen. Verbreitung, Funktionen und Folgen des Sexting. Zeitschrift für Sexualforschung, 24 (1), 4–25. Giertz, M., Hautz, A., Link, A., Wahl, J. (2019). Sexualisierte Gewalt online. Kinder und Jugendliche besser vor Übergriffen und Missbrauch schützen. Zugriff am 10.02.2022 unter https:// www.jugendschutz.net/fileadmin/daten/publikationen/lageberichte/bericht_2019_sexualisierte_ gewalt_online.pdf. Hofer-Moser, O., Hintenberger G., Schwarzmann, M., De Dominicis, R., Brunner, F. (2020). Krisenintervention kompakt. Theoretische Modelle, praxisbezogene Konzepte und konkrete Interventionsstrategien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Klose, A. (2009). Soziales Handeln zwischen Kriminalisierung und Prävention – Streetwork/ Mobile Jugendarbeit »auf schwerer See«? In F. Dölker, S. Gillich (Hrsg.), Streetwork im Widerspruch. Handeln im Spannungsfeld von Kriminalisierung und Prävention (S. 24–38). Gründau- Rothenbergen: TRIGA.
Kooperation und Innovation im Studium: Kinderschutz in Studiengängen Sozialer Arbeit
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3.5 Kooperation und Innovation im Studium: Kinderschutz in Studiengängen Sozialer Arbeit Michael Böwer, Regina Rätz1
Kein Thema hat das Hilfesystem in den letzten zwanzig Jahren derart geprägt wie der Kinderschutz. Mediale Berichterstattung und ansatzweise Aufarbeitung führten zu neuen rechtlichen Regelungen, ein »Nationales Zentrum für Frühe Hilfen (NZFH)« wurde etabliert. Forscher:innen betraten ein Feld, zu dem im deutschsprachigen Raum kaum vertieftes Wissen vorlag. Soziale Innovationen sollten helfen, das in sozialen Systemen stets bestehende Risiko (Luhmann, 1991) einer Kindeswohlgefährdung interdisziplinär zu bewältigen: Falleingangs- und Kinderschutzdienste, interdisziplinäre Kinderschutzteams in Kliniken, S3-Leitlinien, Gefährdungseinschätzungs- und Kinderschutzbögen, Schutzpläne, Falllabore, Fallwerkstätten, Standardverfahren etc. (Böwer, 2012; Böwer u. Kotthaus, 2018; Böwer, 2021). Vielerorts kann man sich heute als »insoweit erfahrene Fachkraft (InsoFa)« qualifizieren bzw. zertifizieren lassen – auch ohne längere berufliche Erfahrung zu haben, was gleichwohl nicht nur in Landesjugendämtern als zentrale Anforderung eingeschätzt wird (LVR u. LWL, 2014).
1 Dieser Beitrag stellt eine für diese Publikation umfänglich überarbeitete und ergänzte Fassung des in Heft 3/4 des Sozialmagazins (46. Jg.) erschienenen Beitrags der Autorin und des Autors dar.
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Michael Böwer, Regina Rätz
Unter komplexen Anforderungen der Praxis, die – wie in diesem Buch be schrieben – im Kinderschutz stetig wachsen, stellt sich zugleich auch die Frage: Was leistet ein Studium Sozialer Arbeit, das dem Anspruch unterliegt, »berufsqualifizierend« zu sein? Hat umfängliche Forschung, wie sie Förderlinien spiegeln (BMBF, 2022), zu Effekten in der Lehre geführt oder haben die Hochschulen, schlafenden Riesen oder Dornröschen gleich, kinderschutzsensibilisierende Ausbildung vernachlässigt? Der »Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich« (2011) sieht gravierende Defizite in der vorhandenen Expertise und der Beschäftigung mit (sexualisierter) Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Wissenschaftssystem, was das NZFH (2018) wie auch das BMBF (2021) und der Nationale Rat (2021, 2022) bestätigen. Wie Oelerich und Kunhenn (2015) zeigen konnten, sind Studienabschlüsse heute hoch different, und längst nicht mehr alle Studiengänge Sozialer Arbeit sind generalistisch angelegt. So lassen sich durchaus vielfältige Aktivitäten an Hochschulen finden: Neben Weiterbildungen zur »InsoFa« an mehreren Hochschulen im Südwesten Deutschlands gibt es nach außen geöffnete Ringvorlesungen mit Teilnahmetestat für bewusst alle Studierenden (FH Frankfurt a. M.), fallreflektierende Seminare unter Einbezug von Jugendamtteams (Uni Vechta) bis hin zum Pflichtmodul im feldspezifischen Bachelorstudiengang (FH Landshut). Duale Studiengänge (etwa in Bayern und Baden-Württemberg) weisen Kooperationen mit Trägern im Kinderschutzfeld aus. Einige Hochschulen und Träger (z. B. in NRW) bieten Trainees für Berufseinsteiger:innen an. Denn schließlich wird Professionalität im lebenslangen Lernen beruflicher Sozialisation im Studium und danach gewonnen (Becker-Lenz, Busse, Ehlert u. Müller-Hermann, 2012, 2013). Darauf basieren zwei Modelle, die wir als Akteur:innen des Feldes im Folgenden näher vorstellen wollen. »Kompetent im Kinderschutz« im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit Eine traditionell etablierte Ausgangslage von Hochschulen für angewandte Wissenschaften ist es, dass Lehrbeauftragte aus freien und öffentlichen Trägern »die Praxis ins Studium bringen«. Dies steht einerseits zu Recht für Praxisnähe der akademischen Ausbildung und für die Vernetzung von Praxis und Hochschule im Sinne von Transfer und anwendungsorientierter Forschung – andererseits repräsentiert dies auch eine Phase des 20. Jahrhunderts, in der es kaum Sozialarbeiter:innen/Sozialpädagog:innen mit Promotion und Professur gab.
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An der Paderborner Abteilung der Katholischen Hochschule Nordrhein- Westfalen (katho) bot der Kreisjugendamtsleiter im Lehrauftrag über viele Jahre ein »Feldprojekt Hilfen zur Erziehung« und eine »Vertiefung zur sozialpädagogischen Fallarbeit« an – neben dem vom professoralen Juristen gelehrten Kinder-, Jugendhilfe- und Familienrecht. Primär lehrende Sozialarbeiter:innen unterrichteten (wie vielerorts bis heute) unter Anschluss an sozialarbeitswissenschaftliche Theorien die klassische Trias von Einzelfallhilfe/Fallverstehen, Gemeinwesenarbeit und (auch durch Jugendarbeit und Kulturpädagogik mitvertreten) Gruppenarbeit. Mit der neu geschaffenen Professur für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe und Hilfen zur Erziehung, übernommen durch den Autor dieses Beitrags, und der wechselseitig vereinbarten fachlichen Kooperation ergänzte der Amtsleiter das nun gemeinsame Lehrangebot mit einem Seminar zur Aufgabe des Allgemeinen Sozialen Dienstes von der Qualitätsentwicklung bis hin zur Gefährdungseinschätzung. Ein 2017 gemeinsam mit der Praxis erarbeitetes und 2018–2020 im Pilotdurchgang erprobtes »Paderborner Modell« setzte dann einen gänzlich neuen Fokus – sowohl in der Kooperation von Praxis und Hochschule als auch in der interdisziplinären Anlage, die ein moderner dialogischer Kinderschutz (AWMF, 2022; Gedik u. Wolff, 2021; Böwer u. Kotthaus, 2018; Rätz u. Wolff, 2018) erfordert. Dahinter steht eine gemeinsam mit Praxis geplante und getragene interdisziplinäre Seminarreihe im Umfang von 150 Unterrichtseinheiten mit dem Ziel, angehende Absolvent:innen des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit systematisch und gemeinsam grundlegend auf die Aufgaben des Kinderschutzes vorzubereiten und im Zuge einer Kopplung ohnehin in Modulen zu erbringender Lehre vom Nebeneinander juristischer und sozialpädagogischer Lehrveranstaltungen zu einer für ein gelingendes multiperspektivisches Fallverstehen hilfreichen (wenn nicht gar: nötigen) interdisziplinären und dialogischen Betrachtung von Kinderschutz zu kommen. Im juristischen Seminar (angesiedelt im vierten Studiensemester) wird aufbauend auf die Modulprüfung zu Kinder-, Jugend- und Familienrecht des dritten Semesters die Rechtslage des Kinderschutzes in Kita, Schule, Jugendarbeit, Gesundheitswesen, Polizei, Justiz und Jugendamt vertiefend erörtert und neben der Frage der Garantenpflicht auch auf Datenschutzaspekte näher eingegangen. Das im Modul »Theorien Sozialer Arbeit« (drittes und viertes Semester) verortete und für dieselben Viertsemester wie im juristischen Kurs parallel angebotene Seminar »Theorien Sozialer Arbeit und Fallverstehen im Kinderschutz« erarbeitet unter Bezug auf Staub-Bernasconi, Thiersch, Miller und Winkler Erklärungsansätze für Kinderschutzkontexte und stellt einen Bezug zu kindlichen und sozialen Grundbedürfnissen (Arlt; Brazelton u. Greenspan),
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Viktimisierung (Finkelhor) und High Reliability Organizing (Weick u. Sutcliffe) her. Es baut auf den methodenintegrativen Ansatz der Kooperativen Prozessgestaltung (Hochuli-Freund u. Stotz) unter Einschluss des multiperspektivischen und dialogischen Fallverstehens (Müller; Heiner u. Schrapper) auf, der als Orientierungsrahmen für die Fallbearbeitung dient. Für das zum Ende des vierten und im fünften Semester laufende Praxissemester von mindestens hundert Tagen wird eine Beobachtungsaufgabe gestellt. Diese wird im Anschluss des sechsten Semesters im Seminar zu »Interdisziplinären Zugängen und Gefährdungseinschätzung« durch eine Sozialpädagogin auf wissenschaftlicher Qualifizierungsstelle (BMBF-Programm FH-Personal) mit langjähriger Leitungserfahrung im kooperierenden örtlichen Kreisjugendamt aufgegriffen. Durch workshopförmige Einbindung des Chefarztes und Pädia ters der lokalen Frauen- und Kinderklinik St. Louise werden medizinische bzw. durch Vertreterinnen der Frauenberatungsstelle Lilith e. V. psychologische Aspekte des Kinderschutzes integriert. Neben dem abgestimmten Curriculum liegt die Besonderheit des Modells darin, dass fachlich rezipierte reale Kinderschutzfälle aus der jeweiligen Perspektive der drei Seminare in Kasuistik, Falllabor bzw. Rollenspiel bearbeitet werden. Bewusst wird der Blick über den lokalen Tellerrand gerichtet: So nehmen die Studierenden an der von der BAG der Kinderschutz-Zentren e. V. veranstalteten mehrtägigen Sommerhochschule Kinderschutz und an der katho-eigenen abteilungsübergreifenden digitalen Summerschool teil, die von Lehrenden unterschiedlicher Disziplinen gestaltet wird. Den Abschluss des Modells bilden ein gemeinsames Kolloquium und die Zertifikatsverleihung durch Hochschule und Jugendamt. Die Entscheidung für eine seminaristische und so auf 35 Studierende teilnehmerbegrenzte Veranstaltungsform bietet den Vorteil eines engeren Dialogs, der hilft, Alltagstheorien, Vorannahmen und blinde Flecke zu reflektieren, die sonst allzu leicht raumgreifen, wie wir aus gescheiterten Kinderschutzverläufen wissen (Wolff et al., 2013; Böwer, 2012). Das Modell ergänzt und vertieft die Vorlesungen für die Gesamtkohorte (rund 180 Studierende) und liefert einen Grundstock an Wissen, Können und Haltung, der durch begleitende Supervision des Praxissemesters bzw. des dualen Studiums ergänzt wird. Dieser Grundstock soll, so unsere Annahme, den Berufseinstieg in den Allgemeinen Sozialen Dienst der Jugendämter, aber auch in andere angrenzende Felder der Kinder- und Jugendhilfe erleichtern – ohne freilich eine systematische längerfristige Einarbeitung und eine dezidierte Weiterbildung im Kinderschutz auf dem Weg ersetzen zu können, die nötig ist und hilft, eine insoweit erfahrende Fachkraft zu werden.
Kooperation und Innovation im Studium: Kinderschutz in Studiengängen Sozialer Arbeit
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Masterstudiengang »Kinderschutz – Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz« als Studienformat der Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin Die Initialzündung für die Entwicklung eines weiterbildenden berufsqualifizierenden Masterstudiengangs mit dem Schwerpunkt Frühe Hilfen und Kinderschutz gaben die Ergebnisse des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten und an der ASH Berlin angesiedelten Bundesmodellprojekts »Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz« unter Leitung von Prof. Dr. Reinhart Wolff (Wolff et al., 2013). Diese verwiesen auf die Notwendigkeit einer fundierten fachlichen Qualifizierung auf Masterniveau in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz, welche die organisationalen Bedingungen des Arbeitsfeldes und deren Weiterentwicklung systematisch mit einbezieht. Anregungen der Bundesregierung, des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und der kommunalen Spitzen- und Wohlfahrtsverbände für einen nachhaltigen Kinderschutz wurden bei der Entwicklung des Studiengangs aufgegriffen. Im April 2015 startete der Masterstudiengang erstmalig. Leitungs- und Fachkräften, die in ihrem Aufgabenbereich mit Kindern, Jugendlichen und Familien tätig sind, wurde damit ein disziplinübergreifendes sozial- und organisationswissenschaftliches Weiterbildungsstudium ermöglicht.2 Im Blick sind dabei, ausgehend von den Erfordernissen der Kooperation und Vernetzung im Arbeitsfeld, Fachkräfte aus den Bereichen Soziale Arbeit, Bildung, Erziehung und Gesundheit. Inhaltliche Schwerpunkte sind sowohl eine fundierte Qualifizierung zu fachlichen Themen der Frühen Hilfen und des Kinderschutzes als auch zur Qualitätsentwicklung in Organisationen. Das Masterstudium dauert insgesamt drei Jahre. Am Ende werden der akademische Abschluss »Master of Arts« sowie das Zertifikat »Insoweit erfahrene Fachkraft – Fachkraft im Kinderschutz« verliehen. Der Masterabschluss befähigt zur Übernahme von Leitungstätigkeiten und ist formale Voraussetzung für eine Beschäftigung im höheren Dienst oder für die Zulassung zur Promotion. Der Masterstudiengang basiert auf drei wesentlichen Elementen: 1. der Kooperation mit der Praxis, die über das eigens gebildete Netzwerk »Qualitätsentwicklung in Wissenschaft und Praxis« (Netzwerk QE-WiPrax) in gemeinsamer Curriculumsentwicklung und in Form von Qualitätsent 2 Für diesen Text wurden Materialien aus dem Studiengang wie z. B. aus dem Modulhandbuch, aus Infoflyern und Berichten verwendet, die kollegial im Zusammenwirken von Lehrenden, Studierenden und der Studiengangskoordination erstellt wurden (vgl. näher: Website des Studiengangs).
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wicklungs- und Praxisforschungsprojekten stattfindet. Darüber hinaus werden gemeinsame Fachtagungen durchgeführt – etwa zur »sozialpädagogischen Gefährdungseinschätzung«; 2. dem Konzept der »Dialogischen Qualitätsentwicklung«, wie es der »Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung e. V.« über das letzte Jahrzehnt hinweg in vielfältigen Kooperationsprojekten mit Kommunen entwickelt und erprobt hat. Das Konzept der »Dialogischen Qualitätsentwicklung« verbindet demokratietheoretische pädagogische Ansätze, z. B. von wechselseitigen kreativen Lernprozessen durch Erfahrung und Denken (Dewey, 1993), mit dialogischen Lern- und Erkenntnisformen in zwischenmenschlichen Begegnungen (Buber, 2006; Bäuerle, 1983; Hartkemeyer u. Hartkemeyer, 2005) und Zugängen, die auf die Etablierung von sicherem und schützendem Handeln in Organisationen gerichtet sind, die unter hochriskanten Bedingungen arbeiten (Rosenfeld, 2020; Weick u. Sutcliffe, 2015) oder die sich mit lernenden Organisationen beschäftigen (Senge, 2017; Argyris u. Schön, 2018). 3. Dem dialogischen Grundgedanken entspricht die Beteiligung aller Akteur:innen der Praxis in den Qualitätsentwicklungs- und Praxisforschungsprojekten des Masterstudiengangs. Zentral ist dabei die Initiierung und Begleitung von Veränderungsprozessen aus der Mitte der Organisationen heraus. Es werden Hilfestrukturen und Prozesse in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen und es geht um gemeinsame Lernprozesse und Verantwortungsübernahme. Die Familien werden an diesen Prozessen nicht nur beteiligt, sondern als wichtige Akteure verstanden. Die Qualitätsentwicklungsprojekte sollen so konzipiert sein, dass sie sich im Sinne des Gedankens von »Third Mission« als Hochschulaufgabe in der Praxis nachhaltig entfalten. Sie sollen die strukturellen und organisationalen Bedingungen in der Praxis verbessern helfen. In bereits abgeschlossenen Qualitätsentwicklungsprojekten wurden beispielsweise Themen wie »Kinderschutz aus Sicht von Kindern«, »Angst im Kinderschutz« oder »Krisen und deren Bewältigung in einer Inobhutnahmestelle« mit dialogisch-beteiligungsorientierten Methoden der Qualitätsentwicklung bearbeitet. Der Studiengang verortet sich inhaltlich in einer hilfeorientierten Praxis und Forschung der Frühen Hilfen und des Kinderschutzes, die vom Bundesgesetzgeber insbesondere im SGB VIII geregelt ist, aber in der Praxis immer wieder hergestellt werden muss (Biesel, Brandhorst, Rätz u. Krause, 2019). Dies umfasst eine fachliche Verortung in einem demokratischen und dialogischen Kontext der Sozialen Arbeit, welche Grundrechte und Beteiligung von Kindern und Familien sichert (Gedik u. Wolff, 2021). Dieser Ansatz ist inzwischen theoretisch, auch auf
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internationaler Ebene, gut ausgearbeitet und verfügt methodisch über eine Reihe von dialogischen Verfahren und Settings (Rätz u. Wolff, 2018), die im Studiengang vermittelt werden. Dialog und Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern sowie gegebenenfalls weiterer Erwachsenen sind kontinuierlicher Bestandteil dieses theoretisch-methodischen Ansatzes. Die Erfordernisse von Dialog und Beteiligung, gerade in schwierigen und gefährlichen Lebenslagen, stellen sich als eine der grundlegenden Herausforderungen in der modernen Gesellschaft dar. Es ist die humane Antwort auf Forderungen eines repressiven Kinderschutzes und neue Formen der Kontrolle von Familien u. a. in Armutsund Benachteiligungslagen. Somit müssen die fachlich-inhaltliche Gestaltung des Curriculums sowie methodisch-didaktische Ansätze konsequent vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Diskurse und der administrativen Entwicklung von Organisationen reflektiert werden. In den ersten drei Semestern des Studiums wird grundlegendes Wissen und der theoretische Rahmen Früher Hilfen und des Kinderschutzes unter einer dialogorientierten Perspektive vermittelt. Dazu werden Perspektiven der Ökonomie, der Soziologie, Psychologie, Philosophie und Jurisprudenz einbezogen. Zudem steht hier auch die theoretische und methodische Heranführung an die Praxisforschungs- bzw. Qualitätsentwicklungsprojekte im Vordergrund. Die fachlich-inhaltliche Gestaltung des Curriculums umfasst Fragen von Kindheit und Kindesentwicklung, Architekturen und Situationen von Familien, die Förderung und Unterstützung von Bedingungen des Aufwachsens, nicht zuletzt die Problematik der Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie der Risiko- und Gefährdungseinschätzung und der Organisationsentwicklung in ihren handlungspraktischen, historischen und rechtlichen Bezügen. Das vierte und fünfte Semester steht ganz im Zeichen der Praxisforschungsbzw. Qualitätsentwicklungsprojekte. Hier findet auch eine vertiefte Vermittlung rekonstruktiver interpretativer Forschungszugänge zum Fallverstehen statt, insbesondere mit Blick auf lebens- und familiengeschichtliche Erfahrungsaufschichtungen unter anderem in riskanten Lebenslagen von Kindern und zu Stärken und Potenzialen von Familien. Es werden Verläufe von Hilfeprozessen untersucht, um gelingende Ansätze, aber auch negative Folgen des Hilfegeschehens rekonstruieren und verstehen zu können (Wirkungsanalysen). Die detaillierten Fallstudien werden ergänzt um eine fundierte Wissensvermittlung über Organisationen und Organisationsentwicklung. Auch das eigene Handeln und die eigene Geschichte werden zum Gegenstand von systematischen Untersuchungen und Weiterentwicklungen. Die Studierenden (de-)konstruieren sich selbst als Akteur:innen vor dem Hintergrund der eigenen Kindheits- und Familiengeschichte in der Rolle als Kinderschutzfachkraft. Die Selbstkonstruktion als
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Fachkräfte sowie Theorien, Konzepte und Forschungsergebnisse zu Familien, Eltern, Paaren und Kindern bilden einen wichtigen Rahmen. Die bereits im Studium erworbenen Kompetenzen werden dazu genutzt, konkrete Hilfeprozesse, z. B. präventive Maßnahmen der Frühen Hilfen, oder Kinderschutzfallverläufe sowie die hieran beteiligten Familien, Eltern, Kinder und Jugendlichen und Fachkräfte besser verstehen zu lernen. Unterschiedliche Handlungsmethoden des Fallverstehens und zur mehrseitigen Gefährdungsund Risikoeinschätzung sowie zur Beratung von Familien im Kinderschutz stellen daher Lehr-, Untersuchungs- und Weiterentwicklungsgegenstände dar. Das letzte Semester ist der Erarbeitung der Masterarbeit gewidmet. Eine professionelle Tätigkeit in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz geht mit mehrseitigen Unsicherheiten einher. Sie scheitert, wenn diese Unsicherheiten ausgeblendet werden. Die Absolvent:innen des Studiengangs berichten, in ihrer praktischen Arbeit fachlich selbstbewusster und kritischer geworden zu sein. »Dieser Masterstudiengang hat mir die Sicherheit gegeben, die ich im Kinderschutz brauchte, sowie die Reflexionsfähigkeit, die es bedarf, sobald ich mich wieder unsicher fühle«, so eine Absolventin (Homepage des Studiengangs). Zusammenfassung und offene Punkte Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Professionssysteme im Kinderschutz steigen weiterhin stetig an. Trotz aller Heterogenität der Curricula an den Hochschulen steht einmal mehr die Frage nach einheitlichen Kernelementen (DGSA, 2016) im Raum. Im Hinblick auf den Kinderschutz im Studium Sozialer Arbeit zeigen sich mindestens vier Ebenen, die es aus mehreren Perspektiven zu beobachten gilt: 1. ein kooperatives Miteinander und ein gemeinsames Lernen von Hochschule und Praxis, das sich nicht nur in der Produktion von Absolvent:innen und Fachkräften erschöpft; 2. modulare Bachelor- und Masterlehrinhalte der Reflexion von Haltungen, Strukturen, Identität und der Herausbildung fallverstehenden Könnens und interdisziplinären Wissens auf Grundlage des eigenen professionellen »Kerns«; 3. eine konstruktive Kritik und gemeinsame Weiterentwicklung von und mit einer Praxis, in der Fachkräftemangel und Arbeitsüberlastung herrscht und ein Bedarf nach Organisationsentwicklung, Kooperation, Netzwerkarbeit und fachlicher Qualifikation besteht; 4. reflexive Praxis und Hochschule als soziale Orte, in denen Raum dafür besteht, sich mit Strukturen und Voraussetzungen für tragfähige, helfende
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Beziehungen, die Professionelle gerade auch mit problembelasteten Eltern und Familien eingehen, auseinanderzusetzen und Verfahren der Kooperation, Diagnostik und Dokumentation zu reflektieren. Denn gerade dann – dies zeigen die anderen Beiträge in diesem Band –, wenn es Kindern und Jugendlichen in ihren Familien nicht besonders gut geht, handelt es sich meist um äußerst komplexe (und eben auch gefährliche) Lebenslagen. Hier geht es unseres Erachtens darum, ein Setting zu schaffen, in denen es Kindern und Eltern überhaupt möglich wird, von ihren Sorgen, Ängsten, aber gegebenenfalls auch den Mangel- oder Gefährdungssituationen zu erzählen und gemeinsam Lösungen zu finden. Erst durch lebensweltbezogene Hilfearrangements können Lern-, Entwicklungs- und Veränderungsprozesse überhaupt realisiert werden. Diese gemeinsam mit den Familien zu initiieren und zu begleiten, ist originäre Aufgabe Sozialer Arbeit. Gelingendere Konzepte dafür zu entwerfen und in einer gemeinsam konstruierten Sphäre Dialoge zu führen, die Praktiker:innen in lernenden Organisationen Rückhalt und Perspektive geben, wäre eine klare Leitformel für Hochschulen und Praxis im Kinderschutz. Literatur Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH) (o. J.). Homepage des Studiengangs »Kinderschutz – Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz«. Zugriff am 12.08.2022 unter www.ash-berlin.eu/studium/studiengaenge/master-kinderschutz-dialogische-qualitaetsentwicklung-in-den-fruehen-hilfen-und-im-kinderschutz/. Argyris, C., Schön, D. (2018). Die lernende Organisation. Stuttgart: Schaeffer-Poeschel. AWMF (2022). AWMF S3+-Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). Aktual. Fassung v. 03.01.2022. Zugriff am 12.08.2022 unter https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/027069l_S3_Kindesmisshandlung-Missbrauch-Vernachlaessigung-Kinderschutzleitlinie_2022-01. pdf. Bäuerle, W. (1983). Jugendhilfe und Sozialarbeit. Frankfurt a. M.: IGfH Eigenverlag. Becker-Lenz, R., Busse, S., Ehlert, G., Müller-Hermann, S. (2012). Professionalität Sozialer Arbeit und Hochschule. Wiesbaden: Springer VS. Becker-Lenz, R., Busse, S., Ehlert, G., Müller-Hermann, S. (2013). Professionalität in der Sozialen Arbeit (3. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. Biesel, K., Brandhorst, F., Rätz, R., Krause, H.-U. (2019). Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz. Bielefeld: transcript. BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2022). Forschung zu sexualisierter Gewalt. Zugriff am 18.11.2022 unter https://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/ img/221114_BMBF_Broschure_GewaltGegenKinder_A4_barrierefrei_Korrektur.pdf. Böwer, M. (2012). Kindeswohlschutz organisieren. Jugendämter auf dem Weg zu zuverlässigen Organisationen. Weinheim: Beltz Juventa. Böwer, M. (2021). Innovation – in der Praxis, in der Theorie und im Studium. Ein Gespräch mit Martin Klein, Sascha Neumann und Hans Thiersch. Sozialmagazin, 46 (3/4), 14–23.
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Michael Böwer, Regina Rätz
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4 Fokus Gesundheitswesen
4.1 Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) und der Jugendhilfe im Kinderschutz in klinischen Kontexten Filip Caby, Rieke Oelkers-Ax
Ein etwas ungewöhnlicher, weil nicht offensichtlicher Fall Nolan, 15-jährig, wurde mit Suizidideen in der KJP vorgestellt und hatte daneben eine massive Adipositas und einen Schulabsentismus »im Gepäck« nach langjährigen Mobbingerfahrungen. In der Familie lebten noch seine wesentlich ältere Schwester und deren ebenfalls 15-jährige Tochter, die die gleiche Problematik wie Nolan aufwies, sodass es plötzlich zwei Patienten gab. Die Behandlung wurde leider nach einem Tag durch die Mutter des Jugendlichen abgebrochen. Unsere Fachkompetenz war seitens des Kinderarztes abgerufen worden, um neben der Suizidalität eine vermutete Angstproblematik (aufgrund von Mobbing und einer drohenden Wissenslücke wegen der Schulabstinenz) zu behandeln. Unser Kooperationspartner Jugendamt war schon seit acht Jahren in dieser Familie aktiv und hatte auch an mancher Stelle den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung geäußert. Die Jugendhilfe war auch in der vorigen Generation aktiv gewesen, weil eine jüngere Schwester der Mutter aufgrund der Erziehungsunfähigkeit der Großeltern Nolans außerhalb ihrer Familie aufwuchs. Während der eintägigen stationären Behandlung ließ die Familie verlauten, dass sie sowieso das Bundesland verlassen würde, sodass die Hypothese aufkam, dass der Umzug dazu dienen sollte, sich der Behörde zu entziehen. Daraufhin kontaktierten wir die Familie und das Jugendamt, um unsere Sorge kundzutun, weil der Junge auch Diabetes und einen erheblichen Bluthochdruck unter Nikotinabusus hatte. Das Telefonat wurde mit der Mutter geführt, die auf unsere Sorge mit Wei-
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nen reagierte und sich zu einem Hausbesuch bereiterklärte, weil wir sie nicht für eine Versagerin, sondern für eine sehr überforderte, aber ausreichend gute Mutter gehalten haben. Das Jugendamt wirkte eher resigniert. Während des Hausbesuchs, das in Einvernehmen mit der Familie in Anwesenheit des Jugendamts stattfand, wurde über eine erneute stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung nachgedacht, nachdem wir mit der Familie und dem Jugendamt über mögliche Wege der Besserung reflektiert hatten. Voraussetzung dafür war allerdings, dass alle bisher Beteiligten beim Start der Therapie gemeinsam über die möglichen Ziele nachdenken würden, damit die Familie nicht weiter unter dem von ihr so empfundenen »Damoklesschwert« des Kinderschutzes leben müsse. Es wuchs bei der Familie sogar die Idee der zeitgleichen stationären Behandlung für beide Jugendliche. Nach Rücksprache mit dem Jugendamt konnte die stationäre Behandlung starten, nachdem alle »Ziele« zu einem Ziel zusammengefasst werden konnten: die Mutter in die Lage zu versetzen, ihre verloren geglaubten Fähigkeiten als Mutter zurückzuerobern. Alle Beteiligten – auch die beiden Jugendlichen, die auch eigene Ziele erarbeitet hatten – stimmten zu.
Das Thema Kinderschutz taucht im Vergleich zu anderen Themen im kinderund jugendpsychiatrischen Kontext bisher relativ selten auf. »Kinderschutz« wurde als Thema bisher eher von außen in die KJP hineingetragen als von ihr in der Kooperation mit der Jugendhilfe aufgebracht. Einer der wenigen Beiträge dazu aus dem systemischen Feld stammt von Rotthaus (2014). Hierfür lassen sich verschiedene Gründe mutmaßen: Ȥ Traditionell blickt das Gesundheitswesen eher auf das Individuum (Patient:in) und hat damit einen systemisch eingeschränkteren Fokus als z. B. die Jugendhilfe, die familiäre und Kontextbedingungen stark miteinbezieht. Ȥ Angebote der KJP werden, wie auch sonst im Gesundheitswesen, von den Patient:innen »konsultiert« und in der Regel auch »beauftragt«. Die Idee, auch dann noch einen Schutzauftrag zu haben, wenn Patient:innen eine Therapie nicht in Anspruch nehmen oder abbrechen, ist noch nicht fest im Selbstverständnis aller Mitarbeitenden verankert. Ȥ Besonders der Einfluss psychisch erkrankter Eltern wird oft nicht im erforderlichen Ausmaß gesehen, was am eingeschränkten Blickwinkel insbesondere auf den Indexpatienten und am insgesamt noch zu geringen Wissen um familienpsychiatrische Interdependenzen liegen kann. Dabei ist ein expliziter »Schutzauftrag« (Schutz des Wohls von Kindern und Jugendlichen) seit über zehn Jahren auch für Mitarbeiter:innen im Gesund-
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heitswesen gesetzlich festgeschrieben. Das Bundeskinderschutzgesetz wurde am 1. Januar 2012 verabschiedet und umfasst u. a. das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), in dem das konkrete Vorgehen geregelt ist: Wenn Ärzten, Therapeuten oder anderen Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit »gewichtige Anhaltspunkte« für eine Kindeswohlgefährdung bekannt werden, sollen sie nach § 4 KKG »mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten die Situation erörtern und, wenn erforderlich, bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.« Sie haben das Recht auf eine Beratung durch eine »insoweit erfahrene Fachkraft« und dürfen das Jugendamt nach Interessenabwägung einschalten, wenn ihnen ihr eigenes Vorgehen nicht ausreichend erfolgreich erscheint. Hierüber sind die Beteiligten zu informieren. Obwohl die Schwelle für das Informieren des Jugendamts hierdurch abge senkt wurde, stecken Mitarbeitende im Gesundheitswesen oft in dem Dilemma zwischen Schweigepflicht und Schutzauftrag. Sie brauchen außerdem eine Sensibilität für wichtige Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung und Gesprächsführungskompetenzen für das Eruieren der Gefährdungslage mit Kindern und Eltern sowie eine klare, zugleich freundliche und wertschätzende Haltung. Zudem müssen sie Hilfe- und Angebotsstrukturen ausreichend kennen. Das sind hohe Anforderungen, denen erst allmählich flächendeckend entsprochen werden kann. In den letzten zehn Jahren hat es, wohl mitbedingt durch die Gesetzesänderung, bezogen auf den Kinderschutz im kinder- und jugendpsychiatrischen klinischen Alltag eine Entwicklung in die entsprechende Richtung gegeben. In diesem Kapitel wird ausführlich auf unterschiedliche Aspekte des Kinderschutzes vor allem im Hinblick auf die Kooperation zwischen KJP und Jugendhilfe eingegangen. Das Netzwerk, das benötigt wird, um einen sachgerechten Kinderschutz betreiben zu können, ist allerdings größer als die beiden Partner und umfasst u. a. auch das Schulsystem, die Beratungsstellen, die Justiz, die Pädiatrie und die Psychiatrie. Der Makrokontext Für alle Mediziner:innen gilt nicht nur der gesetzliche Schutzauftrag, sondern auch laut Weltärztebund folgender Leitsatz (2008, S. 246–248): »Besteht der Verdacht auf eine Misshandlung, müssen vor der Entlassung aus der medizinischen Einrichtung Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Das können folgende Maßnahmen sein:
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Ȥ Meldung aller Verdachtsfälle an die Kinderschutzorganisationen; Ȥ in der ersten Ermittlungsphase Einweisung misshandelter und schutzbedürftiger Kinder ins Krankenhaus; Ȥ Mitteilung der Diagnose an die Eltern, wenn sicher ist, dass Letztere die Diagnose verkraften; Ȥ Bericht über die Verletzungen an die Hilfsorganisationen.« Spätestens hier wird deutlich, dass der Kooperationsmodus eher einen meldenden als einen zusammenwirkenden Charakter hatte. Am 7. Februar 2019 wurde die Neufassung der Kinderschutzleitlinie (KisLL) veröffentlicht. Schon im Entstehungsprozess der Leitlinie wird die überragende Bedeutung von Kooperation und Interdisziplinarität für dieses Thema deutlich, wie in der Einleitung konstatiert wird: »Aufgrund des politischen Willens und der Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit wurde es möglich, dass die KisLL in Zusammenarbeit verschiedener Fachgesellschaften, Organisationen, Bundesministerien und Bundesbeauftragten entwickelt werden konnte. Die Beteiligten in der Leitliniengruppe repräsentieren die Versorgungsbereiche der Jugendhilfe, Medizin, Pädagogik, Psychologie und Sozialen Arbeit. Dies ermöglichte es, dass alle Handlungsempfehlungen gemeinsam entwickelt und somit die entsprechenden Schnittstellen in der Zusammenarbeit berücksichtigt werden konnten.« Aus systemischer Sicht nimmt diese Betonung der interdisziplinären Kooperation im Kinderschutz in der KisLL die notwendige Entwicklung in der Praxis vorweg. Dies ist ein sehr erfreulicher, wenn auch überfälliger Quantensprung für die Medizin. Ab dem Moment, in dem der Eindruck entsteht, dass das Kindeswohl gefährdet sein könnte, sind bei den Fachleuten Fingerspitzengefühl, Umsicht und Besonnenheit, Allparteilichkeit und der Netzwerkgedanke gefragt. Spätestens hier ist es von großer Bedeutung, darauf zu achten, dass alle Beteiligten eine für alle verständliche Sprache nutzen und Verständnis für die Vorgehensweise der anderen Netzwerkpartner:innen aufbringen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass alle Netzwerkpartner mit dem Gefühl der Äquivalenz »auf Augenhöhe« im Austausch sind und alle »Expertisen« der jeweiligen Netzwerkpartner als gleichwertig erlebt werden. Eine der wichtigsten systemischen Annahmen ist, dass Sprache Realitäten schafft. Daher macht es Sinn, darauf zu achten, dass in der Kooperation von Jugendhilfe und KJP der Gebrauch der jeweiligen Sprache kein Hemmschuh für eben diese Kooperation ist und dass es gelingen sollte, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die von beiden Systemen verstanden wird.
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Der Mikrokontext Der Auftrag, den beide Kooperationspartner aneinander haben, ist ein sehr unterschiedlicher: Die Jugendhilfe möchte fast immer eine medizinische Beurteilung – einen Befund – bezüglich des körperlichen oder psychischen Zustands im Hinblick auf eine mögliche Misshandlung oder Vernachlässigung. Wenn die Medizin die Jugendhilfe einschaltet, geht es in der Regel um eine Beratung zum weiteren Prozedere. Die Perspektive beider Nachfragen ist das Kindeswohl. Es ist daher unumgänglich, dafür zu sorgen, dass die kontextuellen Bedingungen des Beratungsprozesses so sind, dass eine Verständigung zwischen den beiden Partnern möglich ist. Hinzu kommt, dass KJP und Jugendhilfe nicht unbedingt gleich KJP und Jugendhilfe sind: Die Auslegung der Aufträge und die Skizze der Perspektive kann sich noch einmal mit den Menschen, die die beiden Institutionen vertreten, ändern. Auch das sollte am Anfang eines wechselseitigen Beratungsprozesses ein Argument dafür sein, sich über die jeweilige Haltung zu informieren und ein gemeinsames Leitbild zu entwickeln. Es wird die Herausforderung der Zukunft bleiben, gemeinsame Vorgehensweisen zu entwickeln, um gemeinsame Möglichkeitsräume schaffen zu können. Insgesamt gibt es dazu eine erfreuliche Entwicklung innerhalb der Medizin. Sie besteht daraus, nicht nur das eigene Handeln in den Fokus zu nehmen, sondern auch die Kontexte der Patient:innen mehr als bisher zu berücksichtigen, sodass es im Umgang mit den unterschiedlichen Fragestellungen, die in der Medizin auftauchen können, zu einer differenzierteren Sicht auf den individuellen Fall oder auf die jeweilige Kontexte kommt. Ein gutes Beispiel dafür ist die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health der WHO), die darauf hinweist, dass Kontextfaktoren den gesamten Lebenshintergrund einer Person darstellen und bei der Behandlungsplanung berücksichtigt werden sollten. Zwei Kinder mit der gleichen ICD-Diagnose, aber aus unterschiedlichen Kontexten können trotz gleicher Diagnose unterschiedliche Dinge brauchen, wenn es um das Kindeswohl geht. Diese Entwicklung vollzieht sich allmählich auch in der Medizin. Sie kann sich dabei auf diverse Vorbilder stützen: Die Jugendhilfe z. B. verfügt schon seit Längerem über Instrumente wie »Hilfeplanung«, die einen sehr individualisierten Umgang mit den Bedürfnissen des betroffenen Kindes und seinem Umfeld ermöglichen. Auch das Instrument der »Förder- und Behandlungsplanung« innerhalb der interdisziplinären Frühförderung verfolgt stärker einen solchen kontextsensiblen und ganzheitlichen Ansatz. Durch die Kontextbrille sind aber auch alle Beteiligten in einem Kinderschutzfall zu betrachten: Jede:r bringt ihren oder seinen Kontext mit. Eltern sind
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dann z. B. nicht nur Schädigende, sondern auch Opfer ihrer Umstände und sie befinden sich in einer von Hilflosigkeit geprägten Notlage. Sie sind daher ebenfalls auf Unterstützung des genannten Netzwerks angewiesen, um innerhalb des eigenen Kontexts ein dem Kind angemessenes Fürsorgeverhalten an den Tag zu legen. Das gelingt nicht, wenn sie sich ausschließlich in der »AngeklagtenPosition« wiederfinden. Aus der Position »Du bist schuld« lassen sich schwer neue Strategien zum Wohle des Kindes entwickeln. Eine partizipative Strategieentwicklung gelingt nur in einem gegenseitigen dialogischen Prozess zwischen Kindern, Eltern und dem Helfer:innensystem. Dieser Prozess benötigt ein Mindestmaß an Verständnis der Helfer:innen sowohl für die geschädigten Kinder als auch für die vernachlässigenden oder übergriffigen Eltern. Diese »kindeswohlgefährdenden« Eltern haben in den meisten Fällen selbst eine Geschichte, die von Traumatisierung in frühen Bindungen, Gewalt, Vernachlässigung und emotionalen, körperlichen und/oder sexuellen Übergriffen gekennzeichnet ist. Sehr oft leiden sie selbst unter psychischen Störungen (vgl. hierzu auch Kapitel 4.2: »Kinder psychisch kranker Eltern«). Etwa die Hälfte der Patient:innen in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung haben einen Elternteil mit einer schweren psychischen Störung (Mattejat u. Remschmidt, 2008). Eine psychische Erkrankung eines Elternteils ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für körperliche Gewalt gegenüber den eigenen Kindern und erhöht die Wahrscheinlichkeit für Übergriffe um mehr als das Dreifache (von etwa 4 % bei Kindern mit psychisch gesunden Eltern auf über 14 % bei psychisch erkrankten Eltern; Steinert u. Ebert, 2020). Ohne psychisch erkrankte Eltern unter Generalverdacht zu stellen, ist hier Achtsamkeit und Feinfühligkeit gefragt (Hingucken, Nachfragen, Für-möglichHalten und In-den-Blick-Nehmen). Eine engere Zusammenarbeit mit Psychiatern, Ärzten und Psychotherapeuten der Eltern ist unbedingt notwendig. In klassischen kinder- und jugendpsychiatrischen Settings besteht die Gefahr, eine solche Dynamik zu unterschätzen oder zu übersehen, und zwar umso mehr, je stärker der Fokus auf der »Indexpatient:in« und ihren Symptomen liegt und je weniger eine systemische, kontextuelle Fallkonzeption etabliert ist. Viele kinderpsychiatrische Symptome können eine traumatische Genese haben, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist (manchmal auch nicht auf den zweiten oder dritten). Ein anderes Beispiel: Ein fünfjähriger Junge wurde vorgestellt mit der Beschwerde, er halte sich im Kindergarten nicht an Regeln, höre nicht. Vor allem klaue er den anderen Kindern und zu Hause immer wieder Essen. Bei einem Aufenthalt in einer Eltern-Kind-Tages-
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klinik gemeinsam mit seiner Mutter fiel nach einigen Wochen auf, dass seine Mutter unter einer (bisher nicht eingestandenen) Essstörung litt, die dazu führte, dass sie, ohne es bewusst zu wollen, ihrem (sehr schlanken und bewegungsfreudigen) Jungen die verfügbare Nahrung einschränkte. Das Symptom »Essenklauen« war schlicht dadurch bedingt, dass er Hunger hatte. Durch intensive Arbeit mit der Mutter (in Kooperation mit einer Psychiaterin) gelang es u. a., die Mutter dazu zu bewegen, ihrem Sohn freien Zugang zu Essen zu gewähren.
Die Häufigkeit von potenziell kindeswohlgefährdenden Konstellationen, bei denen psychische Erkrankungen der Eltern eine Rolle spielen, wird in der KJP wahrscheinlich unterschätzt. Kinder im Kleinkind- oder Kindergartenalter werden zudem weniger in der KJP als beim Kinderarzt oder in Sozialpädiatrischen Zentren, Frühförder- oder Beratungsstellen gesehen. Eine weitere aktuelle Kontextbedingung, die dem Thema »Kinderschutz« besondere Aktualität und Brisanz verleiht, ist die Coronapandemie und die assoziierten Maßnahmen. Nachgewiesen erhöht sich die Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. In der COPSY-Studie (RavensSieberer et al., 2021) konnte eine Verdoppelung von Angstsymptomen, eine Zunahme von Depressionen und psychosomatischen Symptomen um mehr als 50 % festgestellt werden. Bei deren Eltern sogar eine Zunahme von Angststörungen und schweren Depressionen um mehr als 25 % (COVID-19 Mental Disorders Collaborators, 2021). Der Stress in den Familien steigt, mehr Eltern sind mit der Vielfachbelastung überfordert. Zugleich sind Hilfsangebote ausgedünnt. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die schon vor Corona an ihrer Belastungsgrenze war, spitzt sich der Versorgungsengpass weiter zu, und Wartezeiten auf einen Therapieplatz werden mit über einem Jahr unzumutbar lang. Voraussetzungen gelingender Kooperation im Kinderschutz zwischen KJP und Jugendhilfe Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ
Gelebte tatsächliche Kommunikation als Basis der Kooperation; gegenseitiges Gefühl der Äquivalenz und Respekt: die berühmte Augenhöhe; Wissen über die Möglichkeiten der Partner im Handlungsfeld; Wissen um die eigenen Kontexte und die Kontexte der zu Schützenden; gemeinsame Bereitschaft, Möglichkeitsräume statt Verhinderungsbedingungen zu schaffen; Ȥ die Zuversicht, eine gute Lösung zu finden; Ȥ Neufokussieren der Anliegen und Reinterpretieren der Klagen (Hilflosigkeit statt Schuld);
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Ȥ die Bereitschaft, den eigenen »Standardrahmen« zu verlassen und, im Dienste einer Lösung, individuelle Vorgehensweisen zu entwickeln (Hausbesuch im ersten Fallbeispiel); Ȥ Verantwortungsübernahme über das Behandlungsverhältnis hinaus: Reflektieren der Gesamtsituation bei Behandlungsabbruch und Einschätzung möglicher Gefährdungen; Ȥ Ambivalenztoleranz, Aushalten von Ungewissheit, Verzichten auf Schuldzuweisungen (»schwarzer Peter«); Ȥ kleinschrittiges, iteratives Vorgehen mit immer wieder gegenseitigen Abstimmungen. Wie scheitert man am effektivsten? In der beschriebenen ersten Fallvignette drohte der »Kinderschutzauftrag« daran zu scheitern, dass die sorgeberechtigte Mutter sich (mit der Begründung eines bevorstehenden Umzugs) dem selbst in Anspruch genommenen Hilfsangebot wieder entziehen wollte. Dazu hätte es viele Hypothesen zur Funktion dieser ausweichenden Vorgehensweise seitens der Familie gegeben. Einige dieser »Hypothesen« hatten in der Vergangenheit bereits zu Umzügen geführt. Erst das Benennen der Hilflosigkeit dieser hinreichend guten Mutter (und ihre Anerkennung als eine solche) hat den Umschwung erlaubt. Abgewendet werden konnte dann der Wegzug dadurch, dass beim Hausbesuch in einer gemeinsamen Gesprächsrunde mit der Mutter des Jungen, dem Jugendamt und der Klinik Folgendes seitens der Klinik erörtert wurde: »Aus medizinischer Sicht machen wir uns mit Ihnen in Bezug auf verschiedene Aspekte Sorgen: Sie haben die richtige Entscheidung getroffen, notfallmäßig hierhergekommen zu sein, als Sie die Selbstmordgedanken Ihres Sohnes mitbekommen haben. Zusätzlich hat Ihr Sohn ein extremes Übergewicht, was ihm auf Dauer schaden wird, und es gelingt Ihnen nicht mehr, Ihren Sohn beschulen zu lassen. Aber es gelingt Ihnen, Ihre Rolle als Mutter und Großmutter wieder aufzugreifen, und das verdient Respekt.« Daraus ergeben sich u. a. folgende »erprobte« Möglichkeiten zum Scheitern in und an Kinderschutzfragen: Ȥ Denke in Schwarz-Weiß-, Entweder-oder-, Alles-oder-nichts-Kategorien (die Mutter ist entweder hilflos oder gut). Ȥ Gehe vor nach dem Motto: »Nach mir die Sintflut« oder »Wer nicht will, der hat schon«. (Wenn ein Patient die Klinik verlassen oder die Behandlung abgebrochen hat, macht es keinen Sinn mehr, sich weiter zu kümmern.)
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Ȥ Mache »Dienst nach Vorschrift«: Bleibe strikt bei den gegebenen Angeboten deiner Institution, gehe starr nach einem Schema vor, gehe nicht auf individuelle Bedarfslagen ein und vermeide kreative (»handgestrickte«) Lösungen. Ȥ Höre weder auf dein Bauchgefühl noch auf Zwischentöne in der Kommunikation. Ȥ Weise Schuld möglichst klar einer Person zu, z. B. dem Patienten oder seinen Eltern, gern auch Kooperationspartnern aus anderen Systemen, z. B. dem Jugendamt. Gehe auf jeden Fall davon aus, dass es klar benennbare Schuldige gibt. Ȥ Bringe möglichst beim ersten Kontakt drastische Maßnahmen wie z. B. eine Fremdunterbringung ins Gespräch, ohne über Alternativen zu reden. Ȥ Drohe mit Herausnahme des Kindes, rudere zurück, sei dabei auf jeden Fall intransparent und für andere nicht kalkulierbar. Ȥ Vermeide es, gleichzeitig mit Helfern anderer Systeme mit einer Familie zu arbeiten, gehe streng nach der Devise vor »Viele Köche verderben den Brei« bzw. »Er oder ich!«. Ȥ Achte strikt darauf, dass nur immer ein System (Jugendhilfe oder KJP) aktiv ist. Lehne z. B. Behandlung ab, während Jugendhilfemaßnahmen laufen, und verbitte dir umgekehrt die »Einmischung« der Jugendhilfe, während in der KJP Therapie stattfindet. Ȥ Wenn sich Gleichzeitigkeit verschiedener Hilfs- und Beratungsangebote nicht vermeiden lässt, vermeide wenigstens jede Kommunikation mit Angehörigen der anderen Helfersysteme und lass diese darüber im Unklaren, was du tust oder nicht tust bzw. vorhast oder wie du die Situation einschätzt. Ȥ Halte Eltern prinzipiell für unfähig und unwillig – besonders dann, wenn sie von psychischen Störungen betroffen sind. Ȥ Halte jedes Zögern der Familie dir und deinen Angeboten gegenüber für Böswilligkeit oder Zeichen mangelnder Kooperation und leite daraus eine schlechte Prognose ab, was drastische Maßnahmen erfordert. Ȥ Sei möglichst skeptisch und gehe davon aus, dass die schlechtest mögliche Entwicklung eintreten wird. Ȥ Gehe davon aus, dass nur »wir hier« wissen, wie es wirklich ist. Wenn alle anderen keine Ahnung haben, müssen »wir ja wohl« entscheiden. Ȥ Verliere dich in einer Hypothesensuche und verliere den Blick für das was gerade passiert. Sei auf keinen Fall innerlich und äußerlich präsent, oder so wenig wie möglich.
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Beteiligung der Betroffenen Gerade beim Kinderschutz ist es obsolet, ein monokausales Geschehen anzunehmen. Es heißt ja auch nicht umsonst, dass es für die Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf brauche. Eine Beteiligung der Betroffenen, d. h. Partizipation, umfasst mehrere Ebenen: Ȥ Sie bewährt sich zum einen als sorgsamer Umgang mit (Macht-)Gefälle, das es immer gibt, wo der Begriff »Partizipation« benutzt wird: bei Ungleich gewicht an Entscheidungs- oder Kontrollmacht, an Einfluss, an Verankerung in Institutionen. Ȥ Partizipation kann bedeuten, dieses Gefälle gut im Blick zu haben, es zu benennen und die eigenen Rahmenbedingungen (Rollen, Verpflichtungen, Entscheidungsspielräume) transparent zu machen. Ȥ Idealerweise wird die größere (Entscheidungs-)Macht genutzt, um die Interessen derer, um die es geht, möglichst gut zu vertreten, indem Eltern und Kinder Schutz und Hilfe erhalten und einen Raum, in dem sie gehört werden. Ȥ Partizipation bedeutet, mit Kindern und Eltern gemeinsam zu überlegen, was Lösungswege sein könnten und was auch nicht, sie als »Hilfemitgestaltende« am Austausch und an der Vernetzung zu verstehen und zu beteiligen. Sofern Zwangskontexte vorliegen, also z. B. Therapieaufenthalte nicht freiwillig, sondern aufgrund von Auflagen erfolgen, können diese konstruktiv genutzt werden, z. B. im Sinne der Arbeitsweise von Marie-Luise Conen (»Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden?«). Hier sind Transparenz und Partizipation bezüglich des Kontroll- und Hilfsauftrags unerlässlich, damit innerhalb des Zwangskontextes über Maßnahmen verhandelt werden kann. Praktische Methoden und Prävention in der gemeinsamen systemischen Kinderschutzarbeit und Selbstreflexion Kinderschutz muss noch mehr als bisher Thema der kooperativen Arbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe sein, implizit und explizit. Grundlegend hierfür sind Routinen, reflexive Prozesse, Präsenz und Haltung. Es sollte ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen in der Kinderschutzarbeit herrschen, bei dem man weiß, was der oder die andere diesbezüglich macht. Es sollte Raum für gemeinsame Reflexionen vorhanden sein, und das Wissen zu Kinderschutz sollte eine breite gemeinsame Basis haben, sodass z. B. Absprachen schnell getroffen werden können, weil beide Systeme die gleichen Ziele verfolgen. Als nützlich erweist sich hier das »Präsenz«-Konzept (z. B. Omer u. von
Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) und der Jugendhilfe
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Schlippe, 2016). Es wurde ursprünglich zur Stärkung von Eltern entwickelt und fördert durch verlässliche Präsenz, wachsame Sorge, Beharrlichkeit und Ausdauer eine sichere Bindung zu ihren Kindern. Es unterstützt Eltern dabei, aus der Hilflosigkeit wieder in ihre Stärke zu finden, und eignet sich auch für Familien, in denen Kinder gefährdet sind. Sind Routinen, reflexive Prozesse, Präsenz und Haltung in diesem Sinne implementiert, ist eine gute Grundlage einer präventiven Schutzarbeit geschaffen, da alle involvierten Institutionen kooperieren und es dadurch gewissermaßen »egal« ist, in welcher Institution das Kind sich gerade befindet. Präventiv wirkt auch das Bewusstsein, dass es manchmal ein ganzes Netzwerk braucht, um Kinder und Jugendliche zu schützen (das berühmte »Dorf«). Präventiv wirkt weiter eine »Kultur« in Institutionen, in der die beschriebene Haltung auch den Umgang miteinander und den Führungsstil prägt und eine gute Einführung und Einbindung neuer Mitarbeiter:innen stattfindet. Zum Schluss und doch nicht zum Schluss: Weitere Aspekte und Denkanstöße Kinderschutz und/oder Elternschutz? Manchmal ist ahnbar, dass hinter der Kinderschutzfrage auch das Anliegen der Eltern steht, sich selbst hinterfragen und entwickeln zu dürfen. Wenn man das überhört, verpasst man die Chance, den Eltern und den anderen Beteiligten (und mit ihnen zusammen) eine andere Geschichte zu erzählen: die sorgende statt die versagende. Dann geht es plötzlich darum, die Eltern davor zu schützen, dass sie ihre Kinder nicht mehr schützen. Kooperation so früh wie möglich und nicht erst bei Gefährdung: Eine Kooperation von KJP, Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe sollte nicht erst ab dem Verdacht einer Kindeswohlgefährdung, sondern grundsätzlich erfolgen. Sie sollte bilateral (im Sinne von wirklichem Zusammenwirken) statt unilateral (Meldung von A an B) sein. Es braucht eine »Verantwortungsgemeinschaft« von allen beteiligten Helfersystemen, im Sinne eines Gleichzeitig-im-Boot-Seins. Wie eingangs beschrieben, spielt das Thema »Kinderschutz« in der KJP bisher eine kleinere Rolle, als es spielen sollte – umgekehrt »sieht« die Jugendhilfe, bedingt durch ihr Arbeitssetting, ihren Auftrag und ihre Haltung, dieses Thema sehr deutlich, sie ist aber, insbesondere, wenn Kinder oder/und Eltern unter schweren psychischen Störungen leiden, allein nicht ausreichend wirksam. Interdisziplinäre Ankerteams, die mit Kolleg:innen aus KJP, Jugendhilfe und Psychiatrie besetzt sind, ermöglichen langfristig wirksame Hilfe und können manche Inobhutnahme überflüssig machen.
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Filip Caby, Rieke Oelkers-Ax
Für Kinder psychisch erkrankter Eltern gilt die Idee von gemeinsamer, bezogener Entwicklung bei gleichzeitigem Kinderschutz (unterhalb der § 8a-Schwelle!) besonders: Neben interdisziplinären Teams braucht es neue, langfristige, bedarfsorientierte, flexible und zeitgleiche Unterstützungsmodelle im Sinne von haltgebenden Strukturen (Containment). Ein solches Modell kann z. B. eine die Eltern ergänzende »Bereitschafts«-Pflegefamilie sein, die für das Kind langfristig mit stabilen Bezugspersonen bereitsteht und in Zeiten akuter Krisen das Kind auch aufnehmen kann – mit Einverständnis der Eltern und nicht in Konkurrenz zu diesen. Jugendhilfe und Therapie bleiben bei diesem Modell beide nicht nur »im Boot«, sondern auch in ständiger Abstimmung mit der Familie und untereinander. So wie das menschliche Auge zum räumlichen Sehen die nicht vollständige Überlappung der Bilder beider Augen benötigt, so ist durch die divergenten, aber überlappenden und aufeinander bezogenen Sichten und Kompetenzen von KJP und Jugendhilfe eine Art »räumliches« Sehen – »Beidäugigkeit« – möglich, die sowohl eine Gefährdungs- und Ressourceneinschätzung »tiefenschärfer« treffen kann als auch – gemeinsam mit den Familien – passgenaue und nachhaltige Hilfsangebote zu entwickeln vermag. Generell kann und sollte nicht mehr Kontrolle, mehr Zwang, mehr Inobhutnahme, mehr Verschärfung und Zuspitzung der Einschätzung die Antwort sein auf die zunehmende Dringlichkeit, mit der sich die Kinderschutzfrage auch in der KJP stellt, sondern mehr Kooperation, mehr Gemeinsam-Tragen, mehr zeitgleiche Inanspruchnahme und Verantwortungsgemeinschaft. Literatur COVID-19 Mental Disorders Collaborators; Santomauro, D. F., Mantilla Herrera, A. M., Shadid, J., Zheng, P., Ashbaugh, C., et al. (2021). Global prevalence and burden of depressive and anxiety disorders in 204 countries and territories in 2020 due to the COVID-19 pandemic. The Lancet, 398, 1700–1712. Doi: 10.1016/S0140-6736(21)02143–7. Kinderschutzleitlinie (2019). AWMF S3+-Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie) 2019. Zugriff unter am 13.10.2022 unter https://www.dgkim.de/dateien/2022_01_03_langfassung_ update-kjsg.pdf. Mattejat, F., Remschmidt, H. (2008). Kinder psychisch kranker Eltern. Deutsches Ärzteblatt, 105 (23), 413–418. Omer, H., Schlippe, A. von (2016). Autorität ohne Gewalt: Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen: »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Erhart, M., Otto, C., Devine, J., Löffler, C., Hurrelmann, K., et al. (2021). Quality of life and mental health in children and adolescents during the first year of the COVID-19 pandemic: Results of a two-wave ationwide population-based study. European Child and Adolescent Psychiatry, 1–14. https://doi.org/10.1007/s00787-021-01889-1.
Kinder psychisch kranker Eltern
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Rotthaus, W. (2014). Der Beitrag der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Kinderschutz. Kontext, 45, 3, 265–278. Steinert, J., Ebert, C. (2020). Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland während COVID19-bedingten Ausgangsbeschränkungen. TU München, RWI – Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung. Zugriff am 24.03.2022 unter https://drive.google.com/file/d/19Wqpby9nwMNjdgO4_FCqqlfYyLJmBn7y/view. Weltärztebund (2008). Handbuch der Deklarationen, Erklärungen und Entschliessungen: Erklärung zur Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern, verabschiedet von der 36. Generalversammlung des Weltärztebundes, Singapur, Oktober 1984, i. d. F. der Generalversammlung des Weltärztebundes, Pilanesberg, Südafrika,Oktober 2006. Seite 246–248. Zugriff am 13.10.2022 unter https://www.yumpu.com/de/document/read/19447178/weltarztebund-handbuch-derdeklarationen-erklarungen-und-Entschliessungen.
4.2 Kinder psychisch kranker Eltern: Vom »Vergessen« zur Familienorientierung in der Erwachsenenpsychiatrie Bernward Vieten, Filip Caby
Fallbeispiel 1: Stationäre Aufnahme zur Depressionsbehandlung Ein 38-jähriger Polizeibeamter berichtet in der Aufnahmesituation zur stationären Klinikbehandlung von anhaltender Antriebslosigkeit seit ca. vier Monaten. Diese habe an seiner Arbeitsstelle zu Konflikten mit Kollegen geführt. Gegenwärtig könne er sich nur für kurze Zeit konzentrieren und fange dann wieder an, über sich, seine Ehefrau und die Arbeitsstelle zu grübeln. Er habe sein Selbstbewusstsein verloren. Zum Sex habe er keine Lust; seine Ehefrau bedränge ihn auch inzwischen nicht mehr. Suizidgedanken habe er nicht, auch wenn manchmal die Hoffnungslosigkeit groß sei. Sein achtjähriger Sohn Kay habe sich von ihm abgewandt, nachdem er zweimal seine Versprechen nicht eingehalten habe, mit ihm klettern zu gehen. Auf seine vierjährige Tochter Claudia habe er mehrmals sehr gereizt reagiert und sie in den letzten drei Wochen ca. viermal geohrfeigt, was ihn selbst sehr schockiert habe. Er gehe zurzeit seiner Tochter aus dem Weg. Seine Ehefrau streite fast täglich mit ihm über diese »Vorfälle«, seine ständige »Herumhängerei« und »Unzuverlässigkeit«. Im Aufnahmegespräch bestätigt die Ehefrau die Darstellung ihres Ehemannes. Ihr sei wirklich erst vor etwa fünf Wochen klargeworden, dass es sich um etwas Ernstes handeln müsse, nachdem ihr Ehemann zwei lang vorher geplante Termine mit seinen guten Freunden ohne Begründung abgesagt habe. Sie müsse gegenwärtig viele alltägliche Kleinigkeiten im Haushalt und Garten zusätzlich bewältigen.
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Die Kinder würden den Vater meiden und sich sehr an sie klammern. Die Belastung bei ihr selbst habe sehr zugenommen – das merke sie an den inzwischen wöchentlich auftretenden Kopfschmerzen. Fallbeispiel 2: Zuweisung aus der Jugendhilfe Eine 19-jährige junge Frau wurde der Klinik aus einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe, ausschließlich für Mädchen und Frauen konzipiert, zugewiesen. Sie war kurz vorher in dieser Einrichtung aufgenommen worden als Verlegung aus einer entfernt liegenden Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ihre Diagnose lautete: »psychotische Störung«. Sie litt unter massiven akustischen Halluzinationen; das Zusammenleben in der stationären Gruppe war durch ihre exzentrisch anmutenden Verhaltensweisen stark gestört. Sie schrie unvermittelt die Mitarbeiterinnen oder die in der Gruppe lebenden jungen Frauen an, es kam vor der Aufnahme in die Klinik, die per Unterbringungsrecht erfolgte, zu tätlichen Übergriffen gegenüber dem Personal. In der folgenden stationären Krisenintervention wurde eine intensive Zusammenarbeit mit dem Team der Jugendhilfe aufgebaut, die sowohl die Umgehensweise mit der jungen Frau mit Psychosesymptomen verbessern konnte als auch die Vorgeschichte mit den Anzeichen einer frühen Traumatisierung würdigte.
Ausgangssituation Die Erwachsenenpsychiatrie und ihr gesundheitspolitischer Kontext taten sich lange sehr schwer mit der Tatsache, dass ihre Patienten auch einen Kontext mitbringen. Dass Patienten z. B. auch eine Familie hatten, war in der Behandlung lange nicht sichtbar, geschweige denn, dass die Kinder dieser Patienten und Patientinnen dabei überhaupt eine Rolle spielten. Seit Einführung der PsychPV (Psychiatrie-Personal-Verordnung) 1991 haben die Behandlungsaufgaben psychiatrisch-psychotherapeutischer Kliniken erheblich zugenommen: Es fand insbesondere eine enorme Leistungsverdichtung infolge der großen Zunahme der Zahl der behandelten Patientinnen und Patienten bei stark verkürzter Verweildauer statt. Erfreulicherweise kamen zwar immer mehr Patienten in den Genuss einer adäquateren Behandlung, aber die zeitlichen und personellen Ressourcen für die Berücksichtigung familiärer Kontexte wurden immer knapper. Das Problem wurde allerdings teilweise erkannt: In Deutschland wurde im Sachverständigengutachten zum Gesundheitswesen (Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2018) wiederholt auf die Probleme der »Fragmentierung der Gesundheitsversorgung« hingewiesen: Eine Zersplitterung der Zuständigkeiten von Krankenkassen, der Eingliederungshilfe, der Jugendhilfe, kommu-
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naler Vorsorge- und Unterstützungsinstanzen hat es noch schwieriger gemacht, das Umfeld der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Auch eine gute Adaption zwischen stationärer psychiatrischer Versorgung und den unterschiedlichen Behandlungs- und Betreuungsansätzen im ambulanten Bereich ist trotz erfolgversprechender Reformansätze, wie z. B. die »integrierte Versorgung« oder die 2018 im § 115d SGB V etablierte »stationsäquivalente psychiatrische Behandlung«, nur ansatzweise gelungen (siehe auch Aderhold, 2021). Spektakuläre Fälle, in denen etwa psychisch kranke Mütter oder Väter ihre Kinder töteten, oder aber die in zurückliegenden Jahren in der Öffentlichkeit breit diskutierten Suizide von bekannten Personen, wie z. B. des ehemaligen Fußballtorwarts Robert Enke, lösten großes Aufsehen und Betroffenheit aus, verstellten jedoch den Blick auf die Relevanz psychischer Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung. Im Hinblick auf das Thema Kinderschutz ist hervorzuheben, dass Mattejat 2008 schon davon berichtete, dass psychisch kranke Menschen im Durchschnitt etwa genauso häufig Kinder haben wie psychisch gesunde. Mehrere Untersuchungen in Europa kommen übereinstimmend zum Ergebnis, dass 10 bis 20 % der stationär behandelten psychiatrischen Patientinnen und Patienten minderjährige Kinder haben. Wenn wir von den bundesdeutschen stationären Versorgungsdaten in knapp 60 000 Krankenhausbetten ausgehen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass etwa 175 000 Kinder pro Jahr die Erfahrung machen, dass ein Elternteil wegen einer psychischen Erkrankung stationär psychiatrisch behandelt wird. Am Beispiel der schizophrenen und affektiven Störungen lässt sich Folgendes aufzeigen: Als Kind eines an Schizophrenie erkrankten Elternteils hat man im Durchschnitt ein lebenslanges Erkrankungsrisiko von 10 bis 13 %, also ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das Zehnfache erhöhtes. Umgekehrt kann man daher festhalten, dass die große Mehrheit der Kinder eines Elternteils mit einer schizophrenen Störung, nämlich rund 90 %, im Verlauf ihres Lebens keine Schizophrenie entwickeln! Bei der Depression ist diese Zahl sogar noch etwas höher. Dass das Thema »Kinder psychisch kranker Eltern« auftaucht, dürfte also weniger mit dem genetischen Risiko zu tun haben als mit den psychosozialen Belastungsfaktoren, die offenbar in Familien mit einem psychisch kranken Elternteil überdurchschnittlich vorhanden sind und das Erkrankungsrisiko für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen daher deutlich erhöhen. Diese Faktoren sind bekannt: Ȥ sozioökonomische und soziokulturelle Aspekte wie Armut, unzureichende Wohnverhältnisse, soziale Randständigkeit oder kulturelle Diskriminierung der Familie; Ȥ niedriger Ausbildungsstand bzw. Berufsstatus der Eltern;
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Ȥ Arbeitslosigkeit; Ȥ Verlust von wichtigen Bezugspersonen, insbesondere eines Elternteils, vielfach durch Trennung und Scheidung; Ȥ zwei- bis fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit für Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch (Mattejat u. Remschmidt, 2008). Im Säuglings- und Kleinkindalter treten frühkindliche Störungen auf, z. B. durch fehlende Empathie und emotionale Verfügbarkeit der Mütter (und/oder Väter?) im Rahmen einer Depression, im Kindergarten- und Grundschulalter durch eine Reduzierung des sprachlichen Austausches und z. B. überängstliche Eltern. Im mittleren Kindes- und Jugendalter steigt das Risiko der Entwicklung einer psychischen Störung durch eine fehlende Identifikation des Kindes mit dem Elternteil, durch Fehlen der Vorbildfunktion und durch ein Einbezogenwerden in die elterlichen Probleme und Konflikte. Aber: Sowohl individuelle als auch psychosoziale Bewältigungsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen führen dazu, dass immerhin ein Drittel der Betroffenen trotz ungünstiger und belastender familiärer Verhältnisse psychisch gesund bleibt. Es dürfte also gesellschaftspolitisch darauf ankommen, einerseits Resilienzfaktoren, die Kindern das gesunde Überleben in psychiatrisch belasteten Familien ermöglichen, zu stärken und andererseits den psychosozialen Fokus bei der psychiatrischen Behandlung dieser Familien zu schärfen. Dadurch würde die Behandlung dieser Familien noch viel mehr zu einer konzertierten Aktion werden müssen, als es in der heutigen Praxis umgesetzt wird. Wie die Praxis aussehen kann, wollen wir in diesem Beitrag erläutern. Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz in der Erwachsenenpsychiatrie Eine familienorientierte Haltung in der Behandlung von psychiatrischen Patienten entwickelte sich eher am Ende des vorigen Jahrhunderts. Der u. a. von Klaus Dörner ausgerufene »Freispruch der Familie« (Dörner, Egetmeyer u. Koenning, 1995) führte zu einem Aufschwung der Ansätze der Psychoedukation, auch teilweise zu einer Betonung der neurobiologischen Orientierung der Psychiatrie. Die systemische Familientherapie hat sich in den folgenden Jahrzehnten rasant weiterentwickelt und betont heute folgende Grundlagen: Ȥ Sie vermeidet jegliche implizite Pathologisierung der Familien und verzichtet auf lineare Schuldzuweisungen. Autoren sprechen vom Problemanfang entweder schlichtweg als »bad luck« oder von einem »Problem, für das die Familie eine Lösung gesucht hat«.
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Ȥ Sie verabschiedet sich von der Idee, psychiatrische Symptome wiesen als Indikator auf ein ungelöstes Problem in der Familie hin, etwa einen verdeckten Machtkampf, wie dies Selvini Pallazzloi u. a. noch postuliert hatten. Dazu suchen systemische Therapeuten keine ursächlichen Verbindungen, sondern betrachten das Problem als funktional und als die für die jeweilige Situation der Familie bestmögliche Lösung. Ȥ Sie bevorzugt transparentere und gleichberechtigtere Gesprächssettings. Der einstmals populäre »Einwegspiegel« (die Kollegen des Therapeuten beobachten das Gespräch durch einen Spiegel, der in entgegengesetzter Richtung nicht durchsehbar ist) wird nicht mehr genutzt, die orakelhaften »Schlusskommentare« nicht mehr »vorgetragen«. Das reflektierende Team sitzt mit im Raum oder wird nur von den Betroffenen durchgeführt ohne Beteiligung von Therapeut:innen (Caby, 2008). Diese formulieren vorsichtiger, fragender, behutsamer (Schweitzer u. Nicolai, 2010). In NRW wurde an zwei Kliniken ab Ende der 1990er Jahre das sogenannte IPKEL-Projekt (KInder Psychisch Kranker ELtern) durchgeführt. Von Beginn K des Projekts an wurde eine institutionalisierte Kooperation angestrebt, die inzwischen über Jahre im Paderborner Raum Bestand hat und den Behandlungsalltag einer psychiatrischen Klinik mitprägt. Die heutige Arbeitsgruppe KIPKEL setzt sich zusammen aus Vertretern der Jugendhilfe, unterschiedlicher Beratungsstellen und Heime, Vertretern der Kinder- und Jugend- sowie der Erwachsenenpsychiatrie, der Katholischen Hochschule, des Gesundheitsamts sowie des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Folgende Teilprojekte wurden innerhalb des KIPKEL-Projekts umgesetzt: Ȥ Beratung der Patienten in ihrer Funktion als Eltern im Rahmen der Klinikbehandlung; Ȥ Angehörigengruppen für Partner und besonders ältere Kinder unserer Patientinnen und Patienten; Ȥ Angebot einer Müttergruppe in der Psychiatrischen Institutsambulanz der Klinik; Ȥ altersdifferenzierte Kinder- und Jugendlichengruppen in Erziehungsberatungsstellen; Ȥ Mutter-Kind-Behandlung in Einzelfällen auf der Akutstation, besonders für Mütter mit Säuglingen und Kleinkindern; Ȥ systemische Familientherapien unter Einbezug von Partnern, Kindern und Jugendlichen auf der Station; Ȥ stationär/ambulante Fallgespräche (»Intervision«) mit dem Team einer Akutstation und der Ambulanz (Vieten, 2009).
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Zurück zum Fall 1 Während der stationären Behandlung in unserem Fallbeispiel fand ein Familiengespräch unter Einbeziehung der beiden Kinder des Patienten statt. Zusätzlich erhielten beide Kinder ein Angebot, sich einer der für Kinder und Jugendliche angebotenen Gruppen in der Beratungsstelle der Caritas in der Stadt anzuschließen. In den folgenden Familiengesprächen mit Eltern und Kindern ging es sowohl um die Entwicklung eines gemeinsamen Störungsverständnisses als auch um die Stärkung der elterlichen Kompetenzen und um die Bearbeitung der Ängste der Kinder angesichts der Rückzugsverhaltens des Vaters während seiner depressiven Phase. Im Zuge der Besserung der depressiven Störung gelang es dem Vater, sich den Kindern entspannter zuzuwenden und gemeinsame Aktivitäten bei den Beurlaubungen am Wochenende durchzuführen. Die Stärkung des Kindeswohls durch die Teilnahme an den Gruppenstunden in der Beratungsstelle führte auf der Seite der Kinder zu einer sichtbaren psychischen Verbesserung und zu einer Akzeptanz des vorübergehenden »Abwesendseins« des Vaters. Sie nahmen im Rahmen der Therapiegespräche mit Unterstützung der Mutter zunächst zögerlich, aber immer konsequenter die Beziehung zum Vater wieder auf und konnten wieder an der bestehenden Bindung anschließen. Im Rahmen des Projekts standen auch Kinderpsychotherapeuten zur Verfügung, um diese Schritte zu begleiten. Deren Rolle bestand – ganz im systemischen Sinne – daraus, sich von der Mutter und dem Vater, aber auch von den Kindern über die Geschwindigkeit und Intensität der Wiederherstellung der Bindungserfahrungen steuern zu lassen.
Anleitung zum Scheitern Fallbeispiel 2 eignet sich besonders gut, Möglichkeiten des Scheiterns zu generieren. Dazu muss man sich nur die fast übliche Form der Kooperation anschauen: Ȥ Die Einrichtung der Jugendhilfe wirft der Klinik wiederholt vor, die Patientinnen zu früh zu entlassen und nicht genügend auf die Schilderungen des schwierigen Alltags in der Betreuung in der Jugendhilfe einzugehen und entsprechend Rücksicht zu nehmen. Ȥ Die Mitarbeitenden der Klinik ihrerseits werfen der Jugendhilfeeinrichtung vor, ohne ausreichende Prüfung schwerst gestörte Klientinnen aus entfernt liegenden Regionen aufzunehmen und sie im Kreisgebiet ansässig zu machen. Sie seien nicht vorbereitet auf die Schwere der Krankheit und den damit einhergehenden Betreuungsaufwand. Ȥ Die Jugendhilfe hält der Klinik vor, zuständig zu sein: »Sie müssen aufnehmen!«
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Ȥ Eine mögliche Kooperation mit dem familiären Umfeld der Patientin oder eine Analyse der Kontextbedingungen würde laut Klinik durch die räumliche Entfernung unmöglich gemacht. Ȥ Darüber hinaus seien die Mitarbeitenden der Einrichtung nicht ausreichend informiert über die Zuständigkeiten für die Patientin, geschweige denn über den bisherigen Verlauf der Erkrankung. Ȥ Die Einrichtung hält der Klinik vor, sich zu verweigern, die Klinik hält der Einrichtung vor, die Patientin nur abschieben zu wollen. Ȥ Und zuallerletzt: Alle diese Dinge werden nicht zum Anlass genommen, miteinander ins Gespräch zu kommen, sonder es wird weiter übereinander geredet. Das Scheitern gelingt sehr gut, weil auf beiden Seiten keine Versuche unternommen werden, die jeweiligen kontextuellen Bedingungen nachzuvollziehen. Am Ende klappt es doch Im Beispiel 2 gelang in der Behandlung der Durchbruch, als eine direkte Kooperation zwischen der zuständigen Station und der Einrichtung der Jugendhilfe eingerichtet wurde. Die persönlichen Kontakte der Mitarbeitenden, gemeinsame Fallgespräche und schließlich eine systemische Intervisionssitzung unter Einbezug der Patientin und ihrer betreuenden Mitarbeiterin brachte die Behandlung auf einen guten Weg. Genau für diese Fallkonstellationen wurde das SYMPA-Projekt entwickelt. Das SYMPA-Projekt Zwischen 2002 und 2008 beteiligte sich die Paderborner Klinik an einem multizentrischen Forschungsprojekt der Universität Heidelberg zur Verankerung einer familienorientierten psychiatrischen Akutversorgung unter dem Namen SYMPA (Systemtherapeutische Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung). Insgesamt wurden etwa hundert multiprofessionell ausgerichtete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter systemisch geschult. Als Zielsetzungen einer systemisch orientierten Psychiatrie definierten wir: Ȥ Angehörigenorientierung: Familienangehörige und andere wichtige Menschen aus dem sozialen Netz des Patienten werden von vornherein in die Behandlung einbezogen, um zur Lösung sowohl der Probleme des Patienten als auch ihrer eigenen Probleme im Umgang mit dem Patienten beizutragen.
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Ȥ Systemische Selbstreflexion, kontextuelles Krankheitsverständnis: Dabei werden Gesprächsformen gepflegt, die allen Beteiligten helfen, zu verstehen, wie sie selbst zum Problem und zur Lösung beitragen können. Ȥ Endliche Psychiatrie: Dabei wird die Idee eines jederzeit wieder möglichen Ausstiegs aus psychiatrischen Karrieren offengehalten, deren Chronifizierung stets als interpersoneller Artefakt infrage gestellt. Ȥ Multiple Auftragsorientierung: Es werden die Wünsche, Interessen, Befürchtungen und Krankheitstheorien der verschiedenen an der psychiatrischen Behandlung beteiligten Parteien erkundet und in die Behandlungsplanung einbezogen – der unmittelbaren Nutzer psychiatrischer Dienstleistungen (Patienten und Angehörige) ebenso wie die der Mitarbeitenden, der Träger, der Finanziers. Dies erfordert genaue, voraussetzungslose Auftragsklärung. Ȥ Verhandlungskultur: Da die beteiligten Parteien ohnehin nur tun, was ihrer Eigenlogik entspricht, werden strittige Themen (z. B. Diagnosen, Medikation, Aufnahme/Entlassung, Zwangsbehandlung) unter Berücksichtigung gegebener Rahmenbedingungen (z. B. Behandlungs- und Finanzierungsleitlinien) und Machtverhältnisse (wer hat die juristische Verantwortung wofür?) so weit möglich ausgehandelt.
Therapie
Entlassung
– Systemische Einzelgespräche – Evtl.: weitere systemische Familiengespräche, Kooperationsgespräche, Visiten, Gruppentherapie – Besprechungskultur: Systemische Intervision, Supervision. Evtl.: Patient als Teamsupervisor – Verhandlungskultur über Medikamente, Diagnosen, Freiheitseinschränkungen – Familien- und/oder Kooperationsgespräch vor Entlassung – Lesenlassen des Entlassungsbriefs – evtl. »Wiederaufnahmeverträge« für Wiederkehrer
Abbildung 1: Behandlungsschema »Systemische Akutpsychiatrie«
Systemische Grundhaltungen
Aufnahme
– Auftragsklärung mit Patient und Angehörigen – Kennenlernen der »sozialen Familie«: Genogramminterview, Familiengespräch oder Bezugspersonengespräch – Entwicklung eines systemischen Fallverständnisses – Therapiezielplanung
Systemorientierung: Gemeinsam geht es leichter. Ressourchen und Lösungsorientierung: Was funktioniert bereits jetzt? Neugier und Neutralität gegenüber individuellen Wirklichkeitskonstruktionen. Transparenz und Wertschätzung. Fragen statt Antworten.
Behandlungsschema »Systemische Akutpsychiatrie«
Kinder psychisch kranker Eltern
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Aus dem Praxis-Forschungsprojekt SYMPA wurde ein Manual systemischer Akutpsychiatrie entwickelt, zu dem zu Beginn der Behandlung eine ausführliche Auftragsklärung gehören, das Kennenlernen der Familie mithilfe des Genogramms, Familiengespräche und Bezugspersoneninterviews oder Kooperationsgespräche (s. Abbildung 1). Zielsetzung ist die Entwicklung eines gegenseitigen systemischen Fallverständnisses und eine gemeinsame Therapiezielplanung. Im weiteren Verlauf der Therapie kommen systemische Einzel- und Familiengespräche zum Einsatz, die Besprechungskultur findet eine Veränderung durch Einbezug von Patient und Familie in Visiten und sogenannte Intervisionssitzungen. Es wird gegebenenfalls über notwendige Freiheitseinschränkungen, die Diagnosestellung oder auch die Gabe der Medikamente verhandelt. Zum Abschluss der Behandlung erfolgt eine gemeinsame Perspektivplanung, gegebenenfalls ein »Gegenlesen« des Entlassbriefs und unter Umständen ein Wiederaufnahmevertrag für Krisensituationen in der Zukunft (Schweitzer u. Nicolai, 2010). Beide Fallkonstellationen profitierten sowohl von dem KIPKEL- als auch von dem SYMPA-Projekt: In beiden Projekten stehen die Eltern als Kunden mit ihren Kindern und/oder die Kinder als Kunden mit ihren Familien im therapeutischen Mittelpunkt und werden von einem kooperativen Netzwerk begleitet. Nur ein solches aufeinander abgestimmtes Netzwerk ist gut in der Lage, das Thema Kinderschutz kindgerecht in den Blick zu nehmen. In Analogie zum KIPKEL-Projekt wäre zu überlegen auch beim SYMPA-Projekt die Kinder und Jugendliche der betroffenen Familien nicht aus dem Auge zu verlieren und entsprechend auch Gruppenangebote zu machen für diese jungen Altersgruppen mit dem Ziel der besseren Resilienz und Prävention. Literatur Aderhold, V. (2021). Die Zukunft der deutschen Psychiatrie. Kontext, 52 (2), 146–166. Caby, F. (2008). Reflektierende Familien. Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 4, 46–59. Dörner, K., Egetmeyer, A., Koenning, K. (Hrsg.) (1995). Freispruch der Familie. Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last freisprechen. Bonn: Psychiatrie Verlag. Mattejat, F. (2008). Kinder mit psychisch kranken Eltern – Was wir wissen und was zu tun ist. In F. Mattejat, F. Lisofski (Hrsg.), Nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch Kranker. Bonn: Balance-Verlag. Mattejat, F., Remschmidt, H. (2008). Kinder psychisch kranker Eltern. Deutsches Ärzteblatt, 105 (23), 413–418. Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) (2018). Gutachten zur bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung. Bonn: SVR.
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Birgit Görres, Nils Greve, Birgit Richterich
Schweitzer, J., Nicolai, E. (2010). SYMPAthische Psychiatrie. Handbuch systemisch-familienorientierter Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Vieten, B. (2009). Systemische Konzepte in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie – vom Solo- zum Formationstanz. Kontext, 40 (3), 261–278.
4.3 Kinderschutz: Ein Thema für die Gemeindepsychiatrie? Birgit Görres, Nils Greve, Birgit Richterich
»Wenn die Klassenlehrerin mich nicht im Vertrauen angesprochen und mit Frau H (Mitarbeiterin der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft Duisburg – PHG) bekannt gemacht hätte, weiß ich nicht, was dann aus mir und meinem Sohn Tom geworden wäre. Allein hätte ich vielleicht viel zu lange gewartet und nicht gewusst, wer uns helfen kann« (Frau M, alleinerziehende Mutter eines siebenjährigen Sohns, die psychisch erkrankt ist). Tom fiel der Klassenlehrerin in der Schule dadurch auf, dass er häufig zu spät kam und oft verlangsamt und ängstlich wirkte. Sie beobachtete eine zunehmende Verwahrlosung in seiner Kleidung und oftmals fehlende Verpflegung. Tom schien abzunehmen. Zunehmend wirkte er im Unterricht abwesend und zog sich von den anderen Kindern zurück. Die Klassenlehrerin sprach Tom darauf an und erfuhr, dass seine Mama oft müde sei und viel schlafen müsse, manchmal schaffe sie es daher nicht, ihn morgens rechtzeitig für die Schule zu wecken und ihm Brote zu schmieren. Die Klassenlehrerin organisierte daraufhin einen gemeinsamen Termin mit der Mutter und einer Mitarbeiterin der PHG Duisburg, die sie von der Netzwerkarbeit der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft in Duisburg kannte. Dieser Termin fand direkt in der Schule statt, ein erstes Zusammentreffen gelang. »Wenn ich zuerst in irgendeine Einrichtung gemusst hätte, die was mit Psychiatrie zu tun gehabt hätte, oder direkt zum Jugendamt – das hätte ich damals nie gemacht, aber in der Schule außerhalb des Unterrichtes – das war okay« (Frau M). Frau M fasste Vertrauen: Im zweiten Gespräch mit der Mitarbeiterin der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft erzählte sie von ihrer aktuellen Situation und den vorhandenen Schwierigkeiten. Frau M hatte große Angst, sich dem Thema einer möglichen psychischen Erkrankung zu stellen, und vermied es bis zu diesem Zeitpunkt, sich darüber zu informieren oder gar professionelle Hilfe wie die eines Therapeuten zu suchen. Auch der Gedanke, zu einer psychiatrischen Behandlung in
Kinderschutz: Ein Thema für die Gemeindepsychiatrie?
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eine Klinik zu gehen, war ihr als alleinerziehender Mutter völlig fremd – vor allem, da die Versorgung ihres Sohnes dann nicht gesichert wäre. In dem gemeinsamen Gespräch mit der Mitarbeiterin der PHG konnten nun ihre Ängste aufgegriffen und verschiedene Möglichkeiten für Mutter und Sohn aufgezeigt werden, um aus dieser belastenden Situation herauszufinden. Frau M entschied sich schließlich für das Angebot einer tagesklinischen psychiatrischen Behandlung. Für sie war wichtig, dass sie diese tagsüber besuchen, den Umgang mit ihrer Erkrankung erlernen und ab dem Nachmittag wieder zu Hause bei Tom sein könnte. Dieser würde während der Zeit im offenen Ganztag der Schule betreut und versorgt. Da die Bedarfe des Kindes sowie der Mutter in dieser sich krisenhaft zuspitzenden Situation unterschiedlich waren, stellte die PHG zwei Mitarbeitende für die Betreuung von Mutter und Kind bereit. Durch die Mitarbeitenden wurden kindgerechte Informationen über die Erkrankung der Mutter an Tom vermittelt. Mit Tom und seiner Mutter wurde ein kindgerechter Krisenplan abgesprochen – er wusste dadurch, wo er sich bei Schwierigkeiten melden konnte und bei welchen Anzeichen – die Mutter hatte ihm dies ausdrücklich erlaubt. Mit den Ansprechpartnern von Tom wurde abgesprochen, wie sie ihn unterstützen konnten. So würde etwa der Fußballtrainer des Fußballvereins anrufen, wenn Tom nicht zum Training komme, um sich bei Tom zu erkundigen, ob es mit dem Bringen zum Training gerade nicht klappt oder ob Hilfe benötigt wird. Mehrere Phasen mit vielen »Traurigtagen« seiner Mutter folgten. Dadurch, dass er einen festen Ansprechpartner bei der PHG hatte, wusste er, an wen er sich bei Bedarf wenden konnte. Wichtig war auch für ihn, dass sein Ansprechpartner mit ihm über die Erkrankung seiner Mutter sprach und ihn entlastete, indem er ihm versicherte, dass er keine Schuld an der großen Traurigkeit seiner Mutter habe. Des Weiteren fand ein gemeinsames monatliches Gespräch mit Toms Mutter statt. Es kam zu weiteren Familiengesprächen. Ein möglichst normales Netzwerk für die beiden sowie eine Unterstützung der Mutter im Alltag und in der Erziehung wurden durch die Mitarbeitenden der PHG organisiert. Besonders wichtig war dabei die Aktivierung familiärer und nachbarschaftlicher Hilfenetze durch die Mitarbeitenden der PHG. So half, unter anderen, die Mutter eines Kindergartenfreundes von Tom der Familie. Dort durfte Tom klingeln, wenn es seiner Mama nicht gut ging. Häufig ging die Mutter des Kindergartenfreundes gemeinsam mit ihm und ihrem Sohn auf den Spielplatz. Die Oma von Tom kam nun regelmäßiger vorbei – einmal in der Woche kam sie auch abends nur zu Tom. In dieser Zeit besuchte ihre Tochter eine Selbsthilfegruppe psychisch erkrankter Menschen in den Räumen der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft. Frau M engagierte sich zunehmend in der Selbsthilfegruppe: »damit auch andere wissen, dass man auch mit psychischen Problemen eine gute Mutter sein kann, und wissen, wo man Hilfe kriegen kann.«
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Birgit Görres, Nils Greve, Birgit Richterich
Sie selbst und Tom benötigten nach einiger Zeit keine professionelle Hilfe mehr. Ein Notfallplan wurde gemeinsam entwickelt und mit allen Beteiligten besprochen. Eine Vereinbarung wurde getroffen, dass Tom die Mutter seines Kindergartenfreundes und den Mitarbeiter bei der PHG Duisburg wieder anrufen darf, falls seine Mutter mal länger als drei Tage schlecht aufstehen kann und tagsüber traurig ist. Was Frau M dann helfen könnte, ist besprochen und steht im »Notfallplan«, den alle kennen.
Der Dachverband Gemeindepsychiatrie Die gemeindepsychiatrischen Trägerorganisationen im Dachverband Gemeindepsychiatrie verfügen über langjährige Beratungserfahrungen in den Lebensbereichen Gesundheit, Arbeit, Familie und soziale Teilhabe sowie über damit verbundene an den Lebenswelten ihrer Klienten orientierte komplexe Angebote der Behandlung, Pflege, Rehabilitation und Assistenz. Diese Bündelung von Kompetenzen und ihrer regionalen Netzwerke mit einem sozialpsychiatrischen Fokus sowie das Vorhalten unterschiedlichster Hilfearten aus unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern unterscheiden sie von anderen Leistungserbringern. Abbildung 1 zeigt die – idealtypischerweise vorhandenen – Angebote gemeindepsychiatrischer Träger, in denen psychosoziale Beratung belasteter Menschen zu unterschiedlichsten Problemfeldern eine wichtige Rolle spielt. bilitation und Teilhabe Reha Soziale Teilhabe SGB IX n. F.
Medizinische/ Berufliche Rehabilitation SGB V, VI
Kinder- und Jugendhilfe SGB VIII
Lotsenfunktion
Netzwek und Sozialraumarbeit
Gemeindepsychiatrische Organisationen
Kontakt/Treff Soziotherapie SGB V
Beratung und Begleitung
Aufgaben nach ÖGD/ PsychKG
Peer-Support
Lotse nfun ktion Ambulante und teilstationäre Behandlung SGB V
Hilfen zur Arbeit SGB II, III
Ambulante Ergotherapie SGB V
Behand lung und Pflege
Ambulante Psychiatrische Pflege SGB V und SGB IX
Abbildung 1: Angebote gemeindepsychiatrischer Träger (Quelle: Arbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrie Rheinland e. V., 2020)
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Viele gemeindepsychiatrische Träger sind auch Leistungserbringer der Jugendhilfe und halten – meist systemisch orientierte – Hilfen für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil vor.1 Seit vielen Jahren engagiert sich der Dachverband Gemeindepsychiatrie für den Aufbau von Hilfestrukturen für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil in den Kommunen und Kreisen. Hintergrund ist die in seinem Leitbild formulierte lebensweltorientierte Sichtweise auf psychische Erkrankung und die daraus resultierende konzeptionelle und praktische Notwendigkeit, bei krankheitsbedingten komplexen Problemen auch ein komplexes Hilfesystem aus einer Hand für den Betroffenen und seine Angehörigen zu organisieren.2 Im Rahmen eines vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Projekts zu Wirkfaktoren institutioneller Vernetzung zwischen Jugendhilfe und den Hilfen der Gemeindepsychiatrie stand das Projekt KipE der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft Duisburg als eines von sechs bundesweiten Good-PracticeModellen im Fokus der Betrachtung.3 Es soll daher im Folgenden genauer vorgestellt werden. Die Psychiatrische Hilfsgemeinschaft Duisburg Duisburg ist eine gut vernetzte Region mit einer langen Geschichte des Aufbaus ambulanter Hilfenetze für psychisch erkrankte Menschen und ihre Familien. Die Psychiatrische Hilfsgemeinschaft Duisburg (PHG) als langjähriger Anbieter unterschiedlichster lebensweltorientierter ambulanter Hilfen für psychisch Erkrankte ist sowohl in der ambulanten Versorgung und Betreuung psychisch erkrankter Menschen als auch im regionalen Hilfenetz für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil darin fest etabliert. Im Rahmen ihres breit gefächerten Hilfeangebots erbringt die PHG auch Leistungen der Jugendhilfe: Sie hält im Rahmen der Hilfen zur Erziehung Angebote der Sozialpädagogischen Familienhilfe, die intensiv-sozialpädagogische Einzelfallhilfe, die Erziehungsbeistandschaft, die stabilisierende Familienhilfe, die aufsuchende Familientherapie sowie verschiedene Gruppen für Eltern und Kinder vor. Die PHG Duisburg arbeitet nach einem strukturierten qualitätssichernden Verfahren des Jugendamts Duisburg. Dieses ist auf ihre Hilfemöglichkeiten als 1 Vgl. www.dvgp.org/themen-engagement/kinder-psychisch-erkrankter-eltern.html (Zugriff am 29.7.2022). 2 Vgl. www.dvgp.org/veroeffentlichungen/kinderbroschueren.html (Zugriff am 29.7.2022). 3 Vgl. www.dvgp.org/fileadmin/user_files/dachverband/dateien/Materialien/Leuchttuerme_Kinder/1479-PSY_Leuchtturmprojekte_RZ_web.pdf (Zugriff am 29.7.2022).
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breit aufgestellter gemeindepsychiatrischer Träger (Hilfen im Bereich Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, ambulante Behandlung, Arbeit, Sozialraumarbeit) abgestimmt. Die PHG Duisburg beschäftigt in ihrem Jugendhilfebereich zertifizierte Kinderschutzfachkräfte und ist mit dem Jugendamt über inzwischen dreißigjährige Kooperationsstrukturen verbunden. Im Umfeld von Eltern mit psychischen Problemen wissen die Mitarbeitenden von Kindergärten, Schulen, Kliniken etc. von diesen Unterstützungsangeboten der PHG Duisburg. Daneben hält die PHG die Beratungsstelle »KipE« als niedrigschwellige erste Anlaufstelle für Kinder und deren psychisch erkrankte Eltern sowie für weitere Angehörige vor, da von einer psychischen Erkrankung immer das ganze Familiensystem berührt wird. Ein erstes Gespräch, das auch anonym geführt werden kann, bietet für psychisch erkrankte oder besonders belastete Mütter und Väter die Möglichkeit, das jeweilige Anliegen zu besprechen, mögliche Fragen zu beantworten und über weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu beraten. Wenn es gewünscht wird, können in einem Folgegespräch auch weitere Angehörige mit eingebunden werden. Neben dieser Funktion als Anlaufstelle nimmt KipE aber auch andere Aufgaben wahr. So werden mithilfe von Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit die bereits bestehenden Hilfsangebote bedarfsgerecht weiterentwickelt und die Öffentlichkeit über psychische Erkrankungen informiert und sensibilisiert. Der unserer4 Arbeit zugrunde liegende systemische Ansatz Die psychische Erkrankung eines Familienmitglieds führt bei allen Familienmitgliedern zu einer belastenden Situation. Häufig sind für eine erfolgreiche Arbeit mit Familien mit psychisch erkrankten Familienmitgliedern komplexe Hilfen durch mehrere helfende Einrichtungen und Dienste mit Rahmenbedingungen aus verschiedenen SGB-Bänden und entsprechend heterogenen Konzepten beteiligt. Das obige Beispiel illustriert diese Vielfalt. Eine einheitliche Strategie aller beteiligten Hilfesysteme mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Aufträgen – und demzufolge anfänglich zum Teil differierenden Zielsetzungen – stellt eine große fachliche Herausforderung an alle Beteiligten dar. Der Versuch, alle »auf einen Nenner zu bringen«, bewährt sich nur, wenn es gelingt, mit allen beteiligten Personen oder Einrichtungen verbindliche Absprachen zu treffen.
4 Dieser Abschnitt bezieht sich auf die im Dachverband Gemeindepsychiatrie organisierten sozialwirtschaftlichen Trägerorganisationen.
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Die Beteiligten bringen heterogene Auffassungen von »Störungen«, »Krankheiten«, »Defiziten«, »Krisen«, »Verhaltensauffälligkeiten«, »Erziehungsschwie rigkeiten« mit. Dementsprechend gibt es oft auch heterogene Zielsetzungen wie »Symptomunterdrückung«, »Inklusion/Teilhabe«, »Alltagsbewältigung«, »Recovery«, »Stärkung der Erziehungskompetenzen« u. v. m., die miteinander ins Gespräch zu bringen sind. Ziel ist dabei die gemeinsame Suche nach Lösungen, die allen Vorstellungen und Wünschen so weit wie möglich gerecht werden. Systemische Ansätze sind für diese Arbeit mit ihrer Vielzahl unterschiedlicher Beteiligter von vornherein gut geeignet – gehört doch zu ihren Grundannahmen von jeher die individuelle Vielfalt. Auf diese Vielfalt sollten sich die Gesprächsleitungen mit einer Wertschätzung der Sichtweisen aller Beteiligten einstellen (»Neutralität« im Sinne der Mailänder Gruppe; Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1981). Das gilt besonders für systemische Konzepte, welche die Förderung der Kooperation aller Beteiligten betonen und einen offenen Austausch mit wechselseitigen Reflexionen anregen. Zu nennen sind hier besonders die Arbeit mit Reflecting Teams (Andersen, 1990), der »dialogisch-kollaborative« Ansatz (Anderson, 1999) und der Offene Dialog (Seikkula, Alakare u. Aaltonen, 2003). Solchen Ansätzen gelingt es besonders leicht, alle Helfer:innen ebenso wie alle Familienmitglieder mit ihren individuellen Vorstellungen von den Problemen wie von möglichen Lösungen nebeneinander gelten zu lassen und mit dieser »Polyphonie« (Seikkula u. Arnkil, 2011) allseitig respektvoll umzugehen. Der Offene Dialog nach dem Vorbild der Region West-Lappland mit seinen »Netzwerkgesprächen« (»treatment meetings«) kann hier als exemplarische Adaption systemischer Konzepte für ambulant-psychiatrische Kontexte gelten. Von diesem Ansatz inspirierte Gesprächsformen haben sich im Laufe der Jahre an vielen Orten Deutschlands etabliert (Deissler, Keller u. Schug, 1995; Aderhold, Alanen, Hess u. Hohn, 2003; Aderhold u. Greve, 2007; Greve u. Aderhold, 2007; DGPPN, 2018, S. 102 f.; www.offener-dialog.de). Idealtypisch würden die betroffene Familie sowie alle beteiligten Helfer zu Beginn und nach Bedarf zu gemeinsamen Netzwerkgesprächen zusammenkommen, ihre Sichtweisen und Wünsche mitteilen und das weitere Vorgehen miteinander abstimmen. Eine der beteiligten Einrichtungen – im obigen Fallbeispiel die PHG Duisburg – würde die kontinuierliche Bezugsbegleitung und die Moderation dieser Gespräche übernehmen. Wegen der komplexen Strukturen des deutschen Gesundheits- und Sozialwesens gelingt es meist nicht, buchstäblich alle Beteiligten regelhaft in Netzwerkgesprächen zusammenzubringen; die Regel dürfte ein individuell angepasstes
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Vorgehen sein, bei dem je nach momentanem Bedarf Gespräche in unterschiedlicher Zusammensetzung stattfinden. Das Fallbeispiel illustriert diese Flexibilität recht gut. Für professionelle Helfer:innen ist die Arbeit in dialogischen Netzwerkgesprächen anfangs überraschend, sind sie doch eingeladen, ihre professionellen Sichtweisen im Beisein der Klienten und Angehörigen mitzuteilen und obendrein die gegebenenfalls gänzlich anderen Sichtweisen anderer Dienste auch dann als gleichberechtigt gültig zu akzeptieren, wenn sie eigenen Vorstellungen widersprechen. Dabei kann es dann durchaus zu Konflikten kommen, beispielsweise zwischen dem Kindeswohl verpflichteten Helfern und solchen, denen es vordringlich um die psychische Stabilität der Mutter geht. Letztlich gelingt es mit den Mitteln einer systemisch-dialogischen Gesprächsmoderation aber meistens, zu allseitig befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz in diesem Handlungsfeld Alle Angebote der ambulanten Jugendhilfe der PHG Duisburg sind je nach Bedarf an Eltern, Kinder oder beide gemeinsam gerichtet und aufeinander abgestimmt. Ziel der Arbeit ist es, Familien so lange und so gut wie möglich zu unterstützen, aber auch rechtzeitig zum Wohl der Kinder zu intervenieren. Dieses Ziel macht den Aufbau und die Vorhaltung entlastender und unterstützender präventiver Angebote für betroffene Familien unerlässlich. Die vereinbarten Ziele sowie der Umfang der Hilfe hängen demnach von dem entsprechenden Krankheitsbild und seinem Verlauf, der Familiensituation und vom Alter der Kinder sowie von deren Belastung ab. Durch die Konstellation von zwei Fachkräften, die sich um die betroffene Familie kümmern, können sowohl die Mutter als auch das Kind zu einer Person Vertrauen aufbauen. Diese Mitarbeiter:innen arbeiten gemeinsam in einem Team und haben teilweise eine systemische Ausbildung. Ziel dieser Teams rund um eine Familie ist der professionelle Blick sowohl auf den Bereich Kinderschutz/ Versorgung des Kindes als auch auf die Bewältigung oder Verhinderung psychiatrischer Krisensituationen. Durch die Arbeit im Team rund um eine Familie können sie divergierende Bedarfe miteinander aushandeln, wobei der Kinderschutz immer die höchste Priorität hat. Das Jugendamt zahlt allerdings nur für den Bereich, der sich unter die Steigerung von Erziehungskompetenz der Mutter fassen lässt. In einer gemeinsamen Supervision sowie einer Abstimmungsstunde im Monat können die Mitarbeitenden über die Teamberatungen hinaus nach einer guten Lösung für die Familie suchen.
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Einbeziehung des Familiensystems in die Prävention Grundsätze sowohl der Jugendhilfe als auch der gemeindepsychiatrischen Arbeit sehen die Beteiligung hilfesuchender Menschen als Selbstverständlichkeit im Hilfeprozess vor. Diese Beteiligung ist auch in den fachlich genutzten Hilfeplanungsinstrumenten etabliert; der Prozess der dialogischen und trialogischen Entwicklung passgenauer Hilfen ist konzeptioneller Bestandteil der Arbeit. Doch wie kann man mit differierenden Sichtweisen in Krisen umgehen, insbesondere, wenn einerseits das Wohl der Kinder gefährdet erscheint oder wenn es selbst- oder fremdgefährdende Tendenzen bei dem betroffenen Elternteil gibt? Wie jede Einrichtung der Jugendhilfe verfügt auch die PHG über ein Kinderschutzkonzept und entsprechend qualifizierte Kinderschutzfachkräfte. Übliche Konzepte zur Einschätzung des Kindeswohls werden auch hier angewendet und Schutzkonzepte entwickelt. Die Besonderheit der belastenden Familiensituation bringt es mit sich, dass dies durchaus häufig geschieht. Wesentlich ist bei dieser systemisch orientierten Arbeit, in nicht belasteten Zeiten der Familie einen gemeinsamen Plan zu erstellen, wie alle gemeinsam – und auch jeder auf seine Weise – mit einer möglichen erneuten Krise im Familiensystem umgehen kann, welche Hilfen hierzu gewünscht und notwendig sind und wie diese in Krisen genutzt werden können. Sehr hilfreich ist hier ein Krisenplan, der mit der Familie gemeinsam erarbeitet wird. Wir wissen aus der psychoedukativen Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen (vgl. Wienberg, Walther u. Berg, 2013; von Amering, Gössler, Katschnig u. Sibitz, 2002), wie wirksam es ist, wenn psychisch erkrankte Menschen in nicht akuten Krankheitsphasen mit professioneller Unterstützung ihre subjektiven Krankheitserlebnisse betrachten. Es gelingt in der Regel, individuelle Frühwarnzeichen zu definieren und hilfreiche Maßnahmen aus der Vergangenheit zu beschreiben. Der weitere Schritt ist nun, mit der Familie festzulegen, was bei welchen Frühwarnzeichen/Symptomen zu tun ist. Je nach Alter und Entwicklungsstand können hier auch die Kinder beteiligt werden. Auch die Grenzen des Kindeswohls bzw. der Belastung der Familie und der Zeitpunkt, ab dem im Notfall eine stationäre Unterstützung des betroffenen Elternteils notwendig ist, können hier gemeinsam festgelegt werden. In vielen Fällen ist dies in stabileren Phasen eines Familiensystems gut möglich. Im Anschluss werden konkrete Absprachen mit dem Hilfesystem getroffen. Die üblicherweise stattfindende Tabuisierung des Themas wird hierdurch ausdrücklich für die betroffenen Eltern außer Kraft gesetzt, der Parentifizierung der Kinder wird entgegengewirkt. Dies kann in unserem Beispiel dann idealtypisch so sein:
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– Tom weiß: Wenn seine Mama dreimal nacheinander morgens nicht aufsteht, darf er dies der Lehrerin erzählen. – Die Mutter hat in »guten« Zeiten ihre ersten Krankheitsanzeichen erkannt und dies mit ihrem Partner (nicht der Vater von Tom, nicht erziehungsbeteiligt) besprochen, sie hat sich vorgenommen, an einem bestimmten Punkt Hilfe bei einer festgelegten professionellen Person zu suchen. Falls ihr dies nicht gelingt, darf der Partner oder die Lehrerin dies einleiten. – Die Oma von Tom ist über dieses Vorgehen informiert und hat sich bereiterklärt, im Notfall vorübergehend zu unterstützen, dies kann sowohl im Haushalt der Familie sein als auch im äußersten Notfall bei einer notwendigen Fremdunterbringung bei der Oma zu Hause. – Tom nutzt seine Freizeitaktivitäten weiterhin, da eine Nachbarin und die Mutter eines Freundes ihn nun dorthin mitnehmen. – Eine Sozialpädagogische Familienhilfe wird unmittelbar mit einem Wochenstundensatz von acht Wochenstunden tätig, um die Familie zu unterstützen. – Eine unterstützende medikamentöse Behandlung der Mutter erfolgt, zusätzlich wird das Familiensystem durch Psychiatrische Krankenpflege täglich eine Stunde unterstützt. Die Mitarbeitenden des Pflegedienstes arbeiten nach Grundsätzen des Hometreatment. – Die Mutter besucht eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depressionen; ihr tut es gut, Menschen mit ähnlichen Problemen kennenzulernen, und sie gewinnt hier eine neue Freundin.
Solche oder ähnliche Pläne zu erarbeiten ist ein Prozess über einen längeren Zeitraum, in dem sowohl einzelne Gespräche mit Familienmitgliedern als auch gemeinsame Gespräche des Familiensystems mit Absprachen erfolgen. Inhalte sind das Erkennen und der Umgang mit Frühwarnzeichen für den psychisch erkrankten Elternteil, eine altersentsprechende Information der Kinder über die Erkrankung und ihre alltagspraktischen Folgen, die Enttabuisierung des Themas »psychische Erkrankung« und die Erlaubnis aller, sich die abgesprochene Hilfe zu holen, die Betrachtung des familiären Netzwerks und dessen Ausbau sowie die Entwicklung von Unterstützungsmöglichkeiten, die auch zugelassen werden können – einschließlich der konkreten Absprachen mit den entsprechenden Menschen und/oder Hilfesystemen. Und es ist zunächst ungewohnt und schwer, doch dann ungeheuer erleichternd und stabilisierend für alle Familienmitglieder, über dieses Tabu sprechen zu können und einen gemeinsamen Plan für den Notfall zu haben. Abschließend noch ein Hinweis in Anbetracht der Coronapandemie: Auch in Zeiten hoher Inzidenzen werden die persönlichen Kontakte zu Familien durch die
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PHG weiter unter Schutzmaßnahmen aufrechterhalten. Lediglich in Quarantänezeiten eines Familienmitglieds werden präsente Kontakte durch telefonische und virtuelle Treffen ersetzt. Hierzu benötigen alle Mitarbeitenden eine virtuelle Plattform, mit der sie in Familien kommunizieren können.
Herausforderungen einer erfolgreichen Kooperation Was hindert oder wie gelingt eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen psychiatrischen Institutionen und der Jugendhilfe? In gemeindepsychiatrischer Tradition, ressourcen- und erfolgsorientiert zu blicken, soll diese Frage hier hinsichtlich der Zutaten einer erfolgreichen Kooperation beantwortet werden. Blickt man auf das System der Jugendhilfe, steht hier jederzeit die Sicherung des Kindeswohls im Vordergrund. Diese Wächterfunktion des Jugendamts ist im Grundgesetz verankert. Auch wenn Maßnahmen wie die Sozialpädagogische Familienhilfe an freie Träger delegiert werden, so bleibt die Übernahme der Wächterfunktion beim Jugendamt. Im Vordergrund steht das Wohl des Kindes. Psychiatrische Hilfen setzen zunächst beim Wohl des psychisch erkrankten Menschen an, nur sukzessive gelingt es hier, die Familie in den Fokus zu stellen. Es liegt auf der Hand, dass die Interessen beider Systeme in Krisensituationen konträr sein können. Nicht nur bei betroffenen Eltern, sondern auch bei engagierten und identifizierten Mitarbeitenden beider Systeme bestehen Berührungsängste, die dazu führen, lieber nicht (oder sehr spät) das Jugendamt oder psychiatrische Dienste einzuschalten. Notwendig ist es, die benannten Schwierigkeiten nicht als Widerspruch zu sehen, sondern den unterschiedlichen Logiken Raum zu geben. Beide Standpunkte sind zu würdigen – und es gilt, einen gemeinsamen Weg zu finden, wie im vorherigen Abschnitt beschrieben. Die jeweiligen Ängste sind wahrzunehmen und können durch Kooperationen, die frühzeitig beginnen, abgebaut werden. Bewährt haben sich hier Netzwerke für Kinder psychisch kranker Eltern unter gleichberechtigter Beteiligung der Kinder-und Jugendhilfe und der Gemeindepsychiatrie. Im gemeinsamen Austausch können gegenseitige Strategien und Arbeitsweisen besprochen und ein regional abgestimmtes Vorgehen vereinbart werden. Das gemeinsam definierte Ziel ist die angemessene Versorgung von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. Die Vorteile dieser Herangehensweise liegen klar auf der Hand, wenn sie auch in der Umsetzung nicht immer unproblematisch sind, aber sie erscheinen sinnvoll und bereichernd. Denn der Blick auf die Familie – und damit auf die gesundheitsfördernden Faktoren, die für den psychisch erkrankten Elternteil geschaffen werden müssen, – wird gesichert, wobei die Jugendhilfe und die
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gemeindepsychiatrischen Hilfen unproblematisch vernetzt werden können. Dabei können die unterschiedlichen leistungsrechtlichen Übergänge bedarfsgerecht und fließend gestaltet werden. Literatur Aderhold, V., Alanen, Y., Hess, G., Hohn, P. (Hrsg.) (2003). Psychotherapie der Psychosen. Inte grative Behandlungsansätze aus Skandinavien. Gießen: Psychosozial Verlag. Aderhold V., Greve, N. (2007). Was Sie schon immer über die bedürfnisangepasste Behandlung wissen wollten. Psychosoziale Umschau, (3), 12–15. Amering, M., Gössler, R., Katschnig, H., Sibitz, I. (2002). Wissen – genießen – besser leben. Ein Seminar für Menschen mit Psychoseerfahrung. Köln: Psychiatrie Verlag. Andersen, T. (1990). Das reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über Dialoge. Dortmund: Modernes Leben. Anderson, H. (1999). Das Therapeutische Gespräch: Der Gleichberechtigte Dialog als Perspektive der Veränderung. Stuttgart: Klett-Cotta. Arbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrie Rheinland e. V. (2020). Jahresbericht 2020. Bergisch Gladbach: Arbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrie Rheinland e. V. Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V. (Hrsg.) (2019). Unterstützung für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil, Leuchtturmprojekte. Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V. (Hrsg) (2020). Unterstützung für psychisch erkrankte Mütter und Väter, Informationen für Betroffene und Angehörige. DGPPN (Hrsg.) (2018). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapie bei schweren psychischen Erkrankungen (2. Aufl.). Berlin: Springer. Greve N., Aderhold V. (2007). Psychotherapeutische Gemeindepsychiatrie – Was wir von der bedürfnisangepassten Behandlung übernehmen könnten. Psychosoziale Umschau, (4), 22–24. Richterich, B. (2013). Recovery, Reise zur Gesundung- Hoffnung macht Sinn. Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Seikkula, J., Alakare, B., Aaltonen, J. (2003). Offener Dialog in der Psychosebehandlung – Prinzipien und Forschungsergebnisse des West-Lapplandprojekts. In V. Aderhold, Y. Alanen, G. Hess, P. Hohn (Hrsg.), Psychotherapie der Psychosen – Integrative Behandlungsansätze aus Skandinavien (S. 89–102). Gießen: Psychosozial Verlag. Seikkula, J., Arnkil, T. E. (2022). Offener Dialog. Die Vielfalt der Stimmen im Netz. Köln: Paranus Verlag. Selvini Palazzoli, M., Boscolo, L., Cecchin, G., Prata, G. (1981). Hypothetisieren –Zirkularität – Neutralität: Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik 6 (2), 123–139. Wienberg, G., Walther, C., Berg, M. (2013). PEGASUS – Psychoedukative Gruppenarbeit mit schizophren und schizoaffektiv erkrankten Menschen. Köln: Psychiatrie Verlag.
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4.4 Die S3+-Leitlinie Kinderschutz als Schnittstelle von Medizin und Jugendhilfe Jessika Kuehn-Velten, Frauke Schwier
Systemischer Kinderschutz bedeutet nicht nur, die gesamte Familie im Blick zu haben. Es bedeutet auch, die Fachkräfte- und Hilfesysteme, mit denen die Familie zu tun hat, vernetzt zu denken und zu sehen. Dies betrifft in besonderer Weise Gesundheitswesen/Medizin und Kinder- und Jugendhilfe/Soziale Arbeit. Was Kinder und Eltern sehen, auch dann, wenn es um Fragen von Kindeswohl und Kinderschutz geht, ist ihre Lebenssituation, ihre persönliche Lage – und es sind ihre Probleme und Schwierigkeiten, die sie entweder in der Familie verorten oder aber in den Fachkräften, die im Sinne des Kinderschutzes von ihnen »etwas wollen«. Sie fragen sich vermutlich nicht differenziert: Was können und möchten Ärzt:innen, Jugendamt, Familienhilfe, Beratungsstellen für mich tun? Oft ist es eher anders: Sie erwarten Vernetzung und fürchten sie gleichzeitig. Denn im Kinderschutz geht es vielfach um Krisen und auch um Angst – Angst als ein verbindendes Gefühl. Was geschieht bei und mit uns? Werden wir uns verlieren, werden wir getrennt, einander weggenommen? Und auch die Angst differenziert nicht – oder wenn, dann nach anderen Fragen: Von wem erwarte ich das »Schlimmste«? Aufgabe der Fachkräftesysteme in der Auseinandersetzung um den Kinderschutz ist es, gemeinsam so zu sein und zu handeln, dass die Familien ihnen vertrauen können, gemeinsame Ziele zu entwickeln mit den Familien, gemeinsam sich mit Kindern, Jugendlichen und Eltern in ein Boot zu setzen, behutsam, damit es nicht zu sehr ins Schwanken gerät. Dafür haben in der Jugendhilfe das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG; vgl. Meysen, Lohse, Schönecker u. Smessaert, 2021), in der Gesundheitshilfe die S3+-Leitlinie Kinderschutz (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019) etwas getan – was noch fehlt, ist die Umsetzung und Weiterentwicklung mit den Adressat:innen, so, dass nicht größere Angst entsteht: »Die Fachkräfte rücken zusammen – müssen wir uns Sorgen machen?« Kooperation muss in erster Linie als Zusammenarbeit mit und für Kind und Familie verstanden werden. Die leitende Frage dafür bleibt: Was kann aus der Arbeit Gutes werden – für eben Kinder, Jugendliche, Eltern, Familien? Genau darin liegt eine Chance für einen gelingenden Kinderschutz.
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Schnittstellenarbeit im Kinderschutz Kinderschutz können wir nicht allein tun – dieser Gedanke leitet Kooperationsbemühungen vonseiten der Gesundheits- wie der Jugendhilfe. Fachkräfte haben über die letzten Jahrzehnte hinweg Kooperationsmängel im Kinderschutz gesehen und bearbeitet. Sie haben erlebt, wie Kinder und Jugendliche und ihre familialen Beziehungen aus dem Blick geraten sind, wenn die Ängste oder Spiegel- und Übertragungsphänomene in der Psycho- und Systemdynamik von Gewalt und Kindeswohlgefährdung Fachkräfte blockiert haben, zu Vermeidung oder Aktionismus und Konkurrenz unter Fachkräften und zwischen den Hilfesystemen führten. Dabei dürfen Fachkräfte ihre eigenen Schwierigkeiten in der Kooperation nicht wieder herantragen an die Familien; Hilfe soll ja Entlastung und nicht zusätzliche Belastung schaffen. Wenn alle am Kinderschutz beteiligten Professionen und Akteur:innen Kinder und ihre Zukunftsaussichten im Blick haben wollen, braucht es lebendige, gelebte Schnittstellen – und es braucht noch mehr als das: gute Übergänge an allen fraglichen Stellen für gelingendere Entwicklungen. Und gute Beziehungen in der Arbeit, die diese Übergänge gestalten. Schnittstellen zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe, zwischen Medizin und Sozialer Arbeit/Pädagogik ergeben sich, wenn Familien beide Hilfen und Expertisen brauchen können. Sie ergeben sich, wenn die Jugendhilfe zur Hilfeplanung, Gefährdungseinschätzung und für Schutzideen die Gesundheitshilfe an der Seite haben mag – und umgekehrt. Schnittstellen werden aber nicht nur wichtig, um etwa Gefährdung abzuwenden, sondern viel früher, präventiv, wenn Hilfe verhindern kann, dass Kindeswohlgefährdung entsteht. Um in den Korb der Hilfen des jeweils anderen Systems greifen zu können, müssen die Fachkräfte und Familien wissen, wie Arbeitsweisen und Verständnisse im Gesundheitssystem und in der Jugendhilfe sind, wer und was jeweils dazugehört. Die Informationen darüber müssen zutreffend, übereinstimmend und wahrhaftigsein. Leitende Fragen sollten sein: Wann macht es Sinn, sich an das eine oder andere System zu wenden und zusammenzuwirken? Wie kann dieser Sinn Kindern und Eltern verstehbar gemacht werden?
Die eigentliche Schnittstelle dabei ist die der Fachkräftesysteme zu Kind und Familie – und hier geht es immer darum, füreinander zu werben und Eltern, Kinder und Jugendliche für vernetzte Hilfen zu gewinnen, weil eben Gutes für sie daraus werden kann.
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Die S3+-Leitlinie Kinderschutz – ein Prozess gelebter Kooperation Leitfäden und Handlungshilfen schaffen eine Orientierung, um sich als Fachkräfte nicht zu verstricken, um Kinder und Familien im Blick zu behalten, um sorgsam zu sein, um Kinderschutz mit den Adressat:innen zu teilen und transparent zu handeln. Leitfäden sind Narrative, in denen wir alle, die wir beteiligt sind in Hilfe- und Kinderschutzverfahren, uns gegenseitig erzählen können, was wir wollen, wer wir sind und wohin es gehen soll im Kinderschutz. Die S3+Leitlinie Kinderschutz ist ein solches Instrument. Ihre Entwicklung ist selbst eine Geschichte der Kooperation: Sie wurde als medizinische AWMF-Leitlinie mit 39 medizinischen Fachgesellschaften unter Beteiligung von Jugendhilfe, Sozialer Arbeit, Psychologie und Pädagogik erstellt. Insgesamt sind 82 Fachverbände und Organisationen beteiligt. Die Leitlinie ist evidenzbasiert, orientiert sich an Kinderschutzkonstellationen und Best-Practice-Erfahrungen aus der Kinderschutzpraxis sowie an wissenschaftlichen Studien und Erkenntnissen. In Bezug auf Handlungsempfehlungen für die Medizin, die Klinik und ärztliche Praxis und für Kooperationen bedient sie sich des beständigen Prozesses der Verbesserung im Sinne des Demingkreises (s. Abbildung 1). Die weitere Qualitätsentwicklung der Prozesse wird vor allem durch das konsequente Einbeziehen der Kinder und Jugendlichen selbst wie auch durch die stetige reflexive Auseinandersetzung der beiden Handlungssysteme Medizin/Gesundheitswesen und Jugendhilfe/Soziale Arbeit gelingen können. B eständ
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Planen
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Handeln
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Überprüfen Abbildung 1: Demingkreis (Quelle: Kinderschutzleitlinienbüro, 2019)
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Die Leitlinie hat die Chance genutzt, über den Tellerrand hinauszuschauen. Sie hat begonnen, etwa den unterschiedlichen Sprachgebrauch in den Fachkräftesystemen zu verbinden. Sie hat die Handlungsbedingungen der jeweiligen Fachkräfte einbezogen.
Für gelingenden Kinderschutz ist Lernen etwas Zentrales: Lernen aus Fehlern und Unzulänglichkeiten, Lernen aus gelungenen und nicht gelungenen Hilfeverläufen, Lernen voneinander – von anderen Fachkräften, von Eltern, Kindern und Jugendlichen.
Die Leitlinie geht in ergänzenden Stellungnahmen offen mit Lücken und Unzulänglichkeiten um, etwa da, wo es die Arbeit mit Eltern und pädagogische/psychologische Hilfen für Eltern betrifft, ein primär ja auch eher nicht in der Medizin verankertes Thema. Hier wird Nachbesserungsbedarf in der wissenschaftlichen Studienlage und -analyse benannt, hier ist Entwicklung angesagt. Hier ist aber vor allem auch einer der wichtigen Übergänge zur Kinder- und Jugendhilfe, zur Beratung, die genau das tut und kann. Fachkräfte müssen im Kinderschutz nicht alles tun und können. Sie sollen wissen und erzählen, was sie können, was sie lernen wollen und können und wo sie anderen ihr Können, ihre Expertise, ihre Ressourcen lassen: der Jugendhilfe, der Familie und anderen. Die Berücksichtigung der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Sinne von konsequenter Information, aber auch Mitbestimmung zieht sich durch die gesamte Leitlinie und schafft Verbindung zu den Familien und zur Jugendhilfe gleichermaßen. Dies fordert, dass Kinder und Jugendliche, immer altersgerecht verstanden, etwa zu ärztlichen Untersuchungen ihr Einverständnis geben müssen, bei Untersuchungen und Behandlungen Wahlmöglichkeiten haben, dass ihre Wünsche und Einschätzungen gehört und beachtet und mit dem Kindeswohl abgeglichen werden. Der Kooperation ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Ähnlich wie die Jugendhilfe postuliert die Leitlinie familienbezogene und übergreifende Kooperation. Dafür wird die Bedeutung von Arbeitskreisen und Netzwerkstrukturen, von wechselseitigem Kennen, von systemübergreifenden gemeinsamen Fort- und Weiterbildungen, von gegenseitigem Respekt in Rolle, Aufgabe und Kompetenzen, von Transparenz und Klarheit in Verantwortungsstrukturen hervorgehoben. Die gute Ergänzung der Fachkräfte aus den unterschiedlichen Systemen sieht die Leitlinie vor allem darin, dass diese zu unterschiedlichen Zeitpunkten in
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Kontakt mit den Familien und Kindern kommen können – die Medizin nahezu regelhaft bereits um die Geburt herum. Kooperation für und mit Kindern und Eltern Die familienbezogene Kooperation der Fachkräfte ist kaum möglich und hat wenig Wert, wenn nicht die Zusammenarbeit mit den Familien das Bild von Kooperation leitet. Befinden und Befunde, Sorgen und Belastungen, Ressourcen und Resilienzen auf Augenhöhe und in Gleichwertigkeit der Beteiligten gemeinsam zu reflektieren ist die Voraussetzung für Kooperation. Sorgen um Kindeswohlgefährdung machen sie schwer. Die eingangs beschriebenen Ängste, die auch nachvollziehbare Abwehr gegen erlebte »Einmischung«, dagegen, dass Fachkräfte Teil von Familienthemen werden, gegen vermutete Bewertungen und ein Handeln »über den Kopf hinweg« gehören zu diesen Schwierigkeiten. Aufseiten der Fachkräfte betreffen die Ängste die Sorgen um Kinder und ein mögliches Scheitern der Hilfen. Angst führt nicht selten zur Abschottung und Isolation – oder zur Verbündung und damit Spaltung im System. Die Aufgabe der Fachkräfte ist es, dies zu erkennen und aufzulösen. Die gemeinsame Frage für alle Beteiligten ist: Was kann dienen, Ängste zu nehmen? Und wer von uns ist am besten darin, welche Ängste gut zu beantworten und gerade an dieser Stelle Sicherheit zu geben? Das geht nur, wenn Ängste Berechtigung haben dürfen und wenn die Frage der Besten für ein Thema, für eine Lösung auf Augenhöhe und nicht konkurrierend betrachtet werden darf. Kinderschutz bedeutet, Kinder, aber auch Familien vor Gewalt und Gefahren zu schützen – für ein Leben mit Gewalt und Gefährdung von Kindern haben sich die allermeisten Erwachsenen und Minderjährigen sicherlich nicht entschieden. Kinderärzt:innen können Vertrauenspersonen für Familien sein, ähnlich wie Erzieher:innen für Kinder. Wichtig ist zu erfahren, mit welchen Fachkräften aus welchen Hilfesystemen Familien gute Erfahrungen gemacht haben – und mit welchen eher nicht. Daran anzuknüpfen könnte es erleichtern, über Schwieriges, Überforderung, Konflikte zu sprechen, zu übereinstimmender Problemsicht und Hilfeakzeptanz zu kommen, damit Gefährdung verhindert oder abgewendet werden kann. Und auch die Fachkräfte haben dabei ihre Erfahrungshintergründe zu reflektieren – etwas, das, wenn sie es selbst erfahren, Familien vielleicht helfen mag, solche Wege einzuschlagen. In jedem Fall übrigens brauchen Reflexionen und Kooperationen zeitliche und finanzielle Ressourcen. Das steht in der medizinischen S3+-Leitlinie Kinderschutz ebenso wie in Haltungen und Forderungen der Jugendhilfe im Kinderschutz. Und noch etwas sehr Wichtiges eint beide:
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Kinderschutz ist Arbeit in Beziehung. Die Beziehung der Fachkräfte zu den Familien wird als leitend für gelingende Kinderschutzarbeit angesehen.
Familienbezogene Kooperation – zwei Beispiele Zwei Geschichten sollen die Praxis in die Schnittstellenfrage zwischen Gesundheits- und Jugendhilfe bringen. Zunächst Mino – was gibt es und was braucht es im Zusammenwirken? Mino ist fünf Jahre alt, er lebt allein mit seiner Mutter. Zum Vater hat der Junge keinen Kontakt. Die Mutter hat einen Freund, der zwar viel in der Wohnung ist, aber nicht dort lebt. Für Mino interessieren sich beide Erwachsene offenbar eher wenig; er war nicht geplant und »läuft so mit«, wie die Mutter sagt. Er sei ja ein unauffälliges Kind. Das wissen der Kinderarzt des Jungen und die Kita, die er besucht, von der Mutter. Mino hat einen Kitaplatz, kommt aber nur ein- bis zweimal in 14 Tagen in der Kita auch wirklich an. Die Mutter klagt über den weiten Weg und die frühe Aufstehzeit. In der Familie fehlt es an Tagesstruktur. Die Mutter ist nachts im Netz unterwegs, schläft meist bis mittags, das erzählt Mino in der Kita. Das Geld ist knapp, oft ist der Kühlschrank leer. Mino macht einen ungepflegten Eindruck. Der Kinderarzt macht sich Sorgen, weil er in der Entwicklung nicht einem Fünfjährigen entspricht. Er spricht schlecht, ist blass und dünn, wirkt freudlos. Die Mutter wie auch der Lebensgefährte beziehen staatliche Leistungen und haben keine Arbeitsstelle. Die Mutter würde gern wieder arbeiten gehen und von zu Hause wegkommen, das sagt sie immer wieder einmal. Sie wolle auch ihre Schulden loswerden. Der Kinderarzt und die Erzieherinnen in der Kita haben schon öfter die Mutter auf ihre Sorgen um Mino angesprochen und versucht, sie für Hilfe und Unterstützung zu gewinnen. Sie reagiert heftig abwehrend und meint, dass sie sich von niemandem nachsagen lasse, sie sei eine schlechte Mutter; sie brauche keine Hilfe. Sie hat keinen Kontakt zu ihren Eltern, die nie für sie da gewesen seien. »Da hätten Sie mal kommen sollen statt jetzt bei mir!«, entrüstet sie sich. Für Kinderarzt und Kita gilt es zu überlegen. Anknüpfungspunkte für die Fachkräfte sind die schwierigen Lebensbedingungen der Mutter, aber auch deren Entwertungserwartungen, die Angst, als schlechte Mutter dazustehen, die Furcht, sich bewegen zu sollen in ein gefährliches Neuland vielleicht. In Familien, in denen Kinder nicht gut gesehen, beachtet und versorgt werden, teilen die Familienmit-
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glieder in der Regel das Gefühl, nicht wichtig und wertvoll zu sein, kein Zutrauen und Vertrauen und keine Wertschätzung als Person zu erleben, wenig Zuversicht und Wirksamkeitserfahrung zu kennen. Minos Kinderarzt weiß darum, wie schnell diese Gefühle auch die Fachkräfte ergreifen können. Er lässt sich nicht entmutigen und nimmt die Ängste der Mutter ernst. Er erzählt, wie leid es ihm tut, dass die Mutter als Kind keine Hilfe bekam. Er regt Hilfe für die Schulden der Mutter an – ein Problem, das nicht unmittelbar ihre Beziehungsprobleme mit Mino betrifft und »ungefährlicher« sein kann. Und es gelingt ihm, die Mutter, die ihm doch ein bisschen vertraut, weil er bisher noch nicht so viel Forderungen an sie gestellt hat wie etwa die Kita, zu bewegen, einem Austausch mit ihm und der Kita gemeinsam zuzustimmen, in der Gewissheit, dass beide die Mutter für eine gute Mutter halten, eine, die will, dass es ihrem Kind gut geht. Kita und Kinderarzt haben miteinander und mit Mino und seiner Mutter an einem Strang gezogen. Sie waren achtsam und sind nicht in die Fallen von Entwertung, Vergessen, Zuschieben von Verantwortung geraten. Und so hat Minos Mutter schließlich sogar Hilfe vom Jugendamt im Rahmen einer Familienhilfe angenommen. Die braucht jetzt unendlich viel langen Atem für kleine Schritte – denn die Erwartung, ein paarmal mit den beiden zur Kita zu gehen, eine Tagesstruktur aufzustellen und dann zu denken, die Mutter könnte die Umsetzung ins eigene Handeln schon schaffen, scheitert. Zu tief sitzt das Bild eigener Vernachlässigung in dieser Mama, diesem groß gewordenen unversorgten Kind. Wir brauchen Geduld und Zeit – mit und für Kinder, Eltern und uns im Miteinander. Jugendamt, Kita und Kinderarzt sind bereit dazu. Und dann Clara – was gibt es und was braucht es im Zusammenwirken? Clara ist ein recht lebhaftes neunjähriges Mädchen. Sie lebt mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem leiblichen jüngeren Bruder zusammen. Beide Kinder besuchen alle 14 Tage am Wochenende ihren Vater. Wenn die Eltern aufeinandertreffen, gibt es immer noch Streit; die Besuchskontakte klappen aber. Clara ist in der Grundschule und besucht sehr gern einen pädagogischen Kindertreff am Nachmittag. In der letzten Zeit hat sie sich verändert, sie wirkt unausgeglichen, rastet manchmal aus, ist dann wieder phasenweise wie abwesend. In der Schule und im Kindertreff ist sie darauf schon angesprochen worden. Eines Tages erzählt sie im Treff wie beiläufig, dass der Stiefvater zu ihr ins Bett gekommen sei und sie am Po und an der Scheide gestreichelt habe. Die Leitung des Treffs ist sehr betroffen und aufgeregt und informiert in Absprache mit Clara die Mutter über die Sorgen und Anhaltspunkte. Diese kann die Schilderungen nicht glauben. Sie stellt noch am selben Abend ihren Ehemann zur Rede. Der Stiefvater streitet jegliche Übergriffe auf Clara ab. Daraufhin holen beide Clara zum Gespräch dazu, um die Sachlage zu klären. Clara ist total
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verunsichert, fängt irgendwann an zu weinen und meint schließlich, sie habe das vielleicht nur geträumt. Beide Eltern sind über diesen Verlauf sehr erleichtert und loben Clara dafür, dass sie »so ehrlich« ist. Das erzählt die Mutter am nächsten Tag der Pädagogin im Treff. Sie hält für ausgeschlossen, dass der Stiefvater »so etwas« mit Clara gemacht haben könnte. Er sei für die beiden Kinder wie ein Vater und kümmere sich wesentlich liebevoller um sie als der leibliche Vater. Zu weiteren Gesprächen darüber oder Hilfen ist die Mutter in keiner Weise bereit. Es kommt daraufhin seitens der Leitung zu einer Mitteilung an das Jugendamt, das den Vater einbezieht und eine Schutzvereinbarung vorschlägt, die besagt, dass Clara bis zu einer Klärung keinen Kontakt allein zum Stiefvater haben solle. Die Mutter zeigt sich fassungslos, dass nun das Jugendamt versuche, ihre Familie auseinanderzureißen. Der Druck in der Familie und bei den Fachkräften steigt. Was könnte passiert sein, was ist die Wirklichkeit? Die Antwort auf diese Frage würde viel entscheiden. Die Haltung der Mutter und des Stiefvaters, dass alles in Ordnung sei, steht der Vermutung der pädagogischen Fachkräfte auf mögliches Erleben sexueller Gewalt entgegen. Clara hat beide Wirklichkeiten erzählt, beide Wirklichkeiten verlangen, ernst genommen zu werden – und Clara ist nicht verantwortlich für die Klärung und dafür, wie die Erwachsenen mit der Unklarheit umgehen. Das wiederum ist die klare Haltung der Fachkräfte. Clara bekommt jedoch ein Gesprächsangebot, das ihr helfen kann, mit den Belastungen in der Situation umzugehen und die Dinge zu erzählen, die ihr wichtig sind. Und sie wird beim Kinderarzt vorgestellt und soll ärztlich untersucht werden. Hier erfahren alle Beteiligten das zugehörige Narrativ: Clara hat keine körperlichen Beschwerden, weshalb eine Untersuchung nur durchgeführt wird, wenn Clara einverstanden ist. Die Untersuchung kann Clara die Sicherheit geben, dass alles bei ihr in Ordnung ist – und sie darf auch hier sagen, was sie möchte. Clara entscheidet sich für eine Untersuchung – ohne die Eltern, nur mit dem Arzt und der Medizinischen Fachangestellten. Es ist körperlich alles in Ordnung. Nun heißt es für alle, auszuhalten. Das ist für den Arzt, die Pädagoginnen, die Beraterin und die Sozialarbeiterin des Jugendamts, aber auch für Clara und ihre Familie gleichermaßen schwer. Mit der Unklarheit umgehen heißt, dass Ängste und Aufregung weiter im System wohnen. Die Fachkräfte achten in der Zusammenarbeit darauf, Zeit zu geben, sich nicht »anstecken« zu lassen von der Dynamik von Geheimhaltung, Macht und Kontrolle, dass sie dabei bleiben, sich als Beziehungs- und Vertrauenspersonen anzubieten. Heute wissen wir um die sexuelle Gewalt – auch die inzwischen schützenden leiblichen Eltern.
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Übergänge gestalten im Kinderschutz Alle Kinder, Jugendlichen und Familien müssen Übergänge in Lebensphasen und im Alltag bewältigen: Übergänge in Entwicklung, Beziehungen, Rollen, Identität, Leistungen. Gute Übergänge im Kinderschutz zu gestalten ist eine Aufgabe auch und besonders für die Fachkräfte, eine Aufgabe, für die es oft noch keine befriedigenden Lösungen gibt. Übergänge betreffen die Gefährdungseinschätzung mit den unterschiedlichen Perspektiven, betreffen Hilfebeginn, -wechsel und -beendigung, Inobhutnahmen und Rückführungen, Zwangskontexte und Freiwilligkeit, betreffen Zuständigkeiten und Verantwortung, Lebensortwechsel untergebrachter Kinder und mehr. Übergänge können Neuanfänge und Wendepunkte sein, sind aber oft auch verknüpft mit großer Ungewissheit. Wie viel mehr noch im Kinderschutz! Und gerade deshalb ist es so wichtig, Zeit und Sorgfalt darauf zu verwenden. In einem Bild können wir uns gute, gelingende Übergänge als Brückenbau vorstellen oder als Hände, die sich ineinanderlegen, um sich dann achtsam, mit Zeit und Rückversicherung, wieder voneinander zu lösen. Für die Schnittstelle Gesundheitswesen/Jugendhilfe heißt das, eben nicht Schnitt-, sondern Übergangsstelle zu sein.
Systemischer Kinderschutz erwartet von den Akteur:innen, die Unterschiede der Systeme und Besonderheiten einzelner Professionen zu kennen, zu respektieren und ihre Expertise für Kinder, Jugendliche und Familien einzusetzen.
So unterscheiden sich die Professionen in ihren Aufträgen, und auch der Zugang der Familien zu ihnen unterscheidet sich. Methoden und Denkansätze der Systeme sind unterschiedlich geprägt, Sprache und Begriffe werden unterschiedlich gebraucht, und die Erfahrung in Bezug auf Fallverläufe und die sich daraus ergebenden Rückschlüsse für zukünftige Kinderschutzfälle können sich deutlich unterscheiden. Die Medizin arbeitet primär mit Behandlungsplänen, die Kinder- und Jugendhilfe mit Hilfeplänen. Beiden ist gemein, dass es um das Wohlergehen und die gute Entwicklung eines Kindes geht. Ein Instrument guter Übergänge können die Fallkonferenzen sein, die die S3+-Leitlinie Kinderschutz empfiehlt, analog zu den Hilfeplangesprächen der Jugendhilfe, unter Beteiligung von Eltern, Fachkräften verschiedener Professionen, Kindern und Jugendlichen oder, ein schöner partizipativer Gedanke der Leitlinie, von ihnen bestimmten Vertreter:innen – sofern es dem Kindeswohl nicht abträglich ist.
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Zu guten Übergängen gehört es, niemanden zu vergessen und aus dem Blick zu verlieren. Kein Kind, keinen Elternteil, keine Ärztin, keine Sozialarbeiterin und keinen Erzieher. Zu Übergängen gehört, an allen Berührungspunkten zuerst nach den Ressourcen zu schauen, um sie nutzbar machen zu können. Zu guten Übergängen gehört, Mitgefühl und Bescheidenheit, aber auch Mut und Zuversicht zu behalten und zu teilen. Wir sollten uns Fragen stellen: Wen und was braucht das Kind, die Familie, wann, wie, wo und wie lange? Danach wären Hilfeverläufe gemeinsam auszurichten. Da allerdings, wo die Abwehr gegenüber Hilfen übergroß ist, hilft vielleicht eine andere Frage: Kennen wir es, dass es uns zu schlecht geht, um Hilfe anzunehmen? Was täte uns dann gut? Wer hätte so etwas im Angebotskorb? Übergänge müssen von allen gewollt sein. Sie dürfen den Vertrauensschutz für Kinder, Jugendliche und Eltern nicht vergessen. Und wieder kommen wir zu der Stelle, an der es uns, den Fachkräften, gelingen muss, auf den Prüfstand zu gehen hinsichtlich der Frage, ob wirklich etwas Gutes für Kinder und Eltern daraus werden kann. Übergänge brauchen Überlegung, Individualität und Passgenauigkeit. Automatisierte Abläufe von Information, von Fallkonferenzen und Hilfeplanungen, von Festlegungen für Kontakte für Kinder und Jugendliche zu Eltern oder Unterbringungsstellen ohne den Aspekt des Kindeswillens, Kindeswohls, Elternwillens und eines möglichst guten Ausgangs gehen an den Bedarfen der Familien vorbei. Was ein Kind schützt, was die Entwicklung des Kindes fördert, was einem Kind und einer Familie hilft, ist immer eine Einzelfallentscheidung. Eines der Schlüsselthemen bei guten Übergängen ist Vertrauen. Die Fachkräfte aus den verschiedenen Hilfesystemen sind hier auch Modelle in der Weise, wie sie den jeweils anderen vertrauen, dass Familie und Kinderschutz bei ihnen »in guten Händen« sind. Das klingt einfach. Solange noch Vorurteile aktiv sind, dass in der Kooperation »im Zweifel immer die Ärzt:innen bestimmen« einerseits und dass andererseits die »Sozialarbeiter:innen beim Jugendamt nichts tun« (um nur zwei Klassiker herauszugreifen), ist die Entfernung zum Vertrauen groß. Ein erster Schritt sollte sein, dass die Fachkräfte selbst Vertrauen in ihre Hilfen und ihr System haben, dass sie ihre Möglichkeiten und Grenzen kennen. Ein guter Übergang in andere Hilfen hinein kann nur gelingen, wenn die Möglichkeiten und Grenzen auch des anderen Systems bekannt sind. Erst dann kann ein Übergang als Verbindung verstanden werden. Familien, die mit Vermutungen und Sorgen von Kindeswohlgefährdung leben, die sich in Krise und Not befinden, haben oft das Vertrauen in Hilfe verloren. Begleitung »über die Brücke« braucht, diese Dynamik zu verstehen, braucht viel Kontakt und Transparenz, um Vertrauensabbrüche der Familien zu verhindern und trotzdem das jeweilige Kind und seine Bedürfnisse im Blick zu behalten.
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Verantwortung gemeinsam tragen
Das KJSG spricht von der Verantwortungsgemeinschaft im Kinderschutz. Das ist eine berückende Idee und gleichzeitig ein hoher Anspruch. Eltern und Sorgepersonen sind zuvorderst zuständig für den Schutz ihrer Kinder. Die Fachkräfte kommen hinzu, wenn sie etwas sehen, hören, erfahren, das mit Hilfebedarf und/ oder Kindeswohlgefährdung zu tun hat. Die Kinder und Jugendlichen sind zu beteiligen, ohne ihnen Verantwortung für ihren Schutz und die Gefährdungseinschätzung zu geben. Wichtig bezogen auf die Frage von Verantwortung ist, sie zu teilen – und gut zu prüfen, wer zu welchem Zeitpunkt wofür und in welchem Auftrag verantwortlich handeln kann. Mit Eltern und Kindern gemeinsam können sich Gesundheitswesen und Jugendhilfe problemlos aneinander wenden. Es liegt ein Qualitätsgewinn darin, sich gegenseitig beraten zu können und damit das Spektrum der Zugänge und Einschätzungsmöglichkeiten zu erweitern. Ein weiterer Gewinn ist bei unterschiedlichen Einschätzungen der gemeinsame Zugang zu einer »insoweit erfahrenen Fachkraft« nach § 8a/8b SGB VIII und § 4 KKG. Diese Option wirklich als Verantwortungsteam aus Gesundheits- und Jugendhilfe wahrzunehmen ist noch die Ausnahme. Viel diskutiert ist der Teil der Kooperation zwischen Sozialer Arbeit, Pädagogik und Medizin, wenn das Gewinnen der Familien für Hilfen nicht gelungen ist und eine akute Kindeswohlgefährdung bleibt. Dann soll und darf das Jugendamt einbezogen werden mit Information an Eltern und Kinder auch ohne deren Einverständnis. Das Jugendamt soll die einbeziehenden Fachkräfte beteiligen und Ärzt:innen Rückmeldung geben über die Einschätzung und den weiteren Verlauf.
Verantwortungsgemeinschaft im Sinne der Kinder und Familien heißt hier, seitens der Fachkräfte nicht Beziehung und Verantwortung einfach an das Jugendamt abzugeben, sich die Familie nicht »zuzuschieben«, sondern von allen beteiligten Seiten zu versuchen, in Kontakt trotz der konflikthaften Lage zu bleiben.
Die Rückmeldung wiederum darf ebenfalls kein Automatismus werden. Vertrauensschutz bleibt in den brüchigen Hilfebeziehungen ein hohes Gut. Was, wem, wie viel im Einzelfall rückgemeldet wird, sollte nur einem Ziel dienen: dass Gutes daraus werden kann für die Kinder und Familien. Vorgehen und Vorteile von Rückmeldungen sollten bei fallübergreifender Kooperation immer thematisiert werden. Welchen Mehrwert hat die Rück-
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meldung für das Kind, aber auch für die einzelne Fachkraft und ihr zukünftiges Tun im Kinderschutz? Zur Verantwortung der Fachkräfte gehört die Entscheidung, wer wann worüber mit Kindern, Jugendlichen, Eltern spricht. Ist dafür jede:r in der jeweiligen Fachlichkeit zuständig oder lassen sich Informationen in einer Zusammenschau bündeln? Bestenfalls gäbe es vielleicht eine Fachkraft, die beständiger Wegbegleiter der Familie wäre und sich den Rat weiterer Fachkräfte einholen und diese einbinden könnte, um positiv auf die und mit den Familien zu wirken. Fazit für die systemische Praxis Fachkräfte aus Jugendhilfe und Gesundheitswesen sind auf dem Weg, gemeinsam mit den Familien, bei denen es um Belastung und Vermutung auf Kindeswohlgefährdung geht, die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen zu erkennen, mit dem Ziel, in beiden (und weiteren) Fachkräftesystemen entsprechende Hilfen zu finden, die wirksam sind und von den Familien angenommen werden und umgesetzt werden können. Übereinstimmungen mit den Kindern und den Familien zu finden und zu verstehen, was die Familien selbst für notwendig und umsetzbar erachten, das muss auch die Fachkräfte verbinden. Gute Anfänge sind gemacht, Kinder und Familien nicht auf dem Weg zu verlieren und in Beziehungen zu sein, in denen alle mitgenommen sind. Nun gilt es, diese Ideen verlässlich, wertschätzend, nachhaltig und kontinuierlich umzusetzen, Stolpersteine aus dem Weg zu räumen und die Beteiligung der Adressat:innen auch in die Konzeption von Verfahrensabläufen, Leitlinien und Gesetzen hineinreichen zu lassen. Literatur Kinderschutzleitlinienbüro (2019). AWMF S3+-Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie), Langfassung 1.0, 2019, AWMF-Registernummer: 027–069. Meysen, T., Lohse, K., Schönecker, L., Smessaert, A. (2021). Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG. Heidelberg: Nomos.
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4.5 »So jemand darf doch keine Kinder haben!« – Kinderschutz zwischen illegaler Sucht, Hilfe und Zwang Petra Ape, Birgit Averbeck
Die Geschichte von Elisa Elisa ist das erste Kind einer 22-jährigen Mutter, Frau X, die seit ihrer Pubertät Drogen konsumiert. Vor Elisa gab es zwei Schwangerschaftsabbrüche. Die junge Mutter hat bereits mehrere Entzugsbehandlungen hinter sich, zwei davon abgebrochen. Sie ging eine Beziehung mit einem ebenfalls drogenabhängigen Mann ein, sorgte für ihr Einkommen durch Straßenprostitution und wurde ungewollt schwanger. Nach einer weiteren Entzugsbehandlung zu Beginn der neuen Schwangerschaft konsumierte sie dann wieder regelmäßig Heroin, Kokain, Nikotin und gelegentlich Alkohol. Nach einem Zusammenbruch begibt sie sich in der 28. Schwangerschaftswoche zur Substitution mit Methadon in eine ärztliche Praxis für Suchtmedizin und erhält eine tägliche Dosis von 80 mg. Der Kontakt zum möglichen Kindesvater ist kurz vor der Geburt abgebrochen, er begründet dies damit, dass er nicht ausschließen könne, dass ein Freier der Vater sei. Frau X lebt in einem Einzimmerapartment in einem Dortmunder Vorort. Wie kann es weitergehen?
Illegale Sucht – ein Arbeitskontext mit Potenzial Das Thema Kinderschutz im Zusammenhang mit illegaler elterlicher Sucht ist ein hoch sensibles Handlungsfeld für Helferinstitutionen der Jugendhilfe, der Medizin und der Suchthilfe. Die in der Gesellschaft häufig postulierte, vermeintlich einfache, linear-kausale Ableitung, illegale Sucht von Eltern bedeute die dauerhafte Herausnahme von Kindern aus der Familie zu einem frühstmöglichen Zeitpunkt nach dem Motto »So jemand darf doch keine Kinder haben!«, spaltet manche Helferszene und greift zu kurz. Gleichwohl stellt der Konsum von (illegalen) Drogen der Eltern eine ernsthafte Bedrohung eines gesunden Aufwachsens von Kindern dar. Die Kinder drogenabhängiger Eltern sind laut verschiedener Studien (Klein, 2017; Lenz, 2006–2009; 2010–2011) eine Hochrisikogruppe zur Entwicklung späterer Suchtstörungen und vieler weiterer psychischer, sozialer und somatischer Probleme von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Da die Erhebung sensibler Daten in dem Bereich des illegalen Drogenkonsums schwierig ist, liegen aussagekräftige Zahlen zu betroffenen Kindern Drogen konsumierender Eltern in Deutschland kaum vor. Schätzungen zufolge
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stammen etwa 60 000 Kinder von einem opiatabhängigen Elternteil ab und leben teilweise mit diesem zusammen (Klein, 2003). Zahlen über Kinder aus Familien, in denen andere illegale Drogen, wie z. B. Cannabis, Kokain, (Meth-) Amphetamine und Neue Psychoaktive Substanzen (NPS), oder Medikamente eine Rolle spielen, liegen in Deutschland nicht vor. Die belastenden Lebensumstände der Eltern betreffen die Kinder auf verschiedene Weise. Es sind oft nachteilige strukturelle Bedingungen wie schlechte Wohnsituation, wenig Geld für Nahrung, mangelnde medizinische Versorgung, aber auch psychologische Belastungen, die für die Kinder drogenkranker Eltern kritisch sind. Auch schon für sehr junge Kinder sind es die Sorge und Angst um die Eltern, die zu Parentifizierungen führen können, verbunden mit Scham, einem Schweigegebot, der Angst vor Inhaftierungen der Eltern bei älteren Kindern und sozialer Isolation in Kindergarten und Schule: »Mit dem Kind spielst du nicht!«. Aus Studien u. a. von Michael Klein geht hervor, dass die Schädigungen bei Kindern drogenabhängiger Eltern in mehreren Bereichen gravierender als bei den Kindern Alkoholabhängiger sind. Die Kinder sind häufiger von der Abhängigkeit beider Elternteile betroffen, dadurch können die negativen Effekte des drogenabhängigen Elternteils nicht in ausreichendem Maß kompensiert (kein »Buffering«-Effekt) werden. Die Kinder sind häufiger von Trennungen betroffen und wachsen entsprechend häufiger bei nur einem Elternteil, in der Regel der Mutter, auf. Aber Sucht und ihre Folgen sind für die Kinder kein unabänderliches Schicksal, dem nur mit einer Fremdunterbringung, also einer Trennung von Eltern und Kindern, begegnet werden kann. Auch diese Kinder haben gute Chancen, sich zu gesunden, reifen, lebenstüchtigen Erwachsenen zu entwickeln, wenn sie entsprechend unterstützt werden (mehr dazu z. B. auf den Seiten des NACOA Deutschland e. V., der sich für die Interessen von Kindern aus suchtbelasteten Familien einsetzt). Die Hilfe, verbunden mit einem ehrlichen, diskriminierungsfreien und geschützten Beziehungsangebot vonseiten der professionellen Akteure in der Gynäkologie und der Suchthilfe an die Mutter, muss möglichst während der Schwangerschaft beginnen, denn Kinder sind bereits pränatal auf gelingende, systemübergreifende Kooperationen angewiesen. Das Ungeborene erlebt zu diesem Zeitpunkt seine erste Bindungserfahrung. Es lernt – oder auch nicht – Vorhersehbarkeit, Verlässlichkeit und Stressregulation. Dabei macht es einen Unterschied für die Entwicklung des Kindes, ob die Schwangere verlässlich und vorhersehbar ihre tägliche Methadondosis ohne weiteren Beigebrauch nimmt, in einem sozial sicheren Umfeld ohne zusätzliche Sorge um regelmäßige Ernährung und Unterkunft lebt und auf ihre eigene Gesundheitsfürsorge achtet oder dies nicht tut.
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Die Mutter von Elisa geht in der 28. Schwangerschaftswoche erstmals zur Gynäkologin, weil sie Blutungen hat. Dort wird ihr der Kontakt zu einer substituierenden Ärztin vermittelt und empfohlen, sich schon mit der Kinderklinik und der Fachkraft des dortigen Projekts »Start mit Stolpern« (Informationen in diesem Artikel) in Verbindung zu setzen. Da ihr dies auch schon vom Drogen-Café empfohlen wurde, ruft sie zunächst anonym in der Klinik an und fragt nach, was dort mit ihr und dem Baby geschehen wird. Sie hat Ängste, dass das Jugendamt ihr über die Klinik das Kind wegnimmt, wie es einer anderen Frau aus dem Café der Drogenhilfe passiert sei. Auf die Frage, ob sie dieser Frau aus dem Café ihr eigenes Neugeborenes zur Versorgung überlassen würde, antwortet sie nicht. Ein paar Tage später ruft sie erneut an, nennt ihren Namen, und es findet kurz darauf eine erste direkte Begegnung in der Kinderklinik statt. Beim nächsten Kontakt wird die Neugeborenenstation besucht. Frau X hat noch nichts für das Baby vorbereitet, will aber mit ihm leben. Was noch alles bis dahin passieren muss, wird besprochen. Dabei wird Frau X erklärt, warum der Kontakt mit dem Jugendamt wichtig ist und welche Hilfe eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) schon vor der Geburt und danach leisten kann.
Viele drogenabhängige Mütter und Väter haben negative Erfahrungen mit der Jugendhilfe gemacht, übertragen die Erlebnisse aus der Vergangenheit auf die Zukunft und haben in ihrer Wirklichkeitskonstruktion gute Gründe, Helfer:innen gegenüber kritisch zu sein und eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt abzulehnen. Gerald Hüther (2013) geht davon aus, dass diese ablehnende Haltung änderbar ist, wenn eine hohe emotionale Beteiligung – wie der Wunsch nach einer Mutterschaft – vorhanden ist und die professionellen Akteure in der Lage sind, Hoffnung zu vermitteln, dass Eltern durch eigenes Verhalten das Zusammenleben mit dem Kind ermöglichen können. Eine wesentliche Komponente ist dabei das Verhalten der Fachleute, das Glaubwürdigkeit und Vertrauen (wieder)herstellen kann durch einen offenen und einen gute Absicht unterstellenden, transparenten Umgang mit der Situation. Dabei bewegen sich Fachkräfte in der Balance zwischen Vertrauen und wachsamer Fürsorge. Es geht in der Regel um eine achtsame Neugier, das Gegenüber verstehen zu wollen und Ressourcen zu erkennen, aber auch um den Mut, Kontrolle klar und respektvoll zu kommunizieren und zu handeln, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Eine andere Mutter mit Suchterkrankung, die im eigenen Haushalt mit ihrem Baby lebte, wandte sich an die Fachkraft des Projekts »Start mit Stolpern« der Kinderklinik, die sie nach der Geburt ihres Sohnes betreut hatte. Sie kam zum vereinbarten Kontakt in Begleitung der SPFH. Die junge Mutter wirkte unkonzentriert, sprach verwaschen, hatte einen schlaffen Körpertonus, müde Augen, eine deut-
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lich Alkoholausdünstung und war unfähig, Kommunikation mitzugestalten. Sie war sichtbar völlig betrunken. Die Fachkraft machte deutlich, dass sie ihr in diesem Zustand ihr Kind nicht mitgeben könne und jetzt eine Inobhutnahme des Jugendamts einleiten werde.
Systemübergreifende Kooperationen als Herausforderung und Chance Die interdisziplinäre Kooperation zwischen Medizin, Drogenberatung und Jugendhilfe im Kontext Sucht und Elternschaft stellt eine Herausforderung dar. So sind die Systemlogiken, die Aufträge und Finanzierungsgrundlagen bis hin zu den Kulturen des Miteinanderumgehens in den drei Systemen sehr unterschiedliche. Familien sind darauf angewiesen, dass die Wechselwirkungen von interdisziplinären Hilfen auf Familienangehörige mitbeachtet und Leistungen aus den verschiedenen Sozialgesetzbüchern zusammengeführt werden. Ziel einer systemübergreifenden Kooperation ist eine gemeinsame auf den Einzelfall zugeschnittene Hilfe- und Behandlungsplanung, dafür fehlen aber auf der Bundesebene nach wie vor rechtliche Strukturen, die eine individuelle Verzahnung der Systeme vereinfachen. Ein kommunales Netzwerk »Kinder suchtkranker Eltern« aufzubauen und zu pflegen, das eine verbindliche und gleichrangige Kooperation der Akteure ermöglicht, bedarf der Entwicklung gemeinsamer Systemkulturen und stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Kooperationsvereinbarungen und Handlungsleitlinien sind eine Hilfe, die Komplexität zielführend zum Wohle der Eltern und Kinder zu strukturieren, sie allein reichen aber für das Gelingen von Hilfen auf Dauer in der Regel nicht aus. Die Qualität der Beziehung zwischen den handelnden Professionen, der Gynäkologin, der Kinderärztin, dem substituierenden Arzt, der Sozialarbeiterin im Jugendamt und den Ärzt:innen und dem Pflegepersonal in der Kinderklinik hat Einfluss auf die Wirksamkeit der Hilfe für die betroffenen Kinder und ihre Eltern. Elisa kommt plötzlich als Frühgeburt in der 32. Woche zur Welt. Frau X verbringt täglich mehrere Stunden auf der Station und beschäftigt sich intensiv mit ihrem Baby. Die angebotenen Gespräche nimmt sie gern an. Auf der Station finden in umfassender Netzwerkbesetzung die erste Helferkonferenz und anschließend das Hilfeplangespräch mit dem Jugendamt statt. Frau X lernt ihre Sozialpädagogische Familienhilfe kennen, und erste Ziel- und Aufgabenstellungen werden vereinbart. Während des stationären Aufenthalts von Elisa ist Unterstützung bei einer säuglingsgerechten Ausstattung der eigenen Kleinstwohnung wichtig. Frau X hatte die letzten
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sechs Wochen keinen Beigebrauch mehr, holt täglich ihr Methadon ab und erhält die Aussicht, wenn Elisa entlassen wird, ihr Substitut fürs Wochenende mitzubekommen. Die interaktionsorientierten Gespräche, das Zutrauen des Stationsteams in Frau X’s Fähigkeiten, konkrete Hilfestellungen in Bezug auf das Unterstützersystem durch Begleitung zu Ämtern und finanzielle Klärungen fördern die positive Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung. Nach 14 Wochen wird Elisa aus der Klinik entlassen. Das Jugendamt unterstützt und kontrolliert durch eine Sozialpädagogische Familienhilfe in der ersten Zeit mit zwanzig Stunden wöchentlich.
Ein Erfahrungsbericht: Zutaten zum Aufbau eines Netzwerks und zur Verstetigung eines interdisziplinären Kooperationsprojekts In Dortmund entstand Ende der 1990er Jahre eines der ersten interdisziplinären Netzwerke für Kinder drogengebrauchender Eltern in Nordrhein-Westfalen. Viele der damals tatsächlich aus der Not heraus entstandenen Erfahrungen gelingender Kooperation sind mittlerweile durch Studien belegt und gelten bis heute. Im Rahmen von wissenschaftlichen Modellprogrammen wurde von 1991 bis 1997 unter Beteiligung der Stadt Dortmund die Wirksamkeit der Methadonbehandlung nachgewiesen. Diese Untersuchungsergebnisse führten dazu, dass der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen Richtlinien erlassen hat, in denen die »Drogenabhängigkeit an sich« als Indikation anerkannt wurde zur Durchführung einer Substitutionsbehandlung zulasten der Krankenkassen. Ende der 1990er Jahre wurden in der Ambulanz des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) der Kinderklinik immer mehr Vorschulkinder mit ähnlichen Entwicklungsbesonderheiten wie motorischer Unruhe, Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten sowie eingeschränkter Impulskontrolle vorstellig. Anamnestisch fiel auf, dass diese Kinder schon einen oft mehrwöchigen neonatalen Entzug von Opiaten, aber auch anderen legalen und illegalen Substanzen durchgemacht hatten. Zeitgleich nahmen substituierende Ärzt:innen zunehmend Frauen und Männer wahr, die Eltern wurden oder geworden sind oder einen Wunsch nach Elternschaft hatten. Aus Sorge um die Kinder fand zunächst ein interdisziplinärer Runder Tisch statt, an dem sich Fachkräfte der Jugendhilfe, niedergelassene und Klinikärzt:innen und die Autorin Petra Ape für das SPZ beteiligten und aus dem sich dann der Arbeitskreis »Kinder drogenabhängiger Eltern« mit einem basisdemokratischen Konzept entwickelte. Die Treffen fanden reihum in den jeweiligen Einrichtungen statt, und die Einladenden waren für den Inhalt der Sitzung und die Moderation verantwortlich. Zu Beginn jedes Treffens fand eine kurze Vorstellung der gastgebenden Institution statt. So lernten sich die Vertreter:innen der Institutionen Klinik,
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Drogenhilfe, Jugendamt, Gesundheitsamt und Kinderklinik im Laufe der Zeit gegenseitig näher kennen und verstanden die Möglichkeiten, Grenzen und Systemlogiken der anderen besser. Mit dem gemeinsam erarbeiteten Ziel, Kinder drogengebrauchender Eltern zu schützen und insbesondere die Mütter in ihrer Bindung zu dem Kind als Schutzfaktor und intrinsische Motivation für Änderung von Lebensbedingungen zu stärken, entwickelte sich im Laufe des Prozesses ein gegenseitiges achtsames, lösungsorientiertes gemeinsames Agieren für die Familien. Die regelmäßige Reflexion gerade schwierig verlaufender Fallkonstellationen und Kooperationserfahrungen mit dem Fokus auf dem gemeinsamen Lernpotenzial sowie die gemeinsame Planung und Durchführung von Fachtagen führten zu einer immer verlässlicheren Zusammenarbeit und zu zunehmender öffentlichen Wahrnehmung. In diesem Zusammenhang entstand die interdisziplinär erarbeitete Checkliste »Schwangerschaft und Drogenabhängigkeit«, die auf der Homepage der Ärztekammer NRW viele Jahre abrufbar war und substituierenden Ärzten, Gynäkologinnen, Suchtberatern und Fachkräften der Jugendhilfe eine Handlungsleitlinie als Orientierung für die gemeinsame Arbeit mit den Familien aufzeigte. Ein Forschungsauftrag »Erziehungskompetenz suchtkranker Eltern« der Katholischen Hochschule Köln, Fachbereich Sucht unter der Leitung von Prof. Michael Klein, gefördert durch das Land NRW, führte zu einer Kooperationsvereinbarung mit dem Klinikum Dortmund. Die gewachsenen Kooperationsstrukturen ermöglichten, dass über vierzig suchterkrankte Mütter standardisiert befragt und bindungsdiagnostisch untersucht werden konnten. Der Türöffner zu den Müttern war die gewachsene Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen. Daraus entstand das Manual für suchterkrankte Eltern »MUT!« mit dem Ziel der Stärkung der Erziehungsfähigkeit. In Dortmund wurden diese Kurse unter interdisziplinärer Moderation von Mitarbeiterinnen der Jugend- und Drogenhilfe erfolgreich über Jahre durchgeführt. Des Weiteren entstand im Jahr 2000 das Präventionskonzept »Start mit Stolpern« im Klinikum Dortmund/Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und seinem Sozialpädiatrischen Zentrum. Die Defizite und Gefährdungen vieler neugeborener und sehr kleiner Kinder machten eine professionelle Vernetzung früher Hilfen für Familien mit Hochrisikobelastung notwendig. Das aus diesem Grund geschaffene Projekt »Start mit Stolpern« – der Name wurde von dem Netzwerkpartner Kinderschutzbund erfunden – wurde über Fördermittel und Spenden finanziert und der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Ziel ist, Kinder schon vor der Geburt so früh wie möglich wahrzunehmen, die werdende Mutter für umfassende förderliche medizinische und psychosoziale Hilfen zu gewinnen, sie dabei zu begleiten und damit das Kindeswohl sicherzustellen. Der
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Abbildung 1: Kooperationsbaum
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pädiatrische Zugang über die Sorge um das Kind ermöglicht den Aufbau von Vertrauen und ist bis heute für Eltern eine gute Brücke zum Jugendamt und zur Planung weiterer Hilfen. Das Projekt »Start mit Stolpern« ist mittlerweile als ein vonseiten des Jugendamts und der Kinderklinik regelfinanziertes Kooperationskonzept strukturell in der Helferlandschaft in Dortmund fest verortet. Es wurde 2008 beim ersten Forum Kinderschutz der Ärztekammer Westfalen-Lippe als »Best-PracticeModell« ausgezeichnet. Zusammenfassung der Zutatenliste Damit Kinder gemeinsam mit ihren drogenkranken Eltern aufwachsen können, sind gemäß Michael Klein Maßnahmen notwendig, die (1) früh einsetzen (Frühintervention), (2) das vorhandene Risiko adäquat wahrnehmen und bearbeiten, (3) mehrere Generationen überblicken (transgenerationale Prävention), (4) umfassend und dauerhaft sind (Case Management), (5) die ganze Familie einschließen (Familienberatung und/oder -therapie), (6) die Motivation zu guter Elternschaft und Suchtbewältigung verknüpfen (Motivational Inter viewing), (7) Resilienzen fördern bzw. entwickeln (Ressourcenorientierung) und (8) die regional und lebensweltorientiert sind (Verantwortungsgemeinschaft). Ein früh einsetzendes, langfristig und engmaschig arbeitendes Helfernetzwerk ist dabei Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung von Kindern im Haushalt ihrer drogenkranken Eltern. Gelingende Kooperation zu verordnen oder anzuweisen ist allerdings nicht möglich. Kooperationsvereinbarungen und Handlungsleitlinien sind wichtige strukturgebende Elemente einer Netzwerkarbeit. Die Heterogenität der Akteure der unterschiedlichen Systeme so zu nutzen, dass sie für die Familien wirklich hilfreich sind, können diese Elemente aber allein nicht bewirken. Das zeigt der Fall von Elisa deutlich. Die Zutaten gelingender interdisziplinärer Kooperationen zwischen Drogenhilfe, Medizin und Jugendhilfe, die bei den Familien ankommen, mögen zunächst banal klingen, fordern von den Akteur:innen jedoch vielfache Kompetenzen und stellen in Netzwerkprozessen über die Jahre hinweg durchaus Herausforderungen dar: Ȥ das gemeinsame Ziel eines gesunden und sicheren Aufwachsens von Kindern; Ȥ die Koordination und Struktur der Zusammenarbeit, verbunden mit intrinsischer Motivation der Akteur:innen zu gelingenden Hilfen; Ȥ eine gemeinsame ressourcenorientierte Haltung, die Eltern nicht auf ihre süchtigen Anteile reduziert, diese aber auch nicht ausblendet und einen wachsamen, fürsorgenden Blick auf die Kinder behält;
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Ȥ Kindeswohl und Kinderschutz an die erster Stelle der Kooperation zu stellen, nicht die Sucht; Ȥ Bereitschaft zu Transparenz, Respekt und Achtsamkeit in der Arbeit mit Eltern im Zwangskontext; Ȥ Erarbeitung einer paritätischen Netzwerkkultur auf Augenhöhe; Ȥ Netzwerkarbeit ist Beziehungsarbeit: Es braucht eine Bereitschaft, mit den Netzwerkpartner:innen in längerfristige, auch persönliche Beziehungen zu gehen; Ȥ gegenseitige Anerkennung der fachlichen Autonomie bei gegenseitiger fachlicher Achtung; Ȥ in den Mokassins des anderen gehen: Bereitschaft, die Unterschiedlichkeit der Kooperationspartner:innen als Ressource zu werten und die eigene Rolle und die Prozesse im Netzwerk konstruktiv-kritisch zu reflektieren; Ȥ ein frühzeitig miteinander vereinbartes professionelles Konfliktmanagement, um Irritationen und Missverständnisse konstruktiv zu lösen; Ȥ Toleranz, Offenheit und Kompromissbereitschaft; Ȥ Bereitschaft zu kreativen, individuellen Lösungen; Ȥ grundsätzliche Kenntnisse der Systemtheorie und der Selbststeuerung von Systemen; Ȥ einen langen Atem, Geduld, Beharrlichkeit und Humor. Netzwerkdarstellung Beispiel einer illegal suchterkrankten Mutter
Gynäkologische Praxen Geburtskliniken
Kinderärzte in Praxen
KLINIKUM DORTMUND »Start mit Stolpern« Stationär/Ambulant SPZ
»STARTHILFE«-AUFSUCHENDE ELTERNBERATUNG DES GESUNDHEITSAMTES Substituierende Ärzte Nachsorgenetz PSB Hebammen
Hausärzte Neurologen/Psychiater
MUTTER
Berufsbetreuer Bewährungshilfe Gesundheitsamt Methadonambulanz Sozialpsychiatrischer Dienst
Bereitschaftspflege Pflegefamilie Adoptivfamilie
KIND
VATER
N. N. Drogenberatungen Kontakt-Cafés Ambulant betreutes Wohnen
JUGENDAMT DER STADT DORTMUND Fallzuständiger JHD Abteilungsleitung Familiengericht SPFH Freie Träger der Erziehungshilfe
Abbildung 2: Netzwerkdarstellung (PSB: Psychosoziale Betreuung, SPZ: Sozialpädiatrisches Zen trum, JHD: Jugendhilfedienst)
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Petra Ape, Birgit Averbeck
Im Netz verstrickt oder wie scheitert man am effektivsten? Ruthard Stachowske (2009) stellt eindrücklich dar, dass in vielen Familien mit drogenkranken Eltern die gestörten Bindungsmuster und die Gewaltspirale von Generation zu Generation weitergegeben werden. Langfristige und das gesamte Familiensystem berücksichtigende Therapien bieten eine Chance für diese Kinder, ihre Familien und die nachfolgende Generation. Aber es sind nicht nur die therapeutischen Hilfen, die notwendig sind, damit Kinder in der Familie gemeinsam mit ihren suchtkranken Eltern aufwachsen können. »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen« lautet ein afrikanisches Sprichwort, das in diesem Fachbuch an mehreren Stellen zitiert wird. Es ist so wahr wie kompliziert. Eine Familie mit einer Drogenerkrankung eines Elternteils kann die Versorgung und Erziehung von Kindern nur leisten, wenn die Erkrankung komplex behandelt wird und die Familie von der »Dorfgemeinschaft« als Gesamtsystem beachtet und unterstützt wird. Wer aber sagt, dass es sich bei der Dorfgemeinschaft um eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Menschen handele? Wie in jedem Dorf gibt es auch in Netzwerken zwischen der Medizin, der Jugendhilfe und der Suchthilfe unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen, Sympathien und Antipathien, tabuisierte Konkurrenzen und Macht. Hier einige Beispiele aus der Praxis, wie man gelingend miteinander und mit der Familie scheitern kann: Ȥ Gespräche – auch in Anwesenheit der Mutter – polarisierend führen und davon überzeugt sein, die »allein seligmachende Wahrheit«, geleitet vom Blickwinkel der ureigenen Profession, zu kennen und durchzusetzen; Ȥ Vorurteile pflegen und sich als der bessere Helfer stark fühlen; Ȥ Wirklichkeitskonstruktion der Haltung »Medizin, Drogenhilfe und Jugendamt können nicht konstruktiv kooperieren« – also, warum Zeit und Energie dafür investieren? Ȥ Akteur:innen der anderen Systeme Anweisungen geben, wie sie sich zu verhalten haben; Ȥ Drohungen mit dem Jugendamtseingriff, verbunden mit Schuldzuweisungen Eltern gegenüber; Ȥ eine mittelschichtsorientierte »Heile Welt«-Vorstellung und eine idealisierte Mutter-Kind-Beziehung; Ȥ intransparent handeln und den Eltern gegenüber nicht kommunizieren, dass Helfende handeln müssen, wenn Kinder durch die Drogenerkrankung der Eltern in Gefahr geraten; Ȥ nicht zu handeln, um die Beziehung zu den Eltern vermeintlich nicht zu belasten oder aus Sorge vor schwierigen Dynamiken mit anderen Helfer:innen, kann zum Scheitern der Hilfen zulasten der Kinder führen.
»So jemand darf doch keine Kinder haben!«
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Ȥ Kümmern Sie sich nicht darum, dass die systemübergreifende Kooperation Stolpersteine bereithält, die systemimmanent und vorhersehbar sind. Fallen Sie aus allen Wolken, wenn es Unstimmigkeiten gibt, und verwenden sie keine Zeit für die Klärung. Ein professionelles und frühzeitig im Netzwerk implementiertes professionelles Konfliktmanagement, das in solchen Fällen niederschwellig einsetzen kann, hat das Potenzial, verfahrene Kooperationsverläufe wieder in eine für die Familie konstruktive Zusammenarbeit der Akteur:innen umzulenken. Ein Beispiel dafür wird im Methodenteil dieses Buchs im Kapitel 9.3, »sYpport«, dargestellt. Beteiligung der Betroffenen als systemische Grundhaltung – wie kann es gehen? Elisas Mutter wurde bereits während der Schwangerschaft in alle Überlegungen und die Planung von Maßnahmen für die Zeit nach der Geburt miteinbezogen. Sie hatte die Möglichkeit, die Säuglingsstation bereits vor der Geburt zu besuchen, einen Inkubator zu berühren und sich mit ihrer besonderen Verantwortung für den Säugling im Dialog mit der Fachkraft des SPZ auseinanderzusetzen. Ihre Sorgen und ihre Wünsche nach einem guten Wohnumfeld für sie und das Kind wurden ernst genommen, die SPFH half, eine kleine Wohnung zu finden und diese kindgerecht mit der Mutter auszustatten.
Die Beteiligung von Eltern und Kindern ist Grundlage eines systemischen Kinderschutzes und gilt auch für drogenkranke Eltern. Der Wunsch dieser Eltern, gute Eltern für ihr Kind zu sein – egal, wie alt es ist – und es durch ihre Sucht nicht zu schädigen, ist ein klarer Auftrag an Fachkräfte, die Eltern einzubeziehen, ihre Ressourcen und die ihres sozialen Umfelds zu eruieren und gemeinsam nach Handlungsoptionen in der individuellen Situation zu suchen. Dabei kann auch mit den Eltern eine Fremdunterbringung des Kindes zu dessen Schutz für die Zeit einer Drogentherapie oder langfristig erarbeitet werden.
Auch Eltern, bei denen vermutet wird, dass sie ihre Kinder schädigen, haben ein Recht auf Partizipation an Entscheidungen über ihr familiäres Leben. Sie verfügen über Ressourcen und Fähigkeiten, zu denen sie im Zusammenhang mit Krisen und Konflikten den Zugang verloren haben. Sie auf ihr schädigendes Verhalten zu reduzieren und deshalb nicht an der Planung von Hilfe- und Schutzmaßnahmen für ihre Kinder zu beteiligen,
164
Petra Ape, Birgit Averbeck
ist rechtlich illegitim und nimmt Eltern die Chance auf Verantwortungsübernahme, Selbstwirksamkeit und letztendlich eine konstruktive Änderung familiären Agierens (vgl. DGSF, 2020).
Grundsätzlich sollten in allen Kontexten von Beratung und Hilfe der Wille und die Ziele von Eltern und Kindern ernst genommen werden. Inwiefern eine Umsetzung möglich ist, muss im Einzelfall und im Prozess immer wieder neu geklärt werden. Dabei werden in Vereinbarungen mit den Eltern die wechselseitigen Verantwortlichkeiten und Erwartungen abgestimmt und festgehalten (Substitution, kein Beigebrauch, Kontrolle, tägliche Zusammenarbeit mit der SPFH). »Verdeckte Aufträge« z. B. an die SPFH gefährden das Gelingen der Hilfe. Das Transparenzgebot in der Zusammenarbeit mit drogenkranken Eltern stellt die Grundlage eines systemischen Kinderschutzes dar und ist Voraussetzung der Wirksamkeit der Hilfe. In dem Fallbeispiel wurde mit Frau X offen thematisiert, dass die SPFH auch einen Auftrag hat, ihren Drogengebrauch und ihren Umgang mit dem Säugling zu kontrollieren. Gerade auch in diesen kontrollierenden Kontexten von Hilfen ist eine kleinschrittige, ressourcenorientierte Arbeit mit den drogenkranken Eltern notwendig, um Hoffnung auf eine gute Zukunft zu machen und intrinsische Motivation für längerfristige suchttherapeutische Maßnahmen zu wecken. Beispiel: »Frau X, Sie kommen diesmal weniger zu spät. Was hat sich verändert, wie haben Sie das geschafft und können wir daran anknüpfen?« Partizipation ist keine Methode, sondern eine Haltung in der Zusammenarbeit mit Eltern. Folgende Fragen können in konkreten Fällen helfen, die eigene Haltung zu reflektieren und Partizipation zu leben: Ȥ Welche Gefühle habe ich, wenn ich an das Kind und die Eltern denke? Ȥ Was aktivieren diese Gefühle bei mir, was verhindern sie? Ȥ Welche psychischen und sozialen Ressourcen hat das Kind, welche die Eltern? Ȥ Was wünschen die Eltern, das ich tue/lasse, und was denke ich dazu? Welchen Auftrag nehme ich an und welchen auch bewusst nicht? Ȥ Was wäre für das Kind aus seiner Sicht jetzt hilfreich und was aus Sicht der Eltern? Ȥ Was brauchen die Eltern von mir und was von wem noch, um Verantwortung übernehmen zu können? Möglich ist es, dass auch Kinder aus Familien mit drogengebrauchenden Eltern durch die professionelle Expertise der Fachkräfte des Gesundheits- und Suchtwesens und der Jugendhilfe gute Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten sowie adäquate, individuelle Förderbedingungen erhalten und als Erwachsene
»So jemand darf doch keine Kinder haben!«
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ein eigenverantwortliches, gutes Leben führen können. Wünschenswert ist, dass viele dieser Kinder rückwirkend überzeugt sagen können, dass der geschärfte Blick und das konstruktive Miteinander der professionellen Helfer dies ermöglicht haben. Literatur Averbeck, B., Hermans, B. E. (2010). Kinderschutz – Kooperation und Konfliktmanagement. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 59, 744–753. DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (2020). Systemischer Kinderschutz: Kontexte, Wechselwirkungen und Empfehlungen (2. Aufl.). Köln: DGSF. Zugriff am 14.10.2022 unter https://www.dgsf.org/themen/systemischer-kinderschutz/ systemischer-kinderschutz-kontexte-wechselwirkungen-und-empfehlungen. Drogenbeauftragte der Bunderegierung (2017). Kinder aus suchtbelasteten Familien. Berlin: Publikationen der Bundesregierung. Gawehn, N., Ape, P., Engelbertz, J. (2015). Lebenswelt von Kindern in Hochrisikokontexten am Beispiel von Kindern in suchtkranken Familiensystemen. In L. König, H. Weiß (Hrsg.), Anerkennung und Teilhabe in der Frühförderung. Leitideen in der interdisziplinären Frühförderung (S. 155–161). Stuttgart: Kohlhammer. Hüther, G. (2013). Selbstheilung aus neurobiologischer Sicht. Mühlheim, Baden: Auditorium Netzwerk. Klinikum Dortmund gGmbh (Hrsg.) (2012). 10 Jahre »Start mit Stolpern«. Kinderschutz und Kooperation des westfälischen Kinderzentrums Dortmund (Redaktion: Petra Ape, Sandra Borgers, Anja Krauskopf). LWL-Koordinationsstelle Sucht (2015). Sucht in Familien, Teil 2: Start mit Stolpern im Dortmunder Netzwerk Kinderschutz (Redaktion: Petra Ape). Münster. Klein, M. (2003). Kinder suchtkranker Eltern – Fakten, Risiken, Lösungen. Familiengeheimnisse – wenn Eltern suchtkrank sind und die Kinder leiden. Dokumentation der Fachtagung vom 4. und 5. Dezember 2003. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung. Klein, M. (2006). Kinder drogenabhängiger Mütter. Regensburg: Roderer. Klein, M. (2017). Kinder substanzabhängiger Eltern: Auswirkungen auf die elterliche Erziehungsfähigkeit und die Entwicklung der Kinder. Vortrag im Rahmen der GWG-Jahrestagung, 10.11.2017. Zugriff am 14.10.2022 unter https://www.gwg-institut.com/wp-content/uploads/2017/12/ MKlein_Vortrag_MUC_Famgutachter_Eltern_Sucht_1117.pdf. Klein, M. (2018). Kinder drogenabhängiger Eltern – mehr als ein Suchtproblem Vortrag im Rahmen des Forums Frühe Kindheit 2018 am 15.–16.06.2018 in Köln. Zugriff am 14.10.2022 unter https://www.addiction.de/wp-content/uploads/2019/08/Suchtprobleme-und-hoch-belasteteBindungsentwicklung-Kinder-drogenabh%C3%A4ngiger-Eltern-%E2%80 %93-mehr-als-einSuchtproblem_Juni-2018.pdf. Lenz, A. (2007). Kinder als Angehörige psychisch Kranker. Präventionsmaßnahmen für Kinder psychisch kranker Eltern. Entwicklung, Implementierung und Evaluation (finanziert durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen). Studie. Laufzeit: November 2007 bis Dezember 2009. Stachowske, R. (2009). Drogen, Schwangerschaft und Lebensentwicklung der Kinder. Kröning: Asanger Verlag.
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Kathrin Stoltze, Heiko Schumann, Elke Stechbarth
Weiterführende Informationen Hinweise zum pädagogischen Umgang mit Kindern aus suchtbelasteten Familien im Kindergarten- und Schulalter: https://www.bag-jugendschutz.de/PDF/Dossier-Kinder-Suchtkranker-Eltern-web.pdf. Informationen zu Studien und wissenschaftlichen Erkenntnissen: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Broschueren/Broschuere_Kinder_aus_suchtbelasteten_Familen.pdf.
4.6 Kinderschutz im Rettungsdienst und die Notwendigkeit einer inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit Kathrin Stoltze, Heiko Schumann, Elke Stechbarth
Der Rettungsdienst befindet sich immer wieder in Notfallsituationen, bei denen auch Kinder zugegen sind, wobei das soziale Umfeld oder die Rahmenbedingungen des Notfalls ein erweitertes Handeln erforderlich machen. Damit rückt auch der Kinderschutz, der in den letzten Jahren in Deutschland von zahlreichen Maßnahmen und Gesetzesänderungen betroffen war, in den Mittelpunkt des rettungsdienstlichen Agierens (Fegert, Jud u. Plener, 2013). Viele dieser Änderungen sind sowohl dem Rettungsdienst als auch den Notärzten noch immer zu wenig bekannt (Fegert et al., 2013). Rettungsdienstmitarbeitende gehören zur professionellen Verantwortungsgemeinschaft im Kinderschutz und haben damit Pflichten, Befugnisse und Ansprüche (Schumann, Stechbarth, Thielmann u. Stoltze, 2022). Interprofessionelle Zusammenarbeit ist in diesem Kontext ein entscheidendes Kriterium für einen gelingenden Kinderschutz (Schumann u. Stoltze, 2020). Zu beobachten ist, dass in den letzten Jahren die helfenden Organisationen der Verantwortungsgemeinschaft stärker miteinander interagieren, um Kindeswohlgefährdungen schneller aufzudecken und effizienter zu handeln (Schumann, 2022). Gleichwohl findet sich in der Aus- und Weiterbildung ein erheblicher Nachholbedarf bezüglich dieses Themenfelds. Misshandlungen gegen Kinder und Jugendliche können in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten und zeigten eine deutliche Steigerung im Sinne der Kindeswohlgefährdungen im letzten Jahr. Das Spektrum (s. Abbildungen 1–5) erstreckt sich dabei von der psychischen Kindesmisshandlung, der psychischen und physischen Vernachlässigung über die körperliche Bestrafung, die körperliche Misshandlung sowie sexuelle Missbrauchshandlungen an Kindern und im Extremfall bis hin zu Tötungen von Kindern (BKA, 2020).
167
Kinderschutz im Rettungsdienst
Kindliche Todesfälle durch Gewalt und Vernachlässigung 160
152 112
113
100
136
133
120
143
140
80 60 40 20 0 2015
2016
2017
2018
2019
2020
Zahlen kindlicher Gewaltopfer pro Jahr
Abbildung 1: Zahlen kindlicher Todesfälle durch Gewalt und Vernachlässigung – Polizeiliche Kriminalstatistik (BKA, 2020)
Versuchte Mord- und Tötungsdelikte bei Kindern
134
140 120
98
100
76 53 45
44 43
2016
versuchte Morddelikte
58
45
2015
77
78 16
2017
2018
2019
32
20
26
36
40
52
52
60
0
87
80
versuchte Totschlagdelikte
2020
Opfer gesamt
Abbildung 2: Zahlen versuchter Mord- und Totschlagdelikte bei Kindern – Polizeiliche Kriminalstatistik (BKA, 2020)
168
Kathrin Stoltze, Heiko Schumann, Elke Stechbarth
Kindesmisshandlungen in Deutschland Opferzahlenentwicklung 4 600
4 542
4 500 4 400
3 700
2017
4 100
2016
3 950
3 900 3 800
4 180
4 100 4 000
4 247
4 200
4 237
4 300
3 600 2015
2018
2019
2020
Körperliche Misshandlungen pro Jahr (nach § 225 StGB)
Abbildung 3: Anzahl angezeigter Fälle körperlicher Misshandlungen – Polizeiliche Kriminalstatistik (BKA, 2020)
Sexueller Missbrauch an Kindern in Deutschland Opferzahlenentwicklung 16 500 16 000
15 936
15 500 15 000
14 606
13 500
14 600
14 500 14 000
16 921
17 000
13 000 12 500 12 000 2017
2018
2019
2020
Anzahl angezeigter Fälle zu sexueller Gewalt – aufgedecktes Hellfeld
Abbildung 4: Polizeiliche Kriminalstatistik zu sexueller Gewalt – aufgedecktes Hellfeld (BKA, 2020)
169
Kinderschutz im Rettungsdienst
Kinderpornografie (Herstellung, Besitz, Verbreitung) 19 000
18 761
18 000 17 000 16 000 15 000 14 000 13 000
6 512
7 000
5 687
9 000 8 000
7 449
11 000 10 000
12 262
12 000
6 000 5 000 2016
2017
2018
2019
2020
Abbildung 5: Polizeiliche Kriminalstatistik zu Kinderpornografie – aufgedecktes Hellfeld (BKA, 2020)
Arbeitskontext: Die Organisationsform des Rettungsdienstes Das Thema Kinderschutz im Rettungsdienst berührt den Oberbegriff »medizinischer Kinderschutz«. Rettungsdienstmitarbeitende gelten als Ausübende eines Heilberufs (Berufsgeheimnisträger). Wenn sie bei der Ausübung ihrer Profession in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen kommen, bedarf es immer eines umfassenden Blicks und gleichzeitig einer erhöhten Achtsamkeit für sogenannte Nebenfelder, nämlich dann, wenn die Minderjährigen nicht der Auslöser des Einsatzes sind. Die unten aufgeführten Fallbeispiele reflektieren die Realität des Rettungsdienstes sehr gut, denn 81 Prozent aller Einsatzfahrten im Rettungsdienst werden ohne Notarzt absolviert (Schmiedel u. Behrend, 2015). Demnach ist die medizinisch abverlangte Entscheidung nicht immer von Klarheit geprägt, sondern am ehesten von sozialer und medizinischer Komplexität, das Erfordernis zum Handeln ist jedoch offensichtlich. Der Rettungsdienst ist in Deutschland Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge und Gefahrenabwehr (Hennes, 2014). Da der Rettungsdienst zum Aufgabengebiet der »Inneren Sicherheit« gehört, liegt die Zuständigkeit im Kompetenzbereich der einzelnen Bundesländer. Daraus ableitend wird deutlich, dass jedes Bundesland über ein eigenes Rettungsdienstgesetz verfügt (vgl. 16 Gesetzgebungen).
170
Kathrin Stoltze, Heiko Schumann, Elke Stechbarth
Als Rettungsfachpersonal im Rettungsdienst werden der DIN (13050/04, NARK, 2015) entsprechend Rettungssanitäter, Rettungsassistenten sowie Notfallsanitäter subsumiert. Dabei assistiert die Einsatzkraft mit der niedrigeren Qualifikation der Einsatzkraft mit der höheren Qualifikation (Cordes, 2002). Die niedrigste Basisqualifikation im Rettungsdienst, mit einer dreieinhalb Monate dauernden Ausbildung, ist der Rettungssanitäter, der zudem kein staatlich anerkannter Ausbildungsberuf ist. Demgegenüber gehört der Notfallsanitäter mit seiner dreijährigen Berufsausbildung zu den staatlichen Gesundheitsfachberufen. Mit der Einführung des Notfallsanitätergesetzes 2013 wurden gleichzeitig auch die Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der neu eingeführten Berufsgruppe angehoben. Somit gehören u. a. zum Aufgabengebiet der Notfallsanitäter:innen auch invasive Maßnahmen wie z. B. das Legen von venösen Zugängen, die Defibrillation, die Intubation und die Gabe ausgewählter Medikamente (aktuell ca. 24 verschiedene Medikamente). Weitere Aufgaben im Rahmen der Notfallrettung sind die fachgerechte notfallmedizinische Versorgung von Notfallpatienten am Einsatzort, die sich in unmittelbarer oder zu erwartender lebensbedrohlicher Situation befinden (Hennes, 2014). Der Rettungsdienst ist an 365 Tagen 24 Stunden besetzt. Dafür stehen u. a. folgende bodengebundene Fahrzeugoptionen im Einsatzfall zu Verfügung: Notarzteinsatzfahrzeug (arztbesetztes Rettungsmittel) und Rettungswagen (nichtärztliches Rettungsmittel). Die Anzahl der Notarzteinsatzfahrzeuge ist im Vergleich zur Anzahl der Rettungswagen deutlich geringer. Die Entscheidung darüber, welches Fahrzeug zu welchem Notfall fährt, trifft der Disponent in der Rettungsleitstelle entsprechend der Notfallindikation sowie der Alarm- und Ausrückordnung des jeweiligen Bereiches. Pro Jahr fährt der Rettungsdienst rund 147 Einsätze bezogen auf 1 000 Einwohner (Schmiedel u. Behrend, 2015), mit steigender Tendenz von Jahr zu Jahr. Umgang mit und Erkennen von Misshandlungen Mögliche Misshandlungen bzw. deren Abklärungssituationen können sehr vielschichtig sein und sind vor Ort im Einsatz häufig nicht unmittelbar als solche erkennbar und/oder plausibel nachvollziehbar. Vor diesem Hintergrund ist der Umgang mit und insbesondere das Erkennen von Anhaltspunkten möglicher Kindesmisshandlungen in der Praxis immer wieder eine große Herausforderung (Richter u. Lessig, 2020). Deutlich wird dabei, dass die Möglichkeit, einige Anhaltspunkte für mögliche Misshandlungen differenzialdiagnostisch zu erkennen, häufig gar nicht in Betracht gezogen wird. Dabei spielen Furcht vor einer falsch-positiven Diagnose sowie die Unsicherheit bezüglich Handlungsbefugnissen, wie mit einem
Kinderschutz im Rettungsdienst
171
solchen Verdacht umzugehen wäre, und Sorge vor inadäquaten, ausagierenden oder aggressiven Reaktionen in einem Verdachtsfall eine große Rolle. In den vielfältigen Einsatzszenarien des Rettungsdienstes gibt es eben auch die vielfältigen Möglichkeiten von Gefährdungslagen, bei denen nicht unmittelbar eine Misshandlung auszuschließen ist. Der Rettungsdienst agiert in Notfallsituationen an einer »Schnittstelle« und hat dadurch die Möglichkeit, besondere Bedingungen/Gegebenheiten von möglichen Gefährdungen des Kindeswohls frühzeitig zu erkennen und mit angemessenen Maßnahmen dem entgegenzuwirken (Stoltze, Stechbarth u. Schumann, 2020). Fallbeispiel 1 inklusive einer Befragung von Einsatzkräften: »Das Kind im Hintergrund – wie hätten Sie gehandelt?« Der Rettungsdienst wird durch Frau K. in die Häuslichkeit gerufen. Ihr Mann klagt über starke Schmerzen, ist kaum ansprechbar. Am Einsatzort wird durch den führenden Notfallsanitäter eine Arbeitsdiagnose gestellt. Während der Anamneseerhebung im Einsatz nehmen die Rettungsdienstmitarbeiter ein sich im Haushalt befindliches ca. fünfjähriges Kind mit auffälligen Hämatomen im Gesichts- und Halsbereich wahr. Frau K. wird auf das Kind und die deutlich sichtbaren Hämatome angesprochen. Das Kind sei das gemeinsame Kind mit ihrem Mann, über die Herkunft der Hämatome macht sie lediglich ausweichende, kurze Angaben, lenkt vom Sachverhalt ab. Eine Untersuchung des Kindes lehnt sie ab. Es wird entschieden: Die Möglichkeit einer körperlichen Misshandlung am Kind muss abgeklärt werden. Die Rettungsdienstmitarbeitenden ziehen unmittelbar Polizei und Jugendamt hinzu. Die Rettungsdienstmitarbeitenden hatten im beschriebenen Fall zur Situation des Kindes ein ungutes Gefühl – im Sinne von: »Hier stimmt was nicht«. Sie agierten im Rahmen der Verantwortungsgemeinschaft zum Schutz des Kindes und zogen weitere Fachprofessionen hinzu. Auf dem Einsatzprotokoll wurde ein entsprechender Vermerk gemacht. In der Auswertung einer Studie (N = 457) zu der hier beschriebenen möglichen Einsatzsituation zum Kinderschutz und zur Kindeswohlgefährdung wird die bestehende Unsicherheit im Feld des Rettungsdienstes deutlich. Auf die Frage: »Haben Sie ausreichend Kenntnis über die erforderlichen Handlungsschritte im Kinderschutz?«, antworteten knapp 80 % der Einsatzkräfte mit »Nein«. Ein Viertel aller Einsatzkräfte würde die augenscheinlichen Hämatome gegenüber der Mutter nicht ansprechen und ein Fünftel würde keine Untersuchung des Kindes einleiten. Fast die Hälfte aller befragten Einsatzkräfte (46,7 %) gab an, dass sie das Kind nicht mitnehmen würden, und fast ein Drittel gab bezüglich der Fallbeschreibung an, dass sie keine Meldung für eine Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt einleiten würden (s. Abbildung 6).
172
Kathrin Stoltze, Heiko Schumann, Elke Stechbarth
Meldung an das Jugendamt?
68,61 %
ja
31,39 %
nein
0,00 %
10,00 %
20,00 %
30,00 %
40,00 %
50,00 %
60,00 %
70,00 %
80,00 %
Abbildung 6: Nutzung des medizinischen einseitigen Meldebogens zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung (Stoltze, Stechbarth u. Schumann, 2020)
Fallbeispiel 2: »Schnittverletzung! Und doch ist alles anders …« – Kinderschutz an der Grenze einer Profession Ostersonntag. Es ist 06:00 Uhr, eigentlich nur noch eine Stunde bis zum Schichtwechsel. Der Funkmeldeempfänger vibriert, der 14. Einsatz innerhalb des 24-Stundendienstes – Alarm für den Rettungswagen (RTW). Die Müdigkeit steckt noch in den Gliedern, die Stimmung ist am Tiefpunkt, die letzten Kräfte werden noch mal mobilisiert. Auf dem Funkmeldeempfänger steht die Einsatzmeldung: Schnittverletzung. »Wieder ein Betrunkener«, denkt sich die RTW-Besatzung, »vielleicht mit einer kleinen Schnittverletzung am Finger oder der Hand« – doch der Einsatz soll dramatische Züge annehmen. Noch halb im Schlaf sind wir mit dem RTW wenige Minuten später am Einsatzort, wir müssen in die dritte Etage. Der Notarzt ist nicht mitalarmiert, warum auch, es ist halt »nur« eine Schnittverletzung. Als die Polizei am Einsatzort, ohne unsere Anforderung, eintrifft, werden wir stutzig – hektisch laufen die Polizisten an uns vorbei, sehr seltsam diese Aktivität in diesem Zusammenhang. Die Polizisten stürmen in die Wohnung und finden eine Frau mit einer Schnittverletzung im Bereich der Pulsadern, die Verletzung ist jedoch nicht dramatisch. Ein anderer Polizist schreit durch die Wohnung: »Sanitäter, Sanitäter – hierher!« Wir betreten das Zimmer, aus dem der Polizist um Hilfe gerufen hat, und sehen Hilflosigkeit sowie Fassungslosigkeit in den Gesichtern. Ein lebloser Körper liegt im Bett, blutüberströmt und blass, der Unterkiefer ist nach unten geklappt. »Oh Gott, ein lebloses Kind«, ca. zwei Jahre alt, dem die Kehle mit einem Messer durchtrennt wurde, liegt vor uns. Tausend Gedanken stürzen auf uns ein.
Kinderschutz im Rettungsdienst
173
Eine Situation, auf die wir nicht vorbereitet sind und auch nicht vorbereitet wurden. Es ändert nichts an der Situation – wir müssen jetzt handeln. Wir versuchen, unsere Gedanken zu ordnen. Notarzt? Kinderkoffer? Reanimation? Zweiter Rettungswagen? Weitere Verletzte? Die Situation ist hochkomplex. Zudem die brennende Frage: Wie bekommen wir das Kind unter Reanimation ins Krankenhaus? Bis zum Eintreffen des nachgeforderten Notarztes vergeht gefühlt eine halbe Ewigkeit. Die sofort eingeleitete Reanimation wird nach Eintreffen des Notarztes weitergeführt. Das Kind wird unter Reanimation in die Klinik gebracht und 30 Minuten später, im Krankenhaus, für tot erklärt.
Für uns bricht eine Welt zusammen und das Desaster beginnt. Allein mit unseren Gedanken fahren wir zurück zur Dienstübergabe. Dienstende. Ohnmächtig, kaum in der Lage, uns abzulenken, fahren wir nach Hause zu unseren Familien; sowohl der Rettungssanitäter als auch der Notfallsanitäter haben ein kleines Kind. Psychisch am Boden, vollkommen melancholisch und nicht in der Lage, über die Situation zu sprechen, vergehen die Wochen, Monate und Jahre. Der Notfallsanitäter überlegt, ob er dieser Belastung standhalten kann. Er überlegt sogar, ob er den Beruf wechseln sollte. Letzten Endes hat er den Beruf nicht gewechselt. Hilfe zur Verarbeitung hat die RTW-Besatzung nie bekommen, aber auch nie eingefordert. Das Fallbeispiel zeigt eindrücklich die bestehende Problematik. Was erforderlich ist, ist eine das jeweilige Fachsystem würdigende interprofessionelle Zusammenarbeit. Für diese »wunden« Systemgrenzen sind wir sensibilisiert. Das Problem bisher: Jede Profession schaut hauptsächlich für sich, aber kaum über den Tellerrand – genau das ist aber erforderlich, um Kinder und deren Familien adäquat unterstützen zu können. Fragen an das System Rettungsdienst, die Beantwortung finden müssen, betreffen hier beispielsweise die Koordination in der Leitstelle, wenn Kinder involviert sind, den nicht angeforderten Notarzt sowie die Fürsorgepflicht der Organisation zur Reflexion psychischer Belastungen nach Einsätzen. Die Fragen, die dieses Fallbeispiel in Beziehung zum Kinderschutz und die dazugehörige Aus- sowie Weiterbildung aufwirft, gehen klar in Richtung Fähigkeiten und Ressourcenaktivierung unter besonderen Bedingungen, Netzwerkwissen zu Abläufen, Kinderschutz in sensiblen Bereichen von Familien (z. B. Wissen zur Trennung von Eltern, zu psychischen Beeinträchtigungen in Familien). Die Abstimmung innerhalb des Netzwerks Kinderschutz sieht einen Bedarf in der Zusammenarbeit zwischen Leitstellen der Polizei und der Feuerwehr/Rettungsdienst sowie der verschiedenen Organisationsstrukturen vor Ort (Jugendamt).
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Kathrin Stoltze, Heiko Schumann, Elke Stechbarth
Effektive Scheiterstrategien Die Autoren möchten einige Fragen und Gedanken formulieren, die die Chance erhöhen, Probleme im Handeln für das Handlungsfeld des Kinderschutzes im Rettungsdienst deutlich werden zu lassen. Ȥ Was ist wichtig und notwendig, um den Kinderschutz in der Arbeit des Rettungsdienstes generell aus den Augen zu verlieren? Ȥ Wie kann es mit hoher Wahrscheinlichkeit gelingen, dass die Mitarbeiter:innen die Achtsamkeit für eine mögliche Kindeswohlgefährdung in Einsatzsituationen verlieren? Es werden hier Kompetenzen erfragt, die erlangt werden müssen und sich in stetiger Weiterbildung und herausfordernder praktischer Tätigkeit verfestigen. Dafür muss sogar engagiert geworben werden, wie im Fallbeispiel 1 verdeutlicht wurde. Ȥ Wie schaffen es die Mitarbeiter:innen im Rettungsdienst, sich ausreichend der Aufgabe und der Rolle in der Thematik Kinderschutz zu verschließen? Ȥ Wie wird am besten Handlungsunsicherheit in diesem Handlungsfeld zementiert? Wie gelingt es jedem Einzelnen, dass es ihm/ihr schlecht geht? Ȥ Wie verhält sich das System Rettungsdienst so, dass es im Rahmen der Verantwortungsgemeinschaft, z. B. bei Einladungen zu Fachsteuerungsgruppen, aus dem Blickfeld gerät? Ȥ Wie gelingt es, dass der Informationsaustausch zu kinderschutzrelevanten Informationen zum Erliegen kommt? Beziehungsweise, wie bringe ich als System des Rettungsdienstes das Ansinnen einer Initiierung der Verantwortungsgemeinschaft zum Scheitern? Handlungsunsicherheit und möglicherweise auch Angst vor falschen Aktivitäten blockieren und beschränken den Kinderschutz. Mangelnder Informationsaustausch über kinderschutzrelevante Sachverhalte, innerhalb und außerhalb der eigenen Organisation, kann den Schutz eines Kindes in der Einzelsituation hemmen und mögliche fatale Folgen haben. Um gut agieren zu können, bedarf es der nicht immer vorhandenen Akzeptanz abweichender Sichtweisen. Gelingendes im Kinderschutz für dieses Handlungsfeld Abgeleitet aus den vorangegangenen Zeilen können sich folgende Fragen und Gedanken zu Gelingendem für dieses Handlungsfeld ergeben: Ȥ Welches Wissen zu Scheiterstrategien in der Kinderschutzarbeit ist bei den Beteiligten im Rettungsdienst (inkl. Leitstelle) unbedingt erforderlich?
Kinderschutz im Rettungsdienst
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Ȥ Welcher Austausch über unterschiedliche fachliche Normen und Begrifflichkeiten ist dafür ebenso unabdingbar? Ȥ Welche Form der Vernetzung – Stichwort transdisziplinäre Verantwortungsgemeinschaft – ist für den Rettungsdienst überhaupt geeignet? Und wie gelangen die relevanten Informationen und Angebote bis in jeden Rettungswagen? Die erlebte Kompetenz in kinderschutzrelevanten Sachverhalten ist mit einer hohen Verantwortung für den Rettungsdienst verbunden und kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Aus unserer Sicht erhöhen sich die Chancen für Gelingendes im Kinderschutz, wenn im Rahmen von Kooperation und Vernetzung der Rettungsdienst von der Jugendhilfe direkt und in einer Regelmäßigkeit gewürdigt, angesprochen und beworben wird. Zudem benötigt dieser spezielle Dienst Möglichkeiten der Reflexion, um sich in seinem System einen umfassenden Blick zu erarbeiten und um nicht als möglicher Außenseiter eines Heilberufs in Vergessenheit zu geraten. Das Wissen über andere kinderschutzrelevante Professionen und deren Aufgabenfelder, um Grenzen und auch um die unterschiedliche Auslegung von Begrifflichkeiten im jeweiligen System kann im Handlungsfeld des Kinderschutzes nur förderlich sein. Dies kann durch stetige Kooperation und gemeinsame Fortbildungen erreicht werden. Sinnvoll ist die Implementierung von praxisgeprägten Seminaren und Weiterbildungen zum Thema Kinderschutz für Einsatzkräfte im Rettungsdienst. Dabei ist es wichtig, dem Rettungsdienst Grundlagen der Kinderschutzarbeit zur Verfügung zu stellen, damit die Fachkräfte ihre Rechte kennen, um ihren Pflichten und Befugnissen nachzukommen. Ein weiteres bedeutendes Handlungsfeld im Rahmen der interprofessionellen Zusammenarbeit sind Seminare zu rechtlichen Normen, zum Datenschutz und insbesondere zur Gesprächsführung mit den Betroffenen bei dieser sensiblen Thematik. Auch ist das Instrument einer »Anonymen Fallberatung« für erfolgreiche Prozesse zu verbreiten und zu bewerben. Beteiligung der Betroffenen Das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) stellt durch § 4 KKG hohe Anfor derungen an die Berufsgeheimnisträger und so eben auch an die Mitarbeitenden des Rettungsdienstes. Eine zusätzliche herausfordernde Situation ist, wenn das betroffene Kind nicht Auslöser des Einsatzes war, jedoch Anhaltspunkte einer möglichen Misshandlung bei einem anwesenden Kind oder Jugendlichen wahrgenommen werden. Ein sensibler Umgang mit den Betroffenen (Eltern, dem
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Kind oder Jugendlichen) im weiteren Handeln benötigt Kompetenzen, die häufig nur schwer in einer konkreten Einsatzsituation umzusetzen sind. Jedoch schreibt der Gesetzgeber klare Handlungsschritte vor (§ 4 KKG) – Betroffene müssen beteiligt werden, soweit der Schutz des Kindes/Jugendlichen nicht infrage gestellt wird. Nun ist die Situation des Rettungsdienstes in einem Einsatz eine besondere bei einer möglichen Gefährdungslage. Die Betroffenen sind unbekannt, es sind weitestgehend einmalige Kontakte. Dennoch müssen die wahrgenommenen Anhaltspunkte und notwendigen weiteren Handlungen angesprochen werden. Dazu gehört auch aus der rechtlichen Befugnisnorm des BKiSchG eine mögliche Meldung an das Jugendamt, gegebenenfalls ohne Einverständnis, aber mit Wissen der Betroffenen, soweit der wirksame Schutz dadurch nicht gefährdet ist. Durch Beteiligung und Information darf die gesamte Handlungs- und Einsatzsituation nicht zu einer weiteren Gefährdungslage führen. Systemische Methoden in der Ausbildung und Selbstreflexion – systemischer Kinderschutz im Rettungsdienst Kenntnisse über ihre Kinderschutzrolle in ihrer Profession sind im Handlungsfeld des Rettungsdienstes absolut notwendig und sinnvoll. Wie im medizinischen Kinderschutz ist die Arbeitsweise auch hier, interdisziplinär und zunehmend auch transdisziplinär zwischen Medizin, Jugendhilfe, Polizei und Justiz zu agieren. Gerade in der Situation eines Rettungsdiensteinsatzes ist die häufig erlebte zusätzliche Frage einer möglichen Kindeswohlgefährdung sofort komplex. Nur in einer gemeinsamen Verantwortung können Fragen zu potenziellen Kindeswohlgefährdungen zu beantworten sein. Dem Gelingen einer Initiierung von Verantwortungsgemeinschaft steht nichts im Weg, es sei denn, dass die Koordinatoren des Kinderschutzes darauf warten, dass der Rettungsdienst sich zu ihnen »aufmacht«. Die umsetzbaren Ideen gehen eher einwerbende Wege, jedoch auch hier die Frage: Wen für die fallunabhängige Steuerung relevanter Kinderschutzfragen ansprechen, gewinnen, einladen? Es braucht einen längeren Atem und vielleicht sogar mehrere Anläufe, bis (den Hierarchien folgend) ein oder mehrere Mitwirkende (Rettungsdienste gestellt von: Freien Trägern der Wohlfahrtspflege und dem Amt für Brand- und Katastrophenschutz/Berufsfeuerwehr) angesprochen sind. Das System der Leitstelle scheint aus Sicht der Autoren geeignet. Die Mitwirkenden der Verantwortungsgemeinschaft stehen für Netzwerktreffen (in Magdeburg: Steuerungsfachgruppe KIMA – Kinderschutz Magdeburg) und somit oft auch für das System fremde Themenfelder bereit. Den klassischen Ressourcen der je
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verschiedenen Systeme mit ihren ganz eigenen Sprachen, Regeln, Gesetzen und vielem mehr muss unbedingt entsprochen werden. Das setzt voraus, dass das bestehende Netzwerk sich für sogenannte »Neuankömmlinge« und ihre Schnittstellen zum Kinderschutz interessiert statt vorzuschreiben, was gilt. Auf diese Weise konnte in Magdeburg beispielsweise ein einseitiger Meldebogen (statt fünf Seiten des Systems Jugendhilfe) für medizinische Professionen inklusive des Rettungsdienstes entwickelt werden. Hierbei wurde dieses System mit seinen Bedürfnissen gehört und die Systembesonderheiten wurden gewürdigt. Im nächsten Schritt ist die Reflexion der Nützlichkeit eines solchen Einlegblattes in das Protokollheft eines Rettungswagens von Interesse für die Verantwortungsgemeinschaft. Die in der Verantwortungsgemeinschaft erarbeitete Kompetenzerweiterung des Rettungsdienstes im Kinderschutz kann einen Beitrag leisten, dass die große Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die in kindeswohlgefährdenden Umständen lebt, beim Einsatz des Rettungsdienstes nicht übersehen wird. Eine mögliche Gefährdungssituation kann jedoch für die Einsatzkräfte mit einem Entscheidungsdruck und Unsicherheit begleitet sein und bedeutet neben der allgegenwärtigen Arbeit eine weitere Anstrengung. Hier braucht es zusätzliche Einwerbe- und Reflexionsmethoden, die schon in der Ausbildung etabliert werden können (z. B. systemische Fragetechniken). Somit umfasst diese Arbeitsweise in Aus- und Weiterbildungen die klinischen Bereiche Prävention, Diagnostik, Intervention sowie die Integration beispielsweise der Kinderschutzleitlinie (vgl. AWMF S3+-Kinderschutzleitlinie). Die Fragen der rechtssicheren Dokumentation, der Anonymen Fallberatung oder auch nur der Einsatznachschau entstehen für handelnde Professionelle aus der Motivation heraus, nichts zu übersehen, was den Kinderschutz gefährden könnte, oder die sogenannte »richtige« Entscheidung zu treffen. Professionell Handelnde im Rettungsdienst wünschen sich mehr fachliche Sicherheit; dies schließt sowohl Rechtssicherheit als auch Kenntnis der Unterstützungsmöglichkeiten für Familien und auch das Gefühl ein, die »richtigen Worte« für die betroffenen Kinder zu finden. Gleichsam braucht es eine Sprache, die förderlich im Sinne der gelingenden Kooperation ist, insbesondere wenn sich Systeme, wie Medizin und Jugendhilfe, miteinander zu einem gemeinsamen Verständnis von Kinderschutz austauschen. Hier stehen Erfahrungen mit dem System der Kinder- und Jugendärzte, die in Kooperation mit dem Netzwerk und nicht nur dem Jugendamt stehen, bereits zur Verfügung. So wurde z. B. die Sprecherin der Kinder- und Jugendärzte der Stadt in die Steuerungsfachgruppe eingeworben, die notwendigerweise mittwochs nachmittags stattfinden muss, da ansonsten der Praxisbetrieb eine Mit-
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arbeit des Systems der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte verhindern würde. Zusammenfassend werden Mitwirkende eines »fremden« Systems nur eingeworben, wenn dessen Organisations- und Handlungsstruktur bekannt ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine bloße Einladung nicht genügend »Kraft« für ein Hinzukommen entwickelt, sodass ein aufsuchendes Einwerbegespräch die Chancen deutlich erhöht. Fakt ist, es geht nicht vordergründig um das »Mitteilen« oder »Melden« irgendeines Verdachts, sondern um ein verantwortungsvolles Wahrnehmen der eigenen Kompetenzen für einen Beitrag zur Prüfung von Gefährdungsaspekten und situationsangemessenem Handeln. Und dies in einer Verantwortungsgemeinschaft. Literatur Bundeskriminalamt (BKA) (2020). Bundeskriminalstatistik: Zahlen kindlicher Gewaltopfer. Polizeiliche Kriminalstatistik 2019. Zugriff am 20.12.2022 unter https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/200511_PKKinderhilfe.html Cordes, M. (2002). Sozialkompetenzen im Rettungswesen. Eine Berufsfeldanalyse im Hinblick auf Notwendigkeit und Vermittelbarkeit sozialer Fähigkeiten (Bd. 8). Hamburg: Kovac. DIN-Normenausschuss Rettungsdienst und Krankenhaus (NARK) (2015). Begriffe im Rettungswesen. DIN 13050:2015–04. Berlin: DIN-Normenausschuss Rettungsdienst und Krankenhaus (NARK). Fegert, J., Jud, A., Plener, P. (2013). Kinder- und Betroffenenschutz in der Medizin. Nervenheilkunde, 11, 834–840. Hennes, P. (2014). Notfallsanitäter. Handeln nach Qualitätskriterien. Rettungsdienstorganisation. Personal im Rettungsdienst. Edewecht: S & K. Richter, C., Lessig, R. (2020). Kleine Patienten – verdächtige Verletzungen. Hinweise auf Kindesmisshandlung. Rettungsdienst, 43 (12), 62–67. Schmiedel, R., Behrend, H. (2015). Leistungen des Rettungsdienstes 2012/2013. Analyse des Leistungsniveaus im Rettungsdienst für die Jahre 2012 und 2013. Herausgegeben vom Bundesamt für Straßenwesen. Bergisch Gladbach: NW-Verlag. Schumann, H. (2022). Kinderschutz im Rettungsdienst. Wie würden Sie entscheiden?. Rettungsdienst, 45 (1), 46–50. Schumann, H., Stechbarth, E., Thielmann, B., Stoltze, K. (2022). Nur die Spitze des Eisbergs. Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung. Rettungsdienst, 45 (1), 40–45. Schumann, H., Stoltze, K. (2020). Wann ist ein verletztes oder erkranktes Kind ein Notfall? Rettungsdienst, 43 (12), 3. Stoltze, K., Stechbarth, E., Schumann, H. (2020). »Da stimmt doch etwas nicht …«. Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung. Rettungsdienst, 43 (12), 68–72.
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4.7 Kinderschutz bei lebensverkürzenden Erkrankungen von Eltern – Systemiker:innen in der ambulanten und klinischen Hospiz- und Palliativarbeit Monika Jost, Anja Novoszel, Tim Reuter, Walter Tewes »Lange saßen sie dort und hatten es schwer, doch sie hatten es gemeinsam schwer und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht.« (Astrid Lindgren, aus: Ronja Räubertochter)
In unserer Gesellschaft ist der Umgang mit Themen wie Tod und Sterben immer noch oft ein Tabu. Daher ist es umso wichtiger, sich zunächst zum Thema »Kinderschutz im Kontext lebensverkürzend erkrankter Eltern« – zumindest kurz – etwas genereller mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen. In den letzten Jahrzehnten wurde die Betreuung Schwerkranker zunehmend in Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäuser ausgelagert. Hierdurch sind gesellschaftlich tradierte Riten im Umgang mit schwerer Krankheit, drohendem Tod oder Sterbeprozessen quasi erodiert und haben ein Vakuum entsprechender Alltagspraktiken entstehen lassen. Der fehlende Bestand praktischer Umgangsformen mit Tod und Sterben zeigt sich gleichermaßen aufseiten betroffener Familien wie auch ihres sozialen Umfelds. Fehlende Umgangsmöglichkeiten können jedoch lähmen und in den Familien sowie dem Umfeld Sprachlosigkeit und in der Folge Isolation begünstigen. Aber ohne eigene erlernte Verhaltensmöglichkeiten im Umgang mit Tod und Sterben – meist durch das »hautnahe« Miterleben eines Sterbeprozesses – fühlen sich die meisten Menschen überfordert und trauen sich den Umgang mit oder die Begleitung eines »Sterbenskranken« nicht zu. Palliativstationen, Palliativdienste, Hospize und ambulante Hospizdienste sowie viele andere, die an der Versorgung Schwerkranker beteiligt sind, versuchen seit vielen Jahren, dieser Entwicklung entgegenzuwirken und die betroffenen Familien in die (Sterbe-) Begleitung aktiv miteinzubinden. Sie möchten so die individuellen bzw. familiären Kompetenzen und Ressourcen in der Begleitung fördern und die Generation von Kindern und Jugendlichen im Umgang mit schweren Themen wie Tod und Sterben stärken. Der folgende Beitrag soll betroffenen Familien daher auch als Ermutigung dienen, sich schwierige Themen zuzutrauen und einer weiteren Tabuisierung oder Stigmatisierung des Gesamtthemas entgegenzutreten. Für Familien, in denen ein Mitglied lebensverkürzend erkrankt ist, gibt es unterschiedliche Beratungsangebote in vielfältiger Trägerschaft. Neben ambulan-
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ten Angeboten sind auch in vielen onkologischen oder palliativen Abteilungen der Kliniken Psychoonkologen vor Ort beratend und begleitend tätig. Die ambulanten Angebote für betroffene Familien haben häufig verschiedene Schwerpunkte und können eine hilfreiche Unterstützung sein, indem sie z. B. eine tragende Brücke zwischen stationärer und ambulanter Begleitung bilden. Viele dieser Angebote gibt es allerdings nicht flächendeckend. So finden sich in den Ballungsgebieten deutlich mehr Angebote als im ländlichen Raum. Auch bei der Begleitung von Tumorpatienten hat sich ein relativ gutes und vielschichtiges Netz der psychosozialen Beratung und Begleitung etabliert (z. B. Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante psychosoziale Krebsberatung e. V.). Dies sieht bei anderen lebensbegrenzenden Erkrankungen anders aus. Nicht zuletzt bieten auch einige niedergelassene Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen schwerpunktmäßig Beratung und therapeutische Begleitung für betroffene Menschen an. In den meisten Fällen brauchen betroffene Familien jedoch keine expliziten therapeutischen Hilfen, sondern kompetente, aufsuchende Beratung und verlässliche, psychosoziale Begleitung. In diesem Bereich haben sich ambulante Hospizdienste aufgestellt, die in fast allen Regionen – auch den ländlichen – zu finden sind und die bei der zunehmenden Schwächung der erkrankten Person immer wichtiger werden. Unsere Hauptperson ist die siebenjährige Emma. Emma lebt gemeinsam mit ihrer Mama in einer kleinen Stadt im Rheinland. Emmas Eltern haben sich getrennt, als sie noch ganz klein war. Zu ihrem Vater hat Emma nicht regelmäßig, aber immer guten Kontakt. Emmas Mama meldet sich in der Beratungsstelle einer karitativen Einrichtung und bittet im ersten Gespräch um Mithilfe bei der Beantragung von Wohngeld und Zuschüssen. Im Laufe des Gesprächs eröffnet die Mutter, dass sie im letzten Herbst die Diagnose Pankreaskarzinom erhalten hat. Über das behandelnde Krankenhaus ist Emmas Mama an die Psychoonkologie angebunden. Sie macht sich große Sorgen um ihre Tochter, denn ihr persönliches Netzwerk ist minimal. Zu diesem Zeitpunkt ist Emma weder über die Erkrankung noch deren Verlauf und Prognose informiert. Viele Fragen in Bezug auf die Zukunft der kleinen Familie und ein hohes Maß an Hilflosigkeit diesem Thema gegenüber dominieren das Gespräch. Emmas Mama wünscht sich Unterstützung bei der Krankheitsaufklärung von Emma und Hilfe bei der Rekrutierung eines Unterstützungsnetzwerks. Im Laufe des Prozesses konnte so ein wichtiges Netzwerk für Emma und ihre Mutter installiert werden, welches sie bis heute zu Teilen trägt. Alle Netzwerkpartner haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Aufgaben versucht, an der
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Seite der Familie zu bleiben und sowohl Emma als auch ihre Mama in den vielen Momenten der Trauer, Verzweiflung und auch Wut eine Stütze zu sein. Im Sinne einer gelungenen Kooperation gab es unter den einzelnen Netzwerkpartnern eine gut abgestimmte Kommunikation (s. Abbildung 1).
Wichtige Netzwerkpartner und ihre Ressourcen im Prozess
Abbildung 1: Fallbeispiel: Unterstützungsnetzwerk
Unterstützung der Kinder: Grundlagen einer zielführenden Zusammenarbeit Den gesetzlichen Rahmen für die ambulante Hospizarbeit bildet § 39a Abs. 2 im SGB V sowie die ergänzende »Rahmenvereinbarung zu den Voraussetzungen der Förderung sowie zu Inhalt, Qualität und Umfang der ambulanten Hospizarbeit«. Ambulante Hospizdienste bieten laut Gesetz »palliativ-pflegerische und psychosoziale Beratung von sterbenden Menschen und deren Angehörigen« an. Dies geschieht durch eine koordinierende Fachkraft und die Begleitung durch geschulte ehrenamtliche Mitarbeitende. Die koordinierende Fachkraft muss eine Ausbildung in einem pflegerischen Beruf oder in Sozialer Arbeit, eine Fortbildung u. a. in »Palliative Care« sowie mehrjährige Berufserfahrung nachweisen. Auch wenn Ehrenamtliche die Familie begleiten, bleiben die Koordinator:innen kontinuierlich Ansprechpartner:innen für das Familien- und Zuhörigensystem. Die Annahme des kostenlosen Beratungs- und Begleitungsangebots der ambulanten Hospizdienste, aber auch von Beratungsstellen ist freiwillig, unbüro-
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kratisch und unabhängig von der kulturellen und religiösen Beheimatung der Anfragenden. Die Begleitung durch die Hospizdienste kann als »aufsuchende« Hilfe sowohl zu Hause als auch z. B. in Krankenhäusern, Seniorenheimen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder Einrichtungen zur Eingliederung für Menschen mit Behinderungen stattfinden. Ziel der Hospizdienste ist es, das gesamte Familien- oder Betreuungssystem während des ganzen Krankheitsverlaufs bei der Krankheitsverarbeitung zu unterstützen. Zu den zentralen Aufgaben der ambulanten Hospizarbeit gehört es u. a., die mit dem Krankheitsprozess verbundenen Leiden zu lindern. Darüber hinaus soll die Konfrontation mit dem Sterben gefördert und die damit verbundenen Trauerprozesse begleitet werden. Die erfahrenen Fachkräfte helfen zudem dabei, die in diesem Zusammenhang bestehenden Kommunikationsschwierigkeiten zu überwinden, und begleiten auch die finale Sterbephase. Eine lebensverkürzende Erkrankung geht häufig einher mit stark belastenden Krankheitssymptomen, wie etwa Schmerzen, Atemnot oder Übelkeit. Diese Symptome betreffen vordergründig die erkrankte Person, führen aber auch zu Belastungen, Unsicherheiten und Überforderungen ihres sozialen Umfelds. Eine möglichst früh beginnende ambulante palliative Versorgung z. B. durch Hospiz- und Palliative-Care-Teams schafft Sicherheit und erhöht die Lebensqualität des Erkrankten. Dies hat wiederum direkten Einfluss auf das soziale Umfeld. Ein erkranktes Elternteil, das trotz seiner fortschreitenden Erkrankung gut schmerztherapiert und begleitet ist, hat mehr Kraft und Möglichkeiten, seine Elternrolle auszufüllen. Kinderschutz: Was für eine gelungene Kooperation wichtig ist Das oberste Ziel ist es, ein für die Familie passendes Hilfenetz zu installieren. Alle potenziellen Anlaufstellen und Helfersysteme profitieren dabei vom Wissen der möglichen Unterstützungsnetzwerke vor Ort. So fordert der Gesetzgeber als Teil der Rahmenvereinbarung z. B. für die ambulanten Hospizdienste, »Teil einer vernetzten Versorgungsstruktur im regionalen Gesundheits- und Sozialsystem [zu] sein; sie arbeiten im lokalen und kommunalen Verbund mit Initiativen des sozialen Engagements eng zusammen«. Oftmals scheint es sowohl für die betroffenen Familien als auch für die Fachkräfte hilfreich zu sein, wenn im Netzwerk eine Person als Koordinations- und Ansprechpartner fungiert. Hierbei ist die Transparenz bezüglich Aufgabenverteilung, Zuständigkeit und auch Erreichbarkeit von wesentlicher Bedeutung. Informationen, wie beispielsweise über die Möglichkeiten häuslicher Pflege und Hilfen im Haushalt, helfen dabei, der Überforderung aller Beteiligten vor-
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zubeugen. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund der Familienstruktur, etwa im Fall von alleinerziehenden Eltern, und der zunehmenden Schwäche der oder des Erkrankten mehr Aufgaben auf die Kinder zukommen. Ambulante Hospizdienste informieren und vermitteln Kontakte z. B. zu Beratungsstellen der Pflegekassen oder zu Pflegestützpunkten, die kompetent beraten und Hilfe bei der Antragsstellung geben. In unserem Fallbeispiel übernimmt die Beratungsstelle, an die sich die Mutter zunächst wendet, die Vermittlung und Koordination. Unterstützung bieten auch die Jugendämter, z. B. durch die vielfältigen Angebote der ambulanten Familienpflege oder der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Emmas Mutter ist offen dafür, das Jugendamt einzubeziehen, und trägt so dazu bei, frühzeitig eine stabile und sichere Perspektive für Emma und ihren Vater zu schaffen. Das Fallbeispiel zeigt, wie wesentlich es ist, auch Einrichtungen wie Kindergarten, Schule und relevante Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in die Kooperation einzubeziehen. Betroffene Kinder verbringen in der Regel viel Zeit in diesen Systemen. Nicht selten wird die Erkrankung des Elternteils jedoch von den Kindern in diesem Umfeld gar nicht thematisiert. Diese »krankheitsfreien« Räume scheinen einerseits wichtig und wertvoll zu sein und sollten daher respektiert werden. Gleichzeitig ist es jedoch sehr wichtig für die dort arbeitenden Erzieher:innen und Lehrer:innen, die vielleicht auftretenden Verhaltensweisen zu erkennen, einzuordnen und zu verstehen, um im Bedarfsfall adäquat darauf eingehen und Kontakt zu entsprechenden Fachstellen aufnehmen zu können. Scheitern: Fehler, die man im Hinblick auf die Betroffenen vermeiden sollte Viele Köche verderben den Brei?
Im Verlauf einer unheilbaren Erkrankung wird die Gruppe der Personen, die als Helfer und Unterstützer notwendig werden, oft größer. Das erste Helfernetzwerk der Familien wird im Verlauf des Beratungs- und Betreuungsprozesses, wie auch in unserem Fallbeispiel, in der Regel um weitere Netzwerke (Jugendamt, Haushaltshilfe, Palliativteam u. a.) ergänzt. Bei nahezu allen externen Diensten sind immer wieder wechselnde Personen tätig, denen man die persönliche Geschichte wiederholt erzählen muss. Da drängt sich die Frage auf: Wie viele Helfer kann ein System verkraften? Wie viel unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen an diese Thematik sind integrierbar? Damit viele Köche den Brei nicht verderben, muss es innerhalb der Netzwerke gelingen, unter Beteiligung
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der Familien, das Wissen um die persönlichen Geschichten weiterzugeben und sich gemeinsam abzustimmen. Stress- und Bewältigungsreaktionen bei Kindern und Jugendlichen – weiß ich als Fachkraft wirklich genug?
Kinder verschiedenen Alters gehen unterschiedlich mit der Erkrankung eines Elternteils um. Somit stehen auch Familien, abhängig vom Alter ihrer Kinder, vor unterschiedlichen Herausforderungen (Altmeyer u. Hendrischke, 2012). Für die Fachkraft und deren fachliches Selbstverständnis bedeutet das, dass sie den Umgang mit der lebensverkürzenden Erkrankung eines Elternteils für jedes betroffene Kind individuell betrachten muss. Dabei gilt es, das breite Spektrum unterschiedlicher Stress- und Bewältigungsstrategien zu kennen. Allen Fachkräften muss demnach bewusst sein, dass die Klaviatur unterschiedlicher Verhaltensweisen eine große Bandbreite hat. Nicht immer ist das, was man vordergründig sieht, auch so gemeint. Ein Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen können sich in einem hohen Maß scheinbar gut anpassen, häufig um Mitmenschen nicht noch mehr zu belasten oder um das Aushalten der momentanen Situation durch Nicht-zur-Sprache-Bringen eigener Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse überhaupt möglich zu machen. Andere Kinder und Jugendliche zeigen eher in einem nach außen gerichteten Verhalten, wie beispielsweise durch vermehrte Aggressionen, ein höheres Maß an Widerstand und abfallende Leistungen in der Schule, dass etwas nicht stimmt (u. a. Riedesser u. Schulte-Markwort, 1999; Romer u. Haagen, 2007). Um eine reflektierte, verständnisvolle und unterstützende Begleitung für Kinder und Jugendliche zu sein, ist es wichtig, zu wissen, dass Reaktionen auf ein Ereignis unterschiedlich ausfallen können. Ein kategoriales Denken – Kinder reagieren entweder so oder so – bzw. ein linear-kausales und pauschales Ableiten der Verhaltensweisen von betroffenen Kindern sowie die Ignoranz individueller Copingstrategien als »gute Gründe« eines Verhaltens, haben hingegen ein großes Potenzial zum Scheitern. Mangelnde Transparenz und die Angst, das »Kind« beim Namen zu nennen
Häufig kommt es vor – wie auch in unserem Beispiel –, dass es betroffenen Familien bzw. Elternteilen schwerfällt, ihre Kinder über die Erkrankung und deren tödlichen Ausgang altersgerecht aufzuklären. Oft möchten Eltern ihre Kinder vor der schmerzenden Wahrheit und dem drohenden Verlust schützen und es fällt ihnen schwer, die richtigen Worte dafür zu finden. Auch der
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eigene Schock einer unerwarteten Diagnose löst eine Welle der Ohnmacht und Hilflosigkeit aus, die Eltern (und auch mitunter Hilfskräfte) handlungsunfähig werden lässt. Fatal ist, dass betroffene Kinder und Jugendliche sehr wohl merken, dass es wichtige Veränderungen im Familiensystem gibt, sie können diese jedoch ohne das richtige Maß an notwendiger Transparenz nicht einordnen. Das wiederum kann zu einer massiven Orientierungslosigkeit und eigenen Interpretationsversuchen führen, die in der Regel wenig konstruktiv sind. Hier sind es die Fachkräfte, die helfen müssen, in klarer Haltung eine Sprache zu finden, um das notwendige Maß an Transparenz herzustellen. Die eigene Verletzbarkeit
Der Umgang mit dem Thema der Endlichkeit des Lebens bringt auch viele Fachkräfte an die eigenen Grenzen. Das Wissen und die Reflexion über die eigene Vulnerabilität sind unerlässlich. Betroffene Familien profitieren nur wenig von Fachkräften, die ausschließlich im Leid der Familien mitschwingen und wenig stabil bleiben können. Professionelle Überheblichkeit Die zu begleitende Familie hat bereits Erfahrungen im Umgang mit Krisen gemacht und eigene Bewältigungsstrategien entwickelt. Diese gilt es zu achten und zu wertschätzen. Das bewahrt vor einer Bevormundung und Entmündigung. Greifen die bewährten Copingstrukturen nicht oder nicht mehr, kann eine offene, nicht bevormundende Begleitung unterstützen, Bewältigungsstrategien zu modifizieren oder neu zu entwickeln. Dabei entscheidet die Familie, welche Angebote sie wann und wie lange in Anspruch nimmt. Mit der Haltung »Jetzt kommen wir – wir wissen, was für Sie und was für dich gut ist« steht man vermutlich schnell vor verschlossenen Türen. Beteiligung der Betroffenen Niemand ist allein krank. Die lebensverkürzende Erkrankung betrifft nicht nur das direkte Familiensystem, sondern ist auch Thema im erweiterten sozialen Umfeld der Erwachsenen und auch der Kinder. Auch Kinder können bereits vorab Anpassungsreaktionen wie z. B. inneren Rückzug, aufbrausendes Verhalten, Konzentrationsschwäche oder Traurigkeit zeigen. Wie wichtig es sein kann, Ansprechpartner in Kindergarten und Schule (Vertrauenslehrer:innen, Schulsozialarbeiter:innen) über die lebensbedrohliche Krankheit des Eltern-
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teils zu informieren, um Verhaltensänderungen einzuordnen, wurde bereits erwähnt. Kinder und Jugendliche erleben die Begleitung z. B. durch ehrenamtliche Hospizhelfer:innen meist als etwas Besonderes. Es kommt jemand nur für sie, nimmt sich Zeit und hat ein offenes Ohr. Häufig »geschieht« ein Gespräch über Sorgen, Fragen und Ängste auf dem Weg zum Spiel- oder Sportplatz und bei gemeinsamen Aktivitäten. Die Kinder und Jugendlichen wissen, dass sie reden können oder auch nicht, so wie es ihnen in dem Moment guttut. Der Verlauf einer terminalen Erkrankung bringt immer wieder Verände rungen mit sich, ein »Auf und Ab«, ein Leben zwischen großer Sorge um das Leben der erkrankten Person und der Hoffnung auf Besserung. Zusätzlich sind für die Familien die wechselnden Aufenthaltsorte des kranken Mitglieds – zu Hause, Krankenhaus, Palliativstation, Reha, stationäres Hospiz – eine emotionale und organisatorische Herausforderung. Das macht es notwendig, situativ zu eruieren, wer aus dem Angehörigen- und Zugehörigenkreis welche Aufgaben übernehmen kann und wo gegebenenfalls Unterstützung von außen gewünscht wird. Eltern fragen manchmal – wie Emmas Mutter – gezielt Begleitung für ihr Kind an. Teil der Auftragsklärung ist es dann, auch abzusprechen, ob es vonseiten der Eltern Tabuthemen in Bezug auf die Erkrankung und deren Verlauf gibt, die nicht mit den Kindern besprochen werden sollen. Stimmen die Kinder und Jugendlichen einer Begleitung (noch) nicht zu, werden den Sorgeberechtigten alternative Angebote gemacht. In der Zeit der Erkrankung und auch nach dem Tod sorgen sich Kinder und Jugendliche oft um den überlebenden Elternteil. Manchmal zeigen sie regressives Verhalten, möchten, dass der überlebende Elternteil das Haus nicht verlässt oder dass er genau angibt, wo er sich befindet. Es gilt, die schwere Aufgabe anzugehen, sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinanderzusetzen und dennoch (neues) Vertrauen in das Leben zu bewahren. Viele Familien fragen an diesem Punkt nach unterstützender Begleitung. Hilfreich für angehörige Kinder und Jugendliche sind Treffen mit anderen Kindern und Jugendlichen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie. Hier erfahren sie, dass sie nicht die Einzigen in solch einer Lebenssituation sind. »Es ist schön, dass Lukas und die anderen da sind, dann merke ich, ich bin nicht allein« (Marco, acht Jahre). Je nach Konzept oder Bedarf können die Treffen »krankheitsfreie Zonen« sein, in denen die Kinder einfach gemeinsam laut toben, spielen, klettern, aktiv sein können, oder es können Zeiten des Austauschs miteinander sein. In jedem Fall erleben sie: »Wenn ich zwischendurch traurig oder wütend bin – die anderen verstehen mich.«
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Praktische Methoden systemischer Kinderschutzarbeit und Selbstreflexion Die lebensverkürzende Erkrankung eines Elternteils verlangt eine enorme Anpassungsleistung des gesamten Familiensystems. Das macht vor allem im Hinblick auf den Kinderschutz familienorientierte Versorgungskonzepte und eine interdisziplinäre Kooperation aller Behandlungspartner unabdingbar (Wiegand-Grefe, Halverscheid u. Plass, 2011). Das in Abbildung 2 dargestellte Modell für psychische Gesundheit (aus: Wiegand-Grefe Halverscheid u. Plasset, 2011) zeigt zusammenfassend die Variablen, die es in der praktischen Arbeit mit den Familiensystemen zu berücksichtigen gilt. Modell für psychische Gesundheit bei Kindern psychisch kranker Eltern Elternvariablen z. B. elterliche Erkrankung, individuelle Psychodynamik
Art und Angemessenheit der Krankheitsbewältigung
Umfang und Qualität der interpersonellen Beziehungen
Psychosoziale Entwicklungsund Umweltbedingungen
Kindervariablen – Genetisch-biologische Prädisposition – Stabile Faktoren: Alter, Geschlecht – Ressourcen, Fähigkeiten, Temperament
Paardynamik, Dynamik der gesamten Familie
Entwicklung und psychische Gesundheit des Kindes
Abbildung 2: Modell für psychische Gesundheit bei Kindern psychisch kranker Eltern (Wiegand-Grefe, Halverscheid u. Plasset, 2011, S. 28)
Dabei spielt es wahrscheinlich weniger eine entscheidende Rolle, welcher konkreten Methoden sich Fachleute bedienen (z. B. Bücher, Genogrammarbeit). Vielmehr ist auschlaggebend, dass eine hohe Sensibilität und das entsprechende Fachwissen hinsichtlich der (individuellen) Bedürfnisse und Belange betroffener Familien existieren. Folgende Aspekte haben sich in der praktischen Arbeit mit betroffenen Familien als besonders wichtig herauskristallisiert: Ȥ Erweiterung der Bewältigungsstrategien und Lösungskompetenzen bei den Betroffenen (persönliche Ressourcen, Familienressourcen);
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Ȥ Förderung und Aktivierung sozialer Ressourcen der Betroffenen (Netzwerkarbeit, Gruppenangebote); Ȥ Krisenmanagement und Orientierungshilfen durch die Fachleute für akute Verschlechterungen und (terminale) Sterbeprozesse (»Notfallkoffer«). Wichtige Voraussetzungen dafür sind: Ȥ Krankheitswissen und Krankheitsverständnis der Fachleute, sodass sie dem kindlichen Entwicklungsstand angemessen in Sprache, Form und Umfang agieren können (Psychoedukation für Kinder); Ȥ offener Umgang der Familien mit der Erkrankung. Der Kommunikationsaspekt ist dabei entscheidend für das Bewältigungsverhalten der betroffenen Kinder und ihrer Familien. Eine transparente und in hohem Maß selbstverständliche Kommunikation innerhalb der Familie leistet einen entscheidenden Beitrag zum psychischen Wohlbefinden (z. B. Huizinga, van der Graaf, Visser, Dijkstra u. Hoekstra-Weebers, 2003). Präventive Schutzarbeit für die Kinder und Jugendlichen in der Institution Wie bereits ausgeführt, stehen in der Hospiz- und Palliativversorgung sowohl die erkrankte Person als auch die Zugehörigen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das kostenlose und unbürokratische Begleitungsangebot für zugehörige Kinder, Jugendliche und Erwachsene entfaltet so – auch mit dem Angebot, ihre Vorerfahrungen zu reflektieren – eine nachhaltig präventive Wirkung. Trauernden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bieten Hospizdienste oder deren Koordinationspartner über den Tod eines Angehörigen hinaus vielfältige Angebote. Sie laden zur Beratung und Begleitung in Einzelgesprächen, in Gruppen oder zu anderen Formaten ein. Wenn ein Elternteil gestorben ist, bedarf es bei Kindern und Jugendlichen auch in den folgenden Jahren bei besonderen Ereignissen und Lebenswenden einer erhöhten Aufmerksamkeit. Bei Familienfesten, Schulwechseln bzw. -abschluss, jedweden Abschieden u. Ä. rückt der erlebte Verlust wieder nahe. Manchmal kann der Tod eines Elternteils erst zu einem viel späteren Zeitpunkt im Leben betrauert werden. In der Hospiz- und Trauerbegleitung gibt es verschiedenste Projekte, frühzeitig und präventiv mit Kindern und Jugendlichen Kontakt aufzunehmen, z. B. in Kindergärten, Schulen und an außerschulischen Orten. Ziel ist, die Themen Sterben, Tod und Trauer aus der Sprachlosigkeit zu holen, mit Kindern und
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Jugendlichen ins Gespräch zu kommen über ihre Erfahrungen, ihre Fragen und ihnen auch untereinander Austauschmöglichkeiten zu erschließen. Darüber hinaus lernen sie Angebote und Menschen der Hospiz- und Trauerarbeit kennen.
Beispielhafte Projekte: – »Gib mir ’n bisschen Sicherheit« – Malteser Hilfsdienst e. V.; – »Hospiz macht Schule« – Bundes Hospiz Akademie; – »Endlich. – Umgang mit Sterben, Tod und Trauer« – Palliativzentrum UK-Köln; – »Junge Menschen in der Sterbe- und Trauerbegleitung« – dazu starteten die Malteser in Kooperation mit dem Deutschen Hospiz- und Palliativverband (DHPV) und mit Förderung vom BMFSFJ das Projekt »Junge Menschen in der Sterbe- und Trauerbegleitung«. In diesem Projekt (10/2018–06/2022) entwickeln Hospizdienste an zwölf Standorten in Deutschland mit jungen Menschen vielfältige Ideen und neue Konzepte, wie sich unter Dreißigjährige engagieren können und welche Vorbereitung und Begleitung sie dazu benötigen.
Fazit Wir hoffen, mit unserem Beitrag gezeigt zu haben, wie eine individuelle Begleitung einer betroffenen Familie verlaufen kann. Dabei kann das Fallbeispiel nur exemplarisch für die vielfältigen Herausforderungen stehen, denen Familien und Helfersysteme gegenüberstehen. Losgelöst vom Einzelfall kann jedoch festgehalten werden, dass Kinderschutz genau dort beginnt, wo frühzeitig offen und sensibel auf die Belange von Kindern und Jugendlichen eingegangen wird. Dabei ist es wichtig, die Bedenken und Ängste der betroffenen Familien ernst zu nehmen, um sie entsprechend ihren Bedürfnissen begleiten zu können. Am Anfang jeder Begleitung muss allen Beteiligten klar sein, dass ein sich ankündigender Sterbeprozess bzw. Tod zwangsläufig auch mit schwierigen Themen verknüpft ist. Eine »gute Begleitung« im palliativen Kontext kann daher niemals frei von (auch eigenen) aversiven Gefühlen wie Wut, Hoffnungslosigkeit, Angst und Trauer sein. Diese Fülle an möglichen Gefühlslagen und Themen gemeinsam mit den betroffenen Familien auszuhalten und dabei deren Grenzen und insbesondere die unterschiedlichen emotionalen Resonanzen der einzel-
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nen Familienmitglieder wahrzunehmen und entsprechend einzuordnen, setzt bei den professionellen Helfern eigene fachliche und emotionale Kompetenzen voraus, die unbedingt durch regelhafte Angebote wie Selbsterfahrung und Supervision ergänzt werden sollten, wie sie in der Hospizarbeit bereits gesetzlich verankert ist (S3-Leitlinie Palliativmedizin/Rahmenvereinbarung § 39a SGB V). Schließlich muss auch festgehalten werden, dass die weitere gesellschaftliche Enttabuisierung der Lebensthemen Tod und Sterben nicht nur wünschenswert, sondern auch zentrale Voraussetzung für einen offenen Umgang mit dem Gesamtthema ist. Frühzeitige, präventive und sensibilisierende Projekte für Kinder und Jugendliche, sowohl in Kindergärten und Schulen als auch in außerschulischen Kontexten, tragen ebenfalls dazu bei, einen solch offenen Umgang zu fördern. An dieser Stelle danken wir Stephanie Rieder für das strukturierte Lesen und Zusammenfassen und Sebastian Bayer für die gelungene Zeichnung herzlich für ihre Unterstützung. Kontaktadressen Bundesarbeitsgemeinschaft für Krebsberatungsstellen www.bak-ev.org Deutscher Hospiz- und Palliativverband e. V. www.dhpv.de Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin www.dgpalliativmedizin.de Malteser Hilfsdienst e. V., Fachstelle Hospizarbeit, Palliativmedizin & Trauerbegleitung www.malteser.de/hospizarbeit-palliativversorgung-trauerbegleitung.html Wegweiser Hospiz- und Palliativversorgung Deutschland www.dgpalliativmedizin.de/projekte/wegweiser-hospiz-und-palliativversorgung-deutschland.html Alpha NRW, Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigen begleitung www.alpha-nrw.de Deutsche Krebsgesellschaft www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/krebs-und-psyche/waskindern-krebskranker-eltern-hilft.html Flüsterpost e. V. Mainz, Unterstützung für Kinder krebskranker Eltern https://kinder-krebskranker-eltern.de/
Kinder mit Beeinträchtigungen als Herausforderung im Kinderschutz
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4.8 Kinder mit Beeinträchtigungen als Herausforderung im Kinderschutz Andrea Caby, Liane Simon
Kinder mit bekannten oder drohenden Entwicklungsbeeinträchtigungen stellen für den Kinderschutz eine besondere Herausforderung dar. Bei Kindern und Jugendlichen mit einer intellektuellen oder psychosozialen Beeinträchtigung werden Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdungen vom sozialen und professionellen Umfeld oft nicht erkannt. Verhaltensauffälligkeiten werden häu-
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fig auf die Beeinträchtigung statt auf die Vernachlässigung oder Misshandlung zurückgeführt (Hennicke et al., 2009). Gleichzeitig entsteht eine Behinderung oder Beeinträchtigung nicht selten erst als Folge von erlittener Gewalt in der Kindheit (Schröttle u. Hornberg, 2014). US-amerikanische Daten weisen auf eine Rate von fast 15 Prozent von Kindern mit Beeinträchtigungen unter allen von Misshandlung und Gewalt betroffenen Mädchen und Jungen (Nowak, 2015). In diesem Beitrag stehen deshalb zwei Fallbeispiele aus der interdisziplinären Frühförderung und aus der Sozialpädiatrie im Mittelpunkt, um einen Einblick in die Herausforderungen der Praxis zu bieten, insbesondere bei der Arbeit mit Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern. Leon, acht Jahre Leon ist dem SPZ-Team (SPZ: Sozialpädiatrisches Zentrum) bereits seit dem Säuglingsalter bekannt. Er war damals aufgrund einer Schädelverletzung in der Kinderklinik behandelt und zunächst für ein Jahr in einer Bereitschafts-Pflegefamilie weiterbetreut worden. Die Kindseltern hatten die Sorge für ihren Sohn schließlich wieder erhalten und betreuen ihn seitdem gemeinsam mit seiner zwei Jahre alten Schwester im Haus der Großeltern. Ein weiteres Jahr lang hatte eine Sozialpädagogische Familienhilfe den Eltern von Leon zur Seite gestanden. Schon vor dem Start in den Kindergarten war aufgefallen, dass Leon sich deutlich langsamer entwickelte als Gleichaltrige. Er zeigte kaum Interesse, sich zu drehen oder seinen Kopf zu heben, sprachlich nutzte er meist einzelne Laute, lallte oder weinte, um seine Bedürfnisse zu äußern. Sein Weinen wurde oft als sehr schrill und eindringlich erlebt. Blickkontakt gelang ihm meist kurz, am liebsten beschäftigte er sich mit Geräusche oder Licht produzierenden Spielzeugen. Im Rahmen der weiteren Abklärung hatte eine humangenetische Diagnostik einen seltenen Gen-Defekt ergeben, bei dem auch eine Entwicklungsretardierung beschrieben wird. Leon erhielt seitdem über mehrere Jahre Frühförderung und spezifische Unterstützung in Form von Logopädie und Physiotherapie, er besuchte mit vier Jahren eine heilpädagogische Kita und wurde mit sechseinhalb schließlich in eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung aufgenommen. Zu dem Zeitpunkt zeigte er zudem wiederholt zerebrale Krampfanfälle, sodass eine antiepileptische Medikation erforderlich wurde. Aufgrund seiner motorischen Probleme hat Leon vor einiger Zeit sogenannte Orthesen erhalten, die ihn beim Gehtraining unterstützen und ihm insgesamt mehr Stabilität verleihen sollen. Eine Knie-Operation führte schließlich zu einer mehrmonatigen Bettlägerigkeit, mit einer linksseitigen Orthese vom Oberschenkel bis zum Fuß. Als der zuständige Orthopädie-Techniker die Familie besucht, nachdem sie mehrere Termine zur Neueinstellung der Kniebeugung nicht wahrgenommen hatte, findet er Leon auf dem Rücken liegend mit einer tiefen, nässenden Wunde an der linken Ferse
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vor, die sich die Eltern nicht erklären können. Leon ist deutlich unruhiger als sonst und weint die meiste Zeit. Auf Drängen des Technikers wird Leons Wunde in der Unfallambulanz versorgt und der Familie eine dreimal wöchentliche Wundkontrolle nahegelegt. Diese findet nicht statt, ebenso wenig die vereinbarten Kontrollen beim Orthopäden. Als die Mutter, Frau M, sich zwei Wochen später im SPZ meldet, ist der aktuelle Verlauf noch nicht bekannt. Sie möchte den routinemäßigen Termin zur Wiedervorstellung am liebsten absagen, erscheint dann aber auf Zureden doch. Wie sich in diesem Zusammenhang herausstellt, war Leon lange schon pandemie- und schließlich OP-bedingt nicht in der Schule gewesen. Seine Krankengymnastik hatte – wenn überhaupt – nur noch sehr unregelmäßig stattgefunden. Die Untersuchung ergibt einen unzureichenden Pflegezustand sowie einen beeinträchtigten psychischen bzw. Ernährungszustand. Frau M kann die Nachfragen der Ärztin nicht nachvollziehen, sie zeigt sich im Kontakt mit ihrem Sohn äußerst liebevoll und zugewandt, beschäftigt ihn mit Spielzeug und beschreibt eine große Zufriedenheit mit dem Verlauf zu Hause. Man sei ab und zu krank gewesen und habe nicht alle Termine einhalten können, aber sonst sei doch »alles in bester Ordnung«. Jana, ein Jahr Jana ist 13 Monate alt, sie wurde in der 26. Schwangerschaftswoche geboren, lag mit einigen Komplikationen über drei Monate auf der Intensivstation und ist mit vier Monaten nach Hause gekommen. Sie ist das erste Kind ihrer Eltern, die gehofft haben, dass nach der Entlassung »alles gut« werden würde. Aber Jana hat eine Epilepsie entwickelt und mehrmals am Tag Absencen. Die medikamentöse Einstellung gestaltet sich schwierig. Die Eltern haben sich entschieden, Jana noch nicht in den Kindergarten zu geben, weil sie sie nicht gut betreut sehen würden. Deshalb hat Frau X, die Mutter, sich entschieden, zu Hause zu bleiben und ihre Arbeit aufzugeben. Jana erhält Komplexleistung Frühförderung, die zuständige Pädagogin besucht Jana einmal wöchentlich zu Hause.Die Mutter spricht dabei mit der Pädagogin auch darüber, wie traurig sie sei und dass sie sich manchmal wünsche, dass Jana nicht ihr Kind sei. Beide Eltern berichten ihr gegenüber auch über Neidgefühle gegenüber Freunden und Bekannten, deren Kinder »gesund« seien. Die Eltern wirken stark belastet. Einzige Unterstützung erhalten sie von der Großmutter mütterlicherseits, die in der Nähe wohnt und einmal pro Woche abends auf Jana aufpasst, damit die Eltern gemeinsam ausgehen könnten. Die Eltern berichten, dass sie sich dadurch allerdings kaum erholen würden, sondern oft begännen, sich zu streiten. Als die Frühförderin wie immer ins Haus kommt, beobachtet sie, dass die Mutter, die Jana auf den Armen die Treppe herunterträgt, unsicher läuft und sich mit dem Arm an der Wand abstützt. Diese Situation wiederholt sich in den nächsten Wochen. Die Mutter wirkt verschlossener als sonst, manchmal aber auch aufgedreht und
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zugleich eingeschränkt in der Aufnahmefähigkeit. Einmal wurde die Frühförderung abgesagt, weil Jana im Krankenhaus war, nachdem die Mutter mit ihr auf der Treppe gestolpert sei.
Arbeitskontext Frühförderung und Sozialpädiatrische Zentren Kinder mit Beeinträchtigungen werden in verschiedenen Institutionen betreut, die Begleitung erfolgt sowohl in Alltagskontexten wie zu Hause, in Kindertageseinrichtungen und Schulen als auch in Frühförderstellen, Sozialpädiatrischen Zentren oder therapeutischen Praxen. Frühförderstellen bieten Leistungen für Kinder von der Geburt bis zur Einschulung an. Diese Leistungen sind für die Familien kostenfrei. Alle Eltern, die sich Sorgen um die Entwicklung ihres Kindes machen, können sich zu einem offenen Beratungsgespräch an eine Frühförderstelle wenden. Die Frühförderstellen sind entweder rein heilpädagogisch ausgerichtet oder bieten als interdisziplinäre Frühförderstellen die Komplexleistung Frühförderung an, in der die heilpädagogischen Leistungen mit medizinisch-therapeutischen, psychologischen und ärztlichen Leistungen in einer Komplexleistung und aufeinander abgestimmt angeboten werden. Die ca. 1 000 Frühförderstellen in Deutschland bieten diese Leistungen flächendeckend und sowohl mobil als auch ambulant an. Sie besuchen die Familien zu Hause oder die Kinder im Kindergarten, je nachdem, wo die Teilhabe- und Entwicklungsförderung zum jeweiligen Zeitpunkt als besonders sinnvoll erscheint. Da sich Säuglinge und Kleinkinder in starker Abhängigkeit von ihrem Umfeld entwickeln, sind die Leistungen der Frühförderung stets familien- und umfeldorientiert. Dies schließt ein, dass sie auch mobil organisiert sein müssen, um den Kontext mit einbeziehen zu können. »Entwicklung als dynamischer Prozess ist abhängig von kontinuierlicher Interaktion mit der Familie oder anderen betreuenden, begleitenden Personen im nahen sozialen Umfeld […]. Aufgrund der Abhängigkeit des sich entwickelnden Kindes haben die materiellen und sozialen Elemente der Umwelt einen bedeutenden Einfluss auf die Möglichkeiten der Entwicklung« (Hollenweger u. Kraus de Camargo, 2011). Eine Anmeldung im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) erfolgt üblicherweise mit einer haus- oder kinderärztlichen Überweisung. Den Wunsch nach weiterer Diagnostik, Förderplanung oder Beratung formulieren in der Regel die Eltern bzw. Sorgeberechtigten, die gemeinsam den Behandlungsauftrag erteilen. In einigen Fällen werden die Bezugspersonen von anderer Seite wie etwa durch
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Fachkräfte von Frühförderstellen, Kindertageseinrichtungen oder Jugendämtern auf die Möglichkeiten einer SPZ-Vorstellung hingewiesen, auch wenn sie selbst diese Notwendigkeit bisher nicht gesehen haben. Sobald diese Voraussetzungen vorliegen, erfolgen ein erstes Anamnesegespräch, Beratung sowie weitere Vorschläge zur gegebenenfalls erforderlichen interdisziplinären Diagnostik/Therapie. In den meisten Fällen werden im Verlauf weitere Beteiligte wie die pädagogischen Fachkräfte von Kitas oder Schule, Therapeut:innen, weitere Behandler:innen oder sonstige Netzwerkpartner:innen für eine gemeinsame Einschätzung und abgestimmte Förderplanung hinzugezogen. Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz in diesem Handlungsfeld Im sozialpädiatrischen Handlungsfeld, zu dem neben Frühförderstellen und SPZs auch kinderärztliche Praxen zählen, können sowohl Beispiele gelingender Kooperation zum Thema Kinderschutz als auch Verläufe benannt werden, die aus Sicht der Autorinnen unbefriedigend abgelaufen oder in ihrer Tragweite ungeklärt geblieben sind. Faktoren, die dazu beitragen, sind ebenso vielfältig wie die jeweils sehr individuellen Fälle. Zutat bio-psycho-soziales Modell: Grundlage der individuellen Betrachtung bietet das bio-psycho-soziale Modell, das auch die Fachkräfte verschiedener Disziplinen miteinander in einer Art »gemeinsamer Sprache« verbinden kann und das ein personenzentriertes Vorgehen ermöglicht. Um die Familie in die Lage zu versetzen, sich selbstständig Hilfe zu suchen, sollten Eltern darüber hinaus wissen, dass sie ein Gegenüber haben, mit dem sie über ihre Überforderung und Hilfebedürftigkeit sprechen können. Zutat Vernetzung: Keine Fachkraft ist passend für alle. Das wäre eine Überforderung für beide Seiten. Eine isolierte Maßnahme oder die Kompetenzen einer einzelnen fachlichen Disziplin bzw. Zuständigkeit können kein frühes Präventions- oder Hilfsangebot leisten. Insofern ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es weitere mögliche Ansprechpartner:innen gibt und wie sie zu finden sind. Nur stabile und sichere interdisziplinäre Netzwerke können das System Familie unterstützen, dies hat im Fallbeispiel von Leon den entscheidenden Wendepunkt gebracht (Ziegenhain et al., 2010; Galm u. Derr, 2014). Die professionellen Beziehungen stellten eine wichtige Ressource dar, der kooperative Austausch konnte schließlich Lösungen erzeugen. Zutat strukturiertes Vorgehen: Ein strukturiertes Vorgehen, das den Akteur:innen Handlungssicherheit bietet, aber auf der anderen Seite auch die Möglichkeit, individuell auf die Lebenssituation des einzelnen Kindes einzugehen, ist eine
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wesentliche Voraussetzung für gelingende Kooperation. Dieses Vorgehen kann von verschiedenen Stellen initiiert werden und bezieht dann auf der Grundlage der Lebenssituation des Kindes die notwendigen Akteur:innen selbstverständlich mit ein. Zutat interdisziplinäre und interinstitutionelle Zusammenarbeit: Das setzt Kompetenzen in der interdisziplinären Zusammenarbeit, aber auch klare Strukturen der interinstitutionellen Zusammenarbeit voraus. Die Fachkräfte sind gut ausgebildet und stellen ihr disziplinenspezifisches Fachwissen sowie ihr Fachwissen bezogen auf das Kind im interdisziplinären Austausch zur Verfügung. Zutat Vertrauensaufbau: Die Familie wird eng einbezogen, denn zu den wichtigsten Aspekten gehört eine gute Vertrauensbasis zu den Eltern und der gesamten Familie. Die Beziehung zwischen dem Hilfesystem und betroffenen Familien sollte im Idealfall nicht durch negativ erlebte Vorerfahrungen belastet sein. Sobald Eltern von der Sorge getrieben werden, man könnte ihnen »ihr Kind einfach wegnehmen«, ist die Zusammenarbeit deutlich erschwert. Institutionen wie Kindertageseinrichtungen, Familienzentren, Geburtskliniken oder Hebammenpraxen können in erheblichem Maße dazu beitragen, für eine gute Ausgangsbasis und Arbeitsbeziehung zu sorgen. Wird dies mit einer entsprechend respektvollen und wertschätzenden Haltung kombiniert und mit lösungsorientierter sowie ressourcenaktivierender Gesprächsgestaltung, ist in der Regel zumindest Erleichterung, manchmal sogar eine gewisse Leichtigkeit im Miteinander spürbar. Die Sorge um das Wohl des Kindes wird von Anfang an transparent kommuniziert und steht bei allen Aktivitäten im Mittelpunkt des Geschehens. Wie scheitert man am effektivsten und was könnte helfen? • Blenden Sie Anhaltspunkte einfach aus!
Hinweise auf körperliche oder emotionale Vernachlässigung bzw. Misshandlung und sexuellen Missbrauch sind fast immer auch anders erklärbar. Das kann dabei helfen, die Anhaltspunkte effektiv und nachhaltig auszublenden. Ganz besonders gilt das für Kinder mit besonderen Fürsorgebedürfnissen, wie z. B. nach einer zu frühen Geburt, Regulationsschwierigkeiten, anderen Störungen im sozial-emotionalen Bereich oder Behinderungen. Hier ist eine besondere fachliche Expertise erforderlich, um das Verhalten der einzelnen Beteiligten im Familiensystem bewerten zu können und verschiedene Interpunktionen und Perspektiven zu berücksichtigen. Darüber hinaus kann die Aufgabe, Hinweise wahrzunehmen, ihnen nachzugehen, sie zu bewerten, zu dokumentieren und ernst zu nehmen, bei den Fach-
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kräften, die nicht regelhaft mit dem Thema befasst sind, Stress auslösen und zu Gefühlen der Überforderung führen. Auch die eigene professionelle Rolle, in der sich Frühförderfachkräfte und SPZ-Mitarbeitende überwiegend sehen, nämlich stets im Auftrag der Eltern und mit deren Einverständnis zu handeln, wird dann infrage gestellt. Die selbstverständliche Integration der Aufgabe, einerseits das Kindeswohl und andererseits das eigene professionelle Rollenverständnis im Blick zu behalten, erfordert sowohl die persönliche Bereitschaft zur Reflexion des Versorgungsprozesses als auch die Fachkompetenz der beteiligten Fachkräfte. Nur so kann das entstehen, was Virginia Satir (1990) verstanden hat unter der »Freiheit zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist – anstatt das, was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird«. Im Fall von Jana bedeutet das, dass die Frühförderin mit den Eltern im engen Austausch bleibt und immer wieder genau nachfragt, die Antworten der Eltern und das Verhalten der Mutter dokumentiert, in der nächsten Fallbesprechung beschreibt und im Team gemeinsam überlegt, wie sie weiter vorgehen sollte.
• Sprechen Sie keinesfalls mit den Kindern und Eltern!
Wenn Fachkräften der Frühförderung oder Sozialpädiatrie in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bekannt werden, dann sollen sie gemäß § 4 KGG mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und darauf hinwirken, dass die Familie Hilfen in Anspruch nimmt. Das soll nur dann nicht getan werden, wenn dadurch der Schutz des Kindes oder Jugendlichen infrage gestellt wird. Allerdings kann es sich viel leichter anfühlen, das Thema zu ignorieren, anderen zu überlassen und nicht anzusprechen, was einem auffällt. Das Arbeiten auf Augenhöhe erfordert Wertschätzung und Respekt auch in einer Situation, in der deutliche Kritik geäußert werden muss, die vom Gegenüber nicht unbedingt erwartet wird. Diese professionelle Grundhaltung bildet die Basis für eine weitere Freiheit, die Virginia Satir beschrieben hat als »Freiheit, das auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke – und nicht das, was von mir erwartet wird«. Darüber hinaus kann das aufgebaute Vertrauensverhältnis stabilisiert werden, indem der Schwerpunkt des Gesprächs auf die Vermittlung von Hilfsangeboten durch das Jugendamt gelegt und auch elterliche Überlastung und Erschöpfung nicht übersehen wird. Im Fall von Jana bedeutet das, dass die Frühförderin die Eltern im nächsten Elterngespräch gemeinsam anspricht, ihre Beobachtungen schildert und ihnen anbietet, dass weitere Unterstützungsangebote zu ihrer Entlastung beitragen könnten.
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• Fallen Sie aus allen Wolken, wenn das weitere Vorgehen geplant werden muss!
Jede Frühförderstelle, jedes Sozialpädiatrische Zentrum benötigt eine Verfahrensplanung und entsprechende Ablaufbeschreibungen, und zwar für alle notwendigen Schritte, sobald der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung aufkommt. Das sichert das professionelle Handeln und bietet den einzelnen Fachkräften Halt und Handlungsorientierung. Sowohl die rechtlichen Grundlagen und Vorgaben als auch das Vorgehen in der jeweiligen Einrichtung und eine Erklärung von Begriffen wie körperliche Gewalt oder Misshandlung, emotionale und psychische Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch und ihre verschiedenen Unterformen sollten vorliegen und nicht erst zeitraubend zusammengesucht werden. Die Erstellung von Verfahrensplänen ist mühsam und die Zeit könnte vermeintlich meistens besser genutzt werden. Verfahrenspläne helfen ja auch selten bei der schnellen Bewertung der Lage. Oft wird die Bewertung und Einordnung verschiedener Anhaltspunkte erst im Prozessverlauf möglich. Die Klärung von Gefährdungslagen ist deshalb eher als ein Prozess zu verstehen, zu dem die Fachberatung durch eine »insoweit erfahrene Fachkraft« (InsoFa, § 8a SGB VIII) in Anspruch genommen werden kann. Im Fall von Jana bedeutet das, dass die Frühförderin auf Dokumentationshilfen zurückgreifen kann. Sie weiß, wen sie wann informieren und hinzuziehen kann und sollte, und sie hat die Möglichkeit, durch die Fallbesprechung im Team eine Gefährdungseinschätzung unter Einbezug einer Ressourcenanalyse zu initiieren sowie eine InsoFa hinzuzuziehen.
Beteiligung der Betroffenen Im Fall von Leon drohte alles schon vor dem SPZ-Kontakt zu scheitern, weil die Termine von Elternseite nur unregelmäßig wahrgenommen wurden. Ein Teil der Beteiligten war nicht über die SPZ-Begleitung informiert und Schweigepflichtentbindungen waren nicht eingeholt worden. Sehr schnell wurde auch klar, dass das Kind und seine Bedürfnisse aus dem Blick geraten waren. Hilfreich war ein klärendes Gespräch beim nächsten Termin im SPZ mit dem Auftrag, für eine möglichst hohe Transparenz zu sorgen. Optimiert werden konnte der Prozess durch die immer wieder abgestimmten und offen kommunizierten weiteren Schritte sowie ein zwischenzeitliches gemeinsames Gespräch mit den Kindseltern zu unserer Einschätzung. Im Hinblick auf Leon erlebten wir zwei Kinder (ihn und seine Schwester), ein Eltern- und ein Großelternpaar als belastet. Um den bisherigen Alltagskontext
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abzubilden und verstehbar zu machen, wurden sowohl die Familie als auch das professionelle Helfersystem gemeinsam eingeladen. Termin- oder pandemiebedingte Engpässe konnten mit dem Angebot von Video- bzw. Telefonkonferenzen in der Regel angemessen aufgefangen werden. Sogar die Hybridform bot hier Ansätze, wenn eine einzelne Person kurzfristig absagen musste und zum Präsenztermin »live zugeschaltet« werden konnte. In den meisten Situationen dieser Art konnten die Beteiligten – ob Betroffene oder Profis – ein hohes Maß an Spontanität, Flexibilität und Kreativität beweisen. Dinge mal anders und auf ungewöhnliche Weise zu tun, schien sich wie ein roter Faden zu etablieren und alle neugierig auf mehr zu machen. Jede Herausforderung dabei, wie manchmal die unvermeidbaren technischen Hürden, wurden mit viel Humor genommen.
Praktische Methoden systemischer Kinderschutzarbeit und Selbstreflexion Mit einer systemischen Haltung und Gesprächsführungskompetenzen, die sich an Neutralität, Allparteilichkeit sowie einer Sicherung von Rollenklärung und Perspektivenvielfalt orientieren, kann Kinderschutz auch in der Arbeit mit Kindern, die Beeinträchtigungen haben, lösungs- und ressourcenfokussiert gelingen. Die Besonderheit liegt hier zum einen darin, dass Beeinträchtigungen und Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung manchmal schwer auseinanderzuhalten sind. Hinzu kommt, dass Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen häufiger Anpassungsleistungen erbringen müssen, die dazu führen können, dass sie sich stärker belastet fühlen. Allerdings weist Retzlaff (2016) darauf hin, dass Familien von Kindern mit Beeinträchtigungen keinesfalls eine homogene Gruppe darstellen und nicht alle Stresssymptome und dysfunktionale Beziehungsmuster aufweisen. Greifbare Belastungen der Familie, wie z. B. finanzielle Belastungen durch erhöhten Pflegeaufwand des Kindes, viele Termine, Sorgen um die weitere Entwicklung, Suche nach Betreuungsmöglichkeiten, müssen erfragt und aufgegriffen werden. Darüber hinaus spielen familiäre Deutungsversuche über Ursachen und Auswirkungen der Beeinträchtigungen des Kindes eine wesentliche Rolle. Ein wesentlicher Aspekt ist hier die Dokumentation und anschließende Aktivierung von Ressourcen, sowohl auf familiärer Ebene als auch des Umfelds. Bei allen Formen von Fallarbeit und kollegialer Beratung stehen zudem Ansätze im Mittelpunkt, die eine detaillierte Visualisierung des psychosozialen Kontexts eines Kindes ermöglichen. Dazu gehören die (Sozio-)Genogramm-, Timeline-Darstellung, aber auch Skulpturarbeit oder die Netzwerkkarte. Re flexionssettings kommen nicht nur innerhalb des Teams oder mit Familien zum
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Einsatz, sondern bei Bedarf auch in Kooperationskontexten, Verfahrensregelungen im Rahmen von Qualitätsmanagement oder weiterer Abstimmung mit Netzwerkpartner:innen. Hier hat sich die Arbeit mit Moderations- bzw. Bildkarten oder Flipcharts bewährt. Kinderschutz für Kinder und ihre Familien in Frühförderstellen und SPZ Medizinischer Kinderschutz umfasst alle (Verdachts-)Fälle von körperlicher, emotionaler oder sexualisierter Gewalt sowie Vernachlässigung ab Schwangerschaft/Geburt. Neben Prävention, Früherkennung, Diagnostik und Intervention beinhalten entsprechende Konzepte an Kliniken auch Fortbildung, kollegiale Beratung/Supervision und Qualitätssicherung. Im stationären Bereich übernehmen interdisziplinäre Teams aus der Pädiatrie und/oder Kinder- und Jugendpsychiatrie diese Aufgaben; ambulant finden sich unterschiedliche Modelle, dazu gehört auch die Kooperation mit Beratungsstellen und Jugendämtern (DGKiM, 2016). Als ein weiteres potenzielles Bindeglied zwischen Kinderund Jugendhilfe und Medizin gelten Medizinische Kinderschutzambulanzen, die die Versorgung Betroffener verbessern können, jedoch bisher nur an wenigen Stellen vorgehalten werden (Winter, 2020). Für Sozialpädiatrische Zentren, die sich an Kinderkliniken oder kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen befinden, ergeben sich hier demgemäß verschiedene Möglichkeiten, Kinderschutzgruppen gemeinsam zu gestalten. Eine Herausforderung stellt immer noch die Einbindung anderer Fachabteilungen und insbesondere von Notaufnahmen dar, auch wenn Vorschläge dazu in den letzten Jahren bereits einer breiten Fachöffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurden (AWMF, 2019). Da in sozialpädiatrischen Settings häufig familiäre und psychosoziale Risikofaktoren kumulieren, hat der Bedarf an Beratung und Abklärung im Bereich Kinderschutz deutlich zugenommen. Fortbildungsangebote aus dem Themenfeld der Frühen Hilfen oder Kinder psychisch kranker Eltern sind ebenso regelmäßig im Angebot wie zu Entwicklungs- und Verhaltensproblemen. Intervision und kollegiale Beratung bedeuten eine wichtige Ressource im multiprofessionellen SPZ-Team und stehen nicht nur routinemäßig, sondern auch kurzfristig für Kinderschutzanliegen zur Verfügung. Da viele Familien über eine längere Zeit begleitet werden und Beziehungen zur Therapeutin oder fallverantwortlichen Kollegin aufbauen, werden Belastungen nicht selten auch von den Bezugspersonen selbst formuliert und können so bereits präventiv begleitet werden.
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Eine intensive Beratungsarbeit mit den Eltern, kontextstärkende Angebote, Ressourcenaktivierung, vertrauensbildende Maßnahmen und Vernetzung (Frühe Hilfen, Beratungsstellen, Betreuungsmöglichkeiten) bilden dafür die wesentliche Grundlage. Ausblick »Frühzeitige Gewaltprävention in Verbindung mit Gesundheitsförderung muss bereits in Kindheit und Jugend ansetzen und kann sowohl Angebote zur Stärkung des physischen und psychischen Selbstbewusstseins von Mädchen mit Behinderungen umfassen als auch Angebote für Eltern und Angehörige behinderter Kinder« (Schröttle u. Hornberg, 2014). Neben der Früherkennung im Kindesalter hat bei Menschen mit chronischen Gesundheitsstörungen oder Beeinträchtigungen auch die weitere Lebensspanne im Hinblick auf den Schutzauftrag eine besondere Bedeutung. Gerade weibliche Jugendliche und Erwachsene mit leichter Intelligenzminderung sind häufiger von physischer und sexueller Gewalt bedroht (McEachern, 2012; Schröttle u. Hornberg, 2014). Insgesamt deuten Studien darauf hin, dass bis zu einem Viertel aller Kinder mit Beeinträchtigungen über ihre Lebenszeit Opfer von Gewalt werden können und somit in allen Settings als Hochrisikogruppe betrachtet werden müssen (Nowak, 2015). Im Rahmen weiterer Präventionsansätze sollten neben (Kinder- und Jugend-) Ärzt:innen alle Beteiligten dahingehend geschult werden, Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten möglichst früh zu identifizieren und an entsprechende Zuständigkeiten von Frühförderstellen oder SPZ zu verweisen. Bei der Dokumentation von fraglichen Kinderschutzfällen könnte die Erfassung des Entwicklungsstandes und möglicher chronischer Beeinträchtigungen ein weiteres wichtiges Kriterium sein (Jaudes u. Mackey-Bilaver, 2008). Darüber hinaus muss festgestellt werden, dass institutionelle, standardisierte Schutzkonzepte für das System in der heterogenen Landschaft der Frühförderstellen und SPZs noch lange nicht flächendeckend in Deutschland aufgebaut sind. Hierauf gilt es das Augenmerk zu richten.
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5 Fokus Sozialraum, Quartier, Kiez
5.1 »Gemeinsam schaffen wir mehr!« – Sozialraumorientiertes Arbeiten mit dem Familienrat Heike Hör
In schwierigen Lebenssituationen gute Entscheidungen zu treffen, ist nicht einfach. Ganz besonders gilt das für Familien und verantwortliche Fachleute, wenn es Sorgen um die Sicherheit und den Schutz von Kindern oder Jugendlichen gibt. Im folgenden Beitrag stellen wir den Familienrat vor, ein vielseitiges, strukturund kontextsensibles Verfahren. Der Familienrat bietet eine Chance für gelebte Sozialraumorientierung, die rechtliche und fachliche Anforderungen an einen erfolgreichen Kinderschutz berücksichtigt. Was hat der Familienrat im Kinderschutz mit der Sozialraumorientierung (SRO) zu tun? Zentrale Prinzipien der Sozialraumorientierung lauten: Der Wille und die Interessen der leistungsberechtigten Menschen sind Ausgangspunkt der Zusammenarbeit. Die Aktivierung der Menschen steht im Vordergrund. Persönliche Ressourcen und Ressourcen im Sozialraum sind wesentlich bei der Gestaltung einer Hilfe. Um funktionierende Einzelhilfen zu bieten, arbeiten unterschiedliche soziale Dienste integrativ, vernetzt, zielgruppenorientiert und bereichsübergreifend. Ziel ist es, Lebenswelten und Arrangements so zu gestalten, dass leistungsberechtigte Menschen auch in prekären Lebenssituationen zurechtkommen (vgl. Hinte u. Treeß, 2006, nach Budde u. Früchtel, 2011). Budde und Früchtel (2011) beschreiben vier Ebenen der Sozialraumorientierung: die sozialstrukturelle Ebene (S), die Ebene der Organisation (O),
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die Netzwerkebene (N) und die individuelle Ebene (I). Das Verfahren Familienrat bietet kultur- und kontextsensible und flexible Möglichkeiten, diese benannten zentralen Prinzipien auf der Ebene der Netzwerke und auf der individuellen Ebene zu realisieren. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAG LJÄ) schreibt in ihren Empfehlungen zur Hilfeplanung: »Ein […] Verfahren, vorhandene Ressourcen in die Hilfeplanung im Einzelfall einzubeziehen, kann z. B. die Durchführung eines Familienrats […] sein. Die Methode setzt direkt am Willen der Leistungsempfängerinnen und -empfänger an und sieht in deren Ressourcen und Kompetenzen unter Einbeziehung ihres Netzwerks das zentrale Potenzial für die Erarbeitung von Lösungen. Der Familienrat ist geeignet, Lösungsressourcen innerhalb der Familie und deren Umfeld zu mobilisieren und Eigenverantwortung sowie Mitwirkung zu stärken« (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, 2015, S. 33). Herausforderungen an einen erfolgreichen Kinderschutz Für die Überwindung familiärer Krisen und die Entwicklung nachhaltiger Lösungen ist die gute Zusammenarbeit aller Beteiligten zentral. Wenn es gelingt, alle zur aktiven Gestaltung der Veränderungen zu gewinnen, die Selbstbestimmung der Menschen so weit als möglich zu erhalten, und wenn notwendige Anforderungen zum Kinderschutz gemeinsam von Familie und Fachkräften getragen werden, bestehen gute Aussichten für die Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Auch wenn weitergehende Hilfen notwendig werden, sind diese durch den Einbezug und Erhalt der lebensweltlichen Bezüge für Kinder und Jugendliche erfolgreicher. Im 1991 verabschiedeten SGB VIII, dem damaligen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), wird der Stärkung der Partizipation ein besonderer Stellenwert beigemessen. Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) bestärkt diesen Anspruch unter anderem in den § 37, § 41 und der Betonung niedrigschwelliger Leistungen sowie mit dem Schwerpunkt Beteiligung, z. B. durch die Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der jungen Menschen (in § 1). Fachleute und Wissenschaftler:innen sind sich allerdings einig: Um dem geforderten Anspruch im Alltag gerecht zu werden, ist noch einiges zu tun. »Die Praxis der Fremdunterbringung, so scheint es, ist nach wie vor noch erheblich von der konsequenten Umsetzung dieses gesetzlichen Leitbildes der Kinder- und Jugendhilfe entfernt« (Faltermeier, 2019, S. 181). In der Jugendhilfe und gerade im Kinderschutz ist die Zusammenarbeit mit den Familien entscheidend für den positiven Hilfeverlauf, dennoch werden die Gespräche zum Fallverstehen, zur Auftragsklärung und Hilfeplanung immer noch deutlich von den Profis im Verfahren dominiert (vgl. Hör, 2021b, S. 363 ff.).
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Als Fehlerquellen im Kinderschutz benennen Biesel, Brandhorst, Rätz und Krause (2019, S. 127) unter anderem folgende Punkte: »Unzureichender Kontakt und Beziehungsaufbau zu Kindern, Jugendlichen und Eltern, gerade in Konfliktsituationen und bei Widerständen; Vernachlässigung der Sichtweise der Kinder und Jugendlichen, Reduzierung auf ein enges Verständnis von Kinderschutz, Vernachlässigung von dahinterliegenden Dynamiken der Familien, kein multiperspektivisches Fallverständnis; zögerliches oder übermäßiges Eingreifen von Fachkräften bei vermuteter Kindeswohlgefährdung«. An anderen Stellen geben sie zu bedenken: »Die staatliche Intervention ist zumeist nicht das Ende, sondern der Anfang oder die Fortsetzung eines auf Ko-Produktion ausgelegten Hilfeprozesses mit Familien.« Und weiter »Ohne Aktivität und das Mit-Handeln bleibt alle Hilfe wirkungslos, denn den Erfolg kann nicht allein die Fachkraft mithilfe ihrer fachlichen Kompetenz und persönlichen Haltung herbeiführen. Dazu bedarf es der aktiven Mitarbeit aller am Hilfeprozess beteiligten Personen und ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltensänderung« (S. 109). Eine grundlegende Erkenntnis lautet somit: Kinderschutz gelingt, wenn die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten gelingt. Der Familienrat bietet hier eine große Chance. Wie diese Chance im Sozialraum genutzt werden kann, soll im Folgenden erläutert werden. Das ist ein Familienrat Der Familienrat ist ein Angebot, das Familien in schwierigen Lebenssituationen stärkt: Familien, Verwandte und Freund:innen treffen sich, um die aktuellen Schwierigkeiten und fachlichen Informationen oder auch Anforderungen zum Kinderschutz zu diskutieren, eigene Lösungsideen zu entwickeln und zu entscheiden, welche professionellen Hilfen beauftragt werden sollen. Das Verfahren wird international (als »Family Group Conferencing«) und deutschlandweit zur Förderung der Selbstwirksamkeit, Verantwortungsübernahme, Aktivierung der Bürger:innen, Teilhabe und Partizipation von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien eingesetzt. Es ist kultur- und kontextsensibel und thematisch flexibel nutzbar. Im Mittelpunkt des Familienrats steht der Gedanke, Familien und ihr Umfeld zu aktivieren und Selbstbestimmung und Verantwortungsübernahme zu fördern, auch wenn es Sorgen um das Wohl eines Kindes gibt. Die notwendige professionelle Unterstützung oder Absicherung für Kinder und Jugendliche erhält auf diese Weise eine breitere Basis. Familien werden mit ihren Schwierigkeiten dabei nicht alleingelassen. Expertise, Angebote und Anforderungen seitens der Fachleute wer-
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den durch diese selbst aktiv eingebracht. Wichtige Veränderungen werden durch die Kombination lebensweltlicher und professioneller Ressourcen eher möglich. Ablauf eines Familienrats: Nach der gründlichen Vorbereitung treffen sich Familie und Nahestehende; je nach Situation beteiligen sich auch professionelle Fachkräfte. Diese stellen in der Informationsphase ihre Einschätzung zur Situation, zu möglicher Unterstützung und bei Fragen zum Kindeswohl auch die Mindestanforderungen zum Schutz vor. Anschließend diskutieren die Familie und die ihr Nahestehenden in der privaten Familienzeit – ohne Fachkräfte – mögliche Lösungen. Sie klären, was notwendig ist, was helfen kann und welche Unterstützung von außen, z. B. vom Jugendamt, angenommen werden soll. Alle Entscheidungen werden in einem Plan zusammengefasst, der im Anschluss den Fachkräften vorgestellt wird. Falls eine Anforderung zum Kinderschutz vorhanden ist, wird deren Erfüllung durch eine Fachkraft überprüft. Diese stimmt dem Plan zu, wenn die Anforderungen erfüllt sind, ansonsten erhält die Familie die Gelegenheit, weiterzuarbeiten. Familienratkoordinator:innen: Die Familienratkoordinatorin oder der Familienratkoordinator begleitet die Familie in der Vorbereitung ihres Familienrats. Die Familie klärt mit dieser Unterstützung, wann, wo und mit wem sie den Rat abhalten möchte, und trifft alle notwendigen Vorbereitungen für ein konstruktives Treffen. Ȥ Die Anlässe für einen Familienrat sind vielfältig: Ȥ Ein Elternteil fällt in der Erziehung aus. Ȥ Eltern trennen sich und Absprachen sind notwendig. Ȥ Es gibt Fragen zum Wohl eines Kindes. Ȥ Kinder oder Jugendliche haben Schwierigkeiten in der Schule. Ȥ Hilfen zur Erziehung sollen gut eingeleitet oder abgeschlossen werden. Ȥ Häusliche Gewalt soll zukünftig verhindert werden. Ȥ Die U-Haft Jugendlicher im Strafverfahren soll vermieden werden. Ȥ Die Haftentlassung Jugendlicher soll begleitet werden. Ȥ Geflüchtete Menschen sollen unterstützt und Perspektiven geklärt werden. Ȥ Lebensübergänge sollen gestaltet werden (vgl. Hör, 2021a). Die Themen werden von den Familien selbst benannt oder durch Akteure im Sozialraum wahrgenommen (Kitas, Schule, Familienzentren, Nachbarn u. a.). »Lea braucht ein zuverlässiges Zuhause!« – Wie Netzwerke und lebensweltliche Ressourcen im Sozialraum klug kombiniert werden können Lea, zwei Jahre alt, lebt bei ihrer Oma, Frau Winter, da ihre Mutter suchtkrank ist. Aufgrund ihres Alters geht es Frau Winter gesundheitlich schlecht, es muss eine
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neue Lösung für die quirlige Lea gefunden werden. Lea hat gerade erst den Umzug zur Oma verarbeitet, so ist es den zuständigen Sozialarbeiter:innen des Jugendamts sehr wichtig, dass eine längerfristige Alternative gefunden wird. Damit dies funktionieren kann, ist die Beteiligung von Leas Mutter, Frau Hoch, wichtig. Da es auch einige andere Familienmitglieder, Nachbarinnen, Kontakte zum Familienzentrum und zur Kirchengemeinde gibt, denen Lea am Herzen liegt, schlägt der Sozialarbeiter Herr Gern einen Familienrat vor. Familie, Nahestehende und Umfeld sind bereit, sich für Lea zusammenzusetzen. Herr Gern formuliert in seinem Auftrag die Stärken der Familie so: Lea ist ein liebenswertes, sonniges und gut entwickeltes Mädchen, sie wird von ihrer Familie sehr geliebt. Die Familie und Verwandten halten zusammen und unterstützen sich. Es ist ihnen sehr wichtig, dass Lea in der Familie aufwachsen kann. Die Familie hat Unterstützung im Familienzentrum und in der Kirchengemeinde. Leas Mama ist bereit, ihre Suchterkrankung behandeln zu lassen und aktiv an Veränderungen zu arbeiten. Auch wenn es ihr manchmal sehr schwerfällt, sich zu konzentrieren oder den Gesprächen zu folgen, strengt sie sich an, alle Termine wahrzunehmen. Als Sorgen benennt Herr Gern folgende Punkte: Leas Oma ist erkrankt und kann sich nicht länger um Lea kümmern. Es ist noch nicht klar, wie lange Frau Hochs Genesung dauern wird, sie ist ernsthaft suchtkrank. Die Versorgung von Lea sollte langfristig und zuverlässig bis zum 18. Lebensjahr gewährleistet sein. Die Mindestanforderung zum Wohl Leas entspricht diesen Sorgen: Lea kann nicht bei der Mutter und nicht mehr bei der Oma leben. Sie wird zeitnah bei einer Person untergebracht, die ihre Versorgung bei Bedarf auch auf Dauer übernehmen kann. Diese Pflegeperson muss geeignet sein (Überprüfung durch den Pflegekinderdienst, PKD) und sichert auch den regelmäßigen Kontakt zwischen Lea, ihrer Mutter und der Oma. Zur Vorbereitung des Familienrats spricht die Familienratkoordination mit allen Familienmitgliedern, Bekannten und Kontaktpersonen in der Kirchengemeinde und dem Familienzentrum. Verschiedene Lösungsmöglichkeiten werden erarbeitet, manche wieder verworfen, und auch einige Fragen zu materieller Unterstützung und zur Wohnungssuche werden angesprochen. Die Zeit drängt, da es der Oma nicht gut geht und Leas Mutter einen Termin für einen langfristigen Therapieplatz bekommen hat. Vor der Aufnahme in die Therapie muss sie zunächst den körperlichen Entzug durchhalten, das kostet viel Kraft. Bei der Vorbereitung des Familienrats wird Leas Mutter deshalb von einer Freundin unterstützt. Der Familienrat: 14 Familienmitglieder und Freund:innen treffen sich gemeinsam mit vier Sozialarbeiter:innen und der Familienratkoordination in den Räumen der Kirchengemeinde. Zum Start stellen sich alle Beteiligten vor und werden gebeten, zu erzählen, was sie an Lea besonders gerne mögen. Die anfangs sehr angespannte Stimmung lockert sich dabei merklich, und es entsteht das Bild der sehr munteren
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zweijährigen Lea, für die alle Anwesenden sich sehr gern engagieren. Leas Mutter ist extrem angespannt, mitten im körperlichen Drogenentzug sitzt sie schwitzend auf ihrem Stuhl neben ihrer Freundin. In der Informationsphase werden die Anwesenden von den verschiedenen Fachleuten über die bestehenden Sorgen, Anforderungen zum Kinderschutz und Angebote zur Unterstützung informiert. Da die Sozialarbeiter:innen Frau Hoch keine Vorwürfe machen, sondern ihren Entschluss zur Veränderung hervorheben, entspannt sie sich zusehends. In der privaten Familienzeit diskutiert die Familie mit Freund:innen und Bekannten ausführlich darüber, welche Optionen es gibt. Anschließend stellt sie ihr Ergebnis der Familienratkoordination und den Fachleuten vor. Nach fünf Stunden intensiver Arbeit stimmen diese dem Plan zu, da die Anforderungen zum Kinderschutz erfüllt sind: Lea soll zu einer Tante ziehen, die, unterstützt von ihren erwachsenen Kindern, die Betreuung auch langfristig übernehmen kann, falls das nötig wird. Die Tante veranlasst die Überprüfung durch den Pflegekinderdienst. Andere Verwandte bieten regelmäßige Freizeitaktivitäten auch in Kooperation mit dem Familienzentrum und die Begleitung zu den Besuchen bei der Mutter an. Die beteiligten Nachbar:innen sichern Unterstützung in alltäglichen Situationen und im Notfall zu. Sichtlich erschöpft und gleichermaßen zufrieden gehen die Beteiligten auseinander.
Anleitung zum Scheitern in der Arbeit mit dem Familienrat Fachleute spielen in einem Familienrat eine wichtige Rolle und haben Einfluss auf einen gelingenden Verlauf, also gibt es auch einige Gelegenheiten, ein Scheitern zu erwirken. Hier ein paar einfache Tipps: Ȥ Grundsätzlich sollten Sie davon ausgehen, dass Sie als Profi die besten Ideen für die Lösung des Problems der Familie haben. Gute Lösungen sind möglich, wenn alle sich nach Ihren Vorgaben richten. Sie haben viel Erfahrung und sind die Fachkraft, auf die alle vertrauen sollten. Sie sollten den Menschen auch klarmachen, dass Schwierigkeiten in einer Familie ein Zeichen für deren Versagen sind. Ȥ Drogenkranke Eltern haben kein Interesse am Wohl ihrer Kinder, es gibt sicher einen familiären Grund, weshalb sie krank geworden sind, und die Kinder sind auf jeden Fall besser außerhalb der Familie aufgehoben. Eine Verbindung zu ihren Wurzeln ist eher schädlich. Für Lea wäre also wichtig, in ein neues Umfeld zu kommen. Ȥ Gehen Sie auch davon aus, dass alle sich selbst die Nächsten sind und Menschen nicht bereit sind, sich um andere zu kümmern. Familien und Nahestehende verfolgen oft eigene Interessen und wollen diese durchsetzen. Familie und Umfeld in die Entscheidungen für die Zukunft des Kindes einzubezie-
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hen, ist außerdem zeitaufwendig und verkompliziert die Entscheidungsfindung nur. Leas Familie lebt teilweise weiter weg, das ist alles sehr schwierig. Wenn Sie der Familie das Angebot eines Familienrats gar nicht erst machen, haben Sie all den Aufwand nicht. Sollte es doch notwendig werden, sich an einem Familienrat zu beteiligen, formulieren Sie Ihren Beitrag wie folgt: Beschreiben Sie die Vorgeschichte und aktuelle Situation der Familie mit dem Schwerpunkt auf den vorhandenen Defiziten, Sie können beispielsweise ganz klar herausstellen, wie oft und wo die Familie mit Lösungsversuchen gescheitert ist. Nutzen Sie dabei möglichst viele Fachwörter, damit die Familie Ihre Expertise erkennen kann. Sprechen Sie die Sorgeberechtigten gerne mit »Kindsvater, Kindsmutter« an und vermeiden Sie die persönliche Ansprache. Hier geht es um Sachlichkeit und nicht um eine gute Beziehung zu den Betroffenen. Beschränken Sie sich bei der Nennung der Stärken auf ein Minimum, hier sind ja die Probleme zentral. Im Beispiel etwa: »Lea hat wohl auch eine weitere Familie, zu der es kaum Kontakt gibt.« Vermeiden Sie es, Stärken einzelner Personen zu benennen, ganz besonders nicht die des Kindes oder der Sorgeberechtigten. Nehmen Sie auf keinen Fall Ressourcen im Umfeld oder Sozialraum in den Blick, das ist verschwendete Zeit. Im Gegensatz dazu sollten Sie jede Sorge so detailliert wie möglich ausführen. Am besten notieren Sie jedes entstandene Problem mit konkreten Zeitangaben. Beschreiben Sie genau, wann und wo Frau Hochs Sucht aufgefallen ist. Bleiben Sie bei der Formulierung der Mindestanforderung zum Kindeswohl schwammig, man kann ja nie wissen, was sich noch entwickelt. Also im Fall Leas: »Lea kann wahrscheinlich nicht mehr bei der Mutter und nicht mehr bei der Oma leben. Sie sollte irgendwann bei einer Person untergebracht werden, die sich wenigstens momentan bereiterklärt. Ein regelmäßiger Kontakt zwischen Lea und ihrer Mutter ist nicht notwendig, die Mutter hat ja ohnehin einen schlechten Einfluss auf Lea.« In der Vorbereitung des Familienrats sollten Sie sich nicht zu sehr um Rückfragen der Familie oder der Koordination kümmern, die kommen schon klar. Bei der Festlegung des Zeitpunkts und Ortes ist es gut, wenn Sie der Familie keinen Spielraum lassen, schließlich will die Familie ja was von Ihnen. Legen Sie für Leas Familie beispielsweise fest, dass der Rat freitagvormittags zwischen 8:00 und 13:00 Uhr stattfinden muss. Schließlich kann niemand erwarten, dass Sie Ihre Zeiten anpassen. Dann kommen die Verwandten von Würzburg halt am Abend vorher und übernachten in einem Hotel, das werden sie schon schaffen, wenn ihnen das Kind wichtig ist.
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Ȥ Am Familienrat haben Sie auch einige Gelegenheiten, die Atmosphäre zu gestalten: Begrüßen Sie niemanden und halten Sie Abstand zu Leas Familie. Korrigieren Sie die Familienratkoordination in ihrer Moderation, am besten übernehmen Sie das selbst, die Koordination ist ja schließlich keine professionelle Pädagogikfachkraft. Ȥ Bringen Sie in der Informationsphase überraschende neue Informationen ein, die der Familie noch nicht bekannt waren, daran können Sie erkennen, wie stressresistent die Menschen sind. Machen Sie den Beteiligten deutlich, dass Sie starke Zweifel haben, ob die Familie in der Lage ist, eine gute Entscheidung für Lea zu treffen. Reagieren Sie ganz klar abweisend auf jeden Klärungsbedarf, den Anwesende haben. Ȥ Diskutieren Sie ruhig auch in der Infophase mit der Familie über Ihre Infos und machen Sie Vorschläge für die beste Lösung. Beschreiben Sie alle Sorgen ausführlich und in Fachsprache. Bleiben Sie aber ganz besonders bei der Formulierung Ihrer Mindestanforderungen zum Kinderschutz unklar, lassen Sie offen, wie Sie die Einhaltung kontrollieren werden. Ȥ Machen Sie sehr deutlich, dass Mindestanforderungen von Ihnen als erfüllt angenommen werden müssen und dass es ein entsetzliches Versagen ist, wenn es der Familie nicht gelingt, sich auf einen guten Plan zu einigen. Halten Sie einen kleinen Vortrag über die möglichen Jugendhilfeangebote, auch wenn Sie niemand darum gebeten hat. Wo schon alle beisammensitzen, kann diese Information nicht schaden, so erkennen alle, wie gut informiert Sie sind. Ȥ In der privaten Familienzeit sind Sie leider nicht anwesend, am besten Sie verhindern diese Zeit und machen den Beteiligten ganz klar, dass diese ohne Ihre professionelle Moderation nicht klarkommen werden. Oder noch besser: Sie bieten der Familie gleich einen runden Tisch bei Ihnen im Büro an, das ist doch dann dasselbe und Sie behalten den Überblick über die Situation! Ȥ Bei der Abnahme des Plans ergeben sich auch einige Möglichkeiten, das Misslingen zu sichern: Nehmen Sie jeden Vorschlag gründlich auseinander, hinterfragen und diskutieren Sie die Ideen, machen Sie Gegenvorschläge, schließlich waren Sie ja zur Diskussion nicht dabei. Nur bei der Abnahme der Mindestanforderung sollten Sie schwammig bleiben, am besten sagen Sie: »Das kann ich nun nicht entscheiden, Sie hören in zwei Wochen von mir.« Ȥ Auch die Familienratkoordination hat Einfluss auf ein mögliches Misslingen – diesen hier im Detail zu erörtern, sprengt nun leider den Rahmen, deshalb kurz zusammengefasst: Der Familienrat misslingt, wenn die Koordination nicht neutral und zuverlässig arbeitet, wenn sie also eigene Ideen und Vorschläge einbringt, verfolgt und den Familienrat zu ihrem eigenen Rat macht, anstatt die Familie zu unterstützen, ihre Selbstwirksamkeit zu entfalten.
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Literatur Biesel, K., Brandhorst, F., Rätz, R., Krause, H.-U. (2019). Deutschland schützt seine Kinder. Eine Streitschrift zum Kinderschutz. Bielefeld: transcript. Budde, W., Früchtel, F. (2011). Die Zukunft der Sozialraumorientierung: Theorie, Praxis und der Stand der Dinge. Evangelische Jugendhilfe, 1/2011, 14–24. Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter (2015). Qualitätsmaßstäbe und Gelingensfaktoren für die Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII, Mainz. Zugriff am 04.08.2022 unter https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwiDsJaxsK35AhWSwAIHHbvOBasQFnoECAsQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.kvjs. de%2Ffileadmin%2Fdateien%2Fjugend%2FHilfe_zur_Erziehung%2FAllgemeiner_Sozialer_ Dienst%2F2015_Empfehlungen_BAGLJAE_Hilfeplanung____36_SGB_VIII.pdf&usg=AOvVaw3J7iCl974S2M6uESl8535S. Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge e. V. (2011). Fachlexikon der sozialen Arbeit. Baden-Baden: Nomos. Faltermeier, J. (2019). Eltern, Pflegefamilie, Heim – Partnerschaften zum Wohl des Kindes. Weinheim u. Basel: Beltz Juventa. Hör, H. (2021a). Gemeinderatsdrucksache 789/2021. Stuttgart. Hör, H. (2021b). Familienrat – Brücke zwischen privater Lebenswelt und professioneller Hilfe. In J. Faltermeier, N. Knuth, R. Storck (Hrsg.), Handbuch Eltern in den Hilfen zur Erziehung (S. 363–381). Weinheim u. Basel: Beltz Juventa.
5.2 »Einer allein kann kein Dach tragen« – Kooperativer Kinderschutz in Tageseinrichtungen für Kinder Kim Heinzer, Sabrina Müller, Uwe Hindrichs, Ansgar Röhrbein
Samira1 Die Erzieherin Frau Mustermann von der Kindertageseinrichtung Regenbogen meldet sich telefonisch bezüglich eines sechsjährigen Mädchens im Märkischen Kinderschutz-Zentrum2 (KiZ). Sie habe bereits mit ihrer Leitung gesprochen, die ihr eine Kontaktaufnahme zum KiZ empfohlen habe. Selbstverständlich hat sie 1 Alle Daten und Namen der Personen und Institutionen sind anonymisiert und verfremdet. 2 Das Kinderschutz-Zentrum ist eine Einrichtung der Märkischen Kliniken GmbH und wird von den fünf erwähnten Kommunen grundfinanziert. Die Einrichtung arbeitet nach den Grundsätzen moderner Kinderschutzarbeit, ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren und fest verankert im örtlichen psychosozialen Netzwerk der Jugendhilfe. Das Team ist multiprofessionell besetzt und umfasst neun Mitarbeiter:innen. Das Aufgabenfeld des Kinderschutz-Zentrums ist vielfältig. Es umfasst die Einschätzung von
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die Daten vorher pseudonymisiert, sodass unter dem Decknamen »Samira« ihre Anfrage aufgenommen werden kann. Das Mädchen besuche seit zwei Monaten ihre Einrichtung. Im Telefonat mit der Beratungsassistentin des Kinderschutz-Zentrums beschreibt Frau M., dass das Mädchen vor Kurzem zusammen mit ihrer Mutter und ihrem achtjährigen Bruder nach Altena gezogen sei. Der Vater lebe noch in Bayern, wo bis zum damaligen Zeitpunkt alle gemeinsam in einem Asylwohnheim gewohnt hätten. Nach Aussage von Frau M. zeigt das Mädchen unterschiedliche Auffälligkeiten. Es habe beispielsweise in der Toilette die Wände mit Kot beschmiert. Oder es creme sich die Arme mit Farbe oder Bastelkleber ein. Auf Ansprache reagiere die Kleine mit der Aussage: »Bitte nicht der Mama erzählen, die schlägt mich dann auf die Brust oder ins Gesicht.« Frau M. bittet um eine baldige Fachberatung: »Wir möchten, dass die Familie ganz schnell Hilfe bekommt.« In einem ersten zeitnah stattfindenden Gespräch zwischen der insoweit erfahrenen Fachkraft (InsoFa) und Frau M. beschreibt diese, dass sie und ihr Team bei der Mutter und ihrer Tochter eine gewisse Not sehen würden und unsicher seien, wie sie mit der Mutter in ein Gespräch kommen könnten, ohne den Druck auf das Kind zu erhöhen. Im weiteren Verlauf reflektiert die InsoFa mit Frau M., welche Aspekte aus ihrer Sicht gut laufen und welche Dinge ihr Sorgen bereiten. In Bezug auf die gelingenden Aspekte beschreibt die Kollegin, dass das Kind stets regelmäßig und pünktlich in die Einrichtung gebracht werde. Das Kind sei alters- und witterungsangemessen gekleidet und wenn etwas dazwischenkomme, gebe es immer eine ordentliche Abmeldung und Information von der Mutter. Auf der anderen Seite hätten sie den Eindruck, dass die Mutter möglicherweise Informationen zurückhalte, die Versorgung des Kindes unzureichend sei (es gebe nur trockene Brötchen oder Milchbrötchen) und sie nach Aussage des Kindes dieses »schlage«. Die Aussagen des Kindes wirken aus ihrer Sicht glaubhaft. So habe es etwa geäußert: »Mama hat mich am Auge gehauen, weil ich Blödsinn gemacht habe.« Auf die Frage, was sich das Kind nun von ihnen als Fachkräften wünschen würde, glaubt die Kollegin: »Einerseits möchte es Hilfe haben, andererseits sollen wir die Mama nicht darauf ansprechen, weil es sonst Ärger bekommt.« Zum älteren Bruder gebe es keine Informationen. Frau M. überlegt: Was braucht das Kind? Was benötigt die Mutter? Im weiteren Gespräch mit der InsoFa werden unterschiedliche Aspekte reflektiert, wo die Einrichtung im Kontakt mit der Mutter anknüpfen könnte und gleichzeitig den Schutz des Kindes im Blick behalte: Gefährdungslagen, Krisenintervention, psychosoziale multi-systemische Diagnostik, psychologische Beratung mit Kindern, Jugendlichen und Eltern, Familien- und Kindertherapie sowie Fortbildung, Fachberatung und Supervision für Fachkräfte und Institutionen.
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– gemeinsame Suche mit der Mutter: Wie können wir Ihnen helfen, hier im Ort gut anzukommen? – Vertrauensaufbau, näheres Kennenlernen, Interesse zeigen; – eventuell weitere Hilfen vermitteln, die Mutter scheint für Ideen offen zu sein; – in Bayern war wohl schon einmal eine Familienhilfe angedacht, die die Mutter nicht angenommen habe; – gleichzeitig sei sie mit dieser Information in der Einrichtung offen umgegangen; – grundsätzlich sei die Beziehung zwischen Mutter und Kind eine sehr liebevolle; – vor Ort gibt es zudem das Angebot »die Lotsinnen und Lotsen«3, was sich als niedrigschwellige Herangehensweise bewährt hat und hier eventuell auch greifen könnte. Bei Frau M. entsteht ein erstes Bild von einem gangbaren Weg im Umgang mit der Mutter. Sie wolle die Eindrücke zunächst sacken lassen und melde sich zeitnah für ein weiteres Gespräch. In einem zweiten Gespräch bittet Frau M. um eine konkretere Vorbereitung des Gesprächs mit der Mutter und sortiert mit der InsoFa gemäß einem entsprechenden Leitfaden (vgl. Tabelle 1), worauf sie achten und wie sie vorgehen möchte. Im Nachgang des Gesprächs mit der InsoFa beschreibt Frau M.: »Wir sind das gesamte Gespräch durchgegangen: vom Beginn, wo ich der Mutter danke, dass sie die Zeit gefunden hat, und ich würdige, was ihr gelingt, über die Dinge, die uns Sorgen machen, die unterschiedlichen Rechte des Kindes bis hin zur Lösungsfindung. Auch darüber, dass ich meine positive Haltung gegenüber der Mutter im gesamten Gespräch durchhalten möchte. Diese Sortierung hat mich gestärkt und sicherer gemacht.« Da die Mutter nur wenig Deutsch versteht, lädt Frau M. zum geplanten Gespräch neben der Lotsin, Frau B., noch eine Dolmetscherin, Frau A., ein, von der sie weiß, dass sie den fachlichen Voraussetzungen für Übersetzer:innen entspricht. Diese 3 In der Beschreibung zu »Altena früh am Ball« heißt es dazu: »In jeder Kindertageseinrichtung für Kinder und in dem Familienbüro stehen für alle Mütter, Väter und Kinder (jeden Alters) Mitarbeiterinnen/Lotsinnen als feste AnsprechpartnerInnen zur Verfügung. Sie beraten, helfen, Erziehungsunsicherheiten auszuräumen, und vermitteln bei Bedarf Kontakt zu Fachleuten in Altena und Umgebung. Eltern erhalten Informationen zu vielfältigen Angeboten oder werden bei der Beantwortung spezieller Fragen unterstützt. […] Die Lotsinnen sind darin geschult, Antworten auf Fragen von Eltern zu finden. So sind sie zum Beispiel bei der Suche nach einer Tagesmutter oder Beratungsstelle behilflich, kennen Sport- und Freizeitangebote und stehen bei behördlichen Fragen zur Seite. Die Lotsinnen stehen Eltern bei unterschiedlichen Fragen zur Entwicklung und Erziehung beratend zur Seite und suchen gemeinsam mit ihnen nach geeigneten Unterstützungsmöglichkeiten und Wegen. Auf Wunsch der Eltern stellen die Lotsinnen im Einzelfall den direkten Kontakt zu den entsprechenden Stellen her oder begleiten sie zu einem ersten Treffen« (Homepage der Stadt Altena; Zugriff am 04.08.2022 unter https:// www.altena.de/bildung-soziales/jugend-und-familien/altena.-frueh-am-ball).
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Wahl hat letztlich noch einen zusätzlichen positiven Effekt für das Gespräch mit der Mutter, da beide Frauen aus Afrika stammen und den Fachkräften gemeinsam ein Bild der Erziehungspraktiken aus ihren Ländern vermitteln. Mithilfe der Lotsin Frau B., die der Mutter einen ersten Überblick dazu gibt, welche Hilfsangebote vor Ort vorhanden sind, kann am Ende eine Lösung gefunden werden, die die Mutter gut annehmen kann. Sie entscheidet sich noch im Termin, dass sie gerne die Begleitung durch eine Marte-Meo-Beraterin kennenlernen möchte, und Frau B. verspricht, den Kontakt herzustellen. Der Prozess nimmt einen guten Start.
Rahmen/Setting
Was sind unsere Ziele für das Gespräch? Wofür ist es eventuell noch zu früh? Was müssen wir in Bezug auf die Wünsche des Kindes berücksichtigen? Worauf können wir Bezug nehmen, was bereits oder »trotz allem« gelungen ist? Wodurch sorgen wir für eine nötige/mögliche Transparenz? Wie ermöglichen wir es den Eltern, dass sie ihr Gesicht wahren können? Womit könnten wir die Eltern des Kindes/Jugendlichen verschrecken?
Für uns Fachkräfte
Wo ist ein guter Ort für das Gespräch? Zu wem haben die Beteiligten das größte Vertrauen/den besten Draht? Wer sollte in jedem Fall dabei sein? Wofür? Wann ist ein guter Zeitpunkt für das Gespräch? Wie viel Zeit planen wir ein? Wie steigen wir ein? Wie beschreiben wir den Anlass? Woran können die Beteiligten erkennen, dass wir unvoreingenommen und ergebnisoffen in das Gespräch gehen? Womit bzw. wodurch sichern wir die Beteiligten? Was bietet sich aus welchen Gründen an? Was sollten wir möglichst vermeiden?
Inhalte
Tabelle 1: Fragen zur Vorbereitung eines (Eltern-)Gesprächs in unklaren Versorgungs- bzw. Gefährdungssituationen
Wodurch sorgen wir für unseren eigenen »guten Boden unter den Füßen«? Woran können wir erkennen, dass es bei den Beteiligten eine Problemakzeptanz, Problemkongruenz, Veränderungs- und Kooperationsbereitschaft bzw. Hilfeakzeptanz gibt? Was müsste im Gespräch passieren, damit wir direkt in den Schutzmodus wechseln (müssen)? Wer steht uns dann zur Seite? Was müssen wir in diesem Sinne eventuell schon vor dem Gespräch vorbereiten?
© Ansgar Röhrbein
Rahmenbedingungen und Zuständigkeiten im kooperativen Netzwerk Wie im obigen Beispiel deutlich geworden sein dürfte, lebt die gelingende Kooperation im Netzwerk durch den Aufbau von bestimmten verlässlichen Strukturen und dem Willen aller Beteiligter, sich dem jeweiligen Sachverhalt
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und System mit einer großen Ernsthaftigkeit und Lösungssuche anzunehmen. Mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes im Jahr 2012 wurde der gesetzliche Hintergrund zum Thema Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung auf eine neue, verbindliche Grundlage gestellt, die in unserer Region ihren Ausdruck in neuen vertraglichen Abschlüssen zwischen den örtlichen Jugendämtern und den jeweiligen Einrichtungen gefunden hat. Zahlreiche Qualifizierungsmaßnahmen wurden initiiert und verschiedene Kampagnen zur Gewinnung von Fachkräften aus dem Bereich der Kitas gestartet. Im Folgenden wollen wir nun die Rahmenbedingungen für die regelhafte Zusammenarbeit zwischen den Kindertageseinrichtungen, den insoweit erfahrenen Fachkräften der Beratungsstellen und dem Jugendamt erläutern, damit Sie als Leser:innen eine erste Vorstellung zu unserem Netzwerk erhalten. Das Einzugsgebiet, über das wir schreiben, gilt als ländliche Region und umfasst den südlichen Märkischen Kreis mit ca. 250 000 Einwohnern, welcher in fünf Jugendamtsbezirke aufgeteilt ist: die Städte Altena, Lüdenscheid, Plettenberg und Werdohl sowie die Kommunen, die unter dem Dach des Jugendamts des Märkischen Kreises gebündelt sind. In diesem Einzugsgebiet haben sich die Fachkräfte in Bezug auf Anfragen nach § 8a Abs. 4 auf die folgenden institutionellen Zuständigkeiten für die Tageseinrichtungen für Kinder verständigt (Tabelle 2): Tabelle 2: Institutionellen Zuständigkeiten für Tageseinrichtungen für Kinder in der Beispielregion Zuständige Ansprechperson/Institutionnach § 8a Abs. 4 Altena
Trägerinterne Kräfte/EB Caritasverband/Kinderschutz-Zentrum (Ansgar Röhrbein)
Lüdenscheid
Trägerinterne Kräfte (Uwe Hindrichs)/Kinderschutz-Zentrum (Ansgar Röhrbein)
Märkischer Kreis
Beratungsteam im Kinderschutz Märkischer Kreis (Kim Heinzer)/ Trägerinterne Kräfte/Kinderschutz-Zentrum (Ansgar Röhrbein)
Plettenberg
Trägerinterne Kräfte/Sabrina Müller/Kinderschutz-Zentrum (Ansgar Röhrbein)
Werdohl
Trägerinterne Kräfte/Kinderschutz-Zentrum (Ansgar Röhrbein)
Wie anhand der Tabelle 2 deutlich wird, gibt es eine gestaffelte Struktur der Verantwortlichkeiten. Die erste Stufe der Erreichbarkeit wird in der Regel durch die trägerinternen Fachkräfte im Kinderschutz abgesichert, und bei weitergehenden Fragen stehen je nach Ort Fachkräfte der Beratungsstellen, der Jugendämter und des Kinderschutz-Zentrums als Ansprechpartner:innen zur Verfügung.
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Was trägt in der Zusammenarbeit? Die regelhafte Zusammenarbeit wird getragen von zahlreichen gemeinsamen fachlichen Begegnungs- und Fortbildungsräumen, die dazu geführt haben, dass die Verantwortlichen der unterschiedlichen Institutionen mit der Zeit ein gemeinsames Verständnis des Zusammenwirkens und eine gemeinsame Sprache entwickelt haben. Wesentlicher Bestandteil dieser Entwicklung ist die jährliche gemeinsame Fachtagung der Initiative »Kindeswohl heute«, welche die unterschiedlichen Disziplinen zusammenführt. Diese seit 1999 bestehende Initiative, in der sich ursprünglich sechs Fachkräfte aus Beratungsstellen, Schulverwaltung, Jugendhilfe und Weiterbildung zusammengetan haben, fördert den fachlichen Diskurs zum Thema »Kindeswohl« in der Region und ermöglicht eine kritische Reflexion von Themen sowie den persönlichen Austausch zwischen den Fachkräften der unterschiedlichen Professionen. Dies ist in den letzten Jahren sehr wohl gelungen, denn die organisierten »reflexiven Räume« zu Themen wie »Hauptsache Schublade!? – von der (Aus-)Sortierung zur Verantwortungsgemeinschaft«, »Verflixte Kommunikation – von der (Un-)Möglichkeit, sich friedlich zu begegnen« oder »(M)ein verrücktes Leben – wie Familien in psychischen Belastungssituationen gestärkt werden können« haben mit der Zeit den wachsamen Blick, das »kritische Verständnis« und die gemeinsame systemische Grundhaltung in der Region gestärkt und zu einem effektiven vernetzten Miteinander geführt, das auch über die Studientage hinaus weiterwirkt und die gemeinsame Arbeit im Sinne der Kinder und Eltern deutlich erleichtert. Darüber hinaus gingen zahlreiche weitere Fortbildungsveranstaltungen, Vernetzungen und Aktionen aus diesen Studientagen hervor, die halfen, weitere Aspekte der Zusammenarbeit zu vertiefen. So auch in dem folgenden Prozess, der zu einer größeren Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit der in Tabelle 2 aufgeführten Institutionen geführt hat und Fachkräften in anderen Kreisen und Kommunen als gelungenes Beispiel zur Nachahmung dienen kann. Professionalisierung der Zusammenarbeit des Netzwerks »Kinderschutz in Kitas« Wie bereits erwähnt, finden die Veranstaltungen der Initiative »Kindeswohl heute« zu aktuellen pädagogischen Themen einmal im Jahr statt. Die Fachtage sind geprägt von einem großen pädagogischen fachlichen Input und bieten zugleich eine gute Möglichkeit dafür, dass sich die Fachkräfte der einzelnen Disziplinen untereinander begegnen und austauschen: eine Art buntes »Who is Who« der pädagogisch Tätigen im südlichen Märkischen Kreis. So kam es im Jahr 2017 während einer Kaffeepause zu einem persönlichen Austausch zweier langjähriger Kol-
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leg:innen, die sich über ihre kürzlich abgeschlossene Weiterbildung zur Kinderschutzfachkraft4 unterhielten. Während dieses Gesprächs drehte sich die Frage unter anderem um die Kenntnis weiterer Kinderschutzfachkräfte im Kitabereich. Keine:r der beiden hatte Kenntnis über weitere Mitarbeiter:innen der Kindertageseinrichtungen mit dem entsprechenden Ausbildungshintergrund und so entstand während der nächsten Pause mit weiteren Kolleg:innen die Idee, sich einen Kenntnisstand zu den Fachkräften in den unterschiedlichen Kitas zu verschaffen. Die Idee zu einem regelmäßigen Austausch zu Kinderschutzfällen und einer wechselseitigen Möglichkeit für interne Fachberatungen stand plötzlich im Raum. Weiterhin stellten die beiden fest, dass neben den bestehenden Fachtagen »Kindeswohl heute« ein zusätzlicher regelmäßiger Fachinput zur Kinderschutzthematik für die Mitarbeitenden der Kindertageseinrichtungen wünschenswert wäre. Wie kann es gelingen, im besten Fall eine trägerübergreifende Beratungsstruktur zu entwickeln? Von der Idee zur Umsetzung Aufgrund der kurzen Wege und der gewachsenen Infrastruktur in der Region war es schnell möglich, zu Beginn des Jahres 2018 eine erste Gruppe zu bilden mit dem Ziel, eine Arbeitsgrundlage für ein Netzwerk der Kinderschutzfachkräfte in Tageseinrichtungen für Kinder im südlichen Märkischen Kreis zu schaffen. Beteiligt waren das Märkische Kinderschutz-Zentrum, der Zweckverband der katholischen Kitas, der Kinderschutzbund Lüdenscheid, das Jugendamt der Stadt Lüdenscheid und das Jugendamt des Märkischen Kreises. Im September 2018 fand auf Einladung dieser Planungsgruppe eine erste große Sitzung zum Thema Kinderschutz in Kitas mit den Trägervertreter:innen der Einrichtungen im Kreishaus in Lüdenscheid statt. Die große Teilnehmerzahl zeigte schnell die Notwendigkeit, neben der Gesamtgruppe auch kleinere Arbeitsstrukturen anzubieten, um einen intensiven kollegialen Austausch zu ermöglichen. Im weiteren Verlauf des Prozesses wurden somit drei Regionalgruppen geschaffen mit dem Ziel, mindestens zwei Mal im Jahr eine Kleingruppenveranstaltung zu kollegialer Fallreflexion und wechselseitigem Austausch zu ermöglichen. Weiterhin wurde die Organisation einer halbtägigen jährlichen Fachtagung als verbindende Veranstaltung für alle Regionalgruppen zusammen vereinbart. In diesem Stadium traten auch die weiteren Jugendämter Altena, Plettenberg und Werdohl als wichtige Unterstützer der Planungsgruppe und dem Netzwerk bei. 4 In einigen Regionen von Nordrhein-Westfalen wird dieser Begriff als Synonym für die insoweit erfahrene Fachkraft verwendet.
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Im Mai 2019 gab es mit über hundert Teilnehmer:innen eine erste Fachveranstaltung zum Thema »gelingende Kooperation im Kinderschutz« mit Thomas Mörsberger, in der die drei Regionalgruppen ihre Arbeit aufnahmen und erste Absprachen trafen. Weitere Veranstaltungen folgten, mussten jedoch coronabedingt in den digitalen Raum verschoben werden. Das Thema Kinderschutz in Pandemiezeiten stellte und stellt für alle Fachkräfte eine große Herausforderung dar – organisatorisch wie auch inhaltlich. Um den fachlichen Diskurs am Leben zu halten, wurde ein Expert:innen-Gespräch zum Thema »emotionale Gewalt« 2020 mit Praxishintergründen und Beispielen aufgezeichnet und den Kolleg:innen der Regionalgruppen sowie weiteren Interessierten via Youtube zugänglich gemacht. Auch im Jahr 2021 fanden die Treffen der Regionalgruppen online statt, und eine weitere Fachveranstaltung zum Thema »emotionale Vernachlässigung und Misshandlung« wurde mit Jessika Kuehn-Velten im August als Videokonferenz mit 75 Teilnehmenden durchgeführt. Die Mischung machts Das Netzwerk »Kinderschutz in Kitas« hat sich auch über Corona hinaus als überaus belastbar und beständig gezeigt. Die Hauptverantwortlichen in der Planungsgruppe und die Mitwirkenden in den drei Regionalgruppen sind stolz auf die kurzen Wege und die Möglichkeit für den schnellen Austausch, wenn Bedarf besteht. Alle Beteiligten haben untereinander Kenntnis über die jeweils anderen ausgebildeten Fachkräfte. Weitere Kolleg:innen konnten gewonnen werden, die Ausbildung zur Kinderschutzfachkraft und insoweit erfahrenen Fachkraft im Kinderschutz zu absolvieren. Was bleibt, ist ein optimistischer Blick in die Zukunft! Durch die unterschiedlichen Wege, die für die Fachkräfte aus Tageseinrichtungen für Kinder in unserer Region existieren, eine Fachberatung nach § 8a in Anspruch zu nehmen, fühlen wir uns ganz gut aufgestellt. Zum einen können die Mitarbeiter:innen auf die entsprechenden Fachkräfte ihres Trägers zugehen, oder sie entscheiden sich für eine externe Fachberatung bei der jeweiligen Kinderschutzfachkraft einer Beratungsstelle, beim Jugendamt oder dem Märkischen Kinderschutz-Zentrum. Alle Zugänge sind niedrigschwellig aufgestellt und durch die zahlreichen gemeinsamen Arbeitskreistreffen und Veranstaltungen gut bekannt. Hier greift die von Jochen Schweitzer formulierte Empfehlung (s. Interview in diesem Band, Kapitel 3.2), sich frühzeitig in »ruhigen« Zeiten zusammenzuschließen, damit im Bedarfsfall schnell und vertrauensvoll gehandelt werden kann. In unserem Beispiel entstand die Initiative aus den Einrichtungen selbst heraus, indem sich zwei Fachkräfte auf den Weg gemacht und Gleichgesinnte gesucht und gefunden haben, die von dem Mehrwert dieses Zusammenschlusses überzeugt waren und
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sind. Was es dann brauchte, war die geeignete Struktur und die Bereitschaft, den Dialog inhaltlich am Leben zu halten und im Bedarfsfall zur Seite zu stehen. Exemplarisch sei in Abbildung 1 der Informationstext des Jugendamts Plettenberg benannt, der veranschaulicht, welche Optionen für die Erzieherinnen und Erzieher einer Kita bestehen.
Das Angebot der InsoFa als Teil des Jugendamts Der erste Schritt ist geschafft: Sie haben gewichtige Anhaltspunkte wahrgenommen und damit bewusst »hingesehen«. Sie werden fortan einen wichtigen Schutzfaktor für das betroffene Kind darstellen. Mit dieser großen Verantwortung sind Sie nicht allein, da der Anspruch einer Fachberatung gem. § 8a SGB VIII besteht und Sie sich mit einer »insoweit erfahrenen Fachkraft« beraten können. Hierbei stellt Ihr örtlich zuständiges Jugendamt die Fachberatung sicher. Verschiedene Kommunen verfügen über unterschiedliche Strukturen im Bereich der Fachberatung. Je kleiner die Kommune, desto individueller sind häufig die Ansiedlungen der insoweit erfahrenen Fachkraft. So ist die »InsoFa« in der Stadt Plettenberg im Jugendamt angesiedelt und wird zur Gefährdungseinschätzung entsprechend hinzugezogen. Zusätzlich ergänzt das Märkische Kinderschutz-Zentrum in Lüdenscheid diese Beratungstätigkeit und fungiert als doppelter Boden. Sie können damit zwischen einer Fachberatung innerhalb des örtlich zuständigen Jugendamts oder einer Fachberatung außerhalb der eigenen Kommune wählen. Die Vorund Nachteile sind dabei von Ihnen abzuwägen. Häufig wird es als Vorteil angesehen, die Fachberatung bereits persönlich zu kennen und hier »kurze Wege« innerhalb der Kooperation zu erfahren. Dem gegenüber steht, dass die Fachberatung des Jugendamts meist weitere Aufgaben und Schnittstellen in der Zusammenarbeit mit Ihnen innehaben kann. Diese Überschneidungen können einen offenen Beratungsprozess hemmen. Eine gelingende Kooperation setzt voraus, dass zwischen beiden Parteien eine gute Vertrauensbasis besteht. So müssen Sie sich ernst genommen und gut aufgehoben fühlen. Die Fachberatung wird Ihnen stets unparteiisch und neutral gegenüberstehen. Nutzen Sie die Beratung als Chance, die Risiko- und Schutzfaktoren abzuwägen, um weiter an Handlungssicherheit gewinnen zu können. Abbildung 1: Informationstext des Jugendamts Plettenberg zur InsoFa
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Möglichkeiten des Scheiterns Kommen wir zum Ende des Kapitels noch zu den Faktoren eines gelingenden Scheiterns sowohl im Umgang mit den Eltern als auch innerhalb der Institution. Welche Zutaten führen zum Scheitern im Umgang mit den Eltern?
Ȥ Den Eltern von »oben herab« begegnen, ihnen ihr Wissen zum eigenen Kind absprechen und sie bevormunden. Eltern sind Experten für ihr Kind, losgelöst vom Kontext der Gefährdungsabschätzung. In der Regel handeln sie nach den eigenen Werten und Normen und oftmals auch geleitet durch tradierte Erziehungsmaximen. So ist es unbedingt notwendig, sie nach Möglichkeit zeitnah offen in eine Gefährdungseinschätzung miteinzubeziehen und zunächst davon auszugehen, dass es einen »guten Grund« für den Vorfall/die Situation/das Agieren der Eltern gibt. Der Grad ist schmal, und je nach Schwere der Themen scheitern wir am effektivsten, wenn wir die Kindeseltern überfordern und abschrecken. Sobald Eltern das Gefühl bekommen, sich verteidigen zu müssen, sind sie nicht mehr empfänglich für wertvolle Empfehlungen. Ein vorrangiges Ziel sollte deshalb stets Zusammenarbeit auf Augenhöhe sein. Ȥ Nach der Schuld suchen. Es ist zumeist nicht von Vorteil, mit den Eltern auszuhandeln, wer sich »schuldig« gemacht hat. Effektiver ist es, zunächst um Akzeptanz für die schwierige Situation des Kindes bzw. die festgestellte Gefährdung zu werben und einen gemeinsamen Blick auf die Gefährdungssituation zu erhalten, um sich dann im nächsten Schritt über Maßnahmen der Veränderung verständigen zu können. Nichts ist schwieriger umzusetzen als das, was nicht verstanden bzw. mitgetragen wird. Ȥ Für schlechte Rahmenbedingungen sorgen – sodass es zu permanenten Störungen und Unterbrechungen kommt, die eine Lösungssuche erschweren. Neben den gängigen Rahmungen, wie z. B. Störungsfreiheit (kein Telefon, nach Möglichkeit ohne Kinder, gute Sitzpositionen etc.), ist es oftmals hilfreich, zu Beginn zu erläutern, was zu erwarten ist (Transparenz), und abzuklären, was Eltern möglicherweise benötigen (z. B. Dolmetscher:in, Unterstützung durch eine vertraute Person u. v. m.), um sich gut auf das Gespräch einlassen zu können. Ȥ Fehlende Selbstreflexion und Empathie für die Situation der Familie. Im Kontext von schwierigen Elterngesprächen ist es wichtig, um die eigenen Triggerpunkte (welches Verhalten, welche Aussagen etc. triggern mich? Was
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ist mir direkt unsympathisch?) zu wissen und sich durch diese nicht leiten zu lassen. Auch ist es wichtig, sich über die eigenen Gefühle bezogen auf die Eltern und das Kind bewusst zu werden. Oftmals stehen wir genau dazwischen. »Die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und gleichzeitig die eigene Situation im Blick zu haben« (Schone u. Tenhaken, 2015, S. 160), ist Grundvoraussetzung des Gelingens. Das Gegenteil führt meist zum Scheitern. Wie scheitert man am effektivsten in der Institution?
Ȥ Indem man sein Bauchgefühl ausblendet. … denn das Bauchgefühl ist ein kluger Kopf. Grundsätzlich möchten Eltern das Beste für ihre Kinder und handeln nach bestem Wissen und Gewissen. Mit dieser Grundannahme begegnen wir als Fachkräfte den Familien und erleben ihre Kinder. Die Herausforderung insbesondere bei der Gefährdungsform »emotionale Misshandlung« ist unter anderem, dass es sich um nicht sichtbare Verletzungen handelt. Insofern sind wir auf die verbalen und nonverbalen Äußerungen der Kinder angewiesen. Sie zeigen uns meistens sehr deutlich, wie es ihnen geht, auch wenn sie es selbst noch nicht benennen können. Unsere innere Alarmglocke schlägt und wir werden aufmerksam. Dies geschieht im Zusammenhang mit verändertem Verhalten des Kindes oder auch, wenn wir die Interaktion zwischen dem Kind und seinen Eltern beobachten. Manchmal sind es nur kurze Momente, die zum Nachdenken anhalten. An dieser Stelle ist es wichtig, unser Bauchgefühl besprechbar zu machen und diesem im Rahmen von kollegialem Austausch und/oder einer Fachberatung einen Raum zu geben. Es sind oft genau die Fälle, die einen tragischen Verlauf nehmen, bei denen wir diese Intuition hatten, ihr aber nicht nachgegangen sind oder sie nicht ernst genommen haben. Ȥ Keine Unterstützung holen. Kritische Elterngespräche zu führen ist eine Kür der Gesprächsführung und erzeugt auf beiden Seiten zunächst viel Druck. Wir wollen für die Kinder das Beste regeln und die Eltern dabei nicht verlieren. So ist es ratsam, ein Gespräch mit Eltern, das schwierige Themen wie die Vermutung auf eine Kindeswohlgefährdung zur Sprache bringt, gut vorzubereiten und sich dazu auch beraten zu lassen. Mit einer guten Vorbereitung und einem flexiblen Fahrplan lässt es sich viel selbstsicherer in diese Form von Gespräch starten. Ȥ Das Kind aus den Augen verlieren. Der Fall wurde eingehend beraten, das ungute Gefühl blieb bestehen. Es wurden Gespräche mit den Eltern geführt. Die Aussagen der Eltern lassen sich nicht überprüfen und so wird darauf vertraut, dass die Eltern schon das Beste für ihr Kind möchten und dieses in keinem Fall emotional ver-
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nachlässigen. Statt einer weitergehenden Überprüfung wird an der eigenen Wahrnehmung gezweifelt und die Signale des Kindes werden ausgeblendet. Ȥ Die Verantwortung allein tragen. Oftmals lässt sich emotionale Misshandlung nicht konkret »ermitteln«, sondern es handelt sich um einen Eindruck einer Situation, den wir gewinnen. Wir haben zu dem Kind meist ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, und genauso vertrauen wir erst mal darauf, dass Eltern ihre Kinder gut emotional versorgen. Wir bringen viel Verständnis für die »guten Gründe« des elterlichen Verhaltens auf und merken gar nicht, dass wir mit der Familie eine Schleife nach der anderen drehen und dabei das Kind komplett aus den Augen verlieren. Vielleicht ist es unsere Grundannahme, dass Eltern immer das Beste für ihre Kinder wollen, welche das System weiter stützt. Dabei bemerken wir nicht, welche Verantwortung wir allein schultern, mit dem Wissen, dass es dem Kind zu Hause nicht gut geht. So ist es wichtig, auf die Verantwortungsgemeinschaft zurückzugreifen und sich im Kontext einer Fachberatung beraten zu lassen. Ebenso ist es essenziell, zu erkennen, wann die eigenen Unterstützungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und wann der Zeitpunkt erreicht ist, das Jugendamt im Rahmen einer § 8a-SGB-VIIIMeldung zu kontaktieren. Das ist spätestens erreicht, wenn der Schutz des Kindes durch vereinbarte Maßnahmen mit den Eltern nicht sichergestellt ist, wenn wir davon ausgehen müssen, dass die Kinder gefährdet sind und/oder bereits einen Schaden davongetragen haben, weil Eltern (auch mit Unterstützung) keine Veränderung der Situation herbeiführen. Vertrauensbasierter Kinderschutz in gemeinsamer Verantwortung Wenn Eltern ihre Kinder den Mitarbeitenden einer Tageseinrichtung für Kinder anvertrauen, dann haben sie sich im Vorfeld häufig ein eigenes Bild von der Einrichtung und dem Team gemacht, denn sie möchten gerne das Gefühl haben, dass ihr Kind in der Einrichtung »gut aufgehoben« ist. Mit den wechselseitigen Unterschriften kommt es dann zu einer gemeinsamen Erziehungspartnerschaft, die einen fortlaufenden Austausch der Bezugspersonen und eine Begegnung auf Augenhöhe benötigt. Dieser Dialog hat im wahrsten Sinne des Wortes einen präventiven Charakter. Wenn man sich kennenlernt und mehr und mehr einander vertraut, dann ist es in der Regel auch leichter möglich, über anspruchsvollere Themen ins Gespräch zu kommen. Innerhalb der Entwicklungsförderung eines Kindes können wir in der Kita eine wertvolle Stütze sein, indem wir die Eltern stets beteiligen und mit ins Boot holen. Um sie zu erreichen, ist eine wertschätzende Haltung elementar. Diese schafft Vertrauen, und wir können
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durch eine transparente und nachvollziehbare Arbeitsweise die Eltern stärken und im Bedarfsfall auch das Kindeswohl effektiv schützen. Die Kita ist für viele Kinder einer der sicheren Orte, an dem sie Vertrauenspersonen finden, die einen sehr genauen Blick auf sie haben. Umso wichtiger ist es, auf die Zwischentöne und Signale der Kinder zu achten und sie in ihrem Verhalten ernst zu nehmen, zu beteiligen und (falls notwendig) zu schützen. Dies geschieht am besten, wenn auf tragfähige Strukturen eines kooperativen Kinderschutzes zurückgegriffen werden kann und die Expertise von unterschiedlichen Akteuren genutzt wird. So kann es gelingen, dass Kinder nicht aus dem Blick geraten, passgenaue Hilfen angeboten werden und rechtzeitig interveniert wird. Literatur Biesel, K., Urban-Stahl, U. (2018). Lehrbuch Kinderschutz. Weinheim: Beltz Juventa. DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (Hrsg.) (2020). Systemischer Kinderschutz: Kontexte, Wechselwirkungen und Empfehlungen (2. Aufl.). Köln. Flury Soro, A. (2014). Wenn Eltern Gewalt ausüben – Ein systemisches Modell zum Verständnis innerfamiliärer Gewalt. Familiendynamik, 3, 2018–2023. Schader, H. (Hrsg.) (2013). Risikoabschätzung bei Kindeswohlgefährdung (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Schone, R., Tenhaken, W. (Hrsg.) (2015). Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Weinheim: Beltz.
5.3 »Und das jetzt auch noch …?« – Zutaten für einen gelingenden Kinder- und Jugendschutz in der Zusammenarbeit zwischen Schule, Fachberatung und Jugendamt Nathalie Kompernaß, Tanja Tschöke, Stefan Schröder, Ansgar Röhrbein
Wir schreiben dieses Kapitel bewusst als Kleeblatt, um die unterschiedlichen Institutionen bereits in der Autor:innenschaft abzubilden. Nathalie Kompernaß ist als Fachdienstleitung für den Allgemeinen Sozialen Dienst der Stadt Lüdenscheid zuständig, Tanja Tschöke arbeitet als Schulamtsdirektorin im Schulamt für den Märkischen Kreis, Stefan Schröder arbeitet als Schulsozialarbeiter an einer Förderschule in Olpe und Ansgar Röhrbein leitet das Märkische Kinderschutz-Zentrum am Klinikum in Lüdenscheid. Alle vier verbindet der Gedanke, dass eine Kooperation dann gelingen kann, wenn alle Beteiligten einen Gewinn für sich daraus ableiten können und gleichzeitig bereit sind, sich mit ihrer jewei-
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ligen Expertise in das Gemeinschaftliche einzubringen. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass Wege oftmals dadurch entstehen, dass sie gegangen werden und Einzelne damit anfangen, sodass mit der Zeit aus einem »Trampelpfad« eine befestigte Straße werden kann. Dafür braucht es eine Menge Geduld und ein gutes Durchhaltevermögen der Protagonist:innen, denn die regelhafte Wechselstruktur in den beteiligten Einrichtungen, benötigt eine permanente Bereitschaft, das Thema »wachzuhalten« und von sich aus auf die Menschen zuzugehen. Von der Idee zur Umsetzung: Verbindliche Strukturen und Verfahrensschritte Als im Jahr 2012 durch das Bundeskinderschutzgesetz (und das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz – KKG – als Teil desselben) verbindlichere Vorgaben für das Zusammenwirken der unterschiedlichen Institutionen und Fachkräfte auf den Weg gebracht wurden, war den Verantwortlichen beim Jugendamt der Stadt Lüdenscheid schnell klar, dass die sogenannte 8b-Beratung für die Berufsgeheimnisträger:innen bei einem freien Träger außerhalb der eigenen Institution angesiedelt werden sollte, weil aus ihrer Sicht dadurch eine größere Unabhängigkeit und Anonymität für die Familien gewährleistet sein würde. Eine Einschätzung, die dem Gedanken des Gesetzgebers Rechnung trägt, dass den Schulen eine unabhängige Fachberatung als Serviceleistung zur Verfügung gestellt wird, damit sie zunächst eine schulinterne qualifizierte Gefährdungseinschätzung (mit Unterstützung) vornehmen können1 und im Dialog mit den beteiligten Familienmitgliedern gemeinsam nach geeigneten Wegen suchen mögen, wie die Situation verbessert oder beigelegt werden kann. Im § 4 Abs. 1 des Gesetzes zur Kommunikation und Information im Kinderschutz (KKG) heißt es: »Werden […] 6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder 7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines oder einer Jugendlichen2 bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Erziehungsberechtigten 1
Siehe hierzu auch den gemeinsam entwickelten Reflexionsbogen für Lehrer:innen zur Einschätzung einer unklaren Situation bei schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen im Onlinematerial. 2 Vgl. hierzu auch die »Übersicht zu gewichtigen Anhaltspunkten für eine mögliche Kindeswohl gefährdung« im Onlinematerial.
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auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird«. Und weiter in Absatz 2: »Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren«. Da das Märkische Kinderschutz-Zentrum3 (KiZ) am Klinikum Lüdenscheid zum damaligen Zeitpunkt bereits auf eine zwanzigjährige Geschichte der institutionellen Fachberatung für alle Einrichtungen, die mit Kindern zu tun haben, zurückblicken konnte, fiel die Wahl sehr schnell auf diese Einrichtung, und die Verantwortlichen des Jugendamts und der Märkischen Kliniken schlossen für das Stadtgebiet Lüdenscheid im Jahr 2013 einen Zusatzvertrag über diese zu erbringenden Leistungen. In § 1 Abs. 1 dieses Vertrags heißt es dazu: »Das Kinderschutzzentrum übernimmt im Rahmen dieser Vereinbarung für die Stadt die Aufgabe der Beratung gemäß § 8b SGB VIII durch eine insoweit erfahrene Fachkraft für die in § 4 Abs. 1 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) genannten Berufsgruppen, die oder deren Institution ihren Sitz in Lüdenscheid haben«. Gleichzeitig wurde das gemeinsame Vorgehen in Kinderschutzfällen zwischen dem Jugendamt der Stadt Lüdenscheid und den Schulen im Einzugsgebiet ebenfalls in neuen »Kooperationsvereinbarungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen« verbindlich geregelt (vgl. Abbildung 1). Somit wurde allen Fachkräften der Lüdenscheider Schulen die Möglichkeit einer externen Fachberatung sichergestellt, die auch für diejenigen Schulen im Einzugsgebiet offensteht, die ein Kind bei sich aufgenommen haben, welches in Lüdenscheid seinen Wohnsitz hat. Dies gilt insbesondere für unterschiedliche Förderschwerpunkte, die nicht immer direkt vor Ort abgedeckt werden können (insbesondere im ländlichen Raum), und Kinder mit bestimmten Förderungen daher in Schulen außerhalb der eigenen Stadt Aufnahme finden. 3 Ursprünglich wurde das Märkische Kinderschutz-Zentrum am 01.07.1992 als Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch gegründet und 2006 in Märkisches Kinderschutz-Zentrum umbenannt.
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Eine Definition der einzelnen Handlungsschritte ist hilfreich Wie in dem Verfahrensablauf in Abbildung 1 gut zu erkennen ist, wurden die einzelnen Handlungsschritte durch die Erstellung einer Arbeitshilfe mit entsprechenden Vorlagen und Anlagen hinterlegt, sodass das Vorgehen der Fachkräfte in einer aufeinander abgestimmten Weise umgesetzt werden konnte. In einer großen Einführungsveranstaltung mit allen Schulvertreter:innen, dem Jugendamt und dem Kinderschutz-Zentrum im Herbst des Jahres 2013 wurde das Vorgehen erläutert, miteinander abgestimmt und schließlich als gemeinsame Handlungsgrundlage verabschiedet. Verfahrensablauf zur Vereinbarung zwischen Schule und Jugendamt Indikatoren Anlage Nr. 1
1. Kind fällt auf systematische Beobachtung
2. Gewichtige Anhaltspunkte?
Akute Gefährdung
Dokumentenanlage Nr. 5
3. Einrichtungsinterner Austausch Kollegiale Beratung mit Leitung
formlose Dokumentation
4. Dialog mit Kindern und PSB Hinwirken auf Inanspruchnahme von Hilfen
5b) ggf. Information über Hilfen
Nein
5. Einrichtungsinterne Einschätzung gewichtige Anhaltspunkte?
Dokumentenanlage Nr. 2
5c) Akute Gefährdung
Dokumentenanlage Nr. 5
5c) Gefährdung Dokumentenanlage Nr. 3a (KiZ) und Nr. 5 Kontaktdaten
6A. Fachberatung mit »insoweit erf. Fachkraft« KiZ 6B. Dialog mit Kindern und PSB Hinwirken auf Inanspruchnahme von erforderlichen Hilfen Ggf. verbindliche Gestaltung der Absprachen (Schutzplan) 6C. Ggf. weitere systematische Beobachtung
7a) Positive Entwicklung ggf. mit sonst. Hilfe Nein 7b) Hilfe wird angenommen und reicht aus
7. Gemeinsame Risiko einschätzung mit KiZ Gefährdung? Ja – 7c) 8. Mitteilung an das Jugendamt und Information der PSB über Mitteilung durch Schule
formlose Dokumentation
7d) Akute Gefährdung
Dokumentenanlage Nr. 2
Unmittelbare Info an Jugendamt wg. akuter Gefährdung
Dokumentenanlage Nr. 3b (JA)
9. KWG-Verfahren Jugendamt
Abbildung 1: Verfahrensablauf in Kinderschutzfällen zwischen Jugendamt und Schulen4 4
PSB = Personensorberechtigte, KWG = Kindeswohlgefährdung, KiZ = Märkisches Kinderschutz-Zentrum
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Drei Jahre später saßen wir drei, Nathalie Kompernaß, Tanja Tschöke und Ansgar Röhrbein, erneut zusammen und waren dabei, die bisherigen Erfahrungen mit dieser Vorgehensweise aus der jeweiligen Perspektive auszuwerten. Zum damaligen Zeitpunkt lag in den zurückliegenden Jahren (2012–2016) die Zahl der Anfragen für eine Fachberatung aus den Schulen und dem offenen Ganztag immer zwischen 12 und 26 pro Jahr.5 Dies erschien uns in Bezug auf die Anzahl der ortsansässigen Schulen und zu betreuenden Kinder noch ausbaufähig und so luden wir die beteiligten Schulen für den 20.09.2016 zu einer gemeinsamen Auswertung der bisherigen Zusammenarbeit ein. In der darauffolgenden Pressemitteilung (s. Abbildung 2) kam der Verlauf der gemeinsamen Veranstaltung gut zur Geltung.
Dialog zwischen Schulleitungen und dem Jugendamt der Stadt Lüdenscheid »In der vergangenen Woche trafen sich die Schulleitungen der Lüdenscheider Schulen, die Schulaufsicht des Märkischen Kreises, das Märkische Kinderschutz-Zentrum und Vertreter des Jugendamtes, um die seit 2013 bestehende Kooperationsvereinbarung für den gemeinsamen Kinderschutz auszuwerten. Nachdem die standardisierten Abläufe im Kinderschutz sowie die einzelnen Arbeitsschritte des Jugendamtes in Kinderschutzfällen vorgestellt wurden, berichtete Tanja Tschöke (Schulaufsicht für den Märkischen Kreis) über die Ergebnisse einer Befragung an den Lüdenscheider Schulen zum Umsetzungsstand der Vereinbarung. Im Anschluss folgte eine lebhafte Diskussion zur gemeinschaftlichen Aufgabe des Kinderschutzes, die in Vereinbarungen für die Zukunft mündete. So ist ein nächster Dialog in zwei Jahren geplant, weiterhin soll ein Arbeitskreis zum Thema Kinderschutz an Schulen gegründet werden. Zum Abschluss bestand für die Schulleitungen noch die Möglichkeit, Kooperationsgespräche mit Mitarbeitern des Allgemeinen Sozialen Dienstes zu führen, die auch zukünftig fortgeführt werden sollen.« Abbildung 2: Pressemitteilung zur gemeinsamen Auswertung der Kooperationsvereinbarung zum gemeinsamen Kinderschutz
5 Geschäftsbericht 2016 des Märkischen Kinderschutz-Zentrums.
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Nathalie Kompernaß, Tanja Tschöke, Stefan Schröder, Ansgar Röhrbein
Es braucht mehr als ein Angebot im Bedarfsfall – Regelmäßigkeit schafft Vertrauen Insgesamt gingen wir sehr zufrieden aus dieser Veranstaltung heraus, auch wenn, wie bereits in früheren Vorgesprächen, erneut deutlich wurde, mit welcher hohen Erwartungshaltung im Sinne einer schnellen Dienstleistung sich insbesondere das Jugendamt konfrontiert sah. Dennoch schien es uns ein guter Schritt gewesen zu sein und wir machten uns an die weitere Arbeit zur Steigerung der Kooperation zwischen den Beteiligten. Der in der Pressemitteilung erwähnte Arbeitskreis wurde unter dem Titel »Forum Jugendhilfe und Schule« auf den Weg gebracht und mündete schließlich in rund zwei Treffen pro Jahr, in denen die beteiligten Fachkräfte aus Schule, Schulsozialarbeit, Schulaufsicht, Jugendamt und Märkischem Kinderschutz-Zentrum Gelegenheit fanden, die jeweiligen Arbeitsfelder und Vorgehensweisen kennenzulernen, Fallverläufe miteinander auszuwerten (und daraus zu lernen) und sich auch auf der professionellen Ebene näherzukommen. Geschuldet war dies dem Gedanken, dass es sich leichter kooperieren lässt, wenn die Beteiligten mehr übereinander wissen und mehr Verständnis für und Vertrauen in die jeweiligen Handlungsweisen des anderen haben. Flankiert wurde das Ganze durch fortlaufende Fortbildungsmaßnahmen für die Beratungslehrer:innen und Krisenteams der Schulen, die in Zusammenarbeit mit der Schulpsychologie des Kreises ebenfalls auf den Weg gebracht wurden, sowie durch weitere Tagesveranstaltungen zum Thema Kindeswohlgefährdung in einzelnen Schulen und gemeinsame Fachveranstaltungen, die im Schulterschluss mit weiteren Trägern vor Ort bereits längere Tradition haben (vgl. Kapitel 5.2: »Einer allein kann kein Dach tragen«). Bis heute ist es gelungen, das Thema Kinder- und Jugendschutz stärker in den Fokus der einzelnen Schulen zu bringen6 und das gemeinsame Zusammenwirken auf ein gutes Fundament zu stellen von gemeinsamer Haltung, ähnlicher Sprache und einem respektvollen Umgang mit den uns anvertrauten Menschen wie auch der jeweils handelnden Fachkräften im Miteinander, was sich letztlich auch in den aktuellen Zahlen der Fachberatungsprozesse widerspiegelt, die inzwischen von 32 Anfragen im Jahr 2017 auf 52 im Jahr 2020 angestiegen sind.7 Wie das gemeinsame Zusammenspiel zwischen Schule, KinderschutzZentrum und Jugendamt konkret aussehen kann, soll nun das folgende Fallbeispiel (aus Sicht des Schulsozialarbeiters Stefan Schröder) verdeutlichen. 6 Siehe hierzu auch den gemeinsam entwickelten Reflexionsbogen für Lehrer:innen zur Einschätzung einer unklaren Situation bei schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen im Online material. 7 Geschäftsbericht 2020 des Märkischen Kinderschutz-Zentrums.
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»Meilensteine« Über eine damals 17-jährige Schülerin einer Förderschule, eine Neuntklässlerin mit osteuropäischem Migrationshintergrund, äußerte die Klassenleitung mir gegenüber als Schulsozialarbeiter ihre Sorge aufgrund massiver Fehlzeiten und chronischem Schulabsentismus sowie einiger möglicherweise als suizidal zu bewertender Äußerungen. Die allein sorgeberechtigte und erziehende Mutter war durchgängig schwer erreichbar, weil sie eigenen Angaben zufolge ganztags arbeitete. Bekam die Klassenleitung sie doch mal zu sprechen, wirkte sie hilf- und ratlos und beteuerte, das Mädchen wieder zur Schule zu schicken. Die Schule beschloss, den Druck auf die Familie zu erhöhen, und sprach schließlich von einer Schulversäumnisanzeige und in diesem Zuge auch der Information des Jugendamts. Gleichzeitig stieg die Sorge um das Wohl des Mädchens, und so wandte ich mich im Auftrag der Schulleitung mit den folgenden Worten an das Märkische Kinderschutz-Zentrum: Sehr geehrter Herr Röhrbein, ich melde mich bei Ihnen aufgrund der Nichterreichbarkeit einer unserer Schülerinnen. Das Mädchen ist 17 Jahre alt, hat einen osteuropäischen Hintergrund und sowohl die Klassenleitung als auch ich erreichen es und seine Familie seit zwei Wochen nicht. Weder Appelle in Briefform noch die Ankündigung weitere Ordnungsmaßnahmen zeigten Wirkung. Beim letzten Gespräch mit der KM Mitte Januar beteuerte diese, alles zu tun, um das Mädchen gut zu begleiten und zu motivieren (jedoch schien sie schon Ende 2019 bei einem gemeinsamen Gespräch mit ihr und der Klassenleitung ziemlich kraftlos), sie geht aber voll arbeiten und hat offenbar nicht immer den Einblick in die Tagesgestaltung ihrer Tochter. Der leibliche Vater spielt keine Rolle mehr, da er die Familie verlassen hat. Wir sind insbesondere deshalb sehr besorgt, weil das Mädchen auch schon zu Präsenzzeiten gelegentlich schulabsentes Verhalten zeigte und nicht immer gut ans Schul- und Unterrichtsgeschehen anzubinden war. Sie zeigt depressive Züge, es gab ca. 2018 einen Suizid im erweiterten Familienkreis, und der Hauptschulabschluss nach Klasse 9 steht mittlerweile infrage. Zwischen Ende 2019 und Mitte 2020 hatte ich mit ihr ca. vier Beratungssequenzen zwecks Beziehungsaufbau und gemeinsamer Suche nach Ressourcen. Diesem freiwilligen Angebot entzog sie sich schließlich auch. Was tun wir in solchen Fällen? Für wie akut halten Sie die Gefährdung nach dem Lesen? Für wie sinnvoll halten Sie den Einbezug des Jugendamtes aufgrund von Kinderschutzfragen? In diesem Fall möchten wir als Schule
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unserem Kinder- und Jugendschutzauftrag nachkommen, aber vorher wie üblich Sie oder eine:n Ihrer Kolleg:innen als InsoFa hinzuziehen. Ich bin täglich zwischen 7.30 und 16 Uhr telefonisch erreichbar, freitags bis 14.30 Uhr. Ihr Rückruf würde uns mehr Sicherheit geben. Herzlichen Dank! Viele Grüße aus Olpe, Stefan Schröder Im Rahmen einer Fachberatung erfolgte gemeinsam mit Herrn Röhrbein eine gründliche Abwägung der häuslichen und schulischen Risiko- und Schutzfaktoren, unter anderem, um zu entscheiden, ob eine Meldung an das Jugendamt bereits ohne vorige Information der Kindesmutter angezeigt war. Als besonders wohltuend empfand ich die wertschätzende, ressourcenorientierte Art, in der ich beraten wurde. In Fällen einer vermuteten Gefährdung des Kindes- und Jugendwohls, und zwar bereits ab dem Stadium eines »komischen Bauchgefühls«, empfehle ich immer eine Verteilung dieser Verantwortung auf mehrere Schultern. Während der Beratung mit Herrn Röhrbein als einer »insoweit erfahrenen Fachkraft«, einem ersten Meilenstein dieser Hilfe, entstand die Einschätzung, dass das Mädchen möglicherweise bereits unter einer ernsthaften psychischen Erkrankung leiden könnte. Zwar lag dadurch keine akute Bedrohung des Jugendwohls vor, jedoch durchaus Handlungsbedarf gemeinsam bzw. in Verantwortungsgemeinschaft mit dem örtlichen Jugendamt zur Initiierung weiterer Schritte, wie z. B. der Installation einer Hilfe zur Erziehung und/oder der Einleitung einer Überweisung in eine Psychiatrie. Wir kamen zu der Einschätzung, dass es hilfreich sei, wenn die Schule sich vorerst mit weiteren Sanktionsandrohungen zurückhalten würde. Das Jugendamt könnte bei frühzeitiger Hinzuziehung in diesem Fall (vorerst noch) nicht als Kontrolleur und sanktionierende Stelle, sondern zunächst im Stile eines Hilfeanbieters mit einem »Service-Bauchladen« auftreten. Diese Einschätzungen wurden der Mutter meinerseits postalisch mitgeteilt. Beide, Mutter und Tochter, waren bereit zu einem gemeinsamen Termin mit einer Sozialarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes und mir als Schulsozialarbeiter. Der Termin wurde telefonisch vereinbart. Bei diesem gemeinsamen Hausbesuch, dem zweiten Meilenstein, wurden die Belastungen der Mutter und der Tochter besonders deutlich. Die Überlastung der Kindesmutter durch die Exklusion aus gesellschaftlicher Teilhabe bei gleichzeitiger Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit hatten diese Stück für Stück in eine Belastungsdepression geführt, die sie durch ein stoisches »Weiter so« unterstützte. Nach und nach war dieser Zustand auf das Mädchen übergesprungen, das seinerseits überdies unter einer langen unerwiderten Liebe litt. Das Mädchen wies einen völlig
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veränderten Schlafrhythmus auf und war im Versuch, die Mutter zu unterstützen und zugleich noch gelegentlich Babysitterin bei ihrer kleinen Nichte zu sein, vollkommen durcheinandergeraten. Sie selbst nahm schließlich das Wort »Depression« in den Mund. Ein ziemlich großer Schritt! Als Folge dieses klärenden und wegweisenden Gesprächs und der Bestätigung der vermuteten Dringlichkeit einer Abklärung konnte die Sozialarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes bei der zuständigen Psychiatrie gemeinsam mit der (allein sorgeberechtigten) Mutter eine Aufnahme auf die Warteliste erwirken. In der Wartezeit stellten sich diese Fachkraft und ich als Schulsozialarbeiter für sanktionsfreie Entlastungsgespräche zur Verfügung. Das Mädchen selbst wurde derweil ärztlich krankgeschrieben, was den Druck einer Schulversäumnisanzeige von Schule und Kindesmutter nahm. Schließlich war es dem Mädchen, der für mich dritte und wichtigste Meilenstein, nach einigen Wochen jugendamtlich und schulsozialarbeiterisch begleiteter Wartezeit möglich, während ihres stationären psychiatrischen Aufenthalts wieder in eine hilfreiche Struktur zurückzufinden. Mit Unterstützung des pädagogischen und therapeutischen Klinikpersonals konnte sie ihre Dinge neu ordnen, Kraft tanken, eigene Handlungsstrategien verfeinern und im Dialog mit ihrer Mutter und der Familie die weiteren Schritte für sich planen, um schließlich in einen geregelten Alltag zurückzukehren.
Wie hätten wir als Schule vorgehen müssen, um zu scheitern, bzw. welche Zutaten wären dafür hilfreich gewesen? Damit das Mädchen zu diesem Zeitpunkt weiterhin auf der Stelle getreten oder noch tiefer in die Depression geraten wäre, hätte die Schule sich in die Annahme von Arbeitsunwilligkeit des Mädchens hineinsteigern und mit weiteren Schulversäumnisanzeigen den Druck auf das System erhöhen müssen. Gleichzeitig hätten wir auf ein niedrigschwelliges Beziehungs- und Beratungsangebot gänzlich verzichten müssen. Das Problem mit der Schülerin wäre unter den Teppich gekehrt worden und die Lehrkraft und die Schulleitung wären nur auf die anwesenden arbeitswilligen Schülerinnen und Schüler eingegangen. Die Schulsozialarbeit wäre nicht informiert worden. Ich als Schulsozialarbeiter hätte nach meinem Einbezug in den Fall der Einzelkämpfermentalität mancher Lehrkräfte und der Institution Schule allgemein aufsitzen müssen. Ich wäre einem eingeengten Verständnis von Schulsozialarbeit gefolgt, die nur an Schule selbst stattfinden kann und Hausbesuche und Netzwerkarbeit mit anderen Institutionen und Fachdisziplinen grundsätz-
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Nathalie Kompernaß, Tanja Tschöke, Stefan Schröder, Ansgar Röhrbein
lich für überflüssig hält.Schule und Schulsozialarbeit hätten aus Sorge um die Mehrarbeit oder aus Angst vor möglichen Konsequenzen durch ein vermeintlich unendlich langes Abwarten die Beratung mit einer Kinderschutzfachkraft vermieden. Wir hätten statt der Anfrage an das Jugendamt im Verständnis einer präventiv orientierten, serviceleistenden Dienststelle mit Professionalität, Erfahrung und eigenen hilfreichen Netzwerken direkt den Namen nennen und eine Meldung machen müssen. Dann wäre das Jugendamt verpflichtet gewesen, den so initiierten Prozess gemäß § 8a SGB VIII sicherzustellen, sodass das Familiensystem möglicherweise zwei unangekündigt erscheinenden Jugendamtsmitarbeitenden mit Kontrollauftrag und Wächteramt begegnet wäre, was den Vertrauensaufbau vermutlich sehr erschwert bzw. behindert hätte. Allgemein gesagt, können die beteiligten Fachkräfte (aneinander) scheitern, wenn sie … als Schule Ȥ die betroffene Familie enorm unter Druck setzen, ständig mit neuen Sanktionen aufwarten und eine alleinige Bringschuld beim Gegenüber sehen, Ȥ den interinstitutionellen und multiprofessionellen Austausch so lange wie möglich vermeiden, Ȥ den eigenen Handlungsspielraum ignorieren und ausschließlich auf »Hilfe von anderen« setzen, und Ȥ wenn man den Kontakt zu einer anderen Institution sucht, dass man direkt auf sehr empörte, höchstbesorgte oder besser noch: übergriffige Weise mit glasklaren Erwartungen, die unmittelbar auf ein erwünschtes Ergebnis abzielen, etwa einen konstanten Schulbesuch und eine Verhaltensänderung »direkt ab morgen«, fordernd auftritt. Am besten freitagnachmittags oder einen Tag vor den Ferien … als InsoFa Ȥ für die anfragende Institution kaum erreichbar sind und die Zugangswege schleierhaft bleiben, Ȥ den anfragenden Fachkräften in genervter Art und Weise mit Zeitdruck und zwischen Tür und Angel begegnen, Ȥ die anfragenden Personen wie völlig Unwissende behandeln und sie gleichzeitig spüren lassen, dass sie auf diese Ideen auch wirklich selbst hätten kommen können, und Ȥ die Ratsuchenden mit Vorwürfen überschütten, weshalb sie sich erst so spät melden, so lange nichts mitbekommen haben und überhaupt in dieser katastrophalen Weise vorgegangen sind …
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»Und das jetzt auch noch …?«
als Jugendamt Ȥ auf Anfragen der Schule gar nicht erst oder mit sehr langer Vorlaufzeit reagieren, Ȥ sklavisch auf die Einhaltung der vorgegebenen Verfahrensschritte und einer lückenlosen Dokumentation beharren und erst nach vollständiger Bearbeitung durch die Schule sich zur Kooperation bereit zeigen, Ȥ das bisherige Vorgehen als völlig unzureichend darstellen und die beteiligten Lehrkräfte maßregeln, Ȥ darauf bestehen, dass die Beteiligten sich doch bitte ins Amt begeben mögen, denn nur dort könne eine Besprechung stattfinden, und Ȥ im Prozess mit der Familie komplett von vorn starten und die bisherigen Erkenntnisse der Einrichtung völlig ignorieren oder umgekehrt direkt mit voller Macht als kontrollierende Instanz auftreten, weil die Schule ja bereits eine Gefährdung identifiziert habe. Wie in dem obigen Beispiel deutlich geworden ist, lebt der kooperative Kinderschutz aus unserer Sicht insbesondere von einer hohen Aufmerksamkeit der »vor Ort« Tätigen. Zugleich braucht es eine Bereitschaft zur Reflexion »mit anderen« (mindestens Vier-Augen- und -Ohren-Prinzip) sowie eine erhebliche Portion an Wohlwollen und Besonnenheit im weiteren Vorgehen und im Umgang mit den Betroffenen. Wesentlich ist für uns dabei die stringente Orientierung an Risiko- und Schutzfaktoren, sodass es gelingt, beide Seiten der Medaille in den Blick zu nehmen und wie es sich in der Fachberatung des Märkischen Kinderschutz-Zentrums vielfach bewährt hat (vgl. dazu die Fragen in Tabelle 1). Das erweitert den Möglichkeitsraum sowie den Handlungsspielraum und vor allem fördert es das Zutrauen der beteiligten Familiensysteme, dass »Gutes für sie daraus werden kann«, wie Jessika Kuehn-Velten und Frauke Schwier es formuliert haben (vgl. Kapitel 4.4 in diesem Band). Tabelle 1: Der Blick auf das System: Bilanz Risiko- vs. Schutzfaktoren Belastungen/Risikofaktoren
Ressourcen/Schutzfaktoren
Welche Risiken nehme ich wahr? Was beunruhigt mich? Welche Aspekte von Vulnerabilität und spezifischer Belastung sehe ich beim Kind, bei der Familie, in der Umgebung? Welche Merkmale von Schädigung, Übergriff, Unterlassung, Kraftlosigkeit oder Überforderung nehme ich wahr? Woran erkenne ich eine mangelnde Kooperation bzw. eine Bagatellisierung, Verharmlosung, Vermeidung oder Abwehr?
Welche Stärken und Ressourcen nehme ich wahr? Was beruhigt mich? Welche Aspekte von Resilienz sehe ich beim Kind, bei den Eltern, im System? Wer unterstützt? Welche Fähigkeiten zur Minderung der Belastung bzw. Gefährdung nehme ich wahr? Woran erkenne ich die Einsicht in eine Veränderung und den Willen bzw. die Bereitschaft etwas an der Situation ändern zu wollen und Hilfe anzunehmen?
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Auch in unserer Kommune sind durch Corona zahlreiche Dialoge erschwert worden, und wir stehen aktuell vor der Herausforderung, den beschriebenen Prozess wieder aufzunehmen und ihm wieder mehr Leben einzuhauchen. Die bisherigen Erfolge stimmen uns zuversichtlich. Gefühlt ist es halt nie fertig. Das Ding, das sich Kooperation nennt. Aber es lohnt sich! Wir hoffen, dass wir mit unseren Beschreibungen allen Fachkräften in den verschiedenen Kommunen Mut machen konnten, dass es sich lohnt, sich auf den Weg zu machen. Auch, wenn es klein anfängt, so kann es letztlich immer größer werden. Eine:r muss beginnen. Zwei bis drei haben es leichter. Gutes Gelingen! Literatur Bathke, S. A., Bücken, M., Fiegenbaum, D. et al. (2014). Arbeitshilfe zur Umsetzung des Kinderschutzes in der Schule Der GanzTag in NRW. Beiträge zur Qualitätsentwicklung, 4 (9). Münster: Institut für soziale Arbeit e. V., Serviceagentur »Ganztägig lernen« Nordrhein-Westfalen. Bathke, S. A., Hein, A., Sack, J., Kimmel-Groß, J., Güldenhöven, T. (2013). Kinderschutz macht Schule – Handlungsoptionen, Prozessgestaltungen und Praxisbeispiele zum Umgang mit Kindeswohlgefährdungen in der offenen Ganztagsschule. Der GanzTag in NRW. Beiträge zur Qualitätsentwicklung, 3 (4). Münster: Institut für soziale Arbeit e. V., Serviceagentur »Ganztägig lernen« Nordrhein-Westfalen. Borst, U., Lanfranchi, A. (Hrsg.) (2011). Liebe und Gewalt in nahen Beziehungen. Heidelberg: Carl-Auer. Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (2013/2014). IzKK-Nachrichten – Konstruktiv kooperieren im Kinderschutz, 1. Die Kinderschutz-Zentren (Hrsg.) (2013). Aufbruch – Hilfeprozesse gemeinsam neugestalten. Köln. Kinderschutzzentrum Berlin (Hrsg.) (2009). Kindeswohlgefährdung – Erkennen und Helfen (11. Aufl.). Berlin.
5.4 Herausforderungen bewältigen – Kinderschutz in Beratungsstellen Ines Ellesser
Als eine der Hilfen zur Erziehung nach § 27 SGB VIII ist Erziehungsberatung ein Angebot der Jugendhilfe und damit an die Vorgaben des SGB VIII gebunden. Erziehungsberatungsstellen treffen Regelungen zum Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung bzw. bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte. Sie übernehmen eine wichtige Rolle im Kinderschutz bei der Unterstützung von
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Kindern, Jugendlichen und Eltern. Dabei haben Beratungsstellen im Kinderschutz verschiedene Aufgaben. Einmal als Anbieter von Hilfen zur Erziehung mit den genannten gesetzlichen Rahmenbedingungen. Zum Zweiten als wichtige und häufig genutzte Stelle, die Beratung als Hilfs- und Unterstützungsangebot für Familien nach Gefährdungseinschätzungen anbietet. Und zum Dritten als Dienstleister zur fachlichen Unterstützung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung für Kindertagesstätten und andere Einrichtungen der Jugendhilfe. In Beratungsstellen gibt es viel Erfahrung im Umgang mit emotionaler Vernachlässigung und seelischen Verletzungen von Kindern und Jugendlichen, in der Regel in Situationen, die unterhalb der Schwelle zur Kindeswohlgefährdung im engeren Sinn anzusiedeln sind. Leider müssen hier an erster Stelle Auseinandersetzungen in Zusammenhang mit Trennung und Scheidung genannt werden bis hin zu hochstrittigen Eltern, denen es über viele Jahre nicht gelingt, ihre Konflikte zu lösen. Nach einer Erhebung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke, 2019) wurden im Jahr 2018 von den 104 daran beteiligten Beratungsstellen 2 456 Gefährdungseinschätzungen nach der Wahrnehmung von gewichtigen Anhaltspunkten durchgeführt. Bezogen auf die beendeten Beratungen dieser Stellen sind das 7,3 %. Mia kann nicht schlafen Die Anmeldung bei der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Stadt Ludwigshafen erfolgte wegen des jüngeren Bruders von Mia. Zum Erstgespräch kam die ganze Familie (Vater, Mutter, zwei Kinder). Bei der Auftragsklärung formulierte die zehnjährige Mia ihr Anliegen sehr deutlich: Sie habe viel Angst und könne deshalb seit einiger Zeit nicht mehr in ihrem eigenen Bett einschlafen. Das sei ihr jedoch ziemlich peinlich, da sie ja kein kleines Baby mehr sei. Mia möchte deshalb sehr gerne wieder in ihrem eigenen Bett schlafen. Die Beraterin entschied sich für das »Ich schaffs«-Programm von Ben Furman (2007) und vereinbarte mehrere Termine mit Mia. Das Programm war erfolgreich: Bei dem vierten Termin berichtete Mia stolz, dass sie es jetzt geschafft habe und wieder im eigenen Bett schlafe. Bei einem dieser Gesprächstermine war Mia ungewohnt schweigsam und sagte, sie wolle heute am liebsten gar nicht sprechen. Die Beraterin kommunizierte deshalb mit Mia über Bildkarten und das Tool »Scribility«. Dabei wählte Mia eine wütende, brüllende Figur aus und sagte, dass das der Papa sei. Mia zeigte mit den Karten auch, dass sie ihre inneren Gefühle dann verbirgt, und wählte dafür die beiden Figuren »Mia innen« und »Mia außen« (s. Abbildung 1).
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Abbildung 1: Von Mia gewählte Bildkarten
Bei einem weiteren Beratungsgespräch, bei dem auch die Mutter dabei ist, wird Mia deutlicher und sagt, dass »der Papa nicht immer gleich schreien und zuhauen soll«. Auf Nachfragen zeigt sie, dass er auf den Po und den Hinterkopf schlage. Die Mutter zeigt sich sehr betroffen. Sie habe einiges mit ihrem Mann zu besprechen und wünsche sich dabei die Unterstützung durch die Beraterin und sie schlägt ein gemeinsames Gespräch in der Beratungsstelle vor. Die fallverantwortliche Beraterin meldet im Team einen Verdachtsfall auf Kindeswohlgefährdung und löst damit eine »interne Risikoabschätzung« aus.
Manchmal kann es auch so ein Bauchgefühl sein: Risikoabschätzung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung Die Abgrenzung einer Kindeswohlgefährdung im Sinne der grundlegenden Definition der Gesetzgebung von anderen Beeinträchtigungen der gesunden oder bestmöglichen Entwicklung fällt bei der Wahrnehmung von gewichtigen Anhaltspunkten selten leicht. Sie erfolgt deshalb in einer strukturierten Gefährdungseinschätzung in den multiprofessionellen Teams der Beratungsstelle. Dabei wird auch eine interne insoweit erfahrene Fachkraft nach § 8a SGB VIII beteiligt. In der Beratungsstelle sind mehrere Fachkräfte tätig, die aufgrund einschlägiger Weiterbildungen und umfassender Erfahrung die Funktion einer insoweit erfahrenen Fachkraft (InsoFa) erfüllen können. Alle InsoFas bilden sich regelmäßig weiter und besuchen Fachtagungen und Fachvorträge, wie beispielsweise die landesweiten Kinderschutzkonferenzen des Landesamts für Soziales, Jugend und Versorgung (LSJV) in Rheinland-Pfalz.
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Deshalb sind die Voraussetzungen erfüllt, Gefährdungseinschätzungen teamintern durchzuführen, wenn im Rahmen einer Beratung gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung eines Kindes oder Jugendlichen wahrgenommen werden. Um auch die formale Qualität des Verfahrens sicherzustellen, wurde ein Dokumentationsbogen entwickelt, der sich an den gesetzlich vorgegebenen Abläufen orientiert. Ob es überhaupt zu einer Risikoabschätzung kommt, liegt in der Verantwortung der Beratenden. Auslöser sind in der Regel Fakten, Beobachtungen und Aussagen, die einen Verdacht haben aufkommen lassen. Manchmal ist aber auch ein »Bauchgefühl« dabei. Diese subjektiven Wahrnehmungen können einen wichtigen Beitrag zum Schutz von Kindern und Jugendlichen leisten, beruhen sie doch nicht selten auf umfangreichem Erfahrungswissen. Ebenso sind die unterschiedlichen Einschätzungen verschiedener Fachkräfte im Team bereichernd, selbst wenn dadurch nicht sofort ein Konsens über das weitere Vorgehen hergestellt werden kann. Sie bieten die Chance, die eingenommene Perspektive zu hinterfragen, weitere Informationen zu erhalten und so die Einschätzung zu verbessern. Zurück zum Beispiel von Mia Als Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung wurde eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Gleichzeitig erfolgte die Einschätzung, dass Erziehungsberatung – gegebenenfalls in Verbindung mit anderen Maßnahmen – als Hilfe gut geeignet und ausreichend sei. Diese Einschätzung erfolgte aufgrund der Tatsache, dass sowohl Mia als auch ihre Eltern in gutem und regelmäßigem Kontakt zu der fallverantwortlichen Beraterin standen. Beide Elternteile waren offen für weitere Beratungstermine und hatten ein gemeinsames Gespräch bereits vorgeschlagen. Unser Vorgehen folgte hier der gesetzlichen Rahmung, die im § 4 KKG beschrieben ist Das Gespräch mit den Eltern war sehr emotional. Der Vater war sichtlich betroffen über die Bilder und Aussagen von Mia und offen für Unterstützungsangebote. Weitere Beratungsgespräche dienten dazu, alternative Handlungsmöglichkeiten der innerfamiliären Konfliktlösung zu entwickeln und zu festigen. Macht- und Gewaltausübung wurden thematisiert und gleichzeitig die Stellung jedes Familienmitglieds als Person mit unterschiedlichen Möglichkeiten des Verhaltens hervorgehoben (dabei sind die verschiedenen Familienmitglieder jedoch in ihren Handlungsmöglichkeiten keinesfalls gleichrangig).
Die Beratenden erfahren in solch einem Gespräch mehr über die Dynamik in der Familie und versuchen, z. B. durch konkrete Fragen (Wer kann was genau an Hilfe leisten? Wer muss was wann tun?) die Möglichkeiten und Handlungs-
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spielräume der Beteiligten (in der Familie und dem professionellen Netzwerk) zu erweitern. Die Definition von »Lösung« bleibt dabei dem einzelnen Familienmitglied so weit wie möglich selbst überlassen, sodass die Familie (oder das Bezugssystem des Kindes) eine eigene Lösung finden kann. In den Gesprächen werden Ziele einzeln und in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess entwickelt. Dabei gibt es im Kinderschutz Grundsätze, die nicht verhandelbar sind, wie Kinder nicht zu misshandeln. Daneben gibt es andere, individuelle und gemeinsame Wünsche und Ziele der Familienmitglieder. Die Offenheit für diese Veränderungsideen und die ehrliche Arbeit damit ist häufig ein Erfolgskriterium für den nachhaltigen Schutz des Kindes bzw. der Kinder. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit fördern: Beteiligung der Betroffenen Die Beteiligung der Betroffenen wird im Kinderschutz gesetzlich vorgegeben. Gleichzeitig ist die Beteiligung von Eltern und Kindern ein zentraler Faktor für die Umsetzbarkeit und Wirksamkeit von Hilfen (DGSF, 2019). Nach unseren Erfahrungen bietet ein gelungener Beteiligungsprozess die größten Chancen für Erfolg. Dagegen ist es kontraproduktiv, wenn Eltern oder Kinder den Eindruck gewonnen haben, dass Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden. Auch Eltern und Erziehungsberechtigte, bei denen der Verdacht besteht, dass sie durch ihr Verhalten ihre Kinder schädigen, haben ein Recht auf Beteiligung an Entscheidungen über ihr Zusammenleben. Sie haben Fähigkeiten und Ressourcen, die sie vielleicht in dieser Krise nicht abrufen können. Im Rahmen von Beteiligungsprozessen sollten Eltern und Kinder die Gelegenheit bekommen, ihre Sicht der Situation zu schildern. Sie können berichten, wie sie ihre Situation sehen und bewerten, welche Zusammenhänge sie erkennen und welche möglichen Lösungen und Schutzmaßnahmen es geben könnte. Diese Informationen über die Familien sind für Beratende sonst nicht zugänglich. Sie können dazu führen, dass neue Lösungswege gefunden werden. Beteiligung ist dabei eher eine Haltung als eine Methode. Sie erfordert von den Beratenden, ihre eigene Arbeit ständig zu reflektieren und die Perspektive aller Beteiligten nachzuvollziehen und anzuerkennen. Die Fachkräfte der Beratungsstelle profitieren dabei von ihrer umfangreichen Erfahrung mit Elterngesprächen in schwierigen Situationen. In der Regel gab es bereits mehrere Kontakte mit verschiedenen Familienmitgliedern und ein gewisses Vertrauensverhältnis, bevor Verdachtsmomente bekannt werden. Dies erhöht die Bereitschaft zur weiteren Zusammenarbeit und häufig auch die Motivation, weitere Hilfen in Betracht zu ziehen und anzunehmen.
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Besonders herausfordernd ist die Aufgabe, Kinder und Jugendliche angemessen zu beteiligen. Eine freundliche und für Kinder attraktive Gesprächsumgebung, einfache und verständliche Sprache, die ausdrückliche Erlaubnis, auf Fragen nicht antworten zu müssen, und regelmäßige Pausen sind einige Aspekte, die hilfreich für gute Ergebnisse sein können. Familien stärken: Praktische Methoden systemischer Kinderschutzarbeit Alle Familienmitglieder und enge Vertraute der Familie können dazu beitragen, individuelle Lösungen zu finden, und bei der Umsetzung von Veränderungen im Zusammenleben unterstützen. Die Fachkräfte in dem multiprofessionellen Team der Beratungsstelle verfügen über verschiedene psychotherapeutische Ausbildungen und einen großen Schatz an Methoden und Ideen. Gemeinsam ist allen die systemische Haltung und der Anspruch, dass die Würdigung und Wertschätzung der Versuche und Anstrengungen der Ratsuchenden an erster Stelle stehen. Als hilfreich haben sich auch Methoden erwiesen, die eher visuell oder motorisch orientiert sind. Dazu gehören die Arbeit mit Figuren und Bildkarten, das Malen von Bildern, kleine Aufstellungen mit Figuren oder Symbolen und körperzentrierte Übungen. Manche Eltern sind aus unterschiedlichen Gründen, auch aufgrund von Belastungen, nicht in der Lage, Signale ihrer Kinder und Säuglinge wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Mithilfe von Videoaufzeichnungen können gelungene Interaktionen gefunden und verstärkt werden. Eltern können bei erfolgreichen Handlungen unterstützt werden, sodass es gelingt, diese weiter auszubauen. Digitale Formate, wie Mail, Chat und Video, haben im Jahr 2021 stark an Bedeutung gewonnen und sind auch in Zukunft nicht mehr aus dem Angebot von Beratungsstellen wegzudenken. Für manche Ratsuchende erleichtern sie den Zugang zu Beratung erheblich. Zu den Angeboten der Beratungsstelle gehört auch die Multifamilientherapie (MFT; Asen u. Scholz, 2017). Die Multifamilientherapie verbindet handlungsorientierte familientherapeutische Interventionen mit einem Gruppenkontext. Die Inhalte der MFT orientieren sich an den Bedürfnissen und Kompetenzen der jeweiligen Familienmitglieder. Familien, Eltern und Kinder werden von den anderen Familien dabei unterstützt, ihre eigenen familiären Interaktionsund Beziehungsmuster zu erkennen. Im Gruppenkontext werden Lösungen für die Anliegen der einzelnen Familien gesucht und ausprobiert. Die Erfahrungen werden in der Gruppe diskutiert und reflektiert.
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Bewährt hat sich auch die Aufsuchende Familientherapie (AFT; Conen, 2006), ein niederschwelliges therapeutisches Angebot. Dazu gehört unter anderem, dass mit der Familie zu Hause, unter Einbeziehung des Umfelds, gearbeitet wird. Dieses Sicheinlassen auf das Lebensumfeld der Familie vermittelt dieser ein Gefühl von Sicherheit, die eine Grundvoraussetzung für eine erfolgversprechende Arbeit darstellt. Die Aufsuchende Familientherapie wird mit zwei Therapeut:innen durchgeführt. Die co-therapeutische Arbeitsweise ermöglicht das Reflecting Team, eine Methode, bei der ein Team von Beratenden den Fall eines Klienten diskutiert, während dieser dabei zuhört, und dadurch dem Klienten als Reflexionsfläche dient. Der Klient, bei AFT die Familie bzw. die Familienmitglieder, bekommen dadurch in kurzer Zeit eine Spiegelung ihrer Situation und neue Sichtweisen aufgezeigt. Was sonst nur hinter verschlossenen Türen stattfindet, nämlich die Beratung über einen Fall, erfolgt hier auf wertschätzende, konstruktive Art und Weise vor den Augen und Ohren der Familienmitglieder. Dies bringt ihnen Impulse auf mehreren Ebenen: einerseits über die Art und Weise, wie sie über ihre Probleme nachdenken und diese schildern, andererseits über Handlungsoptionen und mögliche andere Sichtweisen aus dem Kreis der Beratenden. Die Hoheit über die Vorschläge haben dabei immer die Ratsuchenden: Sie bestimmen, was für sie anschlussfähig ist und was nicht. Das erleichtert das Annehmen von neuen Impulsen enorm. Ziel der Aufsuchenden Familientherapie ist es, über neue Handlungsmuster und alternative Handlungsmöglichkeiten Ressourcen freizulegen und es den Familien zu ermöglichen, Dinge im Sinne eines besseren Kinderschutzes zu verändern. Anleitung zum Scheitern: Wie scheitert man am effektivsten? Diese Überschrift in Anlehnung an die »Anleitung zum Unglücklichsein« von Paul Watzlawick ist im Zusammenhang mit Kinderschutz gewiss provokant. Gleichzeitig wurden in den letzten Jahren verstärkt problematische Kinderschutzverläufe analysiert, beispielsweise in einer Machbarkeitsexpertise des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dabei zeigte sich, dass Fallanalysen und ein offener, konstruktiver Umgang mit Fehlern innerhalb von Organisationen effektive Methoden für die Verbesserung von Abläufen und partizipative Qualitätsentwicklung sind. Auch in dem Fallbeispiel von Mia gibt es kritische Punkte, an denen etwas hätte schiefgehen können. Zunächst einmal die Tatsache, dass Mia sich geäußert hat, obwohl sie eigentlich an diesem Tag gar nichts sagen wollte. Dass Kinder Beratungssituationen weniger gut finden als Erwachsene und nicht besonders
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gesprächig sind, ist in der täglichen Praxis nichts Ungewöhnliches. Es erfordert hohe Sensibilität, Zeit und Geduld der Beratenden, Kinder gut zu beteiligen und ansprechende Methoden zu finden. In der Beratungsstelle gibt es deshalb Fachgruppen zu verschiedenen Themen, die regelmäßig reflektieren, wie Kinder gut an Prozessen beteiligt werden können. (Eine besondere Herausforderung ist das etwa bei Beratungen zu Umgangsregelungen bei Trennung und Scheidung.) Entscheidend für die Gefährdungseinschätzung ist die Tragfähigkeit der Beziehung zwischen dem Helfersystem und der Familie. Wenn diese stimmt, können Konflikte ausgehalten werden und es erübrigen sich sogar andere Maßnahmen. Bei Mia und ihrer Familie war die Einschätzung richtig. Es gab jedoch auch schon Verläufe, bei denen der Kontakt von den Eltern oder Erziehungsberechtigten abgebrochen wurde, worauf dann eine Meldung an das zuständige Jugendamt erfolgte. Die Chance, auf einer guten Beziehung aufzubauen und dadurch die Bereitschaft für Lösungen und Veränderungen bei den Beteiligten zu erhöhen, konnte in diesen Fällen nicht genutzt werden. In der Beratungsstelle treffen sich deshalb die Fachkräfte, die auch als InsoFa tätig sind, regelmäßig zum Austausch und zu anonymen Fallbesprechungen. Dazu stehen ausreichend zeitliche Ressourcen zur Verfügung. Für alle Fachkräfte der Beratungsstelle findet darüber hinaus Supervision statt. Zusammen arbeiten: Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz Multiprofessionelles Arbeiten setzt eine gute Kooperation der Teilnehmenden voraus. Im Kinderschutz trifft das erst recht zu! Es gibt viele gute Gründe für eine gute Vernetzung der Fachkompetenzen, damit passgenaue Hilfen für junge Menschen und deren Familien etabliert werden können. Dabei ist Netzwerkarbeit immer auch Beziehungsarbeit. Man muss sich erst mal kennenlernen und die Sprachen der unterschiedlichen Systeme und deren Fachbegriffe verstehen. Dann gilt es, gemeinsame Ziele zu entwickeln, die für alle Beteiligten transparent sein sollten und diese dann auch gemeinsam umzusetzen. In unserem Fall sind die Fachkräfte der Beratungsstelle deshalb in Netzwerken vertreten und haben Kooperationsvereinbarungen, u. a. mit dem Jugendamt der Stadt Ludwigshafen und dem Rhein-Pfalz-Kreis. Mit den Kindertagesstätten gibt es Vereinbarungen zur Übernahme der Funktion der InsoFa. Weitere Angebote der Fachkräfte sind Beratungen von Mitarbeitenden anderer Institutionen im Rahmen von anonymen Fallbesprechungen oder fachliche Fortbildungen in Form von Vorträgen oder mehrteiligen Schulungsblöcken.
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Netzwerkarbeit findet im Rahmen des »Netzwerks Kindeswohl« im RheinPfalz-Kreis statt, das einmal jährlich eine Fachtagung zum Thema Kinderschutz veranstaltet. In Ludwigshafen gibt es den »Runden Tisch« mit regelmäßigen Expertentreffen und das Programm »Guter Start ins Kinderleben«, eine enge Kooperation zwischen Geburtskliniken und Stadtjugendamt. Auf Landesebene veranstaltet das Sozialpädagogische Fortbildungszentrum (SPFZ), eine Einrichtung des Landesamts für Soziales, Jugend und Versorgung (LSJV), jährlich einen Fachtag für »insoweit erfahrene Fachkräfte« und eine landesweite Kinderschutzkonferenz für Fachkräfte, die in den lokalen Netzwerken nach dem Landes- und Bundeskinderschutzgesetz aktiv sind. Kooperation gelingt besonders gut »auf Augenhöhe«. Auch wenn die Kooperationspartner unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen, Kostenträger und institutionelle Aufträge haben, ist die gegenseitige Anerkennung und fachliche Achtung eine wichtige »Zutat« zum Gelingen. #Luhörtzu. Das Schutzkonzept: Präventive Schutzarbeit für Kinder und Jugendliche bei der Stadt Ludwigshafen Wenn einzelne oder viele gut eingeführte Maßnahmen zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen gebündelt und mit weiteren Maßnahmen ergänzt werden, spricht man von einem Schutzkonzept. Solche Konzepte zur Prävention und Intervention sind ein Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Absprachen sowie Haltung und Kultur einer Organisation (Wolff, Schröer u. Jörg, 2017). Im Jahr 2019 haben sich deshalb die Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe in der Stadtverwaltung Ludwigshafen gemeinsam auf den Weg gemacht, um ein Schutzkonzept zu entwickeln und Mindeststandards zu beschreiben. Dabei war es von Beginn an das Ziel, ein Schutzkonzept partizipativ einerseits mit Fachkräften und andererseits mit Kindern, Jugendlichen und Familien zu erarbeiten. Das Projekt wurde von Frau Prof. Dr. Mechthild Wolff, Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut, wissenschaftlich begleitet. So war es möglich, alle Planungsschritte und Vorgehensweisen mit wissenschaftlicher Expertise zu erarbeiten. Das Schutzkonzept soll dazu beitragen, achtsamer für die Rechte von jungen Menschen in allen Einrichtungen, Diensten und Projekten zu werden. Es enthält Maßnahmen und Methoden, die dabei helfen können. Mindeststandards sollen dabei die Verbindlichkeit erhöhen. Grundsätzlich gliedert sich ein Schutzkonzept in folgende Schlüsselprozesse:
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Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ
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Analyse, Prävention, Intervention, Aufarbeitung.
Die einzelnen Instrumente und Maßnahmen werden dann diesen Schlüsselprozessen zugeordnet. Das Schutzkonzept soll Fachkräften Handlungssicherheit im pädagogischen Handeln geben und auch für Kinder, Jugendliche und Familien Transparenz schaffen über ihre Rechte. »Choice, Voice und Exit« gelten als grundsätzliche Handlungsoptionen von Kindern und Jugendlichen. Sie dürfen also die Stimme erheben, sich zu Wort melden und sich einbringen. Ihnen soll ermöglicht werden, die Wahl zu haben zwischen verschiedenen Angeboten und Möglichkeiten. Und sie dürfen jederzeit ein Stopp setzen in dem Wissen, dass Fachkräfte dies hören und darauf eingehen. Selbstverständlich heißt das nicht, dass Kinder oder Jugendliche alle Entscheidungsfreiheiten haben und es keine Regelungen geben soll. Kinder und Jugendliche sollen also mithilfe von verschiedenen Instrumenten und Maßnahmen unterstützt werden, ihre Rechte zu nutzen. Zu den Maßnahmen in der Beratungsstelle gehören beispielsweise die Entwicklung von Leitlinien zum Verhalten von therapeutischen und pädagogischen Fachkräften, das Einholen von regelmäßigem Feedback von Kindern und Jugendlichen (Feedbackbögen oder im Rahmen der Beratungsgespräche), ein Beschwerdeverfahren, regelmäßige Informationen und Fortbildungen der Fachkräfte. Auch die hier beschriebenen Abläufe zur kollegialen Unterstützung und gegebenenfalls anschließender gemeinsamer Gefährdungsbeurteilung sind Bestandteil dieses Schutzkonzepts. Hintergrund aller Überlegungen ist es, Kinder und Jugendliche zu stärken. Sie sollen beraten, betreut, begleitet und gefördert werden in dem Wissen, sich jederzeit an eine Person ihres Vertrauens wenden zu können, wenn es ihnen nicht gut geht, wenn ihnen Unrecht widerfährt und sie sich nicht gehört fühlen. Literatur Asen, E., Scholz, M. (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer. bke – Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (2019). Informationen für Erziehungsberatungsstellen 2/19: Kinderschutz in der Praxis der Erziehungsberatung.Frankfurt Conen, M.-L. (Hrsg.) (2006). Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden – Aufsuchende Familientherapie (3. Aufl.). Heidelberg: Carl Auer. DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (Hrsg.) (2019). Systemischer Kinderschutz. Köln: Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie.
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Tobias Falke
Furman, B. (2007). Ich schaffs! – Spielerisch und praktisch Lösungen mit Kindern finden. Heidelberg: Carl Auer. Watzlawick, P. (2007). Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper. Wolff, M., Schröer, W., Jörg, M. F. (Hrsg.) (2017). Schutzkonzepte in Theorie und Praxis. Ein beteiligungsorientiertes Werkbuch. Weinheim: Beltz.
5.5 Kinderschutz im Jugendverband Tobias Falke
Neben der Kindertagespflege und den Hilfen zur Erziehung wird die Kinderund Jugendarbeit nach § 11 und 12 des SGB VIII als drittes großes Feld von Bildung und Erziehung außerhalb der Familie beschrieben (Böllert, 2017). Das folgende Fallbeispiel betont die Spezifika der Jugendverbandsarbeit, lässt sich jedoch an vielen Stellen auf andere Settings übertragen. Fallbeispiel Pfadfindergruppe Das Setting Einmal wöchentlich treffen sich etwa zwanzig Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren mit ihren beiden ehrenamtlichen Leitungskräften. Bei den wöchentlichen anderthalbstündigen Gruppenstunden stehen Spiel sowie projektorientierte Elemente und die Vorbereitung gemeinsamer Aktionen im Vordergrund. Die Personen Nik ist neun Jahre alt und seit zwei Jahren Mitglied in einer Pfadfindergruppe. Mona (19, Azubi) und Arne (18, BWL-Student) kennen sich schon seit der Kindheit durch ihre gemeinsame Zeit im Jugendverband und der Schule. Malte (31) ist Vorsitzender der Pfadfinderortsgruppe. Gruppenleiterin Mona berichtet in der Leitendenrunde, dass sich eine Mutter über den Jungen Nik beschwert habe. Dieser habe ihrem Sohn Manuel heftig in den Rücken getreten. Den Tritt hat das Leitungsteam nicht bemerkt. Den anderen Leitungskräften sind die Kinder der Gruppe bekannt, und schnell ist man sich einig, dass Nik »ein total ruhiges Kind ist« und »Manuel es faustdick hinter den Ohren hat«. Leiterin Mona erhält den Rat, die Mutter zu beruhigen und Manuel gut im
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Blick zu behalten, und überhaupt würden Kinder von ihren Eltern nur noch in Watte gepackt. Am Rande der nächsten Gruppenstunde kommt Imke, die elfjährige Schwester von Mona, weinend zu Mona und berichtet, dass Nik sie als »Drecksschlampe« bezeichnet habe und sie ihm ihre »Muschi zeigen soll«. Leiter Arne steht daneben und reagiert umgehend. Er spricht Nik laut an und betont mehrfach, dass er nach der Gruppenstunde »direkt ein ernstes Wörtchen« mit dessen Mutter reden werde. Den Rest der Gruppenstunde verhält Nik sich vorbildlich und direkt nach der Gruppenstunde geht er nach Hause. Die Mutter von Nik holt ihren Sohn in der Regel nicht ab. Arne sucht beim nächsten Treffen das Gespräch mit Nik, der scheinbar nicht zuhört und fortwährend umherläuft. Er teilt ihm mit, dass Gewalt nicht geduldet werde und dass er »diese Worte aus der Gruppenstunde nicht benutzen darf«. Nik steht scheinbar einsichtig vor Arne, fragt ihn jedoch grinsend: »Welche Worte meinst du denn und was soll ich denn sonst sagen?« Arne ist verunsichert und entzieht sich der Situation. Das Leitungsteam nimmt sich vor, nun besonders aufmerksam auf Fehlverhalten zu achten. Die Leitungskräfte »entdecken« bei beiden Jungen vermehrt Regelverstöße und ahnden diese strikt und besonders konsequent. Mona fallen bei Nik vermehrt blaue Flecken an den Armen und auch im Gesicht auf. Sie vermutet Arne gegenüber, dass Nik sich »bestimmt auch in der Schule schlägt«. Ungefähr sechs Monate nach der ersten wahrgenommenen Auffälligkeit berichten Mona und Arne davon, dass es weiterhin schwierig mit Manuel und Nik sei, da beide häufig Regeln missachten würden. Vorsitzender Malte, der zuvor an einer Schulung zur Prävention von sexualisierter Gewalt teilgenommen hat, bittet Mona und Arne, alle Beobachtungen zu dokumentieren. Gemeinsam werden die Aufzeichnungen besprochen. Die drei sind sich einig, dass Manuels Verhalten weiterhin nicht gut, aber relativ stabil und beeinflussbar ist. Große Sorgen machen sie sich um Nik, da sich dessen Verhalten massiv verändert habe, er sich sexualisiert zeige und die enge Begleitung durch das Leitungsteam bisher zu keiner Verbesserung geführt habe. Malte hat bei der Schulung zum Kindeswohl durch die hauptberuflichen Mitarbeitenden seines Jugendverbandes auch die Nummer der anonymen Beratung bei potenzieller Kindeswohlgefährdung erhalten. Die hauptberuflichen Referent:innen in seinem Jugendverband haben von guten Erfahrungen mit der anonymen Beratung berichtet, sodass auch Malte sich traut, dort anzurufen. Nach dem Telefonat beschließen Malte und das Leitungsteam, die Mutter von Nik zum Gespräch zu bitten. Im Gespräch soll die Sorge der Leitungskräfte thematisiert und die Mutter gefragt werden, ob es bereits Kontakt zum Jugendamt gibt. Wenn nicht und wenn die Mutter die Sorge um das Kind scheinbar nicht ernst nimmt bzw. keine plausible Erklärung für die Verletzungen von Nik beibringt, wollen sie ihr mitteilen, dass das Jugendamt über einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung informiert werden wird.
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Im Gespräch mit der Mutter berichtet diese, dass sie seit sechs Monaten von ihrem Mann getrennt sei. Es habe Gewalt in der Ehe gegeben, von der Nik ihrer Meinung nach »wenig bis nichts« mitbekommen habe. Gegenüber Nik sei dem Vater zwar mehrmals »die Hand ausgerutscht«, aber immer nur, wenn Nik wirklich etwas angestellt habe. Nun habe Nik regelmäßige Besuchskontakte beim Vater. Kontakt zum Jugendamt will die Mutter nicht aufnehmen, da es dann »nur weiteren Stress gibt«. Auch auf ein Angebot zur Begleitung geht die Mutter nicht ein. Malte und die Leitungskräfte teilen der Mutter mit, dass sie das Jugendamt am Folgetag kontaktieren und ihre Sorge zum Ausdruck bringen werden, woraufhin die Mutter weinend den Raum verlässt. Am Folgetag erfolgt die Meldung durch Malte an das Jugendamt. Nik kommt einige Wochen nicht zu den Gruppenstunden, ist dann jedoch wieder aktiv dabei. Die Mutter kommt nicht mehr zum Bringen oder Abholen. Niks Verhalten hat sich deutlich verbessert, woran dies liegt, wissen Mona, Arne und Malte nicht.
Arbeitskontext In der Regel wird in den Jugendverbänden die Arbeit in den Ortsgruppen durch Ehrenamtliche geleistet. Häufig sind es junge Menschen, die überdies hinaus auch selbst oft noch in der Ausbildung sind (Remke u. Bertels, 2020). Leitende in den Jugendverbänden sich demzufolge oftmals keine pädagogischen Fachkräfte im Sinne von professionell qualifizierten und beruflich in diesem Bereich tätigen Personen. In ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit, der Leitung einer Jugendverbandsgruppe, insbesondere unterstützt durch verbandsinterne und verbandsübergreifende Aus-, Fort- und Weiterbildungsinhalte, sind die Leitungskräfte jedoch fachkräftegleich in ihrem Bereich der ehrenamtlichen Leitung von Jugendverbandsgruppen zu sehen. Remke und Bertels (2020, S. 71) beschreiben dies folgendermaßen: »Die starke Identifikation mit dem Engagement, die sehr persönlichen Motive sowie die im Ehrenamt erworbenen oder angestrebten Kompetenzen machen ehrenamtliche Mitarbeiter_innen über kurz oder lang zu Expert_innen ihres ehrenamtlichen Bereichs«. Diese ehrenamtlich Tätigen, die in den Jugendverbänden Kinder und Jugendliche begleiten, sind oftmals selbst im Alter von 14 bis 29 Jahren und bedürfen somit selbst eines besonderen Schutzes (Remke u. Bertels, 2020). Die Leitenden agieren freiwillig und ziehen insbesondere aus dieser Freiwilligkeit und den damit einhergehenden Gestaltungsspielräumen ein hohes Maß an Identifikation und Motivation (Böllert, 2017; Oeffling, 2017). Hauptamtlich oder hauptberuflich Tätige sind in der Regel nicht in den Ortsgruppen mit der Begleitung von Kindern und Jugendlichen betraut, sondern übernehmen auf übergreifenden Ebenen Tätigkeiten in jugendpolitischer Vernetzung
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und Vertretung sowie in der Ausbildung. Hauptberuflichkeit übernimmt an dieser Stelle im Bereich des Kinderschutzes auch die Aufgaben, die über das Wahrnehmen, Erkennen und Überleiten von Kinderschutzfällen hinausgehen, also all das, was die Kompetenzen und Möglichkeiten des einzelnen Ehrenamtlichen ergänzt (Remke u. Bertels, 2020). Der direkte Kontakt vor Ort obliegt jedoch den Ehrenamtlichen. Kinder, Jugendliche sowie deren Eltern haben über die Jugendverbände oft über lange Jahre Kontakt, wohnen in räumlicher Nähe und haben gemeinsame Interessen und eine »gemeinsame Geschichte«. Rauschenbach (1993) spricht in ähnlichen Kontexten von der eigenen Betroffenheit. Jugendverbandsgruppen führen zumeist Gruppenstunden, Ferienfreizeiten und weitere Aktionen durch. Je nach Art des Verbandes sind die Altersgruppen heterogen zusammengestellt, in den meisten Fällen sind die Gruppen gemischtgeschlechtlich. Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz in diesem Handlungsfeld
Kinderschutz im Jugendverband unterliegt auch im ehrenamtlichen Kontext den gleichen rechtlichen Anforderungen wie im professionellen Kontext. Interne und externe Kooperation Auf der intrainstitutionellen Ebene bedarf es einer guten Erreichbarkeit von Ansprechpersonen, die für Kinderschutzthemen ausgebildet sind. Durch ihre Struktur beinhaltet die Jugendverbandsarbeit jedoch Herausforderungen: Jugendverbandsarbeit findet meist in den Nachmittags- und Abendstunden oder am Wochenende und in den Schulferien statt. Einige Jugendverbände installieren daher spezielle Angebote, bei denen in Ferienzeiten rund um die Uhr Ansprechpersonen für Kinderschutzfälle und sonstige Notfälle zur Verfügung stehen (vgl. z. B. DPSG Paderborn, 2021; DPSG Münster, 2021). Niedrigschwelligkeit Um Angebote im Kinderschutz erreichen zu können, benötigen die Leitungskräfte nicht selten niederschwellige, einfach zugängliche Unterstützungsmöglichkeiten. Leitende in Jugendverbänden sind Expert:innen für die ehrenamtliche Leitung von Kinder- und Jugendgruppen und sollten auch durch andere Fachkräfte in dieser Rolle angenommen werden. Sie benötigen bei Kontakten zu anderen Feldern der Sozialen Arbeit häufig mehr (hauptberufliche) Unterstützung, da die berufliche Kooperation bzw. das berufliche Netzwerken nicht zu ihrem Alltag gehört.
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Rollenklarheit Die hier beschriebene Kooperation zwischen den ehrenamtlich und den hauptberuflich Tätigen löst ein von Rauschenbach auf den Punkt gebrachtes Dilemma auf: Die hauptberuflich Tätigen wollen und dürfen das Ehrenamt nicht durch das deutliche Einbringen ihrer vermeintlich höheren Kompetenz abwerten, andererseits unterliegen die Hauptberuflichen einem Legitimationsdruck durch die Frage, weshalb sie eigentlich da sind, wenn sie sich nicht entscheidend gegenüber dem Ehrenamt abheben (Rauschenbach, 1993, S. 29). Liel und Rademaker (2020) beschreiben ebenfalls potenzielle Spannungen etwa im Bereich der konkreten Abgrenzung der Aufgabengebiete. Schlaugert (2010, S. 163) beschreibt in ihrer Übersicht über das Zusammenwirken von Hauptberuflichkeit und Ehrenamt treffend: »Professionelle Begleitung im Ehrenamt bietet, neben den gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, Schutz im Ehrenamt. Fachkräfte bieten Ehrenamtlichen in der Zusammenarbeit Hilfen und Unterstützung, um individuelle Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen, und schützen vor Überforderung.« So kann gelingen, was Heynen, Kiefl, Neudörfer und Reich (2019) beschreiben, indem sie darauf hinweisen, dass die Jugendämter in der Regel nicht in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen präsent sind und diese daher auf Unterstützung und Schutz von Personen angewiesen sind, die den Mädchen und Jungen nahestehen. Kinder- und Jugendgruppenleitende und ein eventuell vorhandenes System der Hauptberuflichkeit im Jugendverband können genau solche Personen sein. Sie ermöglichen Zugänge und bauen die notwendigen Brücken. Essenziell notwendig ist, dass Jugendverbände auch und insbesondere von der öffentlichen Jugendhilfe mitgedacht werden. Einbezug in professionelle Netzwerke Es ist definitiv nicht ausreichend, Vereinbarungen nach § 72a SGB VIII zu schließen, um die Jugendverbände in Bezug auf Schutzkonzepte und Einsichtnahme in die erweiterten Führungszeugnisse sowie die Inanspruchnahme von Beratung und Weiterleitung an die Jugendämter in die Pflicht zu nehmen. Die Träger verbandlicher Jugendarbeit sind ebenso wie beispielsweise Sportvereine in Netzwerke zu integrieren und kontinuierlich zu begleiten. Nur so können verlässliche, settingübergreifende Konzepte, die den schulischen und freizeitorientierten Lebensraum der Jugendlichen erreichen, etabliert und weiterentwickelt werden (vgl. Bathke, Bücken u. Fiegenbaum, 2018; Stöbe-Blossey, 2008). Thole, Retkowski und Schäuble (2012) verweisen darauf, dass die Zahl der Institutionen, die bisher
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in interdisziplinärer Zusammenarbeit im Kinderschutz aktiv waren, deutlich zu erweitern ist. Die Rahmenbedingungen der hier geforderten Kooperation unterscheiden sich von der Kooperation professioneller Systeme, wie etwa den Hilfen zur Erziehung, den Jugendämtern oder Schulen, weshalb ein gelinder Kinderschutz (im Jugendverband) elementar von der gegenseitigen Kenntnis der jeweiligen Aufgaben, Möglichkeiten und Personen abhängt (Heynen et al., 2019, S. 86). Unterstützende Strukturen Von einer Sensibilisierung für den Kinderschutz, über inhaltlich und terminlich passende Fortbildungen bis hin zum Aufbau von Unterstützungsstrukturen erfordert der Einbezug ehrenamtlich Tätiger spezifische Kompetenzen und eine hohe Flexibilität bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen wie beispielsweise Fortbildungen am Wochenende, in den Abendstunden, mit minderjährigen Teilnehmenden usw. »Freiwillig Engagierte in der Kinder- und Jugendarbeit sind wichtige Akteurinnen und Akteure im Hinblick auf Präventionsstrategien und -konzepte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt« (Remke u. Bertels, 2020, S. 65). Im Fallbeispiel zeigt sich, dass die Kooperation zwischen der Ortsgruppe mit den übergeordneten Ebenen in der Ausbildung wie auch bei der konkreten Intervention hilfreiche Inhalte vermitteln konnte. Ohne die dort geleistete »Übersetzungsarbeit« zwischen Jugendamt und Jugendverband laufen die jeweiligen Angebote Gefahr, nicht zueinanderzufinden. Jedes noch so gute Angebot verpufft dort, wo die Adressaten nicht erreicht werden. Da die Ehrenamtler:innen oft nicht in den Strukturen von Fortbildungen, Netzwerken und Gremien (teilweise nicht einmal in den Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII) beteiligt werden, bedarf es dieser Mittlerfunktion. Intra- und interinstitutionelle Kooperation wird durch Hauptberufliche in den Jugendverbänden unterstützt und getragen, damit Ehrenamt wirksam sein kann. Wie scheitert man am effektivsten? Scheitern im Kinderschutz wird sich in aller Regel durch ein »Nicht-tätig-Werden« darstellen. Das obige Fallbeispiel gibt Hinweise darauf, welche speziellen Faktoren auftreten können, die ein Scheitern begünstigen und zu den bereits identifizierten allgemeingültigen begünstigenden Faktoren einer Kinderwohlgefährdung hinzukommen. Zu nennen sind: Ȥ geschlossene Strukturen, rigides Leitungsverhalten, extreme Machtasymmetrien und Abhängigkeitsverhältnisse;
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Ȥ Gruppen, die Aktionen und Ferienfreizeiten ausschließlich im Rahmen der eigenen Gruppe durchführen, nicht im Austausch mit anderen Gruppen oder anderen Ebenen des jeweiligen Verbands sind; Ȥ persönliche Verwicklungen unter den Beteiligten in Paarbeziehungen, Familienstrukturen und Freundschaften; Ȥ mangelnde professionelle Ausbildung sowie individuelle persönliche Aspekte, ohne professionelle Supervision bzw. Intervision; Ȥ unreflektiertes Übernehmen von Traditionen (vgl. u. a. Rulofs, 2014). Pieper und Vobbe (2012) beschreiben den schmalen Grat bei oftmals lange tradierten Ritualen bei der Aufnahme in die Gruppe oder sogenannten Mutproben sowie bei Spielen, die »immer schon so gespielt wurden«, deren Inhalte aber Grenzen überschreiten und nicht zuletzt einen hohen Gewaltanteil haben können. Beispielhaft genannt werden das Festbinden an Bäumen oder das (fast) nackte Zur-Schau-Stellen, auch Nachtwanderungen mit derben vorgetäuschten Überfällen, Erzählungen, Entführung am Lagerfeuer und Ekelrituale wie das Essen von ungenießbaren Speisen. Auch sexualisierte Formen, wie Entkleidungs-»Spiele« in Form einer Kleiderkette, sind in den Jugendverbänden oftmals mindestens in der Erinnerung älterer Teilnehmer:innen noch präsent. Verzicht auf Hilfe und Unterstützung: Der Versuch, Kinderschutzfälle allein zu lösen, wird höchstwahrscheinlich (nicht nur im ehrenamtlichen Kontext) scheitern, da die Möglichkeit der inneren Distanz, gemeinsamer Reflexion, praktischen Unterstützung und auch der Integration von Ressourcen anderer Personen nahezu ausgeschlossen wird. Schweigen: Das Geheimhalten von stattgefundenen Übergriffen, das »Nichtsprechen« über Kinderschutzfälle hält den Mythos aufrecht, dass Fälle von sexueller Gewalt, Fälle von Kinderwohlgefährdung und sonstiger Gewalt gegen Kinder und Jugendliche »bestimmt nicht bei uns«, sondern irgendwo weit entfernt stattfinden. Es fehlen authentische, erreichbare und respektierte Personen, die von solchen Fällen berichten, die (selbstverständlich unter strenger Beachtung des Datenschutzes) sagen: »Ja, bei uns in der Gruppe hat es Fälle gegeben.« Denn öffentlich bekannt werden sie kaum, da nur in wenigen Fällen die Opfer oder ihre Angehörigen ihre Erfahrungen veröffentlichen (Enders, 2012, S. 2). Unklare Leitungsstrukturen: Die Leitung in den Ortsgruppen erfolgt oftmals durch Personen, die keinen beruflichen pädagogischen Background haben, was für die Arbeit im Jugendverband grundsätzlich gut und gewollt, an dieser Stelle jedoch vielleicht erschwerend ist. Dies machen sich teilweise auch
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Täter:innen im Bereich des sexuellen Missbrauchs zu Nutze, die explizit Kontakt als (ehrenamtlich) Beschäftigte zu Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit suchen (Enders, 2012). Beteiligung der Betroffenen
Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist ein primäres Merkmal der Jugendverbandsarbeit. Durch die gesetzliche Verankerung des Partizipationsgedankens wird dieses Grundprinzip gleichzeitig zur Pflicht (Krolzig-Matthei u. Voß, 2016). Kinder und Jugendliche in Jugendverbänden sind es gewohnt, über Inhalte mitzubestimmen. Mit dieser Kompetenz sind sie bei der Erstellung, Aktualisierung und praktischen Umsetzung von Schutzkonzepten zu beteiligen. Ihr Co-Produzententum ist an diesen Stellen unabdingbar (Domann, Eßer u. Rusack, 2017). Im Fallbeispiel erfolgte die Einbindung des Kindes Nik nur sehr begrenzt. Jugendleiter Arne versuchte, im Gespräch eine umgehende Verhaltensänderung Niks herbeizuführen. Dies gelang kurzfristig, führte jedoch nicht dazu, dass sich das Kind der Leitungskraft gegenüber offenbarte. Die Mutter wurde durch die Leitungskräfte ebenso einbezogen wie die Leitungsebene der Ortsgruppe, was sich positiv auf den Fortgang ausgewirkt hat.
Am Ende des Fallbeispiels wird noch ein Beteiligungsproblem aufgeworfen: die Rückmeldungen an Personen und Institutionen, die potenzielle Kindeswohlgefährdungen an die Jugendämter melden. Selbstverständlich ist der Datenschutz der beteiligten Familie hier ein hohes Gut, daher ist der systemische Einbezug der relevanten Personen offen zu thematisieren und um eine aktive Beteiligung der Eltern und Kinder sowie einen Informationsfluss zu werben. Die beteiligten Personen im Jugendverband wissen nicht, wie es nach ihrer Meldung weitergegangen ist, ob Hilfen installiert wurden oder wie ihre Meldung durch das Jugendamt bewertet wurde. Es ist unklar, ob sie der Familie mit der Meldung geholfen haben und ob die Familienmitglieder die Intervention als hilfreich bewerten. Welche Informationen genau zwischen Jugendamt und Jugendverband ausgetauscht wurden, ist eine wichtige Information für die Familien, um das Vertrauen nicht zu zerstören. Hier sind die einzelnen Mitarbeitenden aller Institutionen gefordert, konsequent und gesetzeskonform miteinander in Kontakt zu kommen. Durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz wurde 2021 festgelegt,
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dass die meldenden Berufsgeheimnisträger:innen stärker einbezogen werden und auch eine Rückmeldung über das Tätigwerden des Jugendamts erhalten. Ehrenamtliche Meldende sind bisher nicht berücksichtigt, was zu deutlichen Irritationen führen kann, wie am Ende des Fallbeispiels skizziert. Umso wichtiger ist es, auch wenn im konkreten Fall aufgrund fehlender Schweigepflichtsentbindung nicht möglich, zumindest fallunabhängig in Netzwerken und Arbeitsgemeinschaften eine hohe Transparenz über die gemeinsamen Angebote und Arbeitsweisen herzustellen. Praktische Methoden systemischer Kinderschutzarbeit und Selbstreflexion
Wolff, Fegert und Schröer (2015) zeigen, dass die Konzepte in den Einrichtungen oftmals nicht in der Zielgruppe ankommen. Eine Weiterentwicklung und vor allem eine praktische Füllung der Inhalte mit Übungen und Projekten zu Kinderrechten, persönlicher Abgrenzung, persönlichen Grenzen, (sexualisierter) Gewalt und nicht zuletzt selbstwirksamen Beteiligungsstrukturen ist notwendig, damit Schutzkonzepte mit Leben gefüllt werden und für die Beteiligten (be)greifbar und anwendbar sind. Um diesen hohen Anforderungen gerecht werden zu können, sind systemische Denk- und Handlungsweisen wie die Annahme des guten Grundes, des Nichtwissens, der Fehlerfreundlichkeit und insbesondere der Haltung, dass sowohl Kinder und Jugendliche als auch ehrenamtlich Tätige als jeweilige Experten ihrer Situation nicht bevormundet oder übergangen werden dürfen, wichtige Grundlagen. Ein Training on the Job findet oftmals in Praxisbegleitung bzw. Begleitung durch erfahrene Leitungsteam- und Vorstandsmitglieder statt. Rollenbilder, insbesondere auf das Geschlecht bezogen, sind zu hinterfragen und sehr flexibel auszulegen. In Jugendverbänden geschieht dies oft dadurch, dass sowohl traditionell eher männlich konnotierte Aufgaben wie Zeltaufbau und Feuermachen und eher weiblich konnotierte Aufgaben wir Kochen, Einkaufen oder Reinigung des Lagerplatzes von den allen Beteiligten gemeinsam wahrgenommen werden. Nach Remke und Bertels (2020) sind Einrichtungen mit starren Rollenbildern eher ein Ort, der sexualisierte Gewalt begünstigt, sodass auch in dieser flexiblen Rollengestaltung Präventionsinhalte deutlich werden. Systemisches (Hinter-)Fragen, Perspektivübernahme und der Aufbau einer lösungsorientierten Umgebung können für konkrete Veränderungen sorgen. Das Learning by Doing als Grundelement jugendverbandlichen und besonders pfadfinderischen Handelns ist ein wichtiges Element, das Beteiligte motiviert, gemeinsam aktiv zu werden und sich dabei im gegenseitigen Lernen weiterzuentwickeln.
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Präventive Schutzarbeit für die Kinder und Jugendlichen in der Institution
Auch im Jugendverband bedarf es mehrerer Maßnahmen, die erst in guter Abstimmung einen wirksamen Schutz darstellen. In Anlehnung an das Schweizer-Käse-Modell von Reason (1990) lässt sich verdeutlichen, wie Institutionen durch die geschickte Anordnung unterschiedlicher Maßnahmen wie Schulungen, Beschwerdemanagement, Öffentlichkeitsarbeit, Einsichtnahme in Führungszeugnisse, Reflexionen, Risikoanalysen und weitere ein Gefüge erschaffen, das möglichst wenig fehleranfällig ist, sich gegenseitig in seinen Aufgaben unterstützt bzw. gegenseitig Fehler ausgleicht. So lässt sich für die Jugendverbände konstatieren, dass eine hohe Aufmerksamkeit und Handlungsfähigkeit der Leiter:innen in der praktischen Arbeit vor Ort sicherlich den stärksten Aspekt im gelingenden Kinderschutz darstellt. Vorgelagert sind die geeignete Auswahl potenzieller Leitungskräfte (Thematisierung von Kinderschutzaspekten schon vor Aufnahme der Tätigkeit), der Ausschluss von nicht geeigneten Personen (Einsichtnahme in die erweiterten Führungszeugnisse) sowie eine institutionelle Rahmung dieser Aktivitäten durch Angebote des Beschwerdemanagements, der Reflexion und insbesondere spezifischer ehrenamtsorientierter Ausbildung und Begleitung für die Leitungskräfte (vgl. Remke u. Bertels, 2020). Insbesondere bei notwendigen Interventionen im Kinderschutz wird der Einbezug hauptberuflicher Unterstützung in aller Regel erforderlich sein. Selbstwirksamkeit, partnerschaftlicher Austausch, Partizipation auf allen Ebenen und Inhalte, die sich an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen orientieren, sind die Grundlage dafür, dass Übergriffe weniger stattfinden und durch Betroffene oder deren Peergroup zeitnah öffentlich gemacht werden. Sich gegenseitig zu unterstützen (und das auch in potenziell peinlichen Situationen), gelingt leichter, wenn es im Alltag erprobt ist. Wer gemeinsam tagelang wandert, Blasen an den Füßen versorgt und vielleicht auch eine Zecke an unangenehmer Stelle entfernt, schafft es hoffentlich häufiger, dieses Vertrauen auch im Kinderschutz zu leben und sich als vertrauenswürdiger Partner anzubieten. Dadurch, dass immer neue Situationen gemeinsam gelöst werden müssen, entsteht oftmals innerhalb der Gruppen eine Kultur der Achtsamkeit und des Aushandelns. Beispielhaft seien hier die Fragen von Nähe und Distanz (Wie richten wir die Zelte ein, wer schläft wo, wer geht zu welchen Zeiten duschen?) und auch der gegenseitigen Wahrnehmung persönlicher Grenzen (Welche Aktivität möchte ein Mitglied auf keinen Fall? Wie weit kann ich mit humorvoll gemeinten Aussagen gehen? Welche Spitznamen sind okay?) genannt, die in den Alltag von Jugendverbandsgruppen fortwährend einfließen.
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Ferner liegt in der passgenauen und risikobasierten Erarbeitung von Schutzkonzepten ein Schlüssel gelingender Prävention. Die Besonderheiten des Handlungsfelds der Jugend(verbands)arbeit, das geprägt ist von Freiwilligkeit, Ehrenamtlichkeit und Jugendlichen in verantwortlichen Positionen, müssen bei der Entwicklung einer solchen Strategie berücksichtigt werden (Steinbach, 2011). Eine fehlende Weiterentwicklung von erarbeiteten Schutzkonzepten behindert an dieser Stelle den begonnenen erfolgreichen Weg. Eine Befragung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM, 2019) von 2013 in den Jugendverbänden kam zu dem Ergebnis, dass zwar 27 % bereits ein Schutzkonzept erstellt hatten, jedoch 51 % der Meinung waren, sie hätten keinen weiteren Unterstützungsbedarf. Kinderschutz bedarf jedoch der prozesshaften kontinuierlichen Weiterentwicklung, um sich in Wirksamkeit und Durchdringung immer weiter zu verbessern und sowohl im präventiven als auch intervenierenden Sinne aus den gemeinsamen Erlebnissen heraus positive Erfahrungen zu ermöglichen. Literatur Bathke, S. A., Bücken, M., Fiegenbaum, D. (2019. Praxisbuch Kinderschutz interdisziplinär: Wie die Kooperation von Schule und Jugendhilfe gelingen kann. Wiesbaden: Springer VS. Böllert, K. (2017). Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden: Springer. Domann, S., Eßer, F., Rusack, T. (2017). Jugendliche und ihre Co-Produktion bei Schutzkonzepten. Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, 2, 56–60. DPSG Münster (2021). Informationen zum Notfall. Zugriff am 07.08.2022 unter http://www.dpsgmuenster.de/notfall/. DPSG Paderborn (2021). Informationen zum Notfallhandy. Zugriff am 07.08.2022 unter https:// www.dpsg-paderborn.de/mehr/notfallhandy/. Enders, U. (Hrsg.) (2012). Grenzen achten. Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Heynen, S., Kiefl, B., Neudörfer, N., Reich, W. (2019). Kinderschutz aus der Perspektive des öffentlichen Jugendhilfeträgers am Beispiel des Jugendamtes Stuttgart. Lernen und Lernstörungen, 8 (2), 77–86. https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000259. Krolzik-Matthei, K., Voß, H.-J. (2016). Gewalt kommt in den Blick: Über aktuelle Forschungen und Debatten. In A. Henningsen, E. Tuider, S. Timmermanns (Hrsg.), Sexualpädagogik kontrovers (S. 105–119). Weinheim: Beltz. Liel, K., Rademaker, A. L. (2020). Gesundheitsförderung und Prävention – Quo vadis Kinder- und Jugendhilfe? Weinheim: Beltz Juventa. Oeffling, Y. (2017). Nein sagen reicht nicht – Jugendarbeit braucht Schutzkonzepte! Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, 2, 61–65. Pieper, E., Vobbe, F. (2012). Das ist niemals witzig. Gewaltrituale in Jugend- und Sportverbänden. In U. Enders (Hrsg.), Grenzen achten. Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen (S. 158–180). Köln: Kiepenheuer & Witsch. Rauschenbach, T. (1993). Wo geht’s hin mit dem Ehrenamt? Zur Standortbestimmung eines zentralen Themas der Jugendverbandsarbeit. In Deutscher Bundesjugendring (Hrsg.), Viel Einsatz – wenig Ehre: Ehrenamtliche im Jugendverband – nicht entlohnen, aber belohnen (S. 17–36). Bonn. Zugriff am 05.06.2022 unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-37501.
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Reason, J. (1990). The contribution of latent human failures to the breakdown of complex systems. Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences. 327 (1241), 475–484. Doi: 10.1098/rstb.1990.0090. Remke, S., Bertels, G. (2020). Ehrenamtliche im Blick. Zielgruppe und Partner bei Prävention gegen sexualisierte Gewalt. In M. Wazlawik et al. (Hrsg.), Perspektiven auf sexualisierte Gewalt. Einsichten aus Forschung und Praxis (S. 65–82). Wiesbaden: Springer. Rulofs, B. (2014). Kinder und Jugendliche im Fußballsport schützen – Analyse der möglichen Risiken und besonders zu schützenden Bereiche in Bezug auf sexualisierte Gewalt. Bericht an den Deutschen Fußballbund. Zugriff am 05.06.2022 unter www.dfb.de/fileadmin/_dfbdam/55270DFB-_Risikoanalyse_ zur_sexualisierten_Gewalt_im_Fussball.pdf. Schlaugert, S. (2010). Soziales Ehrenamt. Motive freiwilliger sozialer Tätigkeiten unter Berücksichtigung der Hypothese einer bestehenden eigenen Betroffenheit als Auswahlkriterium in Bezug auf das Tätigkeitsfeld. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Steinbach, B. (2011). Die Struktur einer Organisation kann wirksamen Schutz bieten. Jugendpolitik, 37 (2), 23–25. Stöbe-Blossey, S. (2008). Verwaltungsmodernisierung im Jugendamt. IAQ-Report, 2. Doi: https:// doi.org/10.17185/duepublico/45626. Thole, W., Retkowski, A., Schäuble, B. (2012). Sorgende Arrangements. Kinderschutz zwischen Organisation und Familie. Weinheim: Beltz. UBSKM – Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2019). Stellungnahme des UBSKM zur Reform des SGB VIII – Wirksamer Kinderschutz anlässlich der 2. Sitzung der Arbeitsgruppe »SGB VIII: Mitreden-Mitgestalten« am 12. Februar 2019, Berlin. Zugriff am 07.08.2022 unter https://www.mitreden-mitgestalten.de/sites/default/files/downloads/abschlussbericht_-_anhang_2_0.pdf. Wolff, M., Fegert, J. M., Schröer, W (2015). Mindeststandards und Leitlinien der AG I des Runden Tisches. In J. M. Fegert, M. Wolff (Hrsg.), Kompendium »Sexueller Missbrauch in Institutionen« – Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention (S. 425–435). Weinheim: Beltz.
6 Fokus Hilfen zur Erziehung
6.1 Systemischer Kinderschutz in stationären Erziehungshilfeeinrichtungen Petra Hiller
Die Stiftung Overdyck betreut in unterschiedlichen stationären Settings Kinder im Vorschulalter bis zu jungen Menschen kurz vor der Volljährigkeit. In Wohngruppen und Schutzstellen, die mit unterschiedlichen Altersgruppen arbeiten, und in einer Notschlafstelle für Jugendliche, die im Schwerpunkt ihr Leben auf der Straße verbringen, stellen sich die Themen zum Kinderschutz sehr unterschiedlich dar. Jugendliche mit hochriskantem Verhalten (Drogenkonsum, Umgang mit Sexualität ohne Schutzmaßnahmen u. a.) lösen oft Gefühle von Hilflosigkeit bei den Helfern aus. Eltern vermeiden in ihren Ohnmachtsgefühlen die Kontakte zu ihren Kindern oder erwarten von den Helfern Antworten auf die Problemlagen. Bei sehr jungen Kindern, die Kindeswohlgefährdungssituationen erlebt haben, ist die Solidarität der Mitarbeitenden mit den betroffenen Kindern sehr groß, was aber bisweilen die Einfühlung in die Eltern erschwert. Sowohl die Gefahr des »Abgabemusters« von Eltern in den Fällen von Kindeswohlgefährdung im jugendlichen Alter mit hochriskantem Verhalten als auch die Gefahr des »Kampfmusters« mit Eltern bei sehr jungen Kindern stellt eine Erschwernis im konstruktiven und kooperativen Umgang mit Kindeswohlgefährdungen dar. Diese Muster zu vermeiden bzw. aufzulösen ist eine fachliche Herausforderung. In dem folgenden Fallbeispiel geht es ganz im Sinne einer systemischen Beratung um das Stärken der Ressourcen und Kompetenzen der Mutter und ihres sozialen Systems »Familie«. Die systemische Haltung der Mitarbeitenden drückt sich durch die Ressourcenorientierung und Lösungsorientierung aus.
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Umgang mit Kindeswohlgefährdung eines dreijährigen Jungen im Rahmen einer Inobhutnahmestelle/Diagnosegruppe Das hier dargestellte stationäre Angebot für Kinder gilt der Inobhutnahme aus einer familiären Krisensituation und einer damit verbundenen Kindeswohlgefährdung nach § 42 und im Bedarfsfall der Diagnose nach § 34 SGB VIII. Ziel ist stets die Stabilisierung des Kindes und – so weit möglich – die Unterstützung der Eltern, um eine Rückführung in die Herkunftsfamilie zu realisieren. Wenn diese Rückführung nicht möglich ist, gilt es – wo dies gelingt –, konsensual mit den Eltern nach einem alternativen längerfristigen Lebensort für das Kind zu suchen. Problembeschreibung Die Kindeseltern hatten sich schon vor der Geburt getrennt. Zu dem Kindesvater besteht bis heute kein Kontakt. Die Mutter hat eine psychische Erkrankung und laut Berichten unterschiedliche Diagnosen von Depression bis Borderline. Außerdem lebt sie von Hartz IV und ist teilweise auf Lebensmittel von der Tafel angewiesen. Philipp hatte in den ersten drei Lebensjahren immer wieder Phasen, in denen er an starkem Durchfall und Erbrechen litt. Die Kindesmutter konnte kaum auf seine Ernährung achten und reichte ihm bei Durchfall und Erbrechen keine Schonkost. Als Ressource für die Kindsmutter und Philipp stellt sich ein guter und unterstützender Kontakt zu den Eltern und der Schwester mütterlicherseits dar. Chronologie der Entwicklung Philipp war die ersten vier Wochen bei der Mutter und musste dann aufgrund einer psychiatrischen Einweisung der Mutter in eine Bereitschaftsfamilie. Als die Mutter aus der Klinik entlassen wurde, wurde ein ambulanter Dienst in der Familie eingesetzt, um zu überprüfen, ob die Mutter die Versorgung des Säuglings leisten kann. Die Wohnung war laut Berichten ungepflegt, und der Kindesmutter gelang es auch mit Unterstützung nicht, diese kleinkindgerecht zu gestalten. Es waren viele Katzen in der Wohnung und viele Gefahrenstellen für Philipp aufgrund des schlechten hygienischen Zustands der Wohnung. Die Kindesmutter war aufgrund der eigenen psychischen Erkrankung stark belastet. Da die Situation nicht zu stabilisieren war, zog die Mutter mit Philipp in eine Mutter-Kind-Einrichtung. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind sollte sich dort stabilisieren. Die Mutter sollte lernen, die kindlichen Bedürfnisse wahrzunehmen, eine kleinkindgerechte Ernährung durchführen, altersentsprechenden Grenzsetzung zu praktizieren, Spiel- und Förderangebote anzubieten, Außenaktivitäten zu initiieren etc. Da die Mutter weiterhin psychisch belastet war, konnte sie die Bedürfnisse ihres Kindes auch in dem Setting der Mutter-Kind-Einrichtung nicht ausreichend wahrnehmen und nicht auf Philipps Ernährung achten. Daher kam es zu mehreren
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Krankenhausaufenthalten des Kindes. Die Mutter-Kind-Einrichtung erlebte die Mutter als unzuverlässig und inkonsequent in ihrem Erziehungsverhalten. Dies führte letztlich zum Abbruch der Unterbringung in der Mutter-Kind-Einrichtung und zur Inobhutnahme des Kindes in unserer Einrichtung. Suche nach einer guten Lösung für Kind und Mutter Philipp wurde in Obhut genommen mit dem Ziel, in dieser Zeit ein Erziehungsfähigkeitsgutachten erstellen zu lassen, um zu klären, ob und wie eine gute Betreuung und Förderung von Philipp im familiären Setting sicherzustellen sei. Die Inobhutnahme fand in einer Inobhutnahme-/Diagnosegruppe unserer Einrichtung statt. Der Auftrag an die Gruppe war, den Kontakt zwischen Mutter und Kind weiter zu fördern, soweit es den Möglichkeiten der Mutter entsprach. Die Mitarbeitenden der Gruppe begegneten der Mutter sowohl im Aufnahmegespräch als auch nach der Aufnahme offen und neutral. Dies war für den Aufbau der Arbeitsbeziehung von zentraler Bedeutung, da aus ihrer Sicht die Mutter bislang stets durch die Mitarbeitenden des Jugendamts und die bisherigen Helfenden Forderungen, Ablehnung und Kritik erlebt hatte. Durch diese anfänglich neutrale Haltung konnten Ressourcen und Defizite in der Beziehungsgestaltung zum Kind erkannt und der Mutter kommuniziert werden. So gelang schnell ein guter Kontakt miteinander. Die Kindesmutter besuchte Philipp regelmäßig und pünktlich in der Einrichtung. Diese Verlässlichkeit wurde ihr als Ressource mitgeteilt, darüber hinaus war deutlich, dass die Mutter ihr Kind sehr liebte und diese Emotionalität auch zeigen konnte. Positive Rückmeldungen nahm die Mutter erfreut entgegen, dies machte auch das Sprechen über Defizite leichter. Zu Beginn war der Besuchskontakt einmal wöchentlich und wurde nach Rücksprache mit dem Jugendamt auf zweimal wöchentlich erweitert. Einer der wöchentlichen Besuchskontakte fand mit den Großeltern begleitet in der Einrichtung statt. Einer der Besuchskontakte war unbegleitet außerhalb der Einrichtung. Zusätzlich haben Philipp und seine Mutter per Videoanruf miteinander kommuniziert. Auch hier zeigte sich die emotionale Kompetenz der Mutter. Wir hatten in unserer Einrichtung bei der Einführung der Videoanrufe eine Fortbildung für Eltern mit Kleinkindern angeboten, in denen ihnen von einer Theaterpädagogin und einer Medienpädagogin konkrete Anregungen gegeben wurden, wie man mit Kindern im Rahmen von Videokontakten spielen und sich beschäftigen kann. Die Mutter von Philipp hatte aber schon vor unserem Fortbildungsangebot eigene Ideen entwickelt, wie sie den Kontakt per Video gestalten könnte. Neben kleinen Spielen las sie ihm z. B. auch Kinderbücher vor. Des Weiteren rief die Kindesmutter alle zwei Tage abends in der Einrichtung an, um sich nach dem Befinden von Philipp zu erkundigen und um sich mit den Mitarbeitenden auszutauschen. Dieser kontinuierliche Austausch stabilisierte die Arbeitsbeziehung.
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Der Kontakt zwischen den Großeltern und Philipp fand einmal wöchentlich statt. Die Kindesmutter vergewisserte sich bei gemeinsamen Gesprächen mit den Großeltern, wie sie ihr Verhalten erlebten, und bekam auch von ihnen zugewandte und offene Rückmeldungen. Die Großeltern waren auch häufig im Hintergrund bei den Video-Telefongesprächen und waren generell sehr präsent und stets unterstützend. Diese Präsenz zeigte auch die Schwester der Mutter im Verlauf der Unterbringung von Philipp. So konnte nicht nur mit der Mutter, sondern auch mit ihrem unterstützenden Familiensystem während des gesamten Betreuungsverlaufs gearbeitet werden. Die Kindesmutter konnte zunehmend Kritik und Vorschläge annehmen und versuchte meist, diese auch im nächsten Kontakt umzusetzen. Sie äußerte immer wieder den Wunsch, mit Philipp gemeinsam zu leben. In der Reflexion ihres Verhaltens konnte sie aber meist sehen, dass sie aufgrund ihrer eigenen Belastungen nur begrenzt Veränderungen verlässlich durchhalten konnte. Weiterhin konnte sie die Bedürfnisse ihres Kindes nicht gut einschätzen, sosehr sie sich auch darum bemühte. Neben der Arbeit mit der Familie wurde ein Kinderarzt um eine umfangreiche Diagnostik gebeten, um die wiederkehrenden Magen-Darm-Erkrankungen von Philipp zu klären. Die abschließende Diagnostik zeigte, dass Philipps Durchfälle und Erbrechen auf einen generell sehr empfindlichen Magen, aber im Besonderen auf eine Unverträglichkeit von Tomaten zurückzuführen waren. Trotzdem gelang es der Mutter in der Folgezeit nicht, auf eine entsprechend individuell angepasste kindgerechte Ernährung zu achten. Bei den Besuchen brachte die Mutter immer sehr viele Süßigkeiten, Döner etc. für Philipp mit, und entsprechend kritische Rückmeldungen dazu machten sie betroffen. Dies führte aber nur zu kurzfristigen Veränderungen, die bald wieder keine Relevanz mehr hatten. Die Mutter überschüttete Philipp regelmäßig mit Spielzeug, sodass das Zimmer in der Inobhutnahmestelle zunehmend überfüllt war. Auch hier konnte sie ihr Verhalten aus eigenem Antrieb nicht ändern, sondern konnte nur durch entsprechende Rückmeldungen Veränderungen vornehmen. Grenzsetzungen und altersangemessene Erwartungen fielen der Mutter in ihrer Liebe zu dem Kind und sicherlich auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erkrankung und damit verbundenen Defiziten in der Versorgung schwer. So war Philipp sehr bedürfnisorientiert, zeigte wenig Frustrationstoleranz und benötigte viel Unterstützung bei lebenspraktischen Fähigkeiten wie Ankleiden, Zähne putzen, Brot zubereiten. Er ließ sich auch kaum motivieren, den Versuch zu unternehmen, selbstständig z. B. die Socken anzuziehen. Gerne sagte er zu Anforderungen: »Ich schaffe das nicht.« Er lehnte es meist ab, auf die Toilette oder das Töpfchen zu gehen. Er meldete sich auch nicht, wenn er Stuhlgang in der Windel hatte. Letztlich lag das Erziehungsgutachten vor, in dem eine Rückkehr in den Haushalt der Mutter vorerst als nicht verantwortbar eingeschätzt wurde. Dieses ausstehende
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Erziehungsgutachten war während der gesamten Betreuungszeit eine Belastung, dessen Ergebnis die Mutter mit Sorge entgegensah. Nun begann die herausfordernde Aufgabe, trotz dieses enttäuschenden Ergebnisses mit der Mutter im Kontakt zu bleiben. Durch das wiederholte Sprechen über die psychischen Belastungen, die Enttäuschung über das Ergebnis des Erziehungsgutachtens und die Unterstützung der Großeltern in dieser Phase konnte letztlich auch die Schwester der Mutter bei den Perspektivgesprächen eingebunden werden. Gemeinsam begann die Suche nach einer guten Lösung, der die Mutter zustimmen konnte. Letztlich bot die Schwester der Mutter an, Philipp im Rahmen der Verwandtschaftspflege bei sich aufzunehmen. Da Philipp generell einen guten Kontakt zu seiner Tante hatte und auch die Mutter mit dieser Lösung einverstanden war, zog das Kind zu seiner Tante. Damit hat die Mutter weiterhin die Möglichkeit, Kontakt zu ihrem Kind zu haben, und gleichzeitig lag die Verantwortung bei einer Person ihres Vertrauens. Die anfänglich beschriebene Ressourcen- und Lösungsorientierung und Neutralität gegenüber der Mutter und den anderen Familienmitgliedern war eine zentrale Voraussetzung für den abschließend aus Sicht der Mutter gelungenen Prozess. Die Mitarbeitenden ergriffen keine Partei für oder gegen die Mutter und ihre Familie. Sie beurteilten nicht einzelne Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung als die zentral negativ zu beurteilenden, ohne auch ihre Stärken zu sehen. Sie nahmen die Problembeschreibungen der Mutter ernst und waren transparent und offen in den eigenen Problembeschreibungen. Diese Sichtweisen durften gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Problembeschreibungen waren kein Selbstzweck, sondern hatten das Ziel, Ressourcen zur Lösung zu finden. Die von der Familie gefundene Lösung der Verwandtschaftspflege wurde inhaltlich diskutiert, aber nicht infrage gestellt. Die fehlende Veränderung der Mutter im Hinblick auf Grenzsetzung wurde akzeptiert, und damit entstand nicht der Druck gegenüber der Mutter, Geschwindigkeit, Richtung und Ausprägung einer Veränderung zu zeigen. Ausgenommen von diesem fehlenden Veränderungsdruck war die Ernährungsfrage, da es dabei um den konkreten Aspekt des Kindeswohls, nämlich Philipps körperliche Gesundheit, ging. Ein Beispiel für systemischen Kinderschutz stellt dieser Fall dar, da die Mitarbeitenden keine konkreten Lösungen vorgeschlagen haben, sondern die Lösung aus einem Selbstreflexionsprozess der Familie entstanden ist.
Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz in diesem Handlungsfeld Grundsätzlich ist auch im Arbeitsfeld »stationäre Erziehungshilfe« eine gelingende Kooperation im Kinderschutz daran zu messen, ob die formulierten Qualitätsmerkmale in konkreten Kinderschutzfällen realisiert werden. Unabhängig von
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der Erfüllung von Qualitätskriterien für den Kinderschutz gibt es Entwicklungen, die den biografischen und aktuellen Lebensumständen geschuldet sind und deren Beeinflussbarkeit durch Fachkräfte eine natürliche Begrenzung erfährt. Einige Kriterien für dieses Gelingen seien hier exemplarisch genannt: Prozessqualität
Beteiligung ist die zentrale Haltung, die dem Prozess »Kinderschutz« zugrunde liegen muss. Dazu zählt, dass Eltern mit Transparenz, Klarheit und emotionaler Einfühlung begegnet werden muss. Nur wenn sie Selbstwirksamkeit im Hinblick auf den Hilfeprozess fühlen können, ist die Beteiligung gelungen. Entscheidend ist, ob man mit den Eltern gemeinsam eine Problemdefinition und Maßnahmen zur Abwendung des Problems erzielen kann. In dem vorliegenden Fall waren gemeinsame Problemdefinitionen durch immer wiederkehrende Reflexionen mit der Mutter zum Umgang mit Ernährungsfragen und mit notwendigen Grenzsetzungen herzustellen. Die liebende Mutter hatte ein großes Bedürfnis, die Wünsche ihres Kindes zu erfüllen. Es ist zu vermuten, dass ihre eigene psychische Erkrankung mit den entsprechenden Ausfallzeiten in der Versorgung des Kindes dieses Bedürfnis verstärkt hat. Philipp war es gewohnt, seine Wünsche erfüllt zu bekommen, und seine Frustrationstoleranz bei Grenzsetzungen war entsprechend gering. Ein Schutzplan muss sich von den konkreten Gefährdungsmerkmalen ableiten. Dabei ist zu akzeptieren, dass es verschiedene Wahrheiten im Hinblick auf die Einschätzung von Gefährdungen gibt, aber trotzdem ein Konsens über die konkreten Gefährdungsmerkmale zu erwirken ist. Schutz- und dazugehörige Kontrollmaßnahmen wurden der Mutter und ihren Familienangehörigen offen kommuniziert. Dies betraf sowohl Ernährungsfragen als auch die notwendigen Grenzsetzungen in Bezug auf das Kind. Es muss eine Vereinbarung mit den Sorgeberechtigten angestrebt werden, um – gemeinsam mit ihnen – das Gefährdungsrisiko abzubauen. Dazu müssen konkrete Handlungsschritte und verbindliche Zeiträume, in denen diese Handlungen und Änderungsprozesse vollzogen sein sollen, benannt werden. Diese Vereinbarung soll für die Kinder – altersadäquat – verständlich erklärt, transparent und nachvollziehbar sein. Dazu helfen folgende Fragen: Ȥ Können die Eltern wahrnehmen, dass eine Gefährdungssituation ihrer Kinder vorliegt? Ȥ Sind sie bereit, an der Abwendung weiterer Gefährdungen überprüfbar mitzuwirken? Ȥ Können sie das Vereinbarte umsetzen? Ȥ Können Kinder darauf hinweisen, dass Absprachen nicht eingehalten werden?
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Ȥ Wirken sich die Bemühungen positiv aus auf die Gefährdungslage des Kindes aus? Ȥ Sind kognitives Verständnis und Entwicklungsalter der Kinder berücksichtigt? Ȥ Sind für alle Beteiligten ausreichende Möglichkeiten der Kommunikation gegeben? Dazu gehört auch die notwendige Versachlichung des Themas »Kindeswohlgefährdung« durch einen guten Reflexionsprozess und die Entwicklung einer Perspektivenvielfalt unter Beteiligung mehrerer Fachkräfte zu den Risiko- und Schutzfaktoren. Der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung erzeugt in der Regel einen enormen emotionalen Druck und Unsicherheit. Gefühle wie Empörung und Hilflosigkeit sind nicht selten. Daher ist das Trennen des Tatbestands von Bewertungen ein wichtiger Bestandteil der Versachlichung. In dem beschriebenen Fall war es Aufgabe des Teams, die Versachlichung der Sichtweise auf die Defizite der Mutter und das Erkennen von Ressourcen der zuständigen Sozialarbeiterin des Jugendamts zu vermitteln. Diese hatte bislang nach eigenen Aussagen nur negative Rückmeldungen von den vorher tätigen Helfersystemen erhalten. Es benötigt Vertrauen in Veränderungsfähigkeit und Wissen darum, dass Kinderschutz immer ein Handeln mit Unsicherheitsfaktoren bezüglich der Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen bleibt. Daher ist die Reflexion während des gesamten Prozesses von entscheidender Bedeutung, um immer wieder auch Korrekturen vornehmen zu können. So war es in unserem Beispiel anfänglich noch die Frage, ob eine Rückkehr in den mütterlichen Haushalt eine realistische Per spektive ist. Zum Ende war dann deutlich, dass nur die Verwandtenpflege mithilfe der Tante eine Lösung darstellt, die auch die Mutter akzeptieren kann. Ein klarer Beginn und ein klares Ende eines Prozesses im Kontext von § 8a ist von großer Bedeutung. Es gibt seit mehreren Jahren eine Fallkonferenz, in der ein Team unserer Einrichtung gemeinsam mit einer Gruppe von Mitarbeitenden des Jugendamts gescheiterte ambulante Fälle unter Beteiligung eines Moderators reflektiert. Dort wurde u. a. festgestellt, dass §-8a-Verfahren häufiger misslingen, wenn es eine Unklarheit darüber gibt, wann der Prozess beginnt und wann er abgeschlossen ist. In der stationären Unterbringung von Philipp war dieser zeitliche Rahmen durch die vereinbarte Hilfe gesetzt. Dokumentationsvorgaben und deren Überprüfung sind von zentraler Bedeutung. So werden in unserer Einrichtung in jedem Arbeitsbereich einmal jährlich zwei Akten nach dem Zufallsprinzip gezogen, um diese u. a. auch im Hinblick auf nachvollziehbare Dokumentation von Kindesschutz und Kindeswohlgefährdung zu überprüfen. Zwischenbericht und Abschlussbericht zu Philipps Entwicklung wurden von den Gruppenmitarbeitenden angefertigt und von
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der zuständigen Bereichsleitung Korrektur gelesen. Dies ist notwendig, da in Berichten immer wieder auf die Trennung von Sachverhalten und Bewertungen geachtet werden muss. Das Einbeziehen anderer Stellen muss mit den sorgeberechtigten Eltern abgesprochen werden. Dabei ist auch darauf zu achten, dass bei eingeschränktem Sorgerecht (z. B. Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts) die übrigen Rechte von Eltern gewahrt bleiben. In der Praxis wird gemäß einer Umfrage in unserer Einrichtung dies oft nicht ausreichend beachtet. In dem hier dargestellten Fall wurde nur der Kinderarzt mit der Diagnostik der somatischen Probleme von Philipp beauftragt. Weitere ergänzende Maßnahmen und damit der Einbezug von anderen Institutionen waren nicht notwendig. In anderen Fallkonstellationen werden auch andere Institutionen zur Gefähr dungseinschätzung hinzugezogen (z. B. Beratungsstellen gegen sexuelle Gewalt, Schulen, Erziehungsberatungsstellen, Kinder- und Jugendtherapeut:innen). Wichtig ist grundsätzlich, dass damit nicht die Verantwortung für den Prozess an andere delegiert wird, sondern die Verantwortung trotzdem bei den Prozessverantwortlichen unserer Einrichtung bleibt. Die Hinzuziehung anderer ist ein Zugewinn an Kompetenz und muss für die Reflexion eigener Entscheidungen genutzt werden. Die Kommunikation so zu gestalten, dass die einbezogenen Institutionen nicht widersprüchlich handeln, ist eine große Herausforderung. Besonders herausfordernd für die weitere Kommunikation mit Eltern sind die Einbeziehung der Polizei zur Anzeige einer Kindeswohlgefährdung, die Einschaltung des Familiengerichts und die Inobhutnahme gegen den Willen der Eltern. Über diese Maßnahmen und deren Begründungen müssen die Eltern informiert sein. So viel Transparenz wie möglich verhindert nicht das grundsätzliche Konfliktpotenzial, hilft aber, das Gefühl von Hilflosigkeit zu reduzieren. Dies zeigte sich auch im Fall von Philipp. Als das Familiengericht aufgrund des vorliegenden Erziehungsgutachtens entschied, dass Philipp nicht in den mütterlichen Haushalt zurückkehren kann, war eine sehr kritische Phase in der Zusammenarbeit mit der Mutter. In dieser Krisensituation erwies sich die Stabilität der Arbeitsbeziehung zwischen Mutter und Team. Strukturqualität
Die Strukturqualität zeichnet sich einerseits innerhalb der Einrichtung durch Fortbildung und Beratung der Mitarbeitenden zu Kinderschutzfragen aus. Alle Mitarbeitenden erhalten bei der Einstellung und darüber hinaus wiederkehrend nach Bedarf eine Fortbildung zum Umfang mit Kindeswohlgefährdung. Darüber hinaus gibt es 14 einrichtungsinterne Fachkräfte, die als »insofern erfahrene Fach-
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kraft« (InsoFa) qualifiziert sind, um die Kompetenz zum Kinderschutz möglichst breit in der Einrichtung zu etablieren. Die Bereichsleitungen sind verpflichtet, eine Ausbildung als InsoFa zu absolvieren. Supervision zur Fallberatung über die Teamberatung hinaus kann in schwierigen Einzelfällen vereinbart werden. Die Teilnahme an Arbeitskreisen zum Kinderschutz wie »Netzwerk gegen häusliche Gewalt« und »Qualitätszirkel Kinderschutz« auf städtischer Ebene ist bedeutsam, um die Kooperationsstrukturen zu kennen, nutzen und mitgestalten zu können. Klare Vorgaben im Qualitätshandbuch zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung und zu Präventionsmaßnahmen sind eine wichtige Orientierung für Mitarbeitende. Auch muss der Kinderschutz immer wieder Teil des Qualitätsdialogs mit dem Jugendamt sein. Dabei sind die gemeinsamen Fallbesprechungen von Jugendamtsmitarbeitenden und Mitarbeitenden unserer Einrichtung zu misslungenen Fallbearbeitungen im Kinderschutz wichtig. Die strukturelle Zusammenarbeit mit dem Jugendamt ist über eine Generalvereinbarung geregelt. Ergebnisqualität
Die Qualitätskriterien für ein gutes Ergebnis der stationären Hilfe zur Erziehung sind fallspezifisch zu werten und orientieren sich an dem, was sich für die Adressatinnen und Adressaten als hilfreich und nachhaltig erweist. In diesem Zusammenhang sind die Kinder und Jugendlichen grundsätzlich in ihren Beziehungs- und Bindungskontexten zu ihren Familien zu sehen. Im Fall Philipp von hat die Mutter hat im Ergebnis erlebt, dass sie von Mitarbeitenden in ihrem Wunsch nach dem Besten für ihr Kind ernst genommen wird. Daraus hat sich eine stabile Arbeitsbeziehung entwickeln können, sodass die Krise, die durch die Inhalte des Erziehungsgutachtens ausgelöst wurde, gemeinsam bewältigt werden konnte. Das Ergebnis, dass die leibliche Mutter einer Unterbringung ihres Kindes in einer Verwandtschaftspflege zustimmen konnte, ist erfreulich. Auch die Bereitschaft der Pflegemutter, die leibliche Mutter weiterhin in die Entwicklung ihres Kindes einzubeziehen, ist wichtig für den von der Mutter erlebten Erfolg des Abschlusses der Hilfemaß nahme.
Wie scheitert man am effektivsten? Ȥ Scheitern ist am sichersten, wenn man bei unterschiedlichen Einschätzungen zur Kindeswohlgefährdung den jeweils anderen (Jugendamt, Vormund und Träger der stationären Erziehungshilfe u. a.) abwertet, indem man unterstellt, dass das Gegenüber einfach fachlich inkompetent sei.
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Ȥ Auch ungeklärte Aufgabenteilungen oder Delegation von Aufgaben ohne ausreichende Absprache darüber können zu sehr schwierigen Dynamiken führen. Ȥ Geheime Botschaften und gemeine Kontrollaufträge erschweren die Zusammenarbeit mit der Familie und sind daher unbedingt zu vermeiden. Ȥ Ein fehlender Anfang bzw. eine fehlende Definition des Endes des §-8a- Prozesses führt zu einem Scheitern. Diese Liste kann fortgeführt werden, indem man die aufgeführten wichtigen Aspekte guten Kinderschutzes umkehrt. So kann man scheitern durch fehlende Wertschätzung, durch fehlende Suche nach Ressourcen, durch fehlende Offenheit im Umgang mit Defiziten, durch fehlende Reflexion des fachlichen Handelns oder durch fehlende Kooperation mit anderen Institutionen. Beteiligung der Betroffenen Eltern und Kinder bzw. Jugendliche sind nicht Objekte unserer professionellen Analyse, sondern nehmen Einfluss auf die Auswahl der geeigneten Hilfen und die Bewertung der Sachverhalte. Das Einbeziehen der Betroffenen in die fachlichen Beurteilungen gehört daher grundsätzlich untrennbar zur Hilfe sowie zur Hilfebeziehung und ist entscheidendes Merkmal der sozialpädagogischen Qualität unserer Arbeit. Auch bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung sind die Personensorgeberechtigten und ab Vollendung des dritten Lebensjahres die Kinder und Jugendlichen selbst daher grundsätzlich in die Abschätzung des Risikos und die Abwendung einer Gefährdung einzubeziehen. Sie sind zu beraten und zu unterstützen, damit sie kompetent und eigenverantwortlich Entscheidungen zum Wohl ihrer Kinder treffen können. Der individuelle Entwicklungsstand der Kinder muss berücksichtigt werden. Falls über die von uns zur Verfügung gestellte Unterstützungsmaßnahme hinaus Hilfen im Rahmen der vom Jugendamt zu bewilligenden Hilfen zur Erziehung notwendig sind, sollten die Eltern dazu angehalten werden, mit diesem Wunsch selbst beim Jugendamt vorstellig zu werden. Präventive Schutzarbeit für die Kinder und Jugendlichen in der Institution Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, wie die Maßnahmen zum Kinderschutz strukturell in der Einrichtung verankert sind. Neben der Generalvereinbarung und dem damit verbundenen Gefährdungseinschätzungsbogen und Kindeswohlgefährdungs-Meldebogen zum Kinderschutz mit dem Jugendamt
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Bochum als zuständigem Hauptkostenträger gibt es eine Vielzahl weiterer einrichtungsinterner Maßnahmen. Zentral ist die Verfahrensanweisung für den Umgang mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung im Qualitätshandbuch inklusive der Aspekte von Dokumentation und Datenschutz. Jede Meldung an das Jugendamt wird von einer Leitungskraft im Hinblick auf Beteiligung der Eltern, des Kindes und ausreichende Reflexion im Team mit Leitung und InsoFa und sich daraus ableitende Maßnahmen überprüft. Präventive Maßnahmen zum Kinderschutz in unserer Einrichtung sind vor allem: Ȥ Hinweis in Stellenbeschreibungen auf unser Engagement gegen sexuelle Gewalt, um problematischen Bewerbern mit pädophilen Interessen schon im Vorfeld der Bewerbung deutlich zu machen, dass wir einen Blick auf diese Problematik haben. Zitat Stellenausschreibung: »Wir engagieren uns für die Rechte und für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sowie gegen sexuelle Misshandlung und Gewalt«; Ȥ Erreichbarkeit der Leitung rund um die Uhr, um im akuten Krisenfall Beratung zu gewährleisten; Ȥ regelmäßig wiederkehrende Gespräche zu den Lebensbedingungen und damit verbundenen Kritikpunkten in der Gruppe der Kinder bzw. Jugendlichen mit einer Leitungskraft, bei dem die in der Gruppe tätigen Mitarbeitenden nicht anwesend sind; Ȥ Selbstverpflichtungserklärung der Mitarbeitenden zur Verantwortung im Kinderschutz; Ȥ ethische Vorgaben im Leitbild wie der Umgang mit Macht und mit Diversität; Ȥ Entlastungs- und Reflexionsangebote für überlastete Mitarbeitende aufgrund der Bewältigung akuter Krisensituationen; Ȥ jährlich wiederkehrende Risikoanalyse jedes Arbeitsbereichs im Hinblick auf Gefährdungskriterien für das Kindeswohl; Ȥ sexualpädagogische Angebote; Ȥ medienpädagogische Angebote; Ȥ Fallbesprechungen über gescheiterte Fälle mit der zuständigen Gruppe des Jugendamts in einem ambulanten stadtteilorientierten Hilfezentrum unter Moderation eines Hochschulprofessors oder einer Hochschulprofessorin, um aus dem Scheitern für die Zukunft zu lernen; Ȥ Angebote zu kollegialen Fallbesprechungen und Weiterentwicklung sowie Fortbildung zu Methoden der Fallarbeit; Ȥ inklusiv angelegte Beschwerdewege, die auch fehlende Lesekompetenz berücksichtigen (Nutzung von Piktogrammen);
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Ȥ jährliche Evaluationsauswertung von Beschwerden und Lob, die Eltern, Kinder und Jugendämter an uns herangetragen haben; Ȥ Beteiligungsseminare, in denen das Schutzkonzept der Einrichtung und das Thema »Vertrauen« mit den Kindern und Jugendlichen diskutiert wird. Literatur Landschaftsverband Rheinland Landschaftsverband Westfalen Lippe, LVR-Landesjugendamt Rheinland (Hrsg.) (2015). Empfehlung Schutzauftrag. Gelingensfaktoren bei der Wahrnehmung des Schutzauftrags gemäß § 8a SGB VIII – Empfehlung für Jugendämter. Köln u. Münster: Landschaftsverband Rheinland Landschaftsverband Westfalen Lippe, LVR-Landesjugendamt Rheinland.
6.2 Kinderschutz in teilstationären Settings – Tagesgruppen als gemeinsamer Lernort für Eltern und Kinder Tabea Karla
Familie F. besuchte die Tagesgruppe auf Anraten der zuvor betreuenden flexiblen Erziehungshilfe. Die sozialpädagogische Fachkraft stellte fest, dass die ambulante Hilfe nicht ausreichte, um die Familie zu unterstützen. Der Kindesvater nahm den Vorschlag gerne an, da er das Verhalten seiner Tochter als äußert schwierig empfand und sich zudem für sein Kind wünschte, sich im Kontakt mit anderen Kindern besser behaupten zu können. Die siebenjährige Katja zeigte eine sehr bunte Symptomatik. Unter die Verhaltensauffälligkeiten fielen u. a. Autoaggression, Stottern, Enkopresis (Einkoten), oppositionelles Verhalten, dissoziales Verhalten und ein geringer Selbstwert. Sie lebte im Haushalt des Vaters. Die Kindesmutter hatte regelmäßig Kontakt zu ihrer Tochter. Bei dem Vater wurde von einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung berichtet, bei der Mutter von einer Depression. Das Elternpaar kommunizierte nur sporadisch infolge einer hochkonflikthaften Trennung. Zwischen Vater und Tochter wurden destruktive Interaktionsmuster beobachtet und von beiden Seiten berichtet. Zu den Helfenden gehörten die Mitarbeitenden der Tagesgruppe, Sozialarbeiter:innen des Jugendamts, Fachkräfte aus der Schule, einer Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, der Ambulanz einer KJP-Klinik sowie des Ambulant Betreuten Wohnens.
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Arbeitskontext Die Grundlage für die Hilfe zur Erziehung in einer Tagesgruppe bildet der § 27 in Verbindung mit § 32 oder § 35a SGB VIII. In der Regel stellen Eltern den Antrag auf Hilfen zur Erziehung beim zuständigen Jugendamt aus eigener Motivation und dem Wunsch nach Unterstützung oder nach dem Appell von Mitarbeitenden aus Kindergarten, Schule oder einer anderen bereits installierten Hilfe. In seltenen Fällen müssen die Eltern die Leistung aufgrund einer gerichtlichen Weisung in Anspruch nehmen. Laut Gesetzgebung soll die Entwicklung des Kindes unterstützt und dadurch sein Verbleib in der Familie gesichert werden. Soziales Lernen in der Gruppe, die Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit sind dafür explizit vorgesehen. Eine Besonderheit der hier vorgestellten Einrichtung stellt die Multifamilienarbeit und -therapie (MFT; Asen u. Scholz, 2017)1 neben den Säulen der pädagogischen Arbeit mit der Kindergruppe und der beraterisch-therapeutischen Arbeit mit der einzelnen Familie dar. Die Tagesgruppe ist per se eine Familientagesgruppe, in der Eltern und Kind gemeinsam lernen. Die Wochenstruktur ist darauf ausgerichtet, dass Eltern mindestens einmal wöchentlich bis hin zu täglich anwesend sind und ihre Kinder begleiten. Die Tagesgruppe ist durch das teilstationäre Setting während des auf etwa zwei Jahre angelegten Hilfeprozesses in das Leben und den Alltag der Familien eingeflochten. Die Kinder werden nach Schulschluss bis zum Nachmittag betreut. Dadurch ergeben sich vielfältige Schnittstellen mit anderen Institutionen und Personen, die ebenfalls eine Rolle im Leben der Familien spielen. Eine Übersicht findet sich in Tabelle 1. Wenn möglich, finden externe Therapien, wie Logopädie oder Ergotherapie, in den Räumlichkeiten der Tagesgruppe statt. Dies hat den Vorteil, dass zusätzliche Wege für die Familien vermieden werden, Eltern einen weiteren Grund haben, in die Tagesgruppe zu kommen, und sich ein kurzer Weg für den Austausch ergibt.
1
Die MFT basiert auf einem aus England stammenden pädagogisch-therapeutischen Konzept. Sie kann als systemische Gruppentherapie mit Familien verstanden werden. Familien können im Austausch erlebnisorientiert Solidarität erleben und voneinander lernen. Die Verantwortungsübergabe an die Eltern ist dabei ein wichtiges Prinzip. Beispielsweise können entstandene unzufriedenstellende Eltern-Kind-Interaktionen genutzt werden, indem sie mithilfe der anderen Familien genauer betrachtet werden und so für alle zum Verstehens- und Lösungsprozess beitragen.
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Tabelle 1: Mögliche Berührungspunkte und Kooperationsstellen einer Tagesgruppe Jugendhilfe o. Ä.
Schule
Gesundheitswesen
Privates Umfeld/ Sozialraum
Jugendamt
Lehrende
Kinderärzt:innen
Verwandte
Flexible Erziehe rische Hilfen
Schulleitung
Logopäd:innen
Offene Jugendarbeit
Erziehungs beratungsstellen
Sonder pädagog:innen
Kinder- und Jugendpsychiatrie (stationär, ambulant)
Sportverein
Verfahrensbeistandschaft
Erzieher:innen im Ganztag und in der 8–13-Betreuung
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen
Kirchengemeinde
Fachkräfte im begleiteten Umgang
Schulsozialarbeiter:innen
Ergotherapeut:innen
Nachbarschaft
Kindergarten
Lernförderung
Psychothera peut:innen (Eltern)
Familien von Mitschüler:innen
Gutachter:innen
Integrationsdienst
Psychiatrie (Eltern)
Schuldnerberatung
Familiengericht
Ambulant Betreutes Wohnen (Eltern)
Polizei
Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz in diesem Handlungsfeld Kooperation macht in vielerlei Hinsicht Sinn, den es zu verdeutlichen gilt: Mit ihrer Hilfe kann der Möglichkeitsraum erweitert werden. So wird der Kontextbezogenheit Rechnung getragen, es werden weitere Ressourcen erschlossen und außerdem andere Fach- sowie Sachkompetenzen hinzugezogen. Es geht nicht darum, die Zahl der Kooperationspartner beliebig und größtmöglich zu erhöhen, sondern mit den schon vorhandenen eine Basis zu schaffen. Wenn andere Helfer:innen parallel mit einer Familie arbeiten, können auch bei sehr professionellen Fachkräften Bewertungen oder Unverständnis für fremde Herangehensweisen auftauchen. Verschiedene Berufsgruppen und auch Persönlichkeiten können natürlicherweise verschiedene Schwerpunkte legen und durch unterschiedliche Informationen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aus diesen Gründen ist ein Respekt vor und Neugierde auf andere Sichtweisen erforderlich. Mit dem gegenseitigen Vorstellen der jeweiligen Arbeitskontexte und Klarheit über Auftrag, Zielvorstellungen, Erwartungen, Möglichkeiten und Grenzen sind gute Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit geschaffen.
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Die pragmatischste Vorgehensweise ist es, die Klient:innen zu Terminen mit externen Helfer:innen zu begleiten. Alle Beteiligten profitieren für die eigene Arbeit mit den Klient:innen davon, anschlussfähige Hypothesen oder auch vertraute Bezeichnungen zu kennen. Ein hilfreicher Nebeneffekt ist die Möglichkeit, die betreuten Familien in unterschiedlichen Settings und Konstellationen zu erleben, um ihre Lebensrealität, ihren Antrieb und ihre Bedürfnisse umfänglich verstehen zu können. Genauso sind andere Helfende jederzeit eingeladen, die Arbeit in der Tagesgruppe vor Ort kennenzulernen und die Familie in der Einrichtung zu besuchen. Das Jugendamt ist als Auftraggeber häufig eine zentrale Schnittstelle. Die einzelnen Helfersysteme stehen zunächst einmal gleichrangig nebeneinander. Und doch hat die Tagesgruppe eine besondere Stellung. Hierzu trägt der benannte Auftrag der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen bei (LVR-Landesjugendamt, 2008). Die hochfrequenten und andauernden Kontakte zwischen Tagesgruppe und Familie sorgen zusätzlich dafür, dass die Tagesgruppenmitarbeitenden manchmal die Einzigen sind, die eine Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber den Mitarbeitenden des Jugendamts erhalten. Daraus ergibt sich ein Informationsvorsprung oder – anders formuliert – eine Informationsmacht und eine Vermittler- oder Koordinationsaufgabe und -verantwortung, die mit größtmöglicher Transparenz angegangen werden muss. Nur mittels dieses dialogischen, reflexiven Fallmanagements kann die Jugendhilfe dem Kinderschutz als professionsübergreifender Aufgabe gerecht werden. Wie scheitert man am effektivsten? Im Kinderschutz zu scheitern, bedeutet für Fachkräfte in der Tagesgruppe primär, dass eine Zusammenarbeit mit den Eltern nicht gelingt. Dies hat entweder den Abbruch der Hilfe zur Folge oder eine Fortführung der Hilfe, bei der ein Loyalitätskonflikt des Kindes nicht ausgeschlossen werden kann. In beiden Fällen wird das Scheitern zum zusätzlichen Risikofaktor für das betroffene Kind. Hierbei erscheint der Hinweis auf einen Unterschied wichtig: Die Beendigung der teilstationären Hilfe und der Wechsel in eine stationäre Hilfe soll nicht als ein solcher Abbruch verstanden werden. Wenn Eltern eigenverantwortlich entscheiden, dass sie das Wohl ihres Kindes zu diesem Zeitpunkt nicht sicherstellen können, und den Prozess der Fremdunterbringung (mit Unterstützung) begleiten, ist ein wertvoller Schritt zumindest für eine aktuell beste Lösung getan. Wenn dies jedoch nicht geschieht und es dazu an Kooperation im Helfersystem und einem gemeinsamen Fallverstehen mangelt, fällt ein Kind durchs Netz. Folgeabbrüche, sogenannte »Abbruchkarrieren«, sind dann wahrscheinlich.
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Ein Fallstrick, der ein Scheitern nach sich ziehen kann und beim Blick auf Abhängigkeitsverhältnisse womöglich naheliegt, ist der Verlust der Allparteilichkeit. Die Einteilung der Betroffenen in »gut« und »böse« ist auf mehreren Ebenen möglich: im familiären System auf der Geschwisterebene, auf der Erwachsenenebene, zwischen den Generationen und genauso auf der Ebene der Helfenden. Ein Demoralisieren anstatt des Prinzips des guten Grundes und der Anerkennung von Bewältigungsversuchen, von Entstehungs- und Aufrechterhaltungszusammenhängen ist das Gegenteil von Empowerment. Die Fehlersuche in der Biografie der Eltern kann ähnliche Auswirkungen haben. Die alleinige Arbeit mit dem Kind kann den Blick für das Gesamtgefüge einschränken. Gleiches gilt für die Idee, allein in der Fallarbeit zu sein. Das Vernachlässigen des professionellen Netzwerks (innerhalb und außerhalb des eigenen Teams) birgt die Gefahr, in die Rolle des einsamen Retters oder der einsamen Retterin zu geraten, aus der heraus eine Metaposition nur schwer möglich ist. Doch gerade in Fällen von Kindeswohlgefährdung ist die Reflexion darüber, wann Neutralität erforderlich ist und wann bewusst Abstand davon genommen und parteilich gehandelt werden muss, enorm wichtig. Beteiligung der Betroffenen In der Arbeit mit hilfesuchenden Menschen ist Kooperation im Sinne von »Zusammenwirken« eine Voraussetzung für vertrauensvolles und effizientes Arbeiten. Ein gegenseitiges Abstimmen von der Auftragsklärung bis hin zur Krisenintervention ist also obligatorisch. Individuelle Absprachen mit den jeweiligen regional Zuständigen des Jugendamts können einen Kontakt und damit die Zusammen- und Beziehungsarbeit bereits vor Antragstellung ermöglichen. Eine Übereinkunft mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst kann z. B. darin bestehen, dass interessierte Eltern(teile) die Tagesgruppe »auf eigene Faust« und vor allem unverbindlich kennenlernen dürfen, noch bevor es Kontakt zur fallführenden Sozialarbeiterin oder zum fallführenden Sozialarbeiter des Jugendamts gibt. Dabei handelt es sich ausdrücklich nur um die Vorstellung einer möglichen Hilfeform und ihrer Fachkräfte, mit der mögliche Ängste abgebaut und der Weg in die Jugendhilfe erleichtert werden können. Die Einschätzung über die geeignete Hilfeform wird nach wie vor an anderer Stelle vorgenommen. Die Familien, die die Tagesgruppe besuchen, entwickeln grundsätzlich den Hilfeprozess gemeinsam mit den Mitarbeitenden. Aufgrund der strukturellen Vielfalt der Hilfeform Tagesgruppe und der sich daraus ergebenden Fülle an Möglichkeiten (s. Abbildung 1) kann individuell vorgegangen und die Ausgangslage der Familienmitglieder berücksichtigt werden. So können die ersten
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Schritte beispielsweise je nach Motivations- oder Belastungsgrad unterschiedlich aussehen. Zu Beginn der Hilfe gehört es dazu, über Kinderschutz und Geheimnisse zu sprechen. Zur Kontraktbildung wird sowohl mit dem Kind als auch mit den Bezugspersonen über das Thema Schweigepflicht gesprochen. Die Betroffenen wissen, dass Informationen innerhalb des Tagesgruppenteams geteilt werden und davon nur in Ausnahmefällen abgesehen wird, was wiederum transparent geschieht. Für eine vertrauensvolle Basis mit dem Kind kann es nützlich sein, die Erlaubnis für Geheimnisse bei den erwachsenen Beteiligten einzuholen und gemeinsam zu definieren. Die Familien sollen jederzeit das »Wozu« der Methoden, Handlungen und Entscheidungen der Fachkräfte kennen. Gespräche mit anderen Personen, in denen die Familie Thema ist, finden in aller Regel nur in Anwesenheit der Betroffenen statt. Bei aus Kinderschutzperspektive notwendigen Einschränkungen werden die Familienmitglieder mindestens in das weitere Vorgehen einbezogen und haben Kenntnis über die Kontaktaufnahme zu Dritten sowie über den geplanten Inhalt. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass es für die große Mehrheit der Akteure in Hilfesystemen selbstverständlich ist, alle Gespräche im Beisein der Familie zu führen. Grenzen der Beteiligung ergeben sich aus der Tatsache, dass die Tagesgruppe ein sicherer Ort für die Kinder sein muss. Somit ist eine Arbeit mit nicht sorgeberechtigten Personen, wie etwa leiblichen Elternteilen, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht präsent waren, bei denen die Motivation und Perspektive oder beispielsweise auch aktueller Sub stanzkonsum unklar sind, zumindest in den Räumlichkeiten der Gruppe ausgeschlossen. Anders verhält es sich mit Personen, zu denen das Kind eine stabile Beziehung hat und wo andere Gründe gegen Besuche in dem jeweiligen Haushalt sprechen. Sie sind herzlich willkommen und eingeladen, die Kontakte in der Tagesgruppe stattfinden zu lassen.
Abbildung 1: Strukturelle Vielfalt innerhalb der Hilfeform Tagesgruppe
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Praktische Methoden systemischer Kinderschutzarbeit und Selbstreflexion Eine Voraussetzung für Kinderschutz sind – im besten Fall – verantwortliche Sorgeberechtigte, die zum Wohl des Kindes handeln. Dafür kann es notwendig sein, Wissen zur Verfügung zu stellen, beim Verstehen des wechselseitigen innerfamiliären Verhaltens zu unterstützen und/oder alternative Handlungsstrategien zu entwickeln. Im Fall einer Kindeswohlgefährdung ergibt sich ein Schutzauftrag, der aus dem gleichzeitigen Auftreten des Angebots von Unterstützung und Kontrolle besteht. Bei Letzterer könnte sich die Intention einer Methode, auch zur eigenen Absicherung, von der Informationssammlung für die Familie hin zu einer Informationssammlung für die Fachkräfte verschieben. Damit ein Angebot aber als Hilfe wahrgenommen werden kann und Eltern mit Fachkräften im Kontakt bleiben, muss das Empfinden der Autonomie bei den Betroffenen als höchstes Gut angestrebt werden. Zum Beispiel können Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit bei Eltern gestärkt werden, indem mit ihnen erarbeitet wird, dass sie dafür Sorge tragen, dass sich ihr Kind in der Tagesgruppe jederzeit mitteilen würde, wenn es ihm nicht gut geht. Die Aufklärung beispielsweise über die kindliche Entwicklung oder das Kon strukt der Resilienz, insbesondere über familiäre und soziale Schutzfaktoren, in Verbindung mit einer Begleitung der praktischen Umsetzung kann das Selbstwirksamkeitserleben fördern. Das Standardrepertoire der systemischen Fachkraft, wie Fragetechniken, die den Möglichkeitsraum erweitern, Hypothesenbildung und eine einladende Haltung, schafft grundlegend Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Für die gleichzeitige Arbeit mit Eltern und Kindern in der Tagesgruppe haben sich folgende Methoden als besonders familienstärkend herausgestellt: Multifamilienarbeit: Diese eignet sich hervorragend wegen ihrer edukativen und selbstreflexiven Elemente. Die häufige gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Familien in der Tagesgruppe wird genutzt, um diese miteinander zu vernetzen. Dabei entstehen Synergieeffekte, die Kompetenzen und Ressourcen reaktivieren. Außerdem ermöglichen die Begegnung und die Beobachtung anderer Eltern-Kind-Interaktionen das Erkennen eigener Anteile und Verhaltensmuster, die sonst verborgen blieben. Zugleich wird kindliches Verhalten durch den Austausch mit anderen Eltern eher normalisiert. Verschiedene Instrumente und Rituale tragen dazu bei, dass eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung geschaffen wird und die Familien in einen konstruktiven Austausch und zu einer eigenverantwortlichen Gestaltung der Nachmittage kommen. Die
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daraus resultierende wertschätzende Feedbackkultur und offene Kommunikation erleichtern den Umgang mit Krisen erheblich. Patenschaften: Neue Familien bekommen Patenfamilien an ihre Seite, um das Ankommen, Einfinden, Kennenlernen, Wohlfühlen und letztendlich das Mitarbeiten zu erleichtern. Tagesgruppenrat: Der Tagesgruppenrat ist ein gewähltes Organ, bestehend aus einem Mitglied der Elterngruppe, einem Mitglied aus der Kindergruppe sowie einem Teammitglied. Diese kommen regelmäßig zusammen, um sich bei Fragen, Anregungen oder Kritik zu beraten. Der:die Elternvertreter:in wird außerdem als Vertraute:r von den betreuten Familien gegebenenfalls bei inhaltlichen Schwierigkeiten gerne zur Unterstützung in Gesprächen hinzugezogen. Reflektierende Familien: Bei den Reflektierenden Familien (Caby, 2008) handelt es sich um eine Methode in multifamilientherapeutischen Sitzungen. Zwei Gruppen beobachten sich im Wechsel gegenseitig während einer Konversation zu einem bestimmten Thema und reflektieren im Anschluss darüber. Hierbei ist der Aufmerksamkeitsfokus auf Neues und Positives gerichtet. Verantwortungsübergabe: Im Eingangsbereich der Tagesgruppe hängt eine Tafel, auf der die anwesenden Elternteile anhand von Namensschildern visualisieren, dass sie die Verantwortung für ihr Kind bei ihrer Ankunft vom Team übernehmen. Das gewährleistet eine Rollenklarheit, die sich stimulierend auf die elterliche Präsenz auswirkt. »Ausgeliehene« Kinder: Anwesende Väter und Mütter sind automatisch im Kontakt mit den anderen Kindern. Sie unterstützen u. a. bei Konflikten, bei der Erledigung der Hausaufgaben oder stehen als Spielpartner:innen zur Verfügung. Zumeist geht dies mit einem neuen Kompetenzerleben einher. Bedürfnistafel: Im Gruppenalltag werden die Kinder eingeladen, zu reflektieren, wie es ihnen geht und was sie brauchen, damit sie sich wohlfühlen können. Dafür steht ein Visualisierungsinstrument mit unterschiedlichen Aktivitäten zur Verfügung. Für die Erwachsenen ergibt sich durch diesen Arbeitsfokus der Auftrag, Bedürfnisse hinter einem Verhalten erkennen zu lernen und Unterstützung zum Entwickeln gesunder Strategien anzubieten. Auch in der Einzelfamilienarbeit hat die Stimme des Kindes eine hohe Bedeutsamkeit für den Kinderschutz. Mittels analoger Methoden und kreativer Mittel können die Perspektiven, Befindlichkeiten und Anliegen der Kinder integriert werden und so zum innerfamiliären Verstehensprozess und zu Lösungen beitragen. Im Rahmen der Verständigung über Symptome und notwendige Veränderungen eignen sich z. B. Metaphern (insbesondere als Ergänzung zur
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leichten Sprache), Externalisierungen und jegliche Materialien, mit denen Sichtweisen zum Ausdruck gebracht werden können. Bei der Kinderorientierten Familientherapie (KOF; Reiners, 2013)2 steht für die Kinder das Spiel im Vordergrund – eine für sie elementare Weise, sich auszudrücken und auch zu kommunizieren. Gleichermaßen ist die Wirkung der Videoaufnahmen der kindlichen Spielsequenzen auf die Eltern beeindruckend. Ein großer Mehrwert, den diese Herangehensweise bietet, ist der Abstand, mit dem Eltern auf ihr Kind und sich selbst schauen können. Die Beobachtung der Spielsequenz in der Nachbesprechung schafft eine emotionale Distanz, die es den Eltern ermöglicht, Verhaltensweisen und Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen, ohne direkt bzw. zeitgleich eingebunden zu sein. Die Mentalisierungsfähigkeit kann in diesem Setting ohne eigene Erregung eingeübt und gestärkt werden. Zudem kommen Eltern in die aktive Rolle, das weitere Vorgehen (hier: das nächste Spiel und Interventionen des Therapeuten oder der Therapeutin im Spiel) mit zu planen. Fälle des Kinderschutzes bringen enorme Anforderungen für Fachkräfte mit sich, die sich aus der hohen Komplexität und dem Umgang mit leidvollem Erleben ergeben. Mitarbeitendengespräche, Teamsitzungen und Supervisionen werden in regelmäßigen Abständen genutzt, um Raum für die Befindlichkeit der Bezugspädagogin oder des Bezugspädagogen und der Kolleg:innen zu schaffen. Ein zusätzlicher Baustein sind Fortbildungen, Rücksprache mit Fachdisziplinen, die in dem jeweiligen Fall von besonderer Bedeutung sind, und immer auch Literaturarbeit. Themen können beispielsweise Eltern-Kind-Entfremdung, Sucht oder Schulabsentismus sein. Präventive Schutzarbeit für die Kinder und Jugendlichen in der Institution Zum Standard des Trägers gehören eine Präventionsrichtlinie, ein institutionelles Schutzkonzept und Instrumente der Beteiligung und Beschwerde. Innerhalb der Tagesgruppe erfüllen regelmäßige Teambesprechungen den Zweck des strukturierten Austauschs und der Reflexion innerhalb des Teams. Mindestens 14-täglich ist hier Raum für einen moderierten Abgleich der Beobachtungen der Fachkräfte in Bezug auf die eigene Rolle (z. B. Allparteilichkeit, Neutralität, Ressourcenorientierung), wohlwollende Hypothesen zu den Familien und 2 In der KOF werden die systemische Familientherapie, Kindertherapie und Videoarbeit kombiniert. Parallelen zum Alltag, die sich im Spiel mit Alter-Ego-Figuren zeigen, lassen sich im Nachgespräch zur Diagnostik, Reflexion und Lösungsfindung nutzen.
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mögliche nächste Schritte. Regelmäßige Supervision und die einrichtungsübergreifende kollegiale Fallberatung ermöglichen einen fokussierten Blick auf die Fallarbeit. In der gemeinsam genutzten Zeit von Familien und Fachkräften im teilstationären Setting mit hoher Elternbeteiligung liegt großes Potenzial. Die Modellfunktion der pädagogischen Arbeit vor Ort stellt eine wichtige Ressource für den präventiven Kinderschutz dar. Die konzeptuelle Basis, die eine gemeinsame Haltung und verbindliche Grundannahmen zu gewaltfreien, bindungsrelevanten und entwicklungsförderlichen Inhalten vorsieht, zeigt sich im professionellen Handeln der Mitarbeitenden. So kann konstruktives und heilsames Beziehungsgeschehen von Vätern und Müttern erlebt, reflektiert und eingeübt werden. Die Mitarbeitenden sind darüber hinaus mit den betreuten Kindern und ihren Familien immer auch im Gespräch über Kinderrechte. Die Tagesgruppenregeln lauten: »Ich passe auf mich auf«, »Ich passe auf dich auf«, »Ich passe auf alle Sachen auf« und »Ich mache mit« (angelehnt an das Sozialtraining »Locker Bleiben«; Bräutigam u. Schatz, 2012). Im Rahmen dieser Übereinkunft erörtern die Mitarbeitenden mit der Kindergruppe die Bedeutung und Grenzen dieser Aussagen, welche Verantwortung den Kindern zukommt und welche nicht, sowie Situationen, die es notwendig machen, einen (anderen) Erwachsenen hinzuzuziehen. Zudem hängen dauerhaft Informationen über das Kinder- und Jugendtelefon und andere Kontaktmöglichkeiten für Eltern und Kinder aus. Ein Tag in der Woche ist als aufsuchender und Netzwerktag reserviert. Die Mitarbeitenden nutzen die zur Verfügung stehende Zeit für Gespräche mit der Familie und dem Helfer:innensystem. Den Familien dient der Tag in der Regel zum Transfer des Erlernten. Bei Hausbesuchen besteht die Gelegenheit, die Familienmitglieder und ihr Miteinander in ihrem gewohnten Umfeld noch einmal anders kennenzulernen und den Übertrag von der Tagesgruppe in den familiären Haushalt zu begleiten. Es zeigt sich dabei auch, wo noch besondere Herausforderungen und Lernfelder im Alltag der Familie bestehen. Zusätzlich kann so der Sozialraum für eine nachhaltige Hilfe genutzt werden. Neben den Instrumenten vor Ort ist eine systemische Einbettung der Institution von hohem Wert. Ein systemisches Netzwerk (z. B. innerhalb der DGSF in Regional- und Fachgruppen sowie im Kreis der empfohlenen Einrichtungen oder auch auf Fachtagungen) ermöglicht ein stetiges Aktivieren, Hinterfragen und Motivieren der eigenen Haltung und somit der qualitativen Arbeit mit den Familien.
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Literatur Asen, E., Scholz, M. (Hrsg.) (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Bräutigam, D., Schatz, H. (2012). Locker bleiben. Sozialtraining für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dortmund: Borgmann Media. Caby, F. (2008). Reflektierende Familien. Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 4, 46–59. LVR-Landesjugendamt (2008). Arbeitshilfen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen. 2.1 Mindeststandards für Tagesgruppen nach § 32 SGB VIII. Zugriff am 15.08.2022 unter https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/arbeitshilfen/dokumente_94/hilfen_zur_erziehung_1/aufsicht__ber_station_re_einrichtungen/par45_sgb_viii/201 mindeststandardstagesgruppenarbeitshilfen4332dez08.pdf. Reiners, B. (2013). Kinderorientierte Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
6.3 »Kommen Sie doch gern rein!« Kinderschutz in Pflegefamilien und sozialpädagogischen Lebens gemeinschaften – ein Spannungsfeld zwischen öffentlichem Anspruch und privatem Leben Monika Rüsch
Über Kinderschutz in Pflegefamilien wird vor allem öffentlich diskutiert, wenn ein Fall von Kindesmisshandlung in einer Pflegefamilie auftritt. Stets wird dann der Ruf nach stärkerer Kontrolle laut und häufig wird mit entsprechenden Maßnahmen (über)reagiert. Ein Fall beschädigt den Ruf einer ganzen Gruppe von kompetenten Personen, die auf dieses erhöhte Misstrauen nachvollziehbarerweise ebenfalls mit Misstrauen und Rückzug reagieren. Uns allen ist klar: Wenn Menschen etwas vor uns verbergen, Geheimnisse haben, bekommen wir das nicht heraus, indem wir die Kontrolle und den Druck erhöhen. Wir Fachkräfte (im Folgenden sind vor allem Berater:innen von Pflegefamilien gemeint, aber auch Vormünder:innen sowie Mitarbeitende in Jugendämtern) erhöhen den Druck aus Angst. Aber: Die Angst können wir nur beseitigen, wenn wir mehr wissen … mehr wissen können wir nur, wenn uns mehr erzählt wird … und erzählt wird uns nur mehr, wenn Vertrauen da ist. Es geht also nur über Beziehung! Was aber sind nun die besonderen Bedingungen und Herausforderungen, wenn wir über bestmöglichen Kinderschutz in Pflegefamilien nachdenken?
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Pflegefamilien sind nun mal keine Institutionen, in denen man einen Kummerkasten aufhängen kann. Ein wesentlicher Faktor ist deshalb zum einen, dass ein öffentlicher Erziehungsauftrag im privaten Leben von Menschen geleistet wird. Man könnte von »öffentlichen Familien« sprechen, was das Spannungsfeld zwischen außen und innen schon deutlich werden lässt. Zum anderen verstehen sich Pflegeeltern zu Recht nicht als Hilfeempfänger. Dies unterscheidet die Pflegekinderhilfe sehr grundsätzlich von anderen Feldern sozialer Arbeit, bei denen ebenfalls öffentlicherseits in privates Leben eingegriffen wird, wie etwa bei ambulanten Hilfeleistungen. Bei Pflegefamilien liegt in der Regel kein selbst formulierter oder von außen konstatierter Hilfebedarf vor. Ihr Motiv ist lediglich, ein Kind in ihre Familie aufzunehmen. Sie verstehen sich vielmehr als Helfende, Kund:innen oder Partner:innen der Träger, mit denen sie kooperieren. Dieses Selbstverständnis erhöht verständlicherweise die Sensibilität gegenüber Bevormundung und Kontrolle ganz erheblich. Handeln die Fachdienste diesem Selbstverständnis zuwider, ist sehr rasch der Punkt erreicht, an dem vertrauensvolle Zusammenarbeit mindestens schwierig, häufig unmöglich wird. Die Konsequenz, die aus diesen sehr besonderen Bedingungen für Kinderschutz in Pflegefamilien resultiert, ist kurz und knapp auf einen Nenner gebracht: Kontakt statt Kontrolle. Die Frage ist, was Fachdienste in der Zusammenarbeit beachten und unterlassen sollten, damit Pflegeeltern ihnen erfreut die Tür öffnen. »Kommen Sie doch gerne rein!« – dieser Satz entspricht aktuell eben gerade nicht dem Gefühl vieler Pflegeeltern. Unsere Aufgabe ist es, das zu verändern, nicht nur, aber auch im Hinblick auf Kinderschutz in Pflegefamilien. Im Folgenden werden die wichtigsten Schutzfaktoren benannt, die in der Arbeit mit Pflegefamilien von Bedeutung sind. Neben den beschriebenen gibt es zahlreiche weitere Faktoren, wie etwa die finanzielle Absicherung von Pflegefamilien und Trägern, die Zusammenarbeit aller Fachkräfte oder die besonderen Anforderungen an Pflegefamilien, in denen Kinder mit Behinderung leben. Des Weiteren wird praxisnah beleuchtet, was Fachkräfte an Haltungen und Handlungen mitbringen sollten, um die genannten Schutzfaktoren zur Wirkung zu bringen und damit bestmöglichen Kinderschutz in Pflegefamilien zu erreichen. Dabei kommen auch die eigentlichen Expert:innen zu Wort: Pflegeeltern, Pflegekinder, leibliche Kinder in Pflegefamilien und die Eltern, deren Kinder in Pflegefamilien leben. Sie alle geben uns die entscheidenden Hinweise für ein gut geschütztes Leben von Kindern in Pflegefamilien. Anders als in allen anderen Feldern sozialer Arbeit, in denen weitgehend dem Subsidiaritätsprinzip gefolgt wird (Auftragserteilung und Kontrolle durch öffent-
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lichen Träger, Auftragsausführung durch freien Träger, hierzu Näheres unter Schutzfaktor 4), wird in der Pflegekinderhilfe die Beratung und Begleitung von Pflegefamilien sowohl von öffentlichen als auch von freien Trägern geleistet. Die folgenden Ausführungen basieren auf fast dreißig Jahren Erfahrung der Autorin im »Netzwerk Pflegefamilien« des gemeinnützigen Verbunds Sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) NRW e. V. sowie auf langjähriger Mitarbeit in unterschiedlichen überregionalen Fachgremien. Im »Netzwerk Pflegefamilien« werden aktuell ca. 500 Kinder und Jugendliche und deren Pflegefamilien begleitet. Es ist angeschlossen an die Trägergemeinschaft der »Westfälischen Pflegefamilien«, in der sich ca. fünfzig Träger auf gemeinsame Leistungsstandards und Kooperation verständigt haben und das vom Landesjugendamt Westfalen-Lippe koordiniert wird. Die folgenden Ausführungen zu Pflegefamilien gelten auch für sozialpädagogische Lebensgemeinschaften. Leider unterliegen die Pflegefamilien (§ 33 SGB VIII) einer anderen Rechtsgrundlage als die sozialpädagogischen Pflegestellen, zu denen auch die Lebensgemeinschaften gehören (§ 34 SGB VIII). Hier hat sich im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz einiges angeglichen, aber die Bedingungen des Arbeitens sind in beiden Kontexten nach wie vor oft anders. So bekommen die sozialpädagogischen Pflegestellen bzw. Lebensgemeinschaften wesentlich mehr Geld als klassische Pflegefamilien, weil es sich um professionelle Betreuung handelt. Das Kapitel bezieht sich auf beide Unterbringungsformen. Schutzfaktor 1: Einstieg auf Augenhöhe und eine gute Vorbereitung Der erste Eindruck stellt bekanntlich bereits entscheidende Weichen für die Qualität eines dauerhaften Kontakts. Nach meiner Erfahrung erleben es die an einer Aufnahme eines Kindes interessierten Menschen in fast allen Fällen als deutlich angenehmer, vom Fachdienst zu Hause besucht, statt in eine Institution einbestellt zu werden. Der erste Kontakt sollte aus einer neugierigen, fragenden Haltung des Verstehenwollens heraus gestaltet werden. Schon beim ersten Kennenlernen allerlei Schwierigkeiten aufzuzählen, die die Aufnahme eines Kindes mit sich bringen kann, wird in der Regel als äußerst abschreckend erlebt. Ebenso wenig motivierend sind kritische Fragen und Anmerkungen über die Geeignetheit des Gegenübers. Vielmehr sollte die Gestaltung eines guten Kontakts im Vordergrund stehen. Bei genauerem Hinsehen stellt schon die gängige Bezeichnung »Bewerber« eine Schieflage dar, denn eigentlich werben wir Fachkräfte um an der Aufnahme eines Kindes interessierte Menschen, nicht sie um uns. Gerade weil die zu werbenden Menschen sehr unterschiedlich sind, sollten sie bestmöglich darauf vorbereitet werden, ein Kind in ihrer Familie aufzu-
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nehmen. Eine zu starre, standardisierte Vorbereitung kann das nicht leisten. Das Ziel ist immer, die Menschen »ins Gefühl« zu bekommen. Vorbereitungsworkshops sind für manche Interessierte sehr hilfreich und motivierend, reichen aber in keinem Fall aus. Unverzichtbarer Bestandteil einer guten Vorbereitung sind zahlreiche Einzelkontakte (mindestens sechs bis acht), die idealerweise von zwei Fachkräften gemeinsam durchgeführt werden. Die Erfahrung zeigt, dass Sachinformationen über Integrationsphasen, Traumatisierung und andere Themen zwar sinnvoll und notwendig sind, von den Menschen in der folgenden Zeit jedoch weitgehend nicht mehr erinnert werden. Ohne ein konkretes Kind und die Erfahrung des Zusammenlebens bleibt diese Information weitgehend graue Theorie. Der bedeutsamere Teil der Vorbereitung ist die Reflexion des eigenen Lebensweges, der Biografie, der Beziehung, der Haltung, Werte, Stärken und Schwächen. Entsprechende Methoden wie Genogrammarbeit, Skulpturarbeit oder Netzwerkkarte kommen in dieser Phase zur Anwendung. Nur, wenn wir ein Gefühl für die Familien entwickelt haben, sind wir dazu in der Lage, eine gute Passung mit einem Kind herzustellen, und eine passende Chemie ist die beste Voraussetzung für ein gelungenes Pflegeverhältnis. Und das sagen die Expert:innen dazu: »Ich hatte irgendwie vom ersten Moment an das Gefühl, eine Bittstellerin zu sein … Ich weiß nicht genau, woran das lag … vielleicht an der kühlen Atmosphäre oder den kritischen Fragen und Blicken … jedenfalls war ich frustriert und wenig motiviert, weiterzumachen.« (Pflegemutter) »Der Träger sollte im Erstkontakt als Partner für das »Vorhaben Familie« auftreten. So komme ich weniger in die Position, mich bestmöglich verkaufen zu wollen.« (Pflegemutter) »Vorbereitungsworkshops, an denen ich teilnehmen müsste, würden bei mir schnell das Gefühl auslösen, getestet zu werden oder mich mit anderen Eltern vergleichen zu müssen.« (Pflegemutter) »Nach dem ersten Infogespräch hatte ich den Eindruck, dass wir sowieso nicht infrage kommen, weil wir drei Kinder haben … das hat mich ernüchtert.« (Pflegevater)
Erfolgreich scheitern:
Ȥ Bestellen Sie die Interessierten auf jeden Fall in Ihr Amt oder Ihre Einrichtung. Nehmen Sie die Haltung an, dass die Menschen Sie bereits in diesem Termin davon überzeugen müssen, geeignet zu sein. Strahlen Sie aus, dass die Bewerber:innen etwas von Ihnen wollen, nicht etwa umgekehrt.
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Ȥ Überschwemmen Sie Interessent:innen mit möglichst vielen Sachinformationen. Erarbeiten Sie diese fast ausschließlich in Gruppen und entwickeln Sie Horrorszenarien. Schutzfaktor 2: Ausreichende und regelmäßige Begleitung sowie personelle Kontinuität sichern Eine vertrauensvolle Beziehung ist unverzichtbare Grundlage jeder guten Beratung. Das gilt auch und insbesondere für die Begleitung von Pflegefamilien. Dies bedeutet zum einen, dass das Feuerwehrprinzip »Löschen, wenn’s brennt« für eine hilfreiche Unterstützung der Familien allein untauglich ist. Menschen können jemanden, dem sie sich bereits bei kleineren Problemen anvertraut haben, in Krisensituationen eher an sich heranlassen. Zum anderen entscheidet über die Qualität der Unterstützung vor allem die Haltung der Begleiter:innen, die von Achtung und Achtsamkeit geprägt sein sollte. Fachkräften muss bewusst sein, dass sie sich im privaten Lebensbereich von Menschen bewegen. Um eine vertrauensvolle Beziehungsqualität zu gewährleisten, sind im Erleben der Pflegefamilien, Eltern und Kinder häufige (Zuständigkeits-)Wechsel kontraproduktiv. Im sensiblen System aller Beteiligten bedeuten Wechsel Veränderung, und Veränderungen kündigen im Erleben traumatisierter Kinder häufig Umbrüche an, die gefährdende Situationen bedeuten können, mindestens aber Misstrauen hervorrufen – bei Erwachsenen und Kindern. Personelle Kontinuität ist deshalb konstitutiv für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Eine erfolgreiche Dienstleistung bedeutet u. a. auch, in den Abendstunden und an den Wochenenden zur Verfügung zu stehen … und das nicht nur als Ausnahme, sondern als Regel. Das alles ist allerdings nur umsetzbar, wenn ein ausreichend niedriger Schlüssel für die Zahl der Familien vorhanden ist, für die eine Fachkraft zuständig ist. In der Fachdiskussion hat sich inzwischen die Überzeugung durchgesetzt, dass mindestens ein Schlüssel von 1 (Fachkraft) zu 20 (Pflegekindern) erforderlich ist, um eine ausreichende und kontinuierliche Begleitung zu gewährleisten. Mit der Abschaffung des § 86(6) SGB VIII (zwingender Zuständigkeitswechsel vom unterbringenden Jugendamt zum Jugendamt am Wohnort der Pflegefamilie zwei Jahre nach Unterbringung als Vorgabe ohne Ausnahmemöglichkeit) könnte strukturell dafür Sorge getragen werden, dass Zuständigkeitswechsel weniger werden und auch der Kontakt zur leiblichen Familie besser erhalten werden kann.
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Und das sagen die Expert:innen dazu: »In Frau M. habe ich eine Beraterin gehabt, auf die ich mich im hohen Maße verlassen konnte, die quasi immer »anwesend« war, im Hinterkopf dabei war. Sie hat meine Arbeit und die meines Mannes hoch geschätzt und uns das immer spüren und wissen lassen. Die Arbeit mit ihr war auf Augenhöhe, ich konnte mich als Mensch zeigen und habe keine Rolle spielen müssen.« (Pflegemutter) »Ihr kümmert uns drum.« (Jonas, fünf Jahre, Pflegekind, auf die Frage, was der Berater in seiner Pflegefamilie tut) »Die Tatsache, dass das Zusammenleben mit Pflegekindern an eigene Grenzen führt und demzufolge Gedanken/Gefühle ausgelöst werden können, die man vorher nicht für möglich gehalten hat, ist natürlich auch beschämend. Eine kontinuierliche Beratung schafft den Rahmen, die eigenen »dunklen Seiten« zu kommunizieren.« (Pflegemutter) »Ich bin mir sicher, wenn keine kontinuierliche Begleitung stattfindet, dass sehr schnell die Ursache für eine problematische Entwicklung in der Familie den Kindern in die Schuhe geschoben wird.« (Pflegevater)
Erfolgreich scheitern:
Ȥ Sagen Sie den Pflegeeltern, für die Sie zuständig sind, dass sie sich melden sollen, wenn sie ein Problem haben. Arbeiten Sie keinesfalls nach 17.00 Uhr oder an Wochenenden. Schutzfaktor 3: Leibliche Eltern beteiligen – Zuständigkeit beim Fachdienst Gelingt es, die leiblichen Eltern der Pflegekinder in die Verantwortungsgemeinschaft, die zum Wohl des Kindes kooperativ verbunden ist, einzubeziehen, ist das ein bedeutender Baustein für das Gelingen des Pflegeverhältnisses und damit der bestmögliche Schutz der Pflegekinder. Obwohl diese Erkenntnis in den letzten Jahren weite Verbreitung in der Pflegekinderhilfe gefunden hat und sich in der Ausgestaltung des neuen KJSG (Kinder- und Jungendstärkungsgesetz) niederschlägt, ist die Praxis davon noch weit entfernt. Die Ursache hierfür liegt vor allem darin, dass sich Fachdienste mit zwei schwierigen Anforderungen konfrontiert sehen. Die eine ist, dass Menschen, die ein Kind aufnehmen möchten, häufig mit einem negativen Bild von »verwirkter Elternschaft« der leiblichen Eltern in den Prozess einsteigen und mit der Überzeugung antreten, die »besseren« Eltern zu sein. Dies bedarf einer intensiven Auseinandersetzung schon in der Vorbereitung,
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die auch die Konfrontation mit unbequemen und schmerzlichen Erkenntnissen nicht scheut. Auch im weiteren Verlauf bedarf es einer immer wiederkehrenden Versorgung der ablehnenden Impulse der Pflegeeltern gegenüber den Eltern des Pflegekindes, die regelmäßig auftreten, wenn sie unter den Folgen des schwierigen Aufwachsens der Kinder in ihren leiblichen Familien leiden. Die zweite zentrale Anforderung für die Fachkräfte ist, eine rückhaltlose Kooperationsbereitschaft mit den leiblichen Eltern durchzuhalten. Abgesehen davon, dass die Fachleute häufig an ihre ganz persönlichen Grenzen stoßen und immer wieder um Zugewandtheit ringen, ist es herausfordernd, eben gerade nicht nur mit den angepassten und kooperativen Eltern zu arbeiten, sondern vor allem denen »hinterherzulaufen«, die aus (nachvollziehbaren) Gründen immer wieder aus dem Kontakt gehen oder ständig mit als unangemessen erlebten Forderungen und Vorwürfen »nerven«. Die Erfahrung zeigt: Wenn es gelingt, die Eltern in die Verantwortungsgemeinschaft einzuladen, wird dies von allen Beteiligten als entlastend und hilfreich erlebt und kann damit als Faktor zum Schutz des Kindes wirksam werden. Bei allem, was im Kontakt mit der leiblichen Familie (also nicht nur Eltern, sondern auch Geschwister, Großeltern und sonstige Verwandte) des Kindes geschieht und getan werden muss, ist die Klarheit darüber, dass der Fachdienst und nicht die Pflegeeltern zuständig sind, für die Beteiligten entlastend. Das mildert Loyalitätskonflikte der Kinder und Konkurrenzeffekte aufseiten der Eltern und Pflegeeltern. Und das sagen die Expert:innen dazu: »Ich bin nach fünf Jahren immer noch begeistert von der Pflegefamilie und dem Berater meiner Tochter. Ich bin immer auf dem neuesten Stand, habe das Sorgerecht, entscheide ein paar Dinge mit. Ich bin immer noch ein wichtiger Teil im Leben meiner Tochter, auch wenn es ein kleines Puzzleteil ist. Ich bin einfach sehr dankbar für jedes Pflegeelternteil, der sich dieses Puzzlestücks annimmt und uns teilhaben lässt am Leben unserer Kinder.« (Mutter) »Die leiblichen Eltern sollten sich ›versorgt‹ fühlen und über die Beraterinnen und Berater als Eltern angesprochen und einbezogen werden. Das entlastet die Kinder. Auch minimiert sich die Konkurrenzsituation von Eltern und Pflegeeltern, denn die leiblichen Eltern haben ja ein Forum, in dem sie als Eltern angesprochen sind.« (Pflegemutter) »Er (der Berater) kennt Mama und meine Geschwister. Ich kann ihn immer fragen, wie’s Mama geht und ob ich sie besuchen kann.« (Pflegekind)
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Ȥ Betrachten Sie die Eltern als Täter:innen, die jedes Recht auf Mitsprache verwirkt haben, und lassen Sie die Pflegeeltern mit der leiblichen Familie allein. Schutzfaktor 4: Rollenteilung zwischen kontrollierendem und beratendem Fachdienst Viele Eltern, deren Kinder in Pflegefamilien leben, haben im Vorfeld über viele Jahre Erfahrungen mit Jugendämtern gemacht, die sie als belastend und negativ erlebt haben, so etwa gescheiterte ambulante Unterstützungsversuche und Herausnahme der Kinder aus ihrer Familie. Hier bietet ein in den Prozess erst bei der Vermittlung eintretender und damit in den Augen der Eltern unbelasteter Fachdienst eine neue Chance auf Zusammenarbeit. Die Einbeziehung der Eltern wird durch diese Rollenteilung erleichtert und ihre Bereitschaft, sich in Kooperationsbeziehungen zu begeben, wird erhöht, zumal sich ansonsten in einer Fachkraft zu viele (widersprüchliche) Rollen vereinen. Eine gut funktionierende Zusammenarbeit aus klar beschriebenen Rollen heraus zwischen den Auftrag gebender und kontrollierender Stelle und den Auftrag ausführendem Fachdienst, ergänzt durch die Kooperation mit dem Vormund, bildet ein durchschaubares Netzwerk für alle Beteiligten und damit bestmöglichen Schutz. Auch Pflegeeltern erleichtert nach aller praktischen Erfahrung eine Trennung zwischen vermittelnder, für den Hilfeplanprozess zuständiger und den erteilten Auftrag der Begleitung der Familie kontrollierender Behörde einerseits und einem beratenden Fachdienst andererseits die Kooperation mit allen Beteiligten. Und das sagen die Expert:innen dazu: »Wenn die leiblichen Eltern trennen können zwischen Entscheidungsinstanz und Familienberatung, ist der Kontakt zwischen allen deutlich weniger belastet.« (Pflegemutter) »Das Jugendamt nimmt u. a. hoheitliche Aufgaben wahr und führt die Aufsicht. Der Träger nimmt beratende Aufgaben wahr. Bei Aufsicht und Beratung in einer Hand wären unter Umständen auch Interessenkonflikte möglich.« (Pflegevater)
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Ȥ Versammeln Sie alle Rollen in einer Person und setzen Sie für die Beteiligten möglichst unkalkulierbar je nach Situation unterschiedliche Hüte auf.
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Schutzfaktor 5: Beteiligung und Vernetzung aller ermöglichen Die Partizipation aller Beteiligten ist in den letzten Jahren sehr viel stärker in den Blick genommen, in der Praxis an vielen Stellen aber nur mäßig umgesetzt worden. Die Aufgabe der Fachkräfte besteht vor allem darin, die Partizipationsbarrieren zu senken, zu ermutigen und zu ermächtigen, also Bedingungen zu schaffen, die Beteiligung möglich machen. Zusammenarbeit und Partizipation können dabei nicht in Krisensituationen entwickelt werden. Vielmehr müssen strukturelle Bedingungen geschaffen werden, die Vernetzungen ermöglichen, Beziehungen niedrigschwellig herstellen und fördern. Partizipation ist eine Haltung und keine Methode. Sie setzt eine entsprechende Selbstreflexion der Fachkräfte voraus. Konsequente Beteiligung erfordert den Mut und die Bereitschaft, ein Stück eigene »Macht« abzugeben. Dabei ist es nicht hilfreich, romantisierend die unterschiedlichen Machtpositionen zu verkennen, sondern sie zu thematisieren. Es sollte der Raum eröffnet werden für Eigenarten, Ängste und vor allem auch für Widerspruch. Beteiligung, die nur so lange gewährt wird, wie kein Widerspruch erhoben wird, wird nicht als echt erlebt. Eine Haltung von uns Fachkräften, dass nicht wir die Menschen beteiligen, sondern vielmehr sie uns (an ihrem Leben), eröffnet diesen Raum. Beteiligung und Vernetzung stehen in unmittelbarem Zusammenhang. Für die konkrete Arbeit des Fachdienstes in der Pflegekinderhilfe bedeutet das u. a., für alle so unterschiedlichen Gruppen Vernetzungs- und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, die von diesen als niedrigschwellig und förderlich erlebt werden. Vor allem für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind Foren und Gruppen wirksamer, als Telefonnummern auszugeben. Im Hinblick auf Beteiligung und Vernetzung ist auch die Zusammenarbeit der Fachkräfte mit Organisationen der Selbsthilfe von Pflegeeltern und Pflegekindern vielerorts kaum bis gar nicht vorhanden. Hier liegen viele bisher ungenutzte Chancen. Und das sagen die Expert:innen dazu: »Immer dann, wenn eine Entscheidung Auswirkungen oder Folgen für jemanden hat, sollte er mitreden dürfen.« (Leibliches Kind einer Pflegefamilie) »Fakt ist: Je mehr ich mitentscheiden kann, desto besser kann ich mit dem Ergebnis umgehen. Bekomme ich das Gefühl, in wichtigen Dingen nicht mitentscheiden zu können, setzt das meine Bereitschaft, Hilfen anzunehmen oder euch so tiefe Einblicke in meine Privatsphäre zu gewähren, herab.« (Pflegemutter)
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Erfolgreich scheitern:
Ȥ Betrachten Sie die Beteiligungswünsche als Störung Ihres Arbeitsablaufs. Verhindern Sie möglichst jede Art von Gruppenbildung. Schutzfaktor 6: Eigenständiger Kontakt zwischen Berater:in und Pflegekind/leiblichem Kind, Netzwerke schaffen Einen wesentlichen Beitrag zum Schutz von Pflegekindern kann der eigenständige Kontakt zwischen Berater:in und Kind/Jugendlichem leisten. Ein regelmäßig stattfindender Kontakt, in der Regel verbunden mit einem für das Pflegekind attraktiven Angebot, kann vor allem auch in der Krisensituation maßgeblich zur Deeskalation und Klärung beitragen. Dennoch wird in der gängigen Praxis der Pflegefamilienberatung gerade dieser häufig vernachlässigt. Die Ursache hierfür liegt, neben der Überbelastung der Fachkräfte durch zu hohe Fallzahlen, vermutlich im tatsächlichen oder befürchteten Widerstand der Pflegeeltern. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese den Kontakt durchaus als Entlastung erleben, wenn sie von Beginn an, also schon in der Vorbereitung, mit ins Boot genommen werden und verstehen, dass er auch für sie selbst mehr Sicherheit bedeutet. Dies gilt auch für den Kontakt zu den leiblichen Kindern in der Pflegefamilie. Häufig sind sie im Vorfeld sehr einverstanden mit der Entscheidung der Eltern, ein weiteres Kind aufzunehmen, müssen im Zusammenleben dann aber oftmals mit Enttäuschung und vermehrtem Stress in der Familie fertigwerden. Nicht selten entstehen daraus krisenhafte Situationen bis hin zu frühzeitigen Beendigungen von Pflegeverhältnissen, wenn die Pflegeeltern die Belastung ihrer Kinder als nicht (mehr) verantwortbar erleben. Vor allem die Einbeziehung aller Kinder in die Beratung, die Initiierung und Begleitung eigener Gruppen, aber auch das Aufzeigen von niedrigschwelligen Beschwerdemöglichkeiten sind geeignete Maßnahmen, um leibliche Kinder von Pflegefamilien gut zu versorgen und ihnen die Sicherheit zu geben, zu einem stabilisierenden Faktor in der Familie und für das Pflegegeschwister zu werden. Wenn Pflegekinder in Not geraten, brauchen sie Vertrauenspersonen außerhalb der Familie, an die sie sich wenden können. Es ist einleuchtend, dass es nicht sinnvoll ist, diese Personen einfach durch die Erwachsenen zuzuweisen. Sie können nur gemeinsam mit dem Kind gefunden werden (»An wen würdest du dich wenden, wenn du ein Problem hättest oder in Not bist?«). Auch die Fachkraft kann eine solche Vertrauensperson sein, in jedem Fall ist es aber ihre Aufgabe, weitere Menschen im Gespräch mit dem Kind zu identifizieren
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(z. B. Vormund, fallführende Kollegin des Jugendamts, Pate, Lehrkraft, Trainerin). Viele Vertrauenspersonen um das Kind herum bilden ein Netzwerk der Sicherheit. Die Fachkraft sollte zu allen genannten Personen Kontakt aufnehmen (»Sie sind genannt worden«). Und das sagen die Expert:innen dazu: »Dass unsere Kinder eine vertraute Ansprechperson außerhalb der Familie hatten, bedeutete für sie insbesondere während der Jugendzeit eine »sichere Bank«. Ich denke, dadurch fühlten sich die Kids auch weniger abhängig von uns.« (Pflegemutter) »Es ist gut, wenn ich den Berater ansprechen kann, wenn ich Angst habe, meinen Pflegeeltern was zu erzählen.« (Pflegekind) »… außerdem sind sie (die leiblichen Kinder) für den Berater ja ebenfalls ein guter Indikator dafür, wenn etwas im Familiensystem nicht stimmt.« (Pflegemutter) »Viel zu oft kommen die leiblichen Kinder zu kurz bei den Beratern, aber ich habe das Glück, dass unser Berater regelmäßig fragt, wie es uns geht und nicht nur den Pflegekindern.« (Leibliches Kind)
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Ȥ Vermeiden Sie den Kontakt zum Pflegekind; sehen Sie es ausschließlich in Anwesenheit der Pflegeeltern. Ȥ Beschränken Sie sich in der Vorbereitung konsequent auf den Kontakt zu den Pflegeeltern. Unterlassen Sie jegliche Einbeziehung weiterer Personen im Umfeld der Pflegefamilie. Schutzfaktor 7: Qualifizierung und Unterstützung der Fachkräfte Die Beratung und Begleitung von Pflegefamilien ist eine der komplexesten und anspruchsvollsten Aufgaben im Feld sozialer Arbeit und nicht tauglich für Berufseinsteiger:innen, die nicht die notwendige Arbeits- und Lebenserfahrung mitbringen. Vielmehr braucht es erfahrene Fachkräfte mit entsprechender (Zusatz-)Qualifikation. Die angestrebte personelle Kontinuität in der Beratung bedeutet für die Fachkräfte die hohe Anforderung, in langjähriger Zusammenarbeit mit einer Pflegefamilie handlungsfähig zu bleiben, in engen Kontakt zu gehen, sich aber nicht zu sehr binden lassen, also nicht Teil des Systems zu werden. Das kann nur gelingen, wenn die Fachkräfte selbst in einem Netz von Unterstützung aufgehoben sind und ausreichend Zeit und Raum für Supervision und kollegiale Beratung zur Verfügung steht. Eine fest installierte
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und personell ausreichend ausgestattete Struktur von Co-Beratung (auf fünf Vollzeitstellen eine Stelle Co-Beratung) ist unverzichtbar, um für die Fachkräfte, die in Familien tätig sind, die Reflexion ihrer Arbeit und die Unterstützung in Krisen zu sichern. Darüber hinaus profitieren auch die Pflegefamilien durch ca. halbjährliche (in Krisen häufigere) gemeinsame Termine mit Co-Beratung und Fachkraft von diesem Vier-Augen-Prinzip, indem neue Blickwinkel eingebracht werden, sie einen zusätzlichen Ansprechpartner identifizieren und in Krisen auf zwei Unterstützer:innen zugehen können. Und das sagen die Expert:innen dazu: »Dann würde ich noch anmerken, dass das Co-Berater-System echt Sinn macht, um nicht betriebsblind zu werden und auch um neue Impulse zu setzen. Der vertraute beständige Berater-Part mit dem Co-Berater-Blick von draußen ist eine ziemlich geniale Kombi für eine Pflegefamilie.« (Pflegemutter)
Erfolgreich scheitern:
Ȥ Bezahlen Sie die Fachkräfte schlecht und lassen Sie ihnen maximal gelegentlich externe Supervisionen zukommen. Schutzfaktor 8: Weiche Übergänge ermöglichen, Rückkehroptionen schaffen Jeder Übergang ist für Pflegekinder mit einem Verlust vertrauter Orte und Personen verbunden und damit potenziell krisenhaft und belastend. Viele (ehemalige) Pflegekinder berichten eindrücklich vom Ausmaß ihrer Verwirrung und Verzweiflung, vor allem dann, wenn sie zu spät oder im schlimmsten Fall überhaupt nicht in die bevorstehende Veränderung einbezogen wurden. Kinder, die bereits Erfahrungen mit Abbrüchen gemacht haben, sind besonders darauf angewiesen, nicht erneut mit radikalen Beendigungen konfrontiert zu werden. Das gilt für den Übergang beim Umzug in die Pflegefamilie, bei dem es in vielen Fällen Sinn macht, den Kontakt zum vorherigen Lebensort weiterzupflegen. Vor allem aber brauchen wir bei krisenhaften Situationen in Pflegefamilien, in denen ein Zusammenleben (vorübergehend) nicht mehr denkbar ist, andere und neue Konzepte, die individuelle, weichere Übergänge und Rückkehroptionen ermöglichen. Entlastungsfamilien, in denen die Kinder leben können mit der Option der Rückkehr in die Pflegefamilie oder die an Wochenenden oder im Bedarfsfall zur Verfügung stehen, sind eine gute Möglichkeit, das rigorose »Drin oder Draußen« abzufedern. Stehen solche Angebote strukturell zur Ver-
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fügung, was leider in der augenblicklichen Praxis kaum der Fall ist, und können sie schon im Vorfeld drohender größerer Krisen ganz selbstverständlich in Anspruch genommen werden, gewinnen sie größere Normalität und bieten einen hervorragenden Schutz vor Eskalationen. Ein besonderes Augenmerk sollten wir Fachkräfte auch auf die Übergänge für junge Volljährige in Pflegefamilien richten. Es bedarf einer Anerkennung der Normalität, dass junge Volljährige mit schwierigen Biografien in der Regel nicht mit 18 Jahren zu verselbstständigen sind (18-Jährige ohne schwierige Biografie im Übrigen häufig auch nicht!) und ein Recht auf die Gewährung weiteren Schutzes in der Pflegefamilie haben. Und das sagen die Expert:innen dazu: »Ich bin bei meinen Pflegeeltern ausgezogen, als ich volljährig war. Bis dahin haben sich alle um mich gesorgt, und auf einmal wird man ins eiskalte Wasser geworfen. Das ist nicht einfach gewesen. Ich habe teilweise auf mein Geld warten müssen, weil meine (leiblichen) Eltern die ganzen Dokumente nicht eingereicht haben. Ich musste zusehen, wie ich mein Bafög bekomme. Zum Glück gab es noch eine Nachbetreuung von meinem Berater und ich bin wirklich dankbar dafür. Ich weiß nicht, wie ich es ohne geschafft hätte.« (Ehemaliger Pflegesohn, mit neun Jahren im Kinderheim, mit zwölf Jahren in Pflegefamilie)
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Ȥ Beenden Sie Unterbringungen in Pflegefamilien bei Krisen rigoros und ohne Rückkehroption, pflegen Sie die Praxis, dass Hilfe für junge Volljährige nur in absoluten Ausnahmefällen gewährt wird. Fazit Dem besonderen Schutzbedürfnis von Kindern und Jugendlichen wird im neuen KJSG Rechnung getragen. Schutz(-Konzepte) kann man nicht generalisiert entwickeln, verschriftlichen und in einem Ordner verschwinden lassen. Vielmehr ist es Aufgabe der Fachdienste, kontinuierliche Prozesse zu initiieren und im Rahmen einer Verantwortungsgemeinschaft unter Beteiligung aller den Schutz von Pflegekindern zu sichern und individuell an die konkrete Dynamik und Bedarfe der einzelnen Familien anzupassen. Die fachliche Herausforderung besteht vor allem darin, bei Pflegeeltern zu erreichen, sich mit dem Thema »Schutz« für ihr Pflegekind – auch vor ihnen selbst – auseinanderzusetzen (gemeinsame Kontrolle als Co-Produktion). Es
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ist die hohe Kunst der Vorbereitung und Begleitung, allen Beteiligten zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass ein Schutzkonzept dem Gesamtsystem Unterstützung und Sicherheit bietet und die einzelnen Bausteine, wie sie in den Schutzfaktoren dargestellt wurden, sinnvoll und hilfreich sind. Das Schlusswort der Expertin »Noch ein kleines Statement zum Schluss: Ich denke, wir müssen uns davon verabschieden, alles kontrollieren zu können, und uns bewusst machen, dass zu viel Kontrolle eben auch schädigen kann. Vertrauen ist immer eine wechselseitige Geschichte. Wie soll ich euch vertrauen, wenn ihr mir nicht vertraut?« (Pflegemutter)
6.4 Inobhutnahme – Schutz für Kinder und Jugendliche durch Nothilfe im Rahmen eines hilfeorientierten Kinderschutzes Helmut Maier
Erste Beobachtungen1 Dieses Kapitel befasst sich mit der Inobhutnahme als sozialpädagogische Krisenintervention im Kontext eines systemischen und hilfeorientierten Kinderschutzes. Ein kurzer Blick auf aktuelle Entwicklungslinien des Kinderschutzes wird hierzu einer ersten Einordnung dienen. Mit der Annahme, dass Kindeswohlgefährdung kein beobachtbarer Sachverhalt, sondern ein rechtlich-normatives Konstrukt ist (vgl. Schone, 2019, S. 281), kann sie nicht losgelöst von den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Umweltbedingungen verstanden und behandelt werden. Bei 1
Mit diesem Artikel werden Beobachtungen und fachliche Perspektiven des Autors dargestellt und damit andere Beobachtungsperspektiven weniger in den Blick genommen bzw. gar nicht betrachtet. Der Artikel hat deshalb keinen Anspruch auf »Vollständigkeit«, sondern will anregen, aufregen und zur Diskussion um die Zukunft eines hilfeorientierten Kinderschutzes einladen bzw. beitragen – aus der Beobachtungs- und Handlungsperspektive eines sozialpädagogischen Praktikers im Allgemeinen Sozialdienst.
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allen Prozessen im Kinderschutz ist es deshalb die Aufgabe, sich mit diesen gesellschaftlichen Bedingungen und Dynamiken (vgl. Conen, 2014, S. 47 f.) wie auch der erhöhten öffentlich-medialen Aufmerksamkeit für den Kinderschutz auseinanderzusetzen und deren Auswirkungen auf die eigene Praxis zu reflektieren (vgl. Brandhorst, 2015; Dahlheimer, 2021). Diese Entwicklungen haben allerdings »nicht nur zu neuen professionellen Anforderungen in der Praxis Sozialer Arbeit geführt, sondern auch zu einer Verstärkung von Konzepten des Risikomanagements zur Erfassung und Kontrolle von gefährdeten Bevölkerungsgruppen. So werden vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe Konzepte für die Arbeit mit sogenannten ›unfreiwilligen Klienten‹ oder ›Klienten im Zwangskontext‹ wichtiger. Es kommt nicht überraschend zu einer autoritären Wende im Hilfesystem« (Gedik, 2015, S. 254). Nicht nur Politiker:innen mit Blick auf ihre Wiederwahl, sondern auch viele Fachkräfte und Vorgesetzte betonen einseitig die eingriffsorientierte Seite der Kinder- und Jugendhilfe, so Böwer und Kotthaus (2018, S. 10). Damit bekomme ein moderner und dialogischer Kinderschutz allerdings eine Schlagseite. Wie die Fachkräfte in den Einrichtungen und sozialen Diensten ihre Aufgaben im Kinderschutz erfüllen, wie sie zu Einschätzungen kommen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, und welches fachliche Handeln dabei und im Weiteren zum Einsatz kommt, hängt auch von den jeweiligen organisatorischen Strukturen und Kontextbedingungen ab (vgl. Hünersdorf, 2011, S. 35; Wolff, 2007, S. 346 ff.). In vielen Organisationen, vor allem der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, wird Kinderschutz oft linear-objektivistisch verstanden und dementsprechend bearbeitet. So wurden die letzten Jahre Ablaufstandards, Verfahren und Checklisten entwickelt, um bei Fällen von (mitgeteilter bzw. vermuteter) Kindeswohlgefährdung die Risiken (und teilweise auch die Ressourcen) der Familien einzuschätzen (s. »Der Blick auf Risiken ist risikobehaftet« – Checklisten zur Einschätzung einer Gefährdungssituation; DGSF, 2020, S. 37 ff.). Einzelne Jugendämter haben hilfeorientierte Kinderschutzkonzepte erarbeitet, bei denen die familiären und professionellen Akteur:innen in den Kernprozessen dialogisch miteinbezogen werden (vgl. Stadtjugendamt Erlangen, Gedik u. Wolff, 2018). Im Folgenden wird beschrieben, wie im Kontext einer (möglichen) Inobhutnahme die Familie beteiligt wird und wie durch die Zusammenarbeit mit professionellen Kooperationspartner:innen Schutz und Nothilfe für das Kind geleistet werden kann. Die Erzieherin des Kinderhorts ruft die für die Wohnadresse zuständige Fachkraft des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) eines Jugendamtes an. Sie teilt mit, dass sie sich ernsthafte Sorgen um das Wohlergehen eines neunjährigen Kindes mache.
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Sie und die Leitung des Hortes hätten deshalb auch schon zweimal die insoweit erfahrene Fachkraft (ISEF oder InsoFa) der dafür zuständigen Erziehungsberatungsstelle bei ihrer Gefährdungseinschätzung beratend hinzugezogen. Das Ergebnis der heutigen telefonischen Beratung durch die ISEF sei, den ASD nun über die Situation zu informieren, auch weil das Kind heute gesagt habe, dass es nicht nach Hause wolle. Die Eltern habe die Erzieherin darüber noch nicht informiert. Das Kind sei das einzige Kind der miteinander verheirateten Eltern. Es gehe in die dritte Klasse und besuche seit einem halben Jahr den Hort. Den Kontakt zu den Hortmitarbeiter:innen hätte bisher die Mutter gehabt, diese sei allerdings aufgrund einer schweren Erkrankung seit ein paar Wochen im Krankenhaus. Der Vater, der in Vollzeit berufstätig sei, werde durch die Sorge um seine Frau als sehr belastet erlebt. Auch fordere ihn die Versorgung des Kindes offensichtlich, zumal es kein familiäres Netzwerk vor Ort gebe. Das Kind habe im Hort schon mehrmals erzählt, dass der Papa abends immer schimpfe und schreie und es manchmal ohne Essen ins Bett müsse. Auch mache es sich große Sorgen um die Mama, die es sehr vermisse. Den Hortmitarbeiterinnen sei es bisher nicht gelungen, die Situation mit dem Vater zu besprechen, da er den ersten telefonisch vereinbarten Termin abgesagt habe und zum zweiten nicht erschienen sei. Der Hort sehe gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohl gefährdung: durch die Abwesenheit der Mutter und die Überforderung des Vaters bei der angemessenen Versorgung des Kindes, wiederholt schreie er das Kind an und schicke es ohne Abendessen ins Bett. Das Kind habe auf Nachfrage verneint, dass es geschlagen werde. Jedoch sage ihr Bauchgefühl, so die Erzieherin, dass das Kind vom Vater auch schon körperlich angegangen worden sei. Heute habe das Kind verzweifelt geweint und geäußert, dass es nach dem Hort nicht zum Papa nach Hause wolle, es habe Angst vor Schlägen …
Rechtliche Rahmung kompakt2 Die Inobhutnahme (ION) von Kindern und Jugendlichen gehört zu den (hoheitlichen) anderen Aufgaben der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Im Rahmen des staatlichen Wächteramts (gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) wird dabei die Schutzverpflichtung des Jugendamts für Kinder und Jugendliche im Kontext von Kindeswohlgefährdung und unter bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen ausgeübt. Damit einhergeht in diesem Zusammenhang der Rechtsanspruch von Minderjährigen auf Schutzgewährung (vgl. Trenczek, Düring u. Neumann-Witt, 2017, 2 Ausführlich siehe z. B. Trenczek, Düring u. Neumann-Witt, 2017, S. 145 ff., sowie Kepert, Dexheimer, Feist-Ortmanns, Kepert u. Macsenaere, 2021, S. 117 ff.
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S. 151). In § 42 SGB VIII werden drei Tatbestände genannt, bei denen das Jugendamt berechtigt und verpflichtet ist, ein Kind/eine Jugendliche in Obhut zu nehmen: Ȥ das Kind/der Jugendliche bittet um Obhut (§ 42 Abs. 1 S. 1 SGB VIII); Ȥ eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes/Jugendlichen erfordert die Inobhutnahme und die Personensorgeberechtigten widersprechen nicht oder eine familiengerichtliche Entscheidung kann nicht rechtzeitig eingeholt werden (§ 42 Abs. 1 S. 2 SGB VIII); Ȥ ein ausländisches Kind/eine ausländische Jugendliche kommt unbegleitet nach Deutschland, und weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte halten sich im Inland auf (§ 42 Abs. 1 S. 3 SGB VIII, § 42a SGB VIII). Während sich bei den unbegleiteten ausländischen Kindern/Jugendlichen die Gefährdung daraus ergibt, dass sie sich als Minderjährige in einem fremden Land ohne ihre Eltern aufhalten, ist bei den sogenannten Selbstmelder:innen deren subjektives Schutzbedürfnis in einer akuten Krisensituation ausschlaggebend, um sie in Obhut zu nehmen. Die dringende Gefahr muss von den Fachkräften prognostisch eingeschätzt werden bezüglich der Wahrscheinlichkeit des bevorstehenden Schadenseintritts für das Kind. Bei der Gefährdungseinschätzung müssen nicht nur das Kind, sondern auch dessen Eltern miteinbezogen werden, auch um zu klären, ob die Gefährdung durch die Inanspruchnahme von Hilfe (zur Erziehung) oder den Einbezug des Familiengerichts abgewendet werden kann. Als Legitimationsschwelle für eine ION ist der Gefährdungsmaßstab des § 1666 BGB anzulegen (vgl. Trenczek, Düring u. Neumann-Witt, 2017, S. 242), was bedeutet, dass die dringende Gefahr sehr konkret droht bzw. schon vorhanden ist und eine ausbleibende Intervention mit ziemlicher Sicherheit zu einer erheblichen Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes führt (vgl. Kepert, Dexheimer, Feist-Ortmanns, Kepert u. Macsenaere, 2021, S. 44 f.). Das Familiengericht wie das Jugendamt haben bei all ihren Entscheidungen im Kontext von Kindeswohlgefährdung zu beachten: Ȥ den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – die Maßnahmen müssen zur Abwendung der Gefährdung geeignet, erforderlich und angemessen sein; Ȥ das Subsidiaritätsprinzip – die Vorrangigkeit von Hilfe für Eltern zum Schutz ihres Kindes und die Nachrangigkeit und Begrenzung von staatlichen Eingriffen in Elternrechte (vgl. Stadtjugendamt Erlangen, Gedik u. Wolff, 2018, S. 33; s. auch Wiesner in diesem Band). Der im Grundgesetz festgeschriebene Erziehungsprimat der Eltern (gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) impliziert auch deren Gefahrenabwendungsprimat bei einer Gefährdung ihres Kindes, was bedeutet, dass die Eltern die vorrangige Ver-
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antwortung zur Gefahrenabwehr haben (vgl. Trenczek, Düring u. Neumann-Witt, 2017, S. 167). Die Aufgabe der (öffentlichen) Kinder- und Jugendhilfe kann dabei entsprechend des Schutzauftrags (gem. § 8a SGB VIII) sein, die Eltern mittels Hilfe zur Selbsthilfe zu unterstützen, die Gefährdung für ihr Kind eigenverantwortlich zu beenden. Dafür soll das Jugendamt den Eltern geeignete und notwendige Hilfen zur Erziehung anbieten. Wenn das Jugendamt in dieser Phase des Gefährdungseinschätzungsprozesses das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich hält, soll es das Gericht anrufen. Sieht das Jugendamt jedoch eine dringende und akute Gefahr für das Kind und kann die Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden, so ist es verpflichtet, das Kind in Obhut zu nehmen. Widersprechen die Eltern der ION und wird durch das Jugendamt weiterhin die dringende Gefahr gesehen, so muss sich das Jugendamt (gem. § 42 Abs. 3 Satz 2 Nummer 2) an das Familiengericht wenden, um eine Entscheidung des Gerichts über die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung herbeizuführen. Im familiengerichtlichen Verfahren bleiben die Aspekte »Elternverantwortung zur Gefahrenabwehr« und »Vorrang von Hilfe vor Eingriff in Elternrechte« ebenfalls handlungsleitend. Stimmen die Eltern der ION zu, kann damit der Hilfeprozess inklusive Hilfeplanung beginnen (ausführlich zur elterlichen Selbstbestimmung im Kontext der Inobhutnahme s. Beckmann, 2021, S. 372 ff.). Arbeitskontext Allgemeiner Sozialdienst des Jugendamts Die Kenntnis der differenzierten gesetzlichen Regelungen im Kinderschutz ist eine wichtige Voraussetzung, damit durch die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe wirksame Hilfeprozesse auf den Weg gebracht werden können, gegebenenfalls unter Einbezug des Familiengerichts. Jedoch »nicht die rechtliche Entscheidung als solche führt zu einer nachhaltigen Veränderung der Situation von Kindern, Jugendlichen und ihrer Familien, sondern die mit ihnen gemeinsam erarbeiteten Veränderungsprozesse« (Trenczek, Düring u. Neumann-Witt, 2017, S. 190). Für die Entwicklung und Umsetzung dieser Prozesse in Co-Produktion mit den Familien ist innerhalb eines Jugendamts maßgeblich der ASD zuständig. Wie schon anhand der rechtlichen Grundlagen deutlich wird, kann die Kinderschutzarbeit im ASD nicht auf Kontrolle und Eingriff reduziert werden. Im Rahmen eines hilfeorientierten Konzepts wird der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung deshalb »mit seiner komplexen und differenzierten Logik verstanden und bearbeitet. Mit solidarischen und partizipatorischen Hilfeleistungen wird versucht, Familien in Konflikt- und Notsituationen zu unterstützen und damit die Gefährdung der Kinder nachhaltig zu beenden« (Maier, 2021, S. 469).
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Getragen durch ein systemisches Verständnis von Sozialer Arbeit in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe werden nach Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung die ganze Familie sowie andere beteiligte und hilfreiche Akteur:innen eingeladen bzw. aufgefordert, mit herauszuarbeiten, welche Problem- und Konfliktmuster sich entwickelt haben und welche Ressourcen vorhanden sind bzw. benötigt werden, um eine zukünftige kindeswohlsichere Problemlösung zu erarbeiten und im Weiteren selbstorganisiert umzusetzen. Alle Familienmitglieder werden hierbei nicht nur als Expert:innen für ihr Leben (also auch für ihre Probleme) beteiligt, sondern auch als handelnde Akteur:innen gesehen – also auch die Kinder und Jugendlichen (vgl. Gedik u. Wolff, 2021, S. 97 ff.). Dabei wird Kindeswohlgefährdung grundsätzlich »als hochkomplexes Konfliktgeschehen verstanden, bei dem die Bedürfnisse und Rechte einzelner Familienmitglieder, vor allem von Kindern und Jugendlichen, nicht ausreichend beachtet und geschützt werden. Da sie nicht einfach objektivierbar und beobachterunabhängig von außen wahrgenommen und diagnostiziert werden kann, bedarf es einer gemeinsamen und multiperspektivischen Problemkonstruktion aller beteiligten AkteurInnen aus dem Familien- und Hilfesystem, inklusive der zu beteiligenden Kinder und Jugendlichen« (Maier, 2018, S. 276). Die Aufgabe ist, die mitgeteilten Sorgen um das Wohlergehen eines Kindes mit den Eltern und dem Kind (und den Geschwisterkindern) zu thematisieren und die Familie zur Beschreibung und Einschätzung ihrer aktuellen Situation zu gewinnen. Dabei ist es wichtig, die Gefährdung des Kindes nicht abstrakt festzustellen, sondern sie so konkret wie möglich mit Blick auf die unterschiedlichen Formen von Kindeswohlgefährdung zu benennen: Gibt es Hinweise auf eine körperliche und/oder psychische Misshandlung des Kindes, auf Vernachlässigung, auf sexualisierte Gewalt oder die Gefährdung des Kindes durch häusliche Gewalt? Und welche Folgen für das Kind werden prognostisch eingeschätzt, sollte die Gefährdung des Kindes durch Handeln bzw. Unterlassen der Eltern anhalten? Sind die Eltern bereit und in der Lage, selbst und mittels Hilfe zur Abwendung der Gefährdung ihres Kindes tätig zu werden, kann die ASD-Fachkraft die dazu geeignete und notwendige Hilfe zur Erziehung einleiten – dies kann dann nicht nur eine ambulante Form der Hilfe zur Veränderung für die Eltern sein, sondern bei Bedarf auch eine stationäre Hilfe zum Schutz für das Kind. Wenn die Gefahr allerdings als sehr akut und in ihren Folgen unmittelbar schädigend für das Kind eingeschätzt wird, kann es erforderlich werden, Nothilfe zum Schutz des Kindes zu leisten und es in Obhut zu nehmen. Fragen zur Klärung und Entscheidung über eine ION hat Gerber (2019, S. 264) wie folgt formuliert:
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»1. Worin genau besteht die Gefahr (Konkretisierung des Gefährdungstatbestandes) und mit welchen Folgen für das Kind ist (in welchem Zeitraum) zu rechnen (Prognose)? 2. Aus welchen Gründen wird von anderen, weniger massiven Maßnahmen, z. B. Erarbeitung einer Entscheidung zu Fremdunterbringung gemeinsam mit den Eltern, abgesehen? 3. Aus welchem Grund kann eine familiengerichtliche Entscheidung nicht abgewartet werden? 4. Steht die Maßnahme der Inobhutnahme im Verhältnis zur Gefahr, bzw. rechtfertigt die Gefahr diese Art des Eingriffs und die damit verbundenen Belastungen für das Kind?« Hier wird deutlich, um welches komplexe und mehrdimensionale Geschehen es sich beim Entscheidungsprozess über eine ION handelt. Neben dem partizipativen Einbezug von Kind und Eltern im Kontext einer akuten Krise, die durch das Hinzutreten und Handeln des ASD in der Regel verstärkt wird, bedarf es auch der innerinstitutionellen wie interinstitutionellen Kooperation (vgl. van Santen u. Seckinger, 2003), um bei einer Kindeswohlgefährdung Schutz und Hilfe organisieren zu können. Nach dem Telefonat mit der Erzieherin bespricht sich die ASD-Fachkraft mit der Co-Fachkraft. Anschließend findet eine Fallbesprechung mit der ASD-Leitung zur Gefährdungseinschätzung und Planung des weiteren Vorgehens statt. Die Äußerung des Kindes, nicht nach Hause zu wollen, könnte als Bitte um eine ION verstanden werden, bedarf allerdings der Klärung mit dem Kind. Es wird nicht nur eine akute Krise beim Kind, sondern im ganzen Familiensystem angenommen. Zur weiteren Klärung wollen die beiden ASD-Fachkräfte im direkten Anschluss ein Gespräch im Hort mit der Erzieherin und dem Kind führen. Von dort wird dann versucht, den Vater telefonisch zum Gespräch in den Hort einzuladen. Eine weitere Fachkraft aus dem ASD wird Kontakt zu möglichen ION-Stellen aufnehmen und freie Platzmöglichkeiten eruieren …
Zutaten gelingender innerinstitutioneller und interinstitutioneller Kooperation Wenn im ASD gewichtige Hinweise und Sorgen bezüglich der Gefährdung eines Kindes/Jugendlichen bekannt werden, soll das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte eingeschätzt werden (vgl. § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII). Mit diesem Standard soll ein fachlicher Abwägungs- und Entscheidungsprozess
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gewährleistet werden. Dabei sind nicht nur die weiteren Handlungsmöglichkeiten und gegebenenfalls erforderliche Schutzmaßnahmen zu klären, sondern auch die Wechselwirkungen zu reflektieren mit Blick auf mögliche Folgen für das Kind, die Eltern und den weiteren Hilfeprozess. Zu diesem Zeitpunkt sind häufig nur unzureichende Informationen über die Situation des Kindes, der Eltern und der gesamten Familie bekannt. Der Kontext der vermuteten Gefährdung des Kindes beeinflusst den weiteren Prozess des Fallverstehens. Dieser findet »(fast) immer unter Entscheidungsdruck statt. Und dann muss gefragt werden: ist Schutz durch Eingriff erforderlich oder ermöglichen Entlastung und Unterstützung ausreichenden Raum für Entwicklung?« (Schrapper, 2021, S. 407). Die Arbeit mit familiären Krisen und der Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern/Jugendlichen ist auch für die Fachkräfte des ASD herausfordernd und belastend. Neben ausreichend Personal sind unterstützende Strukturen innerhalb der Organisation unbedingt erforderlich, damit Hilfe für die Helfer:innen bereitgehalten wird, etwa durch Co- und Teamarbeit in der Fallbearbeitung, Fort- und Weiterbildung sowie Supervision zur Fall- und Selbstreflexion. Und gerade in offenen Hilfeprozessen, in denen auch Fachkräfte unsicher und ambivalent sind, werden mit dem Einbezug von Leitungskräften die nächsten Handlungsschritte entwickelt und Entscheidungen gemeinsam verantwortet. Damit hilfeorientierter Kinderschutz in der Praxis wirken kann, braucht es meistens auch andere Institutionen (innerhalb und außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe) sowie im konkreten Einzelfall die jeweiligen – schon beteiligten oder zu beteiligenden – Institutionsvertreter:innen. Nicht nur durch die Dynamiken und Themen des Falls (z. B. Konflikte, Grenzverletzungen, Machtmissbrauch, Gewalt), sondern auch aufgrund der unterschiedlichen organisatorischen wie professionellen Logiken und rechtlichen Grundlagen der jeweiligen (Kinderschutz-)Arbeit sollten Kooperationsprozesse dialogisch entwickelt und gestaltet werden und u. a. folgende Zutaten enthalten: gegenseitige Wertschätzung der Kooperationspartner:innen, Wissen über die jeweiligen institutionellen Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen sowie deren Akzeptanz und nicht zuletzt eine Bereitschaft zur Klärung von Konflikten. Gerade bei der Abwägung und Entscheidung des ASD über die ION eines Kindes/Jugendlichen im Kontext einer möglichen dringenden Gefahr werden im Einzelfall immer wieder auch kon träre Perspektiven der beteiligten professionellen Akteur:innen deutlich, die eine ION entweder als unmittelbar notwendig oder (noch) nicht erforderlich sehen. Um Schutz und Hilfe (nicht nur) während und nach einer ION leisten zu können, bedarf es einer entwickelten und ausdifferenzierten regionalen Hilfelandschaft. Damit in der oft durch Zeit- und Handlungsdruck geprägten Einzelfallarbeit Schutz- und Hilfeprozesse eingeleitet werden können, lohnt es sich,
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Kooperationsbeziehungen zu unterschiedlichen Einrichtungen und deren Fachkräften aufzubauen und regelmäßig zu pflegen. Exemplarisch werden hier einzelne Institutionen inner- und außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe aufgelistet: Ȥ Kooperation mit den stationären ION-Angeboten: Um das Kind/die Jugendliche im Rahmen der ION in einer geeigneten Einrichtung unterbringen zu können, bedarf es entsprechend verfügbarer Plätze etwa in einer Kinderu. Jugendschutzstelle, einer Familiären Bereitschaftsbetreuung oder einer stationären Einrichtung mit ION-Plätzen. Diese Einrichtungen bieten dem Kind/Jugendlichen einen sicheren Ort; deren Fachkräfte unterstützen und begleiten das Kind/die Jugendliche über die gesamte Dauer der ION. Ȥ Kooperation mit der Kinderklinik: Bei der Durchführung einer ION kann es beispielsweise Hinweise auf Verletzungen des Kindes/Jugendlichen geben. Hier braucht es die fachliche Expertise der Kinder- und Jugendmedizin, damit mögliche Verletzungsmuster diagnostiziert und behandelt werden können. Ȥ Kooperation mit der Polizei: Wenn bei der ION die Anwendung des sogenannten unmittelbaren Zwangs erforderlich wird (weil z. B. das Kind unter Einsatz von Gewalt einer Person weggenommen werden muss), so hat der ASD die Polizei hinzuzuziehen, damit diese auf der Grundlage des Vollstreckungsgesetzes des jeweiligen Bundeslandes Vollzugshilfe leistet. Die Polizei kann im Einzelfall auch gebeten werden, durch ihre Anwesenheit eine Gesprächssituation zur Sicherheit aller Anwesenden zu deeskalieren. Um im Rahmen der Gefahrenabwehr kooperieren zu können, ist es jedoch wichtig, sich bezogen auf die Aufgaben von Polizei und ASD der jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen (z. B. durch den Vertrauens- und Datenschutz der Kinder- und Jugendhilfe; vgl. Radewagen, 2021) bewusst zu sein (vgl. Trenczek, Düring u. Neumann-Witt, 2017, S. 327). Ȥ Kooperation mit den Trägern ambulanter bzw. stationärer Hilfen: Nicht nur ambulante Erziehungshilfen werden nach einer ION geleistet und von Eltern in Anspruch genommen (eigenmotiviert oder nach Hinwirken durch den ASD oder das Familiengericht, da die entsprechende Hilfenotwendigkeit gesehen wird; vgl. Maier, 2021, S. 462 ff.). Wenn zum weiteren Schutz des Kindes eine stationäre Hilfe zur Erziehung (im Rahmen von Vollzeitpflege oder Heimerziehung) für notwendig gehalten wird, kann dies das Ergebnis der gemeinsamen Klärung mit den Eltern und gegebenenfalls dem Familiengericht sein. Sollten Eltern in diesem Zusammenhang nicht bereit sein, zur Abwendung der weiteren Gefährdung ihres Kindes Hilfe zu beantragen, kann in der Folge das Familiengericht (ggf. nach Anregung durch den ASD) einen Teilentzug der elterlichen Sorge beschließen und das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht, Leistungen nach SGB VIII zu beantragen, auf
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eine:n Ergänzungspfleger:in übertragen. Diese:r hat dadurch die Verantwortung und Möglichkeit, die entsprechende Hilfe für das Kind zu beantragen. Ȥ Kooperation mit dem Familiengericht: Gemäß § 157 FamFG soll das Familiengericht in Verfahren nach § 1666 BGB mit den Eltern und auch mit dem Kind erörtern, wie einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls, insbesondere durch öffentliche Hilfen (zur Erziehung), begegnet werden und welche Folgen die Nichtannahme notwendiger Hilfen haben kann. Der ASD ist bei diesen Verfahren im Rahmen der Mitwirkung beteiligt. »Ungeachtet der Unterschiede in Aufgaben und Vorgehensweisen sind JA und FamG im Hinblick auf einen effektiven Kindesschutz aufeinander angewiesen, sie bilden im Hinblick auf das staatliche Wächteramt eine Verantwortungsgemeinschaft« (Trenczek, Düring u. Neumann-Witt, 2017, S. 189). Das Familiengericht (FamG) kann die notwendigen Beschlüsse erlassen, das Jugendamt (JA) ist in der Lage, Kinder, Jugendliche, Eltern und die ganze Familie mittels geeigneter Hilfeleistungen zu unterstützen. Nach einem kurzen Vorgespräch mit der Erzieherin reden die beiden ASD-Fachkräfte anschließend gemeinsam mit ihr und dem Kind. Das Kind wurde durch die Erzieherin vorab schon informiert, dass es dieses Gespräch im Hort geben wird. Dennoch stellen sich die beiden vor und erklären dem Kind, was die Aufgaben eines ASD sind, wenn es einem Kind nicht gut geht und es nicht nach Hause möchte. Die Information, dass der Papa angerufen und in den Hort eingeladen wird, quittiert das Kind mit einem Nicken. Im weiteren Gespräch fragen die ASD-Fachkräfte das Kind zur aktuellen Situation. Das Kind erzählt mit Unterstützung der Erzieherin … Nach der telefonischen Einladung durch die ASD-Fachkraft kommt der Vater des Kindes in den Hort. Gemeinsam mit der Hortleitung führen die beiden ASD-Fachkräfte das Gespräch mit ihm. Die Erzieherin bleibt bei dem Kind im Gruppenraum. Nach einer kurzen Vorstellung wird dem Vater der Rahmen für die aktuelle Situation und die damit zusammenhängenden Aufgaben des ASD erläutert: Es geht um die gemeinsame Klärung der Krisensituation mit Blick auf die Bedürfnisse des Kindes, für die neben der bereits erfragten Perspektive des Kindes auch die Sichtweise der Eltern sehr wichtig ist. Der Vater berichtet, dass seine Frau aktuell im Krankenhaus sei und sie deshalb heute nicht mit einbezogen werden könne …
Beteiligung der Familie Gerade bei der Partizipation der Eltern, der Kinder und Jugendlichen, ja, der ganzen Familie, zeigt sich, wie sehr systemische Haltungen und Praxis anschlussfähig an die rechtlichen Grundkonstruktionen des Kinderschutzes und die fach-
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lichen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe sind. Sowohl bei der Gefährdungseinschätzung (gem. § 8a Abs. 1 SGB VIII) als auch bei der ION (gem. § 42 Abs. 2 u. 3 SGB VIII) sind das Kind und seine Eltern zu beteiligen, nicht nur, was die Einschätzung der aktuellen Gefährdungssituation betrifft, sondern auch hinsichtlich der Möglichkeiten zur Abwendung der Gefährdung und zum Schutz des Kindes (es sei denn, der Schutz des Kindes ist durch einen unmittelbaren Einbezug der Eltern noch schwieriger herzustellen, z. B. bei vermuteter innerfamiliärer sexualisierter Gewalt gegen das Kind). Wie es Eltern gelingt, die Grundbedürfnisse ihres Kindes (vgl. Maywald, 2021, S. 13 ff.) zu erfüllen, hängt u. a. davon ab, wie es ihnen aktuell geht, welche eigenen biografischen Erfahrungen sie dahingehend gemacht haben und welche persönlichen und materiellen Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen, um entsprechend handeln zu können. Kron-Klees (2008, S. 36 ff.) sieht auch im Kontext von Kindeswohlgefährdung die Wechselwirkungen zwischen Elternwohl und Kindeswohl. Daher werden nach Hinweisen auf eine Gefährdung ihres Kindes die Eltern einbezogen, um mit einer offenen Haltung des Nichtwissens (vgl. Barthelmess, 2016, S. 89 ff.) ihre Perspektiven, Probleme und Ressourcen herauszuarbeiten. Durch diese »Selbstbeauftragung« (Hosemann u. Geiling, 2013, S. 154) des ASD ist es möglich, die oft tabuisierten Sorgen um ein Kind ernst zu nehmen und diese mit den für Sorgen um ein Kind zuständigen Eltern zu thematisieren, sollten diese von sich aus (noch) nicht (wie erforderlich) tätig geworden sein. Der Einbezug von Kindern und Jugendlichen bei der Einschätzung ihrer möglichen Gefährdung durch ein Tun oder Unterlassen der eigenen Eltern erfordert bei den Fachkräften neben der konzeptionellen und methodischen Ausstattung dafür (vgl. Delfos, 2015; Gründer, Kleiner u. Nagel, 2013) vor allem Herz und Mut, um mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu gehen und ihnen zuzuhören. Kinder und Jugendliche wollen nicht nur im Klärungs- und Hilfeprozess gesehen, miteinbezogen und informiert werden, wie es weitergeht (vgl. Wolff et al., 2014, S. 59 ff.), sondern auch bei der ION (vgl. Abels, 2020, S. 206 ff.). Sie wollen ernst genommen und gehört werden und auch, dass ihr Schweigen akzeptiert wird. Im Zusammenhang mit ihrer Loyalität auch gegenüber z. B. vernachlässigenden und misshandelnden Eltern wollen sie in der Regel keinen Abbruch der Beziehungen, sondern dass ihren Eltern geholfen wird, die Vernachlässigung und Misshandlung zu beenden – und dass ihre Eltern bereit und in der Lage sind, aktiv und beharrlich an der Abwendung der Gefährdung zu arbeiten. Wenn die elterliche Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit jedoch (noch) nicht vorhanden ist und die Gefahr für das Kind sehr akut ist bzw. das Kind in Obhut genommen werden will, kann es nichtsdestotrotz erforderlich werden, das Kind im Rahmen von Nothilfe zu schützen und es an einen sicheren Ort mit unterstützenden und ihm
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zugewandten Menschen zu bringen. Bei der Beteiligung von Kindern, die sich (noch) nicht sprachlich ausdrücken können, ist es mindestens die Aufgabe, diese Kinder (ggf. in ihrer häuslichen Umgebung) zu sehen. Im Abwägungsprozess wird letztlich nach der für das Kind am wenigsten schädlichen Alternative gesucht (vgl. Goldstein, Freud u. Solnit, 1974, S. 49 ff.), auch mit dem Hintergrund, dass eine Unterbringung des Kindes und der damit zusammenhängenden Trennung von den Eltern immer zu einer Belastung des Kindes führt. Deshalb ist die Krisenbegleitung des Kindes für die Dauer der ION nicht nur für die weitere Perspektivklärung bedeutsam, sondern auch zur Stressreduktion und Erholung. Anleitung zum effektiven Scheitern In Anlehnung an die systemische Verschlimmerungsfrage »Was müssten Sie tun, damit alles noch viel schlimmer wird?« werden im Folgenden einige Überlegungen beschrieben, was Fachkräfte im Kontext von Gefährdungseinschätzung und ION tun müssten, damit der Prozess scheitert: Ȥ Nehmen Sie lieber zu früh als zu spät in Obhut! Damit Ihnen niemand vorwerfen kann, Sie hätten nicht gehandelt. Reduzieren Sie die differenzierte Logik des Schutzauftrags auf ein Eingreifen durch das Jugendamt. Im Kinderschutz geht es schließlich auch um die eigene Absicherung. Ȥ Verzichten Sie auf den Einbezug von Eltern und Kind bei der Gefährdungseinschätzung und beharren Sie darauf, dass Sie fachlich sehr wohl allein in der Lage sind, eine objektive Einschätzung zur möglichen Gefährdung des Kindes vorzunehmen. Ȥ Führen Sie nach einer sorgenvollen Mitteilung, die hier natürlich Meldung genannt wird, immer einen unangekündigten Hausbesuch durch, unabhängig davon, ob die Hinweise auch eine andere Möglichkeit der Kontaktaufnahme zugelassen hätten. Machen Sie bei jedem Termin mit der Familie deutlich, dass Sie Mitarbeiter:in der Eingriffsbehörde Jugendamt sind, und erhöhen Sie ruhig bewusst den Druck auf die Eltern, sollten diese nicht bereit sein, die von Ihnen vorgeschlagene Hilfe anzunehmen. Ȥ Nehmen Sie kein Kind in Obhut, selbst dann nicht, wenn es darum bittet! Gehen Sie davon aus, dass mit einer ambulanten Hilfe eine ION in jedem Fall vermieden werden kann, denn durch eine ION wird die Kooperationsbeziehung zu den Eltern unnötig beeinträchtigt. Ȥ Und führen Sie ja keine Gespräche mit dem Kind, sondern nur mit den Eltern! Es geht zwar um Kinder als Opfer einer Kindeswohlgefährdung, aber wie diese abgewendet werden kann, ist Sache der Erwachsenen.
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Haltungen und methodische Häppchen systemischer Kinderschutzarbeit Im Folgenden werden exemplarisch einzelne Haltungen und Methoden systemischer Kinderschutzarbeit im Kontext einer möglichen ION skizziert: Ȥ Allparteilichkeit: »Kindern geht es gut, wenn Eltern ihr Elternwohl verwirklichen. Kindern geht es eher schlecht, wenn Eltern ihr Elternwohl vernachlässigen« (Kron-Klees, 2008, S. 37). Mit einer allparteilichen Haltung werden im systemischen Kinderschutz die Grundbedürfnisse der Kinder in Relation mit den elterlichen Möglichkeiten gesetzt, diese zu gewährleisten und zu erfüllen. Wenn die Eltern dazu nicht mehr oder noch nicht wie mindestens erforderlich in der Lage sind, können sie sich mit der Bereitschaft zur Hilfeannahme im Interesse ihres Kindes auf den Weg der Veränderung machen. Sollten sie dazu nicht bereit und in der Lage sein, wird der Schutz des Kindes im Rahmen von Nothilfe die Eltern davor bewahren und schützen, ihr Kind (weiter) zu schädigen. Ȥ Keine Beobachtung ohne Beobacher:in: Die ASD-Fachkräfte sind in den beschriebenen Prozessen Beobachter:innen, die nicht nur gefordert sind, die Beobachtungen der anderen Beteiligten zu verstehen, sondern auch die eigenen Beobachtungen zu beobachten (z. B. was nehme ich in den Blick, was nehme ich nicht in den Blick bzw. was sehe ich gar nicht? Welche Erklärungen nehme ich vor bzw. nehme ich nicht vor? Wie bewerte ich das Beobachtete bzw. welche Bewertungen nehme ich nicht vor?) (vgl. Barthelmess, 2016, S. 66 ff.). Ȥ Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt: Wirklichkeitskonstruktionen, die in der Kinderschutzarbeit vorgenommen werden, sind auch davon beeinflusst, welche Kontextbedingungen durch die Fachkräfte innerhalb ihrer Organisationen gestaltet werden können (vgl. Barthelmess, 2016, S. 62 ff.). Wenn z. B. Eltern sich eigenmotiviert und hilfesuchend an den ASD wenden, weil sie Probleme bei der Versorgung und Erziehung ihres Kindes sehen, können hypothesengeleitet die damit zusammenhängenden funktionalen und zirkulären Beziehungs- und Handlungsmuster erfragt werden. Wenn Eltern durch den ASD zur Gefährdungseinschätzung eingeladen werden, weil es gewichtige Hinweise auf Probleme bei der Versorgung und Erziehung des Kindes gibt, kann es Unterschiede bei der Kontextgestaltung geben. Werden auch hier die Eltern ermutigt und unterstützt, ihre Sichtweisen zu den aktuellen Problemen (trotz Scham und Angst vor möglichen Konsequenzen) im Dialog mit der Fachkraft darzulegen, damit eine gemeinsame Problemkonstruktion und passende Hilfemöglich-
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keiten entwickelt werden können? Oder sammelt die Fachkraft im Rahmen einer verdachtsgeleiteten Problemkonstruktion einseitig Beweise für die eigenen Annahmen, um daraus das weitere Handeln abzuleiten? Im Kontext einer ION bzw. einer Anrufung des Familiengerichts können die Wirklichkeitskonstruktionen des ASD zur Situation des Kindes und der Eltern dominant werden, wenn etwa das Kind schwere körperliche Gewalt erfahren hat und die Eltern nicht bereit sind, bei der Gefährdungseinschätzung mitzuwirken. Hier braucht es dann die Begrenzungsmacht der Kinderund Jugendhilfe, um Gewalt und Machtmissbrauch im Familiensystem zum Schutz des Kindes einzuschränken (vgl. Schwing u. Fryszer, 2010, S. 331). Ȥ Ressourcen- und Lösungsorientierung: Hilfeorientierter Kinderschutz bedeutet auch, mit der ganzen Familie zu klären, wie die Gefährdung des Kindes mittels Hilfe zur Veränderung abgewendet werden kann. Damit dies gelingen kann, ist es neben der multiperspektivischen Problemkonstruktion wichtig, den Blick auf die familiären Ressourcen sowie die Stärken und Resilienzen der einzelnen Familienmitglieder zu richten. Es werden diese Fähigkeiten und Kräfte sein, durch die im Rahmen des Hilfeprozesses und der familialen Selbstorganisation kindeswohlsichere Lösungen entwickelt werden können. Ȥ Hypothetische Frage: »Angenommen, Sie würden hier berichten, mit welchem problematischen Verhalten Sie Ihr Kind behandeln, was glauben Sie, was dann passieren würde?« Wenn Eltern sich auf diese Frage einlassen, äußern sie häufig ihre Befürchtung, dass ihnen dann wohl ihr Kind weggenommen würde. Damit sind wir mittendrin im komplexen Geschehen der dialogischen Gefährdungseinschätzung und können benennen, mit welcher Logik und Haltung wir den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung verstehen und versuchen, ihn umzusetzen. Ȥ Reflektierendes Team: In Anlehnung an die Methode des Reflektierenden Teams (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 1997, S. 199 ff.) tauschen sich die beiden Fachkräfte im Dialog vor den anwesenden Familienmitgliedern über ihre Beobachtungen und Einschätzungen aus: »Da wir keine Gedanken lesen können, wissen meine Kollegin und ich voneinander nicht, wie wir darüber denken, was Sie uns erzählt haben. Wir würden uns jetzt vor Ihnen darüber unterhalten. Das ist vielleicht etwas seltsam für Sie, gleichzeitig bekommen Sie ganz offen mit, wie jeder von uns die Situation sieht.« Anschließend können die einzelnen Familienmitglieder gefragt werden, was sie gehört haben und was ihre Gedanken dazu sind. Besonders bei der Entscheidungsfindung, ob das Kind in Obhut genommen werden soll, eignet sich diese Methode für die Co-Arbeit.
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Im weiteren Gespräch kann der Vater benennen, dass es ihm aktuell schlecht gehe und er sich sehr um seine Frau sorge. Auch bestätigt er sein Verhalten gegenüber seinem Kind. Es tue ihm sehr leid und er wolle die Situation und sich verändern. Über das Angebot der ambulanten sozialpädagogischen Krisenhilfe sei er sehr froh. Er habe gar nicht gewusst, dass es so etwas gebe und dass er mal so etwas brauche. Im anschließenden gemeinsamen Gespräch mit Vater und Kind bekommt das Kind mit, wie der Vater die Situation sieht. Er sei froh, auch wenn er sich dafür schäme, dass das Kind heute seine Not so deutlich im Hort erzählt habe. Dadurch könne er und wolle er die Situation für das Kind verändern. Das Kind ist erleichtert, das zu hören, und will anschließend mit dem Papa nach Hause gehen. Die ASD-Fachkräfte vereinbaren vorher noch einen Termin mit dem Vater für den nächsten Tag … Oder: Im weiteren Gespräch kann der Vater benennen, dass es ihm aktuell schlecht gehe und er sich sehr um seine Frau sorge. Er sei völlig an seinen Grenzen, auch was die Versorgung des Kindes betreffe. Möglicherweise begebe er sich selbst zur stationären Behandlung in die Klinik, der Hausarzt habe ihm dies schon nahegelegt. Über das Angebot der stationären Krisenhilfe für das Kind bei einer Bereitschaftspflegefamilie sei er froh. Er habe gar nicht gewusst, dass es so etwas gebe und sie als Familie mal so etwas brauchen könnten. Im anschließenden gemeinsamen Gespräch kann der Vater sein Bedauern gegenüber seinem Kind ausdrücken. Da es ihm selber schlecht gehe, wolle er, dass das Kind so lange in einer Pflegefamilie gut versorgt werde, bis er Versorgung und Erziehung des Kindes wieder zu Hause übernehmen könne. Das Kind weint und ist sehr traurig über die Entscheidung des Vaters, erklärt sich aber einverstanden, nachher mit der Pflegemutter mitzufahren … Oder: Im weiteren Gespräch kann der Vater benennen, dass es ihm aktuell schlecht gehe und er sich sehr um seine Frau sorge. Im Laufe des Gesprächs wird er aus Sicht der ASD-Fachkräfte zunehmend lauter und aggressiver erlebt und kann sich auch nach Aufforderung fast nicht regulieren. Was das Kind erzählt habe, stimme nicht, es lüge und wolle nur auf sich aufmerksam machen, so der Vater. Das werde er nachher dem Kind zu Hause schon klar machen. Nach einer Unterbrechung reden die beiden ASD-Fachkräfte erneut mit dem Kind und teilen ihm die Einschätzung mit, dass sie es sowohl aufgrund der Äußerung, nicht nach Hause zu wollen, als auch nach Einschätzung der beiden ASD-Fachkräfte heute in einer Bereitschaftspflegefamilie unterbringen wollen, damit es dort zu Abend essen und schlafen kann. Das Kind ist damit einverstanden. Dem Vater teilen die ASD-Fachkräfte mit, dass sie das Kind in Obhut nehmen. Die Verpflichtung des ASD ergebe sich aus der Äußerung
Inobhutnahme
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des Kindes, nicht nach Hause zu wollen. Die Unterbringung des Kindes in einer Bereitschaftspflegefamilie biete dem Kind einen sicheren Rahmen vor möglicher verbaler und körperlicher Gewalt durch den Vater und bewahre den Vater davor, verbale und körperliche Gewalt gegenüber seinem Kind auszuüben. Der Vater findet die Einschätzung und das Handeln der ASD-Fachkräfte völlig übertrieben, der ION seines Kindes widerspricht er allerdings nicht. Nach der Bitte der ASD-Fachkraft gelingt es ihm anschließend, sich von seinem Kind ruhig zu verabschieden und ihm die Erlaubnis zu geben, heute in die Pflegefamilie zu gehen. Mit dem Vater wird für den nächsten Tag ein weiterer Termin vereinbart, auch um zu klären, wie die Mutter miteinbezogen und informiert werden kann … Oder: …
Wie geht es weiter? Die ASD-Fachkräfte bleiben auch nach einer ION (und evtl. einem familiengerichtlichen Verfahren) in der Regel weiterhin im Kontakt mit der Familie, um im Rahmen des anschließenden Hilfeprozesses und durch die Leistungserbringung des Hilfeanbieters die Eltern – und dadurch das Kind – zu unterstützen, die Situation, die zur ION geführt hat, gut genug zu verändern. »Die Inobhutnahme eines Kindes ist in der Regel nicht das Ende, sondern der (Neu-) Anfang in der sozialpädagogischen Arbeit mit den Eltern« (Gerber, 2019, S. 269). Literatur Abels, I. (2020). Beteiligung. Ein Kinderrecht in der Inobhutnahme. In Fachgruppe Inobhutnahme (Hrsg.), Handbuch Inobhutnahme. Grundlagen – Praxis und Methoden – Spannungsfelder. Frankfurt am Main: IGfH-Eigenverlag. Barthelmess, M. (2016). Die systemische Haltung. Was systemisches Arbeiten im Kern ausmacht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Beckmann, J. (2021). Elterliche Selbstbestimmung im Kinderschutz. Rechtliche Analyse unter Einbeziehung ethischer und sozialpädagogischer Aspekte. Baden-Baden: Nomos. Böwer, M., Kotthaus, J. (2018). Einleitung. In M. Böwer, J. Kotthaus (Hrsg.). Praxisbuch Kinderschutz. Professionelle Herausforderungen bewältigen (S. 9–17). Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Brandhorst, F. (2015). Kinderschutz und Öffentlichkeit. Der »Fall Kevin« als Sensation und Politikum. Wiesbaden: Springer VS. Conen, M.-L. (2014). Kinderschutz: Kontrolle oder Hilfe zur Veränderung? Soziale Arbeit kon trovers 9. Berlin: Verlag des Deutschen Vereins. Dahlheimer, S. (2021). Familie unter Verdacht. Mechanismen und Folgen medialer Skandalisierungen von Kinderschutzfällen. Bielefeld: Transcript Verlag.
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6.5 Dialogisch-systemische Hilfeplanung in angeordneten Kontexten – Beispiel Frühe Hilfen und Sozialpädagogische Familienhilfe Birgit Maschke, Gabriele Biehl, Detlef Schütze
Der Mensch ist sein Leben lang angewiesen auf das Zusammenspiel mit anderen Menschen. In seinem ersten Lebensjahr bergen aber Mängel in der Zuwendung und Versorgung besonders große Gefahren, die den Rest seines zukünftigen Lebens beeinflussen können. Er benötigt zeitnahe angemessene Reaktionen auf Bedürfnisäußerungen, regelmäßige Pflege und Versorgung mit Nahrung und liebevolle Zuwendung, um eine gesunde Persönlichkeit entwickeln zu können. Ein Säugling kann schon nach Stunden ohne Flüssigkeitszufuhr sterben. Weil wir dies wissen, sind wir in Fällen, in denen wir nicht sicher sein können, ob die Eltern gerade in der Lage sind, diese notwendige Versorgung zu leisten, schnell in einem Arbeitsbereich, in welchem wir die Annahme der Hilfe nicht mehr den Eltern allein überlassen können.
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Gleichzeitig sind Eltern nach der Geburt eines Kindes in der Regel voller Hoffnung auf eine gute Zukunft für ihr Kind. Der Wille, gute Eltern für ihr Kind zu sein, und die Bereitschaft, dabei Hilfe anzunehmen, sind groß. Die Ausstrahlung von Säuglingen und Kleinkindern öffnet Herzen und beeinflusst die Ausschüttung von Wohlfühlhormonen – alles ideale Voraussetzungen für Erwachsene, dysfunktionale Muster aufzugeben, Neues auszuprobieren und zu lernen. Aufgrund der hohen Vulnerabilität sind wir bei der möglichen Gefährdung eines Säuglings schnell dabei, zu überlegen, ob und wann wir im Auftrag der Gesellschaft einen Eingriff in die elterliche Sorge beim Familiengericht anregen dürfen und müssen. Bedürfnisse nach Absicherung und eine Vielfalt begleitender ambivalente Emotionen sind bei den beteiligten Fachkräften in der Regel zu erwarten. Rollenklarheit und verlässliche Kooperation sind daher in diesem Feld der Kinderschutzarbeit von ganz besonderer Bedeutung. Für die praxisnahe Darstellung von dialogisch-systemischer Hilfeplanung in angeordneten Kontexten skizzieren wir im Folgenden zwei Fallgeschichten. Zwei Fallbeispiele (1) Frau A ist im Jugendamt bereits bekannt. Es gibt Hinweise darauf, dass sie ein Alkoholproblem hat. Ihr Sohn Jonas (drei Jahre) lebt in einer Pflegefamilie. Die Fremdunterbringung war notwendig, da Frau A es trotz intensiver Bemühungen und Unterstützung nicht schaffte, ihm eine verlässliche Beziehung und Versorgung anzubieten. Der Vater von Jonas ist ebenfalls alkoholabhängig und zeigt kaum Interesse an seinem Sohn. Frau A ist im Jugendamt bekannt, weil sie wiederholt auf den Fluren sehr laut wurde. Sie zeigt alle Anzeichen einer Borderlineerkrankung, die aber nicht diagnostiziert ist, da sie eine entsprechende Untersuchung bisher verweigerte. Es war nicht gelungen, eine Problemeinsicht zu erzeugen. Obwohl Frau A der Fremdunterbringung zustimmte, präsentierte sie es als Unrecht, dass das Jugendamt darauf gedrungen habe. Der fallzuständige Mitarbeiter Herr ASD erhält Kenntnis davon, dass Frau A erneut schwanger ist. Im Gespräch mit Frau A berichtet diese, dass mit dem neuen Freund alles besser sei. Sie würde nun kaum mehr trinken und mit ihm eine neue Familie gründen. (2) Das Jugendamt erhält eine anonyme Mitteilung aus der Nachbarschaft. Die Anruferin wohnt in einem Mietshaus über Frau B, welche eine Tochter und einen wenige Wochen alten Säugling hat. Die Frau mache sich große Sorgen, weil der Säugling oft über mehrere Stunden schreien würde. Gestern habe sie beobachtet, wie die Mutter ohne die Kinder das Haus verließ und erst nach mehreren Stunden zurückkehrte. Außerdem höre sie manchmal lautes Streiten. Die Frau wirke so, als ob sie Hilfe brauche. Die Bezirkssozialarbeiterin, Frau ASD, schätzt die Angaben der Anruferin als glaubwürdig ein.
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Bei einem Hausbesuch bestätigt die alleinerziehende Mutter, dass der Säugling viel schreie, leugnet aber, die Kinder (Emmy und Kevin) über längere Zeit allein in der Wohnung gelassen zu haben. Der Vater des ersten Kindes besuche sie manchmal, da könne es schon mal laut werden. Sie brauche aber keine Hilfe vom Jugendamt. Frau ASD schätzt dies anders ein und sieht einen Hilfebedarf. Die Mutter wirkt auf sie verbittert und den Kindern emotional nicht zugewandt. Die dreijährige Emmy wirkt insgesamt bedürftig.
Arbeitskontext Jugendamt Die öffentliche Jugendhilfe hat in Deutschland die Pflicht, aktiv zu werden, wenn sie Anhaltspunkte dafür erhält, dass das Wohl eines Kindes gefährdet sein könnte. (Garantenstellung). Umgesetzt wird diese Garantenpflicht des Jugendamts durch die Mitarbeitenden in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD). Für jedes Kind, welches in Deutschland gemeldet ist, gibt es eine zuständige Fachkraft im ASD. In der Ausgestaltung der Garantenpflicht ist die Sozialarbeiterin oder der Sozialarbeiter im ASD selbstbestimmt und eigenverantwortlich und muss ihr oder sein Handeln oder Unterlassen gegebenenfalls auch im Rahmen eines Strafgerichtsprozesses begründen. Gleichzeitig gibt es gesetzliche Vorgaben, die den groben Rahmen und konkrete Pflichten vorgeben. Die grundlegenden Verhältnisse zwischen elterlichen Rechten und Eingriffsrechten bzw. -pflichten der staatlichen Gemeinschaft sind in verschiedenen Gesetzen geregelt, welche am Ende dieses Buches nachgeschlagen werden können (s. Kapitel 10). Allgemein lassen sich aus den bestehenden Gesetzen folgende Grundprinzipien für die Kinderschutzarbeit in der Jugendhilfe formulieren: Ȥ Eltern und Kinder sind Leistungsberechtigte; Ȥ Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten (§ 5 SGB VIII); Ȥ Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und Eltern (u. a. § 8 SGB VIII); Ȥ Hilfe vor Eingriff (§ 8a SGB VIII). Gleichzeitig erarbeitet sich jedes Jugendamt als Teil einer öffentlichen Verwaltung eigene Leitlinien und formuliert individuelle Handlungspflichten, die auch durch Vorgesetzte kontrolliert werden. Unter diesen gesetzlichen und hausinternen Vorgaben nutzt die Fachkraft im Jugendamt ihr sozialpädagogisches Handwerkszeug, um ein gemeinsam getragenes Fallverstehen zu erwirken und ein gesundes Aufwachsen des Kindes durch die Schaffung notwendiger Fürsorge und Zuwendung in dessen Alltag sicherzustellen. Für die nachgehende Hilfeplanung bei Anhaltspunkten für die Gefährdung eines Säuglings ist es gesetzliche Vorgabe, den Grad der Gefährdung im Zusammen-
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wirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. Für die Gefährdungseinschätzung bewerten wir in der öffentlichen Jugendhilfe die Ȥ Erheblichkeit der möglichen Schädigung (bei Säuglingen und Kleinkindern in der Regel sehr hoch); Ȥ Erziehungskompetenz (bei Säuglingen spezifisch Fürsorge- und Bindungskompetenzen); Ȥ Bereitschaft und Fähigkeit zur Reflexion eigenen Handelns und Kooperation mit Fachkräften (Problem- und Hilfeakzeptanz).
Nachgehende Hilfeplanung Grundsätzlich sind Hilfen durch die Jugendhilfe ein Angebot, welches Eltern annehmen können oder auch nicht. Die Hilfeplanung beschreibt den Prozess der Planung einer Hilfe zur Erziehung für eine Familie gemäß § 27 ff. SGVB III. Liegen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, ist es die Aufgabe der öffentlichen Jugendhilfe, den Eltern eine geeignete Hilfe anzubieten und sie gegebenenfalls für die Annahme der Hilfe auch nachgehend zu motivieren. Es wird nicht abgewartet, ob sich die Eltern für eine Kooperation entscheiden, sondern mit sozialpädagogischem Fachverstand und Eigeninitiative der Fachkräfte daran gearbeitet, dass ein Hilfebündnis entsteht. Gelingt dies nicht und kann die Gefährdung auch nicht mit anderen Mitteln ausgeräumt werden, wird das Familiengericht einbezogen und eine gerichtliche Entscheidung angeregt.
Sozialpädagogisches Handwerkszeug Die Sozialpädagogik versucht, die Selbstwirksamkeit von Menschen in der Gesellschaft zu stärken. Zum sozialpädagogischen Handwerkszeug gehört insbesondere der Erwerb von Grundhaltungen, die in diesem Zusammenhang im Kontakt mit Menschen hilfreich sind, wie Wertschätzung, Interesse für unterschiedliche Perspektiven und gute Gründe, Authentizität, Transparenz. Außerdem gehören praktisch anwendbare Methoden zum Handwerkszeug. Typisch für systemisch orientierte Methoden sind z. B. hypothetische oder zirkuläre Fragen und Skalierungen.
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Hilfeplanung im Jugendamt In beiden Fallbeispielen sind Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gegeben, und es ist die Aufgabe der fallzuständigen Fachkraft im Jugendamt, den erforderlichen Hilfeprozess zu steuern. Während sie im ersten Fall davon ausgehen kann, dass Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung gegeben sind, muss dies im zweiten Fall überprüft werden, da die Hinweise aus einer einzigen privaten Quelle kommen. In beiden Fällen wird die zuständige Sozialarbeiterin im Jugendamt in der Fallakte vermerken, dass es sich hier um einen Kinderschutzfall, einen Fall im Kontext des § 8a SGB VIII, handelt. Das heißt, dass nun bestimmte festgelegte Verfahren einsetzen mit dem Ziel, gemeinsam mit der Familie und anderen Fachkräften ein Verständnis der Situation zu erreichen sowie mögliche und gegebenenfalls notwendige Hilfen anzubieten. Hierzu gehört verbindlich: Ȥ Entscheidungen werden nicht allein getroffen, sondern im Team. Ȥ Die Leitung wird in der Regel informiert/involviert. Ȥ Die Kinder werden persönlich in Augenschein genommen. Ȥ So viele Informationen und Perspektiven wie möglich werden gesammelt (Durchsicht der Akten, ggf. Nachfrage bei anderen Jugendämtern, Gespräche mit privaten und professionellen Bezugspersonen, fallbezogene runde Tische, ggf. Nachfrage bei medizinischen Fachkräften, ggf. Anfragen im Bundeszentralregister). Ȥ Eine Einschätzung der möglichen Gefährdung wird vorgenommen und im weiteren Verlauf der Hilfe stets wiederholt. Ȥ Die Wirkung der getroffene Hilfemaßnahmen und Einhaltung der Schutzvereinbarungen werden kontrolliert (greifen die Zahnräder der verschiedenen Hilfemaßnahmen so ineinander, dass erreicht wird, was damit bezweckt wurde?). (Ein Beispiel für eine Schutzvereinbarung bezogen auf das zweite Fallbeispiel findet sich am Ende dieses Beitrags.)
Schutzvereinbarung In einer Schutzvereinbarung wird schriftlich vereinbart, was die unterschiedlichen Beteiligten an Maßnahmen zusichern, um eine mögliche Kindeswohlgefährdung abzuwenden, die vom Jugendamt eingeschätzt und benannt wird. Sie ist ein möglicher Baustein in einem umfassenden Schutzkonzept, welches das Ziel verfolgt, kurz, klar und verständlich die derzeit wichtigsten To-dos aus der Perspektive des Jugendamts zu formulieren. Die Familie und gegebenenfalls andere beteiligte Fachkräfte
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haben durch die Schutzvereinbarung die größtmögliche Transparenz darüber, was von ihnen aus der Perspektive der öffentlichen Jugendhilfe erwartet wird, mit welcher Unterstützung sie rechnen können und welche Konsequenzen erfolgen, wenn Teile der Vereinbarung nicht eingehalten werden. Problematisiert werden kann die Bezeichnung »Vereinbarung« in diesem Zusammenhang. Aus der Perspektive der Eltern fühlen sich diese in der Regel genötigt, eine solche zu unterzeichnen. Gleichzeitig will die Bezeichnung zum Ausdruck bringen, dass Interesse an einer ernst gemeinten Kooperation besteht, in welcher die Eltern in ihrer Selbstbestimmtheit wahr- und ernst genommen werden. Die Aushandlung einer Schutzvereinbarung ist eine sozialpädagogische Intervention und hat rechtlich gesehen keine bindende Wirkung. Die konstruktive Wirkung ist insbesondere abhängig vom Gestaltungsprozess der Schutzvereinbarung und davon, ob die dort formulierten To-dos und Ziele aus der Perspektive der Familienmitglieder erreichbar sind.
In beiden Fallbeispielen ist ein erstes Gespräch und die erforderliche Inaugenscheinnahme des Kindes erfolgt. Die erste gemeinsam mit anderen Fachkräften des Teams getroffene Einschätzung ergibt, dass hier eine mögliche Kindeswohlgefährdung geprüft werden muss und die Annahme von Hilfe nicht allein den Eltern überlassen werden kann. Wir schauen zunächst auf das zweite Fallbeispiel: Fall 2: Frau ASD möchte zeitnah beide Väter, eine Familienhebamme und eine SPFH-Fachkraft zu einem ersten runden Tisch einladen. Die Mutter, Frau B, wird gefragt, welcher Ort ihr lieb ist und wer gegebenenfalls noch hilfreich sein könnte. Sie macht nochmals deutlich, dass sie keine Hilfe brauche. Frau ASD erläutert ihre Einschätzung und dass sie derzeit verpflichtet ist, Mutter und Kinder nicht allein zu lassen. Frau B kann sich auf ein Gespräch in ihrer Wohnung einlassen mit dem Ziel, die Bezirkssozialarbeiterin wieder loszuwerden. Frau B. gibt an, nicht sicher zu wissen, wer der Vater des kleinen Kevin sei und dass sie gern auch die Kumpel ihres Freundes einladen möchte. Sie einigen sich darauf, dass zwei Kumpel des Vaters eingeladen werden. Frau ASD nimmt telefonisch Kontakt auf zu einer Familienhebamme und einer Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH). Sie stimmt mit ihnen den Termin ab und erläutert dabei möglichst wenig Details zur Familie, damit im Gespräch authentisch vermittelt werden kann, dass die Fachkräfte nicht schon ohne Beteiligung der Eltern ihre Einschätzungen abgestimmt haben. Zu Beginn des runden Tisches macht Frau ASD deutlich, dass konkrete Vereinbarungen getroffen werden müssen, wenn die Familie sie wieder loswerden wolle, und
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bittet alle Anwesenden um Vorschläge. Nach einstündiger Verhandlung, in welcher auch Familienhebamme und SPFH ihre Angebote machen, endet die Runde mit einer konkreten Schutzvereinbarung. Darin verpflichtet sich die Mutter, einmal wöchentlich die Familienhebamme hineinzulassen. Das Angebot der SPFH wird nicht angenommen. Die Mutter stimmt außerdem zu, sich um einen Kindergartenplatz für Emmy zu kümmern. Sie hat eine Woche Zeit, mindestens drei Kindertagesstätten in der Nähe aufzusuchen. Dann meldet sie das Ergebnis per Mail an Frau ASD zurück, von der sie noch heute Adressen von Kindertageseinrichtungen in der Nähe erhält. Die Familienhebamme meldet sich bei der Bezirkssozialarbeiterin, wenn ein Termin ausfällt oder sie Anzeichen beim Säugling sieht, die Anlass zur Sorge geben. Die Mutter unterschreibt, dass sie weiß, wie schnell ein Säugling verdursten kann, und dass sie (wie auch bisher) dafür sorgt, dass immer eine erwachsene Aufsichtsperson in unmittelbarer Nähe ist.
Arbeitskontext Familienhebamme Eine Familienhebamme hat neben ihrer Grundausbildung als Hebamme eine spezifische psychosoziale Weiterbildung, welche sie für die Arbeit mit Familien schult, die nach der Geburt ihres Kindes besondere Herausforderungen zu meistern haben. Fall 2: Die Familienhebamme besucht Frau B in der Woche nach dem gemeinsamen Gespräch zum ersten Mal. Frau B ist es bei diesem Besuch ein besonderes Anliegen, zu schildern, dass sie sich von ihrer Nachbarin denunziert fühle und den Sinn des Drucks, der aufgebaut werde, gar nicht verstehe. Sie sei mit ihren Kindern immer gut zurechtgekommen, der Nachbarin gehe es nur um Streit. Die Hebamme hört zu und fragt nach den Geburten der beiden Kinder und ob Frau B schon beim ersten Kind eine Hebamme gehabt habe. Es stellt sich heraus, dass Frau B einfach und spontan entbunden hat, eine Wochenbettbetreuung kennt sie nicht und weiß daher gar nicht genau, was Hebammenarbeit außer Geburtshilfe eigentlich beinhaltet. Die Hebamme berichtet, was ihre Aufgaben und Möglichkeiten sind und dass Hebammenhilfe jeder Frau zusteht. Außerdem könne Frau B sich jederzeit gegen die Hebammenunterstützung entscheiden, dann werde sie vermutlich andere Hilfe über das Jugendamt bekommen. Frau B beruhigt sich etwas und ist nun in der Lage, gemeinsam mit der Hebamme das Baby zu wickeln. Sie berichtet, dass Kevin viel weint und sie einfach nicht weiß, warum. Der (vermutete) Vater mache ihr deswegen Vorhaltungen, sie fühle sich aber von ihm nicht wirklich unterstützt. Das bringe sie zeitweise so auf, dass sie einfach manchmal das Haus verlassen müsse, um nicht »auszurasten«.
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Beim Wickeln redet Frau B die ganze Zeit, sie verrichtet den Windelwechsel schnell und ohne auf das Kind zu achten. Das Kind fängt an zu quengeln und Frau B sagt: »Jetzt geht es wieder los, sehen Sie!« Die Hebamme arbeitet von jetzt an bei jedem Besuch daran, Frau B ihr Baby vertrauter zu machen. Sie holt sich die Erlaubnis von Frau B, manchmal auf Verlangsamung im Handling zu achten, sodass Frau B besser wahrnehmen kann, was mit dem Kind gerade los ist. Parallel interessiert sich die Hebamme für Frau B’s eigene Erfahrungen als Kind und es wird deutlich, dass Frau B ihrerseits wenig Liebe und Unterstützung erfahren hat. Immer wieder beklagt Frau B, dass ihr von den Vätern keine Hilfe zuteilwerde, ihr sei einfach alles zu viel und darum falle ihr die Konzentration auf das Baby auch so schwer. Die Hebamme fragt, ob unter diesen Umständen die Hilfe durch eine SPFH nicht eine gute Sache sein könnte. Frau B hat aber große Angst, dass ihr ihre Kinder weggenommen werden würden. Die Hebamme erklärt Frau B, dass die Inanspruchnahme von Hilfe in einer solchen Situation eine sehr verantwortliche Handlung sei, die dem Jugendamt zeigen könnte, dass Frau B die Lebensumstände für sich und ihre Kinder tatsächlich verbessern möchte. Außerdem schätze sie die Situation derzeit so ein, dass Frau B sich tatsächlich adäquat um die Kinder kümmere und nach aktueller Lage der Dinge keine Angst haben müsse. Wenn sich daran etwas ändere, würde man zudem immer zunächst mit Frau B reden und nicht einfach die Kinder wegnehmen. Nach mehreren Anläufen gelingt es, Frau B in einen Elterntreff einzuladen, den die Hebamme in einem Familienzentrum anbietet. Dort lernt Frau B eine Mutter kennen, die ebenfalls eine SPFH hat und Frau B von ihren Erfahrungen berichtet. Mit Unterstützung der Familienhebamme gibt es nun immer wieder Momente, in denen Frau B die Bedürfnisse ihres Säuglings angemessen wahrnehmen und darauf reagieren kann. Dann ist sie stolz, ihr Baby selbst beruhigen zu können. Gleichzeitig macht ihr die Organisation ihres Lebens weiterhin so viel Stress, dass sie immer wieder in Überlastungssituationen gerät. Frau B ist nach wie vor sehr unsicher, kann sich jetzt aber vorstellen, die SPFH zuzulassen, da sie besser versteht, dass es sich um eine zeitlich begrenzte Hilfe handelt und sie ein Wunsch- und Wahlrecht hat. Die Bestärkung durch die Familienhebamme, die positives Feedback zu ihrer Entwicklung gibt, hilft ihr bei diesem Schritt. Beim nächsten runden Tisch stellt die Mutter einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung.
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Fallkoordination im Jugendamt In Fällen, in denen sich Fachkräfte darum Sorgen machen, ob die körperliche und emotionale Versorgung eines Kindes durch ihre alltäglichen Bezugspersonen ausreichend ist, um das gesunde Wachsen des Kindes zu gewährleisten, sind in der Regel mehrere Fachkräfte beteiligt, die Kontakt zur Familie haben und helfen wollen. Für eine effektive Hilfe im Sinne der Familie ist es notwendig, dass alle beteiligten privaten und professionellen Bezugspersonen ihre Perspektiven gegenseitig in Kontakt bringen und voneinander wissen. Ohne diesen Austausch besteht die Gefahr, dass die Familie durch die Anliegen der Helfer:innen überfordert oder durch unterschiedliche Beratung, was zu tun sei, verunsichert wird. Um die Selbstwirksamkeit der Familie zu stärken, ist es notwendig, dass Familie und Helfer gemeinsam kontrollieren, ob die einzelnen Hilfen insgesamt zu den gewünschten oder auch notwendigen Erfolgen führen. Die ASD-Fachkraft im Jugendamt hat die Aufgabe, diesen Austausch zu koordinieren. Neben dem runden Tisch gibt es im Jugendamt das Hilfeplangespräch, welches zur Einrichtung einer Einzelfallhilfe und danach mindestens halbjährlich geführt wird. Im Hilfedreieck steht das Jugendamt oben, weil es die Hilfeplanung steuert und – insbesondere in angeordneten Kontexten – die Aufgabe hat, die Wirksamkeit der Hilfen zu überprüfen (s. Abbildung 1).
Hilfeplangespräch Beantragt eine Familie eine Hilfe zur Erziehung, wird ein Verwaltungsakt mit verschiedenen Vorgaben ausgelöst. Unter anderem gehört dazu, die Ziele, Inhalte und Dauer der Hilfe festzulegen. Immer beteiligt an einem Hilfeplangespräch ist die Person, welche die Hilfe beantragt sowie gegebenenfalls sonstige Sorgeberechtigte des Kindes, das Kind, um welches es geht (sofern entwicklungsbedingt möglich), und die Fachkraft (oder Fachkräfte), welche die Hilfe durchführen wird. Die Fachkraft im Jugendamt ist frei darin, wie sie ein Hilfeplangespräch gestaltet und wen sie außerdem daran beteiligt. In der Regel ist ein Hilfeplangespräch pro halbes Jahr verbindlich vorgegeben. Nach jedem Hilfeplangespräch wird ein Hilfeplanprotokoll angefertigt und an die Vertragspartner (Sorgeberechtigte und freier Träger der Jugendhilfe) versandt, in Abstimmung auch an andere Bezugspersonen und Hilfeanbieter.
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Sozialrechtliches Dreieck ausschließlich selbstbestimmte Hilfen ASD Leistungsverpflichtet Hilfeplanung und Finanzierung von Hilfen zur Erziehung
Freie Träger der Jugendhilfe Leistungserbringer
Leistungsberechtigte private Bezugspersonen
Unterstützung der Eltern Unterstützung des Kindes
Körperliche und emotionale Versorgung des Kindes
Hilfedreieck im Kinderschutz Aufladung des Sozialrechtlichen Dreiecks mit ordnungsrechtlichen Aufgaben. Hilfe und Einmischung sind notwendig zum Schutz des Kindes. Höhere Anzahl beteiligter Personen erfordert spezifische Koordination.
ASD Hilfeplanung und Finanzierung von Hilfen zur Erziehung, Koordination der Hilfen, Kontrolle
Freie Träger der Jugendhilfe Leistungserbringer Professionelle Bezugspersonen Unterstützung der Eltern Unterstützung des Kindes
Leistungsberechtigte private Bezugspersonen Körperliche und emotionale Versorgung des Kindes
Abbildung 1: Sozialrechtliches Dreieck und Hilfedreieck im Kinderschutz
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Runde Tische (im Dialog) Zu einem (fallbezogenen) runden Tisch werden alle privaten und professionellen Bezugspersonen des Kindes eingeladen, welches im Zentrum der Sorge steht. Der runde Tisch steht für das Symbol des Kreises, welcher, genauso wie die Wahrheit, 360 Grad hat. In der Mitte des runden Tisches ist das, was das Kind zeigt oder als Problem definiert wird. Mit der Methode des Dialogs, nach welcher alle Beteiligten gleichberechtigte Gesprächspartner sind, wird das Problem in der Mitte gemeinsam erforscht. Jede:r teilt seine oder ihre subjektive Sicht und Lösungsideen mit, diese werden nicht bewertet, sondern in die Mitte des Raums gestellt. So entsteht im besten Fall ein gemeinsames Fall- und Hilfeverständnis.
Fall 2: Auf Einladung von Frau ASD treffen sich beim Hilfeplangespräch im Jugendamt Frau B mit ihren beiden Kindern, die Familienhebamme und Herr SPFH von einem Träger der freien Jugendhilfe. Frau ASD hatte in der Zwischenzeit zwei telefonische Kontakte zu Frau B. Emmy hat noch keinen Kindergartenplatz. Die Mutter erläutert, welche Art der Unterstützung für sie hilfreich wäre, Herr SPFH erläutert, was er im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung anbieten kann. Frau ASD ruft die einzelnen Punkte der Schutzvereinbarung auf und fragt nach dem aktuellen Stand der Dinge. Am Ende wird ein gemeinsamer Hilfeplan erstellt, den Frau ASD in ihrem Team vorstellen wird, bevor er endgültig verabschiedet werden kann. Frau ASD würdigt die positiven Entwicklungen und hebt die Schutzvereinbarung auf. Verschiedene konkrete Ziele werden im Hilfeplan benannt.
Arbeitskontext Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) Die Einrichtung einer SPFH kann dann ihre Anwendung finden, wenn ein Personensorgeberechtigter »Hilfe zur Erziehung« beantragt. Sie arbeitet auf Grundlage des SGB VIII § 27 + § 31 als sogenannte Hilfe zur Erziehung. Sozialpädagogische Familienhilfe soll durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Sie ist in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert die Mitarbeit der Familie. Ziel der SPFH ist es, gemeinsam mit der Familie eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu entwickeln, Eltern bei der Erfüllung ihrer natürlichen und rechtlichen Elternschaft zu unterstützen und damit eine angemessene Versorgung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu erreichen. An den unterschiedlichen
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Ressourcen und Fähigkeiten der einzelnen Familienmitglieder orientiert, werden mit der Familie individuelle Ziele und Lösungen entwickelt. Das sind beispielsweise: Ȥ familiäre Beziehungen klären; Ȥ sich mit dem jeweils eigenen sozialen Umfeld auseinandersetzen; Ȥ eigenes Verhalten reflektieren; Ȥ Konfliktfähigkeit trainieren; Ȥ Selbstwertgefühl stärken; Ȥ neues Erziehungsverhalten einüben. Weitere Ziele können die Stärkung und Begleitung bei Neustrukturierung nach oder zur Überbrückung von familiären Krisen sein.
Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) In § 31 SGB VIII wie folgt definiert: Sozialpädagogische Familienhilfe soll durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Sie ist in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert die Mitarbeit der Familie.
Grundsätzlich steht eine SPFH allen Familien, die einen Bedarf an Hilfen zur Erziehung haben, offen. Im Rahmen der SPFH liegt eine besondere Bedeutung bei der konkreten Formulierung der »Anliegen-Schnittstellen« zwischen allen Beteiligten – Jugendamt, Familienmitglieder, SPFH und gegebenenfalls auch Kitas, Schulen, Kinder- und Jugendpsychiatrie etc. Die dort formulierten Anliegen ergeben den Auftrag an die SPFH und werden im Rahmen der Hilfeplanung immer wieder prozesshaft zwischen allen Beteiligten rückgekoppelt. In Fällen einer möglichen Kindeswohlgefährdung kann die SPFH unter der zielgenauen Koordination zwischen ASD und Familienhelfer:innen auch Kontrollaufträge, also Hilfen insbesondere im Kontext von Kindeswohlgefährdungen, übernehmen. Wenn seitens des Jugendamts innerhalb des von den Eltern subjektiv gefühlten »Zwangskontexts« durch den ASD ein klarer Beratungsauftrag an die SPFH formuliert ist, so besteht das Angebot der SPFH darin, gemeinsam mit der Familie die »externe Anforderung« anzunehmen. Nach Marie-Luise Conen (2022) lässt es sich folgendermaßen ausdrücken: »Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden?« Eine klare Zielformulierung seitens des Jugendamts bedeutet z. B.,
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dass formuliert wird, woran der Verdacht auf Vernachlässigung messbar/erkennbar gemacht wird, und auch, ab wann die ASD-Mitarbeitenden davon ausgehen, dass der Beratungsauftrag der SPFH abgearbeitet ist. Die Bearbeitung von nicht allein durch die Eltern formulierten und motivierten Aufträgen im Rahmen der SPFH gelingt im Allgemeinen in dem Maße, in dem die Familienmitglieder zunehmend Eigenanliegen formulieren und ihre eigenen Ressourcen zur Sicherung des Kindeswohls einbringen können. Zur Anwendung und Umsetzung kommen im Rahmen der SPFH u. a. aktivierende Ansätze, um das Selbsthilfepotenzial der Menschen und Familien möglichst auf Grundlage ihrer Stärken zu mobilisieren. Die Familien sollen in die Lage versetzt werden, ihre Belange (wieder) selbst in die Hand zu nehmen, um selbstbestimmt leben zu können. Die gelingt in der Regel, wenn sie den Veränderungsbedarf erkennen. Fall 2: Bei der für beide Kinder allein sorgeberechtigten Frau B stellt sich die SPFH nicht als angeordnete Hilfe oder Zwangskontext dar, da Frau B durch die Motivationsarbeit der Familienhebamme aktiv einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung stellt. Ebenso benennt Frau B eigene Anliegen an die SPFH. Eine System- und Interaktionsanalyse zum Beginn der SPFH ergab, dass sich die Achsen im System dysfunktional gestalten. Die Paarbeziehung zum Kindsvater von Emmy ist getrennt und Umgänge mit Emmy finden kaum statt. Die Kindsmutter erlebe generell wenig Interesse seitens des Kindsvaters an Emmy. Die Paarbeziehung zum von der Kindsmutter inzwischen als Kindsvater von Kevin benannten Mann ist durch Konflikte geprägt, zumal noch keine Klarheit herrscht, ob dieser tatsächlich der Kindsvater ist. Dadurch entsteht ein hohes Maß an Rollenunsicherheit auf der Elternachse. Auch eine funktionale Kinderachse ist nicht gegeben. Die Kindsmutter zeigt sich mit der Versorgung von Kevin überfordert, Emmy wurde nicht altersgemäß in den Schwangerschaftsverlauf und die darauffolgende Zeit involviert. Emmy steht auf der Geschwisterachse kein adäquates Äquivalent außerhalb des Familiensystems zur Verfügung. Auch in der Mehrgenerationenperspektive stehen keine Ressourcen zur Verfügung, da der Kontakt zu den Großeltern der Kinder eher sporadischer Natur ist. Frau B steht somit kein soziales Netzwerk im Familien- oder Bekanntenkreis zur Verfügung. Im Rahmen der Hilfe wird gemäß der Systemanalyse und der Hilfeplanziele zunächst die Kindsmutter dabei unterstützt, für Emmy einen Platz in der Kinder tagesstätte zu bekommen. Emmy gewöhnt sich gut ein und der familiäre Alltag kann dadurch entlastet werden. Die Kindsmutter und ihr Lebensgefährte als vermuteter Kindsvater von Kevin können dahingehend vereinbaren, einen Vaterschaftstest durchführen zu lassen, um hier Gewissheit und auch Rollenklarheit zu bekommen. Parallel dazu findet im
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Livecoaching die Arbeit an der Mutter-Tochter-Interaktion statt, um so der Kindsmutter altersgemäße Erziehungsinterventionen an die Hand zu geben und Emmy in ihrer Bedürftigkeit zu sehen. Bei einer insgesamt positiven Entwicklung stellt eine Konflikteskalation zwischen der Kindsmutter und dem Lebensgefährten einen Einbruch dar: Der Vaterschaftstest von Kevins vermutetem Kindsvater fällt negativ aus, woraufhin dieser in der Wohnung randaliert. Die von Nachbarn alarmierte Polizei spricht eine Wegweisung aus. Im weiteren Verlauf trennt sich die Kindsmutter von ihrem Lebensgefährten. Insgesamt kann die Kindsmutter nachhaltig Vertrauen in das Helfersystem entwickeln und arbeitet entsprechend kooperativ und motiviert im Rahmen der Hilfe.
Zutaten gelingender Kooperation in angeordneten Kontexten Die Annahme von Jugendhilfeleistungen ist freiwillig. Gleichzeitig haben Kinder in Deutschland ein Recht auf ein Mindestmaß an Versorgung und gewaltfreie Erziehung. Reicht das, was die Eltern dem Kind an Versorgung und Schutz geben können, nach Einschätzung der öffentlichen Jugendhilfe nicht aus, hat diese die Aufgabe, das Familiengericht anzurufen, um eine gegebenenfalls notwendige Einschränkung des elterlichen Sorgerechts zu prüfen. Davor hat es die Aufgabe, der Familie alle Hilfen, die geeignet sein könnten, anzubieten. Aus der Perspektive der Familie entsteht in dieser Konstellation der Eindruck fehlender Wahlfreiheit. In Kinderschutzfällen wird daher von angeordneten Kontexten gesprochen, wenn bei Aufkündigung der Arbeitsbeziehung durch die Eltern die Einbeziehung des Familiengerichts eine wahrscheinliche Konsequenz ist. Die wichtigste Zutat für Helfende ist auch in angeordneten Kontexten die innere Ausrichtung, mit welcher sie der Familie und den einzelnen Hilfebeteiligten begegnen. Folgende innere Haltungen sind grundlegend für kooperative Arbeitsbeziehungen: Ȥ Annahme des guten Grundes für jedes Verhalten Helfende unterstellen den Eltern und Fachkräften, dass sie das Beste für das Kind wollen. Jede Grenzverletzung, jedes dysfunktionale Muster entspringt einer inneren Logik und einem subjektiv empfundenen guten Grund, der damit erreicht werden will. Ȥ Authentische Präsenz und authentisches Interesse Helfende interessieren sich für diese – aus der Perspektive der Eltern und Fachkräfte – guten Gründe und Entstehensbedingungen. Sie interessieren sich insgesamt für die Perspektive, Bedürfnisse und Lösungsideen aller Hilfebeteiligten.
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Ȥ Transparentes Zur-Verfügung-Stellen der eigenen Wahrheit und Fachlichkeit Als Partner:innen in der Erziehung des Kindes stellen Helfende den Eltern ihre Beobachtungen und ihre Fachlichkeit ehrlich und wertschätzend zur Verfügung. Ebenso anderen Fachkräften im Beisein oder mit Wissen der Eltern. Ȥ Akzeptanz verschiedener Wahrheiten Helfende wissen, dass die Wahrheit 360 Grad hat und ihre Perspektive nur eine von vielen ist. Ȥ Ressourcenorientierung Helfende heben hervor, was dem Kind, Eltern und anderen Fachkräften nach ihrer fachlichen Meinung gut gelingt. Sie glauben daran, dass jedes Problem, scheint es auch noch so groß, gelöst werden kann. Sie kennen verschiedene Methoden, die sie lustvoll anwenden, und wissen positive Geschichten von Entwicklungen in anderen Familien zu erzählen. Ȥ Verbindlichkeit im Handeln Helfende akzeptieren die Einschätzung der Eltern und die von anderen beteiligten Fachkräften. Gleichzeitig würdigen und reflektieren sie ihre eigene fachliche Einschätzung und bringen diese aktiv in die Arbeit mit der Familie und in die Hilfe- und Interventionsplanung ein. Als besonders wichtige Zutaten für angeordnete Kontexte können außerdem zwei hervorgehoben werden: Maßgeblich ist die Rollenklarheit der beteiligten Helfer:innen gegenüber der Familie und im Hilfesystem. Auch in Kinderschutzfällen bleibt die Verantwortung für die Annahme von Hilfen bei den Eltern. Fachkräfte bringen ihre Ressourcen zur Unterstützung der Familie ein, wie in allen anderen Hilfen auch. Die Familienmitglieder müssen erkennen, dass die Helfer:innen parteilich sind für die Eltern und Kinder. Zusätzlich gibt es gegebenenfalls Schutzvereinbarungen, in welchen klar definiert ist, wer welche Aufgaben zum Schutz des Kindes übernimmt. In begründeten Fällen ist es sinnvoll – zusätzlich zu den angebotenen Hilfen –, Schutzvereinbarungen zu gestalten und zu überprüfen. Erste Forschungen zeigen, dass soziale Kontrolle und »gezwungene Freiwilligkeit« auch positiv erlebt werden kann (vgl. LWL-Landesjugendamt Westfalen, 2013). Aus der langjährigen Erfahrung mit Suchtsystemen wissen wir, dass die Aufgabe dysfunktionaler Muster einen starken Impuls braucht, um Problemakzeptanz und Bereitschaft zur Hilfeannahme aufzubauen und alternatives Verhalten zu erproben. Dieser Impuls kann auch durch Fachkräfte Wirksamkeit entfalten (extrinsische Motivation). Im Folgenden sind Merkmale guter Fachpraxis beschrieben, die das Ziel haben, durch eine Schutzvereinbarung eine konstruktive Wirkung zu ent-
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falten, welche den Anliegen nach Stärkung der Elternkompetenz, Ermöglichung von Selbstwirksamkeitserfahrungen, gesundes Aufwachsen des Kindes und Absicherung der Fachkraft gleichzeitig nachkommen: Ȥ Es wird konkret benannt, was den Anlass zur Sorge auslöste. Ȥ Es wird durch den ASD konkret beschrieben, wodurch das Kindeswohl nach Einschätzung der Fachkraft gefährdet ist und welche möglichen Folgen für die kindliche Entwicklung bestehen könnten. Ȥ Es wird benannt, was die derzeitige Einschätzung der privaten Bezugspersonen ist (wenn diese dies wünschen). Ȥ To-dos sind verständlich formuliert, leistbar, zeitlich terminiert und überprüfbar. Es werden nur Bereiche aufgegriffen, die zum Schutz des Kindes notwendig erscheinen. Ȥ Die Hilfeangebote sind ebenso konkret und verbindlich formuliert. Ȥ Beschrieben wird, in welchen Fällen der ASD gegebenenfalls zeitnah zu informieren ist. Ȥ Alle Beteiligten unterschreiben die Schutzvereinbarung (in der Regel verschiedene Familienmitglieder, ambulante Hilfen der Jugendhilfe, ggf. weitere relevante hilfreiche Personen). Ȥ Der ASD formuliert, wie die Einhaltung überprüft wird, und benennt (differenziert) die Konsequenzen bei Vereinbarungsbruch. Ȥ Der ASD formuliert, was erreicht sein muss, um die Schutzvereinbarung aufzuheben und die Hilfe entweder zu beenden oder auf Antrag der Eltern weiter zu bewilligen. Ȥ Konkret terminiert ist das nächste Gespräch, in welcher die Schutzvereinbarung neu verhandelt bzw. beendet wird. Fall 1: Herr ASD macht Frau A sehr deutlich, dass er den sofortigen Sorgerechtsentzug beim Familiengericht schon vor der Geburt des Kindes beantragen wird, wenn Frau A ihre seiner Ansicht nach kindschädigenden Verhaltensweisen nicht nachhaltig ändert. Er listet in einem Schutzkonzept auf, was Frau A tun muss, um ihn von ihrer Sicht der Dinge (bei diesem Kind wird alles anders und ich bin eine gute Mutter für meine Kinder) zu überzeugen. Hierzu gehört u. a. das Aufsuchen eines Arztes im Gesundheitsamt, welches sich im selben Gebäude befindet, und die Bereitschaft, sich von diesem untersuchen zu lassen. Frau A lässt sich das Gesundheitsamt zeigen. Einige Wochen später legt sie Herrn ASD ohne Aufforderung vor, was sie bisher alles erledigt hat. Unter anderem eine Borderlinediagnose des Arztes mit dazugehöriger Medikamentierung. Sie berichtet, dass sie nun insgesamt viel ruhiger sei und deshalb auch keinen Alkohol mehr trinken müsse. Ab diesem Zeitpunkt gelingt ein konstruktives Arbeitsbündnis zwischen Frau A
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und Herrn ASD, welches möglich macht, die Belastbarkeit der neu gewonnenen Stabilität von Frau A nach der Geburt ihres zweiten Kindes zu testen. Nach der Geburt des Kindes folgen verschiedene konkrete Schutzvereinbarungen unter Einbindung verschiedener medizinischer und sozialpädagogischer Hilfen. Vor Beginn der sensiblen Bindungsphase des Neugeborenen (ab ca. sechs Monaten) lädt Herr ASD zu einer Helferkonferenz ein. Nach Einsammeln der verschiedenen Perspektiven und Abstimmung im Team wird die Schutzvereinbarung aufgehoben, während die Hilfe weiter erfolgreich verläuft.
Anleitung zum Scheitern In der Kinderschutzarbeit haben wir es immer mit verschiedenen Spannungsfeldern zu tun, die sich zwischen zwei extremen Polen bewegen und für das Gelingen komplexer Hilfeprozesse flexibel in Balance gehalten und situativ angepasst müssen. Wir scheitern dann, wenn wir uns mit unserer inneren Haltung einseitig auf einen Pol festlegen und dort unreflektiert verharren. Bei der Arbeit in angeordneten Kontexten sind das insbesondere folgende Pole, die in Tabelle 1 dargestellt sind. Tabelle 1: Pole in den Spannungsfeldern der Kinderschutzarbeit Machtempfinden verdeckte Absprachen, Scheinkooperationen, einseitige Fehlentscheidungen
Hilflosigkeit Absicherung der Fachkraft steht im Fokus, Bildung heimlicher Koalitionen, fehlende Verantwortungsübernahme
Professionelle Distanz Angebote bleiben für die Eltern unerreichbar; angebotene Unterstützung wird nicht engagiert umgesetzt; Eltern geben auf
Beziehung Schutz des Kindes gerät aus dem Fokus; Abspaltung, Negierung, Bagatellisierung von Gewalt; Helfer lassen sich instrumentalisieren und werden Teil des dysfunktionalen Systems
Defizitorientierung Eigenpotenzial der Familie wird nicht erkannt
Ressourcenorientierung Eigenpotenzial der Familie wird überschätzt
Verbindlichkeit jede Kleinigkeit wird dem ASD gemeldet; Anpassung an die Lebenswelt der Familie gelingt nicht; vorübergehende Krisen werden nicht als solche erkannt und für die Hilfeplanung genutzt
Beliebigkeit Verstöße werden nicht an den ASD weitergegeben; angekündigte Konsequenzen werden nicht umgesetzt; Hilfeplan und Schutzkonzept verschmelzen: fehlende Orientierung, Überforderung der Eltern
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Außerdem wird der Erfolg einer Hilfe gefährdet durch fehlende Ressourcen im Helfersystem (runde Tische scheitern daran, zeitnah einen gemeinsamen Termin zu finden; Helfende sind selbst hilfebedürftig). Als Fachkraft trage ich zum Scheitern guter Kooperation im Kinderschutz am besten bei, wenn ich innerlich davon überzeugt bin, dass meine Sicht auf das Problem die einzig richtige ist und nur ich in der Lage bin, das Problem wirklich zu lösen. Die Wirkkraft lässt sich steigern, wenn ich diese Haltung für mich behalte und zur Bestärkung meiner Position heimliche Koalitionen mit anderen bilde. Fehleinschätzungen lassen sich auch in angeordneten Kontexten nicht vermeiden, weil wir mit lebenden Systemen und ungewisser Zukunft arbeiten. Um im Sinne der belasteten Familien für passende Unterstützung erfolgreich zu kooperieren, sind die derzeitig bekannten wirksamsten Mittel: Ȥ Bei Einschätzungen und Entscheidungen den breiten privaten und professionellen Sozialraum beteiligen (wer könnte noch hilfreich sein?); Ȥ Zeit und Methodenvielfalt für ein gemeinsames Fallverstehen investieren (wie könnte der Zugang noch gelingen?); Ȥ für eigene Hypothesen werben und diese gleichzeitig regelmäßig angemessen irritieren lassen (welche guten Gründe könnte es noch geben?); Ȥ auch mit Abstand fallbezogen aus Erfahrungen lernen (Fallwerkstätten); Ȥ sich auch fallunabhängig für Standards und Vorgehensweisen anderer Professionen und Institutionen interessieren, z. B. durch die Teilnahme an Netzwerktreffen oder Vorstellung in den Teams. Wir wünschen allen ein lustvolles Arbeiten! Literatur Conen, M.-L., Cecchin, G. (2022). Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? Therapie und Beratung in Zwangskontexten (8. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. LWL-Landesjugendamt Westfalen (2013). Ideen und Konzepte: Schutzkonzepte in der Hilfeplanung. Eine qualitative Untersuchung zur Funktion und zu Wirkungsweisen von Schutzkonzepten im Rahmen ambulanter Erziehungshilfen. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, LWL-Landesjugendamt, Schulen, Koordinationsstelle Sucht.
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Anhang: Musterbeispiel für eine Schutzvereinbarung bezogen auf Fall 2 Kreis Musterland Der Landrat Fachbereich Jugend, Familie, Schulen und Soziales Fachdienste Soziale Dienste Fallzuständige Fachkraft: Frau ASD Schutzvereinbarung zwischen: Frau B und Mitarbeiter/-in des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD): Frau ASD und professioneller Fachkraft: Frau Familienhebamme für eine gesunde Entwicklung von: Emmy, 3 Jahre (geb. XX) + Kevin, 4 Wochen (geb.: XX) Gesetzliche Grundlage: Artikel 6, Absatz 2, Grundgesetz: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Anlass zur Sorge: Frau ASD erhielt einen anonymen Anruf aus der Nachbarschaft. Die Nachbarin sorgte sich insbesondere um das Wohl des Neugeborenen, da sie beobachtete, dass dieser für mehrere Stunden allein im Haus war. Auch sonst schreie er häufig und lange und Frau B wirke mit der Versorgung der Kinder insgesamt überfordert. Die den Anruf entgegennehmende Fachkraft im Jugendamt bewertete die Angaben der Nachbarin als glaubhaft. Beim Hausbesuch von Frau ASD verneint die Mutter den Eindruck der Nachbarin. Auch würde sie ihre Kinder nicht allein im Haus lassen. Frau ASD nimmt eine erhöhte Bedürftigkeit von Emmy wahr. Sie trifft die Einschätzung, dass Sie Frau B und Ihre Kinder nicht ohne vorübergehende Hilfe allein lassen kann. Zur Absicherung von Frau ASD stimmt Frau B folgenden Maßnahmen zu: 1. Kontakt zur Familienhebamme Frau Hebamme wöchentlich im eigenen Wohnraum für mindestens eine Stunde.
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2. Kontaktaufnahme zu mindestens drei Kindergarteneinrichtungen in den kommenden sieben Tagen mit dem Ziel, zeitnah einen Kindergartenplatz für Emmy zu erhalten. Frau ASD sendet noch heute drei Adressen von Einrichtungen in der näheren Umgebung per Mail an Frau B unter folgender Mailadresse: [email protected] 3. Frau B meldet bis spätestens XXX per Mail an Frau ASD zurück, ob eine Zusage für einen Kindergartenplatz erreicht werden konnte. Mailadresse von Frau ASD: [email protected] 4. Frau ASD meldet sich am XXX um XX Uhr telefonisch bei Frau B und erkundigt sich nach dem aktuellen Stand der Dinge. Unter folgender Telefonnummer ist Frau B dann direkt am Telefon zu erreichen: XXX Sonstige Vereinbarungen: 5. Die Familienhebamme informiert Frau ASD, wenn ein Termin ausfällt oder sie Anzeichen beim Säugling sieht, die Anlass zur Sorge geben. 6. Die Mutter ist informiert über die Bedürftigkeit eines Säuglings und die lebensnotwendige regelmäßige Versorgung. Wird das Schreien eines Säuglings nicht zeitnah beantwortet, kommt es zu traumatischen Schädigungen, welche die psychische Gesundheit eines Menschen ein Leben lang beeinflussen. Ein Säugling kann schon nach Stunden ohne Flüssigkeitszufuhr sterben. Frau B weiß dies und sichert die ununterbrochene Betreuung von Kevin zu. Die Schutzvereinbarung gilt zunächst bis zum XXXX, XXX Uhr. An diesem Tag werden die bisherigen Bemühungen im Haushalt von Frau B gemeinsam ausgewertet und eine neue Einschätzung vorgenommen. Die Unterzeichnenden verpflichten sich, den ASD telefonisch oder schriftlich zu informieren, falls es Anzeichen dafür gibt, dass sich die Situation für ein Kind erheblich verschlechtert und/oder neue Hinweise für die Bewertung einer akuten Gefährdung gegeben sind. Fallkoordinierende Fachkraft des ASD: Frau ASD XXXX XXXX XXXX Name Tel. Fax Mail Musterort, den XXX Unterschrift Frau B Unterschrift Familienhebamme Unterschrift Frau ASD
7 Fokus Recht und Gericht
7.1 Kinderschutz in kriminalpräventiven Netzwerken Andreas Klink
Im Kontext von kriminalpräventiven Netzwerken lässt sich das Thema Kinderschutz aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Aus einer individuellen Sichtweise kann die Aufforderung zu Kriminalität durch Erziehungsberechtigte oder andere Erwachsene als gewichtiger Anhaltspunkt für eine vorliegende Kindeswohlgefährdung gelten (z. B. Kerner, 2018). Kriminelles Verhalten eines Elternteils gilt generell als Risikofaktor für eine gesunde Entwicklung von Kindern (z. B. Alle, 2020). Mit Blick auf straffälliges Verhalten von Kindern und Jugendlichen lassen sich zwei Extrempositionen beschreiben. Einerseits kann straffälliges Verhalten als eine Belastung für das Wohl der Kinder und Jugendlichen betrachtet werden, weil damit negative Sozialisationserfahrungen einhergehen. Auf der anderen Seite kann straffälliges Verhalten von Kindern und Jugendlichen als erwartbare Sozialisationsoder Entwicklungserfahrung für diese Lebensphase verstanden werden. Jenseits dieser Extrempositionen erhöht straffälliges Verhalten auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Jugendhilfe für die Lebenssituation der Betroffenen und für potenzielle Kindeswohlgefährdungen, ohne dass davon ausgegangen werden kann, dass straffälliges Verhalten automatisch als Kindeswohlgefährdung einzustufen ist (vgl. Brettel, 2010). Mit einer erweiterten Perspektive lässt sich Kinderschutz als Aufgabe eines gesamten Sozialraums verstehen. Diese Perspektive wird in den hier beschriebenen kriminalpräventiven Netzwerken eingenommen.
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Andreas Klink
Arbeitskontext und Rahmen Die hier dargestellten Netzwerkstrukturen sind eng an das Jugendhilfenetzwerk der Arbeiterwohlfahrt Essen angebunden, einer ambulanten Jugendhilfe einrichtung, in der ca. zwanzig Mitarbeiter:innen in sechs nördlichen Essener Stadtteilen flexible Hilfen zur Erziehung anbieten. Darüber hinaus arbeiten aktuell zwei Kollegen in sozialräumlich verorteten kriminalpräventiven Netzwerken und drei Kolleg:innen in der Initiative »Kurve kriegen«. Zusätzliche Honorarkräfte sind in den unterschiedlichen Angeboten und Maßnahmen tätig.1 Alle festangestellten Mitarbeiter:innen werden in regelmäßige Beratungsund Supervisionsstrukturen integriert. Darüber hinaus erhalten sie bei Bedarf jeweils sehr zeitnah sowohl Möglichkeiten kollegialer Beratung als auch Unterstützung durch Vorgesetzte. Die eingesetzten Honorarkräfte und freien Mitarbeiter:innen werden durch die pädagogischen Fachkräfte beraten und können auch als Gäste an kollegialen Teamberatungen oder Supervisionen teilnehmen. Ich selbst war und bin als Leitung vor allem an konzeptuellen Überlegungen zur Entwicklung und Weiterentwicklung der Ansätze beteiligt und stehe bei Bedarf auch für Beratung zur Verfügung. Das Aktionsbündnis sicheres Altenessen als Beispiel eines kriminalpräventiven Netzwerks Bei dem Aktionsbündnis sicheres Altenessen (AsA) handelt es sich um ein kriminalpräventives Netzwerk, das aus einem konkreten Anlass entstanden ist (vgl. Klink u. Rüth, 2011, 2017). So berichteten 2010 lokale Medien in Essen immer wieder negativ über den Stadtteil Altenessen, und Anwohner:innen äußerten vermehrt Ängste davor, Opfer von Kriminalität zu werden. Besonders eine Gruppe von Jugendlichen libanesischer bzw. türkischer, arabischer und kurdischer Herkunft, die den Mhallamiye2 zugeordnet werden, wurde häufiger als Verursacher bedrohlicher Situationen beschrieben.
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Das »Wir« bezieht sich sowohl auf die dankenswerte Arbeit meiner Kolleg:innen als auch auf die Vertreter:innen der anderen am Netzwerk beteiligten Institutionen. 2 Mhallamiye-Kurden lebten ursprünglich in Südostanatolien, sind arabischsprachig und zogen zwischen 1920 und 1940 aus wirtschaftlichen Gründen in den Libanon. Dort wurden sie in der Regel nicht eingebürgert und kamen dann zwischen 1975 und 1990 als Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland. Ihre soziale Situation ist seither stark geprägt durch eine unklare Staatsbürgerschaft, die nur zum Teil zu einer Einbürgerung geführt hat. Die größten Mhallamiye-Gemeinden gibt es heute in Berlin, Essen und Bremen.
Kinderschutz in kriminalpräventiven Netzwerken
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Über eine aufsuchende Befragung, in der wir unterschiedliche Zielgruppen nach ihren Einschätzungen und Verbesserungsvorschlägen zur Sicherheit im Stadtteil befragt haben, und weitere qualitative Interviews mit zentralen Akteur:innen vor Ort konnten wir zehn Handlungsempfehlungen formulieren (vgl. Klink u. Rüth, 2011), deren Umsetzung letztlich in die Gründung eines kriminalpräventiven Netzwerks mündete. Sowohl bei der Planung der aufsuchenden Befragung als auch bei der Etablierung des Netzwerks haben wir uns an systemischen Prinzipien und insbesondere an wesentlichen Aspekten der »Neuen Autorität« (z. B. Omer u. von Schlippe, 2010) orientiert. Das Netzwerk wird bis heute durch einen Mitarbeiter unserer Einrichtung koordiniert und in den sozialpädagogisch orientierten Maßnahmen auch in wesentlichen Teilen aktiv mitgestaltet. Zu Beginn der Netzwerkarbeit wurde zunächst ein Koordinationsgremium gebildet, in dem Vertreter:innen unserer Einrichtung, der Polizei, der Jugendgerichtshilfe und des Jugendamts gemeinsame Ziele definierten und gemeinsam agierten. Vertreter:innen anderer Einrichtungen und Institutionen nahmen und nehmen anlassbezogen an Netzwerksitzungen teil. In der Gesamtschau besteht das Aktionsbündnis bis heute aus folgenden Maßnahmen, die bedarfsgerecht eingesetzt werden (vgl. insbesondere Klink u. Rüth, 2017): Ȥ individuelle unterstützungsorientierte Interventionen bei Intensivtätern und Ersttätern; Ȥ Hausbesuche in kriminalitätsbelasteten Familien (sowohl täter- als auch opferseits) und bei Beschwerdeführern; Ȥ Sportangebote für Jugendliche aus der als problematisch beschriebenen Gruppe; Ȥ Straßensozialarbeit und andere Einsätze im öffentlichen Raum (Treffpunkte von Zielgruppen, Einsätze gegen provokantes und als übergriffig empfundenes Verhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln); Ȥ Entwicklung von Präventionskonzepten für öffentliche Veranstaltungen; Ȥ polizeiliche Ermittlungsarbeit und deren Reflexion; Ȥ Schlichtungsaktivitäten bei Wohnumfeldkonflikten; Ȥ Kriseninterventionen an einzelnen Schulen; Ȥ (kriminal)präventiv angelegte Projekte an Schulen und anderen Institutionen; Ȥ Vermittlung oder Angebot von individuellen Unterstützungsmöglichkeiten und Einzelfallhilfen. Der Fokus »Kinderschutz« lag und liegt im Wesentlichen auf Situationen, in denen auffälliges bis hin zu straffälligem Verhalten sowohl von Eltern als auch von den Kindern und Jugendlichen als jugendtypisches Ausprobieren angesehen
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wird. Sonstige kindeswohlrelevante Marker wie Bindung, Wohnungssituation oder elterliche Präsenz signalisieren zumeist ein stabiles und sicheres Umfeld. Kindeswohlgefährdungen im Kontext schwerster Gewaltstraftaten spielten nur eine sehr untergeordnete Rolle, erhielten allerdings eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Die positiven Auswirkungen der Netzwerkarbeit im Aktionsbündnis sicheres Altenessen haben wesentlich dazu beigetragen, dass inzwischen in weiteren Essener Stadtbezirken vergleichbare kriminalpräventive Netzwerke eingerichtet worden sind. Unsere Einrichtung beteiligt sich in einem weiteren nördlichen Stadtbezirk an dem dortigen kriminalpräventiven Netzwerk. Die kriminalpräventive Initiative »Kurve kriegen« des Innenministeriums NRW Maßnahmen und Angebote der 2011 durch das Innenministerium des Landes NRW gegründete Initiative »Kurve kriegen« richten sich an noch nicht strafmündige Kinder und Jugendliche zumeist im Alter von acht bis 15 Jahren, die durch kriminelle Handlungen aufgefallen sind. Voraussetzungen für die Aufnahme sind begangene Straftaten (mindestens eine Gewalttat oder drei Eigentumsdelikte) und das Vorliegen von familiären, sozialen und persönlichkeitsbezogenen Risikofaktoren oder Belastungsfaktoren wie z. B. familiäre Konflikte, physische oder emotionale Vernachlässigung, Gewalterfahrungen im familiären Umfeld, soziale Exklusion, Drogenkonsum, Armut, straffällige Familienangehörige, ein kriminalitätsbelastetes Wohnumfeld oder Schulabstinenz. Ziel der Initiative ist es, ein dauerhaftes Abgleiten der Kinder und Jugendlichen in die Kriminalität zu verhindern und damit ihrer Entwicklung zu sogenannten »Intensivtäter:innen« vorzubeugen. Seit 2016 sind das Polizeipräsidium und die AWO Vertragspartner von »Kurve kriegen« und seit 2018 im neuen Haus des Jugendrechts verortet. Angebote und Maßnahmen werden in enger Kooperation zwischen polizeilichen Fachkräften und unseren pädagogischen Fachkräften entwickelt und jeweils individuell auf die Betroffenen zugeschnitten. Dabei kann auch das gesamte Umfeld der Teilnehmer:innen mit einbezogen werden – gar bis hin zu Angeboten an eine gesamte Clique oder Schulklasse. Der Kontakt zu den Familien erfolgt in Absprache mit dem zuständigen Jugendamt, dessen weiterer Einbezug in das Netzwerk ausdrücklich gewünscht ist, jedoch der Zustimmung der Erziehungsberechtigten – und selbstverständlich der Kinder und Jugendlichen bedarf. Unsere pädagogischen Angebote und Maßnahmen umfassen u. a.:
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Ȥ verschiedenste erlebnispädagogisch orientierte Einzel- und Gruppenangebote; Ȥ verhaltensorientierte Gruppentrainings (Antigewalt- und Konflikttrainingsmaßnahmen, soziale Kompetenztrainings); Ȥ unterschiedliche Formen der Begleitung mit dem Ziel, Freizeitmöglichkeiten außerhalb krimineller Handlungen kennenzulernen; Ȥ Beratung und Unterstützung des gesamten Familiensystems; Ȥ Begleitung bei Schulrückkehr oder -wechsel und anderen Herausforderungen im System Schule; Ȥ Begleitangebote zur Krisenintervention in allen Lebensbereichen. Sämtliche Maßnahmen werden durch regelmäßige Reflexionsgespräche mit Teilnehmer:innen und Eltern ergänzt. Grundlage der Zusammenarbeit ist der anfängliche Aufbau einer Vertrauensbasis. Die Teilnahme an der Initiative »Kurve kriegen« ist grundsätzlich freiwillig. Die Zuständigkeit schließt die Stadtgebiete Essen und Mülheim ein, und seit 2020 wurde das Projekt »360 ° – Integration, Orientierung, Perspektiven!« integriert. Das Projekt ist im Kontext der sogenannten »Clankriminalität« entstanden und richtet sich insbesondere an Kinder und Jugendliche aus türkisch-arabischstämmigen Familien. Ziel ist es, die Teilnehmenden darin zu unterstützen, sich von kriminellen Lebensweisen zu distanzieren – ohne jedoch aus der Familie »auszusteigen«. Angebote und Maßnahmen für diese Zielgruppe sind vergleichbar mit denen von »Kurve kriegen«. Gleichzeitig wird bereits in der Konzeptbeschreibung davon ausgegangen, dass die »neuen« Teilnehmer:innen möglicherweise ein größeres Gefährdungspotenzial mitbringen und die beteiligten Fachkräfte vermehrt auf Abbrüche vorbereitet sein sollten. Im Unterschied zum Aktionsbündnis sicheres Altenessen spielen bei »Kurve kriegen« zusätzlich kindeswohlrelevante Marker wie Vernachlässigung, fehlende elterliche Präsenz oder problematische Bindungskontexte eine wichtige Rolle. Vereinzelte Kindeswohlgefährdungen im Kontext schwerster Gewaltstraftaten erhielten auch hier eine sehr große öffentliche Aufmerksamkeit. Zutaten gelingender Kooperation in kriminalpräventiven Netzwerken Kinderschutzrelevante Kooperation in kriminalpräventiven Netzwerken gelingt dort, wo in die gemeinsame Netzwerkarbeit Grundsätze und Haltungen systemischer Kinderschutzarbeit einfließen, wie sie beispielsweise von der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie formuliert werden (vgl. DGSF, 2020). Hier möchte ich exemplarisch auf Aspekte wie Perspektivenvielfalt, Allparteilichkeit und Rollenklarheit eingehen.
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Perspektivenvielfalt im Kinderschutz bedarf der Akzeptanz verschiedener Positionen
Im Kontext kriminellen Verhaltens scheint es oftmals um abschließende Wahrheiten wie jene der Schuldfrage oder der Rechtsprechung zu gehen. Selbst diese sind verhandelbar, wie die Praxis der Rechtsprechung zeigt. Auch bei Kinderschutzanlässen in den kriminalpräventiven Netzwerken können wir selten auf »objektive Wahrheiten« zurückgreifen. Also gilt es auch hier, die unterschiedlichen Perspektiven der Netzwerkakteur:innen zu akzeptieren. Dazu ein Beispiel aus dem Aktionsbündnis sicheres Altenessen: Auf einem Schulhof wird nach Schulschluss ein Jugendlicher in einer Gruppe von anderen Kindern und Jugendlichen durch einen Messerstich schwer verletzt. Es kommt zu einem dramatischen Rettungseinsatz und es gelingt, das Leben des Jugendlichen zu retten. Auf den ersten Blick scheinen Opfer- und Täterrolle klar verteilt. Polizeiliche Ermittlungen führen jedoch zu einer Beschreibung des Geschehens, wonach der verletzte Jugendliche durch einen Dritten gestoßen wurde und der vermeintliche »Täter« das geöffnete Messer nicht mehr rechtzeitig zurückziehen konnte. Zudem war es in den Tagen zuvor häufiger zu Provokationen und Gewalthandlungen aus der beteiligten Gruppe gegenüber dem vermeintlichen »Täter« gekommen, sodass dieser sich dazu entschieden hatte, sich mit dem Messer zu bewaffnen. In der aktuellen Situation hatte er das Messer gezeigt und geöffnet, nachdem ihm erneut körperliche Gewalt angedroht worden war.
Im Netzwerk erscheint es vor allem aus der Perspektive der Polizei wichtig, hier einen »objektiven« Sachverhalt aufzuklären, strafbare Handlungen zu ermitteln sowie weitere zu verhindern und öffentliche Sicherheit und Ordnung im Blick zu behalten. Aus der Perspektive des beteiligten Sozialpädagogen steht zunächst die Aufarbeitung des dramatischen Geschehens mit allen Beteiligten im Vordergrund (z. B. durch Gesprächsangebote an die Jugendlichen und Familien), bevor es um Themen wie Mobbing an der Schule oder die Teilnahme von Jugendlichen an Gruppenangeboten geht. Aus der Sicht des »Wächteramtes« steht für das Jugendamt die Klärung möglicher Kindeswohlgefährdungen im Vordergrund und aus der Perspektive eines sozialräumlich organisierten Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) könnten beispielsweise Fragen nach Freizeitmöglichkeiten und Angeboten der offenen Jugendarbeit thematisiert werden. Dabei schließt es die Akzeptanz verschiedener Perspektiven mit ein, im Vorfeld zu überlegen, welche Informationen bei der weiteren Besprechung der
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Geschehnisse in das Netzwerk gegeben werden. Beispielsweise impliziert die Perspektive der Polizeivertreter:innen und der Jugendkontaktbeamt:innen das so bezeichnete »Legalitätsprinzip«. Danach sind sie nach geltender Rechtslage dazu verpflichtet, Ermittlungen einzuleiten, wenn sie Kenntnis von Offizialdelikten erhalten – wie etwa gefährliche und schwere Körperverletzung oder Raub. Umgekehrt gilt für alle Netzwerkvertreter:innen der Jugendhilfe, dass sie nur in besonderen Fällen dazu verpflichtet sind, Straftaten zur Anzeige zu bringen, und dass sie bei einer solchen Entscheidung grundsätzlich das Vertrauensverhältnis zu den Eltern und dem zu schützenden Kind oder Jugendlichen im Blick behalten sollten (vgl. dazu Hundt, 2019; Kasper, 2017). In dieser besonderen Konstellation wird die wechselseitige Akzeptanz immer wieder herausgefordert. Einfache Handlungsleitlinien wie »Kinderschutz geht vor Datenschutz« erweisen sich dabei als wenig hilfreich, sondern es stärkt die Kooperation, wenn die unterschiedlichen Perspektiven immer wieder in den Blick genommen werden. In der Kinderschutzarbeit der Netzwerke spielt die Perspektive der Eltern und Familien eine wesentliche Rolle. Hier geht es zum einen darum, ein systemisches Fallverständnis zu entwickeln, in dem u. a. die Erklärungslogiken der Familien, ihre guten Absichten, ihre Ressourcen und Resilienzen, ihre Veränderungswünsche und ihre bisherigen Lösungsansätze in den Blick genommen werden – ohne dabei straffälliges oder kindeswohlgefährdendes Verhalten zu entschuldigen. Dabei fällt der positive, ressourcenorientierte und kontextbezogene Blick nicht immer leicht, weil es sich bei kinderschutzrelevantem Verhalten im Kontext von Kriminalität häufig um Ereignisse handelt, die eigene Wertmaßstäbe oder Moralvorstellungen berühren bzw. infrage stellen. Zum anderen ist ein Ziel der Kinderschutzarbeit auch, Dinge zu verändern. Viele Eltern und andere Familienangehörige erleben sich hier zunächst als hilflos und wenig selbstwirksam. Im Rahmen von »Kurve kriegen« thematisieren Polizeibeamt:innen im Erstgespräch zunächst das Fehlverhalten des Kindes und die damit verbundenen Sorgen (z. B. dauerhaftes Abgleiten in die Kriminalität, Kindeswohlgefährdung). Im Anschluss wird ein für die meisten Familien attraktives Unterstützungsangebot vorgestellt. Im Rahmen des Aktionsbündnis Altenessen erfüllen sogenannte »Gefährdungsansprachen« unter Beteiligung von Polizei und Sozialpädagog:innen eine ähnliche Funktion. In beiden Ansätzen entwickeln Letztere individuelle Unterstützungsangebote, in denen sowohl externe Ziele (Vermeidung von Straftaten, Kinderschutz etc.) als auch individuelle und familiäre Ziele berücksichtigt werden.
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Kooperativer Kinderschutz erfordert Allparteilichkeit und Solidarität
Allparteilichkeit ist eine Haltung, die ihre Aufmerksamkeit auf alle am Geschehen beteiligten Personen und Systeme richtet. Ein passendes Bild dazu wäre, sich immer mal wieder auf die Stühle aller Beteiligten zu setzen, um das Geschehen aus ihrer Perspektive zu betrachten, sich empathisch damit zu verbinden und sich um ein Verständnis für Rahmenbedingungen zu bemühen. Mit dieser Haltung können zudem weitere Beteiligte – oder noch Unbeteiligte – dazu eingeladen werden, das Geschehen aus der Perspektive der jeweils anderen zu betrachten und sich nicht dauerhaft auf eine Seite zu stellen. Sie impliziert nicht, kindeswohlgefährdendes Verhalten zu tolerieren. Insofern erscheint es förderlich, immer wieder zwischen beteiligten Personen und ihrem Verhalten zu unterscheiden, das heißt, kindeswohlgefährdendes straffälliges oder kriminelles Verhalten nicht als unabänderliche Eigenschaft, sondern als Verhalten anzusehen, das in einem bestimmten sozialen Kontext gezeigt wird. Sowohl in beiden kriminalpräventiven Netzwerken als auch im Rahmen der Initiative »Kurve kriegen« geschieht allparteiliche Kinderschutzarbeit zunächst einmal im Einzel- und Familiensetting. Sie folgt dem Bild der unterschiedlichen Stühle und öffnet den Blick über das Familiensystem hinaus, in dem sie z. B. die Perspektiven von Jugendamt, Schule, Kita, von anderen Einrichtungen oder auch von Pflegeeltern bei temporären oder dauerhaften Inobhutnahmen einnimmt. Dort, wo allparteiliche Kinderschutzarbeit zudem als Aufgabe des gesamten Sozialraums angesehen wird, lassen sich körperliche Auseinandersetzungen zwischen Gruppen von Jugendlichen (und damit Straftatbestände wie gefährliche oder schwere Körperverletzung) etwa als Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen verstehen. Damit richtet sich der Blick auf Räume und Orte für Kinder und Jugendliche im Sozialraum, an denen sie sich ungestört treffen können. Und es wird deutlich, dass es vielerorts schlecht darum bestellt ist. Ähnliches galt und gilt für die Belange von Migrantenselbstorganisationen, die sich gerne mehr im Sozialraum »zeigen« und sich für Kooperationen öffnen möchten und dafür eine angemessene (finanzielle) Unterstützung wünschen. Die Perspektive der Geschäftsleute vor Ort wiederum war und ist eine andere: Sie wünschen sich, dass Sozialräume als sichere Orte empfunden werden, in denen weiterhin Menschen mit unterschiedlichem sozialem Status leben und konsumieren. Für sie war es beispielsweise von enormer Bedeutung, dass es im Rahmen des Netzwerks gelang, ein Präventionskonzept für die örtliche Kirmes erfolgreich umzusetzen, nachdem sie zuvor nach schweren Auseinandersetzungen zwischen Gruppen von Jugendlichen abgebrochen und mehrmals abgesagt worden war.
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Mit Blick auf die im Vorfeld des Aktionsbündnisses als problematisch beschriebene Gruppe von Jugendlichen, die den Mhallamiye zugeordnet werden, galt und gilt es, auf deren besondere soziale Situation hinzuweisen. Diese ist u. a. sehr durch eine unklare Staatsbürgerschaft und eine fehlende Einbürgerungsperspektive geprägt. Diese Kinder und Jugendlichen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen und müssen ihre persönliche Zukunft dennoch von einem Duldungsstatus – also vorübergehender Aussetzung der Abschiebung – aus planen. Das soll keinesfalls dazu einladen, kindeswohlgefährdendes, straffälliges oder kriminelles Verhalten zu tolerieren. Das in »Kurve kriegen« formulierte Ziel, die Teilnehmer:innen im Kontext von »Clankriminalität« darin zu unterstützen, sich von kriminellen Lebensweisen zu distanzieren, ohne jedoch aus der Familie »auszusteigen«, hat den Spielraum für eine Haltung der Allparteilichkeit deutlich erweitert. Und gleichzeitig hat sich die Komplexität des Handlungsfelds deutlich erhöht, weil sich unterschiedliche Werte und Einstellungen zwischen Familien und dem Helfersystems erkennen lassen (vgl. Bulgay, 2020). Die allermeisten Familien erleben sowohl die Zusammenarbeit mit der Polizei als auch jene mit den pädagogischen Fachkräften als positiv. Zumeist machen sie zum ersten Mal die Erfahrung, dass sie nicht nur mit Sanktionen konfrontiert werden, sondern dass sich jemand auf ihre Perspektive einlässt und für sie passgenaue Unterstützungsangebote anbietet. Dazu zählt, dass Eltern, Kinder und Jugendliche feste Ansprechpartner:innen bei der Polizei erhalten, die sie direkt kontaktieren können und von denen sie unmittelbar Unterstützung erhalten. Bei Vernehmungen oder Zeugenaussagen stehen den Betroffenen pädagogische Fachkräfte zur Seite, die für sie eintreten. Kinderschutz im Kontext kriminellen und straffälligen Verhaltens braucht Rollenklarheit und Transparenz
Im Rahmen von »Kurve kriegen« übernimmt die Polizei sowohl die Überprüfung der Zugangsvoraussetzungen als auch das Erstgespräch in den Familien. Entscheidet sich das Familiensystem für eine Teilnahme, führen die pädagogischen Fachkräfte ein zweites Einstiegsgespräch. Hier braucht es von Beginn an Rollenklarheit. Durch die Informationen der Polizist:innen soll die strafrechtliche Relevanz des Problems für die Familie greifbarer werden. Die pädagogischen Fachkräfte stellen ihre Unterstützungsangebote vor und bringen darin eine Haltung zum Ausdruck, nach der sich straffälligem und kriminellem Verhalten auf unterschiedlichen Ebenen begegnen lässt. Als Ergebnis dieser ersten Kontaktaufnahmen sollte den Teilnehmer:innen und ihren Familien deutlich geworden sein, dass die Polizei keine Sozialarbeit macht und dass die pädago-
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gischen Fachkräfte nicht die Aufgaben der Polizei übernehmen. Ähnliches gilt für die Zusammenarbeit in den beiden kriminalpräventiven Netzwerken. Darüber hinaus muss ein Höchstmaß an Transparenz darüber bestehen, welche Informationen zwischen den einzelnen Netzwerkpartner:innen geteilt werden und welche dem Vertrauensschutz unterliegen. Bei »Kurve kriegen« werden Informationen über den Unterstützungsprozess nicht an die Polizei weitergegeben. Umgekehrt erhalten die pädagogischen Fachkräfte jenseits kriminaltaktischer Grenzen alle fallrelevanten polizeilichen Informationen – auch jene zum Kinderschutz. Zudem stellen die zuständigen Jugendkontaktbeamt:innen wichtige sozialräumliche Informationen z. B. über informelle Treffpunkte oder Erkenntnisse über die Peergroup zur Verfügung. So kann das Team von »Kurve kriegen« sehr zeitnah auf aktuelle Entwicklungen reagieren und Kriseninterventionen oder Reflexionsgespräche mit Eltern und Teilnehmer:innen anbieten. Wird dabei das Transparenzgebot verletzt, erscheint der Aufbau einer gemeinsamen Vertrauensbasis kaum möglich. Vorbehalte gegenüber dem Jugendamt spielen in beiden kriminalpräventiven Ansätzen eine Rolle. Befürchtungen, nach denen das Jugendamt Kontrolle über familiäre Entscheidungen erlangen möchte oder gar Kinder in Obhut genommen werden, sind zum Teil sehr groß. Durch die Kooperation im Netzwerk gelingt es häufiger, diese Vorbehalte zu reduzieren und die unterschiedlichen Rollen zu verdeutlichen. Die pädagogischen Fachkräfte fungieren hier als Vermittler zwischen Familie und Jugendamt. So gelingt es im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit oft, dass sich Familien auf Unterstützungsangebote des Jugendamts einlassen. Gleichzeitig muss mit Blick auf den Kinderschutz auch die Informationspflicht der pädagogischen Fachkräfte gegenüber dem Jugendamt transparent sein. Eltern, Kinder und Jugendliche sollten verstehen, warum wir in den Gruppenangeboten auch auf Zeichen körperlicher oder psychischer Gewalt achten (z. B. Fragen nach blauen Flecken, Befindlichkeit, Stimmung zu Hause). Wie scheitert man am effektivsten? Angesichts der heterogenen Zielgruppen in kriminalpräventiven Netzwerken erscheinen hier die Möglichkeiten des Scheiterns recht hoch. Dazu mag passen, dass es im Aktionsbündnis sicheres Altenessen bei allen Erfolgen beispielsweise noch nicht gelungen ist, den negativen Eindruck über den Sozialraum dauerhaft und überall zu revidieren. Gleichzeitig hat sich der Stadtbezirk in der Wahrnehmung vieler Bürger:innen positiv gewandelt. Sie treten vehement für ihren Stadtteil ein, wenn in Medien einmal mehr über sogenannte »No-go-Areas« gesprochen wird. Auch für kriminalpräventive Netzwerke gilt zunächst einmal,
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dass menschliche Systeme nicht steuerbar sind. Umfassende Veränderungserwartungen mögen demnach zum Scheitern verurteilt sein, wenn Rollenklarheit und Transparenz reduziert oder gar vermieden werden. Dort, wo Familien sich nicht sicher sein können, welche Informationen in den Netzwerken miteinander geteilt werden, verlieren sie das Vertrauen in die gemeinsame Arbeit. Gleiches gilt für die Zusammenarbeit aller anderen Netzwerkpartner:innen. Das erscheint trivial und bedarf gleichzeitig immerwährender Aufmerksamkeit und Achtsamkeit dafür, wer welche Informationen mit wem teilt. Das Risiko von Rollenunklarheit liegt für uns darin, welche Rolle wir in der Außenwahrnehmung zugewiesen bekommen. Beispielsweise sucht die pädagogische Fachkraft im Aktionsbündnis sicheres Altenessen Treffpunkte von Jugendlichen im Stadtteil auf. Trifft die pädagogische Fachkraft dort auf Jugendliche, so geht es ihr in ihrem Selbstverständnis kurzfristig um Vertrauensaufbau und langfristig um Unterstützungsangebote. In der Wahrnehmung der Jugendlichen wird der pädagogischen Fachkraft jedoch häufig eine Sanktions- und Ordnungsfunktion zugeschrieben, und viele Jugendliche glauben fest daran, dass es sich bei ihr um einen Zivilbeamten handelt. Erhöht man nun den Anteil von anlassbezogenen Besuchen und stellt der pädagogischen Fachkraft in guter Absicht vielleicht noch Polizeibeamte in Uniform zur Seite, so erhöht man mit hoher Sicherheit die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns – zumindest mit Blick auf eine klare Rollentrennung. Rollenklarheit lässt sich wiederum durch eine Reduktion von wenig sozialpädagogisch motivierten Einsätzen, durch eine klare Trennung der Aufgaben zwischen Polizei und anderen Netzwerkpartner:innen und durch kleine Zeichen der Zugehörigkeit (z. B. an der Kleidung) erhöhen und sie wird erleichtert, wenn alle Beteiligten vermehrt in pädagogische Angebote für Kinder und Jugendliche investieren. Praktische Methoden systemischer Kinderschutzarbeit und Selbstreflexion in kriminalpräventiven Netzwerken In allen hier vorgestellten kriminalpräventiven Netzwerkstrukturen werden in der einzelfallorientierten Arbeit Methoden eingesetzt, die vor allem Ressourcen, Resilienzen, Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit fördern. Dazu zählen u. a. Erlebnispädagogik, soziale Gruppenangebote, Theaterpädagogik, Biografiearbeit, Ressourcenkarten, Netzwerkarbeit, Video-Home-Training, Methoden zur Stärkung der elterlichen Präsenz und Handlungsfähigkeit. Speziell mit Blick auf Einschätzungen zur Kindeswohlgefährdung greifen wir auf jene etablierten Strukturen zurück, die das entsprechende Handlungskonzept des Jugendamts vorsieht (Stadt Essen, 2016).
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Eine Selbstreflexion der AWO-Mitarbeiter:innen geschieht sowohl im Rahmen von regelmäßigen kollegialen Beratungen und systemisch orientierten Supervisionsangeboten als auch im regelmäßigen Austausch in den Netzwerkstrukturen. Darüber hinaus sind in den jeweiligen Verträgen regelmäßige Reflexionsgespräche mit den Auftraggeber:innen vorgesehen. Die einzelfallorientierte Kooperation mit den familiären Systemen bleibt immer freiwillig. Insofern fokussieren eingesetzte Methoden auch stets darauf, Interesse an der Veränderung der jeweiligen familiären Situation zu wecken und im nächsten Schritt gemeinsam an der Motivationslage zu arbeiten. Mittelbares Ziel ist es schließlich, die vorhandene Motivation in Alltagshandlungen zu überführen, in denen zum einen straffälliges und kriminelles Verhalten keine Rolle mehr spielt und zum anderen sich bereits vor der Schwelle kriminellen Verhaltens Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen. Im Rahmen der erweiterten Kinderschutzarbeit auf der Ebene der Stadtteile bedarf es einer gehörigen Portion an Kreativität und unkonventioneller Lösungsansätze, um auch in schwierigen Situationen neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, beispielsweise wenn es um Präventionskonzepte für größere Veranstaltungen oder den Einsatz im öffentlichen Raum geht (vgl. Klink u. Rüth, 2017). In diesem Sinn möchte ich dieses Kapitel mit einem Beispiel für einen ungewöhnlichen Einsatz der Genogrammarbeit schließen. Im Rahmen von innerfamiliären Konflikten zwischen zwei Teilen einer Großfamilie wurde ein Familienmitglied lebensbedrohlich verletzt und verstarb nach einigen Wochen an seinen Schussverletzungen. In der Rechtsauffassung der Familie spielte die Frage der Vergeltung eine große Rolle und es war absehbar, dass es zu einer entsprechenden Vergeltungshandlung kommen würde. Mithilfe eines Genogramms konnten die verwandtschaftlichen Zusammenhänge veranschaulicht werden. Auf dieser Grundlage ermittelten die zuständigen Polizeibeamt:innen das potenzielle Opfer und erstellten ein präventives Schutzkonzept für den jungen Erwachsenen.
Das geschilderte Beispiel ist keinesfalls repräsentativ für die alltägliche Arbeit in den Netzwerken, in der es vor allem um Ressourcen, Resilienzen, Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit geht. Es mag jedoch abschließend illustrieren, in welchem Spannungsfeld sich unsere kriminalpräventive Netzwerkarbeit bewegen kann. Grundsätzlich dokumentiert die alltägliche Arbeit in den kriminalpräventiven Netzwerken, dass systemische Interventionen auch in sehr ungewöhnlichen Kontexten wirksam sein können.
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Literatur Alle, F. (2020). Kindeswohlgefährdung. Das Praxishandbuch. Freiburg i. Br.: Lambertus. Brettel, H. (2010). Straftaten als Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung. In Stiftung SPI. Clearingstelle Jugendhilfe/Polizei (Hrsg.), Infoblatt 53. Berlin. Bulgay, B. (2020). Systemisch-therapeutische Aspekte in der Arbeit mit migrierten und geflüchteten Menschen. In T. Kuhnert, M. Berg (Hrsg.), Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexte (S. 225– 238). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (Hrsg.) (2020). Systemischer Kinderschutz: Kontexte, Wechselwirkungen und Empfehlungen. Köln: DGSF. Hundt, M. (2019). Datenschutz in der Kinder- und Jugendhilfe. Regensburg: Walhalla. Kasper, B. (2017). Kindeswohl. Eine gemeinsame Aufgabe. Ein Leitfaden für Studierende und Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kerner, J. (2018). Entwicklung der Kriminalprävention in Deutschland. In M. Walsh, B. Pniewski, M. Kober, A. Armborst (Hrsg.), Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland. Ein Leitfaden für Politik und Praxis (S. 21–36). Wiesbaden: Springer VS. Klink, A., Rüth, T. (2011). Aufsuchende Befragung Essen Altenessen. Ergebnisbericht.‐ Kurzzusammenfassung, Einschätzungen und Handlungsempfehlungen. Essen: Jugendhilfe Netzwerk der AWO Kreisverband Essen. Klink, A., Rüth, T. (2017). Bündnisse in kriminalpräventiven Netzwerken. Systhema, 31 (2), 147–161. Omer, H., Schlippe, A. von (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Stadt Essen (2016). Kinder vor Gewalt, Vernachlässigung und anderen Gefahren schützen. Kooperativer Kinderschutz in Essen und Fachstandard für die Sozialen Dienste des Jugendamtes im Umgang mit Kindeswohlgefährdung. Essen: Jugendamt der Stadt Essen. Zugriff am 01.11.2021 unter https://media.essen.de/media/wwwessende/aemter/51/soziale_ dienste/Kinder_vor_Gewalt_Vernachlaessigung_und_anderen_Gefahren_schuetzen_ beschlossen_08112016_JHA.pdf.
7.2 Kinderschutz im familiengerichtlichen Kontext: Die Psychosoziale Prozessbegleitung und der Verfahrensbeistand als Chance Raimund Schwendner, Filip Caby
Der Fall Die Betreuerin einer Jugendschutzeinrichtung bittet den Verfahrensbeistand, die 13-jährige Marina (Name geändert) zum Gerichtstermin persönlich abzuholen. Das gebe ihm die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen und sie dorthin zu begleiten. Dann
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seien sie in der Einrichtung sicher, dass die Jugendliche verlässlich zum Gerichtstermin erscheint. Dieser Gang hat es in sich, wie sich später zeigt. Denn er offenbart eine Vielzahl von Nöten, in denen die Jugendliche steckt. Schon der Anlass für den Gerichtstermin lässt die seelische Not der Heranwachsenden erkennen. Hier erweisen sich die Qualifikation und Erfahrung des Verfahrensbeistands als Psychologe mit Vertiefung in Psychotraumatologie als hilfreich. Das ist auch juristisch von Belang. Denn gemäß § 158 Abs. 1 FamFG muss ein Verfahrensbeistand jetzt nicht mehr nur geeignet, sondern fachlich und persönlich geeignet sein. Diese Neufassung des Gesetzes trat zum 1. Januar 2022 in Kraft.1 Zuerst jedoch ein Blick auf die sogenannte Aktenlage: Im konkreten Fall ist bemerkenswert, dass Marina in die Jugendschutzeinrichtung kam, weil sie kurz zuvor aus einem anderen Heim entlassen worden war. Liest man dessen ersten Bericht an das Jugendamt, wird sie zunächst ausdrücklich gelobt. So habe sie sich gut in die Gruppe integriert, werde gemocht und respektiert. Auch zeige sie sich zugänglich und trage bei Problemen zu konstruktiven Lösungsvorschlägen bei. Sie sei froh, dort in der Wohngruppe zu sein. Bei Konflikten wirke sie an deren Lösung mit. Hinsichtlich der Schule erledige sie selbstständig ihre Hausaufgaben. In Bezug auf zu erledigende Dienste in der Gruppe erkennt ihr das Schreiben Begriffe wie »zuverlässig«, »sauber und ordentlich« zu, ebenso Eigenverantwortung, Gewissenhaftigkeit, Hilfsbereitschaft und Akzeptanz der Regeln und Strukturen in der Gruppe. Offensichtlich hat Marina eine Reihe von Stärken, die auch geschätzt wurden, und sie kann sich in ein soziales Gefüge integrieren. Nur einen Monat später erfolgt durch jenes Heim ein neuer Bericht an das Jugendamt. Die Einschätzung erscheint nun wie auf den Kopf gestellt: Die Jugendliche wird als »nicht mehr berechenbar« eingestuft, sie »halluziniere«, habe »gekifft« oder verletze sich im Beisein der Erzieherinnen. Auch schlage sie mit den Fäusten auf den Boden und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit sei nicht mehr erkennbar. Daraus resultieren zwei Fragen: – Wie konnte es in der kurzen Zeit seitens derselben Einrichtung zu derart unterschiedlichen, diametral gegensätzlichen Einschätzungen kommen? Noch dazu, weil mit letzterer Stellungnahme auch gleich der Verweis der Jugendlichen aus dem Heim und ihre zeitweilige Unterbringung in der neuen Einrichtung verbunden war. – Was könnte im Sinne des Kindeswohls in einer solchen Situation ohne langes Zögern an Lösungsoptionen erarbeitet und erreicht werden?
1 Neufassung des § 158 FamFG. https://dejure.org/gesetze/FamFG/158a.html (Zugriff am 19.04.2022).
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Erfahrungsgemäß sind solche Verhaltensumschwünge nicht selten zu beobachten. Jedoch werden sie viel zu selten hinterfragt und häufig damit abgetan, dass die Jugendlichen nach einer kurzen Eingewöhnungszeit zeigen, »weshalb sie da sind«. Dieser Umstand verweist auf den Bedarf, verantwortliche Mitarbeitende in den Einrichtungen so nachhaltig zu qualifizieren, dass sie in der Lage sind, mit den Jugendlichen gemeinsam daran zu arbeiten, dass es nach der Eingewöhnungszeit nicht zu diesen Haltungsumschwüngen kommt, sondern die Profis und die Jugendlichen in der Lage sind auch schwierige Phasen gemeinsam durchzustehen. Im konkreten Fall erwies sich das Zusammenspiel mehrerer Handlungsebenen als hilfreich: erstens die schnelle und stabilisierende Aufsuchende Systemische Arbeit durch den Verfahrensbeistand, zweitens die zügige, virtuell initiierte Bildung eines Lösungsnetzwerks und drittens die empathisch-intelligente Anhörung durch die Familienrichterin. Aufsuchende Systemische Arbeit Formal betrachtet musste sich das Familiengericht mit dem Fall Marina wenige Tage vor Weihnachten befassen. Hintergrund war, dass die stationäre Einrichtung über die Ferienzeit schloss und die Kinder bei Eltern, Verwandten oder in anderen Einrichtungen unterkommen mussten. Einzig Marina war noch dort, zusammen mit einer Betreuerin, die extra für sie mit dablieb. Marina konnte nirgendwohin. Ihr Vater, der das alleinige Sorgerecht innehatte, stellte an das Familiengericht den Antrag, seine Tochter über die Weihnachtsferien in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie »unterzubringen«. Nach den Ferien könne sie ja wieder in die Einrichtung zurückkehren. Damit das möglich würde, musste das Gericht zustimmen. So wurde der Fall virulent. Zunächst erschien die Jugendliche unnahbar. Um dem zu begegnen, erwies sich der Ansatz der Aufsuchenden Systemischen Arbeit im Vorfeld des Gerichtstermins als hilfreich. Dabei half die Herangehensweise des Verfahrensbeistands, einer Problemtrance vorzubeugen. Hinzu kam das Zutrauen, tatsächlich ihre Interessen zu erkunden und nicht wieder ein Opfer ihres maladaptiven Verhaltens zu werden. Das konnte zum einen durch die Erläuterung der Aufgabe und den für sie spezifischen Nutzen der Verfahrensbeistandschaft erreicht werden, nämlich ihre eigensten Interessen bei Gericht zu vertreten. Zum anderen waren im ersten Schritt einige kurze Stabilisierungstechniken hilfreich. Dadurch vermochte es Marina, ihre innere Abwendung zu überwinden, und kam ins Gespräch. Dabei wurde offensichtlich, dass die Jugendliche immer schon bei ihrer Mutter, die vom Vater geschieden war, leben wollte. Das wurde ihr jedoch verwehrt, weil der Mutter wegen Drogenmissbrauchs vor Jahren das Sorgerecht entzogen worden war.
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Das änderte jedoch nichts am Wunsch der Tochter. Aufgrund dessen verstieß sie der sorgeberechtigte Vater, während er die andere Tochter, die sich für ihn entschieden hatte, bei sich aufnahm. Marina wurde daraufhin in einer Wohngruppe aufgenommen. Die Aufsuchende Systemische Arbeit erwies sich als äußerst wertvoll, indem im Zusammenspiel mit dem Systemischen Hexagon (Schwendner, 2012) eine Situations- und Kontextklärung half, die Tragweite des Falles noch vor dem Gerichtstermin abzuklären und den Trigger für das maladaptive Verhalten der Jugendlichen zu finden. Wie Abbildung 1 zeigt, versucht das Systemische FrageHexagon in der ersten Stufe, wiederkehrende Muster wie auch Ausnahmen davon zu identifizieren. In der nächsten Stufe gilt es, mögliche erste Lösungsschritte zu erkennen sowie die Annahmen abzuklären, die unterschiedliche Beteiligte dazu ins Feld führen. Schließlich ist in der dritten Stufe aus der eigenen in der Zukunft liegenden Rückschau zu klären, was wichtig gewesen sein wird. Hierzu gehört ein ergänzender Perspektivenwechsel, um aus der künftigen Sicht noch weitere gedankliche sowie emotionale Felder zu öffnen. In der Zusammenarbeit mit dem Gericht und dem Jugendamt wurde Marinas Fall aus all diesen Sichtweisen besprochen.
Abbildung 1: Das Systemische Hexagon
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Systemische Fragen auf einen Blick: Zu den Mustern gehört die Frage nach Ausnahmen, um den konflikthaft-gestressten und oft eingeengten Blick zu weiten und Konstruktives wieder zuzulassen. Zu den jeweils nächsten Schritten (Skalenarbeit) gehören die Annahmen, was in dem Fall für die jeweils anderen möglich sein könnte. Zum eigenen Blick aus einer künftigen Perspektive gesellen sich schließlich die Fragen, welche guten Lösungen andere aus dieser künftigen Sicht wahrnehmen und mit welchen Ressourcen dies verbunden ist.
Als Muster, das ihr maladaptives Verhalten triggerte, entpuppte sich der Umstand, dass ihr immer wieder ein Besuch bei ihrer Mutter zusammen mit ihrer Schwester in Aussicht gestellt worden war. Der kam jedoch nie zustande, weil ihre Schwester auf Intervention des Vaters hin »nicht konnte«. Auf Intervention des Jugendamts hin durfte sie ihre Mutter auch nicht allein besuchen. Das wirkte wie ein im Hilfekontext integrierter Double-Bind. Nach Fischer und Riedesser (2020) kann deshalb Marinas maladaptives Verhalten in solchen Situationen als Trauma-Kompensationssyndrom gewertet werden, um darüber ihrer tiefen Enttäuschung wie auch der dabei empfundenen Ohnmacht Herr bzw. Herrin zu werden. Den im Fall einer Traumatisierung wichtigen äußeren wie inneren (psychischen) sicheren Ort hätte schon die stationäre Einrichtung herstellen können, indem sie den Besuch der Jugendlichen bei ihrer Mutter auch ohne ihre Schwester ermöglicht hätte. Das hätte für sie mutmaßlich die Kontrolle der Situation im Sinne der Selbstwirksamkeit erhalten, die sie durch die Handlungsweise der Wohngruppe immer wieder zu verlieren schien. Hinzu kommt, dass der Besuch bei der Mutter für sie vermutlich eine weitaus essenziellere Bedeutung hatte als für ihre Schwester, die ja von sich aus von der Mutter wegwollte und zum Vater gezogen war. In einem verlässlichen – möglicherweise auch die Mutter unterstützenden, eventuell begleiteten – Umgang der Jugendlichen mit ihrer Mutter dürfte ein wichtiger Schritt für ihre Genesungs- und Integrationsfähigkeit liegen. Die Art und Verlässlichkeit des Umgangs mögen hier wichtiger sein als die Häufigkeit. Auch der Umgang mit ihrer Schwester sollte nicht behindert werden. Denn im Zuge der Aufsuchenden Systemischen Arbeit bat sie den Verfahrensbeistand, mit ihr am Haus des Vaters und ihrer Schwester vorbeizulaufen. Dabei erzählte sie, dass sie diesen kleinen Umweg nahezu jeden Tag von der Schule in die jetzige Einrichtung nehmen würde und das auch früher auf dem Rückweg ins Heim
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so gemacht habe, um ihre Schwester womöglich hinter einem Fenster kurz zu sehen. Diese winkte ihr bisweilen zu, außer wenn der Vater dies bemerkte. Dann musste sie sofort vom Fenster weggehen. Der Verfahrensbeistand übte mit ihr auf dem Weg die Stabilisierungsmethoden, um ihr ein gewisses Selbstvertrauen zu geben und der Gefahr einer Viktimisierung entgegenzuwirken. Das erwies sich als hilfreich. Denn die Erfahrung der Jugendlichen, sich den familiären Kontakt zu wünschen und zurückgewiesen zu werden, hatte sich bereits als Erleben einer inneren Ohnmacht verfestigt. Das führte zu einer spürbaren Opferidentität, die in Hilflosigkeit und zugleich in maladaptivem Verhalten ihren Ausdruck fand. Der Arbeitskontext In familiengerichtlichen Verfahren können verschiedene Konstellationen vorkommen. Unterbringungssachen gemäß § 1631b BGB: Wenn Kinder oder Jugendliche sich aufgrund einer psychiatrischen Grunderkrankung selbst- oder fremdgefährdend verhalten, kann seitens des Familiengerichts auf Antrag der Eltern/ Sorgeberechtigten und mit ärztlicher Stellungnahme ein Antrag auf Unterbringung gestellt werden. Der Unterbringungsort ist dann eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wenn keine psychiatrische Erkrankung vorliegt, kann bei dem gleichen Verhalten auch eine Jugendhilfeeinrichtung als Unterbringungsort beschlossen werden. Sorgerechtsfragen: Unter dieses Thema fallen praktisch alle Fragestellungen rund um Sorgerecht, Aufenthaltsbestimmung, Besuchsrecht, Sorgerechtsentzug, Vormundschaft, Kindeswohlgefährdung, Erziehungsfähigkeit etc. Im Fall von Marina waren beide Möglichkeiten im Spiel. Der Vater hatte eine Unterbringung seiner Tochter beantragt. Damit ist automatisch das Familiengericht beteiligt. Diese Unterbringung hätte aus Sicht von Rotthaus (2014) eher nicht zu den möglicherweise sinnvollen Wegen gehört. Es geht im Fall von Marina aber auch um die Sorgerechtsregelung, und zwar bei der Frage, ob die alte Sorgerechtsregelung immer noch Bestand haben soll. Die Beteiligten: Es können unter Umständen viele Beteiligte eine Rolle spielen: Neben dem betroffenen Kind und den Eltern können das Jugendamt, eine Klinik, eine Jugendhilfeeinrichtung, die Eingliederungshilfe, die Verfahrensbeistände (jedes Kind bekommt bei einem familiengerichtlichen Verfahren einen Verfahrensbeistand zugewiesen, um seine Interessen im Verfahren – nur da – zu vertreten) und Sachverständige, die im Auftrag des Gerichts zu einer bestimmten Fragestellung ein Gutachten erstellen. Es kann daher eine große Vielfalt an
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Berufsgruppen auftreten, die außerhalb des Verfahrens meist nichts mehr mit der Angelegenheit zu tun haben. Nur ein kleiner Kern dieser Beteiligten hat es losgelöst von der Verhandlung weiter miteinander zu tun. Das Jugendamt kann unter Umständen in verschiedenen Konstellationen vertreten sein: als für das Kind zuständige Sachbearbeiterin, als Vormund oder als Ergänzungspflegerin. Es ist also durchaus möglich, dass in einem Fall mehrere Jugendamtsmitarbeiter:innen derselben Behörde aktiv sind. In der Klinik ist es ähnlich: Der Diensthabende, der die Unterbringung begründet, ist nicht notwendigerweise für die Behandlung zuständig. Der Ort: Der Ort des Geschehens ist meistens der Gerichtssaal, bei Unterbringungen ist die Klinik meist der Ort der Verhandlung. Richter:innen müssen die betroffenen Kinder und Jugendlichen anhören, um sich ein Bild von der Unterbringungsindikation zu machen. Der Raum, in dem die Anhörung stattfindet, ist dann ab dem Moment des Erscheinens des Richters oder der Richterin ein vorübergehender Gerichtssaal. Stabilisierungskompetenz Eine niederschwellig angesetzte persönliche Begegnung hat zum Ziel, die Problemtrance der Jugendlichen gleichsam zu überspringen und eine mental wie emotional stabile Grundhaltung zu etablieren. Das sollte ihr dabei helfen, im familiengerichtlichen Prozess das erzählen zu können, was für sie von Bedeutung ist. Diese stabilisierende Herangehensweise ist der Psychosozialen Prozessbegleitung (PsPB) in Strafverfahren entlehnt (ISTOB, 2022). Im Rahmen eines Strafverfahrens darf allerdings seitens der PsPB nicht über eine Tat gesprochen werden. Gleichwohl steht auch bei dieser Form der Psychosozialen Prozessbegleitung die Stabilisierungskompetenz an erster Stelle. Diese Befähigung erweist sich im Kontext der Verfahrensbeistandschaft, die beim Familiengericht angesiedelt ist, als ebenso nützlich. Auch wenn hier nicht die Aufklärung einer Straftat, sondern die Orientierung am Kindeswohl im Mittelpunkt steht, soll eine stabilisierende Unterstützung viktimisierten und oftmals traumatisierten Kindern und Jugendlichen helfen, mit belastenden Situationen wie einem Gerichtstermin besser umzugehen und qualifizierte, also gerichtlich »verwertbare« Aussagen treffen zu können. Gerade Familienrichter:innen erleben nicht selten, dass Kinder und Jugendliche im Rahmen einer Anhörung nicht in der Lage sind, sich adäquat zu äußern oder überhaupt zu sprechen. Eine hochstrittige und extrem eskalierte Familiendynamik trägt zu diesem Risiko bei, dem eine stabilisierende Verfahrensbeistandschaft vorbeugen kann.
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Viktimisierung bedeutet dabei, dass Kinder und Jugendliche sich bereits in eine Opferrolle gefügt und sich gleichsam aufgegeben haben oder dass sie für sich die negativen Selbstzuschreibungen eines hoch eskalierten Familiensystems oder auch Tätersystems übernehmen. Wenn dem so ist, können Gespräche, die z. B. damit beginnen, »was los sei«, oder die im familiengerichtlichen Kontext zu früh auf das Problemgeschehen eingehen, wie Trigger für einen Flashback traumatischer Erfahrungen wirken. Die Folge ist nicht selten jenes maladaptive, also fehlangepasste Verhalten, verbunden mit dem Versagen, in jenem Moment über belastende Situationen sprechen zu können. Das lässt manche Richter:innen im Rahmen einer Anhörung selbst hilflos werden. Der Sinn einer systemischen Stabilisierung besteht in der präventiven Überwindung dieses Risikos. Der Schlüssel für eine erfolgreiche psychosoziale Prozessbegleitung liegt deshalb in der Stabilisierungskompetenz, die bei Gericht zu einer besseren Aussagequalität von Verletzten führt. Diese Stabilisierungskompetenz seitens des Gerichts und der Helfersysteme ist im familiengerichtlichen Kontext nicht minder wichtig. Zauberkreis
Im Kontext von belastenden Situationen, etwa bei hochstrittigen Elternpaaren, ist es wichtig, einen sicheren Raum zu bilden, der äußerlich wie auch innerlich hergestellt wird. Äußerlich kann dies im Rahmen der Aufsuchenden Systemischen Arbeit gut geleistet werden, indem – wie im konkreten Fall – etwa der Verfahrensbeistand mit der Jugendlichen ein neutrales Umfeld für das Gespräch wählt und auf deren Bedürfnisse eingeht. Dabei ist die professionelle Neutralität wichtig, um nicht emotional in den Fall »hineingezogen« zu werden und doch empathisch stabilisierend zu arbeiten. Der sichere innere Ort wird über die zügige Beziehungsgestaltung hergestellt, etwa durch das Überwinden der Problemtrance. Die Einladung zu Entspannungsübungen, die gemeinsam durchgeführt werden, bietet sich als Einstieg an. Das können kurze Atemübungen sein oder auch An- und Entspannungsübungen wie das »Fingerhakeln« mit den eigenen Händen. Nach einer Weile kann der Zauberkreis zum Tragen kommen. All das wird auch im Rahmen der Psychosozialen Prozessbegleitung geübt und eingesetzt. Für Marina wirkte dies sehr entlastend. Die Intervention »Zauberkreis« geht wie folgt: Die Jugendliche stellt sich die belastende Situation – hier den Gerichtstermin – vor und formuliert die inneren Bilder und Emotionen dazu. Dann geht sie einige Schritte weiter, blickt zurück und formuliert die inneren Bilder und Emotionen, nachdem diese Situation vorbei und konstruktiv gelaufen sein
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wird. Im dritten Schritt geht sie zurück ins Jetzt, versucht aber, aus der »gelösten Wahrnehmung« auf den anstehenden Termin zu schauen. Ein vierter Schritt erlaubt, gleichsam von der Seite auf dieses Geschehen zu blicken und Unterschiede zwischen diesen Wahrnehmungsebenen zu skizzieren. Das imaginative »Gehen« zwischen der ersten und zweiten sowie der dritten Position beschreibt eine Art Kreis, dessen Zauber darin liegt, anstehende Herausforderungen nicht aus einer gestressten, sondern gelösten Perspektive aus sehen und verinnerlichen zu lernen. Mithilfe von Spielzeugfiguren und einer kindgerechten Sprache ist dies sogar auch für kleinere Kinder hilfreich. Notfall-Stabilisierung
Psychotraumatologisch macht es einen erheblichen Unterschied, ob eine Tat (wie Gewalt oder sexueller Missbrauch in Familie oder Schule) oder ein Trennungsstreit der Eltern erstmalig auftritt oder ob dies mit einem lang andauernden Erfahrungshintergrund verknüpft ist. Solche anhaltenden, multitraumatischen Erlebnisse werden im Sinne einer Überlebensstrategie seelisch oft »abgekapselt«. Durch ein straf- oder familiengerichtliches Verfahren können diese Verkapselungen aufbrechen. Unter Umständen werden dadurch gerade bei Kindern und Jugendlichen entweder Schuldgefühle getriggert, dass sie etwa für eine Trennung verantwortlich seien, oder auch tiefe Trauer etwa über den »Verlust« eines Elternteils ausgelöst. Mitunter sind suizidale Risiken zu beobachten. In solchen Fällen ist es nötig, derartige Risikomomente zu erkennen und rasch professionelle Hilfe herbeizuholen. Bei der Psychosozialen Prozessbegleitung im Strafverfahren ist es aus diesem Grund ein verpflichtender Teil der Weiterbildung, sich entsprechende Netzwerke zu Notfall- oder anderen Einrichtungen für eine – bei Akutbedarf – schnelle Unterstützung zu erarbeiten. Insbesondere sind diese Netzwerke nach einer Hauptverhandlung zur weitergehenden Unterstützung gedacht. Diese soll situativ differenziert und den örtlichen Möglichkeiten angepasst sein. Für eine Psychosoziale Prozessbegleitung im familiengerichtlichen Rahmen sind durch den Fokus auf das Kindeswohl die Aufgaben anders gelagert. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass im Strafverfahren von der »PsPB« absolute Neutralität verlangt wird. Denn hier geht es um Wahrheitsfindung. Die ist Sache des Gerichts, also der Staatsanwaltschaft, der Richterschaft und der Anwälte. Selbst die Meinungsäußerung einer PsPB »zum Fall« könnte als Zeugenbeeinflussung aufgefasst werden und hat deshalb strikt zu unterbleiben. Im familiengerichtlichen Kontext ist ein Verfahrensbeistand hingegen Anwalt des Kindes, was bedeutet, die Bedürfnisse, Bedarfe und Interessen des Kindes
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zu erkunden und zu vertreten. Das stellt eine Gegenposition zu der im Strafverfahren erforderlichen Neutralität dar. Dennoch sind Überlegungen zur Netzwerkbildung auch bei familiengerichtlichen Problemlagen von Bedeutung, um in kritischen Situationen und in Absprache mit dem Familiengericht auf Notfallinterventionen zurückgreifen zu können. Der kritische Moment: Im Erstkontakt und Erstgespräch Vertrauen bilden
Die Qualität des Erstkontakts und Erstgesprächs ist von entscheidender Bedeu tung, um zu qualifizierten Aussagen bei Gericht zu kommen. Mit anderen Worten kommt es sehr darauf an, ob der Stabilisierungsprozess bis hin zu einem Gerichtstermin gelingt und von der anzuhörenden Person wie auch vom Gericht als unterstützend erlebt wird. Empathische Intelligenz Nochmals zurück zum Fallbeispiel: Die frühe und wiederholte Trennung von der Mutter sowie der andauernde Mangel an festen und verlässlichen Bindungen, sei es zu Eltern, Geschwistern oder anderen Bezugspersonen, der in der Familie schon früh zu beobachten war und auch außerhalb der Familie fortgesetzt wurde, legt die Vermutung einer früh einsetzenden und wiederholten Traumatisierung nahe. Marina jedenfalls kann sich nur an »ewig streitende« Eltern erinnern sowie an deren andauernde Versuche, die Kontakte der Kinder zum jeweils anderen Elternteil zu unterbinden. Erst die empathische Intelligenz der Richterin vermochte hier einen grundsätzlichen Wandel im Sinne des Kindeswohls einzuleiten. Das kam im raschen Handeln und der Einladung zu einem virtuellen Netzwerk zum Tragen, das die Verfahrensbeistandschaft, das Jugendamt und die Mutter selbst mit einbezog. Diese konnte glaubhaft machen, dass sie sich einer Therapie unterzogen und ihre Drogensucht hinter sich gelassen hatte. Das eröffnete den Weg, um per einstweiliger Verfügung der Jugendlichen während der Ferien den Aufenthalt bei ihrer Mutter zu ermöglichen und dieser zeitgleich auch wieder das Sorgerecht mit Aufenthaltsbestimmungsrecht einzuräumen. Dem Antrag des Vaters nach Unterbringung seiner Tochter in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung während der Ferien wurde nicht entsprochen. In Absprache mit dem Jugendamt wurde vielmehr vereinbart, dass Marina bei positivem Feedback nach den Ferien grundsätzlich zu ihrer Mutter ziehen könne. Das war mit einem Umzug in eine andere Stadt sowie mit einem Schulwechsel verbunden und von daher eine fundamentale Lebensveränderung für Mutter und Tochter.
Kinderschutz im familiengerichtlichen Kontext
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Familiales System erfassen
Kinder und Jugendliche bedürfen einer einfühlsamen, das heißt altersgerechten sowie kontext- und situationsadäquaten Kommunikation. Das erfordert verschiedene Stile und Methoden der Gesprächsführung und deren Anpassung an aktuelle Gegebenheiten. Tischaufstellungen – die unterstützende Arbeit mit kleinen Figuren, die im Gespräch mit verwendet werden – können dafür dienlich sein. Hinzu kommt, dass sie einer Anhörung einen spielerischen Charakter verleihen. Das lässt den Gerichtstermin entspannter werden. Darüber hinaus bedarf es der führenden Gestaltung der Beziehung zwischen Richterin und der anzuhörenden Person. Das erfordert einen differenzierten Aufbau von systemisch fundierten Kompetenzen, die ein familiales System in seiner ganzen Bandbreite aufgreifen und adressieren können. Anhörung von kindlichen und jugendlichen Personen
Im Vorfeld einer Anhörung kann dies bei Bedarf vorbereitend unterstützt werden, indem ein Kind oder eine jugendliche Person den Gerichtssaal bzw. den Raum für eine Videovernehmung im Vorfeld einer Verhandlung kennenlernt, wie auch den verhandlungsführenden Richter oder die Richterin. Dieser vorgeschaltete Beziehungsaufbau macht das Gericht für eine belastete Person zum »sicheren Ort«, der es erlaubt, sich zu äußern und eine qualifizierte Aussage zu machen. Im strafrechtlichen Verfahren kann dies durch die Beiordnung einer Psychosozialen Prozessbegleitung mit gefördert werden, im familienrechtlichen Rahmen durch eine Verfahrensbeistandschaft. Die Stabilisierungsarbeit ist zwar nicht Auftrag des Gerichts, jedoch können sich Richterinnen und Richter im Rahmen einer Anhörung darauf stützen. Das kommt deren Gesprächsführung insgesamt zugute. Ziel der Stabilisierung ist es, gerichtlich verwertbare und qualifizierte Aussagen zu erhalten. Virtuelle Kommunikation Dieser Beziehungsaufbau kann im ersten Schritt digital erfolgen, etwa im Rahmen eines ersten virtuellen Kennenlerngesprächs oder eines virtuellen Gangs durch den Gerichtssaal oder Videoraum. Gerade im Onlineformat ist eine interaktive, empathische Begegnung wichtig. »Virtuelle Kompetenzen« unterscheiden sich dabei grundsätzlich von technischen Aspekten. Sie sind von der jeweils verfügbaren Technik und Software weitgehend unabhängig. Hier geht es vielmehr darum, im Onlineformat einen zügigen, konstruktiven und nach-
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haltigen Beziehungsaufbau zu erreichen und auch die Beziehungsgestaltung der Beteiligten und Betroffenen untereinander zu unterstützen. Virtuellen Blickkontakt einüben
Gerade bei der virtuellen Anhörung unter konflikthaften Bedingungen oder beim Versuch einer einvernehmlichen Lösung im familiengerichtlichen Kontext ist es wichtig, zügig ein konstruktives Gesprächsklima herzustellen. Das erfordert gerade bei Kindern und Jugendlichen, dass sie sich auch im virtuellen Rahmen »angesehen« fühlen. Das erfordert ein gewisses Training des Blickverhaltens. Es gilt, gerade bei wichtigen Aussagen und insbesondere beim Zuhören immer wieder bewusst und gezielt in die Kamera zu schauen. Das erzeugt beim Gegenüber den Eindruck, persönlich angesehen zu werden. Hingegen führt das zu lange Anschauen der Bildkachel des Gesprächspartners auf dem Bildschirm dazu, dass dieser sich eher nicht wahrgenommen fühlt. Erfahrungsgemäß ist diese Paradoxie des Blickkontakts und der Umgang damit seitens aller Verfahrensbeteiligten zu üben. Verschlimmerungsfrage
Die Schnelligkeit und Gleichzeitigkeit auch über weite Entfernungen hinweg, die in der Möglichkeit einer virtuellen Kontaktaufnahme liegt und alle Beteiligten oder Betroffenen einzubeziehen vermag, ist der analogen Herangehensweise oftmals überlegen. Wollte man hier eine Verschlimmerungsfrage ansetzen – »Was muss passieren, damit keine gute Lösung gefunden werden kann?« –, dann würde sich die formalistische Herangehensweise anbieten, die sich auf den Antrag bei Gericht beschränkt, ohne über verschiedene Kontexte hinweg die akute familiale Dynamik zu beachten. Systemische Sachverständigentätigkeit An die Qualität von familiengerichtlichen Gutachten werden mittlerweile hohe Ansprüche gestellt. Sie berühren das Wohlergehen von Familien und sollen für bestmögliche Entscheidungen für das Kindeswohl sorgen. Dabei kann es sinnvoll sein, im Rahmen der gutachterlichen Tätigkeit auf Einvernehmlichkeit hinzuwirken – also auf die Befähigung von Familien, zu gemeinsamen tragfähigen und nachhaltigen Lösungen zu kommen. Systemische Herangehensweisen sind geeignet, dies zu unterstützen. Auch Gutachterinnen und Gutachter müssen dabei ihre professionelle Neutralität bewahren und der gutachterlichen Rolle
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bei Gericht gerecht werden, selbst wenn einvernehmliche Lösungen nicht zu erreichen sind. Wenn der oder die Sachverständige ein Kinder- und Jugendpsychiater oder eine psychologische oder mit Zusatzqualifizierung eine (sozial-)pädagogische systemische Sachverständige beim Familiengericht ist, gehört es zu ihrem oder seinem beruflichen Selbstverständnis, immer die Perspektive des Kindes im Blick zu haben und bezüglich des weiteren Prozederes im Sinne des Kindeswohls therapeutische Vorschläge zu machen. Der oder die Sachverständige könnte sogar Vorschläge im Sinne einer Kon textarbeit machen und darauf hinweisen, dass es möglich sein kann, dieses Einvernehmen im Rahmen eines multiperspektivischen Prozesses mit allen Beteiligten zu erreichen. Das würde allerdings das familiengerichtliche Vorgehen revolutionieren und eventuell längere gutachterliche Phasen nach sich ziehen. Es würde aber auch die Wirksamkeit des Einvernehmlichkeitsparagrafen empfindlich erhöhen. Interaktionsbeobachtung
Auch hier spielt die Aufsuchende Systemische Arbeit in der analogen wie in der virtuellen Begegnung eine wichtige Rolle. Das umschließt die vertrauensbildende Gesprächsführung und eine fundierte, an wissenschaftlichen Kriterien ausgerichtete Interaktionsbeobachtung. Dies in Summe erhöht die Aussagekraft von familiengerichtlichen Gutachten. Mit Blick auf eine mögliche Einvernehmlichkeit verlangt der gutachterliche Prozess bei komplexen, hochstrittigen Konflikten zudem die Fähigkeit zur psychotraumatologischen, viktimologischen wie auch systemisch-mediativen Arbeit. Das erfordert die Befähigung zur Stabilisierung auch im virtuellen Kontext sowie die Gestaltung der Begutachtung als »sicheren Ort«. Dies unterstützt den Prozess, im Sinne der Einvernehmlichkeit zu eigenständigen und tragfähigen Lösungen zu kommen und – vor allem hinsichtlich des Kindeswohls – den Risiken der Viktimisierung und Traumatisierung vorzubeugen. Aufbau von »lernenden Netzwerken«
Diese reichen von Jugendämtern über gerichtliche Verfahrensbeistandschaften und Umgangspflegschaften bis hin zu Kriseninterventionsdiensten und Schutzeinrichtungen. Wesentliche Ziele sind neben der Stabilisierung von Kindern und Jugendlichen die Prävention der Viktimisierung. Ebenso spielt deren Stärkung im familiären Umfeld wie auch den milieuspezifischen Einflüssen gegen-
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über eine wichtige Rolle. Diese Erfahrungen und Kompetenzen auf juristischen, psychologischen und psychotraumatologischen Ebenen fließen in die systemische Sachverständigenarbeit mit ein. Dieser kommt damit die Aufgabe zu, den Wert des konstruktiven Zusammenwirkens der unterschiedlichen Beteiligten der Helfersysteme und deren konzertierten Beitrag für das Kindeswohl darzulegen. Das beugt multiparadoxen Einflüssen vor, denen Kinder und Jugendliche sonst ausgesetzt sein können. Wie scheitert man am effektivsten? Es kann aber auch ganz anders kommen! Es kann gewaltig scheitern, wenn Ȥ die Jugendhilfe oder die Kinder- und Jugendpsychiatrie sich nicht fragt, was hinter dem Verhalten der Kinder und Jugendlichen steckt, sondern nur auf das Verhalten reagiert nach dem Motto: »Wenn man sich so verhält, muss man sich nicht wundern …«; Ȥ man so davon überzeugt ist, die Weisheit gepachtet zu haben, dass die Wahrnehmung der anderen Beteiligten sowieso nur falsch sein kann; Ȥ man die anderen Berufsgruppen in ihren Kompetenzen nicht respektiert; Ȥ man sehr interessiert ist am »Warum machst du das?« oder am »Was war los?«; Ȥ man es aufgibt, wohlwollende Fragen zu stellen; Ȥ man Eltern belehren möchte, statt sie nach deren Vorstellungen von Lösungen zu fragen; Ȥ man sich nicht für die Sichtweisen der anderen Beteiligten und noch weniger für deren Idee von Lösung interessiert; Ȥ man Verfahrensbeistände wie Fremdkörper behandelt; Ȥ man das Kind nicht fragt. Ausblick Die skizzierten Herangehensweisen bilden in der Summe ein konstruktives Potenzial zum »Rapid Turnaround« mit Blick auf einvernehmliche, gemeinsam tragfähige Lösungen. Das gelingt in unmittelbarer Präsenz und kann mithilfe einer semivirtuellen Stabilisierung umso besser geleistet werden: Solche unterstützenden videogestützten Herangehensweisen bieten den Vorteil, nicht erst die Zeit bis zu einem Termin überbrücken zu müssen, sondern können als Sofortmaßnahme stabilisierend wirken. Eine persönliche Begegnung schließt sich idealerweise an und erlaubt eine Vertiefung der Stabilisierungsqualität. Darüber hinaus könnte man sich mutig in Richtung Großteam-Reflexionen bewegen. Das Team stellt sich dann aus allen Betroffenen und Mitwirkenden
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zusammen. Diese reflektieren gemeinsam den Prozess, mit dem Kindeswohl als Ziel. Zusammenfassend ist es ein wesentliches Ziel, Kinder und Jugendliche im Sinne des Kindeswohls vor (Re-)Traumatisierungen und dem Abgleiten in eine persistierende Viktimisierung mit ihren zahlreichen sozialen Risiken zu schützen. Wenn es sein muss, auch virtuell. Literatur Fischer, G., Riedesser, P. (2020). Lehrbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart: UTB. ISTOB Management Akademie (2022). Psychosozialer Prozessbegleiter – Fachpädagoge für Systemische Psychotraumatologie. Zugriff am 28.02.2022 unter https://www.istob-aka.de/mediationrecht/#psychosozialer-prozessbegleiter-fachpaedagoge-fuer-systemische-psychotraumatologie. Rotthaus, W. (2014). Der Beitrag der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Kinderschutz. Kontext, 45 (3), 265–278. Schwendner, R. (2012). Konflikte wirksam lösen. Systemisches Arbeiten mit Familien und Organisationen. Ein Praxishandbuch. Stuttgart: Klett-Cotta.
7.3 »Es geht doch um unser Kind, oder?« – Kinderschutz in Rosenkriegen aus der Perspektive der familiengerichtlichen Sachverständigen Annika Falkner
Für (ehemalige) Paare, die sich in konflikthaft ausgetragenen Trennungsprozessen befinden, aber gleichzeitig Eltern betreuungspflichtiger Kinder sind, stellt die Neugestaltung der kindlichen Lebensumwelt nach der elterlichen Trennung eine besondere Herausforderung dar. Die Bewältigung der Trennung geht oftmals mit dem Streben nach Abgrenzung und Distanzierung vom ehemaligen Partner bzw. der ehemaligen Partnerin einher. Gleichzeitig erfordert die Neugestaltung des Lebenskontextes der gemeinsamen Kinder, etwa in Bezug auf Wohn- und Schulumfeld oder den Umgang mit beiden Elternteilen, intensive Abstimmungsprozesse, welche eine engmaschige Kommunikation und den Respekt vor der Elternrolle des anderen bzw. der anderen voraussetzen. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Distanzierung auf der einen Seite und der Neugestaltung der gemeinsamen Elternschaft auf der anderen Seite. Sofern dieses Spannungsfeld von den Beteiligten letztlich aufgelöst bzw. bewältigt wer-
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den kann, sodass die Eltern gemeinsam ihren Aufgaben als Mutter und Vater nachkommen können, stellt das Auftreten und die Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld einen völlig normalen – im Grunde sogar notwendigen – Abschnitt bei der Bewältigung des Trennungsprozesses dar. Problematisch wird die Situation, wenn kein konstruktiver Umgang mit dem Spannungsfeld gefunden werden kann und die Ausübung der gemeinsamen Elternschaft – trotz Trennung – bzw. die positive Neugestaltung der kindlichen Lebensumwelt nicht gelingen. In der Folge entsteht das Risiko einer zunehmenden Verschlechterung der kindlichen Lebenssituation, weil die Eltern z. B. emotional stark in ihre Konflikte eingebunden sind und die kindlichen Bedürfnisse nicht ausreichend in den Blick genommen und befriedigt werden können. Eine noch schwierigere Problemlage tritt auf, wenn die Eltern die Erfordernisse zur Regelung kindlicher Belange nutzen bzw. instrumentalisieren, um noch nicht gelöste elterliche Bedürfnisse und Belange stellvertretend konflikthaft zu verhandeln. Das Kindeswohl gerät dabei von verschiedenen Seiten unter Druck, da zum einen keine erfolgreiche Neugestaltung des kindlichen Lebenskontexts gelingt und zum anderen die kindlichen Bedürfnisse nicht ausreichend befriedigt werden können (z. B. durch herabgesetzte Interaktions- und Erziehungskompetenzen der Eltern) und die Kinder obendrein noch durch das Erleben der elterlichen Konflikte verunsichert werden. Sofern es den Eltern nicht gelingt, schrittweise in einen konstruktiven Prozess zu gelangen, werden auf Initiative eines oder beider Elternteile oder auch von dritten Personen Helferinstitutionen aktiviert. Dies sind oftmals die Jugendämter und Beratungsstellen, aber auch manchmal direkt – über den Weg zum Rechtsanwalt, zur Rechtsanwältin – das Familiengericht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, bekommt das Geschehen eine völlig neue Komplexität und Dynamik, denn mit der Aktivierung des Familiengerichts treten nicht nur neue Akteure (z. B. Verfahrensbeistand) mit ein, sondern das Geschehen wird einer juristischen Betrachtung unterzogen. Dies birgt bereits per se einen Widerspruch in sich, denn ein Geschehen, welches in seiner Dynamik vorrangig von psychologischen Aspekten (z. B. emotionalem Erleben) geprägt ist, soll nun mit juristischen Mitteln gelöst werden. Folglich kommt es oftmals auf die psychologischen und kommunikativen Kompetenzen der Beteiligten an, welche genutzt werden müssen, um im Rahmen des juristischen Prozesses bei der Unterstützung der Familie erfolgreich sein zu können. Sofern dies nicht zufriedenstellend gelingt, kommt es zur Beauftragung eines Sachverständigen, welcher seinerseits unter Nutzung wissenschaftlicher Methoden und/oder lösungsorientierter Interventionen die Arbeit des Gerichts unterstützt, indem entweder direkt eine Lösung erarbeitet wird oder aber dem Gericht die notwendigen Informationen bereitgestellt werden, um den juristi-
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schen Prozess erfolgreich weiterführen zu können. Damit ist bei allen Beteiligten die Hoffnung verbunden, dass dies wiederum auch die auf psychologischer und kommunikativer Ebene vorhandenen Schwierigkeiten löst oder zumindest mildert und es letztlich zu einer Bewältigung des besagten Spannungsfeldes kommt. Um die genannten Aspekte zu veranschaulichen, soll ein entsprechender Fall aus der Sachverständigenpraxis geschildert werden. Im Mittelpunkt steht die Sicherung des Kindeswohls und – juristisch betrachtet – die Regelung des Aufenthalts sowie des Umgangs der Geschwister A. (männlich, zwölf Jahre), und L. (männlich, neun Jahre) vor dem Hintergrund heftiger elterlicher Konflikte in der Trennungs- und Nachtrennungsphase. Die elterlichen Auseinandersetzungen waren nicht nur durch ausgeprägte verbale Aggressionen geprägt, sondern auch durch gegenseitige körperliche Übergriffe. Für die Kinder wurde die Lage schwierig und unvorhersagbar. Der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder war nach der elterlichen Trennung vor ca. zwei Jahren zunächst bei der Mutter, und es fanden Umgänge mit dem Vater statt, welche jedoch weder eine feste Dauer noch einen festen Rhythmus hatten. In Abhängigkeit von dem elterlichen Konfliktniveau wurden häufigere oder seltenere Umgänge vereinbart. In ausgeprägten Konfliktphasen lehnte die Mutter Umgänge zwischen den Kindern und dem Vater ab, in Phasen mit weniger Konflikten und einem höheren Maß an elterlicher Kooperation fanden häufigere und ausgedehntere Umgänge statt. Im Zuge eines Polizeieinsatzes aufgrund einer mit körperlicher Gewalt ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen den Eltern, bei welcher die Kinder Zeugen waren, kam der Verdacht auf, dass auch die Kinder Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Dieser Verdacht erhärtete sich nachfolgend und es stellte sich heraus, dass seitens der Mutter offenbar Gewalt im Rahmen der Erziehung der Kinder eingesetzt wurde. Dabei äußerte sich L. sehr ausführlich über das Erlebte und zeigte eine starke Ablehnung gegenüber der Mutter, während A. nicht darüber sprach oder widersprüchliche Äußerungen tätigte. Die Mutter bestritt die Vorwürfe vehement, und der Vater gab an, sich nicht vorstellen zu können, dass die Mutter so etwas tue. Im Übrigen bagatellisierte er – ebenso wie die Mutter – die elterlichen Konflikte. Aufgrund des substanziell erscheinenden Verdachts des Einsatzes von Gewalt in der Erziehung durch die Mutter und des bagatellisierenden Verhaltens der Eltern wurden die Kinder seitens des Jugendamts in Obhut genommen und in einer Einrichtung untergebracht. Die Eltern nahmen wechselseitig Umgänge mit den Kindern in der Einrichtung wahr, bei denen die Mutter seitens der Mitarbeitenden als sehr restriktiv und autonomieeinschränkend erlebt wurde, während der Vater als warm, aber wenig grenzsetzend wahrgenommen wurde. Zudem beschrieben die Mitarbeitenden der Einrichtung Schwierigkeiten in der Kooperation mit der Mutter,
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Annika Falkner
da diese wiederholt versuche, Regeln der Einrichtung zu umgehen und ihren Einfluss sowie ihre Präsenz zu erhöhen. Seitens des Jugendamts wurde eine Überprüfung der derzeitigen Sorgerechtsregelung angeregt, woraufhin das Gericht die Begutachtung durch eine Sachverständige beauftragte.
Gutachterliche Sicht und der Blick auf Lösungs- und »Scheiterpotenziale« Auf den ersten Blick erscheinen die strukturellen Gegebenheiten recht klar, denn es ergeht ein Begutachtungsauftrag an die Sachverständige, welche entsprechend einem erstellten Untersuchungsplan die notwendigen, mittels wissenschaftlicher Methoden erhobenen Informationen sammelt, auswertet und dem Gericht in entsprechender Form sowie einer daraus abzuleitenden Empfehlung zur Verfügung stellt. Der differenzierte Blick aus systemischer Perspektive offenbart jedoch ein komplexes Geflecht an Erwartungshaltungen und bisweilen auch Rollenkonfusionen bei allen Beteiligten, welche berücksichtigt werden müssen und sowohl Risiko- als auch Ressourcenpotenziale offenbaren. Rechtsanwälte/ -innen
Sachverständige(r)
KV
KM Kinder
Gericht
Verfahrensbeistand
Jugendamt
Abbildung 1: Geflecht der Beteiligten Abbildung 1
Abbildung 1 verdeutlicht dabei nicht nur das komplexe Geflecht verschiedener Dr. Annika Falkner Beteiligter, sondern auch den Umstand, dass ©der elterliche Konflikt – der sogenannte »Rosenkrieg« – nur einen Aspekt im Zuge der Lösungsfindung
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darstellt. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Abbildung keinesfalls vollständig bzw. erschöpfend die verschiedenen Subsysteme und deren Interaktionen darstellt, sondern vereinfachend die Sachverständigentätigkeit verbildlichen soll. Weiterhin wird deutlich, wie hoch die Gefahr ist, die betroffenen Kinder und deren Bedürfnisse sowie Sichtweisen aus dem Blick zu verlieren. Nicht zuletzt wird mehr als deutlich, dass es eine sensible Balance zwischen dem Austausch mit den verschiedenen Professionen und der Wahrung von Neutralität bzw. Unabhängigkeit braucht. Bei der Betrachtung dieser Aspekte und der Ableitung von Lösungsstrategien ist sowohl eine strukturelle Betrachtung sinnvoll als auch eine inhaltliche, welche den Fokus auf das Kindeswohl legt. Im Rahmen der strukturellen Betrachtung sollen zunächst die verschiedenen Subsysteme, welche beteiligt sind, in den Blick genommen werden. Dabei ist das System der betroffenen Familie zuerst in den Fokus zu rücken, da in diesem die Kinder leben, deren Wohl gesichert werden soll, und die Familie selbst im Fall einer (temporären) Fremdunterbringung eine zentrale Bedeutung für die kindliche Entwicklung hat. Dieses Subsystem ist einer hohen Dynamik unterworfen, welche im Fall von Trennung/Scheidung und den damit verbundenen Reorganisationsprozessen nochmals höher ist als in ruhigeren Lebensphasen. Die Eltern, ihre Rechtsanwält:innen und das Kindeswohl
Mit Blick auf das Fallbeispiel betrifft das die Ereignisse und Interaktionen zwischen den Kindeseltern auf der einen Seite sowie zwischen den jeweiligen Eltern und Kindern, aber auch zwischen den Geschwistern auf der anderen Seite. Die Kindeseltern – als Teil des familiären Systems – stehen in der Regel im Austausch mit ihren jeweiligen Rechtsanwält:innen, welche sie in dem laufenden Verfahren vertreten. Damit stellen die Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen einen enorm wichtigen Teil im Rahmen des Gesamtsystems dar, denn als Prozessbevollmächtigte, welche die elterlichen Personen vertreten und im direkten Austausch mit ihnen stehen, bergen sie ein großes Potenzial zum Finden von Lösungen. Die Kindeseltern bringen ihren jeweiligen Anwälten oder Anwältinnen meistens ein großes Vertrauen entgegen und sind für deren Hinweise und Ratschläge deutlich zugänglicher, als dies bei anderen Personen im gerichtlichen Kontext der Fall ist. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer größeren Aufmerksamkeit für die Rolle der Anwältinnen und Anwälte, denn diese stellen einen Zugang zu den Kindeseltern dar. Sofern es gelingt, in Kontakt mit den Anwältinnen und Anwälten zu treten und diese – unter Berücksichtigung ihrer Rolle – für eine konstruktive Lösungsfindung zu gewinnen, steigen die Chancen für das Finden einer einvernehmlichen Regelung deutlich.
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Im vorliegenden Fall könnten die beteiligten Anwälte z. B. die Kindeseltern für die negativen Auswirkungen ihres Handelns auf die Kinder und die Notwendigkeit zur Kooperation mit den verschiedenen Institutionen und zur Annahme von Hilfe sensibilisieren sowie für die daraus resultierenden positiven Auswirkungen – auch auf den juristischen Umgang mit dem Fall. Sie könnten den Kindeseltern die Position der weiteren Verfahrensbeteiligten erklären und den Blick auf das Kindeswohl schärfen. Allerdings gilt es dabei verschiedene Hürden zu überwinden. Die größte stellt das Spannungsfeld zwischen der elterlichen Parteivertretung auf der einen Seite und der Kindeswohlorientierung auf der anderen Seite dar. Insbesondere, wenn die zur Verfügung stehenden kindeswohldienlichen Lösungen den Interessen des jeweiligen Elternteils widersprechen, geraten die Anwältinnen und Anwälte in einen Konflikt zwischen der Vertretung der elterlichen Interessen und der Unterstützung einer kindeswohldienlichen Lösung. Sofern der Anwalt die Unterstützung der kindeswohldienlichen Variante priorisiert, läuft er Gefahr, das Mandat oder den Ruf eines engagierten, »kämpfenden« Verteidigers zu verlieren und dadurch auch mögliche Folgemandate nicht zu erhalten. Bei einer starken Fokussierung auf die Interessen des Elternteils, welche den Kindesinteressen widersprechen, riskiert der Anwalt, einer Kindeswohlgefährdung Vorschub zu leisten. Eine weitere Hürde stellen die möglicherweise fehlenden Kompetenzen bzw. Kenntnisse im Bereich von Kindeswohl und Kommunikation seitens des juristisch ausgebildeten Anwalts dar, wodurch es ihm oder ihr gar nicht erst möglich wird, entsprechende Spannungsfelder und Handlungsspielräume zu sehen. Erfahrungsgemäß sind Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die auch als Verfahrensbeistände Erfahrung mitbringen, für Kindeswohlbelange wesentlich sensibilisierter und können Eltern diesbezüglich besser beraten. Eine zusätzliche Dynamik erhält die Betrachtung des anwaltlichen Aspekts aufgrund der Differenzen zwischen verschiedenen Anwältinnen und Anwälten. In der Regel haben beide Elternteile verschiedene Anwält:innen, die möglicherweise ganz verschiedene Kenntnisse und Verteidigungsstrategien haben. Das Gericht und das Kindeswohl
Die besonderen Ressourcen des Gerichts als eines weiteren Teilsystems liegen in den weitreichenden Handlungsspielräumen, über welche die richterliche Profession verfügt. Dem Gericht obliegt die Leitung des Verfahrens, und damit hat es umfassende Handlungsspielräume zur Durchführung von Anhörungen, Einholung von Stellungnahmen, Einladung verschiedener Personen, zum Abfassen von juristischen Beschlüssen etc. Es kann, darf und muss mit den anderen Perso-
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nen und Institutionen in den Austausch treten und im Sinne einer Lösungsfindung eine moderierende Funktion einnehmen. So, wie die anwaltliche Profession ein enormes Potenzial für den Zugang zu den Kindeseltern in sich birgt, hat das Gericht ein enormes Potenzial für die Steuerung des Prozesses sowie der einzelnen Professionen und die Nutzung dieser Möglichkeiten zum Finden einer Lösung. Die Nutzung dieses Potenzials stellt eine große Herausforderung dar, denn die zuständige Richterin, der zuständige Richter benötigt dafür nicht nur die entsprechenden juristischen Kenntnisse, sondern auch ausgeprägte kommunikative Kompetenzen sowie Wissen in den Bereichen Psychologie und (Sozial-)Pädagogik. Im vorliegenden Fall muss die zuständige Richterin oder der zuständige Richter im Rahmen der Kindesanhörung einen behutsamen Zugang zu den Kindern finden, sie oder er muss entscheiden, welche Informationen benötigt werden, um die Situation einschätzen zu können, und wie an diese zu gelangen ist. Sie oder er muss entsprechende Stellungnahmen (z. B. von der Schule, dem Jugendamt, Ärzten, der Heimeinrichtung) einholen und wissen, welche Fragen dabei zu stellen sind, um an die entsprechenden Informationen zu kommen. Sie oder er muss einen Verfahrensbeistand und einen Sachverständigen beauftragen und muss dabei entscheiden, welche der zur Verfügung stehenden Personen am hilfreichsten dafür sind und welche Fragestellung im Mittelpunkt steht. Dabei spielen z. B. Fragen zur Qualifikation und Berufserfahrung eine Rolle, aber auch der vorhandenen Zeitkapazitäten. Nicht zuletzt muss die Richterin, der Richter die gerichtliche Verhandlung taktisch klug sowie kommunikativ geschickt führen, um die gesammelten Informationen gut einsetzen und eine Lösung erarbeiten zu können. Wenn man bedenkt, dass familiengerichtliche Fragestellungen im Jurastudium eine stark untergeordnete Rolle einnehmen, geschweige denn darüber hinausgehende Kompetenzen vermittelt werden, liegt im Ausbau der Aus- und Fortbildung von Familienrichter:innen ein großes Potenzial zur besseren Gestaltung familiengerichtlicher Prozesse und kindeswohldienlicher Lösungen. Das Jugendamt und das Kindeswohl
Die besonderen Chancen der Arbeit des Jugendamts liegen in der umfassenden Fallkenntnis und den Möglichkeiten zur interventionsorientierten Arbeit mit den Kindeseltern. Die Mitarbeitenden des Jugendamts stehen oftmals am längsten mit der Familie im Kontakt und haben daher umfassende Kenntnisse über den Fallverlauf. Häufig inkludiert dies auch Erfahrungen mit der Wirksamkeit von Hilfen für die Familie und mit der elterlichen Kooperation. Diese Aspekte sind für die Gestaltung der weiteren Situation und das Finden eines Lösungswegs zentral und daher von immenser Bedeutung.
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Das Risiko der Arbeit des Jugendamts liegt vor allem in dem Spannungsfeld zwischen der unterstützenden Funktion auf der einen Seite und der Ausübung des Wächteramts auf der anderen Seite. Die Ausübung der unterstützenden Funktion erfordert Vertrauen, Offenheit, aber auch einen Raum für Fehler und Optimierungsmöglichkeiten. Gleichzeitig müssen die Mitarbeitenden des Jugendamts in akut kindeswohlgefährdenden Situationen umgehend handeln und Kinder zu ihrem Schutz in Obhut nehmen oder aber – im Fall von anhaltenden latenten Gefährdungen – einen Eingriff in die elterliche Sorge bzw. in die Gestaltung der kindlichen Lebensumwelt gerichtlich beantragen. Im vorliegenden Fall bedeutet dies etwa, nach der notwendigen Inobhutnahme der Kinder über Gespräche und Hilfsangebote schrittweise eine Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Kindeseltern zu schaffen. Das Ziel der nachfolgenden Zusammenarbeit zwischen dem Jugendamt und den Kindeseltern besteht im Aufbau der elterlichen Reflexionsfähigkeit sowie der Erziehungskompetenzen (z. B. feinfühlige Förderung und Grenzsetzung) und der Förderung einer positiven Kooperationsbeziehung mit der Heimeinrichtung. Die Verfahrensbeistandschaft und das Kindeswohl
Die Arbeit im Rahmen der Verfahrensbeistandschaft hängt davon ab, wie weit das Gericht den Auftrag für den Verfahrensbeistand fasst. In jedem Fall besteht der Beitrag dieser Arbeit in der Fokussierung der kindlichen Wünsche sowie Interessen und der Kommunikation dieser gegenüber dem Gericht und weiteren Professionen. Sofern ein erweiterter Auftrag besteht, können seitens des Verfahrensbeistands auch Gespräche mit den Kindeseltern geführt werden, um im günstigsten Fall bereits eine tragfähige Grundlage für das Finden einer einvernehmlichen Lösung zu erarbeiten. Im vorliegenden Fall bedeutet dies z. B., das derzeitige kindliche Wohlbefinden und die kindlichen Wünsche für die Zukunft zu eruieren und – im Fall einer Durchführung von Elterngesprächen – die Kindeseltern dafür zu sensibilisieren sowie eventuelle daraus resultierende Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten zu besprechen. Ein Risiko in der Arbeit des Verfahrensbeistands resultiert aus dem oftmals unklaren Auftrag und möglichen Redundanzen bzw. Überschneidungen mit der Arbeit weiterer Professionen. So bestehen insbesondere mit Blick auf die Arbeit des Jugendamts und des Sachverständigen Überschneidungen, was beispielsweise die Betrachtung der kindlichen Interessen und Wünsche betrifft. Folglich erfordert es Austausch und Abstimmung zwischen den Professionen, um fallspezifisch und sich gegenseitig ergänzend arbeiten zu können.
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Der Sachverständigenauftrag und das Kindeswohl
Nun stellt sich abschließend für dieses Unterkapitel die Frage nach der Sachverständigenarbeit. Ein großes Potenzial, welches die sachverständige Arbeit mit der gerichtlichen Arbeit eint, ist der ausgedehnte Gestaltungs- und Handlungsspielraum. Dieser wird zum Teil durch den gerichtlichen Auftrag festgelegt (z. B. Befürwortung eines sogenannten lösungsorientierten Vorgehens), aber selbst bei einem sehr begrenzten Auftrag sind die Gestaltungsmöglichkeiten für den Sachverständigen, etwa hinsichtlich der Datengewinnung, noch immer umfangreich. Ein weiteres ausgeprägtes Potenzial besteht in dem wissenschaftlichen Vorgehen, welches der Arbeit des oder der Sachverständigen zugrunde liegt. Dadurch werden – im Fall eines sorgfältigen und kompetenten Vorgehens – strukturiert umfassende Daten gewonnen, welche in der Folge sowohl für das Finden einer einvernehmlichen Lösung als auch für eine mögliche gerichtliche Beschlussfassung nutzbar gemacht werden können. Damit stellen sie eine wichtige Ergänzung zu den bisher gewonnenen Informationen dar. Im vorliegenden Fall gilt es, wissenschaftliche Daten zu den bei den Kindeseltern vorhandenen Ressourcen und Risiken im Zusammenhang mit der Ausübung der Elternschaft zu gewinnen sowie Informationen zum kindlichen Erleben, zum Kindeswillen und zur Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen. Diese Daten müssen möglichst multimethodal erhoben und unter Berücksichtigung der gerichtlichen Fragestellung im Rahmen einer Ressourcen-RisikoBilanz integriert werden. Daraus wiederum leitet sich der Rahmen ab, innerhalb dessen eine Lösungsfindung oder eine gerichtliche Beschlussfassung und/ oder Interventionsplanung stattfinden kann. Die Risiken der Sachverständigenarbeit liegen zum einen in der Situationsspezifität der Befunde (jeder Befund stellt letztlich eine Momentaufnahme dar), was die Ableitung einer Prognostik innerhalb dieser komplexen und dynamischen Sachlage erschwert, und zum anderen in der Möglichkeit einer unzureichenden Erfassung der relevanten Variablen. Im Rahmen des sogenannten lösungsorientierten Vorgehens stellt zudem die Abgrenzung zwischen sachverständigem Handeln und einem therapeutischen Handeln eine besondere Herausforderung dar (siehe auch Lack u. Hammesfahr, 2019; Salzgeber, 2015).
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Implikationen – fallspezifische Lösungsstrategien unter Einsatz der Professionen Unabhängig von einer Beteiligung des Familiengerichts steht im Trennungs-/ Scheidungsprozess von Eltern minderjähriger Kinder letztlich immer die zen trale Frage im Raum, wie das Wohl der betroffenen Kinder gesichert werden kann. Dabei ist davon auszugehen, dass die Wahrscheinlichkeit der Gewährleistung einer gesunden kindlichen Entwicklung umso höher ist, je mehr die Ressourcen und Lösungspotenziale der einzelnen Beteiligten bzw. »Teilsysteme« nutzbar gemacht werden können und ein gemeinsamer Weg mitgetragen werden kann. Dies wiederum kann nur durch ein kooperatives Vorgehen unter den beteiligten Professionen gelingen. Unter Zuhilfenahme des Fallbeispiels soll dieser Aspekt näher erläutert werden. Zunächst ist die Frage zu klären, welche Bedürfnisse die betroffenen Kinder aufweisen. Neben den normativen Bedürfnissen, welche Kinder einer entsprechenden Alterskohorte in der Regel haben, liegen möglicherweise zusätzliche, individuelle Bedürfnisse vor, die berücksichtigt werden müssen (z. B. Dettenborn u. Walter, 2015; Fuhrer, 2009; Kindler, Lillig, Blüml, Meysen u. Werner, 2006). In dem vorliegenden Fall könnten dies z. B. besondere emotionale bzw. psychische Bedürfnisse sein, welche durch das Erleben der intensiven elterlichen Konflikte, von Gewalt und inkonsistentem Betreuungsverhalten entstanden sind. Das entsprechende Wissen dazu zusammenzutragen, obliegt den Professionen des Jugendamts, des Verfahrensbeistands sowie des oder der Sachverständigen. Das Gericht wiederum muss dabei eine koordinative Funktion übernehmen, indem es unter Formulierung der entsprechenden Fragestellungen die Jugendamtsmitarbeitenden sowie den Verfahrensbeistand um diesbezügliche Stellungnahmen bittet und die Sachverständige mit der Begutachtung dieses Aspekts beauftragt. Die unterschiedlichen Rollen und damit verbundenen Ressourcenpotenziale der einzelnen Professionen ermöglichen dabei die Schaffung von umfassenden, sich ergänzenden Informationen. So bittet das Jugendamt beispielsweise die Mitarbeitenden der Einrichtungen, in welchen die Kinder betreut wurden bzw. werden, um entsprechende Zuarbeiten und Informationen. Der Verfahrensbeistand spricht wiederum mit den Kindern und gewinnt auf diesem Weg Informationen, welche durch strukturierte Datenerhebungen des Sachverständigen ergänzt werden. Im Fall des Vorliegens einer Schweigepflichtentbindung ist es im Rahmen der Sachverständigenarbeit auch möglich, etwa mit behandelnden Ärzt:innen und Therapeut:innen der Kinder zu sprechen. Zur Vermeidung von nicht notwendigen Redundanzen ist wiederum die Ver-
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ständigung zwischen den beteiligten Professionen sinnvoll, wodurch das Vorgehen sinnvoll abgestimmt werden kann. Am Familiengericht wiederum treffen die Informationen der verschiedenen Professionen ein und werden allen Beteiligten zur Verfügung gestellt. Im nächsten Schritt ist die Frage in den Blick zu nehmen, wie den kindlichen Bedürfnissen am besten begegnet werden kann und welches Maß an Verantwortung dafür von welchen Personen – insbesondere den Eltern – übernommen werden kann. Das prinzipielle Vorgehen ist dabei ähnlich wie jenes in Bezug auf die erste Fragestellung. Unter der Koordination des Familiengerichts erarbeiten die beteiligten Professionen die entsprechenden Informationen, welche im weiteren Verlauf für die Lösungsfindung genutzt werden. Der Unterschied zu der ersten Fragestellung besteht darin, dass im Rahmen der zweiten Fragestellung die Kindeseltern eine aktive Rolle einnehmen und die gemeinsam gewonnenen Informationen für ein interventionsorientiertes Vorgehen genutzt werden können, sofern dies möglich und angezeigt ist. Im vorliegenden Fall gilt es z. B. zu klären, welches Reflexionsvermögen die Kindeseltern im Zusammenhang mit der Entstehung der Situation aufweisen, welche Kooperationsbereitschaft sowie Förderkompetenzen und Bindungstoleranzen erkennbar sind und welche Qualität die Interaktionen sowie die Eltern-Beziehungen aufweisen. Die Koordination des Vorgehens ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, da die Erarbeitung und Evaluation von Interventionen und Lösungsmöglichkeiten mit den Eltern einer besonderen Abstimmung bedürfen. Wie bereits ausgeführt, ist der Einbezug der elterlichen Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen dabei zu berücksichtigen (s. auch Salzgeber, 2015). Das Familiengericht sollte die Aufgabe der Koordination selbst übernehmen und sich dieser Aufgabe im Zuge einer gerichtlichen Anhörung widmen. Es kann diese Aufgabe unter der Maßgabe einer Abstimmung mit den anderen Professionen aber auch in den Verantwortungsbereich der Sachverständigen legen und diese zu einem lösungsorientierten Vorgehen auffordern. Sofern kein Sachverständiger in dem entsprechenden Verfahren involviert ist, kann diese Aufgabe auch durch das Jugendamt oder den Verfahrensbeistand übernommen werden. Das Ziel ist die Gewinnung von Erkenntnissen darüber, welche Ressourcen aufseiten der Kindeseltern vorhanden sind, um den kindlichen Bedürfnislagen zu begegnen, und welche Risiken dem entgegenstehen. Im weiteren Verlauf gilt es zu klären, welche Verantwortlichkeiten die Kindeseltern zum gegenwärtigen Zeitpunkt – mit oder ohne Hilfen – übernehmen können und wollen und inwiefern weitere Personen bzw. Institutionen Verantwortlichkeiten für die Sicherung des Kindeswohls übernehmen
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Annika Falkner
(müssen). Sofern die Erarbeitung und Implementation einer einvernehmlichen Lösung nicht gelingt, muss seitens des Familiengerichts möglicherweise eine Beschlussfassung erfolgen, innerhalb derer eine Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangs formuliert wird. Dabei spielen nicht nur die gewonnenen Erkenntnisse eine Rolle, sondern auch die Nutzung der Ressourcen der verschiedenen Professionen. So ist es die Aufgabe des Familiengerichts, für die Akzeptanz und Umsetzung des Beschlusses zu werben und gleichzeitig – unter Nutzung der Professionen und deren Informationen – die Möglichkeiten und Erfordernisse zur Optimierung der Situation für die Zukunft darzulegen. Im günstigsten Fall wird dies seitens der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte mit unterstützt.
Gericht
Informationen
Feststellung der kindlichen Bedürfnisse
Feststellung der elterlichen Ressourcen/ Risikopotenziale
Informationen
Lösungsfindung oder gerichtliche Beschlussfassung
Abbildung 2
Abbildung 2
Das Jugendamt, welches oftmals mit den Eltern in Kontakt bleibt, setzt seine Möglichkeiten ein, um den Kindeseltern Begleitung und Unterstützung auf ihrem Weg anzubieten und auch Veränderungsprozesse anzuregen und zu moderieren. Im vorliegenden Fall bedeutet dies z. B., die Kindeseltern bei Fortführung der kindlichen Fremdunterbringung unterstützend zu begleiten und ihre Reflexion, Kooperation (miteinander wie auch mit den Helfersystemen) sowie Entwicklungsbereitschaft zu fördern. Die Potenziale zum Gelingen der Verhandlung vor Gericht können folgendermaßen konzentriert werden: Ȥ Das Gericht stellt das Kindeswohl an erste Stelle und hat eine leitende sowie koordinative Funktion. Ȥ Die Anwälte haben trotz ihrer Rolle als Parteienvertreter das Kindeswohl im Blick.
»Es geht doch um unser Kind, oder?«
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Ȥ Die Eltern und deren Anwälte sind in einem gegenseitigen vertrauensvollen Prozess der stetigen Orientierung am Kindeswohl. Ȥ Sachverständige, Jugendämter und Verfahrensbeistände ergänzen sich in ihrem Vorgehen, schaffen eine gute Informationslage und sensibilisieren die Kindeseltern für die Aspekte des Kindeswohls. Die Möglichkeiten zum Scheitern umfassen u. a.: Ȥ Die Beteiligten fokussieren die Aspekte des Kindeswohls unzureichend. Ȥ Die Beteiligten haben keinen Blick für die Auswirkungen auf das gesamte Kernfamiliensystem und berücksichtigen diese in der Folge nicht. Ȥ Die Verfahrensbeteiligten und Sachverständigen fokussieren nicht auf das Kindeswohl, sondern auf die Beschwichtigung der hochstrittigen Eltern. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass Abstimmungsprozesse zwischen verschiedenen Professionen und Teilsystemen – auch bei Beteiligung des Familiengerichts – nicht bedeuten, dass es zu Einschränkungen der Neutralität bzw. Unabhängigkeit kommt. Die Koordination von Aufgaben und Arbeitsschritten sowie ein wertschätzender, sachbezogener Umgang der Professionen untereinander ist kein Hindernis oder gar Makel, sondern stellt eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Lösungsfindung sowie -umsetzung im Kinderschutz dar. Literatur Dettenborn, H., Walter, E. (2015). Familienrechtspsychologie (2. Aufl.). München: Ernst Reinhardt. Fuhrer, U. (2009). Lehrbuch Erziehungspsychologie. Bern: Hans Huber. Kindler, H., Lillig, S., Blüml, H., Meysen, T., Werner, A. (2006). Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Lack, K., Hammesfahr, A. (2019). Psychologische Gutachten im Familienrecht. Köln: Reguvis Bundesanzeiger Verlag. Salzgeber, J. (2015). Familienpsychologische Gutachten (6. Aufl.). München: C. H. Beck.
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Sibylle Banaschak, Tanja Brüning
7.4 Rechtsmedizinische Möglichkeiten im Kinderschutz Sibylle Banaschak, Tanja Brüning
Kasuistik Der 13 Monate Jahre alte Junge wird vom niedergelassenen Kinderarzt in die Kinderklinik mit Kinderschutzambulanz eingewiesen. Bei einer Untersuchung in der Kinderarztpraxis bei Vorstellung durch die Mutter zu einer regulären U-Untersuchung waren zunächst Hautunterblutungen im Gesicht aufgefallen, bei der Ganzkörperuntersuchung fallen zahlreiche weitere unterschiedlich gefärbte Hautunterblutungen auf, die nach der Lokalisation und auch der Anzahl ungewöhnlich sind. Der Kinderarzt weist das Kind daher für weitere Untersuchungen und zur Klärung der Frage einer Misshandlung in die Klinik ein. Dort wird eine umfangreiche Foto dokumentation erstellt und zur konsiliarischen Beurteilung an die Rechtsmedizin (mit der eine langjährige Kooperation besteht) übersandt. Die bisher durch die Mutter mitgeteilte Anamnese (Sturz in eine Kiste mit Spielzeugsteinen) könnte Verletzungen an der linken Gesichtsseite erklären, aber nicht die weiteren Verletzungen. Auf Empfehlung der Rechtsmedizin wird die Diagnostik um ein Röntgenskelettscreening und eine Augenhintergrundsspiegelung erweitert. Es werden mehrfache alte Rippenbrüche und ein alter Bruch des Oberarms nachgewiesen. Hinweise auf eine Knochenstoffwechselstörung ergeben sich nicht. Das Jugendamt war bereits nach den ersten Hinweisen auf eine Misshandlung durch die Mitarbeitenden der Kinderschutzambulanz informiert worden. Nachdem die alten Knochenbrüche (ohne Nachweis einer Knochenstoffwechselstörung) gesichert worden sind, wurde durch die Klinik Anzeige bei der Polizei erstattet.
Arbeitskontext oder wann sollte man die Rechtsmedizin einbeziehen? Die meisten rechtsmedizinischen Institute sind an Medizinischen Fakultäten angesiedelt. Sie haben drei wesentliche Säulen: Lehre (im Rahmen des Medizinstudiums als Pflichtfach), Forschung (je nach Institut mit unterschiedlichen Schwerpunkten) und Dienstleistung (DNA-Untersuchungen und chemischtoxikologische Untersuchungen für die Ermittlungsbehörden; Leichenöffnungen und körperliche Untersuchungen für die Ermittlungsbehörden und Gerichte). Aus den Instituten arbeiten Ärzt:innen in den jeweiligen Kinderschutzgruppen/ambulanzen der Universitätskliniken mit. Vereinbarungen über die Durchführung sogenannter Konsile bestehen zumeist mit den Lehrkrankenhäusern.
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Rechtsmedizinische Möglichkeiten im Kinderschutz
Konsile stellen eine Form der Beratung von Arzt zu Arzt da. Üblicherweise finden diese Konsile als Austausch über Verletzungsmuster oder Fotodokumentation statt, je nach Setting auch in Form eines direkten Patientenkontakts mit körperlicher Untersuchung. Körperliche Untersuchungen können neben den in der Rechtsmedizin häufigeren Untersuchungen im Rahmen eines Strafverfahrens allerdings auch direkt für Jugendämter durchgeführt werden, wenn eine gezielte Beantwortung der Frage, ob eine Fremdeinwirkung vorliegt, gewünscht ist, oder beispielsweise auch zur Klärung der Frage, ob nur ein Erwachsener oder möglicherweise auch ein Geschwisterkind als Verursacher einer Verletzung infrage kommt (was von Eltern nicht selten als Grund für eine Verletzung angegeben wird). Eine Plausibilitätsprüfung, also die Beantwortung der Frage, ob die Verletzungen mit einem bestimmten Geschehen vereinbar sind, kann natürlich nur dann erfolgen, wenn entsprechende Angaben zu einer möglichen Entstehungsweise vorliegen. Die Untersuchungen und Gutachten sind kostenpflichtig. Es kann keine Abrechnung mit der Krankenkasse erfolgen, da Rechtsmediziner keine Kassenzulassung haben und eine Begutachtung (z. B. für ein kommendes Familiengerichtsverfahren) keine Kassenleistung darstellt (s. Abbildung 1). Gutachten
Gutachten Körperliche Untersuchungen
Staatsanwaltschaft
Polizei
Gutachten
Körperliche Untersuchungen Konsil/ Beratung Kinderklinik Kinderschutzgruppen/ -ambulanzen
Strafgericht
Konsil/ Beratung
»eigene« U nik linik
Gutachten
Familiengericht
Rechtsmedizin Gutachten Körperliche Untersuchungen
Externe Kliniken/ Experten/ Niedergelassene Ärzte
KinderJugendhilfe
ÖGD
Konsil/ Beratung
Konsil/ Beratung
Abbildung 1: Darstellung der unmittelbaren Kooperationspartner, die natürlich auch wiederum untereinander unterschiedlich intensive Kontakte haben (nicht dargestellt)
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Sibylle Banaschak, Tanja Brüning
Wenn das Jugendamt die Kosten für die Untersuchung übernimmt, bedeutet dies nicht immer, dass die Untersuchung auch vom Jugendamt begleitet werden muss. Teilweise stellen auch die Eltern das Kind in der Rechtsmedizin vor. Das schriftliche Gutachten geht aber immer ausschließlich an das Jugendamt. Ein engerer Kontakt zu den Eltern besteht nicht. Die rechtsmedizinische Untersuchung ergänzt an dieser Stelle die pädiatrische, die zwar auch Verletzungen dokumentiert und eine Ersteinschätzung vornimmt, vor allem aber den akuten Behandlungsbedarf einschätzt, gegebenenfalls notwendige Diagnostik initiiert und nach begleitenden Symptomen einer Kindeswohlgefährdung screent, wie etwa Hinweisen auf eine Deprivation. Exkurs: Eine besondere Form der rechtsmedizinischen und pädiatrischen Kooperation – das Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW Das Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW (KKG NRW; www.kkg-nrw.de) ist ein seit April 2019 und zunächst bis März 2025 durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) gefördertes Modellprojekt. Hauptstandort des KKG NRW ist das Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln. Projektpartner und pädiatrischer Standort ist die Abteilung für Kinderschutz der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln. Ziel des KKG NRW ist die Qualifizierung und das Empowerment sämtlicher im Gesundheitswesen tätigen Akteurinnen und Akteure (Ärzt:innen, Psycholog:innen, Pflegekräfte, Rettungsdienste, Hebammen, Physiotherapeut:innen u. a.) in Bezug auf die umfassenden Aspekte des (medizinischen) Kinderschutzes. Expertinnen mit langjähriger rechtsmedizinischer und pädiatrischer Erfahrung unterstützen die Akteurinnen und Akteure in konkreten Verdachtsfällen auf Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung bei der Diagnostik, Plausibilitätsprüfung und Befundsicherung und helfen, Handlungssicherheit zu schaffen. So werden Ratsuchende darin unterstützt, ihre Rolle im Kinderschutz kompetent, angemessen und im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen umfassend wahrzunehmen. Auf diesem Weg soll der medizinische Kinderschutz für ganz NRW flächendeckend und maßgeblich verbessert werden. Hierzu bietet das KKG NRW eine Telefonberatung an. Darüber hinaus können über ein datenschutzsicheres Onlinekonsil, Fotos oder weitere Befunde zur Mitbeurteilung hochgeladen werden. Die Beratung und Beurteilung durch das KKG NRW erfolgen zeitnah und bezüglich der Patientendaten anonym.
Rechtsmedizinische Möglichkeiten im Kinderschutz
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Außerdem bietet das KKG NRW Vor-Ort- und Onlinefortbildungen rund um das Thema »Medizinischer Kinderschutz« an. Die genauen Themen können und sollen hierbei je nach Informationsbedarf individuell abgestimmt werden. Zutaten gelingender Kooperation im Kinderschutz im Zusammenhang mit der Rechtsmedizin In diesem Handlungsfeld (wie in allen anderen) beginnt eine gelingende Koope ration mit der richtigen Kommunikation, die Zuhören und Verstehenwollen einschließt. Bereits innerhalb der Medizin, in den Kinderschutzgruppen und -ambulanzen, ist eine störungsarme Kooperation dann möglich, wenn auf Augenhöhe miteinander diskutiert wird und Nachfragen nicht unmittelbar als Kritik aufgefasst werden. Dabei muss die Verantwortung jederzeit klar verteilt sein – und auch übernommen werden. Dabei trägt jede und jeder die Verantwortung für ihren und seinen Teil der Tätigkeit: Die Kinderradiologie ist dafür verantwortlich, dass die Bildgebung qualitativ gut und damit nutzbar für eine – auch forensische – Bewertung ist, die Kinder- und Jugendärzte für die Festlegung der notwendigen (Labor-)Untersuchungen etc. Wie scheitert man am effektivsten? Der erste Schritt, der scheitern kann, ist die Erkennung der Misshandlung oder Gefährdung eines Kindes. Denkt der erste behandelnde Arzt oder die Ärztin (im Fallbeispiel: der Kinderarzt) bei Feststellung der Verletzungen nicht an eine Entstehung der Verletzungen durch eine Misshandlung, geht das Kind mit der Betreuungsperson nach der Untersuchung nach Hause. Dies kann durch weitere Misshandlungen in weiteren Verletzungen und auch im Tod des Kindes bei schwerer werdenden Verletzungen münden. Eine weitere Möglichkeit, mit einem solchen Fall zu scheitern, besteht darin, unklare Verletzungen nicht sorgfältig zu dokumentieren (idealerweise fotografisch) oder nicht alle erforderlichen Untersuchungen durchzuführen, wie sie etwa in der Kinderschutzleitlinie empfohlen werden. Im vorliegenden Fall könnte dies das Übersehen der inneren Verletzungen bedeuten (bei Unterlassen der weitergehenden Untersuchungen) oder das Übersehen einer Differenzialdiagnose, etwa einer Gerinnungsstörung, die bei Unterblutungen zumindest bei erstmaligem Auftreten untersucht werden sollte. Eine besondere Form des Scheiterns liegt dann vor, wenn Befunde falsch beurteilt werden. Egal, ob die Einschätzung falsch-positiv ist (ein Befund wird für eine Folge einer Misshandlung/eines Missbrauchs gehalten, obwohl sie
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das nicht ist) oder falsch-negativ (ein Befund wird als unauffällig eingeschätzt, obwohl er Folge einer Misshandlung oder eines Missbrauchs ist) – beides hat jeweils eigene dramatische Konsequenzen. Gerade subjektive Eindrücke wie »Die Eltern sind so nett« oder auch gegenteilig »Das passt bei denen ja ins Bild« können zu einer Über- oder Unterschätzung von Befunden führen. Auch fehlende Fachkenntnis stellt in dieser Hinsicht eine weitere Möglichkeit zum Scheitern dar. Aus beiden Gründen sollte man immer das interdisziplinäre Gespräch über einen Fall suchen, sowohl im internen Team als auch im Netzwerk. Zudem gibt es mittlerweile Beratungsangebote für Fachkräfte wie in NRW das Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen oder bundesweit die Kinderschutzhotline. Wird das Jugendamt einbezogen, tritt die nächste Möglichkeit zu scheitern in den Vordergrund: das Scheitern an der Kommunikation bzw. dem Erklären medizinischer Sachverhalte für medizinische Laien. Wenn es nicht gelingt, die Dramatik der Verletzungen oder Unterlassungen (z. B. eine fehlende adäquate Behandlung bei chronischen Erkrankungen) zu vermitteln, so können die ergriffenen Maßnahmen nicht adäquat sein. Beteiligung der Betroffenen Die Kinder, um die es in der Rechtsmedizin bei Kinderschutzfällen geht, sind häufig so jung, dass eine Einbeziehung in Entscheidungsprozesse nicht in Betracht kommt, allerdings gilt dies nicht für die körperlichen Untersuchungen. Über diese werden auch jüngere Kinder aufgeklärt und eine Durchsetzung der Untersuchung gegen den körperlichen Widerstand der Kinder erfolgt nur in sehr speziellen Ausnahmefällen: nämlich dann, wenn aus medizinischen Gründen eine Untersuchung zwingend geboten ist (z. B. bei einer blutenden Genitalverletzung oder notwendigen MRT-Untersuchungen, die es erfordern, dass das Kind still liegt). Diese Untersuchungen finden dann allerdings nicht in der Rechtsmedizin statt, sondern in einer Klinik, die entsprechend für die Durchführung der Narkose und die Untersuchung ausgestattet ist. Ist darüber hinaus die körperliche Untersuchung durch die Rechtsmedizin noch nicht erfolgt, sucht der/die Rechtsmediziner:in die Klinik auf, um das Kind dort zeitgleich zu untersuchen und so Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Eine kindgerechte Kommunikation ist im Rahmen der Untersuchungen erforderlich. Ältere Kinder können auch selbst entscheiden, wer bei der Untersuchung dabei ist. Voraussetzung ist aber immer, dass eine Untersuchung nicht mit dem Kind allein stattfindet. Will das Kind den möglicherweise anwesenden Elternteil nicht mit im Raum haben, so ist zwingend eine andere Person aus
Rechtsmedizinische Möglichkeiten im Kinderschutz
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dem Institut, der Klinik oder vom Auftraggeber (Jugendamt/Polizei) anwesend (s. auch unten: Präventive Schutzarbeit). Dies entscheidet sich nach den konkreten Gegebenheiten im Einzelfall. Bei Feststellung von Verletzungen werden Fotos gefertigt. Dazu wird die Zustimmung der Sorgeberechtigten oder auch des Kindes eingeholt (soweit dies möglich ist). Heikel ist dieser Punkt in der Praxis nur bei Untersuchungen der Anogenitalregion. Hat man vor ca. zwanzig Jahren noch empfohlen, auch unauffällige Genitalbefunde für eine Zweitbeurteilung zu fotografieren, ist man heute damit deutlich zurückhaltender. Auffällige Befunde sollten auf jeden Fall fotografisch gesichert werden, damit andere Ärzt:innen den Befund prüfen können. Hierfür ist die Verwendung eines Kolposkops mit Fotoaufsatz der »Goldstandard«. Da man davon ausgehen muss, dass viele Täter:innen gerade den sexuellen Missbrauch auch selbst fotografieren/filmen, ist hier eine adäquate Vorgehensweise bei der medizinischen Dokumentation umso wichtiger. Was die Beteiligung der Sorgeberechtigten betrifft, so wird dies meist bereits im Vorfeld durch die Auftraggeber geregelt. Stellt das Jugendamt im Rahmen einer Überprüfung einer möglichen Kindeswohlgefährdung Kinder vor, so entscheidet das Jugendamt, wer von den Eltern mit in das Institut kommt oder nicht. Bei Vorstellungen durch die Polizei ist häufig ein Elternteil anwesend. Über die Anwesenheit bei der Untersuchung entscheidet gegebenenfalls die Ärztin oder der Arzt, der die Untersuchung durchführt (z. B. bei aggressiven Äußerungen), oder das Kind (s. oben). Ob von rechtsmedizinischer Seite das Ergebnis direkt mit den Sorgeberechtigten besprochen wird, hängt von den Fallumständen ab. Bei polizeilichen Ermittlungsverfahren wird dies regelmäßig nicht der Fall sein. Jugendämter entscheiden dies häufig je nach Ergebnis der Untersuchung. Praktische Methoden systemischer Kinderschutzarbeit und Selbstreflexion Auch wenn die Rechtsmedizin per se als unabhängige Einrichtung (auch zur Gewährleistung einer unabhängigen Begutachtung) sehr begrenzt und zumeist nur einmaligen Kontakt mit den Kindern oder Jugendlichen, Sorgeberechtigten und Behandlern hat, so sind eine fallunabhängige Netzwerkarbeit und Teilnahmen an Kinderschutzgruppentreffen mit Fallbesprechungen doch ein wichtiger Bestandteil der systemischen Arbeit. Der medizinische Kinderschutz und die Netzwerkarbeit stellen einen sich dynamisch entwickelnden Bereich dar, an dem sich auch die Rechtsmedizin intensiv beteiligt sieht. Diese Kooperationen stärken die systemische Arbeit, und gemeinsame Fallbesprechungen tragen zur Selbstreflexion und Qualitätssicherung bei.
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Sibylle Banaschak, Tanja Brüning
Präventive Schutzarbeit für die Kinder und Jugendlichen in der Rechtsmedizin Wie durch die bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein dürfte, halten sich die Kinder und Jugendlichen nur für den Zeitraum der körperlichen Untersuchung in der Rechtsmedizin auf. Keine Untersucherin, kein Untersucher ist mit dem Kind oder Jugendlichen allein. Berufsanfänger:innen begleiten zunächst die erfahreneren Untersucher:innen, bevor sie allein tätig werden dürfen.
8 Besondere Orte und Aufgaben
8.1 Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 2): Neue Gefahren und verteilte Verantwortung Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke
Die veränderten Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen durch Digitalisierung bringen einen immer schneller werdenden Wandel hervor (vgl. Teil 1 in diesem Buch). Die Akteure und Verantwortungsträger im Bereich von Erziehung und Bildung kommen in der Anpassung kaum hinterher. Vor allem die neuen Gefahren, die vielfach noch nicht im Blick sind, bringen unkalkulierbare Risiken für Kinder und Jugendliche mit sich. Schließlich können diese Risiken selbst in vermeintlich wohlbehüteten Elternhäusern bis in die Kinderzimmer hineinreichen, wenn sie nicht erkannt werden und ihnen nicht aktiv entgegengewirkt wird. Die beschleunigten Entwicklungen seit Mitte der 1990er Jahre bedeuten auch, dass Kinder und Jugendliche in und außerhalb ihrer Familien (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2017) in vielfacher Hinsicht ganz anders aufwachsen als ihre Eltern. Aber selbst Geschwister, die altersmäßig nur wenige Jahre auseinander sind, erleben aufgrund der rasant schnellen medialen Entwicklungen nicht selten eine sich voneinander unterscheidende Kindheit. Dabei handelt es sich nicht um Randphänomene, sondern um den Wandel menschlicher Kommunikation. Das bedeutet, dass Kindheit und Jugend in einem Medienzeitalter neu verstanden werden sollte und Kinderschutz neu gedacht werden muss. Bei der hier dargestellten Thematik handelt es sich um die Steigerung der Komplexität durch neue Medien, was bewirkt, dass Kinderschutz heute vor allem systemisch-zirkulär vernetzt verstanden und entwickelt werden sollte: Durch die Internettechnologie sind die Menschen heute weltweit enger mit-
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Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke
einander verknüpft, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten denkbar gewesen wäre. Dabei sind monokausale Erklärungsansätze und lineare Interventionen im Kinderschutz noch weniger angemessen, als das auch vor diesen Entwicklungen bereits der Fall war. Nun gilt es aber nicht nur die Vernetzung menschlicher Beziehungen als bedeutsame Faktoren beim Kinderschutz in den Blick zu nehmen, sondern darüber hinaus auch die kommunikative Vernetzung durch Medien. Indem die Risiken und Chancen medialer Realitäten in den Blick gebracht werden, ist es möglich, einen zeitgemäßen Kinderschutz zu entwickeln, der die heutigen Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen aufgreift und so auch in der Praxis wirksam werden lässt. Die Gefahren bei neuen Medien sind vielfältig und hängen stark mit ihrer jeweiligen Verfügbarkeit zusammen. Die KIM-Studie zeigt die Verbreitung von Mediengeräten bei 6- bis 13-Jährigen: »Nach Angabe der Haupterziehenden besitzen die Kinder selbst noch ein vergleichsweise überschaubares Spektrum an Geräten. Am weitesten verbreitet sind Mobiltelefone, über welche die Hälfte der Kinder verfügt. Bei 41 Prozent der Sechs- bis 13-Jährigen findet sich eine Spielekonsole im Kinderzimmer, 38 Prozent besitzen einen CD-Player und etwa ein Drittel hat einen eigenen Fernseher (34 %). Jedes fünfte Kind kann im eigenen Zimmer das Internet nutzen (22 %), 18 Prozent haben einen eigenen Computer/Laptop, 17 Prozent einen Kassettenrekorder und 16 Prozent ein Radio. 14 Prozent verfügen über einen Kindercomputer. Ein Tablet ist bei neun Prozent der Sechs- bis 13-Jährigen im Besitz, sieben Prozent können im Kinderzimmer einen Streamingdienst wie Netflix oder Disney+ nutzen« (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2021, S. 11). Die aktuelle KIM-Studie und ihre vorigen Versionen zeigen, dass seit Jahren der Trend anhält, immer mehr internetvernetzte Medien in die Kinderzimmer zu integrieren, während die Nutzenden immer jünger werden. Wer seine Kinder dagegen rigide vor digitaler Technik bewahren will, muss damit rechnen, dass sie etwa beim Besuch Gleichaltriger und deren älterer Geschwister damit in Kontakt kommen, selbst wenn Familie, Verwandtschaft, Kindertagesstätte und Schule die Mediennutzung zu kontrollieren versuchen. Umso wichtiger ist es, die Kinder frühzeitig auf potenzielle Gefahren vorzubereiten. Dazu müssen Eltern, Erziehende und Fachkräfte jedoch die Gefahren und Risiken kennen und in ihren Wirkungen verstehen können. Tabelle 1 gibt dazu einen Überblick:
Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 2)
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Tabelle 1: Neue Gefahren im digitalen Raum Finanzielle Ausbeutung App-Käufe
Kostenpflichtige Apps werden von Kindern/Jugendlichen ohne effektive Altersprüfung gekauft.
Virtuelle Geschenke
Kinder/Jugendliche werden verleitet, virtuelle »Geschenke« in Streams zu machen und dadurch Bekanntheit und/oder Ansehen innerhalb ihrer Community zu erlangen.
Onlinespiele
Kostenpflichtige Onlinespiele können einmalige, aber auch dauerhafte Kosten verursachen. Kostenfreie Onlinespiele können dazu verführen, durch den Kauf von Boni bessere Rankings zu erreichen.
Scamming
Etwa mittels Fake-Profilen wird eine Beziehung über das Internet vorgespielt, die ausschließlich dazu dienen soll, das Opfer finanziell auszubeuten. Der Betrug bewirkt nicht nur finanzielle Schäden, sondern kann durch den Vertrauensbruch auch tiefgreifende psychische Schäden verursachen.
Vertrags abschlüsse
Verträge jedweder Art können im Internet abgeschlossen werden. Selbst wenn diese rechtlich unwirksam sind, können Kinder/Jugendliche so in Abhängigkeiten gelangen oder erpressbar werden.
Formen abhängigen Verhaltens Onlinespiel-Sucht
Onlinespiele können zu abhängigem Verhalten führen, etwa, wenn sich Gruppen finden, die über intensive Beziehungsstrukturen sozialen Erwartungsdruck generieren.
Online-SammelSucht
Das Surfen im Netz kann abhängiges Verhalten befördern, etwa indem kostenlose Sexbilder, Pornovideos oder Material zu anderen emotional aufgeladenen Themen gesucht, gespeichert und gesammelt werden.
Sexsucht
Sexuelle Aktivitäten über mediale Kommunikationskanäle können zu Abhängigkeiten führen.
Social-Media-Sucht
Das Kommunizieren im Netz kann zu süchtigem Verhalten führen, sodass selbst eine kurzfristige kommunikative Abstinenz kaum noch möglich ist.
Persönlichkeitsrechtsverletzungen Datenschutz
Personenbezogene Daten können missbraucht und unrechtmäßig genutzt werden.
Verbreiten von Fotos/Videos
Das unerlaubte Verbreiten von Fotos und Videos von Kindern/ Jugendlichen, die nicht für die öffentliche Darstellung erstellt wurden, ist heute ein weit verbreitetes Phänomen.
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Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke
Psychische Beeinflussung und Gewalt Prank/Streiche
»Pranking« ist das Anleiten zu Streichen im Internet, wodurch Kinder/Jugendliche beschämt werden können, indem von ihnen etwa unerlaubt Videoszenen gemacht und/oder veröffentlicht und in einen ungewollten Zusammenhang gestellt werden. Die Folgen führen bisweilen bis hin zu Suizid.
Idealisierung von Idolen
Es kann eine extreme Nähe zwischen Internetstars, Webvideoprozenten (Streamern), Livestreamern, Bloggern und den entsprechenden Usern im Netz geben: Was diese »Stars« tun, wird dann leicht zum Maßstab für das Handeln und die Einstellungen der Kinder/Jugendlichen.
Cyber-Mobbing/ Bullying
Wiederholte emotionale Angriffe und Terrorisieren über eine gewisse Zeit sind weit verbreitet und weisen unterschiedlichste Formen auf, etwa als »Happy Slapping«. Das sind geplante Prügeleien, die als Spaß getarnt, mit Smartphones gefilmt und über das Internet verbreitet werden.
Gewaltdarstellungen
Fotos und Videos (auch Musikvideos), die zum Teil sehr brutale Gewalt darstellen oder gar verherrlichen, verbreiten sich vor allem über Smartphones rasant.
Emotionale Ausbeutung
Kinder/Jugendliche werden mit psychologischen Tricks manipuliert, wodurch sich die Täter Befriedigung verschaffen.
Nötigung/ Erpressung
Es wird den Kindern/Jugendlichen suggeriert, sie hätten im Internet etwas Falsches oder Rechtswidriges getan, etwa Verträge abgeschlossen, oder es gäbe private Fotos/Videos von ihnen, die veröffentlicht werden können (»Sextortion«). Über diesen oder anderen Druck kommt es immer wieder zu Nötigung, Erpressung oder sexualisierte Gewalt.
Desinformationen/ Extremismus
Auf Internetportalen wird bewusst desinformiert und Kindern/ Jugendlichen etwas vorgespielt, das nicht vernunftbegründeten Gegebenheiten entspricht. Nicht selten wird auch für extremistische Positionen geworben.
Algorithmen und Künstliche Intelligenz
Algorithmen bestimmen immer häufiger darüber, was im Internet angezeigt wird. Auch Künstliche Intelligenz (KI) kann Kinder/Jugendliche in Portalen oder Onlinespielen beeinflussen, ohne dass ethische Wertentscheidungen realer Menschen im Spiel sind. Daraus können sich engführende Überzeugungen entwickeln.
Unrealistische Schönheitsideale
Digitale Bildkorrekturen, die Menschen perfekt aussehen lassen, oder Sendungen wie Model-Castingshows vermitteln ein unnatürliches Bild des menschlichen Aussehens, was zu hohem sozialem Druck, verzerrter Körperwahrnehmung oder Selbstabwertung, gerade bei Jugendlichen, führen kann.
Zensur
Portalbetreiber enthalten aus politischen oder ideologischen Gründen den Kindern/Jugendlichen Inhalte vor, auch wenn diese legal sind und nicht gegen Kinder-/Jugendschutzkriterien verstoßen.
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Schleichwerbung
Es wird nicht unterschieden zwischen Inhalten und Werbung, sodass die Kinder/Jugendlichen an Marken und bestimmte Produkte emotional herangeführt werden.
Beleidigungen
Kinder/Jugendliche werden öffentlich bloßgestellt und beschämt, etwa durch beleidigende, diffamierende, sexistische, rassistische oder abwertende Äußerungen.
Challenges
In Internetportalen gibt es verschiedenste höchst gefährliche bis selbstschädigende Mutproben, wie etwa »Blackout Challenge«, eine Aufforderung, sich selbst zu würgen und dabei zu filmen. Es gab zudem bereits die Challenge, sich selbst mit Flüssigkeit zu überschütten und anzuzünden.
Grooming
Gezielte Kontaktaufnahme und Vertrauensaufbau durch Erwachsene mit Minderjährigen. Ziel kann etwa psychische Beeinflussung oder gar sexuelle Gewalt sein.
Sexualisierte Gewalt Grenzüberschreitende Fotos/ Videos
Fotos und Videos werden unaufgefordert gesendet, z. B. »Dickpics«, das sind Penisbilder, die ungefragt etwa an Mädchen verschickt werden.
Unkontrolliertes Sexting
Der Begriff »Sexting« kommt von den Wörtern »sex« und »texting« (engl.: eine Nachricht senden). Es werden eigene sexualisierte Fotos/Videos versendet, die dann vom Empfänger unerlaubt und unkontrolliert genutzt und weiterverbreitet werden können.
Sexualisierte Gewalt
Im Internet und über die dortige Anbahnung kommt es anschließend auch in Präsenz zu sexuellen Handlungen, die Kinder/ Jugendliche nicht in emotional freier Entscheidung und unter Gleichaltrigen realisieren.
Delinquenz und Kriminalisierung Bilderbesitz/-weitergabe
Ab 14 Jahren können sich Jugendliche auch selbst strafbar machen, wenn sie etwa unerlaubt Fotos anderer weitergeben, vor allem wenn es sich um gewaltverherrlichende Darstellungen oder Kinderpornografie handelt.
Gewalt gegenüber anderen
Jugendliche können sich selbst, etwa durch oben genannte Handlungen, strafbar machen, was für sie auch weitergehende, sich selbst verstärkende Kreisläufe in Gang setzen kann.
Kriminalisierung Jugendlicher
Im Strafrecht wird nicht hinreichend unterschieden, ob es sich bei sexuellen Handlungen um fast Gleichaltrige handelt oder um erwachsene Straftäter. So kann sich bei einem jungen Paar ein Partner etwa nach einem Geburtstag eine Zeit lang strafbar machen, bis der oder die andere auch die jeweilige Altersgrenze erreicht hat. Solche Kriminalisierungen können mit ihrer stigmatisierenden Wirkung jugendgefährdende Folgen haben.
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Die dargestellte Liste aktueller Gefahren ist nicht abschließend zu verstehen, deckt aber das breite Spektrum ab, das durch die Digitalisierung hervorgebracht wurde. Die unterschiedlichen Gefahren sind bei Erziehenden und Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe oft nicht im Blick und wirken auch über den digitalen Raum hinaus. Manche von ihnen erscheinen auf den ersten Blick nicht sehr riskant, können aber vor allem in ihrer Verknüpfung mit anderen Risiken gefährlich werden. Etwa wenn Kinder und Jugendliche sich vertragsrechtlich nicht auskennen und meinen, sie hätten im Netz etwas falsch gemacht, und sich dadurch erpressen lassen. Dies kann wiederum zu Gefährdungen durch Übergriffe im Rahmen psychischer oder sexueller Gewalt führen. Insgesamt zeigt sich, dass unterschiedliche Konstellationen regelmäßig zu sexualisierter Gewalt im Internet führen (Giertz, Hautz, Link u. Wahl, 2019). Dabei ändert sich die Gefährdungslage durch das Internet grundlegend: »Sexuelle Gewalt durch Fremdtäter:innen ist eher die Ausnahme, nicht jedoch im Internet. Es ist anzunehmen, dass in diesem Kontext die Zahl der Fremdtäter:innen zunimmt (Stichwort: Cybergrooming). Durch intensive und oft sehr persönliche Chats kann bei Kindern und Jugendlichen leicht der Eindruck entstehen, dass es keine Fremden sind, mit denen sie in Kontakt stehen. Das erschwert es ihnen, entsprechende Gefahren wahrzunehmen« (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, 2020). Für die Fachpraxis gibt es hier bereits aktuelle und elaborierte Handlungsempfehlungen (Vobbe u. Kärgel, 2022). Vor allem interaktive Internetportale und Internetstars wie Musiker, Blogger und andere »Influencer« haben auf viele Kinder und Jugendliche eine große Anziehungskraft sowie Vorbildfunktion und können sie dadurch sehr beeinflussen. Die Heranwachsenden müssen erst lernen, Falschinformationen, Hetze und Respektlosigkeit zu erkennen, einzuordnen und sich angemessen dazu zu verhalten. Dabei nutzen Portalbetreiber gerne Imitationslernen, um Kinder und Jugendliche an ihre Angebote zu binden und andere Nutzer:innen anzuziehen. Durch die damit einhergehenden, sich selbst verstärkenden sozialen Dynamiken in der Peergroup kann dabei die Risikobereitschaft erhöht werden, sodass Gefahren nicht wahrgenommen oder ignoriert werden und es zu unterschiedlichsten Formen der Kindeswohlgefährdung kommt. Dies gilt auch für den Bereich der Hörmedien, mit dem Kinder oft sehr früh in Kontakt kommen. Kinderlieder und Hörbücher begeistern schon die Jüngsten. Hier gilt es, die Lautstärke der Mediengeräte nur gering einzustellen und Lautstärkegrenzen zu aktivieren sowie altersgerechte Angebote auszuwählen. Jugendliche folgen oft Podcasts und hören gerne Musik. Besonders bei Streamingangeboten ist es wichtig, auf Sicherheit zu achten und den Zugriff bei jüngeren Kindern zu begrenzen sowie Offlinefunktionen zu aktivieren. Mit zunehmendem
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Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 2)
Personen sorge berechtigte
Kinder und Jugendliche
Erziehende (auch Kita und Schule) Persönliches Netzwerk
Fachkräfte
Zusammenwirken in unterschiedlichen Verantworlichkeiten
Jugendämter: Staatliches Wächteramt
Familien gerichte
Diensteanbieter
Freiwillige Selbstkontrolle
Polizei behörden
KJM mit jugendschutz.net Bundesund Landes zentrale für Kinder- und medienanstalten Jugend medienschutz
Abbildung 1: Akteure beim Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten
Alter entwickeln Kinder meist Interesse an verschiedenen Musikgenres, und Hörspiele rücken eher in den Hintergrund. Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass Liedtexte gewalttätige und sexualisierte Sprache enthalten und mit Videos gekoppelt sein können. Generelle Verbote können auch hier das Interesse noch steigern. Es ist sinnvoll, mit den Kindern darüber ins Gespräch zu kommen, was an den Texten/Videos problematisch ist und wo die Grenzen liegen. Wie bei allen hilfreichen Maßnahmen zur Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen sollten Erziehende immer im Dialog mit ihrem Kind bleiben und ihre eigenen Sorgen transparent machen, aber auch die Interessen der Kinder wahrnehmen und ihnen zurückmelden, dass sie diese gehört haben. Um wirksamen Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten umsetzen zu können, gilt es, die maßgeblichen Akteure in den Blick zu bringen und
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Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke
Kooperation anzuregen. Abbildung 1 soll dazu einen ersten Überblick verschaffen. Ganz oben dargestellt sind die Kinder und Jugendlichen, die im Fokus des Schutzes stehen. In ihrer unmittelbaren Nähe sind die für ihre Erziehung verantwortlichen Personen zu finden. Je weiter die Kreise von den Kindern und Jugendlichen entfernt angeordnet sind, desto weiter entfernt sind die Institutionen/Personen von deren unmittelbaren lebensweltlichen Interaktionen. Die weiter entfernten Akteure können dennoch für den Medienalltag von Kindern und Jugendlichen erhebliche Auswirkungen haben und wichtige Schutzfunktionen übernehmen, die zumeist aber nur im Bedarfsfall in Anspruch genommen werden. Abbildung 1 zeigt, wie komplex das Netzwerk der Akteure beim Kinderund Jugendschutz in Bezug auf digitale Lebenswelten ist. Einige Akteure wurden bereits im Fallbeispiel im Teil 1 dieses Beitrags (s. Kapitel 3.4) beschrieben. So sind neben den Kindern und Jugendlichen selbst zunächst die Personensorgeberechtigten (in der Regel die Eltern) und die Erziehenden bedeutsam im Umgang mit Medien. Dabei spielt das persönliche Netzwerk der Kinder (Geschwister, Verwandtschaft, Freundeskreis und deren Familien, Nachbarschaft etc.) eine bedeutsame Rolle im konkreten Medienalltag. Je älter die Kinder werden, desto eigenständiger bewegen sie sich auch außerhalb des familiären Kontexts. So kommt es auch maßgeblich darauf an, wie die Personen des persönlichen Netzwerks mit Medien umgehen und auch, welche Vorbildfunktion sie einnehmen. So kann es hilfreich sein, dass Eltern, wenn sie selbst an ihre Grenzen im Umgang mit Medien stoßen, hilfreich vorleben, sich an darin kompetente Verwandte, Freunde oder Fachstellen zu wenden, um Unterstützung zu erhalten. In Deutschland gibt es einen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung (§§ 27 SGB VIII ff.). Das gilt auch in Bezug auf den Umgang mit Medien, wenn es diesbezüglich Probleme gibt. Allerdings kommt es sehr auf die jeweiligen öffentlichen Träger der Jugendhilfe an, ob es zu diesem Themenfeld spezialisierte und finanzierte Hilfsangebote gibt, ob Fachkräfte dazu qualifiziert werden oder ob es ein fachliches Netzwerk gibt, das sich dieser Thematik mit zunehmendem Gefährdungspotenzial annimmt. Im Positivszenario unseres Fallbeispiels in Teil 1 dieses Beitrags (Kapitel 3.4) gab es eine qualifizierte systemische Beraterin, die sich der Thematik professionell angenommen und damit nachhaltig dazu beigetragen hat, Kindeswohlgefährdungen abzuwenden. Das erfolglose Anrufen des Familiengerichts durch den leiblichen Vater P (im Negativszenario) hat gezeigt, dass es wichtig ist, die Bedenken konstruktiv aufzugreifen und ins Gespräch zu bringen, statt Entscheidungen von außen herbeizuführen. Diese werden den dahinterliegenden Konflikten nicht gerecht. Überall, wo Auseinandersetzungen über die Medienthematik aufkommen, sollten sie genutzt
Kinder- und Jugendschutz in digitalen Lebenswelten (Teil 2)
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werden, um alle Beteiligten einzubinden. Ziel sollte es sein, eine förderliche Interaktion zu schaffen, dabei kooperativ Lösungen zu suchen und das »Thema hinter dem Thema« anzugehen. So hilft beispielsweise ein Kampf um die Frage, welcher Elternteil angemessener mit Medien umgeht, nicht weiter. In manchen Situationen kann es notwendig sein, auch Polizei und Justiz einzuschalten, um gegen gefährliche Bedrohungen vorzugehen. Bei verschiedenen Formen des Cybermobbings etwa oder bei der Bedrohung durch Erwachsene, die sexuellen Missbrauch zum Ziel haben, ist dies unvermeidbar. Wenn intime Inhalte verbreitet wurden, können staatliche Stellen, wie spezialisierte Polizeidienststellen, dabei helfen, dass die Inhalte aus dem Netz genommen werden und über gängige Suchmaschinen nicht mehr auffindbar sind. Die konkreten Diensteanbieter (z. B. Facebook, TikTok, Instagram), die von den Minderjährigen genutzt werden, haben unmittelbaren Einfluss auf das, was die Minderjährigen an Gefährdungen erleben. In den jeweiligen CommunityRichtlinien wird bezüglich möglicher Gefahren dargelegt, wie die Diensteanbieter damit umgehen. So geben manche an, zur Gefahrenabwehr Moderationsteams und/oder Technologie einzusetzen, die Gefahren wie etwa gefährlichen Challenges entgegentreten. Auch wenn das Nutzungsalter in den AGBs der Diensteanbieter geregelt wird, sind die konsumierenden Kinder oft jünger, was aber von den Eltern nicht selten erlaubt oder zumindest geduldet wird. Hier ist es für Eltern oft schwer, einen stimmigen Weg im Alltag mit den Kindern zu finden. Schwierig wird es beispielsweise, wenn viele Kinder aus der Klasse oder der Peergroup die Altersbegrenzungen übergehen dürfen und das eigene Kind dies auch möchte. Orientierung ist an der Stelle gegebenenfalls mit viel Zeiteinsatz und Wissenserweiterung der Eltern verbunden. Was die dargestellten Inhalte der Dienste angeht, so gibt es verschiedene Institutionen der Freiwilligen Selbstkontrolle, die Alterskennzeichnungen vornehmen. Staatlicherseits hat »jugendschutz.net« eine zentrale Funktion als das von Bund und Ländern gesetzlich verankerte Kompetenzzentrum und nimmt mit gesetzlichem Auftrag Einschätzungen über die von den Diensteanbietern getroffenen Vorsorgemaßnahmen zum Jugendmedienschutz vor. Die Stelle meldet die nach ihrer Einschätzung unzulässigen Inhalte an die zuständigen Aufsichtsstellen (BzKJ/KJM), die bei Verstößen Verfahren einleiten können. Allerdings gilt die Aufsicht nur für in Deutschland angesiedelte Diensteanbieter. Gerade die großen Internetportale, die in anderen Ländern der Europäischen Union ihren Sitz haben, fallen hier nicht unter deutsches Recht. In diesen Fällen kann »jugendschutz.net« aber Kontakt mit den zuständigen Stellen anderer Staaten aufnehmen. Die Ausführungen zeigen, dass es von zentraler Bedeutung ist, die Gefahren durch die Digitalisierung und die relevanten Akteure in ihren unterschiedlichen
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Verantwortlichkeiten zu kennen. Es wird deutlich, dass Fachkräfte bei dem dargestellten rasanten digitalen Wandel Kinder- und Jungendschutz nicht allein gewährleisten können. Vielmehr bedarf es der Kooperation der verschiedenen Akteure auf unterschiedlichen Ebenen, wenn dieser wirksam und nachhaltig sein soll. Wie Kooperationen und Auseinandersetzung mit der Thematik angeregt und umgesetzt werden können, wird in den Onlinematerialien anhand praktischer Methoden und Interventionen dargestellt. Literatur Giertz, M., Hautz, A., Link, A., Wahl, J. (2019). Sexualisierte Gewalt online. Bericht 2019 von jugendschutz.net. Kinder und Jugendliche besser vor Übergriffen und Missbrauch schützen. Zugriff am 10.02.2022 unter https://www.jugendschutz.net/fileadmin/daten/publikationen/ lageberichte/bericht_2019_sexualisierte_gewalt_online.pdf. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (2017). FIM-Studie 2016. Familie, Interaktion, Medien. Untersuchung zur Kommunikation und Mediennutzung in Familien. Stuttgart. Zugriff am 10.02.2022 unter https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/FIM/2016/ FIM_2016_PDF_fuer_Website.pdf. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (2021). KIM-Studie 2020. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart. Zugriff am 10.02.2022 unter https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2020/ KIM-Studie2020_WEB_final.pdf. Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2020). Fakten und Zahlen zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Definition von sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen. Zugriff am 10.02.2022 unter https://beauftragter-missbrauch.de/fileadmin/Content/pdf/Pressemitteilungen/2020/01_Januar/28/Fact_Sheet_Zahlen_und_Fakten_sexueller_Missbrauch.pdf. Vobbe, F., Kärgel, K. (2022). Sexualisierte Gewalt und digitale Medien. Reflexive Handlungsempfehlungen für die Fachpraxis. Wiesbaden: Springer VS. Open Access. Zugriff am 10.02.2022 unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-35764-1.
8.2 Kinderschutz in Flüchtlingsunterkünften Claas Jörges, Stefanie Horstmann
Sammelunterkünfte, Gemeinschaftsunterkünfte oder auch Übergangswohnheime sind kommunal betriebene Einrichtungen, in welchen geflüchtete Menschen für die Dauer der Prüfung ihres Asylantrags untergebracht werden. Zu unterscheiden sind diese Unterkünfte von länderbetriebenen Erstaufnahme-
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einrichtungen, von welchen die geflohenen Menschen auf die Kommunen verteilt werden. In Übergangswohnheimen leben Geflüchtete in der Regel, bis vom Bundesamt für Migration über ihren Asylantrag entschieden ist. Je nach Entscheidung ziehen die Menschen im weiteren Verlauf entweder in eigenen Wohnraum, reisen weiter oder kehren in ihre Heimat zurück (§§ 44–54, Abschnitt 5 – Unterbringung und Verteilung, AsylG). Viele der Menschen, die in Flüchtlingsunterkünften ankommen, sind aufgrund des Fehlens von eigenem Wohnraum, fehlender Sprachkenntnisse, Unkenntnis von Landesgesetzen, des Fehlens eines unterstützenden sozialen Umfelds und infolge von Fluchterlebnissen sowie möglichen Traumata als schutzbedürftig zu betrachten. Familien mit Kindern in Flüchtlingsunterkünften sind besonders schutzbedürftig. Die Betreuung dieser Familien und die Gewährleistung des Kinderschutzes stellen die Mitarbeiter:innen vor besondere Herausforderungen, die den Arbeitsalltag komplexer und anspruchsvoller werden lassen. Im Jahr 2016 haben das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Unicef eine Initiative zur Verbesserung der Lebensbedingungen von besonders schutzbedürftigen Personen in Gemeinschaftsunterkünften gestartet und seither in enger Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden und weiteren Partnern umgesetzt. Aus dieser Zusammenarbeit sind die »Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften« entstanden, die von den Kooperationspartnern fortlaufend weiterentwickelt und aktualisiert werden. Diese Mindeststandards beschreiben neben baulichen Besonderheiten der Einrichtungen auch Verhaltensweisen und Maßnahmen in der Betreuung, die zum Schutz der Bewohner:innen beitragen können (BMFSFJ u. UNICEF, 2021). Unter Berücksichtigung dieser Mindeststandards und der Vorgaben im Asylrecht werden einrichtungsspezifische Schutzkonzepte zum größten Teil durch die eingesetzten Betreiber:innen der städtischen Unterkünfte ausformuliert und durch das angestellte Personal in der täglichen sozialarbeiterischen Praxis umgesetzt. Diese Konzepte bieten den Mitarbeiter:innen in Flüchtlingsunterkünften eine Grundlage, Orientierung und einen Leitfaden, nach denen auch in Notsituationen gehandelt werden kann. Eine besonders wichtige Rolle bildet eine sozialarbeiterische Haltung, die den Kinder- und Jugendschutz in Flüchtlingsunterkünften vor allem präventiv angeht, und ein Vorgehen, das Sichtweisen, Absichten und Ziele aller Akteure in den Hilfeangeboten wertschätzt und diese beteiligt. Diese Haltung kann dazu beitragen, den Familien bereits vor, aber auch in akuten Not- und Gewaltsituationen den nötigen Raum zu persönlicher und familiärer Weiterentwicklung zu ermöglichen. Am folgenden Fallbeispiel für ein präventives Vorgehen im Kinder- und Jugendschutz verdeutlichen wir die beschriebene Haltung und wie Familien
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Claas Jörges, Stefanie Horstmann
innerhalb und außerhalb der Einrichtung sowie unter Einbezug externer Helfer:innen konkret unterstützt werden. Darstellung eines Beratungsprozesses in einer Flüchtlingsunterkunft für Frauen und Kinder Ankunft in der Einrichtung
Nach dem Ankommen in einer Flüchtlingsunterkunft sehen sich geflüchtete Menschen verschiedener Nationen und Religionen vielfältigen unbekannten Eindrücken, Ansprüchen und Herausforderungen gegenüber. Diese beinhalten eine fremde Sprache, eine ihnen unbekannte Umgebung, eine andere Religion sowie eine ihrer Kultur fremde Lebensweise. Hinzu kommen Unsicherheiten bezüglich der Abläufe in behördlichen Angelegenheiten, der Perspektiven für sich selbst, für die Familie und mögliche traumatische Erfahrungen im Herkunftsland und während der Flucht. In dieser sensiblen Phase benötigen die Menschen in besonderer Weise professionelle Betreuung, Unterstützung und Wertschätzung. Die Gestaltung des Einzugs in den Wohnraum, der für die nächste Zeit ihr »Zuhause« darstellt, ist daher von entscheidender Bedeutung, ob ein Einleben in der Flüchtlingsunterkunft und der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Mitarbeiter:innen und den geflüchteten Menschen gelingt. Der Beziehungsaufbau zu den Menschen, deren Vertrauen zuvor und auf der Flucht oft missbraucht worden ist, beginnt daher bereits beim Einzug in die Einrichtung. Der Empfang der neuen Bewohner:innen wird vom dortigen Personal deshalb schon zu Beginn freundlich und warm gestaltet. Die Einrichtung signalisiert dies durch offene und freundliche Gestaltung der Beratungsräumlichkeiten, Offenheit und eine ruhige Atmosphäre. Der frühe Einsatz von muttersprachlichen Dolmetscher:innen stellt einen wichtigen Bezug zu Bekanntem her und gibt sowohl neuen Bewohner:innen als auch dem Personal Sicherheit im Beratungsprozess. Den geflüchteten Menschen wird die nötige Zeit gegeben, sich in ihren eigenen Räumlichkeiten einzuleben und an die neue Umgebung zu gewöhnen. Frau D. (Mutter, 26 Jahre) und ihr Sohn O. (9 Jahre) kommen aus Guinea und sprechen die Sprache Fula. Die Familie ist aufgrund von schlechten Erfahrungen mit dem Ehemann, der in Guinea zurückgeblieben ist und zu dem kein Kontakt mehr besteht, sowie der Hoffnung auf ein besseres Leben aus ihrem Heimatland geflüchtet. Sie sind zunächst mit einem kleinen Boot über das Meer gereist. Während ihrer Reise, die durch bezahlte Schlepper organisiert wurde, befanden sie sich in einer Gruppe
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mit anderen Familien. Bei der Durchreise durch mehrere Länder musste die Gruppe an verschiedenen Stationen in andere Autos und Busse umsteigen. Frau D. und ihr Sohn wurden an diesen Stationen teilweise eingesperrt und erlebten dort Gewalt. Angekommen in Deutschland, wird die Familie nach einem kurzen Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung der Unterkunft für Frauen und Kinder zugewiesen. In diese Unterkunft ziehen vor allem Frauen, die aus Ländern kommen, in denen sie keine Schul- oder Ausbildung erhalten haben, keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind und in denen es keine Gleichberechtigung von Frauen und Männern gibt. Sie sind unter anderem vor Zwangsheirat, Folter, Gewalt, Vergewaltigung oder Genitalverstümmelung geflüchtet und mussten teilweise ihre Kinder oder Familienangehörige in den Heimatländern zurücklassen. In der Flüchtlingsunterkunft, in der bis zu fünfzig Menschen untergebracht werden können, leben die Frauen entweder allein oder mit ihren Kindern. Am Einzugstag werden Frau D. und ihr Sohn freundlich durch das Personal empfangen. Der Familie wird die Einrichtung mit den verschiedenen Räumlichkeiten gezeigt. Beide sprechen kein Deutsch oder Englisch, weshalb bereits hier eine muttersprachliche Dolmetscherin für die Familie das Erklärte übersetzt. Frau D. wirkt anfangs unsicher und verschlossen. Ihr Sohn verhält sich ruhig und spricht nicht. Die Familie ist in den ersten Tagen sehr zurückgezogen und hält sich überwiegend auf dem eigenen Zimmer auf. Der Kontakt beschränkt sich auf die nötigsten Fragen des Alltags.
Sicherheit geben durch systemische Grundhaltung
Die Herkunftsgeschichten, Fluchtgründe und individuellen Ziele der Bewohner:innen von Flüchtlingsunterkünften unterscheiden sich in der Regel sehr stark. Linear-kausale Betreuungsansätze, die vereinheitlichten Hilfeschritten folgen, haben oft wenig Bezug zu den individuellen Lösungsansätzen und Erfahrungen der Betroffenen. Die Unterstützungen und Hilfen, die von den Fachkräften mit den Betroffenen erarbeitet werden, sind daher immer individuell personen- oder familienbezogen. Den Hilfeangeboten liegt die systemische Haltung zugrunde, dass die Familien die Ressourcen, um eigene Lösungsansätze für Konflikte und familiäre Krisen zu finden, bereits mit sich bringen. Aufgrund der belastenden und neuen Lebenssituation, in der sich die Eltern und Kinder nach Ankunft in einer Flüchtlingsunterkunft befinden, kann jedoch häufig beobachtet werden, dass sie nur sehr schwer einen Zugang zu ihren Ressourcen finden. Eigene Ansätze zur Gestaltung eines selbstständigen, zufriedenstellenden Lebens scheinen für die Betroffenen, unter anderem aufgrund der unbekannten Sprache und großer kul-
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tureller Unterschiede, die sich oft auch in Vorgehensweisen der Kindererziehung wiederfinden, nicht mehr greifbar (DGSF, 2020, S. 18 f.). Wie viel und welche Unterstützung die Familie und ihre Mitglieder benötigen, um diesen Zugang wiederherzustellen, ist sehr unterschiedlich und hängt von der konkreten Situation, den Bedürfnissen und Anliegen aller Familienmitglieder ab. Es ist daher wichtig, das Familiensystem sowie den Beratungsprozess ganzheitlich zu betrachten. Der Kinder- und Jugendschutz setzt dabei bei den Eltern an, ohne die Kinder und Jugendlichen von den Beratungsprozessen auszuschließen. Nach den ersten Tagen der Einfindung in der Einrichtung werden alle Familienmitglieder, sofern der Kontakt nicht selbst gesucht wird, von den Sozialarbeiter:innen zu einem Erstgespräch eingeladen. Der Fokus des Erstgesprächs und der folgenden Gespräche liegt vor allem auf dem gegenseitigen Kennenlernen aller Beteiligten, der Erläuterung der Aufgaben der Sozialarbeiter:innen und der Angebote der Einrichtung. Die Sozialarbeiter:innen stellen die Interessen und Bedürfnisse der Familienmitglieder während der Gespräche in den Vordergrund und vermitteln durch eine lebensweltnahe, zugewandte und kooperationsorientierte Gesprächsführung Sicherheit, Offenheit und Kontinuität. Eine frühe Einbindung in regelmäßige Gesprächs- und Gruppenangebote soll den Familien bereits in der ersten Zeit und im weiteren Verlauf die Möglichkeit geben, Vertrauen zum neuen Umfeld aufzubauen. Dies geschieht neben Beratungsangeboten durch hausinterne Angebote wie ein Frauencafé, Gruppen der Freizeitgestaltung oder ehrenamtlich geleitete Deutschkurse. Die Bewohner:innen werden über offene Angebote außerhalb der Einrichtung informiert und zur Teilnahme motiviert. Zudem werden sie gezielt und aktiv in die Planung und Umsetzung von Veranstaltungen eingebunden. Neben Aktivitäten innerhalb der Einrichtung werden auch Ausflüge geplant, Stadtteilfeste, kulturelle Ereignisse sowie Sportveranstaltungen im ganzen Stadtgebiet besucht. Das früh ansetzende Kennenlernen der weiteren Bewohner:innen und der näheren Umgebung kann die Grundlage für die Bildung von Bekanntschaften und Freundschaften fördern. Im Austausch mit anderen Familien, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, können neue Sichtweisen auf Erziehungsmöglichkeiten aufgezeigt und so der Handlungsspielraum zum Finden von eigenen Lösungsansätzen auch in Krisensituationen erweitert werden. Frau D. und ihr Sohn kommen nach wenigen Tagen selbstständig in die Erstberatung. Das Gespräch wird durch eine muttersprachliche Dolmetscherin begleitet. Frau D. verhält sich eher schüchtern, unsicher und antwortet auf Fragen kurz und leise. Kernthema des Erstgesprächs ist für Frau D. die zukünftige Bildung ihres Sohnes. Sie beschreibt, dass sie sich für ihren Sohn ein besseres Leben in Deutschland
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wünsche. Sie erkundigt sich nach der internen Kinderbetreuung und freut sich, dass ihr Sohn bereits am nächsten Tag daran teilnehmen darf. Der Sohn wirkt im Gespräch ruhig und zurückhaltend. Ihr werden neben der Beantwortung erster asylrechtlicher Fragen unter anderem die internen Angebote vorgestellt. Frau D. entscheidet sich für eine Teilnahme am Frauencafé und am ehrenamtlichen Deutschkurs. Sie zeigt sich in den Gruppen zu Beginn zurückhaltend und anderen Menschen gegenüber misstrauisch. Sie hat zu dieser Zeit noch wenig Kontakte, da ihr das Vertrauen fehle, wie sie sagt.
Kinder- und Jugendbetreuung als Teil des Beziehungsaufbaus
Kinder, die an Beratungsgesprächen teilnehmen, verhalten sich oft ruhig und unauffällig, da sie meist keinen Bezug zu den Inhalten herstellen können. Ein Beziehungsaufbau zu den Kindern gelingt in diesem Setting eher schwer. Die Teilnahme an der hausinternen Kinder- und Jugendbetreuung ist daher ein wichtiger Bestandteil des Beziehungsaufbaus. Die Angebote der Betreuung geben den Kindern eine Tagesstruktur und tragen zur Entfaltung der Persönlichkeit, einer Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Umwelt sowie zur Eigenverantwortlichkeit bei. Die Räumlichkeiten vermitteln den Kindern und Jugendlichen Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit durch eine offene, helle und funktionelle Gestaltung. Es wird Raum zur Entfaltung von Kreativität, zur Schaffung einer Lernatmosphäre gegeben und Sportund Bewegungsmöglichkeiten angeboten, um sich auszulasten. Die Mitarbeiter:innen unterstützen die Kinder und Jugendlichen gezielt bei Problemen in Familie, Schule und anderen Themen ihrer neuen Lebenswelt. Sie stehen in einem engen Austausch, um unter Berücksichtigung des Verhaltens der Kinder und deren Bedürfnissen passende Hilfeangebote für die Familie vorschlagen und auf Wunsch installieren zu können. Der Junge O. benötigt einige Wochen Zeit, um sich für das Betreuungsangebot zu öffnen. Er kann nur langsam Vertrauen zu den noch fremden Mitarbeiterinnen finden. O. wirkt anfangs schreckhaft, verunsichert und zeigt insbesondere in Räumen mit geschlossenen Türen ängstliches Verhalten. Im Laufe der Zeit wird der Sozialarbeiterin der Einrichtung von den Erzieherinnen aus der Nachmittagsbetreuung vermehrt berichtet, dass das Kind auffälliges Verhalten zeige. O. streite sich oft mit anderen Kindern, die an dem Angebot teilnehmen. Die Kinderbetreuerinnen beschreiben zudem eine Situation, in der das Kind eine Erzieherin während des Spiels an einen Heizkörper gefesselt habe.
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Gestaltung des weiteren Beratungsverlaufs in Zusammenarbeit mit externen Berater:innen
Neben ihren Bedürfnissen und Anliegen sehen sich die Eltern in der Anfangszeit behördlichen Anforderungen gegenüber, die teilweise fristgerecht erfüllt werden müssen, um Ziele wie den Verbleib in Deutschland zu ermöglichen. Dies betrifft vor allem die Bereiche Asylantragsstellung, Spracherwerb, Gesundheit und Bildung. Die Erfüllung dieser Anforderungen kann bei den Eltern zusätzliche Überforderung auslösen, da jeder einzelne Bereich neue und fremde Aspekte einführt und neue Helfer:innen und Akteure in die Hilfestellungen miteinbezieht. Zentrale Aufgabe der Mitarbeiter:innen in Flüchtlingsunterkünften ist daher das an die Lebenssituation der Betroffenen angepasste Heranführen an sozialund asylrechtliche Anforderungen und die Unterstützung beim Erfüllen dieser Anforderungen. Dabei werden die Anliegen und Ziele der Familie, aber auch Faktoren wie die gesundheitliche Situation berücksichtigt. Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Berater:in und Familienmitgliedern und die dialogische Verknüpfung aller involvierten Helfer:innen und Betroffenen tragen entscheidend dazu bei, ob und wie passende Hilfeangebote für einen nachhaltigen Entwicklungsprozess gemacht werden können. Die ganzheitlichen Beratungen dienen dazu, durch die Beteiligung aller Akteure vielfältige Handlungs- und Hilfemöglichkeiten aufzuzeigen und so Sichtweisen auf Erziehungsfragen oder ausweglos scheinende Lebensumstände zu erweitern. Sie geben den einzelnen Familienmitgliedern Raum, eigene Lösungs ansätze zu finden und umzusetzen. Dabei ist es Aufgabe der Mitarbeiter:innen, die Vorgaben der Auftraggeber, wie der Stadt und möglicher Arbeitgeber, oder geltende Gesetze mit den Ideen und Vorstellungen der Familie zu einer gelingenden Erziehung und Versorgung der Kinder auf sinnvolle Weise zu verbinden. Durch den Beginn des Aufbaus eines sozialen Rahmens und einer vertrauensvollen und verlässlichen Beziehung zwischen Berater:in und Familie können durch den ersten Abbau von Scheu und Zugewinn von Sicherheit erste Anforderungen mit den Betroffenen besprochen werden. Ab diesem Punkt kann das Hilfenetzwerk an Komplexität zunehmen, da mehr externe Helfer:innen installiert und Termine bei Behörden wahrgenommen werden müssen. Die Sozialarbeiter:innen in der Unterkunft übernehmen die Aufgabe einer konstanten Schnittstelle zu allen installierten Helfer:innen (Herwig-Lempp, 2002, S. 18). Um passende, individuelle Hilfeangebote machen zu können, greifen die Sozialarbeiter:innen auf ein Netzwerk von Fachkräften aus weiterführenden Beratungsstellen zurück. Die stetige Weiterentwicklung, Anpassung und die Kontaktpflege zu diesem Netzwerk gehören zu den täglichen Aufgaben der
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Sozialarbeiter:innen. Dies geschieht durch die Kooperation und den Austausch bezüglich verschiedener Beratungs- sowie weiteren Angeboten der Stadt und anderer sozialer Träger. Dies können Sprachkurse, externe Kindergärten und Schulen, Freizeitstätten, Ärzte, Behörden und weitere Fachberatungsstellen sein, wie die Familien- und Erziehungsberatung, Schwangerenberatung, Jugendamt, Opferschutzstelle der Polizei oder die Schuldnerberatung. Der regelmäßige und persönliche Austausch und das Bekanntmachen mit Fachkräften in Stadtteilkonferenzen, Arbeitskreisen und runden Tischen, aber auch in interdisziplinären Fallbesprechungen schafft Vertrauen untereinander und eine Grundlage, die es den Sozialarbeiter:innen in den Beratungsgesprächen ermöglicht, passende Hilfeangebote für die individuellen Lösungswege der Bewohner:innen aufzuzeigen. Sie können so über aktuelle Angebote der externen Helfer:innen informieren und zur Nutzung dieser motivieren. Auch bei bevorstehenden verpflichtenden Terminen und Kontakten mit externen Helfer:innen ist eine vorherige Besprechung mit den Familien von besonderer Bedeutung, um die Beziehung und das Vertrauen zwischen Berater:in und den Familienmitgliedern zu stärken und Unsicherheiten zu nehmen. Auch wenn es im Rahmen der Betreuung zur Annahme kommt, dass das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen durch eine familiäre Krise gefährdet sein könnte, werden der Familie alle neu integrierten Helfer:innen vorab vorgestellt. Sie werden in alle weiteren Hilfeschritte mit einbezogen und über Vorgehensweisen informiert und aufgeklärt. Gemeinsam wird eine Gefährdungseinschätzung der aktuellen Situation durchgeführt und an möglichen Lösungswegen und Schutzmaßnahmen gearbeitet sowie zur Inanspruchnahme geeigneter Hilfen motiviert. Der Dialog mit allen dient dazu, Sichtweisen zu erweitern und Handlungsspielräume zu vergrößern. Hierbei gilt es, eine Balance zwischen der fachlichen Verpflichtung zum Schutz der Kinder und den Vorstellungen der Familienmitglieder zu finden. Kommt es zu Gewalt durch Eltern an Kindern oder Jugendlichen und ist das Kindeswohl akut gefährdet, ist es wichtig, auch während und nach möglichen Sofortmaßnahmen, wie einer Inobhutnahme, den Dialog mit den Eltern und Kindern weiterzuführen, um auch in einer solchen belastenden Krisensituation andere, neue Lösungswege aufzeigen zu können. Kinderschutz ist die primäre Aufgabe der Eltern. Installierte Hilfen sollten die Eltern nicht von ihrer Verantwortung entbinden, sondern diesen die bestmögliche Unterstützung bieten, eigene Wege zur Erziehung im Einklang mit geltendem Recht umzusetzen. Dabei gilt es, kulturelle Unterschiede in der Erziehung sowie die Familiengeschichte zu berücksichtigen, wertzuschätzen und in die Hilfen miteinzubeziehen.
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Die Arbeit mit Menschen in unsicheren Lebenslagen und existenziellen Notsituationen erfordert ein hohes Maß an Empathie, aber auch die Möglichkeit zur Reflexion. Kollegiale Fallberatungen und Supervisionen sind deshalb ein unabdingbarer Bestandteil einer qualitativ hochwertigen Arbeit und eröffnen den Berater:innen neue Sichtweisen und neue Ideen zur Entwicklung passender Hilfestellungen und Vorgehensweisen. Aufgrund der in Deutschland geltenden Schulpflicht hat die Sozialarbeiterin die Familie über die nötigen Schritte zur Anmeldung des Sohnes aufgeklärt. Nach den dazu erforderlichen Terminen beim Kinderarzt und dem Schulamt hat O. schnell einen Schulplatz erhalten. Nach kurzer Zeit berichtet die Klassenlehrerin der Sozialarbeiterin über auffälliges Verhalten in der Schule. Auch hier streite er sich oft mit Mitschüler:innen und ist bereits Teil einer Schlägerei gewesen. Das Personal der Unterkunft hat das Kind zudem schon mehrfach allein auf dem Zimmer der Familie vorgefunden. Da die Sozialarbeiterin, den Beschreibungen der Klassenlehrerin und des Personals der Unterkunft folgend, einer Gefährdung des Kindeswohls vorbeugen möchte, schlägt sie der Mutter vor, zum folgenden Gespräch auch die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamts in die Einrichtung einzuladen, um die derzeitige Familiensituation gemeinsam zu besprechen und neue Hilfeangebote machen zu können. In diesem Gespräch zeigt sich Frau D. sehr beschämt, entschuldigt sich für ihr Verhalten und das ihres Kindes, erklärt aber auch, dass sie sich das Verhalten von O. nicht erklären könne. Sie berichtet, ihr Sohn zeige sich im häuslichen Kontext sehr zurückhaltend und ruhig. Sie teilt mit, dass sie sich überfordert fühle und nicht wisse, wie sie O. helfen könne. Sie sehe, dass O. eine Unterstützung benötigt, die sie allein nicht leisten könne. Sie merke, dass sie nicht mehr an ihr Kind herankomme. Zudem müsse sie O. immer öfter allein lassen, weil sie die täglichen Erledigungen in Verbindung mit den Zeiten des Integrationskurses überfordern würden. Nach der Erläuterung möglicher Hilfeoptionen gibt Frau D. im Gespräch an, gemeinsam mit ihrem Sohn und der Sozialarbeiterin die Erziehungsberatungsstelle aufsuchen zu wollen. Im weiteren Verlauf erfolgt eine Vermittlung an die Erziehungsberatungsstelle sowie die Anmeldung der Mutter in einem neuen Sprachkurs zu Zeiten, in denen ihr Sohn die Schule besucht. Nachdem der erste Termin bei der Erziehungsberatungsstelle begleitet durch die Sozialarbeiterin und eine muttersprachliche Dolmetscherin stattgefunden hat, ist die Familie in der Lage, weitere Termine allein wahrzunehmen. Aus den Inhalten der dortigen Beratungsgespräche ergibt sich die Anbindung von O. an eine Kinder- und Jugendlichentherapeutin. Die Termine finden anfangs mit der Mutter und einer Dolmetscherin statt. Nach kurzer Zeit kann O. die Termine allein wahrnehmen. Er berichtet der Sozialarbeiterin fortlaufend von seinen
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Terminen mit der Therapeutin. Die Sitzungen helfen ihm, mit seinen Emotionen und Gedanken besser umzugehen. So hat er gelernt, seine Aggressionen besser zu regulieren oder wie er mit Situationen umgeht, in denen er sich bedrängt fühlt. Er hat eine enge Beziehung zu der Therapeutin aufgebaut. Zur Festigung des sozialen Umfelds besucht O. das Jugendhaus im Stadtteil. Hier nimmt er regelmäßig und gern an den Angeboten teil. Die Mutter berichtet, dass ihr dies Entlastung schaffe, um den Alltag zu bewältigen und sich weiter auf den Spracherwerb konzentrieren zu können. Frau D. nimmt weiterhin regelmäßig an den internen Freizeitangeboten des Hauses teil. Hier konnte sie mittlerweile enge Freundschaften zu anderen Bewohnerinnen knüpfen, die ihr Halt und Sicherheit bei der Bewältigung des immer noch gelegentlich überfordernden Alltags geben. Frau D. kann sich mittlerweile ohne Dolmetscherin mit der Sozialarbeiterin unterhalten. Sie wirkt in den Beratungsgesprächen selbstsicher und äußert immer mehr eigene Ideen für die weitere Zukunft ihrer Familie. So entwickelt sich nach und nach den Wunsch, eine eigene Wohnung zu finden. Mit Unterstützung der Sozialarbeiterin findet die Familie nach kurzer Zeit eine eigene Wohnung. Da sich die Wohnung in einem anderen Stadtteil befindet und somit die Beratung seitens der Sozialarbeiterin endet, werden Frau D. und ihr Sohn an die für sie zuständigen Fachkräfte aus der Migrationsberatung sowie der Bezirkssozialarbeit des Jugendamts angebunden. Frau D. besucht weiterhin Angebote des Übergangswohnheims, um den Kontakt zu ihren Freundinnen im Haus zu halten. Auch O. nimmt immer noch regelmäßig an Therapiesitzungen teil. Die Mutter ist parallel weiterhin zur Unterstützung in Erziehungsfragen bei der Familien- und Erziehungsberatung angebunden.
Zutatenliste zum Scheitern Leider ist die Gestaltung des Hilfeprozesses nicht immer so konstruktiv möglich wie in unserem Beispiel. Viele Faktoren können dazu beitragen, dass das Kindeswohl nicht gewährleistet werden kann, selbst wenn die Mitarbeiter:innen gute Hilfeangebote machen. »Ein gesamtsystemisches Fallverstehen erkennt die Tatsache an, dass grundsätzlich komplexe Ursachen Fehlern im Kinderschutz zugrunde liegen und es erforderlich ist, bei erkennbaren Fehlentscheidungen retrospektiv Wechselwirkungen zu erforschen, um gegebenenfalls für die zukünftige Fachpraxis daraus zu lernen« (DGSF, 2020, S. 20). Im Folgenden stellen wir zusammenfassend in Anlehnung an unser Fallbeispiel zehn Zutaten vor, die Sie als Mitarbeiter:in in der Betreuung verwenden können, um das Scheitern eines Kinder und Jugendschutzes in Flüchtlingsunterkünften zu begünstigen:
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Claas Jörges, Stefanie Horstmann
1. Gestalten Sie den Einzug schnell und versuchen Sie, alle Informationen am ersten Tag unterzubringen. 2. Laden Sie die Familie so früh wie möglich zum Erstgespräch ein, pochen Sie auf die Einhaltung des Termins und auf die sofortige Vorlage aller Unterlagen. 3. Suchen Sie Klient:innen nicht mehr auf und laden sie diese nicht mehr ein, wenn sie einmal das Gesprächsangebot abgelehnt haben. 4. Laden Sie immer nur ein Familienmitglied zu den Gesprächen ein. 5. Nutzen Sie in den Gesprächen keine muttersprachlichen Dolmetscher:innen. 6. Arbeiten Sie in den Gesprächen nur die für Ihren Ablaufplan wichtigen Punkte ab und gehen Sie möglichst nicht auf die Vorschläge und Ideen der Klient:innen ein. 7. Laden Sie externe Helfer:innen in die Einrichtung ein, ohne die Familie zu informieren. 8. Führen Sie Hilfegespräche mit Kooperationspartnern ohne Beteiligung der Familie und teilen ihr nach dem Gespräch nur die Ergebnisse und daraus abgeleitete Hilfen mit. 9. Tauschen Sie sich möglichst nicht mit Kolleg:innen über schwierige Fälle aus, um nicht unsicher zu wirken. 10. Gehen Sie bei einer akuten Kindeswohlgefährdung immer davon aus, dass es die Schuld der Klient:innen war, nie Ihre oder die der externen Helfer:innen. Zutaten gelingender Hilfe Der von uns beschriebene Fall zeigt einen Beratungsprozess, der präventiv ansetzen und so einer möglichen Kindeswohlgefährdung vorbeugen konnte. Durch den gelungenen Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Beraterin und Familie konnte ein transparenter und individueller Hilfeprozess gestaltet werden. Die Familie zeigte sich nach der Eingewöhnungsphase den angebotenen Hilfen gegenüber offen, und die Mutter schaffte es nach einiger Zeit, eigene Ideen zur Lösungsfindung zu entwickeln und diese zu äußern. Unter anderem diese Umstände sowie die gute Vernetzung der Einrichtung mit externen Helfer:innen ermöglichten es den Mitarbeiter:innen aus unserem Fallbeispiel, gezielt passende weiterführende Hilfeangebote, wie die Beratung durch die Erziehungsberatungsstelle, installieren zu können.
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Literatur BMFSFJ, UNICEF (Hrsg.) (2021). Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften (4. Aufl.). Zugriff am 13.10.2022 unter https://www.bmfsfj.de/ resource/blob/117472/bc24218511eaa3327fda2f2e8890bb79/mindeststandards-zum-schutzvon-gefluechteten-menschen-in-fluechtlingsunterkuenften-data.pdf. DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (Hrsg.) (2020). Systemischer Kinderschutz: Kontexte, Wechselwirkungen und Empfehlungen (2. Aufl.). Köln: DGSF. Herwig-Lempp, J. (2002). Von der Familientherapie zur Systemischen Sozialarbeit. In M. Nühlen (Hrsg.), Geschichte und Geschichten II, Merseburger Geschichte und andere historische Streifzüge (S. 162–186). Merseburg: FH Merseburg. Zugriff am 13.10.2022 unter https://www. herwig-lempp.de/daten/veroeffentlichungen/0201ft-systemJHL.pdf.
8.3 Fachberatung durch eine »insoweit erfahrene Fachkraft« im kooperativen Kinderschutz Stefan Heinitz
Zur Praxis einer »insoweit erfahrenen Fachkraft« im Kinderschutz – ein Fallbeispiel Eine Sozialarbeiterin an einer integrativen Grundschule macht sich Sorgen um ein Kind in einer Schulklasse. Das neunjährige Mädchen ist in seinem Verhalten in den letzten Wochen stark verändert, sie reagiert einerseits auf kleinste Ansprachen mir aggressiven Ausbrüchen, andererseits mit starken Phasen der Zurückgezogenheit und Passivität. Sie ist dann kaum erreichbar. Das Mädchen erhält besondere Förderung aufgrund einer festgestellten sozial-emotionalen Beeinträchtigung, die sich seit ihrer frühen Kindheit ausgebildet und verstärkt hat, deren Ursachen aber im Dunkeln liegen. Der Kontakt zu den Eltern sei schwierig. Zu Elternabenden kämen diese nur selten, und wenn sie auf die Probleme des Kindes in der Schule angesprochen würden, wiesen sie die Lehrer:innen und die Schulsozialarbeiterin unfreundlich zurück. Nach Meinung der Schulsozialarbeiterin werden die Eltern den besonderen Bedürfnissen des Kindes nicht gerecht. Zuletzt verweigerte das Mädchen gar den Weg nach Hause. Sie, die Schulsozialarbeiterin, spüre bei den zuständigen Lehrer:innen einerseits eine große Unsicherheit in Bezug auf die Situation des Kindes, andererseits jedoch ganz erhebliche Unterschiede in der Einschätzung dessen, »was in der Familie vor sich« gehe.
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In einem persönlichen Gespräch gelingt es der Schulsoziarbeiterin schließlich, einen Zugang zu dem Mädchen zu bekommen. Dabei berichtet dieses von körperlichen Übergriffen und gibt Hinweise auf sexuelle Grenzverletzungen in der Familie. Diese Hinweise bereiten der Schulsozialarbeiterin nun erhebliche Sorgen, daher wendet sie sich an eine ihr bekannte »insoweit erfahrene Fachkraft« eines Kinderschutz-Zentrums, weil ihrer Ansicht nach »in diesem Fall dringend etwas passieren« müsse, sie sich aber nicht darüber klar ist, welches nun die nächsten Schritte sein könnten. Im ersten Fachberatungsgespräch mit der Mitarbeiterin des KinderschutzZentrums ist die Schulsozialarbeiterin aufgrund ihrer Wahrnehmungen und ersten Bewertungen nun getragen von der Sorge um den Schutz des Kindes im familialen Umfeld, was zu einer starken emotionalen Beteiligung beiträgt. Daneben sind ihre Erwartungen an den Beratungsprozess von einem hohen Handlungsdruck und der Suche nach möglichst schnell zu findenden Entscheidungen bestimmt. Daher dient das Erstgespräch vor allem einer Entlastung und Stärkung der fachlichen Rolle der Schulsozialarbeiterin im weiteren Prozess. Zu einem weiteren Beratungsgespräch werden dann alle vorhandenen Informationen zur gegenwärtigen Situation des Kindes und seiner Familie gesammelt, strukturiert und zu einer ersten Gefährdungs- und Risikoeinschätzung zusammengeführt. Dazu wird eine sonderpädagogische Fachkraft hinzugezogen. Damit gelingt es, die beeinträchtigungsspezifischen Verhaltensweisen und die damit verbundene familiale Situation besser zu verstehen und in die Gefährdungseinschätzung inte grieren zu können. Besprochen wird hier auch der weitere Arbeitsprozess der Schulsozialarbeiterin, vor allem wie der weitere Kontakt zum Kind gestärkt und wie der Kontakt zu den Eltern angebahnt und Gespräche mit ihnen zu ihrer Einschätzung der gegenwärtigen Situation und notwendigen Veränderungen zur Abwendung möglicher Gefährdungen gestaltet werden können. Diese situativen, gefährdungsspezifischen und familien-kontextuellen Informationen und Einschätzungen werden im weiteren Fachberatungsprozess methodisch-strukuriert bewertet und zu einer belastbaren Gefährdungseinschätzung zusammengeführt, bei der auch nächste Schritte der Hilfe für Kind und Familie erörtert und dokumentiert werden.
Zur Bedeutung von Kooperation in der Fachberatung Die Fachberatung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft wird hier zu einem Prozess des reflektierten fallbezogenen Verstehens, in dem es darum geht, die Sorgen der anfragenden Fachkraft ernst und besonnen wahrzunehmen, die Anzeichen und Hinweise auf eine Gefährdungssituation zu ordnen, zu kon-
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textualisieren, zu gewichten und einschätzungsfähig zu machen (vgl. hierzu Gerber u. Kindler, 2020, S. 15 ff.). Ferner soll sie die nächsten Schritte im Kontakt zu Kindern, Eltern und anderen beteiligten Akteuren befördern – ohne durch eine vorschnelle Ergebnisorientierung unterstützende Wege zu Schutz und wirksamer Hilfe abzuschneiden. Dabei sind Fragen der Kooperation von zentraler Bedeutung, da es sich bei Einschätzungsprozessen zu gewichtigen Anhaltspunkten einer Gefährdung zunächst um offene Interpretations- und Deutungsprozesse handelt, die gebunden sind an die jeweilige berufliche Perspektive der Fachkraft und ihres Auftrags (vgl. Franzheld, 2020). Als »Grenzobjekte« (vgl. Scheiwe, 2013) aktivieren solche Einschätzungsprozesse das Handeln unterschiedlicher Berufsgruppen und erfordern die kommunikative Verständigung über deren institutionelle Grenzen hinweg (vgl. Heinitz, 2020). Zentrales Merkmal professionellen Kinderschutzes ist daher das Zusammenwirken verschiedener disziplinärer und institutioneller Perspektiven, die in jedem Fall von den handelnden Fachkräften aufeinander bezogen werden, sich in der weiteren Bearbeitung aneinander anschließen, ergänzen, überlappen oder in ihrer jeweiligen Deutung auch gegenseitig konflikthaft abstoßen können (z. B. bei unterschiedlichen Einschätzungen wie im Fallbeispiel zwischen Lehrer:innen und Schulsozialarbeiterin). Im Prozess der Fachberatung können diese Perspektiven anderer Berufsgruppen auf unterschiedliche Weise zur Geltung kommen: als Auslöser der Beratung selbst, als wichtige Information im Prozess, als Konflikt oder Dissens in der Bewertung oder aufgrund spezifischer Expertise als Co-Partner im weiteren Fachberatungsprozess. Der gesetzliche Auftrag der insoweit erfahrenen Fachkraft richtet sich vom Anspruch her damit nicht exklusiv an eine bestimmte Berufsgruppe, sondern steht als kooperativer fachlicher Standard in öffentlicher Gesamtverantwortung allen im Kinderschutz Tätigen verbindlich zur Verfügung. Als Teil des Schutzauftrags besteht die Rolle und Aufgabe der insoweit erfahren Fachkraft darin, alle Personen, die Hinweise auf die mögliche Gefährdung eines Kindes in ihrem beruflichen Alltag wahrnehmen, bei der Einschätzung einer Gefährdung in Form einer anonymen Fallberatung zu unterstützen. Sie beraten die anfragende und fallführende Fachkraft aber auch im Hinblick auf weitere nächste Schritte zur Abwendung der Gefährdung und zum Hinwirken auf geeignete Hilfen. Dieser Beratungsanspruch gilt Fachkräften in Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe (§ 8a SGB VIII) sowie allen Personen, die beruflich im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen stehen (SGB VIII § 8b), sowie Berufsgeheimnisträger:innen (§ 4 Abs. 2 KKG Absatz 1).
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Mit dem neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) wird dieses Aufgabenspektrum nochmals erweitert. Zunächst soll die Fachberatung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft im Rahmen einer Gesamtzuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen nun auch die »Schutzbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen« berücksichtigen (§ 8a SGB VIII – KJSG). Darüber hinaus ergibt sich aus dem rechtlich unbestimmten Begriff der »dringenden Gefahr« als Schwelle der Mitteilung an das Jugendamt (in § 4 KKG, Absatz 3 KJSG) ein möglicher weiterer fachlicher Beratungsbedarf von medizinischen Berufsgeheimnisträger:innen (so Meysen, Lohse, Schönecker u. Smessaert, 2021, S. 196 ff.). Insofern ist der rechtliche Auftrag der Fachberatung durch die insoweit erfahrene Fachkraft nicht anders als im Sinne eines wichtigen fachlichen Elements in der Logik von Hilfe vor Eingriff und im System eines lernenden und kooperativen Kinderschutzes zu verstehen. Der rechtliche Auftrag lässt dabei allerdings offen, was neben den Voraussetzungen der in § 72 SGB VIII und § 72a SGB VIII für die Kinder- und Jugendhilfe formulierten Anforderungen eigentlich »insoweit erfahren« als fachliches Kriterium bedeutet. Von der Heterogenität der Praxis: Was heißt eigentlich »insoweit erfahren«? In der gegenwärtigen Praxis des Kinderschutzes sind die Zugänge, Anlässe und Formen einer Fachberatung durch die insoweit erfahrene Fachkraft ebenso vielgestaltig wie die Modelle der Organisation dieses Beratungsanspruchs in der kommunalen Gesamtverantwortung, bei den Trägern und Trägerverbünden der freien Kinder- und Jugendhilfe (vgl. hierzu z. B. LWL u. LVR, 2020, S. 35 ff.) oder in den verschiedenen Berufsfeldern. Hierzu liegen einzelne regionale Einsichten (z. B. DKSB, 2014), jedoch keine systematisch-empirischen Forschungsbefunde vor, die Hinweise auf ein klares Bild der Fachberatungslandschaft geben könnten. Ȥ Aus den Praxiserfahrungen der Kinderschutz-Zentren1 gelingen Fachberatungsprozesse durch eine insoweit erfahrene Fachkraft immer dann, wenn die Zugänge für anfragende Fachkräfte aus den verschiedenen Handlungsfeldern (wie Kindertageserziehung, Schule, Medizin, ambulante Kinder-
1 Diese Erfahrungen speisen sich aus der konkreten Fachberatungspraxis der KinderschutzZentren wie auch der bundesweiten Qualifizierung der BAG der Kinderschutz-Zentren zu diesem Themenfeld. Vgl. hierzu: www.kinderschutz-zentren.org.
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und Jugendhilfe) geregelt und Zuständigkeiten und Ansprechpartner:innen geklärt sind. Gelingende Beratungsprozesse entwickeln sich dann, wenn unterschiedliche Berufsgruppen auf dafür spezialisierte und kompetente – »insoweit handlungsfelderfahrene« – Fachkräfte treffen, die die Zugänge, Aufgaben und Besonderheiten, die Eigenlogiken und Aufträge des jeweiligen Handlungsfelds wie auch deren Kooperationsbeziehungen mit anderen Stellen (im Fallbeispiel zwischen Jugendhilfe, Schule und Fachkräften aus der Eingliederungshilfe) aufgreifen und diese auf den konkreten Fall bezogen berücksichtigen können. Ȥ Aus den Erfahrungen der Kinderschutz-Zentren kommen anfragende Fachkräfte mit ganz verschiedenen inhaltlichen Anliegen und Anlässen in eine solche Fachberatung. Meist sind es nicht klar definierte Gefährdungssituationen, sondern eher Hinweise auf Verhaltensweisen oder Sorgen, die sich Fachkräfte um ein Kind machen. Oder es sind Fragen, wie ein bevorstehendes Elterngespräch zu führen sei, oder auch ein eher allgemeiner Beratungswunsch zu einem »schwierigen Fall«. Die Anlässe unterscheiden sich aber auch hinsichtlich der möglichen Gewaltformen. Wegen einer besonderen Dynamik und einer hohen emotionalen Aufladung sowie der häufig unklaren Anhaltspunkte stellen in der Fachpraxis Einschätzungen von sexueller Gewalt beispielsweise andere Anforderungen an den Beratungsprozess als Konstellationen körperlicher Gewalt oder der Vernachlässigung, gerade was die Abklärung von Vermutungen in diesem Kontext betrifft (Nowotny u. Richter-Unger, 2022, S. 5). Gleichwohl sind in konkreten Fallverläufen auch immer wieder Überlagerungen verschiedener Gewaltformen zu beobachten. Da ein solches komplexes Wissen nie allein von einer Person vereint werden kann, bedeutet »insoweit erfahren« auch: »insoweit spezifisch problemerfahren« in Bezug auf Beratungsanlässe, Fallkonstellationen und Gewaltformen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit des kooperativen Zusammenwirkens divers spezialisierter »insoweit erfahrener« Fachkräfte. Ȥ Schließlich gelingen Fachberatungsprozesse nur dann, wenn die beratende Fachkraft über entsprechende beraterische Kompetenzen im Kontakt mit anderen Fachkräften verfügt, also auch »insoweit beratungserfahren« ist. Die Praxis der Qualifizierung zeigt, dass der damit verbundene Rollenwechsel von der fallbearbeitenden zur fallberatenden Fachkraft einen umfangreichen Lernprozess umfasst, in dem neben der entsprechenden Haltung auch methodische und beraterische Kompetenzen zur Unterstützung der anfragenden Fachkraft und zur Einbeziehung anderer Expert:innen erlernt werden müssen – sofern sie nicht bereits vorhanden sind.
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Die besondere Herausforderung im angerissenen Fall besteht aber vor allem darin, das Wissen um kindliche Entwicklung sowie um die möglichen Gefährdungen mit den beeinträchtigungsspezifischen Faktoren zusammenzubringen. Hierbei ist in Betracht zu ziehen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen wesentlich häufiger von Gewalt und Vernachlässigung betroffen sind als Kinder ohne Behinderungen (vgl. hierzu anhand internationaler Studien: Bange, 2020). Sie sind in ihrer Artikulation oftmals weniger selbstwirksam und benötigen spezifische und intensivere Formen des Kontakts und der Gesprächsführung (vgl. Kindler, Witte, Bovenschen u. Derr, 2021), sodass wie im Fallbeispiel ein Sichöffnen gelingt. Insofern ist es bedeutsam, das Bild der Beeinträchtigung/Behinderung und seiner familialen Dynamik möglichst präzise zu zeichnen, um daran anschließend passende Formen des Kontaktaufbaus zu den Eltern und des Kontakthaltens zum Kind zu erzielen. Im Fallbeispiel wäre sicher zu klären, ob im weiteren Prozess auch andere, spezialisierte Fachkräfte hinzuzuziehen sind. Fachliche Aufgaben einer insoweit erfahrenen Fachkraft (unter besonderer Berücksichtigung kooperativer Aspekte) Einem besseren Überblick über die konkreten Aufgaben im Tätigkeitsfeld einer insoweit erfahrenen Fachkraft soll Tabelle 1 dienen (überarbeitet von Heinitz u. Slüter, 2018, S. 47 f.; vgl. für Fälle sexueller Gewalt: Nowotny u. Richter-Unger, 2022, S. 21 ff.). Dabei werden sowohl handlungsmethodische Arbeitsschritte und Aufgaben im Kontext einer Gefährdungseinschätzung (vgl. hierzu Schone, 2020; Gerber u. Kindler, 2020) als auch darauf bezogene bedeutsame Aspekte der Kooperation in den Blick genommen.
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Tabelle 1: Die fachlichen Aufgaben, damit verbundene Arbeitsschritte und notwendige Kompetenzen der insoweit erfahrenen Fachkraft bei der Fachberatung in Fällen von Hinweisen auf Gewalt an Kindern und Jugendlichen Fachliche Aufgabe
Arbeitsschritte zur Umsetzung
Beratungskompetenzen und Qualitätskriterien in der Kooperation
Orientierung schaffen, Informations- und Datensammlung
– Rollen- und Auftragsklärung (Kontraktgestaltung) – Hilfekontextklärung (Einordnung in das entsprechende Handlungsfeld, z. B. Schule) – Informationen und Hinweise aus unterschiedlichen Perspektiven aufnehmen
– Klarheit über eigene Aufgaben; Aufträge anderer Akteure und deren fachliche Möglichkeiten kennen und kommunizieren – fachspezifisches Wissen über Kontexte der anfragenden Institution und anderer Beteiligter – Zugänge zu und Vernetzung mit anderen Einrichtungen im Sozialraum und Kooperation mit anderen Fachberatungsstellen mit entsprechender Expertise (z. B. im Kontext sozial-emotionaler Behinderung)
Fallverstehen fördern und erste Problem- und Ressourcenanalyse durchführen
– Fall strukturieren, Fallverstehen fördern – Problem- und Ressourcenanalyse durchführen
– Beratungskompetenz zur Einordnung der bisherigen Familienund Hilfegeschichte – Einbeziehen von Wissen und ggf. Hinzuziehen weiterer Fachkräfte mit spezifischem Kontextwissen zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung (z. B. in Form eines Tandemmodells der Fachberatung)
Erste Gefährdungs- und Risikoeinschätzung vornehmen
– Einschätzung von Gefährdung und von Risiken auf der Basis aktuell vorliegender Informationen und Sichtweisen
– Wissen und Beratungskompetenzen zur Herausarbeitung der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen
Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Prozess ermöglichen und sichern
– Beratung zur Gestaltung angemessener Settings für Kinder/Jugendliche und zur Gesprächsführung mit Kindern/Jugendlichen
– Beratungskompetenzen zur Gestaltung kindgerechter Settings und zu Gesprächstechniken mit Kindern und Jugendlichen
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Fachliche Aufgabe
Arbeitsschritte zur Umsetzung
Beratungskompetenzen und Qualitätskriterien in der Kooperation
Beteiligung von Eltern im Prozess ermöglichen und sichern, Kontakt und Beziehungsgestaltung in Krise und Konflikt
– Kontakt zu Eltern in Konflikten vorbereiten – Beziehungsaufnahme gestalten und unterstützen – Veränderungsbereitschaft und Veränderungs-möglichkeiten einschätzen
– Beratungskompetenzen zum Umgang mit Krisen und Krisendynamik, zum Umgang mit Abwehr und Widerstand – Beratungskompetenz zur Unterstützung schwieriger und konflikthafter Gespräche und zur Einschätzung von Veränderungs-möglichkeiten
Erneute Risikound Gefährdungseinschätzung
– Berücksichtigung des kindlichen Verhaltens und der Problemwahrnehmung der Eltern
– Kompetenzen im Umgang mit Dissens bei Einschätzungen, bezogen auf das Kindeswohl
Hilfeideen entwickeln und auf Hilfen hinwirken
– Ideen zur Entwicklung tragfähiger Hilfen entwickeln – Gespräche mit Eltern zum Finden passender Hilfen anregen und methodisch vorbereiten – Informationen zu möglichen Hilfeansätzen und Zuständigkeiten bündeln
– Beratungskompetenzen und Wissen um Hilfemöglichkeiten, Aufgaben und Grenzen der unterschiedlichen Hilfeeinrichtungen und Berufssysteme (z. B. im Kontext der Eingliederungshilfe) – Beratungskompetenzen zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt als Partner im Hilfeprozess – Beratungskompetenz zu anderen spezifischen Fragestellungen in der Arbeit mit anderen Institutionen (z. B. bei der Beratung zur Frage einer Strafanzeige)
Dokumentation, Evaluation, Qualitätssicherung und Fehlerunter-suchung
– Prozessdokumentation – (Selbst-)Evaluation – Qualitätssicherung und Fehleruntersuchung
– Bewertungsmaßstäbe und Prozessergebnisse dokumentieren und Kompetenzen im Umgang mit Schwierigkeiten und Fehlern im Fallverlauf und deren Thematisierung – Erfahrungen mit praktikablen Evaluationsinstrumenten der Prozess- und Selbstevaluation
Fallstricke in der Fachberatung: Wie man als insoweit erfahrene Fachkraft am effektivsten scheitert Am effektivsten scheitert der Beratungsprozess vor allem auf den in Tabelle 2 dargestellten Ebenen und entlang der darin benannten Faktoren unter besonderer Berücksichtigung der Fallstricke in der Kooperation mit anderen Akteur:innen und Einrichtungen.
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Tabelle 2: Fallstricke in der Fachberatung durch die insoweit erfahrene Fachkraft Die insoweit erfahrene Fachkraft verfügt über kein klares Rollenprofil.
– Die insoweit erfahrene Fachkraft verfügt über keine spezifische Qualifizierung. – Sie kennt die anfragende Fachkraft aus dem gleichen Arbeitsfeld, ist möglicherweise sogar in leitender Verantwortung, sie kennt auch den Fall, über den beraten werden soll. – Sie übernimmt selbst Fallverantwortung und führt Entscheidungen aktiv herbei, ohne eine besonnene Distanz zu wahren; Dissens wird nicht thematisiert.
Die insoweit erfahrene Fachkraft berät ohne spezifisches Wissen und Beratungskompetenzen
– Die insoweit erfahrene Fachkraft verfügt über keine eigene Fallerfahrung, kein spezialisiertes Wissen zu Ursachen, Formen und Folgen von Kindeswohlgefährdung, kann Risiko- und Schutzfaktoren nicht ordnen und gewichten und sie in den Prozess der Gefährdungseinschätzung einordnen. – Die insoweit erfahrene Fachkraft bewertet vorliegende Informationen ohne weitere Klärung, Prüfung und Kontextualisierung und führt den Beratungsprozess nicht bis zum Ende durch (s. Tabelle 1).
Die Beratung wird ohne die Perspektive der Kinder, der Jugendlichen und Eltern vorgenommen
– Die insoweit erfahrene Fachkraft blendet die oftmals konfliktträchtigen Gespräche und Beteiligungsprozesse mit den familialen Akteuren aus; die Fachberatung wird zur Legitimation der Fachkräfteeinschätzung. – Insbesondere die Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen werden gemäß ihrem Entwicklungsstand nicht in den Beratungsprozess einbezogen und ihre Perspektive wird darin nicht ausreichend abgebildet und gesichert.
Die Einbeziehung des Jugendamtes erfolgt zu schnell oder zu langsam
– Emotionale Beteiligung und Handlungsdruck leiten das Handeln im Fall, und das Jugendamt wird unmittelbar informiert. – Unklarheiten und Unsicherheiten über die Situation und die Handlungsmöglichkeiten, um die Gefahr mit eigenen Mitteln abzuwenden, führen zur Verschleppung von hilfreichen Handlungsschritten.
Weiterführende und spezialisierte Expertise ist nicht verfügbar
– In der Kommune/sozialräumlichen Region sind keine spezifischen Kinderschutzfallberatungskompetenzen verfügbar. – Die insoweit erfahrene Fachkraft ist »allwissend« und agiert nicht in einem organisierten Pool/Netzwerk aus unterschiedlich spezialisierten Expert:innen anderer Einrichtungen und Berufsgruppen mit entsprechend diversem Wissen und Expertisen (Medizin, Eingliederungshilfe, Schule etc.).
Unklare und unzureichende Rahmenbedingungen
– Die Tätigkeit unterliegt keiner dauerhaften Qualitätssicherung und der Analyse spezifischer Fallkonstellationen, die beraten werden. – Die Tätigkeit wird zusätzlich und ohne eigene zeitliche Ressourcen und Rahmenvertrag ausgeübt.
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Von der insoweit erfahrenen Fachkraft zur »insoweit erfahrenen und kooperativen Fachberatungsstruktur« Die Entwicklung der insoweit erfahrenen Fachkraft kann insofern als ein Erfolgsmodell (vgl. Heinitz u. Slüter, 2018) betrachtet werden, als damit die Möglichkeit unterstützender Reflexion und Beratung bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung regelhaft verfügbar und als fachlicher Standard etabliert ist. Die Ausgestaltung dieses Leistungsanspruchs erweist sich jedoch als äußerst heterogen und wird dabei stark von lokalen Rahmenbedingungen und von träger- bzw. einrichtungsbezogener Organisation bestimmt. Angesichts der stetig steigenden Aufgaben in diesem Handlungsfeld, vor allem aber aufgrund der vielfältigen Problemkontexte, in denen die Gefährdungen von Kindern betrachtet und beraten werden müssen (z. B. im Kontext psychischer Erkrankungen und Sucht, unterschiedlicher Familienkonstellationen oder früher Bindungsstörungen), aber auch vor dem Hintergrund der Unterschiedlichkeit der anfragenden Fachkräfte (aus Medizin und Schule, aus Familienhilfe, Kindertageserziehung und anderen Beratungseinrichtungen) erscheint es dringend erforderlich, die bewährte Struktur der Erbringung von Fachberatung zu überdenken. Die Ausweitung des Aufgabenspektrums stellt das individuell- und fachkraftorientierte Modell der Fachberatung im Kinderschutz infrage, da Handlungsfelder, Problemkontexte und damit verbundene Aufgaben äußerst divers sind und qualitative Fachberatungspraxis nur im Zusammenwirken verschieden spezialisierter Fachkräfte gelingt. Insofern muss es in Zukunft sicher verstärkt darum gehen, geeignete und breit verfügbare Beratungsstrukturen zu entwickeln, also auch in ländlichen und strukturschwachen Regionen, die eine Fachberatung als »insoweit handlungsfeld-, problem- und beratungserfahren« kennzeichnen lässt. Hier gibt es in der Praxis bereits viele lokale Lösungen und sozialräumlich organisierte Praxismodelle, die jedoch nicht überall und in gleichem Maße zur Verfügung stehen (s. als gelingendes Beispiel die Hamburger Umsetzung der Fachberatung im Handlungsfeld Schule zwischen der senatorischen Behörde, Schulen und Kinderschutz-Zentren, vgl. Slüter, 2016; weiterführend zur Kooperation von Schule und Kinder- und Jugendhilfe und zur Rolle der insoweit erfahrenen Fachkraft: Bathke, Bücken u. Fiegenbaum, 2019, S. 107 ff.). Eine solche Fachberatung bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung muss daher weiter institutionalisiert und an bestehende Strukturen der Fachberatung angegliedert werden – einzelne und losgelöst agierende »InsoFas« jedenfalls gehören der Vergangenheit an. Zukünftige Herausforderungen bestehen in Fragen der Schärfung von Qualitätsstandards in der Qualifizierung (vgl. Geschäftsstelle der Lügde-Kommission u. Landespräventionsrat Niedersachsen,
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2020), aber auch der Organisations- und Qualitätsentwicklung unter den Maßgaben eines professionell und lebensweltlich vernetzten kooperativen Kinderschutzes. Literatur Bange, D. (2020). Kinder mit Behinderungen und Kinderschutz – ein vernachlässigtes Thema. Forum Erziehungshilfen, 3, 178–184. Bathke, S., Bücken, M., Fiegenbaum, D. (2019). Praxisbuch Kinderschutz interdisziplinär. Wie die Kooperation von Schule und Jugendhilfe gelingen kann. Wiesbaden: Springer. DKSB Landesverband NRW (2014). Fachberatung im Kinderschutz. Expertise zur Praxis der Kinderschutzfachkräfte in NRW. Zugriff am 15.11.2021 unter https://www.kinderschutz-in-nrw.de/fileadmin/user_upload/Materialien/Pdf-Dateien/Fachberatung_im_Kinderschutz.pdf. Franzheld, T. (2020). Multi- und interprofessionelle Kooperation im Kinderschutz. Empirische Erkundungen und heuristische Überlegungen. In H. Kelle, S. Dahmen (Hrsg.), Ambivalenzen des Kinderschutzes (S. 151–170). Weinheim: Beltz Juventa. Gerber, C., Kindler, H. (2020). Kriterien einer qualifizierten Gefährdungseinschätzung. Expertise. München u. Köln: DJI/NZFH. Geschäftsstelle der Lügde-Kommission, Landespräventionsrat Niedersachsen (Hrsg.) (2020). Abschlussbericht der Lügde-Kommission beim Landespräventionsrat vom 3. Dezember 2020. Zugriff am 15.11.2021 unter https://www.luegdekommission-nds.de/html/download. cms?id=11&datei=Abschlussbericht-Luegdekommission.pdf. Heinitz, S. (2012). Fehler als Anlässe zu lernen? Fachberatung im Kinderschutz und die Aufgaben der »insoweit erfahrenen Fachkraft« nach dem Bundeskinderschutzgesetz. Das Jugendamt, 11, 559–562. Heinitz, S. (2020). Wie Kinderschutz gemacht wird. Eine Rekonstruktion professioneller Selbstverständnisse. Weinheim: Beltz Juventa. Heinitz, S., Slüter, R. (2018). Von der Notlösung zum Erfolgsmodell?! Erfindungen, Fallstricke und Perspektiven im Kinderschutz am Beispiel der Entwicklung der »Insoweit erfahrenen Fachkraft«. In M. Böwer, J. Kotthaus (Hrsg.), Praxishandbuch Kinderschutz (S. 44–58). Weinheim: Beltz Juventa. Kindler, H., Witte, S., Bovenschen, I., Derr, R. (2021). Neue Regelungen im Kinderschutz. Forum Jugendhilfe, 4, 10–14. Landesjugendamt Westfalen (LWL), Landesjugendamt Rheinland (LVR) (2020). Grundsätze und Maßstäbe zur Bewertung der Qualität einer insoweit erfahrenen Fachkraft. Zugriff am 15.11.2021 unter https://ratsinformation.stadt-koeln.de/getfile.asp?id=805908&type=do. Meysen, T., Lohse, K., Schönecker, L., Smessaert, A. (2021). Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG. Heidelberg: Nomos. Nowotny, E., Richter-Unger, S. (Hrsg. BAG der Kinderschutz-Zentren) (2022). Schlüsselqualifikationen von »insoweit erfahrenen Fachkräften« in der Fachberatung bei sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Eine Handreichung für die Kinderschutzpraxis. Köln. Zugriff am 10.06.2022 unter https://www.kinderschutz-zentren.org/Mediengalerie/1644306293_-_kiz_praxishandreichung_2022_online.pdf. Scheiwe, K. (2013). Das Kindeswohl als Grenzobjekt – die wechselvolle Karriere eines unbestimmten Rechtsbegriffs. In R. Hörster, S. Köngeter, B. Müller (Hrsg.), Soziale Welten und ihre Übergänge (S. 209–232). Wiesbaden: Springer VS. Schone, R. (2020). Zwischen Diagnose und Prognose – Zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdung. In S. Ader, C. Schrapper (Hrsg.), Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe (S. 175–182). München: utb. Slüter, R. (2016). Die Beratung von Berufsgeheimnisträgern in der Schule nach § 4 KKG. Eine Aufgabe für schulische Kinderschutzfachkräfte und insoweit erfahrene Fachkräfte der Jugendhilfe. Sozial Extra, 40, 38–41.
9 Methodische Beispiele im Netzwerk Kinderschutz
9.1 Familienrat im Kinderschutz – Reflexionen aus der Praxis Heike Hör
Der folgende Artikel bietet eine kurze Einführung in den Familienrat anhand eines praktischen Beispiels, einen Überblick über die Arbeit des FamilienRat-Büros Stuttgart, praktische Tipps zur Arbeit mit dem Familienrat im Kinderschutz und ein Interview mit einer im Kinderschutz und im Familienrat sehr erfahrenen leitenden Fachkraft, Sabina Schaefer, Leiterin des Stuttgarter Beratungszentrums Jugend und Familie Mitte, Nord. »Peters Mama hat eine Depression und kann nicht allein für ihn sorgen« – ein Beispiel Peters Mutter, Frau Baur, leidet unter einer psychischen Störung in Form einer Depression. Sie wartet derzeit auf einen Therapieplatz in einer Mutter-Kind- Station. Die Eltern von Peter leben getrennt, sein Vater, Herr Hoch, besucht Peter regelmäßig. Frau Baur liebt ihren Sohn sehr, aber der Alltag mit dem lebendigen Zweijährigen bringt sie immer wieder an die Grenzen dessen, was für sie leistbar ist. Jüngst kam es zu einer Situation, in der Gefahr für Peter nur mithilfe Dritter abgewendet werden konnte. Darüber hat sich Frau Baur so erschrocken, dass sie einen psychischen Zusammenbruch erlitt und in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen wurde. Peters Vater kümmert sich, unterstützt von den Großeltern und seiner Schwester, um Peter. Es muss nun geklärt werden, wie es weitergehen soll. Der zuständige Sozialarbeiter des Beratungszentrums schlägt einen Familienrat vor, um gemeinsam mit allen Beteiligten einen Plan für Peters Zukunft zu erstellen, und formuliert den Auftrag wie folgt:
Familienrat im Kinderschutz
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Die Frage für den Familienrat lautet: Wie und wo soll Peter leben? Die Mindestanforderung zum Kinderschutz lautet: Peter kann nicht mehr bei der Mutter leben, bis sie wieder stabil ist. Der Umgang zwischen Mutter und Sohn muss von einer weiteren erwachsenen Person gesichert werden. Als Stärken sieht der Sozialarbeiter, dass Frau Baur ihren Sohn sehr liebt und gut versorgt – solange es ihr selbst gut geht – und auch, dass sie zu ihrer psychischen Störung steht und den Willen hat, wieder gesund zu werden. Dass Peters Vater sich sehr für ihn engagiert und dabei von den Großeltern und seiner Schwester, Peters Tante, unterstützt wird, ist ebenfalls eine Ressource. Peter selbst ist ein aufgeweckter, gut entwickelter Zweijähriger. Bei der Vorbereitung des Familienrats wird die Familie von einer neutralen Familienratkoordinatorin unterstützt, die mit allen Beteiligten Gespräche führt: Peters Mutter will unbedingt an einer guten Lösung für Peter mitwirken, aber die Vorbereitungsgespräche fallen ihr aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht leicht. Als Unterstützung holt sie sich deshalb ihre Freundin zu den Terminen. Für den Familienrat notieren sie gemeinsam alles, was Frau Baur ihrer Familie dringend sagen möchte: Sie will ihren Sohn bei sich haben und das Sorgerecht für ihn behalten. Nach einigem Zögern entscheidet sie sich zudem, einen früheren Partner sowie ihren ehemaligen Chef als weitere Unterstützer für sich zum Familienrat einzuladen. Sie hofft, dass es ihr so besser gelingt, ruhig zu bleiben. Frau Baurs Mutter und ihre Tante, die dem Familienrat zunächst aufgeschlossen gegenüberstanden, haben inzwischen große Vorbehalte. Sie sind mit den Anforderungen des Jugendamts nicht einverstanden, sehen Frau Baur ungerecht behandelt und sagen ihre Teilnahme ab. Auf Frau Baurs Wunsch bekommen beide dennoch eine Einladung zum Familienrat von der Koordinatorin zugeschickt. Der Familienrat findet in den Nebenräumen einer Kirchengemeinde statt. Die Familie hat für Getränke und Essen gesorgt. Neben Peters Eltern beteiligen sich die Großeltern und die Tante väterlicherseits. Frau Baur wird von ihrer Freundin, ihrem ehemaligen Chef und ihrem Freund unterstützt. Peter ist beim Familienrat mittels einer großen Fotografie anwesend, und seine Tante übernimmt die Aufgabe, seine Perspektive in den Diskussionen der Erwachsenen nicht aus den Augen zu verlieren. Überraschend für alle erscheinen Großmutter und Tante mütterlicherseits nun doch, sie stehen für alle spürbar unter großem Druck. Die Familienratkoordinatorin moderiert den Tag und begrüßt alle herzlich. In der Informationsphase stellt der Sozialarbeiter die aktuellen Informationen, die psychiatrische Stellungnahme und die Mindestanforderung vor. Die Familie hat die Gelegenheit, Verständnisfragen zu stellen. Die Informationen der Fachleute dienen der Vorbereitung der privaten Familienzeit, in der die Familie die Informationen untereinander diskutieren wird, um sich dann eine Meinung zu bilden und
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einen Plan zu machen. Eine Diskussion zwischen Fachleuten und Familie findet bei einem Familienrat nicht statt. Der Großmutter fällt es sehr schwer, ihren Ärger zurückzuhalten und die vorgebrachten Informationen nicht sofort zu diskutieren. Ruhig und bestimmt weist die Familienratkoordinatorin auf den Ablauf hin, und der Sozialarbeiter bietet der Großmutter einen Gesprächstermin zur Klärung ihrer Fragen an. Die Wogen glätten sich. Zu Beginn der privaten Familienzeit verlassen die Fachleute und die Familienratkoordinatorin den Raum, nachdem der Ablauf und die Gesprächsregeln noch einmal erläutert wurden. Die Stimmung ist erwartungsvoll, allerdings auch spürbar angespannt. Nach einer Weile hört die Koordinatorin die Familie durch die Tür hindurch gemeinsam lachen. Das Eis scheint gebrochen und die Familie erarbeitet einen gemeinsamen Plan. Als dieser drei Stunden später vorgestellt wird, ist die Stimmung zur Freude aller Beteiligten sehr gelöst. Der Plan: Die Familie hat entschieden, dass Peter in Zukunft beim Vater leben soll. Er wird in der Sorge um Peter aktiv von den Großeltern unterstützt. Peter wird in einer Kita angemeldet, damit der Vater seine Arbeit wieder aufnehmen kann. Frau Baur konzentriert sich auf ihre Therapie und Gesundung. Sie und Peter sehen sich jedes zweite Wochenende, und mittwochs holt sie ihn von der Kita ab. Sie wird dabei von ihrer Freundin begleitet. Montags geht Frau Baur mit Peter und seiner Tante zum Kinderturnen. Außerdem beschließt die Familie, Peters dritten Geburtstag gemeinsam zu feiern. Die Fachkräfte stimmen dem Plan zu, da er ihre Mindestanforderungen erfüllt. Inzwischen ist einige Zeit vergangen; die Nachfrage hat ergeben: Peter geht es gut beim Vater, die Kontakte mit der Mutter klappen, die Tante und die Großeltern sind weiter engagiert. Das gemeinsame Geburtstagsfest hat stattgefunden. Frau Baur fühlt sich besser und hat das Angebot ihres ehemaligen Chefs, ihre Lehre doch noch abzuschließen, angenommen. Nur der gemeinsame Besuch des Kinderturnens hat bisher nicht geklappt.
Das Stuttgarter FamilienRat-Büro Im April 2010 startete das Projekt »Einführung FamilienRat« in Stuttgart, das sich am Modell der »Eigen-Kracht-Konferenzen« in den Niederlanden orientiert. Im März 2014 wurde es erfolgreich in den Regelbetrieb überführt. Die bisherigen FamilienRäte wurden überwiegend positiv bewertet: Familien konnten sich mithilfe von Verwandten und Freund:innen in einem höheren Maße selbst helfen, als dies anfangs zu vermuten war. Sie fanden oft auch in konflikthaften Situationen zu gemeinsamen Entscheidungen, denen die Fachkräfte ausnahmslos zustimmen konnten. Waren professionelle Hilfen erforderlich, konnten sie passgenauer erbracht
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werden. So wurden Familien gestärkt und ihre Selbsthilfe wurde aktiviert, Jugendhilfe konnte begrenzt werden. Es liegt eine detaillierte Evaluation vor. Es wurden 511 FamilienRäte gestartet, davon sind 14 aktuell in Vorbereitung und 497 abgeschlossen. Es gab 274 durchgeführte FamilienRäte, 138 Lösungen/Pläne bereits während der Vorbereitung, 85 Entscheidungen für andere Lösungswege und damit den Abbruch der Vorbereitung. Das Alter der Kinder lag zischen null bis zum Alter junger Volljähriger, davon waren 55 % männlich und 45 % weiblich. Es gab zu 40 % Fragen zum Kinderschutz. Am FamilienRat nahmen im Durchschnitt elf Menschen teil, davon waren 2,3 Fachleute und 8,1 Familie und Freund:innen. Die FamilienRäte dauerten zwischen 1,5 und 9,5 Stunden. »Ich würde anderen einen FamilienRat empfehlen«, sagen 80 % der Beteiligten und geben ihrem FamilienRat die Note 2. Familienrat im Kinderschutz Family Group Conferencing, der Familienrat, ist das Herzstück des Kinderschutzes in Neuseeland. Ein Familienrat wird dort in allen Fällen, in denen eine Kindeswohlbeeinträchtigung befürchtet wird oder eine Fremdunterbringung ansteht, und in Fällen der Jugendgerichtshilfe verpflichtend durchgeführt. »Die Intention des Gesetzes ist, die Familie zu befähigen, die Verantwortung für das Wohl des Kindes so umfassend wie möglich zu übernehmen und die Eingriffe des Staates auf das Minimum zu reduzieren, das notwendig ist, um den Kinderschutz zu sichern«, so Peter Boshier (2006). Ein Familienrat bietet die Chance, die weitere Familie in die Sicherung des Kindeswohls einzubeziehen. Durch das Bekanntwerden der Problematik im Familienkreis erhöht sich die Chance auf Schutz durch Familienmitglieder und Zugang zu relevanten Informationen aus der weiteren Familie; es besteht die Aussicht auf mehr Hilfeoptionen, auch im Familienkreis; die Kinder er- oder behalten Bezüge in der Familie; im Rahmen des Familienrats entsteht eine Dynamik: weg von der Konfrontation Jugendamt – Eltern, hin zur Diskussion in der Familie; professionelle Unterstützung wird eher akzeptiert und kann so besser wirken; Veränderung gelingt eher, wenn lebensweltliche und professionelle Ressourcen gut kombiniert werden. Wichtige Punkte für die Praxis Die Aufgaben im Kinderschutz durch den Sozialen Dienst des Jugendamts, also die Sicherung des Kindeswohls und die Unterstützung bei der Veränderung der Situation, bleiben unberührt. Ist in einer akuten Situation die Sicherung
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eines Kindes notwendig, so findet diese unverzüglich statt. Ein Familienrat kann dann helfen, Situationen zu klären, Ressourcen und Optionen im Umfeld mit einzubeziehen und tragfähige Entscheidungen für die Zukunft des Kindes zu treffen. Im Vorfeld des Familienrats formuliert das Jugendamt Mindestvoraussetzungen, die im Sinne des Kindeswohls erfüllt sein müssen. Es informiert die Familie auch darüber, was passiert, wenn diese nicht eingehalten werden und welche familiengerichtlichen Maßnahmen drohen, wenn die Familie sich nicht auf eine für das Kind gute Lösung einigen kann. Die Mindestanforderung wird von den für den Kinderschutz zuständigen Fachkräften des Sozialen Dienstes gestellt. Mindestanforderungen sind alle Anforderungen, die zum Schutz des Kindes, zur Not auch gegen den Willen der Beteiligten, eingefordert werden bzw. dem Familiengericht vorgetragen werden müssen. Die Fachkraft im Sozialen Dienst braucht Klarheit über die Kontrolle der gestellten Mindestanforderungen. Sie macht der Familie im Vorfeld auch deutlich, welche Alternativen bestehen, falls der Familienrat keine Einigung erzielt – gegebenenfalls also eine Entscheidung durch das Familiengericht. Im Familienrat trägt die zuständige Fachkraft ihre Informationen und Mindestanforderungen vor und beantwortet Verständnisfragen. Die Fachkraft hat Anforderungen zum Kinderschutz, über die sie informiert. Diese stehen nicht zur Diskussion. Häufig sind Familien anderer Meinung als die Fachleute, schließlich gibt es in jeder Situation unterschiedliche Perspektiven und Rollen. Wie Familie und Freund:innen die Situation und die Sichtweise der Fachleute einschätzen, werden sie in der privaten Familienzeit diskutieren, nicht mit den Fachleuten. Das ist für viele Menschen eine sehr ungewöhnliche Situation, es ist das Besondere am Familienrat. In der Planphase stellt die Familie ihre Lösungsvorschläge vor. Der Plan wird vor Ort von der zuständigen Fachkraft abgenommen. Wichtig ist, dass sich die Fachkraft über die Überprüfung ihrer Mindestanforderung im Klaren ist. Sie stimmt dem Plan nur dann zu, wenn diese Mindestanforderung erfüllt ist. Alle weiteren Lösungsvorschläge akzeptiert sie, auch wenn sie den eigenen Lösungsvorstellungen nicht entsprechen. Stufenweise Pläne zur Absicherung der Tragfähigkeit von Absprachen zum Kinderschutz sind hilfreich. Wenn die Mindestanforderungen nicht erfüllt sind, stimmt die Fachkraft dem Plan nicht zu. Die Familie bzw. der Rat erhält die Gelegenheit, sich erneut zurückzuziehen und weiter zu beraten. Sollten die Anwesenden mehr Zeit oder andere Informationen benötigen, kann auch ein weiterer Termin vereinbart werden. Unterschiedliche Ansichten und Ideen können dem Familiengericht zur Beurteilung vorgelegt werden, sollte es keine Einigung geben.
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Perspektive einer erfahrenen Fachkraft: Interview mit Sabina Schaefer, Leiterin des Stuttgarter Beratungszentrums Jugend und Familie Mitte, Nord Das Interview führte die Journalistin Eva Schlosser, zuerst veröffentlicht wurde es im Jubiläumsnewsletter des FamilienRat-Büros Stuttgart im Oktober 2021. Frau Schaefer, seit wann sind Sie mit dem FamilienRat vertraut? Ich war von Anfang an mit dabei. Tatsächlich habe ich schon recht früh erste Fachartikel zum Thema gelesen. Die Idee hat mich gleich sehr überzeugt. In der Beratung beschäftigt man sich immer mit der Frage, wie man die Klient:innen gewinnen kann. Wie erreiche ich es, dass sie ein eigenes Verständnis für ihre Problematik bekommen, und wie kann ich sie motivieren, dass sie sich selbst für die Problemlösung zuständig fühlen? Sehen die Klient:innen selber das Problem oder sind sie der Meinung, dass es mehr von außen definiert wird, etwa von Lehrkräften oder Erzieher:innen? Wann empfehlen Sie in Ihrem Beratungszentrum einen FamilienRat? Wir haben als Standard eingeführt, dass der FamilienRat den Familien immer vorgeschlagen werden muss, wenn es um eine stationäre Unterbringung geht. Das betrifft allerdings nur einen kleineren Teil der Familien, die wir betreuen. Allgemein kann man einen FamilienRat bei vielen Fragestellungen anwenden, etwa wenn es um eine Scheidung geht, um den Streit um die Kinder, wer sie in die Kita bringt und wer sie abholt. Da kommt seitens der Familien oft die Frage, ob nicht jemand von der Jugendhilfe das übernehmen kann. Hier ist es wichtig, zu bremsen und zu sagen, da gibt es doch sicher jemanden aus der Familie, Tante, Opa, der helfen kann. Es geht immer um die Frage: Wie kann die Familie selbst wirksam werden? Also wird von Betroffenen auch gerne die Verantwortung abgegeben, etwa an das Jugendamt, und Sie spielen den Ball wieder zurück? Das ist tatsächlich eine Herausforderung, die Familien darauf anzusprechen, was sie selber hinkriegen können. Es tun sich unter Umständen tolle Möglichkeiten und Personen aus dem Umfeld der Familie auf. So realisieren die Familien dann vielleicht auch ihr eigenes Potenzial … Ja, aber im ersten Moment wollen die Leute eher vermeiden, dass andere von ihren Problemen erfahren. Ein Fallbeispiel: Die Eltern in der Familie hatten sich getrennt. Der Mann war spielsüchtig und die Familie hatte sehr viele Schulden.
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Solche Probleme in der Familie werden verständlicherweise geheim gehalten. Selbst die Kinder wussten nicht genau, warum die Eltern sich getrennt hatten. Im FamilienRat kam dieses Geheimnis erstmals zur Sprache. Auslöser für den Rat war die Tatsache, dass das Kind sehr schlecht gekleidet in die Schule kam. Auch deshalb war es der Mutter peinlich, über ihre Probleme offen zu reden. Beim FamilienRat hat sich dann herausgestellt, dass die Verwandten längst Bescheid wussten. Man kennt das aus eigener Erfahrung, dass man oft von den Problemen anderer weiß, obwohl niemand darüber spricht. Die Scheu, zu sagen, dass man Hilfe braucht, ist für jeden nachvollziehbar. Man glaubt, dass andere denken: Du bist ja selber schuld, da kann man dir auch nicht helfen! Wann würden Sie noch einen FamilienRat empfehlen? Es ist lohnend, das Verfahren im Kinderschutz einzusetzen, beispielsweise wenn eine drogenabhängige Frau ein Kind bekommt, was immer eine schwierige Situation ist. Im FamilienRat wird das Problem der Familie vorgetragen, ebenso die Mindeststandards zum Schutz für das Kind, die aus unserer Sicht gewährleistet sein müssen. In solch einer Situation hat die Jugendhilfe oft mit massivem Widerstand zu rechnen. So kann es passieren, dass die Oma beispielsweise Briefe schreibt, in denen sie sich darüber beklagt, dass es unmenschlich sei, ihrer Tochter das Kind wegzunehmen. Mit der Methode FamilienRat kann man sozusagen mit dem Widerstand gehen, das heißt konkret, die Fachkräfte schildern die Situation und formulieren die Anforderung, dass das Kind keinen Schaden nehmen darf – was die Familie in der Regel genauso sieht –, ferner werden Bedingungen zum Schutz des Kindes benannt und die Familie wird nach ihren Vorschlägen gefragt. Also geht es darum, gemeinsam eine Lösung zu finden? Die Familie hat damit die Möglichkeit und die Chance, Vorschläge zu machen und zu unterstützen. Oft kommt es, wie in diesem Fall, tatsächlich dazu, dass die Familienmitglieder nach einem FamilienRat dann sagen, dass sie keinen Säugling aufnehmen können – weil sie zu alt sind, berufstätig sind oder andere Gründe dagegen sprechen. Es ist wichtig, dass die Familie selbst ein Gespür dafür bekommt, was möglich ist und was nicht, und dies offen ausspricht. Wie geht es in solch einem Fall weiter? Im Einverständnis mit der Familie werden Lösungen im Jugendhilfesystem gesucht, beispielsweise eine Pflegefamilie mit Besuchsrecht für die Mutter oder andere Verwandte. Man muss dem Kind möglichst eine von der ganzen Familie getragene Entscheidung mit auf den Weg geben. Die Frage, warum ein Kind ins Heim muss, warum es niemanden in der Familie gibt, bei dem das Kind leben
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könnte, ist immer zentral, auch für jedes Kind, das sich fragt, warum darf ich nicht daheim sein, warum kann ich nicht bei meinen Eltern leben? Wichtig ist hier die Botschaft, die Familie und Fachkräfte gemeinsam an das Kind vermitteln. Nur so kann sich das Kind auch auf die Hilfe einlassen. Wird der FamilienRat Ihrer Meinung nach ausreichend eingesetzt? Der FamilienRat ist eine gut akzeptierte Methode, an die die Fachkräfte auch selbst denken. Sie wissen, wann sie sie einsetzen können. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich die Fachkräfte damit auseinandersetzen, dass nicht immer sie die richtige Lösung finden können und offen dafür sind, dass es eben manchmal ganz überraschende Lösungen gibt, an die man selbst nicht gedacht hat. Die Offenheit zu haben, auch Impulse jenseits des klassischen Hilfesystems und des professionellen Denkens zuzulassen, ist die große Herausforderung. Ist das denn ein Problem? Fachkräfte haben vermutlich schon von sich selbst das professionelle Bild, nach dem Motto: Wenn die Familien zu mir kommen, erwarten sie auch eine Lösung von mir. Es gehört zu ihren Aufgaben, die Familien in der Beratung darüber zu informieren, welche Hilfsmöglichkeiten es im Jugendhilfesystem gibt. Die Fachkräfte müssen die jeweilige Familie für die Methode FamilienRat gewinnen und mit ihr den Auftrag erarbeiten. Dabei ist es eine Herausforderung, die Problemstellung so genau wie möglich zu erfassen und sich mit der Familie abzustimmen. Die Problembeschreibung muss so formuliert werden, dass die Familie sich in der Beschreibung wiederfindet, aber auch die Fachkräfte ihre Sichtweise und gegebenenfalls Sorgen, etwa in Kinderschutzfällen, deutlich zum Ausdruck bringen. Wie meinen Sie das? Im Fall mit dem spielsüchtigen Vater beispielsweise musste im Auftrag für den FamilienRat mit der Mutter offengelegt werden, dass sie sich unter anderem wegen der Suchtproblematik getrennt hat. Mit dem Resultat, dass auch die Kinder und der Rest der Familie es erfahren haben. Man kann nicht um den heißen Brei herumreden, sondern man muss auf eine wertschätzende, akzeptierende Art die Problemstellung beschreiben. Von den Fachkräften erfordert dies eine sehr hohe Beratungskompetenz, eine große Sensibilität und Professionalität. Gibt es auch Nachteile, was die Durchführung eines FamilienRats betrifft? Der FamilienRat ist ein Verfahren, bei dem sich die Beteiligten sehr gut selber schützen können. Man kann jederzeit sagen, man möchte den FamilienRat doch nicht.
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Lassen sich die Vorgaben, auf die man sich im FamilienRat geeinigt hat, überhaupt richtig kontrollieren? Das ist eine große Herausforderung: Wie kontrollieren die Fachkräfte, dass der Absichtserklärung auch Taten folgen? Es muss erarbeitet und konkret benannt werden, woran man feststellt, ob sich tatsächlich Menschen aus dem Umfeld zuverlässig um das Kind kümmern. Bei Säuglingen und Kleinkindern gehen wir natürlich hundert Prozent auf Nummer sicher. Die Vorgaben zum Kinderschutz müssen eingehalten werden. Welchen FamilienRat haben Sie in besonderer Erinnerung? Es gab vor Kurzem einen mit einer geistig behinderten Mutter. Sie lebte in einer Spezialeinrichtung, ihr Kind ist nicht behindert. Es stellte sich die Frage, wie lange das Kind bei der Mutter, die schon sehr lange in der Einrichtung lebte, bleiben kann. Deshalb wurde die Herkunftsfamilie aktiviert, die außerhalb von Stuttgart lebt. Es hat sich ein riesiges Unterstützungsnetz aufgetan. Die Familie hat der Frau eine Wohnung besorgt, einen Kindergartenplatz für das Kind gesucht und einen Arbeitsplatz für die Mutter beschafft. In ein normales Wohnumfeld zu kommen, war für die Mutter und das Kind ein großes Glück! Literatur Boshier, P. (2006). Family Group Conferences and the Judicial Process: What Judgestake notice of, and some new thoughts. Beitrag im Rahmen der Te Hokinga Mai Conference, Wellington, Neuseeland, 28. November 2006.
9.2 Systemisch orientierte Fallwerkstätten Birgit Maschke »In einer systemischen Falluntersuchung fungiert ein konkreter Fall als Fenster, das den Blick auf das System freigibt – sie bietet die Möglichkeit, das ganze System zu studieren und nicht nur die Mängel zu sehen, sondern auch das, was gut funktioniert.« (Vincent, 2004, S. 5)
Die Regierungschefs der Bundesländer fassten 2008 beim zweiten Kinderschutzgipfel den gemeinsamen Beschluss, das Thema »Lernen aus Fehlern« als Strategie für die Qualitätsentwicklung im Kinderschutz stärker in den Fokus zu nehmen.
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Seither werden an verschiedenen Orten der Bundesrepublik Erfahrungen mit verschiedenen methodischen Formaten zur Fallevaluation gesammelt.1 Systemisch orientierte Methoden fokussieren hierbei auch auf das Lernen aus Erfolgen und betonen die Erhöhung der Ergebnisqualität durch Entstehung der Lernergebnisse in einem dialogischen Prozess unter Einbeziehung möglichst vieler direkt am Fallgeschehen beteiligter Personen (vgl. Fish et al., 2008). Im Folgenden wird die dialogisch-multiperspektivische Fallwerkstatt beschrie ben, eine Form der Reflexion von Fallverläufen im Rückblick. Wir können sie auch systemisch orientierte Fallwerkstatt nennen. Zugrunde liegt ein systemisches Fehlerverständnis (s. Kasten) sowie die Überzeugung, dass die Wahrheit 360 Grad hat und wir am ehesten verstehen und lernen können, wenn wir uns in einem komplexen Kinderschutzfall für die verschiedenen Sichtweisen auf das Fallverstehen interessieren und erforschen, was die jeweils »guten« Gründe für die einzelnen Entscheidungen der Beteiligten waren. Diese Falluntersuchung wird in der Regel retroperspektivisch geführt, es wird nach Erfolgsfaktoren ebenso wie nach kritischen Faktoren geforscht und die Regeln fachlicher Kunst in einem gemeinsamen Prozess bewertet. Dabei werden vermeidbare und unvermeidbare Fehler unterschieden.
Systemisches Fehlerverständnis im Kinderschutz Wirkungen von Handlungen und Interventionen sind nicht monokausal begründbar, sondern Ergebnis systemdynamischer Zusammenhänge. Die zentrale Idee des systemischen Ansatzes ist, dass die Leistung eines Einzelnen immer ein Ergebnis sowohl seiner eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse als auch der Strukturen ist, in denen er lebt. Die systemische Fehlerperspektive im Kinderschutz geht davon aus, dass es für jedes Verhalten einer Fachkraft einen aus ihrer Perspektive »guten« Grund gibt. Eine systemisch orientierte Fallreflexion legt den Fokus daher nicht auf den zu identifizierenden vermeintlichen Fehler und damit die Schuldfrage, sondern auf die Ursachen, Hintergründe und Wechselwirkungszusammenhänge, die zu dem nicht erwünschten Ergebnis führten. Ein systemisches Fallverstehen erkennt die Tatsache an, dass
1 Zu nennen sind hier z. B.: Fegert et al. (2008) (Beschreibung mediales Bild deutscher Kinderschutzarbeit 2007–2008); Wolff et al. (2013); Gerber u. Lillig (2018); Schrapper u. Schnorr (2011); Biesel u. Wolff (2014).
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Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und andere Formen der Schädigung im privaten Raum in einer offenen demokratischen Gesellschaft nicht gänzlich verhindert werden können. Gleichzeitig wird bei rückblickend erkennbaren Fehlentscheidungen nach den komplexen Ursache- und Wirkfaktoren geforscht, um gegebenenfalls für die zukünftige gute Fachpraxis daraus zu lernen.
Merkmale einer systemisch orientierten Fallwerkstatt sind zusammengefasst: Ȥ Beteiligte werden schon in der Planungsphase umfassend informiert und beteiligt. Ȥ Wirkungszusammenhänge werden in einem gemeinsamen Prozess erforscht. Ȥ In einem zuvor geschafften sicheren Rahmen werden dialogische Verfahren angewendet. Ȥ Die Einbeziehung aller professionellen und privaten Fallbeteiligten wird angestrebt, unter Beachtung von Datenschutz und Vertrauensschutz wird umgesetzt, was möglich ist. Ȥ Die Ergebnissicherung wird von allen am Prozess Teilnehmenden bestimmt. Ȥ Der:die systemfremde Begleiter:in der Fallwerkstatt ist systemisch geschult und unterstützt den Lernprozess durch das Schaffen und Halten eines kon struktiven Lernklimas. Neben den Vorbereitungen für die sichere Rahmung und dem Einsatz dialogischer Methoden (siehe Kasten) ist wesentliches Merkmal der systemisch orientierten Fallwerkstatt, dass die Möglichkeit für die Einbeziehung der Familien geprüft wird. Jede Hilfe ist eine Dienstleistung für die Familien, daher sind die Perspektiven der Familienmitglieder und deren Rückmeldung an uns Fachkräfte besonders hilfreich für die Entwicklung unserer Arbeit. Unter Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben sind folgende Formen der Einbeziehung von Familienmitgliedern möglich: Ȥ Einladung als gleichberechtigtes Mitglied der Forschergruppe; Ȥ punktuelle persönliche Beteiligung; Ȥ indirekte Beteiligung durch Interviews im Vorfeld; Ȥ hypothetische Beteiligung durch Fachkräfte in der Fallwerkstatt, die sich stellvertretend in die Rolle eines Familienmitglieds hineinversetzen.
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Der Dialog in der Fallreflexion im Kinderschutz Typisch für die laufende Fallarbeit im Kinderschutz ist das drängende Gefühl, Entscheidungen treffen zu müssen. Dies fördert eine Kultur der Kommunikation, in der Komplexität verdichtet wird, und den Versuch, Bestätigung von anderen Fachkräften für die eigene Einschätzung zu erwirken. Im Gegensatz zu einem solchen »Diskussionsmodus« geht es im Dialog bei der Fallreflexion eher darum, zuzuhören und möglichst viele Perspektiven auf ein Thema – hier auf die Problemkonstruktion und vergangene Hilfeprozesse – einzusammeln. Die Idee ist, dass die einzelnen Beitrage als jeweils ein Mosaikstein »in die Mitte gelegt werden« und von allen achtsam gehört und innerlich beforscht werden, ohne darauf zu reagieren, sodass aus der Summe der Teile etwas ganz Neues entstehen kann. Durch verschiedene Dialogregeln wird eine Atmosphäre geschaffen, in welcher gemeinsam und ergebnisoffen geforscht wird. Diese sind beispielsweise (vgl. Bohm, 2011): – alle Dialogpartner:innen sind während des Dialoges gleichberechtigt; – innere Haltung von Neugier, zurückgelehnt, entspannt; – Darstellung der eigenen Perspektive in Ich-Botschaften; – Pausen lassen zwischen den Beiträgen; – Wortbeiträge werden nicht erwidert, bewertet, kein Bezug darauf genommen; – Gedanken und Emotionen zulassen und beobachten; – Redezeiten eher kurz halten, das Nötige vom Herzen her sagen; – anderen Raum zum Reden lasen (auch längere Redepausen sind erwünscht), darauf vertrauen, dass alles, was wichtig ist, geäußert werden wird.
Der Einstieg in den Fall wird in der Regel zu Beginn der Fallwerkstatt über Genogramm und Wandchronik gefunden, wo alle am Fall beteiligten Personen sowie relevante Ereignisse auf der Ebene der beteiligten Fachkräfte und der Familie markiert sind (s. Abbildung 1).
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Abbildung 1: Genogramm und Wandchronik als Einstieg in die Fallwerkstatt
Danach werden – je nach Fallgegebenheit und Ergebnis der Vorbereitung – verschiedene Fragestellungen in verschiedenen Dialogrunden bearbeitet. Die Aufgabe der externen fachlichen Begleitung ist es, dafür zu sorgen, dass der Austausch in einem achtsamen Klima geschieht. Außerdem bringt sie aktiv Fragestellungen und Impulse ein, um den Reflexionsprozess auch durch ihre externe Fachexpertise zu fördern und die Beteiligten gegebenenfalls angemessen zu irritieren.
Beispiele für Untersuchungsfragen Beispiele für spezifische, fallbezogene Fragen: – Wie gelang die Einbindung der beiden älteren Geschwister in den Hilfeund Entscheidungsprozess in der letzten Episode des Fallverlaufs? – Wie bewerten wir allgemein den Konsum von Cannabis für die Erziehungsfähigkeit von Eltern? – Wir sehen beim Hausbesuch: Dies ist kein Ort zum Großwerden – und wir haben die Kinder nicht mitgenommen … Wäre eine frühere Herausnahme der Kinder fachlich geboten gewesen? – Hatte der häufige Zuständigkeitswechsel maßgebliche Auswirkungen auf die Hilfeplanung? Falls ja, welche? Beispiele für allgemeine Fragestellungen: – Welche Faktoren führten zu dem gewünschten Erfolg/zu dem uner wünschten Ergebnis in diesem Kinderschutzfall?
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– Wie gelang die Einbeziehung der alltäglichen Bezugspersonen in die Sicherheitseinschätzung und Hilfeplanung? – Wie gelang die Einbeziehung der kindlichen Perspektive? – Wie wurden Kooperationsbeziehungen im Fallverlauf genutzt? – Welche Interventionen vonseiten der Fachkräfte beeinflussten den Fallverlauf maßgeblich? – Welche konkreten Lernerfahrungen lassen sich für die gute Fachpraxis in der Zukunft zusammenfassen?
Ablaufplan einer Fallwerkstatt 1. Allgemeine Vorbereitung: Ȥ Herstellung eines konstruktiven Forschungsklimas im regionalen Kinderschutznetzwerk; Ȥ Information der Fachkräfte des regionalen Kinderschutznetzwerks zur Methode und Möglichkeit für die Mitgestaltung in der Planungsphase; Ȥ durch Führungsebene unterstützter Forschungsplan. 2. Auswahl des Falls 3. Vorbereitung der Fallwerkstatt: Ȥ Steuerungshoheit hat die falleinbringende ASD-Fachkraft; Ȥ Unterstützung durch Team, fallbeteiligte Fachkräfte und externe Beglei tung; Ȥ Festlegung fallspezifischer Fragestellungen (Beispiel s. Kasten); Ȥ Festlegung, wer in welcher Form durch wen an dem Forschungsvorhaben beteiligt wird, und Durchführung gegebenenfalls notwendiger Einbeziehungsprozesse; Ȥ Erstellung Genogramm und Wandchronik. 4. Durchführung der Fallwerkstatt: Ȥ Rahmung durch die externe Begleitung; Ȥ Falleinführung durch die falleingebende Fachkraft im ASD; Ȥ Fallverstehen: Wechsel aus Präsentation und Rückfragen anhand der Wandchronik; Ȥ Dialogphase: spezifische und standardisierte Untersuchungsfragen werden in kleinen Dialogrunden beforscht; Ȥ Erkenntnisgewinn: Einsammeln herausragender Erkenntnisgewinne, gegebenenfalls Verortung abzuleitender Vorhaben; Ȥ abschließendes Feedback.
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5. Ergebnisprotokoll: Fallvignette und gemeinsam getragene Erkenntnisgewinne werden auf einer Seite durch die Moderation zusammengefasst und die Formulierungen nach der Fallwerkstatt mit allen beteiligten per E-Mail abgestimmt. Motivation und Zielsetzung Die Leserin, der Leser mag sich fragen, wozu es – neben kollegialer Fallberatung, Fallbesprechungen im Team und Supervision – ein weiteres Format für die Reflexion von Fallverläufen braucht, noch dazu eins, welches in Vorbereitung und Durchführung zeitaufwendig ist. Lohnt sich dieser Aufwand? Folgend einige Antworten: In den letzten Jahren richten Medien und Politik verstärkt einen kritischen Blick auf die Arbeit von Fachkräften in Kinderschutzfällen. Innerhalb der Jugendhilfe entwickelt sich ein Bewusstsein dafür, dass Jugendämter als Kinderschutzorganisationen zu den sogenannten risikosensiblen Organisationen (s. Kasten) zählen. Die Analysen problematischer Kinderschutzfälle haben gezeigt, dass es auch strukturelle Risiken sind, in denen sich Kinderschutzarbeit bewegt. In bestehenden Systemen neigen wir dazu, uns miteinander einzurichten und uns in unseren Haltungen und Hypothesen gegenseitig zu bestätigen. Das ist nicht zu verhindern, notwendig für ein unterstützendes Teamklima und gleichzeitig im Feld des Kinderschutzes problematisch. Qualitätsentwicklung im Kinderschutz braucht daher Instrumente und Konzepte, welche gegebenenfalls riskante Sichtweisen, Haltungen und Abläufe durch die Einführung einer Perspektivenvielfalt in der Reflexion angemessen irritieren.
Das Jugendamt als risikosensible Organisation Seit der Tod von Kindern, welche dem Jugendamt bekannt waren, medial ein großes Interesse erfährt, werden Kinderschutzsysteme als risikosensible Organisationen eingestuft. Gemeint ist hiermit, dass durch menschliches Versagen erhebliche Schädigungen eines oder mehrerer Menschen entstehen können. Organisationen Sozialer Arbeit unterscheiden sich von anderen risikosensiblen Organisationen, wie Krankenhäusern, Atomkraftwerken oder Organisationen der Luft- und Raumfahrttechnik, durch verschiedene spezifische Merkmale, wie etwa die Abhängigkeit von der Kooperationsbereitschaft der Sorgeberechtigten und die Arbeit mit ungewissen und unbegrenzten Zukünften (vgl. Büchner, 2015, S. 22 ff.).
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Fachliche Einschätzungen und Hilfeplanung können nur im Dialog mit den direkt Hilfebeteiligten verstanden und nachvollzogen werden. Akten können Handlungslogiken und Entscheidungen von Fachkräften nur ungenügend abbilden. Daher ist der Erkenntnisgewinn am größten, wenn möglichst viele Fallbeteiligte ihre jeweilige Perspektive persönlich in den Analyseprozess einbringen können. Grundlage für eine gute Kinderschutzarbeit ist – neben der Kontaktgestaltung zu Eltern, Kindern und Jugendlichen – immer das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte verschiedener Professionen. Fallwerkstätten bieten die Möglichkeit, komplexe interinstitutionelle Wirkungszusammenhänge zu verstehen, gemeinsam aus Erfahrungen zu lernen und sich fachlich zu verständigen. Im Unterschied zur Fallsupervision erhalten wir in einer Fallwerkstatt direkte Einblicke in die Perspektive anderer Fallbeteiligter. Dies hat erhebliche Effekte auf die Qualität der Kooperation verschiedener Fachkräfte und Professionen im Kinderschutz. Der dialogische Blick auf Wirkungszusammenhänge und ein Fallverstehen aus der Metaperspektive, die für Fallbeteiligte nur im Rückblick auf ein Geschehen eingenommen werden kann, öffnen den Weg für Erkenntnisse, die eher nicht erfasst werden, wenn unmittelbar Entscheidungen aufgrund möglicher Gefährdungen getroffen werden müssen. Zeit- und Entscheidungsdruck verengt die menschliche Wahrnehmung. Durch gleichberechtigte Teilnahme von Steuerungs- und Führungskräften haben diese die Möglichkeit, bestehende Anweisungen, Leitlinien und Rahmenbedingungen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen und sich als Teil einer Verantwortungsgemeinschaft zu positionieren. Die Mitwirkung in der Fallwerkstatt hat einen besonders nachhaltigen und effektiven Lernwert. Die Hirnforschung lehrt uns, dass Handlungsgründe im limbischen System verhandelt werden, in jener Ebene des Gehirns also, die uns im Alltagsgeschehen gerade nicht bewusst ist. In einem multiperspektivischen dialogischen Austausch können solche etablierten Erfahrungsmuster dem Bewusstsein zugänglich gemacht und angemessen irritiert werden. Gegebenenfalls werden so für die Kinderschutzarbeit hinderliche Grundüberzeugungen erkannt, die von Teams als gemeinsame Haltung gepflegt werden. Mit dem neuen Bundeskinderschutzgesetz werden Träger der Jugendhilfe aufgefordert, gemäß § 79a SGB VIII standardisierte Qualitätsentwicklung in Gang zu setzen. Die fachkompetent angeleitete Betrachtung eines Falls aus der Retroperspektive ermöglicht den gezielten Blick auf verschiedene Qualitätsebenen der Kinderschutzarbeit. Im Gegensatz zu linear-hierarchisch geführten Fallbewertungen sind individuelle wie auch gemeinsame Lernerfahrungen, die in einer Fallwerkstatt gemacht wurden, eher auf die weitere Fachpraxis zu
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übertragen, da sie selbst erarbeitet und verstanden wurden und daher nicht abgewehrt werden müssen. Sie fördern Selbstwert und Selbstwirksamkeit von Fachkräften und privaten Beteiligten und stärken konstruktive Kooperationsbeziehungen nachhaltig auch im Sinne eines Wandels zweiter Ordnung. Die Investition lohnt sich! Literatur Biesel, K., Wolff, R. (2014). Aus Kinderschutzfehlern lernen. Eine dialogisch-systemische Rekon struktion des Falles Lea-Sophie. Bielefeld: Transkript. Bohm, D. (2011). Der Dialog. Stuttgart: Klett Cotta. Büchner, S. (2015). Fehler im System – die dunkle Seite der Fehlerfokussierung. Forum für Kinder und Jugendarbeit, 1, 22–27. Fegert, J. M., Schnoor, K., Kleidt, S., Kindler, H., Ziegenhain, U. (2008). Lernen aus problematischen Kinderschutzverläufen. Machbarkeitsexpertise zur Verbesserung des Kinderschutzes durch systemische Fehleranalyse. Köln: Nationales Zentrum Frühe Hilfen. Fish, S., Munro, E., Bairstow, S. (2008). SCIE Report 19: Learning together to safeguard children: developing a multi-agency systems approach for case reviews. London: Social Care Institute for Excellence (Konferenzanlage »Lernen aus Fehlern – Nationale und Internationale Erfahrungen aus dem Kinderschutz«: Gemeinsam lernen, Kinder besser schützen. Ein systemisches Modell für Falluntersuchungen). Gerber, C., Lillig, S. (2018). Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen. Eine systemorientierte Methode zur Analyse von Kinderschutzfällen und Ergebnisse aus fünf Fallanalysen. Bericht (Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz, 9). Köln: Nationales Zentrum Frühe Hilfen. Schrapper, C., Schnorr, V. (Hrsg.) (2011). Risiko erkannt – Gefahr gebannt? Bericht zum Landesprojekt: »Risikoanalyse als Qualitätsentwicklung im Kinderschutz in Rheinland-Pfalz« 2009– 2011. Köln: Nationales Zentrum Frühe Hilfen. Vincent, C. (2004). Analysis of clinical incidents: A window on the system not a search for root causes. Quality and Safety on Health Care, 13. Zit. nach: https://www.yumpu.com/de/document/ read/21022077/gemeinsam-lernen-kinder-besser-schutzen. Wolff, R. et al. (2013). Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Konzepte, Bedingungen, Ergebnisse. Leverkusen: Barbara Budrich.
Weitere Informationen unter: https://www.fruehehilfen.de/qualitaetsentwicklung-kinderschutz/ https://isa-muenster.de/fileadmin/images/ISA_Muenster/Dokumente/Fallanalysen-Kinderschutz_ Broschuere-web.pdf https://www.fallwerkstätten.de
sYpport – der Weg zu einer anderen Kooperation
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9.3 sYpport – der Weg zu einer anderen Kooperation Birgit Averbeck, Björn Enno Hermans
Einführung »sYpport« ist eine Wortschöpfung und steht für: systemische Unterstützung für gelingende Kooperationsprozesse. Warum wir so interessiert an gelingenden Kooperationsprozessen sind und eine systemische Sicht- und Handlungsweise dabei eine grundlegende Rolle spielt, erklärt sich vor dem Hintergrund, der zur Entstehung des hier geschilderten methodischen Vorgehens geführt hat. Unsere alltägliche gemeinsame Kooperationspraxis in den Einrichtungen Jugendamt (Birgit Averbeck) und Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Björn Enno Hermans) zu Beginn der 2000er Jahre hat uns häufig das Nichtgelingen und das Scheitern von Kooperationen vor Augen geführt. Dies besser zu verstehen und zu Veränderungen zu kommen, war erklärtes gemeinsames Ziel und ist schrittweise auch immer weiter gelungen. Die dabei gewonnenen Erfahrungen und die resultierenden Vorgehensweisen möchten wir gerne auch anderen interessierten »Kooperierenden« zugänglich machen. Schnell wird dabei deutlich, dass sich die Überlegungen und auch die Mediations- und Kooperationsmethodik sYpport nicht auf die beiden genannten institutionellen Kontexte beschränken, sondern auf das gesamte Feld der psychosozialen Systeme, des Gesundheitswesens und des Bildungssystems übertragen werden können. Im Folgenden fassen wir die Kernaussagen von zwei Beiträgen aus 2008 und 2010 zusammen (Averbeck u. Hermans, 2008, 2010), da sie bis heute aktuell sind und die theoretische und inhaltliche Grundlage für die Entwicklung von sYpport bilden. Die erste Frage lautet: »Was ist eigentlich Kooperation?« Mit einem Blick in die Internetwelt erfährt man, dass Kooperation (lat. cooperatio: »Zusammenarbeit, Mitwirkung«) das Zusammenwirken von Handlungen zweier oder mehrerer Lebewesen, Personen oder Systeme bedeutet und zumindest für die Dauer der Kooperation ein Zusammenschluss im Sinne einer neuen Systembildung entsteht. Die Elemente des neuen Systems, also die Kooperationspartner, erwarten ein bestimmtes Verhalten, das durch Rechte und Pflichten entsprechend verhandelt worden ist, und geben somit einen Teil ihrer Souveränität ab. »Die Kooperation zwischen Institutionen aus dem weiteren psychosozialen Feld würde vermutlich niemand im metaphorischen Sinne als eine ›Liebesheirat‹
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ansehen, sondern vielmehr als eine notwendige, d. h. ›die Not wendende‹ (wessen eigentlich …?) Vernunftsehe. Die von handelnden Personen sowohl der einen als auch der anderen Seite subjektiv häufig negativ empfundene ›Abgabe von fachlicher Souveränität‹ zugunsten des Nutzens von Synergieeffekten stellt eine von vielen Herausforderungen der Kooperation dar.« – So haben wir es damals beschrieben und so wird es von vielen Akteur:innen bis heute erlebt. Einladungen zu komplizierten Verstrickungen auf der »Helferebene« sind offenkundig und in diesem Buch ja auch vielfach beschrieben. Häufig sind solche Verstrickungen begleitet von gegenseitigen Anschuldigungen und Entwertungen, selten jedoch von einem auf den Fall bezogenen produktiven Ergebnis gekrönt. Der Preis eines solchen Kooperationsverhaltens ist für die betroffenen Familien, aber auch für die Fachkräfte hoch. Als Systemiker:innen fragen wir uns dann, was denn die »guten Gründe« sein könnten, die uns immer wieder einladen, übereinander und miteinander zu stolpern! Es lassen sich einige Hypothesen dazu bilden (vgl. Averbeck u. Hermans, 2010): Ȥ Seit Jahrzehnten stabile Ordnungsprinzipien schaffen Vertrauen in Arbeitskontexte und werden über Mitarbeitergenerationen in den einzelnen Systemen weitergegeben (»Die machen immer …«, »Die kümmern sich nie um …«, »Die sind sowieso …« etc.). Ȥ Homöostatische Wirklichkeitskonstruktionen zementieren die Haltung: »Die Institutionen können nicht konstruktiv kooperieren«. Also warum soll Zeit und Energie dafür investiert werden? Ȥ Die einzelne Fachkraft bleibt in ihrem Arbeitskontext handlungsfähig und muss sich nicht mit Kolleg:innen und Vorgesetzten über alternative Optionen auseinandersetzen. Ȥ Fachkräfte brauchen ihre inneren Landkarten und ihre berufliche Identifikation nicht zu hinterfragen. Ȥ Selbstwerterhaltende Kommunikationsstrukturen im eigenen System und Abgrenzung von fachlichen Haltungen des anderen schafft Gemeinschaft im eigenen System. Ȥ Niemand muss sich Gedanken darüber machen, wie eine von Respekt und Achtung geprägte Haltung dem anderen gegenüber entstehen kann. Ȥ Komplexitätsreduktion: Ich muss weder mich noch mein Verhalten noch die Strukturen meiner Institution noch das Verhalten meiner Kolleg:innen reflektieren geschweige denn die Strukturen und Hintergründe des Verhaltens der Kolleg:innen des jeweils anderen Systems verstehen. Unabhängig von der Frage, welche nützlichen Argumente für Akteur:innen dafür sprechen, eigentlich nichts zu ändern, brauchen Klient:innen und Patient:innen
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von uns Sicherheit, Transparenz und die Fähigkeit der Perspektivübernahme der Betroffenen. Wenn Fachkräfte über die Menschen als »Fall« reden und dann systemübergreifend handeln, so sollten die Perspektiven und Bedürfnisse der Betroffenen handlungsleitend im Vordergrund stehen. Das klingt heute, wo die Beteiligung von Betroffenen in vielen Helfersystemen als Qualitätsmerkmal beschrieben wird, trivial, ist aber in der Umsetzung alles andere als banal! Gerade weil unterschiedliche Systemlogiken, Finanzierungssysteme und Kulturen des Miteinander-Umgehens auf der Helferebene aufeinandertreffen und wir oft noch keine »gemeinsame Sprache« sprechen, geraten im Ringen um vermeintlich richtige und falsche Hilfen und Verhaltensweisen von Kooperationspartner:innen die Wünsche der Betroffenen häufig aus dem Fokus. Hilfreich ist, Irritationen und Konflikte der Helfenden nicht zu problematisieren, sondern sie als nicht verhinderbar zu normalisieren und sie als Quelle des gemeinsamen Lernens konstruktiv zu nutzen. Ein roter Faden der Moderation hilft beim Navigieren in stürmischen Kooperationskonflikten, die Komplexität zu reduzieren, (wieder) ein gemeinsames Ziel zu fokussieren und die unterschiedlichen Perspektiven und fachlichen Ressourcen zum Wohl der Klient:innen konstruktiv zu nutzen. Dabei gilt es immer wieder, die den Klient:innen zu unterstellenden oder besser noch konkret in Erfahrung gebrachten Erwartungen an die Kooperation der Helfersysteme deutlich zu machen. Mehrere erfolgreich moderierte Kooperationskonflikte stellen in der Regel ein sicheres Fundament gelingender Zusammenarbeit dar und schaffen eine gute Grundlage für eine neue Wirklichkeitskonstruktion aller Beteiligten: »Gemeinsam sind wir tatsächlich ein Mehr-Wert.« Es geht im Kooperationsprozess darum, auf langsam reifende Veränderungen zu achten und potenziell Verbündete zu gewinnen (Omer, Alon u. von Schlippe, 2007). In diesem Sinn braucht gelingende Kooperation zwischen Institutionen mit unterschiedlichen Aufträgen und Professionen Menschen, die Ȥ den Klienten durch die Kooperation mehr nutzen als schaden wollen; Ȥ das Risiko eingehen, dem anderen eine gute Absicht zu unterstellen (Omer et al., 2007); Ȥ den Mut haben, sich neuen Erfahrungen zu stellen; Ȥ Geduld haben und die positiven Veränderungen wahrnehmen; Ȥ sich nicht entmutigen lassen, wenn einmal (oder zweimal) »doch wieder alles so ist wie immer …« (Averbeck u. Hermans, 2008). Aus der langjährigen praktischen Zusammenarbeit auf Basis dieser Grundhaltungen haben wir eine spezifische Methode der Moderation von inter-
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institutionellen, vor allem fallbezogenen Kooperationen entwickelt und viele positive Erfahrungen damit sammeln können. Kurze praktische Einführung in die Mediationsund Kooperationsmethodik »sYpport« Zielbeschreibung
sYpport eignet sich zur Gestaltung eines moderierten Mediationsprozesses im Verlauf eines konkreten Einzelfalls, vor allem aber auch im Nachgang von schwierigen Kooperationsprozessen zwischen unterschiedlichen Institutionen mit sich teilweise diametral gegenüberstehenden professionellen, gesetzlich verankerten Aufträgen (u. a. KJP – Jugendhilfe – Suchthilfe – Gesundheitshilfe – Bildungs- und Betreuungseinrichtungen). Ziel ist, konkretes Verhalten von Fachkräften im Fallverlauf und von Entscheidungsträgern bei einzelfallübergreifenden Konfliktthemen wertschätzend nachzuvollziehen als Grundlage für eine zukünftige Verbesserung der Kooperation zwischen den Institutionen. Spezifisch für sYpport ist die systematische Einbeziehung der Bedürfnisse und Ziele gemeinsamer Klient:innen der unterschiedlichen Helfersysteme Jugendhilfe, Psychiatrie, Schule, Sucht- und Gesundheitshilfe. Die Dauer eines solchen moderierten Dialogs beträgt 90 bis 120 Minuten. Systematische Struktur innerhalb von Institutionen
Kooperation zu anderen professionellen Helferinstitutionen wird als Regelaufgabe von Institutionen im psychosozialen Feld verstanden. Da Irritationen und Probleme der Helfer:innen miteinander erwartbar sind, wird entschieden, vorausschauend ein Konfliktmanagement zu implementieren. Es wird im Netzwerk beschlossen, eine Koordinatorin für Kooperation und Mediation zu benennen, die einzelfallübergreifende multiprofessionelle Dialoge (z. B. runde Tische, Fachtagungen und Fortbildungen) in Gang setzt und in Konfliktfällen in Kooperation mit dem/der Koordinator:in der anderen beteiligten Institution Mediationsprozesse moderiert. Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Funktion als Kooperationskoordinator:in und Mediationsberater:in sind neben den entsprechenden Qualifizierungen die fachliche und menschliche Akzeptanz in der eigenen Institution. In Einzelfällen können auch externe Mediator:innen die Moderation im Rahmen von sYpport übernehmen, wenn die Personen von den betroffenen Fachund/oder Leitungskräften beider Institutionen akzeptiert werden. Wichtig bei
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der Begleitung des Mediationsprozesses ist das Leben der beschriebenen Grundhaltungen durch die Moderator:in. Vorbereitung
1. Vorgespräch der Koordinator:innen mit dem Ziel der wechselseitigen Perspektivübernahme mit Modellfunktion. Fachlicher Austausch der Kooperations- und Mediationsberater:innen über den Fallverlauf und Erarbeitung eines gemeinsamen Fallverständnisses unter Berücksichtigung systemischer und humanistischer Prämissen: Ȥ Hypothesenbildung über die Bedürfnisse der Klienten bezogen auf die Kooperation beider Systeme; Ȥ Hypothesenbildung zur Entstehung und Funktion des Konflikts; Ȥ Formulierung eines kleinsten gemeinsamen Ziels der Institutionen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der betroffenen Klienten; Ȥ Klärung der Information der Klienten über das Mediationsgespräch (wer – wie – wann); Klärung der Aufträge der Klienten an die beteiligten Systeme bezogen auf das Mediationsgespräch (»Welche Fragen sollten Ihrer/deiner Meinung nach in dem Gespräch angesprochen werden?«). 2. Sensibilisieren und Werben bei den Mitarbeitenden in den verschiedenen Institutionen, an einem Reflexions- und Mediationsgespräch teilzunehmen; Darstellung des möglichen Gewinns für die eigene fachliche Position und die Institution. 3. Genogramm, möglichst auch Helfer-Organigramm und -chronologie auf Flipchart visualisieren. 4. Vorbereitung eines weiteren Flipchartbogens mit einer Zeitachse ab dem ersten Kontakt beider Helfersysteme mit dem Klientensystem. 5. Gestaltung des Rahmens (Ort, ausreichend Zeit, Getränke, Materialien etc.). Gesprächsverlauf
1. Wertschätzung des Zustandekommens des Mediationsgesprächs mit dem Hinweis, dass die Voraussetzungen einer Mediation (s. oben) durch das Erscheinen der Beteiligten gegeben zu sein scheinen. Für das konkrete sYpport-Gespräch wird von den Moderator:innen das kleinste gemeinsame Ziel – die Kooperation soll mehr nutzen als schaden – explizit benannt. 2. Zielabfrage der Beteiligten (»Was wäre ein gutes Ergebnis des Gesprächs?«) und zirkuläre Hypothesenbildung über die unterstellten Aufträge des Klientensystems an das Gespräch.
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3. Vereinbarung über Gesprächsregeln und Zeitrahmen. 4. Auftragsrekonstruktion und Reflexion des ersten Kontakts der jeweiligen Fachkräfte zum Klienten und zueinander. Welcher Auftrag wurde von wem an wen, wann, verbal oder nonverbal formuliert? (kurze Visualisierung auf der Zeitachse). 5. Chronologie des Fallverlaufs rekonstruieren – Befragung nach Informationsstand (wer, was, wann, von wem, an wen) und individueller Wahrnehmung der Situation in zeitlicher Reihenfolge. 6. Stopp bei Differenzen mit der Möglichkeit von Rückfragen und Äußerung von Emotionen (Schlagworte und Symbole für Konsens, Irritationen, Missverständnisse und Konflikte werden auf Zeitachse eingetragen); Wechselwirkungen, Musterwiederholungen und Übertragungen zwischen dem Helfersystem und dem Klientensystem werden auf den Flipchartbögen visualisiert. Ȥ Emotionen werden in ihrer Wechselwirkung besprochen. Ȥ Weitergearbeitet wird erst dann, wenn Irritationen, Ärger und Unmut in einem sinngebenden Kontext von allen Anwesenden nachvollzogen werden. Ȥ Aufgabe der Moderation ist, für die Beteiligten erfahrbar zu machen, dass es nicht um richtige oder falsche fachliche und persönliche Einschätzungen geht, schon gar nicht darum, Schuld zuzuweisen, sich zu rechtfertigen und Fehler aufzudecken, sondern vielmehr darum, kontextgebunden nachzuvollziehen, wie welches Verhalten Einfluss genommen hat. 7. Hypothesenbildung aller Beteiligten zu der Funktion und dem Nutzen der Konflikte. 8. Status-quo-Beschreibung in der Gegenwart; gemeinsames Entwickeln und Planen neuer Lösungswege mit dem Fokus auf den Bedürfnissen des Klientensystems. 9. Verbindliche Vereinbarungen für den Einzelfall treffen und schriftlich dokumentieren. 10. Gesamtreflexion: »Wir sind gemeinsam gescheitert, um gemeinsam ge-scheiter zu werden«1. Das gemeinsame Scheitern nutzen, um zusammen zu erarbeiten, was denn zukünftig strukturell, systematisch und individuell geändert werden sollte, um für die Klient:innen konstruktiv zu sein. 11. Moderierte Zusammenfassung der Absprachen bzw. des Ergebnisses durch die Mediator:innen. 1
Michael Grabbe im Rahmen eines Seminars des Instituts für Fort- und Weiterbildung (IFW) zur Weiterbildung »Systemische Supervision« 2004.
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12. Vereinbarung, wer die Familie über das Gespräch informiert. 13. Abschließendes konstruktives Feedback der Beteiligten: »Es war gut, dass Sie heute an dem Gespräch teilgenommen haben, weil …« 14. Gemeinsames Ergebnisprotokoll erstellt durch die Koordinator:innen. Wir sind interessiert an Ihren Erfahrungen im Ausprobieren der Methode. Schreiben Sie uns gerne, wir werden Ihre Erfahrungen in die Weiterentwicklung von sYpport einbeziehen. Kontakt: [email protected] und [email protected] Literatur Averbeck, B., Hermans, B. E. (2008). Vom Wagnis der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung, 26 (3), 187–193. Averbeck, B., Hermans, B. E. (2010). Kinderschutz – Kooperation und Konfliktmanagement. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat., 59, 744–753. Omer, H., Alon, N., Schlippe, A. von (2007). Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
9.4 Signs of Safety® – eine Methode für besseren Kinderschutz Manna van ’t Slot, Sabine Epperlein Filip Caby (Übersetzung)
Einführung Signs of Safety® ist eine lösungsorientierte Art, mit Familien, in denen der Verdacht auf Vernachlässigung, Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch besteht, zu arbeiten (Turnell u. Edwards, 1999). Es kommt dabei darauf an, dass die Kraft der Familie genutzt wird und die Profis eine Partnerschaft mit den Bezugspersonen eingehen. Es geht auch darum, mit Eltern und Kindern konkrete Ziele zu formulieren und festzulegen, wer welche Aufgaben übernimmt, um die Sicherheit der Familie und vor allem der Kinder zu gewährleisten. Die Methode basiert auf den Interventionen der lösungsorientierten Therapie nach Steve de Shazer (1988) und Insoo Kim Berg (1994). Dabei wird das soziale Netzwerk der Familie mit einbezogen und gleichzeitig die Sicherheit aller fokussiert.
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In den letzten zehn Jahren hat sich diese Methode rasant über die Welt verbreitet. Sie entstand in West-Australien aus der Zusammenarbeit von Turnell und Edwards mit mehr als 150 im Kinderschutz aktiven Personen. Im »Signs of Safety«-Modell wird immer versucht, den vermeintlichen Spalt zwischen einer Problem- und Lösungsorientierung zu überbrücken, indem: Ȥ mit der gleichen Vehemenz nach Stärken und Sicherheit exploriert wird wie nach Schädigungen und Gefährdungen; Ȥ sowohl auf die professionelle Qualifikation als auch auf das Herausarbeiten der Expertise und Weisheit der Familie fokussiert wird; Ȥ die Risikobeurteilung immer sowohl von den Profis als auch von allen Familienmitgliedern gemacht wird; Ȥ ganzheitlich vorgegangen wird, indem immer alle Beteiligten, sowohl die Profis als auch die Familienmitglieder, an einen Tisch gebracht werden, statt mit großen Mengen an Informationen über eine Familie zu sprechen. Alle wichtigen Daten werden auf einer Seite in drei Spalten zusammengefasst, die als Rahmen für den ganzen Prozess beibehalten werden. Darauf stehen sowohl die Risikofaktoren, die Gefahren und Störfaktoren wie auch die Stärken und Sicherheitsfaktoren sowie eine Sicherheitseinschätzung. Es werden folgende Fragen beantwortet: Ȥ Was macht uns Sorgen? (vergangene Schädigung, künftige Gefährdung und komplexitätssteigernde Faktoren) Ȥ Was läuft schon gut? (schon bestehende Stärken und Sicherheiten) Ȥ Was muss passieren? (Sicherheitsziele und nächste Schritte) Ȥ Wo befinden wir uns auf einer Skala von 0 bis 10, wenn 10 bedeutet, dass die Sicherheit hoch genug ist, dass z. B. Jugendamt/Schule/Behörden sich keine Sorgen mehr machen, und 0 bedeutet, dass der nächste Missbrauch/ Misshandlung/Verwahrlosung bevorsteht. Es gibt in der »Kinderschutz-Szene« immer wieder die Diskussion, wie man dem betroffenen Kind eine Stimme geben kann. Das scheitert häufig daran, dass die Helfer und Helferinnen keine Methoden zur Verfügung haben, um mit den Kindern in Kommunikation zu treten, und dass sie Angst haben, dadurch den Kindern mehr zu schaden als zu nutzen. Die »Signs of Safety«-Methode hat mehrere Tools entwickelt, um Kinder zu Wort kommen zu lassen. Einige Beispiele sind: »Meine drei Häuser«, »Die Fee und der Zauberer«, Wort- und Bildererklärungen und kindgerechte Sicherheitspläne. Als Beispiel werden zunächst »Meine drei Häuser« erläutert. Sie wurden von Micky Weld (2008) entwickelt und basieren auf dem vorgestellten dreiteiligen Rahmenkonzept, das kindgerechter gestaltet wurde (s. Abbildung 1).
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Abbildung 1: Intervention »Meine drei Häuser«
Folgende Schritte sollten vorher gemacht worden sein: Ȥ Es empfiehlt sich, die Eltern über die Wichtigkeit dieses Kinderinterviews zu informieren, sodass sie dem zustimmen können. Ȥ Man kann die Intervention mit oder ohne Erwachsene als Zuschauer durchführen. Ȥ Bei der Erläuterung der Intervention für die Kinder macht es Sinn, pro Haus ein Blatt zu benutzen. Es muss auch nicht unbedingt ein Haus sein. Die Fantasie der Kinder ist hier grenzenlos. Ȥ Die Wortwahl, die Zeichnungen und sonstige Materialien sollten so kindgerecht sein, dass die Kinder sich eingeladen fühlen, mitzumachen. Am besten sollte daher mit dem »Haus der guten Dinge« gestartet werden, um Ängste abzubauen. Wichtig ist dabei, sich vom Kind die Erlaubnis zu holen, das Ergebnis den Erwachsenen zu zeigen und die Dinge ihnen so mitzuteilen, wie das Kind sie geschildert oder gestaltet hat. Ein anderes Beispiel ist »Die Fee und der Zauberer«. Dieses Tool wurde von Vania da Paz (in Turnell u. Edwards, 1999) entwickelt und ist eine Variante der »Meine drei Häuser«-Intervention. Die Fee und der Zauberer haben den Hintergrund, dass sie mit ihrem Zauberstab auch Dinge hinzu- oder wegzaubern können. Damit wird den Kindern suggeriert, dass Veränderungen möglich sind und sie somit auch Sorgen loswerden können. So beginnt man, die Dinge zu sammeln, die geändert werden müssen. Die Flügel ermöglichen das Wegfliegen bzw. der Mantel beschützt einen. Dort werden die guten Dinge eingetragen. Der Stern und die Wolke am Zauberstab sind für die Wünsche und Visionen der Kinder vorgesehen.
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Deine Wünsche Wie sieht es aus, wenn deine Sorgen weg sind?
Deine Wünsche Wie sehen die Dinge aus, wenn deine Sorgen weg sind?
Dinge, die gut laufen
Dinge, die helfen, deinen Sorgen zu entfliehen
Sorgen Dinge, die anders werden müssen Dinge, die gut laufen
Sorgen Dinge, die anders werden müssen
Dinge, die helfen, deinen Sorgen zu entfliehen
Abbildung 2: Die Fee und der Zauberer nach Vania da Paz
Ein soziales Netzwerk
Eine wichtige Zielplanung von Signs of Safety® ist das Etablieren eines sozialen Netzwerks. Das in diesem Buch häufig vorkommende Statement »Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen« gilt letztendlich auch für die Entwickler dieser Methode. Ein isoliertes Kind hat prognostisch schlechtere Chancen. Daher werden in diesem Kinderschutzkonzept alle Menschen, die eine natürliche Beziehung zum Kind haben, mit einbezogen. Das können Verwandte, Lehrer:innen, Trainer, Peers oder Nachbar:innen sein. Häufig werden Kinder in Kinderschutzverfahren gerade von den Menschen getrennt, die bis dahin eine Stütze darstellten. Doch gerade diese Menschen haben auch ein Interesse daran, dass das Kind ein gutes Umfeld hat. Für Profis ist diese Zusammenarbeit ungewöhnlich und stellt immer noch einen Paradigmenwechsel dar. Das Netzwerk verfügt über viel Wissen über die Lebensumstände der Kinder, und es ermöglicht einen Tabubruch, über bestimmte Ereignisse zu sprechen oder über Konstellationen, die zum Kindesmissbrauch, zur Misshandlung oder Vernachlässigung geführt haben.
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Signs of Safety® unterscheidet sich von anderen Methoden auch dadurch, dass die Profis nur dahingehend Expert:innen sind, wenn es darum geht, die Familie in den Mittelpunkt zu rücken und sich von der bevormundenden Haltung zu befreien. Der Sicherheitsplan
Ein Sicherheitsplan ist kein klassischer Hilfeplan, der eine Liste darstellt von Dingen, die die Familie zu tun hat, um alle zufriedenzustellen. Es ist vielmehr ein für die Familie spezifischer Plan, der von der Familie und dem Netzwerk erstellt wurde. Er beschreibt, wie die betroffene Familie im Alltag leben will, und zwar so, dass die Kinder der Familie, das Netzwerk und die Behörden überzeugt sind, dass das Kind sich »sicher« weiterentwickeln kann. Einen solchen Prozess zu begleiten ist der schwierigste Part der »Signs of Safety«-Methode. Es braucht eine gute Mischung von Autorität, Visionarität und zielorientierter Fragetechnik. Es muss in den Familien eine Zukunftsvision von Sicherheit entstehen, die alle überzeugt. Die Profis versuchen, durch Nachfragen Ideen herauszufinden, wie diese Vision umgesetzt werden kann. Hier ist »der Dreh« und der entscheidende Unterschied, dass nicht die Profis vorgeben, wie es zu sein hat, sondern dass den Eltern und dem Netzwerk zugetraut wird, die Sorgen, die die Profis äußern, zu entkräften. Ein weiterer wichtiger Part von Signs of Safety® ist, dass die Eltern und das Netzwerk Wörter- und Bildererklärungen erstellen, um dem Kind den Sicherheitsplan zu erklären (Infos darüber unter: www.signsofsafety.net). Damit dieser Plan kurz und simpel ist und für alle verständlich im Alltag seinen Platz findet (und z. B. am Kühlschrank hängen kann), müssen alle Beteiligten, auch die betroffenen Kinder, an der Erstellung des Plans beteiligt gewesen sein. Daraus gehen dann die Regeln und Bedingungen hervor, an denen alle mitgearbeitet haben und die einen sicheren Schutz für das Kind bedeuten. Der Sicherheitsplan muss auch fortwährend geführt und weiterentwickelt werden, sodass die Angelegenheit nicht mit einem Termin erledigt ist. Es ist vielmehr eine lange gemeinsame Reise, an deren Ende immer noch die Frage steht: »Was genau müssen wir sehen, damit wir überzeugt sind, dass dieses Kind gesichert weiterlebt?« Eine kurze Fallvignette Das Jugendamt wurde von der Polizei und der psychiatrischen Klinik angerufen, weil eine psychotische Mutter drohte, sich und die Kinder umzubringen. Die Familie lebte völlig verwahrlost, der alkoholkranke Vater war entsprechend hilflos. Die Eltern hatten zwei Kinder: einen 13-jährigen Sohn und eine zehnjährige Tochter.
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Die Mitarbeitenden des Jugendamts rückten aus und besuchten die Familie. Das sogenannte Drei-Spalten-Modell wurde sofort ausgefüllt und ein Genogramm erstellt. Die Familie wurde gebeten, alle wichtigen Menschen aus ihrem Umfeld zum nächsten Termin einzuladen. Zu diesem Termin kamen Nachbarn, Großeltern und zwei Tanten väterlicherseits. Es wurde seitens des Jugendamts mitgeteilt, dass es mit den beteiligten Institutionen (Schule, Klinik u. a.) über die Familie kommunizieren wolle, und betont, dass es auch auf die Meinung der Kinder Wert lege. Beide Eltern wurden seitens des Jugendamts beauftragt, ihre Kinder darüber zu informieren, dass ihre Stimme im ganzen Prozess auch wichtig sei. Mit den Kindern wurde anschließend die Intervention »Die drei Häuser« durchgeführt. Die Kinder schilderten die schönen und die schwierigen Aspekte des Zusammenlebens mit den Eltern. Es wurde gleich vereinbart, dass die beiden Kinder sich zunächst beim Großvater väterlicherseits aufhalten würden. Die Jugendamtmitarbeitenden füllten weiter das Drei-Spalten-Modell aus und brachten den Fall in ihre Supervision. Dort ging es dann um eine Gefährdungseinschätzung und ein Sicherheitsziel: »Was wollen wir sehen, damit der ›Fall‹ beendet kann?« Auch die Sicherheitsskala wurde bedient. Ein probates und für die Kinder nachvollziehbares Instrument waren die »Wörter- und Bildererklärungen«. Darin wurden durch die Eltern Zusagen gemacht, wie sie mit ihrem Netzwerk die Sicherheit der Kinder gewährleisten wollen.
Abbildung 3: Exemplar eines Zeitplans
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In der Darstellung des Zeitplans in Abbildung 3 sind die nächsten Schritte angeführt, die für die Kontakte mit den Kindern bzw. deren Rückführung notwendig sind. Nach einem Jahr eines intensiven gemeinsamen Prozesses konnte die Verantwortung den Eltern wieder übergeben werden. Die Kinder waren zu dem Zeitpunkt schon seit sechs Monaten wieder zu Hause. Ein Beispiel aus Deutschland
Die erste Behörde, die in Deutschland den Mut hatte, Kinderschutz so zu betreiben, war das Jugendamt des Landkreises Biberach. In den Jahren 2015– 2016 wurde dort die bisherige Kinderschutzarbeit analysiert. Grundlage hierfür bildeten Empfehlungen einer Expertenkommission sowie ein Gutachten, das im Zuge verschiedener, auch in den Medien präsenter Kinderschutzfälle in Baden-Württemberg erstellt wurde. Eine während der Implementierungsphase vom Landesjugendamt BadenWürttemberg geförderte empirischen Praxisforschung im Zeitraum von 2018– 2020 durch das Europäische Institut für Sozialforschung in Berlin ergab folgende wesentlichen Ergebnisse: Ȥ die hohe Bedeutsamkeit des Erstkontakts, einhergehend mit einer dialogischbeteiligenden und respektvollen Zusammenarbeit mit den Klientinnen und Klienten sowie maßgeblich den Kindern selbst; Ȥ die konsequente Verfolgung des Alltagstransfers der fachlichen Interventionen mit dem Fokus einer Veränderungsarbeit, verbunden mit einer Aktivierung und Förderung der familiären und sozialen Ressourcen der Netzwerkakteurinnen und -akteure (Godehardt-Bestmann, 2020). Nach fünf Jahren Erfahrung mit der Methode fasste das Team des Jugendamts Biberach seine Erfahrungen so zusammen: Ȥ Die Kinder werden durchgängig mehr beteiligt. Ȥ Die Mitarbeiter:innen verwenden eine familienorientiertere Sprache und verfassen mit den Familien gemeinsame Zielformulierungen, wodurch eine hohe Transparenz entsteht. Ȥ Die Haltung der Mitarbeiter:innen verändert sich in dem Sinn, dass weniger »Profi-Wissen« vorgegeben wird, sondern die Regie für die Lösungsfindung zuallererst in den Familien und Netzwerken verortet wird. Ȥ Die Mitarbeiter:innen im Kinderschutz erlangen durch die Analyse, Bewertung und Sicherheitsplanung mit den Methoden von Signs of Safety® selbst mehr Klarheit und Sicherheit, was die erhebliche psychische Belastung in Kinderschutzfällen reduziert.
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Als Herausforderung wurde empfunden, Ȥ dass es nur wirkt, wenn alle im System Jugendamt den gleichen Weiterbildungsstand haben, Ȥ wenn ein fortlaufendes Fortbildungsprogramm installiert wird, Ȥ wenn die Dokumentationssysteme und andere interne Abläufe Eingang finden und Ȥ wenn die unterschiedlichen Fachdienste in einen Austausch treten über Good-Practice-Aspekte der alltäglichen Arbeit. Die Haltung ist dabei die gleiche wie in der Zusammenarbeit mit den Familien: respektvoll, lösungsorientiert, würdigend und transparent. Literatur Berg, I. K. (1994). Family based service: A solution-focused approach. New York: Norton. de Shazer, S. (1988). Clues, investigating solutions in brief therapy. New York. Norton. Godehardt-Bestmann, S. (2020). »Der richtige Weg. Der richtige Weg war es, jemanden ins Boot zu holen, weil allein kriegst du das nicht.« Interner Abschlussbericht zu den zentralen Erkenntnissen zum Praxisforschungsprojekt »Der Signs-of-Safety-Ansatz im Kreisjugendamt Biberach«. Berlin (bisher unveröffentlicht). Kontakt: [email protected] Turnell, A. (2011). Of houses, wizards and fairies: Involving children in child protection casework (DVD and Workbook). Perth: Resolutions Consultancy. Turnell, A., Edwards, S. (1999). Signs of Safety: A safety and solution oriented approach to child protection casework. New York: Norton. Turnell, A., Essex, S. (2006). Working with »denied« child abuse: The resolutions approach. Bucking ham: Open University Press. Turnell, A., Murphy. T. (2017). Signs of Safety: Comprehensive briefing paper. Perth: Elia International, Perth. https://knowledgebank.signsofsafety.net/ (02.05.2022). Weld, N. (2008). The three houses tool: Building safety and positive change. In M. Calder (Hrsg.), Contemporary risk assessment in safeguarding children. Dorset: Russell House.
Reflektierte Kommunikation – auch im Kinderschutz
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9.5 Reflektierte Kommunikation – auch im Kinderschutz Filip Caby, Andrea Caby
»Die Gesprächsqualität verändert sich deutlich, die Spannung sinkt, die Beiträge sind konstruktiv.« So beschreiben von Schlippe und Quistorp (2020), was passiert, wenn Gesprächsteilnehmende, statt miteinander zu reden, in eine reflektierende Haltung wechseln. Genau diesen Effekt wollen wir uns zunutze machen, um mit allen Beteiligten eines Kinderschutzfalls zu einem für das Kind guten Ergebnis zu kommen. Die Reflektierte Kommunikation (RK) – Entwicklung und Einsatz Die Reflektierte Kommunikation (RK) wurde vor etwa zwanzig Jahren konzipiert. Sie ist seit Längerem aus dem therapeutischen Kontext und der Terminologie »Reflektierende Familien« (RF) herausgewachsen (F. Caby u. Geiken, 2000; F. Caby, 2008). Während sie anfangs im kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Rahmen eingesetzt wurde, in der Gruppenarbeit mit Eltern und Jugendlichen bzw. Kindern, und später im ambulanten Bereich in themenorientierten Gruppen, tauchte sie später in Hilfeplangesprächen auf und bekam dort einen ganz besonderen Stellenwert. Inzwischen setzen die Autoren RK auch in Kontexten von Kita und Schule mit Erfolg ein. Auch auf Großveranstaltungen wie Tagungen wird sie gerne genutzt, um mit der gesamten Zuhörerschaft so etwas wie ein Tagungsfazit zu erarbeiten. Das Reflektieren an sich hat innerhalb der systemischen Geschichte eine eigene Historie (s. Abbildung 1). Die Mailänder Pioniere der Systemik zogen sich in den 1980er Jahren nach einem Familiengespräch zurück, um mit den beteiligten Therapeuten über das Gespräch zu reflektieren und einen Abschlusskommentar zu formulieren, der im Anschluss der betreffenden Familie als Denkanstoß mitgegeben wurde. Tom Andersen (1990/1991) öffnete die Reflexion für die Familie, um ihr dann die Möglichkeit zu geben, eine eigene »Take-Home-Message« zu formulieren. Diese sah sogar möglicherweise für jedes Familienmitglied anders aus. Wir sind in der Klinik in Aschendorf noch einen Schritt weitergegangen, indem wir den Familien zugetraut haben, ganz ohne Experten auszukommen und miteinander bestimmte Themen zu reflektieren. Die Rolle der Experten beschränkt sich dann auf das Anbieten des Settings und auf die Moderation,
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Filip Caby, Andrea Caby
die keinen inhaltlichen Input liefert, sondern darauf achtet, dass der lösungsorientierte Fokus beibehalten wird und alle zu Wort kommen. Das Reflektieren ist seit Andersens »Reflecting Team« in einen lösungs- und ressourcenorientierten Kontext eingebettet und bekräftigt diesen gleichzeitig. So erlebten wir in der Tagesklinik seit Einführung der RK – damals noch als Reflektierende Familien (RF) –, dass die Sprache der Kinder wie der Eltern und Mitarbeiterinnen sich entsprechend änderte (A. Caby, Hubert-Schnelle u. F. Caby, 2005; A. Caby, Vrdoljak, Hubert-Schnelle u. F. Caby, 2009).
Mailänder Gruppe Tom Andersen RK (Caby)
Wie? Experten reflektieren miteinander; Klienten erhalten Reflexionsaufgabe Experten lassen teilhaben an ihrer Reflexion; Klienten hören zu und greifen auf Klienten reflektieren; Experten stellen das Setting und moderieren
Wer reflektiert? Experten unter sich Experten vor Klienten Klienten
Wie lässt sich die Methode RK vom Reflecting Team (RT) differenzieren? Das, was das Reflecting Team ausmachte, war die Einladung der Profis an die Klientinnen, teilzuhaben an deren Gedankengängen. Nach diesem Austausch wurde es dann den Klienten überlassen die Botschaften herauszuziehen, die sie passend fanden (Caby F 2014). Bei der Reflektierten Kommunikation geht es darum, dass die Profis sich thematisch wie auch inhaltlich völlig zurückhalten und Moderatorinnen lediglich darauf achten, dass die Aussagen, die in den Reflexionen gemacht werden, auf das bezogen sind, was in der vorigen Runde stattgefunden hat, und dass alle zu Wort kommen. Eine dritte Aufgabe ist, darauf zu achten, dass die Inhalte dessen, was zurückgemeldet wird, zur Fragestellung (Was gefällt mir, was ist mir neu?) und zum Thema passen. Das heißt, dass letztendlich ein Setting stattfindet, ohne dass professionelle Inhalte mit eingestreut werden. Das bedeutet, dass die Profis den Teilnehmenden zutrauen, selbst in der Lage zu sein, am Ende eine passende Botschaft herauszuarbeiten. Abbildung 1: Historie des Reflektierens im systemischen Feld
Wenn die Teilnehmenden Professionelle sind, dann trifft das umso mehr zu. Die Moderatorin oder der Moderator ist Profi genug, sich zurückzuhalten, und achtet nur auf den Prozess. Alle Teilnehmenden werden mit ihrer Meinung
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und ihren Reflexionen ernst genommen. Am Ende des dreiphasigen Verlaufs (s. unten) sollte man sich idealerweise noch die Zeit nehmen, ein Fazit zu formulieren. Das Thema Kinderschutz scheint sich – systemisch betrachtet – in eine Richtung zu entwickeln, dass immer mehr Fallbeteiligte in gemeinsamen Prozessen unterwegs sind (F. Caby, 2020). Dadurch eignet sich die Reflektierte Kommunikation besonders, in diesem Rahmen zum Einsatz zu kommen. Reflektiertes Kommunizieren wird immer wichtiger, je mehr Menschen an einem Prozess beteiligt sind. Im Beitrag über »Signs of Safety« (s. Kapitel 9.4) ist ebenfalls die Rede von einem Netzwerk, das das Kindeswohl im Blick hat. Es ist von Prozessbeteiligten die Rede, die gemeinsam mit dem Kind und der Familie an der Sicherheit für das Kind arbeiten. Auch da könnte eine Kombination mit dem Einsatz von RK lohnenswert sein, wollte man das »Signs of Safety«-Konzept weiter etablieren. Die Autoren machten im Übrigen sehr gute Erfahrungen mit dem RKSetting in Kooperationssitzungen mit dem Jugendamt. Es ermöglichte einerseits ein besseres gegenseitiges Kennenlernen der Beteiligten, was hilfreich ist beim Ausarbeiten etwa eines Kooperationsvertrags, und andererseits einen gelingenden Einstieg in gemeinsame Prozesse. Von da zum Einsatz der RK in Hilfeplangesprächen war es nur ein kleiner Schritt. Entscheidend ist, dass alle Gesprächspartner bereit sind, sich auf das Abenteuer des Reflektierens einzulassen. Wenn man es einmal erlebt hat, scheint allen schnell klar zu sein, welche Potenziale in dem Vorgehen stecken. Sara war zehn Jahre alt, als sie dem Team des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) zum ersten Mal vorgestellt wurde. Die Familie ist aus den Niederlanden zugezogen, ihr Vater arabischer Herkunft. Die fünf- und 15-jährigen (Halb-)Brüder waren bereits wegen eines ADHS bekannt. Damals hatte Sara nach Angaben der Mutter zunehmend Bauchschmerzen, Lernprobleme und Schwierigkeiten mit Aggressionen im Familienalltag. Es erfolgte zunächst eine diagnostische Abklärung, die die Diagnosen funktionelle Bauchschmerzen, ADS und Lernstörung ergab. Sarahs Familie gehört zu den sogenannten »Grenzpendlern«, die in zwei Ländern gleichzeitig leben, wohnen, arbeiten und lernen. Ihr Vater ist für eine niederländische Firma als Kraftfahrer beschäftigt, die Mutter arbeitet als Physiotherapeutin in einer deutschen Praxis. Eine wichtige Stütze sind die Großeltern mütterlicherseits. Aktuell wohnt die Familie in einer deutschen Kleinstadt, Familiensprachen sind Niederländisch, Arabisch, Deutsch und Englisch. Sara beklagt, von ihren neuen Mitschülerinnen nicht immer gut verstanden zu werden. Sie selbst kann sich in
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Filip Caby, Andrea Caby
allen vier Sprachen mitteilen und an Gesprächen beteiligen, erlebt dies aber bisher nicht als eine Kompetenz. Die Familie fällt durch eine geringe Absprachefähigkeit auf, es sei denn, »es brennt«. Zwischen den »Bränden« laufe es nach ihren Angaben gut. Damals kam es wieder zu einer dringenden Terminanfrage wegen eines Beratungsgesprächs. Die anlassgebende familiale Eskalation darüber, dass die Kinder sich nicht genug am Haushalt beteiligen würden, war so brisant, dass die Erwachsenen und die drei Kinder nur getrennt »interviewt« werden konnten, allerdings in Anwesenheit der jeweils anderen. Nach den beiden Abschnitten wurden alle danach gefragt, was beim Beobachten positiv aufgefallen war. Am Ende des gemeinsamen Gesprächsabschnitts ergab sich eine spürbare Entspannung und sogar eine Zufriedenheit: Vieles ist doch besser als gedacht. Hier wurde also »reflektiert kommuniziert«, um die Konfliktlinie zu unterbrechen. Hier gelang sehr gut, was in der Gesprächssituation zu Hause nicht klappte: Der eigene Wahrnehmungsfokus wurde jeweils überprüft, und Vorwürfe konnten von der Mutter fallen gelassen werden. Die Stimmung war zum Positiven gekippt. Fünf Jahre später wurde Sara erneut vorstellig, diesmal in der Kinder- und Jugendpsychiatrie desselben Trägers. Der akute Anlass war ein erheblicher Konflikt zwischen ihr und dem Vater, wonach sie von zu Hause weggelaufen sei und bei ihrer Oma Unterschlupf gefunden habe. Der erste Termin fand lediglich mit der Mutter statt, die völlig verzweifelt über die massive Eskalation berichtete, die sich zu Hause ergeben habe. Es sei diesmal darum gegangen, dass der Vater eine sehr klare Vorstellung davon hatte, wie Mädchen sich zu verhalten haben, wogegen Sara sich zur Wehr gesetzt habe. Ein nächster Termin fand nur mit beiden Eltern statt, Sara lebe nach wie vor bei der Oma. Der Vater bestätigte seine Sichtweise und konnte deutlich »nicht aus seiner Haut heraus«. Es wurde ein Familiengesprächstermin vereinbart, zu dem Sara und die Oma auch erschienen. Der Vater war diesmal nicht dabei, stattdessen Saras älterer Bruder. Es gab ein gutes Einvernehmen, jedoch wurde kein Anlass gesehen, an der derzeitigen Wohnsituation etwas zu ändern. Zwei Wochen später rief die Kindesmutter tränenüberströmt an, um mitzuteilen, dass Sara nun vom Jugendamt an einem unbekannten Ort untergebracht worden sei. Die Mutter berichtete, dass Sara bei ihrer Oma vom Jugendamt besucht worden sei. Deren Mitarbeiterinnen gegenüber habe sie ihrem Bruder sexuell übergriffiges Verhalten vorgeworfen. In einem weiteren Einzeltermin konnte Sara genau schildern, was aus ihrer Sicht alles passiert war, wobei allerdings nicht so richtig deutlich wurde, was sie davon gewollt hatte und was nicht. Sie berichtete, selbst wiederholt auf ihren Bruder zugegangen zu sein und ihn in seinem Zimmer besucht zu haben. Dort habe sie sich auf ihn gesetzt und er habe dann sexualisierte Handlungen an ihr vollzogen.
Reflektierte Kommunikation – auch im Kinderschutz
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Nach Überlegungen mit dem Jugendamt wurden alle Beteiligten zu einer Gesprächsrunde eingeladen, in der nach dem Setting der Reflektierten Kommunikation vorgegangen werden sollte. Anwesend waren die Verfahrensbeiständin, zwei Jugendamtsvertreterinnen, die Mutter, die Oma, ein Mitarbeiter der Einrichtung, in der Sara untergebracht war, Sara, ihre Klassenlehrerin und der Verfasser (F. C.). Da es die erste Zusammenkunft nach der Fremdunterbringung und die Stimmung entsprechend ziemlich geladen war, wurde zunächst niederschwellig nach der jeweiligen Betroffenheit gefragt. Im weiteren Verlauf startete die erste Phase der Reflektierten Kommunikation, mit Sara, Mutter und Oma in der Beobachterrolle. Die Anfangsfrage – nach entsprechender Aufklärung über das Setting – war: »Was läuft zurzeit gut?« Sara quittierte die Frage mit: »Wie damals! Weiß ich noch!« In dieser Phase kommunizierten die Mutter, die Oma, die Jugendamtsvertreterinnen, die Lehrerin und der Wohngruppenmitarbeiter miteinander. In der zweiten Phase konnten die Beobachterinnen miteinander reflektieren über das, was ihnen in der ersten Runde gefallen hat. Die Beobachtenden hörten mit dem gleichen Fokus zu: Was gefällt uns an dem, was wir hören? Die Familie äußerte ihre Freude darüber, dass so viele Menschen an einer guten Zusammenarbeit interessiert waren, ohne der Familie »etwas zu wollen«. In der dritten Phase entwickelte sich eine konstruktive Stimmung über das weitere Prozedere, wobei auch die Familie sich damit einverstanden erklären konnte, die Situation erst einmal bestehen zu lassen, mit der gemeinsamen Feststellung, dass Sara zurzeit am besten geschützt sei – auch wenn es noch eine große Verunsicherung darüber gab, was da nun passiert war. Der Mutter war wichtig, von Sara zu hören, dass die Situation so für sie okay sei. Die Methode der RK hatte, in Verbindung mit einem lösungs- und ressourcenorientierten Rahmen, dazu beigetragen, die aktuelle Brisanz aus dem Fall zu nehmen. Während der ambulanten Weiterbetreuung durch den Verfasser (F. C.) kam das Setting noch einige Male in unterschiedlichen Konstellationen zum Einsatz und konnte dazu beitragen, weitere Sorgen, Stärken und Zukunftsideen zu thematisieren. Die mittlerweile 16-jährige Sara lebt wieder bei ihren Eltern, ihr Bruder in den Niederlanden. Nach Saras Angaben ist der Stress mit dem Vater weniger geworden, die Mutter schlichte notfalls zwischen beiden. Das Jugendamt hat auch für den Bruder eine Jugendhilfemaßnahme eingerichtet, nachdem dieser eingestanden hatte, »Grenzen überschritten« zu haben. Er sei allerdings von »Einvernehmen« zwischen ihm und seiner Halbschwester ausgegangen. Auch Sara konnte in der weiteren Therapie ihren Anteil an der »Tat« erkennen.
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Filip Caby, Andrea Caby
Ablauf der Reflektierten Kommunikation Die RK findet meistens zwischen zwei Gruppen statt, der Ablauf besteht aus drei Gesprächsphasen. Diese zwei Gruppen können Familien oder Subsysteme von Familien, Schulklassen oder andere Kinder-/Jugendlichengruppen sowie ihre Bezugspersonen sein, genauso wie Teams oder deren Untergruppen. Hier soll es um das Helfersetting gehen, das zusammenkommt, um sich mit einem »Kindeswohlgefährdungsfall« auseinanderzusetzen. Aus der vorhandenen Personengruppe werden zwei zufällig verteilte Untergruppen gewählt, die miteinander die RK durchführen. Die Aufgabe der Moderation ist, am Anfang das Prozedere zu erläutern und den Fokus der Beobachtung festzulegen. Der besteht meistens aus zwei Fragen: 1. Was gefällt mir an dem, was ich da höre? 2. Was ist mir neu an dem, was ich da höre? Bei fortgeschrittenen Gruppen kann es darum gehen, folgende dritte Frage zu stellen: 3. Welche Ideen entstehen beim Zuhören? Letztere Frage wird natürlich auch eingesetzt, wenn die RK nur mit Profis durchgeführt wird. Das Thema der Sitzung wird meistens von der Gruppe selbst festgelegt. Hier ergibt es sich quasi von allein: Das Kindeswohl ist das übergeordnete Thema. Dabei geht es entweder um die Feststellung, ob hier überhaupt eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, oder/und was zu tun ist. Erste Phase
Mit dem durch die Frage der Moderation vorgegebenen Fokus startet die erste Gruppe und kommt miteinander ins Gespräch über das Thema. Die zweite Gruppe hört in dieser Zeit zu, beobachtet Gruppe eins und registriert den Prozess mit dem obigen Fokus, sodass die eigene Wahrnehmung sich dahingehend verschärft, dass nur das wahrgenommen wird, was einem gefällt oder was einem neu ist. Die Rolle der Moderation ist, dafür zu sorgen, dass alle in der Gruppe eins zu Wort kommen und dass das Thema mit einer wertschätzenden Haltung im Blick behalten wird. Die Dauer dieser ersten Runde ist unbestimmt, meistens dauert sie etwa 20–25 Minuten. Auf Sara bezogen konnte in dieser Runde durch die Frage nach dem, was gerade gut laufe, der Druck aus der Situation herausgenommen werden.
Reflektierte Kommunikation – auch im Kinderschutz
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Zweite Phase
Nach dem Gesprächsende in Gruppe eins wird die Phase eins abgeschlossen und die Beobachterrolle gewechselt: Der Fokus geht dann ab sofort von Gruppe eins auf Gruppe zwei über. Dies bedeutet: Jetzt beobachtet Gruppe eins, was die Teilnehmenden der Gruppe zwei miteinander besprechen. Der Auftrag von Gruppe zwei ist es, zu reflektieren, was die Gruppe eins miteinander besprochen hat. Die Aufgabe der Moderation ändert sich daher an dieser Stelle. Sie muss darauf achten, dass alles, was in Gruppe zwei gesagt wird, auf Inhalte bezogen ist, die in Gruppe eins besprochen wurden. Es sei denn, Frage drei wird mit hineingenommen, dann können auch andere Ideen entstehen. Auch hier achtet die Moderation darauf, dass alle zu Wort kommen. Auf unseren Fall bezogen gelang es in der zweiten Runde, eine konstruktive Stimmung zu erzeugen, mit der Möglichkeitsräume geschaffen werden konnten. Dritte Phase
Am Ende der zweiten Runde werden die Rollen noch einmal umgedreht. Gruppe eins übernimmt wieder die Gesprächsführung und reflektiert die Reflexion der Gruppe zwei. Gruppe eins reflektiert also die Reflexionen über das, was sie selbst in der ersten Phase gesagt hat. Auch hier bleibt es wichtig, dass die Moderation darauf achtet, dass auch in der dritten Phase alles Gesagte sich auf das bezieht, was in Phase zwei besprochen worden ist. Es ergibt sich daraus relativ zwangsläufig eine Kernbotschaft. Für Sara und ihre Familie ergab sich so eine von allen Teilnehmenden getragene Akzeptanz der derzeitigen Wohnsituation und das Wiederaufgreifen der innerfamiliären Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Besonders spannend ist es, sich vorzustellen, dass auch die betroffenen Kinder an so einer RK-Runde teilnehmen und genauso gehört werden wie alle anderen auch. Deswegen scheint es uns nachvollziehbar zu sein, dass die Reflektierte Kommunikation auch bzw. gerade im Bereich der Kindeswohlgefährdung einen Platz hat. Bestehende Modelle von Kinderschutzarbeit könnten möglicherweise noch effektiver sein, wenn ein Setting wie die Reflektierte Kommunikation in die Prozessgestaltung integriert würde, weil der jeweilige Ansatz dann noch fokussierter als bisher wirken kann und alle Netzwerkpartner:innen mit hoher Transparenz und Beteiligung mitgenommen werden.
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Friederike Gerstenberg, Ansgar Röhrbein
Reflektierte Kommunikationssitzungen führen auch regelmäßig zu überraschenden, aber sehr positiven Ergebnissen. Sie können somit Prozesse in eine völlig neue Richtung bewegen. Literatur Andersen, T. (1990). Das reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über Dialoge. Dortmund: Modernes Lernen. Andersen, T. (1991). Beziehung, Sprache, Verstehen in reflektierenden Systemen. Sprache, 3, 102–111. Caby, A., Hubert-Schnelle, C., Caby, F. (2005). Ressourcen- und lösungsorientierte Sprache im tagesklinischen Setting am Beispiel von Reflektierender Gruppentherapie. Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung, 23, 187–192. Caby, A., Vrdoljak, S., Hubert-Schnelle, C., Caby, F. (2009). Reflektierende Familien (RF) im tagesklinischen Setting. Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 3, 6–13. Caby, F. (2008). Reflektierende Familien – oder Bench Marking für Familiensysteme. Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Heft 4/2008, 46–59. Caby, F. (2020). Gemeinsames Reflektieren sorgt für einvernehmliche Lösungen. In DGSF (Hrsg.), Systemischer Kinderschutz: Kontexte, Wechselwirkungen und Empfehlungen (2. Aufl., S. 91–92.). Köln: DGSF. Caby, F., Geiken, G. (2000). Reflecting Families. Vortrag beim Symposium »Zum Stand der Kunst – Systemische Therapie und Organisationsentwicklung in psychiatrischen Einrichtungen«. Heidelberg, 3./4. Februar 2000. Schlippe, A. von, Quistorp, S. (2020). Der Preis der Gerechtigkeit – ein Dilemma der Unternehmerfamilie. Kontext, 51 (3), 281–289.
9.6 »Manchmal lohnt es sich, in den Spiegel zu schauen« – Leitfadengestützte Interviewbögen, die zum Dialog einladen Friederike Gerstenberg, Ansgar Röhrbein
Die Kinderschutzarbeit in den diversen psychosozialen Arbeitsfeldern stellt an die Fachkräfte nicht selten erhebliche Anforderungen, und sie geraten schnell in ein Spannungsfeld unterschiedlichster Erwartungen, die auch an die eigenen persönlichen Grenzen führen können. So sollen Krisensituationen schnell entschärft, mögliche Problemlagen zügig erkannt, betroffene Kinder effektiv geschützt und hilfesuchende Erwachsene für einen geeigneten Weg gewonnen werden. In ihrer Arbeit sollen die Fachkräfte dabei selbst gefestigt sein, um »Fels in der Brandung« sein zu können. Darüber hinaus gilt es als wichtig, dass die
»Manchmal lohnt es sich, in den Spiegel zu schauen«
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anvertrauten Menschen mit Ruhe, Gelassenheit sowie Wohlwollen begleitet und unterstützt werden. Gar nicht so einfach. Insbesondere, da sich viele der familiären Problemlagen eher im »Graubereich« einordnen lassen und es häufig wenig Eindeutigkeit gibt. Nicht selten ein zusätzlich belastender Aspekt. Woran bin ich eigentlich mit dieser Familie? Wie geht es dem Kind bzw. den Kindern? Wie hoch ist das Risiko, dem die Kinder ausgesetzt sind? Und was tun die Eltern dagegen? Inzwischen gibt es zahlreiche Gefährdungseinschätzungsbögen und Instru mente, die bei einer solchen Risikobewertung eingesetzt werden können (vgl. exemplarisch Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst [ASD]; Kindler, Lillig, Blüml, Meysen und Werner, 2006) und Fachkräften durch diverse Items in unklaren Situationen dabei helfen sollen, mehr Klarheit in der Bewertung von komplexen Sachverhalten und Interaktionen und letztlich für ihr weiteres Handeln zu erlangen. In einer Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren (2011, S. 2) heißt es einleitend dazu: »Gefährdungseinschätzungs-Bögen sind als Instrumente der Qualitätssicherung gedacht. Sie sollen dazu beitragen, schwere KinderschutzFehler zu verhindern, den fachlichen Standpunkt präziser zu beschreiben und im Nachhinein die Fachlichkeit des eigenen Handelns darstellen zu können.« In Bezug auf den Einsatz solcher Bögen weisen die Kinderschutz-Zentren jedoch auch darauf hin, dass das eine oder andere Instrument durchaus einer kritischen Betrachtung bedürfe, insbesondere dann, wenn der Erhebungsbogen vorgebe, ein verbindliches Ergebnis zu erzielen. Aus ihrer Sicht (S. 2) wird die »Qualität der Gefährdungseinschätzung […] von diversen Faktoren bestimmt: Ȥ Gefährdungseinschätzung kann nur in einer beziehungs- und prozessorientierten (und daher nicht einmaligen) Begegnung mit Familien stattfinden. Ȥ Gefährdungseinschätzung beinhaltet den (ebenfalls prozessorientierten) Blick auf Ressourcen sowie Problem- und Hilfeakzeptanz der Familien. Ȥ Gefährdungseinschätzung ist darüber hinaus nicht unabhängig von der einschätzenden Fachkraft, dem Helfersystem und dem Gesamtkontext des Falles zu sehen. Bei der Auswahl oder Erstellung solcher Bögen sollte darauf geachtet werden, dass sie Ȥ beziehungs- und prozessorientiert aufgebaut sind. Ȥ gleichermaßen Risiken und Ressourcen abbilden. Ȥ Veränderungsmotivation und -potenziale in den Blick nehmen. Ȥ Raum bieten, um Helferkontroversen, Risikofaktoren im Helfersystem und Risiken des Instrumentes selbstkritisch im Blick zu halten und zu thematisieren.«
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Friederike Gerstenberg, Ansgar Röhrbein
Aus unserer Sicht sind dies alles wichtige Aspekte, die bei der Verwendung eines Instrumentariums zur Einschätzung einer familiären Situation eine Rolle spielen. Im Regelfall sind die Bögen so aufgebaut, dass die Fachkräfte ihre Bewertung für die Familie ohne die Familie vornehmen. Im Folgenden wollen wir zwei von Ansgar Röhrbein entwickelte Selbsteinschätzungsbögen vorstellen, die aus Sicht von Friedericke Gerstenberg zugleich die Kriterien eines leitfadengestützten Interviews erfüllen und sich dadurch auszeichnen, dass gemeinsam mit den Beteiligten eine Analyse der Situation vorgenommen wird, um währenddessen zugleich mit den Müttern und Vätern (vgl. Eickhorst u. Röhrbein, 2016) hilfreich ins Gespräch zu kommen. Mütter und Väter im Dialog mit sich selbst Der erste dieser Bögen entstand sozusagen als »Nebenprodukt« zu dem Buch »Mit Lust und Liebe Vater sein. Gestalte die Rolle deines Lebens« (Röhrbein, 2010), als es sich als total wertvoll erwies, mit Müttern und Vätern ihr eigenes Handeln und gegebenenfalls Unterlassen im Umgang mit ihren eigenen Kindern anhand einzelner Skalierungsoptionen in den Blick zu nehmen. Die theoretische Grundlage für diesen Bogen lieferte zum einen das Modell der Beziehungsmotive von Rainer Sachse (2001) und zum anderen das Grundkonzept der lösungsfokussierten Beratung und Therapie nach de Shazer und Berg (vgl. Steiner, 2013). Beziehungsorientiert, lösungsfokussiert und verständnisvoll Sachse beschreibt in seinem Buch »Persönlichkeitsstörungen« ein Modell, das von sechs Beziehungsmotiven von Menschen ausgeht (vgl. Sachse, 2001, S. 42 f.), die er in der 3., überarbeiteten Auflage (2019) noch einmal sprachlich angepasst hat. Eine Erfüllung dieser Motive durch andere Bezugspersonen unterstützt die konstruktive Entwicklung des Kindes und Jugendlichen (2019, S. 16 f.): »Das Motiv nach Anerkennung ist das Motiv, von anderen (relevanten) Personen positives Feedback zu erhalten, also das Feedback zu erhalten, ›ok‹ zu sein, liebenswert zu sein, […] als Person geschätzt zu werden. Das Motiv nach Wichtigkeit ist das Motiv, im Leben einer anderen Person eine wichtige Rolle zu spielen […] für eine andere (relevante) Person eine Bedeutung haben. Das Motiv nach Verlässlichkeit ist das Motiv, sich darauf verlassen zu können, dass eine Beziehung stabil, überdauernd und belastbar ist.
»Manchmal lohnt es sich, in den Spiegel zu schauen«
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Das Motiv nach Solidarität ist das Motiv, dass man von einer anderen Person Hilfe, Unterstützung, Zuspruch, Schutz u. a. bekommt, wenn man dies benötigt. Das Motiv nach Autonomie ist das Motiv, dass andere (relevante) Personen respektieren, dass man eigene Entscheidungen trifft, in wesentlichen Berei chen selbstbestimmt handelt und damit auch für sich selbst Verantwortung übernimmt. Das Motiv nach Grenzen/Territorialität ist das Motiv, dass andere (relevante) Personen akzeptieren, dass man eigene persönliche Domänen mit Grenzen definieren kann, die man schützen darf und in die andere nicht ohne eigene Erlaubnis eindringen dürfen (z. B. die Domäne ›eigener Körper‹, ›eigenes Zimmer‹, ›eigener Schreibtisch‹ u. a.).« Therese Steiner, langjährige Weggefährtin von de Shazer und Berg, beschreibt die Entwicklung des lösungsfokussierten Ansatzes wie folgt (2013, S. 13 f.): »Die lösungsfokussierte Therapie wurde von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg Anfang der 80er-Jahre gemeinsam mit anderen Teammitgliedern im BFTC (Brief Family Therapy Center) in Milwaukee entwickelt. […] Minutiöse Beobachtungen und Analysen von Beratungen ließen das Milwaukee-Team nach einer gewissen Zeit die folgenden Grundannahmen formulieren: 1. Wenn etwas funktioniert, tue mehr davon, wenn es nicht funktioniert, tue etwas anderes. 2. Kleine Schritte können zu großen Veränderungen führen. 3. Die Lösung ist nicht unbedingt direkt mit dem Problem verbunden. 4. Kein Problem ist permanent in gleichem Ausmaß vorhanden: Es gibt immer Ausnahmen, die genutzt werden können. Ausnahmen deuten auf Lösungen hin. 5. Die Beschreibung und die Sprache, die wir für das Problem benutzen, sind andere als die, die man benötigt, um die Lösung zu beschreiben. 6. Die Zukunft ist konstruier- und verhandelbar. 7. If it’s not broken, don’t fix it. Wenn vom Klienten etwas als intakt wahrgenommen wird, soll der Berater es nicht zu reparieren suchen. 8. Jeder Mensch hat Ressourcen, um in seinem Leben positive Veränderungen zu erwirken.« Es zeigt sich, welche Schätze in diesen beiden Konzepten und insbesondere dieser Zusammenfassung stecken, die in die Lehre und Arbeit zahlreicher Insti tute und Teams gewinnbringend aufgenommen wurden und sich in der Art des Fragens und Vorgehens vieler Kolleginnen und Kollegen wiederfinden.
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Friederike Gerstenberg, Ansgar Röhrbein
Insbesondere der Glaube an die vorhandenen Ressourcen wie auch die Suche nach dem (bereits) Funktionierenden und den vorhandenen Ausnahmen (vom Problem) haben sich in der kleinschrittigen Arbeit mit den Klient:innen in vielfacher Hinsicht ausgezahlt. Die für den ersten Selbsteinschätzungbogen entwickelten Grundaussagen (s. Abbildung 1), analog zu den Bedürfniskategorien von Rainer Sachse, eignen sich besonders gut, um zum einen die Zufriedenheit im Miteinander und zum anderen die weiteren Entwicklungswünsche aneinander untereinander auszutauschen. Da es sich um ein systemisches Instrument handelt, geht es nicht um »richtig oder falsch«, sondern nur um die jeweilige persönliche Einschätzung in Bezug auf die aktuelle Lebens- und Beziehungssituation, um darauf aufbauend lösungsorientiert nach geeigneten Wegen zu suchen. Wo sind Sie bereits mit sich (und den anderen) zufrieden und was wollen Sie wofür in den Fokus nehmen bzw. gegebenenfalls verändern? Was gelingt Ihnen bereits gut, was wollen Sie noch ausbauen? Psychologisch-diagnostische Standortbestimmung Die Arbeit mit Familien – Kindern, Jugendlichen und Eltern – nach einer Kindeswohleinschätzung stellt sich häufig als komplex und dynamisch dar (Schulze-Krüdener, 2007; Schulze-Krüdener u. Homfeldt, 2013). Vielen Fachkräften stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, mit Kindern, Jugendlichen und Eltern lösungs- und ressourcenorientiert ins Gespräch zu kommen. Bei den hier vorgestellten Selbsteinschätzungsbögen handelt es sich um ein mehrstufiges Vorgehen. Zum einen werden die Väter und Mütter eingeladen, »in den Spiegel zu schauen« und für sich selbst einzuschätzen, in welchen Kategorien sie bereits im Sinne ihres Kindes unterwegs sind und wo sie gegebenenfalls noch Veränderungswünsche aus Sicht ihres Kindes erleben oder sehen. Nachdem die Eltern in einem ersten Durchgang für sich selbst eingeschätzt haben, zu wie viel Prozent die jeweilige Aussage auf sie zutrifft, werden sie in einem zweiten Schritt dazu eingeladen, den Bogen aus Sicht des Kindes, des Partners bzw. der Partnerin, der Therapeutin bzw. des Therapeuten, der sozialpädagogischen Familienhilfe etc. noch einmal auszufüllen bzw. zu ergänzen. Dieses Vorgehen kann als dialogorientiertes Selbsteinschätzungsverfahren bezeichnet werden oder eben auch als leitfadengestütztes Interview. Das hochgradig standardisierte Vorgehen bringt dabei aus psychologisch-diagnostischer Perspektive verschiedene Vorteile mit sich, die sich vor allem in der Güte der Beantwortung niederschlagen. Grundsätzlich soll psychologische Diagnostik auf einer theoriegeleiteten, systematischen Sammlung hochwertiger Informa-
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»Manchmal lohnt es sich, in den Spiegel zu schauen«
Dokumentationsbogen für Mütter und Väter zur Einschätzung ihres eigenen Verhaltens im Umgang mit ihren Kindern Name des Elternteils:__________________________________ Datum:__________________________ Unterschrift:___________________________ Zuständige Fachkraft:_____________________________ Im Folgenden finden Sie einige Aussagen zur Alltagsgestaltung und zum Kontakt zwischen Ihnen als Mutter / Vater und Ihren Kindern. Was glauben Sie, wie stark trifft die jeweilige Aussage auf Sie persönlich zu? Kreuzen Sie an: von 0 = trifft überhaupt nicht zu bis zu 10 = trifft sehr stark auf mich (als Mutter / Vater) zu. Bei mehreren Kindern wählen Sie bitte für jedes Kind eine eigene Farbe. Vielen herzlichen Dank! Ich zeige jedem Kind regelmäßig, dass ich es gern habe
trifft überhaupt nicht zu trifft voll zu 0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Mein(e) Kind(er) bringen mich häufig an meine Grenzen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich kann meinem Kind (den Kindern) vertrauen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich nehme mir regelmäßig Zeit für jedes Kind
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Mein(e) Kind(er) erhält (erhalten) eine ausgewogene Ernährung 0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10 Ich fühle mich oft durch mein Kind (die Kinder) überfordert
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Wenn ich mit den Kindern rede, ist meine Stimme ruhig
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich sorge für eine abwechslungsreiche Freizeit und Förderung
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Wenn ich nein sage, dann bleibe ich dabei
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich genieße den Kontakt mit dem Kind (den Kindern)
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich nehme mein(e) Kind(er) in seinen (ihren) Gedanken ernst
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich achte bei uns auf eine gute Hygiene und Sauberkeit
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
In einigen Situationen werde ich schnell ungeduldig
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich setze auf jedem Fall um, was ich angekündigt habe
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich lobe und wertschätze meine Kinder regelmäßig
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich verhandle viel mit dem Kind (den Kindern)
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Mein(e) Kind(er) kann/können sich jederzeit auf mich verlassen 0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10 Es fällt mir leicht, mein(e) Kind(er) in den Arm zu nehmen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Meine Konsequenzen sind angemessen und logisch
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Im Streit habe ich schon oft die Kontrolle über mich verloren
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich bin stolz auf meine Tochter / meinen Sohn
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Manchmal bekomme ich nicht alle Dinge unter einen Hut
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
In bestimmten Situationen kann ich einlenken bzw. nachgeben 0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10 Ich halte alle Räume in einem ordentlichen Zustand
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Teilweise erwarte ich zu viel von meinem Kind (den Kindern)
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© Diplom-Pädagoge Ansgar Röhrbein
Abbildung 1: Dokumentationsbogen für Mütter und Väter zur Einschätzung ihres eigenen Verhaltens im Umgang mit ihren Kindern
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Friederike Gerstenberg, Ansgar Röhrbein
tionen beruhen, um relevante Merkmale möglichst genau beschreiben zu können (Schmitt u. Gerstenberg, 2014, S. 13). Dieses Vorgehen ermöglicht es, per spektivisch Maßnahmen zu ergreifen, die bestmöglich geeignet sind, erwünschte Handlungen herbeizuführen oder zu bewahren und unerwünschte Handlungen zu verhindern oder zu beseitigen. Was bedeutet das nun für das Vorgehen mit diesen dialogorientierten Selbsteinschätzungsbögen? Die Selbsteinschätzungsbögen sind theoriegeleitet konstruiert auf der Basis der Grundbedürfnisse nach Sachse (2001, 2019), des lösungsorientierten Vorgehens nach de Shazer und Berg (Steiner, 2013) und der zirkulären Perspektive aus der systemischen Therapie und Beratung. Die sechs Grundbedürfnisse nach Sachse werden durch verschiedene Aussagen systematisch abgebildet. Gleichzeitig wird, nach dem ersten Ausfüllen, die Einladung zum Perspektivwechsel basierend auf systemischen Grundgedanken ermöglicht. Gerade diese zirkuläre Perspektive soll neue Gedankenspiele, die den verständnisvollen Dialog eher wahrscheinlich werden lassen, eröffnen. Das »Hineinversetzen« in den jeweils anderen schließt die Tür für neue Möglichkeiten auf. Wichtig auch hier: Die Bereitschaft zum Perspektivwechsel braucht Zeit, um sich entwickeln zu können, und das Grundvertrauen in den Therapeuten oder die Therapeutin: »Ja, sie bzw. er nimmt uns genauso wichtig wie unsere Tochter/ unseren Sohn und bevorzugt keinen von uns.« Die Selbsteinschätzungsbögen sollen die Beteiligten zu einem Dialog über Gelingendes und Gewünschtes anregen, dazu, die tragenden Elemente der Beziehung (wieder) zu entdecken, den Konflikt konstruktiv nutzbar zu machen und die Lösung gemeinsam in Angriff zu nehmen. Daneben steht das Verständnis für die jeweilige »andere Seite« mit im Vordergrund. Jugendliche in unklaren Gefährdungslagen Der zweite Selbsteinschätzungsbogen zur Einschätzung der eigenen Lebenssituation entstand 2016 auf einer Fachtagung der Kinderschutzzentren in Kiel, als es um das Thema ging: »Jugendliche in den Blick – Übergänge und Übergangene in der Kinder- und Jugendhilfe« und im Rahmen eines Workshops mit Praktiker:innen aus Jugendhilfe, Kliniken, Justiz, Polizei und Schule die Frage aufkam, ob sich diese Form nicht auch auf Jugendliche übertragen lasse. Gefragt, getan, und so entstand der zweite Bogen, der nach denselben Kriterien zur Anwendung kommt wie bereits beim ersten Bogen beschrieben. Zunächst wird die oder der Jugendliche eingeladen, die eigene Situation einzuschätzen, und im zweiten Schritt kann die Therapeutin oder der Therapeut dazu einladen, zirkulär andere Perspektiven einzunehmen: »Was denkst du, wo würde XY etc.
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»Manchmal lohnt es sich, in den Spiegel zu schauen«
das Kreuzchen setzen? Was heißt das für dich? Was glaubst du, was jetzt dran ist? Was denkst du, was ich glaube, was dran ist? Und deine Eltern? Lass dir Zeit …« Wichtig: Die oder der Jugendliche bestimmt das Tempo und ist der Schlüssel zum geeigneten Vorgehen (s. Abbildung 2). Einschätzungsbogen für Jugendliche zur eigenen Situation Name der/des Jugendlichen:_____________________________ Datum:__________________________ Unterschrift:_________________________ Zuständige Fachkraft:_______________________________ Im Folgenden findest Du einige Aussagen zur Alltagsgestaltung von Jugendlichen und ihrem Empfinden. Kreuze an: von 0 = trifft überhaupt nicht auf mich zu bis zu 10 = trifft sehr stark auf mich zu. Danach würde ich gerne mit Dir dazu ins Gespräch kommen. Vielen herzlichen Dank! Ich weiß, was ich in der Zukunft werden will
trifft überhaupt nicht zu trifft voll zu 0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich gehe gefährliche Risiken ein, ohne nachzudenken
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Mein Vater zeigt mir regelmäßig, dass er mich gern hat
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich brauche Suchtmittel, um den Tag zu überstehen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich weiß, wofür ich in die Schule gehe
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Auf die Aussagen meiner Eltern kann ich mich verlassen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich sorge für eine abwechslungsreiche Freizeit
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Meine Mutter zeigt mir regelmäßig, dass sie mich gern hat
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich fühle mich in meiner Klasse bzw. Schule wohl
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In meinem Leben gibt es Menschen, die zu mir stehen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Wenn ich nicht respektiert werde, schlage ich drauf
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Meine Eltern setzen um, was sie ankündigen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich bin drogenfrei
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Im Moment finde ich alles sinnlos
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich habe wechselnde Sexualpartner:innen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich achte auf eine gute Hygiene und Sauberkeit
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Auf meine Freunde kann ich mich jederzeit verlassen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich freue mich auf die nächste Woche
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich habe regelmäßig ungeschützten Sex
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Vielen Erwachsenen kannst du nicht trauen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Im Streit habe ich schon oft die Kontrolle über mich verloren
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich weiß, was mir guttut und mich beruhigt
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Ich habe erlebt, dass ich geliebt werde
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
Manchmal gerate ich in bedrohliche Situationen
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
In bestimmten Situationen kann ich einlenken bzw. nachgeben 0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10 Ich habe Wünsche, die ich mir erfüllen will
0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10
© Diplom-Pädagoge Ansgar Röhrbein
Abbildung 2: Einschätzungbogen für Jugendliche zur eigenen Situation
450
Friederike Gerstenberg, Ansgar Röhrbein
Die Situation in ihrer Vielfalt sehen können Aus unserer Sicht haben Karin Böllert und Martin Wazlawik eine der wesentlichen Haltungen im Umgang mit Familien in Krisen bereits treffend formuliert. Nach ihrer Einschätzung ist »die Suche nach den Ursachen […] (in der Regel) müßig« (2012, S. 22). Wichtig erscheint: Was trägt? Was fehlt? Was gilt es, wiederzufinden bzw. neu aufzubauen? Was beunruhigt? Was beruhigt? Wie kann ein gemeinsamer Plan aussehen und was ist jede und jeder bereit, dafür zu tun? Das setzt zumindest die (Rückkehr zu der) Idee voraus: Es lohnt sich – es kann (wieder) gut werden. Dafür braucht es Zutrauen in die Beteiligten, Zeit für Entwicklung und Geduld im Vorgehen. In diesem Sinne hoffen wir, dass wir Ihnen Lust gemacht haben auf erweiterte Analysen von Situationen und den gemeinsamen Dialog, in dem eher mit den Familien statt über sie gesprochen wird. Viel Spaß! Literatur Böllert, K., Wazlawik, M. (2012). Kinderschutz als Dienstleistung für Kinder und Jugendliche. In: Risiken und Gefährdungen im Jugendalter oder: Kinderschutz auch für Jugendliche? In W. Thole, A. Retkowski, B. Schäuble (Hrsg.), Sorgende Arrangements. Kinderschutz zwischen Organisation und Familie (S. 19–38). Berlin: Springer VS. Eickhorst, A., Röhrbein, A. (2016). »Wir freuen uns, dass Sie da sind!«: Beratung und Therapie mit Vätern. Carl-Auer. Die Kinderschutz-Zentren (Hrsg.) (2011). Empfehlung der Kinderschutz-Zentren zur Nutzung von Gefährdungseinschätzungs-Bögen in den Kinderschutz-Zentren. Köln: Eigenverlag. Die Kinderschutz-Zentren (Hrsg.) (2014). Nur schwierig oder schon gefährdet? Jugendliche in problematischen Lebenssituationen. Köln: Eigenverlag. Die Kinderschutz-Zentren (Hrsg.) (2017). Übergänge und Übergangene in der Kinder- und Jugendhilfe – Jugendliche in den Blick! Köln: Eigenverlag. Röhrbein, A. (2010). Mit Lust und Liebe Vater sein: Gestalte die Rolle deines Lebens. Heidelberg: Carl-Auer. Röhrbein, A. (2017). Vertrauen schenken, Sicherheit aufbauen und Schätze heben – Ressourcenund Lösungs-Orientierung mit Jugendlichen und ihren Eltern in schwierigem Terrain. In Die Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Übergänge und Übergangene in der Kinder- und Jugendhilfe – Jugendliche in den Blick! (S. 11–30). Köln: Eigenverlag. Sachse, R. (2001). Psychologische Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen (3. Aufl.). Göttingen u. a.: Hogrefe. Sachse, R. (2019). Psychologische Psychotherapie der Personlichkeitsstörungen (3. Aufl.). Göttingen u. a.: Hogrefe. Schmitt, M., Gerstenberg, F. (2014). Psychologische Diagnostik kompakt. Weinheim: Beltz. Schulze-Krüdener, J. (2007). Mit der Elternarbeit geht es uns meist besser als ohne: Eltern als unverzichtbare Kooperationspartner in der Heimerziehung? In H. G. Homfeldt, J. SchulzeKrüdener, Elternarbeit in der Heimerziehung (S. 99–111). München: Ernst Reinhardt Verlag. Schulze-Krüdener, J., Homfeldt, H. G. (2013). Elternarbeit in der Heimerziehung. In W. Stange, R. Krüger, A. Henschel, C. Schmitt (Hrsg.), Erziehungs- und Bildungspartnerschaften – Praxisbuch zur Elternarbeit (S. 250–257). Berlin: Springer. Steiner, T. (2013). Jetzt mal angenommen … Anregungen für die lösungsfokussierte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.
10 Ein Überblick über Gesetzesnormen im Kontext von Kinderschutz Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF)
Bei den folgenden Gesetzestexten (auch im Onlinematerial) handelt es sich um eine Auswahl der relevanten Rechtsnormen, die den Kinderschutz in den verschiedenen Systemen, die in diesem Buch aufgeführt sind, betreffen. Die Gesetzestexte sind auf die wesentlichen Inhalte hin gekürzt worden (Stand: Januar 2022). Die Herausgeber:innen danken Katharina Lohse, Deutsches Insti tut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF), für die Zusammenstellung. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art. 6 GG
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. […]
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Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention, UN-KRK) Artikel 19 UN-KRK: Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung
(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut. (2) Diese Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die dem Kind und denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maßnahmen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1 beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 1631b BGB: Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen
(1) Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. (2) Die Genehmigung des Familiengerichts ist auch erforderlich, wenn dem Kind, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen werden soll. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend.
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§ 1632 BGB: Herausgabe des Kindes; Bestimmung des Umgangs; Verbleibensanordnung bei Familienpflege
[…] (4) Lebt das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege und wollen die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen, so kann das Familiengericht von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde. Das Familiengericht kann in Verfahren nach Satz 1 von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson zusätzlich anordnen, dass der Verbleib bei der Pflegeperson auf Dauer ist, wenn 1. sich innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes vertretbaren Zeitraums trotz angebotener geeigneter Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen die Erziehungsverhältnisse bei den Eltern nicht nachhaltig verbessert haben und eine derartige Verbesserung mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zukünftig nicht zu erwarten ist und 2. die Anordnung zum Wohl des Kindes erforderlich ist. § 1666 BGB: Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. […] (3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere 1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen, 2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, 3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält, 4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen, 5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge, 6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge. (4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.
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§ 1666a BGB: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen
(1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. […] (2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen. § 1696 BGB: Abänderung gerichtlicher Entscheidungen und gerichtlich gebilligter Vergleiche
(1) Eine Entscheidung zum Sorge- oder Umgangsrecht oder ein gerichtlich gebilligter Vergleich ist zu ändern, wenn dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt ist. […] (2) Eine Maßnahme nach den §§ 1666 bis 1667 oder einer anderen Vorschrift des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die nur ergriffen werden darf, wenn dies zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung oder zum Wohl des Kindes erforderlich ist (kindesschutzrechtliche Maßnahme), ist aufzuheben, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht oder die Erforderlichkeit der Maßnahme entfallen ist. (3) Eine Anordnung nach § 1632 Absatz 4 ist auf Antrag der Eltern aufzuheben, wenn die Wegnahme des Kindes von der Pflegeperson das Kindeswohl nicht gefährdet. § 1697a BGB: Kindeswohlprinzip
(1) Soweit nichts anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht. (2) Lebt das Kind in Familienpflege, so hat das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, in Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten auch zu berücksichtigen, ob und inwieweit sich innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes vertretbaren Zeitraums die Erziehungsverhältnisse bei den Eltern derart verbessert haben, dass diese das Kind selbst erziehen können. Liegen die Voraussetzungen des § 1632 Absatz 4 Satz 2 Nummer 1 vor, so hat das Gericht bei seiner Entscheidung
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auch das Bedürfnis des Kindes nach kontinuierlichen und stabilen Lebensverhältnissen zu berücksichtigen. Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn das Kind im Rahmen einer Hilfe nach § 34 oder 35a Absatz 2 Nummer 4 des Achten Buches Sozialgesetzbuch erzogen und betreut wird. Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII)1 § 1 SGB VIII: Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe
(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere 1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, 2. jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihren individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können, 3. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, 4. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 5. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. § 8 SGB VIII: Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
(1) Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie sind in geeigneter Weise auf ihre Rechte im Verwaltungsver1
Zu den Änderungen im SGB VIII, BGB und KKG durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) siehe die Synopse des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht unter: https://dijuf.de/fileadmin/Redaktion/Hinweise/DIJuF-Synopse_KJSG__Stand_10.6.2021_.pdf (Zugriff am 28.7.2022).
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fahren sowie im Verfahren vor dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen. (2) Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden. (3) Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten, solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde. § 36 des Ersten Buches bleibt unberührt. Die Beratung kann auch durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht werden; § 36a Absatz 2 Satz 1 bis 3 gilt entsprechend. (4) Beteiligung und Beratung von Kindern und Jugendlichen nach diesem Buch erfolgen in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form. § 8a SGB VIII: Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. Soweit der wirksame Schutz dieses Kindes oder dieses Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen und, sofern dies nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist, 1. sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen sowie 2. Personen, die gemäß § 4 Absatz 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz dem Jugendamt Daten übermittelt haben, in geeigneter Weise an der Gefährdungseinschätzung zu beteiligen. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Erziehungsberechtigten anzubieten. (2) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. (3) Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer Leistungsträger, der Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Erziehungs-
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berechtigten hinzuwirken. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein. (4) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass 1. deren Fachkräfte bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdungseinschätzung vornehmen, 2. bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird sowie 3. die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. In den Vereinbarungen sind die Kriterien für die Qualifikation der beratend hinzuzuziehenden insoweit erfahrenen Fachkraft zu regeln, die insbesondere auch den spezifischen Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen Rechnung tragen. Daneben ist in die Vereinbarungen insbesondere die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte der Träger bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann. (5) In Vereinbarungen mit Kindertagespflegepersonen, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass diese bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes eine Gefährdungseinschätzung vornehmen und dabei eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzuziehen. Die Erziehungsberechtigten sowie das Kind sind in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes nicht in Frage gestellt wird. Absatz 4 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. […] § 8b SGB VIII: Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
(1) Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, haben bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall
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gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. (2) Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten, und die zuständigen Leistungsträger, haben gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien 1. zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie 2. zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten. (3) Bei der fachlichen Beratung nach den Absätzen 1 und 2 wird den spezifischen Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen Rechnung getragen. § 20 Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen
(1) Eltern haben einen Anspruch auf Unterstützung bei der Betreuung und Versorgung des im Haushalt lebenden Kindes, wenn 1. ein Elternteil, der für die Betreuung des Kindes überwiegend verantwortlich ist, aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen ausfällt, 2. das Wohl des Kindes nicht anderweitig, insbesondere durch Übernahme der Betreuung durch den anderen Elternteil, gewährleistet werden kann, 3. der familiäre Lebensraum für das Kind erhalten bleiben soll und 4. Angebote der Förderung des Kindes in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege nicht ausreichen. (2) Unter der Voraussetzung, dass eine Vereinbarung nach Absatz 3 Satz 2 abgeschlossen wurde, können bei der Betreuung und Versorgung des Kindes auch ehrenamtlich tätige Patinnen und Paten zum Einsatz kommen. […] (3) § 36a Absatz 2 gilt mit der Maßgabe entsprechend, dass die niedrigschwellige unmittelbare Inanspruchnahme insbesondere zugelassen werden soll, wenn die Hilfe von einer Erziehungsberatungsstelle oder anderen Beratungsdiensten und -einrichtungen nach § 28 zusätzlich angeboten oder vermittelt wird. […] § 36 Mitwirkung, Hilfeplan
(1) Der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche sind vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf
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die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. Es ist sicherzustellen, dass Beratung und Aufklärung nach Satz 1 in einer für den Personensorgeberechtigten und das Kind oder den Jugendlichen verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen. (2) Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart soll, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen […]. Hat das Kind oder der Jugendliche ein oder mehrere Geschwister, so soll der Geschwisterbeziehung bei der Aufstellung und Überprüfung des Hilfeplans sowie bei der Durchführung der Hilfe Rechnung getragen werden. […] (5) Soweit dies zur Feststellung des Bedarfs, der zu gewährenden Art der Hilfe oder der notwendigen Leistungen nach Inhalt, Umfang und Dauer erforderlich ist und dadurch der Hilfezweck nicht in Frage gestellt wird, sollen Eltern, die nicht personensorgeberechtigt sind, an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung beteiligt werden; die Entscheidung, ob, wie und in welchem Umfang deren Beteiligung erfolgt, soll im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte unter Berücksichtigung der Willensäußerung und der Interessen des Kindes oder Jugendlichen sowie der Willensäußerung des Personensorgeberechtigten getroffen werden. § 37b SGB VIII: Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege
(1) Das Jugendamt stellt sicher, dass während der Dauer des Pflegeverhältnisses ein nach Maßgabe fachlicher Handlungsleitlinien gemäß § 79a Satz 2 entwickeltes Konzept zur Sicherung der Rechte des Kindes oder des Jugendlichen und zum Schutz vor Gewalt angewandt wird. Hierzu sollen die Pflegeperson sowie das Kind oder der Jugendliche vor der Aufnahme und während der Dauer des Pflegeverhältnisses beraten und an der auf das konkrete Pflegeverhältnis bezogenen Ausgestaltung des Konzepts beteiligt werden. (2) Das Jugendamt gewährleistet, dass das Kind oder der Jugendliche während der Dauer des Pflegeverhältnisses Möglichkeiten der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten hat, und informiert das Kind oder den Jugendlichen hierüber. […]
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§ 42 SGB VIII: Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen
(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder 2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder 3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nummer 2 auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen. (2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme aufzuklären, die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen. Dem Kind oder dem Jugendlichen ist unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. […] (3) Das Jugendamt hat im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1 und 2 die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unverzüglich von der Inobhutnahme zu unterrichten, sie in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form umfassend über diese Maßnahme aufzuklären und mit ihnen das Gefährdungsrisiko abzuschätzen. Widersprechen die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt unverzüglich 1. das Kind oder den Jugendlichen den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach der Einschätzung des Jugendamts eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden, oder 2. eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen. […] Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme
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nicht, so ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten. (4) Die Inobhutnahme endet mit 1. der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten, 2. der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozial gesetzbuch. […] § 42a SGB VIII: Vorläufige Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen nach unbegleiteter Einreise
(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. […] § 45 SGB VIII: Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung
(1) Der Träger einer Einrichtung nach § 45a bedarf für den Betrieb der Einrichtung der Erlaubnis. […] (2) Die Erlaubnis ist zu erteilen, wenn das Wohl der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung gewährleistet ist. Dies ist in der Regel anzunehmen, wenn […] 4. zur Sicherung der Rechte und des Wohls von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung die Entwicklung, Anwendung und Überprüfung eines Konzepts zum Schutz vor Gewalt, geeignete Verfahren der Selbstvertretung und Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten innerhalb und außerhalb der Einrichtung gewährleistet werden. […] (7) Die Erlaubnis ist aufzuheben, wenn das Wohl der Kinder oder der Jugendlichen in der Einrichtung gefährdet und der Träger nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die Gefährdung abzuwenden. […] § 50 SGB VIII: Mitwirkung in Verfahren vor den Familiengerichten
(1) Das Jugendamt unterstützt das Familiengericht bei allen Maßnahmen, die die Sorge für die Person von Kindern und Jugendlichen betreffen. Es hat in
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folgenden Verfahren nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit mitzuwirken: 1. Kindschaftssachen (§ 162 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit), […] (2) Das Jugendamt unterrichtet insbesondere über angebotene und erbrachte Leistungen, bringt erzieherische und soziale Gesichtspunkte zur Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen ein und weist auf weitere Möglichkeiten der Hilfe hin. […] § 52 SGB VIII: Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz
(1) Das Jugendamt hat nach Maßgabe der §§ 38 und 50 Absatz 3 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes im Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz mitzuwirken. Dabei soll das Jugendamt auch mit anderen öffentlichen Einrichtungen und sonstigen Stellen, wenn sich deren Tätigkeit auf die Lebenssituation des Jugendlichen oder jungen Volljährigen auswirkt, zusammenarbeiten, soweit dies zur Erfüllung seiner ihm dabei obliegenden Aufgaben erforderlich ist. […] (2) Das Jugendamt hat frühzeitig zu prüfen, ob für den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen Leistungen der Jugendhilfe oder anderer Sozialleistungsträger in Betracht kommen. […] Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)
§ 1 KKG: Kinderschutz und staatliche Mitverantwortung
(1) Ziel des Gesetzes ist es, das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen und ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung zu fördern. […] (4) Zu diesem Zweck umfasst die Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsrechts und ihrer Erziehungsverantwortung durch die staatliche Gemeinschaft insbesondere auch Information, Beratung und Hilfe. Kern ist die Vorhaltung eines möglichst frühzeitigen, koordinierten und multiprofessionellen Angebots im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern vor allem in den ersten Lebensjahren für Mütter und Väter sowie schwangere Frauen und werdende Väter (Frühe Hilfen).
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§ 2 KKG: Information der Eltern über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung
(1) Eltern sowie werdende Mütter und Väter sollen über Leistungsangebote im örtlichen Einzugsbereich zur Beratung und Hilfe in Fragen der Schwangerschaft, Geburt und der Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren informiert werden. […] § 3 KKG: Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz
(1) In den Ländern werden insbesondere im Bereich Früher Hilfen flächendeckend verbindliche Strukturen der Zusammenarbeit der zuständigen Leistungsträger und Institutionen im Kinderschutz mit dem Ziel aufgebaut und weiterentwickelt, sich gegenseitig über das jeweilige Angebots- und Aufgabenspektrum zu informieren, strukturelle Fragen der Angebotsgestaltung und -entwicklung zu klären sowie Verfahren im Kinderschutz aufeinander abzustimmen. (2) In das Netzwerk sollen insbesondere Einrichtungen und Dienste der öffentlichen und freien Jugendhilfe, Leistungserbringer, mit denen Verträge nach § 125 [SGB IX] bestehen, Gesundheitsämter, Sozialämter, Schulen, Polizei- und Ordnungsbehörden, Agenturen für Arbeit, Krankenhäuser, Sozialpädiatrische Zentren, Frühförderstellen, Beratungsstellen für soziale Problemlagen, Beratungsstellen nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, Einrichtungen und Dienste zur Müttergenesung sowie zum Schutz gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen, Mehrgenerationenhäuser, Familienbildungsstätten, Familiengerichte und Angehörige der Heilberufe einbezogen werden. (3) Sofern Landesrecht keine andere Regelung trifft, soll die verbindliche Zusammenarbeit im Kinderschutz als Netzwerk durch den örtlichen Träger der Jugendhilfe organisiert werden. […] (4) Dieses Netzwerk soll zur Beförderung Früher Hilfen durch den Einsatz von Familienhebammen gestärkt werden. […]
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§ 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung
(1) Werden 1. Ärztinnen oder Ärzten, Zahnärztinnen oder Zahnärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung, 3. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie 4. Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, 5. Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, 6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder 7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. (2) Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren. (3) Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen
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nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen. Die Sätze 1 und 2 gelten für die in Absatz 1 Nummer 1 genannten Personen mit der Maßgabe, dass diese unverzüglich das Jugendamt informieren sollen, wenn nach deren Einschätzung eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen das Tätigwerden des Jugendamtes erfordert. (4) Wird das Jugendamt von einer in Absatz 1 genannten Person informiert, soll es dieser Person zeitnah eine Rückmeldung geben, ob es die gewichtigen Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls des Kindes oder Jugendlichen bestätigt sieht und ob es zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen tätig geworden ist und noch tätig ist. Hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. (5) Die Absätze 2 und 3 gelten entsprechend für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Zollbehörden. (6) Zur praktischen Erprobung datenschutzrechtskonformer Umsetzungsformen und zur Evaluierung der Auswirkungen auf den Kinderschutz kann Landesrecht die Befugnis zu einem fallbezogenen interkollegialen Austausch von Ärztinnen und Ärzten regeln. § 5 KKG: Mitteilungen an das Jugendamt
(1) Werden in einem Strafverfahren gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, informiert die Strafverfolgungsbehörde oder das Gericht unverzüglich den zuständigen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe sowie im Falle seiner Zuständigkeit den überörtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe und übermittelt die aus ihrer Sicht zur Einschätzung des Gefährdungsrisikos erforderlichen Daten. […] (2) Gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung können insbesondere dann vorliegen, wenn gegen eine Person, die mit einem Kind oder Jugendlichen in häuslicher Gemeinschaft lebt oder die regelmäßig Umgang mit ihm hat oder haben wird, der Verdacht besteht, eine Straftat nach den §§ 171, 174, 176 bis 180, 182, 184b bis 184e, 225, 232 bis 233a, 234, 235 oder 236 des Strafgesetzbuchs begangen zu haben.
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Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF)
Strafgesetzbuch (StGB) § 203 StGB: Verletzung von Privatgeheimnissen
(1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als 1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschluß prüfung, 3. Rechtsanwalt, […] 4. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, 5. Mitglied oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, 6. staatlich anerkanntem Sozialarbeiter oder staatlich anerkanntem Sozialpädagogen oder 7. […] anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebsoder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als 1. Amtsträger oder Europäischer Amtsträger, 2. für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, 3. Person, die Aufgaben oder Befugnisse nach dem Personalvertretungsrecht wahrnimmt, […] anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist. […]
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Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) § 159 FamFG: Persönliche Anhörung des Kindes
(1) Das Gericht hat das Kind persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen. […] § 160 FamFG: Anhörung der Eltern
(1) In Verfahren, die die Person des Kindes betreffen, soll das Gericht die Eltern persönlich anhören. In Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind die Eltern persönlich anzuhören. […] § 161 FamFG: Mitwirkung der Pflegeperson
(1) Das Gericht kann in Verfahren, die die Person des Kindes betreffen, die Pflegeperson im Interesse des Kindes als Beteiligte hinzuziehen, wenn das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt […]. (2) Die in Absatz 1 genannten Personen sind anzuhören, wenn das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt. § 162 FamFG: Mitwirkung des Jugendamts
(1) Das Gericht hat in Verfahren, die die Person des Kindes betreffen, das Jugendamt anzuhören. Unterbleibt die Anhörung wegen Gefahr im Verzug, ist sie unverzüglich nachzuholen. (2) In Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist das Jugendamt zu beteiligen. Im Übrigen ist das Jugendamt auf seinen Antrag am Verfahren zu beteiligen. (3) In Verfahren, die die Person des Kindes betreffen, ist das Jugendamt von Terminen zu benachrichtigen und ihm sind alle Entscheidungen des Gerichts bekannt zu machen. Gegen den Beschluss steht dem Jugendamt die Beschwerde zu.
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Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF)
Schulgesetze (Beispiele) § 42 SchulG NRW: Allgemeine Rechte und Pflichten aus dem Schulverhältnis
[…] (6) Die Sorge für das Wohl der Schülerinnen und Schüler erfordert es, jedem Anschein von Vernachlässigung oder Misshandlung nachzugehen. Die Schule entscheidet rechtzeitig über die Einbeziehung des Jugendamtes oder anderer Stellen. […] § 85 SchulG BW: Verantwortlichkeit für die Erfüllung der Schul- und Teilnahmepflicht, Informierung des Jugendamtes, verpflichtendes Elterngespräch
[…] (3) Die Schule soll das Jugendamt unterrichten, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Wohl eines Schülers ernsthaft gefährdet oder beeinträchtigt ist; in der Regel werden die Eltern vorher angehört. Zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung arbeiten Schule und Jugendamt zusammen. Diese Bestimmung gilt auch für Schulen in freier Trägerschaft. […] Jugendschutzgesetz (JuSchG)
§ 10a Schutzziele des Kinder- und Jugendmedienschutzes
Zum Schutz im Bereich der Medien gehören 1. der Schutz vor Medien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen (entwicklungsbeeinträchtigende Medien), 2. der Schutz vor Medien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden (jugendgefährdende Medien),
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3. der Schutz der persönlichen Integrität von Kindern und Jugendlichen bei der Mediennutzung und 4. die Förderung von Orientierung für Kinder, Jugendliche, personensorgeberechtigte Personen sowie pädagogische Fachkräfte bei der Mediennutzung und Medienerziehung; die Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch bleiben unberührt.
Die Autor:innen
Petra Ape, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (approb.), Dipl.-Sozialarb., Heilpädagogin, systemische Therapeutin, Beraterin und Coach (DGSF), Supervisorin (IFS), Klinikum Dortmund gGmbH (Ruhestand), ist in eigener Praxis in Dortmund tätig. E-Mail: [email protected] Birgit Averbeck, Dipl.-Sozialpäd., systemische (Familien-)Therapeutin, Supervisorin und Organisationberaterin (SG), Lehrende für Systemische Beratung (SG), war in leitenden Funktionen in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe tätig und ist Fachreferentin für Jugendhilfepolitik eines bundesweiten Fachverbands. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Aufbau interdisziplinärer Helfernetzwerke unter anderem zum Kinderschutz. E-Mail: [email protected] Sibylle Banaschak, Prof.’in Dr. med., ist Professorin am Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Köln, Kinderschutzmedizinerin (DGKiM) sowie Leiterin des Kompetenzzentrums Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW. E-Mail: [email protected] Gabriele Biehl, Familienhebamme und Sozialarbeiterin B. A., war langjährig tätig als Familienhebamme in einem Kinder- und Familienzentrum und Netzwerk koordinatorin der Frühen Hilfen in Hamburg-Nord. Kay Biesel, Prof. Dr. phil., Case Manager, Fachkraft für Dialogisches Coaching und Konfliktmanagement, Dipl.-Sozialpäd./Sozialarb. FH. Seit 2021 Co-Leiter des Instituts Kinder- und Jugendhilfe der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, zuvor Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kindesschutz. Er ist Mitglied des Kronberger Kreises für Dialogische Qualitätsentwicklung e. V., der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen und der Deutschen
Die Autor:innen
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Gesellschaft für Care und Case Management e. V. sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz. E-Mail: [email protected] Michael Böwer, Prof. Dr., Dipl.-Päd., Dipl.-Sozialarb./Sozialpäd., systemischer Berater (SG), ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe und erzieherische Hilfen sowie Inhaber der Schwerpunktprofessur Soziale Innovationen in Kinder- und Jugendhilfe und Kinderschutz (BundLänder-Programm »FH-Personal«) an der Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn. E-Mail: [email protected] Sonja Bröning, Prof.’in Dr. phil., Päd. M. A., Dipl.-Betriebswirtin, ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Medical School Hamburg (MSH) sowie systemische Therapeutin (DGSF), Mediatorin (BM) und Fortbildnerin in eigener Praxis. E-Mail: [email protected] Tanja Brüning, Dr. med., hat die oberärztliche Leitung der Abteilung für Kinderschutz an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln und ist Leiterin des Standortes Datteln des Kompetenzzentrums Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW. Kinderschutzmedizinerin (DGKiM). E-Mail: [email protected] Andrea Caby, Prof.’ in Dr. med., Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, systemische Beraterin, Coach und Supervisorin, ist Professorin für Sozialmedizin an der MSH Medicalschool in Hamburg. Filip Caby, Dr. med., ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, systemischer Einzel-, Gruppen- und Familientherapeut, Lehrender für Systemische Beratung und Therapie (DGSF/SG), ist Chefarzt der Kinderund Jugendpsychiatrie in Lüdenscheid. Er ist zertifizierter Sachverständiger in forensischer Kinder- und Jugendpsychiatrie und im systemischen Familienrecht. E-Mail: [email protected] Ines Ellesser, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, ist Leiterin der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Stadt Ludwigshafen. E-Mail: [email protected].
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Die Autor:innen
Sabine Epperlein, Dipl.-Sozialarbeiterin, systemische Familientherapeutin und Traumapädagogin, ist seit Jahren in leitenden Funktionen in einem Jugendamt tätig. Tobias Falke, Sozialarbeiter/Sozialpädagoge M. A., ist in leitenden Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen der Jugendverbandsarbeit aktiv. Er ist Schulungsreferent für die Prävention sexualisierter Gewalt in der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg, für den Landessportbund NRW und promoviert zu medizinischem Kinderschutz an der Uni Witten/Herdecke. Seit 2004 ist er in unterschiedlichen Funktionen in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. E-Mail: [email protected] Annika Falkner, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., ist Professorin für Psychologie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Merseburg und gründete sowie leitet das Institut für Familienpsychologie (ifp) in Magdeburg mit dem Schwerpunkt Familienrechtspsychologie; Forschungs- und Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, Fachbereich Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie, Schwerpunkt Psychologische Diagnostik bei Kindern, Jugendlichen und Familien. Systemische Therapeutin, Kinder- und Jugendlichentherapeutin sowie Sachverständige am Familiengericht. E-Mail: [email protected] Friederike Gerstenberg, Prof.’ in Dr., Dipl.-Psych., systemische Therapeutin (DGSF) und Supervisorin, ist Professorin für Psychologie an der Hochschule Esslingen, Fakultät für Soziale Arbeit, Bildung und Pflege E-Mail: [email protected] Birgit Görres, Dipl.-Sozialarbeiterin, systemische Organisationsberaterin, ist Geschäftsführerin des Dachverbands Gemeindepsychiatrie e. V., seit mehr als 20 Jahren politische und konkrete Arbeit zum systemübergreifenden Netzwerkaufbau für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil, seit 40 Jahren Tätigkeit in gemeindepsychiatrischen Kontexten, Referenten- und Beratungstätigkeiten. E-Mail: [email protected] Nils Greve, Dipl.-Psych., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Lehrender für systemische Therapie und Beratung (viisa/SG), war überwiegend in Kontexten der Gemeindepsychiatrie tätig; jetzt Vorsitzender des Dachverbands
Die Autor:innen
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Gemeindepsychiatrie, Leiter des Projekts »GBV – Gemeindepsychiatrische Basisversorgung schwerer psychischer Erkrankungen« sowie Dozent in systemischen Weiterbildungen und Approbationsausbildungen in Marburg (viisa) und Weinheim. E-Mail: [email protected] Stefan Heinitz, Dr. phil., Dipl.-Sozialarb./Sozialpäd., Heilerziehungspfleger, Dialogischer Qualitätsentwickler (KK), ist Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren. E-Mail: [email protected] Kim Heinzer, Dipl.-Sozialpäd., Master of Arts (Pädagogik und Management in der Sozialen Arbeit), ist Koordinierende Kinderschutzfachkraft beim Jugendamt des Märkischen Kreises. Björn Enno Hermans, Prof. Dr. rer. medic., Dipl.-Psych., systemischer Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapeut, Multifamilientherapeut, Supervisor, Organisationentwickler, Lehrtherapeut und -supervisor (DGSF), ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Schwerpunkt Systemische Psychotherapie, an der MSH Medical School Hamburg. E-Mail: [email protected] Petra Hiller, Dip.-Sozialpäd., Master in Sozialmanagement, Dipl.-Sozialwirtin, systemische Familienberaterin, Supervisorin (DGSV), war Einrichtungsleitung und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Stiftung Overdyck in Bochum und ist jetzt Rentnerin. Uwe Hindrichs ist Vorsitzender des Lüdenscheider Kinderschutzbundes (KSB). Heike Hör, Dipl.-Sozialarb., Supervisorin MA, systemische Beraterin, ist Leiterin des FamilienRat-Büros Stuttgart und freiberufliche Trainerin. E-Mail: [email protected] Stefanie Horstmann, Sozialarbeiterin (B. A.), ist Leiterin einer Flüchtlingsunterkunft bei der Caritas-SkF-Essen gGmbH. E-Mail: [email protected]
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Die Autor:innen
Stephanie Jaschke, Klinische Psychologin (M. Sc.), Ergotherapeutin, systemische Therapeutin/Familientherapeutin (DGSF), systemische Traumatherapeutin, Supervisorin, ist in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, in Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie mehrjährige Tätigkeit in der Jugendhilfe tätig sowie freiberuflich als systemische Therapeutin, Supervisorin und Trainerin/Dozentin. Mitglied der Institutsleitung des ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung in Essen (www.ifs-essen.de). Claas Jörges, B. A. Soziale Arbeit, systemischer Coach und Supervisor, ist in der Sozialen Arbeit tätig und Abteilungsleiter der Flüchtlingsunterkünfte der Caritas-SkF-Essen gGmbH. E-Mail: [email protected] Monika Jost, Dipl.-Sozialarb., systemische Beraterin, systemische Organisationsberaterin, Fachberaterin Psychotraumatologie, langjährige Leiterin, Koordinatorin, Trauerbegleiterin in der ambulanten Malteser Hospizarbeit und Trauerbeglei tung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Dortmund. E-Mail: [email protected] Tabea Karla, B.Sc. Psychologie, Dipl.-Sozialpäd./Dipl.-Sozialarb., systemische Familientherapeutin (DGSF), Fachkraft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderorientierte Familienpraktikerin (DGKOF), InsoFa, ist Einrichtungsleiterin in der Tagesgruppe MehrFamilienHaus bei der Caritas-SkF-Essen gGmbH. E-Mail: [email protected] Andreas Klink, Dr. rer. nat., Dipl.-Psych., systemischer Therapeut und Berater (SG), systemischer Supervisor (SG) und Lehrtherapeut (SG). Abteilungsleitung Jugend und Leiter des Jugendhilfenetzwerks der Arbeiterwohlfahrt Essen; Dozent im IF Weinheim. E-Mail: [email protected] Nathalie Kompernaß, Dipl.-Sozialarb., Case Managerin, Kinderschutzfachkraft, Mitglied in der BAG ASD, ist Fachdienstleitung Allgemeiner Sozialer Dienst und Jugendhilfe im Strafverfahren bei der Stadt Lüdenscheid. Jessika Kuehn-Velten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ist insoweit erfahrene Fachkraft im Kinderschutz und Mitglied im Expert:innenkreis der BAG der Kinderschutz-Zentren.
Die Autor:innen
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Helmut Maier, Dipl.-Sozialpäd. (FH), ist Sachgebietsleiter im Allgemeinen Sozialdienst des Stadtjugendamtes Erlangen, Gründungsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft »Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit sexualisiert grenzverletzendem Verhalten« e. V. (BAG KJSGV). E-Mail: [email protected] Birgit Maschke, Dipl.-Sozialpäd., Familientherapeutin (DGSF), Traumatherapeutin (Kirschenbauminstitut), Supervisorin (DGSF), STEEP-Qualifikation (HAW HH), Qualitätsentwicklung Kinderschutz (Kronberger Kreis e. V.) und Qualitätsentwicklung Kinderschutz im Jugendamt Kreis Hzgt. Lauenburg und in eigener Praxis. E-Mail: [email protected] Sabrina Müller, Studium der Sozialen Arbeit, ist Fachkraft im Kinderschutz sowie Leiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes innerhalb des Jugendamtes der Stadt Plettenberg. Anja Novoszel, Dr. phil., Dipl.-Psych., systemische Supervisorin, systemische Therapeutin, Lehrtherapeutin, Traumapädagogische Fachberaterin, ist Psychologin in der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche der Caritas in Viersen sowie in eigener Praxis tätig. E-Mail: [email protected] Rieke Oelkers-Ax, PD Dr., Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, systemische Therapeutin (SG), ist Mitgründerin und Chefärztin des Familientherapeutischen Zentrums (FaTZ) Neckargemünd, Lehrtherapeutin am Helm Stierlin Institut (hsi) Heidelberg, Supervisorin für Teams in Kinderund Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe sowie Landesvorsitzende Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung (VIFF) Baden-Württemberg. Regina Rätz, Prof.’ in Dr. phil., Dipl.-Sozialarb./Sozialpäd., ist Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Alice Salomon Hochschule Berlin und wissenschaftliche Leiterin des Masterstudienganges »Kinderschutz – Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz« der ASH Berlin. E-Mail: [email protected] Tim Reuter, Dr. phil., systemischer Therapeut (DGSF) und Supervisor (SG), ist Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychoonkologie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal sowie Lehrbeauftragter der Medizinischen
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Die Autor:innen
Fakultät der Universität Witten-Herdecke. Zusatzbezeichnungen für Psychotraumatologie (DIPT) und Psychoonkologie (DKG). Er ist zudem in eigener Praxis tätig. E-Mail: [email protected] Birgit Richterich, MA Soziale Arbeit, systemische Therapeutin, Gestalttherapeutin, arbeitet seit mehr als 40 Jahren in gemeindepsychiatrischen Kontexten, war Lehrbeauftragte im Masterstudiengang Soziale Arbeit – Gemeindepsychiatrie an der Hochschule Fulda, Tätigkeiten als Referentin und im Fortbildungsbereich. Sie ist Geschäftsführerin der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft Duisburg gGmbH. E-Mail: [email protected] Ansgar Röhrbein, Dipl.-Päd., systemischer (Familien-)Therapeut (SG) und Supervisor (SG), Lehrtherapeut (DGSF/SG), lehrender Supervisor (SG), Fachberater für Traumatologie, Heilpraktiker für Psychotherapie, Notfallseelsorger, Fachkraft im Kinderschutz, ist Leiter des Märkischen Kinderschutz-Zentrums in Lüdenscheid und therapeutischer Mitarbeiter bei GFO-Kompass in Attendorn. E-Mail: [email protected] Monika Rüsch, Pädagogin, Familientherapeutin, Supervisorin und Coach, war viele Jahre beim Netzwerk Pflegefamilien des VSE NRW e. V. in der Vorbereitung und Begleitung von Pflegefamilien tätig. Freiberuflich aktiv als Supervisorin und Coach sowie in Fort- und Weiterbildung. E-Mail: rueschmonika56gmail.com Stefan Schröder, Dipl.-Sozialarb. (FH), ist Schulsozialarbeiter am LWL-Förderschulzentrum Olpe und war davor in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie in den Hilfen zur Erziehung tätig. Heiko Schumann, Dr. rer. medic., ist Leiter der Arbeitsgruppe »Psychische Gesundheit von Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) an der Medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg. E-Mail: [email protected] Detlef Schütze, Heilpraktiker, systemischer Berater, Familientherapeut und Supervisor (DGSF), ist in der aufsuchenden Jugendhilfe und freiberuflich tätig.
Die Autor:innen
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Jochen Schweitzer (1954–2022), Prof. Dr. rer. soc., Dipl.-Psych., war Leiter der Sektion Medizinische Organisationspsychologie am Universitätsklinikum Heidelberg; Mitgründer und Co-Leiter des Helm Stierlin Instituts, der SYMPAProjekte und der Heidelberger Internationalen Forschungstagungen. Raimund Schwendner, Dr., Dipl.-Psych., Kommunikationswissenschaftler, Fach pädagoge für Psychotraumatologie, Lehrender Supervisor, Lehrender für Organisationsentwicklung (SG), ist Referent der Justiz für Systemische Konfliktlösungen und Virtuelle Verhandlungsführung. Frauke Schwier, Kinderchirurgin, Kinderschutzmedizinerin DGKiM, ist Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM). E-Mail: [email protected] Liane Simon, Prof.’ in Dr. phil., Dipl.-Päd., Sonderpädagogin, systemische Therapeutin (DGSF), hat die Professur für Transdisziplinäre Frühförderung an der MSH Medical School Hamburg inne. E-Mail: [email protected] Elke Stechbarth, Dipl.-Sozialpäd., war Leiterin der Abteilung Kinderschutz und Frühe Hilfen im Jugendamt Magdeburg. Kathrin Stoltze, Dr. phil., Klinische Psychologin, Dipl.-Psych., ist Leiterin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes am Gesundheits- und Veterinäramt in Magdeburg. E-Mail: [email protected] Walter Tewes, Dipl.-Sozialarb., systemischer Familientherapeut (DGSF), Pädiatrische Palliative Care, langjähriger Leiter der ambulanten Hospizdienste für Erwachsene, Kinder und Jugendliche am Malteser Hospizzentrum St. Raphael in Duisburg. Tanja Tschöke, Sonderpädagogin, ist Schulamtsdirektorin, im Schulamt für den Märkischen Kreis mit der besonderen Zuständigkeit für Förderschulen, Gemeinsames Lernen, Kooperation mit Jugendhilfe und kinder- und jugendärztlichem Dienst sowie der Arbeit im Regionalen Bildungsnetzwerk. E-Mail: [email protected]
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Die Autor:innen
Manna van ’t Slot (M. Sc.), absolvierte ein Masterstudium in »Orthopedagogiek« (vergleichbar mit Heilpädagogik) an der Universität Groningen (Niederlande) und ein dreijähriges postgraduales Studium. Nach einem Berufseinstieg als Sozialarbeiterin arbeitete sie als Leitungskraft im Bereich des Kinderschutzes. Seit 2011 ist sie lizenzierte »Signs of Safety-Trainerin und -Consultant« und gibt Seminare in ganz Europa, seit 2016 begleitet sie Signs of Safety-Implementierungen im deutschsprachigen Raum. Bernward Vieten, PD Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, systemischer Therapeut und Lehrtherapeut, systemischer Supervisor, war Ärztlicher Direktor der LWLKlinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik in Paderborn und ist niedergelassener Facharzt in einer Privatpraxis in Bielefeld. E-Mail: [email protected] Reinhard Wiesner, Dr. jur. Dr. rer. soc. h. c., war Leiter des Referats Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Er ist Honororprofessor an der FU Berlin sowie Vorsitzender der Ständigen Fachkonferenz »Grund- und Strukturfragen des Jugendrechts« des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) in Heidelberg. E-Mail: [email protected] Joachim Wenzel, Dr. phil., Dipl.-Päd., Lehrender für Systemische Therapie/ Familientherapie, Beratung, Coaching und Supervision (DGSF), war im Leitungsteam und der Beratungsstelle der Telefonseelsorge Mainz-Wiesbaden und ist in eigener Praxis als systemischer Therapeut, Supervisor und Trainer/Dozent tätig. Mitglied der Institutsleitung des ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung in Essen: www.ifs-essen.de. E-Mail: [email protected]
Zugang zum Onlinematerial: Link: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Kooperation-im-Kinderschutz Code: 7eBKoop#99