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German Pages 242 Year 2019
Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause Deutschland schützt seine Kinder!
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause
Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz
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Personen und Ortsnamen sowie etliche Nebenumstände der in diesem Buch geschilderten Fallvignetten wurden verfremdet, um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu wahren. Ein großer Dank gilt den Interviewpartner_innen aus der Sozialen Arbeit! Die Begriffe Soziale Arbeit, Sozialarbeit und Sozialpädagogik, auch im Kontext von Berufsbezeichnungen, werden synonym verwendet, da es sich um eine Berufsgruppe handelt. Die Begriffe Kinder, Minderjährige und junge Menschen umfassen Personen im Alter von der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs. Um die Besonderheiten der Lebensphase zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr zu berücksichtigen, wird an manchen Stellen auch explizit von ›Jugendlichen‹ gesprochen. Mit dem Begriff Eltern sind Personen gemeint, die kraft Gesetzes Sorge für Kinder tragen, wie z. B. leibliche Eltern und Adoptiveltern. In einem weiten Verständnis umfasst dieser jedoch auch Erwachsene, die anstelle der Eltern bzw. in ihrem Auftrag partiell Erziehungsaufgaben wahrnehmen. Mit dem Begriff der Kindeswohlgefährdung ist ein ursprünglich aus dem Familienrecht stammender Begriff gemeint. Er ist bis heute von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, Eingriffe in die Rechte von Eltern zum Schutze von in ihrem Wohl gefährdeter Kinder vorzunehmen (»Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls« nach § 1666 BGB). Inzwischen hat der Begriff auch in den Sozialwissenschaften und der Sozialen Arbeit Eingang gefunden. Er wird dort anstelle des zuvor geläufigeren Oberbegriffs Kindesmisshandlung verwendet. Dieser Entwicklung Rechnung tragend wird der Begriff der Kindeswohlgefährdung in diesem Buch sowohl im sozialwissenschaftlichen als auch im juristischen Sinne verwendet.
Inhalt
Prolog | 9 Einleitung | 11 1. Der ›Fall Kevin‹ Ein Wendepunkt für den Kinderschutz | 17 2. Ist wirklich alles so schlimm? Oder: Wie man die offiziellen Zahlen auch deuten kann | 39 3. Die Rechtsmedizin als Vorkämpferin gegen Kindeswohlgefährdungen – stimmt das? | 63 4. Warum Ritter und Waffen nichts taugen, um Kinder zu schützen Kinderschut z in Deutschland heute | 77 5. Das deutsche Kinderschutzsystem einfach erklärt | 97 6. Kinderschutzfehler im System Was läuft schief im Kinderschutz? | 113 7. Helfen oder Strafen? Kinderschutz und seine Möglichkeiten | 131 8. Schweigen die Ärzte wirklich? Argumente für und gegen eine generelle Melde- und Reaktionspflicht bei Kindeswohlgefährdungen | 141 9. Kranke Eltern, kranke Kinder? Kinderschutz jenseits des Normalen | 151 10. Eltern sind Kinderschützer – eine Entlastung | 175
11. Kinder haben Rechte – und das ist gut so! | 189 12. Muss sich etwas ändern? Umrisse eines Kinderschutzes der Zukunft | 203 Epilog | 217 Literatur | 219
Prolog
Kinderschutz ist ein emotional besetztes und in den Medien häufig diskutiertes Thema. Es wird immer wieder mit Fällen verbunden, in denen Kinder durch Erwachsene schwer misshandelt, vernachlässigt und/oder sexuell ausgenutzt werden und erheblichen Schaden nehmen oder sogar ums Leben kommen. Ein Fall, der zuletzt für Entsetzen sorgte und sorgt, war der Staufener Missbrauchsfall. Er machte abermals deutlich, dass nicht alle Eltern sich dem Wohl ihrer Kinder verpflichtet fühlen und auch nicht davor zurückschrecken, diese auf ungeheuerliche Art und Weise sexuell auszubeuten. Gleichzeitig zeigte er auf, dass die Zusammenarbeit zwischen der Polizei, der Justiz, der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheits- und Bildungswesen nicht funktionierte, weshalb es misslang, das Martyrium für das vom Missbrauch betroffene Kind rechtzeitig zu beenden. Der von den Rechtsmedizinern Michael Tsokos und Saskia Guddat verfasste Bestseller »Deutschland misshandelt seine Kinder« hat bereits im Jahr 2014 das Thema Kinderschutz in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt und dabei sowohl die Eltern als auch die Fachkräfte ins ›Visier der Kritik‹ genommen. Und dies zu Recht, denn auch wir sagen: Es darf nicht hingenommen werden, dass Kinder durch ihre Eltern, andere Personen oder aufgrund von strukturellen Mängeln des Kinderschutzsystems in Deutschland in ihrem Wohl gefährdet werden oder sogar in Lebensgefahr geraten! Wir gehen fest davon aus, dass kein Kind – egal von wem – misshandelt, vernachlässigt oder sexuell ausgenutzt werden darf. Wir haben die klare Position, dass Kinderschutz sich um die Verhinderung von Gewalt und Übergriffe durch Erwachsene gegenüber Kindern bemühen muss, so wie wir auch davon überzeugt sind, dass die geltenden Gesetze zum Schutz von Kindern von allen Personen eingehalten werden müssen. Wir halten es auch für richtig und not-
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wendig, dass strafrechtlich relevante Formen von Kindeswohlgefährdungen von Polizei und Justiz verfolgt werden, sofern dies aus sozialpädagogischer bzw. medizinisch-therapeutischer Sicht indiziert ist und nicht nur der Täterverfolgung, sondern auch dem Opferschutz dient. Es ist die Aufgabe aller Bürger_innen, wachsam zu sein und Kindern zu helfen, die in ihrem Wohl gefährdet sind. Sie sind dazu verpflichtet, sich an die für Kinderschutz zuständigen Stellen wie z. B. die Kinderschutzhotline, die Jugendämter, Polizeidienststellen, Kinderschutz-Zentren oder Kinderschutzambulanzen zu wenden. Kinderschutz ist zunächst einmal Aufgabe der Eltern im Rahmen ihrer Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG: Recht und Pflicht der Eltern) – und die meisten Eltern werden dieser ihrer Verantwortung auch gerecht. Wir wissen aber auch, dass Eltern trotz diverser Hilfsangebote nicht bereit oder in der Lage sein können, ihre für Kinder gefährlichen und bedrohlichen Handlungsweisen zu unterlassen. Dann ist es unumgänglich, Entscheidungen gegen den Willen der Eltern zu treffen und Kinder (wirksam) vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Denn das Wohl von Kindern und Jugendlichen hat immer oberste Priorität! Dieses Buch richtet sich an ein breites Publikum. Unsere Streitschrift soll aus der Perspektive der Sozialen Arbeit einen kritischen Blick auf die vorhandenen Strukturen und Verfahren im Kinderschutz ermöglichen und damit einen Beitrag für eine sachliche Auseinandersetzung über den Kinderschutz in Deutschland leisten. Unser Anliegen ist es, dass Kinder in diesem Land besser geschützt und ihre Rechte gestärkt werden. Hierzu ist es erforderlich, dass der Kinderschutz in Deutschland weiterentwickelt wird, die Akteure offen aufeinander zugehen und sich mit ihren Fehlern und Erfolgen auseinandersetzen. Uns ist dabei eine Wertschätzung der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern und Familien ebenso wichtig wie die der im Kinderschutz tätigen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheits- und Bildungswesens, der Justiz und der Polizei. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Wir danken Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner für die gründliche Durchsicht des Manuskripts und die weiterführenden ergänzenden Anregungen. Ebenso danken wir all jenen Menschen, die uns dazu ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben und uns stark zu machen, für einen besseren Kinderschutz in Deutschland.
Einleitung
Das deutsche Kinderschutzsystem versagt mit grausamer Regelmäßigkeit. Es ist fehlkonstruiert, ausgebrannt und abgestumpft. Es trägt zu tödlichen Systemfehlern bei. Es verschließt seine Augen vor unliebsamen Wahrheiten. Fachkräfte schweigen lieber, anstatt genau hinzusehen. Sie sind zu tolerant im Umgang mit Kindesmisshandler_innen. Ihnen sind die Schicksale von Kindern egal, die tagtäglich von ihren Eltern geschlagen, gequält und gepeinigt werden. Sie sind eine Komplizenschaft mit Knochenbrechern, Baby-Totschüttlern und Serientätern eingegangen. Sie übersehen mit Absicht alltäglich von Eltern in Kinderzimmern verübte Verbrechen. Das jedenfalls behaupten Michael Tsokos und Saskia Guddat (2015) in ihrem aus rechtsmedizinischer Sicht verfassten Debattenbuch »Deutschland misshandelt seine Kinder«, das inzwischen in erweiterter Taschenbuchausgabe vorliegt, auf die wir uns im Folgenden beziehen. Wir setzen uns in unserem Buch kritisch mit der von Tsokos und Guddat vertretenen These vom »Systemversagen« (Tsokos/Guddat 2015: S. 19) im Kinderschutz auseinander, und zwar aus der Perspektive der Sozialen Arbeit. Wir nehmen die von ihnen vorgetragene Kritik ernst und geben entlang von zwölf Kapiteln fundierte Antworten auf die folgenden von ihnen aufgeworfenen Fragen: • Ist das deutsche Kinderschutzsystem grundlegend fehlkonstruiert (vgl. ebd.: S. 21), »ausgebrannt und abgestumpft« (ebd.: S. 159)? • Verschließt es die Augen vor »unliebsamen Wahrheiten« (ebd.: S. 17)? • Sind ihm die Schicksale von Kindern egal, die tagtäglich von ihren Eltern geschlagen, gequält und gepeinigt werden? • Besteht es aus einem »Kartell« (ebd.: S. 127) von »Verleugner[n]« (ebd.) und »Rittern mit stumpfen Schwertern« (ebd.: S. 142), die sinnlos »Milliarden für das Kindeswohl« (ebd.: S. 143) verpulvern?
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• Ist es eine Komplizenschaft mit »Knochenbrecher[n]« (ebd.: S. 186), »Baby-Totschüttler[n]« (ebd.: S. 193) und »Serientäter[n]« (ebd.: S. 68) eingegangen? • Übersieht es von Eltern in Kinderzimmern verübte »alltägliche Verbrechen« (ebd.: S. 66)? • Lässt es »ausgepeitscht[e]« (ebd.: S. 136), »blau geprügelt[e]« (ebd.: S. 137), »mit Faustschlägen und Fußtritten, mit maßlosen Beschimpfungen und Herabsetzungen« (ebd.: S. 65) traktierte Kinder im Stich? • Schaut es weg, wenn Kinder »in Kellerlöcher oder Zimmer, deren Fenster mit schwarzer Folie verklebt sind« (ebd.), eingesperrt werden? • Ist es ihm egal, wenn ihre »Körper und Seelen« (ebd.) zerstört werden? • Ist es »absichtlich ahnungslos« (ebd.: S. 178)? Die in unserem Buch vertretenen Positionen sind natürlich streitbar. Sie sind aber nicht darauf angelegt, Kritik abzuwehren. Unsere Streitschrift zielt darauf ab, den Blick auf die im Kinderschutz existierenden Probleme und Herausforderungen zu erweitern. Wir wollen mit unserem Buch differenzierte Sichtweisen aufzeigen und zum kritischen Nachdenken anregen. Wir machen deutlich, warum es nicht trivial ist, Kinder zu schützen. Wir berichten über Fehler, aber auch über Erfolge. Wir erläutern Statistiken, gehen auf Skandale ein und beziehen Stellung. Wir sagen, was mit dem deutschen Kinderschutzsystem los ist: direkt und schonungslos. Wir machen uns stark für das deutsche Kinderschutzsystem und zeigen, was seine Stärken und Schwächen sind und wohin es sich weiterentwickeln kann. Wir wollen all jenen Fachkräften im Kinderschutz eine Stimme geben, die sich täglich dafür engagieren, Kinder zu schützen. Wir wollen der Skandalisierung ein Ende setzen, aufklären statt anklagen und Umrisse eines Kinderschutzes der Zukunft skizzieren, um diesen zu verbessern. Wir wollen mit unserem Buch einer breiten und interessierten Leserschaft ein ernsthaftes Nachdenken über den Kinderschutz in Deutschland ermöglichen. Wir behaupten: Deutschland schützt seine Kinder, auch wenn es besser darin werden muss. Wir zeigen auf, dass es nicht nur Mittel der Rechtsmedizin braucht, um Misshandlungen und Vernachlässigungen an Kindern abzuwenden. Und wir erörtern, warum Kinderschutz nur gemeinsam gelingt – im Kontakt und im Dialog mit
Einleitung
Kindern, Eltern und allen für den Kinderschutz verantwortlichen Behörden, Organisationen und Fachkräften. Ein absolutes sicheres Aufwachsen von Kindern kann kein Staat garantieren – auch wenn dies ein zentrales Anliegen der Gesellschaft ist. Der Staat muss sich darauf verlassen, dass Familien als soziale Einheiten funktionieren. Sie sind als private Orte, in denen Kinder mit Unterstützung und im Beisein ihrer Eltern gewöhnlich aufwachsen, bis sie wirtschaftlich auf den eigenen Beinen stehen können, unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt. In Familien wird täglich Kinderschutz geleistet, und zwar zuvorderst von Eltern und nicht von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheits- und Bildungswesen, der Polizei, der Justiz oder der Rechtsmedizin. Ohne Eltern wäre der Kinderschutz in Deutschland arm dran. Ohne sie würde es unseren Kindern schlecht gehen. Leider gibt es in Deutschland Eltern, die ihre Kinder misshandeln, vernachlässigen oder sexuell ausbeuten und nicht gewillt oder in der Lage sind, ihre Kinder ohne Gewalt zu erziehen. Solche Eltern aber pauschal – wie im Buch »Deutschland misshandelt seine Kinder« geschehen – als »Serientäter« (ebd.: S. 68) zu verunglimpfen sowie zu fordern, dass ihnen standardmäßig ihre Kinder weggenommen sowie dass sie bestraft und verfolgt werden sollen, entspricht nicht dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion. Um nicht missverstanden zu werden: Jedes Kind, das von Gefährdungen seines Wohls bedroht ist und von seinen Eltern verprügelt, erniedrigt und gepeinigt wird, ist ein Kind zu viel, das Leid und Schmerzen erfährt. Dennoch sind Bestrafungen durch dauerhafte Kindeswegnahmen nicht die einzige und häufig nicht die beste Lösung für den Umgang mit Misshandlung, Vernachlässigung und sexualisierter Gewalt in Familien. Es gilt, fallbezogen und überlegt zu reagieren, um Kindern nachhaltig zu helfen. Dies impliziert zunächst vielfältige Handlungsmöglichkeiten im Kinderschutz, die idealerweise gemeinsam mit Kindern und Eltern gefunden werden müssen. Wir laden dazu ein, gemeinsam mit allen für den Kinderschutz verantwortlichen Fachkräften und Organisationen kritisch über die Qualität und Wirksamkeit des Kinderschutzsystems in Deutschland nachzudenken und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Wir wollen mit unserem Buch das Kinderschutzsystem in Deutschland nicht verteidigen, denn es hat deutliche Schwachstellen. Skandalisierungskampagnen gegen Eltern und Fachkräfte sind unserer Ansicht
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nach aber nicht zielführend. Wir sind keine Anhänger der postfaktischen Verschwörungstheorie, dass es ein »Kartell der Verleugner« (Tsokos/Guddat 2015: S. 127) von wegschauenden und schweigenden Fachkräften gebe, die nicht wahrhaben wollen, was mit Kindern in Familien passiert. Für uns ist Kinderschutz nicht nur ein privates und fachliches, sondern auch ein gesellschaftliches und politisches Thema. Für politische Akteure stellt es ein Experimentierfeld dar. Für den Kinderschutz gibt es immer etwas zu tun. Nie ist etwas perfekt, nichts ist ganz zu Ende durchdacht, schon gar nicht ein für alle Mal fertig. Kinderschutz ist eine Dauerbaustelle. Ein Sensationsfall in den Medien, und schon stehen alle in Misskredit; eine Unzulänglichkeit, eine Unachtsamkeit oder eine Entscheidung zur Unzeit, und schon wird dem Kinderschutz der Stecker gezogen. Dann wird der Resetknopf gedrückt und es wird reformiert, was das Zeug hält. Es werden bestehende Hilfestrukturen hinterfragt, Gesetze geschmiedet, Kampagnen gefahren und Modellprojekte initiiert. Kinderschutz kommt auf diese Weise jedoch nicht zur Ruhe. Zudem verliert er als Berufsfeld an Attraktivität. Auch vor diesem Hintergrund stecken etliche Jugendämter in Deutschland derzeit in der Krise. Wer sich heute für eine Arbeit im Kinderschutz entscheidet, muss also ein Idealist sein. Schließlich kann man es im Kinderschutz niemandem Recht machen. Entweder greift man zu früh ein, reagiert zu spät oder übersieht, dass es einem Kind schlecht geht – und schon steht man im Verdacht, mit den misshandelnden Eltern unter einer Decke zu stecken und sie zu schützen, anstatt sich für die Kinder einzusetzen. Doch wie schwer es ist, Kinder vor schädigenden Handlungen oder Unterlassungen ihrer Eltern zu schützen, ohne ihre Familien als grundlegende Basis einer gesunden kindlichen Entwicklung zu zerstören, bleibt dabei oftmals unbeachtet. Es wird zu wenig reflektiert, dass es eine hochkomplexe professionelle Aktivität darstellt, kindliche Signale und Aussagen zu deuten, zu verstehen, wie Familien funktionieren, elterliche Probleme zu erkennen sowie die richtigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen – und dass Eltern lernen können und in den meisten Fällen auch wollen, wie es besser, also ohne Gewaltanwendung an ihren Kindern, geht. Kinderschutz ist nicht nur gut. Er ist mit massiven Eingriffen in das Leben von Kindern und das Zusammenleben von Familien verbunden. Er kann hilfreich sein, wenn er bei Eltern auf Akzeptanz stößt und als Chance zur Veränderung von Familien angenommen
Einleitung
wird. Er kann zerstörend sein, wenn er unreflektiert vorgenommen wird und auf einem Familienbild fußt, in dem es nur Opfer und Täter gibt und keine Kinder und Eltern, die miteinander in durch Abhängigkeiten, Konflikte und Krisen gekennzeichneten biologischen, sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen stehen. Wir fordern: • • • • •
Kein Kind soll in seinem Wohl gefährdet werden! Kinder sollen respektiert und ernst genommen werden! Eltern sollen anerkannt und entlastet werden! Familien sollen gestärkt und unterstützt werden! Fachkräfte im Kinderschutz sollen geachtet und wertgeschätzt werden! • Eine sachliche und besonnene Auseinandersetzung über einen Kinderschutz mit Zukunft!
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1. Der ›Fall Kevin‹ Ein Wendepunkt für den Kinderschutz
Der ›Fall Kevin‹ im Jahr 2006 war für den Kinderschutz in Deutschland ein Wendepunkt. Als medial inszenierter Skandal führte er zu einem Umdenken in der Politik und in der Praxis. Wir möchten im Folgenden nachzeichnen, wie der Fall die Öffentlichkeit erregt und damit das ganze Kinderschutzsystem ins Wanken gebracht hat. Medial inszenierte Skandale sind nicht einfach nur besonders brisante Ereignisse, über die in der Presse oder dem Internet berichtet wird. Vielmehr sind sie Produkte von Journalist_innen, die ihr Handwerkszeug einsetzen: Ähnlich wie bei der Produktion literarischer Werke werden dabei bestimmte Techniken genutzt und standardisierte Erzählstrukturen verwendet (vgl. Burkhardt 2015: S. 50, 156, 203–204, 348). Medial inszenierte Skandale sind »Elementargeschichten des sozialen Systems« (ebd.: S. 336), die auf Grundlage einer stereotypisierten Unterscheidung zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹ einfache und leicht verständliche moralische Geschichten erzählen, die für die gesellschaftliche Kommunikation von Bedeutung sind (vgl. ebd.: S. 336). Die Moral dieser Geschichten appelliert an die Ängste und negativen Emotionen der Menschen (vgl. ebd.: S. 398).1 In einem medial inszenierten Skandal wird anhand eines konkreten Fallbeispiels das Verhalten einzelner Personen sichtbar gemacht und als öffentliches Ärgernis dargestellt, weil es mit den gesellschaftlichen Werten und Normen nicht vereinbar ist. Durch die Inszenierung einer moralischen Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts löst der Skandal eine öffentliche Empörung aus 1 | Burkhardt betrachtet mediale Skandale in funktionaler Perspektive als »Märchen für Erwachsene« (Burkhardt 2015: S. 398) oder auch als »Kommunikationskonzept zur öffentlichen Aushandlung von Moral« (ebd.: S. 382).
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und nimmt Einfluss auf die Politik (vgl. ebd.: S. 395–396). Er erzeugt Handlungsdruck zur Abwendung der Bedrohung und zur symbolischen Wiederherstellung der sozialen Ordnung. Medial inszenierte Skandale haben im Kinderschutz schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Bereits die Gründung der weltweit ersten »Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern« 1874 in New York wurde medienwirksam als Reaktion auf den Fall des von seinen Pflegeeltern misshandelten Kindes Mary Ellen inszeniert, der als Skandalfall in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit geriet. Auch in der jüngeren deutschen Geschichte gab es immer wieder medial inszenierte Skandale im Kinderschutz. So nahmen z. B. das Buch und der Film »Bambule« von Ulrike Meinhof, in denen die autoritären und misshandelnden Praktiken der Heimerziehung dieser Zeit thematisiert werden, großen Einfluss auf die öffentliche Diskussion über Kinderheime in den 1970er Jahren (vgl. Hering/Münchmeier 2014: S. 230). In den 1990er Jahren machten Fälle sexueller Gewalt wie die sogenannten Wormser Prozesse Schlagzeilen. Und auch Kinderschutzfälle, in denen Kinder zu Tode kamen, wurden in dieser Zeit von den Medien aufgegriffen, etwa der Osnabrücker ›Fall Laura-Jane‹ (1994), der Stuttgarter ›Fall Jenny‹ (1996) oder in den 2000er Jahren der Saarbrücker ›Fall Pascal‹ (2003), in dessen Folge zwei Jahre später der Paragraf 8a »Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung« ins Sozialgesetzbuch (SGB) VIII eingefügt wurde. Sie sind jedoch medial anders verarbeitet worden als der ›Fall Kevin‹ sowie zeitlich folgende weitere Fälle (wie z. B. der ›Fall Lea-Sophie‹ oder der ›Fall Chantal‹), die sich unmittelbar nach der Konkretisierung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung (§ 8a SGB VIII) ereigneten. Medial inszenierte Skandale im Feld des Kinderschutzes folgen denselben standardisierten Mustern einer journalistischen Erzählung wie andere öffentlichkeitswirksame Geschichten. Aber sie weisen eine Besonderheit auf, die für die Praxis der Inszenierung zunehmend an Bedeutung gewonnen hat: Während üblicherweise auf das Opfer und die Normverstöße und moralischen Verwerfungen des Täters fokussiert wird, bieten sich Kinderschutzfälle in besonderer Weise dazu an, die Figur des ›Helfers‹ stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Ein Kinderschutzskandal erzeugt fast immer beides: Empörung über das Verhalten der Täterin bzw. des Täters und über jenes der Fachkräfte des Kinderschutzes, welche die Kin-
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deswohlgefährdung nicht verhindert haben. Mit dieser öffentlichen moralischen Empörung wird zugleich die Politik aktiviert, da das exemplarisch aufgedeckte Fehlverhalten von Fachkräften vielleicht kein Einzelfall ist und möglicherweise auf einen Reformbedarf im gesamten staatlich organisierten Kinderschutzsystem hinweist. Die Politik wird durch den medial inszenierten Skandal im Kinderschutz dazu aufgerufen, das durch den Einzelfall erschütterte Vertrauen der Bürger_innen in das Kinderschutzsystem wiederherzustellen. Als im Oktober 2006 in Bremen die Leiche des zweijährigen Kindes Kevin, das unter der Fürsorge des Jugendamts stand, aus dem Kühlschrank seines drogensubstituierten, alleinerziehenden Ziehvaters geborgen wurde, war dies das Schlüsselereignis für die wichtigste Elementargeschichte des Kinderschutzes in Deutschland in der jüngsten Vergangenheit. Der Fund der Kinderleiche im Kühlschrank war ein Schock und zugleich eine Sensation. Der ›Fall Kevin‹ wurde zu einem für lange Zeit aufrechterhaltenen medial inszenierten Skandal, der nahezu mustergültig alle Phasen und Episoden durchschritt, die aus der Theorie des Medienskandals bekannt sind (vgl. Burkhardt 2015). Der ›Fall Kevin‹ verunsicherte das gesamte Kinderschutzsystem (→ Kapitel 5). Er markiert einen zentralen Wendepunkt des Kinderschutzes in Deutschland.
Die Moral der Geschichte vom ›Fall Kevin‹ Der medial inszenierte Skandal um den ›Fall Kevin‹ hat eine wahre Flut an Meldungen, Nachrichten, Berichten, Reportagen und Fernsehspots hervorgebracht. Alle relevanten regionalen und überregionalen Medien haben intensiv über den Fall berichtet. Durch verschiedene Folgeereignisse konnte das öffentliche Interesse am Fall über Jahre hinweg aufrechterhalten werden: In direkter Folge des Fallgeschehens trat zunächst die Bremer Sozialsenatorin von ihrem Amt zurück und der Bremer Bürgermeister gestand ein Versagen der staatlichen Behörden ein. Schnell gab er eine Dokumentation der Fallereignisse auf Grundlage der Fallakten des Jugendamts durch den damaligen Justizstaatsrat Ulrich Mäurer in Auftrag. Es entstand die sogenannte Mäurer-Dokumentation, die bereits früh die personalisierten Daten lieferte, aus denen die Medien leicht eine Skandalgeschichte inszenieren konnten. Zu offensichtlich waren die Fehlentscheidungen, die im Fall getroffen wurden, zu groß die Schlampereien und Versäumnisse der Fachkräfte des Jugendamts.
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Bereits drei Wochen nach dem Fund der Kinderleiche wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft zum ›Fall Kevin‹ eingesetzt. An den 21 öffentlichen Sitzungen zur Beweisaufnahme, in denen 73 Zeugen von den Ausschussmitgliedern befragt wurden, nahmen die Medien regen Anteil. Der abschließende Bericht des Untersuchungsausschusses entwickelte sich ebenso wie die Mäurer-Dokumentation zu einer wichtigen Quelle der Berichterstattung. Auch in den Folgejahren knüpften medial stark beachtete Ereignisse an das Fallgeschehen an, z. B. der Strafprozess gegen Kevins Ziehvater oder die Gerichtsverhandlung gegen Kevins Amtsvormund. Das Verfahren gegen den Case-Manager von Kevins Familie wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Die Ergebnisse einer Diskursanalyse zum ›Fall Kevin‹ (Brandhorst 2015) zeigen, dass der Fall in der Öffentlichkeit vor allem als Fehlergeschichte der Sozialen Arbeit und des Jugendamts verhandelt wurde. In Zentrum der Skandalgeschichte stand nicht allein Kevins Ziehvater, sondern noch deutlicher der fallverantwortliche Case-Manager des Bremer Jugendamts, der zum ›Mittäter‹ erklärt wurde. Dies geschah, indem der Case-Manager persönlich für das Scheitern des Falls und den Tod Kevins verantwortlich gemacht wurde. Die öffentliche Kritik an seiner Person bezieht sich immer wieder auf dieselben Befunde: So habe der Case-Manager keine aktive Fallsteuerung betrieben, auf mehrfache Hinweise auf eine Gefährdung Kevins keine Reaktion gezeigt, das Verhalten der Eltern nicht kontrolliert oder sanktioniert und allein die Bedürfnisse der Eltern zur Richtschnur seines Handelns gemacht. Auf diese Weise habe er das Kindeswohl aus dem Blick verloren. Er habe fachliche Schwächen in der Gefährdungseinschätzung gezeigt und mit Kritik nicht umgehen können, habe seine einmal eingenommene Sicht auf den Fall trotz zahlreicher warnender Hinweise nicht verändert und Vorgesetzten und Kooperationspartnern wichtige Informationen zum Fall vorenthalten. Aus den dokumentierten Arbeitsweisen des Case-Managers wird eine moralisch verwerfliche Haltung der Person abgeleitet. Ihr wird eine weltanschaulich verblendete fachliche Orientierung unterstellt. Doch auch andere Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen in der Kritik. So wird z. B. der Vorgesetzten des Case-Managers im Jugendamt vorgeworfen, sie habe keine Fachaufsicht ausgeübt. Oder es wird den sozialpädagogischen Fachkräften eines kurzzeitig in Kevins Familie
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tätigen Krisendienstes unterstellt, sie hätten geschönte Berichte über die Zustände in der Familie an das Jugendamt übermittelt. Im Kern formen stark zugespitzte und stereotypisierende Thesen den Skandaldiskurs zum ›Fall Kevin‹ (vgl. Brandhorst 2015: S. 338): Demnach sei das Scheitern des Jugendamts auf eine unter Fachkräften der Sozialen Arbeit weit verbreitete ablehnende Haltung gegenüber staatlicher Kontrolle von Familien zurückzuführen. Zudem wird ein an den Ressourcen und Interessen der Eltern orientierter systemischer Ansatz der Sozialen Arbeit als Ursache des Scheiterns ausgemacht. Es wird eine einseitige Hilfeorientierung der ›Gutmenschen‹ aus der Sozialen Arbeit kritisiert, die ihre Augen vor der brutalen Realität verschließen, in der Eltern kaltblütig ihre Kinder misshandeln und die Sozialarbeiter_innen täuschen. Auf Grundlage dieser Thesen entsteht in der Öffentlichkeit eine »moralische Panik« (Cohen 2002) bezüglich der Arbeitsweisen und Haltungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit im Kinderschutz und deren Beziehungen zu den misshandelnden Eltern (vgl. Brandhorst 2018: S. 240–242). Mit den Erzählsträngen wird ein traditionelles Klischee aufgerufen: jenes einer staatsfernen, aber mit der Klientel verstrickten Sozialen Arbeit. Und es werden nicht nur für Kevins Ziehvater, sondern auch für die betreuenden Fachkräfte der Sozialen Arbeit harte, abschreckende Strafen gefordert. Dieser Fokus auf strafrechtliche Konsequenzen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit ist im sozialpädagogischen Fachdiskurs zum ›Fall Kevin‹ besonders stark ausgeprägt (vgl. Brandhorst 2015: S. 283–334). In der Deutung der Ursachen für das beanstandete Fehlverhalten von Fachkräften der Sozialen Arbeit hat der Medienskandal zum ›Fall Kevin‹ die Argumentationslinien bereits vorgeformt, die auch Tsokos und Guddat in ihrem Buch »Deutschland misshandelt seine Kinder« aufgreifen, wenn sie sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamts pauschal als »Komplizen der elterlichen Misshandler« (Tsokos/Guddat 2015: S. 162) bezeichnen. Der ›Fall Kevin‹ war der Ausgangspunkt einer öffentlichen Infragestellung eines ressourcen- und hilfeorientierten Ansatzes der Sozialen Arbeit und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Eltern im Arbeitsfeld des Kinderschutzes. In der Öffentlichkeit bildete sich die Meinung, dass der Staat in Kinderschutzfällen härter durchgreifen muss. Gleichzeitig entstand der Eindruck, dass die Soziale Arbeit im Kinderschutz ›Monster mit Wattebäuschen bewirft‹.
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Aber sind die Fehlerhypothesen und moralisch-psychologischen Ausdeutungen der Verhaltensweisen des Case-Managers, die diesem Image zugrunde liegen, angesichts der Falldaten eigentlich plausibel und haltbar? Oder lassen sich die am ›Fall Kevin‹ exemplarisch festgemachten Ursachen für das individuelle Fehlverhalten sozialpädagogischer Fachkräfte anhand der bekannten Faktenlage auch ganz anders interpretieren?
Die Hintergründe der Fehler im ›Fall Kevin‹ Im kommunikativen Zusammenspiel von Medien und Politik rückt der Medienskandal die individuelle Schuld des Case-Managers in den Vordergrund. Die Frage nach der Steuerungsverantwortung und damit einhergehend nach der Verantwortung für die prekären Rahmenbedingungen im Bremer Jugendamt des Jahres 2006 wird in dieser stark vereinfachenden und hoch individualisierten Elementargeschichte ebenso an den Rand gedrängt wie die Frage nach der Verantwortung des Jugendamts und seiner Leitung oder die Frage nach der Mitverantwortung von Fallakteuren aus der Medizin und der Psychiatrie. Eine Ausnahme stellt die mediale Ausdeutung der Rolle des substituierenden Arztes von Kevins Ziehvater dar, der als »ideologischer Zwillingsbruder« (Rückert 2008) des Case-Managers konzipiert wird. In der Skandaldebatte werden mutmaßlich falsche Fachkonzepte und moralisch fragwürdige Arbeitseinstellungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit als Hintergründe für das Scheitern des Jugendamts im ›Fall Kevin‹ thematisiert. Die prägende These, dass die sozialpädagogischen Fachkräfte im Kinderschutz Kontrolle kollektiv ablehnen würden, wird im Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses hervorgebracht. Sie verbreitet sich daraufhin virulent in anderen Publikationen. Angesichts des offensichtlichen menschlichen Versagens fand die in den Medien durchaus präsente Diskussion über strukturelle Hintergründe, die Einfluss auf das Fallgeschehen nahmen, kein Gehör. Wenig Beachtung fanden z. B. die doch bemerkenswerten Tatsachen, dass im Bremer Jugendamt seit zwei Jahrzehnten ein Einstellungsstopp galt und das Amt dadurch chronisch unterbesetzt war. Auch wurde kaum wahrgenommen, dass die sogenannten CaseManager im Bremer Jugendamt mehr oder weniger autodidaktisch arbeiteten. Denn die Arbeitsform des Case-Managements, für deren Ausübung Fachkräfte in Deutschland üblicherweise monatelange
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von der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management zertifizierte Fortbildungen besuchen, wurde in Bremen mit einer nur dreitägigen Schulung eingeführt. Aufgrund des Personalmangels fehlte den Fachkräften im Bremer Jugendamt die Zeit, um z. B. die im neuen Handlungskonzept vorgesehenen Dokumentationspflichten und Beratungsgebote zu erfüllen. Im Ergebnis wurde ihnen keine tragfähige Alternative zur etablierten Hilfepraxis angeboten und es gelang nicht, ein fachlich fundiertes Case-Management aufzubauen, wie es im langjährigen Um- und Abbauprozess im Bremer Jugendamt eigentlich vorgesehen war. Dieser Veränderungsprozess wurde von Beratungsunternehmen wie Roland Berger oder McKinsey & Company geplant, die mit Kinderschutzthemen wenig vertraut sind. Er beinhaltete auch die Einführung eines neuen Steuerungsmodells, mit dem besonderes Augenmerk auf das Finanzcontrolling gelegt wurde, sowie die Auslagerung von Dienstleistungen in den privaten Sektor, die zuvor das Jugendamt erbracht hatte. Die Fachkräfte des Jugendamts sollten nun nicht mehr selbst in die Familien gehen. Sie sollten ihre Fälle nur noch verwalten und managen, d. h. die Hilfen gemeinsam mit den Betroffenen planen und den Verlauf kontrollieren. Dagegen regte sich unter den Sozialarbeiter_innen aus dem Jugendamt Widerstand. Vor allem kritisierten sie, dass bei der Planung und Kontrolle der Hilfen finanzielle Gesichtspunkte im Vordergrund standen. Die Frage, wie ein Fall fachlich zu bewerten ist, hatte im Jahr 2006 im Bremer Jugendamt nach Ansicht vieler Fachkräfte keine Priorität. Und so gab es auch keine oder nur unzureichende Strukturen und zeitliche Rahmenbedingungen, um kollegiale Fallberatungen verbindlich umzusetzen. Übrigens: Trotz der betriebswirtschaftlichen Neuausrichtung des Jugendamts konnten zu keiner Zeit Einsparungen im Sozialetat erzielt werden – sie verfehlte ihr Ziel auf ganzer Linie. Die Ausgaben stiegen wie zuvor kontinuierlich weiter an. Die oft zitierte angebliche Kritikunfähigkeit des Case-Managers und sein stures Festhalten an einmal getroffenen Einschätzungen wurden im Medienskandal als menschliche Schwächen ausgelegt. Das beanstandete Verhalten wurde aber nicht mit unzureichenden Möglichkeiten zur Fallberatung mit Kolleg_innen aufgrund der dauerhaft angespannten Personalsituation und der hohen Fallbelastung der Fachkräfte in Zusammenhang gebracht. So betreute allein der Case-Manager von Kevin 112 Fälle, von denen in 82 Fällen ein konkreter Handlungsbedarf bestand. (Auch Kevins ebenso in der
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öffentlichen Kritik stehender Amtsvormund war noch für weitere Mündel zuständig, insgesamt betreute er etwa 240 Kinder.) Das Fehlverhalten des Case-Managers wurde auch nicht vor dem Hintergrund fehlender Supervisionsangebote diskutiert. Im Bremer Jugendamt war eine einzige Halbtagskraft für die Supervision von 1.200 Mitarbeiter_innen zuständig. Genauso wenig wurde der Vorwurf, der Case-Manager habe Schwächen in der Gefährdungseinschätzung gezeigt, mit fehlenden Fortbildungsangeboten in Zusammenhang gebracht, für die pro Jugendamtsmitarbeiter_in im Jahr lediglich 12 Euro zur Verfügung standen. Selbst das Bekanntwerden einer amtsinternen Untersuchung, in der bereits vor den Ereignissen im ›Fall Kevin‹ unmissverständlich dargelegt wurde, dass unter den gegebenen personellen und strukturellen Rahmenbedingungen eine adäquate Bearbeitung von Fällen grundsätzlich nicht mehr zu gewährleisten sei, änderte nichts an der öffentlichen moralischen Empörung über das Verhalten des Case-Managers. Diese mündete in eine allgemeine Kritik an angeblich problematischen Arbeitsweisen und Haltungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit und den fachlichen Konzepten und Methoden der Profession. Aus der Distanz heraus betrachtet ist es erstaunlich, dass im Kontext der öffentlichen Auslegung des Fehlverhaltens des Case-Managers nicht deutlich gemacht wurde, was doch eigentlich auf der Hand liegt: Die in höchstem Maße anspruchs- und verantwortungsvollen Aufgaben der Fachkräfte im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) können diese nur dann erfüllen, wenn ausreichend Personal zur Verfügung steht und das Jugendamt – mindestens – für regelmäßige Supervision, strukturell und zeitlich abgesicherte Teamberatung von Fällen sowie stetige Fortbildungen sorgt. Der ›Fall Kevin‹ zeigt, dass Fehlentscheidungen vorprogrammiert sind, wenn bei den Entscheidungsträgern und der Jugendamtsleitung kein Verständnis dafür vorhanden ist, wie schwierig es für Fachkräfte ist, ihre aus langjähriger Berufserfahrung gespeisten Einschätzungen in Frage zu stellen, wenn Supervisions- und Beratungsangebote fehlen, in denen sie ihre Sichtweisen reflektieren könnten. In der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem ›Fall Kevin‹ wurde zu wenig beachtet, dass es eine hochkomplexe professionelle Aktivität darstellt, zu verstehen, was Kinder sagen und wie ihre Familien funktionieren, zu erkennen, welche Probleme die Eltern haben, und auf Grundlage sozialpädagogischen Fallverstehens die richtigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dies öffentlich zu the-
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matisieren und den Staat und die Kommunen in die Verantwortung zu nehmen, eine ausreichend gute Ausstattung sowie mit fachlichen Standards zu vereinbarende Zeitkontingente für die Fallarbeit in den Jugendämtern zu gewährleisten, ist eine verpasste Chance, Fehlerquellen im Kinderschutz zu erkennen und daran zu arbeiten, sie zu beheben. Aber was ist stattdessen passiert? Welche Wirkung hat die Elementargeschichte über den ›Fall Kevin‹ in der Sozialen Arbeit und im Kinderschutz entfaltet? Was hat sich nach dem Fall im deutschen Kinderschutzsystem verändert?
Die Auswirkungen des ›Falls Kevin‹ auf die Arbeit im Kinderschutz Welche Wirkung der medial inszenierte Skandal um den ›Fall Kevin‹ auf die Kinderschutzarbeit entfaltet hat, lässt sich zunächst an einer Reihe politischer Maßnahmen illustrieren, die direkt auf den Fall Bezug nehmen. So wurden auf Landesebene verschiedene Gesetze zur Verbesserung des Kinderschutzes eingeführt. Mit ihnen wurde z. B. ein verbindliches Einladewesen zur Teilnahme an Gesundheitsuntersuchungen von Kindern, Lockerungen des Datenschutzes in Kinderschutzfällen sowie die Verpflichtung zur Einrichtung von Kinderschutznetzwerken zwischen Organisationen und Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens etabliert. Unter dem Titel »Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme« wurde im Jahr 2006 ein Aktionsprogramm mit verschiedenen Modellprojekten und Expertisen beschlossen. Mit den Zielen, im Sinn der Qualitätsentwicklung aus Fehlern im Kinderschutz zu lernen, die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern möglichst frühzeitig zu verbessern und die Vernetzung von Angeboten des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken, wurde ein Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) aufgebaut. Bund und Länder richteten gemeinsame Kinderschutzgipfel aus. Das SGB VIII wurde geändert und es wurde festgelegt, dass Amtsvormünder nicht mehr als fünfzig Mündel betreuen sollen (interessanterweise wurde für Fachkräfte, die in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter mit Kinderschutzarbeit befasst sind, bis heute keine Fallzahlobergrenze festgelegt.) Es wurde ein Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdungen des Kindeswohls verabschiedet, und nicht zuletzt gab der Diskurs über den
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›Fall Kevin‹ auch den Anstoß für die Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) im Jahr 2012. Auf fachlicher Ebene führte der Fall ebenso zu vielen Veränderungen. In Bremen, dem Ort des Geschehens im ›Fall Kevin‹, wurde z. B. ein mehrjähriger Qualitätsentwicklungsprozess im kommunalen Kinderschutzsystem initiiert, das Personal im Jugendamt wurde deutlich aufgestockt und ein Kindernottelefon sowie ein neuer Krisendienst wurden eingeführt, ebenso wie eine Obduktionspflicht bei ungeklärter Todesursache von Kindern sowie die obligatorische Untersuchung von Haarproben von Kindern drogensubstituierter Eltern. Als Konsequenz aus dem ›Fall Kevin‹ wurden im ganzen Land Netzwerke für den Kinderschutz geschaffen und es wurde ein besserer Informationsaustausch zwischen den verschiedenen im Kinderschutz tätigen Berufsgruppen und Organisationen gewährleistet. Im Bereich der Prävention von Kindeswohlgefährdung wurden die Frühen Hilfen gestärkt. In den Jugendämtern wurden Verfahrensstandards zum Umgang mit Fällen, in denen das Kindeswohl gefährdet ist, weiterentwickelt, Beurteilungshilfen wie Kinderschutzbögen und neue lösungsorientierte Methoden zur Gefährdungseinschätzung eingeführt und Fachkonzepte zum Auf bau sozialer Frühwarnsysteme ausgearbeitet. Zudem ergaben sich elementare Veränderungen im Arbeitsfeld. In direkter Folge des ›Falls Kevin‹ schossen die Zahlen der Fremdmeldungen einer Kindeswohlgefährdung, der Hilfen zur Erziehung, der Inobhutnahmen von Kindern durch das Jugendamt sowie der sorgerechtlichen Maßnahmen dramatisch in die Höhe und verharren seitdem auf hohem Niveau. Die Zahlen weisen auf eine veränderte Praxis der Jugendämter hin, die nun schneller als zuvor in Familien intervenieren. Die Fachkräfte haben aus dem Medienskandal um den ›Fall Kevin‹ gelernt: Sie wollen vermeiden, selber einmal derart in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden wie der Case-Manager, der für den ›Fall Kevin‹ zuständig war. Sie haben gelernt, dass es wichtig ist, das eigene Vorgehen durch die Einhaltung bestimmter Verfahren und gründliche Dokumentation rechtlich abzusichern. Und sie werden im Zweifelsfall eher aktiv, um Kinder aus ihren Familien in Obhut zu nehmen, als abzuwarten, denn sie wollen sich nicht vorwerfen lassen, etwas übersehen zu haben. Die mit dem ›Fall Kevin‹ verbundene Fachdebatte über Fehler und Risiken im Kinderschutz
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führte zu einer Wendung in der Kinderschutzarbeit: Es geht nun nicht mehr allein darum, Kinder zu schützen. Den Fachkräften ist bewusst geworden, dass auch sie selbst sich in ihrer Arbeit schützen müssen. Niemand will als Fachkraft für den Tod eines Kindes von den Medien verantwortlich gemacht, an den moralischen Pranger gestellt und von der Justiz verfolgt werden. Dieses neue Sicherheitsdenken leistet einer bürokratisierten Melde-, Ermittlungs- und Eingriffspraxis der Jugendämter im Kinderschutz Vorschub. Wie oben beschrieben wurde Fachkräften der Sozialen Arbeit im Nachgang des ›Falls Kevin‹ vorgeworfen, sich Kontrolle zu verweigern und nicht die nötige Distanz zu den Eltern wahren zu können. Dies bewirkte, dass die sozialpädagogische Beziehungsarbeit mit problematischen Eltern und die Hilfeorientierung im Kinderschutz, ja die positive Wirkung sozialpädagogischer Hilfe zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen insgesamt infrage gestellt wurden. So fand sich die Soziale Arbeit in der Defensive wieder. An der vom ›Fall Kevin‹ ausgelösten Debatte lässt sich ablesen, dass die Skandalerzählung in der Öffentlichkeit ein Missverständnis erzeugt hat. Kinderschutz wird nur noch mit spektakulärer Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder in Verbindung gebracht. Nun ist professionelle Hilfe und Arbeit im Konflikt natürlich auch und gerade in dramatisch zugespitzten Situationen erforderlich, in denen es zu physischer oder sexueller Gewalt gegen Kinder gekommen ist. Aber bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle liegen andere, oft weniger ausgeprägte Formen der Kindeswohlgefährdung vor, wie Vernachlässigung oder psychische Misshandlung. Das bedeutet auch, dass in den meisten Fällen die Rollen nicht so klar verteilt sind wie in der Elementargeschichte über den ›Fall Kevin‹. Normalerweise haben es die Fachkräfte im Kinderschutz nicht mit skrupellosen Gewalttätern zu tun, sondern mit Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder sehr am Herzen liegt und denen es trotzdem aus verschiedenen Gründen und in bestimmten Lebenssituationen nicht gelingt, ausreichend darauf zu achten. Diesen Menschen will und kann die Soziale Arbeit helfen. Konzepte und Methoden, mit denen Fachkräfte ihre Arbeit verbessern können und mit denen Familien besser geholfen werden kann, stehen aber nur vereinzelt zur Diskussion. Unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung verschieben sich die Vorzeichen in der Kinderschutzarbeit zugunsten einer stärkeren Kontroll- und Eingriffsorientierung und entgegen einer Hilfeorientierung und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Eltern.
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Der medial inszenierte Skandal um den ›Fall Kevin‹ führte zu einer deutlich erhöhten Aufmerksamkeit für die Problematik der Kindeswohlgefährdung in der (Fach-)Öffentlichkeit und der Politik. Er lieferte die argumentative Vorlage für neuere Skandalisierungen sozialpädagogischer Hilfen im Feld des Kinderschutzes. Er bewirkte umfassende Veränderungen in der Kinderschutzarbeit und nahm Einfluss auf die gesellschaftlichen Erwartungen, was diese leisten soll, auch wenn er eine stark vereinfachende, widersprüchliche und einseitige Geschichte erzählte. Nun ließe sich behaupten, dass es schließlich egal sei, wodurch Veränderungen konkret ausgelöst wurden – Hauptsache, sie fanden statt und der Kinderschutz wurde verbessert. Aber wurde er tatsächlich verbessert? Wie steht es heute um den Kinderschutz in Deutschland?
Die aktuelle Situation im Kinderschutz Die medialen, politischen und fachlichen Diskurse über den ›Fall Kevin‹ haben viele positive Veränderungen in der Kinderschutzarbeit in Deutschland nach sich gezogen, etwa eine Verstärkung der interorganisationalen und multiprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Akteuren aus der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, der Pädiatrie, Psychologie, Psychiatrie und Rechtsmedizin, eine höhere Aufmerksamkeit für die Inaugenscheinnahme von und Kommunikation mit betroffenen Kindern sowie den Auf bau von Angeboten der Frühen Hilfen zur Prävention von Kindeswohlgefährdungen. Dennoch erzeugen medial inszenierte Skandale im Kinderschutz, in denen entweder übereilt und unbegründet oder zu spät und zögerlich zum Schutz von Kindern in Familien interveniert wurde, stets aufs Neue den Eindruck in der Öffentlichkeit, dass nach wie vor etwas nicht zu stimmen scheint im deutschen Kinderschutzsystem. Wie passt das zusammen? Ein Blick auf die Situation der Jugendämter als Kerneinrichtungen des deutschen Kinderschutzsystems kann einen Eindruck davon vermitteln, was im Kinderschutz ›los ist‹. Denn die Jugendämter sehen sich aktuell, trotz eines Zuwachses von Ressourcen infolge des ›Kevin-Skandals‹, mit zwei bedeutenden Herausforderungen konfrontiert: Erstens neutralisiert ein steigendes Fallaufkommen einen Großteil der hinzugewonnenen Ressourcen, zweitens fällt es den Jugendämtern zunehmend schwer, geeignetes und qualifiziertes Personal für die riskante Arbeit im Kinderschutz zu finden. Dies hat
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zur Folge, dass in Prozessen der Fallbearbeitung fachliche Aspekte häufig durch die Einschränkungen, die chronischer Zeitmangel mit sich bringt, überlagert werden (vgl. Beckmann/Ehlting/Klaes 2018). Gleichzeitig sind im Zuge der von Enders (2013) untersuchten negativen medialen Aufmerksamkeit für die Kinderschutzarbeit der Jugendämter die äußeren Erwartungen an deren Aufgabenerbringung im Kinderschutz gestiegen. Der dadurch ausgelöste Reformdruck kam zu einer Zeit, als viele Jugendämter sich ohnehin, im Zuge der oben beschriebenen Orientierung an Formen des Managements und der Schwerpunktverlagerung in der Leistungserbringung durch die verstärkte Auslagerung von Aufgaben an Träger der freien Jugendhilfe (unter Missachtung der nicht delegierbaren Steuerungsverantwortung), in einem Umbauprozess befanden. Diese Entwicklung erfolgte vielerorts konträr zu den rechtlichen Vorgaben, fachlichen Aufgaben und sozialpädagogischen Konzepten sowie dem professionellen Selbstverständnis der Fachkräfte. Die der rechtlichen Absicherung von Fachkräften geschuldete Verregelung der Fachpraxis durch verstärkte Dokumentationspflichten, Verfahrensvorgaben und den Einsatz technischer Hilfsmittel (wie z. B. schematische Einordnungen in Gefährdungsbereiche oder Bögen zur Indiziensammlung) führt heute zu einer zunehmenden Bürokratisierung der Kinderschutzarbeit sowie zu einer Betonung der Expertenrolle der Fachkräfte und einer Falleinschätzung von oben und außen. Sie führt aber auch zu einem Autonomieverlust der Fachkräfte und zu einer Verdrängung des fallverstehenden Bezugsrahmens der Sozialen Arbeit im Kinderschutz. Denn in einem starren und ungenügend fachlich unterfütterten Regelkorsett kann sich eine »Kunstlehre des Fallverstehens« (Müller 2012: S. 15) nicht entfalten. Auch das sozialpädagogische Paradigma der Partizipation, mit dem die Kommunikation mit betroffenen Familien zur Grundlage dieses Fallverstehens erklärt wird, kann unter den gegebenen Rahmenbedingungen nur schwerlich umgesetzt werden. Dies hat z. B. zur Folge, dass Fachkräfte der Jugendämter ihre Gefährdungseinschätzungen häufig zu einseitig auf medizinische, psychologische oder psychiatrische Diagnostiken stützen und teilweise gar kein eigenständiges sozialpädagogisches Fallverständnis mehr entwickeln. Klatetzki (2013) erkennt darin die Gefahren einer Deprofessionalisierung der Sozialen Arbeit und des Verlustes einer eigenständigen Handlungsorientierung der Jugendämter. Zusätzliches Gewicht erhält diese Befürchtung dadurch, dass – wie die Erfahrun-
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gen aus den vergangenen Jahren zeigen – die multiprofessionelle und organisationsübergreifende Kooperation für viele Fachkräfte aufgrund unterschiedlicher Fachsprachen und Bewertungsmaßstäbe eine erhebliche Herausforderung darstellt (vgl. Wolff et al. 2013: S. 174–189). Realität und Anspruch der Zusammenarbeit im Kinderschutz liegen häufig noch weit auseinander. Was bedeutet das nun für die betroffenen Kinder? In Hinblick auf die multifaktoriellen Ursachen von Kindeswohlgefährdungen bleibt das sozialpädagogische Fallverstehen im Kinderschutz unerlässlich, um Gefahren für das Wohl von Kindern zu erkennen. Im professionellen Verstehensprozess können Entwicklungen, Dynamiken und Beziehungsmuster in Familien sowie Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Belastungsfaktoren wahrgenommen werden. Klinische Diagnostiken ermöglichen dies nur begrenzt. Wenn sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamts allerdings aus den genannten Gründen Kindern und Eltern nicht genügend zuhören und die Familiensituation und den bisherigen Fallverlauf nicht gemeinsam mit ihnen analysieren; wenn sie unterschiedliche fachliche Expertisen nicht gründlich genug im Dialog mit anderen Professionen reflektieren; wenn sie deshalb Zusammenhänge nicht verstehen und keine eigenständige sozialpädagogische Perspektive auf den Fall entwickeln – so kann dies handfeste negative Auswirkungen auf das Wohl von Kindern haben, weil Gefährdungen oder Entwicklungschancen übersehen werden. In der Sozialen Arbeit etabliert sich gegenwärtig ein »kinderschutzspezifischer Modus« (Marks/Sehmer/Thole 2018: S. 13), der sich dadurch auszeichnet, dass die sozialpädagogischen Fachkräfte in Fällen von Kindeswohlgefährdung ihre genuine Handlungspraxis verlassen: Anstatt auf Hilfe für Familien in schwierigen Lebenslagen, auf Methoden des sozialpädagogischen Fallverstehens und auf eine umfassende Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern zu setzen – wie es in anderen Tätigkeitsbereichen der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe selbstverständlich ist –, wird in Fällen von Kindeswohlgefährdungen oftmals nicht mehr mit, sondern nur noch über die Betroffenen gesprochen. Mit den Eltern vereinbarte Schutzkonzepte werden von den Betroffenen häufig als Auflagen empfunden, da bei deren Nichterfüllung Sanktionen drohen, z. B. eine Inobhutnahme des Kindes oder eine Anrufung des Familiengerichts. Es wird somit nicht selten mit Druck und – gerade
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in der Gefährdungseinschätzung – mit polizeilichen Ermittlungsund Verhörpraktiken gearbeitet. Es soll betont werden, dass in Fällen strafrechtlich relevanter Kindeswohlgefährdungen selbstverständlich auch die Perspektive der Polizei von Bedeutung ist. Aber die Kinder- und Jugendhilfe kann und darf ihre eigene Praxis nicht an den Methoden der Polizeiarbeit und auf die Ermittlung straf barer Aspekte ausrichten. Dies ist und bleibt die Aufgabe der Kriminalpolizei und kann von der Kinder- und Jugendhilfe strukturell nicht geleistet werden. Denn eine »Ausrichtung des sozialpädagogischen Kinderschutzes auf Kontrolle, Sanktionen und Risikomanagement« (Marks/Sehmer/Thole 2018: S. 14) begünstigt eine Praxis, in der Fachkräfte gar nicht mehr den Versuch unternehmen, eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung mit Eltern zu etablieren, wie es für den Erfolg sozialpädagogischer Hilfeleistungen eigentlich notwendig wäre. Stattdessen stehen systematisch gleich zu Beginn der Fallarbeit im Kinderschutz Misstrauen und Schuldzuweisungen gegenüber den Eltern im Vordergrund. Dies gilt auch für die überwiegende Mehrzahl der Fälle, in der keine strafrechtlich relevanten Kinderschutz-Tatbestände vorliegen. Durch Androhung des Entzugs der elterlichen Sorge vor dem Familiengericht wird nicht selten Druck aufgebaut, um bestimmte Anordnungen gegenüber den Eltern durchzusetzen und eine Folgebereitschaft herzustellen. Durch engmaschige Kontrollen soll die Einhaltung der ›Auflagen‹ durch die Eltern sichergestellt werden. Die davon betroffenen Menschen werden aber nicht dazu befähigt, ihr Verhalten grundlegend zu überdenken und es nachhaltig anders zu gestalten. Man muss sich daher fragen, was in Familien passiert, wenn die Kontrollen einmal wegfallen, weil das Verhalten sich eine Zeit lang gebessert hat, wobei aber leider nichts dazu gelernt wurde. An dieser Stelle muss mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass die beschriebene Praxis im kinderschutzspezifischen Modus der Sozialen Arbeit einen beobachtbaren Trend abbildet, der aber nicht die Arbeit aller Jugendämter in Deutschland und all ihrer Fachkräfte widerspiegelt. Denn es gibt auch Jugendämter und sehr viele Fachkräfte, die anders mit Fällen von Kindeswohlgefährdung umgehen als beschrieben und z. B. auf Grundlage der selbstbestimmten Mitwirkung der betroffenen Kinder und Eltern und Konzepten eines dialogorientierten Kinderschutzes arbeiten. Probleme, die sich aber auch für diese Fachkräfte ergeben, sind ein sich verfestigendes Misstrauen von Seiten der Bürger_innen gegenüber dem
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Jugendamt, das durch dessen Handlungsweisen im kinderschutzspezifischen Modus der Sozialen Arbeit entsteht, sowie die dadurch erhöhten Zugangsschwierigkeiten zu Familien in problematischen und krisenhaften Lebenssituationen.
Neue Er wartungen an die Kinder- und Jugendhilfe im Kinderschutz Nicht nur die betroffenen Familien finden sich in Fällen von Kindeswohlgefährdungen schnell in schwachen bis ohnmächtigen Positionen wieder, auch die Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind stark in die Defensive geraten. Dies hat vor allem mit einer überhöhten gesellschaftlichen Erwartung an die Wirksamkeit Sozialer Arbeit infolge von problematischen Kinderschutzverläufen zu tun. Die strafrechtliche und öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr allein auf die Täter_innen, wenn ein Kind gewaltsam stirbt. Vielmehr wird heute häufig den involvierten Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe (insbesondere aus Jugendämtern) vorgeworfen, das Kindeswohl nicht gesichert zu haben. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Kinder- und Jugendhilfe den Schutz aller Kinder und insbesondere derjenigen, die von ihren Fachkräften betreut werden, garantieren müsse. Diese Vorstellung kommt in einer verbreiteten Fehlinterpretation des Begriffs der Garantenstellung von Fachkräften des Jugendamts im Kontext des Kinderschutzes zum Ausdruck. Dabei handelt es sich um eine Kategorie zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch Unterlassen gebotener Handlungen – ohne speziellen Bezug zum Kinderschutz. Sie beinhaltet im Kontext des Kinderschutzes kein generelles Garantieversprechen, das Wohl von Kindern in unserer Gesellschaft sicherzustellen. Die Garantenstellung von Fachkräften des Jugendamts bezieht sich nur auf Fälle, in denen eindeutig erkennbar ist, dass das Wohl von Kindern gefährdet ist und die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden (vgl. Heghmanns 2018). In diesen Fällen würden sich die Fachkräfte durch Unterlassen straf bar machen, wenn sie ihre fachlichen Sorgfaltspflichten verletzen und auf diese Weise ein Kind zu Schaden kommt (§ 13 StGB). Die Kinder- und Jugendhilfe hat grundsätzlich die Aufgabe, Entwicklungs- und Sozialisationshilfen für Kinder, Jugendliche und Familien in ungünstigen Lebenslagen anzubieten, die freiwillig angenommen werden können und von den Betroffenen aktiv mitgestaltet
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werden. Dabei spielt wie bei jeder Hilfeleistung auch Kontrolle eine wichtige Rolle. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefährdungen ihres Wohls zählt in diesem Kontext zu den zentralen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Darunter verstand man aber vor dem Wendepunkt, den der ›Fall Kevin‹ markiert, vor allem, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit dafür zuständig sind, förderliche Bedingungen des Aufwachsens für alle Kinder und Jugendlichen zu gestalten und gemeinsam mit betroffenen Familien, in denen eine Kindeswohlgefährdung aufgetreten ist oder prognostiziert wird, diese zu bearbeiten. Dabei wurde den Eltern – unter der zentralen Prämisse, die Kindeswohlgefährdung abzuwenden –, Zeit gegeben, sich im Interesse des Wohls ihrer Kinder zu verändern. Und es wurde auch mit Rückschlägen in der Entwicklung gerechnet. In der Kinder- und Jugendhilfe hat sich deshalb schon seit längerer Zeit die Praxis durchgesetzt, das Gefährdungspotential, das sich aus den Entwicklungsdynamiken im Hilfeverlauf für Kinder und Jugendliche ergeben kann, regelmäßig neu einzuschätzen und in Hilfekonferenzen gemeinsam mit den Familien und anderen fallbeteiligten Fachkräften Fort- und Rückschritte zu besprechen. Natürlich gab es auch schon lange, bevor der Begriff Frühe Hilfen sich etablierte, präventive Angebote im Kinderschutz, die sich z. B. an werdende Mütter richteten. Das seit geraumer Zeit im Rahmen der Frühen Hilfen geförderte, ursprünglich aus Bremen stammende Konzept der ›Familienhebammen‹2 ist nur ein Beispiel. Die Vorstellung jedoch, Kindeswohlgefährdungen könnten gänzlich ausgeschlossen werden, hat sich erst in der skandalgetriebenen öffentlichen Kinderschutzdebatte nach dem ›Fall Kevin‹ durchgesetzt und verdrängt seither realistischere Sichtweisen. Nun ist dies nicht verwunderlich – schließlich wird angesichts wiederkehrender Berichte über grauenhafte, kriminelle Gewalt gegen Kinder mit allem moralischen Recht gefordert, dass so etwas niemals wieder einem Kind 2 | Familienhebammen sind staatlich examinierte Hebammen mit einer Zusatzqualifikation für die Betreuung und Begleitung Schwangerer, Mütter und Familien in besonderen oder schwierigen Lebenssituationen. Dabei stehen gesundheitliche und psychosoziale Aspekte sowie die Vermittlung weiterführender Hilfen im Vordergrund. Familienhebammen sind dagegen nicht für Tätigkeiten zuständig, die unmittelbar mit der Geburt verbunden sind. (vgl. Nationales Zentrum Frühe Hilfen in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2013).
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angetan und dabei kein einziges Kind übersehen werden darf. Kinderschutz wird aus dieser Perspektive vor allem unter dem Aspekt des Risikos diskutiert, dass Fachkräfte die falsche Entscheidung treffen und z. B. ein Kind in der Obhut von Menschen belassen, die es misshandeln. Hinweise auf die Ungewissheit von Prognosen, die Dynamik von Entwicklungen und den prozesshaften Charakter Sozialer Arbeit finden vor dem Hintergrund eines solchen Falls verständlicherweise kein Gehör mehr. Sie dienen sogar als Belege, dass die Soziale Arbeit untauglich sei, die gesellschaftliche Problematik der Kindeswohlgefährdung zu bearbeiten. Was nicht sein darf, kann nicht sein, und so wird der Kinder- und Jugendhilfe die Aufgabe zugeschrieben, jegliche Möglichkeit der Gefährdung des Wohls von Kindern auszuschließen. Vor dem Hintergrund des realen Risikos, strafrechtlich belangt zu werden, wenn dies nicht gelingen sollte, haben inzwischen viele sozialpädagogische Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe diese Außensicht übernommen. Sie sehen sich in der Position, das Wohl von Kindern in jedem Fall gewährleisten, ja garantieren zu müssen. Kann dieser Anspruch in der Realität aber überhaupt erfüllt werden – oder stellt er nicht vielmehr ein Idealziel dar? Sicherlich können sich viele Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe mit der Rolle identifizieren, für alle Kinder da zu sein, ihnen gerade in problematischen Lebenssituationen helfend zur Seite zu stehen und sie vor Gefahren zu schützen. Doch Soziale Arbeit findet auch im Kinderschutz immer unter den Bedingungen der Ungewissheit statt. Das Wissen, das Fachkräfte zur Gefährdungseinschätzung heranziehen, kann noch so detailliert und umfangreich sein – es bleibt immer lückenhaft. So bleibt eine prognostische Gefährdungseinschätzung selbst dann unsicher, wenn erfahrene Fachkräfte sie sehr sorgfältig unter Nutzung von Einschätzungsinstrumenten erarbeiten. Kurzum: Niemand kann garantieren, dass die Entwicklung in einer Familie auch tatsächlich so verläuft wie im Vorfeld eingeschätzt. Niemand kann mit absoluter Sicherheit voraussagen, was in einer Familie passiert, wenn die Tür zugeht und etwa die Fachkräfte der sozialpädagogischen Familienhilfe, die meist nur mit geringen Stundenkontingenten in den Familien arbeiten, sich verabschieden. Obwohl das sicher vielen Menschen bewusst ist, haben sich im Licht der aufrichtigen gesellschaftlichen Empörung über Gewalt gegen Kinder und im Verlauf der Diskussion um ein staatliches ›Wächteramt‹ unrealistische politische und gesellschaftliche Erwartungen
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an die Kinder- und Jugendhilfe und vor allem an das Jugendamt als Kerneinrichtung des Kinderschutzes etabliert. Das Jugendamt versucht diese mit den beschriebenen Praktiken im kinderschutzspezifischen Modus der Sozialen Arbeit zu bedienen. So wünschenswert und nachvollziehbar die inhaltliche Intention auch ist, die hinter dieser gesellschaftlichen Erwartungshaltung und der fachpolitischen Reaktion darauf steht, muss doch immer wieder betont werden: Es ist keinem Staat möglich, das Wohl aller Kinder zu jeder Zeit und in allen erdenklichen Situationen zu gewährleisten. Es gibt auch keine Profession – sei es die Medizin, sei es die Soziale Arbeit –, die hundertprozentig sicherstellen könnte, dass kein Kind während der eigenen ›Behandlung‹ Schaden nimmt. Die Übergänge zwischen angemessenen und schädigenden Verhaltensweisen von Eltern sind oftmals fließend. Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz sind nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, die Probleme der ›Anderen‹, der gesellschaftlich Ausgeschlossenen, sondern Thematiken, die aus der Mitte der Gesellschaft stammen. Beim Wort Jugendschutz wird schon deutlicher, dass damit nicht vornehmlich kriminelle Aspekte angesprochen werden, sondern auch Themen wie der Alkohol- oder Zigarettenkauf am Kiosk. Auch im Kinderschutz geht es in den meisten Fällen um Dinge, über die man ohne Angst vor dem Jugendamt, dem Familiengericht, der Polizei oder dem Staatsanwalt reden kann und muss. Jedes Elternteil kennt Situationen, in denen es sein Kind in irgendeiner Weise hätte gefährden können oder gefährdet hat. Sei es, weil man aus Unachtsamkeit stolpert, während man das Kind trägt; sei es, weil man einen Moment auf das Smartphone schaut, während das Baby sich auf dem Sofa, nah an der Tischkante, umdreht; sei es, dass das Kind sich an einem Nahrungsmittel verschluckt, z. B. an einer Nuss, die man ihm gegeben hat, obwohl man hätte wissen können, dass es diese Nüsse noch nicht essen darf. Natürlich wird aus solchen Ereignissen nicht gleich ein Fall von Kindeswohlgefährdung. Die Beispiele verdeutlichen jedoch, dass es prinzipiell allen Eltern passieren kann, dass sie ihre Kinder durch ihr (aktives oder unterlassendes) Verhalten in irgendeiner Weise gefährden. Wenn Eltern sich nun aber ausschließlich darauf konzentrieren würden, alle potentiellen Gefahren für ihre Kinder auszuschließen, würde das nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder nahezu handlungs- und entwicklungsunfähig machen. Denn bei genauer Betrachtung lauern überall Gefahren. Weil wir uns aber
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trotzdem entwickeln wollen, auch wenn das Leben gefährlich ist, wägen wir die Risiken informiert, besonnen und klug ab (das sollten wir jedenfalls) und verlassen uns ansonsten auf unsere Fertigkeiten und Talente, um das Leben zu meistern. Und grundsätzlich sieht die Situation für Fachkräfte der Sozialen Arbeit im Kinderschutz ganz ähnlich aus: Wenn sie sich nur noch darauf konzentrieren, jede denkbare Gefahrensituation für betroffene Kinder und jedes denkbare Risiko ihrer Entscheidungen auszuschließen, werden sie in sozialpädagogischer Hinsicht handlungsunfähig und können ihre professionellen Fertigkeiten und Talente nicht entfalten. Deshalb sollte die Profession der Sozialen Arbeit, aber auch die Öffentlichkeit und die Politik zu der realistischen Einschätzung gelangen, dass die Kinder- und Jugendhilfe natürlich für alle Kinder und Jugendlichen – gerade in problematischen Lebensverhältnissen und krisenhaften, bedrohlichen Lebenssituationen – da ist und ihnen helfend, fördernd und schützend zur Seite steht, sie aber nicht für alles verantwortlich sein kann, was im Prozess des Aufwachsens und der Sozialisation geschieht, und deshalb keine Garantie für die Sicherung des Kindeswohls in Familien aussprechen kann. Soziale Arbeit im Kinderschutz wird häufig mit der Tätigkeit der Feuerwehr verglichen. Aber kann die Feuerwehr garantieren, dass keine Brände mehr ausbrechen? Nein, und das verlangt auch niemand von ihr. Obwohl sie selbstverständlich auch präventiv im Sinne des Brandschutzes tätig ist, macht der Feuerwehr niemand einen Vorwurf, wenn es brennt. Weitere Vergleiche liegen nahe: Erwarten wir etwa, dass es aufgrund einer guten Polizeiarbeit keine Verbrechen mehr gibt? Glauben wir, wie einige Herren aus dem Silicon Valley, dass die Medizin all unsere gesundheitlichen Probleme löst und uns die Unsterblichkeit bringt? Nein? Wieso erwarten wir dann von der Kinder- und Jugendhilfe, dass sie alle Kinder retten kann? Und wie können Fachkräfte der Sozialen Arbeit diesen Anspruch an sich erheben, ohne in Anbetracht der Risiken ihrer Arbeit zu verzweifeln? Denn die Praxis einer an Auflagen und Sanktionen orientierten Kinderschutzarbeit mit ihren Checklisten, Verfahren, Ampelsystemen und Dokumentationsbögen wiegt sie letztlich in einer falschen Sicherheit. Gerade Fachkräfte des Jugendamts müssen sich selber fragen, wie sie den kinderschutzspezifischen Modus der Sozialen Arbeit und damit die Akzentverlagerung von einer zugewandten Hilfeorientierung hin zu einer anweisenden, bürokratisch distanzierten und straforientierten Arbeit mit Familien mit-
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tragen können, ohne dabei in Konflikt mit ihrem professionellen Selbstverständnis zu geraten. Um mögliche Bedenken gleich aufzugreifen: Auch in einer hilfe- und familienorientierten Kinderschutzarbeit werden Kinder im Notfall vom Jugendamt durch eine vorläufige Inobhutnahme vor Gefahren geschützt, werden Kinder – auf der Grundlage einer familiengerichtlichen Entscheidung und auch gegen den Willen ihrer Eltern – gegebenenfalls auch für längere Zeit außerhalb ihres Elternhauses in Kinderheimen oder Pflegefamilien untergebracht, wenn dies für ihren Schutz und ihr Wohlergehen erforderlich ist. Selbst dann geht unsere Verfassung jedoch nicht von einer endgültigen Trennung des Kindes von seinen Eltern aus. Sie erwartet, dass der Staat alle Möglichkeiten der Elternarbeit nutzt, um diesem Kind die Rückkehr zu den Eltern oder aber wenigstens die Aufrechterhaltung einer dauerhaften Beziehung zu ihnen zu ermöglichen. Natürlich müssen und können die Fachkräfte der Sozialen Arbeit noch besser darin werden, Kindeswohlgefährdungen zu erkennen und professionell darauf zu reagieren. Es fehlt dabei nicht grundlegend an fachlichen Wissens- und Methodenbeständen. In der Kinder- und Jugendhilfe wird aber zu oft die Arbeitsweise den Rahmenbedingungen angepasst. Dann stehen nicht mehr fachliche Aspekte, sondern solche des Verwaltungshandelns, des Ressourcenmangels oder der rechtlichen Absicherung von Fachkräften und Organisationen im Vordergrund. Vor allem fehlen die strukturellen Möglichkeiten, eine an professionellen Maßstäben der Sozialen Arbeit orientierte beste Fachpraxis im Kinderschutz auch tatsächlich regelhaft umzusetzen. Mit einem realistischen und kritischen Blick auf die Problematik der Kindeswohlgefährdung wird es möglich, die Komplexität Sozialer Arbeit im Kinderschutz zu begreifen. Sie ist mit einem hohen Zeitaufwand für Gespräche, Beobachtungen und Reflexion sowie fachlichen Austausch, Analysen und Prognosen verbunden. Die öffentlichen Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe sind in den vergangenen Jahren massiv angestiegen (siehe zuletzt: AKJStat 2018: S. 35 ff.). Dies ist ein Hinweis darauf, dass die verschiedenen Leistungen nach dem SGB VIII verstärkt in Anspruch genommen werden. Dazu zählt neben einer politisch gewollten verstärkten Inanspruchnahme von Kitas und Kindertagespflege auch ein Anstieg bei den Hilfen zur Erziehung. Natürlich muss dieser Anstieg allen Beteiligten zu denken geben. Wir sollten aber nicht aus den Augen
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verlieren, an welchen Stellen Zeit und Geld aus fachlicher Sicht sinnvoll investiert wären. Und wir sollten es weitaus höher würdigen, wenn Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere in den Jugendämtern trotz der vielerorts widrigen Umstände Tag für Tag ihr Bestes geben, um eine hilfe- und familienorientierte Kinderschutzpraxis ins Werk zu setzen.
2. Ist wirklich alles so schlimm? Oder: Wie man die offiziellen Zahlen auch deuten kann
Der Kenntnisstand über das Ausmaß von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland ist erstaunlich lückenhaft. Es mangelt an verlässlichen und soliden empirischen Daten über die Häufigkeit von Kindeswohlgefährdungen. In vielen anderen Ländern, wie z. B. den USA, Australien, Neuseeland, Kanada oder England ist die Datenbasis deutlich besser. Umso überraschender ist es, dass in populären Debattenbeiträgen wie z. B. dem Buch »Deutschland misshandelt seine Kinder« behauptet wird, mehr als 200.000 Kinder pro Jahr würden Opfer von Gewalt durch Erwachsene, und dass Vereinigungen, welche sich für das Wohl von Kindern einsetzen, mit Verweis auf die gleichen Zahlen einen wirksameren Kinderschutz fordern. Schließlich belege die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), dass Gewalt gegen Kinder trauriger Alltag in Deutschland sei. Besonders Kinder unter sechs Jahren seien davon bedroht, von ihren Eltern getreten, geschlagen und gequält zu werden und sogar an den Folgen dieser Misshandlungen zu sterben (vgl. Deutscher Kinderverein 2017). Doch wie kommt es dazu, dass die PKS und andere öffentlich zugängliche Datenregister dazu genutzt werden, derart Alarm zu schlagen und das Kinderschutzsystem in Deutschland grundsätzlich zu skandalisieren? Sind die offiziellen Zahlen tatsächlich derart besorgniserregend und ist das Dunkelfeld von Kindern, die in ihren Familien in Deutschland misshandelt und vernachlässigt werden, viel größer als angenommen? Wird in Deutschland die prekäre Lage des Kinderschutzes verkannt?
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Wichtige Daten zum Kinderschutz in Deutschland im Überblick Um verstehen zu können, wie weit Kindeswohlgefährdungen in Deutschland verbreitet sind, richten wir unseren Blick zunächst auf die Bevölkerungsstruktur. Uns interessiert, wie viele Kinder eigentlich in Deutschland leben und potentiell davon bedroht sein könnten, in ihrem Wohl gefährdet zu werden. Im Jahr 2016 lebten gemäß Statistischem Bundesamt insgesamt 82.521.700 Menschen in Deutschland. Davon sind 13.470.000 Kinder und Jugendliche im Alter von der Geburt bis zum Eintritt der Volljährigkeit (siehe Tabelle 1). Dies bedeutet, dass der Kinderschutz in Deutschland, welcher dem Erkennen, der Einschätzung und der Abwendung von Kindeswohlgefährdungen dient, für über 13 Millionen Kinder und Jugendliche zuständig ist. Die meisten von diesen leben sicher und geborgen in Familien, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder in Pflegefamilien. Sie sind in ihrem Wohl nicht gefährdet. Sie werden weder geschlagen noch misshandelt oder vernachlässigt. Sie wachsen unter Bedingungen auf, welche der Wahrung ihrer Rechte und der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zuträglich sind. Tabelle 1: Kinder und Jugendliche in Deutschland im Alter von 0 bis unter 18 Jahren im Jahr 2016 2016
0 bis unter 1 Jahr
insges.:
788.000
in %:
5,85 %
1 bis unter 34 Jahren
8 bis 12 bis unter unter 12 Jahren 14 Jahren
14 bis unter 18 Jahren
2.243.000 2.876.000 2.904.000 1.483.000
3.176.000
16,65 %
4 bis unter 8 Jahren
21,35 %
21,56 %
11,01 %
23,58 %
Quelle: Statistisches Bundesamt, GENESIS-Onlinedatenbank
Vergleichende internationale Studien In verschiedenen vergleichenden Studien schneidet Deutschland insgesamt sehr gut ab. So hat Deutschland beim UNICEF-Ranking für die Bewertung des Wohlbefindens von Kindern im Kontext der nachhaltigen Entwicklung in 41 Ländern der Europäischen Union (EU) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Jahr 2017 Platz 2 belegt (im Jahr 2012 lag es noch auf
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Platz 6) (vgl. UNICEF Office of Research 2017). Mit dem Ranking wird u. a. bewertet, wie gut Deutschland und andere Staaten darin sind, Armut und Hunger einzudämmen, die Kindersterblichkeit auf ein Minimum zu reduzieren, die gesunde Entwicklung von Kindern zu fördern, Zugänge zu Bildungseinrichtungen und zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, Diskriminierungen abzubauen, sichere und nachhaltige Bedingungen des Aufwachsens zu schaffen bzw. zu erhalten sowie Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern zu verhindern. Lediglich was die Zieldimensionen »Städte integrativ, sicher, belastbar und nachhaltig zu gestalten« (Rang 24) (ebd.: S. 9) sowie »Förderung friedlicher und integrativer Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung« (Rang 15) (ebd.: S. 9) betrifft, war Deutschland nur Durchschnitt. Diese nicht mehr ganz so hervorragenden Einzelbewertungen sind einerseits darauf zurückzuführen, dass die Gesundheit von Kindern in einigen Städten in Deutschland durch Luftverschmutzung (z. B. durch Feinstaub) gefährdet ist. Andererseits ist der Anteil von Kindern im Alter von 11–15 Jahren, der zwei oder mehr Mal im Monat Mobbing in der Schule erlebt hat, mit 9,3 % inakzeptabel hoch. Gleiches trifft für den Anteil von Frauen im Alter von 18–29 Jahren zu, welche danach gefragt wurden, ob sie vor dem Alter von 15 Jahren körperliche Gewalt von einem Erwachsenen erfahren haben (23,7 % berichten von solchen Erfahrungen). Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse müssen in Deutschland dringend weitere Anstrengungen unternommen werden, um die Feinstaubbelastungen in Städten zu verringern, dem Problem von Mobbing an Schulen und dem Phänomen körperlicher Gewalt gegenüber Mädchen entgegenzuwirken. Im Kids Rights Index 2017 schneidet Deutschland hingegen nicht mehr ganz so gut ab wie im UNICEF-Ranking. Mit dem Kids Rights Index wird jährlich erhoben, inwieweit die Kinderrechte in Staaten, welche die UN-Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert haben, beachtet werden. Zwar nimmt Deutschland auch in diesem Ranking eine Spitzenposition ein. Immerhin liegt es auf Platz 18 von insgesamt 165 beurteilten Ländern. Es liegt aber hinter Staaten wie Portugal, Norwegen, Spanien, Frankreich, Finnland, Thailand und Uruguay. Inzwischen liegt Deutschland im Kids Right Index (2018) allerdings auf Platz 8. Deutschland ist jedoch nach wie vor durchschnittlich, was die Qualität des Zugangs von Kindern zum Rechtssystem anbelangt. Gemäß dem Child Rights International Network (CRIN) belegte es im Jahr 2016 nur Platz 66 von insgesamt
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197 bewerteten Ländern (CRIN – Child Rights International Network 2016). Insofern sind, was den Status der Rechte von Kindern und ihrer Durchsetzung in Deutschland betrifft, noch weitere Anstrengungen zu unternehmen. Es sind diesbezüglich zwar bereits erfreuliche Entwicklungen zu beobachten (→ Kapitel 11). Sie reichen aber bei weitem nicht aus, um in puncto Förderung, Durchsetzung und Einhaltung von Kinderrechten vordere Platzierungen zu erreichen. Was jedoch das Wohlbefinden von Kindern insgesamt betrifft, befindet sich Deutschland in der Spitzengruppe. Natürlich ist trotz solcher tendenziell positiven Evaluationen nicht wegzudiskutieren, dass in Deutschland sozial ungleich verteilte Startund Aufwachsbedingungen für Kinder existieren. Es geht nicht allen Kindern gleichermaßen gut. Dies belegt auch das Ranking über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und dem Wohlbefinden von Kindern in vermögenden Nationen, welches ebenfalls von UNICEF (2016) vorgenommen wird. Hier schneidet Deutschland keineswegs überall gut ab, auch wenn es insgesamt ebenfalls im oberen Drittel landet (Platz 14 von 35 bewerteten Ländern). Vor allem in der Bewertungsdimension »Bildungsungleichheit« (Platz 28 von 37 in dieser Dimension bewerteten Ländern) und in der Bewertungsdimension »Lebens(un)zufriedenheit« (Platz 29 von 35 bewerteten Ländern) schneidet es schlecht ab. Dieser Befund ist nicht sonderlich überraschend, sind in Deutschland doch insbesondere Kinder alleinerziehender Eltern, Kinder mit mindestens zwei Geschwistern und Kinder von Eltern mit niedrigen Bildungsabschlüssen überproportional von Armut bedroht und in ihrer sozialen Teilhabe eingeschränkt. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass viele Kinder in Deutschland auch unter Armutsbedingungen wohlbehalten aufwachsen. Viele können auf Eltern oder andere Bezugspersonen zurückgreifen, welche sich liebevoll um sie kümmern und sich nach bestem Wissen und Gewissen um sie sorgen.
Was ist eine Kindeswohlgefährdung? Der ursprünglich aus dem Familienrecht stammende Begriff der Kindeswohlgefährdung wird in der fachlichen Diskussion erst seit ca. zwanzig Jahren als Oberbegriff für alle Formen von potentiell denkbaren und bereits eingetretenen Gefährdungen, Schädigungen und/oder Beeinträchtigungen des Wohls von Kindern verwendet. Zuvor wurde mehrheitlich der Oberbegriff der Kindesmisshandlung genutzt, um Schädi-
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gungen oder Beeinträchtigungen von Kindern zu beschreiben (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009: S. 28 f.). Dieser Begriffswechsel ist auch Ausdruck dessen, dass die Erwartungen und Ansprüche an den Kinderschutz gestiegen sind. Es soll nicht mehr nur reagiert werden, wenn Kinder bereits »nicht-zufällige Verletzungen, körperliche und seelische Schädigungen und/oder Entwicklungsbeeinträchtigungen« erlitten haben, sondern es soll diesen, wenn möglich, aktiv vorgebeugt werden. Außerhalb des deutschsprachigen Raums ist der Begriff der Kindeswohlgefährdung hingegen nicht weit verbreitet. Im Englischen wird beispielsweise als Oberbegriff »child maltreatment« (Kindesmisshandlung) oder das Begriffspaar »child abuse and neglect« (Kindesmissbrauch und Vernachlässigung), kurz ›CAN‹ verwendet (vgl. Witt u. a. 2013: S. 814). Im Familienrecht hat der Begriff der Kindeswohlgefährdung bis heute eine zentrale Bedeutung bei der Bestimmung der Schwelle für den familiengerichtlichen Eingriff bzw. der Grenze der elterlichen Erziehungsverantwortung zur Sicherung des Kindeswohls. Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ist jedoch nicht definiert, was unter einer körperlichen, geistigen oder seelischen Kindeswohlgefährdung verstanden werden kann. Im juristischen Sinne liegt eine Kindeswohlgefährdung vor, wenn ein Schaden des Kindes bereits eingetreten ist oder gegenwärtig eine Gefahr derartigen Ausmaßes vorhanden ist, dass sich mit ziemlicher Sicherheit eine erhebliche Schädigung voraussehen lässt (BVerfG v. 07.04.2014, BVERFG 1 BvR 3121/13). Auch dann bedarf es aber noch der Feststellung, dass die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden (§ 1666 Abs. 1 BGB). Dann ist der Staat dazu verpflichtet, in die Rechte von Eltern zum Schutz von in ihrem Wohl gefährdeten Kindern einzugreifen. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird unter einer Kindeswohlgefährdung hingegen ein historisch gebundenes und auslegungsbedürftiges Geschehen aufgefasst, das nicht absolut bestimmbar ist. Die Leitlinien dabei sind, dass eine Kindeswohlgefährdung »ein das Wohl und die Rechte eines Kindes […] beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln bzw. ein Unterlassen einer angemessenen Sorge durch Eltern oder andere Personen in Familie oder Institutionen« darstellt, das »zu nicht-zufälligen Verletzungen, zu körperlichen und seelischen Schädigungen und/oder Entwicklungsbeeinträchtigungen eines Kindes führen kann« (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009: S. 32). Ob in einem Einzelfall eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht, ist jedoch eine Frage der Einschätzung und
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Bewertung festgestellter Sachverhalte. Diese kann nur unter Heranziehung verschiedener Wissensbestände, im Austausch zwischen mehreren Fachkräften und unter Einbeziehung von Kindern und Eltern zufriedenstellend beantwortet werden (ebd.: S. 28 ff.). Immer muss so individuell eingeschätzt und überprüft werden, ob eine – und wenn ja, welche Form von – Kindeswohlgefährdung vorliegt, welches Ausmaß sie hat und ob einvernehmliche Hilfen ausreichen oder vielmehr gerichtliche Maßnahmen im Sinne eines Eingriffs in die Rechte von Eltern zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung notwendig sind. Damit behält der rechtliche Maßstab für die Kindeswohlgefährdung zentrale Bedeutung für das fachliche Handeln im Jugendamt.
Formen von Kindeswohlgefährdung Heutzutage werden in der fachlichen Diskussion zur inhaltlichen Bestimmung des unbestimmten rechtlichen Begriffs der Kindeswohlgefährdung im Wesentlichen die folgenden vier Formen unterschieden (siehe auch Abbildung 1): • Körperliche Misshandlung: Körperliche Misshandlungen von Kindern werden einerseits bewusst praktiziert, z. B., wenn Kinder von ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen zu Disziplinierungszwecken, zur Bestrafung oder religiös bzw. kulturell motiviert geschlagen, verprügelt, verbrüht, verbrannt, gewürgt oder gebissen werden (mit und ohne Einsatz von Waffen). Anderseits können sie sich auch nicht-intentional in Gestalt impulsiver oder reaktiver Wut- bzw. Gewaltausbrüche ereignen; oft vorkommend in akuten und sich zuspitzenden Krisen- und Stresssituationen, in denen Eltern oder andere Bezugspersonen versuchen, gewaltsam Kontrolle über das Verhalten des Kindes zu erlangen. Im Extremfall können körperliche Misshandlungen zum Tod eines Kindes führen (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009: S. 38 f.). • Psychische/emotionale Misshandlung: Psychische/emotionale Misshandlungen äußern sich in Handlungen und Beziehungsformen von Eltern oder anderen Bezugspersonen, welche dazu dienen, das Kind zu erniedrigen, zu terrorisieren, zu ängstigen, zu isolieren, zu korrumpieren, auszubeuten oder chronisch zu überfordern. Sie sind Kern einer jeden Kindeswohlgefährdung und können erhebliche Schädigungen zur Folge haben, besonders wenn das Kind sehr
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jung ist und regelmäßig psychischen/emotionalen Misshandlungen ausgesetzt ist. Als Spezialformen der psychischen/emotionalen Misshandlung werden das Miterleben häuslicher Gewalt sowie hochstrittige und eskalierende Trennungs- und Sorgerechtskonflikte rund um das Kind angesehen (vgl. ebd.: S. 45 f.). • Sexuelle Gewalt (häufig auch umschrieben mit dem Begriff ›sexueller Missbrauch‹): Sexuelle Gewalt gegenüber Kindern stellt eine grenzverletzende bzw. -überschreitende Handlung dar, der die davon betroffenen Kinder aufgrund ihres Entwicklungsstandes nicht bewusst und frei zustimmen können. Sie umfasst die sexuelle Belästigung, die Masturbation, den oralen, analen, genitalen Verkehr, die sexuelle Nötigung, die Vergewaltigung und die sexuelle Ausbeutung. Sie wird von Eltern oder anderen Bezugspersonen des Kindes auf der Basis vorhandener Macht-, Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse gegen den Willen der Kinder vorgenommen und kann je nach Schweregrad, Dauer und Alter des Kindes und den Umständen und Folgen der Enthüllung zu schwerwiegenden Traumatisierungen führen (vgl. Deegener 2005: S. 38; Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009: S. 40 ff.). Sie ereignet sich nicht nur in der realen Welt, sondern auch im Internet, z. B., wenn Jugendliche oder Erwachsene Kinder in Chatforen oder auf Social-Media-Kanälen sexuell belästigen oder sie gezielt anschreiben, um sich ihr Vertrauen zu erschleichen und sich in der Folge mit ihnen persönlich treffen und sie sexuell ausbeuten zu können (sogenanntes grooming). • Vernachlässigung: Unter einer Vernachlässigung versteht man eine andauernde, sich wiederholende Unterlassung fürsorglichen Handelns von Eltern oder anderen Bezugspersonen, welche die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse des Kindes beeinträchtigt und zur Verletzung seiner Rechte führt. Vernachlässigungen umschreiben einen chronischen Zustand mangelnder Fürsorge, was auch materielle Überversorgung bei emotionaler Unterversorgung einschließt. Sie sind Ausdruck gestörter Eltern-Kind-Beziehungen und können, insbesondere bei sehr jungen Kindern, auch tödliche Folgen haben. Man unterscheidet in der Fachliteratur die körperliche Vernachlässigung, die kognitive und erzieherische Vernachlässigung, die emotionale Vernachlässigung und die unzureichende Beaufsichtigung des Kindes (vgl. Galm/Hees/Kindler 2010: S. 25; Gelles 2002: S. 1049; Kindler 2006: Kapitel 3, S. 2).
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Abbildung 1: Formen von Kindeswohlgefährdungen, in Anlehnung an Witt u. a. (2013: S. 814) körperliche Misshandlung
Verhaltensweisen bzw. Handlungen
pschische/emotionale Misshandlung
sexuelle Gewalt
körperliche Vernachlässigung
Kindeswohlgefährdung
kognitive Vernachlässigung
Unterlassungen
Vernachlässigungen
erzieherische Vernachlässigung
emotionale Vernachlässigung unzureichende Beaufsichtigung des Kindes
Neben dieser sozialwissenschaftlichen Einteilung von Formen der Kindeswohlgefährdung lassen sich in Diagnoseklassifikationen und Gesetzen zum Kinderschutz auch medizinisch oder strafrechtlich konnotierte Einordnungen finden. So sind in der Rubrik »T74. Missbrauch von Personen« des ICD-10-GM-2018 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) folgende Formen von Kindeswohlgefährdungen aufgeführt: • Vernachlässigen oder Imstichlassen (T74.0); • körperlicher Missbrauch, inkl. Ehegattenmisshandlung und Kindesmisshandlung o. n. A. (T.41.1); • sexueller Missbrauch (T74.2); • psychischer Missbrauch (T74.3); • sonstige Formen des Missbrauchs durch Personen, inkl. Mischformen (T74.4); Missbrauch von Personen, nicht näher bezeichnet, inkl. Schäden durch Missbrauch eines Erwachsenen bzw. eines Kindes, o. n. A.
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Im Strafgesetzbuch (StGB) haben strafrechtlich relevante Formen von Kindeswohlgefährdungen in folgenden Paragrafen Eingang gefunden, ohne dass aber dort der Begriff »Kindeswohlgefährdung« als Tatbestandsvoraussetzung verwendet wird: Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB); sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB); sexueller Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB); sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB); Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180 StGB); Verletzung der Fürsorge oder Erziehungspflicht (§ 171 StGB). Neben diesen spezifischen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bzw. Verletzungen der Fürsorge oder Erziehungspflicht müssen im Kontext einer Kindeswohlgefährdung aber auch die allgemeinen Straftatbestände gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, wie Körperverletzung (§ 223 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) oder Mord (§ 211 StGB) im Blick bleiben.
Ausmaß von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland – eine nicht ganz einfache Annäherung Wir richten unseren Blick zuerst auf die absoluten Fallzahlenentwicklungen für die an Kindern im Alter von 0 bis 18 Jahren vollzogenen Straftaten sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, Kindern und Jugendlichen, Förderung sexueller Handlungen von Minderjährigen, Misshandlung von Schutzbefohlenen und Verletzung der Fürsorgeund Aufsichtspflicht, die in der Polizeilichem Kriminalstatistik (PKS) für den Zeitraum 2006 bis 2016 aufgeführt sind. Abgesehen davon, dass damit nicht das gesamte Spektrum von Kindeswohlgefährdung im familienrechtlichen und sozialwissenschaftlichen Sinn erfasst wird, werden in der PKS lediglich angezeigte Straftaten erfasst. Ihre Aussagekraft ist eingeschränkt, da Faktoren wie verändertes Anzeigeverhalten oder auch Änderungen im Strafrecht Einfluss darauf haben, wie sich die Zahlen in der PKS entwickeln. Zudem werden nicht alle Gefährdungen des Wohls von Kindern zur Anzeige gebracht und strafrechtlich verfolgt. Z. B. werden Vernachlässigungen von Kindern, sofern sie nicht böswillig vorgenommen werden und damit strafrechtlich unter den Tatbestandsmerkmal Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) fallen, weitaus weniger zur Anzeige gebracht als Fälle, in denen Kinder bewusst und fortwährend gequält oder grausam misshandelt wurden. Aber auch bei Fällen mit anderen Formen der Kindeswohlgefährdung stellt sich die Grundfra-
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ge, ob und bei welchem Schweregrad sie zur Anzeige bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gebracht und daraufhin strafrechtlich verfolgt werden. Denn in Deutschland gibt es keine generelle Pflicht, Fälle von Kindeswohlgefährdungen bei Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen (vgl. zu der kontroversen Diskussion: Kliemann/Fegert 2012).1 Es muss daher von einem Dunkelfeld strafrechtlich relevanter Kindeswohlgefährdungen ausgegangen werden, welches mit der PKS nur bedingt ausgeleuchtet werden kann. Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Zahl der tatsächlichen Verurteilungen deutlich unter der Zahl der Anzeigen liegt, da sich in vielen Fällen der Tatvorwurf nicht nachweisen lässt oder die Anzeige böswillig bzw. denunziatorisch erfolgt ist. Unter Heranziehung der PKS kann jedoch eine Annäherung vorgenommen werden, die zumindest für das Hellfeld Entwicklungen und Trends sichtbar macht. So kann der PKS entnommen werden, dass die Fallzahlen in den letzten Jahren relativ stabil sind und die Opferzahlen nicht gravierend in die Höhe gegangen sind. Das durch die PKS aufgedeckte Hellfeld zeigt für den Zeitraum von 2006 bis 2016, dass pro Jahr im Durchschnitt zwischen 21.000 bis 24.000 Kinder und Jugendliche Opfer von sexueller Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung werden. Rechnet man Straftaten wie Mord oder Totschlag hinzu, steigt diese Zahl nicht signifikant an, sondern verharrt tendenziell auf diesem Niveau. Natürlich ist es eine Tragödie, wenn Kinder Misshandlung, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt erfahren müssen. Bezogen auf die Gesamtzahl der im Jahr 2016 in Deutschland lebenden Kinder sind das zwischen 0,15 % und 0,18 %. Prozentual eine geringe, 1 | Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen gehen primär bei den dafür zuständigen Jugendämtern ein und werden von diesen eingeschätzt und, sofern möglich, im Einvernehmen mit Eltern und Kindern sozialarbeiterisch/sozialpädagogisch bearbeitet. Sie können bei Jugendämtern – wie oft irrtümlich angenommen wird – nicht zur Anzeige gebracht werden. Die Jugendämter sind dafür zuständig, Hinweise über vermutete Kindeswohlgefährdungen entgegenzunehmen und einzuschätzen. Ihre Aufgabe ist es nicht, herauszufinden, wer an der Kindeswohlgefährdung Schuld hat, und zu diesem Zweck Beweise zu sammeln. Vielmehr sollen sie bei Kenntnisnahme sogenannter ›gewichtiger Anhaltspunkte‹ für eine Kindeswohlgefährdung das Gefährdungsrisiko einschätzen und, sofern indiziert, Hilfe anbieten und Gefährdungen des Kindeswohls in Zusammenarbeit mit den Eltern und dem betroffenen Kind abwenden, und zwar, wann immer möglich, in ›Ko-Produktion‹ (vgl. § 8a SGB VIII).
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von der Anzahl her eine sehr große Gruppe von jungen Menschen, die darauf angewiesen ist, dass der Kinderschutz in Deutschland funktioniert! Auffällig ist, dass sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern im Verhältnis zu anderen strafrechtlich relevanten Kindeswohlgefährdungen herausragen: 2016 wurden z. B. 13.210 Fälle sexuellen Missbrauchs nach §§ 176, 176a, 176b StGB zur Anzeige gebracht, gegenüber 4.866 Fällen, welche die Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225 StGB betrafen oder 1.357 Fällen, bei denen Verletzungen der Fürsorge und Aufsichtspflicht nach § 171 StGB bei der Polizei angezeigt wurden. Das kann entweder daran liegen, dass sie häufiger zur Anzeige gebracht werden, oder aber daran, dass sie in Deutschland tatsächlich zahlreicher auftreten. Selbstverständlich ist ein Vergleich absoluter Fallzahlen von Bedeutung, um die Verbreitung von Kindeswohlgefährdung in Deutschland einigermaßen einschätzen zu können. Es ist aber ebenso wichtig, die Zeitreihen für Opfergefährdungen der PKS zu Rate zu ziehen. Diese weisen aus, wie häufig Anzeigen von Straftaten pro 100.000 Einwohnende vorkommen. Anhand dieser Daten wird erkennbar, dass etwa im Jahr 2000 bezogen auf 100.000 Einwohnende 151,6 Kinder Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, im Jahr 2006 140,9 und im Jahr 2016 130,6 (vollzogene Straftat sexueller Missbrauch an Kindern). Bei den Straftaten sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexueller Missbrauch von Jugendlichen sowie Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger fallen die Opfergefährdungsraten geringer aus. Beachtenswert erscheint, dass Formen von sexuellem Missbrauch von Kindern im Vergleich zu den anderen Straftaten im Zeitverlauf auf hohem Niveau bleiben. Heraus sticht überdies, dass die Zahl von Kindern, welche körperliche Misshandlung oder böswillige Vernachlässigung (als Misshandlung von Schutzbefohlenen unter § 225 StGB zusammengefasst) erfahren mussten, zwischen 2000 (38,9 Fälle pro 100.000 Einwohner) und 2010 (69,1 Fälle pro 100.000 Einwohner) anstieg, in den Folgejahren jedoch wieder gesunken ist (2012: 62,2 Fälle pro 100.000 Einwohner), wenn auch das niedrige Niveau des Jahres 2000 nicht wieder erreicht werden konnte. Auch ein neuer Trend kann beobachtet werden, der in Zukunft auf den Kinderschutz Einfluss nehmen wird: der Anstieg der Verbreitung, des Erwerbs, des Besitzes und der Herstellung von kinderund jugendpornografischen Schriften. Im Jahr 2017 ereigneten sich laut PKS 14,5 % mehr Straftaten im Bereich der Kinderpornografie
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als 2016 und hinsichtlich der Verbreitung von sogenannten jugendpornografischen Schriften mit 1.300 Fällen 24 % mehr als in 2016 (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren 2018). Blickt man auf strafrechtlich relevante Kindeswohlgefährdungen mit Todesfolge wie Mord oder Totschlag (ebenfalls in der PKSStatistik mitgezählt: Tötung auf Verlangen), fallen die Zahlen einerseits deutlich niedriger aus, anderseits zeigt sich, dass Kindsmorde und Totschläge tendenziell auf gleichbleibendem Niveau sind. Es gibt weder signifikante Anstiege noch Abnahmen. Im Jahr 2000 waren es 0,8 (Totschlag und Tötung auf Verlangen §§§ 212, 213 und 216 StGB) bzw. 0,9 (Mord § 211 StGB) Todesopfer pro 1000.000 Einwohnende im Alter von 0 bis 18 Jahren, im Jahr 2007 0,8 (Totschlag und Tötung auf Verlangen §§§ 212, 213 und 216 StGB) bzw. 0,4 (Mord § 211 StGB) und im Jahr 2016 1(Totschlag und Tötung auf Verlangen §§§ 212, 213 und 216 StGB) bzw. 0,5 (Mord § 211 StGB). Ein Blick in die Todesursachenstatistik bestätigt diese Annahme: Tätliche Angriffe auf Kinder (auch, aber nicht nur, in Folge von Misshandlung und Vernachlässigung) im Alter von unter einem Jahr und im Alter zwischen 1 bis unter 15 Jahren haben nicht zugenommen (1990: 34 Fälle Kinder unter 1 Jahr, 2015: 14 Fälle Kinder unter 1 Jahr; 1990: 60 Fälle Kinder 1 bis unter 15 Jahre, 2015: 26 Fälle Kinder 1 bis unter 15 Jahre). Dies zeigt sich auch im Vergleich zu anderen Todesursachen. Unmittelbar nach dem ›Fall Kevin‹ (→ Kapitel 1) wies die Deutsche Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik in einer Sonderausgabe von KomDat vom Oktober 2006 darauf hin, dass Todesfälle bei Kindern durch Misshandlung und Vernachlässigung tendenziell eher im Rückgang sind, wenngleich die Dunkelziffer sicherlich höher liege und vor allem Säuglinge besonders gefährdet seien, Opfer eines tätlichen Angriffs zu werden (3,1 Tötungen pro 100.000 Einwohnende gegenüber 0,3 Tötungen in der Altersgruppe der 1- bis unter 5-Jährigen und der 5- bis unter 10-Jährigen im Jahr 2015) (vgl. Fuchs-Rechlin 2006: S. 3 f.). Daher sei es wichtig, »ohne die einzelnen Schicksale verharmlosen zu wollen«, darauf hinzuweisen, »dass Kindstötungen aufgrund von Misshandlung und Vernachlässigung singuläre Ereignisse sind« (ebd.: S. 5). Wir haben es insofern nicht mit einem Massenphänomen zu tun, sondern vielmehr mit einem Tabubruch sondergleichen. Ein Kind zu quälen, zu misshandeln und böswillig zu vernachlässigen und in der Folge billigend seinen Tod in Kauf zu nehmen, kann von einer aufgeklärten, offenen und den Grundwerten der Verfassung verpflichteten Gesellschaft nicht
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toleriert werden. Dieser Umstand ist umso verstörender, wenn die Gewalt von den Eltern ausgeht. Eltern haben – so die Erwartung – Kinder bedingungslos zu lieben. Sie dürfen ihnen keine Schmerzen antun. Sie sollten für ihre Kinder da sein, sie umsorgen und beschützen. Entsprechend ist die öffentliche Empörung groß, wenn Eltern auf brutale Art und Weise ihre eigenen Kinder attackieren und es den Fachkräften der für die Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen primär zuständigen Jugendämtern misslingt, das Unheil vorauszusehen (→ Kapitel 1). Ein Phänomen, das viel zu selten in den Blick kommt, ist die Häufigkeit, mit der Kinder und Heranwachsende an Unfällen, inklusive Stürzen, Ertrinken bzw. Untergehen und Vergiftungen sowie aufgrund von Expositionen (Umgebungseinflüssen) wie z. B. Rauch, Feuer und Flammen versterben. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e. V. berichtet, dass im Jahr 2015 etwa 1,7 Millionen Kinder nach einem Unfall einen Arzt aufsuchen mussten2 . Rund 200.000 Kinder mussten im Krankenhaus stationär behandelt werden und 182 verstarben durch einen Unfall – alarmierende Zahlen. Kopfverletzungen, insbesondere bei kleinen Kindern, Verbrennungen und Verätzungen sowie Vergiftungen zählen dabei zu den häufigsten Verletzungsarten3. In einem Bericht von UNICEF über Todesfälle von Kindern aufgrund von Unfällen in sogenannten reichen Nationen wird ebenfalls hervorgehoben, dass der Anteil der Sterbefälle in der Altersgruppe von 1 bis 14 Jahren aufgrund von unfallbedingten Verletzungen (wie z. B. Verkehrsunfällen) in hoch entwickelten Staaten bei fast 40 % liegt (vgl. UNICEF Innocenti Research Centre 2001: S. 2). Viele Unfälle passieren zu Hause, aber auch im Straßenverkehr. Sie geschehen, weil Eltern oder andere Bezugspersonen (manchmal nur für einen fatalen Augenblick) nicht vorsichtig oder achtsam genug sind oder Gefahren für Kinder unterschätzen. Sie werden in aller Regel nicht vorsätzlich herbeigeführt. Sie stellen darum auch keine Kindeswohlgefährdung im sozialwissenschaftlichen oder juristischen Sinne dar. Sie sollten aber verstärkt in den Fokus der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit rücken. Denn Kinderschutz ist nicht nur darauf fokussiert, Fälle von 2 | https://www.kindersicherheit.de/fachinformationen/unfallstatistiken. html; zuletzt abgerufen am 13.11.2018. 3 | https://www.kindersicherheit.de/fachinformationen/unfallstatistiken. html; zuletzt abgerufen am 13.11.2018.
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Kindeswohlgefährdungen zu bearbeiten. Kinderschutz, begrifflich weiter gefasst, wird als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden, bei der die Gestaltung von kindergerechten Bedingungen und Umwelten des Aufwachsens ebenso im Mittelpunkt stehen sollte wie die Prävention von sexueller Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung (vgl. Stadtjugendamt Erlangen/Gedik/Wolff 2018: S. 26). So empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht von ungefähr, dass zur Prävention der vier häufigsten Unfälle bei Kindern (Ertrinken, Vergiftungen, Verbrennungen und Stürze) in ein Bündel von Maßnahmen investiert werden sollte (gezielte Elterninformationen; Zurverfügungstellung von kostenlosen Sicherheitsausstattungen wie Rauchmeldern, Treppenschutzgittern etc.; Lancierung von Elternbildungsprogrammen, die sich auch dem Thema Unfallprävention widmen, z. B. im Kontext Früher Hilfen, vgl. Ellsäßer/TrostBrinkhues/Albrecht 2014). Eine Auseinandersetzung mit der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik gibt ebenfalls Aufschluss darüber, wie weit Kindeswohlgefährdungen in Deutschland verbreitet sein und welche Formen besonders häufig vorkommen könnten. Vorwegnehmend sei erwähnt, dass in Deutschland erst seit 2012 erfasst wird, wie häufig Jugendämter nach § 8a Abs. 1 SGB VIII Gefährdungseinschätzungen vornehmen und zu welchen Ergebnissen sie dabei kommen. Zuvor wurden diese Daten nicht erhoben. Die sogenannte ›§-8a-Statistik‹ erfasst denn auch nicht die tatsächliche Anzahl vernachlässigter oder misshandelter Kinder in Deutschland, sondern verzeichnet, wie oft Jugendämter bei Kenntnisnahme gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen das Gefährdungsrisiko einschätzen, zu welchem Ergebnis sie dabei kommen und ob Hilfen oder die Anrufung des Familiengerichts zur Abwendung der Gefährdung notwendig sind. Die Daten zeigen, dass es, seitdem die Statistik eingeführt wurde, einen kontinuierlichen Anstieg von Verfahren zur Gefährdungseinschätzung gibt;2012: 106.623 Verfahren; 2016: 136.925 Verfahren; dies entspricht einem Anstieg von 28,42 %. • Warum die Fallzahlen zwischen 2012 und 2016 kontinuierlich angestiegen sind, kann auf Grundlage der vorhandenen Daten nicht sicher geklärt werden. Als mögliche Erklärungen könnten angeführt werden (vgl. Kaufhold/Pothmann 2017: S. 2): Die Gefährdungen des Wohls von Kindern in Deutschland haben zugenommen;
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• die Bevölkerung und die Fachkräfte sind aufmerksamer geworden und informieren die Jugendämter öfter als in der Vergangenheit über mögliche Kindeswohlgefährdungen; • die Jugendämter führen immer gewissenhafter Statistik über die von ihnen durchgeführten Verfahren zur Gefährdungseinschätzung. Zu welchen Ergebnissen kamen die Jugendämter nun in ihren Gefährdungseinschätzungen der Jahre 2012 bis 2016? Wir greifen hier die von Jugendämtern festgestellten akuten und latenten Kindeswohlgefährdungen heraus, also Gefährdungslagen, wo relativ eindeutig ist, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt (akut) oder diese nicht sicher ausgeschlossen werden kann (latent). Eine Form der Kindeswohlgefährdung sticht im Zeitverlauf dabei besonders ins Auge: die Vernachlässigung (sowohl bei akuten als auch bei latenten Kindeswohlgefährdungen). Sie ist die mit Abstand häufigste Form der Kindeswohlgefährdung, mit denen die Jugendämter konfrontiert sind (2016: 13.138 festgestellte akute Kindeswohlgefährdungen – Vernachlässigung und 14.814 festgestellte latente Kindeswohlgefährdungen – Vernachlässigung). Sexuelle Gewalt gegenüber Kindern wird hingegen viel weniger festgestellt (2016: 1.137 festgestellte akute Kindeswohlgefährdungen – sexuelle Gewalt und 884 festgestellte latente Kindeswohlgefährdungen – sexuelle Gewalt). Im Gegensatz dazu werden Fälle sexueller Gewalt viel häufiger bei der Polizei zur Anzeige gebracht und strafrechtlich verfolgt (siehe oben). Eine andere Statistik, auf die in Deutschland zurückgegriffen werden kann, um zu bestimmen, wie viele Kinder ›von Kindeswohlgefährdungen bedroht‹ sind bzw. wie oft Bedarf nach erzieherischen Hilfen besteht, sind die Jahresstatistiken der Kinderschutz-Zentren. Kinderschutz-Zentren sind Facheinrichtungen, die darauf spezialisiert sind, bei Fällen von Kindeswohlgefährdungen und schweren Krisen in Familien Beratung und Therapie zu leisten. Einige von ihnen bieten auch Frühe Hilfen an und nehmen Kinder kurzfristig stationär auf. In Deutschland gibt es fast dreißig solcher Zentren. Die Jahresstatistik der Kinderschutz-Zentren für das Jahr 2016 weist aus, dass in 22 von 26 Zentren, welche Daten übermittelt haben, insgesamt 10.608 Fälle bearbeitet und 6.797 abgeschlossen wurden. Zusätzlich wurden 2.908 telefonische Beratungen durchgeführt. Die Hauptgründe für die Inanspruchnahme von Hilfe in den Kinderschutz-Zentren waren nach Einschätzung der dort täti-
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gen Berater_innen: Probleme der Eltern bzw. Personensorgeberechtigten wie belastete Eltern-Kind-Beziehungen, Erziehungsprobleme oder Überforderungen durch belastete Familiensituationen sowie Probleme des Kindes bzw. Jugendlichen wie Auffälligkeiten im sozialen Verhalten oder Entwicklungsauffälligkeiten und psychische Probleme. In vielen Fällen waren Kindeswohlgefährdungen also nicht ursächlich für die Inanspruchnahme von Hilfe in den Kinderschutz-Zentren. Dennoch spielen Fälle von sexueller Gewalt, gefolgt von Fällen von Vernachlässigung sowie psychischer oder körperlicher Misshandlung, auch in den Kinderschutz-Zentren eine Rolle. Anhand der Falldaten der Kinderschutz-Zentren zeigt sich im Gegensatz zur ›§-8a-Statistik‹ der Jugendämter ein anderes Bild der Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland. Zwar nehmen Fälle sexueller Gewalt den Hauptanteil der Beratungsarbeit der Zentren ein (1.275 Nennungen). Sie überwiegen andere Formen der Kindeswohlgefährdung aber nur marginal (Vernachlässigung: 1.166 Nennungen; psychische Misshandlung: 1.115 Nennungen; körperliche Misshandlung: 1.011 Nennungen). Vor allem aber verweist die Statistik darauf, dass die Kinderschutz-Zentren im Jahr 2016 überwiegend mit Fällen konfrontiert waren, in denen es darum ging, solche Fälle sozialarbeiterisch/sozialpädagogisch zu bearbeiten, in denen Kindeswohlgefährdungen (noch) nicht eingetreten waren (Probleme der Eltern bzw. Personensorgeberechtigten: 5.968 Nennungen; Probleme des Kindes bzw. Jugendlichen: 4.264 Nennungen).
Studien zur Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen – eine verlässliche Orientierung? Pillhofer u. a. (2011) haben im Jahr 2011 eine Studie vorgelegt, in der sie die PKS für den Zeitraum von 1987 bis 2009, die amtliche Kinderund Jugendhilfestatistik seit 1991 sowie verfügbare empirische Dunkelfeldstudien aus den Jahren 1990 bis 2008 ausgewertet haben, um indirekt Erkenntnisse über die Prävalenz oder Häufigkeit von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland zu gewinnen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass sich zwar die jährlich angezeigten Straftaten für Kindeswohlgefährdungen unterhalb der Ein-Prozent-Grenze bewegen, retrospektive Befragungen von Jugendlichen und Erwachsenen hingegen eine Lebenszeitprävalenz größer als 10 % ausweisen. Die Autor_innen kommen vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse zu dem Schluss, dass die von ihnen herangezogenen Quellen wenig
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tauglich sind, um verlässliche Aussagen über die Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland treffen zu können. Eine neuere Studie zur Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland wurde im Jahr 2016 von Witt u. a. (2017) durchgeführt. Ziel der Studie war es, unter Nutzung des Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) aktuelle Kohortendaten für die Formen der Kindeswohlgefährdung psychische/emotionale Misshandlung, körperliche Misshandlung, sexuelle Gewalt sowie emotionale und körperliche Vernachlässigung auf einer Skala von nicht bis minimal, niedrig bis moderat, moderat bis schwer und schwer bis extrem zu erheben. Insgesamt waren im Sample der Studie 2.510 Personen im Alter von 14 bis 94 Jahren vertreten. Die Teilnehmer der Studie waren durchschnittlich 48,4 Jahre alt, 53,3 % waren weiblich, 46,7 % männlich. Die Stichprobe war in Bezug auf Alter und Geschlecht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Von den 2.487 Teilnehmenden, die den Fragebogen (CTQ) vollständig beantworteten, berichteten 31 % (n = 772), in ihrem bisherigen Leben von mindestens einer Kindeswohlgefährdungsform betroffen gewesen zu sein. Im Detail berichteten 6,5 % über Erfahrungen moderater bis extremer psychischer/ emotionaler Misshandlung, 6,6 % über Erfahrungen moderater bis extremer körperlicher Misshandlung, 7,6 % über Erfahrungen moderater bis extremer sexueller Gewalt, 13,3 % über Erfahrungen moderater bis extremer emotionaler Vernachlässigung und 22,4 % über Erfahrungen moderater bis extremer körperlicher Vernachlässigung. Blickt man nur auf die Angaben über Erfahrungen mit schweren Kindeswohlgefährdungen, zeigt sich folgendes Bild: 2,6 % (w: 3,9 %, m: 1,2 %) berichten über schwere psychische/emotionale Misshandlung, 3,3 % (w: 3,4 %, m: 3,3 %) über schwere körperliche Misshandlung, 2,3 % (w: 3,7 %, m: 0,7 %) über schwere sexuelle Gewalt, 7,1 % (w: 8,1 %, m: 5,9 %) über schwere emotionale Vernachlässigung und 9 % (w: 9,2 %, m: 8,9 %) über schwere körperliche Vernachlässigung. Die Studie zeigt die folgenden weiteren strukturellen Merkmale: • Frauen berichteten insgesamt häufiger von sexueller Gewalt und emotionaler Misshandlung als die im Sample vertretenen Männer. • Teilnehmende, die Kindeswohlgefährdungen erleiden mussten, waren häufiger arbeitslos und hatten eine schlechtere Schulbildung als Teilnehmende, die in ihrem Leben keine kindeswohlgefährdenden Erfahrungen machen mussten.
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• Von Erfahrungen körperlicher Vernachlässigung berichten die im Sample vertretenen Teilnehmenden der (Nach-)Kriegsgeneration (über 70 Jahre alt) häufiger als Teilnehmende der jüngsten Altersgruppe (14 bis 19 Jahre alt). Insgesamt fiel das Ausmaß von Kindeswohlgefährdungen in den jüngeren Alterskohorten insgesamt niedriger aus als in den älteren (siehe nachstehende Tabelle 2). Tabelle 2: Verbreitung von moderater bis schwerer Kindeswohlgefährdungen nach Alterskohorte und Form Alterskohorte/ Kindeswohlgefährdungsform
14–19
Mindestens eine Art der Kindeswohlgefährdung
13,4 % 26,4 % 24,3 % 29,9 % 33,8 % 28,6 % 50,4 %
emotionale Vernachlässigung
6,3 % 12,6 % 12,4 % 13,3 % 17,8 % 10,9 % 14,2 %
Körperliche Vernachlässigung
5,6 % 17,1 % 17,5 % 18,9 % 22,6 % 20,9 % 46,0 %
Psychische/emotionale Misshandlung
5,6 %
5,7 %
6,9 %
9,3 %
7,8 %
3,6 %
5,7 %
Körperliche Misshandlung
7,0 %
4,5 %
6,1 %
5,8 %
8,2 %
6,2 %
8,8 %
Sexuelle Gewalt
5,6 %
4,5 %
6,9 % 11,3 %
9,4 %
7,0 %
6,3 %
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70+
Quelle: Witt et al. (2017): S. 6, Abbildung 1 und 2
Die Ergebnisse der Studie sind insofern limitiert, als dass sie auf retrospektiven Aussagen beruhen, welche Erinnerungsverfälschungen unterliegen können. Die in der Studie angeführte Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen basiert nicht auf medizinisch oder sozialpädagogisch abgesicherten Diagnosen. Sie zeigt lediglich auf, welche Erfahrungen mit Gefährdungen ihres Wohls im Kindesalter bestimmte Alterskohorten erinnern und rückblickend als solche bewerten. Dennoch sind dies die zurzeit am besten verfügbaren Daten, auf die man in Deutschland zurückgreifen kann, um Aussagen über die Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen im Hell- wie im Dunkelfeld treffen zu können. Um dem gegenwärtigen Ausmaß von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland weiter auf die Spur zu kommen, beziehen wir uns im Folgenden auf die Prävalenzangaben der Alterskohorte 14 bis 19 Jahre. Diese Kohorte repräsentiert die derzeit
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in Deutschland aufwachsenden Kinder und Jugendlichen. Danach berichten 13,4 % der aus dieser Kohorte stammenden Teilnehmenden, in der Vergangenheit von mindestens einer Kindeswohlgefährdungsform (modere bis schwere Ausprägung) betroffen gewesen zu sein, 6,3 % schildern Erfahrungen moderater bis schwerer emotionaler Vernachlässigung, 5,6 % moderater bis schwerer körperlicher Vernachlässigung, 5,6 % moderater bis schwerer psychischer/emotionaler Misshandlung, 7,0 % moderater bis schwerer körperlicher Misshandlung und 5,6 % moderater bis schwerer sexueller Gewalt. Bezieht man sich ausschließlich auf die 13.470 Millionen derzeit in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen im Alter von 0 bis unter 18 Jahren, kann man von der folgenden aktuellen Verbreitung von ›Kindeswohlgefährdungen‹ ausgehen: • ca. 1.800.000 Kinder: in ihrem Wohl gefährdet (mindestens eine Art der Kindeswohlgefährdung); • ca. 940.000 Kinder: von körperlicher Misshandlung betroffen; • ca. 850.000 Kinder: von emotionaler Vernachlässigung betroffen; • ca. 750.000 Kinder: von körperlicher Vernachlässigung betroffen; • ca. 750.000 Kinder: von psychischer/emotionaler Misshandlung betroffen; • ca. 750.000 Kinder: von sexueller Gewalt betroffen. Diese Zahlen sind zunächst einmal beeindruckend. Es handelt sich bei ihnen jedoch um Schätzungen, mit denen das Dunkelfeld lediglich ein Stück weit ausgeleuchtet, nicht aber empirisch gesichert verifiziert werden kann. So könnte beispielsweise auch folgende Rechnung aufgemacht werden: 13.470.000 lebende Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 18 Jahren in Deutschland - 1.800.000 Kinder von mindesten einer Form der Kindeswohlgefährdung betroffen (13,4 %) = 11.670.000 Kinder nicht in ihrem Wohl gefährdet (86,6 %)! Die Zahl von Kindern, die in ihrem Wohl gefährdet sind, bleibt bei dieser Rechnung identisch. Sie fällt im Vergleich zu Kindern, die nicht gefährdet sind, jedoch nicht derart hoch aus, wie man angesichts der öffentlichen Debatten über die Unzulänglichkeiten des Kinderschutzes annehmen könnte. Wie dem auch sei: Jedes Kind,
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das in seinem Wohl gefährdet ist, ist eines zu viel. Insofern wollen wir an dieser Stelle mit solchen oder anderen Zahlenvergleichen aufhören. Denn solche oder andere Rechnungen fallen, je nachdem, auf welchen Grundwert man sich bezieht, sehr unterschiedlich aus. Wie bereits erwähnt beruhen sie oftmals auf Dunkelfeldannahmen und nicht auf einer methodisch abgesicherten, bundeseinheitlich geführten Kinderschutzstatistik. Informativer könnte es sein, einen internationalen Vergleich der Prävalenzen von Kindeswohlgefährdungen vorzunehmen. So verweisen Witt u. a. (2013: S. 815) in einem Beitrag aus dem Jahr 2013 darauf, dass die Häufigkeiten von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland sich mit denen anderer Länder sehr ähneln. Hierfür nehmen sie einen Vergleich mit Ländern wie Großbritannien (UK), den USA und Kanada vor. Wir wollen diese Zahlen im Folgenden aufgreifen und mit den Ergebnissen der Studie von Witt u. a. vergleichen (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Internationaler Vergleich von Häufigkeiten der Kindeswohlgefährdung Form
UK
USA
Kanada
Deutschland (Witt u. a. 2017)
Kindeswohlgefährdung bzw. Kindesmissbrauch (allgemein)
16 %
11 %
k. A.
13,4 % (Alterskohorte 14 – 19)
Körperliche Misshandlung
7 %
4,2 %
Psychische/emotionale Misshandlung
6 %
7,1 %
6 % (absence of provision) bzw.
1,6 % (neglect) bzw.
k. A.
24,8 %
Vernachlässigung
Sexuelle Gewalt
1,5 % 5 % (custodial (absence of indifference) supervision)
Quelle: Witt et al. (2013): S. 815, Tabelle 1
21,5 % (männlich) 18,3 % (weiblich) k. A.
k. A.
k. A.
7 % (Alterskohorte 14 – 19) 5,6 % (Alterskohorte 14 – 19) 6,3 % emotionale Vernachlässigung (Alterskohorte 14 – 19) 5,6 % körperliche Vernachlässigung (Alterskohorte 14 – 19) 5,6 % (Alterskohorte 14 – 19)
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Die Tabelle 3 zeigt, dass die Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland nicht höher ausfällt als in Großbritannien, den USA oder Kanada. Sie liegt für bestimmte Formen sogar deutlich darunter (im Vergleich zur Verbreitung sexueller Gewalt in den USA und körperlicher Misshandlung in Kanada).
Fazit Wenn wir über die Stärken und Schwächen des Kinderschutzes nachdenken, sollten wir uns klarmachen, dass vieles bereits in den richtigen Bahnen verläuft. Das Wohl von Kindern in Deutschland ist mehrheitlich nicht aufgrund von Unterlassungen oder Handlungen bzw. Verhaltensweisen von Eltern gefährdet. Wir sprechen demnach über einen Kinderschutz, der auf eine Minderheit der in Deutschland aufwachsenden und lebenden Kinder fokussiert ist: auf Kinder, die davon bedroht sind, in ihrem Wohl gefährdet zu werden, oder aber bereits sexuelle Gewalt, Misshandlung oder Vernachlässigung erfahren mussten. Nur wissen wir eben nicht genau, wie groß diese Minderheit tatsächlich ist, und wie viele Kinder in Deutschland alltäglich in Familien, Einrichtungen des Bildungswesens, der Kinderund Jugendhilfe oder in Pflegefamilien Leid erfahren müssen. Dies ist unbefriedigend. Nun können diese Werte jedoch auch mittels der bestmöglichen Statistik nicht zweifelsfrei erfasst werden, auch nicht mittels einer verlässlichen empirischen Dauerbeobachtung bzw. einer über Jahre hinweg bundeseinheitlich geführten Kinderschutzstatistik. Auch diese würde nur das Hellfeld (rechts-)medizinisch und/oder sozialpädagogisch diagnostizierter und gemeldeter sowie zur Strafanzeige gebrachter Kindeswohlgefährdungen ausleuchten, nicht aber das tatsächliche Dunkelfeld erfassen. Zweifelsohne wäre es eine Errungenschaft, wenn eine solche Statistik in Deutschland aufgebaut und bundeseinheitlich geführt würde, denn viele Angaben zur Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen können derzeit nur unter Bezugnahme auf öffentliche Datenregister (wie z. B. die Todesursachenstatistik, die Polizeiliche Kriminalstatistik oder die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik) und auf vereinzelt vorliegende empirische Untersuchungen abgestützt werden. Diese beruhen auf groben und methodisch eingeschränkten Schätzungen, die je nach Altersgruppe, auf die sich die statistischen Berechnungen beziehen, zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Zudem wird bei diesen Schätzungen nicht selten auf verschiedene Formen und
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Verständnisse von Kindeswohlgefährdungen Bezug genommen, was die Vergleichbarkeit und Einordnung der Befunde weiter einschränkt. Und dennoch wäre es auch mit einer bundeseinheitlichen Kinderschutzstatistik nicht möglich, zweifellos zu wissen, wie viele Kinder in Deutschland tatsächlich in ihrem Wohl gefährdet sind: Es wird immer ein aufgedecktes Hellfeld und ein vermutetes Dunkelfeld geben. Außerdem gibt es keinen starren Zusammenhang zwischen Entwicklungen im Hell- und im Dunkelfeld. Nur weil z. B. Fälle sexueller Gewalt in der PKS ansteigen, kann nicht darauf geschlossen werden, dass ein solcher Anstieg in ähnlicher Weise auch im Dunkelfeld vorkommt. Ein Anstieg im Hellfeld belegt zunächst lediglich, dass mehr Fälle aus dem Dunkelfeld zum Vorschein gekommen und bei der Polizei zur Anzeige gebracht worden sind. Unstrittig ist im wissenschaftlichen Diskurs indes, dass das Dunkelfeld von Kindeswohlgefährdungen immer größer sein wird als das Hellfeld. Wie groß das Dunkelfeld allerdings tatsächlich ist, lässt sich nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Insofern ist es unseriös, wenn – wie öfter zu lesen ist – behauptet wird, dass pro erkanntem Fall von Kindeswohlgefährdung zusätzlich noch bis zu 50 unerkannte Fälle hinzugerechnet werden könnten. Solche Aussagen basieren auf bloßen Vermutungen. Die PKS verweist darauf, dass im Zeitraum 2006 bis 2016 jährlich zwischen 21.000 bis 24.000 Kinder in ihrem Wohl gefährdet und die entsprechenden Handlungen bzw. Unterlassungen zur Anzeige gebracht wurden – bezogen auf die in Deutschland lebenden Kinder sind dies im Jahr 2016 zwischen 0,15 % und 0,18 %. Im Jahr 2017 kommt man laut PKS zu einer annähernd gleichen Verteilung kindeswohlgefährdender Straftaten. Auch verdeutlicht die Statistik, dass vor allem Fälle sexueller Gewalt zur Anzeige gebracht werden, gefolgt von Misshandlungsfällen. Weiter zeigt sie, dass Kindstötungen in den letzten Jahren nicht deutlich zugenommen haben, sondern längsschnittlich auf einem annähernd gleichen Niveau verharren. Dies ist ein Trend, der auch in der Todesursachenstatistik seine Bestätigung findet. Die Todesursachenstatistik verdeutlicht überdies, dass Kinder weit häufiger davon bedroht sind, in Folge von Unfällen Schaden zu erleiden als in Folge von kindeswohlgefährdenden Unterlassungen oder Handlungen ihrer Eltern bzw. anderer Bezugspersonen. Die ›§-8a-Statistik‹ indes macht darauf aufmerksam, dass die Jugendämter in Deutschland, sofern ihrem Tätigwerden eine Gefährdungsmeldung nach § 8a SGB VIII zu Grunde liegt, vor allem
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mit Fällen von Vernachlässigung konfrontiert sind, wohingegen die Statistik der Kinderschutz-Zentren in Deutschland darauf verweist, dass die dort tätigen Berater_innen mit allen Formen der Kindeswohlgefährdungen fast gleichermaßen befasst sind. Aussagen über die Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen können mit diesen öffentlichen Datenregistern jedoch nicht getroffen werden. Hierfür müssen Prävalenzstudien herangezogen werden, die in Deutschland bislang kaum vorliegen. Die von Witt u. a. (2017) durchgeführte Prävalenzstudie weist darauf hin, dass Kindeswohlgefährdungen in Deutschland insgesamt rückläufig sind. Sie ist zwar streng genommen keine Studie, die erfasst, wie viele Kinder heute von Gefährdungen ihres Wohls betroffen sind. Sie macht aber entlang unterschiedlicher Alterskohorten auf folgende Prävalenzen aufmerksam, welche Befunden aus anderen Ländern ähneln: 6,5 % der Befragten haben moderate bis schwere psychische/emotionale Misshandlung erlebt, 6,6 % moderate bis schwere körperliche Misshandlung, 7,6 % moderate bis schwere sexuelle Gewalt, 13,3 % moderate bis schwere emotionale Vernachlässigung und 22,4 % moderate bis schwere körperliche Vernachlässigung. Bezieht man sich ausschließlich auf die 13.470 Millionen derzeit in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen im Alter von 0–18 Jahren und auf die Ergebnisse in der Alterskohorte 14–19, fallen die Prävalenzraten noch niedriger aus. Welche Daten man allerdings auch heranzieht: Man sollte nicht der Idee aufsitzen, dass Kinder in Familien und Institutionen frei von Problemen und Konflikten aufwachsen und zu jeder Zeit und überall vor Gefährdungen ihres Wohls bewahrt werden können, auch wenn dies wünschenswert wäre. Denn auch der Kinderschutz hat seine Grenzen. Egal, welche Daten man über die Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen auch heranzieht, man sollte diese nicht gegen das Kinderschutzsystem verwenden, sondern für seine kritische Weiterentwicklung. Sie sollten nicht zur Skandalisierung, sondern zur Ableitung von empirisch getragenen Strategien zur Verbesserung des Kinderschutzes und zur Entwicklung von passgenauen und wirksamen Hilfen herangezogen werden. Zudem sollten sie nicht den Blick darauf verstellen, dass Gefährdungen des Wohls von Kindern in jeder Familie vorkommen können und einer auf Rückschläge eingestellten Hilfepraxis bedürfen, welche oftmals keine schnellen Wunder vollbringen kann (→ Kapitel 5). Und auch dieser Aspekt sollte nicht vergessen werden: Viele Jugendämter haben ihre Praxis seit der Skandalisierung von pro-
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blematischen Kinderschutzfällen, spätestens seit Mitte der 2000er Jahre, verändert. Sie haben seitdem viel häufiger vorläufige Schutzmaßnahmen ergriffen, Kinder in Heimeinrichtungen untergebracht und die Familiengerichte angerufen, um Kinder gegen den Willen der Eltern vor Gefährdungen ihres Wohls zu schützen. Auch diese Entwicklung kann man der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik entnehmen. Doch auch wenn die Jugendämter ihre Praxis inzwischen auf den Prüfstand gestellt haben und ihrem Wächteramt entschiedener nachgehen als in den 1990er Jahren, müssen die dort tätigen Fachkräfte damit leben, dass es ihnen nicht immer gelingen wird, den Tod eines Kindes zu verhindern – was zutiefst emotional aufwühlend sein kann. So ist es durchaus verständlich, dass Tsokos und Guddat (2015), die als Rechtsmediziner vor allem Kinder sehen, die bereits schwere Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuelle Gewalt erfahren haben, das gesamte Kinderschutzsystem in Deutschland skandalisieren. Sie verkennen aber, dass es für die Fachkräfte in den Jugendämtern und in anderen Feldern der Kinderund Jugendhilfe eine Mammutaufgabe ist, Fälle von Kindeswohlgefährdungen zu erkennen und zu bearbeiten und Kindern wie auch Eltern in Not zu helfen und sie mitzunehmen auf einen Weg, der es ihnen ermöglicht, ohne staatliche Einmischungen und frei von Leid und Schuld Familie zu sein.
3. Die Rechtsmedizin als Vorkämpferin gegen Kindeswohlgefährdungen – stimmt das?
Tsokos und Guddat (2015) bezeichnen die Rechtsmedizin als Vorkämpferin gegen Kindeswohlgefährdungen (vgl. ebd.: S. 111–141). Um diese Aussage zu überprüfen, wird im Folgenden erklärt, wie die professionellen Rollen, Zuständigkeiten und Aufgaben im Kinderschutz verteilt sind. Dafür ist allerdings zunächst ein Verständnis dessen nötig, was historisch unter den Begriffen ›Kindeswohl‹ und ›Kindeswohlgefährdung‹ verstanden worden ist.
Kinderschutz in der historischen Perspektive Das gegenwärtige Verständnis der Begriffe ›Kindeswohl‹ und ›Kindeswohlgefährdung‹ ist eine historisch gewachsene Konstruktion. Die grundlegenden Vorstellungen einer vom Erwachsenenalter getrennten Lebensphase der Kindheit sowie einer Familie, in der Kinder Fürsorge und Erziehung erfahren, bildeten sich in Europa erst zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert allmählich heraus, wie Ariès (2011) darlegt. Demnach herrschte im Mittelalter Kleinkindern gegenüber aufgrund der sehr hohen Kindersterblichkeit eine Gleichgültigkeit vor, die uns heute sicherlich schockieren würde. Falls die Kinder die Säuglingszeit überlebten, nahmen sie schnell weitgehend am Leben der Erwachsenen teil und traten im Alter von etwa sieben Jahren vollständig in diese Welt über (vgl. ebd.: S. 559). Erst unter dem Einfluss christlicher Moralisten entwickelte sich die Idee, Kindern in der Familie eine fürsorgliche, aber zugleich strenge Behandlung zukommen zu lassen, um sie zu sittsamen Menschen zu erziehen (vgl. ebd.: S. 216–217). Neben einem bürgerlichen Familiensinn gewann auch die Schulbildung im Interesse der Erziehung
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von unreifen Kindern zu vernünftigen Erwachsenen an Bedeutung und es kam ein Bemühen um Hygiene und Gesundheit von Kindern hinzu (vgl. ebd.: S. 209–218). Es entwickelten sich somit erstmals bestimmte Vorstellungen über das Wohl von Kindern und auch die ersten Erziehungskonzepte, die dies sicherstellen sollten. Ebenso entfaltete sich zum ersten Mal eine Aufmerksamkeit für Gefährdungen des Wohls von Kindern und auch für Gewalt gegen Kinder. Mit Beginn der Industrialisierung gewann die soziale Frage an Bedeutung, denn das sich neu herausbildende städtische Proletariat lebte völlig schutzlos in katastrophalen sozialen und hygienischen Verhältnissen, in denen vermehrt Kinder starben. Die christliche Armenfürsorge begann, sich gezielt um die gefährdeten Arbeiterkinder zu kümmern. So wurde z. B. 1833/34 das Rauhe Haus in Hamburg als Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder und Jugendliche gegründet. Allerdings hatten diese frühen Kinderschutzeinrichtungen nicht die materielle und soziale Dimension, sondern die religiös-sittlichen Aspekte der Verwahrlosung im Blick (vgl. Thole/ Witt 2006: S. 8). Die Kinder sollten von schädlichen Einflüssen der lasterhaften Elternhäuser ferngehalten werden, da Unerzogenheit und Wildheit als Bedrohung der von christlichen Moralgrundsätzen gestützten gesellschaftlichen Ordnung verstanden wurden. Neben kirchlichen Organisationen entstanden auch vornehmlich christlich motivierte bürgerliche Gesellschaften zum Schutz von Kindern. 1829 wurde in Deutschland die Gesellschaft zum Schutz sittlich vernachlässigter Kinder gegründet. 1874 gründete sich in New York die weltweit erste Gesellschaft, die konkret dem Schutz von Kindern vor Gewalt und Misshandlung verschrieben war, und 1898 folgte in Berlin die Gründung des Vereins zum Schutz von Kindern vor Ausbeutung und Misshandlung. Auch eine entstehende bürgerliche Frauenbewegung entdeckte die Arbeiterfamilien als Tätigkeitsfeld eines ehrenamtlichen sozialen Engagements und organisierte Hilfeleistungen, die insbesondere den Kindern zugutekommen sollten. Der Eberfelder Frauenverein, der zu Beginn der 1880er Jahre gegründet wurde, steht am Anfang dieser Entwicklung. In Berlin wurde die Fürsorgetätigkeit der Mädchen- und Frauengruppen durch Lehrkurse begleitet. Daraus entstand 1908 die erste Soziale Frauenschule, geleitet von Alice Salomon, und in diesem Kontext auch das erste Lehrbuch der Sozialen Arbeit (vgl. Hammerschmidt/ Tennstedt 2012: S. 79–80). Kinderschutz etablierte sich insofern von Anfang an als ein zentrales Handlungsfeld der Sozialen Arbeit.
3. Die Rechtsmedizin als Vorkämpferin gegen Kindeswohlgefährdungen
Der französische Rechtsmediziner Ambroise Tardieu veröffentlichte zwischen 1857 und 1868 erstmals Untersuchungen über sexuelle Gewalt an Kindern, Kindesmisshandlungen und Kindstötungen und gilt daher als früher, zu seiner Zeit öffentlich und wissenschaftlich leider wenig beachteter Pionier des medizinischen Kinderschutzes. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Sigmund Freud veröffentlichte Abhandlungen über den Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Erfahrungen sexueller Gewalt stießen auf heftigen Widerstand in der Fachwelt, der Freud dazu veranlasste, seine Thesen zurückzuziehen (vgl. Herrmann et al. 2016: S. 13). Die von den bürgerlichen Gesellschaften forcierte Aufmerksamkeit für die religiös-sittliche Dimension von Kindesmisshandlungen machte diese zu einem öffentlichen Thema. Die Besorgnis um die Wehrtüchtigkeit und Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung und die hohe Säuglingssterblichkeit in den Arbeiterfamilien führten in Preußen schließlich zu gesetzlichen Reformen. Das 1900 eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch sah vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen für den Fall vor, dass Eltern ihre Kinder misshandelten oder vernachlässigten. Dafür musste ihnen aber noch bis 1980 ein schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden können. Auch wurden der Mutterschutz sowie Kinderschutzvorschriften zur Regulierung der Kinderarbeit eingeführt. Im ›Reichsjugendwohlfahrtsgesetz‹ wurden zu Zeiten der Weimarer Republik 1922 die Kompetenzen eines neu zu gründenden Jugendamts definiert. Im Bereich der freien Wohlfahrtspflege bildeten sich sechs nationale Spitzenverbände (Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Zentralwohlfahrtsausschuss der christlichen Arbeiterschaft, Innere Mission und Caritas). Neben der kommunalen Armenverwaltung etablierte sich die Heimerziehung als Bestandteil der öffentlichen Fürsorge. Die Kinder und Jugendlichen wurden aber zumeist nicht deshalb in Heimen verwahrt, weil sie vor Kindeswohlgefährdungen geschützt werden sollten, sondern im Rahmen der Fürsorgeerziehung aufgrund kriminellen Verhaltens (Delinquenz). Jungen wurde oftmals Betteln und Stehlen zur Last gelegt, während Mädchen häufig Unzucht vorgeworfen wurde (Hering/Münchmeier 2014: S. 149). Zwar entwickelte sich in Europa gleichzeitig eine am Kinderrecht auf Selbstbestimmung ausgerichtete humanistische Reformpädagogik mit international populären Protagonisten wie z. B. dem polnischen Kinderarzt und Pädagogen
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Janusz Korczak, aber diese konnte sich in der Zeit der Weimarer Republik nicht durchsetzen. Unter dem nationalsozialistischen Regime wurden Korczak und die jüdischen Waisenkinder aus dem von ihm geleiteten Warschauer Kinderheim im Vernichtungslager Treblinka umgebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg zielte Kinderschutz in Deutschland in erster Linie auf die Versorgung und den Schutz von Waisen und geflüchteten Kindern. In diesem Kontext wurde 1953 in Hamburg der Deutsche Kinderschutzbund gegründet. Beginnend mit der Erklärung der Rechte des Kindes durch die Vereinten Nationen 1959 lässt sich eine einflussreiche internationale Entwicklung beobachten, die 1989 in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes mündete. Eine medizinische Auseinandersetzung mit Kindesmisshandlungen setzte sich international erst in den 1960er Jahren mit der Veröffentlichung »The Battered Child Syndrom« des amerikanischen Pädiatrieprofessors C. Henry Kempe durch (vgl. Herrmann et al. 2016: S. 14–15). Ausgehend von dieser Entwicklung entstand ein modernes Verständnis von Kindesmisshandlung und es setzte eine breitere gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dem Thema ein. Während in der DDR z. B. ähnlich wie in den USA eine gesetzliche Meldepflicht von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen eingeführt wurde, wurden in der BRD zentrale Registrierungssysteme mit Hinweis auf die totalitäre Geschichte abgelehnt (vgl. ebd.: S. 11). Die Heimskandale und Heimkampagnen in Westdeutschland erzeugten erneut eine öffentliche Aufmerksamkeit für das Problem der Kindeswohlgefährdung. Innerhalb der Sozialen Arbeit entstanden politisierte Reformbewegungen, die Gewalt gegen Kinder als »Herrschafts-, Beziehungs- und Ressourcenkonflikt« (Wolff 2008: S. 339) deuteten und eine moderne, hilfe- und familienorientierte, multiprofessionelle Kinderschutzarbeit begründeten. Die Gründung des ersten Kinderschutz-Zentrums 1976 in Berlin markiert diese Entwicklung. Sie trug zu einem Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe bei: weg von einer repressiven Kontroll- und Eingriffsorientierung, hin zu Hilfeorientierung, Partizipation und unterstützenden Angeboten für Kinder und Eltern. Mit dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991, mit dem das Jugendwohlfahrtgesetz (JWG) durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz
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(KJHG) – später SGB VIII – abgelöst wurde, fand diese Entwicklung in ganz Deutschland ihren gesetzlichen Ausdruck.
Die jüngeren Entwicklungen im Kinderschutz in Deutschland Wurde in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren das Züchtigungsrecht für Lehrkräfte an Schulen abgeschafft, besteht seit dem Jahr 2000 in ganz Deutschland auch ein Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung in der Familie (§ 1631 Abs. 2 BGB). Dieses ist allerdings nicht einklagbar und hat die Funktion eines Erziehungsleitbilds. In den 1970er Jahren gewann der sexuelle Missbrauch als gesellschaftliches und auch als fachliches Thema der Sozialen Arbeit zunehmend an Bedeutung. Hierauf nahmen feministische Diskurse Einfluss, aber später auch Misshandlungsskandale im kirchlichen Kontext sowie deren Aufarbeitung, die gegenwärtig noch andauert. Wie in Kapitel 1 beschrieben lösten zudem medial inszenierte Skandale um Fälle, in denen Kinder durch Misshandlungen ums Leben kamen, obwohl die betroffenen Familien Unterstützungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe nutzten, sozialpädagogische Fachdebatten über den Schutzauftrag des Jugendamts aus. 2005 wurde daraufhin der Paragraf 8a ins SGB VIII aufgenommen, der ein spezifisches Verfahren zur Gefährdungseinschätzung aufgrund von Meldungen regelt und auch freie Träger der Jugendhilfe über Vereinbarungen dazu verpflichtet. Kinderschutz wurde spätestens mit dem Bremer ›Fall Kevin‹ im Jahr 2006 zu einem zentralen Mediendiskurs und zu einem geradezu dominanten Thema innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitssystems. Seither bestimmt eine ausgeprägt aufmerksame Haltung gegenüber Kindeswohlgefährdungen die öffentliche Auseinandersetzung und das professionelle Handlungsfeld, was sich z. B. an gestiegenen Zahlen von Hinweisen aus der Bevölkerung sowie an einem erhöhten Fallaufkommen der Jugendämter im Bereich des Kinderschutzes ablesen lässt (→ Kapitel 2). In der Kinder- und Jugendhilfe sind vielerorts spezialisierte Strukturen für Kinderschutzaufgaben entstanden, etwa Krisendienste oder Kinderschutzteams und -koordinationsstellen zur Ergänzung der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) in den Jugendämtern. Träger der freien Jugendhilfe wurden dazu verpflichtet, bei Verdachtsfällen in Kinderschutzfragen erfahrene Fachkräfte zur Beratung heranzu-
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ziehen. Die Informations- und Beteiligungsansprüche von Kindern wurden gesetzlich präzisiert und vielerorts fachlich gestärkt, ebenso wie Kontrollelemente wie Hausbesuche, Inaugenscheinnahme der Kinder und die sozialpädagogische Arbeit mit Schutzkonzepten (›Auflagen‹) für Eltern im Gefährdungs- und Zwangskontext. Im Feld des medizinischen Kinderschutzes hatte bereits Kempe dazu beigetragen, das Augenmerk auf familienorientierte, multiprofessionelle Hilfeansätze für betroffene Kinder und Eltern zu legen. In Deutschland wurden kinderärztliche Beratungsstellen gegen Vernachlässigung und Kindesmisshandlung gegründet und an vielen Kliniken sind in den letzten Jahren Kinderschutzgruppen entstanden, in denen unterschiedliche medizinische Fachgruppen, Pflegekräfte und sozialpädagogische Fachkräfte zusammenarbeiten. Zudem wurde in den meisten Bundesländern ein verbindliches Einladungswesen für die Teilnahme an regelmäßigen kinderärztlichen Früherkennungsuntersuchungen eingeführt. Eltern, die trotz Erinnerung ihr Kind nicht zur Vorsorgeuntersuchung vorstellen, werden danach dem Gesundheitsamt bzw. Jugendamt gemeldet. 2008 gründete sich die Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin, die seit 2016 den Namen Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin trägt und sich als Fachgesellschaft und Mitgliederorganisation der Förderung der wissenschaftlichen, klinischen und praktisch-ärztlichen Kinderschutzarbeit widmet (vgl. Herrmann et al. 2016: S. 383). Im forensischen Bereich sind Leitlinien zur Diagnostik von Kindesmisshandlungen entwickelt und rechtsmedizinische Gewaltopferambulanzen gegründet worden. Ferner wurden multiprofessionell arbeitende Kinderschutzambulanzen gegründet, in denen Fachkräfte der Rechtsmedizin, Pädiatrie, Psychiatrie, (Rechts-)Psychologie, Sozialpädagogik und Pflege im Kontext einer Differenzialdiagnostik zusammenarbeiten sollen. Das 2012 eingeführte Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), das neben Änderungen im SGB VIII auch das Gesetz zur Information und Kooperation im Kinderschutz (KKG) umfasst, enthält u. a. Regelungen zur Etablierung von Angeboten der Frühen Hilfen für (werdende) Eltern und Kinder zwischen 0 und 3 Jahren, zur interorganisationalen und multiprofessionellen Zusammenarbeit im Kinderschutz sowie zur Wahrnehmung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdungen (Meysen/Eschelbach 2012: S. 48–52). Es regelt z. B. konkret die Bedingungen der Informationsweitergabe durch Berufsgeheimnisträger in Kinderschutzfällen und deren Beratungs-
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ansprüche gegenüber dem Jugendamt oder setzt fest, dass alle in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Personen bei der Einstellung ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen müssen. Im Bereich der Frühen Hilfen sind Netzwerke und Kooperationsstrukturen sowie vielfältige Angebote und Initiativen eines präventiven Kinderschutzes auf Basis der Zusammenarbeit zwischen dem sozialen und dem medizinischen Hilfesystem entstanden und ausgebaut worden, wie z. B. Präventionsangebote zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von Eltern oder Kooperationsmodelle in Geburtskliniken. Inzwischen wird eine Profilschärfung gefordert, die den generellen Auftrag Früher Hilfen zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern in den Mittelpunkt stellt. Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) wurde u. a. mit dem Ziel gegründet, diese Entwicklung zu fördern. Es bietet umfangreiches, frei zugängliches Informationsmaterial zum Thema (www.fruehe hilfen.de). Im Rückblick auf die kurze Skizze zur geschichtlichen Entwicklung des Kinderschutzes in Deutschland wird deutlich, dass unterschiedliche Professionen, gesellschaftliche Diskurse und gesetzliche Reformen Einfluss darauf genommen haben, wie Kindeswohlgefährdungen wahrgenommen werden und wie reagiert wird, um sie professionell zu bearbeiten und abzuwenden. Kinderschutz kann als gemeinsame Aufgabe unterschiedlicher Professionen beschrieben werden. Eine Vorkämpferrolle der Rechtsmedizin im Feld des Kinderschutzes wird nicht ersichtlich und Tsokos’ und Guddats Behauptung, dass sich bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich Rechtsmediziner mit dem Thema Kindesmisshandlung befasst hätten (vgl. Tsokos/Guddat 2015: S. 119), kann leicht widerlegt werden. Aber wie sieht es aktuell bei den Aufgaben und Zuständigkeiten für den Kinderschutz aus? Kann hier eine Vorreiterrolle der Rechtsmedizin erkannt werden?
Aufgaben und Zuständigkeiten im Kinderschutz Hinter dem Begriff Kinderschutz verbergen sich unterschiedliche Aufträge, Aktionsformen und Logiken der Systeme Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheit, Bildung und Justiz. Dabei stehen mit Blick auf die gesetzlichen Grundlagen der Kinderschutzarbeit die Aufgaben und Zuständigkeiten der Kinder- und Jugendhilfe und der Familiengerichte im Mittelpunkt.
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Der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls hat im Zusammenhang mit dem Kinderschutz erst bei der Feststellung einer Kindeswohlgefährdung als Ergebnis komplexer Bewertungsprozesse rechtliche Relevanz. Unterschieden wird dabei zwischen dem Kindeswohl als positivem Standard, dessen Definition und Realisierung primär den Eltern obliegt, und dem Kindeswohl als negativem Standard (Kindeswohlgefährdung), d. h. als Grenze für die Ausübung der Elternverantwortung und als Schwelle für staatliches Eingreifen (vgl. Coester 2009). Der staatliche Auftrag setzt aber nicht erst an der Schwelle der Kindeswohlgefährdung an, sondern ist darauf gerichtet, die Entwicklung von Kindern zu fördern, indem Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt werden. Diesem Ziel dient ein breites Spektrum von Leistungen im SGB VIII, beginnend bei sogenannten Infrastrukturleistungen, die sich an alle Kinder bzw. an alle Eltern richten, bis hin zu Hilfen in spezifischen Lebens- und Erziehungssituationen (Einzelfallhilfen). Die Rechte und Pflichten von Eltern sind an das Kindeswohl und damit auch an die Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte der Kinder gebunden, ihre konkrete Ausgestaltung bleibt aber – im Rahmen des Leitbilds der diskursiven Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) – den Eltern vorbehalten. Das Kindeswohl ist deshalb in unterschiedlichen Konnotationen allgemeines Prinzip für die Ausgestaltung des elterlichen Erziehungsauftrags und für die Entscheidungen des Familiengerichts. Damit ist es die zentrale juristische Norm im Kindschaftsrecht und im Kinder- und Jugendhilferecht. Im Falle einer vermuteten Kindeswohlgefährdung ist die Kinder- und Jugendhilfe gemäß ihrem gesetzlichen Schutzauftrag dafür zuständig, unter Beteiligung der Betroffenen eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen und auf den Einzelfall bezogene, angemessene Hilfe- und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Wenn die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, daran mitzuarbeiten, die Kindeswohlgefährdung abzuwenden, und Hilfemöglichkeiten nicht ausreichen, ist die Kinder- und Jugendhilfe auf die Zusammenarbeit mit den Familiengerichten angewiesen, die dafür zuständig sind, Eingriffe in die Rechte von Eltern vorzunehmen, um Kindeswohlgefährdungen abzuwenden. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden in rechtlicher Hinsicht zentralen für den Kinderschutz zuständigen Institutionen – dem Jugendamt und dem Familiengericht – ist verfahrenstech-
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nisch streng geregelt. Trotz der starken Aufgabenverschränkung im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens haben die beiden Institutionen unterschiedliche Aufgaben und Rollen. Während das Jugendamt mit seiner fachlichen Stellungnahme eine Art Sachverständigenfunktion einnimmt, obliegt die Ermittlung der Tatsachen, die für die Entscheidung erheblich sind, von Amts wegen den Gerichten (Amtsermittlungsgrundsatz). Die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung muss stets gewährleistet sein. Die unbestimmten Rechtsbegriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung verlangen jeweils eine Interpretation im Einzelfall. Kirsten Scheiwe weist darauf hin, dass Richter_innen diese unbestimmten Rechtsbegriffe im Einzelfall nur durch Einbeziehung außerrechtlicher Bewertungsmaßstäbe auslegen und anwenden können (vgl. Scheiwe 2013: S. 211). Die Aufgabe, dem Gericht diese außerrechtlichen Bewertungen zu liefern, fällt – neben Sachverständigen – vor allem dem Jugendamt und der fachlichen Expertise seiner Fachkräfte zu. In der Gefährdungseinschätzung und in familiengerichtlichen Verfahren werden allerdings auch medizinische Gutachten und Diagnosen einbezogen – wie im Kontext von Kindeswohlgefährdungen überhaupt unterschiedliche fachliche Expertisen wahrgenommen werden müssen. Neben sozialpädagogischen spielen dabei polizeiliche und kriminologische Perspektiven ebenso eine Rolle wie pädiatrische, psychiatrische und psychologische Blickwinkel auf die Kindeswohlgefährdung. Für die Gefährdungseinschätzung müssen zudem sowohl kindliche Entwicklungsbedürfnisse wie Gesundheit, emotionale Entwicklung und soziale Beziehungen als auch elterliche Fähigkeiten und familiale und Umgebungsfaktoren wie soziale Integration, Arbeit, Einkommen und Familienkonstruktion beachtet werden (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009: S. 25). Hierzu ist eine intensive Kommunikation mit den betroffenen Kindern und Eltern unerlässlich. Eine forensische Diagnostik kann somit ein Bestandteil der Gefährdungseinschätzung sein, aber sie allein kann diese nicht gewährleisten. Deshalb zählt die Gefährdungseinschätzung auch nicht zu den Aufgaben der Rechtsmedizin. Es ist Aufgabe der sozialpädagogischen Fachkräfte des Jugendamts, die unterschiedlichen fachlichen Blickwinkel sowie die Perspektiven der Familienmitglieder auf das Geschehen kommunikativ zu erschließen und in der Gefährdungseinschätzung systematisch zusammenzuführen.
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Im Übrigen ist im familiengerichtlichen Verfahren das Kind ab der Vollendung des 14. Lebensjahres, im Einzelfall aber schon viel früher, persönlich anzuhören (§ 159 FamFG). Darüber hinaus ist in Kinderschutzsachen regelmäßig ein Verfahrensbeistand für das Kind zu bestellen (§ 158 FamFG). Rechtsmediziner_innen kommen im Kinderschutz der wichtigen Aufgabe nach, im Kontext der Verdachtsklärung einer Kindeswohlgefährdung oder eines Gerichtsverfahrens wegen Kindesmisshandlung oder im Falle einer ungeklärten Todesursache von Kindern zur Rekonstruktion des Hergangs Verletzungen zu diagnostizieren. Sie sollen also dazu beitragen aufzuklären, ob Verletzungen auf Kindeswohlgefährdungen zurückzuführen sind. Zudem stellen sie für weitere am Kinderschutz beteiligte Fachkräfte Informationsmaterial zur klinischen Diagnostik von Kindeswohlgefährdungen zur Verfügung. Der Rechtsmedizin fällt insofern eine wichtige Teilaufgabe innerhalb des medizinischen Kinderschutzes zu. Hier tragen z. B. auch Kinderärzt_innen eine zentrale Verantwortung, etwa in den Bereichen der medizinischen Grundversorgung von Kindern, der Früherkennungsuntersuchungen sowie der Weitergabe von Gesundheitsinformationen und der Vermittlung weiterführender medizinischer und psychosozialer Hilfeleistungen an Eltern und Kinder. Der Rechtsmedizin fällt im modernen, multiprofessionell ausgerichteten Kinderschutz eine wichtige, aber in der Zusammenschau doch eher marginale Rolle zu. Wer dennoch behauptet, die Rechtsmedizin sei die einzige Anwältin von misshandelten Kindern, verkennt nicht zuletzt die grundlegende Tatsache, dass bei den meisten Kindeswohlgefährdungen gar keine körperlich sichtbaren Verletzungen vorliegen. Und natürlich wird mit der Behauptung einer alleinigen Vorkämpferrolle der Rechtsmedizin ausgeblendet, dass Kinderschutz präventiv ansetzt. Seit der Einführung des SGB VIII im Jahre 1990/1991 besteht eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe darin, Familien frühzeitig zu unterstützen, so dass sich Kindeswohlgefährdungen gar nicht erst entwickeln. Eine Fokussierung auf die Kindeswohlgefährdung verkennt deshalb den primären Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, die Entwicklung junger Menschen zu fördern (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII).
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Von Vorkämpfern und Verlierern Historisch hat sich in Deutschland eine zentrale Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe und der Sozialen Arbeit für den Kinderschutz herausgebildet. Gleichzeitig wird mit Blick auf die Aufgaben deutlich, dass Kinderschutz nur funktioniert, wenn unterschiedliche Professionen zum Wohl von Kindern Hand in Hand zusammenarbeiten. Eine einsame Vorkämpferstellung für eine bestimmte Profession zu reklamieren, widerspricht daher den geschichtlichen Zusammenhängen und vielfältigen Rollen und Aufgaben im Kinderschutz. Gerade wenn dies mit der Verunglimpfung anderer am Kinderschutz zentral beteiligter Professionen in Zusammenhang steht, kann eine solche Behauptung die multiprofessionelle Zusammenarbeit im Kinderschutz belasten. Wenn Jugendamtsfachkräfte, Kinderärzt_innen sowie Familienrichter_innen als »Komplizen der Misshandler« (Tsokos/Guddat 2015: S. 162) diskreditiert werden, eine Verschwörung gegen Kinder ausgemacht und ein »Kartell der Verleugner« (ebd.: S. 127) unterstellt wird, dem einzig die Rechtsmedizin entgegentritt, wird ein Klima erzeugt, in dem die in jedem Einzelfall im Sinne des Kindeswohls erforderliche Verständigung zwischen unterschiedlichen fachlichen Perspektiven erschwert wird. Die mit diesen pauschalen Aussagen verbundene abwertende Sicht auf die unterschiedlichen Wissensbestände der Professionen im Kinderschutz offenbart die großen Probleme, die in der multiprofessionellen Zusammenarbeit entstehen können. Die Verlierer in solchen Kämpfen um die Deutungshoheit sind meist die Kinder, deren Stimmen kein Gehör mehr finden, wenn die Expert_innen mit sich selbst beschäftigt sind. Die gesellschaftliche und die soziale Dimension des Kinderschutzes werden mit der einseitigen Fixierung auf den vermeintlich sicheren Nachweis einer körperlichen Misshandlung, die mit der Bedeutungsüberhöhung der Mittel der Rechtsmedizin im Kinderschutz einhergeht, an den Rand gedrängt. Wer interessiert sich schon für schwierige Lebensbedingungen von Familien, die von Armut und sozialer Isolation betroffen sind, und für entsprechende Unterstützungskonzepte, wenn mit dem Thema Kindeswohlgefährdungen vor allem spektakuläre Gewalt gegen Kinder und Täterermittlung anhand rechtlich verwertbarer Indizien verbunden wird? Wie kann Kinderschutz in einem gesellschaftlichen Klima gelingend gestaltet werden, in dem Eltern, die Hilfen erhalten, pauschal als misshan-
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delnde Personen und Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die diese bei den Erziehungsaufgaben unterstützen sollen, als deren Komplizen betrachtet werden? Die Diskreditierung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Eltern im Kinderschutz kann durchaus als Gefahr für Kinder in problematischen Lebensverhältnissen verstanden werden. Denn diese Kinder sind darauf angewiesen, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich mit ihnen und ihren Eltern intensiv auseinandersetzen und ihnen aufmerksam zuhören, um Probleme zu verstehen und Gefahren zu erkennen. Sie brauchen die Unterstützung von Fachkräften, die versuchen, auf Basis einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung mit den Eltern positive Veränderungen für die Kinder zu erreichen und die natürlich auch eingreifen, Kinder in Obhut nehmen und das Familiengericht einschalten, wenn dies notwendig ist, um die Kinder vor Gefährdungen ihres Wohls zu schützen. Tsokos und Guddats (2015) Behauptung, die Fachkräfte der Sozialen Arbeit und Pädiatrie sowie die Familiengerichte nähmen eine verengte Perspektive auf Kindeswohlgefährdungen ein, da sie die kriminellen Aspekte regelhaft tabuisieren, mag anhand von erschütternden Einzelfällen, in denen Gefahren für Kinder nicht erkannt wurden, immer wieder belegbar sein. Mit Blick auf die fachlichen Konzepte und die Selbstverständnisse von Fachkräften im Kinderschutz muss allerdings attestiert werden, dass der Schutz von Kindern vor Gefährdungen ihres Wohls stark im Fokus der professionellen Aufmerksamkeit liegt. So ist auch eine familienorientierte sozialpädagogische Kinderschutzarbeit darauf angewiesen, dass sich bei den Eltern in Lauf des Hilfeprozesses eine Problemeinsicht und Veränderungsbereitschaft einstellt. Es ist fachlich völlig unumstritten, dass Kindern, deren Eltern diese Voraussetzungen dauerhaft nicht erfüllen können oder wollen und die von Gefährdungen ihres Wohls bedroht sind, nur außerhalb der Familie, z. B. in Kinderheimen oder bei Pflegeeltern, geholfen werden kann. Damit endet aber nicht der gesetzliche Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe zur intensiven Elternarbeit. Angesichts der Polarisierungen im aktuellen Kinderschutzdiskurs scheint es erforderlich, diese Selbstverständlichkeiten zu betonen. Im Resümee sollen zwei unterschiedliche Aspekte herausgestellt werden:
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• Auf der Praxisebene kann im Hinblick auf die Ausgangsfrage betont werden, dass Fachkräfte, die in einem multiprofessionellen Arbeitsfeld tätig, aber trotzdem der Meinung sind, nur sie allein besäßen die zur Aufgabenerfüllung erforderlichen Haltungen und Fähigkeiten sowie die nötige Expertise, die für den Schutz von Kindern notwendige Zusammenarbeit ausbremsen. Sie leisten keinen Beitrag dazu, Kindeswohlgefährdungen sinnvoll und bedacht gemeinsam zu bearbeiten. • Auf der gesellschaftspolitischen Ebene kann beobachtet werden, dass es kein Verständnis dafür gibt, wenn in ihrem Wohl gefährdete Kinder trotz intensiver Bemühungen nicht zuverlässig geschützt werden können. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass zwischen den Professionen ein Richtungsstreit darüber entsteht, wie Kinderschutz zu vollziehen ist und wie mit Eltern umzugehen ist, die ihren Kindern sexuelle Gewalt antun oder diese misshandeln und/oder vernachlässigen. Noch ist nicht entschieden, ob der hilfe- und familienorientierte Ansatz der Sozialen Arbeit sich auch in Zukunft durchsetzen kann, oder ob andere professionelle Orientierungen die Oberhand gewinnen werden, die auf Kontrolle und Bestrafung ausgerichtet sind.
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4. Warum Ritter und Waffen nichts taugen, um Kinder zu schützen Kinderschutz in Deutschland heute
Ritter und Waffen taugen heutzutage nicht, um Kinder zu (be-) schützen. Das Mittelalter liegt ca. 800 Jahre zurück. Es war eine sehr gewaltvolle Zeit – auch gegenüber Kindern. Heute ist die Situation eine andere. Dennoch sind Tsokos und Guddat (2015: S. 142) der Auffassung, dass die Fachkräfte im Kinderschutz »Ritter mit stumpfen Schwertern« seien, denen es misslinge, da kollektiv »ausgebrannt und abgestumpft«, Kinder vor ihren Eltern zu verteidigen und zu beschützen.
Misshandelt Deutschland seine Kinder? Unsere Gesellschaft – hier in Deutschland und auch in Europa – ist seit dem Ende des 2. Weltkrieges deutlich gewaltfreier geworden. Dies betrifft auch Erziehungsverhältnisse in Familien und in öffentlichen Einrichtungen wie Kindertageseinrichtungen (Kita) und Schule. Gab es bis 1973 in der Bundesrepublik Deutschland noch die Prügelstrafe bzw. die körperliche Züchtigung an Schulen, ist dies heute undenkbar. Aus der »elterlichen Gewalt« wurde 1980 die »elterliche Sorge« gegenüber den Kindern (§§ 1626–1698b BGB). Aus der »elterlichen Züchtigung« wurde im Jahr 2000 das »Recht auf gewaltfreie Erziehung« (§ 1631 Abs. 2 BGB). Gewalt, vor allem »körperliche Züchtigung«, gegenüber Kindern und Jugendlichen galt über Jahrhunderte als legitime Form der Erziehung in Familie, Schule, Heim etc. Eltern wurden sogar aufgefordert, ›hart durchzugreifen‹, wenn die Kinder nicht ›hören wollten‹ oder sehr kleine Kinder einen ›Bockanfall‹ hatten. Diese Forderung ist heute noch in manchen Familien von der älteren Generation gegenüber
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der jüngeren zu hören. Die Großeltern sind zumeist erstaunt, wenn Eltern auf das Recht ihrer Kinder auf gewaltfreie Erziehung hinweisen, welches »körperliche Züchtigung« eindeutig untersagt. Dann kommt häufig die Frage: »Auch nicht einen Klaps auf den Po?« »Nein, auch keinen Klaps auf den Po«, ist die Antwort aufgeklärter Eltern und es folgt ein Kopfschütteln der Großeltern: »Wie sollen sich Eltern da noch durchsetzen?« »Eben über andere Kommunikationsformen und ohne Gewalt«, lautet die Antwort. So haben sich Grundeinstellungen im Erziehungsverhalten der Eltern mit der Diskussion und Einführung der gesetzlichen Regelung der gewaltfreien Erziehung im § 1631 Abs. 2 BGB gravierend geändert. Ca. 86 % der Eltern strebten bereits 2002 eine gewaltfreie Erziehung an (vgl. Bussmann 2003: S. 2). Im Rahmen einer europäischen Vergleichsstudie hat sich diese Entwicklung ebenfalls bestätigt. In Ländern wie Deutschland, in denen Gewalt in der Erziehung verboten ist, sind Kinder weitaus weniger Körperstrafen ausgesetzt als in Ländern, in denen ein solches Gewaltverbot nicht existiert (vgl. BMWFJ 2009). Der Gesetzgeber hat aber deutlich gemacht, dass mit dem Recht auf gewaltfreie Erziehung keine Kriminalisierung der Eltern verbunden sein soll. Deshalb hat er zur gleichen Zeit flankierend in § 16 SGB VIII die Verpflichtung aufgenommen, dass Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie auch Wege aufzeigen sollen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können (§ 16 Abs. 1 Satz drei SGB VIII). In manchen Familien ist allerdings das Wissen um das Recht ihrer Kinder auf gewaltfreie Erziehung bisher noch nicht angekommen. Deshalb bedarf es jetzt und zukünftig beständiger öffentlicher Aufklärung über Kinderrechte und Kinderschutz. Kinderschutz fängt also nicht mit dem Fingerzeig auf einzelne Familien an, sondern im gewaltfreien Umgang der Gesellschaft mit Kindern. Dazu gehören Informationen, Aufklärung und Diskurse über gewaltfreie Erziehung und Konfliktlösung sowie über Gefahren und Gefährdungen von Kindern in Familien, in Institutionen und an öffentlichen Orten. Das Thema muss auf breite Füße gestellt werden. Gewalt ist eine Form der Machtausübung. Diese Macht wurde Eltern gegenüber ihren Kindern lange Zeit zugesprochen – auch bezüglich grundlegender Lebensentscheidungen wie z. B. der Berufswahl. Gewalt der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde von diesen eingesetzt, wenn die Eltern handlungsunfähig waren, d. h. die Kin-
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der sich nicht durch die Eltern steuern ließen und etwas machten, dass Eltern bzw. die erwachsene Gesellschaft nicht wollten. Hierfür gäbe es viele Beispiele: spätes Heimkommen, Stehlen, schlechte Schulnoten etc. Gewalt stellte die Handlungsfähigkeit der Eltern (vermeintlich) wieder her und damit ihre Dominanz im Erziehungsgeschehen. In der Fachliteratur wird es auch als das Wiederherstellen einer Beziehung, also als Beziehungsaufnahme durch gewalttätiges Handeln, bezeichnet (vgl. Kinderschutz-Zentren Berlin 2009: S. 37). Dabei war die Grenze des Gewalthandelns zu keinem Zeitpunkt klar. Kinder konnten dadurch massiv zu Schaden kommen. Sie sollten durch die Gewalt ihrer Eltern nicht sterben – so auch früher die gängige Meinung in Familien, Nachbarschaften und Öffentlichkeit. Kinder kamen jedoch durch elterliche Gewalt auch zu Tode. Dies blieb lange Zeit durch die Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet und auch die Politik vernachlässigte dieses Thema jahrzehntelang. Erste Hinweise auf die (hingenommene oder absichtliche) Tötung von Kindern durch Eltern gab es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die damals entstehende Kinderschutzbewegung. Aber auch schon Goethe thematisiert in »Faust« die Kindstötung durch die Mutter und verweist auf die Lebensumstände der Eltern bei diesem grausigen Geschehen. In die gesellschaftliche und fachliche Öffentlichkeit geriet das Thema vor allem durch Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren. In dieser Zeit gab es zum einen die (Neu-)Entdeckung von nicht-zufälligen Kindesmisshandlungen durch Kinderärzt_innen mit der Erklärung psycho-pathologisch gestörter Eltern-Kind-Beziehungen (Biesel/Wolff 2013: S. 20). Zum anderen wurde durch die neue Kinderschutzbewegung das Phänomen der Kindesmisshandlung als gesellschaftliches, generationales und erzieherisches Machtverhältnis im Kontext sozialer Ungleichheit und Benachteiligung sowie familiärer Konfliktstrukturen und Beziehungsstörungen thematisiert (ebd.). Durch letztere wurde konkret benannt, wie und unter welchen Umständen Kinder Gewalt und andere Formen der Misshandlung durch ihre Eltern erfahren. Es wurden auch Misshandlungen an Kindern konkret aufgezeigt, um eine breite Fachöffentlichkeit darüber aufzuklären, wie Kindeswohlgefährdungen für medizinische Laien erkennbar sein können (vgl. Kinderschutz-Zentren 2009: S. 52 ff.). Davon ausgehend wurde ein Hilfenetz für Familien begründet, welches darauf basierte, Kinder vor akuten Gefahrensituationen zu schützen und gleichzeitig mit dem Familiensystem zu arbeiten, um langfristige Veränderun-
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gen im Erziehungsgeschehen zwischen Kindern und Eltern zu erreichen. Der Blick auf Kinder hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Die Erziehungsstile in den Familien sind partnerschaftlicher geworden. So gaben in der 17. Shell-Jugendstudie 90 % der befragten jungen Menschen an, ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern zu haben (vgl. Shell Deutschland Holding 2015: S. 52). Das ist ein großer Unterschied zu den Angaben der Generation der Eltern, die eine deutlich kritische Einstellung zu ihren eigenen Müttern und Vätern mitteilten. Drei Viertel der heutigen jungen Menschen würden ihre eigenen Kinder im Grunde genau so erziehen, wie sie es selbst erlebt haben (ebd.: S. 54). Diese Angabe ist seit 2002 beständig angestiegen. Wird hier noch einmal das Jahr 2000 mit der Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung vergegenwärtigt, wird die starke Wirkung der gesetzlichen Regelung auf Erziehungsverhältnisse in Familien in diesem Zusammenhang plausibel. Allerdings zeigen sich auch in der 17. Shell-Jugendstudie Unterschiede in den Angaben der jungen Menschen aufgrund der sozioökonomischen Lebenslage. »Die Kluft zwischen den Jugendlichen aus der unteren und aus der oberen Schicht ist im Zeitverlauf immer größer geworden.« (Ebd.: S. 54) Immerhin sind es aus der »unteren Schicht« 47 %, die zufrieden mit dem selbst erlebten Erziehungsgeschehen sind. Allerdings sollte dieser Aspekt zu denken geben! Die Differenzen zwischen Lebenslagen und Entwicklungsbedingungen für junge Menschen sind im Zusammenhang wachsender sozialer Ungleichheit angewachsen. Dies drückt sich u. a. in den Erziehungssituationen aus. Dennoch: Es wird in den Familien mehr miteinander geredet – auch bei Konflikten bzw. unterschiedlichen Vorstellungen von Eltern und Kindern. Und es wird weniger geschlagen. So wurden in der Häufigkeit erfahrener Erziehungsmaßnahmen von den jungen Menschen bereits im Vergleich 1992 zu 2002 gravierende Veränderungen angegeben: Erlebte 1992 noch etwas weniger als die Hälfte (41,3 %) der Kinder heftige Schläge mit einem Stock auf den Po, waren es 2002 noch 4,8 %. Erfuhr 1992 noch ca. ein Drittel (30,6 %) eine Tracht Prügel mit Bluterguss, waren es 2002 noch 3,2 % (vgl. Bussmann 2003: S. 3). Bis 2016 haben sich diese Befunde deutlich weiter reduziert. Im Jahr 2005 gaben 1,9 % der jungen Menschen das Schlagen mit einem Stock auf den Po durch ihre Eltern an. Im Jahr 2016 waren es 0,4 %. 2005 erlebten 1,9 % eine Tracht Prügel mit
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Blutergüssen, 2016 waren es 0,1 % (vgl. Plener/Rodens/Fegert 2016: S. 24). Die Sorge um die Unversehrtheit beim Aufwachsen von Kindern ist in den letzten Jahren immer größer geworden. Dies wurde u. a. durch die Leistungen der Medizin zur Vorsorge, zum Erhalt oder zur Wiederherstellung der Gesundheit deutlich unterstützt. Zunehmend werden auch die Rechte der Kinder präsent. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder aktive Subjekte und eigenständige Träger von Rechten sind (→ Kapitel 11). Im Familienrecht ist seit 1980 geregelt, dass die Eltern die Kinder bei der Ausübung der Personensorge entsprechend ihres Entwicklungsstandes beteiligen müssen (§ 1626 BGB). Dies schließt aus, dass Eltern einseitig über den Alltag und die Zukunft des eigenen Kindes bestimmen. Und es gelten, mit Bezug auf die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, Kinderrechte. Diese umfassen z. B. das Recht auf Förderung, auf Bildung, aber auch auf Freizeit, auf Beteiligung und auf Schutz. Es kann zusammenfassend gesagt werden: Je mehr Rechte Kinder haben und je mehr sie von den Eltern als eigenständige handelnde Wesen (Subjekte) wahrgenommen bzw. akzeptiert werden, desto weniger geraten sie in Gefahr von Gewalt in der eigenen Familie. Denn die Machtverhältnisse im Erziehungsgeschehen werden dann entsprechend anders verteilt. Eltern müssen keine Macht und Dominanz durch Gewalt gegenüber ihren Kindern herstellen, wenn ihnen klar ist, dass ihr Kind von Beginn seines Lebens an aktiv am Geschehen und an der Dynamik in der Familie beteiligt ist. Es ist heutzutage entwicklungspsychologisch unumstritten, dass Kinder von Geburt an gestaltend und aktiv sind und ihre Umgebung damit auch verändern. Kinder machen Eltern! Nicht nur, dass Menschen erst durch die Geburt des leiblichen Kindes zu Eltern werden. Das Kind selbst gestaltet von Anfang an das Familienleben mit (vgl. Dornes 1993). Die Eltern reagieren auf das Kind. Sie stillen es als Neugeborenes, tragen es umher, wenn es schreit etc. Sie versuchen, ihr Kind zu verstehen. Dies bedeutet, die Zeichen des Kindes, die es z. B. durch Weinen, Schreien, Quietschen artikuliert, zu deuten und darauf angemessen zu reagieren (vgl. Ziegenhain et al. 1999). Dabei geht es vor allem in den ersten Lebensjahren um die Befriedigung von elementaren Grundbedürfnissen wie essen, schlafen, säubern, kuscheln, explorieren. Dies erfordert von Eltern ein großes Leistungsvermögen, Tag und Nacht. Ein gutes Unterstützungssystem ist deshalb gerade in den ersten Lebensmonaten von entscheidender Bedeutung.
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Frau und Herr Maier haben sich sehr auf ihr erstes Kind gefreut und sind überglücklich, als ihr Baby zur Welt kommt. Sie nennen das Mädchen Rosa. Während Herr Maier bald nach der Geburt wieder in Vollzeit arbeiten geht, kümmert sich Frau Maier um das Baby. Rosa zeigt sich als ein sehr aktives Kind. Sie schläft wenig und wenn, dann sehr unruhig, und sie schreit sehr oft. Während Frau Maier tagsüber das Kind häufig gut beruhigen kann, gelingt dies nachts nicht. Nach einigen Wochen äußert Herr Maier, dass er den Nachtschlaf benötigt, um tagsüber seiner Arbeit verantwortungsvoll nachgehen zu können. Die Eltern schlafen nun in getrennten Zimmern. Frau Maier kommt kaum noch zum Schlafen, da sie ihre volle Aufmerksamkeit Rosa widmet. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Bald schon klingeln Nachbarn an der Tür und beschweren sich über den nächtlichen Lärm im Haus. In ihrer Not sucht Frau Maier nach Adressen von Einrichtungen, bei denen sie Hilfe finden kann. Sie findet die Telefonnummer der Erziehungsberatungsstelle des zuständigen Jugendamts. Dort erhält sie zeitnah einen Termin. Das Beratungsgespräch tut ihr gut. Sie fühlt sich mit dem Problem verstanden und entwickelt Vertrauen zu der Beraterin. Frau Maier fragt, ob sich die Familienberaterin mal kurz um Rosa kümmern könne und sie sich auf das Sofa, welches im Raum steht, legen darf. Die Beraterin willigt ein. Darauf hin schläft Frau Maier drei Stunden ganz tief und fest. Nach dem Aufwachen fühlt sie sich erholt und hat das Gefühl, dass ihr wirklich geholfen wurde. Von der Beraterin erhält sie den Kontakt zu einer Schreiambulanz. Von dort erfährt sie in den nächsten Wochen regelmäßig Hilfe, so dass die Familie die Schreiphase von Rosa schließlich gut bewältigen konnte. Inzwischen schlafen Frau und Herr Maier auch wieder in einem Zimmer. Und die Nachbarn grüßen die Familie wieder. Eltern sind die ersten Kinderschützer! In jeder Familie (→ Kapitel 10)! Ist dieser primäre Schutz der Kinder durch die eigenen Eltern nicht gesichert, dann muss mit den Eltern daran gearbeitet werden, dass sie ihrem Schutzauftrag wieder gerecht werden (können). Der Blick richtet sich dabei auf die Ressourcen, Potentiale, aber auch die Risiken bei den Eltern. Vor diesem Hintergrund ist im Einzelfall zu entscheiden, ob ambulante Familien unterstützende Hilfen oder – insbesondere bei kleineren Kindern – familienintegrative Settings geeignete Hilfeformen sind. Andernfalls bedarf es einer Doppelstrategie: Der Schutz des Kindes oder Jugendlichen ist außerhalb des Elternhauses zu gewährleisten, gleichzeitig sind aber durch eine intensive Arbeit mit den Eltern die Möglichkeiten einer Rückkehr-
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option auszuloten. Dies steht alles im SGB VIII, wird aber in der Praxis häufig nicht so umgesetzt. Aber auch in den Fällen, in denen eine Rückkehroption nicht in Betracht kommt oder scheitert, muss der Kontakt bzw. die Beziehung zwischen Eltern und Kind möglichst aufrechterhalten und gefördert werden. Denn Kinder behalten die lebenslange Aufgabe, sich mit ihrer biologischen und verwandtschaftlichen Herkunft auseinanderzusetzen. Sie müssen diese fortwährend – nicht nur einmalig – biografisch bewältigen sowie in Identitätskonzepte positiv integrieren. Dies nicht, weil Sozialarbeiter_innen, Jurist_innen, Mediziner_innen oder andere ihnen diese Aufgabe stellen oder Familienhelfer_innen oder andere überzeugt von dem Erhalt der Herkunftsfamilien sind. Nein! Diese Aufgabe der Klärung der eigenen Herkunft geben sich die Kinder selbst – seit Generationen. Das belegen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, Studien, aber auch Autobiografien von Menschen, die in Heimen, bei Pflege- oder Adoptiveltern aufgewachsen sind (vgl. z. B. Döring 2011). Die Frage und das Bestreben der Selbstvergewisserung nach der eigenen Herkunft sind unabhängig davon, ob die Kinder sich an ihre leiblichen Eltern erinnern können oder nicht, ob sie diese kennen und regelmäßigen Kontakt zu ihnen hatten oder nicht. Auch sind sie unabhängig davon, ob sie adoptiert worden sind, ob sie in Pflegefamilien oder im Heim (resp. stationären Wohnformen der Kinder- und Jugendhilfe) aufgewachsen sind. Diese Frage ist altersunabhängig und kann in jedem Lebensalter unerwartete Priorität erhalten. Bei manchen tritt sie sogar erst im Erwachsenenalter auf. Die Klärung der eigenen Herkunft gehört zu jeder ›Befreiung‹ der Kinder vor den eigenen Eltern. Bleibt diese unberücksichtigt, können dem Kind – in naher oder ferner Zukunft – vor allem seelische Schäden entstehen. Ein Teil der eigenen Geschichte bleibt dann unzugänglich und kann sich selbst nicht angeeignet werden. Denn die Kinder haben nur diese einen Eltern. Diese bleiben ihnen ein Leben lang in einem verwandtschaftlichen Verhältnis. Sie können nicht durch ›bessere‹ Eltern ausgetauscht werden – so schön diese Vorstellung in manchen Fällen sein mag. Das gesunde Aufwachsen kann hingegen durch andere Erwachsene, die anstelle der leiblichen Eltern für die Kinder sorgen, gesichert werden. Und das ist wichtig und manchmal auch existentiell. Hilfreich und unterstützend in diesem Bearbeitungs- und Bewältigungsprozess sind Formen der Biografiearbeit (vgl. Lattschar/Wiemann 2018), die in jeder Altersgruppe methodisch umsetzbar ist. Wichtig ist auch eine respektvolle und
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wertschätzende Haltung gegenüber den Familien (resp. den Eltern) in jeder Phase der Zusammenarbeit mit dem Kind. Eine positive Spiegelung eigener Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühle vermittelt dem Kind (und auch den Eltern) Sicherheit und Selbstvertrauen. Dabei kommt es darauf an, konkret zu benennen, was geschehen ist, und den Erlebnissen und Erfahrungen einen Raum der sprachlichen und visuellen Gestaltung zu geben. Das Wissen um das Geschehen schafft Entlastung und Klärung. Nichtwissen erzeugt hingegen diffuse Ängste. Frau Schulze ist 18 Jahre alt, als ihr Sohn zur Welt kommt. Seit zwei Jahren ist sie mit ihrem Partner zusammen, den sie liebt, aber der sie bereits mehrmals geschlagen hat. Frau Schulze kennt ihre leiblichen Eltern nicht. Sie ist in einer Pflegefamilie und im Heim aufgewachsen. Mit der Geburt ihres Sohnes kommt regelmäßig eine Familienhelferin zu ihr. Diese erlebt u. a. verbale aggressive Ausbrüche des Partners und thematisiert diese gegenüber den Eltern. Frau Schulze nutzt die entsprechenden Gesprächsangebote der Familienhelferin und beginnt mit ihr eine Biografie- und Genogrammarbeit. Dabei stellt sie nach Recherchen fest, dass sie selbst als kleines Kind aufgrund von Gewaltereignissen in der Herkunftsfamilie durch das Jugendamt in Obhut genommen wurde. Sie erkennt eine sich über Generationen andauernde Dynamik von Gewalt in der Familie und befürchtet, dass die Gewalt ihres Partners sich zukünftig nicht nur gegen sie, sondern auch gegen den Sohn richten könnte. Sie hat Angst davor, ihren Sohn zu verlieren, sollte sich diese Dynamik fortsetzen. Nach einem intensiven Auseinandersetzungsprozess trennt sie sich von ihrem Partner, der darauf hin aus der gemeinsamen Wohnung auszieht. Der Kontakt des Vaters zum Sohn kann regelmäßig und gut gestaltet werden. Niemand, der beruflich mit Familien arbeitet, möchte, dass Kinder sterben – schon gar nicht durch Folgen gewaltsamer grausamer Handlungen oder Unterlassungen der Eltern! Jede(r), die/der mit Familien beruflich arbeitet, ist schon in die Situation gekommen, sich Sorgen über die familiäre Lebenssituation eines Kindes zu machen. Da kommt ein Kind ohne Vesper in die Kita oder Schule und hat Hunger. Oder die Kleidung ist zu dünn für die kalte Jahreszeit und das Kind friert. Oder es gibt Beobachtungen über sehr strenges elterliches Verhalten gegenüber dem Kind, so dass Fachkräfte sich nicht sicher sind, ob das Kind zu Hause geschlagen wird oder nicht – auch wenn sie keine äußerlich sichtbaren Hämatome wahrnehmen
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können. Jede Familie ist für Außenstehende eine Blackbox. Die Familie ist tendenziell ein abgeschlossener, vor äußeren Gefahren und Eingriffen schützender Ort. Dies ist aus einem anthropologischen Verständnis heraus geradezu sinnvoll und logisch. Geschlossene Orte können ein Binnenklima der Geborgenheit, der Zugehörigkeit und des Schutzes erzeugen – mit tiefer Nähe und bedingungsloser Zuwendung. Sie wenden Gefahren ab, die unweigerlich in der äußeren Umgebung der Familie vorhanden sind. Geschlossene Orte können aber auch gefährliche Orte sein, an denen sich Grenzüberschreitungen und Gewalt in einem unermesslichen Ausmaß – fern von den Augen äußerer Beobachter – zutragen (im Kontext von Familien vgl. Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich 2011). Dieses Phänomen wurde vor allem durch die Berichte von Kindern, Jugendlichen und auch Mitarbeiter_innen über Heime, vor allem an abgeschiedenen Orten, bekannt (vgl. Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren 20101). Es ist grausam, wenn Kinder, die ja entwicklungsbedingt gerade auf den Schutz ihrer Eltern angewiesen sind, eben durch diese vernachlässigt oder misshandelt werden oder sogar zu Tode kommen. Emotional ist das kaum auszuhalten – auch nicht für Fachkräfte, unabhängig von deren Berufsrolle (ob Polizei, Gerichtsmedizin, Jugendamt, Familienhilfe oder Gericht). Fachkräfte brauchen eine gute seelische Begleitung, um mit diesen Erfahrungen umzugehen. Diese ist häufig an ihren Arbeitsplätzen nicht gegeben. Welche Möglichkeiten gibt es also, die Blackbox Familie zu öffnen? Hat das Kinderschutzsystem Antworten auf die Gefahren und Gefährdungen, die vor allem für sehr kleine Kinder in den eigenen Familien strukturell entstehen können?
Präventiver Kinderschutz – Frühe Hilfen Spätestens seit dem ›Fall Kevin‹ in Bremen (→ Kapitel 1) befasste sich der Gesetzgeber intensiv mit der Verbesserung des Schutzes von Kindern. Vor allem Kinder in den ersten Lebensjahren sind dabei im Blick, da diese aufgrund ihres Entwicklungsstandes am meisten auf 1 | Weiteres Material unter: www.rundertisch-heimerziehung.de/downloads. htm
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die Fürsorge von Erwachsenen angewiesen sind – und am häufigsten zu Tode kamen. 2012 trat das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) in Kraft. Der staatliche Kinderschutz folgt hier einem weiten begrifflichen Verständnis von Kinderschutz (vgl. Wolff 2017). Dies bedeutet, dass präventive – also vorbeugende – Hilfen vor allem Familien während der Schwangerschaft, unmittelbar nach der Geburt und in den ersten Lebensjahren des Kindes bzw. der Kinder erreichen sollen. Unter dem Begriff Frühe Hilfen (vgl. NZFH 2018) wurde auf Initiative der Bundesregierung ein breites Angebotsspektrum an Unterstützungen und Hilfen in jeder Kommune geschaffen, welche im Grunde jeder Familie zur Verfügung stehen. Sie dienen deshalb primär nicht der Abwehr einer Kindeswohlgefährdung, sondern der Befähigung von (jungen) Eltern, eine gute Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen und den Interessen des Kindes gerecht zu werden. Sie richten sich daher an alle (jungen) Eltern. Vielfach übernehmen sie aber auch eine Lotsenfunktion, indem sie Eltern befähigen und ermutigen, spezielle Hilfen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation in Anspruch zu nehmen. Dabei darf es aber nicht durch Formen von Risiko-Screening zur Diskriminierung bestimmter Personengruppen (Alleinerziehende, Migranten etc.) kommen. Ziel muss es also sein, die Schwellen dieser Personen zum Zugang zu bedarfsgerechten Hilfen abzubauen, nicht aber Kontrollsysteme aufzubauen und damit die Eingriffsschwelle zu senken. Erklärtes Ziel ist, durch eine gute Infrastruktur an Unterstützungsangeboten auch Familien in prekären Lebenssituationen zu erreichen. Denn es ist inzwischen bekannt, dass Kinder in den Situationen am meisten gefährdet sind, in denen Eltern zeitgleich mehrere Belastungen zu bewältigen haben und in existentielle Krisensituationen geraten. Krisen in Familien entstehen durch die Kumulation, also die Häufung, verschiedener Faktoren. In diesen Situationen reichen die persönlichen und sozialen Möglichkeiten und Ressourcen der Eltern zur Bewältigung nicht aus. Leidtragende werden dann auch die Kinder, die natürlich die strukturell Unterlegenen im Verhältnis zu den Eltern sind. Nicht nur der elterliche Schutz versagt, sondern Aggressionen der Erwachsenen können sich an Kindern entladen – auch in Gewalt an Kindern. Herr Adam kommt nach einem zehnstündigen Arbeitstag aus seiner Anwaltskanzlei nach Hause. Er ist müde. Er zittert, wenn er daran denkt, welchen Schriftverkehr er morgen erledigen muss. Alles liegt auf Termin.
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Der Zeitdruck ist hoch. Er schließt die Wohnungstür auf und hört seine Kinder schreien. Seine Frau ruft etwas, doch die Kinder im Alter von zwei und vier Jahren hören nicht auf ihre Worte. Herr Adam springt in die Wohnung, auf die Kinder zu, packt den Zweijährigen grob am Arm, zieht ihn zurück und schreit. Seine Stimme übertönt die der anderen drei. Die Kinder mögen doch ruhig sein und auf die Mutter hören, so seine Worte. Die Kinder halten inne, für drei Sekunden ist totale Stille. Dann beginnt der Zweijährige laut zu weinen und die Vierjährige stimmt ein. Die Eltern schauen sich an, ohne Worte wird ihnen klar, dass etwas nicht in Ordnung ist. Dann nimmt jeder von ihnen ein Kind in den Arm und beginnt es zu trösten. Die Kinder schmiegen sich an die Eltern. Ein zweites Anliegen des BKiSchG war, die Zusammenarbeit zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen zu verbessern. In allen Kommunen Deutschlands entstanden daraufhin »Netzwerke Früher Hilfen« (vgl. NZFH 2018a). Es wurden Familienhebammen ausgebildet und zur Unterstützung der Familien nach der Geburt eines Kindes eingesetzt. Ärzt_innen aller Fachdisziplinen sowie andere Geheimnisträger_innen wurden darauf hingewiesen, zuerst das Potential der Vertrauensbeziehung (insbesondere zwischen Arzt und Patient) für den Kinderschutz zu nutzen und (erst) dann, wenn auf diese Weise der Kindesschutz nicht gewährleistet werden kann, das Jugendamt zu informieren und darüber auch (im Regelfall) die Eltern zu unterrichten (→ Kapitel 8). Des Weiteren wurden alle Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen tätig sind, wie Kitas und Schulen als Akteure im Kinderschutz einbezogen. Das Anliegen war also, zum einen die Aufmerksamkeit und das fachliche Handeln im Kinderschutz zu verbessern, um Kinder bei einer möglichen Gefährdung ihres Wohls schneller und besser schützen zu können. Zum anderen ging es um die Schaffung einer kinder- und familienfreundlichen Umgebung, in der Familien sozial eingebettet sind. Dies kam gewissermaßen als Antwort auf die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft, die vor allem in den Städten zur sozialen Isolation der Familien führen kann. Ganz in dem Sinne des afrikanischen Sprichwortes »Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf« sollte bestehende und drohende Vereinsamung von Familien überwunden werden. Erwähnt werden soll auch der bundesweite Ausbau der Kindertagesbetreuung (Kita), der zwar nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kinder-
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schutz steht, jedoch die soziale Infrastruktur für Familien entscheidend verbessert. Kinderschutz fängt also zunächst bei der sozialen Situation von Familien an. Freunde, Nachbarschaft, Kita, Familienzentrum etc. sind existentiell, um informelle Unterstützung zu bieten. Es gilt, der sozialen und gesellschaftlichen Isolation von Familien – oder ganzen Familiengruppen – entgegenzuwirken. Nur so können sich Familien nach außen hin öffnen und Unterstützung vom sozialen Umfeld erhalten. Eines Tages entdeckt Frau Adam beim Spaziergang mit ihren Kindern das neue Familienzentrum im Stadtteil. Sie schaut interessiert auf die Angebote: Familienfrühstück, Krabbelgruppe, Flohmarkt, Familienberatung. Nach mehreren Besuchen dort erkennt sie, dass es anderen Familien mit der Bewältigung der alltäglichen Anforderungen ebenso geht wie ihr und ihrem Mann. Bei einem Elterncoaching lernen Frau und Herr Adam gemeinsam mit anderen Eltern, wie sie in alltäglichen Stresssituationen mit ihren Kindern angemessen und ohne Gewalt handeln können. Frau Adam beginnt auch darüber nachzudenken, ob sie nicht zu hohe Erwartungen an die Kompetenzen ihrer Kinder hat, wenn sie z. B. erwartet, dass diese selbstständig ihr Zimmer aufräumen, und dann wütend wird und denkt, die Kinder wollten sie ärgern. Denn meist klappt es mit dem Aufräumen nicht. Sie erzählt davon der Sozialarbeiterin im Familienzentrum. Dabei empfindet sie Scham, denn immerhin sind es sehr private Themen, die sie nun anspricht. Bisher hat sie darüber noch nie gesprochen. Kinderschutz im Kontext der Frühen Hilfen bedarf einer viel stärkeren Einbeziehung von gesellschaftlich erzeugten Benachteiligungsund Lebenslagen von Familien, als dies bisher im Blick ist. Kinderschutz ist daher mehr als (frühe) Hilfen für die einzelnen Familien, er muss bereits auf der strukturellen Ebene ansetzen und für kinder- und familienfreundliche Lebensbedingungen sorgen. Dazu zählen die Bekämpfung von Kinderarmut, der soziale Wohnungsbau und Stadtentwicklung. Soziale Isolation wird auch durch existentielle Unsicherheiten erzeugt, deren Ursprung z. B. fehlendes Einkommen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Ausgrenzung und Stigmatisierung aufgrund äußerer Merkmale der Eltern bzw. der Familie, fehlende Infrastruktur des Nahverkehrs, mangelnde kindliche Umgebung im Stadtteil wie keine oder kaum Grünanla-
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gen bzw. Spielplätze sein können. Durch die Frühen Hilfen wurde jedoch eines deutlich: Kinderschutz geht alle an! Es bedarf mehrerer Berufsgruppen und deren Schulterschlusses, um den Kinderschutz in Deutschland weiter zu verbessern.
Kein Schutz der Kinder bei akuter Kindeswohlgefährdung? Kommt ein Kind gewaltsam zu Tode, ist das grausam und tragisch. Schließlich sind Kinder die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft und von Natur aus auf den Schutz und auf Hilfe durch Erwachsene angewiesen. Diese darf Kindern niemals versagt werden! Wenn dann auch noch die Eltern verantwortlich für den Tod der eigenen Kinder sind, und es sich nicht um ein unglückliches Unfallgeschehen handelte, ist das im Grunde nicht zu verstehen – durch keine Erklärung der Welt. Es werden häufig Fragen gestellt: »Wie konnte es dazu kommen?« »Hat denn keiner aufgepasst?« »Wurde vorher nichts bemerkt?« Wenn Familien, in denen Kinder zu Tode kamen, dann auch noch dem Kinderschutzsystem bereits bekannt sind, steigert sich das Unverständnis ins Unbeschreibliche. »War es nicht genau die Aufgabe des Jugendamts, die Kinder zu beschützen?« »Wurden die Eltern nicht ausreichend kontrolliert?« Das ist aus der Perspektive der äußeren Betrachtung absolut nachvollziehbar. Es ist und bleibt nicht vermittelbar, warum Kinder starben, obwohl die Familie z. B. dem Jugendamt bekannt war, von Familienhelfer_innen in ihrer Wohnung regelmäßig aufgesucht wurden, der/dem Kinderarzt/Kinderärztin oder der Rettungsstelle im Krankenhaus mehrmals vorgestellt wurden, das Familiengericht über den Verbleib der Kinder bei den leiblichen Eltern entschieden hat. Da hilft es auch nicht, statistisch zu argumentieren und zu belegen, dass – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – die Zahl der Kinder unter zehn Jahren, die durch einen tätlichen Angriff zu Tode gekommen sind, in den letzten 25 Jahren um mehr als die Hälfte gesunken ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2018, aber auch → Kapitel 2). Und da nützt auch kein Vergleich mit dem Krankenhaus oder Pflegeheimen und dem Tod von Patient_innen aufgrund der dortigen Missstände oder von Behandlungsfehlern, über die ja auch in den Medien berichtet werden. Argumente dieser Art sind zynisch. Denn der Tod auch nur eines Kindes darf nicht hingenommen werden. Kein Kind darf sterben! Schon gar nicht sprichwörtlich in den Armen der Helfer_innen. Wenn das geschieht, ist es ein Skandal! Berechtigterweise fragt
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die Öffentlichkeit nach den Gründen, die das Geschehene logisch erklären und beweisen, was alles falsch gelaufen ist. wer alles versagt hat und vor allem: wer verantwortlich für den Tod des Kindes ist. Diese Klärungen sind wichtig und richtig, unter anderem, um zukünftig Kinder besser vor einem gewaltvollen Tod zu schützen. Damit so etwas nicht noch einmal passiert. Im Buch von Tsokos und Guddat (2015) werden diese Fälle anschaulich erzählt. Das geht unter die Haut. Die Lektüre bewegt auch gestandene Fachkräfte. Aus der dort geschilderten Perspektive ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Ausgangspunkt ist der Tod bzw. sind schwere körperliche Verletzungen eines Kindes. Die körperlichen Verletzungen können aus medizinischer Sicht diagnostisch eindeutig als Folgen von Gewalt und Misshandlungen nachgewiesen werden. Ebenso die daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen, die sich in – auch dauerhaften oder chronischen – Erkrankungen bzw. dem Tod zeigen. Diesem Ausgangspunkt folgend werden die Verursacher_innen bzw. Täter_innen gesucht. Sind diese die leiblichen Eltern, dann hätte, so die Argumentation, das Kind vorausschauend von diesen getrennt und in einer Pflegefamilie untergebracht werden müssen. Nun werden die Ereignisse, die zu den massiven Verletzungen und ggf. sogar zum Tod des Kindes führen, rekonstruiert. Dabei wird das Geschehen von Beginn an in eine logische Reihenfolge gebracht, an deren Ende die (elterliche) Gewalt am Kind steht. Der Fortgang der Geschichte ist also rückblickend bereits am Anfang bekannt, denn es ist ja offensichtlich, was Schreckliches geschehen ist. Ein Ereignis führt zum anderen, so dass alles Handeln oder Nicht-Handeln der Beteiligten unweigerlich zur Beschädigung des Kindes führt. Eine andere Lesart gibt es nicht und kann es nicht geben, denn die Gewalt am Kind ist ja faktisch geschehen. Berechtigterweise wird gefragt, warum niemand, vor allem die Sozialarbeiter_innen, welche die Familie in der häuslichen Umgebung regelmäßig aufsuchten, nichts erkannt haben oder Anzeichen nicht ernst genug genommen haben. »Hätten diese Fachkräfte nicht versagt, wäre das Kind noch am Leben« – so der logische Schluss. »Es war doch alles sichtbar und damit unverkennbar« – so die Argumentation. Die sozialpädagogischen Fachkräfte müssen ihr professionelles Vorgehen daraufhin schlüssig erklären (vgl. Ackermann 2017). Eines ist klar: Wenn die Situation der Familie eine (bevorstehende) Kindeswohlgefährdung eindeutig erkennen lässt und das Ju-
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gendamt davon Kenntnis erlangt, dann müssen die Kinder vor diesen Gefahren durch das Kinderschutzsystem geschützt werden .Das Jugendamt ist dann herausgefordert, den ›richtigen‹ Weg zum Kinderschutz zu beschreiten. Dabei sind wesentliche Kriterien, dass die konkrete Gefährdung des Wohls von Kindern innerhalb der Familie nicht sofort abgewendet werden kann und die Prognose einer weiteren zukünftigen Gefahr für die Kinder besteht. Das Jugendamt darf einerseits nicht vorschnell oder übermäßig in die Elternverantwortung eingreifen, andererseits aber das Kind auch nicht unzureichend vor Gefahren für sein Wohl schützen. Dies stellt eine Aufgabe dar, deren Erfüllung das (Verfassungs-)Recht mit seinen unbestimmten Rechtsbegriffen der Praxis (Gerichten, Jugendämtern) nicht einfach macht. Diese Fälle kommen täglich in der Praxis vor. Jugendämter nehmen in akuten Fällen, in denen nicht rechtzeitig eine Entscheidung des Familiengerichts erreicht werden kann, die Kinder in ihre Obhut, also weg von den Eltern. Häufig beginnt danach eine intensive sozialpädagogische Arbeit mit den Kindern und den Eltern. Die staatliche Intervention ist also zumeist nicht das Ende, sondern der Anfang oder die Fortsetzung eines auf Ko-Produktion ausgelegten Hilfeprozesses mit den Familien. Diese so eindeutig verlaufenden Fälle stehen nicht in der Presse, denn die Kinder wurden rechtzeitig in Sicherheit gebracht und sind nicht gestorben. Doch häufig stellt sich die Situation in den Familien nicht so eindeutig dar, wie sie in den Fällen von Tsokos und Guddat (2015) nachträglich erzählt wird und wie sie sich Kinderärzt_innen, Sozialarbeiter_innen und Familienrichter_innen wünschen. Dies ist nicht nur der Alltag und die Erkenntnis in den Jugendämtern, sondern auch in den inzwischen an vielen Orten Deutschland gegründeten Kinderschutzambulanzen (vgl. Laaß 2018). Kommt es dann zu Katastrophen, ist die Fehleinschätzung der beteiligten Fachkräfte offenbar. Das tatsächliche Problem dabei wird in zahlreichen Fachbüchern so benannt: Kindeswohlgefährdung kann häufig nicht einmalig ›diagnostiziert‹ und dann ›behandelt‹ werden – mit dem Ergebnis, dass das Kind oder die Familien dann wieder ›gesund‹ sind. Nun argumentieren Tsokos und Guddat (2015), dass eine Gesundung der Familie in diesen Fällen meist gar nicht möglich ist, sondern eine »chronische Krankheit« der »Kindesmisshandlung« (ebd.: S. 100) vorliegt. Die richtige ›Behandlung‹ bestehe also darin, dass das Kind bei den geringsten Anzeichen einer Gefährdung sofort von den leiblichen Eltern getrennt und in einer Pflegefamilie untergebracht bzw.
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adoptiert wird. Auch diese ›Behandlung‹ funktioniert leider nicht sicher. Sie wäre auch (verfassungs-)rechtlich unzulässig, denn Kindeswohlgefährdungen treten in diesen uneindeutigen Fällen nicht einmalig massiv oder chronisch auf. Sie zeigen sich auch zumeist nicht als eine deutliche Erscheinung. Vielmehr sind sie häufig diffus und versteckt. Sie sind eingebettet in komplexe Dynamiken der Familie sowie in sozioökonomische Lebenslagen. Deshalb steht am Ende der Gefährdungseinschätzung, welche die Jugendämter bei den entsprechenden Meldungen vornehmen und dokumentieren, häufig ›latente Kindeswohlgefährdung‹. Es ist eben in vielen Fällen nicht klar nachweisbar, ob es sich tatsächlich um eine Gefährdung des Kindes handelt.2 Die Fakten sind im Fallverlauf nicht eindeutig. Es können lediglich Hypothesen aufgestellt werden, die sich erst im weiteren zeitlichen Verlauf der Ereignisse bestätigen lassen oder verworfen werden müssen. Ausgewiesene Fachkräfte gehen hierbei so vor, dass sie gleichzeitig mehrere denkbar mögliche Hypothesen formulieren und somit auf verschiedene Phänomene vorbereitet sind. Sie sind damit auch in akuten Krisensituationen handlungsfähig. Nur ein handfester Nachweis mit einer klaren Prognose über die weitere Gefährdung des Kindes würde einen staatlichen Eingriff (gemäß § 42 SGB VIII oder § 1666 BGB → Kapitel 5) legitimieren. Deshalb stellt sich die sozialpädagogische Arbeit tatsächlich häufig als eine Gratwanderung dar. Allerdings müssen sich die Fachkräfte letztlich zu einer Entscheidung durchringen, ob ihrer Meinung nach eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, um in einem zweiten Schritt dann zu klären, ob diese durch die Arbeit mit den Eltern oder die Anrufung des Familiengerichts abgewendet werden kann bzw. muss. Wobei die Sozialpädagog_innen zwar Kindeswohlgefährdungen einschät2 | Seit Beginn der statistischen Erhebung der Gefährdungseinschätzungen durch die Jugendämter gemäß § 8a SGB VIII ist eine ungefähre Drittelung hinsichtlich der Ergebnisse dieser Verfahren zu erkennen: Bei rund einem Drittel kommen die Fachkräfte der Jugendämter zu dem Ergebnis, dass eine (akute oder latente) Kindeswohlgefährdung vorliegt, bei einem weiteren Drittel wird dies verneint, aber es wird ein Hilfebedarf empfohlen, und beim letztem Drittel liegt weder das eine noch das andere vor (Kaufhold/ Pothmann 2017). Anmerkung: Die Statistik zählt keine (gefährdeten) Kinder, sondern Verfahren, in denen eingeschätzt wird, ob ein Kind möglicherweise gefährdet ist oder nicht (vgl. ebd.). Im Jahr 2016 wurden knapp 136.900 Gefährdungseinschätzungen durchgeführt; siehe auch → Kapitel 2.
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zen und Prognosen abgegeben, jedoch über keine besonderen professionellen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um reale Lebensgefahren an Körper und Psyche von Kindern und Erwachsenen zu erkennen, die sogar zum Tode führen können. Das ist nämlich etwas deutlich anderes! Sie sind auch nicht per se dazu befugt, zu verlangen, dass Kinder und Jugendliche sich entkleiden, um deren Körper auf Beschädigungen hin zu untersuchen. Hierfür bedarf es staatlich legitimierter Eingriffe in die Rechte von Eltern, die auch nur dann von Familiengerichten gegen den Willen der Eltern angeordnet werden können, wenn eine Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB vorliegt – also bereits gesehen und nachgewiesen wurde. Auch dürfen Fachkräfte nicht ohne das Einverständnis der Sorgeberechtigten mit Minderjährigen zu einem Arzt gehen. Dies wäre nur möglich, wenn Gebote durch Beschluss des Familiengerichts bestehen, welche diesen Eingriff in die elterliche Sorge vornehmen. In vielen Fällen kann aber bereits im Rahmen einer Erörterung der Kindeswohlgefährdung vor dem Familiengericht (§ 157 FamFG) durch den Einsatz richterlicher Autorität erreicht werden, dass Eltern in der notwendigen Weise kooperieren. In der Regel bleiben während des ambulanten Hilfeprozesses der sozialpädagogischen Familienhilfe die Eltern in der Verantwortung, für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Hierzu gehört auch, ihre Kinder zu schützen. Sie verbringen Zeit mit ihren Kindern allein – das ist u. a. ein Sinn von Familie. Sie werden nicht beständig überwacht – das wäre auch nicht der Sinn von Hilfe und rechtlich ein unzulässiger Eingriff. Die Sozialpädagog_innen haben die Aufgabe, im Hilfeprozess Lern-, Reflexions-, Veränderungs- und Entwicklungsprozesse anzuregen. Und sie können die Alltagsbewältigung inklusive der ökonomischen Absicherung der Familien unterstützen. Sie können auch einen hohen sozialen Druck auf Eltern erzeugen und damit Tätigkeiten einfordern. Sie können jedoch nicht an die Stelle der Eltern treten. Aber genau das fordern Tsokos und Guddat (2015) und zunehmend auch einige Strafgerichte: Aus ihrer Sicht haben Sozialpädagog_innen ausschließlich die Aufgabe, Kindeswohlgefährdungen aufzuspüren – also diese zu ermitteln – und dann anstelle der Eltern für die Kinder und deren Wohl zu sorgen. Damit verkennen sie die Rolle und Aufgabe von Familien bzw. der Eltern in der Gesellschaft, die in der Bundesrepublik Deutschland natürlich auch rechtlich geregelt ist (dazu unten mehr). Tsokos und Guddat plädieren auch für eine zügige Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien, ge-
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wissermaßen als per se bessere Lebensorte für Kinder. Nun ist es tatsächlich so, dass ein erheblicher Teil von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien untergebracht wird. Im Jahr 2016 waren es immerhin 74.120 Kinder (vgl. Statistisches Bundesamt 2018). Ohne Frage: Pflegefamilien können für Kinder wichtige und alternative Lebensorte darstellen. Und Pflegeeltern leisten Großartiges! Allerdings hat sich die Pflegefamilie als pauschales ›Rezept‹ für bessere Eltern faktisch nicht bestätigt. Denn ebenso wie Gewalt und Misshandlung in Familien vorkommt, wurde diese in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und in Pflegefamilien nachgewiesen. Das Phänomen der Gewalt an Kindern ist also anders, als Tsokos und Guddat es beschreiben. Es kann nicht auf einzelne zu identifizierende Familien reduziert werden, sondern es betrifft die gesamte Gesellschaft (vgl. Plener/Rodens/Fegert 2016). Es wird massiv öffentlich thematisiert, nicht, weil Gewalt an Kindern zugenommen hat und zunimmt, sondern, weil die Gesellschaft insgesamt gewaltfreier geworden ist und das kindeswohlorientierte Aufwachsen von Kindern zu ihrem Ziel erklärt hat (siehe oben). Das ist eine Errungenschaft und ein hohes humanes Gut! Dies sollte wertgeschätzt werden! Hieraus folgt eine höhere Sensibilität für Kinder und deren Lebenssituation. Und in diesem Zusammenhang werden auch Fakten thematisiert, die lange Zeit tabuisiert waren. Deshalb ist u. a. das Thema ›Schutzkonzepte in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe‹ derzeit ein zentrales im sozialpädagogischen Fachdiskurs – damit es eben in diesen Kontexten nicht zu Gefährdungen des Wohls von Kindern kommt. Es wäre schön, wenn es per se gute und sichere Orte für Kinder gäbe. Dies ist aber leider nicht Realität. Deshalb muss in jedem Kontext sensibel geschaut werden, ob Kinder ausreichend sichere Bedingungen des Aufwachsens erfahren und genügend gut geschützt werden – in Familien, in Pflegefamilien, in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in Internaten und anderen Institutionen, in denen sich Kinder am Tage und über Nacht aufhalten. Das soziale Geschehen im Kinderschutz ist komplex und mehrdimensional und bedeutet: Arbeit in und an Konflikten. Das ist ein harter Job, der wirklich besser bezahlt werden sollte, wie auch Tsokos und Guddat (2015) meinen. Und er braucht Zeit! Denn fehlerhafte Einschätzungen und Entscheidungen können gravierende Folgen haben – nämlich sogar den Tod eines Kindes durch mangelnden Schutz in der eigenen Familie. Darüber sind sich alle einig. Und das
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darf nicht geschehen – obwohl es, und das muss ehrlicherweise gesagt werden, nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden kann. Auch das gehört zur traurigen Wahrheit beim Thema Kinderschutz. Diese zu verkennen wäre größenwahnsinnig.
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5. Das deutsche Kinderschutzsystem einfach erklärt Professioneller Kinderschutz wird in Deutschland durch das Handeln verschiedener Berufsgruppen und auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen realisiert. Diese werden nachfolgend einzeln vorgestellt. Dabei hat jede Berufsgruppe eine jeweils eigene Aufgabe im Kinderschutz, die sich von dem Tätigkeitsbereich der anderen unterscheidet (vgl. Mörsberger 2014). Dennoch bleiben diese Tätigkeiten aufeinander bezogen. Dies bedeutet, dass sich ein wirksamer Kinderschutz nur in der Zusammenarbeit und Kooperation der verschiedenen Akteure realisieren lässt. Sie sind aufeinander angewiesen, damit Einschätzungen zu möglichen Kindeswohlgefährdungen, zur Lebenssituation der Familie sowie über Prognosen zum Schutz der Kinder sicher getroffen werden können.
Wer hat welche Aufgabe im Kinderschutz? Maßgeblich für das Kinderschutzsystem in Deutschland ist das Grundgesetz der Bundesrepublik (GG). Hier heißt es im Artikel 6 Abs. 2: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Und in Artikel 6 Abs. 3: »Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.« Dies bedeutet, dass Eltern die ersten Beschützer ihrer Kinder sind und staatliche Behörden nachrangig (subsidiär) gegenüber den Eltern im Kinderschutz agieren. Eltern sind in der Pflicht, für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen. Das Elternrecht ist im Übrigen das einzige Grundrecht, das Recht und Pflicht zur Ausübung miteinander verbindet: Das Bun-
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desverfassungsgericht spricht deshalb treffend von der Elternverantwortung. Das »Versagen« der Erziehungsberechtigten oder die »Verwahrlosung« der Kinder – ein Begriff, der längst aus der Verfassung getilgt sein sollte – und damit der staatliche Eingriff muss rechtssicher nachgewiesen werden. Die Kinder- und Jugendhilfe hat sehr vielfältige Aufgaben, die im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) – Kinder- und Jugendhilfe – geregelt sind. U. a. muss sie – in Arbeitsteilung mit dem Familiengericht – das im GG formulierte staatliche Wächteramt ausüben. Diese Aufgabe wird vom Jugendamt als der Fachbehörde der jeweiligen Gebietskörperschaft (Landkreis bzw. Stadt als Träger der öffentlichen Jugendhilfe) wahrgenommen. Das staatliche Wächteramt umfasst aber nicht nur die zur Gefahrenabwehr notwendigen Maßnahmen, wie sie insbesondere in den §§ 1, 8a und 42 geregelt sind. Dazu zählt letztlich das gesamte Spektrum von Sozialleistungen im SGB VIII – angefangen bei allgemeinen Angeboten an alle Kinder und alle Eltern bis hin zu Leistungen in spezifischen Lebens- und Erziehungssituationen (Einzelfallhilfen). Es gilt der Grundsatz: Hilfe vor Eingriff. Deutschland hat damit ein hilfeorientiertes sowie familienorientiertes (!) Kinderschutzsystem und kein strafeorientiertes (vgl. Wolff/Biesel/Heinitz 2011). Das ist ein wesentlicher Fakt, auch als Grundlage für Entscheidungen des Familiengerichtes und für sozialpädagogische Tätigkeiten. Die Leistungen, auf welche die Familien einen rechtlichen Anspruch haben, wenn u. a. »eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist« (§ 27 Abs. 1 SGB VIII) richten sich vor allem an die Eltern (konkret: Leistungen der »Hilfen zur Erziehung« gemäß § 27 Abs. 1 i. V. m. §§ 28–35 SGB VIII). Dies mit dem Ziel, dass sie ihre Erziehungsverantwortung (Pflege und Erziehung als Recht und Pflicht) wieder selbst wahrnehmen können und der Staat sich aus der Intervention bzw. Unterstützung zurückziehen kann. Der § 42 SGB VIII regelt die Inobhutnahme. Hier wird dem Jugendamt das Recht und die Pflicht eingeräumt, Minderjährige bei akuter Gefährdung ihres Wohls in Obhut zu nehmen. Diese Intervention der Jugendämter ist auf die Bewältigung einer akuten Krisensituation ausgelegt. So wird im Gesetz geregelt, dass unverzüglich die Personensorgeberechtigten zu informieren sind und das weitere Vorgehen mit diesen abgestimmt werden muss (u. a. Hilfekonferenz gemäß § 36 SGB VIII). Widersprechen die Eltern der Inobhutnahme, müssen die Jugendämter das Kind an diese herausgeben. Wird eingeschätzt, dass dem Kind
5. Das deutsche Kinderschut zsystem einfach erklär t
durch die Herausgabe akute Gefahr droht, muss das Familiengericht über den Aufenthalt des Kindes entscheiden (§ 42 Abs. 3 SGB VIII). Eine Gefährdungseinschätzung muss das Jugendamt im Zusammenwirken mit mehreren Fachkräften vornehmen (§ 8a SGB VIII). In diesem Zusammenhang sind auch Kinderärzt_innen und Rechtsmediziner_innen, aber auch Kitas und Schulen etc. wichtige Partner_innen. Soweit der wirksame Schutz des betroffenen Minderjährigen nicht in Frage gestellt wird, müssen auch die betroffenen Kinder und die Personensorgeberechtigten in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden (§ 8a SGB VIII). Das Familiengericht hat die Aufgabe einzuschätzen, ob eine Kindeswohlgefährdung im juristischen Sinne vorliegt, ob diese von den Personensorgeberechtigten vom Kind abgewendet werden kann und ob diese perspektivisch das Wohl des Kindes sichern können (§§ 1666, 1666a BGB). Als Intervention zum Kinderschutz trifft das Familiengericht lediglich Entscheidungen, welche der Limitierung der Rechte von Eltern dienen bzw. die Ausübung der elterlichen Sorge einschränken. Hierzu kann auch die Erteilung von Auflagen (Geboten) gehören (siehe § 1666 Abs. 3 BGB). Die Entscheidungen des Familiengerichts betreffen vor allem den Aufenthalt des Kindes oder den Entzug der kompletten Personensorge. Die den Eltern entzogenen Teile der elterlichen Sorge überträgt das Familiengericht einem Vormund oder Pfleger (§§ 1773 ff., §§ 1909, 1915 BGB). Zum Vormund oder Pfleger kann eine nahe Bezugsperson des Kindes, aber auch das Jugendamt (Amtsvormund/Amtspfleger) bestellt werden, das dann in einer doppelten Funktion auftritt: als gesetzlicher Vertreter des Mündels anstelle der Eltern und als soziale Leistungsbehörde. Beide Funktionen sind personell und organisatorisch im Jugendamt voneinander zu trennen. Neben Entscheidungen zur Einschränkung bzw. zum Entzug der elterlichen Sorge kann das Familiengericht auch Entscheidungen zur Einschränkung bzw. zum Entzug des Umgangsrechts treffen (§ 1684 BGB). Die Polizei hat die Aufgabe, beim Verdacht oder dem Vorliegen einer Straftat gegenüber Kindern und Jugendlichen zu ermitteln. Eine solche Straftat kann durch Tun oder Unterlassen begangen werden. Dazu zählen auch Straftaten, die sich gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit eines Kindes oder dessen sexuelle Selbstbestimmung richten. Straftaten können deshalb im Einzelfall auch eine Form der Kindeswohlgefährdung sein. Der Polizei obliegt die Strafverfolgung. Zugleich hat sie ein Gewaltmonopol zur Abwehr
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akuter Gefahr. Weiterführende Hilfe für betroffene Kinder leistet die Polizei nicht (sie vermittelt aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten Angebote der Opferhilfe, welche zum Zuge kommen, wenn Anklage erhoben und ein Strafverfahren eröffnet wird). Darüber hinaus leistet die Polizei aber auch Vollzugshilfe für das Jugendamt in solchen Fällen, in denen die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung erforderlich ist. Soweit Kinder und Jugendliche durch die Polizei aus der elterlichen Wohnung mitgenommen werden, werden diese dem Jugendamt zur Inobhutnahme (siehe oben) übergeben. Außerhalb der Öffnungszeiten des Jugendamts übernehmen Kriseneinrichtungen für Minderjährige die Aufgabe der Inobhutnahme. Die Aufgabe der Strafjustiz besteht im Hinblick auf eine Kindeswohlgefährdung in der Klärung der Sachverhalte bei Verdacht auf Straftaten, die sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Selbstbestimmung eines Kindes richten. Des Weiteren ist ihre Aufgabe, ein Urteil zu fällen oder das Verfahren gegen die angeklagte Person einzustellen. Die Strafjustiz befasst sich also mit den Kindern und Jugendlichen als Opfer einer Straftat mit dem Ziel, auf Grundlage des Strafgesetzbuches (StGB) rechtssicher zu entscheiden. Kinderärzt_innen haben im Kinderschutz die präventive Aufgabe, die gesundheitsbezogene Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu begleiten und ggf. medizinische Leistungen zur Behandlung von auftretenden Erkrankungen oder Entwicklungsverzögerungen zu verordnen. Sie nehmen die Kinder regelmäßig bei den Vorsorgeuntersuchungen, zu denen die Eltern eingeladen werden, deren Inanspruchnahme aber freiwillig ist, in Augenschein. Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags sind sie befugt, den Körper des Kindes bzw. Jugendlichen zu überprüfen. Stellen sie hierbei Verletzungen fest, die auf Gewalthandeln zurückzuführen sind, müssen sie zum Schutz der betroffenen Kinder und Jugendlichen tätig werden, d. h. zunächst das Gespräch mit den Eltern suchen und sie zur Inanspruchnahme von Hilfe motivieren. Wenn eine Kindeswohlgefährdung damit nicht abgewendet werden kann, sind sie dazu befugt, das Jugendamt zu informieren. Hierüber müssen sie die Eltern in Kenntnis setzen, es sei denn, sie würden damit das Kind in Gefahr bringen (§ 4 KKG). Rechtsmediziner_innen werden zum Schutz der Kinder und Jugendlichen tätig, wenn Verletzungen bereits geschehen sind und es darum geht, weitere von dem jungen Menschen abzuwenden. Es
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liegt in diesen Fällen bereits ein gewichtiger Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung vor. Rechtsmediziner_innen untersuchen die jungen Menschen am ganzen Körper mit dem Ziel des Nachweises der sichtbaren oder unsichtbaren Verletzungen auf deren Verursachung hin. Dies führt zu einer Einschätzung über die Entstehung der Verletzungen, über eine mögliche Straftat am Minderjährigen und über Prognosen zur Täterschaft. Rechtsmediziner_innen obduzieren auch tote Kinder unter den genannten Gesichtspunkten. Die daraus resultierenden Ergebnisse finden Eingang in die Tätigkeit der Strafjustiz (siehe oben).
Wie funktioniert das System der Kinder- und Jugendhilfe? Eines Tages kommt Frau Müller in Begleitung einer Straßensozialarbeiterin in die Sprechstunde des zuständigen Jugendamts. Frau A, die Sozialarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), erfährt, dass die junge Frau schwanger ist. Frau Müller ist zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt. Frau Müller erzählt, dass sie seit Jahren über kein festes Zuhause verfügt. Sie schläft abwechselnd in Wohnungen von Bekannten und auf der Straße. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Betteln und nutzt auch Orte, an denen es kostenlos Essen gibt. Frau Müller sagt, dass sie ihr Kind bekommen und für das Kind sorgen möchte. Sie wisse nicht, wer der Vater sei. Sie berichtet von verstörenden Erfahrungen während des Lebens auf der Straße, die sie jedoch auf Nachfrage nicht detaillierter präsentiert. Sie berichtet lediglich von Alkohol, Drogen und Gewalt. Frau A berät Frau Müller zu gesundheitlichen Fragen während der Schwangerschaft. Sie vermittelt ihr sofort einen Schlafplatz in einer Wohneinrichtung für Menschen ohne Obdach und stellt den Kontakt zu einer Gynäkologin her. Des Weiteren informiert Frau A über Geburtsvorbereitungskurse und über Wohnungssuche. Sie verabredet zeitnah einen nächsten Termin mit Frau Müller. Das Jugendamt hat generell eine Beratungsverpflichtung gegenüber (werdenden) Eltern und Kindern, der Frau A nachkommt (§ 14 SGB I). Im Fall von Frau Müller geht es zunächst darum, abzuklären, in welcher Lebenssituation sich die junge Frau befindet und welche Kompetenzen, Fähigkeiten und Ressourcen sie tatsächlich hat, um ihre Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben mit ihrem Kind zu realisieren. Auf dieser Basis können geeignete Hilfen zur Unterstützung von Mutter und Kind realisiert werden.
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Zum nächsten Termin erscheint Frau Müller pünktlich und allein. Frau A erkundigt sich nach der aktuellen Wohnsituation und erfährt, dass Frau Müller in der Wohneinrichtung lebt und dort mit den notwendigen Dingen des täglichen Lebens versorgt wurde. Frau Müller wirkt auch entspannter und körperlich gesünder als bei der ersten Begegnung. Sie sagt, dass sie sich aber dauerhaft ein Leben in einer gemeinschaftlichen Einrichtung nicht vorstellen könne. Dazu hätte sie zu lange auf der Straße gelebt. Sie könne gut mit sich allein sein und für sich sorgen. Sie möchte eine eigene Wohnung finden und dort mit ihrem Kind leben. Frau A schlägt vor, gemeinsam ein Genogramm, also eine Übersicht über die Familie in mindestens drei Generationen, zu erstellen. Dies würde ihr ermöglichen, Frau Müller und ihre Vorgeschichte besser kennenzulernen und einzuschätzen. Es wäre auch eine Chance für Frau Müller selbst, über ihr bisheriges Leben nachzudenken und Zusammenhänge besser zu verstehen. Ein Ziel dieses Treffens und weiterer Termine wäre, zu einer Entscheidung zu gelangen, ob Frau Müller das Leben mit Kind in einer eigenen Wohnung bewältigen könne und welche Hilfe sowie Unterstützung sie ggf. dabei braucht. Frau Müller zeigt sich von diesem Vorschlag angetan und ist zur Genogrammarbeit bereit. Sie zeichnet die Mitglieder ihrer Familie auf ein Blatt Papier und erzählt dazu. Frau A erfährt: Frau Müller wurde 1993 als zweites Kind ihrer Eltern geboren. Ihre Schwester Martha ist zwei Jahre älter. Die Familie lebte in einer größeren Stadt in einer Wohnung. Beide Eltern waren berufstätig. Der Familie ging es finanziell gut. Die Kinder besuchten die Kita und wurden altersgemäß eingeschult. Die Familie fuhr jedes Jahr in den Sommerurlaub ins Ausland. Frau Müller entwickelte Freundschaften und erreichte gute schulische Leistungen. In der weiterführenden Schule besuchte sie das Gymnasium. Ihr Berufswunsch war damals Ärztin. Als Frau Müller 14 Jahre alt war, verstarben ihre Eltern in Folge eines Unfalls während einer Bergklettertour. Frau Müller und ihre Schwester Martha waren bei dieser Tour nicht dabei. Sie erfuhren zu Hause von dem Tod der Eltern. Sie wurden in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe untergebracht: Martha in einer Jugendwohngemeinschaft und Frau Müller in einer familienähnlichen Heimeinrichtung. Nach ca. sechs Monaten begann Frau Müller, tageweise nicht mehr zur Schule zu gehen. Sie blieb auch ohne Erlaubnis nachts von der Einrichtung fern und missachtete Absprachen und Regeln der Einrichtung. Nach weiteren sechs Monaten besuchte sie die Schule gar nicht mehr und übernachtete bei Freunden und Bekannten. Sie wurde aus der Heimeinrichtung entlassen. Zu ihrer Schwester hatte sie keinen Kontakt mehr. Während ihrer
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›Trebezeit‹, also als sie ohne Obdach war und auf der Straße lebte, wurde sie mehrmals von der Polizei aufgegriffen. Dann wurde sie in den Jugendnotdienst gebracht. Von dort lief sie jedes Mal wieder weg. Sie wollte auf keinen Fall wieder in einer Jugendhilfeeinrichtung leben müssen. Wie sie jedoch zu einer eigenen Wohnung kommen oder auch die Schule wieder besuchen konnte, das wusste sie nicht. Sie war auch sehr skeptisch allen Sozialarbeiter_innen gegenüber. Nun wundert sie sich über sich selber, dass sie Frau A so viel erzählt. Seitdem sie schwanger ist, wäre vieles auf einmal anders für sie. Gemeinsam mit dem Kind werde sie ein neues Leben schaffen. Als Frau A Frau Müller bittet, von dem Unfall ihrer Eltern, deren Tod und davon, wie sich das Leben damals für sie verändert habe, mehr zu erzählen – dies hatte Frau Müller gleich am Anfang ihrer Erzählung angesprochen –, verstummt Frau Müller und beginnt zu weinen. Darauf hin fragt Frau A nicht detaillierter nach. In dieser Darstellung von Frau Müllers Lebensgeschichte und -situation werden bewusst keine analytischen Betrachtungen vertieft. Der Fokus hier wird auf das Handlungsgeschehen zwischen Frau Müller und der Sozialarbeiterin, Frau A, gelegt. Deutlich werden aber allein aus der Schilderung von Frau Müller die großen biografischen Belastungen durch Ereignisse in der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hinein andauern. Frau Müller bezieht während der Schwangerschaft eine eigene Wohnung und richtet diese mit Blick auf die bevorstehende Geburt ihres Kindes ein. Nach einiger Zeit erhält Frau A einen Hinweis von der Polizei, die von den Nachbarn häufig aufgrund von Ruhestörung ins Haus gerufen wird. In der Wohnung von Frau Müller würden sich häufig, auch nachts, mehrere erwachsene Menschen auf halten und bis tief in die Nacht feiern. Auch der Vermieter der Wohnung wurde bereits informiert. Frau A lädt Frau Müller ins Jugendamt ein. Sie erteilt ihr die Auflage, keinen Besuch in der Wohnung übernachten zu lassen1. Frau A befragt Frau Müller danach, ob sie die Termine bei der Gynäkologin regelmäßig wahrnehmen würde, und nach dem Entwicklungsstand des Kindes. Frau Müller berichtet, dass das Kind gut entwickelt sei und bald 1 | Anmerkung: Das Jugendamt ist nicht befugt, Auflagen zu erteilen. Dennoch kommt dies in der Praxis vor. Die Auflagenerteilung in Form von Geboten obliegt dem Familiengericht.
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der Termin bei der Feindiagnostik sein werde. Sie sagt, dass sie sich auf ihr Kind freue. Frau Müller bringt ein gesundes Kind zur Welt. Sie nennt das Mädchen Elisabeth und lebt mit ihr in der eigenen Wohnung. Elisabeth zeigt sich als ein ruhiges Kind. Zu Beginn ihres Lebens schläft sie auch tagsüber häufig, beginnt dann zu greifen und zu krabbeln und lacht viel. Frau Müller äußert häufig großen Stolz über ihre Tochter. Frau A schätzt die Entwicklung des Kindes und auch die Fürsorge der Mutter gegenüber Elisabeth als sehr gut ein. Nach ca. einem Dreivierteljahr erhält Frau A wiederum eine Mitteilung von der Polizei: Frau Müller habe Anzeige gegen Herrn K erstattet, der sie in ihrer Wohnung verprügelt habe. Frau A lädt Frau Müller ins Jugendamt ein. Sie erfährt von Frau Müller, dass Herr K ein Kumpel sei und es zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre. Inzwischen hätten sie sich jedoch wieder vertragen und sie hätte die Anzeige gegen Herrn K zurückgezogen. Frau A sagt, dass Handgreiflichkeiten unter Erwachsenen eine Gefährdung für Elisabeth darstellen. Sie erteilt Frau Müller die Auflage, dass sie Herrn K aus der Wohnung fern halten solle. Sie schlägt die Unterstützung durch eine sozialpädagogische Familienhilfe vor. Frau Müller willigt ein. Die hier installierte Unterstützung heißt »Hilfe zur Erziehung« (gemäß § 27 Abs. 1 in Verbindung mit § 31 SGB VIII). Sie kann nur realisiert werden, wenn Eltern (bzw. Personensorgeberechtigte) einen Antrag stellen bzw. ihren Willen zur Inanspruchnahme von Hilfe deutlich machen. Es reicht deshalb auch ein mündlicher Antrag. Eine »Hilfe zur Erziehung« ist eine Sozialleistung nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), die bei einem vorliegenden (erzieherischen) Bedarf gewährt wird und geeignet und notwendig sein muss (in der Sprache der Jurist_innen: Die Tatbestandsvoraussetzungen müssen erfüllt sein). Das Jugendamt nimmt den »Antrag« entgegen, klärt zusammen mit den Leistungsberechtigten (Eltern und Kind/Jugendlicher) den Hilfebedarf und entscheidet über den »Antrag«, den es auch ablehnen kann). Der Gesetzgeber geht grundsätzlich davon aus, dass Eltern das Wohl ihres Kindes am Herzen liegt und die meisten von ihnen ihren Erziehungsauftrag auch ohne Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung ausführen können. Eltern können aber auch – insbesondere in prekären Lebenssituationen – mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe überfordert sein. Wenn eine dem Wohl des Kindes oder Ju-
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gendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist, haben Eltern einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung. Es ist also ein erzieherischer Bedarf festzustellen, der von den Eltern selbst nicht gedeckt wird bzw. werden kann. Zur Deckung dieses Bedarfs steht ein breites Spektrum von Hilfeformen zur Verfügung, die das Gesetz nicht abschließend regelt. Es kommen also auch ›maßgeschneiderte Hilfen‹ in Betracht. Dabei handelt es sich wie bereits erwähnt um Sozialleistungen, deren Inanspruchnahme von der Bereitschaft bzw. dem Willen der leistungsberechtigten Personen abhängt. Die »Hilfen zur Erziehung« richten sich immer an Eltern und Kinder und umfassen eine Reihe an sozialpädagogischen Leistungen. Zu diesen gehören Beratung und ambulante Familienhilfe ebenso wie Heimunterbringung als stationäre Hilfeform sowie Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien, sonstigen betreuten Wohnformen wie Wohngemeinschaften und auch soziale Gruppenarbeit (§§ 28–35 SGB VIII) und begleitende Elternarbeit. Diese Leistungen werden grob in ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfen kategorisiert. Die immer noch verbreitete Vorstellung davon, dass das Jugendamt Hilfen ›anordnen‹ kann, ist falsch. Eine Hilfe gegen den Willen der Eltern kann hingegen auf zwei Wegen zustande kommen: • Erstens durch einen hohen sozialen Druck, der durch die Jugendämter auf die Familien ausgeübt wird in dem Sinne, dass ohne die »Hilfen zur Erziehung« beim Familiengericht sofort ein Eingriff in die elterliche Sorge beantragt wird und ggf. die Kinder in Obhut genommen werden. (Inobhutnahme meint die räumliche Trennung der Kinder von den Eltern durch die Intervention des Jugendamts im Rahmen der hoheitlichen Aufgabe des staatlichen Wächteramtes zur sofortigen Abwendung einer Kindeswohlgefährdung.) Zur Abwendung dieser Alternative erklären sich die personensorgeberechtigten Eltern bereit, »Hilfen zur Erziehung« in Anspruch zu nehmen, um weiterhin mit ihren Kindern zusammenleben zu können oder aber einen Aufenthalt des Kindes in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung zu akzeptieren. Diese Motivation wird auch von Fachkräften der Sozialen Arbeit als Chance für die Hilfe angesehen. Im Übrigen erhalten die Eltern die »Hilfen zur Erziehung«, um zu lernen, besser für ihre Kinder zu sorgen. So ist es rechtlich geregelt und deshalb sind es sozialpädagogische Leistungen. Diese umfassen z. B. regelmäßige Beratung oder alltagsbezogene Unterstützung in Form ambulanter
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Familienhilfe, bei einer Unterbringung des Kindes in Pflegefamilien oder in einer Einrichtung auch in Form der Elternarbeit. • Zweitens kann das Jugendamt bei Gefährdungen des Kindeswohls das Familiengericht ohne förmlichen Antrag »anrufen« (§ 8a Abs. 2 SGB VIII). In diesem Fall muss begründet werden, dass eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Wenn das Familiengericht diese Auffassung teilt, dann kann es die Eltern verpflichten, die Gefährdung des Kindeswohls durch die Inanspruchnahme der »Hilfen zur Erziehung« abzuwenden. Da die Voraussetzungen für ein solches Gebot der mangelnde Wille oder die mangelnde Bereitschaft zur Gefahrenabwehr ist, bleiben aber erhebliche Zweifel, ob eine solche Anordnung ein Kind wirksam vor einer weiteren Kindeswohlgefährdung schützen kann. In aller Regel wird das Familiengericht daher den Eltern Teile der elterlichen Sorge oder das komplette Personensorgerecht für die Kinder entziehen. Nun kann bzw. muss der eingesetzte Vormund oder Pfleger – anstelle der Eltern – den Antrag auf »Hilfen zur Erziehung« stellen. Sofern das Jugendamt zum Amtsvormund oder Amtspfleger bestellt ist, muss organisatorisch und personell zwischen seiner Aufgabe als Vertreter des Kindes und der Aufgabe des Jugendamts als Leistungsbehörde unterschieden werden. Anhand dieser knappen Darstellung wird deutlich, wie sehr die Arbeit des Jugendamts an rechtliche Regelungen und (meist auch an interne) Verwaltungsvorschriften gebunden ist. Über den hier genannten Aufgaben des Jugendamts im Hinblick auf die Gewährung von Hilfen zur Erziehung und des Familiengerichts im Hinblick auf die elterliche Sorge steht der Artikel 6 des Grundgesetzes, der den Maßstab für alle Eingriffe in die elterliche Erziehungsverantwortung enthält. In diesem Artikel wird das Verhältnis zwischen Staat, Eltern und Kindern geregelt. Daraus hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen in seiner Rechtsprechung ein Grundrecht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung sowie ein Grundrecht des Kindes auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl abgeleitet (Britz 2014). Daraus leitet sich folgende Aufgabenteilung zwischen Eltern und Staat im Hinblick auf den Kinderschutz ab: Ein Eingriff in den privaten Lebensraum der Familie ist nur und erst an der Schwelle der Kindeswohlgefährdung zulässig. Diese Schwelle und der mangelnde Wille bzw. die mangelnde Bereitschaft der El-
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tern zur Gefahrenabwehr muss vom Familiengericht und nirgendwo anders (!) festgestellt werden. Tatsächlich wird Jugendämtern in der Öffentlichkeit neben dem Vorwurf, Kinder zu spät vor Gefährdungen ihres Wohls in den Familien zu schützen, ein weiterer gemacht: Kinder würden unberechtigt von den Jugendämtern in Obhut genommen und ihrem Elternhaus entrissen. Dabei sollte aber bedacht werden, dass jede Entscheidung von Elementen der Bewertung und Prognose abhängig ist. Sie muss letztlich in einem gewissen Rahmen unsicher bleiben, da zu keinem Zeitpunkt vollständige Informationen, sondern lediglich Ausschnitte, über die familiäre Situation vorliegen. In dieser Ambivalenz bewegt sich die sozialpädagogische Tätigkeit im Jugendamt. Tatsache ist, dass eine Hilfe gegen den Willen der Eltern, die also unfreiwillig zustande kommt (in der Fachwelt wird auch von ›Zwangskontext‹ gesprochen), zunächst unter erschwerten Bedingungen startet. Meist gibt es ungünstige Vorgeschichten, Druck auf die Eltern, Widerstand von Seiten der Familien. Familiengeheimnisse werden unter diesen Voraussetzungen natürlicherweise nicht preisgegeben. Wenn es den Fachkräften dann nicht gelingt, unter diesen Bedingungen einen Zugang zu den Familien resp. den Eltern herzustellen, der ermöglicht, dass die tatsächlichen Schwierigkeiten und Gefahren etc. erkannt, thematisiert und bearbeitet werden, ist die Erbringung von Hilfe chancenlos. Es entstehen dann unehrliche Präsentationen oder ›Versteckspiele‹, welche die Gefahr für Kinder schließlich erhöhen und nicht vermindern. In diesen Zusammenhängen kommt es auch zu Fehleinschätzungen von Fachkräften, welche die Dimension von möglichen Kindeswohlgefährdungen situativ und prozesshaft nicht erfassen. Denn diese werden in einem sozialen Kontext erhoben. Das bedeutet, dass der direkte Kontakt mit den Eltern und den Kindern entscheidend ist, ebenso wie die Frage, wie sich dieser Kontakt gestaltet. Die Antwort zur Verbesserung der Einschätzungen kann nicht darin bestehen, den Erfolg im Kinderschutz durch mehr Kontrolle zu erwarten. Vielmehr geht es darum, vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen mit Familien zu begründen, welche auf grundsätzlicher Wertschätzung von Menschen und solidarischer Unterstützung basieren (Stadtjugendamt Erlangen/Gedik/Wolff 2018). Kommt dies nicht zustande, ist die Hilfe tatsächlich die falsche Maßnahme und der Fortgang der Ereignisse wird gefährlich für Kinder und für Eltern. Dies müssen sich Fachkräfte vergegenwärtigen und entsprechend handeln.
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In dem hier geschilderten Fall ist davon auszugehen, dass Frau Müller in erster Linie unter dem sozialen Druck der Fachkraft vom Jugendamt der Hilfe zugestimmt und ihren Rechtsanspruch auf eine Hilfe zur Erziehung wahrgenommen hat. Es kann davon ausgegangen werden, dass es unter diesen Bedingungen und unter Berücksichtigung der biografischen Erfahrungen von Frau Müller für die Familienhelferin schwer sein wird, tatsächlich einen tragfähigen Kontakt zu ihr aufzubauen. Frau Müller wird sicherlich nur einen Teil ihrer Lebenswelt präsentieren. Ob dieser Ausschnitt ausreichen wird, damit eine Arbeitsbeziehung entsteht, in dem es zu einer Verhaltensänderung bei Frau Müller kommt, bei der auch der Schutz von Elisabeth gewährleistet ist, bleibt abzuwarten. Frau Müller kümmert sich tagsüber um Elisabeth. Sie geht täglich mit ihr spazieren, füttert und wickelt sie. Sie kauft Spielzeug für Elisabeth. Abends kommt häufig Herr K zu Besuch, den sie weiterhin in ihre Wohnung lässt. Manchmal geht sie auch mit Herrn K aus; dies aber nur dann, wenn Elisabeth schläft und sie sicher ist, dass sie nicht aufwachen wird. Elisabeth erkrankt an Bronchitis, die auch Wochen später nicht ausgeheilt ist. Die Familienhelferin berichtet während einer Hilfekonferenz, dass Frau Müller in der Wohnung rauche und dass auch Herr K noch häufig anwesend sei. Frau A verlangt von Frau Müller, das Rauchen in der Wohnung einzustellen, und erinnert an die Auflage Herrn K betreffend. Frau Müller willigt in alles ein. Elisabeth kränkelt weiterhin. Die Polizei informiert Frau A erneut über Beschwerden der Nachbarn in Frau Müllers Haus wegen nächtlicher Ruhestörung. Auch Herr K, den die Nachbarn als sehr bedrohlich erleben, wurde häufig im Haus gesehen. Frau A nimmt Elisabeth in Obhut, das Kind wird in einer Pflegefamilie untergebracht. Frau Müller weint während der Inobhutnahme ihres Kindes. Sie schreit Frau A an und beschimpft sie. Nach der Inobhutnahme lädt Frau A Frau Müller mehrmals ins Jugendamt ein. Ihr Anliegen ist es, Besuche von Frau Müller bei Elisabeth in der Pflegefamilie zu ermöglichen. Frau Müller kommt nicht. Ihre Wohnung hat sie aufgegeben. (Vgl. Haupt 2015, S. 25–35; für die weitere Bearbeitung für dieses Buch wurden fallspezifische Angaben grundlegend anonymisiert, d. h. verfremdet, um keine Rückschlüsse auf Personen und Orte zulassen zu können.)
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Es kann resümiert werden, dass es Frau A gelungen ist, durch die Trennung des Babys von der Mutter dessen Schutz vor einer drohenden massiven Gefährdung, die sich in mehreren Aspekten angedeutet hat, zu gewährleisten. Es ist jedoch nicht gelungen, mit der Mutter eine Arbeitsbeziehung aufzubauen. Diese hätte es ermöglicht, dass die Mutter z. B. hätte erkennen können, wie sie ihr Kind ausreichend vor äußeren Gefahren schützen könnte oder was ihr selbst dabei nicht möglich ist. Denkbar wäre auch, dass sie, unterstützt von den Helfer_innen, der Inobhutnahme und Fremdunterbringung ihres Kindes zugestimmt hätte. Für Elisabeth, die, auch unter den besten Bedingungen in der Pflegefamilie, sich ihrer Herkunft wird versichern müssen (→ Kapitel 4), wäre es langfristig gesehen der bessere Kinderschutz, um die Mutter zu wissen und diese auch zu kennen. Es ist unter Berücksichtigung der lebensgeschichtlichen Erfahrungen und biografischen Belastungen von Frau Müller davon auszugehen, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter aufnehmen wird. Dieses biografische Muster wird sicherlich noch durch die existentiell unsichere Lebenssituation gestützt, in die sich Frau Müller nach der Trennung von ihrem Kind (wieder) begeben wird. Ein zentraler Aspekt im Prozess der »Hilfen zur Erziehung« ist die sogenannte »Hilfeplanung als Grundlage für einen partizipativ gestalteten Hilfeprozess«. Auch diese ist gesetzlich vorgeschrieben und im § 36 SGB VIII geregelt. Die »Hilfeplanung« sieht vor, dass die Lebenssituationen der Familien, ihre Probleme und Bedarfe sowie ihre Vorstellungen zur Verbesserung der Situation für die Fachkräfte zum Dreh- und Angelpunkt ihres eigenen professionellen Handelns werden. Dies bedeutet nicht, dass Fachkräfte einfach nur das machen sollen, was Eltern oder Kinder wünschen oder wollen. Nein! Sie sollen analytisch verstehen, was Familien konkret brauchen, was sie lernen möchten und können sowie worin zentrale Problem- und Notlagen bestehen. Es geht um die Initiierung und Begleitung von Veränderung, damit sich die Situation in den Familien verbessert. Und eins ist klar und wurde empirisch in sehr vielen Studien belegt: Ohne die Aktivität und das (Mit-)Handeln der Familien bleibt alle Hilfe wirkungslos, denn den Erfolg kann nicht allein die Fachkraft mithilfe ihrer fachlichen Kompetenz und persönlichen Haltung herbeiführen. Dazu bedarf es der aktiven Mitarbeit aller am Hilfeprozess beteiligten Personen und ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltensänderung. Eltern und Kinder sind damit nicht einfach nur Hilfeempfänger, sondern – unter fachlicher Anleitung – sich
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selbst Hilfe leistende Personen. Die Hilfe muss in der Lebenswelt der Familien ›andocken‹ – und dann schrittweise die Lebenssituation verbessern helfen u. a. dadurch, dass materielle Notlagen in den Familien abgewendet werden sowie dass Eltern lernen: Lernen, ihre Kinder anders zu sehen als bisher, nämlich grundsätzlich positiv und wertschätzend, und, die Äußerungen ihrer Kinder zu verstehen sowie Konflikte gewaltfrei zu lösen. Hinzu kommen weitere Lernaufgaben z. B. zur Gestaltung der Beziehung zu Partner_innen, zur Nachbarschaft etc. Die Hilfeplanung setzt auf Beteiligung der Leistungsberechtigten. Sie umfasst auch ein Wunsch- und Wahlrecht der Eltern bei der Auswahl geeigneter Hilfen. Eltern und Kinder haben, rechtlich gesichert, während der gesamten Hilfe eine zentrale Stimme. Kinder werden allerdings bisher, wie aktuelle Studien zeigen, noch zu wenig am Hilfeplanverfahren beteiligt (Ackermann/Robin 2014). In der Hilfeplanung geht es auch darum, dass sämtliche Fachkräfte zusammenkommen, um das jeweilige Vorgehen miteinander sinnhaft abzustimmen. Die Entscheidung über die Gewährung der Hilfe, deren Dauer bzw. weiteren Verlauf obliegt letztlich der zuständigen Fachkraft im Jugendamt. Sie soll dabei die Stimme der Familie und anderer Fachkräfte berücksichtigen. Fakt ist: In zahlreichen empirischen Studien der letzten Jahre wurde belegt, dass die Hilfe nur dann erfolgreich (d. h. wirksam) ist, wenn sich die Familien mit dieser in irgendeiner Weise identifizieren können. Dazu müssen sie ins Hilfegeschehen einbezogen und daran beteiligt werden (→ Kapitel 12). Ohne die Mitarbeit der Familien keine gelingende Hilfe. Diese Mitarbeit kann jedoch nicht erzwungen werden. Dann wirkt sie nicht. Unter anderem deshalb ist die in sozialpädagogischen Fachkreisen viel gepriesene Beziehungsarbeit so zentral. Es geht darum, die einzelnen Familienmitglieder im sozialen Kontakt zu erreichen, sie aufzuschließen (d. h. zu motivieren), damit sie ›Lust‹ (psychoanalytisch verstanden) auf die Hilfe haben, die letztlich nur eine Hilfe zur Selbsthilfe sein kann, weil sie nicht auf die sozialpädagogische Leistung der Fachkraft beschränkt sein kann, sondern zu weiten Teilen von den eigenen Aktivitäten abhängt. Wie oben schon angemerkt kann dies in vielen Fällen nicht vorausgesetzt werden, da die Hilfe unter komplizierten und belastenden Umständen beginnt und häufig von den Familien zunächst nicht gewollt wird. So hat sich als ›Türöffner‹ in dieser Situation bewährt, systemisch Folgendes zu fragen: »Wie kann ich Ihnen dabei helfen, mich wieder loszuwerden?« (Vgl. Conen/Cecchin 2016).
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Fazit Kinderschutz kann nicht im Alleingang realisiert werden. Schon gar nicht durch eine Profession, die erst tätig wird, wenn Kinder und Jugendliche bereits zu Schaden gekommen sind! Kinderschutz lässt sich nur in der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure realisieren, die jeweils konkrete Aufgaben wahrnehmen, jedoch aufeinander angewiesen sind. Wie viele Kinder und Jugendliche durch das Kinderschutzsystem, so wie in diesem Kapitel vorgestellt, ›gerettet‹ werden und eben nicht auf dem Tisch der Rechtsmedizin landen, wäre allerdings genauso interessant zu betrachten wie die Aufarbeitung dramatisch verlaufender Kinderschutzfälle. In der Mehrzahl sind es allerdings weder gerettete noch getötete Kinder. Bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durch ein breites Spektrum von Leistungen zu fördern, helfen die verschiedenen Systeme, Berufsgruppen und die dort tätigen Fachkräfte zahlreichen Familien, trotz prekärer Lebensumstände und sozialer Notlagen die Anforderungen des Alltages einigermaßen gelingend zu bewältigen. Dafür verdienen diese und die Fachkräfte Respekt!
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6. Kinderschutzfehler im System Was läuft schief im Kinderschutz?
Die Kinder- und Jugendhilfe ist seit Jahrzehnten sehr selbstkritisch. Die in der Kinder- und Jugendhilfe mehrheitlich tätigen Sozialarbeitenden gehören einer Profession an, die auf Selbstreflexion und Erneuerung großen Wert legt. Spätestens seit den 1970er Jahren mit dem Bekanntwerden massiver Gewalthandlungen an Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung werden in zahlreichen Publikationen die negativen Folgen sozialpädagogisch-fachlichen und institutionell-organisationalen Handelns reflektiert. Diese kritischen Auseinandersetzungen richten bis heute den Blick auf die Rahmenbedingungen, die Verantwortung der Institutionen selbst, aber auch die Gewalt- und Machtverhältnisse in den Einrichtungen und zwischen Erwachsenen und jungen Menschen resp. Familien. Sie haben entscheidend zu Veränderungen der Kinder- und Jugendhilfe beigetragen. Die bis einschließlich 1990 bestehende Praxis der Jugendämter in Westdeutschland, auf der Basis des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) überwiegend ordnungspolitisch in Familien einzugreifen, wenn das Wohl von Kindern und Jugendlichen nicht gewährleistet oder sogar gefährdet war, wurde massiv kritisiert. Bis dahin war es gängige Praxis, junge Menschen sofort von ihren Familien zu trennen, sobald an ihnen körperliche, geistige und/oder seelische Schäden sichtbar wurden und/oder sich soziale Auffälligkeiten zeigten. Die negativen Folgen einer solchen Interventionspraxis für die jungen Menschen – das zeigen Studien und Erfahrungsberichte deutlich – waren und sind zu groß. Viele Kinder und Jugendliche wurden nicht nur in ihren Herkunftsfamilien beschädigt und/ oder traumatisiert, sondern vor allem durch jene eingriffsorientierte Praxis des Hilfesystems, welches sie schützen sollte (vgl. Autorenkollektiv 1978; Wensierski 2006; Page 2006). Stattdessen setzte das damals neue Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) vor allem auf
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primär- und sekundärpräventive Hilfe – auch bei der Nichtgewährleistung des Kindeswohls in den Herkunftsfamilien – und diesbezüglich auf die Zusammenarbeit mit den Eltern und den Kindern resp. Jugendlichen. Ein Fehler des Gesetzgebers? Wohl kaum! Die neuen Regelungen förderten die Inanspruchnahme der Hilfen der Jugendämter durch die Bevölkerung. Sie bewahrten Millionen von Kindern und Jugendlichen vor den Folgeschäden einer massiven Intervention des Kinderschutzsystems. Das (häufig falsch verstandene) Paradigma »ambulant vor stationär« führte nicht zu weniger Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien, Heimen und anderen Formen des betreuten Wohnens. Das Gesetz verlangt zwar die Prüfung, ob der Hilfebedarf im Einzelfall durch eine ambulante Hilfe gedeckt werden kann, weil damit unter anderem auch eine Trennung des Kindes aus seinem sozialen Umfeld vermieden werden kann. Es enthält jedoch keinen Vorrang dieser Hilfeform vor anderen Settings, sondern stellt auf den erzieherischen Bedarf ab. Dieser kann im Einzelfall auch nur durch eine Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses gedeckt werden. Zwar wurden in den letzten Jahren insgesamt mehr ambulante als stationäre Hilfen zur Erziehung eingesetzt. Allerdings stieg die Anzahl der Hilfen insgesamt – sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich – an. Im Jahr 2014 z. B. waren 142.027 Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien und anderen Wohnformen (sogenannten Fremdunterbringungen) untergebracht. Das sind weit mehr als in den letzten Jahren zuvor (vgl. Ackermann 2017, S. 14; AKJStat 2018: S. 12). Die Kosten der ambulanten Hilfen liegen mit über zwei Milliarden Euro weit unter den Kosten für die Fremdunterbringungen, welche im Jahr 2016 auf über sieben Milliarden Euro angestiegen sind (vgl. AKJStat 2018: S. 36). Diese Hilfen ermöglichten es etlichen Familien, eine lebensweltbezogene Hilfe zur Bewältigung von Alltagsanforderungen und Krisen sowie zur Stabilisierung zu nutzen, die es vorher so überhaupt nicht gab (vgl. Macsenaere/Esser 2015). Diese wurden und werden auch dazu genutzt, ggf. eine Trennung der Familie vorzubereiten. Die Kinderund Jugendhilfe ist heute viel präsenter in den Familien und deren Lebenswelt als vor Inkrafttreten des SGB VIII. Und nicht vergessen: Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung sterben deutlich weniger Kinder durch elterliche Gewalt in Familien als vor Inkrafttreten des SGB VIII! Etliche Familien nutzen die »Hilfen zur Erziehung«, da es vor dem Hintergrund einer individualisierten und heterogenen Ge-
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sellschaft – u. a. mit den Anforderungen einer sich zunehmend flexibilisierenden Arbeitswelt oder als alleinerziehende Eltern oder vor dem Hintergrund von Flucht und Migration – immer riskanter wird, den Alltag in Familien zu sichern (vgl. Fendrich/Pothmann/Tabel 2016). Die Expansion der »Hilfen zur Erziehung« seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetztes (SGB VIII) ist vor diesem Hintergrund eine Erfolgsgeschichte. Sie sind inzwischen genauso bedeutsam wie Leistungen des Bildungs- und Gesundheitssystems. Allerdings haben sie bisher bei den betroffenen Familien und innerhalb der Gesellschaft nicht gleichermaßen dieselbe Akzeptanz. Denn soziale Probleme sind immer noch mit einem Makel, einem Stigma, behaftet. Dies ebenso wie die Erkenntnis, als Eltern mit der Erziehung der eigenen Kinder überfordert zu sein oder gar diese durch das eigene Handeln oder das Unterlassen einer notwendigen Fürsorge in ihrem Wohl zu gefährden. Darin liegt ein wesentlicher Fehler des Kinderschutzsystems. Denn es ist derzeit nicht so konstruiert, dass Eltern und Kinder (sofern entwicklungsmäßig dazu in der Lage) rechtzeitig von sich aus Hilfe suchen. Es ist überwiegend auf Hinweise von Außenstehenden angewiesen, welche oft erst sehr spät bemerken, dass es einem Kind schlecht geht und Misshandlung und Vernachlässigung dafür ursächlich ausschlaggebend sein könnten.
Fehlerquellen im Kontakt zu den Familien Das Ziel der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe besteht darin, positive Veränderungen innerhalb der Familiensysteme und damit Verbesserungen für die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen zu erreichen – auch wenn und solange Kinder und Jugendliche nicht in ihren Herkunftsfamilien leben, sondern in Pflegefamilien oder in stationären Einrichtungen. Mit Blick auf die Zukunft der Kinder setzte sich die fachliche Erkenntnis durch, dass in erster Linie Eltern befähigt werden müssen, ihre Kinder ausreichend gut zu versorgen, zu erziehen und zu schützen. Dieser Hilfeansatz kann auch als nachhaltiger Kinderschutz verstanden werden. Er dient aber vor allem der Förderung der Entwicklung und Erziehung der Kinder, wie es im § 1 SGB VIII formuliert ist. Die wesentliche Informationsquelle, um zu erfahren, was in den Familien überhaupt los ist, sind wiederum die Eltern und – nicht zu vergessen – die Kinder. Das gilt auch, wenn es bei der Hilfe zentral um das Thema Kinderschutz
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geht. Denn Kindeswohlgefährdung ist ein soziales Geschehen im jeweiligen Kontext der Familie. Es kann nicht unabhängig von den Handelnden rekonstruiert werden – auch nicht, wenn äußere Verletzungen sichtbar sind. Hinzu kommt: Familie ist eine Blackbox (→ Kapitel 4). Ein tatsächlich gefährdendes Geschehen für Kinder und Jugendliche passiert zumeist nicht in der Öffentlichkeit, nicht vor den Augen der Fachkräfte, sondern im Geheimen. Es ist mit Scham behaftet und wird versteckt – von Eltern und ihren Kindern. Weil alle wissen, dass es falsch ist. Und dennoch passiert es. Kinderschutz ist deshalb keine einfache Aufgabe. Die Gewährleistung von Kinderschutz ist strukturell unsicher – für Fachkräfte ebenso wie für die Familien. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit besteht darin, genau unter diesen unklaren Bedingungen mögliche Gefährdungen von Kindern zu erkennen und zu thematisieren sowie Handlungsalternativen aufzuzeigen. Hierfür sind jedoch neben den Beobachtungen von Fachkräften die Informationen und Einsichten der Eltern und Kinder resp. Jugendlichen entscheidend. Diese sind nicht einfach abfragbar. Es bestehen Vorbehalte von Seiten der Familien gegenüber dem Hilfesystem und auch Ängste. Die Herstellung des Kontaktes zu den Familien und die Gestaltung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung ist kein triviales Geschehen. Es ist hochkomplex, geht mit Widerständen und Konflikten einher und bedarf Zeit und Geduld. Sobald eine Basis des Kontaktes entstanden ist, können Eltern auch auf ihre Unzulänglichkeiten angesprochen werden und können Konfrontation aushalten – dies mit dem Ziel, umzulernen und etwas zu verändern. Oder Kinder und Jugendliche können überhaupt erst einmal äußern, was sie erleben und erleiden müssen. Und es können Kompetenzen, Stärken und Ressourcen der Familien für positive Veränderungen erkannt und gefördert werden – oder eben nicht. Das hier Aufgezeigte ist kein kausales Geschehen. Es ist ein systemisches und realisiert sich prozesshaft. Dies bedeutet: Familien sind lebende Systeme. Sie sind keine Gegenstände, kein Material, welches bearbeitet werden kann. Sie können auch nicht auf nur ein Faktum, z. B. Kinderschutz, reduziert werden, da die Situation von Kindern in Lebens- und Konfliktlagen der Familien eingebettet ist. Lebende Systeme unterliegen Eigenlogiken und Dynamiken. Sie sind von außen nicht steuerbar. Sie sind allerdings beeinflussbar. Von daher kann der Erfolg bzw. das Ergebnis der Hilfe nur im Zusammenspiel der Familie und des Hilfesystems erreicht werden. Beide Seiten müssen in diesem Prozess zusammen tätig werden. Häufig wird dies auch
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als Ko-Produktion bezeichnet. Allein durch die Tatsache, dass sich Kinderschutz auf lebende Systeme – Familien – bezieht, lauert hierin eine wesentliche Fehlerquelle. Diese besteht in der Gestaltung des Kontaktes zwischen dem Kinderschutzsystem und den Familien. Diese würde allerdings auch bei einem schnelleren massiven Vorgehen des Kinderschutzsystems mit weniger Gesprächsangeboten bestehen. Das reflektierte, multiperspektivische Fallverständnis, welches die methodische Basis für die Gestaltung des Kontaktes zu den Familien darstellt, ist die humane Antwort auf eine jahrhundertelange autoritäre Praxis des Helfens. Diese hat viel Schaden bei den Adressat_innen der Hilfe angerichtet – das muss sich vergegenwärtigt werden. Können junge Menschen und auch die Eltern z. B. im Rahmen eines Hilfekonzepts eine räumliche Trennung als sinnvolle Entscheidung ihres Lebens verstehen und akzeptieren, ist der Erfolg der Hilfe und die gesunde Entwicklung der Kinder resp. Jugendlichen wahrscheinlicher als bei einem äußeren Eingriff ohne Akzeptanz der Beteiligten. Hierzu bedarf es des Kontaktes, der Verständigung und des Dialogs.
Nehmen Fachkräfte und Kartelle den Tod von Kindern billigend in Kauf? Tsokos und Guddat (2015) klagen in ihrem Buch »Deutschland misshandelt seine Kinder« das System der Kinder- und Jugendhilfe an. Sie benennen die aus ihrer Sicht darin enthaltenen Fehler. Da wird z. B. benannt: Misshandelnde Eltern oder Stiefeltern seien bereits an ihrem Vornamen erkennbar (ebd.: S. 74), Fachkräfte der ambulanten Familienhilfe seien unzulänglich ausgebildet, setzten auf eine gute Beziehungsarbeit und ließen sich von den Familien etwas vormachen, so dass sie Kindesmisshandlungen nicht rechtzeitig erkennen könnten. Die Fachkräfte in den Jugendämtern seien überaltert und emotional abgestumpft. Die Träger der freien Jugendhilfe verfolgten eigene Interessen und wollten vor allem Geld an den Familien verdienen – etc. etc. Die Kernaussage in all diesen Vorwürfen besteht darin, dass Fachkräfte und Organisationen den Tod von Kindern billigend in Kauf nähmen. Es sei ihnen gewissermaßen egal, ob Kinder versterben. An dieser Stelle sagen wir entschieden: Nein! Wer die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe kennt, weiß, dass genau diese Sorge, nämlich, dass ein Kind zu Tode kommen könnte, die Fachkräfte umtreibt – und dass Fachkräfte aus den Jugendämtern
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überall in Deutschland versuchen, Gefahren und Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen rechtzeitig zu erkennen. Und dies, obwohl sie das Geschehen nur bedingt beeinflussen können, das Hilfesystem tatsächlich unzulänglich ausgestattet ist und sie häufig allein dastehen – ohne Unterstützung (vgl. Beckmann/Ehlting/Klaes 2018). Diejenigen Fachkräfte, die den Tod eines Kindes erlebt haben, setzen sich damit ein Leben lang auseinander. Die Erinnerung und die beständige Frage: »Was habe ich übersehen, was ist falsch gelaufen?«, werden sie nicht mehr los. Wir setzen anders an! Wir sind dabei ebenso deutlich in der Benennung von Fehlern. Denn diese gibt es tatsächlich! Wir sagen jedoch: Es sind nicht Fehler mit System, sondern Fehlerquellen im System der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in anderen Systemen, wie dem Gesundheitswesen. Das ist ein großer Unterschied. Fehler und Fehlerquellen im Kinderschutz wurden in den vergangenen Jahren systematisch analysiert und konkret benannt (vgl. z. B. Fegert/Ziegenhain 2010; Wolff et al. 2013; NZFH 2018). Unter anderem beschäftigt sich das Nationale Zentrum Frühe Hilfen intensiv mit diesem Thema und fördert Prozesse der Qualitätsentwicklung. Damit macht die Kinder- und Jugendhilfe seit dem wachsenden öffentlichen Interesse am Kinderschutz transparent, worin Fehler und Mängel bestehen. Es ist kein Tabu-Thema innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe, sondern nachlesbar.
Bedingungen sozialpädagogischen Fallverstehens Jeder Fall bzw. jede Familie ist anders und muss in der jeweiligen Struktur und Eigenlogik erkannt werden. Es gibt wenige eindeutige äußere Faktoren, die einfach festgestellt und im Sinne des Schutzes der Kinder behoben werden können. Und wenn, dann handelt es sich meistens um diejenigen, die vom Hilfesystem wenig bis kaum beeinflusst werden können: zu kleine Wohnungen, zu geringe Einkommensverhältnisse, fehlende Elternteile, soziale Isolation, fehlende Kontakte innerhalb der Familien, zu Freunden und Nachbarn etc. Nun könnte eingewendet werden, dass zumindest körperliche Gewalt an Kindern eindeutig nachweisbar ist. So argumentieren auch Tsokos und Guddat (2015) und empfehlen flächendeckend eine Fortbildung in rechtsmedizinischen Grundkenntnissen. Nichts gegen solch eine Fortbildung. Fundiertes Wissen in diesem Bereich ist von enormer Bedeutung – und etliche Fachkräfte der Sozialen Arbeit ha-
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ben genau diesbezüglich Qualifizierungsinteresse. Sie nutzen auch gern die in den vergangenen Jahren an mehreren Orten Deutschlands entstandenen Kinderschutzambulanzen und erhoffen sich von der geschulten ärztlichen Expertise gesicherte Erkenntnisse. Aber: Selbst dort resümieren Ärzt_innen, dass anhand der sichtbaren und erfassbaren Symptome häufig nicht eindeutig diagnostizierbar ist, wie und durch wen sie genau verursacht wurden. »In 60 Prozent der Fälle bleibt die Herkunft der Wunden unklar«, resümiert der Leiter einer Kinderschutzambulanz (Sokolow 2018: S. 4). Vor allem sozialpädagogische Fachkräfte müssen die bleibenden Unsicherheiten aushalten. Sie sind gefordert, damit täglich umzugehen. Sie müssen auf einer schmalen Datenbasis, die jeweils nur Ausschnitte aus der Lebenswelt und dem Alltagshandeln der Familien umfassen, prognostizieren und Einschätzungen für die Entwicklungen in der Zukunft geben. Und sie müssen sich, wie alle anderen Professionen im Kinderschutz, auch strafrechtlich dafür verantworten, wenn sie eine Kindeswohlgefährdung feststellen, die von den Eltern nicht abgewehrt wird, und sie dabei ihre fachlichen Sorgfaltspflichten verletzt haben. Dies tun sie als natürliche Person, also ohne Rückhalt durch eine Institution. Die Anklage bezieht sich allerdings nicht per se auf die fachliche Tätigkeit, sondern auf die Verletzung der Garantenpflicht bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch Unterlassen einer gebotenen Handlung, das dann zu einer Rechtsgutsverletzung geführt hat (§ 13 StGB u. z. B. § 222 StGB Fahrlässige Tötung; § 229 StGB Fahrlässige Körperverletzung). Diese strafrechtliche Verantwortung entsteht u. a., weil sozialpädagogische Fachkräfte in der Lebenswelt der Familien tätig sind und damit ggf. auch eine besondere Verantwortung für den Schutz von Kindern übernehmen. Ihr Auftrag besteht aber nicht darin, wie die Polizei Täter_innen in der Familie zu ermitteln, sondern Kindern und Eltern beim Umgang mit Gefährdungssituationen zu helfen! Und Hilfe bedeutet, auf der Basis der Ursachenerforschung alternative Handlungsoptionen zum Schutz der Kinder aufzuzeigen – in der Zusammenarbeit mit Eltern und Kindern. Werden Gefahren und Gefährdungen thematisiert und die Eltern sind bereit, diese von ihren Kindern abzuwenden, reicht es nicht aus, den Beteiligten z. B. zu sagen: »Sie dürfen Ihr Kind nicht schlagen!« und dies in eine Vereinbarung zu schreiben. Das ist wichtig und stellt die erste Intervention dar – das ist klar. Um Gewalthandeln jedoch nachhaltig aufgeben zu können, muss mit Blick auf die bisherige Lebens- und Familiengeschichte
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zunächst danach gesucht werden, unter welchen individuellen und sozialen Bedingungen das gewalttätige Handeln überhaupt entstanden ist und wie es sich dann im weiteren Verlauf entwickelt hat. Erst vor diesem Hintergrund können Handlungsalternativen erarbeitet werden, die auch längerfristig funktionieren. Das ist eine Sisyphusarbeit, die viel Einfühlungsvermögen, Geduld, eine kritische Distanz und eindeutiges Agieren benötigt. Etliche dramatisch verlaufene Fälle im Buch von Tsokos und Guddat (2015) weisen auf akute Stress- und Überforderungssituationen der Eltern hin – auch in der (häufig angestauten) Verwehrung eigener Bedürfnisse. Diese führen schließlich zu massiven aggressiven Ausbrüchen, die sich auch in lebensbedrohlicher Gewalt an den eigenen oder anvertrauten Kindern äußern. Diese Stress- und Überforderungssituation frühzeitig zu erkennen und diesen entgegenzuwirken bleibt das zentrale Ziel sozialpädagogischer Hilfen. Es gelingt häufig, bleibt strukturell jedoch hoch unsicher.
Gelingende Kooperationen Neben den Familien sind jeweils mehrere Fachkräfte aus unterschiedlichen Professionen an der Einschätzung eines Falls beteiligt, die miteinander kommunizieren müssen. Fehler im Kinderschutz entstehen häufig durch mangelnde Verständigung und Kooperationen der Beteiligten und unterschiedliche fachliche Expertisen. Das Kinderschutzsystem wäre zu verbessern, indem Fachkräfte der Jugendämter, Familienhelfer_innen, Familienrichter_innen, Kinderärzt_innen und Hebammen regelmäßig dieselben einschlägigen Fort- und Weiterbildungen besuchen und sich dialogisch darüber verständigen würden – und auch verpflichtet wären, dies innerhalb ihrer regionalen Zuständigkeit gemeinsam zu tun. Denn es kommen zwei wichtige Aspekte hinzu: Erstens werden Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe regional organisiert. Das bedeutet: Sie unterliegen den Entscheidungen der jeweiligen Kommune, zu denen auch die finanziellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Gebietskörperschaft gehören. Dies hat zur Folge, dass sich in Deutschland sehr große Unterschiede zeigen – auch in der Umsetzung rechtlicher Vorgaben zum Kinderschutz. Hier ist es wichtig, dass alle Akteure im Kinderschutz auf kommunaler Ebene voneinander wissen und zusammenarbeiten. Zweitens sind Kinderschutz (als allgemeiner Auftrag) und Kindeswohlgefährdung (als Eingriffsschwelle) keine fest-
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stehenden Größen (d. h. keine klar definierten Begriffe): Sie werden sozial erzeugt bzw. rechtlich definiert und sind jeweils von den aktuellen Werten, Normen, der Lebensführung, dem öffentlichen Diskurs etc. der Gesellschaft abhängig – und verändern sich folgerichtig im Zeitverlauf. So galt in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland noch ein Kind als akut gefährdet, wenn dessen Eltern mit ihm an den Nacktbadestrand gingen. Andererseits war es noch bis zur Jahrhundertwende üblich, in öffentlichen Gebäuden und in Wohnungen in Anwesenheit von Kindern zu rauchen, während verrauchte Familienwohnungen heutzutage eindeutig als für Kinder gesundheitlich gefährdend gelten. Und auch körperliche Gewalt gegenüber Kindern war bis in die jüngere Zeit akzeptiertes Erziehungsmittel und wurde – bis zu einem gewissen Maße – im öffentlichen Raum hingenommen (→ Kapitel 4). Dass sich dies verändert hat, ist ein Verdienst des demokratischen gesellschaftlichen Kontextes der Kinderschutzarbeit sowie der Etablierung von Kinderrechten auch im deutschen Familienrecht. Es gilt also, sich jeweils aktuell darüber zu verständigen, was überhaupt als Kindeswohlgefährdung eingeschätzt wird und wie ein wirksamer Kinderschutz realisiert werden kann. Erst in dieser Auseinandersetzung kann thematisiert werden, was Tsokos und Guddat (2015) kritisieren: dass sichtbare blaue Flecken an Kindern als harmlos eingeschätzt werden, die damit verbundenen Verletzungen jedoch schließlich zum Tode führen (können).
Abhängigkeiten von kommunaler Politik und Ver waltung Ein weiterer zentraler Aspekt in der Beschaffenheit des Kinderschutzsystems ist die Verflechtung der Sozialen Arbeit mit Politik und Verwaltung. Die diesbezüglichen Abhängigkeiten begrenzen sozialpädagogische Möglichkeiten u. a. durch inhaltliche Vorgaben und Schwerpunktsetzungen, durch die Beschränkung des Zugangs von Familien zu Hilfen und anderen sozialstaatlichen Leistungen sowie durch die Reglementierung von Dauer und Umfang von Hilfen. Die damit verbundenen Entscheidungen werden nämlich nicht ausschließlich aufgrund einer sozialpädagogisch-fachlichen Diagnose getroffen, sondern aufgrund der administrativen Bedingungen im jeweiligen Jugendamt, die kommunalpolitisch gesteuert werden. Die Entscheidungen der Verwaltungen über die Hilfen, deren Dauer und die Kostenübernahmen sind im Ergebnis unterschiedlich. Der primäre Grund liegt darin, dass die Ausgaben der Kinder- und
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Jugendhilfe primär den kommunalen Gebietskörperschaften zur Last fallen, deren Einnahmequellen aber sehr stark von den lokalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängen. Diese Praxis wird noch dadurch gefördert, dass das Gesetz bei personenbezogenen sozialen Dienstleistungen – im Unterschied zu Geldleistungen – nicht explizit regeln kann, worauf die einzelnen Leistungsadressaten einen Anspruch haben. Der Leistungsinhalt muss bei Einzelfallhilfen erst gemeinsam festgestellt werden. Das Gesetz muss daher der sozialpädagogischen Praxis (!) Handlungsspielräume lassen, die aber häufig fiskalisch – zur Kosteneinsparung – missbraucht werden. So zeigen sich im bundesdeutschen Vergleich erhebliche Unterschiede – ein System, das im Gesundheitswesen in dieser Ausgestaltung nicht anzutreffen ist. Das ist Realität der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland! In Berlin kann das z. B. sehr gut studiert werden: Bei zwölf Bezirken gibt es zwölf kommunale Jugendämter mit sehr unterschiedlichen Entscheidungsgrundlagen über die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Paradoxerweise steigen bundesweit die Erwartungen der Politik und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit an die Leistungen und Wirkungen der Kinder- und Jugendhilfe, einheitlich für das unversehrte, gesunde Aufwachsen der Kinder zu sorgen und deren Wohl zu gewährleisten, ohne dass sich an der regionalen Disparität etwas verändert. Die Fachkräfte der Sozialen Arbeit sehen sich unter diesen Bedingungen häufig mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert, die ein fundiertes fachliches Handeln erschweren. Ein grundlegender Widerspruch im Kinderschutzsystem besteht aktuell darin, dass ambulante Familienhilfen unter dem Fokus des Kinderschutzes in vielen Kommunen mit einer viel zu geringen Stundenzahl pro Woche realisiert werden sollen und gleichzeitig immer höhere Erwartungen an ihre Qualität sowie ihre Ergebnisse gestellt werden. So war in den 1990er Jahren eine ambulante Familienhilfe zwischen acht und zwölf Fachleistungsstunden pro Woche Standard; in begründeten Fällen sogar mehr. Heute erhalten Familien in ungünstigen Lebenslagen kaum noch Leistungen, obwohl sie ebenso einen sozialrechtlichen Anspruch auf Unterstützung haben wie Familien, bei denen das Wohl der Kinder nicht gewährleistet ist. Bei akutem Kinderschutz hingegen werden z. B. in Berlin inzwischen sechs Fachleistungsstunden pro Woche bewilligt; in manchen Bezirken auch nur 3,5 Stunden pro Woche. Dies bedeutet rein rechnerisch, dass die Familienhelfer_innen die Familie noch nicht mal eine Stunde am Tag sehen können. Wird bedacht, dass ein erheb-
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licher Teil der Familienhilfe die Unterstützung von Lebensgrundlagen wie z. B. Sicherung der Wohnsituation, Suche nach Kitaplätzen, Begleitung bei Schulproblemen, Beantragung von Leistungen wie Unterhalt von abwesenden Elternteilen, staatliche Transferleistungen oder Arbeitssuche umfasst, bei der die sozialpädagogischen Fachkräfte Zeit mit Behördenkontakten und damit außerhalb der Familien verbringen, wird der Zeitmangel deutlich, unter dem die Hilfe stattfindet. Die Vorstellung also, dass sozialpädagogische Fachkräfte ›rund um die Uhr‹ in Familien aus- und eingehen, entspricht nicht der Realität. Eine intensivere Betreuung findet sich allerdings in stationären Settings, in die ganze Familien – also nicht nur die Kinder, sondern auch deren Eltern – aufgenommen werden. Diese familienintegrativen Wohnformen für Kinder und Eltern haben sich in den vergangenen Jahren als Hilfeform u. a. im Kinderschutz bewährt. Ergänzend ein nicht unbedeutender Hinweis: Die hier aufgezeigten Entwicklungen haben auch dazu geführt, dass eine Familie nun oftmals für die Verwaltung ein sogenannter ›Kinderschutzfall‹ sein muss, damit Hilfen überhaupt gewährt werden. Dies führt dazu, dass Familien dieses ›Label‹ erhalten, denn sonst gäbe es keine Unterstützung. Diese Praxis führt aber zu einer veränderten Wahrnehmung bei allen Beteiligten und u. a. dazu, dass Gefahren und Gefährdungen von Kindern nun in fast jeder Familie gesucht und festgestellt werden. Es verändern sich demnach die Sichtweisen auf die Familien und die Konstruktionen von Hilfeleistungen, nicht die konkreten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern. Grundlage sozialpädagogischer Tätigkeit ist, da ist sich die Fachliteratur einig, eine tragfähige Arbeitsbeziehung, die auch Konflikte aushalten kann und in der Eltern mit ihren Handlungen konfrontiert werden können, ohne die Hilfe daraufhin abzubrechen. Der Zugang dazu sind vor allem Beobachtungen und das helfende Gespräch. Neben den zu bewältigenden Alltagsaufgaben wie der Klärung der materiellen Situation der Familie benötigt dies schlichtweg Zeit. Die gegenwärtige Arbeitssituation vieler Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe kann in folgender Metapher präzisiert werden, die Prof. Dr. Barbara Wolf (2018) in den Diskurs einbrachte: Sie erwarten ja auch nicht, dass der Arzt zur OP mal eben das Küchenmesser nimmt, da ihm nichts anderes zur Verfügung steht, und sagt: »Das geht schon.« Leider ist aber genau dies häufig die Situation der Sozialen Arbeit. Deren Fachkräfte müssten sich allerdings viel deutlicher artikulieren und dagegen verwehren. In den vergangenen zwanzig Jahren unterlag das Kinderschutzsys-
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tem massiven Sparmaßnahmen bei gleichzeitiger steigender Inanspruchnahme der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie gestiegenen Erwartungen an die Ergebnisse. Zeitgleich wurde das Kinderschutzsystem mehrmals umstrukturiert, wovon insbesondere die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe betroffen waren. Dies verhinderte Kontinuitäten in der sozialpädagogischen Arbeit und unterbrach Kontakte zu Familien in prekären Lebenssituationen (vgl. Biesel/Wolff 2014). Hinzu kamen in etlichen Kommunen jahrzehntelange sogenannte Einstellungsstopps. Dies führte dazu, dass aktuell und in den nächsten Jahren eine Vielzahl von Fachkräften in die Rente gehen werden, die Einstellung des Nachwuchses jedoch stagniert. Auch diese Situation ist hoch riskant, da es z. B. den Jugendämtern in vielen Kommunen derzeit schlichtweg an Personal fehlt. Hinzu kommt, dass es zunehmend schwer fällt, Fachkräfte der Sozialen Arbeit für eine Tätigkeit im Jugendamt, insbesondere im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), überhaupt zu gewinnen (siehe dazu: Beckmann/Ehlting/Klaes 2018).
Stärkung der Jugendämter Die Jugendämter samt ihrer Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) sind dazu verpflichtet, das staatliche Wächteramt über die Gewährleistung des Kindeswohl auszuüben. Sie sind befugt, Minderjährige in ihre Obhut zu nehmen (gem. § 42 SGB VIII). Sie haben ebenso eine federführende Rolle in der Gewährung von »Hilfen zur Erziehung« (gem. § 27 ff. SGVIII) und der Hilfeplanung (gem. § 36 SGB VIII). Die Art und der Umfang der Hilfen, welche häufig die sogenannten freien Träger der Jugendhilfe realisieren, werden maßgeblich durch die Jugendämter entschieden. Sie haben also vielfältige Aufgaben. Die Fachkräfte der Jugendämter müssen zu Expert_innen des Kinderschutzes werden! Gleichzeitig wäre es aber verfehlt, das gesamte breite Aufgabenspektrum der Kinder- und Jugendhilfe nur noch unter dem Aspekt des Kinderschutzes zu sehen und es dafür zu instrumentalisieren. Kinderschutz muss demnach in einem weiten Verständnis begriffen werden und sowohl Prävention als auch Intervention umfassen (vgl. Wolff 2017). Die Jugendämter sind allerdings in etlichen Kommunen nicht adäquat für die Erledigung der komplexen professionellen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe ausgestattet (vgl. Beckmann/Ehlting/Klaes 2018). Die Arbeitsorganisation
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und die dazugehörigen Ressourcen entsprechen nicht den aktuellen Bedarfen an einer ausreichend guten Sozialen Arbeit. Die Arbeitsbelastung für die Fachkräfte inklusive der zu bearbeitenden Fallzahlen ist zu hoch (vgl. ebd.). Die Einführung von Verfahren des Managements resp. neuen Steuerungsmodellen und von Checklisten zur Gefährdungseinschätzung von Kindern hat zwar zu einer standardisierten Dokumentation, jedoch nicht per se zu einer verbesserten Qualität der fachlichen Arbeit im Kinderschutz geführt. Es besteht die Gefahr, dass in den vorab kategorisierten Checks gewichtige Aspekte übersehen werden, die fallbezogen bedeutsam sind. Auch fehlt es vor allem an Zeit, um sich den Familien tatsächlich gründlich zuzuwenden. Es bedarf umfassender Investitionen im Jugendamt (vgl. z. B. Horcher 2018). Vor allem die Politik – auch die Bundespolitik – muss diesbezüglich in die Verantwortung genommen werden. Die Jugendämter selbst sind gefordert, ihre gesamte Organisation auf die neuen Herausforderungen hin zukunftsweisend aufzustellen. Dies betrifft, soweit internationalen Entwicklungen gefolgt wird, vor allem die Fokussierung auf Kinderrechte und Kinderschutz. Aber auch eine solide Krisenkommunikation und eine beherzte Öffentlichkeitsarbeit werden dringend benötigt. Fachbezogene Herausforderungen: Der Kinderschutz wurde in den vergangenen zehn Jahren zu dem (!) zentralen Paradigma der Kinder- und Jugendhilfe. Mit diesem Thema wird die Soziale Arbeit öffentlich angefragt, in Bezug darauf muss sie ihr Handeln transparent darstellen und sich legitimieren. Der Kinderschutz erfasst in diesem Zusammenhang alle (!) fachlichen Leistungen und Angebote der Prävention und Intervention der Kinder- und Jugendhilfe. Diese hat sich vorher jedoch nicht ausschließlich über den Begriff des Kinderschutzes definiert, sondern über Fragen der Entwicklung, Sozialisation und Erziehung – so, wie dies im SGB VIII angelegt ist. Kinderschutz war dabei eine Aufgabe, aber nicht diejenige, unter der sämtliche Leistungen und Angebote fungierten. Das wird nun anders – ob es gefällt oder nicht. Ob diese Entwicklung abwendbar ist, bleibt bisher offen. In etlichen Jugendämtern Deutschlands blieb allerdings in den letzten Jahren eine fachlich fundierte theoretische und konzeptionelle Praxisentwicklung im familienorientierten Kinderschutz aus. Kinderschutz wurde hingegen auf einen (!) Bereich der Tätigkeit des ASD reduziert. In vielen Kommunen wurden dazu zusätzlich sogenannte Kinderschutzteams gegründet. Deren Tätigkeit flankiert jedoch den Bereich der »Hilfen zur Erziehung« und ist
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strukturell kaum vom ASD abzugrenzen. Dies schafft sogenannte Schnittstellenprobleme innerhalb der Institution Jugendamt als zusätzliche Hürden. Und all diese Entwicklungen realisierten sich in vielen kommunalen Jugendämtern ohne die Übernahme bewährter fachlich fundierter Konzepte und methodischer Zugänge der Kinderschutzarbeit, wie sie außerhalb der Jugendämter z. B. in der Arbeit der Kinderschutz-Zentren und des Kinderschutzbundes seit Jahrzehnten entwickelt werden. Die Fachkräfte der Jugendämter haben in großen Teilen Qualifizierungsbedarf in genau diesen professionellen theoretischen und methodischen Konzepten der Kinderschutzarbeit, um den neuen Anforderungen in diesem Bereich perspektivisch überhaupt entsprechen zu können. Organisationale Herausforderungen: In den Jugendämtern wurden im Zusammenhang mit der ›Neuen Steuerung‹ methodische Zugänge des Managements etabliert, die sich nicht nur auf die administrative Verwaltung, sondern auch auf die sozialpädagogische Tätigkeit auswirkten. So ist ein Effekt dieser Entwicklungen, dass häufig recht schnelle und kurzfristige Lösungen für komplexe Problemlagen von Kindern, Jugendlichen und Familien erwartet werden – dies mit einem hohen Erwartungsdruck an die Ergebnisse. Der Ressourceneinsatz bleibt dabei gering. Erfolge bleiben dann allerdings häufig aus (vgl. Wolff et al. 2013). Hier bedarf es einer Umsteuerung der gesamten Organisation. Die Fachkräfte im Kinderschutz benötigen Zeit, um fallbezogene Zusammenhänge zu erkunden, sie benötigen einen verlässlichen Arbeitszusammenhang im Team, Rückhalt vom Arbeitgeber, eine tragfähige Struktur bei Krisenszenarien und eine zeitgemäße materielle und technische Ausstattung.
Zusammenfassung der Fehlerquellen Zur Vervollständigung hier eine Aufstellung der Fehlerquellen im Kinderschutz, die in der Fachliteratur konkret benannt werden (vgl. NZFH 2018: S. 98–101; Stadtjugendamt Erlangen/Gedik/Wolf 2018: S. 93–96; Wolff et al. 2013: S. 13–17 – eigene Zusammenstellung). Diese betreffen allerdings Jugendämter ebenso wie die beteiligten freien Träger der Jugendhilfe (siehe nachstehende Tabelle 4):
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Tabelle 4: Fehlerquellen im Kinderschutz Fehlerquellen im Kinderschutz Nichtbeachtung gesellschaftlicher Faktoren
Beispiele • Formen neuer Armut von Kindern • soziale Marginalisierung • benachteiligte Lebenslagen von familienunrealistischen Erwartungen an Familien zur Überwindung von Problemlagen • sich ständig verändernde Familiensysteme • belastende Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen aufgrund von Trennungen und Hochstrittigkeit der Eltern, alleinerziehende Elternteile
• Zuschreibungen aufgrund benachteiligter sozialer Fehleinschätzung Kontexte ohne Wahrnehmung guter Bewältigungsim Zugang zu den strategien der Familie Familien und im multiperspektivischen • vorschnelle Stigmatisierung aufgrund psychischer Fallverstehen Beeinträchtigungen von Eltern und Vernachlässigung individueller und sozialer Kompetenzen (→ Kapitel 9) • Reduzierung von Familien mit Fluchterfahrungen und Migrationshintergrund auf kulturelle Unterschiede und sprachliche Verständigungsprobleme anstatt der Herausarbeitung der vorhandenen Sorge der Eltern über das Aufwachsen und das Wohl der Kinder sowie Belastungen durch die sozioökonomische Lebenslage Fehlendes Entgegen- • Vorenthalten von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe wirken der geringen Akzeptanz der Kinder- • fehlende Informationen über Leistungsspektrum schutzarbeit bei den betroffenen Kindern, • keine positive Öffentlichkeitsarbeit (die Jugendämter gelten häufig noch als sogenannte ›KinderklauJugendlichen und behörden‹; dies erschwert den Bürger_innen, die Eltern entsprechenden Hilfen rechtzeitig in Anspruch zu nehmen) Fachbezogene Fehler
• unzureichender Kontakt- und Beziehungsaufbau zu Kindern, Jugendlichen und Eltern – gerade in Konfliktsituationen und bei Widerständen • Vernachlässigung der Sichtweise der Kinder und Jugendlichen • Reduzierung auf ein enges Verständnis von Kinderschutz und Vernachlässigung von dahinterliegenden Dynamiken der Familien und einem multiperspektivischen Fallverständnis • zögerliches oder übermäßiges Eingreifen von Fachkräften bei vermuteter Kindeswohlgefährdung (zu spät oder zu früh agieren)
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Beispiele • fehlende Qualifikationen im Kinderschutz durch Fort- und Weiterbildung • unzureichende Anwendung fachlich-methodischer Kenntnisse • fehlende Teamarbeit • Überlastung durch hohes Fallaufkommen • fehlende Zeit für Fallbearbeitung und ‑reflexion • unzureichende Vorbereitung auf Krisenszenarien
Strukturelle und orga- • Komplexität und Umfang der Aufgaben steigen bei unzureichender Ausstattung mit Personal und nisationale Fehler der Arbeitsplätze, Fallberatungen und Supervision fehlen • hoher Druck • enge hauswirtschaftliche Vorgaben bei gleichzeitiger Verpflichtung zur Realisierung von Rechtsansprüchen • fehlende Unterstützung für Mitarbeitende • unklare Leitungs- und Entscheidungsstrukturen, unzureichende oder gänzliche fehlende Hilfeangebote für Familien in den Kommunen • Fachkräftemangel • Einstellung von Fachkräften ohne Berufserfahrung • hohe Fluktuation von Fachkräften • Nichtthematisierung von Ängsten der Fachkräfte z. B. um ein Kind oder um eine Familie • Verregelungen von Vorgängen • ungewollte Nebenwirkungen von Standardisierungen • fehlende Organisationskultur, welche die fachlichen Aufgaben zum zentralen Ansatz der organisationalen Handelns machen würde Abhängigkeit von Poli- • Schwerpunktsetzung und Ausstattung des Hilfesystems ist von Kommunalpolitik und Verwaltung tik und kommunalen abhängig Entscheidungen • fehlende Kooperation und Vernetzung
Eines muss jedoch deutlich gesagt werden: Fachkräfte der Sozialen Arbeit resp. die der Jugendämter und ihrer ASD sind nicht per se die »Wächter des Kindeswohls« (Tsokos/Guddat 2015: S. 159). Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe resp. der Jugendämter sind in der Rolle, das Kindeswohl für Minderjährige zu sichern, wenn ebendieses durch die sorgeberechtigten Eltern nicht gewährleistet oder
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sogar gefährdet ist. Das ist grundsätzlich etwas anderes, als »Wächter des Kindeswohls« zu sein! Die Sicherung des Kindeswohls erfolgt, wie oben beschrieben, im Kontakt mit, unter Beteiligung von und in einem gemeinsamen Arbeitsprozess mit den sorgeberechtigten Eltern als erste Kinderschützer sowie den Kindern resp. Jugendlichen. Dies folgt bereits aus der im Grundgesetz fixierten Aufgabenverteilung zwischen Eltern und Staat zur Gewährleistung des Kindeswohls und ist auch im Gesetz, im § 8a SGB VIII, so festgelegt. Sollte diese Arbeitsbeziehung nicht gelingen, bleibt ggf. als sofortige Maßnahme die Inobhutnahme der Kinder (s. o.). An diese schließt sich jedoch wiederum ein gemeinsamer Arbeitsprozess mit den Familien an – unabhängig davon, ob die Minderjährigen bei den Eltern räumlich verbleiben oder fremduntergebracht werden. Eltern können (nicht nur in Deutschland) nicht einfach abgelegt werden; sie sind den Kindern ihr Leben lang die einzigen Eltern. Kinder und Eltern bleiben in einer emotionalen und verwandtschaftlichen Beziehung, die wechselseitig verpflichtet. Eltern behalten die Elternverantwortung – auch bei Fremdunterbringung der Kinder und bei einem teilweisen oder vollständigen Entzug der elterlichen Sorge. Es ist stets die staatliche Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Eltern wieder dazu befähigt werden, diese ihre Verantwortung selbst zu tragen. Dies ist in der deutschen Gesetzgebung so geregelt. Häufig müssen die Kinder später als Erwachsene ebenso für ihre Eltern Verantwortung übernehmen; unabhängig davon, wo sie aufgewachsen sind. Dies betrifft z. B. die wechselseitige Unterhaltsverpflichtung. Spätestens wenn Eltern in ein Pflegeheim für ältere Menschen kommen und das Einkommen ihrer Kinder für die dortigen Kosten herangezogen wird, beginnt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Auch deshalb ist es wichtig, Familiensysteme und -dynamiken bereits vorher zu verbessern zu helfen.
Welcher Rahmenbedingungen und welcher Formen der Zusammenarbeit bedarf es, um Kinderschutz trotz seiner Riskanz und hohen Fehleranfälligkeit achtsam und zuverlässig gestalten zu können? Kinderschutz ist eine Aufgabe ganz verschiedener Professionen. Aber Kinderschutz ist vor allem eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe! Wie die Menschen in Deutschland zusammenleben, ob friedlich, in Abgrenzung voneinander oder gar feindselig, entscheidet über das Auf-
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wachsen von Kindern und Jugendlichen. Ob Akteure aus Wirtschaft und (Sozial-)Politik sich für die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen einsetzen und auch monetäre Ressourcen entsprechend umverteilen, ist von herausragender Bedeutung für den Kinderschutz. Kinder und Jugendliche wachsen in Gesellschaften gefahrloser auf, in denen sozioökonomische Sicherungen bestehen und insgesamt wenig Gewalt vorherrscht (vgl. UNICEF 2003). Dies vermögen, bei allem notwendigen Konfliktpotential, offene und demokratische Gesellschaften. Diese sichern die Rechte ihrer Bürger_innen und so auch die Rechte ihrer Kinder – und deren Schutz. Der Rechtsanspruch auf gewaltfreie Erziehung hilft, wie zu Beginn von Kapitel 4 ausgeführt wurde, entscheidend dabei, dass immer mehr Kinder und Jugendliche ohne körperliche Gewalt aufwachsen. In diesem Sinne gilt es, die Gesellschaft weiter in Richtung des Kinderschutzes zu verbessern – nicht mit Waffen, sondern durch einen Schulterschluss aller gesellschaftlichen Akteure. Und dazu gehören gewaltige finanzielle Investitionen, eine solide Ausstattung der Jugendämter, ausreichende Arbeitsbedingungen und eine tragfähige Kooperation aller Beteiligten im Kinderschutz, inklusive der betroffenen Kinder und deren Eltern.
7. Helfen oder Strafen? Kinderschutz und seine Möglichkeiten
Bei Misshandlung und Gewalt gegenüber Kindern werden häufig harte Strafen für die Täter_innen gefordert, so auch bei Tsokos und Guddat (2015). In diesem Zusammenhang bleibt es vielen Menschen unverständlich, dass Strafverfahren unangemessen lange dauern, das Strafgericht den Tathergang und die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei festzustellen hat und allzu oft die Angeklagten schlussendlich freigesprochen werden. Noch unverständlicher ist es vielen, wenn Kinder weiterhin bei den Eltern, die sich bereits strafrechtlich verantworten mussten, verbleiben. Wie kann dies nachvollzogen werden? Und wie verhält es sich beim Kinderschutz im Kontext von Hilfe oder Strafe?
Das Prinzip der Strafe im deutschen Strafrecht Der Rechtsstaat in Deutschland hat allen Bürger_innen gegenüber eine schützende Funktion. Das Prinzip der Strafe unterliegt jedoch neben dem Nachweis der Tatbestandserfüllung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. So hat die Strafe, basierend auf dem staatlichen Strafrecht, nach heutigem Verfassungsverständnis nicht nur eine rein vergeltende Funktion. Sie soll auch einem kriminalpräventiven Zweck dienen, also neue Straftaten verhindern und damit potentielle Opfer schützen. Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 Strafgesetzbuch (StGB) sind deshalb neben der Schuld die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des/der Täters/Täterin in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen. Strafe ist dann gerechtfertigt, »wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist« (BGH; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Des Weiteren gilt der Ultima-ratio-Grundsatz:
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»Wenn Strafe nicht erforderlich ist, kann, wenn sie schädlich ist, sollte nach Möglichkeit auf sie verzichtet werden. Der Staat darf nur dann zum ›scharfen Schwert‹ des Strafrechts greifen, wenn mildere Mittel zum Rechtsgüterschutz nicht ausreichen, woraus ›der Leitgedanke des Vorranges der Prävention vor der Repression‹ (BVerfG) folgt. Schließlich ergibt sich für die Strafverhängung aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, dass unter mehreren, gleich wirksamen Sanktionen nur die den Einzelnen am wenigsten belastende Reaktion verhängt werden darf.« (Best o. J.: o. S.)
Aus der Kriminologie und Soziologie ist bekannt, dass die Inhaftierung von Täter_innen nicht per se zu einer zukünftigen Straffreiheit führt und auch keinen nennenswerten präventiven Einfluss hat (vgl. Peters 2013). Zwar sind potentielle Opfer während der Zeit der Inhaftierung im geschlossenen Strafvollzug geschützt, aber ein/eine schlecht resozialisierte(r) Täter_in, der/die keinerlei Einsicht in das Unrecht seiner/ihrer Tat gewonnen und seine/ihre sozialen Kompetenzen nicht weiterentwickelt hat, hat eine ungleich höhere Rückfallwahrscheinlichkeit. Dies kann zu neuen Opfern führen. Solch eine Strafrechtsanwendung dient nicht dem Opferschutz. Sie bleibt eine symbolische Machtdemonstration des Staates. Diskutiert wird des Weiteren, dass das Strafrecht und das Strafen Mittel des sozialen Ausschlusses und der sozialen Spaltung sind sowie der Niederhaltung und Unsichtbarmachung unterer sozialer Schichten dienen, zur Dramatisierung von Kriminalität eingesetzt werden und so politische Herrschaft festigen (ebd.: 47). Hinzu kommt die Fokussierung auf das Individuum in der Übernahme individueller Verantwortung für Abweichungen und Straftaten.
Strafen bei Kindeswohlgefährdungen Nun ist das Strafgesetzbuch (StGB) in Deutschland z. B. bezüglich der »Mißhandlung an Schutzbefohlenen« (§ 225 StGB) eindeutig und mit einem hohen Strafmaß an Freiheitsstrafe ausgestattet. Weitere strafrechtlich relevante Formen von Kindeswohlgefährdungen finden sich neben den allgemeinen Tatbeständen Körperverletzung, Totschlag oder Mord in folgenden Paragrafen: sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB); sexueller Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB); sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB); Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180 StGB); Verletzung der Fürsorge oder Erziehungspflicht (§ 171
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StGB). Von Seiten des Staates ist also vorgesehen, dass Gefährdungen des Wohls von Kindern strafrechtlich verfolgt und mit Strafen geahndet werden. Bei Straftaten innerhalb von Familien gibt es Opfer und Täter. Aber nicht nur. Es gibt auch Eltern und Kinder, die in einem Beziehungsgeschehen und insbesondere in Konflikt- und Krisensituationen miteinander interagieren. Sie können sich zwar räumlich voneinander trennen, aber emotional und verwandtschaftlich in der Regel nicht. Marvin wurde im Alter von zwei Jahren von seinem Vater über längere Zeit schwer misshandelt. Der Vater nahm damals den Jungen regelmäßig beiseite, legte ihn in sein Kinderbettchen und begann, auf ihn einzuschlagen. Dabei wurde er immer aggressiver. Woher die Wut kam, die er an dem Kind abließ, blieb nicht nachvollziehbar. Marvin zeigte damals zunehmend sichtbare Spuren dieser Gewaltexzesse, die den Erzieherinnen in der Kita auffielen. Nach Gesprächen mit der Mutter deckte diese das Gewalthandeln des Vaters an Marvin auf. Sie zeigte den Vater bei der Polizei an, verwies ihn der Wohnung und trennte sich von ihm. Der Vater wurde vom Strafgericht aufgrund der massiven Körperverletzung von Marvin verurteilt. Er saß die Strafe im Gefängnis ab. Die Mutter kümmerte sich liebevoll um ihren Sohn. Marvin erhielt intensive ärztliche Behandlungen und verschiedene Therapien, die ihm Hilfestellung bei der Gesundung gaben. Als Marvin sechs Jahre alt war, äußerte er den Wunsch, seinen Vater wieder zu sehen. Er wusste, was dieser ihm angetan hatte. Dennoch blieb er beharrlich dabei, dass er Kontakt zu seinem Vater haben und mit diesem Zeit verbringen möchte. Seine Mutter wendete sich darauf hin an die Erziehungs- und Familienberatung des Jugendamts mit der Frage, was sie nun tun solle. Wenn die bisherigen Kenntnisse über Gewalt und Misshandlung in Familien die »Spitze des Eisberges« (Fegert 2018) sind, dann handelt es sich um ein kollektives Problem und nicht ausschließlich um individuelles Versagen von Eltern. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die sozioökonomischen Faktoren sowie die Lebenslagen der Menschen mit in den Blick zu nehmen. In Anbetracht wachsender Armutslagen in Deutschland und vor allem der in den letzten Jahren dramatisch angestiegenen Kinderarmut wird dieser Aspekt zunehmend an Bedeutung gewinnen. Der Kinderschutzforscher Leroy H. Pelton (1991; 2016) belegte wiederholt anhand vorliegender empirischer Daten für die amerikanische Gesellschaft, dass Kin-
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desmisshandlungen häufig mit Armutslagen einhergehen. Obwohl Kindeswohlgefährdungen, wie immer wieder öffentlich betont wird, in allen sozialen Schichten vorkommen, sind ihre Anzahl und ihr Ausmaß in unteren Schichten und in benachteiligten Lebenslagen deutlich höher – nicht, weil hier mehr Eltern versagen, sondern weil die Lebensbedingungen der Familien per se kindeswohlgefährdend sind. »Um es noch deutlicher zu formulieren: Die Armutsbedingungen, wie z. B. die Beeinträchtigung von Gesundheit und Sicherheit in den Wohnungen ebenso wie in der Nachbarschaft, stellt (sic!) eine direkte Gefährdung von Kindern dar und dennoch beschuldigt man die Eltern, daß sie ihre Kinder vor solchen Bedingungen nicht ausreichend schützen. Auf diese Weise wird in unserem System jedoch mit zweierlei Maß gemessen, indem nämlich von in Armut lebenden Eltern implizit erwartet wird, daß sie viel weitergehend und sorgsamer ihren Aufsichtspflichten nachkommen als Mittelschichteltern, denn ein viel größeres Ausmaß an Schutz ist nötig, um Kinder vor den gefährlichen Bedingungen der Armut zu schützen als vor den relativ sicheren Lebensverhältnissen in einer Mittelschichtwohnung oder in Mittelschichtnachbarschaften.« (Ebd.: S. 3)
Diese Ausführungen verweisen auf den sozialen Kontext von Kindeswohlgefährdungen, der auch in Deutschland eine entsprechende Beachtung erhalten müsste. Deshalb fängt der Kinderschutz nicht erst bei der Abwendung einer individuellen Kindeswohlgefährdung an, sondern erstreckt sich auf das gesamte staatliche Handeln, das Auswirkungen auf die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen hat. Pelton fordert einen präventiven und unterstützenden Ansatz in der Kinderschutzarbeit im Gegensatz zu ermittelnden Gefährdungseinschätzungen und der Strafverfolgung einzelner Täter_innen. Präventiv deshalb, weil es entscheidend sei, dass Familien früh genug und rechtzeitig die Angebote und Leistungen des Kinderschutzsystems nutzen. Dies könne nur gelingen, wenn sie überwiegend selbst und freiwillig kommen, bevor etwas Schlimmes geschieht. Das Kinderschutzsystem sollte sie dann ohne Schuldzuweisungen und Vorverurteilungen, sondern wertschätzend und hilfeorientiert aufnehmen. Er schlägt vor, die Kinderschutzarbeit so zu gestalten, dass sie dem Abbau sozialer Benachteiligungen dient. Erforderlich wären aus seiner Sicht konkrete Hilfeleistungen wie z. B. die Siche-
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rung eines Grundeinkommens, eine nachhaltige Wohnhilfe, Hilfen zur beruflichen Qualifizierung und zur Beschäftigungssicherung, Elternbildung und Erziehungscoaching, umfassende und kostenlose Kindertageserziehung, Hilfen zur Erziehung, Beratung und Therapie (vgl. Wolff 2018: S. 15). Des Weiteren fordert er im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen eine deutliche Aufgabenteilung zwischen Sozialer Arbeit und Polizei. »Schwere Formen der Kindesmißhandlung mit einer klaren und deutlichen elterlichen Verantwortlichkeit und Schuld sollten als ein Problem der Polizei behandelt werden, ohne das täuschende Cover eines ›sozialen Dienstes.‹« (Pelton 1991: S. 6) In Deutschland ist es Aufgabe der Polizei, Anzeigen entgegenzunehmen und strafrechtlich zu ermitteln. An die Soziale Arbeit wird zunehmend von verschiedenen Stellen die Erwartung herangetragen, ebenso Ermittlungsarbeit im Kinderschutz zu leisten. Die Aufgabe Sozialer Arbeit im Kinderschutz ist es aber, Hilfe zu leisten – und sonst nichts (vgl. Wolff 2018: S. 10). Im Kinderschutz stellt sich für die Fachkräfte dennoch wiederkehrend die Frage: Wann muss zum Schutz in ihrem Wohl gefährdeter Kinder die Polizei hinzugezogen werden? Dabei geht es um die Frage, ob und in welchen Fällen die Polizei sogenannte Amts- oder Vollzugshilfe leisten, also unmittelbaren Zwang anwenden muss, damit die sozialpädagogischen Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe ihre Aufgaben zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung wahrnehmen können.
Möglichkeiten des Kinderschutzes im Kontext von Hilfe und Strafe Grundsätzlich hilft es Kindern und Jugendlichen, wenn Eltern damit aufhören, sie zu misshandeln und/oder sie zu vernachlässigen. Das wünschen sich die Kinder von ihren Eltern. Die Kinder wollen zumeist keine anderen Eltern. Sie wollen, dass ihre Eltern sich verändern. Sie hoffen z. B., dass ihre Eltern aufhören Alkohol zu trinken und dadurch nicht mehr aggressiv und gewalttätig werden. Sie hoffen, dass ihre Eltern sich nicht mehr streiten u. a. auch bei Trennung und Scheidung, dass sie sich nicht lautstark äußern und schreien, wenn sie sich in Erziehungsfragen uneinig sind. In der Kinderschutzarbeit gilt, dass die am wenigsten schädlichste Alternative für die zukünftige Entwicklung des Kindes die geeignetste ist (vgl. Goldstein/Freud/Solnit 1974: S. 49–57; dies.
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1982: S. 17). Dies ist vor dem traurigen Hintergrund zu verstehen, dass Kinder und Jugendliche sich mit den Folgen von Kindeswohlgefährdung ein Leben lang auseinandersetzen müssen. Die Ereignisse und daraus entstandenen Belastungen können nicht ungeschehen gemacht werden. Sie können auch nicht im Sinne einer Gesundung vollständig therapiert werden. Die jungen Menschen müssen lernen, damit möglichst ohne nachhaltig belastende Symptomatiken zu leben. Hierbei können sie konkret unterstützt werden. Vor diesem Hintergrund gibt es Fälle, bei denen die Anzeige und Strafverfolgung des schädigenden Elternteils bzw. der Eltern für den Schutz des Kindes angemessen ist. Zum Beispiel, um ein Kind bzw. Kinder vor konkreter sich wiederholender Gewalt zu schützen bzw. diese im Vorfeld abzuwenden. Erfahrene Fachkräfte wissen, dass damit das Geschehen in der Familie nicht beendet ist, sondern maximal für eine gewisse Zeit gestoppt wird. Die Auseinandersetzung mit dem misshandelnden Geschehen bleibt die Aufgabe der beteiligten Familienmitglieder. Und die polizeilichen Ermittlungen sowie ein Strafverfahren stellen eine große Belastung für die kindlichen Zeugen dar. »Insbesondere Aussagen gegen die eigenen Eltern stürzen Kinder oft in schwere Schuldgefühle und Loyalitätskonflikte.« (Kinderschutz-Zentrum 2009: S. 104) Es gibt ebenso Fälle, bei denen eine Anzeige und Strafverfolgung unangemessen ist. Sie würde den betroffenen Kindern nicht helfen und den Familien schaden sowie deren soziale Ausgrenzung manifestieren. Denkbar sind Fälle, in denen Eltern einsehen, dass sie sich kindeswohlgefährdend verhalten und unmittelbar den Schutz ihrer Kinder mit Hilfe von außen sicherstellen. Deshalb geht es immer um fallbezogene Entscheidungen und nicht um Generalisierungen. Und deshalb besteht in Deutschland eine Anzeigepflicht auch nur im Hinblick auf bevorstehende (!) schwere Straftaten (→ Kapitel 8). Häufig bleiben Kinder ihren sie schädigenden Eltern sehr verbunden, entschuldigen deren Handeln und schützen sie vor Strafverfolgung. Die zwölfjährige Mara hat häufig Streit mit ihrer Mutter. Sie fühlt sich durch ihre Mutter nicht verstanden. Es soll immer das geschehen, was die Mutter möchte. Dabei würde sie so gern auch mal Vorschläge z. B. zur Gestaltung des Wochenendes machen. Eines Tages eskaliert es zwischen Mutter und Tochter. Beide werden handgreiflich. In dieser Auseinan-
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dersetzung greift Maras Mutter einen Holzpantoffel und schlägt damit auf Mara ein. Mara gelingt es, telefonisch den Notruf zu wählen. Als die Polizei an der Tür klingelt, haben sich Mutter und Tochter bereits etwas beruhigt. Dennoch ist Mara außer sich über das Geschehene. Die Polizisten hören sich die Schilderung von Mara an. Sie sehen an Mara keine Verletzungen und Mara lehnt es ab, in ein Krankenhaus mitzukommen. Es wird eine Anzeige aufgenommen. Als Mara einige Zeit später zur polizeilichen Vernehmung vorgeladen wird, äußert sie, dass alles nicht so schlimm gewesen sei. Sie verneint, dass ihre Mutter sie geschlagen hat und meint, sie beide wären an dem Tag nur sehr aufgeregt gewesen. Das Ermittlungsverfahren wird nach einiger Zeit eingestellt. Manchmal gibt es aber auch Kinder, die ihre Eltern hassen, die Rache und Vergeltung möchten. Verbleiben die Kinder in solch einer Phase und erhalten bei deren Bewältigung keine Unterstützung, wird eine weitere gesunde Entwicklung behindert. Auch diese emotionalen Zustände verweisen auf Dynamiken und ein Beziehungsgeschehen zwischen Kindern und Eltern (vgl. Redl/Wineman 1984). Es bleibt dabei: Kinder wollen ihre Eltern und wollen, dass diese ihnen tatsächlich Eltern sind, also dass sie die Verantwortung und Pflichten der Sorgeberechtigten übernehmen und einen Alltag und ein Erziehungsgeschehen ohne Gewalt und Gefährdungen ermöglichen. Wenn die Eltern in ihrer Elternrolle nicht zur Verfügung stehen, bleibt dies für die Kinder belastend. Die Situation wird für die Kinder nicht grundsätzlich gut, wenn die Eltern bestraft werden oder sogar inhaftiert sind – auch wenn dies der Abwehr einer akuten Gefahr dient. Eine Inhaftierung der Eltern bzw. eines Elternteils ist z. B. immer mit einer Trennung des Kindes von den Eltern verbunden und es stellt sich bei einer Inhaftierung beider Eltern die Frage nach einem neuen Lebensort für das Kind. Mit Blick auf die davon betroffenen Kinder können daraus Entwicklungsgefährdungen resultieren, welche nicht einfach zu bearbeiten sind. Denn auch wenn Kinder verstehen, dass es keine Alternative gab, bleibt die Trauer oder auch Wut über den Verlust der Eltern und ein Unverständnis darüber, dass diese ihnen keine besseren Eltern waren (vgl. zusammenfassend Heynen/Zahradnik 2017). Wir sind nicht pauschal für oder gegen eine Strafverfolgung von misshandelnden und/oder vernachlässigenden Eltern. Allerdings zielt das Strafrecht auf die Bestrafung der/des Täterin/Täters und nicht – primär – auf den Schutz des Opfers bzw. die Hilfe für das
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Kind oder den Jugendlichen. Und eine Bestrafung ist immer nur dann möglich, wenn fundierte Beweise vorliegen, die einer Tat eindeutig zugeordnet werden können. Im Fall, dass die Beweise nicht ausreichend sind, kann dies schwerwiegende Folgen für das davon betroffene Kind haben, vor allem wenn es das Gefühl vermittelt bekommt, dass ihm nicht geglaubt wird und es keine Gerechtigkeit erfährt. Wir plädieren daher für eine besonnene Einschätzung der konkreten Situation in der Familie durch die dafür zuständigen Sozialarbeitenden in Jugendämtern, zumeist tätig in Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD). Denn diese haben die Aufgabe abzuklären, welche Hilfen Kinder tatsächlich benötigen und ob die Polizei zu ihrem Schutz oder zum Schutz anderer in ihrem Wohl bedrohter Kinder involviert werden muss. Überdies kann auch das Familiengericht im Fall einer Kindeswohlgefährdung auch bei ›nur‹ begründetem Verdacht auf straf bares Handeln gegen den Willen der Eltern Maßnahmen zum Opferschutz ergreifen (wie z. B. die akute, forensisch korrekte Befunderhebung und Sicherung von Beweismitteln, die später zur Strafverfolgung herangezogen werden können – aber nicht müssen). Der 10-jährige Andreas ruft von zu Hause die Polizei an und schildert, dass seine Mutter ihm kein Abendessen machen würde. Nach einer halben Stunde kommt eine Polizeistreife vorbei, findet eine freundliche Mutter, eine ordentlich aufgeräumte Wohnung und auch Essen im Kühlschrank vor. Die Polizistin gibt Andreas zu verstehen, dass sie seine Anzeige nicht ernst nimmt, immerhin könne er sich selbst Essen aus dem Kühlschrank nehmen. Sie kündigt aber an, dem zuständigen Jugendamt entsprechend eine Meldung zu machen. Auf Einladung erscheinen Andreas und seine Mutter im Jugendamt. Andreas schildert, dass er häufig nichts zu essen erhält und es ihm verboten sei, an den Kühlschrank zu gehen. Die Mutter streitet seine Vorwürfe ab. Die Sozialarbeiterin sagt darauf hin, dass sie unabhängig davon, wer nun recht hat, den beiden eine Familienberatung anbietet, durch die das Zusammenleben zwischen Mutter und Sohn zufriedenstellender verlaufen könne. Kinder und Jugendliche müssen wissen, wo und wie sie konkrete Hilfe und Unterstützung erhalten. Sie benötigen einen niedrigschwelligen Zugang ins Kinderschutzsystem. Häufig ist tatsächlich die Polizei die erste Anlaufstelle für junge Menschen. Hier erhalten sie Informationen und Adressen von Einrichtungen, die konkrete
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Hilfe anbieten oder diese vermitteln. Aber auch Kitas und Schulen gehören zu den ersten Adressaten der jungen Menschen. Häufig machen Kinder und Jugendliche so wie Andreas die Erfahrung, dass ihnen nicht geglaubt wird. Sie erfahren keine Wertschätzung als Person und keine Wahrnehmung ihrer Lebenssituation. Damit werden sie auf ihre Familien zurückverwiesen und erhalten keine Hilfe. Gerade wenn die äußeren Anzeichen nicht auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten, werden junge Menschen von Erwachsenen in ihrer Not allein gelassen, obwohl sie jahrelang andauerndes Leid erfahren (vgl. Schlegel 2018). Hilfreich ist das direkte Gespräch mit dem Kind resp. dem Jugendlichen und seinen Eltern. Dieses beginnt zunächst mit dem Zuhören, damit sich ein Eindruck aus der Perspektive der Betroffenen über die Situation verschafft werden kann. Dieses Zuhören und ein Gespräch sollten diejenigen übernehmen, die im Alltag u. a. in Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen mit den jungen Menschen im Kontakt sind. Das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), konkret das darin enthaltene Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), hat zum Anliegen, genau diese Akteure in die Verantwortung zu nehmen. Es geht darum, für die betroffenen Familien Ansprechpartner zu sein. Sie sollen nicht durch Meldungen und Anzeigen an andere Institutionen verwiesen und damit in der konkreten Situation auf sich gestellt bleiben. Häufig können durch diese Erstkontakte bereits Unterstützungen gefunden und Verbesserungen im Umfeld des Kindes erreicht werden. Gelingt dies nicht, ist das zuständige Jugendamt Ansprechpartner. Dann ist es Aufgabe der dort tätigen Fachkräfte, zu entscheiden, was getan werden muss, um Kindeswohlgefährdungen abzuwenden. Sie nehmen hierfür Gefährdungseinschätzungen vor, organisieren Hilfeplanungsprozesse und gewähren oder vermitteln Hilfe (→ Kapitel 4). Es ist also nicht ihre Aufgabe, nach Tatmotiven oder Beweisen zu suchen. Vielmehr besteht ihr Interesse darin, dass z. B. ein Vater, der sein Kind schlägt, davon ablässt und erkennt, dass es besser ist, ein sorgender, guter Vater zu sein. Und es ist die Aufgabe der Fachkräfte, mit ihrem Wissen und ihren Möglichkeiten genau dieses Ziel zu erreichen. Das wird, und das ist den Professionellen klar, nicht immer gelingen, aber in den meisten Fällen gelingt das sehr wohl. Die meisten Eltern können ihre Lage als bedenklich erkennen und Hilfe und Unterstützung annehmen. Einige wenige können das nicht. Dann sind die Möglichkeiten des Jugendamts und der freien Träger der Jugendhil-
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fe begrenzt. In solchen Fällen muss ggf. die Polizei hinzugezogen oder das Familiengericht angerufen werden, um gerichtliche Maßnahmen zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung ergreifen zu können (→ Kapitel 5).
8. Schweigen die Ärzte wirklich? Argumente für und gegen eine generelle Melde- und Reaktionspflicht bei Kindeswohlgefährdungen
Ärzt_innen schweigen zu oft, wenn sie Kinder sehen, die von ihren Eltern misshandelt und vernachlässigt wurden. Das jedenfalls behaupten Tsokos und Guddat (2015). Sie seien ihrer Auffassung nach daran interessiert, Eltern nicht als Patient_innen zu verlieren. Sie wollen nicht dafür bekannt sein, dass sie Eltern an die Behörden verpfeifen. Dies träfe vor allem für niedergelassene Kinder- und Jugendärzt_innen zu. Doch verweigern diese im Verdachtsfall tatsächlich die Kooperation mit dem Jugendamt oder der Polizei? Schweigen sie wirklich? Was spricht für und gegen eine generelle Meldepflicht bei Kindeswohlgefährdungen? Ist eine ärztliche Reaktionspflicht tatsächlich das Mittel der Wahl?
Ist die ärztliche Schweigepflicht Ursache allen Übels? Spätestens seit 2012 ist gesetzlich eindeutig geregelt, wie mit vermuteten Kindeswohlgefährdungen umzugehen ist. Mit der Etablierung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) – bestehend aus sechs Artikeln – wurde auch ein neues Gesetz geschaffen: das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). In diesem ist u. a. beschrieben, wie Geheimnisträger in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit bei Bekanntwerden von gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung vorzugehen haben (vgl. § 4 KKG). Geheimnisträger sind z. B. Ärzt_innen, Hebammen oder Entbindungspfleger oder Angehörige eines anderen Heilberufes. § 4 KKG ergänzt Vorschriften, die bislang nur für Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe nach § 8a SGB VIII von Belang waren. Demnach sind Ärzt_innen, sobald sie gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindes-
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wohlgefährdung wahrnehmen oder von diesen erfahren, in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit rechtlich dazu verpflichtet, mit dem Kind oder Jugendlichen und den Eltern bzw. Personensorgeberechtigten die Situation zu erörtern. Soweit erforderlich müssen sie bei den Eltern bzw. Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken. Davon absehen dürfen sie nur, wenn hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird (vgl. § 4 Abs. 1 KKG). Ärzt_innen haben darüber hinaus Anspruch darauf, zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung von einer insoweit erfahrenen Fachkraft des Jugendamts beraten zu werden. Zu diesem Zweck dürfen sie der insoweit erfahrenen Fachkraft die dafür erforderlichen Daten in pseudonymisierter Form übermitteln (vgl. § 4 Abs. 2 KKG). Eine direkte Hinwendung an das Jugendamt ist für Ärzt_innen nur möglich, 1. wenn sie zu dem Schluss kommen, dass sie die Situation mit dem Kind oder Jugendlichen und den Eltern bzw. Personensorgeberechtigten nicht erörtern können; 2. wenn ein Hinwirken bei den Eltern bzw. Personensorgeberechtigten auf eine Inanspruchnahme von Hilfen zur Abwendung der Gefährdung aussichtslos erscheint. Treten diese beiden Konstellationen auf, sind sie dazu befugt, dem Jugendamt alle erforderlichen Informationen mitzuteilen bzw. ›die Kindeswohlgefährdung zu melden‹ und zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen vor Gefährdungen seines Wohls von ihrer Schweigepflicht abzusehen. Hierüber müssen sie aber zuvor die davon betroffenen Eltern (und Kinder) informieren, ausgenommen hierdurch wäre der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt (vgl. § 4 Abs. 3 KGG). Dieses derart gesetzlich geregelte Vorgehen setzt voraus, dass Ärzt_innen genau wissen, wie sie mit Fällen von Kindeswohlgefährdungen umzugehen haben. Es ist von der Annahme getragen, dass Ärzt_innen prinzipiell kompetent darin sind, Kindeswohlgefährdungen aus medizinischer Sicht einzuschätzen. Sie sollen im Dialog mit den davon betroffenen Kindern und Eltern die Situation erörtern und, sofern erforderlich, Hilfen vermitteln. Dennoch kann es Situationen geben, in denen sie fachliche Unterstützung im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen benötigen. Aus diesem Grund können sie, ohne ihre Schweigepflicht verletzen zu müssen, eine insoweit erfahrene
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Fachkraft des Jugendamts zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung hinzuziehen. Intention dieses Vorgehens ist es, Ärzt_innen, die Eltern und Kindern oftmals viel näherstehen als Fachkräfte des Jugendamts und ihrer Allgemeinen Sozialpädagogischen Dienste (ASD), insbesondere, wenn es sich um niedergelassene Kinderund Jugendärzt_innen handelt, dabei zu unterstützen, ihre Tätigkeit dafür zu nutzen, Eltern für die Notwendigkeit von Hilfe im Fall einer Kindeswohlgefährdung aufzuschließen. Denn gerade im Säuglings- und Vorschulalter sind niedergelassene Kinderärzt_innen – neben Erzieher_innen aus Kindertagesstätten – Schlüsselfiguren. Sie erhalten im Rahmen ihrer Berufsausübung oft einen guten Eindruck von den Lebensumständen von Familien. Sie können deshalb oftmals viel früher erste Anzeichen für sich entwickelnde Kindeswohlgefährdungen in Familien wahrnehmen als Fachkräfte aus Jugendämtern. Deshalb sollen Ärzt_innen Eltern nicht einfach dem Jugendamt melden oder bei der Polizei anzeigen. Nein: Sie sollen selbst aktiv werden und möglichst vorurteilsfrei und vertrauensvoll vermutete Kindeswohlgefährdungen auf klären und, sofern notwendig, über mögliche Hilfen informieren. Denn ob und wann eine Kindeswohlgefährdung bei der Polizei zur Anzeige gebracht werden sollte, unterliegt in Deutschland dem professionellen Ermessensspielräumen der Fachkräfte in den Jugendämtern und ihrer ASD. Diese sind Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Interventionen im Fall einer Kindeswohlgefährdung. Sie sollten nur dann auf Misshandlungen und Vernachlässigungen von Kindern hingewiesen werden, wenn die Handlungsoptionen der anderen Akteure im Kinderschutz ausgeschöpft sind bzw. das Jugendamt für die Inanspruchnahme, Vermittlung und Erbringung von Hilfen gebraucht wird. Insofern ist die Schweigepflicht von Ärzt_innen nicht die Ursache dafür, dass Kinder in Familien unnötig Leid erfahren. Schließlich sind diese bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung prinzipiell dazu befugt, ihre Schweigepflicht unter Beachtung der Regelungen des § 4 KKG zu durchbrechen, was im Übrigen auch auf der Grundlage von § 34 StGB möglich ist und im Einzelfall geboten sein kann. Auch sind sie dazu berechtigt, bei akuter Lebensgefahr oder eskalierenden Familienkonflikten die Polizei einzuschalten (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009: 74). Sie sollten eine Strafanzeige aber nur in begründeten Ausnahmefällen und in Absprache mit dem Jugendamt stellen. Oftmals führt eine Bestrafung der/des Täters/ Täterin nämlich nicht zwangsläufig zum Schutz des Kindes (vgl.
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Herrmann 2013: S. 60). Das Problem ist vielmehr, dass Ursachen und Hintergründe von kindeswohlgefährdenden Handlungen und/ oder Unterlassungen sich häufig erst in der Interaktion mit Eltern und Kindern erschließen lassen. Sind Eltern z. B. nicht dazu bereit, offen darüber zu sprechen, was zu Hause vorgefallen ist, und haben diese noch zusätzlich Angst davor, ihr Kind ›an das Jugendamt zu verlieren‹ und für ihre Handlungen und Unterlassungen bestraft zu werden, werden sie alles daran setzen, die Ärzt_innen zu täuschen. Sie werden versuchen, diese auf ihre Seite zu ziehen. Erfahrungsgemäß möchten sie nicht überführt oder gar bloßgestellt werden. Sie möchten es vermeiden, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, als Eltern versagt und das Wohl ihrer Kinder gefährdet zu haben. Zwar verfügen Kinderärzt_innen und Rechtsmediziner_innen über diagnostische Mittel, um feststellen zu können, ob eine Verletzung oder Schädigung auf eine Misshandlung oder Vernachlässigung zurückzuführen ist. Deshalb aber eine »gesetzliche Reaktionspflicht« (Tsokos/Guddat 2015: S. 214 f. u. 299) einzuführen, wonach alle Kinder im Verdachtsfall ohne Wissen ihrer Eltern in Kinderschutzambulanzen zur Sicherung von Beweisen und Spuren vorgestellt werden können, entspricht einer Gesellschaft, in der Strafverfolgung vor demokratischen Werten und Rechten agieren würde – ohne Kinder besser schützen zu können als bisher. Grundrechte wie die elterliche Erziehungsverantwortung, welche gleichermaßen Rechte und Pflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern umfasst (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), würden unter dem Deckmantel des Schutzes von Kindern mit Füßen getreten. Wir wollen damit nicht in Abrede stellen, dass wir im Kinderschutz auch Fachkräfte brauchen, die (rechts-)medizinisch und sozialpsychologisch geschult sind. Aber Kinderschutz in Deutschland basiert auf Vertrauen und nicht auf Misstrauen, nicht auf der Logik des Verdachts, sondern auf der Logik der Anerkennung (vgl. Wolff 2013: S. 25). Vor diesem Hintergrund erscheint es zielführender, die Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen im Regelfall unter Einbezug der davon betroffenen Eltern und Kinder vorzunehmen und zur Abwendung der Gefährdung auf die Annahme von Hilfe hinzuwirken. So ist das Kinderschutzsystem in Deutschland auch organisiert und rechtlich geregelt (→ Kapitel 5). Die Kerneinrichtungen des Kinderschutzes sind die Jugendämter mit ihren ASD. Sie sind allerdings keine ausschließlichen Kinderschutzämter, sondern haben einen ganzheitlichen Kinder- und Jugendhilfeauftrag zur um-
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fassenden psychosozialen Unterstützung von Familien (vgl. Biesel/ Schrapper 2018). Bei den Jugendämtern sollen (nicht müssen!) die Hinweise auf Gefährdungen des Wohls von Kindern eingehen, um Eltern Hilfen zur Abwendung der Gefährdung anbieten zu können. Folgerichtig sollten nicht noch zusätzlich spezialisierte Einrichtungen oder Ambulanzen geschaffen werden, welche ausschließlich darauf aus sind, Spuren und Beweise im Fall einer vermuteten Kindeswohlgefährdung zu sichern. Sinnvoller sind hingegen inhaltlich breiter aufgestellte Kinderschutzambulanzen bzw. Kinderschutzgruppen in Kliniken. Diesen sollte die Vorfahrt gelassen werden. In Deutschland existieren bereits einige davon. Sie bieten in vielfältiger Weise Beratung und Therapie an. Sie arbeiten auch eng mit den Jugendämtern zusammen.1 Es bedarf jedoch keiner Instanzen im Kinderschutz, welche nur darauf aus sind, Eltern ausschließlich als Täter_innen zu überführen (→ Kapitel 7).
Gesetzliche Meldepflicht oder Reaktionspflicht – was ist die Lösung? In Deutschland gibt es keine gesetzliche Pflicht zur Meldung von Kindeswohlgefährdung. Es gibt kein Gesetz, welches Fachkräften vorschreibt, Kinder im Verdachtsfall bei Kinderschutzambulanzen oder in Kliniken angesiedelten Kinderschutzgruppen zur Sicherung von Spuren und Beweisen vorzustellen. Auch gibt es keine rechtliche Regelung, die umfasst, Eltern oder andere Bezugspersonen bei der Polizei für kindeswohlgefährdende Handlungen oder Unterlassungen anzuzeigen, ausgenommen die Fachkräfte würden sich damit strafbar machen, was nur im Vorfeld schwerer Straftaten der Fall ist (§ 138 StGB; vgl. Meysen/Hagemann-White 2011: S. 162 f. und 186). Deutschland ist mit dieser Vorgehensweise nicht allein. In Belgien, Frankreich, Irland und Spanien existieren z. B. auch keine Meldepflichten (vgl. Meysen/Hagemann-White 2011: S. 186). Und in Ländern, in denen Meldepflichten bestehen, wie z. B. Bulgarien, Dänemark, Finnland, Griechenland, Kanada, Norwegen, Polen oder Schweden, sind diese mitnichten gleich geregelt (vgl. Gilbert/Parton/Skivenes; Meysen/Hagemann-White 2011: S. 186; Pietrantonio et al. 2013). So gibt es Unterschiede hinsichtlich der Frage, ab welchem Schweregrad einer Kindeswohlgefährdung eine Meldung an die dafür zuständige Institution 1 | Siehe: www.ag-kim.de.
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erfolgen muss. Auch gibt es Divergenzen im Hinblick darauf, welcher Kreis von Personen zu Meldungen verpflichtet ist (alle Bürger_innen, nur Fachkräfte, bestimmte Berufsgruppen etc.). Nicht zuletzt gibt es uneinheitliche institutionelle Lösungen: So gibt es Länder, in denen Kinder- und Jugendhilfediensten (wie z. B. dem Jugendamt), (Familien-)Gerichten oder Strafverfolgungsbehörden vermutete Fälle von Kindeswohlgefährdungen mitgeteilt werden müssen. In anderen Ländern wiederum gibt es Varianten, in denen Kinder- und Jugendhilfedienste und Strafverfolgungsbehörden zeitgleich informiert werden müssen. Wenn man also über das Für und Wider von Meldepflichten im Kinderschutz nachdenkt, muss spezifiziert werden, welche Variante von Meldepflicht eigentlich gemeint ist2: • Sollten alle Bürger_innen neben ihrer moralischen auch eine gesetzliche Pflicht haben, den zuständigen Stellen mögliche Kindeswohlgefährdungen zu melden? • Sollten (ärztliche) Schweigepflichten und ethische Gebote der Vertraulichkeit weiterhin Berücksichtigung finden und so wie bislang in Deutschland geregelt in Gesetzestexten als Voraussetzungen dafür benannt werden, wann und wie Informationen über mögliche Kindeswohlgefährdungen an die Jugendämter übermittelt werden dürfen? • Sollten alle Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen in ihrer Berufsausübung mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommen, zu Meldungen von Kindeswohlgefährdungen verpflichtet werden oder nur bestimmte Berufsgruppen (wie z. B. Sozialarbeitende und Ärzt_innen)? • Sollten Meldungen über mögliche Kindeswohlgefährdungen verpflichtend nur bei den Jugendämtern eingehen oder zusätzlich bei den Strafverfolgungsbehörden? • Sollten die Jugendämter darauf verpflichtet werden, jeden Fall von Kindeswohlgefährdung bei der Polizei zur Anzeige zu bringen? • Ab welchem Schweregrad einer Kindeswohlgefährdung sollte eine Meldung an die dafür zuständige Institution erfolgen? 2 | Vgl. Forschungsergebnisse Kompakt 1 »Meldepflicht bei Hinweisen auf Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung – Realising Rights Projekt; siehe auch: https://ec.europa.eu/justice/grants/results/daphne-toolkit/en/ cont ent/realising-rights-mapping-content-and-assessing-impact-eu-legis lation-v iolence-against-women; zuletzt abgerufen am 15.05.2018.
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Das sind Fragen, die nicht einfach zu beantworten sind. Je nach Beantwortung würden im Fall einer Kindeswohlgefährdung jeweils unterschiedliche Handlungsketten ausgelöst und Hilfe, Schutz und Strafe in verschiedener Weise in Spannung zueinander stehen (→ Kapitel 7).3 Fest steht, dass mit der Einführung einer generellen Meldepflicht, unabhängig davon, welche Variante favorisiert würde, für den Schutz von in ihrem Wohl gefährdeten Kindern wenig getan wäre (vgl. Ainsworth 2002; Meysen/Hagemann-White 2011: S. 194). Gäbe es z. B. die Verpflichtung, dass alle Bürger_innen und alle Fachkräfte sich im Verdachtsfall an die derzeit für die Entgegennahme und Bearbeitung von Hinweisen für Kindeswohlgefährdungen in Deutschland primär zuständigen Jugendämter und ihren ASD wenden müssen, würden diese auf die Rolle von Kindesschutzämtern reduziert. Sie würden – bei ungenügender Ressourcenausstattung und fehlendem Personal – nur noch Gefährdungsmeldungen abarbeiten, nicht aber mehr Hilfe leisten. Denn alle anderen professionellen Akteure im Kinderschutz könnten sich damit der Einschätzung und Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungsfällen entziehen. Sie hätten eine Instanz, der gegenüber sie verpflichtet wären, Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen mitzuteilen. Ärzt_innen müssten bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit z. B. nicht mehr selbst das Gespräch mit den Eltern und Kindern suchen. Sie bräuchten Kindeswohlgefährdungen nur noch den dafür zuständigen Jugendämtern melden. Sie müssten sich zudem keine Sorgen mehr darüber machen, dass sie ihre Schweigepflicht verletzen. Wäre das die Zukunft des Kinderschutzes? Wir denken nicht! Zumal Meldepflichten dazu beitragen, dass Jugendämter nur noch über Gefahren und Gefährdungen von Kindern informiert werden, jedoch nicht mehr über Probleme, Konflikte und Krisen in Familien. Diese sind jedoch oftmals Anzeiger für ungedeckte Bedarfe und Bedürfnisse von Kindern und Eltern. Kinderschutz würde damit einem investigativen Grundmuster folgen und einer reinen Verdachtsarbeit unterliegen. Dies würde Familien davon abhalten, frühzeitig selbst 3 | Vgl. Forschungsergebnisse Kompakt 2 »Kinderschutz und Strafverfolgung« – Realising Rights Projekt; siehe auch: https://ec.europa.eu/justice/ grants/results/daphne-toolkit/en/content/realising-rights-mapping-con tent-and-assessing-impact-eu-legislation-violence-against-women; zuletzt abgerufen am 17.05.2018.
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Hilfe und Unterstützung zu suchen. Im Übrigen bedeuten Meldungen über Gefahren und Gefährdungen nicht, dass tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung vorliegt: »2016 stellten die Jugendämter in rund 21.500 Fällen eine akute und in 24.200 Fällen eine latente Gefährdung fest. In rund 46.600 Fällen wurde zwar keine Kindeswohlgefährdung, jedoch ein Hilfebedarf dokumentiert, während etwa 44.500 Verfahren weder mit der Feststellung einer Gefährdung noch mit einem (weiteren) Hilfebedarf abgeschlossen wurden. Damit bestätigt sich […] die bisherige Verteilung der Ergebnisse der Verfahren. Rund ein Drittel der Gefährdungseinschätzungen in Jugendämtern enden jährlich mit dem Ergebnis einer (latenten) Kindeswohlgefährdung, in einem weiteren Drittel wird ein sonstiger Hilfebedarf festgestellt, ohne dass eine Gefährdung des Kindes gesehen wird, und ein knappes Drittel der Verfahren endet ohne eine (weitere) jugendhilferechtliche Maßnahme.« (Kaufhold/ Pothmann 2017: S. 3; siehe auch → Kapitel 2)
Tsokos und Guddat (2015: S. 212 ff. und 299) plädieren für die Einführung einer ärztlichen Reaktionspflicht, sie sind aber gegen die Einführung einer gesetzlichen Pflicht für Ärzt_innen, Kindeswohlgefährdungen bei der Polizei zur Anzeige zu bringen. Dies habe für die von Gefährdungen bedrohten Kinder zu viele Nachteile und trage nicht zu ihrem Schutz bei. Mit dieser Annahme folgen sie dem Stand der wissenschaftlichen Fachdebatte, welche belegt, dass mit der Einführung einer generellen Pflicht zur Strafanzeige für den Schutz von Kindern wenig getan ist. Im Gegenteil: Man würde damit Eltern davon abhalten, mit in ihrem Wohl gefährdeten Kindern rechtzeitig zum Arzt zu gehen bzw. Hilfe zu holen. Auch Kinder würden durch eine generelle Strafanzeigepflicht davon abgehalten werden, sich an Fachkräfte ihres Vertrauens zu wenden. Sie würden befürchten, ihre Eltern könnten ins Gefängnis kommen und von ihnen getrennt werden. Die Ärzt_innen sollten nach Meinung von Tsokos und Guddat (2015) stattdessen gesetzlich dazu verpflichtet werden, im konkreten Verdachtsfall Kinder an Kinderschutzambulanzen oder Kinderschutzgruppen in Kliniken zu überweisen, wo weiterführende Untersuchungen zur Spuren- und Beweissicherung von Rechtsmediziner_innen oder forensisch geschulten Fachkräften vorgenommen werden können. Damit wäre der Schutz von in ihrem Wohl gefährdeten Kindern in Deutschland besser gewährleistet als bisher,
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könnte man damit doch genau aufklären, ob es sich tatsächlich um eine Kindeswohlgefährdung handelt, und in der Folge das Jugendamt oder gleich direkt die Strafverfolgungsbehörden einschalten. Ob mit diesem standardisierten Vorgehen allerdings dem Kindeswohl entsprochen wird, ist eine strittige Frage. Denn mit diesem auf forensische Fragen verengten Kinderschutzansatz, der darauf abzielt, absolute Gewissheiten herzustellen, wird den Rechten und Bedürfnissen der davon betroffenen Kinder nur bedingt Rechnung getragen. Trägt es tatsächlich zur Sicherheit und zum Schutz von Kindern bei, sie standardmäßig im Verdachtsfall zu untersuchen und die dabei gewonnenen Beweise zur Überführung ihrer Eltern einzusetzen? Werden ihre Eltern deshalb aufhören, sie zu vernachlässigen und zu misshandeln? Werden sich dadurch Beziehungen in Familien verändern, die durch Konflikte und Gewalt geprägt sind? Mitnichten! Damit würde die Perspektive von Hilfe im Kinderschutz verloren gehen und sowohl Rechte von Kindern (→ Kapitel 11) als auch Rechte von Eltern (→ Kapitel 10) verletzt werden. Auch würde der bislang für Deutschland praktizierte Weg eines familienorientierten und auf demokratischen Werten und Prinzipen beruhenden Kinderschutzansatzes auf dem Spiel stehen (vgl. bke – Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. et al. 2007; Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie 2017; Gilbert et al. 2011: S. 255; Fegert et al. 2007). Dieser ist darauf aus, im Fall einer Kindeswohlgefährdung Eltern zu unterstützen und Kinder zu schützen. Eltern soll dabei geholfen werden, von Handlungen und Unterlassungen, die das Wohl ihrer Kinder gefährden, durch Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie weiterführende therapeutische Hilfen abzulassen. Sie sollen für Veränderungen im Interesse des Kindeswohls aufgeschlossen und als primäre Kinderschützer gestärkt werden und nur, wenn es wirklich notwendig ist, für ihre kindeswohlgefährdenden Handlungen oder Unterlassungen mittels familiengerichtlicher Maßnahmen aus ihrer Verantwortung für das Kind entlassen oder durch strafrechtliche Maßnahmen sanktioniert und bestraft werden (→ Kapitel 5 und 7).
Systemvertrauen statt Meldeverpflichtung Es ist klug gewesen, dass die Politik und der Gesetzgeber von der Einführung einer generellen Meldepflicht als auch einer Reaktionspflicht bei Kindeswohlgefährdung bislang abgesehen haben. Statt-
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dessen wird in Deutschland nach wie vor darauf vertraut, dass Fachkräfte, welche mit Kindern und Jugendlichen im Kontakt sind, sich an das Jugendamt wenden, wenn sie im Fall einer erkannten Kindeswohlgefährdung selbst keinen Schutz gewährleisten und nicht auf die Annahme von Hilfen bei den Eltern hinwirken können. Dieses Vorgehen entspricht auch wissenschaftlichen Empfehlungen, wonach Systemvertrauen aufgebaut anstatt Meldeverpflichtungen eingeführt werden sollten.4 Diesem Grundsatz folgend sollten sich sowohl besorgte Bürger_innen als auch Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, des Bildungs- und Gesundheitswesen sowie aus anderen Sektoren im Zweifelsfall an die Jugendämter wenden können, aber nicht müssen. Denn den in Jugendämtern tätigen Sozialarbeitenden sollte die Entscheidung darüber obliegen, ob und wie sie Hilfe leisten oder ob die Involvierung des Familiengerichts und von Strafverfolgungsbehörden zum Schutz von Kindern erforderlich ist. Noch effektiver wäre es jedoch, wenn Eltern und Kinder Vertrauen in Jugendämter hätten und von sich aus frühzeitig Hilfe suchen und diese auch niederschwellig erhalten würden. Sie sollten aktiv dazu ermutigt werden, Hilfe zu holen, auch und gerade, wenn sie in Not sind. Die ›§-8a-Statistik‹ für das Jahr 2016 weist allerdings aus, dass Eltern und Kinder diejenigen sind, die sich am seltensten von sich aus an das Jugendamt wenden (9 %). Die meisten Meldungen werden von Fachkräften aus dem Bildungs-, Gesundheits- sowie Kinder- und Jugendhilfebereich vorgenommen (42 %), gefolgt von Privatpersonen wie z. B. Nachbarn, Bekannten oder Verwandten (27 %) und Polizist_innen, Staatswanwält_innen und Richter_innen (22 %) (vgl. Kaufhold/Pothmann 2017: S. 2). Diese Daten zur Kenntnis nehmend, wäre dem Schutz von Kindern mehr geholfen, wenn Jugendämter in der Bevölkerung den Ruf hätten, Zentralen für gelingendes Aufwachsen zu sein und keine skrupellosen Kinderschutzämter, welche Eltern ihre Kinder wegnehmen (vgl. Biesel/Schrapper 2018). Hierfür sollte Kinderschutz in den Jugendämtern allerdings nicht nur nach Kassenlage gestaltet werden und auf die Entgegennahme, Erfassung und Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen reduziert werden. 4 | Vgl. Forschungsergebnisse Kompakt 1 »Meldepflicht bei Hinweisen auf Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung« – Realising Rights Projekt; siehe auch: https://ec.europa.eu/justice/grants/results/daphne-toolkit/en/ cont ent/realising-rights-mapping-content-and-assessing-impact-eu-legis lation-violence-against-women; zuletzt abgerufen am 15.05.2018.
9. Kranke Eltern, kranke Kinder? Kinderschutz jenseits des Normalen
Psychisch erkrankte Eltern sind von Stigmatisierungen im Alltag betroffen, wenn ihre Erkrankung in sozialen Zusammenhängen bekannt wird. Goffman (1975, 23. Aufl. 2016) legt dar, dass ein Individuum mit einem Stigma ein in der Gesellschaft kollektiv unerwünschtes Merkmal besitzt, welches so dominant wahrgenommen wird, dass andere Menschen sich in der Begegnung von ihm abwenden und seine anderen Merkmale ausblenden. Abweichungen von gesellschaftlichen Rollenerwartungen werden in einer stigmatisierenden Perspektive fokussiert wahrgenommen, gerade wenn es um das heikle Thema Elternschaft geht. Das Anderssein stigmatisierter Menschen wird als »individuelle[r] Charakterfehler« (Goffman 2016: S. 12) bewertet, der »aus einem bekannten Katalog, zum Beispiel von Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Sucht, Alkoholismus [oder] Arbeitslosigkeit« (ebd.: S. 13) hergeleitet wird. Die damit z. B. auf ein psychisch erkranktes Individuum übertragene moralische Schuld an der eigenen Situation bedingt eine entmenschlichte Vorstellung von Stigmatisierten und schafft die Voraussetzungen für soziale und gesellschaftliche Ausschlussprozesse. Die Stigmatisierung führt zudem dazu, dass die Betroffenen die ihnen zugeschriebenen negativen Eigenschaften verinnerlichen und sich auch selber schamhaft schuldig für ihr Stigma fühlen, also z. B. für ihre psychische Verletzlichkeit. Mit einer Stigmatisierung sind immer ein statischer Blick auf psychische Erkrankungen und die Annahme linearer Ursache-Wirkung-Zusammenhänge verbunden. Die Gefahren der Stigmatisierung liegen nicht allein in der Beschädigung der Identitäten der Menschen, die stigmatisierten Gruppen zugerechnet werden können, wie Goffman herausarbeitet. Sie bestehen demnach auch darin, dass den unerwünschten Merkmalen wie z. B. psychischen Erkran-
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kungen schnell auch Auswirkungen zugerechnet werden, denen in Wirklichkeit ganz andere Ursachen zugrunde liegen und betroffenen Menschen weitere fiktive negative Attribute unterstellt werden (vgl. ebd.: S. 14).
Stigma und psychische Erkrankung Die öffentliche Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen kommt in bestimmten Stereotypen zum Ausdruck, die von der Gesellschaft und den Medien reproduziert werden: Sie werden als gefährlich bzw. gewalttätig und unberechenbar sowie als Objekte der Fürsorge wahrgenommen, die unfähig sind, eigene Entscheidungen zu treffen (vgl. Rüsch/Berger/Angermeyer 2004: S. 3–4). Die Verantwortung für die Erkrankung wird ihnen insbesondere bei psychischen Abhängigkeiten von Substanzen wie Alkohol oder Drogen oftmals selber zugeschrieben und als Charakterschwäche oder soziale Inkompetenz ausgelegt (vgl. Rüsch/Berger/Angermeyer 2004: S. 4). Wer wollte den so Beschriebenen die Sensibilität und Selbstbeherrschung, die Umsicht und Fürsorglichkeit zutrauen, die Eltern gemeinhin zugeschrieben werden? Studien zeigen, dass viele Menschen den beschriebenen stigmatisierenden Zuschreibungen zustimmen, so dass Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber psychisch erkrankten Menschen erkennbar sind (vgl. ebd.: S. 4). Aber auch viele psychisch erkrankte Menschen haben die stigmatisierende Außensicht übernommen und halten die gegen sie gewandten Vorurteile für legitim. Diese Selbstsicht befördert ein vermindertes Selbstwertgefühl und das Erleben sozialer Isolation. Die Betroffenen vermeiden soziale Kontakte, ziehen sich zurück und halten ihre psychische Verletzlichkeit geheim. Das selbststigmatisierende Verhalten und dessen Folgen werden als »zweite Krankheit« (Finzen 2013: S. 45) der Betroffenen bezeichnet. Natürlich hat sich auch das Verhältnis der Gesellschaft zu psychisch erkrankten Menschen verändert und gerade in einer historischen Langzeitperspektive wird ersichtlich, dass die Akzeptanz psychischer Erkrankungen gestiegen ist. Die gesellschaftlich nach wie vor verbreiteten Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen führen aber auch heute noch zu diskriminierenden Handlungen (vgl. Rüsch/Berger/Angermeyer 2004: S. 4). Sicherlich machen psychisch erkrankte Menschen auch andere, bessere Erfahrungen,
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aber viele sehen sich mit sozialen Ausgrenzungen konfrontiert, wenn sie von Arbeitskolleg_innen oder der Nachbarschaft gemieden werden, sie gar ihren Führerschein, ihre Wohnung oder ihren Arbeitsplatz verlieren oder ihnen der Zugang zu bestimmten Berufsgruppen verweigert wird (vgl. Finzen 2013: S. 30–32). Im Zusammenhang mit einer verstärkten öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema Kinderschutz wird zudem die Frage laut, ob psychisch erkrankte Menschen überhaupt in der Lage sind, eine Elternrolle auszufüllen. Sind sie trotz ihrer erkrankungsbedingten Einschränkungen dazu fähig, sich angemessen um Kinder zu kümmern und deren Wohlergehen immer zu gewährleisten? Sind die Gefahren für Kinder angesichts der unterstellten Gewalttätigkeit psychisch erkrankter Menschen nicht zu groß? Ist das Risiko, dass doch einmal etwas passiert, angesichts der unterstellten Unberechenbarkeit der Angehörigen dieser sozialen Gruppe eigentlich kalkulierbar? Sollte der Staat zum Schutz von Kindern vor Gefahren in die Elternrechte psychisch erkrankter Menschen schneller oder anders eingreifen als bei anderen Menschen oder diese womöglich sogar gänzlich von der Elternrolle ausschließen? Diese Fragen sowie die mit ihnen verbundenen stigmatisierenden Perspektiven auf psychisch erkrankte Eltern sind im öffentlichen Diskurs präsent. Um die Thematik des Zusammenhangs zwischen psychisch erkrankten Eltern und der Gefährdung des Wohls von Kindern im Folgenden mit Blick auf die Risiken einer Stigmatisierung zu erarbeiten, muss zunächst bedacht werden, dass es unterschiedliche psychische Erkrankungen gibt. Deshalb soll in Anschluss an Schrappe (2018) und Schone/Wagenblass (2002) ein kurzer tabellarischer Überblick über psychische Störungen gegeben werden, welche in der Internationalen statistischen Klassifikation der psychischen Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) ausführlicher beschrieben sind. Zuvor soll aber kritisch darauf verwiesen werden, dass bereits der in diesem Buch verwendete Begriff ›psychische Erkrankung‹ stigmatisierende Vorstellungen aufruft. Denn er suggeriert, dass es zwei klar separierte Gruppen, nämlich die ›psychisch Gesunden‹ und die ›psychisch Erkrankten‹ gäbe. Diese Trennung ist aber eine gedankliche Konstruktion. In der Realität verschwimmen die Grenzen. Z. B. können bei einem Menschen bestimmte psychische Auffälligkeiten beobachtet werden, ohne dass eine psychiatrisch relevante Erkrankung vorliegt. Nicht jeder Erschöpfungszustand ist Ausdruck
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eines Burnout-Syndroms. Nicht jede seelische Verstimmung kann als Depression bezeichnet werden. Ob sie als solche bezeichnet wird oder nicht, bleibt eine Interpretation im Einzelfall. Jede Depression ist zudem anders und wird von den Betroffenen jeweils individuell empfunden und verarbeitet. Sie kann sich z. B. in unterschiedlichen Symptomen äußern, in unterschiedlichen Schweregraden auftreten und auch lange Phasen der Symptomfreiheit beinhalten. Auch betrachten viele Menschen ihre psychische Verletzlichkeit gar nicht als Krankheit. Sie fühlen sich der sozialen Gruppe der psychisch Erkrankten nicht zugehörig und vermeiden es, sich entsprechend kategorisieren zu lassen, indem sie z. B. keine psychiatrische Behandlung nachfragen. Auch wird angesichts der Bandbreite der im Folgenden aufgelisteten Störungsarten und Symptome (siehe Tabelle 5), die je nach Fall in unterschiedlich starken oder schwachen Ausprägungen und unterschiedlichen Kombinationen vorliegen, ersichtlich, dass der Begriff der psychischen Erkrankung sehr unscharf und weit gefasst ist. Auch deshalb eignet er sich dazu, in den Dienst der Stigmatisierung gestellt zu werden. Dies soll im Weiteren vermieden werden, ohne auf den Begriff zu verzichten. Tabelle 5: Psychische Störungen und ihre typischen Symptome im Überblick Psychische Störung Beschreibung typischer Symptome Angststörungen
Unangemessene und überdauernde Angstreaktionen, ohne dass eine tatsächliche Gefahr oder Bedrohung vorliegt; unterschieden wird zwischen: • generalisierten Angststörungen – anhaltender Zustand der andauernden Angst und Überbesorgtheit; • Panikattacken und -störungen – z. B. schwere impulsive Angst- oder Panikzustände in plötzlicher Angst vor dem Tod oder ein in der Zukunft nahenden Katastrophe; • Phobien – unbegründete und übermäßige Angst vor einen konkreten Gegenstand oder einer bestimmten Situation, wie z. B. Angst vor Spinnen (Arachnophobie), freien Plätzen (Agoraphobie), engen Räumen (Klaustrophobie) oder Menschen (soziale Phobie).
ADHS des Erwach- • Leichte Ablenkbarkeit und/oder Vergesslichkeit; senenalters • Hyperaktivität; • Impulsivität und Desorganisiertheit
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Psychische Störung Beschreibung typischer Symptome Burnout-Syndrom
Körperliche und emotionale Erschöpfung oft in Folge chronischer Arbeitsbelastungen einhergehend mit • Pessimismus; • Hoffnungslosigkeit; • sozialem Rückzug bis hin zur Depression.
Demenz
Nachlassende geistige Leistungsfähigkeit, zum Teil verbunden mit • aggressivem Verhalten; • sozialem Rückzug; • Depression; • Realitätsverzerrungen.
Depression (man unterscheidet zwischen unipolaren und manischdepressiven affektiven Störungen)
• Erschöpfung; • Antriebs- und Hoffnungslosigkeit; • Bedrücktheit; • Konzentrations- und Schlafstörungen; • Appetitverlust; • Nervosität und Anspannung; Suizidgedanken.
Persönlichkeitsoder Borderline störung
Unflexible, unangemessene und impulsive Verhaltensweisen aufgrund eines instabilen Identitätsgefühls verbunden mit • chronischen Gefühlen der inneren Leere; • unbeständigen sozialen Beziehungen; • Ängsten des Verlassenwerdens; • wiederholten Suiziddrohungen/-versuchen und selbstschädigenden Handlungen.
Posttraumatische Belastungsstörung
Verzögerte oder länger anhaltende Reaktion auf ein belastendes Ereignis in Gestalt von Flashbacks, oft gepaart mit • Schlafstörungen; • Reizbarkeit; • Konzentrationsstörungen; • allgemeiner Schreckhaftigkeit sowie • sozialem Rückzug.
Schizophrenie/ Psychose
Störung des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens (wie z. B. Hören von Stimmen, Wahnvorstellungen, Halluzinationen).
Alkohol-, Drogenund Verhaltensabhängigkeiten
Physische und psychische Abhängigkeit von Substanzen (wie z. B. Alkohol, Kokain, Heroin, Ecstasy etc.) oder von bestimmten Verhaltensweisen (wie z. B. Spiel- und Internetsucht).
Zwangsstörung
Wiederkehrende, zwanghafte Gedanken und Handlungen
Vgl.: Schone/Wagenblass, S. 2002: S. 31 ff./Schrappe, A. 2018: S. 50 ff.
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Die Stigmatisierung psychisch erkrankter Eltern im medialen Kinderschutzdiskurs Auf welche Weise psychisch erkrankte Eltern von stigmatisierenden Zuschreibungen betroffen sind, lässt sich an medialen Kinderschutz-Debatten ablesen. So betonen Tsokos und Guddat (2015) in ihrer Schrift »Deutschland misshandelt seine Kinder«: »Eltern, die ihre Kinder misshandeln, sind fast ausnahmslos psychisch gestört. Die große Mehrzahl von ihnen weist Verhaltensstörungen auf, ist depressiv oder leidet an Suchterkrankungen.« (Ebd.: S. 100) Damit ist die Zielgruppe der von den Autor_innen geforderten »Null Toleranz gegenüber Misshandlern« (ebd.: S. 70) genannt. Wenn diese Menschen dann als »verurteilte Gewalttäter und Geisteskranke, Drogensüchtige, Verwahrloste und nachweislich Erziehungsunfähige« beschrieben werden, die Kinder »nach Gutdünken vernachlässigen und misshandeln« (ebd.: S. 261), findet eine moralische Zuspitzung und eine Vermengung mit zusätzlichen negativen Attributen statt, die psychisch erkrankten Eltern zugerechnet werden. Die reale Ausnahmeerscheinung, dass es Eltern eine sadistische Freude bereitet, ihre Kinder »nach Gutdünken« (ebd.) zu misshandeln, wird in solchen Reden zur Normalität erklärt und damit pauschal auf die gesamte Gruppe psychisch erkrankter Eltern übertragen. Die negativen Eigenschaften werden in Begriffen wie »Geisteskranke« (ebd.) zu den bezeichnenden Merkmalen des Wesens dieser Menschen erhoben und damit individualisiert und als charakterliche Schwäche dargestellt. Die Argumentation über den Zusammenhang von elterlichen psychischen Erkrankungen und Kindeswohlgefährdungen gipfelt in der Behauptung, die Kindesmisshandlung selbst sei eine chronische Krankheit der misshandelnden Personen (vgl. ebd.: S. 100). Die von Tsokos und Guddat in Fallbeispielen spektakulärer Gewalt in Szene gesetzten Gefahren, denen Kinder durch die elterliche psychische Erkrankung ausgesetzt sind, eröffnen einen skandalisierenden Blick auf die Elternschaft psychisch erkrankter Menschen. Dieser wird durch die Platzierung bestimmter Aussagen gestützt. Schließlich zeige sich anhand von Forschungsergebnissen, dass Kinder psychisch erkrankter Eltern »mit siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit massiv geschädigt werden« (ebd.) und aus ihnen »mit hoher Wahrscheinlichkeit abermals Gewalttäter« (ebd.: S. 99) werden. Die Gewalttätigkeit wird vererbt, wie die Autor_innen auf Grundla-
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ge neurobiologischer Forschungen herausstellen, und »nicht wie ein Schulprogramm erlernt, das sich ohne weiteres durch eine andere Lektion ersetzen ließe« (ebd.: S. 88). Das Stigma der Eltern wird in dieser Erzählung auf die Kinder übertragen und erhält einen zwangsläufigen, irreversiblen Charakter. Mit dem Begriff der »Generation Kevin« (ebd.: S. 74) soll dieser »Teufelskreis« (ebd.: S. 99) vererbter Gewalt symbolisiert werden und an ihm zeigt sich auch die Übertragung des Stigmas. Auch wenn die Autor_innen an anderer Stelle relativieren, dass es sich nicht um eine »schlichte Kausalbeziehung« (ebd.: S. 88) handle, wird mit der benutzten Sprache und den vielen Szenen von Grausamkeit und Gewalt, z. B. von beißenden Eltern und Kindern, doch genau diese Verengung der Sicht auf psychisch erkrankte Eltern und deren Kinder hergestellt: Im Kontext der erörterten Argumentation muss sowohl die Kindeswohlgefährdung als regelhaft von der psychischen Erkrankung der Eltern vorbestimmt betrachtet wie auch umgekehrt die psychische Erkrankung von Eltern als regelhaft von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit vorbestimmt verstanden werden (auch wenn Ausnahmen eingeräumt werden). Und nur vor dem Hintergrund eines solchen starken Determinismus scheint es folgerichtig, dass Hilfemaßnahmen der Sozialen Arbeit in Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen als »wirkungslos oder sogar kontraproduktiv« (ebd.: S. 292) bezeichnet werden und »die einzige wirklich wirksame Kinderschutzmaßnahme« (ebd.: S. 293) darin gesehen wird, psychisch erkrankte Eltern frühzeitig zu erkennen und möglichst präventiv von ihren Kindern zu trennen. Denn um den Teufelskreis vererbter Gewalt zu durchbrechen, so die Argumentation, müssten die Kinder in Pflegefamilien untergebracht werden, bevor sie Schaden nehmen können. Eltern, die das Stigma psychischer Erkrankung tragen, werden in diesem Vorschlag partiell aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Konkret soll ihnen die gesellschaftlich hoch anerkannte Rolle als Mütter oder Väter pauschal entzogen werden, sobald potentielle Risiken für das Kindeswohl ersichtlich werden. Und wie immer wieder betont wird, scheint allein die Tatsache, dass sie in beliebiger Form psychisch erkrankt sind, fast zwangsläufig eine unmittelbare Gefahr für die Kinder darzustellen. Denkt man diese Argumentation zu Ende, dann sollen nicht nur psychisch erkrankte Eltern ausgegrenzt werden, sondern auch deren Kinder, die ihren Eltern durch die Misshandlungserfahrung immer ähnlicher werden und als »nächste ge-
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walttätige Problemgeneration« (ebd.: S. 74) ebenso keinen Platz in der Gesellschaft haben. Aber sind die Zusammenhänge wirklich so einfach zu verstehen, wie es ein stigmatisierender Blick auf psychische Erkrankungen von Eltern nahelegt? Benötigen wir wirklich nur Kinderschutzambulanzen und soziale Frühwarnsysteme sowie ein Heer an Pflege- und Adoptiveltern? Ist es wirklich die einzige sinnvolle Schutzmaßnahme, Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind, frühzeitig aus ihren Familien zu entfernen?
Gefährdungslagen und Entwicklungsrisiken von Kindern psychisch erkrankter Eltern Es liegen gegenwärtig keine verlässlichen Zahlen darüber vor, wie viele Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen. Auf Grundlage einer Hochrechnung kann angenommen werden, dass in Deutschland jährlich 175.000 Kinder eine stationäre psychiatrische Behandlung eines Elternteils miterleben (vgl. Gutmann 2017: S. 13). Eine weitere Hochrechnung geht davon aus, dass in Deutschland insgesamt etwa 3,8 Millionen Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen (vgl. Pillhofer et al. 2016). Der Frage nach den Gefährdungslagen von Kindern psychisch erkrankter Eltern wurde in vielen Studien nachgegangen. Dabei wird deutlich, dass eine elterliche psychische Erkrankung einen Risikofaktor für Kindesmisshandlung und Vernachlässigung darstellt (Loch 2016: S. 68). Daneben können viele andere Risikofaktoren eine Rolle spielen, wie etwa Traumatisierungen, mangelnde Konfliktlösungsfähigkeiten der Eltern, Partnerkonflikte, gestörte Eltern-Kind-Beziehungen, fehlende soziale Netzwerke und Armut (vgl. Deegener/Körner 2011: S. 201–202). Keiner dieser Faktoren lässt isoliert betrachtet Rückschlüsse auf das Misshandlungsrisiko zu. Insofern trifft auch der Schluss nicht zu, dass eine elterliche psychische Erkrankung regelhaft zu Kindeswohlgefährdungen führt. Z. B. fand Oates (1997) in einer Untersuchung heraus, dass Kindesmisshandlungen in Familien mit Elternteilen, die an einer schweren psychischen Erkrankung litten, nicht häufiger vorkamen als in anderen Familien (vgl. Ziegenhain/Deneke 2014: S. 21). Während für die meisten psychischen Erkrankungen von Eltern auch aus anderen Studien keine Belege dafür vorliegen, dass sie das Risiko physischer Misshandlung und sexueller Gewalt von Kindern erhöhen, kann aber davon ausge-
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gangen werden, dass erkrankungsbedingte Beeinträchtigungen von Eltern psychische Misshandlungen begünstigen können (Schrappe 2018: S. 67–68). Psychisch erkrankte Eltern zeigen in wissenschaftlichen Untersuchungen die ganze Bandbreite von ausreichend sensitivem und responsivem elterlichem Verhalten bis hin zu höchst problematischen und misshandelnden Verhaltensweisen (vgl. Loch 2016: S. 68). Eine Untersuchung von Hell (1982), die sich auf depressiv und schizophren erkrankte Eltern bezieht, ergab, dass zwischen 11 und 15 % der betroffenen Eltern deutliche bis ausgeprägte Beeinträchtigungen in der Erziehung ihrer Kinder aufwiesen (vgl. Gutmann 2017: S. 15). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass etwa 85 % der psychisch erkrankten Eltern, die an der Untersuchung teilnahmen, trotz der psychischen Erkrankung in ihrer Erziehungsfähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt waren. Wie sich eine elterliche psychische Erkrankung konkret auf die Erziehungsfähigkeit von Eltern auswirkt, bleibt in einer vom Einzelfall distanzierten Perspektive offen. Als gesichert gilt dagegen die Erkenntnis, dass psychische Erkrankungen von Eltern immer Einfluss auf die Beziehungen und Dynamiken innerhalb der Familie nehmen und alle Familienmitglieder davon betroffen sind (vgl. Kuehn-Velten 2017: S. 11–18). Ein Beleg für die Relevanz einer familienorientierten Perspektive auf psychische Erkrankungen lässt sich in dem Befund erkennen, dass etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, die sich in psychiatrischer Behandlung befinden, mit mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil aufgewachsen ist (vgl. Schrappe 2018: S. 11). Wichtige Faktoren für die Entstehung von Risiken für Kinder stellen durch die Erkrankung bedingte Beeinträchtigungen der Beziehungs- und Erziehungskompetenzen der Eltern und die dadurch entstehenden problematischen Beziehungsmuster zwischen Kindern und Eltern und erschwerten Sozialisationsbedingungen für Kinder dar. Diese können gerade im Kontext von Vernachlässigung und psychischer Misshandlung zu Bindungsstörungen führen (vgl. Ziegenhain/Deneke 2014). Studien belegen, dass Kinder psychisch erkrankter Eltern ein erhöhtes Risiko tragen, hoch unsichere Bindungsmuster zu entwickeln, die frühkindliche Regulationsstörungen und psychische Erkrankungen auslösen können (vgl. Lenz 2017: S. 16). Neben Verhaltensauffälligkeiten entwickeln sie häufig Angststörungen, de-
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pressive Störungen und substanzbezogene Störungen (vgl. Kölch/ Schmid 2014: S. 125). Die Art der Belastung der Kinder ist je nach Lebensalter unterschiedlich, wie Gutmann (2017) darstellt. Psychische Erkrankungen von Müttern können sich bereits in der Schwangerschaft negativ auf die Entwicklung des Embryos auswirken. Sie können zudem mit einer eingeschränkten Feinfühligkeit der Mütter für ihr neugeborenes Baby einhergehen, was zu vernachlässigendem oder aggressivem Verhalten gegenüber dem Kind führen kann. In der Folge können bereits Kleinkinder ein wechselhaftes Verhalten zwischen Selbstgefährdung und übermäßiger Passivität zeigen. Im Schulalter gewinnt z. B. das Risiko einer Parentifizierung, d. h. einer Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern, an Bedeutung und im Jugendalter belastet die elterliche psychische Erkrankung oftmals die Ablösungsphase (vgl. Gutmann 2017: S. 13–14). Gefühle der Schuld, Scham und Angst können zu einer Tabuisierung der elterlichen Erkrankung und zu sozialer Isolation der Kinder und Familien führen (vgl. Kölch/Schmid 2014: S. 125). Allerdings sind die emotionalen Belastungen, denen Kinder von psychisch erkrankten Eltern durch »ausstoßende, verstrickende oder unvorhersehbare Eltern-Kind-Beziehungen« (Loch 2016: S. 66) ausgesetzt sind, bisher nicht ausreichend erforscht. Internationale und nationale Untersuchungen bestätigen aber: Eine psychische Erkrankung von Eltern stellt ein erhebliches Entwicklungsrisiko für Kinder und Jugendliche dar (vgl. Wiegand-Grefe et al. 2011: S. 145). Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder im Laufe ihres Lebens selber eine psychische Störung entwickeln (vgl. Ziegenhain/Deneke 2014: S. 14). Es kann auf Grundlage von Ergebnissen der Resilienzforschung (Kauai-Studie 1992) angenommen werden, dass etwa ein Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine psychische Störung und ein weiteres Drittel vorübergehende Auffälligkeiten (wie z. B. Leistungsschwierigkeiten in der Schule, geringe soziale Kompetenz, Ängstlichkeit oder Substanzmissbrauch) entwickelt, während etwa ein Drittel der Kinder resilient ist und trotz hoher Belastungen weder in der Kindheit noch im Erwachsenenalter psychische Störungen oder Auffälligkeiten entwickelt (vgl. Loch 2016: S. 27). Die Ergebnisse zeigen somit: Zwei Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickeln keine psychische Störung. Es liegen umfangreiche Forschungserkenntnisse zu den Auswirkungen bestimmter psychischer Erkrankungen vor. Ein Vergleich
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führt allerdings über alle Untersuchungsgruppen hinweg zu dem Befund, dass unabhängig von der Art der psychischen Erkrankung eines Elternteils ein erhöhtes Entwicklungsrisiko für die Kinder besteht (vgl. Lenz 2014: S. 41, 43). Es gibt zwar auch Hinweise darauf, dass z. B. Kinder von Eltern mit Borderline- oder antisozialen Persönlichkeitsstörungen ein besonders hohes Risiko tragen können, misshandelt zu werden und Verhaltensauffälligkeiten oder eine psychische Störung zu entwickeln (vgl. Lenz 2017: S. 11). Aber in der differenzierten Betrachtung der Auswirkungen einzelner psychischer Erkrankungen der Eltern auf deren Kinder werden keine »regelhaften krankheitsspezifischen Muster« (Loch 2016: S. 69) ersichtlich. Aus dem Blick auf die Art der elterlichen psychischen Erkrankung können somit kaum Schlussfolgerungen bezüglich der Entwicklungsrisiken für die Kinder gezogen werden. Das Modell der transgenerationalen Transmission psychischer Störungen (Hosman et al. 2009) bezieht daher viele unterschiedliche Faktoren in die Analyse mit ein: Es werden z. B. die Ebenen der Eltern, der Familie, des Kindes und des sozialen Umfelds unterschieden und genetische, familiäre und soziale Einflüsse sowie die Eltern-Kind-Interaktion und die kindliche Entwicklung berücksichtigt (vgl. Christiansen/Anding/Donath 2014: S. 81). Zudem spielt es eine große Rolle, ob ein Elternteil von mehreren psychischen Erkrankungen, z. B. von einer depressiven Störung und einer substanzbezogenen Störung, gleichzeitig betroffen ist und ob nur ein Elternteil oder beide Eltern psychisch erkrankt sind. Loch stellt auf Grundlage des aktuellen Forschungsstands dar, dass vor allem die Wechselwirkungen zwischen drei Faktoren betrachtet werden müssen, um die Risiken für die Kinder in den Blick zu nehmen: Demnach wirken »krankheitsbezogene Faktoren wie Schweregrad der elterlichen Erkrankung, Art der elterlichen Symptomatik, Chronizität der Symptome, Komorbidität psychischer Erkrankungen, Relation zwischen Rückfallhäufigkeit und symptomfreien Phasen« (Loch 2016: S. 25) mit Faktoren der »Familienkonstellation, wie Alter der Kinder bei der elterlichen Erkrankung, Anzahl weiterer erkrankter Familienmitglieder und Familienklima sowie chronischen sozialen Belastungen wie Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Isolation« (ebd.: S. 25) zusammen. Den psychosozialen und sozialen Belastungsfaktoren wird ein entscheidender Stellenwert für den Grad der emotionalen Belastungen und das Krankheits- und Misshandlungsrisiko von Kindern
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psychisch erkrankter Eltern zugewiesen (vgl. Loch 2016: S. 25; Ziegenhain/Deneke 2014: S. 14). Allerdings müssen neben den Risikofaktoren auch immer Schutzfaktoren wie die individuellen Fähigkeiten zur Problembewältigung und weitere personale, familiale und soziale Ressourcen der Familienmitglieder betrachtet werden. Lenz stellt heraus, dass insbesondere emotional sichere Bindungen, elterliche Wärme und Interesse am Leben des Kindes sowie ein angemessenes Erziehungsverhalten wichtige Schutzfaktoren darstellen (vgl. Lenz 2014: S. 55). Erst aus der jeweiligen, immer einzigartigen Konstellation spezifischer Belastungs- und Resilienzfaktoren können Gefährdungslagen von Kindern abgeschätzt werden. Insofern kann die Situation von Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen nur in einem »Kontinuum zwischen Belastung und Bewältigung« (Kuehn-Velten 2017: S. 12) verstanden werden. Sind die psychisch erkrankten Eltern in der Lage, sich und ihre Beziehungen zu ihren Kindern zu reflektieren? Welche Bewältigungsstrategien haben die Kinder im Umgang mit der elterlichen Erkrankung entwickelt? Setzen sich die Familienmitglieder offen mit den Auswirkungen der psychischen Erkrankung auf ihr Zusammenleben auseinander oder wird die Erkrankung tabuisiert? Gibt es unterstützende Personen im sozialen Umfeld, zu denen die Kinder eine Beziehung entwickelt haben? Sind gesellschaftliche Unterstützungsangebote für alle Familienmitglieder erreichbar? Dass viele der Probleme, mit denen Familien konfrontiert sind, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist, genuine Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit sind, liegt angesichts des großen Einflusses, den soziale und psychosoziale Belastungen auf die Gefährdungsrisiken von Kindern nehmen, auf der Hand. Aber wie können im Einzelfall Gefahren für Kinder psychisch erkrankter Eltern sozialpädagogisch eingeschätzt werden? Und wie kann Kindern aus Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen ganz konkret geholfen werden?
Gefährdungseinschätzung bei Kindern psychisch erkrankter Eltern Für die Gefährdungseinschätzung und darauf basierende Planung einer gelingenden Hilfe und Intervention in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil ist es wichtig, erkrankungsbedingte Beeinträchtigungen im Zusammenwirken mit sozialen, psychosozialen und familialen Faktoren zu betrachten und zu verstehen, was
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das für das Aufwachsen und die psychische Gesundheit von Kindern bedeutet.1 Welche Herausforderung z. B. das Erkennen einer psychischen Misshandlung darstellt, kann nachvollzogen werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es schon selten einfach ist, körperlich sichtbare Verletzungen in einen sicheren Zusammenhang mit physischer Misshandlungen zu stellen. Aus der Perspektive des Kinderschutzes ist es deshalb sinnvoll, sowohl die Situation der Kinder und der Eltern als auch die Dynamiken, Rollen und Kommunikationsmuster innerhalb des Familienzusammenhangs zu berücksichtigen. So spielen bei der Gefährdungseinschätzung auch Aspekte wie die Fähigkeiten der psychisch erkrankten Eltern zur Selbstreflexion und zur Wahrnehmung der kindlichen Perspektive, die Beschaffenheit des sozialen Umfelds und die aktuelle Lebenssituation der Familien sowie die Erreichbarkeit von sozialen und medizinischen Hilfeangeboten eine Rolle. Um Entwicklungen fachlich beurteilen zu können, müssen Fachkräfte daher in direktem und vertrauensbildendem Austausch mit den betroffenen Eltern und Kindern stehen und sich zu ihnen in Beziehung setzen. Es ist folglich notwendig, in eine altersgerechte Kommunikation mit dem Kind zu treten und 1 | In einer stigmatisierenden Sichtweise wäre die Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls ein Kinderspiel: So könne man bereits an Vornamen wie »Collin Joe«, »Jayden« oder »Tyler Reese« das Risiko ableiten, dass diese Kinder gefährdet seien, »als Säuglinge ein Schütteltraumata [sic!] zu erleiden, als Kleinkinder zu Tode geprügelt, mit glühenden Zigaretten gefoltert oder vom Balkon geworfen zu werden« (Tsokos/Guddat 2015: S. 74). Ab einem Alter von etwa zehn Jahren könne »selbst der ungeschulte Beobachter« (ebd.: S. 88) misshandelte Kinder leicht erkennen: »Diese Kinder sind auffällig unruhig und aggressiv.« (Ebd.) Und auch die misshandelnden Eltern können demnach zumindest von Rechtsmediziner_innen anhand von »drei sicheren Anzeichen« (ebd.: S. 131) identifiziert werden: »Misshandler« (ebd.) lügen bezüglich der Erklärungen für Verletzungen ihrer Kinder, sind »Drogenmissbraucher« (ebd.) und zögern Arztbesuche heraus (vgl. ebd.). Nicht nur stehen diese Schilderungen im Gegensatz zu den vielfältigen fachlichen Herausforderungen, die sich im Kontext der Gefährdungseinschätzung stellen. Sie können zudem dazu beitragen, die Situation von Kindern aus belasteten Elternhäusern zu verschlechtern. Man kann sich gut vorstellen, dass eine Mutter, die psychisch erkrankt ist, eine Suchtproblematik aufweist oder von Armut betroffen ist und deren Kind beim Spielen vom Hochbett fällt und sich verletzt, einen erforderlichen Arztbesuch scheut, um – derartig riskante Zuschreibungen antizipierend – Stigmatisierungen zu vermeiden.
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einen fortgesetzten Dialog mit den Eltern zu führen, denn sozialpädagogisches Fallverstehen setzt voraus, dass die Stimmen der Betroffenen Gehör finden. Gleichzeitig belegt die Wirkungsforschung, dass ein über Kommunikation und Mitwirkung in der Hilfeplanung und im Hilfeprozess erzeugtes hohes Beteiligungsempfinden von Betroffenen einen entscheidenden Erfolgsfaktor gelingender Hilfen darstellt (vgl. exemplarisch ISA 2009). Den Fachkräften der Jugendämter fällt die Aufgabe zu, im Dialog mit den Familien eine achtsame Gefährdungseinschätzung und Hilfeplanung zu erarbeiten. Dabei sollen sie auch die Expertise anderer fallbeteiligter Fachkräfte aus unterschiedlichen Professionen und Institutionen einbeziehen. Loch weist darauf hin, dass sich Fachkräfte der Jugendämter bei der Gefährdungseinschätzung in Familien mit psychisch erkrankten Eltern aber oftmals zu einseitig auf psychiatrische Diagnosen und Gutachten stützen (vgl. Loch 2016: S. 190, 289). Wie bereits Klatetzki (2013) anhand eines exemplarischen Fallbeispiels herausgearbeitet hat, verzichten die Fachkräfte der Jugendämter in Kinderschutzfällen zugunsten von medizinischen, psychologischen oder psychiatrischen Deutungen teilweise darauf, eigenständige sozialpädagogische Lesarten der Fälle auf Grundlage unterschiedlicher Quellen zu entwickeln. Angesichts der komplexen Zusammenhänge, aus denen Gefährdungslagen für Kinder psychisch erkrankter Eltern entstehen können, greift ein einseitiger Blick auf aktuelle Symptomatiken, den klinische Diagnostiken liefern können, aber zu kurz. Diese beinhalten keine Erkenntnisse zu den Ursachen und dem spezifischen Zusammenwirken mit weiteren Belastungsfaktoren. Das sozialpädagogische Fallverstehen bleibt in der Kinderschutzarbeit mit Familien mit psychisch erkrankten Eltern unerlässlich, um einen Hebel zu finden, mit dem Fachkräfte in der Hilfe ansetzen können – und dieser Verstehensprozess erfordert neben kompetenten Fachkräften auch praktikable Methoden des Fallverstehens und der Gefährdungseinschätzung, eine direkte Beteiligung und Mitwirkung der Familien sowie große zeitliche und personelle Ressourcen. Das Vorgehen der Kinder- und Jugendhilfe im Fall einer vermuteten Kindeswohlgefährdung, das im § 8a SGB VII und im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) als Bestandteil des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) geregelt ist, soll im Folgenden beispielhaft erläutert werden: Wenn den Fachkräften in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe – z. B. in einer Kindertagesstätte eines freien Trägers der
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Jugendhilfe – gewichtige Anhaltspunkte für eine mögliche Kindeswohlgefährdung zur Kenntnis kommen, sind sie dazu verpflichtet, sich kollegial zu beraten und eine in Kinderschutzfragen insoweit erfahrene Fachkräfte hinzuzuziehen. Wenn die Fachkräfte dann gemeinsam der Meinung sind, dass gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen, müssen sie zunächst mit dem Kind und mit den Eltern ins Gespräch gehen (die Eltern z. B. zu einem außerplanmäßigen Entwicklungsgespräch einladen), um ihre Sorge um das Kind zu klären und gegebenenfalls Hilfe anzubieten. Können die Sorgen um das Kind im Gespräch mit den Eltern nicht geklärt werden und werden die für notwendig erachteten Hilfen von den Eltern nicht angenommen oder die zur Verfügung stehenden Hilfemöglichkeiten von den Fachkräften als nicht ausreichend erachtet, um die Gefährdung abzuwenden, müssen die Eltern darüber informiert werden, dass das Jugendamt eingeschaltet wird. In einem gemeinsamen Gespräch zwischen den Eltern und den Fachkräften aus der Kindertagesstätte und dem Jugendamt wird das weitere Vorgehen besprochen. Das Jugendamt ist daraufhin verpflichtet, die Gefährdung des Kindes einzuschätzen und den Eltern geeignete Hilfen anzubieten. Die Einschätzung der Gefährdung des Kindes muss von mehreren Fachkräften und unter Einbeziehung der Eltern und Kinder erarbeitet werden. Hierzu kann es erforderlich sein, die Familie in ihrer Lebenswelt zu besuchen und dabei auch mit dem Kind zu sprechen bzw. es in Augenschein zu nehmen. Von der Partizipation der Betroffenen an der Gefährdungseinschätzung kann ausdrücklich nur abgesehen werden, wenn dadurch das Kindeswohl gefährdet werden könnte. Sie ist gerade in der Arbeit mit Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen unerlässlich und verlangt eine hohe Intensität. Denn mit einer bloßen Befragung ist es nicht getan. Die Kinder können z. B. in einem Loyalitätskonflikt stehen, weil sie ihre Eltern schützen und nicht belasten wollen. Dieser erschwert dann die Kommunikation über die elterliche psychische Erkrankung. Oftmals müssen Unsicherheiten, Ängste und Schamgefühle, die bei Kindern z. B. durch die Unkenntnis über die Auswirkungen der elterlichen Erkrankung entstehen, von den Fachkräften wahrgenommen und kommunikativ bearbeitet werden. Erst dann wird es möglich, dass Kinder sich öffnen und auch sagen können, wie es ihnen wirklich geht. Auch können von außen schwer zu entdeckende Formen der Vernachlässigung wie z. B. Parentifizierung besser erkannt werden,
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wenn Kinder und Jugendliche und deren Eltern an der Gefährdungseinschätzung umfassend beteiligt werden. Daneben ist die Einbeziehung von Fachkräften der Psychiatrie in die Gefährdungseinschätzung geboten, um ggf. spezifische Gefährdungen im Kontext einer bestimmten psychischen Störung abzuklären. Im nächsten Schritt müssen den Familien, auch wenn eine Kindeswohlgefährdung erkannt wurde, Hilfeformen angeboten werden, die dazu geeignet sind, Gefahren für die Kinder abzuwenden und Ressourcen zur Bewältigung der zugrundeliegenden Probleme zu erschließen. Diese können von den Hilfen zur Erziehung innerhalb der Familie bis zur Unterbringung der Kinder in einem Kinderheim oder in einer Pflegefamilie reichen. Auch in diesen Fällen darf sich die Hilfe nicht allein auf Kinder und Jugendliche außerhalb des Elternhauses konzentrieren, sondern muss die intensive Arbeit mit den Eltern einbeziehen, um eine Rückkehrperspektive überhaupt zu ermöglichen, in jeden Fall aber möglichst die Beziehung zwischen Eltern und Kind aufrechtzuerhalten. Die Einschätzung des Hilfebedarfs in Familien mit psychisch erkrankten Eltern stellt eine besondere Herausforderung dar, weil sich im Zusammenhang mit der Dynamik der Erkrankung in den Familien schnell wechselnde Situationen ergeben können. Dies erschwert die Prognose erheblich und erklärt den Bedarf einer fortwährenden Überprüfung und Anpassung der Hilfeziele im weiteren Hilfeverlauf. Erst wenn ersichtlich wird, dass die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, die Kindeswohlgefährdung abzuwenden, und sie für notwendig erachtete Hilfeangebote ablehnen, kann (und muss) das Jugendamt das Familiengericht einschalten. Es ist die einzige Institution in Deutschland, die dazu befugt ist, Rechte von Eltern zum Schutz in ihrem Wohl gefährdeter Kinder zu limitieren oder aufzuheben. Das Jugendamt hat solche Befugnisse nicht (→ Kapitel 5). Es ist auf die Zusammenarbeit mit Eltern im Kinderschutz angewiesen, natürlich auch dann, wenn diese psychisch erkrankt sind. Zwar kann das Jugendamt bereits im Vorfeld Kinder sehr kurzfristig zur Gefahrenabwehr in akuten Bedrohungssituationen – auch unter Mitwirkung der Polizei – in Obhut nehmen. Aber erst wenn das Familiengericht den Eltern die elterliche Sorge zu Teilen entzieht, ist es Aufgabe des gerichtlich bestellten Vormunds bzw. Pflegers (dies kann auch eine Fachkraft des Jugendamts als Amtsvormund oder Amtspfleger sein), die vom Familiengericht zugewiesenen Aufgaben
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wahrzunehmen und das Kind, gegebenenfalls auch unter Zwang mithilfe der Polizei, von den Eltern wegzunehmen. Natürlich kann das aufgezeigte gesetzlich vorgeschriebene Vorgehen durch die hohen Anforderungen, die es an die Transparenz des Prozesses und die Beteiligung von Eltern und Kindern stellt, als aufwendig erachtet werden. Und nicht selten vertreten Fachkräfte die Auffassung, dass Dialogorientierung und Beteiligung bei der Arbeit im Kinderschutz enden. Das Grundgesetz sagt aber etwas anderes. Denn wenn mit dem Schutz von Kindern ein Eingriff in die Integrität der Familie und das Sorgerecht der Eltern verbunden sein kann, muss sich das Jugendamt als Organ eines demokratischen Staates diesen Aufwand leisten. Selbst dann, wenn es bereits zu einer Trennung des Kindes von seinen Eltern zum Schutz des Kindes gekommen ist, bleibt der Staat dazu verpflichtet, durch öffentliche Hilfen die Trennung zu beenden und eine Rückkehrperspektive in die Herkunftsfamilie zu eröffnen. Zudem muss bedacht werden: Derartige Eingriffe beeinflussen das Leben der betroffenen Kinder und Eltern massiv und auf Dauer. Sie können bei Kindern weitere Traumatisierungen verursachen. Es gebietet sich somit, bei der Entscheidungsfindung besonders sorgfältig vorzugehen, allen Beteiligten gut zuzuhören und auch die Risiken der Intervention nicht zu unterschätzen. Die Kinder- und Jugendhilfe sollte nicht den Fehler fortsetzen, aus Gründen des Zeitdrucks, Personalmangels und erhöhten Fallaufkommens fachliche Standards herabzusetzen und Methoden zu nutzen, die eine Gefährdungseinschätzung in einer knappen Stunde versprechen. Es existieren keine ›Wundermethoden‹, die dies auf fachlich seriöse Weise gewährleisten könnten. Und gerade in der Arbeit mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern zeigt sich, dass in den meisten Fällen keine eiligen Nothilfemaßnahmen angezeigt sind (vgl. Schrappe 2018: S. 69). Erst auf Grundlage eines sozialpädagogischen Verstehensprozesses, der auf der Auswertung von dokumentiertem Fallwissen, Gesprächen mit den Familienmitgliedern und einer Zusammenschau unterschiedlicher fachlicher Expertisen basiert, ist es möglich, geeignete Hilfen und Interventionen in Familien mit psychisch erkrankten Eltern zu planen und umzusetzen. Und nur durch die Beobachtung der Entwicklungen im Hilfeverlauf, einen fortdauernden Dialog mit den Kindern und Eltern und eine fortgesetzte Anpassung von Zielen und Hilfen an neue Situationen und Bedingungen in den Familien können die Risiken der diesbezüglichen Entscheidungen methodisch kontrolliert
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werden. Sozialpädagogisches Fallverstehen und sozialpädagogische Fallarbeit haben aber nicht nur zum Ziel, Kindeswohlgefährdungen zu erkennen und mit Herz und Verstand einzugreifen, wo dies zum Schutz der Kinder erforderlich ist. Sie dienen auch den Interessen der Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt, aber das Kindeswohl nicht gefährdet ist, die aber dennoch einen spezifischen Unterstützungsbedarf haben – und wir dürfen nicht vergessen, dass dies die Regel und nicht die Ausnahme ist.
Hilfen für Kinder psychisch erkrankter Eltern Die riskanten Lebensbedingungen, schwierigen sozialen Rahmenbedingungen und emotionalen Belastungen, unter denen Kinder psychisch erkrankter Eltern aufwachsen, sind Ausgangspunkte für die Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. In einem stigmatisierungssensiblen und kindeswohlorientierten Hilfeplanungsprozess können unterschiedliche Belastungen und Unterstützungsbedarfe von Kindern und Eltern erkannt werden. Im Fokus der sozialpädagogischen Aufmerksamkeit stehen daher die Fragen: Wie kann der Einfluss der psychischen Erkrankung und weiterer Belastungen, wie ungünstige Lebensbedingungen, auf die Situation und das Verhältnis von Kindern und Eltern im Dialog mit den Familien gemeinsam verstanden werden? Welche Unterstützung brauchen Kinder und Eltern für eine gelingende Bewältigung dieser schwierigen Lebensbedingungen? Dabei kann auf verschiedenen Ebenen angesetzt werden, von der Förderung individueller Resilienzfaktoren der Kinder und individueller erzieherischer Fähigkeiten und Kompetenzen der Eltern über die Arbeit an familialen Schlüsselprozessen (Walsh 2012) bis hin zur Erschließung von Unterstützung im sozialen Umfeld der Familie. Mit familienorientierten Ansätzen können die Reflexion und die Veränderung der Krankheitskonstruktion durch die Eltern sowie die Kommunikation und Alltagsstrukturierung innerhalb der Familie unterstützt werden (vgl. Loch 2016: S. 35). Kindern kann im Kontext der Psychoedukation ein Wissen über die elterliche Erkrankung, über Symptome und die Auswirkungen auf das Verhalten der Eltern erläutert werden. Eltern können dabei unterstützt werden, mit ihren Kindern über die Erkrankung zu reden. Auf diese Weise kann es gelingen, ein gemeinsam getragenes Verständnis zu entwickeln und einer Tabuisierung der Erkrankung entgegenzuwirken.
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Verfügbare Hilfeangebote sind z. B. sozialpädagogische Familienhilfen, Gruppen- und Beratungsangebote, Patenschaften oder Eltern-Kind-Einrichtungen. Familienorientierte Angebote fördern die Fähigkeit der Eltern zur Selbstsorge im Umgang mit der eigenen psychischen Verletzlichkeit und die Entwicklung einer Problemeinsicht und Veränderungsbereitschaft in Bezug auf das Verhalten den Kindern gegenüber. Sind diese fortgesetzt nicht vorhanden, kann es notwendig sein, Kinder in Pflegefamilien und Kinderheimen unterzubringen. Im Kontext einer begleitenden Elternarbeit ist es aber auch nach einer Trennung weiter möglich, an der Bewältigung der schwierigen Lebenssituation für Kinder und Eltern zu arbeiten. Im Sinne einer multiprofessionellen Kinderschutzarbeit müssen die genannten sozialpädagogischen Angebote natürlich mit psychiatrischen Angeboten für die betroffenen Eltern und Kinder verbunden sein. Aber genau hier, bei der Verbindung zwischen Erwachsenenpsychiatrie, Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie hakt es im Kinderschutzsystem (vgl. Fegert/Kölch/Ziegenhain 2014: S. 108–121). Das liegt vor allem daran, dass für Erwachsene und Kinder unterschiedliche Systeme mit jeweils eigenen Gesetzesgrundlagen und Finanzierungssystemen zuständig sind und es bisher keine systematisierten Formen einer gemeinsamen Hilfeprozessierung von Psychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe gibt. Konkret bedeutet das: Wenn sich ein Elternteil in ambulanter oder stationärer psychiatrischer Behandlung befindet, führt dies nicht immer und automatisch dazu, dass auch ein möglicher psychosozialer und sozialer Unterstützungsbedarf der Kinder und der gesamten Familie erschlossen und bearbeitet wird. Für integrierte Angebote, die Hilfen für betroffene Eltern und Kinder verbinden, bestehen keine gesetzlichen Vorgaben und sie sind kein Bestandteil der Regelfinanzierung staatlicher Hilfeleistungen (vgl. Kölch/Schmidt 2014: S. 137–138). Dies hat zur Folge, dass eine Struktur von Hilfeangeboten für Kinder psychisch erkrankter Eltern regional sehr unterschiedlich ausgeprägt und teilweise auch gar nicht vorhanden ist (vgl. Pillhofer et al. 2016: S. 10–12). Dennoch existiert eine Vielzahl von Projekten, Initiativen und Netzwerken, die Hilfen für Familien bieten, in denen Eltern psychisch erkrankt sind. Einen Überblick bietet die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder psychisch erkrankter Eltern auf ihrer Webseite2 . Zahlreiche Veröffentlichungen gewähren 2 | Siehe: www.bag-kipe.de.
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Einblicke in die einzelnen Projekte, Angebote und Methoden (z. B. Beiträge von Beek, Bercker, Dembski-Minßen, Kölch/Munk, Rolles, Spierling und Weiß in den Sammelbänden »Kinder psychisch kranker Eltern« [Kölch/Ziegenhain/Fegert 2014] und »Psychische Erkrankung und Sucht« [Die Kinderschutz-Zentren 2017]). Viele Angebote werden nur befristet über Zuwendungen von Stiftungen und Vereinen oder über staatliche Fördermittel für wissenschaftlich begleitete Modellprojekte finanziert, so dass innovative Unterstützungsprojekte häufig keine sichere und dauerhafte Perspektive haben. Zudem mangelt es an verbindlichen und flächendeckenden Kooperationsstrukturen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Psychiatrie sowie an strukturell verankerten Formen einer regelhaften interdisziplinären Zusammenarbeit im Einzelfall (vgl. Loch 2016: S. 59). Aber auch wenn die system- und disziplinübergreifende Zusammenarbeit gerade in Fragen des Kinderschutzes bereits seit Jahren gefördert wird, stößt sie oftmals aufgrund unterschiedlicher professionsspezifischer Sichtweisen an ihre Grenzen und wird von den Beteiligten als mühsam und frustrierend wahrgenommen. Daher kann die Erarbeitung eines gemeinsam getragenen Fall- und Aufgabenverständnisses als wesentliche Herausforderung in der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Psychiatrie angesehen werden (vgl. Schmutz 2017: S. 25–28). Dieser Verständigungsprozess stellt eine Voraussetzung dafür dar, dass die fachliche Abwägung im Einzelfall nicht zu einem Kampf der Professionen um die Deutungshoheit gerät und die unterschiedlichen Expertisen in einer differenzierten Gefährdungseinschätzung und Hilfeplanung zusammenfließen können. Eine gleichberechtigte Mitwirkung von Betroffenen an diesem Verständigungsprozess kann zudem dazu beitragen, eine zweite zentrale Herausforderung anzugehen und die Akteurperspektive von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern in der Kinder- und Jugendhilfe und der Psychiatrie zu stärken. Neben den Herausforderungen in der Kooperation zwischen Psychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe stellen sich weitere Schnittstellenproblematiken, wie z. B. Fallübergaben zwischen spezialisierten Kinderschutzteams und den im Anschluss zuständigen Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter oder Übergänge zwischen den in den vergangenen Jahren verstärkt ausgebauten Angeboten der Frühen Hilfen und weiteren Hilfeleistungen, wenn die Kinder älter werden. Dabei kommt es häufig zu wechselnden Bezugspersonen und Beziehungsabbrüchen, die den Hilfeprozess gefährden können.
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Ein weiteres Problem besteht darin, dass psychisch erkrankte Eltern nur selten Hilfen für ihre minderjährigen Kinder nachsuchen und in Anspruch nehmen. Neben den beschriebenen Aspekten einer fehlenden Angebotsstruktur von psychosozialen Hilfen für Kinder und einer mangelhaften Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Psychiatrie können als weitere Hürden für die Inanspruchnahme von Hilfen krankheitsbedingte Teilhabebeeinträchtigungen, fehlende Informiertheit von Eltern und Fachkräften über Hilfemöglichkeiten für betroffene Kinder sowie Ablehnung von Hilfeangeboten durch Eltern und Kinder z. B. aus Angst vor Stigmatisierungen genannt werden (vgl. Kölch/Schmid 2014: S. 123). Aber selbst wenn psychisch erkrankte Eltern Hilfen für ihre Kinder in Anspruch nehmen wollen, bleibt es fraglich, ob die Erwartungen der Betroffenen auch erfüllt werden können. Wenn z. B. Eltern, die durch ihre psychische Erkrankung stark eingeschränkt sind, selber der Meinung sind, dass ihre Kinder bei Pflegeeltern besser aufgehoben wären, ist es nicht immer leicht, diese Pflegeeltern auch zu finden. Und das liegt nicht nur daran, dass es grundsätzlich zu wenige Pflegeeltern gibt. Diese Problematik soll im Folgenden anhand eines kurzen Fallbeispiels veranschaulicht werden: Hannah wird seit ihrer Geburt in der Kinderklinik stationär behandelt. Aufgrund der Drogenabhängigkeit ihrer Mutter hat sie an massiven Entzugserscheinungen gelitten, die inzwischen aber gut abgeklungen sind. Es stellt sich die Frage, wo Hannah (drei Wochen alt) nach Abschluss der medizinischen Behandlung aufwachsen soll. Ihre Mutter lebt derzeit auf der Straße, nimmt aber immer wieder von sich aus Kontakt zu den Behörden auf. Ihr genauer Aufenthaltsort ist jedoch unbekannt. Sie wünscht sich, dass Hannah in einer guten Familie aufwächst und es ihr erlaubt wird, Hannah regelmäßig besuchen zu dürfen, wenn sie sich dazu in der Lage fühlt. Sie selbst kann und will nicht für Hannah sorgen. Die Suche nach einer geeigneten Pflegefamilie für Hannah erweist sich als schwierig. Es kann keine Familie gefunden werden, die dazu bereit ist, mit Hannahs Mutter in Kontakt zu bleiben. Viele Familien sind davon abgeschreckt, dass die Mutter drogenabhängig ist und es derzeit unklar ist, wie die Umgänge zwischen Hannah und ihrer Mutter gestaltet werden können. Zwar wurde den Familien diesbezüglich vom zuständigen Jugendamt Unterstützung zugesagt, dennoch konnte bislang keine Lösung im Sinne der Mutter gefunden werden. Es wird deshalb darüber nachgedacht, Hannah zunächst in einer Kurzzeitpflegefamilie oder in einer
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stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe unterzubringen, um Zeit zu gewinnen und eine geeignete Dauerpflegefamilie zu finden. Für Hannah ist diese Lösung nicht optimal, ist sie doch gerade als Säugling auf stabile und verlässliche Bindungen angewiesen. Im ungünstigsten Fall wird sie von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht. Im Idealfall kann nach dreimonatiger Unterbringung in einer Kurzzeitpflegefamilie eine dauerhafte Lösung gefunden werden – eine gute Familie, die für Hannah bis zu ihrer Volljährigkeit sorgt und keine Scheu davor hat, mit ihrer drogenabhängigen Mutter im Interesse des Kindeswohls zusammenzuarbeiten. Mit dem Fallbeispiel soll aufgezeigt werden, dass die Arbeit mit Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen die Kinder- und Jugendhilfe auch dann vor Herausforderungen stellt, die das Wohl der Kinder unmittelbar betreffen, wenn Eltern Problemeinsicht zeigen und die Frage unstrittig ist, ob das Kindeswohl in der Familie gefährdet wäre. Durch das Erkennen und erste Abwenden einer Kindeswohlgefährdung wird die Problematik für das Kind, die Eltern und die beteiligten Fachkräfte der Sozialen Arbeit nicht automatisch aufgelöst. In der weiteren Bearbeitung der Kindeswohlgefährdung ergeben sich in den unterschiedlichen Hilfeformen vielfältige weitere Fragestellungen und Schwierigkeiten. Wie das Fallbeispiel zeigt, kann dies auch dann zu Belastungen und ungünstigen Situationen für Kinder führen, wenn das Kindeswohl grundsätzlich als gesichert betrachtet werden kann. Und dies kann geschehen, obwohl die Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe alles daransetzen, die bestmöglichen Bedingungen für Kinder und Jugendliche herzustellen und sich mit größtem Fachwissen und Engagement für deren Wohlergehen einsetzen. Resümierend kann festgehalten werden, dass sich Gefährdungen für das Wohl von Kindern psychisch erkrankter Eltern ergeben können, wenn in Familien unterschiedliche Belastungsfaktoren kumulieren. Aufgrund der multifaktoriellen Ursachen von Kindeswohlgefährdungen, der grundlegenden Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens und der Dynamik in den Ausprägungen der Symptomatik psychischer Erkrankungen stellt die Einschätzung von Gefahren für Kinder eine hochkomplexe Aufgabe dar. Fachkräfte des Jugendamts können dieser Aufgabe nur gerecht werden, wenn es ihnen gelingt, die Situation von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern sowie die Beziehungen in der Familie im Dialog mit den betroffe-
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nen Familienmitgliedern zu verstehen und den Einfluss der psychischen Erkrankung im Austausch mit fallbeteiligten Fachkräften der Psychiatrie professionell wahrzunehmen. Sie müssen dabei mehr Komplexität und mehr Beteiligung zulassen, anstatt zu versuchen, beides aus Zeitgründen zu reduzieren. Dazu gehört es auch, dass sozialpädagogische Fachkräfte im Hilfeprozess einen vertrauensvollen Zugang zu betroffenen Familien finden und Interaktionen und Beziehungen in der Lebenswelt der Kinder beobachten. Mit einer von Tsokos und Guddat (2015) diskreditierten beobachtenden und den Familien zugewandten Haltung können Fachkräfte Entwicklungen und Auswirkungen unterschiedlicher Einflüsse auf die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern erkennen, anstatt nur Schnappschüsse akuter Symptomatiken wahrzunehmen. Sie können verstehen, was Kinder und Eltern brauchen, und dann fachlich einschätzen, welche Förderungsmöglichkeiten sie gemeinsam mit den Betroffenen entwickeln können. Eine misstrauische und stigmatisierende Grundhaltung gegenüber psychisch erkrankten Eltern trägt dagegen dazu bei, die ohnehin großen Hürden für die Inanspruchnahme von Hilfen für betroffene Kinder weiter zu erhöhen.
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10. Eltern sind Kinderschützer – eine Entlastung In öffentlichen Debatten zum Thema Kinderschutz wird Eltern Erziehungsversagen oder mangelnde Fürsorge, Vernachlässigung und Misshandlung vorgeworfen. Von ihnen wird erwartet, dass sie perfekt sind sowie für die bestmögliche Förderung, Bildung und Erziehung ihrer Kinder Sorge tragen und dabei keine ›Fehler‹ machen. Schließlich geht es darum, das Wohl von Kindern allumfassend abzusichern (vgl. Betz/Bischoff 2018; Stamm 2018). Und es ist ja auch unbestreitbar, dass Kinder tatsächlich in ihren Familien zu Schaden kommen. Kinder werden geschlagen, verletzt, erhalten unzureichend Nahrung oder werden nicht angemessen versorgt, wenn sie krank sind, oder Erwachsene üben gar sexuelle Gewalt gegen sie aus. Doch sollte bei aller berechtigten Empörung bedacht werden, dass öffentlich vor allem die seltenen Fälle Beachtung finden, in denen kriminelle Aspekte im Vordergrund stehen. Natürlich ist es richtig und notwendig, über derlei Probleme öffentlich nachzudenken und Entwicklungen anzustoßen, die dem entgegenwirken. Andererseits wird über die überwiegende Mehrzahl der Familien, die im Kontext des Kinderschutzes Unterstützungsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe erhalten und in denen Kindeswohlgefährdungen ganz andere Hintergründe haben, kaum gesprochen. Deshalb möchten wir uns im Folgenden genau diesen Eltern zuwenden.
Die soziale Dimension der Kindeswohlgefährdung Grundsätzlich sollte in der öffentlichen Auseinandersetzung über den Kinderschutz nicht übersehen werden, dass die allermeisten Eltern in Deutschland sehr wohl für ihre Kinder sorgen und ihnen familiäre Bedingungen bieten, in denen diese gut aufwachsen können. Sie stellen sich ihrer Verantwortung, bemühen sich frühzeitig
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um passende Förderangebote, praktizieren Formen einer partnerschaftlichen Erziehung, tendieren teilweise sogar zu Überbehütung (Stichwort ›Helikoptereltern‹) und sehen sich einer gesellschaftlichen Sicherheitsangst ausgesetzt, welche sie dazu anhält, ihre Kinder vor Gefährdungen und Schädigungen jeglicher Art bewahren zu müssen (vgl. Stamm 2018). Und auch die meisten jener Eltern, die das nicht tun oder tun können, haben im Kern Interesse daran, dass es ihren Kindern gut geht. Sie möchten ihre Aufgaben und Pflichten als Eltern angemessen erfüllen und ihre Kinder gesund aufwachsen sehen. Sie möchten keine schlechten Mütter oder Väter sein. Und doch gelingt es ihnen nicht oder jedenfalls nicht immer, für ihre Kinder verlässlich da zu sein und sie liebevoll zu umsorgen. Ohne Zweifel gibt es auch Eltern, die aus unterschiedlichen Gründen die Verantwortung als Mütter oder Väter nicht tragen können oder wollen. Und es gibt auch eine nicht kleine Anzahl von Eltern, die bewusst und auch mit krimineller Energie Gesetze umgehen und missachten – die nicht bereit sind, ihre Kinder zu schützen und stattdessen Gewalt ausüben oder ihre Kinder massiv vernachlässigen. Gegen diese Personen muss die staatliche Gemeinschaft auch mit juristischen Mitteln vorgehen. Es ist darüber hinaus Pflicht und Aufgabe der Gesellschaft, gute Bedingungen, menschlich zugewandte Personen, die tragfähige Beziehungsangebote machen, sowie sichere, alternative Orte für diese Kinder bereitzuhalten. In diesen Fällen sollen Kinder oder Jugendliche außerhalb ihrer Familie groß werden können. Die Möglichkeiten, das zu gewährleisten, sind durchaus vorhanden und es ist auch in den letzten Jahren viel dafür getan worden, dass Pflegefamilien oder Heimeinrichtungen sowohl qualitativ weiterentwickelt als auch quantitativ ausreichend vorgehalten werden. Das ist immer noch im guten Sinne ausbaufähig, aber es ist nicht anzuzweifeln, dass sich in diesen Zusammenhängen viele Menschen sehr bemühen, Kindern ein gutes Zuhause zu bieten. Und doch soll hier zunächst der Blick auf Eltern gerichtet werden, die vor allem eines brauchen: Zuwendung, Orientierung, neues Wissen und Unterstützung. Aus der Forschung ist bekannt, dass Gefährdungen des Wohls von Kindern multifaktoriell bedingt sind und Kinder vor allem dann Schaden nehmen können, wenn sich in Familien Konflikte und Krisen chronifizieren und Eltern keine Unterstützung erfahren oder davon absehen, diese anzunehmen (vgl. Biesel/Urban-Stahl 2018: S. 137 ff.; Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009: S. 34 ff.). Das bedeu-
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tet, dass Eltern in aller Regel im Hinblick auf ihr Kind oder ihre Kinder nicht einfach so falsch handeln, sondern dass bestimmte Zusammenhänge bestehen, die zu gefährdenden Verhaltensweisen der Eltern führen. Dabei haben Armut, soziale Ausgrenzung bis hin zu völliger Isolation, bedenkliche Auffassungen, was für Kinder gut und richtig ist (fragwürdige Erziehungsauffassungen), traumatisierende eigene Erfahrungen als Kind und Jugendliche in der Herkunftsfamilie, unzureichende Bildung und fehlende Teilhabe, Hoffnungslosigkeit, Krankheit und Sucht maßgebliche Bedeutung (vgl. WHO 2013: S. 6). Es hilft daher nicht weiter, diesen Eltern einseitig Schuld für ihre kindeswohlgefährdenden Handlungen und Unterlassungen zu geben und sie als boshafte Akteure zu begreifen und so zu behandeln. Damit wird sich die Lage für die Kinder noch nicht verbessern. (Auch wenn es wie gesagt richtig und notwendig sein kann, Kinder von misshandelnden Eltern zu trennen.) Doch Soziale Arbeit muss auch immer in Betracht ziehen, die Dinge zum Besseren zu wenden. Natürlich ist es falsch, sich mit den möglichen Ursachen und daraus folgenden Erklärungen für problematisches oder gefährdendes Verhalten von Eltern abzufinden und zu resignieren. Man sollte diese Eltern als aktiv an den entstandenen Problemen Beteiligte betrachten. Es kann daher auch notwendig sein, diese Menschen in der dramatischen Lebenslage zu erkennen, in der sie sich befinden. Und es sollte berücksichtigt werden, dass diese individuellen Lebenslagen eingebettet sind in soziale Rahmenbedingungen und Entwicklungen, die alle Familien betreffen.
Die gegenwärtige Situation von Familien in Deutschland Es besteht kein Zweifel: Die Anforderungen an Eltern sind im Hinblick auf die gedeihliche Entwicklung ihrer Kinder deutlich gestiegen und sie sind facettenreicher geworden (vgl. Betz/Bischoff 2018; Stamm 2018). Die Lebenssituationen, die zu Überforderungen, Konflikten, Vereinsamung usw. führen, sind häufiger und vielfältiger geworden (vgl. Rätz et al. 2014). Da ist z. B. das Problem alleinerziehender Elternschaft, oft im Zusammenhang von Scheidung oder Trennung. Dieses Phänomen ist in den letzten dreißig Jahren zu einer umfassenden Lebensform geworden – nicht selten verbunden mit Armut oder zumindest prekären materiellen Bedingungen, unter denen Kinder und deren Familien leben. Daran sind wiederum die Wohn-
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bedingungen gebunden, die entweder beengt und bedrückend sein oder als wenig förderlich bezeichnet werden können. Alleinerziehende Elternschaft, das ergeben viele Untersuchungen (vgl. z. B. Bürger 1998), stellt einen der entscheidendsten Hintergründe für Notlagen auch im Hinblick auf die Lebenssituation von Kindern dar. Doch auch der Umgang mit einer hochentwickelten Technik (Stichwort digitale Medien) oder einer Zunahme des Verkehrs stellen Elemente wachsender Herausforderungen an Eltern dar. Hinzu kommen unterschiedliche Erziehungskulturen, die es kompliziert machen, sich zu orientieren. Und was besonders problematisch ist: Es ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Verlust sozialer Beziehungen der Menschen untereinander gekommen. Auch familiale Zusammenhänge werden in der Forschung als zunehmend desolat beschrieben (vgl. Ecarius 2001). Das wiederum befördert Vereinsamung und soziale Isolation. Entlastungen, nötige emotionale Zuwendung, Austausch und das Gefühl von Zugehörigkeit können so nicht entwickelt werden. Erst wenn die genannten Aspekte in die Einschätzung der Lage von Familien heute einbezogen werden, wird deutlich, dass es für viele Väter und Mütter sehr schwer geworden ist, sich den Anforderungen in ausreichender Weise zu stellen – zumal, wenn eigene Erfahrungen in der Herkunftsfamilie oder auch entstandenes Suchtverhalten und Selbstisolation eine Rolle im Leben der Eltern spielen. Diese Umstände haben auf der einen Seite dazu geführt, dass Eltern immer wieder in komplizierte Situationen geraten, aus denen sie sich in aller Regel jedoch wieder selbst ›herausentwickeln‹ können: Sei es, weil die eigenen Kräfte dazu ausreichen, oder weil es eben doch die Familie umgebende Personen oder Bedingungen gibt, die dabei behilflich sind. Wahrscheinlich können von solchen Entwicklungen alle Eltern berichten. Fehlen diese helfenden Elemente, kann es wie oben bereits erwähnt zu Chronifizierungen von Problemen und Konflikten kommen, die am Ende so etwas wie Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit bzw. Resignation entstehen lassen. Und in dieser Phase kann es eben auch zu schweren Irritationen kommen, die sich in Form von Gewalt, Ignoranz oder Lethargie äußern können. Dies sind Umstände, bei denen Kinder und Eltern dringend Unterstützung, Halt und Schutz erfahren müssen.
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Eltern brauchen Unterstützung und nutzen diese auch: zu Recht! Angesichts der Realität, dass grundsätzlich jede Familie, in der Kinder leben, mit Problemen und Konflikten konfrontiert wird, kann zunächst einmal davon ausgegangen werden, dass die Kraft und Fähigkeit von Eltern zumeist prinzipiell vorhanden ist, auch in widrigen Situationen für ihre Kinder da zu sein. Wie das möglich ist, wird wohl in jeder Familie ein wenig anders zu erklären sein. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch sinnvoll, auf die eigene Familie zu schauen und zu fragen: Was haben wir eigentlich getan, um eine komplizierte Situation gut zu meistern? Waren es die Großeltern oder die Freunde, die geholfen haben? Was haben wir als Eltern getan? Doch nicht immer sind Freunde und Verwandte da, die unterstützen. Manchmal sind Eltern eben doch nicht in der Lage, deutlich zu machen, dass sie nicht weiterwissen – so dass die erweiterte Familie nicht einbezogen wird, die Familie sich zurückzieht und sich weiter isoliert. In solchen Situationen, wenn die Lage immer bedenklicher wird, sind Familien auf professionelle Hilfen angewiesen. Diese Hilfen lassen sich im Kern mit den folgenden Begriffen kennzeichnen: 1. Präventive Einwirkungen auf problematische Sozialräume, Schulen und Regionen; 2. Allgemeine Beratung zu Erziehung und Familie; 3. Schaffung von Zugängen (z. B. Gesundheitseinrichtungen, Suchtberatung usw.) für Eltern und Kinder; 4. Organisation von Unterstützungsnetzwerken für Familien; 5. Familienzentrenarbeit (insbesondere im Rahmen Früher Hilfen im Zusammenhang mit Kindertagesstätten); 6. Gestaltung von Elternlernorten; 7. Sensibilisierung und Beratung von Primärorganisationen, in denen Kinder betreut und versorgt werden (z. B. Kindertagesstätten); 8. unmittelbare und gezielte Unterstützung von Familien in zugespitzten Konflikten und Krisen; 9. Clearingarbeit zur gemeinsamen Ergründung von Zusammenhängen, Ursachen von Konflikten sowie Möglichkeiten der Entwicklung für Kinder, Eltern und Familien; ambulante Familienhilfe; familienintegrative Arbeit unter Einbezug der gesamten Familie;
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10. zeitweilige oder auf Dauer gestaltete Betreuung von Kindern in der Familie oder außerhalb der Familie mit begleitender Elternarbeit. All diese Hilfeformen gehen davon aus, dass Eltern einbezogen und unterstützt werden sollen, um ihre Rolle und Verantwortung als Eltern so wahrnehmen zu können, dass die Kinder ohne bedenkliche Gefährdungen aufwachsen können und dass mögliche Gefahren abgewehrt oder abgewendet werden (vgl. Gedik 2013). So wurden laut amtlicher Kinder- und Jugendhilfestatistik z. B. im Jahr 2016 fast 450.000 Leistungen im Rahmen der Hilfen zur Erziehung von Erziehungsberatungsstellen erbracht (vgl. AKJStat 2018: S. 64) – eine Zahl, die schon mehrere Jahre auf diesem hohen Niveau verharrt. Auch die vom Jugendamt angebotenen ambulanten Familienhilfen werden zunehmend genutzt: Wurden sie im Jahr 2010 noch in 100.453 Fällen angewendet, waren es im Jahr 2016 schon 116.054 (vgl. ebd.: S. 70). Diese Entwicklungen können sowohl als Indikatoren für komplizierte Lebenslagen als auch für die Akzeptanz der Kinder- und Jugendhilfe gesehen werden. Eltern nutzen die Angebote und haben, jedenfalls könnte das angenommen werden, die kritische Sicht auf die Institution Jugendamt bzw. beauftragte freie Träger der Jugendhilfe zumindest ein Stück weit abgelegt. An dieser Stelle soll auch darauf verwiesen werden, dass auch die Nutzung von Heimerziehung und Pflegefamilien deutlich angestiegen ist. Hintergrund ist hier allerdings eine maßgebliche Zunahme an nötigen und rechtlich verpflichtenden Unterbringungen von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen im Alter von 14 bis 18 Jahren. Diese Zahlen stiegen bei der Heimerziehung von ca. 95.205 Maßnahmen im Jahr 2010 auf 141.704 im Jahr 2016 (vgl. ebd.: S. 76). Der Umstand, dass Eltern z. B. die Beratungs- und Hilfeangebote der Kinder- und Jugendhilfe nutzen, wird in der Gesellschaft nach wie vor als problematisch gewertet. Es gibt die Unterstellung, dass diese Eltern eher dazu neigen, zu versagen – eine höchst fragwürdige Sicht: Schließlich würde ja auch niemand die Nutzung von Hilfeleistungen im Gesundheitsbereich kritisieren. Wer krank ist, geht zum Arzt. Man könnte sogar sagen, dass es grundsätzlich besser ist, eine ärztliche Untersuchung beizeiten durchführen zu lassen als zu spät. Ja, es wird sogar geraten, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen – also etwas zu tun, bevor so etwas wie Krankheit überhaupt eingetreten ist. Warum also sollten Eltern und Familien zö-
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gern, beim Jugendamt und den beauftragten Jugendhilfeeinrichtungen Rat einzuholen und Hilfe zu verlangen? Dieser allmählich um sich greifende Standpunkt führt zu einer verstärkten Nutzung der Kinder- und Jugendhilfe durch Familien; ein Umstand, der im Übrigen insbesondere in den Finanzressorts der Kommunen gar nicht so gerne gesehen wird. Denn wenn die Bürger_innen die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe immer breiter nutzen, steigen notwendigerweise auch die Ausgaben; im Jahr 2016 wurden 45.1 Milliarden EUR aufgewendet – größtenteils für den Bereich der Kindertagesbetreuung (63 %), gefolgt von den Hilfen zur Erziehung (22 %); für andere Leistungsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe wurden hingegen deutlich weniger Mittel eingesetzt, wie z. B. für die Kinder- und Jugendarbeit (4.1 %) (vgl. ebd.: S. 35). Und dennoch hat die Profession der Sozialen Arbeit gut daran getan, zu betonen, dass die Kinderund Jugendhilfe für alle Familien da ist. Denn mit diesem Ansatz können Eltern dabei unterstützt werden, frühzeitig Möglichkeiten zu entwickeln, die die eigenen Kompetenzen stützen, erweitern und stärken. Und starke und kompetente Eltern sind auch Kinderschützer. Voraussetzung für erfolgreichen Kinderschutz unter Einbeziehung und Förderung von Eltern sind, • dass die Jugendämter in angemessener Weise personell ausgestattet sind (ja, es wird mehr Fachkräfte brauchen, wenn Eltern die Angebote des Jugendamts als wirkliche Hilfe begreifen und nutzen), • dass sich Jugendämter ihrer helfenden Orientierung bewusst sind und auf Eltern zugehen, sie solidarisch unterstützen und dass sie im Notfall ausreichende Kapazitäten und Bedingungen vorhalten, um Kinder getrennt von den Eltern unterbringen zu können, bis sich aufgrund qualifizierter Arbeit mit den Eltern die Bedingungen in den Familien zum Guten gewendet haben oder alternative Orte des Aufwachsens für Kinder gefunden werden.
Eltern können mit innovativen Ansätzen zum Schutz ihrer Kinder erreicht und unterstützt werden – ein Blick auf neuere Entwicklungen Insbesondere in den letzten Jahren bzw. seit Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) im Jahre 1990/1991 wurde eine Reihe von neuen, inzwischen auch gut evaluierten methodi-
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schen Ansätzen in der Kinderschutzarbeit entwickelt. Diese können eingesetzt werden, wenn es in Familien zu besonders schwierigen Entwicklungen kommt und Gefährdungen des Wohls von Kindern drohen bzw. bereits eingetreten sind. Wie bereits oben beschrieben, wird es aber nie möglich sein, wirklich alle Eltern dafür zu gewinnen, ihre Rollen als Väter oder Mütter so zu übernehmen, dass Kinder gedeihlich aufwachsen. Diverse gleichzeitig und multipolar wirkende Faktoren, wie etwa chronische Suchterkrankungen, schwere psychische Krankheiten und massive Probleme in der Impulskontrolle, können dazu führen, dass Eltern kurzfristig oder auf Dauer nicht ausreichend in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen. Dafür sind dann entsprechende Pflegefamilien oder Heimeinrichtungen da – was nicht bedeutet, dass die Kontakte zu den Herkunftseltern abgebrochen werden. Im Gegenteil: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt öffentliche Hilfen, welche die Eltern (möglichst) wieder in den Stand versetzen, ihr Kind selbst zu erziehen. Doch für die überwiegende Mehrzahl von Eltern, die sich in erheblichen Krisen befinden, gibt es durchaus auch andere Unterstützungsmöglichkeiten. Auf zwei davon soll hier verwiesen werden. In beiden Methodenansätzen steckt die Idee, Mütter und Väter vor allem dabei zu unterstützen, selbst und gemeinsam mit Fachkräften und Familienangehörigen oder Freunden nach Wegen zu suchen, um eine Krise zu überwinden und eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Der erste methodische Arbeitsansatz ist der der Sozialpädagogischen Familiendiagnose (vgl. Cinkl/Krause: 2014). Hier geht es im Kern um einen gemeinsam erzeugten Prozess des Verstehens. Väter und Mütter werden dabei unterstützt, sich selbst und die Familie in ihren Zusammenhängen, Problemen und Möglichkeiten zu verstehen, vorhandene eigene Ressourcen zu erkennen und zu erschließen sowie mögliche Partner_innen zu finden, die unterstützend wirken können. Kinder werden daran aktiv beteiligt und können ab einem Alter von etwa sechs Jahren vollständig in diesen Reflexionsprozess einbezogen werden. Auf diese Weise können gemeinsam mit den Betroffenen individuelle Hilfeansätze entwickelt werden. Ein kurzer Überblick zum Ablauf dieser Methode soll hier nur knapp belegen, was getan werden kann, damit es gelingt, dass Eltern besser erkennen, was zum Wohl ihrer Kinder zu tun ist:
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• Vorstellen der Methode und Einladung an Familien, diese Methode auszuprobieren; • leitfadengestützte Interviews mit den Eltern und Kindern resp. Jugendlichen mit Fragen z. B. nach den zentralen Problemen, den Ressourcen der Familie, den beteiligten Unterstützer_innen, der Umgebung und den Vorstellungen der Familienmitglieder, was getan werden sollte, um aus dem Schlamassel wieder herauszukommen; • Auswertung der Interviews in einem Team von Fachkräften der Sozialen Arbeit; • Herausstellen der Themen, Problemkonstellationen und Ressourcen der Familie; • Vorstellen der Ergebnisse am Flipchart, um die Familienmitglieder mit den Ergebnissen im Sinne eines Austauschs zu konfrontieren; • Erarbeiten der Ergebnisse am Flipchart (neu ordnen, erweitern, streichen), wobei die Familienmitglieder aktiv dialogisch einbezogen werden; • Gemeinsames Festlegen der ersten und der folgenden Schritte; • Weiteres Nachdenken über die Situation der Familie, indem andere befragt und einbezogen werden, wie z. B. die Großeltern oder Nachbarn. (»Glaubst Du, dass ich das und das schaffen könnte, und wie sollte ich das anstellen?«); • Vorstellung der Ergebnisse im Jugendamt durch die Betroffenen selbst. Eltern und Kinder erleben sich in diesem Prozess als aktiv Beteiligte. Nicht die Jugendamtsfachkräfte sagen, was die Probleme der Familie sind und was man tun könnte, sondern die Familien selbst. Diese Methode wurde im Rahmen eines Bundesmodellprozesses an sieben Standorten mit 40 Familien angewendet und zugleich auch nachgehend evaluiert. Alle beteiligten Familien waren im Rahmen von akuten Kinderschutzproblemen ›auffällig‹ geworden. Alle 40 Familien konnten nach Vorstellung der Methode dafür gewonnen werden, sich auf diesen Prozess, der ja mehrere Tage oder sogar Wochen dauert, einzulassen. Etwa drei Viertel empfanden nicht nur die Methode als sinnvoll und hilfreich, sondern konnten in der Folge auch ihre Probleme erfolgreich angehen. Das macht deutlich, dass Eltern selbst in besonders schwierigen Lebenssituationen bereit und auch fähig sind, nach Veränderungen und Lösungen von Konflikten zu suchen. Ähnliche Analyse- und Verstehensmethoden sind z. B. der »Familienrat« (vgl. Wagner 2017), bei dem die erweiterte Familie, Freunde
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und andere wichtige Partner_innen der Familie eingeladen werden, um gemeinsam die Situation der betreffenden Familie zu bedenken und helfende, unterstützende Elemente zu finden, damit es den Kindern besser ergeht. Auch eine »Werkstatt für dialogische Familienarbeit« (Wolff et al. 2013: S. 87–89), in der eine intensive, fachlich gestützte Analyse zur Einschätzung von Familienkonflikten und Kindeswohlgefährdungen gemeinsam mit den betroffenen Familien unternommen wird, ist ein Ansatz, der gewählt werden kann. Problematisch ist in diesen Zusammenhängen, dass Jugendämter die Zeit und die damit verbundenen Kosten scheuen, die für den Einsatz dieser Methoden aufgebracht werden müssen. Aber die Evaluationen belegen eindeutig, dass es lohnt, an dieser Stelle zu investieren. Zudem sind die Jugendämter rechtlich dazu verpflichtet, dem erzieherischen Bedarf (der Eltern und des Kindes) entsprechende Hilfen zu leisten, was eine nachvollziehbare Begründung für die im Einzelfall geeignete und erforderliche Hilfe verlangt. Ein zweites Beispiel ist die Familienintegrative Arbeit. Gerade bei jüngeren Kindern kann es insbesondere bei Kinderschutzfällen sinnvoll sein, nicht nur das Kind in sozialpädagogische Obhut zu geben, sondern die gesamte Familie. Auch in diesem Zusammenhang hat es deutliche Weiterentwicklungen gegeben. Bisher neigen Jugendämter dazu, Kinder in besonders schwierigen familialen Lebenskrisen in Obhut zu nehmen und damit von den Eltern zu trennen. Im besten Fall wird im Nachgang dann von intensiver Elternarbeit gesprochen, das Versprechen aber meist nicht eingehalten. Da jedoch bei Inobhutnahmen von Gefahren für Kinder ausgegangen wird, die von Seiten der Eltern drohen, ist an die Aufnahme von Kindern in Krisenunterkünfte nicht selten eine mehr oder weniger lange Phase der Kontaktsperre oder stark eingeschränkter Besuchsmöglichkeiten für Eltern geknüpft. In der Folge kommt es auf der Seite der Kinder zu deutlichen Entfremdungsentwicklungen. Sie verlieren schlicht den Kontakt zu den Müttern oder Vätern. Je jünger das Kind, desto schneller und intensiver verlaufen diese Entfremdungen, die an die Phasen der Trennung gekoppelt sind, wie sie bereits Grossmann und Grossmann (2003) beschrieben haben. Aber auch auf der Seite der Eltern geht das Interesse an Kontakten mit dem Kind zurück – ein Umstand, den wir in der Praxis der Hilfen zur Erziehung immer wieder beklagen. Innovative Hilfen zur Erziehung gestalten Hilfe deshalb auch im Kontext von Not- oder schwierigen Krisenfällen inzwischen anders. Es geht ihnen darum, den Kontakt
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von vornherein zu erhalten und eben nicht abzubrechen oder in Frage zu stellen. Grundsätzlich ist dieser andere Ansatz der Annahme geschuldet, dass die meisten Mütter und Väter im Grunde gute und erfolgreiche Eltern sein wollen. Sie haben aber offenbar Probleme, ihren Wunsch, gute Eltern sein zu wollen, umzusetzen. Diese Grundannahme führt zu besagtem Arbeitsansatz der Familienintegration. Kinder in schwierigsten Situationen werden im Rahmen stationärer Hilfe aufgenommen und den Eltern wird angeboten, temporär oder sogar auf Dauer als Gast mit in die Einrichtung zu ziehen. Dann beginnt eine programmatisch gemeinsam entwickelte Hilfe, die sich auf unterschiedliche Themen beziehen kann. So können Eltern lernen, auf neue Weise mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern zu sprechen. Sie können experimentieren und verstehen, wie Konflikte mit Kindern anders bewältigt werden können, als sie das bisher getan haben. Auch im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Elternpaar können Klärungen und Veränderungen angegangen werden. Die Kinder befinden sich in einer zuverlässig geschützten Umgebung und die Familie kann zur Ruhe kommen. Drogen können, soweit es eben geht, aus dem Alltag verdrängt werden, Therapien können angegangen und unterstützend durchgeführt werden. Eltern können also wieder Mut und Hoffnung schöpfen. Sie können Zuversicht entwickeln und lernen, ihre Kinder anders als bisher wahrzunehmen und dadurch erfolgreicher mit ihnen zusammenzuleben. Derlei Betreuung braucht Zeit. Es gibt Phasen, die bei den betroffenen Familien ähnlich verlaufen: Sind anfangs noch Widerstand und Skepsis die dominierenden Gefühle, so wird bald eine forschende, nachdenkliche Haltung eingenommen. Fast alle Eltern, die sich auf so ein Setting einlassen können, werden es auch erfolgreich absolvieren und beenden. Die Dauer ist sehr unterschiedlich. Manche Familie wird nach sechs Monaten soweit sein, es wieder ›alleine‹ probieren zu wollen und zu können. Andere brauchen bis zu zwei Jahren. In dieser Zeit werden dann auch die Konflikte der zurückliegenden Zeiten bearbeitet und manche Mutter oder mancher Vater wird damit beginnen, über ihre/seine eigene Kindheit zu sprechen, und die damit verbundenen, nicht selten schwerwiegenden Probleme und Verletzungen thematisieren. So gesehen können Eltern diese Phase intensiven Zusammenlebens und durchgängiger Unterstützung im geschützten Raum wirklich zu einer umfassenden Selbstanalyse und einem Neuanfang zu nutzen. Wie die Praxis zeigt, ist die Chance, dass das auch erfolgreich geschieht, sehr hoch. Nach
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Erfahrungen einzelner Einrichtungen liegt die Rate der nachgehend festgestellten erfolgreichen Lebensbewältigung bei etwa 85–90 %. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass selbst solche Eltern, die zuvor in wirklich dramatischen Lebenslagen steckten, nach einer intensiven familienintegrativen Hilfeleistung durchaus gut für ihre Kinder sorgen können. Verändert hat sich in den letzten Jahren auch die Sicht der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe auf das Thema Beteiligung. Wie in der beispielhaften Beschreibung methodischer Ansätze deutlich geworden ist, geht es inzwischen immer stärker darum, Eltern von Anfang intensiv an der Analyse der Situation sowie an der Hilfeplanung und -gestaltung zu beteiligen. Wir wissen heute: Je stärker Menschen an den sie selbst betreffenden Überlegungen und Handlungen beteiligt sind, desto wahrscheinlicher ist der Erfolg einer Hilfe. Diese Erkenntnis hat sich im Verlauf der letzten Jahre immer mehr verstärkt und sollte inzwischen in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe eine der zentralen Grundlagen sein. Leider wird diese Grundlage jedoch nicht in allen Jugendämtern und bei allen freien Trägern der Jugendhilfe hinlänglich beachtet. Dies ist deshalb eine wesentliche Forderung, die in der Fachöffentlichkeit stetig mehr Raum greift.
Kinderschutz ist Elternarbeit im Interesse des Kindeswohls Ja, Eltern sind Kinderschützer – denn der Schutz ihres Kindes vor Gefahren für dessen Wohl ist integraler Bestandteil der Erziehungsverantwortung, die das Grundgesetz primär den Eltern zuweist – ausgehend von der Prämisse, dass in aller Regel den Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution (BVerfG vom 09.02.1982 – 1 BvR 845/79). Gleichzeitig sind sie diejenigen Personen, die den stärksten Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder haben – positiv wie negativ. Sie beobachten die Dinge in der Umgebung ihrer Kinder, sie halten Kontakt zu den Einrichtungen, in denen die Kinder betreut werden, sie laden die Freund_innen der Kinder ein, um sie kennenzulernen und den eigenen Kindern die Tür zur Welt offen zu halten. Eltern sichern Unterstützung, indem sie andere Familienangehörige oder auch Freund_innen, Nachbar_innen, Kinderärzt_innen, Physiotherapeut_innen oder Fachkräfte der Sozialen Arbeit einbeziehen. Sie beobachten ihre Kinder und bemerken, ob es ihnen gut geht oder
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nicht, und versuchen angemessen zu reagieren, damit es ihnen wieder bessergeht. Eltern arbeiten sich in den aktuellen Schulstoff und in die Handynutzung ihres Kindes ein. Sie erkennen Gefahren und wehren diese erfolgreich ab. Dafür haben wir allen Grund, Anerkennung zu zollen. Hingegen geschieht es im Verhältnis gesehen eher selten, dass all diese Aufgaben nicht mehr vollständig erfüllt werden und Eltern sich aus unterschiedlichen Gründen zurückziehen und nachlässig und müde werden. Auch kommt es vor, dass Eltern wütend und aggressiv werden, dass sie verzweifeln und das Wohl ihrer Kinder nicht mehr sicherstellen können. Die Gesellschaft tut gut daran, gerade in diesen Situationen nicht einfach nur verurteilend und autoritär zu reagieren, sondern zunächst Unterstützung anzubieten und wirklich auch zu gewähren. Denn Eltern steigen nur manchmal ganz aus ihrer Verantwortung aus oder handeln wirklich nachhaltig gefährdend ihren Kindern gegenüber. In diesen wenigen Fällen hat die Gesellschaft die Verantwortung und die Aufgabe, »Stopp« zu sagen und die Kinder in sicheren und förderlichen Gemeinschaften weiter zu betreuen. Zusammengefasst können folgende Prämissen herausgestellt werden: 1. Kinderschutz ist gerade im Hinblick auf die Eltern ohne die Thematisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge nicht zu diskutieren und setzt Investitionen auf verschiedenen Ebenen voraus. Die kritischen Lebenslagen von Familien sind noch immer und vielleicht sogar zunehmend ursächlich auch auf soziale Aspekte zurückzuführen. 2. Eltern suchen nachweislich Rat und Hilfe, auch wenn es nach wie vor kompliziert ist, gerade Eltern aus ›bildungsfernen‹ Schichten zu erreichen. Erziehungshilfe, Beratung, sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) und Tagesgruppenbetreuung werden öfter in Anspruch genommen. Dies ist auch auf eine zunehmende Akzeptanz der Kinder- und Jugendhilfe und auf den Willen der Eltern zurückzuführen, Hilfe zu suchen, zu akzeptieren und einzufordern. Jugendämter haben nicht das Problem, ohne Arbeit dazustehen, sondern im Gegenteil. 3. Erfolgreiche Hilfeangebote werden überproportional genutzt, bedürfen aber der stetigen Weiterentwicklung. Dabei spielen die professionellen Haltungen der Fachkräfte eine zentrale Rolle. El-
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tern wie auch Kinder und Jugendliche suchen Unterstützung bei denjenigen, die ihnen menschlich nahe sind, die ihnen solidarisch und kompetent entgegentreten und die klare und ehrliche Positionen vertreten. 4. Eltern können lernen, erfolgreiche Eltern zu sein; ohne Rückschläge geht es aber nicht. Werden Müttern und Vätern angemessene Lernangebote gemacht, so nutzen sie diese auch. Das zeigen vielfältige Aktivitäten der Familienzentren in ganz Deutschland. Neue Formen stationärer Hilfen zeigen auch und besonders bei Kinderschutzfällen, wie groß das Interesse von Müttern und Vätern ist, ihre Situation zu verstehen und Veränderungen zu erzeugen. 5. Eltern wollen beteiligt sein und sich im Interesse des Wohls ihrer Kinder verändern. Befragungen von Eltern und die sich immer stärker etablierende Praxis der Beteiligung in der Hilfeplanung und -gestaltung zeigen, dass es durchaus ein großes Interesse von Eltern an Mitwirkung gibt, wenn sie denn von den Fachkräften gewünscht und gefördert wird. Werden diese Prämissen in ausreichender Weise berücksichtigt, können alle Eltern erfolgreiche Kinderschützer sein und dazu befähigt werden, das Wohl ihrer Kinder nachhaltig zu gewährleisten.
11. Kinder haben Rechte – und das ist gut so! Kinder haben Rechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung. Diese sind in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (UN-KRK) beschrieben, welche von Deutschland im Jahr 1992 unter Vorbehalt ratifiziert wurde und seit dem Jahr 2010 uneingeschränkt gilt. Und dennoch haben die durch die Ratifizierung der UN-KRK ausgelösten Debatten über die Wichtigkeit der Rechte von Kindern kaum Einfluss auf den Kinderschutz in Deutschland gehabt – denn es wurde und wird bis heute teilweise davon ausgegangen, dass es keiner zusätzlichen Kinderrechte bedarf. Schließlich ist der Rechtsstatus von Kindern durch das Grundgesetz abgesichert und es ist klar, dass Eltern für das Wohl ihrer Kinder Sorge tragen und sich für die Wahrung und Einhaltung von deren Rechten einsetzen. Zudem haben Kinder bereits ein Recht auf gewaltfreie Erziehung und sind im SGB VIII explizit als Träger eigener Rechte benannt. Doch was ist, wenn Eltern die Rechte von Kindern nicht ernst nehmen bzw. nicht dazu in der Lage oder gewillt sind, ausreichend Schutz, Förderung und Beteiligung für sie sicherzustellen? Spätestens dann also, wenn Kinderschutzfragen im Raum sind, stellt sich die Frage, wie kindgerecht der Kinderschutz in Deutschland ist und ob dieser den in der UNKRK verbrieften Kinderrechten entspricht. Im Kinderschutz finden Kinderrechte nämlich häufig kaum Beachtung. So äußern Fachkräfte oftmals, dass Kinder in Loyalitätskonflikten zu ihren Eltern stehen und somit eher belastet würden, wenn sie nach ihrer eigenen Situation gefragt werden. Sie könnten deshalb sowieso keine valide Auskunft geben. Und auch bei Tsokos und Guddat (2015) kommen Kinder nicht als autonom handelnde Akteure vor. Sie werden als schutzbedürftige ›Objekte‹ aufgefasst und nicht als eigenständige Subjekte betrachtet, die es auch im Kinderschutz systematisch zu beteiligen gilt. Demgegenüber gehen namhafte Autor_innen davon
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aus, dass Kinderrechte und Kinderschutz zusammengehören. So sind diverse Rechte auf den Schutz vor Gefährdungen des Wohls in die UN-KRK eingegangen, gleichberechtigt neben den beiden anderen zentralen Rechten auf Förderung und Beteiligung. Inzwischen hat auch das Bundesverfassungsgericht aus dem staatlichen Wächteramt ein Grundrecht des Kindes auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl abgeleitet (Britz 2014). Kinder haben ihrem Alter und Entwicklungsstand entsprechend ein Recht darauf, bei allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe mittelbar oder unmittelbar angehört oder an ihnen beteiligt zu werden (vgl. Art. 12 UN-KRK, § 1626 Abs. 2 BGB, § 8 Abs. 1 SGB VIII). Und auch im § 8a SGB VIII hat der Gesetzgeber in Deutschland Beteiligungsrechte von Kindern an der Einschätzung ihres Gefährdungsrisikos und an der Planung daran anschließender Hilfen geregelt, die nur dann ausgesetzt werden dürfen, wenn dadurch eine akute Gefahr ihres Wohls drohen würde. Ein Grundproblem in der hier aufgezeigten Auseinandersetzung besteht häufig in einer Gegenüberstellung von Autonomie und Schutz von Kindern – als ob beides nichts miteinander zu tun hätte! Wenn Kinder grundsätzlich auf Hilfe durch Erwachsene angewiesen sind, werden sie als passive Empfänger dieser Unterstützungsleistungen wahrgenommen – nicht als Akteure mit eigenen Rechten. Der Kinderschutz in Deutschland orientiert sich überwiegend an kindlichen Grundbedürfnissen. Diese werden jedoch durch Erwachsene definiert und überwiegend von Eltern und anderen Bezugspersonen des Kindes befriedigt. Kinder haben aber unter Umständen andere Auffassungen darüber, was ihrem Wohl zuträglich ist. Auch sind sie darauf angewiesen, dass sich Fachkräfte für ihre Rechte einsetzen, wenn diese von ihren Eltern nicht beachtet und eingehalten werden können. Kinderschutz ist insofern nicht nur dafür zuständig, Kindeswohlgefährdungen zu erkennen und abzuwenden; er ist auch dafür da, Kinder in Angelegenheiten, die sie unmittelbar betreffen, einzubeziehen und sie in ihrer Entwicklung zu fördern und zu unterstützen. Kinderschutz kann und muss somit auch als Gewährleistung der Rechte von Kindern verstanden werden, bei denen Kinder selbst die Akteure sind, die besondere Interessen haben, die von ihnen selbst erkannt und je nach Entwicklungsstand auf unterschiedliche Weise vertreten werden können (vgl. Liebel 2017: S. 50). Diese Sicht soll nachfolgend begründet werden.
11. Kinder haben Rechte – und das ist gut so!
Verstetigung einer generationalen Ordnung im Kinderschutz In der Kindheitsforschung und -pädagogik ist es heutzutage unumstritten, dass Kinder als Akteure ihrer Entwicklung und als handelnde Subjekte angesehen werden müssen. Kinder nehmen von Beginn ihres Lebens ihre Umwelt sehr genau wahr; sie beobachten, probieren aus und eignen sich handelnd ihre räumliche und soziale Umgebung an. Dabei wird der Aktionsraum im Zeitverlauf immer größer und sie entwickeln zunehmend mehr Selbstständigkeit. Da die Wahrnehmung der Kinder auf die Welt eine eigene ist, welche auch für das Familienleben sowie für pädagogische Prozesse von herausragender Bedeutung ist, wird diese in empirischen Studien seit einigen Jahren systematisch erforscht. So fragen Wissenschaftler_ innen z. B., welche Sicht Kinder auf ihre Familie und die Kita haben, was sie als gerecht erleben oder welche Orte sie beim Spielen bevorzugen. Die Aussagen der Kinder geben Impulse z. B. für die Qualitätsentwicklung von Kindertagesstätten und die Gestaltung des Familienlebens. Auch werden in Institutionen wie Kindertagesstätten und Schulen systematisch Strukturen der Beteiligung etabliert, indem z. B. Vertretungen der Kinder gewählt werden, die mit Befugnissen ausgestattet sind und direkten Einfluss auf Strukturen der Institution nehmen, und/oder indem Kinder direkt an der Gestaltung des Alltages beteiligt werden. Dass es hier weiterhin absoluten Entwicklungsbedarf gibt, ist außer Zweifel. In Deutschland sind die Bedingungen noch lange nicht ausreichend, was die Absicherung der Kinder im Hinblick auf Wahrung von Rechten und vor allem die Zugriffsmöglichkeiten von Kindern auf rechtliche Beratung und Unterstützung anbetrifft. Hier ist man zwar auf dem Weg, aber es gibt noch viel zu tun. Der Weg bis zum derzeitigen Stand war allerdings schon lang, denn Kinder hatten über Jahrhunderte hinweg keine Rechte und wurden noch nicht einmal besonders wahrgenommen. Wie Biesel (2016: S. 241 f.) zusammenfasst, wurde gegen Kinder in diesem Zeitverlauf Gewalt ausgeübt; sie wurden gezüchtigt, misshandelt, ausgebeutet und bisweilen sogar ausgesetzt oder getötet. Sie hatten keine Stimme. Erst ab dem 17. bzw. 18. Jahrhundert wandelte sich das Bild vom Kind. Kindheit wurde zunehmend als institutionalisierte Lebensphase und generationale Konstruktion begriffen. Kinder werden seitdem als entwicklungsbedürftige und sich entfaltende Men-
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schen betrachtet. Im 20. Jahrhundert, dem »Jahrhundert des Kindes« (Key 2000), setzte sich dann die Einsicht durch, dass Kinder nicht nur im Werden begriffen, sondern bereits Seiende sind, die handelnd Einfluss auf die Welt nehmen. In dieser Zeit begannen auch die Kinderrechte Einfluss auf das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern zu gewinnen. Dieser Entwicklung entgegenstehend sind Kinder bis heute in eine generationale Ordnung eingebunden, welche zu ihrer Position als ›schwache‹ Gesellschaftsmitglieder beitragen und der Verwirklichung und Wahrnehmung ihrer Rechte widersprechen kann. Dies zeigt sich exemplarisch im Kinderschutz: »Üblicherweise wird angenommen, der Schutz von Kindern sei vor allem Aufgabe der Erwachsenen, da sie als weitsichtiger gelten und über mehr Mittel, Macht und Einfluss verfügen, um die Kinder vor Gefahren zu bewahren. Doch der Schutz der Kinder [vor Gefährdungen ihres Wohls – A. A.] kann dazu führen, dass die Freiheit und der Entscheidungsspielraum der Kinder eingeengt werden. Dies kann so weit gehen, dass sich trotz bester Absichten die Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit der Kinder vergrößert, indem sie dazu angehalten werden, sich in der Abhängigkeit einzurichten und auf andere zu verlassen. Selbst wenn diese Einengung begründet werden kann, kann sie von Erwachsenen dazu benutzt werden, eigene Interessen durchzusetzen und den eigenen Machtvorteil auszunutzen oder gar auszuweiten. Dies zeigt sich z. B. in den Bestrebungen, Kinder – auch unter Verwendung von neuen Überwachungstechnologien oder Heranziehung spezieller ›Sicherheitsdienste‹ – rund um die Uhr zu überwachen, damit ihnen ›nichts passiert‹ oder sie nicht ›aus dem Ruder laufen‹. Um die einseitige Instrumentalisierung des Schutzes durch Erwachsene zu verhindern, ist es unabdingbar, dass die Kinder nicht nur Objekte von Schutzmaßnahmen sind, sondern, wo immer möglich, auch darüber mitentscheiden können, in welcher Weise sie geschützt werden sollen oder ob sie in einem spezifischen Fall überhaupt Schutz benötigen. Eine solche Mitsprache ist auch deshalb geboten, weil der Schutz umso effektiver ist, je mehr er auf die Zustimmung der zu schützenden Kinder stößt und von ihnen mitgetragen wird. Die Kinder können (jedenfalls ab einem bestimmten Entwicklungsstand) selbst aktiv zu ihrem Schutz beitragen, indem sie sich z. B. informieren und sensibilisieren (lassen), bestimmte Vorsichtsregeln oder Techniken erlernen, sich mit anderen Kindern zusammentun, um sich besser wehren zu können usw. Abgesehen von der Frage der Effektivität wäre auf diese Weise auch am ehesten gewährleistet, dass den spezifischen Interessen der Kinder entsprochen wird.« (Liebel 2017: S. 51)
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Diese Aussage von Manfred Liebel irritiert möglicherweise und lässt die Frage aufkommen: Was ist mit Säuglingen und Kleinkindern? Selbstverständlich ist hier mit der Wahrnehmung der Kinderrechte nicht gemeint, dass Kinder einfach gefragt werden und dann die Erwachsenen den Vorstellungen der Kinder folgen. Dies würde bei Säuglingen und Kleinkindern, aber auch bei älteren Kindern nicht funktionieren. Deshalb ist die Beachtung von Kinderrechten im Kinderschutz auch nicht trivial. Denn zunächst gilt es, zu verstehen, was Kinder ausdrücken oder gar durchsetzen wollen und worin ihre eigenen Interessen bestehen; darauf folgend geht es darum, als Erwachsene im Austausch mit den Kindern Einschätzungen und Lösungen zu finden, in denen sich die Kinder mit ihren Vorstellungen auch wiederfinden können und durch die sie ggf. nachvollziehen können, warum Entwicklungen anders verlaufen als gewollt. Dieser Prozess ist selbst mit Säuglingen und Kleinkindern gestaltbar. Es bedarf dafür altersgemäßer Formen der Kommunikation (dazu unten mehr). Nicht umsonst enthält das BGB seit 1980 in § 1626 Abs. 2 das Leitbild der diskursiven Erziehung als Anforderung an die Eltern. Mit Blick auf verschiedene empirische Studien (vgl. z. B. Ackermann/ Robin 2014; Wolff u. a. 2013) wird allerdings deutlich, dass Kindern nicht – oder maximal mit Beschränkungen – zugetraut wird, Einfluss auf ihre Situation zu nehmen. Ihre Schutzrechte werden mit der Begründung der Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes gegen ihre Beteiligungs- und Förderungsrechte durchgesetzt. Eine Paradoxie besteht darin, dass ihr Schutz langfristig gesehen nur durch umfassende Beteiligung und Förderung sichergestellt werden kann. Doch wie können Kinder im Kinderschutz beteiligt werden?
Wie Beteiligung von Kindern im Kinderschutz fachlich realisiert werden kann Wie oben bereits erwähnt, gibt es auch von Seiten der sozialpädagogischen Fachkräfte große Vorbehalte gegen eine Beteiligung von Kindern im Kinderschutz. Diese bestehen, obwohl Beteiligung grundsätzlich als Handlungsmaxime bejaht wird, die zum Erfolg von Hilfemaßnahmen führt. Unsicherheiten liegen z. B. darin zu wissen, ab welchem Alter Kinder im Kinderschutz beteiligt werden können und wie Gespräche mit Kindern geführt und deren Aussagen verstanden werden sollten. Sie werden auch als Befürchtungen geäußert, die Kinder zu überfordern oder gar zu (re-)traumatisieren
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(für einen Überblick vgl. Biesel 2013). Grundsätzlich muss, wie es im Kindschaftsrecht formuliert wird, zwischen dem Willen und dem Wohl des Kindes abgewogen werden (vgl. z. B. Dettenborn 2010). Hierbei müssen die Rechte und Pflichten der Eltern berücksichtigt werden, wobei im Kinderschutz eben nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Interessen der Kinder mit denen der Eltern durchgängig übereinstimmen. Diese Situation erfordert, neben dem Kontakt zu den Eltern, eine direkte Wahrnehmung der Lebenssituation der Kinder. Dies bedeutet, dass Fachkräfte des Kinderschutzes auch wirklich gute Kontakte zu Kindern bekommen und halten können.1 Unter Bezugnahme auf die Befunde der Kindheitsforschung kann davon ausgegangen werden, dass Kinder bereits ab ihrer Geburt an sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden können – dies gilt, wenn auch teils im übertragenen Sinne, ebenso im Kinderschutz. Dies bedarf jedoch eines sensiblen Herangehens mit einem fundierten fachlich-methodischen Hintergrund und einer ausgeprägten Reflexionskompetenz. Mit Bezug auf internationale Befunde empfiehlt Biesel (2013: S. 43 f.) fünf Formen der Beteiligung von Kindern im Kontext von Gefährdungseinschätzungen und Hilfeplanung: • Kinder müssen angesehen werden, etwa indem Fachkräfte sich einen Eindruck von den Entwicklungsumständen und dem Gesundheitszustand verschaffen. • Kinder müssen beobachtet werden, etwa in der häuslichen Umgebung und in den Interaktionen und Reaktionen im Kontakt mit den Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen. • Kinder müssen in die Kinderschutzpraxis aktiv einbezogen werden, z. B. durch die Gestaltung einer Arbeitsbeziehung zwischen Fachkräften und dem Kind, in der ihnen verständlich wird, was gerade geschieht und welche Entscheidungen warum getroffen werden. 1 | Aufgabe des Staates bzw. der fallverantwortlichen Fachkraft im Jugendamt ist es im Rahmen von Hilfen zur Erziehung aber nicht, als ›Schiedsrichter‹ oder gar ›Anwalt des Kindes‹ (gegen die Eltern) aufzutreten, sondern die Eltern für die Interessen der Kinder zu sensibilisieren und zu gewinnen, damit sie ihrer Erziehungsverantwortung besser gerecht werden können. Die Letztentscheidung über die Inanspruchnahme der Hilfe bleibt bei den Eltern. Deshalb muss es darum gehen, gegebenenfalls vermittelnd tätig zu werden.
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• Mit Kindern muss gesprochen werden. Dazu gehört zunächst, ihnen zuzuhören sowie ihre Äußerungen und Vorstellungen ernst zu nehmen und ihre Gefühle, wie Sorgen, Ängste, Schuldgefühle und Loyalitätskonflikte thematisieren zu können. • Mit Kindern müssen Aktivitäten unternommen werden, die ihnen Freude bereiten, die kindliche Lebenswelt umfassen und einen weiteren Zugang der Fachkräfte zu ihnen ermöglichen. Für Kinder ist es von maßgeblicher Bedeutung, dass ihnen aufmerksam zugehört wird, ihnen geglaubt wird, ihnen aufrichtiges Interesse entgegengebracht wird, sie über den Fallverlauf informiert werden und sich jemand für ihre Interessen einsetzt (vgl. Biesel 2013: S. 43 f.). Hierfür benötigen sie Partner_innen. Diese sollten auch aufzeigen, was Kinder selbst bei Gefahren und in Gefährdungssituationen im Kontext von Familie, aber auch z. B. Schule und Nachbarschaft, zu ihrem eigenen Schutz tun können und wo sie konkret Hilfe finden. Von großer Bedeutung sind in diesem Prozess auch Transparenz und Offenheit. Diese bestehen z. B. darin, dass die Eltern darüber informiert werden, dass mit den Kindern allein gesprochen wird, warum dies notwendig ist und was Inhalt des Gespräches ist (vgl. ebd.). Mit einem behutsamen und sensiblen Vorgehen können auch Fragen zu einem vermuteten Misshandlungs- und Gefährdungsgeschehen thematisiert werden.
Kinderrechte in der Kinder- und Jugendhilfe Grundlage der Kinder- und Jugendhilfe ist das SGB VIII, in dem Rechte von Kindern und Jugendlichen ein wesentlicher Bestandteil sind. Zwar sind alle Kinder von der Geburt an Träger von (Grund-) Rechten. Dennoch können sie diese ihre Rechte mangels notwendiger Reife und Einsichtsfähigkeit nicht von Anfang an selbst ausüben. Dies ist Aufgabe der Eltern im Rahmen ihrer Erziehungsverantwortung – verbunden mit der Verpflichtung, Kindern mit zunehmendem Alter mehr Entscheidungsspielraum und Eigenverantwortung zu überlassen. Werden aber die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung nicht im vollen Umfang gerecht, dann ist die gestörte Beziehung zwischen Eltern und Kind in den Blick zu nehmen. Zur Klärung des Hilfebedarfs sowie zur Ausgestaltung der Hilfe müssen also die Sichtweise, die Interessen und Wünsche sowohl der Eltern als auch des Kindes ermittelt und in die Hilfeplanung einbezogen
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werden. Da die Letztverantwortung für die Inanspruchnahme der Hilfe bei den Eltern bleibt, ist es eine fachliche Herausforderung, gegebenenfalls unterschiedliche Sichtweisen zu thematisieren und zwischen ihnen zu vermitteln. Diese Letztverantwortung der Eltern bleibt während des ganzen Hilfeprozesses auch dann bestehen, wenn das Kind mit Zustimmung der Eltern außerhalb des Elternhauses in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung untergebracht wird. Die Pflegeeltern oder Bezugserzieher_innen in den Einrichtungen leiten ihre Erziehungsrechte von den Eltern (bzw., wenn diesen die elterliche Sorge ganz oder teilweise entzogen worden ist, von dem eingesetzten Vormund oder Pfleger) ab. Sie müssen sich im Hinblick auf die Grundsatzfragen der Erziehung des Kindes mit den Eltern abstimmen. Eine Beteiligung von Kindern an Entscheidungen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe setzt daher eine Absprache mit den Eltern voraus. Werden Kinder resp. Jugendliche in Pflegefamilien oder stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht, kommen also weitere Erwachsene, z. B. Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die im Alltag Erziehungsfunktionen wahrnehmen, als Akteure hinzu. In den Kindertagesstätten wurde in den letzten Jahren ein deutlicher fachlicher Schwerpunkt auf die Beteiligung von – auch sehr kleinen – Kindern sowie auf die Umsetzung von Kinderrechten gelegt. Aber auch etliche stationäre Einrichtungen haben Strukturen und Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen etabliert. Erwähnt werden muss der § 8 SGB VIII (Beteiligung von Kindern und Jugendlichen) als ein direktes Kinderrecht. Hier heißt es: »(1) Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie sind in geeigneter Weise auf ihre Rechte im Verwaltungsverfahren sowie im Verfahren vor dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen. (2) Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden. (3) Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten, wenn die Beratung aufgrund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde. § 36 des Ersten Buches bleibt unberührt.«
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Dies bedeutet, dass Kinder und Jugendliche sich auch direkt mit dem Anliegen von Beratung, Unterstützung und Hilfe an das Jugendamt bzw. an Beratungsstellen wenden können. Noch nicht alle Kommunen in Deutschland verstehen sich jedoch als direkte Ansprechpartner für Kinder, so dass hier erheblicher Entwicklungsbedarf besteht. Interessant sind in diesem Zusammenhang die sogenannten Ombudschaftsstellen, an die sich auch Kinder und Jugendliche wenden können, um Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu erhalten. Die Ombudschaftsstellen stehen zur Verfügung, wenn es z. B. um Entscheidungen von Jugendämtern geht, welche die Betroffenen nicht nachvollziehen können. Dies ist u. a. der Fall, wenn begründete Rechtsansprüche auf Hilfen resp. Leistungen nicht gewährt werden oder wenn Beratungs- und Beteiligungsrechte versagt werden. Ebenso werden Rechtsberatungen angeboten. Personen, welche (oft ehrenamtlich) in derlei ombudschaftlichen Organisationen tätig sind, informieren junge Menschen und/oder Familien, damit diese ihre Rechte genauer kennen. Sie begleiten diese auch und unterstützen bei der Durchsetzung der Rechte gegenüber Dritten. Ombudschaftsstellen, häufig als Kinder- und Jugendhilferechtsvereine organisiert, haben inzwischen in etlichen Bundesländern eine bedeutende und geachtete Stellung.2 Hunderte junge Menschen haben durch diese inzwischen Rechtsberatung und Unterstützung erhalten. Die Anfragen beziehen sich sehr häufig auf verwehrte Leistungen oder als falsch empfundene Entscheidungen der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der Jugendämter. Dabei sind grundsätzlich die Kinder und Jugendlichen diejenigen, die ihre Situation schildern und nach rechtlicher Beurteilung fragen. Dass dabei auch Eltern kritisch in den Blick geraten, liegt in der Natur der Sache. Ein wichtiger ›Nebeneffekt‹ ist, dass junge Menschen in ihrem Anliegen bestärkt werden und Sicherheit erlangen können. Leider dauern die Verfahren sehr lange, so dass diese nicht in jedem Fall von den Beteiligten durchgehalten werden. Ombudschaften gibt es inzwischen auch in vielen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Meist handelt es sich dabei um Personen von außerhalb der jeweiligen Organisationen (vgl. Urban-Stahl/Sandermann 2013: S. 188). Eine/n Ansprechpartner_in zu haben kann dabei helfen, als Unrecht wahrgenommenes Verhalten anzusprechen 2 | Vgl. z. B. Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e. V., www.brj-berlin.de
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und für Abhilfe zu sorgen. Die Anfänge dieser organisationsbezogenen Ombudschaften finden sich in den 1980er und 1990er Jahren, zunächst in den Kinder- und Jugendpsychiatrien. Später führte u. a. der Runde Tisch Heimerziehung der Bundesregierung dazu, dass auch Kinderheime und andere Organisationen sich auf den Weg machten, besondere innere oder äußere Angebote zur Absicherung von Rechten der Kinder und Jugendlichen zu entwickeln. Es geht darum, die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu stärken und im Alltag Rechtssicherheit zu gewährleisten. Dabei geht es nicht darum, wie vielerorts diskutiert, die Kinderrechte gegen Elternrechte zu stellen. Sie sind auch aus rechtlicher Sicht nicht gegeneinander gerichtet, sondern aufeinander bezogen. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass mit der Stärkung von Kinderrechten eine umfassende Veränderung auf beiden Seiten stattfindet: Eltern resp. Fachkräfte könnten durch eine Stärkung der Kinderrechte frühzeitiger wahrnehmen, dass Kinder ungerecht behandelt werden. So wie Kinder wiederum selbstbewusster werden könnten.
Verändertes Rechtsbewusstsein bei Kindern Kinder sehen sich selbst zunehmend als Personen mit eigenen Rechten. Auch gehen Kinder heute eher davon aus, dass ihnen diese Rechte zustehen und dass diese eingehalten werden müssen. Sie begreifen sich tendenziell als rechtsfähige Subjekte. Sie erkennen, dass sie bei der Durchsetzung individueller Rechte, aber auch der gemeinsamen Rechte einer Gruppe, Koalitionen suchen und ggf. auch Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Das impliziert auch ein Beschwerderecht und die Unterstützung von Jurist_innen. Hintergründe dieser Entwicklungen sind zum einen die neue gesamtgesellschaftliche Sicht auf Kinder. Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre wurde ihnen immer stärker die Fähigkeit zugesprochen, ihre Rechte auch selbst wahrzunehmen. Kinder haben Rechte ist nicht mehr nur ein Slogan, sondern zunehmend gelebte Praxis. Diverse Untersuchungen insbesondere auch in Kitas zeigen, dass Kinder sehr früh angehalten werden, über Recht und Rechte nachzudenken und zu sprechen. Dabei stellen sich z. B. folgende Fragen: Welche Rechte hat jedes einzelne Kind gegenüber dem anderen und gegenüber der Gruppe? Was ist in diesem Zusammenhang Unrecht? Was darf der oder die andere mir gegenüber nicht tun? Was darf ich gegenüber anderen nicht tun? Und an welchen Stellen darf und soll ich mitreden?
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Im Zuge dessen werden auch Themen in die Diskurse der Kinder eingebracht, die den Schutz des Einzelnen betreffen. Was darf einem Kind widerfahren und was nicht? Was sind gewollte körperliche Auseinandersetzungen beim Rangeln und Kämpfen und was sind zu Unrecht ausgeführte körperliche Züchtigungen? Wo darf ein Kind von wem angefasst werden und wo nicht? Was sind Strafen, die man einem Kind nicht zufügen darf, wie z. B. der Entzug von Essen oder Schlaf? Moderne Kindertageseinrichtungen besprechen diese Themen mit den Kindern. Sie erörtern die Zusammenhänge und scheuen sich nicht, auch scheinbar heikle Themen mit den Kindern zu besprechen – auch und besonders mit Kindern, die möglicherweise in bedenklichen familiären Situationen sind. Erfahrungen zeigen, dass Kinder durchaus in der Lage sind, sich aktiv mit entsprechenden Fragen auseinanderzusetzen und nach angemessenen Antworten zu suchen bzw. diese zu finden. Es kommt sehr auf die soziale Umgebung an, ob und wie Kinder als rechtsfähige Subjekte wahrgenommen werden und welcher Einfluss auf das Geschehen ihnen ermöglicht wird. Deshalb geht es nicht nur darum, dass Kinderrechte in Gesetzen geregelt sind. Vielmehr geht es auch um eine gelebte Praxis im Sinne der Rechte von Kindern. Und hier haben die Erwachsenen natürlich eine besondere Verantwortung. Oder anders gesagt: »Kinderrechte werden erst dann zu Rechten der Kinder und können auch erst dann von ihnen als solche verstanden und praktiziert werden, wenn sie selbst die nötige Macht und die Mittel erlangen, ihre eigenen Prioritäten zu setzen und die Rechte nach eigenem Ermessen zu nutzen.« (Liebel 2017: S. 55) Wie bereits gesagt: Kinder begreifen sich heute tendenziell eher als Personen mit eigenen Rechten als früher und werden diesbezüglich auch z. B. in Kitas gefördert. Dennoch suchen sie zugleich Schutz bei Erwachsenen. Das entscheidende Element einer Stärkung der Persönlichkeit der Kinder liegt in der Begegnung mit Erwachsenen in und außerhalb der Familien. Es geht in diesem Zusammenhang darum, Kinder in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken. Es geht darum, zu erkennen, dass Kinder keine Objekte sind, sondern dass sie in der Lage sind, Recht von Unrecht zu unterscheiden und entsprechend zu handeln. Es geht darum, Koalitionen zu schließen, Hilfe zu organisieren, mit Kindern und Erwachsenen ein Bündnis zu schließen sowie Widerstand zu leisten, wenn Kinder ungerecht behandelt werden. Solch eine Entwicklung impliziert eine professio-
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nelle Haltung unter Fachkräften, Kinder durchweg als Akteure zu begreifen. Konsequent formuliert bedeutet dies auch: Je stärker Kinder als Objekte von Schutz gesehen werden, desto größer ist die Gefahr, dass sie handlungsunfähige Opfer von Angriffen in und außerhalb von Familien werden. Diesen Zusammenhang hat die Fachöffentlichkeit insgesamt verstanden. Und an vielen Stellen sind, wie hier aufgezeigt, Entwicklungen entstanden, welche Kinder insgesamt und in ihren Rechten stärken. Sich selbst als Person mit eigenen Rechten zu begreifen ist jedoch für sich gesehen noch nicht die Lösung, wenn es um Kinderschutz geht. Denn was nützt es, sich seiner Rechte bewusst zu sein, wenn diese in der Umwelt nicht geachtet und respektiert werden? Von daher geht es in dieser Frage immer auch um die diesbezüglichen Haltungen der Erwachsenen, ja der Gesellschaft insgesamt. So betrachtet muss das Thema Rechte und Rechtsbewusstsein immer als ein umfassendes Phänomen betrachtet werden. Nur dann, wenn es gelingt, dass sich etwa in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (auch in den Jugendämtern) eine allgemeine Kultur von Rechtssicherheit und Achtung von Rechten entwickeln kann, wird es möglich sein, Kinderrechte in der Qualität zu sichern, die eigentlich gefordert ist. Doch die Selbstwahrnehmung der jungen Menschen als rechtsfähige Personen macht Eltern wie auch Fachkräften auch Probleme. Denn Kinder und Jugendliche, die wissen, was ihre Rechte sind, die sich selbstbewusst und sicher äußern können, die Koalitionen und Bündnisse schließen, lassen sich weniger leicht durch Erwachsene beeinflussen und entsprechend deren Vorstellungen führen. Auch werden problematische Verhaltensweisen von Erwachsenen durch die Kinder schneller und deutlicher angesprochen und auch öffentlich gemacht. Das mögen Eltern häufig genauso wenig wie die Fachkräfte. Und dennoch ist diese veränderte Praxis ein Gewinn. Denn implizit haben alle etwas davon. Zum einen steigt die Sicherheit der Beteiligten, dass sich die Menschen tendenziell gerechter verhalten, indem sie sich artikulieren. Zum anderen verlagert sich die Verantwortung für das Geschehen auf alle Beteiligten. Und vor allem: Zu allen Rechten gehören auch Pflichten. Dieser Aspekt wird gerade, wenn es um Kinder geht, gern vergessen. Denn je konsequenter Rechte eingefordert werden, desto stärker sind alle Beteiligten aufgerufen, diese auch in umgekehrter Weise einzuhalten. Darin besteht die Pflicht – auch für Kinder.
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Veränderte Rahmungen durch zunehmende Beteiligung Die bereits erwähnte rechtlich geregelte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bei allen sie betreffenden Entscheidungen kann auch als ein demokratischer Rahmen für die Gestaltung der Einrichtungen und Organisationen verstanden werden. Beteiligung schließt Rechtskenntnisse, Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsthemen ein. Beteiligung bedeutet das Erlangen der Fähigkeit, Situationen auf Rechtssicherheit hin zu prüfen und in Frage zu stellen; es bedeutet eine umfassende Veränderung der Sicht auf sich selbst im Kontext zur Umgebung; und es bedeutet die Wahrnehmung, selbst handlungsfähig und nicht dem Geschehen ausgeliefert zu sein. Dies alles macht deutlich, dass es bei einer Zunahme von Beteiligung, Einbeziehung, Offenheit und Interesse an Lösungen auch eine deutliche Weiterentwicklung im Sinne von Recht u. a. im Sinne von Gerechtigkeit, geben wird. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Beteiligung immer auch die nötigen Kenntnisse und Informationen als Voraussetzung für Entscheidungsfindungen notwendig macht. Kinder, die als selbstbewusste Menschen mitentscheiden, müssen nötiges Wissen darüber haben, was ihre Entscheidungen bedeuten. Auch in diesen Zusammenhängen werden Kinder zunehmend als Partner_ innen verstanden und weniger als schutzbedürftige Objekte, denen Wahrheiten nicht zugemutet werden können. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es im Kinderschutz, aber auch darüber hinaus in der Arbeit mit Kindern darum geht, eine Kultur von umfassender Information und Beteiligung im Sinne der Sicherung von Rechten und von Mitgestaltung zu etablieren. Sinnvoll in diesen Zusammenhängen ist die Einrichtung kontinuierlicher Gremien der Mitbestimmung und Information sowie eines kindgerechten Beschwerdemanagements, nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in anderen Bereichen, z. B. dem Bildungswesen und dem Gesundheitsbereich. Kinder, die sich ihrer Rechte bewusst sind und diese einfordern, können sich gegenüber Erwachsenen auch unangemessen äußern, z. B. wenn ein Kind seine eigenen Rechte über die der anderen stellt. Insgesamt ist jedoch etwas ganz anderes, aber Entscheidendes, zu beobachten: Je stärker Kinder in unserer Gesellschaft dabei unterstützt werden, ihre Rechte zu kennen und wahrzunehmen, umso stärker wird ihrem Schutz gedient. Sie fühlen sich dadurch selbst-
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bewusster und sind eher bereit und in der Lage, Verantwortung für sich und auch für andere zu übernehmen. Sie können sich gegenüber Erwachsenen, die ihnen oder anderen Kindern Unrechtes antun wollen, wehren.
12. Muss sich etwas ändern? Umrisse eines Kinderschutzes der Zukunft
In den vorherigen Kapiteln haben wir versucht aufzuzeigen, worin die Stärken und Schwächen des Kinderschutzes in Deutschland liegen. Unser Ansinnen war es, darauf hinzuweisen, dass das deutsche Kinderschutzsystem häufig besser ist als sein Ruf in der Öffentlichkeit. Dennoch sind wir uns dessen bewusst, dass dies nicht ausreicht und es weiterer Anstrengungen bedarf, um den Kinderschutz in Deutschland zu verbessern. Zu diesem Zweck wollen wir abschließend einen Kinderschutz der Zukunft entwerfen, der sowohl den in ihrem Wohl gefährdeten Kindern und Jugendlichen als auch deren Eltern gerecht wird. Ansätze dafür wurden in den bisherigen Kapiteln bereits angesprochen und werden nunmehr gebündelt. Unsere Positionen basieren auf der Annahme, dass die Maxime Helfen und Schützen im Kinderschutz nachgewiesenermaßen wirksam ist. Konkret gefasst ist es nicht in jedem Fall die am wenigsten schädliche Alternative, in ihrem Wohl gefährdete Kinder in Kinderschutzambulanzen zur Spuren- und Beweissicherung vorzustellen, sie schnell von ihren Eltern zu trennen und dauerhaft in Pflegefamilien unterzubringen sowie die Eltern strafrechtlich zu verfolgen (vgl. Goldstein/Freud/Solnit 1974: S. 49–57; dies. 1982: S. 17). Zielführender ist es sicherlich, nur auf jene Hilfen zu setzen, die auch wirklich wirksam sind und von Qualität zeugen. Doch was sind qualitativ hochwertige und wirksame Hilfen im Kinderschutz?
Wirksame Hilfen im Kinderschutz Die wenigen in Deutschland verfügbaren Studien über die Wirksamkeit von einzelfallbezogenen Hilfen im Kinderschutz (vgl. Albus et al. 2010; Kindler 2007: S. 23 ff. Macsenaere/Esser 2012: S. 50 ff.; NZFH 2018: S. 92 ff.) zeigen:
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• Hilfen sollten fachlich gut begründet, wohl überlegt und nachvollziehbar sein. • Sie sollten auf die Bedürfnisse und Interessen der Kinder und Eltern zugeschnitten sein, mit diesen ausgehandelt und von diesen nach Möglichkeit gleichermaßen akzeptiert werden. • Sie sollten Eltern und Kinder dabei unterstützen, familiale Konfliktsituationen zu bewältigen und ihre Probleme dauerhaft zu lösen. • Sie sollten sowohl für die Kinder als auch für die Eltern von Nutzen sein und nicht zu unnötigen Beziehungsabbrüchen führen. Des Weiteren sollte beachtet werden, dass Hilfen eher von Misserfolg geprägt sind, wenn sie erst spät ansetzen bzw. Kinder in einem Alter adressieren (als 14- bis 17-Jährige), in dem sich Probleme und Konflikte und in der Folge kindeswohlgefährdende Erziehungspraxen in Familien bereits manifestiert haben. Die Erfolgsaussichten von Hilfen sind besser, wenn sie an Familien gerichtet sind, in denen Kinder bis zu einem Alter von sechs Jahren leben. Sind die Kinder hingegen älter, wird es zunehmend komplizierter, ihnen und ihren Eltern effektive Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Das heißt nicht, dass Hilfen, die erst im Jugendlichenalter ansetzen, aussichtslos sind. Sie sind aber anspruchsvoller zu erbringen und die Wahrscheinlichkeit von Misserfolgen ist zudem höher. Umso wichtiger ist es, Eltern, die ihre Kinder in ihrem Wohl gefährden, frühzeitig (im doppelten Sinn) zu erreichen und für die Notwendigkeit von (Frühen) Hilfen aufzuschließen. Ebenso wichtig ist es, mehrere erfolglose Hilfen in Folge zu vermeiden (sogenannte ›Jugendhilfekarrieren‹ [sic!]) und so früh wie möglich die geeignetste und wirksamste Hilfe ausfindig zu machen. Denn je mehr erfolglose Hilfen von Kindern und Eltern in Anspruch genommen werden, umso wahrscheinlicher wird es, dass Resistenzen entstehen und in Familien keine wirklichen Veränderungen im Interesse des Kindeswohls in Gang gesetzt werden können. Darum ist es auch prinzipiell falsch, grundsätzlich ambulanten gegenüber (teil-)stationären Hilfen den Vorrang zu geben. Zielführender ist es, immer fallbezogen diejenige Hilfe zu wählen, welche die größtmöglichen Erfolgsaussichten verspricht und sowohl dem Schutz des Kindes als auch der Unterstützung der Eltern und damit dem Erhalt familiärer Beziehungen dient. So verlangt es auch § 27 SGB VIII, der keinen grundsätzlichen Vorrang ambulanter vor stationären Hilfen
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vorsieht, sondern eine Hilfe verlangt, die den individuellen (erzieherischen) Bedarf deckt. Im Fall, dass eine stationäre Unterbringung indiziert ist, ist es z. B. der Wirksamkeit zuträglich, wenn die davon betroffenen Kinder dabei unterstützt werden, nachvollziehen und verarbeiten zu können, warum sie in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht worden sind. Dies gilt ebenso für die Eltern. In stationären Settings ist es von Belang, dass die Fachkräfte bzw. Pflegeeltern den leiblichen Eltern der ihnen anvertrauten Kinder mit Respekt und Wertschätzung gegenübertreten und sie möglichst in den Alltag der Kinder einbeziehen. Sie sollten jedenfalls nicht darauf aus sein, einen Keil zwischen die Kinder und ihre Eltern zu treiben. Und es sollte stets ermöglicht werden, dass die zu ihrem Schutz in stationären Einrichtungen oder in Pflegefamilien untergebrachten Kinder (regelmäßig) in Kontakt zu ihren Herkunftsfamilien stehen können. Denn dies gibt sowohl den Kindern als auch den Eltern die Möglichkeit, dieses kritische Lebensereignis zu verstehen und zu bewältigen sowie perspektivisch in das eigene Leben zu integrieren. In diesem Kontext ist begleitende Elternarbeit nicht ein Anhängsel der erzieherischen Hilfe für das Kind (im Sinne von Doppelarbeit), sondern elementarer, integraler Bestandteil der Hilfe, ohne den die primäre Rückkehrperspektive nicht realisiert werden kann, und damit zudem ein wichtiger Wirkfaktor. Auch sollte sichergestellt sein, dass Kinder, die zu ihrem Schutz außerhalb ihrer Herkunftsfamilien untergebracht worden sind, in Pflegefamilien oder Heimeinrichtungen nicht erneut Misshandlung und Vernachlässigung erfahren müssen. Ebenso herausfordernd ist es, wirksame Hilfen für Familien mit Migrations- und/oder Fluchthintergrund zu erbringen. Denn in diesen Familien gelten oft spezifische Erfahrungen sowie Werte und Normen, die u. U. nicht konform mit dem Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung sind (§ 1631 Abs. 2 BGB). Es kommt aber auch vor, dass die Fachkräfte Problemlagen vorschnell dem kulturellen Hintergrund dieser Familien zuschreiben. Aktuelle Studien verweisen jedoch darauf, dass es weniger die kulturellen Aspekte, sondern mehr die sozioökonomische Lebenslage ist, welche auch diese Familien in Krisen- und Konfliktsituationen zu bewältigen haben. Diese können die Kinder gefährden. Der Schutz und das Wohl der eigenen Kinder werden jedoch von den Familien als wesentliche Kernanliegen und auch häufig als entscheidende Gründe für die Flucht aus dem Herkunftsland vorgebracht. Hier liegt ein zentraler Ansatz
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darin, mit den Familien im Kinderschutz zusammenzuarbeiten. Ein »migrationssensibler Kinderschutz« (Jagusch/Sievers/Teupe 2012) umfasst die Herausforderung des sensiblen Verstehens der individuellen Lebenssituation der Familien sowie die Gestaltung des direkten Kontaktes und nimmt die entsprechenden Gefährdungseinschätzungen vor diesem Hintergrund vor. Es bedarf eines fundierten sozialpädagogischen Fallverstehens sowie geeigneter und passgenauer lebensweltbezogener Hilfen (ebd.). Im Kern kommt es bei allen Familien darauf an, dass Kinder wie Eltern an Prozessen der Gefährdungseinschätzung, des sozialpädagogischen Fallverstehens sowie der Hilfeplanung und -erbringung beteiligt sind und aktiv daran mitwirken, gemeinsame Veränderungen im Interesse des Kindeswohls anzustoßen. Hilfen wirken umso mehr, je besser es gelingt, sie gemeinsam mit Kindern und Eltern zu planen, umzusetzen und rechtzeitig auf Rückschläge zu reagieren. Sicherlich gibt es Limitationen, was die Beteiligung von besonders jungen Kindern im Kinderschutz anbelangt, speziell, wenn sie im Säuglingsalter sind. Aber auch Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter können im Kinderschutz beteiligt werden, ohne dass mit ihnen das Gespräch gesucht werden muss. Es wäre schon viel für ihren Schutz getan, wenn sie zumindest angesehen, ihr körperliches Erscheinungsbild und ihr gesundheitlicher Zustand in diesem Zusammenhang eingeschätzt und die Interaktionen mit ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen standardmäßig beobachtet werden würden. Auch dies stellt eine Form von Beteiligung besonders junger Kinder im Kinderschutz dar. Doch nicht nur die Beteiligung von Kindern ist eine Herausforderung. Die Einbeziehung von Eltern, die im Verdacht stehen, das Wohl ihrer Kinder zu gefährden, ist ebenfalls kompliziert. Auch sie müssen erst einmal für eine Mitarbeit im Interesse des Wohls ihrer Kinder gewonnen und von der Notwendigkeit von Hilfe überzeugt werden – vor allem, wenn sie untereinander uneinig oder miteinander hochkonflikthaft zerstritten sind oder wenn sie in den Widerstand gehen und Hilfe ablehnen, um ihr Selbstwertgefühl und ihre Autonomie zu bewahren, bedarf es eines Mindestmaßes an Sensibilität und eines Höchstmaßes an Kreativität, um sie zu erreichen. Eine vertrauensvolle, stabile, zuverlässige und krisentaugliche Arbeitsbeziehung sowie geklärte Rollen, Aufträge, Zuständigkeiten und Kompetenzen zwischen den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe und anderer Bereiche sowie den Eltern und Kindern sind hierfür die Basis (vgl. Albus et al. 2010; Macsenaere/Es-
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ser 2012: S. 50 ff.; NZFH 2018: S. 92 ff.). Vorzugsweise aber braucht es Geduld und entsprechende strukturelle Rahmenbedingungen, um Kindeswohlgefährdungen in Familien durch den Einsatz von Hilfen entgegenzuarbeiten. Die Wirkungsforschung (ebd.) verweist eindeutig darauf, dass einzelfallbezogene Hilfen, die weniger als ein Jahr dauern, von wenig Erfolg gekrönt sind. Über alle Hilfeformen hinweg muss man von einer Hilfedauer von 12 bis 36 Monaten ausgehen, will man Eltern wirklich dabei helfen, den Weg gewaltfreier Erziehung zu beschreiten und Kindeswohlgefährdungen nachhaltig zu vermeiden. Schnelle und auf eine kurze Zeitdauer angelegte Hilfen sind insofern nicht angeraten, erst recht nicht, wenn es um die Sicherstellung des Schutzes von Kindern in Familien geht. Es bedarf fokussierter, zeitlich lang andauernder Hilfen. Sie erzielen bessere Wirkungen für in ihrem Wohl gefährdete Kinder als episodische Interventionen, ebenso wie Hilfen, die alltagspraktische und therapeutische Interventionen kombinieren. Kinderschutz ist aber nicht nur Hilfe im Einzelfall, wenn es darum geht, eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Letztlich dienen alle Leistungen zur Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (auch) ihrem Schutz, ohne dass dort aber der Schutzoder Kontrollaspekt handlungsleitend sein darf. Kinderschutz beginnt so gesehen bereits viel früher, ab Beginn der Schwangerschaft und rund um die Geburt. Spätestens dann sollten (werdende) Eltern auf ein Set an niederschwelligen, leicht zugänglichen und kostenlosen Hilfen zurückgreifen können, welche sie darin unterstützen, ihren elterlichen Aufgaben und Pflichten gegenüber ihren Kindern ohne Anwendung von Gewalt als Erziehungsmittel gerecht werden zu können. Ferner sollten sie offensiv bei der Erziehung, Bildung und Betreuung ihrer Kinder und der Organisation ihrer Familien entlastet werden. Ein solcher Kinderschutz setzt nicht erst an, wenn das Wohl eines Kindes gefährdet ist und es zu Situationen von Misshandlung und Vernachlässigung in Familien kommt. Er ist breiter gefasst und darauf aus, sowohl das Wohl von Kindern als auch ihrer Eltern bzw. ihrer Familien sicherzustellen und damit Kindeswohlgefährdungen im Kern vorzubeugen (vgl. Wolff et al. 2013: S. 283 f.). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in einem Bericht über die Prävention von Kindesmisshandlung in Ländern der europäischen Region der WHO Ansätze angeführt, die effektiv darin sind, Kindeswohlgefährdungen zu verhindern oder Risikofaktoren zur reduzieren, welche kindeswohlgefährdende Handlungen oder
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Unterlassungen von Eltern begünstigen können (WHO 2013: S. 8). Erfolgversprechend sind Ansätze, die darauf aufmerksam machen, welche Folgen Schütteltraumata für Säuglinge haben, oder auf die Prävention von sexueller Gewalt ausgerichtet sind. Des Weiteren sind Ansätze vielversprechend, die zum Zeitpunkt der Schwangerschaft ansetzen, aufsuchend sind (Hausbesuche) und der Förderung elterlicher Kompetenzen und der Kinderbetreuung sowie der Verbesserung der kinderärztlichen Versorgung dienen. Sie dienen nicht nur der Reduktion von Risikofaktoren, sondern auch der Verhinderung von Kindeswohlgefährdungen. Entsprechend ist es eine zielführende Strategie des Bundes gewesen, ein Nationales Zentrum Frühe Hilfen einzurichten und den modellhaften Ausbau von Projekten und Netzwerken Früher Hilfen seit 2006 in Deutschland voranzutreiben (vgl. BMFSFJ 2006). Gleichlautend wird im Bericht angemahnt, dass es in der Europäischen Union ebenso wie in Deutschland keine hinreichende Evidenzgrundlage gibt, um nur auf diejenigen Hilfen und Programme setzen zu können, welche auch wirklich wirksam sind, um Kindeswohlgefährdungen in Familien zu vermeiden bzw. zu stoppen. Überdies bedarf es verlässlicher statistischer Angaben, aus denen geschlossen werden kann, wie sich Kindeswohlgefährdungen in Deutschland verbreiten, ob sie ansteigend oder absteigend sind und welche Formen überwiegen (bundeseinheitliche Kinderschutzstatistik).
Jugendämter als Zentralen für gelingendes Aufwachsen stärken Hilfen zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen können aber nur dann wirksam entfaltet werden, wenn sie in einem Umfeld erbracht werden, welches von Qualität und Professionalität zeugt und gegenüber Eltern sowie Kindern wertschätzend und verstehend agiert. Einerseits bedarf es gut ausgebildeter, festangestellter und hinreichend bezahlter und öffentlich anerkannter Fachkräfte. Anderseits bedarf es fachlich und methodisch gut aufgestellter Jugendämter als Kerneinrichtungen des Kinderschutzes in Deutschland. In diesen sollte es zum Standard gehören, in Teams zu arbeiten und regelmäßige Supervisionen, kollegiale Beratungen, Weiterbildungen sowie Qualitätsentwicklung und Wirksamkeitsforschungen durchzuführen. Hiervon sind wir in Deutschland jedoch derzeit meilenweit entfernt. In vielen Jugendämtern herrschen prekäre Arbeitsbedingungen, ob-
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wohl sie das »Herzstück« des Kinderschutzes sind und »zu strategischen Zentren einer Gestaltung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen« ausgebaut werden müssten (BMFSFJ 2013: S. 50). Die insgesamt 563 Jugendämter in Deutschland mit ihren rund 35.000 Beschäftigten (vgl. ebd.: S. 291) und ihren Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD), die sowohl hoheitliche Aufgaben des Kinderschutzes als auch vielfältige andere Hilfen vermitteln und erbringen, sehen sich mit komplexen Problemlagen, vielfältigen Herausforderungen und erhöhten Dokumentationserfordernissen konfrontiert. Diese können sie aufgrund fehlender Fachkräfte und hoher Personalfluktuationen kaum mehr bewältigen (vgl. Beckmann/Ehlting/Klaes 2018). Steigende Fallzahlenbelastungen sind die Folge und damit auch das Risiko, dass einzelne Fachkräfte gravierende Gefährdungen des Wohls von Kindern übersehen und ›Fehler‹ begehen (→ Kapitel 6). In vielen ASD ist es nicht Standard, dass eine Vollzeitfachkraft für maximal 35 laufende Hilfefälle zuständig ist, wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst/Kommunaler Sozialer Dienst fordert (vgl. BAG ASD/KSD 2012); viel höhere Fallzahlen sind in vielen Kommunen gang und gäbe. In Reaktion auf die hohen Fallzahlbelastungen wurden in vielen Jugendämtern Aufgaben der Gefährdungseinschätzung und des intervenierenden Kinderschutzes aus den ASD ausgegliedert bzw. spezialisierte Kindesschutzdienste gegründet. Zusätzlich wurden originäre Abklärungs- und Hilfeaufgaben, für die früher ASD-Fachkräfte zuständig waren, an freie Träger der Jugendhilfe outgesourct, was mit der dem öffentlichen Träger zugewiesenen Steuerungsverantwortung nicht vereinbar ist. Damit haben viele ASD ihren generalistischen Zuschnitt verloren und wurden in die Rolle von ›Fallverwaltungsagenturen‹ gedrängt. Zusätzlich wurden neue Schnittstellenprobleme geschaffen, welche bis heute ungelöst sind (vgl. BMFSFJ 2013: S. 293). Dem Verwaltungsdesaster konnte damit vielerorts nicht hinreichend begegnet werden. Wie kann man dieser Misere begegnen? Ganz einfach. Jugendämter müssen nachhaltig ausgebaut und als Zentralen für gelingendes Aufwachsen gestärkt werden (vgl. Biesel/Schrapper 2018). Nur so wird es gelingen, wirksame Hilfen (nicht erst, aber auch) in Reaktion auf Gefährdungen des Wohls von Kindern gestalten, vermitteln und erbringen zu können. Darum muss in die Jugendämter investiert werden, unabhängig davon, wie es um die kommunalen Haushalte bestellt ist. Warum? Weil wir es den Kindern schuldig sind, welche von Gefährdungen ihres Wohls bedroht sind oder be-
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reits Misshandlung und Vernachlässigung erfahren mussten. Und weil die Jugendämter schon immer für Aufgaben des Kinderschutzes zuständig waren und bis heute einen umfassenden, sowohl präventiven als auch interventionistischen Auftrag haben (vgl. § 1 Abs. 3 SGB VIII): • Sie sollen Kinder in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beizutragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. • Sie sollen Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder beraten und unterstützen. • Sie sollen Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen ihres Wohls schützen. • Sie sollen positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie kinder- und familienfreundliche Umwelten erhalten oder schaffen. Dieser Auftrag wurde mit dem Bundeskinderschutzgesetz, welches am 1. Dezember 2012 in Kraft getreten ist, gestärkt. Durch das gleichzeitig neu geschaffene Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) wurden die Jugendämter damit beauftragt, Eltern über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung offensiv zu informieren und Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen, insbesondere im Bereich Früher Hilfen, zu schaffen. Diesem umfassenden Auftrag können sie allerdings nur gerecht werden, wenn sie als sozialpädagogische Fachbehörden innerhalb der Kommunalverwaltungen kein Schattendasein fristen. Sie bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit und sollten überall ähnlich aufgebaut und ausgestattet sein. Schließlich haben sie laut SGB VIII eine Gesamt- und Planungsverantwortung, die Verfügbarkeit eines bedarfsgerechten, pluralen Angebots in ihren Kommunen sicherzustellen, die Entwicklung von Qualität voranzutreiben und mit Stellen und Einrichtungen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe im Interesse des Wohls von Kindern und ihren Familien zusammenzuarbeiten. Insbesondere sollen sie die Kooperation suchen und pflegen mit (vgl. § 81 SGB VIII): • den Trägern von Sozialleistungen nach dem Zweiten, Dritten, Vierten, Fünften, Sechsten und dem Zwölften Buch SGB sowie Trägern von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz,
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• den Familien- und Jugendgerichten, den Staatsanwaltschaften sowie den Justizvollzugsbehörden, • Schulen und Stellen der Schulverwaltung, • Einrichtungen und Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und sonstigen Einrichtungen und Diensten des Gesundheitswesens, • den Beratungsstellen nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und Suchtberatungsstellen, • Einrichtungen und Diensten zum Schutz gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen, • den Stellen der Bundesagentur für Arbeit, • Einrichtungen und Stellen der beruflichen Aus- und Weiterbildung, • den Polizei- und Ordnungsbehörden, • der Gewerbeaufsicht und • Einrichtungen der Ausbildung von Fachkräften, der Weiterbildung und der Forschung. Umso erstaunlicher ist es, dass die Jugendämter in Deutschland je nach kommunaler Kassenlage und konzeptioneller Ausrichtung unterschiedlich aufgebaut und ausgestattet sind und auch verschiedenen Philosophien im Kinderschutz folgen. Den Hintergrund dafür bildet die Wahrnehmung der Aufgaben in kommunaler Selbstverwaltung und die damit verbundene Personal-, Organisations- und Finanzhoheit der Kommunen. Kinderschutz in Deutschland sollte aber überall gleich funktionieren und auf ähnlichen Prinzipien basieren. Er sollte auf Jugendämter gestützt sein, in denen Fachkräfte tätig sind, die Kindern und Eltern beraterisch und therapeutisch zur Seite stehen und überdies Zeit für fallbezogene und fallübergreifende Prozesse der Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe haben. Was brauchen wir also ganz konkret? Wir sagen (vgl. Biesel/Schrapper 2018: S. 443 ff.; Wolff et al. 2013: S. 266 f.): • breit aufgestellte Jugendämter als Zentralen für gelingendes Aufwachsen vor Ort in den Kommunen; • Jugendämter, die hinreichend ausgestattet sind mit hochdotierten, engagierten und gesunden Fachkräften verschiedener Professionen und Disziplinen (Sozialarbeitende, Kinder- und Jugendärzt_ innen, Familienhebammen, Krankenpfleger und -schwestern, Psycholog_innen und Forschende); • Jugendämter mit einem breiten Mix von niederschwelligen (frühen) und hochschwelligen (indizierten) alltagspraktischen wie
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therapeutischen Hilfen und eigenen Kinderschutzberatungszentren; Jugendämter mit einheitlichen fachlichen Standards, verbindlichen Verfahrensabläufen, praxistauglichen Diagnoseinstrumenten und langfristigen Strategien sowie Konzepten für die Prävention und Intervention in Fällen von Kindeswohlgefährdungen; Jugendämter mit eigenen Forschungs- und Entwicklungs-, Personalmanagements-, Weiterbildungs-, Öffentlichkeits- und Vernetzungsabteilungen; Jugendämter mit verlässlichen fachlichen Partner_innen innerhalb und außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe; Jugendämter mit einem guten Ruf und Wertschätzung!
Vision eines Kinderschutzes mit Zukunft Für einen visionären Kinderschutz reichen diese Anstöße indes nicht aus. Im Kern bedarf es kompetenter Eltern, die ihre Kinder bedingungslos lieben und die Anwendung von Gewalt in der Erziehung prinzipiell ablehnen. Es braucht Eltern, die sich selber achten und wertschätzen und eigene Ziele in ihrem Leben verfolgen. Sie sollten überdies im Arbeitsmarkt integriert sein und von ihrem Einkommen angemessen leben können. Und nicht zuletzt sollten sie wissen, wann es notwendig ist, in Erziehungs- und Bildungsfragen rechtzeitig Hilfe zu holen, und wo sie diese erhalten. Es braucht aber auch einen Staat, der für Kinder und Eltern gleichermaßen da ist und Hilfe unbürokratisch anbietet, wenn sie gebraucht wird, und darauf hinarbeitet, sozioökonomische Benachteiligungen von Familien abzubauen und sich sozial- wie familienpolitisch entschieden sowohl für das Wohl von Kindern als auch von Eltern und Familien einsetzt. In den Kommunen gibt es unterschiedliche Hilfelandschaften und damit auch oftmals Entscheidungen für oder gegen Hilfen im Fall einer Kindeswohlgefährdung, welche nicht primär fachlich indiziert sind. Es sollte darum in allen Jugendämtern ein vergleichbarer Leistungskatalog an niederschwelligen und hochschwelligen Hilfen zur Prävention und Intervention im Fall einer Kindeswohlgefährdung zur Verfügung stehen, welche in Zusammenarbeit mit den Trägern der freien Jugendhilfe und weiteren fachlichen Partner_innen aus dem Gesundheits- und Bildungsbereich realisiert werden. Diese sollten regelhaft auf ihre Wirksamkeit hin evaluiert und suk-
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zessive weiterentwickelt werden. Sie sollten sowohl der materiellen Unterstützung als auch der alltagspraktischen, sozialpädagogischen und therapeutischen Unterstützung von Familien dienen. Zusätzlich sollten in den Kommunen bereits praktizierte Ansätze Früher Hilfen von der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen paritätisch regelfinanziert und weiter ausgebaut werden. Ein solch breit gefasster Kinderschutz zielt dementsprechend auf Armutsbekämpfung und Familienschutz! Denn Armut wirkt sich sowohl ökonomisch als auch sozial und kulturell auf Familien aus. Armutsbetroffene Familien sind in ihrer Autonomie beschädigt. Sie sind bei langanhaltender Einkommensarmut hohen psychosozialen Belastungen ausgesetzt. Je länger die Belastungen in armutsbetroffenen Familien anhalten, umso wahrscheinlicher ist es, dass die Bedürfnisse von Kindern und Eltern nicht mehr hinreichend befriedigt werden. Kinder sind dann zwar noch nicht davon bedroht, misshandelt und/oder vernachlässigt zu werden, aber ihr Wohl ist nicht mehr hinreichend gewährleistet. Zugleich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Familie sich zunehmend sozial isoliert, hoffnungslos und ohnmächtig wird und in eine Strukturkrise gerät. In der Folge steigt das Risiko kindeswohlgefährdender Zustände in Familien, die im schlimmsten Fall zu Misshandlungen und Vernachlässigungen führen können (nicht müssen!). Kinderschutz ist dann erfolgreich, wenn er von den Eltern und weiteren Bezugspersonen des Kindes aus dem familiären und institutionellen Umfeld praktiziert wird und wenn der Staat sich nur in Ausnahmesituationen in familiäre Angelegenheiten einmischen muss. Kinderschutz ist primär Aufgabe der Eltern. Diese müssen im Fall einer Kindeswohlgefährdung unterstützt und ermutigt werden, sich und ihr Leben für ihre Kinder zu verändern. Sie sind aus der Perspektive ihrer Kinder nicht ausschließlich skrupellose Täter, sondern sind und bleiben ihre Eltern. Vor diesem Hintergrund bedarf es eines Kinderschutzes, der sowohl Kinder vor Gefährdungen ihres Wohls schützt als auch Familien stärkt. Unsere Vision eines Kinderschutzes mit Zukunft basiert daher auf der Annahme, dass es wenig zielführend ist, Kinder standardmäßig in Reaktion auf kindeswohlgefährdende Handlungen oder Unterlassungen von ihren Eltern zu trennen, in Pflegefamilien unterzubringen und die Eltern bei den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen. Stattdessen machen wir uns stark für einen Kinderschutz, der breit und frühzeitig ansetzt und bei dem der Einzelfall im Mittelpunkt steht, wenn es darum geht,
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Kindeswohlgefährdungen abzuwenden. Es sollte immer auf der Grundlage bestmöglicher Evidenzen entschieden werden, was getan werden kann, um Kindern und ihren Eltern zu helfen. Hilfe kann im Fall einer Kindeswohlgefährdung dabei im Einvernehmen mit den Eltern praktiziert werden. Sie muss manchmal aber auch gegen den Willen der Eltern mittels familiengerichtlicher Maßnahmen durchsetzt werden. Auch kann es vorkommen, dass Hilfe erst möglich wird, wenn kindeswohlgefährdende Handlungen oder Unterlassungen von Eltern zur Strafanzeige gebracht werden. Erheblich ist und bleibt immer der Einzelfall und die potentiell verfügbaren Hilfeoptionen mit all ihren Vor- und Nachteilen für die Entwicklung des Kindes und seiner Familie. Entscheidungen im Einzelfall zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen sollten daher stets unter Beachtung folgender, oftmals in Konkurrenz zueinander stehender Praxisprinzipien getroffen werden: »1. Eltern, die für ihre Kinder angemessen sorgen und um ihr Wohl bedacht sind, sollten frei von staatlichen Eingriffen in die Familie sein. 2. Der Schutz von Kindern vor Gefährdungen ihres Wohls hat oberste Priorität. 3. Kinder sollten in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen dürfen. 4. Wenn Kinder nicht in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen können, sollten sie, sofern möglich, mit ihren nahen Angehörigen zusammenleben dürfen. Durch qualifizierte Elternarbeit ist dafür Sorge zu tragen, dass entweder eine Rückkehrperspektive in die Herkunftsfamilie besteht oder doch die Beziehung zu den Herkunftseltern aufrecht erhalten und gefördert wird. 5. Kinder sollten in Familien aufwachsen dürfen. 6. Kinder sollten ein Gefühl der Beständigkeit haben – dass Bezugspersonen, mit denen sie zusammenleben, sich dauerhaft um sie kümmern. 7. Das kulturelle Erbe der Familie sollte respektiert werden. 8. Eltern und Kinder (entsprechend ihres Entwicklungsstandes) sollten bei Entscheidungen, welche ihr Leben beeinflussen, ein Mitsprachrecht haben.« (Berrick 2018: S. 5; unsere Übersetzung)
Diese Praxisprinzipien können je nach Einzelfall in einem Widerspruch zueinander stehen. Ihre Beachtung ermöglicht es, sowohl Kinder vor Gefährdungen ihres Wohls zu schützen als auch dem Erhalt von Familien zu dienen, insbesondere in Konstellationen, bei denen die Rechte von Eltern, für ihre Kinder zu sorgen, mit den Schutzrechten von Kindern in Konflikt stehen und gründlich gemeinsam
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erörtert und fachlich überdacht werden muss, ob ein Aufwachsen an einem der wichtigsten Sozialisationsorte der Gesellschaft ermöglicht werden soll: der Familie (vgl. Berrick 2018: S. 21).
Ausblick In der breiten Bevölkerung, der Politik und den Medien sollte akzeptiert werden, dass Deutschland eine Menge für das gelingende Aufwachsen von Kindern tut, aber dass es – egal wie sehr wir uns auch anstrengen werden – nicht gelingen wird, alle Kinder vor Gefährdungen ihres Wohls zu schützen. Es bleibt eine (traurige) Gegebenheit des sozialen Lebens in modernen Gesellschaften, dass Lebensverläufe von Kindern wie von Erwachsenen sich nicht hundertprozentig kontrollieren und steuern lassen. Wir haben es mit Menschen und nicht mit Maschinen zu tun. Es wird also immer ein Restrisiko bleiben. Soziales Leben birgt Überraschungen und Gefahren. Es besteht nicht nur aus Gewissheiten, sondern auch aus Risiken. Kinderschutz ist ein unheilvolles Zukunftsversprechen. Es weckt Hoffnungen, die immer wieder auch enttäuscht werden können. Damit muss eine aufgeklärte, offene und demokratische Gesellschaft rechnen und sie muss lernen, diesen Umstand auszuhalten. Dem Kinderschutz sollte deshalb sein Katastrophenpotential genommen werden. Vor allem muss stets bedacht werden, dass der Staat nicht nur für den Schutz des einzelnen Kindes zuständig ist, sondern auch für die Ausgestaltung kindgerechter und familienfreundlicher Bedingungen des Aufwachsens (ausreichende Grundsicherung, sozialer Wohnungsbau, familienfreundliche Stadtentwicklung etc.). Diesbezüglich bedarf es weiterer Anstrengungen!
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Epilog
Misshandelt oder schützt Deutschland seine Kinder? Diese Frage, so einfach sie klingen mag, ist nicht pauschal mit einem »ja« oder »nein« zu beantworten. In Deutschland wird vielen in ihrem Wohl gefährdeten Kindern geholfen. Sie erfahren Schutz und Hilfe in familienunterstützenden, -ergänzenden oder -ersetzenden Settings. Und auch Eltern können auf eine Fülle von Angeboten zurückgreifen, welche sie dabei unterstützen, ihren Aufgaben in der Bildung, Erziehung und Betreuung ihrer Kinder gerecht werden zu können. Diese müssen jedoch weiter ausgebaut und regelfinanziert werden. Ebenso wie es notwendig ist, Jugendämter überall als Zentralen für gelingendes Aufwachsen zu stärken – und nicht nur dort, wo es die kommunalen Haushalte zulassen. Leider gelingt es nicht immer, alle in ihrem Wohl gefährdeten Kinder rechtzeitig zu schützen. Kinderschützer_innen haben keine hellseherischen Fähigkeiten. Sie haben dafür aber vielfältige Kompetenzen und häufig ein gutes Gespür für das, was in Familien los ist. Sie schützen alltäglich viele Kinder, ohne dass die Öffentlichkeit davon Kenntnis nimmt. Sie gehen auf Eltern zu, bieten diesen Unterstützung an und setzen sich für das Wohl und die Rechte von Kindern ein. Zum Teil erledigen sie ihre Arbeit unter widrigen Rahmenbedingungen und trotzdem verlieren sie nicht ihren Mut und ihren Enthusiasmus. Sie geben nicht auf und setzen sich für Kinder und Eltern gleichermaßen ein, erfahren dafür aber zu wenig gesellschaftliche Anerkennung. Deutschland und mit ihm das gesamte Kinderschutzsystem angesichts dramatischer Einzelfälle zu skandalisieren, hilft weder den in ihrem Wohl gefährdeten Kindern noch ihren Eltern oder den Fachkräften. Auch wir wünschen uns, dass Kinder in Deutschland und auf der ganzen Welt unter Bedingungen aufwachsen, die ihrem Wohl zuträglich sind, und von ihren Eltern oder anderen Bezugs-
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personen nicht misshandelt oder vernachlässigt werden. Dennoch ist es Realität, dass jährlich vielen in ihrem Wohl gefährdeten Kindern nicht geholfen wird. Deshalb ist es richtig, das gesamte Kinderschutzsystem auf den Prüfstand zu stellen. Was wir brauchen, ist aber eine sachliche Auseinandersetzung über Stärken und Schwächen. In diesem Sinne hoffen wir, dass unser Buch einen Anstoß zur Verbesserung des Kinderschutzes in Deutschland gibt und deutlich macht, dass Kinderschutz kein Projekt ist, das man anfangen und abschließen kann. Denn es ist eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe, die uns alle angeht – angefangen von den Eltern bis hin zu den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitsbereichs, der Justiz, des Bildungswesens und der Politik.
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Pädagogik Anselm Böhmer
Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1
Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel
Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis 2016, 248 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7
Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)
Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7
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Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering
Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven (unter Mitarbeit von Linda Leskau, Kathrin Lohse, Arne Malmsheimer und Jens Schröter) 2017, 304 S., kart., zahlr. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3053-8
Ruprecht Mattig, Miriam Mathias, Klaus Zehbe (Hg.)
Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit Januar 2018, 292 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3688-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3688-2
Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter (Hg.)
Digitalität und Selbst Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse 2017, 268 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3945-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3945-6
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