Kontroversen, alte und neue: Band 5 Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur - die Assimilationskontroverse [Reprint 2012 ed.] 9783111584515, 9783484105294


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German Pages 274 [276] Year 1986

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur
Zum literarischen Charakter und der literarischen Intention des altjiddischen Schmuelbuchs
Frühneuzeitliche Fassungen des altjiddischen ,Artushofs‘
Der ,Knick‘ in der Entwicklung des Frühneuhochdeutschen aus jiddistischer Sicht
Das deutsch-jiddische Sprachkontinuum: neue Perspektiven
Häufigkeit und Arten der Wörter hebräisch-aramäischen Ursprungs
Bestandteile des deutschen Gegenwartwortschatzes jiddischer oder hebräischer Herkunft
Ansichten vom Jiddischen
Die ideologische Komponente der jiddischen Literatur und die Frage der Modernität
Die Kontroverse um Sobols Musical „Ghetto“
Die Beschäftigung mit dem Jiddischen und der Kanon der Wissenschaften
Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur – die Assimilationskontroverse
Jüdische Literaturdebatten im 19. Jahrhundert am Beispiel der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“
Im Spannungsfeld Heine-Kafka Deutsch-jüdische Belletristik und Literaturdiskussion zwischen Emanzipation, Assimilation und Zionismus
Das Opfer als Autor
Rezeption jüdischer Autoren durch deutsche Kritik und deutsches Publikum
Assimilation in der Krise
Die Assimilationskontroverse im Spiegel der jüdischen Literaturdebatte am Anfang des 20. Jahrhunderts
Zwischen Identifikation und Distanz. Zur Darstellung der jüdischen Charaktere in Arthur Schnitzlers „Der Weg ins Freie“
Richard Beer-Hofmann: Ein großer Wiener jüdischer – und deutscher — Dichter
Ghetto oder Integration? Zu den Identitätsproblemen der Prager jüdischen Schriftsteller
Hebräisch oder europäisch? Zur Denkweise in der Welt des Romans „Der Prozeß“
Der Prager Golem, ein Polygänger
Ende der Hoffnung – Anfang der Illusionen?
Thomas Mann und die Juden – eine Kontroverse?
Das Positive im Negativen: Ein Problem der frühen Exilliteratur, erläutert am Beispiel von Ferdinand Bruckners „Die Rassen“
Stefan Heyms Ahasver: Der ewige Jude als Sinnbild der Kontroverse
Jurek Becker ringt mit seinem Judentum
Das sterbende Gedicht
Deutschsprachige Schriftsteller in Palästina und Israel
Deutschsprachige Literatur und Autoren in Israel
Im Nachhinein. Anstelle eines Debattenprotokolls
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Kontroversen, alte und neue: Band 5 Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur - die Assimilationskontroverse [Reprint 2012 ed.]
 9783111584515, 9783484105294

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AKTEN

D E S VII.

INTERNATIONALEN

GERMANISTEN-KONGRESSES GÖTTINGEN

1985

Kontroversen, alte und neue Herausgegeben von ALBRECHT SCHONE

Band 5

Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur

Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur die Assimilationskontroverse Herausgegeben von WALTER R Ö L L HANS-PETER BAYERDÖRFER

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1986

Redaktionelle Betreuung Ulf-Michael Schneider

(Göttingen)

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kontroversen, alte und neue : Akten d. VII. Internat. Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985 / hrsg. von Albrecht Schöne. - Tübingen : Niemeyer NE: Schöne, Albrecht [Hrsg.]; Internationaler Germanisten-Kongress (07, 1985, Göttingen) Bd. 5. Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. - 1986 Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur - die Assimilationskontroverse. Hrsg. von Walter Röll ; Hans-Peter Bayersdörfer. -Tübingen : Niemeyer, 1986. (Kontroversen, alte und neue ; Bd. 5) NE: Röll, Walter [Hrsg.]; beigef. Werk ISBN 3-484-10529-1 Bd. 5; 3-484-10524-0 Gesamtwerk Bd. 1-11 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1986 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Sulzberg-Druck GmbH, Sulzberg im Allgäu. Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Vorbemerkung

Die Akten des VII. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprachund Literaturwissenschaft (IVG), der unter dem Generalthema .Kontroversen, alte und neue' vom 25. bis 31. August 1985 in Göttingen abgehalten wurde, werden in 11 gleichzeitig erscheinenden Bänden veröffentlicht. Band 1 enthält die Ansprachen, Berichte und Plenarvorträge, dazu ein Verzeichnis der neugewählten Gremien der IVG und ihre geänderte Satzung. In den Bänden 2-11 dann sind die insgesamt 329 Referate abgedruckt, die auf den Versammlungen der 23 Foren des Kongresses vorgetragen wurden. Die Abfolge dieser Beiträge entspricht der Vortragsfolge des jeweiligen Forums. Die Aufteilung der Foren auf die Berichtsbände aber ist um eine möglichst sinnvolle thematische Zusammenstellung des einzelnen, auch einzeln käuflichen Bandes bemüht und weicht deshalb von der Nummernfolge des Kongreßprogramms gelegentlich ab. So enthält der hier vorliegende 5. Band die Beiträge zum 7. Forum (.Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur') und zum 17. Forum (,Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur - die Assimilationskontroverse'). Für die wissenschaftlichen Gespräche, die in den Foren jedem der Referate folgten, stand die gleiche Zeit zur Verfügung, die auch dem Vortragenden eingeräumt war. In allen Foren gab es außerdem ein einstündiges Abschlußgespräch, das sich an einer zusammenfassenden Kritik der Beiträge und an den offenen Fragen des betreffenden Arbeitsgebietes versuchte. Diese Diskussionen können in den Kongreßakten nicht mehr wiedergegeben werden. Dafür bietet auch das Resümee ,1m Nachhinein. Anstelle eines Debattenprotokolls' zum 17. Forum keinen Ersatz. Obgleich die Diskussionsergebnisse hier und da in die für den Druck leicht überarbeitete Fassung einzelner Referate eingegangen sind, vermögen die vorliegenden Bände also nur unvollkommen zu dokumentieren, was auf diesem Kongreß erreicht, versäumt oder verfehlt worden ist. .Kontroversen' aber entwickeln sich erst mit der kritischen Gegenrede und wollen ausgetragen werden. Durch die Veröffentlichung der Berichtsbände sollen deshalb die in ihnen enthaltenen Ansprachen, Berichte, Vorträge und Referate aufs neue und nunmehr über den Kreis der Kongreßteilnehmer hinaus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugänglich gemacht werden, die in den Göttinger Diskussionen eröffnet worden ist. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben und dazu beitragen werden, uns auf solche Weise voranzuhelfen. ALBRECHT SCHÖNE

Inhaltsverzeichnis

A U S E I N A N D E R S E T Z U N G E N UM JIDDISCHE S P R A C H E U N D LITERATUR

Barbara Könnecker (Frankfurt/M) Zum literarischen Charakter und der literarischen Intention des altjiddischen Schmuelbuchs

3

Robert G. Warnock (Providence) Frühneuzeitliche Fassungen des altjiddischen ,Artushofs'

13

Erika Timm (Trier) Der ,Knick' in der Entwicklung des Frühneuhochdeutschen aus jiddistischer Sicht

20

Ulrike Kiefer (New York) Das deutsch-jiddische Sprachkontinuum: neue Perspektiven

28

Florence Guggenheim (Zürich) Häufigkeit und Arten der Wörter hebräisch-aramäischen Ursprungs

53

Walter Roll (Trier) Bestandteile des deutschen Gegenwartwortschatzes jiddischer oder hebräischer Herkunft

54

Hans Peter Althaus (Trier) Ansichten vom Jiddischen. Urteile und Vorurteile deutschsprachiger Schriftsteller des 20. Jahrhunderts

. .

63

A. Tilo Alt (Durham) Die ideologische Komponente der jiddischen Literatur und die Frage der Modernität

72

Thomas Freeman (Beloit) Die Kontroverse um Sobols Musical „Ghetto"

81

Klaus Cuno (Bonn) Die Beschäftigung mit dem Jiddischen und der Kanon der Wissenschaften . . . .

94

JÜDISCHE K O M P O N E N T E N IN D E R D E U T S C H E N LITERATUR D I E ASSIMILATIONSKONTROVERSE

Hans Otto Horch (Aachen) Jüdische Literaturdebatten im 19. Jahrhundert am Beispiel der „Allgemeinen Zeitung des Judentums"

107

Vili

Inhalt

Ifta Shedletzky (Jerusalem) Im Spannungsfeld Heine-Kafka. Deutsch-jüdische Belletristik und Literaturdiskussion zwischen Emanzipation, Assimilation und Zionismus . . . .

113

Jürgen Stemel (Wolfenbüttel/Jerusalem) Das Opfer als Autor. Poetische Assimilation in Michael Beers „Der Paria" (1823)

122

Jacob Katz (Jerusalem) Rezeption jüdischer Autoren durch deutsche Kritik und deutsches Publikum . . 129 Jörg Thunecke (Nottingham) Assimilation in der Krise. Die Thematisierung der ,Judenfrage' in Fritz Mauthners Roman „Der neue Ahasver" (1882)

139

Hanni Mittelmann (Jerusalem) Die Assimilationskontroverse im Spiegel der jüdischen Literaturdebatte am Anfang des 20. Jahrhunderts

150

Wolf gang Nehring (Los Angeles) Zwischen Identifikation und Distanz. Zur Darstellung der jüdischen Charaktere in Arthur Schnitzlers „Der Weg ins Freie"

162

Kathleen Harris (Toronto) Richard Beer-Hofmann: Ein großer Wiener jüdischer - und deutscher - Dichter. Am Beispiel von „Jaákobs Traum" 171 Pavel Petr (Melbourne) Ghetto oder Integration? Zu den Identitätsproblemen der Prager jüdischen Schriftsteller

176

Huan-Dok Bäk (Seoul) Hebräisch oder europäisch? Zur Denkweise in der Welt des Romans „Der Prozeß"

182

Simona Brolsma-Stancu (Utrecht) Der Prager Golem, ein Polygänger

187

Bernd Hüppauf (Sydney) Ende der Hoffnung - Anfang der Illusionen? Der Erste Weltkrieg in den Schriften deutscher Juden

196

Jacques Darmaun (Montpellier III) Thomas Mann und die Juden - eine Kontroverse? Thomas Manns Bild des Judentums bis zur Weimarer Republik

208

Roy C. Cowen (Ann Arbor) Das Positive im Negativen: Ein Problem der frühen Exilliteratur, erläutert am Beispiel von Ferdinand Bruckners „Die Rassen"

215

Rod Fisher (Christchurch) Stefan Heyms Ahasver: Der ewige Jude als Sinnbild der Kontroverse

220

Inhalt

IX

Chaim Shoham (Haifa) Jurek Becker ringt mit seinem Judentum. „Der Boxer" und Assimilation nach Auschwitz

225

Sigrid Bauschinger (Amherst) Das sterbende Gedicht. Deutsche Lyrik in Israel

237

Klaus Miiller-Salget (Bonn) Deutschsprachige Schriftsteller in Palästina und Israel. Ein Forschungsprojekt

244

Margarita Pazi (Tel Aviv) Deutschsprachige Literatur und Autoren in Israel

251

Im Nachhinein. Anstelle eines Debattenprotokolls

261

Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur 7. Forum des Kongresses Leitung: Thomas Freeman (Beloit) Walter Röll (Trier)

Barbara Könneker

(Frankfurt/M)

Zum literarischen Charakter und der literarischen Intention des altjiddischen Schmuelbuchs

Ausgangspunkt meines Referates ist der Begriff Midraschepik, den Wulf-Otto Dreeßen nach einem Aufsatz von 1981 künftig für die alt jiddische Bibeldichtung verwendet wissen will, da diese Dichtung „durchweg nicht unmittelbar auf biblischen Quellen, sondern auf Midraschim" fuße. 1 Dieser Begriff versteht sich bei Dreeßen zunächst als Polemik nach zwei verschiedenen Richtungen. Erstens wendet er sich damit gegen die zuerst von Maks Erik vertretene und seitdem lange Zeit als communis opinio akzeptierte These, 2 daß es sich, ebenso wie bei den jiddischen Bearbeitungen der Artus- und Heldenepik, auch bei diesen Texten um Produkte einer jüdischen Spielmannsdichtung handele, die sich in Analogie, aber auch in deutlicher Abgrenzung zur deutschen Spielmannsdichtung seit dem 14. Jahrhundert entwickelt habe und zur Unterhaltung oder Erbauung eines illiteraten Publikums, insbesondere der jüdischen Frauen, bestimmt gewesen sei. Zweitens aber polemisiert er damit gegen eine in neuester Zeit vor allem von John Howard vertretene Forschungsrichtung, 3 die gleichzeitig mit der längst fälligen Kritik an der Theorie vom jüdischen Spielmann auch den eigenständigen jüdischen Charakter dieser Dichtung in Zweifel zieht, da sie nicht nur Sprache und Form der Literatur ihrer christlichen deutschen Umwelt entlehnt habe, sondern auch ihre Quelle, das Alte Testament, Gemeinschaftsbesitz von Juden und Christen sei, so daß das spezifisch Jüdische dieser Texte eigentlich nur in dem Faktum ihrer Aufzeichnung in hebräischen Lettern bestehe. Soweit Dreeßen den Begriff Midraschepik in diesem doppelten Sinne polemisch verwendet, hat er zweifellos recht. Denn erstens liefert der Nachweis, daß sich die Autoren dieser Bibeldichtung das Quellenmaterial der weitverzweigten Midraschliteratur zunutze machten, also im Sinne der jüdischen Tradition gebildete, wenn nicht gelehrte Männer waren, ein zusätzliches Argument gegen die Theorie vom vorwiegend zu Unterhaltungszwecken dichtenden jüdischen Spielmann. Zweitens aber, und das scheint mir angesichts des heutigen Standes der Diskussion wichtiger zu sein, wird durch diesen Nachweis mit allem Nachdruck bestätigt, daß es sich bei diesen Texten, was Intention und Inhalt betrifft, tatsächlich um genuin jüdische Dichtung handelt, die keines Anstoßes oder Ein-

1

2

3

Wulf-Otto Dreeßen: Midraschepik und Bibelepik. In: ZfdPh 100 (1981), Sonderh. Jiddisch, S. 7 8 - 9 7 , Zitat S. 83. Maks Erik: Di geschichte fun der jidischer literatur fun die eltste zajtn bis der hascole-tkufe. Ferznter-achtznter jorhundert. Warschau 1928; und: Inwentar fun der jidischer schpilman-dichtung. In: Zs f. jiid. Geschichte, Demographie u. Ökonomik, Literatur-, Sprachforschung u. Ethnographie (Ausgabe des Institutes für weißruthenische Kultur Minsk) II/III (1928), Sp. 5 4 5 - 5 8 8 . John A. Howard: Bemerkungen zu einem Aspekt altjiddischer Literaturgeschichte. In: Archiv f. d. Studium d. neueren Sprachen u. Literaturen 215 (1978), S. 1 - 2 0 .

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Barbara

Könneker

flusses seitens der christlichen Umwelt bedurfte - obwohl sich dies angesichts des Faktums, daß sich die gesamten geistigen Energien des exilischen Judentums nahezu ausschließlich auf das Studium und die Auslegung der Heiligen Schrift konzentriert hatten, strenggenommen von selbst versteht. Meinerseits polemisieren aber möchte ich gegen den Terminus Midraschepik, sofern Dreeßen ihn als Gattungsbegriff verwendet, durch den in positivem Sinne der literarische Charakter und die literarische Intention der altjiddischen Bibeldichtung definiert werden soll. Denn als solcher scheint er mir irreführend zu sein, jedenfalls, soweit es sich um epische Großformen wie das „Schmuelbuch" handelt, das allgemein als das hervorragendste Zeugnis dieser Gattung gilt und über das ich hier ausschließlich sprechen will.4 Zur Begründung möchte ich wenigstens zwei Sätze zum Begriff Midrasch sagen, obwohl mir bewußt ist, daß ich mich damit zumindest einer starken Vereinfachung schuldig mache. 5 Beim Midrasch handelt es sich um eine Methode der Auslegung, die den Bibeltext nicht, oder nicht primär, unter Berücksichtigung seines jeweiligen Kontextes deutet, sich also nicht um einen historischen oder literalen Schriftsinn bemüht, d.h. um die Rekonstruktion dessen, was ,wirklich' geschehen ist, sondern die sich stets nur auf einzelne Schriftverse oder Teile von ihnen bezieht und diese als absolute Bezugsgrößen entweder mit Hilfe ebenso absolut gesetzter anderer Schriftverse oder mit Hilfe von Gleichnissen, Beispielfällen usw. interpretiert. Sinn dieser Exegese ist es, aus der Schrift verbindliche Aussagen religionsgesetzlicher (halachischer) oder theologisch ethischer (aggadischer) Relevanz zu gewinnen, nicht aber, zu einem genaueren Verständnis des Erzählzusammenhangs in ihr hinzuführen. Zwar kann sich eine solche Auslegung selbst zu einer kleinen Erzählung ausweiten, die, für sich genommen, zur Veranschaulichung, Erläuterung oder Ausschmückung dieses Zusammenhangs beiträgt, aber das ist lediglich ein Nebeneffekt, der in dieser Funktion von den Interpreten nur selten genutzt wird, da es ihnen auf den durch solche Erzählungen vermittelten Lehr- oder Erkenntnisgehalt ankommt. So ist für den „Midrasch Samuel", 6 den der Schmuelbuchautor u.a. möglicherweise als Quelle

4

Das Schmuelbuch des Mosche Esrim Wearba, ein biblisches Epos aus dem 15. Jahrhundert. Einleitung u. textkritischer Apparat von Felix Falk. Aus dem Nachlaß hrsg. von L. Fuks (Publications of the Bibliotheca Rosenthaliana). 2 Bde Assen 1961. Bd. 1 enthält Einleitung u. Faksimile der editio princeps, Augsburg 1544, auf die sich die folgenden Strophenangaben beziehen. Dazu Nathan Süßkind: Das §muel Buch. Eine jüdisch-deutsche Umdichtung der zwei Bücher Samuelis im Stile der mittelhochdeutschen Heldendichtung. Diss. New York 1941 (mit einer Transkription der ersten 350 Str. der H s P u . ausführlichem Kommentar); ders.: Smuel-buch-problemen. In: For Max Weinreich on his 70 th Birthday. Studies in Jewish Languages, Literature, and Society. London, The Hague, Paris 1964, S. 4 6 7 - 4 4 9 . Ausdrücklich möchte ich betonen, daß meine Ausführungen keinerlei Anspruch auf Verallgemeinerung erheben können, da es dazu erst gründlicher Analysen sämtlicher in dieses Umfeld gehörender Texte bedürfte.

5

Im folgenden beziehe ich mich, wenn auch notgedrungen in stark simplifizierender Form, auf Arnold Goldberg: Entwurf einer Formanalytischen Methode für die Exegese der Rabbinischen Traditionsliteratur. In: Frankfurter Judaistische Beiträge 5 (1977), S. 1 - 4 1 ; u. ders.: Die funktionale Form Midrasch. In: Ebda. 10 (1982), S. 1 - 4 5 .

6

Hrsg. von Salomon Buber. Krakau 1893; dt. Übersetzung von August Wünsche: Aus Israels Lehrhallen Bd. 5 Leipzig 1910, Nachdr. Hildesheim 1967.

Zum literarischen Charakter des altjiddischen

Schmuelbuchs

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benutzt hat, der Ablauf der Ereignisse in den Büchern Samuel völlig irrelevant, da er ganze Kapitelfolgen überspringt und aus einer Reihe von Kapiteln nur einzelne Verse herausgreift, an deren Bedeutung der Leser erst durch das komplizierte Verfahren einer weitausholenden Erschließung durch andere Schriftverse allmählich herangeführt wird. Im Bereich des altjiddischen Schrifttums findet sich ein - in etwa — vergleichbares Verfahren in der „Zenne-Renne" (Ze'enah ure'enah), der sog. Weiberbibel, für die der Begriff Midraschepik daher allenfalls zuträfe. Denn in ihr bleibt zwar die Abfolge der Kapitel und auch weitgehend die Abfolge der Verse innerhalb eines Kapitels gewahrt, aber diese Abfolge dient lediglich als äußerer Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen Schriftverse ohne Rücksicht auf den Kontext, in dem sie stehen, entsprechend den Methoden und Intentionen der Midraschim ausgelegt werden. 7 Für das „Schmuelbuch" aber gilt dies gerade nicht. Seinem Autor geht es, unter weitestgehender Anlehnung an die biblische Vorlage, die er nacherzählen, ,genau' machen will, umgekehrt um die Darstellung eines kontinuierlichen, kausal motivierten Geschehnisablaufs, und dementsprechend greift er auf die Midraschliteratur im wesentlichen nur insoweit zurück, als sie dieser Absicht dienstbar gemacht werden kann, also geeignet ist, Handlungszusammenhänge zu verdeutlichen oder den Erzählvorgang anschaulicher zu gestalten. D.h. ihn interessiert primär, was die Midraschim an zusätzlichen stofflichen Informationen enthalten, und diese Informationen benutzt er als Material, um es, seinerseits aus seinem ursprünglichen Kontext herausgelöst, zu Bausteinen seiner Erzählung umzuformen. Angesichts der Kürze der Zeit gebe ich nur zwei Beispiele zur Illustration. 1) Im Talmud und späteren Quellen wird Sauls Tochter Michal, Davids erste Frau, mit Egla identifiziert, die II Sam 3,5 als eine von Davids Frauen erwähnt wird, wobei Egla im Hebräischen ,Kalb' bedeutet. Erklärt wird diese Gleichsetzung entweder damit, daß David Michal so liebte, wie man ein Kalb liebt (und zwar unter Berufung auf Richter 14, 18), oder aber, und das ist die häufigere Erklärung, daß Michal in ihrer 7

Eine spezielle Untersuchung zum Aufbau der „Zenne-Renne", die Ende des 16. Jahrhunderts entstand und später weite Verbreitung erlangte, liegt meines Wissens bislang nicht vor. Für ein Kapitel eines vergleichbaren Werkes aus dem Bereich der jüdisch-spanischen Literatur, den „Me'am Lo'ez" vom Ende des 17. Jahrhunderts, hat Arnold Goldberg sie kürzlich vorgenommen (Arnold Goldberg: Me'am Lo'ez. Diskurs und Erzählung in der Komposition: Hayye Sara. Kapitel I. Frankfurter Judaistische Studien 6, 1984). Seine Ergebnisse, die hier nicht referiert werden können, sind für mich eine Bestätigung meiner These, daß sich der Schmuelbuch-Autor bei seiner Rezeption der Midraschliteratur vor allem von stofflichen, nicht aber von didaktischen oder paränetischen Erwägungen leiten ließ, ja sich überhaupt seiner Vorlage, dem Bibeltext gegenüber, anders verhielt, als dies in der jüdischen Tradition üblich war. Denn während im Midrasch, wie Goldberg S. 161ff. ausführt, Gegenstand der Auslegung grundsätzlich nicht die Ereignisse selbst sind, von denen die Bibel berichtet, sondern lediglich dasjenige, was die Schrift über sie aussagt, da deren Offenbarungscharakter an die Art und Weise der sprachlichen Vermittlung gebunden ist, gibt der Schmuelbuch-Autor schon durch den völligen Verzicht auf Schriftzitate zu erkennen, daß sein Interesse primär auf die Ereignisse und deren Wiedergabe gerichtet ist. Ebenso unterläßt er es, im Gegensatz zur Tradition, bei der Heranziehung von Midraschim auf Quellen und Autoritäten hinzuweisen.

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Barbara

Könneker

Todesstunde, bei der Geburt eines Kindes, vor Schmerzen wie ein Kalb brüllte, als Strafe dafür, daß sie David, als er vor der Bundeslade tanzte, verspottet hatte. 8 Der Dichter des „Schmuelbuches" nun übernimmt zwar die Gleichsetzung, nicht aber deren ,moraltheologische' Begründung, indem er an der entsprechenden Stelle seiner Erzählung (Str. 917) den Namen Egla kommentarlos durch Michal ersetzt. Offenbar tat er dies in erzählökonomischer Absicht, da Egla nur an dieser einzigen Stelle erwähnt wird, während Michal in Davids Geschichte eine erhebliche Rolle spielt. 2) Im „Alphabetum Siracidis" wird im Rahmen einer Diskussion über die Zweckbestimmtheit der Schöpfung erzählt, daß David einst beim Anblick einer Spinne und einer Wespe Gott Vorwürfe machte, weil er so nutzlose und schädliche Wesen geschaffen habe. Eines Tages verbarg sich David vor Saul, der ihn verfolgte, in einer Höhle. Da schickte Gott eine Spinne, die ein Netz vor den Eingang wob, so daß Saul vorüberging und David gerettet wurde. Ein anderes Mal - es ist die Begebenheit, von der I Sam 26 berichtet - schlich David in das Zelt des schlafenden Saul, um ihm zu beweisen, daß er nichts Böses gegen ihn vorhabe, und wurde dabei durch einen Zufall unter den Beinen des riesigen Abner festgeklemmt. Da schickte Gott eine Wespe, die Abner ins Bein stach, so daß dieser sich bewegte und David entkommen konnte. Daraufhin aber bat David Gott um Verzeihung für seine törichten Vorwürfe und pries die planvolle Einrichtung der von ihm geschaffenen Welt. 9 Wiederum entnimmt der Schmuelbuchdichter dieser Beispielerzählung lediglich den Stoff, nicht aber dessen Deutung. Saul, so heißt es bei ihm Str. 591f., kam, als er David nach En Gedi verfolgte, an einer Höhle vorbei, sah an dem Spinnennetz vor dem Eingang, daß sie leer war und trat ein, um seine Notdurft zu verrichten, ohne zu ahnen, daß David sich schon längere Zeit in ihr verbarg. Das gleiche Motiv, durch das im Midrasch Gottes Weisheit veranschaulicht wird, der David seine Rettung verdankt, dient hier also zur kausalen Begründung eines an sich belanglosen Sachverhalts, der in der biblischen Vorlage nicht genügend erklärt wird, da dort nur steht, daß Saul jene Höhle betrat, nicht aber, warum er des Glaubens war, daß sie leer sei (I Sam 24,4). Dagegen stimmt die Geschichte mit Abner und der Wespe im „Schmuelbuch"

8

Der Babylonische Talmud, hebr. u. deutsch. Hrsg. von Lazarus Goldschmidt. Haag 1 9 5 3 - 5 5 . Sanhédrin 21a; Jerusalemer Talmud (in deutscher Übersetzung. Tübingen 1975ff.), Bd. 4,4. Sanhédrin 20b,57. Ausgangspunkt für letztere Erklärung war offenbar, daß es II Sam 6,23 von Michal heißt, sie „hatte kein Kind bis zum Tag ihres Todes", was von den Rabbinen so interpretiert wurde, daß sie bei der Geburt eines Kindes starb. - Aus Raumgründen beschränke ich mich im folgenden, statt die einzelnen Quellen anzuführen, so weit wie möglich auf den Hinweis auf die Darstellung von Louis Ginzberg: The Legends of the Jews. Philadelphia 1 9 4 6 - 4 7 , der die Quellenbelege zu entnehmen sind.

9

Alphabetum Siracidis. Hrsg. von M. Steinschneider. Berlin 1858, S. 24a/b; Ginzberg (Anm. 8), Bd. IV, S. 90f. u. Bd. VI, S. 253. Im gleichen Zusammenhang spottet David über die Nutzlosigkeit der Toren, worauf die Begebenheit I Sam 2 1 , l l f f . erzählt wird, wie er selbst dem Tode entging, weil er sich vor dem König von Gat wahnsinnig stellte. Auch für die Schilderung dieser Episode (Str. 5 2 8 - 5 3 2 ) hat der Schmuelbuchdichter offensichtlich das „Alphabetum Siracidis" als Quelle benutzt, aber wiederum unter Außerachtlassung des Deutungszusammenhangs, in dem die Geschichte dort steht.

Zum literarischen Charakter des altjiddischen

Schmuelbuchs

7

(Str. 672-675) zwar fast wörtlich mit der Vorlage überein, hat aber dadurch, daß sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst wurde, statt eines beziehungsreichen göttlichen Wunders den Charakter einer fast schon komischen Episode erhalten. 10 Derartige Beispiele ließen sich fast beliebig vermehren. Denn tatsächlich hat sich der Schmuelbuchdichter überall dort, wo er von der biblischen Vorlage abwich, ausschließlich auf Midraschim und rabbinische Kommentare als zusätzliches Quellenmaterial bezogen und mit Ausnahme der Kampfschilderungen keinerlei motivische Anleihen bei der zeitgenössischen christlichen Heldenepik gemacht. 11 Das ist eine Aussage, die sich stützt auf Nathan Süßkinds Kommentar zu den ersten 350 Strophen der Hs P, auf die Hinweise in der Ausgabe von Falk-Fuks und eigene Quellenstudien 12 und die Dreeßen insoweit recht gibt, als er den genuin jüdischen Charakter der altjiddischen Bibeldichtung betont wissen will. Aber der Dichter hat dieses Quellenmaterial in einer Art und Weise verwertet, die es geradezu als Verfälschung seines literarischen Charakters erscheinen läßt, wenn man das Schmuelbuch daraufhin unter der Rubrik Midraschepik einstuft oder es gar, wie Süßkind dies in seiner Dissertation tut, als „Erbauungsbuch" der „Zenne-Renne" zur Seite stellt. 13 Allerdings gibt es auch einige Beispiele dafür, daß der Schmuelbuchdichter traditionelle Auslegungen, wenn auch nicht unter Berücksichtigung ihres ursprünglichen Deutungszusammenhangs, so doch unter Wahrung ihrer ursprünglichen Intention übernommen hat. Dazu gehört vor allem seine Darstellung der Geschichte von David und Batscheba, für die er vieles von dem verwertete, was in Talmud und Midrasch zu Davids Entlastung angeführt wird: daß Urija, bevor er in den Kampf zog, seiner Frau einen Scheidebrief gab (Str. 1246), 14 daß er ein Majestätsverbrechen beging, als er sich nach seiner Rückberufung nach Jerusalem gegen Davids Befehl weigerte, sein eigenes Haus aufzusu-

10

Möglicherweise dient diese Episode im „Schmuelbuch", das immer wieder auf die geringe Körpergröße Davids verweist, dazu, seinen Heldenmut zu betonen, da er sich ohne Waffen nachts in die Nähe des riesigen Abner wagt, eine Deutung, die sich in die Gesamtintention des Werkes m.E. gut einfügen würde.

11

Selbst der Hinweis in Str. 658, daß Palti, der nach Davids Flucht auf Befehl König Sauls Michal heiraten muß (I Sam 25,44), ein bloßes Schwert zwischen sich und sie legt, um sich nicht der Sünde des Ehebruchs schuldig zu machen, geht auf jüdische Tradition zurück, s. Babylonischer Talmud, Sanhédrin 19b.

12

Vgl. Anm. 4. Während die Quellenhinweise in der Ausgabe Falk-Fuks ergänzungs- u. teilweise auch korrekturbedürftig sind, was zweifellos auf die im Vorwort referierte Entstehungsgeschichte der Edition zurückzuführen ist, ist Süßkinds Kommentar sehr ausführlich. Eine Fortsetzung, obwohl in der Diss, angekündigt, ist leider nie erschienen. Meine eigenen Quellenstudien sind inzwischen erst so weit gediehen, daß ich die oben getroffene Feststellung vollauf vertreten, nicht aber konkret angeben kann, welche der in Frage kommenden Quellen der Schmuelbuchdichter in den einzelnen Fällen benutzt hat.

13

Süßkind (Anm. 4), S. 303: „Im Smuelbuch wollte der Verfasser eine Reimbibel und ein Erbauungsbuch schaffen ... und schafft so einen würdigen Vorläufer der Paraphrasenbibeln, die Z'enäh und R'enäh und Hamaggid". damit sie, sofern sie kinderlos war, im Falle seines Todes von der Verpflichtung zur Schwagerehe befreit war; Ginzberg (Anm. 8), Bd. IV, S. 103 u. Bd. VI, S. 264f.

14

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Könneker

chen (Str. 1265f.), 15 und daß es eine List Satans war, durch die David Batscheba überhaupt zu sehen bekam (Str. 1235—1245).16 Übernommen hat er auch die von zwei Psalmenversen (Ps. 26,2 und 51,6) ausgehende Deutung, daß David den Herrn darum bat, ihn wie Abraham zu versuchen, Gott ihm daraufhin prophezeite, daß er der Versuchung erliegen werde und David, nachdem er mit Batscheba gesündigt hatte, zu seiner Entschuldigung anführte, er habe nicht gegen Gottes Vorhersage handeln dürfen (Str. 1228-1234 u. 1250-1253). 1 7 In diesem Fall konnte sich der Schmuelbuchdichter mit der inhaltlichen Information seiner Quellen auch deren Aussagegehalt aneignen, weil es seiner eigenen Erzählintention entsprach, David und das Königtum überhaupt so positiv wie nur möglich zu schildern. Aus dem gleichen Grund hat er auch Sauls Vorzüge immer wieder hervorgehoben und Samuels scharfe Worte gegen das neu zu errichtende Königtum (fast) mit Stillschweigen übergangen. 18 Damit ist bereits angedeutet, worin ich meinerseits das spezielle literarische Anliegen des Schmuelbuchdichters sehe, das ich im folgenden in ganz groben Umrissen skizzieren will. Ausgangspunkt kann wiederum nur der Umgang mit seinen Quellen sein, und zwar in diesem Fall mit seiner Hauptquelle, den Büchern Samuel selbst. Auffallend ist hier zunächst seine Zurückhaltung allen Textstellen gegenüber, in denen in der biblischen Vorlage auf die vergangene und zukünftige Geschichte Israels und Gottes Eingreifen in diese Geschichte angespielt wird. Das gilt für die große Abschiedsrede Samuels I Sam 12, für Davids Lobgesang nach der Verheißung Natans II Sam 7 und Samuels Prophezeiungen über die „Rechte des Königs" I Sam 8. Diese fehlen im „Schmuelbuch" entweder ganz oder wurden speziell um ihre religiös heilsgeschichtliche Dimension verkürzt, ebenso wie sich auch sein Bericht über die Einholung der Bundes-

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Ginzberg (Anm. 8), ebda. Ginzberg (Anm. 8), Bd. IV, S. 104 u. Bd. VI, S. 265. Im Babylonischen Talmud, Sanhédrin 107a, heißt es, daß Batscheba sich den Kopf unter einem Weidenkorb wusch, worauf Satan David in Gestalt eines Vogels erschien und, als dieser mit einem Pfeil nach ihm schoß, den Weidenkorb umwarf; im „Jalqut Schim'oni" (Nachdr. d. Ausg. Saloniki 1521, Jerusalem 1973) zu II Sam 11,2 flieht Satan vor David in Gestalt einer Gazelle und führt ihn so zu dem Ort, wo er Batscheba erblickt. Im „Schmuelbuch" wird die Geschichte etwas anders erzählt: David schließt sich, um der von Gott angekündigten Versuchung zu entgehen, in seiner Kammer ein, wird aber durch Satan in Gestalt eines Raben auf das Dach gelockt, von wo aus er Batscheba erblickt. Eine Fassung, die dieser Version am nächsten steht, findet sich, nach einer islamischen Quelle zu Sure 38,19 erzählt, bei Max Grünbaum: Neue Beiträge zur Semitischen Sagenkunde. Leiden 1893, S. 196. Midrasch Tehillim (hrsg. von Salomon Buber. Wilna 1892, Neudr. Jerusalem 1966; dt. Übersetzung v. August Wünsche. Trier 1892, Neudr. Hildesheim 1967), zu Ps. 26,2; Babylonischer Talmud, Sanhédrin 107a. Für die Nacherzählung von I Sam 8 benötigt der Dichter nur 9 Strophen, für Samuels Rede über die „Rechte" des künftigen Königs sogar nur 2 (Str. 131f.). Nach Süßkind (Anm. 4), S. 94, stand der Dichter mit dieser Tendenz zur Abschwächung und Milderung der antimonarchischen Tendenz der Samuelbücher in der Tradition des Talmud und erst recht der mittelalterlichen jüdischen Kommentatoren.

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lade durch David (Str. 1071-1082) merkwürdig trocken und flach ausnimmt. 19 Stattdessen aber hat der Schmuelbuchdichter Hannas Lobgesang am Anfang (I Sam 2) und Davids Dankgebet am Ende der Samuelbücher (II Sam 22) um eben diese Hinweise erweitert, die er an den entsprechenden anderen Stellen übergangen hat. Hannas Lobgesang nach der Geburt ihres Sohnes (Str. 3 6 - 4 6 ) preist die große Zeit, die mit Samuel, dem Begründer des Königtums, anbricht, und weist in Anlehnung an die Paraphrase des „Targum Jeruschalmi" 20 voraus auf Israels künftige Siege, bis Gott den Messias sendet, der seine Feinde endgültig vernichten wird. David aber dankt Gott am Ende seines Lebens (Str. 1691-1738), weil er sein Volk, seitdem er den Bund mit Abraham Schloß, immer wieder aus großen Gefahren errettet hat, so wie er auch künftig durch den Messias Israels Gegner bezwingen wird und vor allem ihm selbst die heidnischen Völker ringsum besiegen half. Beide Lobgesänge stehen also gewissermaßen zueinander im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung und bilden auf diese Weise den heilsgeschichtlichen Rahmen, innerhalb dessen im Schmuelbuch die Geschichte von der Errichtung des Königtums bis zu Davids vollständigem Triumph über seine Feinde erzählt wird. Diese Geschichte selbst aber ist, so wie der Schmuelbuchdichter sie darstellt, vor allem eine Geschichte von Kämpfen, Niederlagen, Siegen, Bewährungsproben und kriegerischen Einzelleistungen von Saul, David und ihren Helden. Fast alle größeren Erweiterungen, die der Dichter gegenüber seiner Vorlage vornahm, beziehen sich auf diesen Bereich. Dazu gehört Davids Kampf mit den Löwen und Bären, von dem I Sam 17 nur im Rückbück berichtet wird, der im „Schmuelbuch" aber zu einer spannenden Episode von 14 Strophen (Str. 307-320) umgeformt wurde; dazu gehört ferner der II Sam 21 und I Chr. 20 eben nur angedeutete Kampf Davids und seiner Helden mit den vier Riesen, Goliats Brüdern, der im „Schmuelbuch" mehr als 40 Strophen (Str. 1091-1131) umfaßt, und dazu gehört auch die Beschreibung von der Eroberung der Stadt Rabba durch Joab. Letzteres ist eine in mehr als 20 Strophen (Str. 1309-1332) sehr lebendig erzählte Geschichte, die in der Bibel selbst keinerlei Rückhalt hat, dafür aber in mehreren außerbiblischen Quellen bezeugt ist 21 und vom Schmuelbuchdichter als seinen Intentionen entsprechend in seine Darstellung eingebaut wurde. In den übrigen Fällen hat er sich verstreute Hinweise und Andeutungen der Vorlage zunutze gemacht und sie z.T. unter Heranziehung von Midraschim zu selbständigen Erzählungen ausgeformt, die ebenso wie die Episode mit Joab nichts anderes bezwecken, als die Tapferkeit und Kampfkraft der herausragenden Gestalten seiner Geschichte hervorzuheben. Nimmt man hinzu, daß der Schmuelbuchdichter darüber hinaus jede Gelegenheit wahrnahm, die in den Samuelbüchern ohnehin schon überaus häufigen Berichte von Schlachten und Kriegszügen zu ausführlichen Kampfschilderungen auszuweiten, und daß

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Samuels Abschiedsrede I Sam 1 2 , 1 - 2 5 ist im Schmuelbuch auf 3 Strophen (Str. 1 9 1 - 1 9 3 ) zusammengedrängt; Natans Verheißung an David II Sam 7 , 8 - 1 6 beschränkt sich auf die Ankündigung der Königsherrschaft Salomons (Str. 1086f.); Davids Lobgesang II Sam 7 , 1 8 - 2 9 fehlt völlig, und der Bericht über die Heimholung der Bundeslade II Sam 6 umfaßt wiederum nur 12 Strophen (Str. 1 0 7 1 - 1 0 8 2 ) , von denen fast die Hälfte auf Davids Streit mit Michal entfällt. Vgl. den Kommentar von Süßkind (Anm. 4), S. 77ff. Die Quellenhinweise in der Ausgabe Falk-Fuks, Bd. II, S. 112 sind teilweise falsch; vgl. Ginzberg (Anm. 8), Bd. IV, S. 98ff. u. Bd. VI., S. 258.

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Barbara Könneker

er vor allem in diesen Passagen zwar formelhaft, aber mit offensichtlicher Anteilnahme erzählt, während er über religiös weit gewichtigere Passagen meist rasch hinweggeht und die wiederholten Hinweise auf Israels Neigung zum Götzendienst ganz ausspart, so kann für mich an den literarischen Intentionen des Autors eigentlich kein Zweifel bestehen: Das „Schmuelbuch" sollte kein religiöses Erbauungsbuch, aber auch kein Werk mit primär didaktischer Zielsetzung sein, sondern eine heroische Dichtung, die in den beiden ersten Königen Israels jüdisches Heldentum feiert, das sich in harten Bewährungsproben gegen eine Welt von Feinden behauptet und sie durch den Einsatz von Tapferkeit, Kriegslist und nie erlahmendem Kampfeswillen zuletzt sämtlich zu Boden zwingt. Bestätigt wird dies über das schon Angeführte hinaus durch eine Reihe heroischer Einzelzüge, mit denen der Dichter seine Vorlage ausgeschmückt hat. David, der in den Kämpfen stets an vorderster Stelle steht, gerät mehrfach in so große Gefahr, daß seine Mitstreiter um sein Leben und damit um den Bestand des Königtums fürchten müssen. Nach dem Kampf mit den Riesen zwingen sie ihn daher zu dem Versprechen, sich künftig von der Schlacht fernzuhalten, aber es dauert nicht lange, bis er sich von diesem Eid wieder entbinden läßt, da er es nicht erträgt, abseits zu stehen, während seine Krieger Heldentaten vollbringen (Str. 1120—1123 u. 1134f.). 22 Ebenso beschließt Saul, nachdem er durch die Beschwörung der Hexe von Endor von seinem bevorstehenden Tod erfahren hat, vorher noch möglichst viele Philister zu töten (Str. 743), und dementsprechend erhält der Bericht von seiner letzten Schlacht (Str. 796—831) fast schon nibelungische Ausmaße: Nachdem er vor Gott seine Sünden bekannt hat, fordert Saul seine Männer auf, ihn allein kämpfen zu lassen, da ihm der Tod bestimmt sei, aber kein anderer mehr für ihn sterben solle. Aber seine Männer weigern sich, ihm zu gehorchen, und so stirbt einer nach dem anderen den Heldentod, auch die Königssöhne, die sich zuletzt um ihren Vater geschart hatten, bis Saul allein übrigbleibt und sich in sein Schwert stürzt, um nicht lebend in die Hände der Philister zu fallen. Auch in den Midraschim wird mehrfach rühmend hervorgehoben, daß Saul, statt zu fliehen, den ihm verkündeten Tod freiwillig auf sich nahm. Aber nach ihnen tat er dies als Bußleistung für seine Sünden, und nachdem er gefallen war, rief Gott, so heißt es im „Midrasch Samuel", seine Dienstengel zusammen und pries vor ihnen diesen König, der im Wissen um seinen Tod in die Schlacht zog, „sich freuend, daß ihn das Strafmaß trifft". 23 Für den Schmuelbuchdichter aber ist Sauls Tod nicht Sühne, sondern, primär wenigstens, heroischer Untergang, so wie er umgekehrt die Tatsache, daß David vor den aufständischen Truppen Absaloms ,unheldisch' in die Wüste flieht, mit dem wiederholten Hinweis entschuldigt, daß gerade zu dieser Zeit seine Krieger nicht bei ihm waren (Str. 1439, 1442, 1444). Saul und vor allem David werden also, soweit dies die Vorlage nur irgend erlaubte, zu echten Heldenfiguren hochstilisiert, während die in den Midraschim mehrfach betonten

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Daß David sich künftig nicht mehr am Kampf beteiligen soll, findet sich II Sam 21,17; daß er deshalb einen Eid schwören muß, von dem er sich wieder entbinden läßt, fehlt jedoch in der Vorlage. Midrasch Samuel (Anm. 6), 24,6

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kontemplativen Züge der Davidgestalt 24 fast ganz zurückgedrängt sind und Samuel nur insoweit eine wichtige Rolle spielt, als mit ihm, dem Königsmacher, die heroische Zeit des Volkes Israel einsetzt. Auch viele der Rand- und Nebengestalten werden vom Dichter in dieser Weise heroisiert. Einigen von ihnen hat er sogar so etwas wie eine eigene Aristie zugestanden, 25 und schließlich ist aus der Aufzählung von Davids Helden, die in der Vorlage, II Sam 23, lediglich als Anhang erscheint, im „Schmuelbuch" eine eindrucksvolle Demonstration jüdischer Kampfkraft und Stärke geworden, da sie in ihm, erheblich erweitert, den Bericht von der Eroberung Jerusalems abschließt (Str. 986-1019) und damit einen der Höhepunkte der Dichtung bildet. Nur diese Intention, die Geschichte der ersten Könige Israels zu einem jüdischen Heldenepos umzugestalten, macht es m.E. überhaupt erst verständlich, warum der Dichter, obwohl sein Stoff und die Quellen, die er benutzte, genuin jüdisch waren, auf literarische Vorbilder zurückgriff, die seiner christlichen Umwelt entstammten, d.h. sich bis ins Detail die Sprache, den Formelschatz, die Beschreibungstechniken und die Form der deutschen Heldenepik zu eigen gemacht hat. 26 Er konnte, ja er mußte dies tun, weil er in seiner eigenen Tradition entsprechende Erzählmodelle nicht vorfand, obwohl es, wie man festgestellt hat, im Mittelalter auch hebräische Bearbeitungen einzelner Abschnitte der Samuelbücher in strophischer Form gegeben hat. Aber bei ihnen handelte es sich um Bearbeitungen von Haftaroth (Lesungen) zu bestimmten jüdischen Feiertagen, die für seine Zwecke nicht geeignet waren und auch, wie ein Textvergleich zeigt, als Vorbilder oder gar Quelle für ihn nicht in Frage kommen. 27 In der deutschen Heldenepik aber fand er alles vor, was er brauchte, um die biblischen Kampfberichte, die sich oft nur auf Fakten und Zahlenangaben beschränken, zu kriegerischen Glanzleistungen einzelner oder ganzer Gruppen von Helden auszugestalten. Hier fand er Waffenbeschreibungen, Schilderungen, wie man mit Riesen und wilden Tieren kämpft, und auch jene heroischen Einzelzüge, von denen ich eben gesprochen habe, ohne daß es freilich bis jetzt gelungen wäre, anzugeben, an welchen Texten oder Fassungen von Texten er sich orientierte, bzw. ob es überhaupt ein bestimmter Text und nicht nur das Genre überhaupt war, das ihm als Vorbild gedient hat. Indem er solcherart auf Darstellungsmuster der deutschen Heldenepik zurückgriff, setzte er jedoch seiner größtenteils judenfeindlich eingestellten christlichen Umwelt jüdische Heldengestalten entgegen, die zwar wesentliche Züge mit deren Helden gemeinsam haben, sich aber in ebenso wichtigen anderen Zügen von ihnen unterscheiden. Denn der Kampf ist für sie nicht Selbstzweck, sondern Notwendigkeit in der Abwehr gegen eine feindliche heidnische Umwelt, die ständig mit großer Ubermacht auf das Volk Israel eindringt. Daher geht es im „Schmuelbuch" nicht um den großen einzelnen, der in seinen Taten gefeiert wird, sondern — und hier stimmt der Dichter mit den traditionellen jüdischen Deutungen überein - um den Bestand des Volkes, für das diese einzelnen kämpfen 24 25 26 27

Vgl. Ginzberg (Anm. 8), Bd. IV, S. 101 u. Bd. VI, S. 260ff. So u.a. Str. 9 9 4 - 1 0 0 8 Benajahu (nach II Sam 23,21f. u. I. Chr. ll,22f.) Einzelheiten dazu in der Ausgabe Falk-Fuks, Bd. II, S. 117ff. Nehemya Allony: New Sources of the Mëlokim Book and the Sëmu'êl Book (hebr.). In: BeerSheva, Annual Studies in Bible, Ancient Israel and the Ancient Near East. Bd. 1 Jerusalem 1973, S. 9 0 - 1 1 3 .

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und für das sie auch vor Gott die Verantwortung tragen. So wird Saul, als er den Amalekiterkönig Agag verschont, nicht primär deshalb mit dem künftigen Entzug der Königswürde bestraft, weil er damit gegen Gottes Gebot handelte, sondern weil Agag noch in derselben Nacht, in der Saul ihm das Leben schenkte, den Ahnherr Hamans zeugte, der die Juden beinahe vernichtet hätte (Str. 264f.). 28 So ist auch Sauls letzte Bitte, bevor er in der Schlacht fällt, Gott möge nicht das Volk für seine eigenen Sünden büßen lassen (Str. 799), und so wählt auch David von den drei Strafen, die Gott ihm für die Volkszählung anheimgestellt hat, die Pest, weil er ihr im Gegensatz zu Hunger und Krieg genauso preisgegeben ist wie alle übrigen Israeliten (Str. 1764-1770). 2 9 Er ist im „Schmuelbuch" die herausragende Heldengestalt, nicht, weil er tapferer oder gar besser gewesen wäre als Saul, 30 sondern weil ihm unter dem Einsatz eines langen Kriegerlebens für einen einmaligen geschichtlichen Zeitpunkt gelungen ist, was sich ein weiteres Mal erst wieder in den Tagen des Messias ereignen wird, nämlich Israel von all seinen Feinden ringsum zu befreien und ein jüdisches Reich aufzurichten, das unbedroht existiert. David ist also im „Schmuelbuch" Erfüllung und Verheißung zugleich, die Brücke zwischen einer erfüllten Vergangenheit und einer verheißenen Zukunft. Wenn man daher, wie Dreeßen es in seinem eingangs erwähnten Aufsatz getan hat, nach dem ,Sitz im Leben' des „Schmuelbuchs" fragt, so würde ich nicht sagen, daß er darin besteht, den inneren Zusammenhalt der spätmittelalterlichen deutschen Juden gegen ihre feindliche Umwelt zu festigen; 31 denn dies geschah weit wirksamer durch ihre ständige Verpflichtung auf das Studium und die Einhaltung der Thora. Ich meine vielmehr, daß es dem Schmu elbuchdichter darum ging, durch die Rückbesinnung auf die gemeinsame erfüllte Vergangenheit ihr Selbstvertrauen und ihren Mut in der Behauptung gegen diese Umwelt zu stärken und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wachzuhalten. Der Gegensatz religiös — profan wäre damit für das „Schmuelbuch" gegenstandslos, da auch die — heroisch stilisierte — weltüche Geschichte Israels eo ipso als Heilsgeschichte begriffen wird.

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Zu den Quellen vgl. Süßkind (Anm. 4), S. 114f. Ginzberg (Anm. 8), Bd. IV, S. 112f. u. Bd. VI, S. 270. So übernimmt der Dichter in Str. 1085 die Begründung, daß David Gott keinen Tempel errichten darf, weil zuviel Blut an seinen Händen klebt, aus I Chr. 22,8, obwohl sie in II Sam 7 fehlt. Dreeßen (Anm. 1), S. 92.

Robert G. Warnock (Providence) Frühneuzeitliche Fassungen des altjiddischen ,Artushofs'

Das mittelhochdeutsche „Wigalois"-Epos des Wirnt von Gravenberg hat vier Bearbeitungen in hebräischen Buchstaben erfahren. Die älteste, mittelalterliche Fassung entstand vielleicht in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Vor ein paar Jahren schrieb ich einen Aufsatz darüber, in dem ich darin — ich fasse hier kurz zusammen - ein „jüdisches Gepräge" fand, sowie die Absicht, aus Wirnts Stoff ein „entheroisierendes", schwankartiges Werk zu machen. Es wurde deutlich auf ein mit ironisierender Spannung erfülltes Hochzeitsfinale gezielt und für eine mündliche Vorführung geschrieben. Dieser, sagen wir, jiddische Grundtext wurde im 17. Jahrhundert seinerseits zum Gegenstand von zwei Überarbeitungen. Die erste erschien wohl zum ersten Mal 1671 in Amsterdam in der Druckerei Josel Witzenhausens. Die Redaktion überliefert sämtliche großen und fast alle kleineren Handlungen. Sie bereichert den Text um etwa 1000 Zeilen, hauptsächlich durch Erweiterungen, die den Sinn kaum ändern. Sie verändert die Form vieler Verse - die nicht veränderten sind oft die kurzen, schablonenhaften Sätze —, behält jedoch das Reimpaarschema bei und ist ein wichtiger Zeuge bei der Rekonstruktion des mittelalterlichen Texts. Der bedeutendste Unterschied gegenüber der Vorlage besteht in der sprachlichen Modernisierung des Jiddischen, im Lautbestand und im Wortschatz. Schimpf- und Kraftausdrücke werden oft verschärft oder hinzugefügt. Eine Ergänzung am Ende deutet auf eine Verbindung des Bearbeiters zu Italien hin. In der mittelalterlichen Fassung endet der Konflikt zwischen den zwei rivalisierenden Bräuten mit der Anerkennung des Anspruchs Loreis. In dieser Bearbeitung vermittelt König Artus schnell eine Heirat der unterlegenen Prinzessin mit dem Sohn des Herzogs der Toskana. Ich überspringe für einen Augenblick die dritte Fassung und komme auf die letzte „Artushof'-Redaktion in hebräischen Schriftzeichen zu sprechen, die Ende des 18. Jahrhunderts in Frankfurt an der Oder gedruckt wurde. Diese verstümmelte, den ursprünglichen Sinn ganz entstellende Prosabearbeitung, die Landau in seiner „Artushof"-Edition zugänglich gemacht hat, ist eine Trennungs- und Wiederfindungsschnulze mit dem leicht veränderten Titel „ Von Rjter Gabejn eine Historje oder moralische erzehlung". Das „Moralische" zeigt sich vielleicht in einem langen Gebet Gaweins vor seiner Trauung. Das einzige Interessante an dieser Bearbeitung ist, daß sie ein Zeugnis für die Anziehungskraft der Welt des Ostens darstellt. Gaweins Entführer ist Kaduk, Kaiser von China, der ihn zur Hochzeit mit seiner Tochter auf seinen Hof bringt. Danach hört man von Grünland, Rußland, Salbanien (!) und London, bevor es zu der glücklichen Wiedervereinigung auf Sardinien kommt. Als Beleg zitiere ich ein paar Sätze aus der Stelle, wo Kaduk der Königin zusetzt, den Gürtel anzunehmen.: Gnedige kenigin sagte er, ich mechte gerne die gnade habn, eier maistet mit einen reichen gertl zu verehren, welcher mit solche schehnen steine besetzt ist, das ich mir schmeichle, si werdn

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Robert G. Warnock

noch ni ein der gleichn gsehn habn. Und ob schohn der kenig Artis ville portziesen habn, gloube ich imer, das diser gertl ihnin nicht un=angenehm sein kan. Hir ist er, zeigin si ihn den Kenig und allen herschaften. Ich wil mich hir so lang verweiln bis ich des morgens ihre gnedige resolotziohn verneme. Das ist natürlich kaum Deutsch und erst recht kein Jiddisch, und wir werden uns bei diesem Stück nicht länger aufhalten. Der interessanteste neuzeitliche „Artushof"-Text in Hinblick auf den Redaktionsprozeß ist eine Fassung in Stanzen, die wir aus einem einzigen Exemplar in der Bodleian Library kennen. Dieses Werk ist der Gegenstand meiner folgenden Untersuchung. Zunächst will ich die Art der Bearbeitung der beiden Vorlagen darstellen, und dann versuche ich, eine Würdigung - Interpretation wäre zuviel gesagt - seiner künstlerischen und kulturhistorischen Leistung zu geben. Die Titelseite ist unten zur Hälfte abgerissen. Aus einem hebräischen Vermerk am Ende wissen wir jedoch, daß die Bearbeitung in der Prager Druckerei des Israel ben Jehuda Katz erschien, weshalb ihr Moritz Steinschneider ein Erscheinungsdatum zwischen 1652 und 1679 zuweist. Diese Zeitspanne können wir auf 1671—79 verringern, denn ihre stoffliche Vorlage — das bezeugen mehrere Übereinstimmungen in Details — war zum großen Teil der Amsterdamer Druck von 1671. Mit etwa 580 achtzeiligen Stanzen ist die Redaktion nur etwa 1000 Zeilen kürzer als ihre Vorlage, hat also ungefähr die Länge der mittelalterlichen Bearbeitung. Bis zur Mitte des Romans werden alle Hauptepisoden mit ihren Einzelheiten, textlich stark paraphrasierend, aber stofflich ziemlich getreu wiedergegeben. Die ersten großen Eingriffe in die Handlung kommen, nachdem Widuwilst - so heißt er in dieser Fassung - der beraubten Jungfrau ihre drei Geschenke zurückerobert. In der Vorlage kämpft er danach mit einem ungastlichen Gastgeber und zieht dann mit Jungfrau und Zwerg auf das Schloß Wacksenstein. Der Stanzenbearbeiter läßt diese Kampfszene aus oder richtiger gesagt: er ersetzt sie durch den langen und ziemlich komplizierten Drachenkampfkomplex aus der zweiten Abenteuerkette. Die restlichen Haupthandlungen werden alle, einige allerdings nur skizzenhaft, in die Handlung aufgenommen. Die Hochzeitsszene erlebt durchgehend eine atmosphärische Revision. Sie ist noch länger als in der Vorlage, aber von dem ironisierenden, kindlichen Frohsinn des Spiels ist nichts geblieben. Für den Stanzenbearbeiter bot das Hochzeitsfinale einen guten Abschluß, aber kein deutliches ästhetisches Ziel. Die auffälligste redaktionelle Eigenart in der Erzähltechnik ist eine verdoppelte Beschreibung mehrerer Handlungsszenen. Das passiert meist, indem ein Vorgang, der schon geschildert worden ist, von einer in die Handlung einbezogenen Person als persönliches Schicksal noch einmal erzählt wird. Diese Nacherzählungen, und es sind deren viele, erstrecken sich meistens über 2 oder 3, manchmal aber auch über 8 bis 9 Stanzen; selten liefern sie aber neue Informationen oder Perspektive. Ein extremes Beispiel ist die Vorgeschichte mit Gawein und Widuwilsts Mutter, die wir zuerst aus der Handlung und dann kurz nacheinander von der Mutter und schließlich von Gawein erfahren. Die Hochzeitsszene hat nicht weniger als drei Verdoppelungen. Die Vorliebe für die Handlungswiederholung hängt eng mit einer Vorliebe für Dialoge und gelegentlich auch Monologe zusammen. Diese Technik führt zu keinen Charakterschilderungen, sondern wird verwendet, meine ich, weil sich der Bearbeiter in der mehr volkstümlichen Dialogform am meisten zu Hause fühlte. Die Reden nehmen oft

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eine oder mehrere Stanzen ein und erinnern an Sprechrollen, etwa des Fastnachtspiels. Ich zitiere ein Beispiel aus der Szene, in der Rei ihre Bereitschaft erklärt, Widuwilst zum Ehemann zu nehmen: (63) Der kinig sprach: „Libe ... tochter meine der sol sein der breitchen deine. (64) Sich in an seiner gestalt un merk auf im gar eben. So es dir aber nit gefalt, wil ich in dir nit geben." ... (65) Di jung kinegin hub zu reden on: „Was sol ich mich fil scheihen? Ich sich mein fater do erfor on, er wert mirs gewis ferzeihen. Wen mir mein fater geb zun ein man ein bir breier fun bir breien, do welt ich sein red nit abschlogen un welt och nit nein dar zu sogen."

Man mag dem Bearbeiter vielleicht eine gewisse Geschicklichkeit in der Handhabung seiner Sprache, besonders in den Dialogen, zuerkennen; wegen der Unbeholfenheit in der Darstellungstechnik aber, die nicht selten den Handlungsfortgang einfach retardiert, ist es das Werk eines die Form nicht reflektierenden und wohl unerfahrenen Schreibers. Eine verblüffende, wohl unbeabsichtigt komisch wirkende Stümperei unterläuft an der Stelle, wo sich Widuwilst, die Jungfrau und der Zwerg dem verbrannten Land nähern. Auf Widuwilsts Frage, wie weit sie noch haben, deutet die Jungfrau auf den nächsten Berg, von dort aus könne man das Land überblicken. Mit Mühe steigen sie hinauf. Oben muß sie gestehen, daß sie den falschen Berg in Erinnerung hatte: sie müssen noch 30 Meilen reiten. Das Modell für die Ottaverime-Form der „Artushof'-Bearbeitung hat der in Venedig lebende Philologe und Dichter Elija Levita Bochur geschaffen. 1508 schrieb er einer italienischen Quelle folgend den altjiddischen höfischen Roman „Bova d'Antona", der erst 1541 in Isny gedruckt wurde; und er ist mit ziemlicher Sicherheit der Verfasser von „Paris und Vienna", das nach seinem Tod 1594 in Verona erschien. Es ist sicher, daß der Bearbeiter das „Bova Buch" kannte, vielleicht die 1660 in Prag gedruckte Ausgabe. In der metrischen Form ähnelt der „Artushof" allerdings eher „Paris und Vienna". Typisch für die Stanzen im „Bova Buch" ist, daß sie nach italienischem Muster im allgemeinen ausschließlich weiblich ausgehende Verse haben. Soweit ich weiß - ich kenne dieses Werk allerdings nur aus den mehrseitigen Auszügen bei Max Weinreich - haben sämtliche Stanzen in „Paris und Vienna" dagegen männliche Betonung im 1., 3. und 5. Vers, was die gewöhnlichste Form des strophischen „Artushofs" ist. Ich gebe zum Vergleich eine Stanze aus jedem Werk: Bova Buch Man spricht wie in Lomparten was gesessen vor langen Zeiten ein herzog fun hoher arten -

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Robert G. Warnock sein gleichen war nit in weiten. Herzog Gwidon his man den zarten, ein starker degen in alen streiten, un mit großer eren trug er di krone in einer stot, di his Antona.

Paris un Vienna In disen palez un in dem hof wurd ni gesehn solch gedrangen fun bürgerleut, riter un fun grof iderman wolt Paris anpfangen. Dos scholem-aleichem un dos masi tof dos wolt ni hobn ein ousgangen. Dos wesen un di freíd di men was treiben, di stet mir nit zu sogen noch zu schreiben.

Artushof D o hub riter Gawen on do wil ich mich seiner nit Schemen, den ich wol erkenen kon dos er noch mir tut remen, der weil mein rot hot geton as man den gertel nit sol nemen. Aso lis er bald hoben befolen, man solt in guten panzer un harnis holen.

Mehrere dem „Bova Buch" und dem „Artushof" gemeinsame Redewendungen machen wahrscheinlich, daß der Bearbeiter nicht nur die äußere Form bei Levita geliehen hat. Viele davon sind zwar gewöhnliche Wörter oder Gleichnisse, die aber wegen ihrer Frequenz in beiden Werken auffallen, z.B. das Lieblingswort brumen als Ausdruck jeglichen Unmuts. Beide Werke zeigen ein Interesse am Pilger- und Bettelwesen. Gemeinsam ist ihnen auch das Gefallen an sprichwörtlichen Ausdrücken, allerdings nicht denselben, außer in einem interessanten Fall. Als Brandonia sich überlegt, wie sie ihren Sohn Bova aus dem Weg schaffen kann, sagt sie im „Bova Buch", „er wert es nit dürfen peichten keinem pfafen". Die Bedeutung ist mir nicht ganz klar, es handelt sich aber um eine Mahnung (natürlich nicht für Bovas Ohr), etwa: ,Er wird (oder darf) keine Gelegenheit haben, den Priester zu sehen.' In ähnlichem Zusammenhang wird es noch einmal gebraucht. Im „Artushof" wird es dreimal benutzt, in allen Fällen als Warnung in Verbindung mit Eile. So der Rat des Hirsch-Königs, als sich Widuwilst auf den Kampf mit dem Riesen vorbereitet: „ir merkt wol als eben ous/man darf nit zu beichten ein gelerten pfafen." Vermutlich hat Levita dies aus dem Deutschen, ich habe es aber bis jetzt in keinem deutschsprachigen Text gefunden. 1

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Karl Wander: Sprichwörter Lexikon. 5 Bde. Leipzig 1 8 6 7 - 1 8 8 0 , führt das Beispiel auf: „Das sollst du keinem Pfafen dörffen beichten" (Bd. III, S. 307). Als Beleg nennt er Johannes Paulis Schimpf und Ernst, Straßburg 1522 („LX a "). Das Zitat zu finden, ist mir jedoch trotz mehrstündigen Suchens (Ausgaben Bolte und Oesterley) nicht gelungen.

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Leo Landau hat zur Debatte gestellt, ob Elija Bochur der Verfasser des strophischen „Artushofs" war. Es war eigentlich ein Verlegenheitsvorschlag, den die meisten Kenner des Werks entweder angezweifelt (Max Erik) oder verworfen haben (Max Weinreich), allerdings ohne ihre Gründe detailliert zu nennen. Meine eigene Ablehnung dieser Vermutung darf nach der Besprechung der Schwächen der Darstellung im „Artushof" offenkundig sein. Ähnliche Ungeschicktheit zeigt sich in der Metrik. Ich zitiere nur ein kurzes Beispiel aus der Unterhaltung Widuwilsts mit Gawein: das wil ich eich losen heren, drum as ir meiner muter hot gesogt si sol das kind Widuwilst nenen drum tut ir mich riter Widuwilst al hi der kenen.

Das sind keine ganz typischen Verse - der vorletzte hat nicht weniger als 19 Silben - , aber metrische Unebenheiten sind unschwer zu finden. Das ist nicht der Stil und die Technik Elija Bochurs. Levita war kein großer Künstler, aber er hatte einen Sinn für die Organisation und Entwicklung seiner Handlungen und er vermochte sie in ausgewogene Verse zu bringen. Ein vielleicht noch stärkeres Argument gegen Bochur als Autor liefern die Grammatik und der Wortgebrauch im „Artushof", die, soweit ich sehe, in Levitas literarischer Sprache fehlen. Eine bis zum Überdruß benutzte Umschreibung für das Präteritum, seltener für den Inchoativ, ist die Verbindung von er ward/si worden mit Infinitiv — „di kinegin ... ward di neie zeitung sogen" (d.h.,sagte' oder ,erzählte'), „wie der riter doußen gar zornig ward sein" (,war'). Ein anderes Beispiel ist der Gebrauch der Präpositionsform zun: „er reit zun tor", „er sprach zun weib" (auch „zun ein weib"). Das ist eine falsche, aber phonetisch verständliche Änderung in der Kontraktion mit dem Artikel. Zun wird allerdings auch mit Feminina verwendet: „er kam zun der frau", „er is zun ir genehen". Andere Unterschiede zwischen den Sprachformen Levitas und denen des „Artushofs" lassen sich bei den Bewegungsadverbien und in den Präteritalformen der Verben erkennen. Überhaupt zeigt die Sprache des „Artushof'-Bearbeiters eine Unsicherheit und Volkstümlichkeit, die den regelmäßigen und formelleren sprachlichen Gewohnheiten des Philologen Levita nicht eigen sind. Will man an der Verfasserschaft Levitas für die „Artushof'-Bearbeitung festhalten, muß man annehmen, daß sein Manuskript über 100 Jahre in Vergessenheit gelegen hat, bis es im 17. Jahrhundert von einem in einem ganz anderen Stil schreibenden, verballhornenden Bearbeiter in den Druck gebracht wurde. An dieser Stelle möchte ich einige allgemeinere, aber auch umfassendere Beobachtungen über den „Artushof" in Stanzen mitteilen. Am Anfang dieses Vortrage habe ich von einem „jüdischen Gepräge" gesprochen, das ich in dem mittelalterlichen Werk finde. Auch in der Strophen-Bearbeitung fehlt es nicht an jüdischen und jiddischen Elementen. Es gibt einen bescheidenen Anteil an spezifisch jiddischen Wörtern: epes, nebech, dosig, spusring, vielleicht auch oußenligen, häufiger oy we und einmal das hebräisch-jiddische joetzim für ,Ratsherren'. Einige Szenen könnten, aber müssen nicht auf eine gewisse Jiddischkeit deuten. Gawein vergleicht seine plötzliche Befreiung und angebotene Heirat mit der Lage des biblischen Josephs, „gleich as Josef aus der gefenknis och tun ein kineg weren". Widuwilst, als er auf Abenteuer ausziehen will, fühlt sich genötigt, die zögernd gewährte Erlaubnis seines Vaters einzuholen, weil es sonst gegen das 5. Gebot verstieße.

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Robert G. Wamock

Es durchzieht das Werk eine gewisse, wohl sehr ernst gemeinte Frömmigkeit. So entschließt sich der König, den Widuwilst vom Drachen befreit hat, als Buße für dessen vermeintlichen Tod Trauerkleider anzulegen und seine Untertanen nicht zu quälen, nicht viel Wein zu trinken und einmal im Jahr die Armen zu einem Gastmahl einzuladen. Beim Letzten könnte man eine Verbindung zu dem Pesachbrauch sehen, zum Seder alle Hungernden einzuladen, symbolisiert durch den für Elia bereitgestellten Becher. Obwohl diese Elemente von Wichtigkeit sind, läßt sich mit ihnen meines Erachtens der jüdische Charakter des Werks doch nicht erweisen. Es gibt sogar ein paar Kleinigkeiten, die dagegen sprechen. So kommt z.B., als Gawein heiratet, gegen die mittelalterliche Überlieferung, schnell ein Bischof, der die Trauung vollzieht. Das hervorstechendste Merkmal am „Artushof" in Stanzen finde ich in seiner sicher unbeabsichtigten Darstellung bürgerlicher Maßstäbe. Die Stellen, die uns einen Einblick in die wirkliche Welt gewähren, zeigen uns den aufstrebenden, vielleicht den kaufmännisch gesinnten Bürger, natürlich im Gewand des Adels - und das ist etwas Neues in den Redaktionen des Werks. Aufschlußreich hierfür sind die Reisebeschreibungen der Hochzeitsgäste, die zu König Tschenk fahren. Ritter Gawein bestellt sich für seine Fahrt von König Artus Hof 5 Kutschen und einen Lakaien (das Wort kommt zweimal im Text vor). Widuwilsts Mutter reist auch in der Kutsche; und beide, sie und Gawein, vergessen nicht, genügend Reisegeld mitzunehmen. Nachdem sie sich auf König Sigolns Hof endlich wieder treffen, ziehen sie alle zusammen in die Hochzeitsstadt, wo die Straßen belebt und die Wirtshäuser begehrt sind. Jeder bekommt jedoch — das betont der Erzähler - ein Einzelzimmer. Es gibt im Werk ein merkbares Interesse für die Straße und die Fahrenden. Bei ihrer Abreise zur Hochzeit erhält Widuwilsts Mutter den Rat, nach ihrem Sohn bei den Bettlern zu fragen — „es sei frau oder man . . . hinkedige oder blinder" —, da diese die Welt am besten kennen. - Ich erwähnte gerade das Reisegeld. Das Geld-Motiv kommt auch an ein paar anderen Stellen vor. Als die Königin, Reis Mutter, Gawein von seinem Sohn berichtet, will er ihr — als „betenbrot" — die schönste Kredenz kaufen, die er finden kann. Das Urteil in dem Heiratsstreit bestätigt Reis Anspruch auf Widuwilst, verlangt aber, daß ihr Vater König Tschenk für seine Ausgaben bei den Hochzeitsvorbereitungen entschädigen muß. Ein anderes oft wiederkehrendes Motiv ist das der schulmäßigen Bildung und der Schriftlichkeit. Wenn Widuwilst seine „hofzucht" bekommt, ist es nicht nur in Stechen und Turnieren, sondern auch im Buchwissen. Die Jungfrau, die seine Hilfe erst verschmäht, weist ihn spöttisch wieder in die Schule, wo er eifrig lernen solle; und wenn sie zum Schloß kommt, wird sie von der Königin beschimpft, weil diese meint, daß sie sich mit einem Studenten eingelassen habe - der Verruf des fahrenden Schülers. Der Vater der beraubten Jungfrau ist nicht Ritter wie in der Vorlage, sondern ein armer Schreiber; und fast jede Verabschiedung endet mit der Mahnung, bald zu schreiben. Eine letzte, merkwürdige Stelle will ich zum Schluß meines Referats heranziehen. Am Ende von Widuwilsts Lehrzeit veranstaltet König Artus das jährliche große Turnier; dieses Fest wird durch die Ankunft der Jungfrau unterbrochen. Der Verfasser des mittelalterlichen Texts wurde nun mit den Wettkämpfen, an denen Widuwilst nicht teilnimmt, in einem Satz fertig. Die Ottaverimebearbeitung erweitert die Turnierszene auf 6 Stanzen. Zuerst werden die üblichen Turnierkünste geschildert, bei denen Widuwilst am ersten

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Frühneuzeitliche Fassungen des altjiddischen ,Artushofs'

Tag seine Überlegenheit beweist. Das ist es aber nicht, was den Erzähler wirklich interessiert. An den folgenden Tagen gibt es verschiedene Übungen - eine „fechtschule" und ein „ringel rennen". Danach kommt die sonderbare Beschreibung: Den dritten tog riten si ein gans den kop ab reisen, di gans hung un het dos leben. Riter Widuwilt war sich vleisen un remt dar noch gar eben. Er tet ir in ersten den kop ab. reisen, etliche hundert trefen dar neben (144).

Hat der Dichter, fragt man, dieses Spektakel selbst gesehen, etwa auf einem Jahrmarkt oder Schützenfest? Ich kenne keine solche Szene aus der Literatur oder der Malerei. 2 Vielleicht darf man die Worte des alten Helmbrecht heranziehen: „Die alten turnei sint verslagen/und sint die niuwen für getragen" (V. 1023f.). Max Erik schrieb in seiner „Geschichte fun der jidischer literatur" von dem „schwachen khusch far ritertum" im mittelalterlichen jüdischen Artusepos. Das Urteil stimmt, nur sollte man hinzufügen, daß dieser Mangel an Verständnis mit der Absicht des Parodierens verbunden ist. In der Stanzen-Fassung kann man von einem parodistischen Ziel jedoch nicht reden. Der Bearbeiter übernimmt ein schon zweimal redigiertes Abenteuerepos, modelt es um, und läßt dabei die Interessen und Werte seines Standes und seiner eigenen Zeit zum Ausdruck kommen. In künstlerischer Hinsicht keine große Leistung, ist der „Artushof" in Stanzen ein interessantes Dokument der jüdischen Teilnahme am Leben des höheren Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert oder der Sehnsucht danach, entstanden wahrscheinlich im süddeutsch-österreichischen und norditalienischen Raum. Unser Bearbeiter hat sein Werk mit einem Seufzen der Erleichterung abgeschlossen, „do hot dos buch ein end/dos freien sich (s)eine hend". Mit ebenso schlichten Versen sage ich vielen D a n k : Dos freiet sich mein stim/wos

2

ich itzt an sof gkumen

bin.

Bei der Diskussion dieses Referats erinnerte sich Frau Dr. Guggenheim an einen alten, noch ausgeübten Schweizer Brauch, wobei zu gewissen Festen die Dorfjugend mit verbundenen Augen an einer mit dem Kopf nach unten hängenden Gans vorbeireitet und versucht, sie mit einem Schwert zu köpfen. Nach diesem Volksbrauch wird geforscht.

Erika Timm

(Trier)

Der ,Knick' in der Entwicklung des Frühneuhochdeutschen aus jiddistischer Sicht

Wenn ich in den folgenden dreißig Minuten versuche, die Auseinanderentwicklung der deutschen und der jiddischen Sprachstruktur mit besonderer Berücksichtigung des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu skizzieren, so muß ich dem zwei Bemerkungen vorausschicken. Erstens: Eine so gedrängte Skizze wirkt zwangsläufig apodiktisch. Ich würde sie kaum wagen, wenn ich nicht gleichzeitig das Thema an anderer Stelle in ausführlicherer Form zu behandeln Gelegenheit hätte, und darf insbesondere für Fragen der Dokumentation global auf diese Darstellung verweisen. 1 Und zweitens: Es geht hier nicht um die .Entstehung des Jiddischen', sondern um eine relative Bewegung beider Sprachen, nämlich voneinander weg - ein Thema, das auch die Germanisten interessieren sollte. In der Tat wende ich mich heute hauptsächlich an sie und möchte für den Gedanken werben, daß hinter dieser Auseinanderentwicklung, sobald ihre strukturellen Aspekte beschrieben sind, sozialgeschichtlich divergierende Grundhaltungen zur instrumenteilen Funktion von Sprache schlechthin sichtbar werden. Damit sind wir beim Thema. Während der letzten 15 Jahre haben in der Erforschung des Frühneuhochdeutschen sozialgeschichtliche Fragestellungen immer mehr Aufmerksamkeit gefunden. Insgesamt hat dabei die Sprache des frühen 16. Jahrhunderts eine merkliche Aufwertung erfahren: Allgemeinverständlichkeit und emotionale Unmittelbarkeit, die man lange hauptsächlich Luthers Individualstil zuschrieb, erweisen sich in respektablem Maße auch bei vielen seiner Zeitgenossen als gegenwärtig, unter anderem in Flugschriften. Eindeutiger denn je erscheint dadurch die Entwicklung von der frühbürgerlich geprägten Atmosphäre um 1520 zur absolutistisch geprägten um 1620 nicht nur in der politischen, sondern auch in der Sprachgeschichte mit einem negativen Vorzeichen behaftet; denn innerhalb dieses Zeitraums wurden im deutschen Satzbau und Formensystem Schwierigkeiten kanonisiert, die unserer Muttersprache im Wettbewerb mit dem Französischen, dann mit dem Englischen bis heute abträglich gewesen sind. Hier bietet sich nun als Kontrast die jiddische Entwicklung an, schon weil auch das Jiddische auf hochdeutschem Sprachboden entstanden ist und in ihm zu allen Zeiten die deutschen Elemente in der Mehrheit geblieben sind. Freilich ist dabei eine Einschränkung vonnöten. Sie betrifft diejenigen Bereiche der Sprache, in denen die Sprecher weltanschauliche Wertungen relativ bewußt mitzusignalisieren pflegen: den pragmatischtextlinguistischen Bereich, den Wortschatz und die Entscheidung für ein bestimmtes Alphabet samt ihren graphematischen Konsequenzen. Wo hier das ältere Jiddisch vom

1

Das Jiddische als Kontrastsprache bei der Erforschung des Frühneuhochdeutschen. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 14 (1986).

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gleichzeitigen Deutsch abweicht, ist es in aller Regel durch die jüdische Religion geprägt, während das Deutsche, wenigstens aus der Vogelschau betrachtet, einen unauffälligen gemeineuropäischen Stand repräsentiert. Ich klammere deshalb diese Bereiche aus und konzentriere mich auf die übrigen, wesentlich instrumentellen Ebenen der Sprache: Syntax, Formenlehre und Lautlehre. Als zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert erstmals Juden in größerer Zahl ins deutsche Sprachgebiet einwanderten, hatten sie als Muttersprache längst nicht mehr die heilige Sprache, sondern jüdisch-romanische und wahrscheinlich auch jüdisch-slavische Idiome. Der Übergang zu einer Alltagssprache auf deutscher Grundlage ist spätestens im 11. Jahrhundert indizienhaft belegt. Spätestens gegen 1250 scheint die neue Internsprache die Muttersprache aller im deutschen Sprachgebiet geborenen Juden gewesen zu sein. Was in ihre Syntax, Formen- und Lautlehre an vordeutschen Elementen einging, ist ziemlich wenig. In sehr vielen jiddischen Texten noch des 15. Jahrhunderts sucht man nichtdeutsche Elemente in diesen Bereichen überhaupt vergeblich. Auch diese Bereiche jedoch entwickelten sich vom Deutschen weg. Als Hauptursache dafür muß man die mörderischen Pogrome seit dem 13. Jahrhundert, insbesondere während der Pestzeit um 1349/50 ansehen. Sie führten im Gegenzug zu einer stärkeren Selbstabgrenzung der Überlebenden. Viele zogen nach Osteuropa weiter. Ihre Nachkommen behielten das Jiddische bei, das dort aber vom Deutschen bis zur Aufklärung so gut wie gar nicht und noch im 19. Jahrhundert nur oberflächlich beeinflußt wurde. Da schon um 1900 fast nur dieses ,Ostjiddisch' noch lebte, ist das rezente Ostjiddisch der Gegenstand der praktisch-deskriptiven Grammatiken; es hat für unsere Zwecke ferner den Vorteil, mit dem Deutschen stark zu kontrastieren. Es hat aber auch zwei Nachteile: Erstens mußten durch alle Jahrhunderte die meisten Sprecher des Ostjiddischen aus wirtschaftlichen Gründen eine Zweitsprache, vor allem das Polnische, lernen; der Einfluß dieser Adstrate ist manchmal schwer abzuschätzen. Zweitens beginnt eine quantitativ nennenswerte und qualitativ zweifelsfreie Überlieferung des Ost jiddischen erst gegen 1600. In Mitteleuropa verlief die Entwicklung seit 1350 weniger drastisch, doch in derselben Richtung. Dort gab es zwar seit dem 15. Jahrhundert weniger Pogrome, aber bis zur Aufklärung globale Ausweisungen aus fast allen Reichsstädten und vielen Territorien. So wurde auch den Sprechern des ,Westjiddischen' auf ihren Wanderungen innerhalb Mitteleuropas die Syntax, Formenlehre und Lautlehre des örtlichen bzw. des nächstbenachbarten Deutsch weitgehend gleichgültig, ganz zu schweigen von den deutschen Schreibsprachen und später der deutschen Schriftsprache. Doch mit der Aufklärung begann hier vehement die volle sprachliche Anpassung an die nichtjüdische Umgebung und damit der Untergang des Westjiddischen. Verglichen mit dem Ostjiddischen bietet uns das Westjiddische zwar den matteren Kontrast zum Deutschen, aber eine schriftliche Überlieferung seit dem Mittelalter und wenig Probleme mit außerdeutschen Adstraten. Bei dieser Forschungslage müssen ost- und westjiddische Befunde - wie allgemein in der historischen Jiddistik so auch in unserer speziellen Perspektive - einander ergänzen. Das ist methodisch einwandfrei, solange man sich im klaren darüber ist, was man jeweils heranzieht. Nun zu den drei Bereichen!

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Die historische S y n t a x des Jiddischen ist noch ganz unerforscht. Man kann aber bei entsprechender Leseerfahrung im älteren Jiddisch wagen, einige Entwicklungslinien zu skizzieren. Auffällig ist vor allem, daß dem Jiddischen diejenigen Erscheinungen essentiell fremd geblieben sind, die sich in der deutschen Bildungsprache im Verlauf des 16. und frühen 17. Jahrhunderts festsetzten. Da ist zunächst die große Periode mit vielfacher Hypotaxe. Im Deutschen halten sich über die Lutherzeit hinaus eine Tendenz zu kurzen, expressiven Sätzen und eine gemäßigt-rhetorische Tendenz zu mittleren Satzgefügen noch die Waage. Dann gewinnt allmählich die große Periode sehr an Boden. Nach Zahl und Abhängigkeitsgrad der Nebensätze erreicht sie ihren Höhepunkt in der schönen Literatur vor 1700, in der sonstigen Schriftlichkeit aber erst im frühen oder mittleren 19. Jahrhundert. Inzwischen ist sie großenteils zugunsten des Nominalstils - stark zurückgegangen. Im Jiddischen ist von diesem Entwicklungsbogen sehr wenig zu spüren. Noch die ostjiddischen Klassiker, deren Epoche gegen 1865 beginnt, gehen bei sonst wunderbarer Biegsamkeit ihrer Prosa mit der Hypotaxe ziemlich sparsam um. Als zweite dem Jiddischen fremdgebliebene syntaktische Erscheinung ist das erweiterte Adjektiv- und Partizipialattribut zu nennen. Im Deutschen wird die Konstruktion im späteren 16. Jahrhundert beliebt. Anders als die große Periode erreicht sie aber ihren Höhepunkt erst im späten 19. Jahrhundert und geht selbst bis zur Gegenwart nur langsam zurück, gerade weil man mit ihr auf vordergründige Weise die Hypotaxe umgehen kann. Im Jiddischen ist sie bisher überhaupt nur hier und da im rezenten Ostjiddisch aufgefallen, und sie wird dort als junger und flagranter Germanismus des 19. Jahrhunderts empfunden. Viel tiefer im deutschen Sprachsystem verankert als die beiden genannten Erscheinungen ist eine dritte: die Satzklammer. Im Deutschen hatten - nach der computergestützten Untersuchung von Ebert - schon gegen 1350 etwa 80% der Nebensätze, etwa 75% der klammerfähigen Hauptsätze die volle Klammer. Im 15. Jahrhundert gehen diese Werte zunächst wieder zurück, im Laufe des 16. Jahrhunderts steigen sie - am besten zu beobachten bei Luther - deutlich wieder an. Seit 1580 finden sich bei den gebildeten Schreibern im Haupt- und Nebensatz über 95 %, bei den weniger gebildeten etwa 85% volle Klammern. Spezifisch bildungssprachlich ist also nicht die Klammertendenz selbst, wohl aber ihre Verallgemeinerung um beinahe jeden Preis. Mit Winckelmann und Lessing setzt eine zögernde und uneinheitliche Rückentwicklung ein. Immerhin können wir heute auch in der Schriftsprache viele syntaktisch entbehrliche Satzteile wieder ausklammern, nicht aber die obligatorischen; also ,er sucht ein Buch aus für seinen Freund', aber nicht: ,er sucht aus ein Buch'. In westjiddischen Texten sind schon seit dem 16. Jahrhundert nicht nur sehr häufig entbehrliche Satzteile, sondern manchmal auch obligatorische ausgeklammert oder haben in Nebensätzen die Stellung des Hauptsatzes. In der Mündlichkeit waren diese Tendenzen wohl bei vielen Sprechern noch stärker. Im 19./20. Jahrhundert gelten solche Ausklammerungen — nunmehr innerhalb des Deutschen — als .typisch jüdisch'. Das Ostjiddische hat allmählich die Satzklammer fast ganz beseitigt: Nebensätze haben grundsätzlich Hauptsatz-Stellung, und in beiden Satzarten werden zwischen den Teilen des Prädikats nur noch Pronomina, kurze Adverbien und im Inversionsfall oft das

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Subjekt geduldet. Also er sucht ois a buch, wenn er hot oisgesucht a buch-, aber noch er sucht es izt ois. Bei allen drei vorgeführten Erscheinungen hat der Bildungsanspruch der deutschen Standardsprache seinen Preis gekostet. Sicher können in der Hand eines guten Stilisten auch die große Periode, das erweiterte Attribut und die Satzklammer transparent und schwerelos wirken; aber häufiger wird uns hier doch eigenes oder fremdes Unvermögen bewußt. Das Jiddische erinnert uns daran, daß diese Erscheinungen sich auch im Deutschen nicht aus der Struktur der Sprache ,entfaltet haben', sondern im 16. und 17. Jahrhundert unter der Wirkung eines formalen Bildungsanspruchs entfaltet worden sind. Soweit die Syntax. In der F o r m e n l e h r e unterscheidet sich das Ostjiddische von der deutschen Schriftsprache durch starke Regularisierungen, von denen hier nur die wichtigeren genannt werden können. Beim Nomen sind die Kategorien Deklinationsklasse und Kasus stark vereinfacht. Zunächst zu den Deklinationsklassen! — Beim Adjektiv sind im Gegensatz zum Deutschen schwache und starke Flexion bis auf unerhebliche Reste zusammengefallen: es heißt also der junger hunt ganz wie a junger hunt. — Beim Substantiv ist der Ausgleich zwischen beiden Flexionen ein anderer. Hier ist im Ost jiddischen die schwache Flexion bei den Personennamen verallgemeinert; also ich se Estern un Dowidn. Sonst aber gehören ihr nur noch eine Handvoll Appellativa an, die den Namen semantisch nahestehen, z.B. der tate - dem tatn. Dadurch ist die Abgrenzung zwischen schwacher und starker Flexion viel einfacher als in der deutschen Schriftsprache. Nun zu den Kasus. Ich beschränke mich hier auf das Substantiv. — Der Genitiv wird im Jiddischen bei Nichtpersonen fast immer, bei Personen nicht selten mit fun umschrieben: derspizfun an aisbarg, got fun Avrom. Daneben existiert bei Personen ganz wie im Englischen noch der vorangestellte Genitiv mit der Endung -s, die sich auch auf Feminina und Plurale ausgedehnt hat: main tochters briw. — Außer dem schwachen -n und dem genitivischen -5 gibt es beim Substantiv keine Kasuszeichen mehr (insbesondere keine Kennzeichnung des Dativs Plural). Noch durchgreifender sind die Vereinfachungen beim Verbum. — Im Präsens sind ¿'-/-Wechsel und Umlaut beseitigt: er helft, er fait. — Das Präteritum ist untergegangen. Erzählt wird im Perfekt, doch weicht man gern ins Präsens historicum aus. — Auch der erste Konjunktiv ist untergegangen; der zweite ist durch Umschreibungen ersetzt. Das Westjiddische nimmt wieder zwischen dem Ostjiddischen und dem Schriftdeutschen eine Zwischenstellung ein. Mit Hilfe der Arbeiten von Beatrice Lineoff zum Jiddischen des 14. bis 17. Jahrhunderts und von Richard Zuckerman zum rezenten Elsässer Jiddisch sowie meiner eigenen Leseerfahrungen ergibt sich folgendes Bild: vor 1450 lassen sich die gerade aufgezählten Vereinfachungen noch so gut wie gar nicht belegen. Der mor-

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phologische Durchbruch zum neujiddischen Sprachtyp fällt in die Zeit vom späteren 15. bis ins 17. Jahrhundert; dabei wird eine Art Staffellandschaft erkennbar: im Formensystem zeigt sich nämlich das Westjiddische von Osten nach Südwesten immer weniger vereinfachungsfreudig. Auch das in der deutschen Schriftsprache kritische Jahrhundert zwischen 1520 und 1620 ist also im jiddischen Formenbau - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität eine Zeit ungebrochener Weiterentwicklung. Spätestens an dieser Stelle empfiehlt es sich nun, neben der Geschichte der deutschen Schriftsprache die deutsche Dialektologie in das Bild einzubeziehen. Denn alle genannten Vereinfachungen des Jiddischen sind tendenziell oder vollständig zumindest auch in einigen deutschen Mundarten - darunter auch immer einigen hochdeutschen — eingetreten. Für unsere Zwecke genügen hier globale Erkenntnisse wie die folgenden: - die beiden Adjektivflexionen sind z.B. im Ripuarischen fast zusammengefallen, in vielen anderen Mundarten einander nähergekommen; - die schwache maskuline Substantivflexion hat im Singular weithin gegenüber der Schriftsprache Einbußen erlitten; - der synthetische Genitiv ist zum größeren Teil untergegangen; - die Opposition Dativ — Akkusativ ist nicht nur im Niederdeutschen fast überall verschwunden, sondern auch in weiten hochdeutschen Gebieten teilneutralisiert; - der Typ ,er helft' ist vor allem im südlichen Westmitteldeutsch, der Typ ,er fallt' auch in großen Teilen Oberdeutschlands durchgedrungen; - das synthetische Präteritum ist südlich eines Übergangsstreifens, der sich von der Mosel bis ins Vogtland hinzieht, verschwunden; - der erste Konjunktiv ist fast überall untergegangen, der zweite am stärksten in Teilen des Westmitteldeutschen durch Umschreibungen ersetzt. Die meisten dieser Entwicklungen reichen zweifellos auch in den deutschen Mundarten in die frühneuhochdeutsche Zeit zurück. Hinsichtlich ihrer Anfänge stehen sich also die jiddischen und die deutschmundartlichen Entwicklungen auch zeitlich recht nahe. Freilich sollte man sich die jiddischen, speziell die ostjiddischen Entwicklungen, schon weil sie insgesamt energischer durchgeführt sind, nicht einfach als aus den jeweils geeigneten deutschen Mundarten übernommen vorstellen. Angemessener dürfte es im großen und ganzen sein, die Prädisposition noch als gemeinsame, die Entwicklungen selbst aber als parallele anzusehen. Doch auch wenn man so das genetische Band bewußt locker hält, bilden hier in der Sache die deutsche Schriftsprache, die deutschen Mundarten und - von Südwesten nach Osten - die jiddischen Mundarten praktisch ein Kontinuum zunehmender Vereinfachungen. Dieses Kontinuum müssen wir offenbar im Rahmen jenes allgemeinen Strukturwandels sehen, der allmählich viele indoeuropäische Sprachen vom ,flexivischen' Sprachtyp weggeführt hat. In der Mehrzahl der germanischen Sprachen liegt er zum größeren Teil zwischen dem 11. und dem 17. Jahrhundert. Durch fremde Überherrschung und/oder Sprachmischung kann er zwar verstärkt werden, wie das Englische zu schließen nahelegt; daß er jedoch auch bei ihrem Fehlen sehr beachtliche Ausmaße annehmen kann, beweist z.B. das Dänische. Was nun das deutsch-jiddische Kontinuum angeht, so darf man selbstverständlich für

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alle seine Varietäten und für jede der betroffenen Entwicklungen nach Einzelursachen suchen. Aber wegen des Kontinuumsbefundes selbst muß es noch eine überdachende Ursache geben, die jene Einzelursachen in ihrer Wirkung hemmt oder fördert. Und als solche wird man sich kaum etwas anderes vorstellen können als ein entsprechendes Spektrum von Grundhaltungen in der Frage sprachlicher Neuerungen: von einiger Engherzigkeit beim Schriftdeutschen bis zu einer leichten Laxheit beim Ost jiddischen. Unser letzter Bereich, der l a u t l i c h e , ist im Frühneuhochdeutschen wie im gleichzeitigen Jiddisch der relativ besterforschte. Bei unserer Zielsetzung fallen hier sogleich zwei große Entwicklungen dadurch auf, daß sie im gesamten Jiddisch wie in der Mehrheit der hochdeutschen Mundarten durchgedrungen sind, im schriftlichen Deutsch aber nach vielversprechenden Anfängen wieder zurückgedrängt wurden. Die erste ist die A p o k o p e , also die Einsparung des -e im Wortauslaut. In den hochdeutschen Mundarten setzt die Apokope gegen 1200 in Bayern ein und erreicht im 16. Jahrhundert ihre heutige räumliche Ausdehnung: essentiell erhalten bleibt das -e nur im Ostmitteldeutschen und in Nordhessen. Anders die schriftliche Überlieferung des Deutschen. Sie bleibt zwar bis 1500 nur wenig hinter den Mundarten zurück. Doch im 16. Jahrhundert fallen schon hier und da Rückschritte auf. Luther kommt anfangs durch ziemlich reichliche Apokope dem Oberdeutschen entgegen. Er und mehr noch die Drucker unter seiner Aufsicht führen aber spätestens seit etwa 1528 manche -e wieder ein. Ganz parallel verfahren nach 1530 die kursächsische Kanzlei und sogar — gegen die Mundart - einige oberdeutsche Drucker. Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts dringt das -e dann allgemein in den Drucken des gesamten hochdeutschen Sprachgebiets wieder durch. Vom west- und süddeutschen Standpunkt handelt es sich also um eine Verlängerung von Hunderten von Wörtern und Wortformen. Und da in der Mehrzahl der Fälle das -e keine Funktion hat, ist eine solche Verlängerung selbst in einer Schriftsprache ungewöhnlich. Im Jiddischen wiederum macht sich die Apokope zuerst in Texten des späten 14. Jahrhunderts deutlich bemerkbar; ihren Abschluß erreicht sie im frühen 16. Jahrhundert. In der Schreibung erscheinen dann zwar gelegentlich am Wortende noch nachkonsonantische Aleph; aber neben anderen Indizien belehrt uns gegen 1540 eine ausdrückliche Feststellung, daß sie stumm sind — und bis zum Ende des Jahrhunderts verschwinden auch sie. Insgesamt nimmt das Jiddische hier also zu der Mehrheit der hochdeutschen Mundarten jene unauffällige Durchschnittsposition ein, die eigentlich die deutsche Schriftsprache haben sollte; und zwar führt es die Neuerung auch in der Schreibung ziemlich zügig durch - ganz einfach weil abstrakte Korrektheitserwägungen fehlen. Die zweite hier zu behandelnde Entwicklung ist die E n t r u n d u n g . In althochdeutscher Zeit waren im Deutschen zu den vorderen (ungerundeten) Vokalen der e-i-Reihe und den hinteren (gerundeten) Vokalen der o-w-Reihe durch den Umlaut noch vordere gerundete Vokale gekommen, also eine ö-w-Reihe. Solche ö- oder ¿¿-Vokale sind zwar in manchen Sprachen essentiell stabil (z.B. im Französischen), in vielen anderen aber seit Menschengedenken nicht vorhanden (z.B. im Lateinischen samt dem Italienischen und Spanischen). In wieder anderen sind sie durch Entrundung in der e-/-Reihe aufgegangen.

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Im hochdeutschen Bereich kündigt sich die Entrundung hier und da schon in mittelhochdeutscher Zeit an und dringt im Spätmittelalter in den meisten Mundarten voll durch, also Glück zu Glick, böse zu bese usw. Nur in drei Mundartgebieten tritt keine Entrundung ein: im Hauptteil des Ostfränkischen, ebenso des Hochalemannischen und im Ripuarischen. Eigentlich sollte also auch unsere Schriftsprache die Entrundung haben. Denn bei ihrer Entstehung spielen ja Hochalemannien und Ripuarien so gut wie keine Rolle, und innerhalb des sonstigen hochdeutschen Sprachgebiets sind Würzburg und Bamberg hoffnungslos in der Minderheit. Doch das schriftliche Deutsch bleibt nach anfänglichem Schwanken auch in diesem Punkt konservativ: im 15. Jahrhundert nehmen die Entrundungsgraphien noch sehr deutlich zu; in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts scheinen sie ungefähr zu stagnieren; seit etwa 1550 nehmen sie in der Gesamtüberlieferung deutlich ab und finden sich nach 1600 wenigstens in den Drucken fast nur noch in bestimmten Einzel Wörtern. Doch war in den Gebieten mundartlicher Entrundung die schriftsprachliche Bewahrung noch lange im wesentlichen nur eine graphische. Denn unter anderem praktizierten der Schlesier Opitz, der Lausitzer Lessing, der Schwabe Schiller in ihrer mündlichen Sprache die Entrundung, ebenso lange Zeit der Frankfurter Goethe. Wie ferner der Germanist Rudolf Hildebrand aus dem Leipzig seiner Jugendzeit berichtet, herrschte dort um 1830 die Entrundung noch im erhabensten öffentlichen Redestil. Dann begann ein neuer Schuldirektor die gerundete Aussprache zu praktizieren. Sie klang nach Hildebrand „zuerst unausstehlich geziert und lebenswidrig", wurde aber binnen eines Jahrzehnts von den meisten Leipziger Deutschlehrern übernommen, auch von Hildebrand selbst. Unter diesen Umständen kann man die Rettung der ö-ü-Reihe im schriftlichen Deutsch des 16. Jahrhunderts nicht gut aus der Mündlichkeit einer städtischen Oberschicht, sondern nur aus der Schriftlichkeit selbst erklären. Dort ist die Ursache leicht zu finden: solange z.B. in »Dörfer' ein o (mit oder ohne e superscriptum) erscheint, ist die Zugehörigkeit zu ,Dorf visuell klarer zu erkennen als bei der Schreibung derfer. Wie geradlinig ist demgegenüber die jiddische Entwicklung! Entrundungsbelege finden wir zuerst im 15. Jahrhundert. Etwa seit 1500 nehmen sie deutlich zu, sind aber bis zur Jahrhundertmitte anscheinend noch in keinem Text in der Mehrheit. Zwischen 1550 und 1600 steigen sie dann zur graphischen Norm auf. Nach 1600 haben fast alle Originaltexte Rundungsgraphien nur noch relikthaft oder gar nicht mehr. Hier erinnert uns also das Jiddische daran, daß Schriftlichkeit keineswegs zwangsläufig mit der Bewahrung älterer Sprachzustände oder mit dem etymologischen Prinzip verbunden ist. Wir sind am Ende unseres Vergleichs und können zusammenfassen. In den wesentlich instrumenteilen Bereichen der Sprache, also in Syntax, Formenbau und Lautstand, ist das Jiddische noch bis ins 15. Jahrhundert dem Deutschen recht ähnlich, bildet dann aber speziell zur deutschen Schriftsprache des (fortgeschrittenen) 16. und des 17. Jahrhunderts einen lehrreichen Gegensatz. Und zwar fehlen auch dem schriftlichen Jiddisch in diesen Bereichen fast völlig die Ambitionen, die das gleichzeitige Schriftdeutsch prägen; stattdessen herrscht eine unprätentiöse, praktizistische Haltung vor. Sie ist aus heutiger Sicht sowohl theoretisch wie historisch zu rechtfertigen. Theore-

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tisch dadurch, daß es in diesen instrumenteilen Bereichen keine bessere Norm geben kann als die unauffällige Bewährung im spontanen Gebrauch; und historisch dadurch, daß die jiddische Entwicklung ihre Analoga in den Sprachen des neueren indoeuropäischen Typs hat, unter anderem also in der Mehrzahl der germanischen Sprachen und selbst in den deutschen Mundarten. Verwendet man als Kontrast zur deutschen Schriftsprache des 16. und 17. Jahrhunderts nur die deutschen Mundarten, so liegt der Einwand nahe, der funktionale Unterschied legitimiere den strukturellen. Und verwendet man z.B. das Englische oder Dänische, so der Einwand, die Auseinanderentwicklung oder doch deren Keime seien sehr alt. Am Jiddischen hingegen, zumindest am schriftlichen, verlieren beide Einwände ihre Überzeugungskraft. Spätestens wenn man alle drei Kontraste zusammen betrachtet, wird klar, daß die erklärungsbedürftige Seite die deutsche Schriftsprache ist und daß die Erklärung essentiell eine sozialgeschichtliche sein muß.

Ulrike Kiefer (New

York)

Das deutsch-jiddische Sprachkontinuum: neue Perspektiven1

Das Projekt, das ich Ihnen hier vorstellen möchte, hat die Geographie zweier Sprachen zum Ausgangspunkt: die Varianten des Deutschen und des Jiddischen — genauer des Ostjiddischen - sollen, räumlich koordiniert, in ihrer Beziehung zueinander untersucht werden. Sprachgeographie, herkömmlicherweise eher auf Mundartgeographie bezogen, wird hier sozusagen zu ,Sprachengeographie', in der sich die Perspektive ein Stück entfernt und Rahmen und Maßstab vergrößert haben, Mittel und Ziel jedoch dieselben bleiben: auf einer Grundkarte, die die beiden Sprachgebiete integriert, werden ausgewählte sprachliche Einheiten kartiert und in ihrer Verbreitung verglichen, mit dem Ziel, Konstellationstypen festzustellen und der Art ihrer geographischen und chronologischen Dynamik auf die Spur zu kommen. Mit einem solchen Projekt eröffnen sich neue und weitreichende Möglichkeiten mit Blick auf die Zuordnung der beiden Sprachen zueinander, in typologischer sowie genealogischer Hinsicht. Im Licht der Kontroversen bei der Definierung des Verwandtschaftsverhältnisses zwischen dem Jiddischen und Deutschen bietet das hier vorgestellte Projekt Ansätze zu neuer Einschätzung und Überprüfung. Für beide Sprachen wurden in den letzten Jahrzehnten umfangreiche Datensammlungen verfügbar, die nicht nur Gelegenheit zu einer Vielfalt an Untersuchungen auf dem Gebiet der vergleichenden Dialektologie geben, sondern zugleich die empirische Grundlage zu systematischem Vorgehen liefern. Seit der Begründung durch Uriel Weinreich in den späten fünfziger Jahren befinden sich an der Columbia Universität in New York die Archive der Forschungsstelle des Jiddischen Sprach- und Kulturatlas. 2 Seit Weinreichs Tod 1967 steht das Projekt unter der Leitung von Marvin Herzog. 3 Obwohl die Publikation von separaten Atlasbänden bisher noch aussteht, haben sich in der Vergangenheit schon eine Reihe von Einzeluntersuchungen auf die dort vorhandenen Materialien gestützt. Der vorliegenden Arbeit dienen die New Yorker Archive als Grundlage für den jiddischen Teil. 1

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Dieses Referat stellt ein Projekt vor, das als Dissertationsvorhaben an der Columbia University, New York, angenommen wurde. Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry, im folgenden LCAAJ. Unter seiner Leitung an Columbia befindet sich seit 1981 auch die Zentralstelle des jiddischen Wörterbuchprojektes: Groyser verterbukh fun der yidisher shprakh. Bd. 1 - 2 hrsg. von J.A.Joffe und Y.Mark. New York 1961/1966. Bd. 3 - 4 hrsg. von Y.Mark. New York 1971/1980. Bd. 5 - 1 2 in Vorbereitung, hrsg. von M. I. Herzog et al. New York (Columbia University).

Das deutsch-jiddische

Sprachkontinuum

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Für die Gegenüberstellung mit dem Deutschen gründet sich die Untersuchung auf drei bzw. vier Quellen: 1. die zwei Bände des „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen" von Jürgen Eichhoff. 4 Über die Grenzen des von Eichhoff behandelten Gebietes hinaus werden 2., soweit vorhanden, Paul Kretschmers Angaben aus der „Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache" 5 verwendet. Als dritte Quelle fungiert Werner Königs „Dtv-Atlas zur deutschen Sprache". 6 Das handliche Bändchen bietet eine anschauliche Synopse von Karten des „Deutschen Sprach- und Wortatlas", auf deren umfangreiche Materialien zum Zwecke der Präzision und größeren Details immer zurückgegriffen werden kann. 7 Abbildung 1. illustriert geographisch und nach gegenwärtigem politischen Stand den Sprachbereich, den die vorliegende Untersuchung durch Integrierung der behandelten Quellen umfaßt. Auf der Karte ist der Westen praktisch gleichbedeutend mit dem Deutschen, der Osten mit dem Jiddischen. Überlagerungen ergeben sich nur in Ausnahmefällen für eine Handvoll kleinerer Gebiete wie etwa das Elsaß und Siebenbürgen, insofern der LCAAJ jiddische Meldungen im Westen und Kretschmer deutsche Meldungen im Osten verzeichnet. Der nur spärlich mit Nummern versehene Raum vom Norden und Westen Polens über die Tschechoslowakei nach Ungarn und dem Osten Rumäniens weist auf eine Informationslücke zwischen dem westlichen und östlichen Bereich hin. Im Falle des adaptierten WK-Materials ist er zwar im Norden noch ein gut Teil weiter abgedeckt durch die Information aus den ehemaligen deutschen Sprachgebieten. Bei der Einschätzung der Kartenbilder muß für den undokumentierten Raum jedoch mit einer Unbekannten operiert werden. Chronologisch gesehen überspannt die Information aus den Quellensammlungen einen Zeitraum von rund 70 Jahren. Das jiddische Sprachmaterial, das hauptsächlich in den sechziger Jahren durch Erhebungen unter Emigranten vor allem in Israel und den USA gesammelt wurde, war so konzipiert, daß es den Stand der Sprache im ehemaligen Sprachgebiet reflektiert, vor der Vernichtung im Zweiten Weltkrieg. 8 Damit steht es zeitlich dem bei WK repräsentierten Inventar des DWA am nächsten, für den die indirekten Befragungen 1939 durchgeführt wurden. 9 Die Angaben Kretschmers beziehen sich auf einen rund zwanzig Jahre früheren Zeitpunkt, er zog seine Erkundungen von 1909 bis

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Jürgen Eichhoff: Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. 2 Bde. Bern/München 1977/78. Im folgenden: JE. Paul Kretschmer: Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache. Göttingen 2 1969. Im folgenden: KRE. Werner König: Dtv-Atlas zur deutschen Sprache. München 1978. Im folgenden: WK. Deutscher Sprachatlas (DSA). Bearb. von F. Wrede, B. Martin, W. Mitzka. Lieferung 1 - 2 3 . Marburg 1 9 2 7 - 5 6 . - Deutscher Wortatlas (DWA). Bd. 1 - 4 hrsg. von W. Mitzka, Bd. 5 - 2 0 hrsg. von W. Mitzka und L. E. Schmitt. Gießen 1 9 5 1 - 7 3 . Vgl. U. Weinreich: Multilingual Dialectology and the New Yiddish Atlas. In: Anthropological Linguistics Bd. 4, Nr. 1 (1962), S. 7. Siehe W. Mitzka: Einführung zum D W A Bd. 1. Gießen 1951.

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1915 ein (KRE, S. 28). Eichhoffs Darstellungen hingegen reflektieren den jüngsten Stand, es ist eine Sammlung aus den siebziger Jahren. Auch sprachsoziologisch gesehen variieren die Quellen. Die für das Deutsche charakteristische Trennung zwischen Mundart und Umgangssprache tritt bei dieser Untersuchung zunächst in den Hintergrund. Das ist zum einen bedingt durch den relativ großen Maßstab bei der Variantenprojektion. Zum anderen aber unterscheiden sich die Gegebenheiten im Jiddischen erheblich von denen des Deutschen. Wenn auch die soziolinguistischen Bedingungen für das Jiddische noch gründlicher Forschung bedürfen, können wir von dem Fehlen der für das Deutsche etablierten Dreiteilung in Mundart, Umgangssprache und Standardsprache ausgehen. Darüber hinaus haben wir in bezug auf dialektale Variationsgrade sowie die Überdachung durch eine Standard- bzw. Schriftsprache mit weitaus anderen Phänomenen zu rechnen als im Deutschen. 10 Trotz dieser Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit des Quellenmaterials zeichnen sich aber noch immer hinreichende Strukturen bei der Kartierung ab, die schrittweise Aussagen und vorsichtige Interpretationen zulassen. Indirekt ist bereits klar geworden, daß es sich bei dieser Studie um eine hauptsächlich lexikalische Untersuchung handelt. Natürlich wird es wünschenswert sein, den Vergleich zu einem späteren Zeitpunkt durch die Analyse anderer Teile der Grammatik zu ergänzen. Eingestandenermaßen ist aber das Lexikon der für sprachgeographische Studien zugänglichste und geschmeidigste Bereich. Es ist darüber hinaus der für Sprachvorgänge im allgemeinen empfänglichste Teil, der sprachliche Landschaften in detaillierterer Form und mit größerer Varianz veranschaulicht als etwa das Lautsystem. Die vorliegende Untersuchung befindet sich sozusagen in guter Gesellschaft, seit das Projekt des Europäischen Sprachatlas' seine Serie 1983 mit einem Band Wortgeographie begann. 11 Die Überschreitung von Sprachgrenzen bei linguistischen Darstellungen ist nicht neu. Von früher Zeit an enthielten Sprachatlanten mehrsprachige Information, oft gewissermaßen als Nebenprodukt, bedingt etwa durch die fließenden Übergänge bei der linguistischen Definierung von ,Dialekt' gegenüber ,Sprache', 12 oder auch wenn sich anderssprachige Gebiete oder Gruppen im untersuchten Raum befanden. Die ersten Sprachatlanten jedoch „gehen grundsätzlich von einem relativ einheitlichen sprachlichen Ganzen aus,

10

Vgl. dazu W. Besch: Dialekt, Schreibdialekt, Schriftsprache, Standardsprache. Exemplarische Skizze ihrer historischen Ausprägung im Deutschen, in: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Hrsg. von W. Besch et al. 2. Halbbd. Berlin/New York 1983, S. 9 6 1 - 9 9 0 . D. Katz: Zur Dialektologie des Jiddischen, ebd. S. 1 0 1 8 - 1 0 4 1 (bes. Kap. 9, S. 1 0 3 2 - 1 0 3 5 ) .

11

Dies ausdrücklich „in voller Übereinstimmung mit Klaas Heeroma" 1956, nach dem eine „Erforschung der Wortgeographie leichter zu einer europäischen Wissenschaft wird als eine Erforschung der Lautgeographie". Atlas Linguarum Europae (ALE). Introduction. Hrsg. von A . Weijnen et al. Assen 1975, S. 178f.

12

A L E (Anm. 11), S. 165f.

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Sprachkontinuum

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dessen Differenzierung in lokale und regionale Varianten erfaßt wird". 13 Diese Konzeption erweitert sich dann mit dem Sprachatlas des Mittelmeerraumes, der bewußt verschiedene Sprachen und Systeme verschiedener Sprachfamilien darstellt. 14 Inzwischen haben wir mit dem Unternehmen des Europäischen Sprachatlas das vorerst beste Beispiel für Grenzüberschreitungen sprachgeographischer Konzeption vor Augen. Bei der Zielorientierung sprachwissenschaftlicher Studien, die zwei oder mehrere Sprachen behandeln, läßt sich eine ähnliche Aspekterweiterung feststellen. Zum einen haben wir es mit Abhandlungen zu tun, die Phänomenen nachgehen, deren Geltungsbereich nicht auf das eine oder andere Sprachgebiet beschränkt bleibt, oder auch mit Studien von Grenzbereichen und den dort stattgefundenen (und stattfindenden) Übergängen zwischen den aneinandergrenzenden Sprachen. 15 Zum anderen läßt sich vor allem seit den fünfziger Jahren die Tendenz zu sprachwissenschaftlicher Komparatistik erkennen, das Ziel, Sprachberührungen und Interdependenzen in umfassenderem Sinn auf den Grund zu gehen, auch bei Nichtbestehen genetischer Beziehungen. Uriel Weinreichs Pionierwerk von 1953 16 nimmt hier einen zentralen Ort ein, und die Sprach(en)kontaktforschung ist inzwischen zu einem Begriff geworden. 17 In der Dialektologie deuten Begriffe wie bilingual /multilingual dialectology, double dialect geography, kontrastive Sprachgeographie auf den neuen Zugang hin. 18 Das „geographische Studium zweier Sprachen auf demselben Gebiet", 19 die „vergleichende Analyse der geographischen Aufteilung von Sprechergruppen auf ein und demselben Gebiet", 20 erlaubt es, Erklärungen und Hypothesen für die eine Sprache an den Gegebenheiten der anderen zu überprüfen und neues Licht auf sprachgeschichtliche Fragen zu werfen, wie es in Untersuchungen unabhängig voneinander nicht erreicht werden könnte. Inzwischen scheint festzustehen, daß mehrsprachige Dialektologie eine zusätzliche methodologische Möglichkeit neben inner- und außerlinguistischem Zugang bietet. 13

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B. Kratz: Plurilinge Atlanten. In: Sprachatlanten. Hrsg. von M. Durreil et al. Wiesbaden 1969, S. 29. Kratz (Anm. 13), S. 3 3 - 3 5 . Vgl. A L E (Anm. 11), S. 171, über J. Goosens Untersuchung des h im Niederländischen und Wallonischen z.B. Weitere Beispiele: Th. Frings: Germania Romana. Halle 1932. G. Bellmann: Slavo-teutonica. Lexikalische Untersuchungen zum slavisch-deutschen Sprachkontakt im Ostmitteldeutschen. Berlin/New York 1971. U. Weinreich: Languages in Contact. New York 1953. Dt. Ausgabe unter dem Titel „Sprachen in Kontakt". Hrsg. von A. de Vincenz. München 1977. „Durch seine Feststellung, daß der räumliche Kontakt zweier Sprachen gegenseitige Interferenzen hervorruft, auch wenn diese beiden Sprachen nicht zur gleichen Familie gehören, hat Weinreich gezeigt, daß die Linguistik in ihren Fragestellungen notwendigerweise die Sprachgrenzen überschreiten muß, da benachbarte Sprachen sich nicht isoliert voneinander je auf einer Seite dieser Grenze entwickeln." ALE (Anm. 11), S. 168. Vgl. die Titel in Anm. 19,20, 25 unten, sowie Carol Reed: Double Dialect Geography. In: Orbis 10 (1961), S. 3 0 8 - 3 1 9 . „A geographic study of two languages in the same territory", U. Weinreich: Dialectology (Anm. 8), S. 6. „The comparative analysis of geographic fragmentation of coterritorial speech communities", U. Weinreich: The Geographic Makeup of Belorussian Yiddish. In: The Field of Yiddish, Bd. 3. Hrsg. von M. Herzog et al. Den Haag 1969, S. 83.

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Mehrsprachigkeit als sprachliche Bedingung, für die meisten Sprachen eine Randerscheinung in Grenzgebieten, ist für das Jiddische die Regel. Dies bezieht sich einerseits auf das jeweilige Sprachgebiet, das Jiddisch immer mit koterritorialen Sprachen teilte, andererseits auf die Sprecher selbst, deren ständiger Kontakt mit der jeweiligen Landessprache zum einen und dem Komponentenbewußtsein innerhalb der eigenen Sprache zum anderen zu einem höheren Grad an individueller Mehrsprachigkeit führte als bei Sprechern anderer Sprachen. Weinreich wies denn auch gleichzeitig auf das Jiddische als einem besonders geeigneten Studienobjekt für die Sprachenkontaktforschung hin. Er selbst und Marvin Herzog machten mit einer Reihe von Vergleichsstudien zwischen dem Jiddischen und slawischen Sprachen den Anfang auf diesem Gebiet. Für den Vergleich mit dem Deutschen griff Hans Peter Althaus den Ansatz auf und befürwortete eine kontrastive Sprachgeographie zwischen dem Westjiddischen und dem Deutschen einerseits und dem Ostjiddischen und dem osteuropäischen Sprachinseldeutschen andererseits. 21 Alle diese Arbeiten und Forschungsansätze gehen von einer ,vertikalen' Perspektive bei der Erforschung des Sprachenkontaktes aus und setzen das Jiddische in Beziehung zu den jeweiligen Sprachen, mit denen es sein Sprachgebiet in räumlicher Überlagerung teilt. Die vorliegende Studie hingegen hat eine .horizontale' Perspektive zur Grundlage und untersucht Deutsch und Ostjiddisch in ihrem geographischen Nebeneinander. Dabei sollen die beiden Sprachen in ihrer Rolle als definierte Einzelsysteme sowie in ihrer jeweiligen herkömmlichen dialektalen Untergliederung zunächst in den Hintergrund treten. Ziel ist es, auf dem von beiden Sprachen geteilten Gesamtraum Entsprechungen und Oppositionen bei einer Serie von Kartenbildern festzustellen. Auf diese Weise wird das beide Sprachgebiete umfassende räumlich-geographische Kontinuum auf seine sprachlichen Segmentierungen hin untersucht und einander zugeordnete wie kontrastierende Landschaften herausgearbeitet. Die entstehenden Muster und Verbreitungstypen werden dann - so steht zu hoffen - das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zwischen beiden Sprachen konkretisieren und lokalisieren und damit die Umrisse des deutsch-jiddischen Sprachkontinuums schärfer zeichnen. Durch die besonderen Gegebenheiten des Jiddischen sind wir in der Lage, bei diesem Vorgehen von einer zusätzlichen Möglichkeit zu Vergleich und Kontrolle zu profitieren, denn derselbe geographische Raum, der das Deutsche und das Ost jiddische umfaßt, beherbergt zugleich das sprachliche Kontinuum des West- und Ostjiddischen. Soweit es die Bedingungen des westjiddischen Sprachmaterials erlauben - das Westjiddische ist ja nur in Reliktformen bzw. indirekt aus schriftlichen Quellen bis etwa 1850 erfaßbar-, können innerjiddische Konstellationen als Parallelen herangezogen werden. Sie werden entweder mit den aus dem Vergleich Deutsch-Ostjiddisch gewonnenen Strukturen kongruieren oder müßten in ihren Abweichungen begründet werden können.

21

H. P. Althaus: Ansätze und Möglichkeiten einer kontrastiven Sprachgeographie. Jiddisch — Deutsch. In: Z D L 36 (1969), S. 1 7 4 - 1 8 9 .

Das deutsch-jiddische

Sprachkontinuum

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Bei dem vorliegenden deutschen und jiddischen wortgeographischen Material macht man die Beobachtung, daß der Varianz im Deutschen häufig absolute oder relative Einheitlichkeit im Jiddischen entspricht. 22 Es versteht sich von selbst, daß wir kaum Beispiele für den umgekehrten Fall zu verzeichnen haben, solange wir beim Vergleich von deutschem Material ausgehen. Doch läßt sich inzwischen absehen, daß wir auch bei entgegengesetztem Ansatz mit erheblich weniger Illustrationen für die komplementäre Konstellation rechnen können. Es ist im Hinblick auf die sprachräumlichen Proportionen besonders auffallend, daß der Osten viel häufiger uniform einem in mehrere Lexeme unterteilten Westen gegenübersteht als umgekehrt der Westen dem Osten. Hier scheint ein Fall vorzuliegen, an dem die in der Literatur oft zitierte Überregionalität und dialektale Ausgleichstendenz im Jiddischen im Kontrast zum Deutschen konkret faßbar wird. 23 Bei der Wortgeographie im Deutschen hat sich sowohl für die Dialekte als auch für die Umgangssprachen die Nord-/Süd-Entsprechung als die bei weitem vorherrschende Konstellation erwiesen. Reiner Hildebrandt rechnet „ein gutes Viertel aller signifikanten Fälle" von den 200 DWA-Karten zu dieser Rubrik. 24 Horst Haider Munske bezeichnet die Nord-Süd-Gliederung sogar für „mehr als die Hälfte aller Karten" im ersten JE Band als „charakteristisch". 25 Auf lexikalischem Gebiet erhärtet sich damit die prägnante lautliche Opposition zwischen dem Norden und dem Süden, auf die die herkömmliche Differenzierung zwischen Nieder- und Hochdeutsch gegründet ist. Jiddisch gesellt sich in diesen Fällen oft zum deutschen Süden - eine Reihe solcher Beispiele finden sich in Abbildung 2 - und bestätigt damit die allgemein verbreitete These, es habe lautlich und sprachhistorisch gesehen nur mit dem Hoch- nicht aber mit dem Niederdeutschen zu tun. 26 Entgegen solchen Erwartungen jedoch entdecke ich eine ganze Reihe Fälle, in denen das ganze oder ein Großteil des jiddischen Sprachgebiets gerade mit der nördlichen Form verbunden ist, während die süddeutsche Form im Jiddischen entweder nur in begrenzten Gebieten Kontinuität zeigt oder aber überhaupt nicht vertreten ist.

22

Bei den Bezeichnungen der Heiratsverwandtschaft etwa, die im Deutschen auf der mundartlichen Ebene jeweils zwei, wenn nicht drei oder vier lexikalische Typen aufweisen - siehe Schwiegertochter, Sohnsfrau, Söhnere, Schnur, oder Schwiegersohn, Tochtermann, Eidam (WK, S. 1 6 8 - 1 7 0 ) - hat Jiddisch in allen Fällen nur einen Ausdruck, und zwar Wortverwandte der jeweils ältesten deutschen Form: snur, ejdem, sver, swiger.

23

F. Beranek z.B. spricht von der „Tendenz des Jiddischen zur Großräumigkeit", Westjiddischer Sprachatlas. Marburg 1965, S. 1. R. Hildebrandt: Typologie der arealen lexikalischen Gliederung deutscher Dialekte aufgrund des Deutschen Wortatlasses. In: Dialektologie (Anm. 10), 2. Halbbd., S. 1334. H. H. Munske: Umgangssprache als Sprachenkontakterscheinung. In: Dialektologie (Anm. 10), 2. Halbbd., S. 1015. Vgl. etwa J. Bin-Nun: Jiddisch und die deutschen Mundarten. Tübingen 1973, S. 77f. sowie M. Weinreich: Geshikhte fun der yidisher shprakh. Bagrifn, faktn, metodn. New York 1973, Bd. 2, S. 77.

24

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Jung/jing wird im Jidd. überregional verwendet, während sich für die süddt. Form Bub(e) keine Entsprechung findet (s. JE Bd. 1, Karte 1). Desgleichen können wir knajpn ,kneifen' als jidd. überregional gültig annehmen, 27 Wortverwandte der süddt. Ausdrücke zwicken und petzen (s. JE Bd. 1, Karte 10) treten nicht auf. Mit /Wstik verzeichnet Jiddisch nur eine Parallele zur norddt. Wortform, Entsprechungen für Vesper oder Brotzeit (s. JE Bd. 1, Karte 35) sind nicht vorhanden. In sprachlicher Kontinuität mit dem dt. Norden hat im Jidd. die Bezeichnung stelmax für ,Stellmacher' (auch stelmax und stelmaxer) die weiträumigste Verbreitung, während die süddt. Form Wagner (s. WK S. 194) nur in einer Einzelmeldung im Süden eine Parallele findet. Der allgemein gültige Ausdruck für .Schmerzen' im Jidd. ist vejtik, das dem deutschen Wehtag entspricht. Die WK Karten zeigen diese Form im Norden, vor allem Nordost, einschließlich Teilen des früheren Ostpreußen, sowie in Reliktgebieten an Main und Eger. 28 Im Jidd. ist eine Parallele zum süddt. Typ Weh, jidd. vej, im Südwesten vereinzelt vertreten. Weiterhin westlich, von Südpolen bis südlich des früheren Ostpreußen sowie in jidd. .Kurland' findet sich eine Entsprechung zu mitteldt. Schmerzen, wenn auch nur lose gestreut und fast immer im Verband mit vejtik. Dt. Reißen, bei JE im Erzgebirgischen belegt, 29 taucht im Jidd. zweimal als Verbform auf (52327: s'rajsn mir di tsejner; 49248: s'ra: st mer de bak). Auf Abb. 3 sehen wir jidd. lejdik in der Bedeutung ,leer' ( = ,das Glas ist leer') als die allgemein gültige Form, die einzig im Südwesten keine Verbreitung aufweist. Fast das gesamte jidd. Sprachgebiet ist somit mit dem dt. Norden (vor allem Nordwest) verbunden, in dem ledig vertreten ist (s. DWA Bd. 4). Im Westen des jidd. Sprachgebiets und weniger dicht auch noch nordöstlich (Weißrußland) findet sich eine Parallele zum süddt. Typ leer-, im jidd. Südwesten wird diese Wortform ausschließlich gebraucht. 30 Zusätzlich gibt es eine Reihe anderer Fälle, bei denen anstelle des gesamten jidd. Sprachgebiets nur gewisse Teile im Norden sprachliche Kontinuität mit nördlichen deutschen Formen aufweisen, wie auf den Abb. 4 und 5. Derartige Konfigurationen können uns Einblick in sprachliche Interaktionsbahnen geben und Kanäle für die linguistische Verbreitung durch Sprach- oder Sprecherbewegungen sichtbar werden lassen. Ostjiddisch für sich gesehen weist bei einem Großteil der Karten diagonal verlaufende Isoglossen auf. Im Gegensatz zum Deutschen, wo die vorherrschende Nord-Süd-Entsprechung - mit oder ohne eigenständiger Mittelzone - durch horizontale Trennungslinien bestimmt ist, durchzieht ein großer Teil Isoglossen das jiddische Gebiet von Nordwest (Polen, südlich des ehemaligen Ostpreußen) nach Südost (Ukraine). Sie setzen dabei den Nordosten (Lettland, Litauen, Weißrußland, Rußland und den Osten der Ukraine) als gesonderte Einheit ab (siehe Beispiele Abb. 6).

27 28 29

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Es ist in den Erhebungen des LCAAJ nicht aufgenommen. Siehe WK, S. 174 .Bauchschmerzen', und S. 175 .Kopfschmerzen'. Unveröffentlichtes Material, „Frage 11", .Zahnschmerzen'. An dieser Stelle möchte ich Jürgen Eichhoff, University of Wisconsin, danken, der mir zu diesem Projekt bereitwillig auch unveröffentlichtes Datenmaterial zur Verfügung stellte. Im Jiddischen erscheint noch eine dritte Variante, pust, lose über fast das gesamte Gebiet verteilt.

Das deutsch-jiddische

Sprachkontinuum

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Aus dem Richtungsverlauf dieser Sprachlinien im Ostjiddischen läßt sich ersehen, daß hier die West-Ost-Dynamik eine bedeutendere Rolle spielt als im Deutschen. Allerdings haben wir es nicht eindeutig mit einer West-Ost-Staffelung zu tun: die Diagonalneigung reflektiert sozusagen eine Mittelstellung zwischen West-Ost- und Nord-Süd-Achse bei der Charakteristik des Jiddischen. Der Verlauf von Nordwest nach Südost (nicht von Nordost nach Südwest etwa) setzt das lettisch-litauisch-russische Jiddisch als ,Norden' vom südlicheren polnisch-ukrainischen ab. Dieser Diagonalverlauf wird im übrigen gestützt durch das Bild phonologisch signifikanter Isoglossen, die sich im Nordwesten von Masurien bündeln und nach Südosten hin auffächern (siehe Abb. 7). Marvin Herzog 31 und Uriel Weinreich 32 haben sowohl auf strukturelle als auch auf siedlungsgeschichtliche Korrelationen für diese Bündelung hingewiesen. Auf dem Hintergrund der jiddischen Sprachverbindungen zwischen dem Nordosten Polens und der Ukraine, die, wie es scheint, unter anderem politische Vorgänge um 1600 spiegeln, ist es besonders interessant, auf einer Reihe von Kartenbildern Parallelen des jiddischen Nordostens mit dem Südwesten zu entdecken. Hier scheinen Spuren eines früheren Sprachzustands faßbar, den es noch weiter auszuforschen gilt. Die Zuordnung des so diagonal unterteilten jiddischen Sprachgebiets zum Deutschen ist nicht eindeutig. Sowohl der jidd. Nordosten als auch das südlichere Gebiet können sich im Einklang mit dem dt. Norden als auch Süden befinden bzw. mit nord-, mittel- und süddt. Teilgebieten. Da Sprachlinien kaum willkürlich verlaufen, wird man selbst bei dieser Varianz mit gewissen Rück- und Aufschlüssen rechnen können, vor allem bei gegenseitiger Abwägung der Fälle. 33 Auf anderen Karten verlaufen die jiddischen Sprachlinien weiter im Westen, wie etwa Abb. 8 zeigt, und in weiterer Abwandlung Abb. 9. Es ist klar, daß wir gegenüber den früheren Raumverteilungen beim letzteren Typ mit einem zusätzlichen Faktor zu tun haben: hier spiegelt sich der direkte und anhaltende Kontakt mit dem Deutschen, in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, je nach der zeiträumlichen Dynamik. Regionen in der Mitte des geographischen Kontinuums treten dabei häufig als Sonderbereiche auf und setzen sich von den Gebieten zu ihren Seiten ab. Im Zusammenhang mit Querverbindungen des Jiddischen mit dem deutschen Norden kamen wir oben schon auf Beispiele für ein nördliches deutsch-jiddisches Kontinuum zu sprechen. Die Abb. 10 und 11 zeigen das südliche Gegenstück dazu. Dieses südliche Kontinuum zwischen dem deutschsprachigen Süden und dem jiddischen Südwesten erweist sich proportional gesehen als besonders produktiv und variationsfähig. 31

32 33

The Yiddish Language in Northern Poland. Its Geography and History. Bloomington/Den Haag 1965, Kap. 6, S. 2 3 5 - 2 7 0 sowie Yiddish in the Ukraine. Isoglosses and Historical Inferences. In: Field of Yiddish (Anm. 20), S. 5 8 - 8 1 . Geographie Makeup (Anm. 20), bes. S. 8 6 - 8 9 . Karte aus U. Kiefer: Das Jiddische in Beziehung zum Mittelhochdeutschen. In: Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache. Hrsg. von W. Besch et al. Bd. 2 Berlin/New York (im Druck).

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Illustrationen aus dem westjiddisch-ostjiddischen Kontinuum 34 unterstreichen die aus dem sprachgeographischen Vergleich des Deutschen mit dem Ostjiddischen abgeleiteten Verbreitungstypen. Abb. 12 etwa zeigt die Verbreitung der Bezeichnungen für den Chanukkawürfel: die westliche Form tren dl reicht im Norden und im Süden weit nach Osten hin und spiegelt somit das oben beobachtete nördliche und südliche Kontinuum. Verfl und gor setzen den Nordosten ab, drejdl ist im Osten fast überall vertreten, kommt als ausschließlicher Ausdruck jedoch nur in dem Diagonalgebiet Polen-Ukraine vor. Auf den Abb. 13 und 14 setzen sich Gebiete in der Mitte von ihrer jeweiligen Westund Ostseite ab. Die angeführten Beispiele, so hoffe ich, geben einen ersten Einblick in die Struktur des jiddisch-deutschen Sprachraums. Es ist offensichtlich, daß wir es in diesem geographischen Kontinuum mit einer Dynamik des Kontaktes zu tun haben, die die Sprachgrenzen überschreitet. Nur eine beide Gebiete umfassende Erstellung und Analyse sprachlicher Konfigurationen kann sie daher faßbar machen. Bei dieser Untersuchung fungiert das Jiddische sozusagen als Mitkonstituente eines Teils des germanischen Sprachkontinuums. Dies kann allerdings nur als eine seiner Rollen betrachtet werden, die Kontinuitätsverhältnisse zu den übrigen Herkunftssprachen bedürfen weiterer Untersuchung. Zum Beispiel wäre die Erstellung einer umfassenden Studie der jiddischen und slawischen Distributionen im Vergleich zueinander ein naheliegendes Desiderat und würde es ermöglichen, Horizontal- und Vertikalaspekt bei der Sprachenkontaktforschung zu vereinigen. Minutiöse Detailarbeit in der Mundartforschung, die sich besonders im Deutschen als so aufschlußreich erwiesen hat, kann den Blick für übergeordnete Zusammenhänge nicht ersetzen. Solchen will das vorgestellte Projekt sozusagen mit Weitwinkel auf die Spur. Nachsatz Im Anschluß an die Wege und Abwege der Forumsdiskussion während des Kongresses in Göttingen seien folgende Bemerkungen angeführt: 1) Hier nicht - wie wohl nirgends mehr - soll Sprachgeographie Sprachgeschichte ersetzen. Allerdings wird bei diesem Projekt die der Sprachgeographie neben Sprachdokumenten früherer Epochen zukommende Rolle als wertvolle Informationsquelle zur Erarbeitung und Präzisierung sprachgeschichtlicher Perspektiven wahrgenommen. 2) Das vorliegende Projekt versteht sich nicht als Sprachatlas, sondern als Studie, die aufgrund von früher erarbeitetem sprachgeographischen Material strukturelle und historische Zusammenhänge zwischen zwei Sprachen untersucht. 34

Ich möchte hier der New Yorker Projektstelle des LCAAJ danken, die es mir ermöglichte, die folgenden Karten aus den zum Druck vorbereiteten Materialien zu Bd. 1 des Jiddischen Sprachatlas zusammenzustellen.

Das deutsch-jiddische

Sprachkontinuum

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3) Um die theoretische Idealforderung einer strikten Datensynchronie anstreben zu können, müßten wir bei diesem Projekt die Geschichte um 50 Jahre zurückdrehen: Neuerhebungen sind für das deutsch-jiddische Sprachkontinuum im oben umrissenen Sprachraum nicht mehr möglich. Schon das LCAAJ-Projekt hatte unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen zu operieren: Erhebungen nicht ,in situ', sondern unter Emigranten, Befragung auf einen rund 30 Jahre früheren Sprachstand hin, hohe Interferenzmöglichkeit bei den Belegen durch Sprecherkontakt mit anderen Dialekten sowie anderen Sprachen. Mit der Entstehung definitiver Raumbildung bei der Kartierung jedoch und vor allem mit der Bestätigung arealtypischer Verteilungen durch Wiederkehr bei einer Serie von Kartenbildern verringern sich die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Datenmaterials. 4) Bei der Erfassung und Repräsentation sprachgeographischen Materials ist notwendigerweise Abstraktion im Spiel: nur der Grad der Abstrahierung ist unterschiedlich je nach Erhebungsmethode, Belegdichte, Informantenauswahl, Darstellungsart, geographischem Maßstab usw. Bei der methodologischen Entscheidung zwischen - und Beurteilung von - mikroskopischer Detailforschung und makroskopischer Strukturanalyse sollte das Untersuchungsz/e/ den Ausschlag geben. [Wenn bei einer Informationsquelle mit hohem Abstraktionsgrad - wie WK - bei Bedarf immer auf die konkreten und detaillierten Originaldaten (DWA, DSA) zurückgegriffen werden kann, so ist der Gebrauch einer solchen Quelle sicherlich dem eines Kartenmaterials vorzuziehen, das nur Abstrahierung bietet - wie Beranek 1965 (s. Anm. 23).] 5) Durch die (horizontale) Kombinierung der Ergebnisse zweier Sprachgeographien erweitert diese Studie die bisherigen Grenzen der Sprachgeographie. Daß darüberhinaus Koppelungen mit dialektgeographischen Parallelstudien (Westjiddisch - Ostjiddisch) und zusätzlich mit bilingualen Kontraststudien (Vertikalaspekt: Jiddisch - koterritoriale Sprachen, insbesondere Deutsch und slawische Sprachen) möglich sind, ist ein einzigartiger Fall auf dem Gebiet der Sprachgeographie und ist nur den für die Sprachwissenschaft besonders günstigen Verhältnissen im Jiddischen zu verdanken.

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