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German Pages [187] Year 2022
ppt – Schriften zur Psychotherapie
Band 3
Herausgegeben vom Institut für Psychologische Psychotherapie und Beratung Berlin e.V.
Tobias Fenster / Karl Haller / Lars Hauten / Ariane Mossakowski / Thomas Nölle (Hg.)
Kontexte der Psychotherapie Interdisziplinäre Perspektiven auf eine moderne Disziplin
Mit 9 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Ryutaro Tsukata Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-8092 ISBN 978-3-7370-1474-8
Inhalt
Vorwort des Herausgabeteams Band III . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefan Trobisch-Lütge Das Trauma-Curriculum am Institut für ppt – effektive Handlungsmethodik und historisch fundiertes Prozessverständnis . . . .
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Kathrin Kriszick / Fritzi Rother Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit von Sozialarbeit und Psychotherapie bei Menschen in Multiproblemlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Roland Geckle Konzeption einer methodenintegrativen Spieltherapie für die Behandlung von Kindern im Regel- und Rollenspielalter (5–12 Jahre) . . . . . . . . .
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Bettina Ganse / Claudia Heinze »Ich fühle eine Welt in mir entstehen.« Paula Modersohn-Becker und ihr Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Haller Transgenerationale Weitergabe von Traumata – Eine problematische Diskursverschiebung von den Holocaustüberlebenden zu den Kriegskindern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johanna Sprenger »Welche Bedeutung hat Gender für die Psychologie?«
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Thorsten Bendias Der soziale Infarkt, die Scham und die therapeutische Offenbarungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
6 Moritz Bruno Petzold Förderung körperlicher Aktivität in der Psychotherapie
Inhalt
. . . . . . . . . . 133
Lars Hauten Psychotherapiegeschichte in Deutschland: Schuld, Scham, Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Bettina Ganse Transgenerationale Weitergabe von erlittenem Schmerz . . . . . . . . . . 169 Die Autor:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Vorwort des Herausgabeteams Band III
Mit diesem Buch halten Sie den dritten Band aus der Reihe »ppt – Schriften zur Psychotherapie« in den Händen. Der erste Band war dem Gründer des Instituts, Siegfried Schubenz, gewidmet. Neben zwei Texten von Schubenz selbst versammelte diese Auftaktpublikation Texte von Kolleg:innen, die auf ganz unterschiedliche Weise vom Austausch mit Schubenz geprägt wurden. Als zweiter Band erschien die Monografie »Psychotherapie als soziale Praxis« von Thomas Nölle, einem Schüler und späteren Kollegen von Siegfried Schubenz. Nölle begreift Psychotherapie als eine Praxis, die über eine rein heilkundliche hinausgeht und mit einer Vielzahl weiterer sozialer Praxen verbunden ist. Der nun vorliegende dritte Band versammelt ausgewählte Beiträge aus dem »Offenen Forum Psychotherapie«. Diese seit 2013 bestehende Vortragsreihe des ppt wird von der Überzeugung getragen, dass Psychotherapie eine Disziplin ist, die vom Austausch lebt und sich stets in gesellschaftlichen Kontexten (fort-)bewegt. Entsprechend wird in diesem Band ein breites Spektrum an Bezügen der Psychotherapie zur Genderwissenschaft, Kunst, Soziologie, Sozialen Arbeit, Geschichte und Medizin abgebildet. Wie das »Offene Forum« selbst sollen die Beiträge Anlass zur Diskussion und zur Reflexion geben: über die Rolle von Psychotherapeut:innen im Gesundheitssystem, in der Wissenschaft und letztlich auch in der gesellschaftlichen und politischen Umwelt. Um zu erläutern, inwiefern dieses Anliegen sowohl Selbstverständnis als auch Selbstanspruch des ppt ist, möchten wir einen kurzen Blick zurückwerfen. Die Anfänge des Instituts reichen in die Zeit der Studierendenbewegung in den 1960er- und 70er-Jahren, als am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin (PI) – wie an vielen anderen universitären Einrichtungen – neue Formen der Lehre und Forschung erprobt und praktiziert sowie neue inhaltliche Akzente gesetzt wurden. Nicht nur die Psychologie, die Universität insgesamt sollte sich der sozialen Realität stellen und der Gesellschaft öffnen. Forschung und Lehre sollten ihren Platz nicht im isolierten Elfenbeinturm der Universität oder in abgeschotteten Diskurszirkeln renommierter Fachzeitschriften haben. Studierende, Lehrende und Forschende gingen deshalb »in die Stadt«, sie betätigten
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Vorwort des Herausgabeteams Band III
sich in psychosozialen und pädagogischen Institutionen oder gründeten solche Einrichtungen und Projekte. Im Zuge dessen entwickelte und verfolgte auch das PI ein Konzept einer Einheit von Forschung, Lehre und Dienstleistung. Die Realisierung dieses Konzepts setzte eine fruchtbare Dynamik in Gang. Einerseits konnte die Universität der sie tragenden Stadtgesellschaft nicht nur Forschungsergebnisse präsentieren, sondern der Bevölkerung auch unmittelbar nützliche Leistungen und Angebote zur Verfügung stellen. Andererseits profitierte die Universität von diesem engen Kontakt auch insofern, als ihre praktischen Dienstleistungen für die Bürger:innen der Stadt zu weiterer Forschung anregten und zur Validierung von Forschungsergebnissen beitrugen. So entstanden viele neue pädagogische, psychosoziale und gemeindenahe Konzepte, Institutionen und soziale Praxen: Kinderläden, ambulant-niederschwellige psychotherapeutische Angebote, Kindertherapiezentren, Bürgerinitiativen – sowie 1986 ein neues Ausbildungsinstitut für Psychotherapeut:innen, das Institut für ppt. In den 1990er-Jahren wurden viele der universitären Errungenschaften aus dieser Zeit wieder aufgegeben. Der unmittelbare Einfluss der Stadtgesellschaft, aber auch der Studierenden auf Forschung und Lehre nahm ab zugunsten staatlicher Politik, etablierter Forschungscommunities und Drittmittelgebender. Ausdruck dieser Entwicklung war nicht zuletzt die Einführung des Psychotherapeutengesetzes 1999, welches in vielerlei Hinsicht der ursprünglichen pptVorstellung von einer umfänglichen psychotherapeutischen Ausbildung widersprach. Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung, in Fortsetzung einer von Siegfried Schubenz seinerzeit begründeten Ringvorlesung das »Offene Forum Psychotherapie« als ergänzendes Lehr- und Austauschangebot zu schaffen. Aber nicht nur der Blick zurück auf die Tradition des ppt, auch der Blick in die Zukunft der psychotherapeutischen Lehre und Praxis spricht dafür, Psychotherapie als breitgefächerte und gesellschaftlich verankerte Disziplin zu verstehen. Denn Psychotherapie ist nicht einfach nur Psychologie, sondern beschäftigt sich mit dem ganzen Menschen – also auch mit seiner Kultur. Das Institut für ppt stellt sich somit in eine Reihe mit aktuellen strukturellen Veränderungen der universitären Psychotherapieausbildung im Rahmen des neuen Direktstudiums, welches neben der Psychologie auch die Medizin, die Pädagogik und die Ethik als Bezugswissenschaften heranzieht. Angesichts der Neuausrichtung der Ausbildungspraxis wird abermals die Frage virulent: »Wie wird man eigentlich Psychotherapeut:in?« Diese Frage bezieht sich natürlich nicht nur auf die rein formellen Aspekte, sondern ist vor allem auch inhaltlich gemeint. Welche Lernprozesse und Lernerfahrungen spielen hierbei eine Rolle? Geht es vor allem um das Erlernen wissenschaftlicher Methoden und praktischer Behandlungstechniken – oder auch um die Entwicklung von Führungsqualitäten, die Kompetenz, komplexe diagnostische und
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Vorwort des Herausgabeteams Band III
indikatorische Entscheidungen vor dem Hintergrund kultureller und soziopolitischer Umstände zu treffen und die Fachdisziplin eben nicht nur anzuwenden, sondern weiterzuentwickeln? Gerade hierfür scheint es unabdingbar, die Ausbildung, egal, ob prä- oder postgradual, so auszurichten, dass Psychotherapeut: innen die Fähigkeit erlangen, sich und ihr berufliches Handeln zu reflektieren sowie als Teil einer gesellschaftlichen Entität zu betrachten. Ziel ist also nicht bloße Ausbildung, sondern Bildung. Durch den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus soll eigenständiges und kritisches Denken gelehrt und gelernt werden, wie es z. B. auch im humanistischen Studium generale Tradition hat. Ein weiterer Grund für die Beschäftigung mit vermeintlichen Randgebieten der Psychotherapie besteht darin, dass die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Menschen ein vertieftes Verständnis von psychischen Prozessen ermöglicht. Der Mensch als soziales Wesen kann eben nur psychotherapeutisch diagnostiziert und behandelt werden, wenn es uns gelingt, in das individuelle Leben einzutauchen, die historischen, kulturellen und sozialen Bezüge zu berücksichtigen und vor allem: neugierig zu bleiben. Der Besuch eines Kunstmuseums, die historische Beschäftigung mit Störungsmodellen oder die Teilnahme an einer politischen Diskussion kann ebenso hilfreich bei der eigenen psychotherapeutischen Entwicklung sein wie die Lektüre eines psychotherapeutischen Fachartikels; gewiss, ohne Letztere zu ersetzen. Wir möchten also dazu anregen, den Blick schweifen zu lassen über die verschiedensten Themenbereiche der Psychotherapie. In unserem Verständnis sind es vielleicht gerade diese vermeintlich nebensächlichen Gebiete, die eine ständige Weiterentwicklung ermöglichen, zu einem lebendigen Diskurs beitragen und uns als Psychotherapeut:innen letztlich ausmachen. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre. Berlin, Sommer 2022
Tobias Fenster, Karl Haller, Lars Hauten, Ariane Mossakowski und Thomas Nölle
Stefan Trobisch-Lütge
Das Trauma-Curriculum am Institut für ppt – effektive Handlungsmethodik und historisch fundiertes Prozessverständnis
Angesichts der zunehmenden Bedeutung psychotherapeutischer Strategien bei der Behandlung akuter und chronischer Traumafolgestörungen bietet das Institut für Psychologische Psychotherapie und Beratung Berlin e. V. (ppt) die Zusatzqualifikation »EMDR und mehr« an. Ziel ist es, Therapieschulen übergreifende neue Verfahren – wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), Stabilisierungsübungen sowie PNR (Psychoneuronale Integration) und KBR (Kognitiv-Bifokale Ressourcenintegration) – für die Behandlung von Traumafolgestörungen zu vermitteln. Das Zusatzcurriculum ist modular aufgebaut. Das erste Modul ist Teil der grundständigen Ausbildung zum/zur Psychologischen Psychotherapeut:in. Die folgenden drei Module können fakultativ während der Ausbildung in Anspruch genommen werden, sie stehen aber auch bereits Approbierten offen. Es kann die fachliche Befähigung zur Ausführung von EMDR erworben werden.1 Dabei werden Prinzipien der adaptiven Informationsverarbeitung, die Auswirkung bilateraler Stimulation sowie Hemisphärensynchronisation durch Tiefenentspannung auf neurowissenschaftlicher Ebene erläutert. Einzelne Therapiemethoden (EMDR, KBR, Imagination, PNR) sollen erlernt und eingebettet in die unterschiedlichen Therapieprozesse verstanden werden. Kontextualisiert wird die Handlungsmethodik durch die fundierte Vermittlung der Theoriegeschichte des Traumabegriffs aus tiefenpsychologischer Perspektive von seinen Anfängen bis heute.
Was wird im Trauma-Curriculum vermittelt? Ein wichtiger Teil der klinisch-therapeutischen Einflussnahme auf den Symptomkomplex des Traumas ist die Schaffung eines Bewusstseins für die längerfristige Prozessbegleitung (posttraumatischer Raum, Historisierung des Trau1 Gemäß § 6(7) Psychotherapie-Vereinbarung.
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mas, Einweben in ein Narrativ). Keilson (1979) wies bereits vor dem Hintergrund seiner Langzeituntersuchung an jüdischen Kriegswaisen darauf hin, dass die prä-, peri- und posttraumatischen Verlaufsphasen nicht in einem geschichtsfreien Raum vonstattengehen. Neben der Vermittlung von Bewältigungsstrategien und von Methoden zur allgemeinen Stressreduktion wird der Einordnung von traumatischen Ereignissen in einen gesellschaftlich-kulturellen Rahmen große Bedeutung beigemessen. Wichtig ist es zunächst, unterscheiden zu lernen, in welchem Zyklus der Traumaverarbeitung (Barwinski, 2010) man sich befindet: Zyklus 1 – Dissoziation – dissoziative Amnesie – fehlende Affekte und fehlende Erinnerungsbilder – Konfrontation mit intrusiven Phänomenen, Flashbacks, überwältigende Affekte, Albträume Sind die Folgen einer nicht zu kontrollierenden traumatischen Überflutung zu verzeichnen, ist das Trauma als »Fremdkörper« im psychisch-assoziativen Netzwerk (Bohleber, 2000) repräsentiert. In dieser Phase muss zunächst an Sicherheit, Stabilisierung, Symptomreduktion und der Förderung von Mentalisierung gearbeitet werden. Zyklus 2 – Zuschreibung von Bedeutung (Seidler, 2016) – Historisierung des Traumas Im zweiten Zyklus können sich traumatische Erfahrungen als gut verarbeitete Erinnerungen von belastenden Lebensereignissen im expliziten bzw. autobiografischen Gedächtnis zeigen. Es handelt sich hierbei um bewusst abrufbare Erinnerungen bzw. Vergangenheitsumschreibungen, die auch traumatische Erfahrungen zum Inhalt haben können. Diese Codierungen in narrativer, symbolischer Form sind dem Sprachzentrum zugänglich, sind erzählbar und damit auch kontrollierbar. Es kann dem traumatisierten Menschen zwar schwerfallen, über seine Erinnerungen zu berichten, aber er kann entscheiden, wann und wie viel er in symbolischer, also versprachlichter Form offenbaren möchte. Mit den Erinnerungen sind auch Gefühle verbunden. Dabei handelt es sich aber nicht um die ungefilterten Gefühle einer damals überfordernden Situation, sondern um die Erinnerungen an bestimmte Gefühle, die sich im Laufe der Zeit auch verändert haben können. In der Neurosenpsychologie wird davon ausgegangen, dass Symptome im Sinne von »Störungen im System« Bedeutungsträger darstellen.
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In der Psychotraumatologie hingegen wird davon ausgegangen, dass schweren traumatischen Erlebnissen, sogenannten Vernichtungserlebnissen, keine (unbewusste) Bedeutung zukommt. Diese traumatischen Ereignisse wirken direkt auf der physiologischen Ebene. Bei Behandlungen von Traumapatient:innen ist zu fragen, ob der/die Patient: in aktuell von traumatischen Bildern oder anderen Eindrücken überflutet wird oder ob es sich um eine im Bewusstsein symbolisch repräsentierte Folge von Traumatisierung(en) handelt. Differenzialdiagnostische Aspekte spielen eine sehr wichtige Rolle. So müssen dissoziative Symptome nicht immer Ausdruck einer Traumafolgestörung sein, es kann auch ein Konfliktgeschehen vorliegen. Nach einer Phase der Arbeit an Sicherheit, Stabilisierung, Symptomreduktion und der Förderung von Mentalisierung können Voraussetzungen entstehen, um die sekundäre Bearbeitung und Überformung des traumatischen Erlebens mit unbewussten Phantasien und Bedeutungen, die Schuldgefühle und Bestrafungstendenzen beinhalten, aufzuklären und einsichtig zu machen, was dem Ich einen entlastenden neuen Verstehensrahmen eröffnet (Bohleber, 2008). Zu klären ist nun, ob durch die Traumatisierung Konflikte entstanden oder verschärft wurden und in welcher Weise auch strukturelle Defizite verstärkt wurden. Deshalb bemühen wir uns auch, Wege aufzuzeigen, wie an der weiteren Auflösung der Symptomatik durch Rekonstruktion der traumatischen Ereignisse gearbeitet werden kann, die komplex in die psychische Struktur eingewoben sind. Die Erforschung psychischer Traumatisierung ist nur in ihrem historischen und kulturellen Kontext verständlich. Besondere historische Anla¨ sse und sozialhistorische Zusammenha¨ nge haben zu spezifischen Einsichten u¨ ber traumatische Vorga¨nge gefu¨ hrt.
Frühe Sicht auf das Trauma (Trauma als Gehirnerkrankung) Im Mittelalter fielen Menschen mit psychischen, z. B. hysterischen Symptomen (Zauberer und Hexen), in den Zuständigkeitsbereich der Kirchen, eine Unterscheidung zwischen körperlichen und psychischen Symptomen gab es noch nicht. Psychisch Kranke galten als vom Teufel besessen. Erst durch die Aufklärung entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine andere Sichtweise. In der psychiatrischen Betrachtung von seelischen Symptomen als Gehirnkrankheiten setzten sich zunehmend somatogenetische Vorstellungen durch (etwa Griesinger, 1845). Untersucht wurden die Effekte von Hirnhautentzündungen, Verletzungen, Traumata. Griesinger wird der Ausspruch: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« zugeschrieben (Goddemeier, 2018).
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Trauma als Gedächtnisstörung Jean-Marie Charcot beschrieb 1867 als erster psychologische Konzepte für die Entstehung der »traumatischen Hysterie«. Pierre Janet, der Begründer der modernen dynamischen Psychiatrie, legte bereits 1889 eine bis heute gültige Theorie über die Verarbeitungsprozesse traumatischer Erfahrungen vor. Janet ging bei der Trauma-Antwort von einer Störung des Gedächtnisses aus, die die Integration der traumatischen Erinnerungen in bestehende kognitive Strukturen verhindert. Der traumatische Einfluss führt zur Abspaltung der traumatischen Erinnerung von Bewusstsein und Willenskontrolle sowie zu Dissoziation und Amnesie und verursacht die psychischen und somatoformen Traumasymptome.
Freud und das psychoökonomische Modell Freud hatte in seiner Studie zur Ätiologie der Hysterie (Freud & Breuer, 1895) einen engen Zusammenhang zwischen Traumatisierungen im Kindesalter und späterer neurotischer Entwicklung erkannt. »Ich stelle die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich […] ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput nili der Neuropathologie« (Freud, 1896, S. 439).
Vor dem Hintergrund der damaligen neurologisch-psychiatrischen Vorstellungen erklärte Freud die Pathogenese des Traumas aus der »verhinderten Abreaktion« der durch das ursprüngliche Ereignis entstandenen »gesteigerten Erregungssumme des Nervensystems«. Dabei ging Freud weniger von der sexuell konnotierten aktuellen Erfahrung als Auslöser der Symptomatik aus, die die Patientinnen traumatisiert, sondern von dem durch die Erfahrung der Nachträglichkeit reaktivierten sexuellen Missbrauch in der Kindheit, der »assoziativ geweckte[n] Erinnerung an frühere Erlebnisse« (Freud, 1896, S. 58). Die dadurch einsetzende Reizüberflutung muss nun abgewehrt werden und kann sich lediglich kompromisshaft im Konversionssymptom der »Hysterikerin« entladen. Im Jahr 1897 kam es zum Widerruf der »Verführungstheorie« durch Freud (Masson, 1986). Freud distanzierte sich – auch unter dem Druck der Fachöffentlichkeit: Die hysterische Neurose werde nicht durch den realen sexuellen Missbrauch in der Kindheit der Patientin verursacht, sondern durch deren unbewusste ödipale Phantasien. Über die Gründe für Freuds Kehrtwende ist viel diskutiert worden (vgl. Bohleber, 2000; Hirsch, 2000) – sicher ist aber auch, dass er seine ursprünglichen Überlegungen nie ganz aufgegeben hat. Innerhalb der
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psychoanalytischen Bewertung traumatischer Erfahrungen wurde dem »realen Inzest« (Hirsch, 1987) lange nicht der Raum zuerkannt, der angemessen gewesen wäre. Der ich-psychologische Ansatz knüpft in der Theoriebildung weitgehend an das psychoökonomische Modell Freuds an. Dieser hatte, wie erwähnt, die traumatische Situation als Überwältigung des Ichs beschrieben, die sowohl durch innere übermäßige Triebregungen als auch durch äußere Ereignisse entstehen kann. Allerdings hat Freud die »Beziehung zwischen dem äußeren Ereignis und den inneren Vorgängen […] nie genau festgelegt« (Bohleber, 2000, S. 801). Die Frage, ob das Trauma durch äußere unerträgliche Belastungen oder durch innere unerträgliche Phantasien entsteht, durchzieht seit damals die gesamte Weiterentwicklung der psychoanalytischen Traumatheorie. Erst sehr viel später wurde eine neue Sicht auf das Traumageschehen entwickelt, welche den interaktionellen Aspekt stärker in den Vordergrund rückt und dadurch auch nicht mehr allein »triebökonomisch« funktioniert.
Der Beziehungsaspekt – Objektbeziehung und das Opfer In den ersten Beziehungen zu den primären Bezugspersonen suchen Kinder Schutz und Sicherheit, Trost und die Erfahrung des Gesehenwerdens. Vor dem Hintergrund solcher positiven Erfahrungen in der Identifikation mit ausreichend guten Objekten werden innere Repräsentanzen aufgebaut. Verinnerlichte gute Beziehungserfahrungen – positive Objektbeziehungen – bilden die Grundlage für ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit sowie von eigener Bedeutung und Bestätigung. Traumatische Bindungserfahrungen verursachen ein katastrophales Erleben von Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Je näher und vertrauter dabei die Beziehung zum Aggressor ist, umso komplexer und verwirrender wird die traumatisierende Situation für das Opfer. Bei Missbrauch von Eltern an ihren Kindern wird die Bindungsperson, die Garantin für Schutz, Sicherheit und Trost ist bzw. sein soll, zum Angreifer. Bei Menschen mit frühen Missbrauchserfahrungen wird die eigene Sexualität als verantwortlich für das Erlebte betrachtet. Es kommt zu einer tiefen Verwirrung zwischen Gefühlen von sexueller Erregung, aber auch von Zärtlichkeit und Nähe sowie Schuld. Wünsche nach einer warmen und vertrauensvollen Verbindung werden in der Folge unerträglich. Der erlebte Verrat und der gleichzeitig erlebte Mangel an Schutz führen zu Misstrauen; oft parallel zu einer steigenden Abhängigkeit gerade von Täter:innen. Einer der ersten, der die traumatogene Wirkung der sozialen Umgebung auf das Kind – die traumatische Objektbeziehung – thematisierte, war Sándor Ferenczi. In dem Aufsatz »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind – Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft« (1933) setzt er sich
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kritisch mit Freuds Verführungstheorie auseinander und stellt fest, dass »das Sexualtrauma als krankmachendes Agens nicht hoch genug angeschlagen werden kann« (Ferenczi, 1933, S. 9). Durch die gewaltsame Überschreitung der IchGrenzen kommt es zu einer Intrusion des Angreifers und seines inzestuösen Übergriffs. Erholt sich das Kind von der Attacke, fühlt es sich verwirrt, schuldlos und doch schuldig. Wichtige Erkenntnisse späterer Traumaforschung – die Phänomene der Spaltung, des traumatischen Schuldgefühls und das Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung mit den Extremfolgen von Depersonalisation und Derealisation werden hier von Ferenczi bereits beschrieben. Die pathogene Wirkung des Traumas entfaltet sich in erster Linie dadurch, dass die Personen, von denen das Kind abhängig ist, im Anschluss an das traumatische Ereignis das Geschehene in der Regel ableugnen. An erster Stelle steht das unvorbereitete Eindringen des Reizes aus der Außenwelt, der Schock, die Wiederholung des Traumas, und an zweiter Stelle die Verleugnung des Geschehenen durch den Erwachsenen. Die absolute Ohnmacht und das Ausgeliefertsein an den übermächtigen Angreifer verursachen eine Regression auf eine sehr frühe Phase der psychischen Entwicklung. In dieser früheren Phase besteht ebenfalls eine hohe Abhängigkeit von äußeren Objekten, und die »guten« und »bösen« Selbst- bzw. Objektrepra¨ sentanzen sind noch unvollständig integriert. Um das psychische Überleben zu sichern, kommt es zu einer an sich widersinnigen Annäherung an den Angreifer mit dem Ziel, der Erfahrung von absoluter Ohnmacht etwas entgegensetzen zu können. Mit der Identifikation mit dem Aggressor kommt es zu dieser für das Opfer fatalen Annäherung, die eine Form von Einflussnahme ermöglicht. Es findet eine selektive Identifikation statt, bei der wie in einer Art psychischer »Verdauung« »gute« Anteile des Introjekts verinnerlicht und »böse« Anteile ausgestoßen werden. Ist aber der Angriff des Objekts zu massiv – wie etwa bei Beziehungstraumatisierungen durch physischen und sexuellen Missbrauch, aber auch bei Folter- und KZ-Opfern (vgl. Ehlert & Lorke, 1988; Grubrich-Simitis, 1979), so bleibt das »böse« Introjekt, das Täterintrojekt, »unverdaut« und entwickelt sich zu einem feindlichen inneren Verfolger. Unter dem Druck des verfolgenden Introjekts auf das Ich kommt es nun zu einem Prozess der Identifikation mit dem Introjekt, um die intrapsychische Spannung zu vermindern. Die massive Ich-Grenzenüberschreitung führt dazu, dass die »traumatische Realität […] unerträglich [ist] – nicht zuletzt, weil durch ihre Anerkennung die Beziehung zum Täter – zum Vater, zur Mutter – verworfen werden müsste« (Hirsch, 1996, S. 201). Die eigentlich von Täter:innen zu spürenden Schuldgefühle werden diesen abgenommen und führen zu einer Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst als Selbst-Hass und Selbst-Verachtung, die zentral vom Über-Ich des Opfers ausgehen – gleichzeitig kann so die Beziehung zu Täter:innen weiter aufrechterhalten werden.
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»Historische Wahrheit« des traumatisierenden Geschehens – Wer haftet, wenn der Zug entgleist? Bis zum heutigen Tage wird die Auseinandersetzung mit der äußeren Realität – in Extremform mit von außen hereinbrechenden traumatisierenden, gewaltvollen Ereignissen – und den Auswirkungen auf den innerpsychischen Apparat gerade innerhalb des psychoanalytischen Diskurses sehr kontrovers geführt. So setzt sich Frommer (2014) in seinem Beitrag »Realitätsverleugnung als Folge politischer Traumatisierung – Zur Aktualität psychoanalytischer Beiträge« mit der psychoanalytischen Diskussion um das Verhältnis von innerer und äußerer Realität auseinander. Das Erleben schwerer Erschütterungen durch Traumatisierungen auch im Erwachsenenalter kann danach die gesunde Fähigkeit der Lebensbewältigung schwer beeinträchtigen. Mit komplizierten Abwehrstrategien schützen sich traumatisierte Menschen vor innerem Objektverlust, häufig um den Preis hohen Leidens. Das Nichterkennen, verbunden mit der Herabwürdigung psychischer Folgen von Traumatisierung, hat eine lange, leidvolle Geschichte und lässt sich an historischen Vorläufern aufzeigen. Die einsetzende Industrialisierung des 19. Jahrhunderts mit Prozessen der Massenproduktion und dem zunehmenden Einsatz von Maschinen führte auch zum erhöhten Auftreten von Unfällen. »Zur Kennzeichnung der Krankheitssymptomatik von Menschen, die bei einem Eisenbahnunfall zu Schaden gekommen waren, taucht Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff des ›railway-spine‹ auf« (Seidler, 2009, S. 5). Menschen, die nach einem Unfall dieser Art Anzeichen eines Schocks oder schwerer psychischer Erregungszustände zeigten, gaben Rätsel auf. Manche meinten, dass beispielsweise bei Eisenbahnunfällen eine somatische Störung vorläge: Die Wirbelsäule sei durch den Unfall erschüttert worden und das rufe auch psychische Symptome hervor. Die psychischen Folgen eines Unfalls wurden nicht (an)erkannt.
Simulation und Suggestibilität Im deutschen Raum setzte sich Oppenheim (1889) für die Einführung der Bezeichnung »traumatische Neurose« ein, die Grundlage für dann häufig geltend gemachte Entschädigungsanliegen war. Mit dem Aufkommen des Haftpflichtgedankens wurde verstärkt kritisch hinterfragt, ob besagte Unfälle tatsächlich auch zu psychischen Einschränkungen führten oder ob hier Simulant:innen aus den Unfällen Vorteile ziehen wollten. Im sogenannten Rentenneurosenstreit wurde das Anerkennungsverhalten der Reichsversicherungskammer, die sich auf Oppenheims traumatische Neurosen berief, scharf kritisiert. Das Ende des Ersten
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Weltkriegs verschärfte diese Frage drastisch. Der Krieg produzierte eine Vielzahl von Traumatisierungen. Neben den schweren körperlichen Verwundungen kam es zu massiven psychischen Symptomen bei den sogenannten »Kriegszitterern« oder »Kriegsneurotikern« (Eckart, 2005, S. 88). Bezeichnet wurden so Soldaten mit Granatenschock bzw. »shell shock«, die in ihren Schützengräben liegend weder flüchten noch angreifen konnten und so in einem Zustand totaler Ohnmacht und Ausgeliefertheit verharren mussten. Ihr Schicksal hing häufig vom reinen Zufall ab. Der traumatogene Faktor der Unwissenheit /Unvorhersagbarkeit ist hier verbunden mit extremer Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund hoher Bedrohung. Dieser Zustand der totalen Ohnmacht im Angesicht massiver Bedrohung wird »inescapable shock« genannt (Fischer & Riedesser, 1999, S. 132). Die Leiden der als Kriegsneurotiker diffamierten Soldaten des Ersten Weltkriegs wurden häufig als Drückebergerei und im sozialdarwinistischen Sinne als Schwäche abgetan (Seidler, 2009). Unter dem Eindruck der »Kriegsneurosen« des Ersten Weltkriegs waren die pathogenen Wirkungen von Außenweltfaktoren, die den »Reizschutz« des Ichs durchbrechen, wieder stärker in den Blickpunkt geraten (Freud, 1920, S. 237). Kommt es zu solchen »traumatischen Erregungen«, ist die »Überschwemmung des seelischen Apparates mit großen Reizmengen […] nicht mehr hintanzuhalten« und es gelingt dem Ich nicht, »die hereingebrochenen Reizmengen psychisch zu binden« (ebd., S. 239). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde »die wissenschaftliche Beschäftigung mit psychischer Traumatisierung […] durch Überlebende des Holocaust angeregt« (Fischer & Riedesser, 1998, S. 28f.). Wesentliche Differenzierungen des Traumabegriffs unter Einbeziehung von Extremtraumen sind durch Beschreibungen der Psychosyndrome von KZ-Überlebenden entstanden. In Deutschland tat man sich mit der Anerkennung von psychischen Kriegsfolgen schwer. Eine skandalöse Gutachterpraxis deutscher Psychiater versuchte nach Ende des Zweiten Weltkrieges, KZ-Folgeschäden auf erbliche Veranlagung zurückzuführen (Pross, 1988). Psychoanalytisch ausgebildeten Gutachtern war es zu verdanken, dass »grundlegende wissenschaftliche Einsichten in die seelischen Störungen der Überlebenden gewonnen [wurden]« (Bohleber, 2000, S. 811). Im sogenannten Gutachterstreit hatte Eissler (1963) seinen berühmten Aufsatz provokant »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« betitelt. Der politische Umgang mit realen Traumatisierungen sowie die transgenerationale Weitergabe von Traumafolgen ist bis heute ein relevantes Thema (siehe Haller, 2022, in diesem Band).
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Entstehung der Psychotraumatologie Etwa zu Beginn der 1990er-Jahre entstand die Psychotraumatologie als eigenes Forschungs- und Praxisfeld mit dem Gegenstand der Untersuchung und Behandlung seelischer Verletzungen und ihrer Folgen. Erst die Folgen des Vietnamkriegs und die Erforschung psychopathologischer Auffälligkeiten vieler Kriegsveteranen führten dazu, dass »aus der Arbeit der Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter und Pädagogen mit dieser Klientel […] allmählich ein immer detaillierteres Wissen über den Zusammenhang zwischen Kriegssituation und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse [erwuchs], das u. a. zur Formulierung des sog. ›posttraumatischen Stresssyndroms‹ (Post-Traumatic Stress Disorder) [PTSD] […] geführt hat« (Fischer & Riedesser, 1999, S. 29).
So ist Einführung der diagnostischen Kategorie – der Posttraumatischen Belastungsstörung bzw. Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) 1980 – auf das Engagement der Veteranenverbände in den USA nach Ende des Vietnamkriegs zurückzuführen (vgl. van der Kolk, 2000). Freud hatte die häufigen sexuellen Traumatisierungen zunächst erkannt, dann jedoch unter dem Druck der »Fachöffentlichkeit« relativiert bzw. verwässert. Bis heute sorgt Freuds Umgang mit der »Verführungstheorie« für Diskussionen in der Fachwelt (Esterson, 1998). Über das Thema der sexualisierten Gewalt in sozialen Nahbereichen lag lange ein Mantel des Schweigens. Erst im Zuge der zweiten Frauenbewegung wurde das Thema des Kindesmissbrauchs wieder öffentlich diskutiert (Miller, 1983; Gardiner-Sirtl, 1983).2 Auch Erkenntnisse aus den Untersuchungen von Opfern sexueller Gewalt untermauerten die Einführung der Diagnose der akuten Belastungsstörung in das Diagnostic and Statistical Manual (DSM) (Flatten, 2003). Für Menschen, die über längere Zeit eine totalitäre Unterwerfung erlebt haben, wurde von Herman (1993) die Diagnose der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung vorgeschlagen. Diese wurde als schwere, anhaltende Traumatisierung in das neue DSM-5 aufgenommen und wird auch Einzug in die neue ICD-11 finden (Maercker et al., 2013).
Traumatisierung in (Ost-)Deutschland In Deutschland leben die letzten Zeitzeugen der Generation der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs (Radebold, 2008). Die Opfer der zweiten deutschen Diktatur (und deren Nachkommen) kämpfen weiterhin um ihre Anerkennung (Frey2 In Deutschland über ein Dossier in der Zeitschrift Brigitte, 1982.
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berger et al., 2003; Trobisch-Lütge, 2004). Die Stasiakten sind nun in das Bundesarchiv überführt worden, der letzte Bundesbeauftragte für die Stasiakten wurde 2021 verabschiedet, eine neue »Opferbeauftragte« hat ihre Arbeit aufgenommen. Bei einer größeren Gruppe von Verfolgten der SED-Diktatur zeigen sich nach »Unterbringung« in Kinderheimen und/oder Jugendwerkhöfen, Stasihaft sowie Zuchthaus bis heute schwere seelische Störungen. Eine Reihe empirischer Studien belegen die seelischen Folgeschäden bei politisch Verfolgten in der ehemaligen DDR (Priebe et al., 1996; Freyberger et al., 2003). 26 Jahre nach der Wiedervereinigung litt etwa ein Drittel der damals politisch Inhaftierten an einer PTBS. Darüber hinaus fanden sich ein hoher Anteil depressiver Störungen und verschiedene Angsterkrankungen. Maercker und Kollegen (2013) stellen zudem fest, dass der Verlauf posttraumatischer Belastungsreaktionen sehr variabel ist. Häufig verwiesen wird zudem auf die über Inhaftierung hinausgehenden potenziell traumatisierenden Erlebnisse unter der totalitären Herrschaft der DDR, wie Zersetzungsmaßnahmen oder andere Formen politischer Repression (vgl. Pingel-Schliemann, 2002; Freyberger et al., 2003; Trobisch-Lütge, 2004; Trobisch-Lütge & Bomberg, 2015). Neben den traumatischen Erfahrungen, die eng mit der deutschen Geschichte verknüpft sind, wird Europa und im Besonderen auch Deutschland im Zuge der Globalisierung zudem ein Fluchtpunkt für traumatisierte Menschen aus der ganzen Welt. Traumafolgen sind nicht losgelöst vom historischen Kontext zu begreifen. Historische Bedingungen und gesellschaftliche Diskurse haben einen Einfluss auf die Traumawirkungen selbst, formen zugleich auch das Verständnis von Traumata. Das Trauma-Curriculum am Institut für ppt sieht sich in dieser kontextualisierenden Tradition und versucht, effektive Handlungsmethodik und historisch fundiertes Prozessverständnis miteinander zu verbinden.
Das Trauma-Curriculum am Institut für ppt
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Stefan Trobisch-Lütge
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Das Trauma-Curriculum am Institut für ppt
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Kathrin Kriszick / Fritzi Rother
Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit von Sozialarbeit und Psychotherapie bei Menschen in Multiproblemlagen
Erste Forderungen nach einer sozialen Therapie – also einer Verknüpfung von sozialen Interventionen/Dienstleistungen im therapeutischen Setting – gab es schon vor über hundert Jahren. Beispielsweise forderte Alice Salomon Anfang des 20. Jahrhunderts, Konzepte für soziale Therapie und soziale Umstände in die Diagnoseprozesse der Betroffenen aufzunehmen, damit sie auch bei der folgenden Behandlung Beachtung finden (Bösel, Gahleitner, Pauls, 2020, S. 41). Im Zuge der Psychiatrie-Enquete in den 1970er-Jahren und weiterer Neuerungen in den 1980er-Jahren wurde die psychosoziale Versorgung individualisiert und die Forderung nach einer multiprofessionellen Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen wurde lauter (Brückner, 2015). Nicht zuletzt hat das Psychotherapeutengesetz von 1999 zu einer allgemeinen beruflichen Verbesserung für Psychotherapeut:innen und damit auch zu einer besseren Versorgung der Patient:innen geführt. Im Verhältnis der beiden Professionen zueinander besteht aber die Gefahr, dass Soziale Arbeit1 auf administrative oder mittelbeschaffende Hilfe reduziert und damit die – für die psychische Stabilisierung ebenso wichtige – Bearbeitung der sozialen Dimensionen eines Menschen vergessen wird (Wüsten, 2020, S. 94). Psychisches Leid kann aber nicht von sozialem Erleben getrennt werden. Trotz eines in Deutschland mittlerweile gut ausgebauten Sozialsystems fallen viele Menschen durchs psychotherapeutische Versorgungsnetz. Das betrifft insbesondere Klient:innen mit existenziellen Multiproblemlagen, wie z. B. Wohnungslosigkeit, Überschuldung, Langzeitarbeitslosigkeit, chronischer Erkrankung und sozialer Isolation. Mit den genannten sozialen Problemen geht psychisches Leid einher, doch haben oder bekommen manche der betroffenen Menschen nur erschwert Zugang zu Psychotherapie. Zudem überfordert die komplexe soziale Problemlage häufig das Psychotherapiesetting. An dieser Stelle bedarf es ggf. der Sozialarbeit, um Psychotherapie erst möglich zu machen – 1 Soziale Arbeit ist ein Fachbegriff und wird als Ober- und Sammelbegriff der traditionellen Fachrichtungen Sozialpädagogik und Sozialarbeit gebraucht.
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Kathrin Kriszick / Fritzi Rother
insbesondere bei sogenannten Hard-to-reach-Klient:innen (vgl. Bösel, 2020, S. 65). Außerdem ist das soziale Umfeld bei körperlichem und/oder psychischem Leid oft mitbetroffen und zumindest bei der Überwindung der Erkrankungen oder Störungen mitbeansprucht. Gerade schwere oder chronische Erkrankungen wirken in erheblichem Maße verändernd auf das soziale Leben ein (beispielsweise durch Fernbleiben von der Arbeit). Für eine ausreichende psychiatrische und psychotherapeutische Gesundheitsversorgung braucht es deshalb umfassende begleitende Sozialarbeit, die komplexe Probleme wahrnimmt und die dazugehörige Expertise besitzt, um diese mit unterschiedlichsten Methoden und Theorien praktisch zu bearbeiten (Pauls, 2020, S. 29). Eine Kooperation zwischen den Berufsgruppen der Psychotherapie und der Sozialen Arbeit ist deshalb naheliegend und wichtig für die gemeinsamen Klient:innen, weil der Zugang zu sozialen Ressourcen einerseits über das Ausmaß spürbarer (gesellschaftlicher) Beteiligung bestimmt und andererseits auch den Grad von Gesundheit beeinflusst (vgl. Wüsten, 2020, S. 100). Eine Voraussetzung für eine erfolgversprechende psychotherapeutische Behandlung ist die Fähigkeit, Probleme mit dem eigenen Handeln und Verhalten in Bezug zu setzen (Pauls, 2020, S. 33), also Selbstwirksamkeit zu spüren und nicht ohnmächtig anderen Personen oder äußeren Umständen die Schuld für Probleme zuzuschreiben. Insbesondere mit Klient:innen in den oben beschriebenen Problemlagen kann solch ein Selbstbezug manchmal erst im sozialpädagogischen Setting hergestellt werden. Nach der erfolgreichen Vermittlung in Psychotherapie sollte jedoch nicht einfach »abgegeben«, sondern weiter begleitet werden. Diese Klient:innen benötigen Unterstützung, um die Dinge, die sie in der Psychotherapie über sich erfahren oder erlernt haben, auch in den Alltag integrieren zu können. Eine erste Voraussetzung für Kooperation in diesem Sinne ist, sich Wissen über die Tätigkeiten der jeweils anderen Profession anzueignen. Dieser Artikel soll im ersten Teil dazu beitragen, ein basales Verständnis der Tätigkeiten und des Hilfespektrums der Sozialen Arbeit für Psychotherapeut:innen herzustellen. Außerdem wird er im zweiten Teil Kooperationsbedarfe aus Sicht der Sozialarbeitsprofession aufzeigen. Zum Schluss werden Möglichkeiten skizziert, wie diese Bedarfe gedeckt werden könnten.
Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit
1.
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Bewältigung von existenziellen Problemen mit professionellen (sozialarbeiterischen) Hilfen – Grundwissen für Psychotherapeut:innen
Für eine erfolgreiche Psychotherapie ist es mitunter notwendig, erst andere, soziale Problemlagen zu klären oder erste Schritte zur Klärung einzuleiten. Solche Belastungen zusätzlich zu einer psychischen, behandlungsbedürftigen Diagnose können dringender sein oder für die Patient:in dringender wirken als ein Therapiebeginn. Sicherlich kommt es auch vor, dass Patient:innen sich in einer psychotherapeutischen Praxis vorstellen und zu beschämt sind, um nach weiteren (psycho-)sozialen Hilfen zu fragen, oder einfach nicht wissen, welche Unterstützungsangebote existieren. Im Folgenden werden einige häufig vorkommende soziale Problemlagen und deren Unterstützungsangebote im sozialen Sektor geschildert.
1.1
Finanzielle/ökonomische Problemlagen
Bei eingetretenem oder drohendem Arbeitsverlust und den damit einhergehenden finanziellen Nöten ist jede arbeitsfähige Person durch das Arbeitslosengeld abgesichert. Es wird in Arbeitslosengeld (ALG) I und II unterteilt. Das sogenannte ALG I ist eine Versicherungsleistung: War man mindestens zwölf Monate innerhalb der letzten zwei Jahre vor Eintritt der Arbeitslosigkeit in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis beschäftigt, kann man 60 bis 67 Prozent seines letzten monatlichen Nettoeinkommens erhalten. Dies gilt für ein halbes bis maximal ein Jahr, abhängig von der Dauer des letzten Arbeitsverhältnisses. Innerhalb der Bezugsdauer ist man verpflichtet, eine neue Stelle zu suchen, und bekommt ggf. Förderung durch die Arbeitsagentur. Ein Antrag muss drei Monate vor Ende des Arbeitsverhältnisses bzw. am Tag der Kenntnisnahme der Kündigung bei der Bundesagentur für Arbeit erfolgen (Arbeitsagentur, 2021). ALG II – auch bekannt als »Hartz IV« – bezieht man, nachdem man ein Jahr ALG I bezogen hat oder wenn die letzte versicherungspflichtige Anstellung kürzer als ein Jahr war. Wichtig für die Beantragung von ALG II beim Jobcenter ist, dass man für mindestens drei Stunden täglich arbeitsfähig ist. Der monatliche ALG-II-Satz für alleinstehende Personen beträgt derzeit 446 Euro (BMAS, 2021). Unterstützung bei Beantragung und Verstehen der Bescheide bieten die allgemeinen Sozialberatungsstellen freier Träger sowie die unabhängige Sozialberatung der Bezirksämter.
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Kathrin Kriszick / Fritzi Rother
Bei Erwerbsminderung und im Rentenalter ohne Anspruch auf Rentenversicherungsleistungen kann Grundsicherung beantragt werden. Erwerbsminderung tritt ein, wenn man aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr oder nur eingeschränkt erwerbsfähig ist. Grundsicherung wird bei den zuständigen Sozialämtern beantragt und deckt, wie das ALG II, den Regelsatz sowie Miete und ggf. Mehrbedarfe und die Krankenversicherungsbeiträge ab. Bei Schulden und erheblichen Schwierigkeiten im Umgang mit Geld kann eine Schuldnerberatungsstelle aufgesucht werden. In Notsituationen im Zusammenhang mit Schulden, z. B. einer Kontopfändung oder Mietrückständen, sollte das dringend bei der Vereinbarung eines Ersttermins mit der Schuldnerberatungsstelle erwähnt werden, da dies die Wartezeiten verkürzt. Besonders sollte darauf geachtet werden, ob Zahlungsrückstände wegen Ordnungswidrigkeiten oder gerichtlichen Vollstreckungsbescheiden vorliegen, da dies zu Ersatzfreiheitsstrafen führen kann. Bei Mittellosigkeit, Obdachlosigkeit und genereller finanzieller Knappheit gibt es verschiedene Anlaufstellen für Lebensmittel, Kleidung, Internetnutzung und für die hygienische Grundversorgung. Gerade Berlin besitzt ein breites Netz an Tagesstätten (für eine Liste: www.hilfelotse-berlin.de). Neben der Berliner Tafel gibt es auch zahlreiche Sozialkaufhäuser, in denen bei Nachweis der Bedürftigkeit sehr günstig Kleidung und Möbel gekauft werden können.
1.2
Juristische Problemlagen
1.2.1 Hafterfahrung/Haftvermeidung Menschen mit einer Haftanordnung oder Personen, die darum wissen, dass eine Haft drohen könnte, trauen sich manchmal nicht, psychologische Hilfe anzunehmen, da sie aus diesen Gründen ab- oder unterbrochen werden müsste. Für die meisten Geldstrafen (z. B. wegen Fahrens ohne gültigen Fahrschein), die als Ersatzfreiheitsstrafen angetreten werden sollen, gibt es die Möglichkeit, diese in Arbeits- bzw. Sozialstunden umzuwandeln (»Arbeit statt Strafe«). Dafür muss beim zuständigen Gericht, das den Haftbefehl erlassen hat, ein formloser Antrag gestellt werden. Die meisten sozialen Einrichtungen bieten »Arbeit statt Strafe« an. Zumeist handelt es sich um Hilfstätigkeiten. In Berlin bietet z. B. die »Freie Hilfe« als Fachvermittlungsstelle Unterstützung beim gesamten Prozess an. Dort findet man auch eine Liste der Einrichtungen, die Sozialstunden anbieten. Die Verbindung zwischen Justizvollzug und Resozialisierung stellt die Straffälligenhilfe dar. Sie bietet neben Entlassungsmanagement ebenso weiterführende Unterstützung für hafterfahrene Personen in verschiedenen Problemlagen an. Haftentlassene, die unter Bewährung und ggf. Führungsaufsicht stehen,
Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit
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können therapeutische Hilfe als eine geforderte Maßnahme oder gar als Auflage des Gerichts zur Einhaltung der Bewährung haben. In einer solchen Zwangssituation ist es häufig fraglich, wie erfolgreich eine psychotherapeutische Behandlung ist. In speziellen Fällen von Gewalt- und Sexualdelikten und einer gegebenen Indikation kann das Gericht statt an niedergelassene Psychotherapeut:innen an die forensische Nachsorgeambulanz verweisen. 1.2.2 Unklarer Aufenthaltsstatus Geflüchtete Menschen sind oft stark durch die Fluchterfahrung und weitere traumatisierende Erfahrungen in ihrem Herkunftsland belastet. Oftmals steht einer Bearbeitung dieser schweren psychischen Belastungen ein unklarer Aufenthaltsstatus oder der Status einer immer wieder gewährten Duldung im Weg. Für geflüchtete Menschen gibt es spezielle Beratungsstellen, die sich mit den sozialrechtlichen Fragen des Asyl- und Aufenthaltsrechts gut auskennen. Sie bieten auch Unterstützung bei der Beantragung von Asylgewährung und bei der Begleitung zur Ausländerbehörde an. Weitere Unterstützungsangebote betreffen die Arbeitssuche und den Spracherwerb.
1.3
Problemlagen im Bereich Wohnen
Durch den momentan vorherrschenden akuten Wohnungsmangel in Berlin betreffen drohender Wohnraumverlust, Wohnraummangel und zu enge Wohnverhältnisse nicht nur »Mietnomaden«, sondern nahezu jede Person mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen, die aufgrund von Trennung, Familienzuwachs, Wechsel des Arbeitsplatzes oder Ähnlichem umziehen muss. Besonders für Personen im ALG-II-Bezug, mit negativem Schufa-Eintrag oder Mietschulden können Wohnraumverlust oder Wohnungswechsel bzw. -suche schnell zu einem existenziellen und langwierigen Problem werden. Sei es durch Schwierigkeiten mit dem Jobcenter oder Überforderung – bereits nach zwei nicht gezahlten Mieten kann eine Kündigung durch den Vermieter mit Fristsetzung des Auszuges erfolgen. Unterbleibt das Tätigwerden, wird eine Räumungsklage erhoben und daraufhin ein Räumungstermin festgesetzt. Es lohnt sich, bis zuletzt Beratung in Anspruch zu nehmen, da das Mietverhältnis durch aktive Mitarbeit häufig noch gerettet werden kann. Oftmals gehen Klient:innen davon aus, dass Räumungen in Deutschland nicht durchgeführt werden, wenn Kinder vorhanden sind oder man noch keine neue Wohnung hat – doch dem ist nicht so. Nicht selten trifft man in Wohnungslosenberatungsstellen auf Personen, die nach einer Wohnungsräumung nur noch einen Plastikbeutel voller Papiere besitzen. Der Besitz wird nach einer Räumung zwar zunächst eingelagert; kann die geräumte
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Kathrin Kriszick / Fritzi Rother
Person die Gegenstände jedoch nicht auslösen, werden sie verkauft, um damit die Räumungskosten abzutragen. Kommt es zur Wohnungslosigkeit, gibt es die Option – sofern Sozialleistungsbezug besteht –, für längere Zeit in einem der zahlreichen ASOG-Wohnheime2 untergebracht zu werden. Bei akuten Notsituationen besteht die Möglichkeit einer Übernachtung in den zahlreichen Notunterkünften Berlins. Ansprechpartner können hier die zentralen Wohnungslosenberatungsstellen sein. Bei bestehender Wohnungsnot ist es immer sinnvoll, an eine Wohnungslosenberatungsstelle oder an einen Träger zu vermitteln, der Hilfen gem. § 67 SGB XII anbietet. Es ist oft ein monatelanger, arbeitsintensiver Prozess, die bestehende soziale Notlage (Schulden, Schufa, Einkommen) zu klären und eine neue Wohnung zu suchen. Für Frauen und deren minderjährige Kinder, die aufgrund von häuslicher Gewalt wohnungslos werden, existieren mehrere Frauenhäuser bzw. Zufluchtswohnungen, in denen die Frauen für das Clearing und ggf. bis zum Umzug in eine eigene Wohnung untergebracht werden können.
1.4
Problemlagen bei Erkrankung
Chronische oder schwere Erkrankungen stellen nicht nur einen erheblichen Eingriff in das private, sondern auch in das berufliche Leben dar. Weiterhin erschüttern sie nicht selten das gesamte soziale System eines Menschen. Im Falle einer länger als sechs Wochen anhaltenden Erkrankung greift das Krankengeld (§ 44 SGB V), das maximal 78 Wochen lang gezahlt werden kann. Sollte die Krankheit im Anschluss weiterhin bestehen, kann ggf. Übergangsgeld gem. Nahtlosigkeitsregelung (§145 SGB III) durch die Agentur für Arbeit gezahlt werden, bis die gesundheitliche Perspektive geklärt ist. Sollte eine dauerhafte Erwerbsminderung festgestellt werden, kann die Erwerbsminderungsrente die finanzielle Situation absichern. Im Zuge einer längeren Erkrankung greift das Betriebliche Eingliederungsmanagement, welches bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz unterstützt. Begleitend kann die Beantragung einer medizinischen oder beruflichen Reha sinnvoll sein. Hier kann auch thematisiert werden, ob die Beantragung eines Schwerbehindertenstatus nützlich sein könnte, der in einigen Lebensbereichen einen Nachteilsausgleich bewirken soll. Bei Problemen oder Fragestellungen bzgl. der Rückkehr an den Arbeitsplatz bei einer dauerhaften Einschränkung
2 Öffentliche Wohnheime gemäß dem allgemeinen Gesetz zum Schutz deröffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG).
Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit
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können die bezirklichen Integrationsfachdienste, ggf. mit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, unterstützen. Durch die in Deutschland seit 2009 bestehende Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung stellt ein fremd- oder selbstverschuldeter Ausfall von Arbeitseinkommen und ggf. auch Sozialleistungen (ALG I, ALG II, Krankengeld) für handlungsunfähige Personen in Krisensituationen ein großes Risiko für eine Verschuldung dar. Wenn keine Beiträge für die Krankenversicherung mehr geleistet werden können, besteht die Gefahr, dass sich schnell immense Schulden ansammeln. Bei Problemen mit dem Versicherungsstatus können spezielle Beratungsstellen oder bezirkliche allgemeine Sozialberatungsstellen unterstützen.
1.5
Alltagsbewältigung und akute Krisen
Wenn bei Klient:innen aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer Suchtthematik ein nur eingeschränktes Vermögen zur Alltagsbewältigung vermutet oder festgestellt wird, können ambulante (z. B. Einzelfallhilfe) oder stationäre Hilfsangebote (z. B. Betreutes Einzelwohnen, Therapeutische Wohngruppe) unterstützen. Die erste Anlaufstelle ist hier der Sozialpsychiatrische Dienst (SPDi) des Bezirksamtes. Sollte eine psychisch oder physisch erkrankte Person dauerhaft nicht mehr in der Lage sein, sich ausreichend um ihre Belange zu kümmern, kann von ihr selbst oder Dritten eine gesetzliche Betreuung beim Amtsgericht gem. § 1896 BGB beantragt werden. Wird eine Suchtproblematik festgestellt und die/der Klient:in entschließt sich, dieses angehen zu wollen, so besteht immer die Möglichkeit, Kontakt zu ambulanten bezirklichen Suchtberatungsstellen aufzunehmen. Für eine ambulante oder stationäre Therapie muss ein Antrag bei der Rentenversicherung inklusive ausführlichem Sozialbericht gestellt werden. Häufig wird vor der Aufnahme eine stationäre Entgiftung verlangt. Sollten besonders belastende Lebensumstände, z. B. durch Beschaffungskriminalität oder Beschaffungsprostitution, sowie eine geringe Abstinenzfähigkeit bestehen, kann zur Stabilisierung eine Substitution über den/die betreuende:n Ärzt:in stattfinden. Als Ansprechpartner bei akuten Krisen fungiert in Berlin der Berliner Krisendienst, der mithilfe eines multiprofessionellen Teams aus Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen agiert. Gemeinsam mit dem SPDi besteht eine 24-stündige Ansprechbarkeit (allerdings nur in Berlin, da in Brandenburg kein Krisendienst existiert). Bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung kann durch die/den gesetzlich Betreuende:n – bzw. im Ausnahmefall auch ohne
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Kathrin Kriszick / Fritzi Rother
diese:n – eine freiheitsentziehende Maßnahme (z. B. durch Handfesseln, geschlossene Station, Bettgitter o. Ä.) gem. § 1906 BGB beantragt werden.
1.6
Familiäre Probleme
Jugendämter sind bei vielen Menschen hauptsächlich für ihre Wächterfunktion bekannt. Daher besteht die Hürde, deren Dienste in Anspruch zu nehmen, unter anderem aus der Angst, das Sorgerecht zu verlieren. Zu den umfassenden Aufgaben des Jugendamtes gehören unterstützende und beratende Angebote für Eltern und Familien. Die Hilfsangebote der Kinder- und Jugendhilfe sind sehr vielfältig. Die Hilfen zur Erziehung (HzE) richten sich meistens an die Sorgeberechtigten, wobei es das Ziel ist, dem betreffenden Kind eine optimale Entwicklung zu ermöglichen und das Kindeswohl immer im Blick zu behalten. Zu den HzE gehören beispielsweise die Erziehungs- und Familienberatungsstellen (EFB), die in multiprofessionellen Teams auch therapeutisch tätig werden können und je nach Bedarf in unterschiedlichsten Settings (Paar-, Familien- und Einzelberatung Eltern/Kind) arbeiten. Die Einzelfallhilfen (Erziehungsbeistandschaft bzw. Betreuungshelfer:innen) haben das Kind oder die/den Jugendliche:n im Fokus und begleiten dieses bzw. diesen im Alltag zur zusätzlichen Stärkung der Persönlichkeit, des Selbstbewusstseins, der Selbstständigkeit und der sozialen und emotionalen Fähigkeiten. Die Sozialpädagogische Familienhilfe (SpFH) ist neben den zentralen Erziehungs- und Entwicklungsfragen auch für einen umfassenderen Blick auf das soziale und alltägliche Leben der ganzen Familie zuständig. Sie berät und unterstützt bei der Bewältigung von Haushalt und Alltag und kann Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, Schulden, rechtlichen Problemen etc. anbieten. Sie ist in aufsuchender Form tätig und kann auch Begleitung beispielsweise zu Schulgesprächen oder Behördenterminen anbieten. Neben den erwähnten Aufgaben ist das Jugendamt auch zuständig für finanzielle Unterstützung, z. B. Unterhaltsvorschüsse, für die Beurkundung von Vaterschaftsanerkennung und Sorgerecht, die Beratung über und Vermittlung von Hilfen für Kinder mit Teilhabebedarfen und schließlich auch für die Inobhutnahme und Unterbringung bei Kindeswohlgefährdung.
Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit
2.
33
Interprofessionelle Zusammenarbeit – Bedarfe aus der sozialpädagogischen Perspektive
Da, wo Klient:innen beide Formen der Hilfeleistung benötigen (biografische Lebenskrisen, existenzielle materielle Gefährdung, Gewalterfahrung, Aufwachsen in brüchigen Familien, Sucht, chronisch psychische Erkrankungen), begegnen sich beide Professionen und sollten im professionellen Kontakt Absprachen treffen und kollegial zusammenarbeiten (Großmaß, 2020, S. 106). Es geht im Folgenden um zwei Zielgruppen: (1) Menschen, die zwar sozialarbeiterisch angebunden sind, aber nicht den Weg in eine Psychotherapie finden, weil strukturelle und persönliche Hürden zu groß sind oder eine engere Begleitung dorthin durch die Sozialberatungsstelle nicht leistbar ist.3 (2) Es geht zudem auch um Menschen, die den Weg in eine Psychotherapiepraxis geschafft haben oder aus einem stationären Setting entlassen werden, deren Problemlage sich jedoch als so komplex herausstellt, dass neben psychotherapeutischen Prozessen auch sozialpädagogische, lösungsorientierte Hilfestellung nötig ist. Wissen im Umgang mit Ämtern und Behörden sowie sozialrechtliches Wissen sind dabei genauso wichtig wie die Fähigkeit, die betreffenden Menschen persönlich zu stärken und Ressourcen freizulegen (Siegfarth-Häberle, 2020, S. 124). Wir beziehen uns im Folgenden auf die Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und ambulanten Psychotherapiesettings, in denen eine Berührung mit Sozialer Arbeit äußerst selten ist (Großmaß, 2020, S. 105f.). Die folgenden Ausführungen basieren auf unseren professionellen Erfahrungen in den Fachgebieten allgemeine Sozialberatung, soziale Wohnhilfe, betriebliche Sozialarbeit und Eingliederungshilfe – wohl wissend, dass wir nicht für die gesamte Profession sprechen können.
2.1
Die soziale Situation in Psychotherapie einbeziehen
Häufig stellt Soziale Arbeit in Form einer Beratungsstelle die erste Anlaufstelle für Klient:innen dar, die finanzielle oder psychosoziale Problemlagen haben. Gerade bei multiplen Problemlagen offenbaren sich dann im Laufe der Beratung nicht selten zusätzlich psychische Belastungen. Um nachhaltige Veränderungen zu initiieren, wäre dann häufig eine Psychotherapie sinnvoll. Die Hürde, diese in 3 Innerhalb von Institutionen mit multiprofessionellen Teams ist die Zusammenarbeit durch den institutionellen Rahmen vorgegeben und strukturiert (Nölle, 2021, S. 55).
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Anspruch zu nehmen, ist jedoch oft recht hoch, da es sich vielfach um einen Personenkreis handelt, der in Krisensituationen wenig Spielraum für Selbstfürsorge sieht und nicht selten so mit existenziellen Problemen überlagert ist, dass langfristige Thematiken eher in den Hintergrund treten. Für eine langfristige Stabilisierung ist in diesen Fällen eine psychotherapeutische und sozialarbeiterische Unterstützung gleichermaßen notwendig. Dies alles ist nicht neu. Sozialepidemiologische Befunde weisen eindeutig auf die Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und der Entstehung von Krankheiten hin (Beushausen, 2014, S. 30): beispielsweise auf die Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit oder zwischen sozialer Benachteiligung und Gesundheit. Belegbar ist damit die Notwendigkeit, soziale Faktoren bei der Benennung von Hintergründen bio-psycho-sozialer Phänomene und beim Einsatz notwendiger Interventionen stärker einzubeziehen (ebd.). Umso wichtiger ist es, diesen psychosozialen Thematiken zielgerichtet zu begegnen: »Die Minimierung akuter psychosozialer Probleme fördert die ›Psychotherapiefähigkeit‹ des Patienten, unter Umständen ermöglicht sie diese sogar erst. […] Ein erster Schritt besteht deshalb in der Sensibilisierung der Therapeuten für das Erkennen von gravierenden sozialen Schwierigkeiten« (Bösel, 2020, S. 56). Die Psychosomatische Universitätsklinik Heidelberg entwickelte eine Indikationsliste sozialer Probleme, die anzeigt, wann auch im Rahmen einer ambulanten Psychotherapie auf jeden Fall eine sozialarbeiterische Hilfe hinzugezogen werden sollte (ebd., S. 65f.): – (drohende) Wohnungslosigkeit, – unklare Krankenversicherung, – aktuelle unklare Einkommensverhältnisse und starke finanzielle Probleme (z. B. Auslaufen des Krankengelds, Arbeitsunfähigkeit länger als ein Jahr, hohe Schulden), – unklare Kinderversorgung, – akute Gefährdung des Arbeitsplatzes durch die Krankheit bzw. den stationären Aufenthalt (Patient:in in Probezeit, Patient:in will kündigen), – Klärungsbedarf bei anstehenden Gerichtsverfahren oder Reha- und Rentenanträgen. Um überhaupt einschätzen zu können, wie gravierend die sozialen Probleme im spezifischen Fall sind, wäre neben der Indikationsliste ein gemeinsames Diagnosemodell hilfreich. Als Basis für interprofessionelles Fallverstehen würde es medizinisch-psychologische Informationen ebenso erfassen wie die Biografie, die aktuelle Lebenssituation und die psychosozialen Ressourcen. Dann kann gewichtet werden, welche Probleme vor oder parallel zu einer Psychotherapie bearbeitet werden sollten (Gahleitner/Völschow, 2020, S. 80). Eine gemeinsame
Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit
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Diagnostik kann den Grundstein für eine eventuelle weitere Kooperation legen. Sie kann aber er auch herausstellen, dass eine Kooperation bis in den fortlaufenden Alltag der Betroffenen nicht notwendig ist, sondern lediglich materielle Hilfen oder Informationen vermittelt werden müssen, damit eine therapeutische Behandlung in Ruhe begonnen werden kann. Nach Eggers (2005) sähe eine solche Simultandiagnostik so aus, dass der:die jeweilige Spezialist:in auf seiner:ihrer Ebene die Daten erhebt und analysiert sowie die dazugehörigen Funktionen und Ressourcen bestimmt. Anschließend wird gemeinsam ein Behandlungsplan entwickelt. In der folgenden Abbildung 1 ist ein Beispiel für einen solchen Diagnosebogen zu sehen: Abb. 1: Diagnosebogen (Beispiel) Beobachtungsebene
Diagnostik bisherige diagnostische Erkenntnisse (Fakten von Interpretationen trennen!)
Therapie Konsequenzen für die weitere Behandlung (konkrete Schritte und Überlegungen)
Biologisch organmedizinische Aspekte, biomedizinische Daten Psychologisch Eigenheiten des Erlebens und Verhaltens (»Persönlichkeit«), individueller Lebensstil
z. B. ätiologische und pathogenetische Aspekte, Risikofaktoren z. B. auslösende oder aufrechterhaltende Faktoren; Persönlichkeitsaspekte, Bewältigungsstil, subj. Krankheitstheorie
Physikalische, medikamentöse, chirurgische Interventionen Ärztliches Gespräch, psycholog. Beratung, psychophysiolog. Regulationsverfahren; Überweisung zur Psychotherapie?
z. B. soziales Netzwerk/sozialer Rückhalt, akut oder chronisch belastende Stressoren in Beruf/Familie/ Wohnbedingungen
informative Beratung, Vermittlung von helfenden Kontakten zu Familie, Arbeitsplatz, Behörden, psychosozialen Beratungsstellen oder Vereinen Zum Verständnis des Zusammenhangs (Parallelität) der einzelnen Beobachtungsebenen (1) Krankheitsverständnis (»Expertenmodell«): Wie könnte der Patient mit seinen beobachtbaren Krankheitsphänomenen »verstanden« werden? (Biopsychosoziales Erklärungsmodell) (2) Welches prinzipiellen Interventionsmöglichkeiten ergeben sich (aus Punkt 1) auf jeder der drei Ebenen des biopsychosozialen Modells? (3) Wo würden Sie den Therapiefokus setzen bzw. womit würden Sie beginnen?
Ökosozial familiäre, beruflich-gesellschaftliche und andere umweltbezogene Lebensbedingungen
Quelle: Pauls, 2020, S. 36; Eggers, 2005, S. 10.
Ebenso stellt es sich als schwierig heraus, wenn Klient:innen zwar eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, sie aber aus Schamgefühl oder aufgrund der Einschätzung, dass keine Zuständigkeit vorliegt, bestehende psychosoziale und finanzielle Problemlagen nicht thematisieren.
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Ein Fallbeispiel: Ein Klient war seit Jahren in einer Psychotherapie angebunden und fühlte sich hier auch sehr gut aufgehoben. Als der Übergang vom Arbeitslosengeld II hin zur Altersrente anstand, scheiterte er an dem Beantragungsprozess, wurde mittellos, erhielt eine Räumungsklage, verlor seine Krankenversicherung und thematisierte dies alles erst bei seiner wöchentlichen Therapiesitzung, als die Krankenversicherung sich weigerte, die Therapie weiter zu finanzieren, da die fälligen Beitragssätze nicht mehr beglichen wurden. Nachdem der Psychotherapeut den Klienten an die Allgemeine Sozialberatung übermittelt hatte, konnte die Situation recht schnell gelöst werden.
2.2
Hard-to-reach-Klient:innen einen Zugang ermöglichen
Nach jahrelanger Arbeit mit wohnungslosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen muss man feststellen, dass nicht wenige dieser Klient:innen multiple Problemlagen im sozialen, finanziellen, beruflichen und sehr oft auch im psychischen Bereich aufweisen. Diese Gruppe von Menschen, die gegenüber Sozialen Diensten »oftmals misstrauisch sind«, wird auch als Hard-to-reachKlientel bezeichnet (Beushausen, 2014, S. 6). Häufig bestehen die Schwierigkeiten über mehrere Generationen hinweg und es sind einschneidende Umbrüche in der Biografie der Klient:innen zu finden (Leers & Küppers-Naß, 2020, S. 129). Beim Versuch, für diese Zielgruppe eine weitergehende Hilfe in Form von Psychotherapie zu initiieren, stößt man schnell an Grenzen. Einerseits benötigen die Klient:innen oft ein langsames Herantasten an die Psychotherapie, da die nötige Krankheitseinsicht noch fehlt. Andererseits erfordern die vergleichsweise hochschwelligen Rahmenbedingungen der Psychotherapie (z. B. längere Fahrtstrecken, Pünktlichkeit, formalisiertes Setting) nicht selten enorme Kraftanstrengungen. Schon die Suche nach einem Therapieplatz stellt häufig eine schwer überwindbare Hürde dar. Aufgrund des Mangels an Therapeut:innen in Berlin müssen seitenweise Listen abtelefoniert werden; man muss sich auf Wartelisten setzen lassen, verschiedene Therapeut:innen zu unterschiedlichen Uhrzeiten regelmäßig kontaktieren, um auf der Warteliste zu bleiben, und eine Unzahl von Anrufbeantwortern besprechen. Dies alles sind ebenfalls enorme Hürden in häufig sehr belastenden Lebenssituationen, ggf. ohne eigenes Telefon und bei geringer Frustrationsfähigkeit. Wenn Sozialarbeiter:innen diese Aufgaben für diese Klient:innen übernehmen wollen, bekommen sie nicht selten zu hören, dass Patient:innen nicht angenommen werden, wenn diese nicht einmal genug Motivation aufbringen könnten, selbst anzurufen. Was aber wären aus sozialpädagogischer Perspektive Ideen, um den Zugang für Hard-to-reach-Klient:innen zu vereinfachen? Sowohl für die Klient:innen als auch für die Sozialarbeiter:innen wäre es enorm entlastend, wenn Therapeut:
Bedürfnisse und Möglichkeiten der interprofessionellen Zusammenarbeit
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innen für diese bestimmte Zielgruppe keine regelmäßigen »Wartelisten-Anrufe« und nicht das »Selbstmelden« verlangen würden. Stattdessen sollten sie auf die Einschätzung der sozialpädagogischen Fachkräfte vertrauen, dass ein Erstgespräch zur Prüfung eines Therapiebedarfes sinnvoll wäre. Durch die beschriebenen Multiproblemlagen sind hochschwellige Settings für die Klient:innen schwerer auszuhalten und manchmal bedürfte es eher eines aufsuchenden Charakters der Hilfe. Doch dafür ist die ambulante Psychotherapie in ihrer jetzigen Form nicht ausgelegt und finanziert. So stellen Gahleitner et al. (2008) fest, dass die »aufwendige zugehende und netzwerkintensive Arbeit in den Kassenverträgen nicht vorgesehen ist und in der ambulanten Psychotherapiepraxis kaum zu leisten ist« (Gahleitner et al., 2008; zitiert nach Bösel et al., 2020, S. 41). Des Weiteren gehören Tätigkeiten, die »nur« die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben, nicht zur Ausübung von heilkundlicher Psychotherapie (PsychThG, § 1 Abs. 2, Fassung 2020). »Das Verhältnis von Psychotherapie und Sozialarbeit in Deutschland ist von diesem Sachverhalt stark geprägt« (Bösel et al., 2020, S. 44). Hard-to-reach-Klient:innen erhalten ohne eine intensive Unterstützung häufig ihr Leben lang Sozialleistungen. Eine aus sozialpädagogischer Sicht interessante Forschungsfrage ist, ob ein größeres Bemühen um diese Personen durch die Politik und die Krankenversicherungen diesen Teufelskreis durchbrechen könnte und eine grundsätzliche Veränderung des Systems denkbar wäre.
2.3
Anerkennung der Professionalität Sozialer Arbeit
»Trotz biopsychosozialer Modelle, ausgebauter gemeindepsychiatrischer Dienste und neuer Studiengänge für Klinische Sozialarbeit bleibt ein Legitimationsdruck« (Brückner, 2015, S. 29). Soziale Arbeit muss ihre Wirksamkeit und ihr Tätigwerden wie jede Profession legitimieren. Die Wirksamkeit der Arbeit mit Menschen (in biopsychosozialen Notlagen) in einzelfallorientierten psychosozialen Settings ist schwer zu erforschen. Dadurch entsteht ein Gefälle zwischen den beiden Professionen. Psychotherapie genießt einen gesellschaftlich höheren Stellenwert als Soziale Arbeit, unter anderem, weil sie besser erforscht ist und zum Gesundheitssystem gehört. Jede Profession bildet eine eigene Fachkultur aus. Dazu gehört die Entwicklung professionseigener Haltungen, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster sowie eigener Methoden und Interventionsstrategien. Wenn sich an ihren Schnittstellen zwei Professionen begegnen, treffen sozusagen Kulturfremde
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aufeinander, die jeweils Vermutungen und Vorurteile über die Anderen mitbringen. Sozialarbeiter:innen wird häufig unterstellt, nicht abgegrenzt, zu nah an der Klientel und zu lebensweltorientiert zu agieren. Über Psychotherapeut:innen hingegen wird angenommen, dass sie ausschließlich das psychische Problem einer Einzelperson betrachten. Im Sinne interkultureller Kommunikation bedürfte es gegenseitiger Anerkennung der fachkulturellen Unterschiede und des Nichtwissens der einen über die fachlichen Selbstverständlichkeiten der anderen Profession. Dann kann auf Augenhöhe zusammengearbeitet werden (Großmaß, 2020, S. 108). Die fachlichen Unterschiede, im Folgenden aufgelistet, sollten also nicht negiert, sondern bewusst hervorgehoben werden. Abb. 2: Übersicht über fachliche Unterschiede zwischen Sozialer Arbeit und Psychotherapie
Ziele
Kontext
Aufgaben & Methoden
Setting
Soziale Arbeit Unkomplizierte Unterstützung, Verbesserung von Teilhabe, Verminderung von sozialem Ausschluss, soziale Gerechtigkeit Mischt sich bewusst auf verschiedenen Ebenen des Alltagslebens der Betroffenen ein (Arbeit, Schule, Gemeinde etc.), bezieht die Systeme mit ein Unterstützung, Beratung, Begleitung, Übernahme von Aufgaben des sozialen Lebens mit dem Ziel der Stabilisierung prekärer Lebenssituationen; psychosoziale Behandlung als soziale Interventionen und Unterstützung bei alltäglichen Aufgaben stehen nicht im Widerspruch, sondern laufen parallel in vertrauensvoller Arbeitsbeziehung Alltagsnah und somit prozessnah, Einzelfall & Gruppen, mit mehr (Sozialberatung) und weniger Distanz (Wohngruppen, betreutes Wohnen), Angebotsstruktur, lediglich im Amt verpflichtend, vorwiegend Teamarbeit
Psychotherapie Veränderungsprozesse im Erleben und Verhalten des Einzelnen Bleibt beim Individuum und dessen Verhalten zur Erreichung eines »guten Lebens«
Heilkundliche Behandlung bei psychischen Erkrankungen und Problemen gem. ICD 10
Formales Setting, zu festgelegten Zeiten, außerhalb des Alltags, Überweisungsstruktur, hierarchisiert, Einzelarbeit
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(Fortsetzung)
Kompetenzen
Zugang
Soziale Arbeit Zusätzlich zur üblichen Grundausbildung besitzen Sozialarbeitende beraterische, administrative und rechtliche Kompetenzen, die ggf. weitreichende Konsequenzen haben können (doppeltes Mandat). Wenig Voraussetzungen, oft sehr niedrigschwellig, auch aufsuchend, Behandlung sehr komplexer Fälle in existenziellen Notlagen (hard-to-reach), wo Psychotherapie keine Zugänge hat
Psychotherapie In der Psychotherapie spielen solche administrativen und rechtlichen Kenntnisse kaum eine Rolle.
Hochschwellige und anspruchsvolle Eingangsvoraussetzungen, Fähigkeit zur Termineinhaltung, Eigenmotivation und Krankheitseinsicht sind regelhaft vorausgesetzt
Bezugswissenschaften Sozialwissenschaften Medizin und Psychologie Diagnostik Soziale Diagnose: Ziele sind Medizinische Diagnose: Streben nach Gesundheit Lebensbewältigung und Empowerment Bedeutsam für Ko– Durch unterschiedliche Arbeitssettings kommt es zu unteroperation schiedlichem Kommunikationsverhalten; daher: Kommunikations- und Kooperationserwartungen bewusst machen und aushandeln – Unterschiedliche Wissensbezüge erzeugen unterschiedliche Wissensbestände und Denkformen: Unvollständigkeit des eigenen Wissens anerkennen, fallspezifisch Wissen der jeweils anderen Disziplin abfragen und dessen jeweilige Bedeutung gemeinsam erarbeiten – Fallbesprechungen und Kompromisse, wenn sozialpädagogische Haltung störend für den Psychotherapieprozess erscheint Quelle: Großmaß, 2020, S. 108f.; Wüsten, 2020, S. 94f.
Den Klient:innen/Patient:innen gegenüber sollte das teilweise transparent gemacht und mit ihnen auch über das Ineinandergreifen und die Übergänge der beiden Professionen kommuniziert werden.
2.4
Kooperation und Nutzen von Schnittstellen und Grenzen
In einigen Praxisfeldern besteht bereits interprofessionelle Zusammenarbeit. Diese sollte jedoch nicht so aussehen, dass jede Profession ihrer Arbeit separat nachgeht und man sich nur ab und zu über den Fall austauscht. Im Sinne einer »sozial sensitiven Therapie« sollten bei der Aufgabenbewältigung vielmehr soziale und psychische Prozesse synchronisiert werden: Die Psychotherapie klärt
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und bearbeitet die psychologische Problematik und die Soziale Arbeit ist zuständig für die Existenzsicherung und Unterstützung unter Einbezug des Klient: innen-Netzwerks (Pauls, 2020, S. 33f.). Man könnte es auch als die Integration von sozialtherapeutischen Konzepten in einen psychotherapeutischen Gesamtbehandlungsplan bezeichnen (Bösel, Gahleitner, Pauls, 2020, S. 47). Am Beispiel der gelingenden Kooperation in der Psychosomatik mit sozialpädagogischer Nachsorge zeigen sich die qualitätssteigernden Effekte: Die Kombination aus Beziehungsarbeit im Rahmen der ambulanten psychotherapeutischen Therapie nach Klinikaufenthalt und sozialpädagogischen unterstützenden und Empowerment-Maßnahmen im Übergang zurück in den (neuen) Alltag der Betroffenen sorgt für eine schnelle Weiterentwicklung und den Aufbau von Resilienz (Siegfarth-Häberle, 2020, S. 124). Wenn nach einem Klinikaufenthalt der gesundheitliche Zustand zu schlecht für eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt ist, sind Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben notwendig. Durch diese fehlende Perspektive kann auch der psychotherapeutische Arbeitsprozess stagnieren und eine Vermittlung an die entsprechende soziale Beratungs- und Betreuungsstelle erforderlich werden. Zu deren Aufgaben gehören dann die Motivationsarbeit zur und die Unterstützung bei der Antragstellung und Überbrückung bis zur Entscheidung, der Kontakt zum Kostenträger und schließlich die Anbindung an die Rehamaßnahme. Der gesamte Prozess kann mehrere Wochen dauern. Der Austausch zwischen Sozialpädagog:in und Psychotherapeut:in sollte unterstützend genutzt werden, wenigstens aber die gegenseitige Information über den Stand der Bearbeitung bis hin zu den Ängsten, welche die Klient:innen im Prozess begleiten, umfassen (Siegfarth-Häberle, 2020, S. 125). Die gemeinsame Ermöglichung eines notwendigen und für die Klient: innen bestmöglichen Unterstützungsbedarfs zeigt in diesem Fall, das integrative Kooperation qualitätssteigernd wirken kann. Ein Bereich, in dem die Versorgungslücken psychotherapeutischer Hilfe deutlich werden, sind intensiv betreute Wohnformen für psychisch belastete und erkrankte Menschen. Obwohl psychotherapeutische Leistungen in diesem Feld der Sozialen Arbeit abrechenbar sind, gibt es in vielen Einrichtungen trotz entsprechender Vorgaben keine multiprofessionellen Teams. Wie die vorhergehenden Ausführungen verdeutlichen, wäre eine Vernetzung und Kooperation zwischen den sozialpädagogischen Fachkräften und den Psychotherapeut:innen also an vielen Schnittstellen sinnvoll und zielführend. Doch was sind eigentlich die Voraussetzungen für ein tragfähiges Arbeitsbündnis zwischen Sozialer Arbeit und Psychotherapie? Gemäß Merten et al. (2019) benötigt eine gelingende Kooperation »Zielabstimmung und Informationsaustausch, wechselseitige Kommunikation und gegenseitige Unterstützung, konstruktive Problemdiskussion und eine längere Zeit-
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perspektive, in der die Form der Kooperation erprobt wird und sich das Vertrauen in den jeweiligen Kooperationspartner entwickeln kann« (ebd., S. 19).
Eppel und Hammer (1997) vertiefen dies noch, indem sie verdeutlichen, dass nur eine Kooperation, die als gleichwertige Beziehung gestaltet ist, Zufriedenheit bei den Teilnehmenden schafft und zu bedeutsamen Veränderungen in der beruflichen Praxis führt (ebd., S. 182). Noch weiter geht hier von Kardoff (1998); er bezeichnet die Kooperation der beiden Professionen als Voraussetzung, »damit es überhaupt zu einer gemeinsamen wirkungsvollen Bearbeitung von Problemen, Krisen und Entwicklungsaufgaben kommen kann« (ebd., S. 204). Das geteilte Bewusstsein für die Bedeutung von Zusammenarbeit ist sicherlich der erste Schritt für eine bessere Kooperation. Weitere Ansatzpunkte werden im folgenden Abschnitt thematisiert.
2.5
Praktische Umsetzungsmöglichkeiten
Die folgenden Ideen für eine integrative Kooperation zwischen Psychotherapie und Sozialer Arbeit basieren auf unserem subjektiven Erfahrungshintergrund als Sozialarbeiterinnen in der Wohnungslosen- und psychosozialen Hilfe sowie in der allgemeinen Sozialberatung – also in Feldern der Sozialen Arbeit, die viel mit den schwierigen und komplexen (Hard-to-reach-)Fällen arbeiten. Die Ideen resultieren aus unseren fachlichen Wünschen und der Not unserer Klient:innen, die dringend bessere Versorgungsangebote benötigen: – Bei ausreichend handlungsfähigen Patient:innen kann ein Teil der probatorischen Sitzungen als Kurzintervention genutzt werden, um herauszufiltern, welche sozialen Bereiche zunächst stabilisiert werden müssen, bevor eine Therapie begonnen werden kann. Das kann beispielsweise beinhalten: über Beratungsangebote informieren; Kontakt zu Stellen aufnehmen; bis dahin den Beginn der Arbeit an Symptomen davon abhängig zu machen, dass erste Schritte (z. B. ein Termin bei Schuldnerberatung) erledigt wurden (Bösel, 2020, S. 88). Dies funktioniert nur mit denjenigen Klient:innen, die tatsächlich bloß Aufklärung und einen Anstoß brauchen. Bei Menschen hingegen, die die Klärung ihrer sozialen Probleme prokrastinieren, manifestiert sich eine Angst vor der Bewältigung dieser Probleme, wodurch eine längerfristige Begleitung notwendig wird. – Konzipierung von niedrigschwelligen Probesitzungen in Form eines Eingangsmanagements in Psychotherapiepraxen: Klient:innen können, wenn gewünscht, in Begleitung ihrer Sozialarbeiter:in zu den Sitzungen kommen. Die Psychotherpeut:innen erfahren so mehr über die sozialen Lebenslagen
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dieser Klient:innen, es kann ein fachlicher Austausch entstehen und gemeinsam ein Behandlungsplan erstellt werden. Gemeinschaftspraxen (ähnlich den Psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Folteropfer) mit integrierter Sozialanamnese: Hier arbeiten Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen und Sozialarbeiter:innen interdisziplinär zusammen. Das Angebot ist nicht auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtet, sondern auf Menschen in psychosozial belastenden Lebenslagen. Interprofessionelle Fallbesprechungen, Dokumentationssysteme, Supervision und die gleichberechtigte Zusammenarbeit sowie gegenseitige Wertschätzung sind Voraussetzungen für das Gelingen solcher Zentren. Einrichtung einer telefonischen Beratungsstelle für professionelle Helfer:innen: In unserer praktischen Arbeit haben wir uns häufiger den »kurzen Draht« zu Kolleg:innen aus der Psychotherapie gewünscht, um Fragen zum Umgang mit Verhaltensweisen bei bestimmten Erkrankungen klären zu können (beispielsweise Nähe/Distanz bei Borderline-Persönlichkeitsstörung, fachliche Informationen oder Stärkung der professionellen Handlungsfähigkeit in Akutsituationen wie suizidalen Äußerungen). Andersherum könnten Sozialarbeiter:innen eine sozialrechtliche Beratung und Informationen über das regionale Hilfesystem anbieten. Einrichtung eines Gremiums mit dem Ziel besserer Kooperation im ambulanten Bereich: Erarbeitung niedrigschwelliger Zugänge für Hard-to-reachKlient:innen, Ausarbeitung von gemeinsamen Diagnosemodellen, Fach- und Fallaustausch sowie allgemeine interprofessionell unterstützende Netzwerkbildung. Psychotherapeutische Leistungen müssten auch für Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe abrechenbar sein, womit die Voraussetzung für multiprofessionelle Teams in solchen Einrichtungen vorhanden wäre. Gleichzeitig würden die Klient:innen von der entstehenden Niedrigschwelligkeit profitieren. Lobbyarbeit für gleichberechtigte Bezahlung und mehr gesellschaftliche Anerkennung der Sozialen Arbeit ist vonnöten. In der Psychotherapieausbildung könnten die vielfältigen Unterstützungsmöglichkeiten im sozialen Sektor als Thema aufgenommen und durch Kooperation mit Praktiker:innen aus diesen Bereichen auch praxisnah vermittelt werden (z. B. durch Fachvorträge, Einrichtungsbesuche etc.). Ein deutlich erhöhtes Zeit- und Finanzierungskontingent in der Arbeit mit Hard-to-reach-Klient:innen. Es müsste grundsätzlich eine wissenschaftliche Untersuchung zum genauen Bedarf der Kooperation zwischen ambulanter Psychotherapie und Sozialer Arbeit mit Menschen in Multiproblemsituationen durchgeführt werden. Auf
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Grundlage der ermittelten Bedarfe könnten dann entsprechende Konzepte und Finanzierungspläne erstellt werden.
3.
Fazit
Die Profession der Psychotherapie hat Soziale Arbeit nicht immer »auf dem Schirm«. Andersherum jedoch ist Psychotherapie für Soziale Arbeit in vielen Bereichen ein wichtiger Bestandteil oder ein (Teil-)Ziel in der Arbeit mit ihren Klient:innen. Für eine gelingende Kooperation zwischen beiden Professionen ist es wichtig, das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit als Grundlage für die Zusammenarbeit ernst zu nehmen. Genauso wichtig ist es, das eigene Nichtwissen anzunehmen, die andere Profession wertschätzend und respektvoll zu behandeln und miteinander zu kommunizieren. Sich dabei die professionellen Unterschiede bewusst zu machen, ist die Basis für gelingende Kommunikation und gemeinsames Fallverstehen. Neben dem Wunsch, dass Psychotherapie mehr über die Arbeit und das Wirken von Sozialarbeit wissen sollte – insbesondere über die komplexen Problemlagen der Hard-to-reach-Klient:innen, mit denen sie nur wenig Berührungspunkte hat –, gibt es für die Sozialarbeit Bedarf an bestimmten Settings der Zusammenarbeit. In diesem Beitrag wurden einige davon aufgezeigt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben und mit dem Bewusstsein dafür, dass auch aufseiten der Sozialen Arbeit sehr viel Nichtwissen über das psychotherapeutische Arbeiten besteht. Vielleicht könnte eine grundsätzliche und selbstverständliche Kooperation zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie – z. B. in Form von Kooperationsverträgen, gemeinsamer Diagnose, Abstimmungen und Interventionsplanungen oder gemeinsamen Fortbildungen – die Distanz zwischen den Systemen reduzieren und eine größere Durchlässigkeit für die Ratsuchenden erwirken. Für konkretere Schritte in Richtung einer Zusammenarbeit im ambulanten Bereich kann sicherlich noch wissenschaftlich in die Breite und in die Tiefe geforscht werden. Anlässe dafür bieten etwa die sich in der Umsetzung befindenden Neuerungen des Bundesteilhabegesetzes. Und sicherlich gibt es Potenzial, in der Eingliederungs- bzw. Teilhabehilfe neue Kooperationen im psychosozialen Bereich aufzubauen. Eigentlich scheint die Sozial- bzw. Soziotherapie genau die in diesem Beitrag beschriebene Versorgungs- und Kooperationslücke schließen zu können. Die Soziotherapie ist ein Ansatz der Sozialen Arbeit, der differenzierte soziale und psychosoziale Interventionsformen vereint mit dem Hauptziel, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Sie betrachtet den Menschen in seiner Umwelt und wendet verschiedene psychosoziale Methoden auf unterschiedlichen Ebenen an.
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Die Basis bildet dabei die professionelle Beziehungsarbeit (Deloie et al., 2020, S. 55). Sozialtherapie kann unter anderem von Psychotherapeut:innen verordnet werden und wird von Sozialarbeiter:innen mit spezifischen Weiterbildungen im psychosozialen Bereich bzw. in Klinischer Sozialarbeit angeboten und durchgeführt. Soziotherapeut:innen arbeiten selbstständig und werden teilweise (bundeslandabhängig) über die integrierte Versorgung als Kassenleistung vergütet. Die Zielgruppe sind Menschen mit psychischen Störungen, die in ihrem eigenen Haushalt leben und wiederkehrende Klinikaufenthalte vermeiden wollen. Hierbei wird im Unterschied zur psychosozialen Versorgung der Eingliederungshilfe zum einen nicht das Einkommen der Betroffenen zur Finanzierung der Hilfe herangezogen und zum anderen sind die behandelnden Sozial- und Psychotherapeut:innen durch die Rahmenbedingungen der Beantragung der Hilfe gefordert, miteinander zu kooperieren. Leider fällt die Vergütung eher gering aus und die Voraussetzungen für einen Vertragsabschluss mit den Krankenkassen sind so hoch, dass Soziotherapie noch nicht flächendeckend angeboten wird (BPtK, 2020; Berufsverband der Soziotherapeuten, 2018). Dieses Beispiel zeigt jedoch, dass es bereits gut funktionierende Modelle gibt und es am Engagement, den veränderten Herangehensweisen und der Kooperation der Professionen und Leistungsträger ist, diese auszubauen. Machen wir uns also auf den Weg.
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Roland Geckle
Konzeption einer methodenintegrativen Spieltherapie für die Behandlung von Kindern im Regel- und Rollenspielalter (5–12 Jahre)
Einleitende Worte: Vom Medium zur Methode Im Folgenden sei der Grundriss eines integrativen Behandlungskonzeptes von personenzentrierten, psychoanalytischen und verhaltenstherapeutischen Methoden für die Psychotherapie von Kindern im Regel- und Rollenspielalter skizziert, mit dem ich mich bereits seit meinem Studium ausgiebig theoretisch und vor allem während meiner langjährigen Berufstätigkeit im Kindertherapiezentrum Kreuzberg praktisch beschäftigt habe. Da sich dieses Konzept in seinem diagnostischen und behandlungstechnischen Vorgehen stark auf ein Ausdrucksmedium, nämlich das kindliche Spiel, fokussiert, besteht die Gefahr, dass diese Akzentsetzung für den Behandlungsverlauf und -erfolg überbewertet wird. Ich halte es nach wie vor für unabdingbar, dass jegliches methodische Vorgehen mit einer methodenübergreifenden Grundhaltung, so wie es die PädagogischPsychologische Therapie begreift, abgestimmt und abgeglichen wird, die Methodik also in der Therapie nicht instrumentell eingesetzt wird, da dies der therapeutischen Beziehung abträglich sein würde. Ihr Einsatz und ihre Effizienz sind vielmehr abhängig von den atmosphärischen Voraussetzungen, die durch eine dichte therapeutische Beziehung geschaffen werden. Auch unter methodischen Gesichtspunkten sollten sich Idiografie – also all das, was wir an je besonderen fall- und personenspezifischen Informationen und Erfahrungen zur Verfügung haben – und Nomothetik – unser allgemeines Störungswissen und unsere allgemeinen methodischen Möglichkeiten – sinnvoll in einem integrativen Behandlungskonzept ergänzen, das auf den speziellen Einzelfall abgestimmt wird. Da das therapeutische Gespräch in der Psychotherapie mit Kindern einen weitaus geringeren Stellenwert einnimmt als in der Therapie mit Erwachsenen, bedient sich insbesondere die Kinderpsychotherapie auch anderer Ausdrucksund Vermittlungsmedien und versucht, diese methodisch für die Behandlung zu nutzen. Je jünger das Kind ist, desto mehr tritt die kindliche Spieltätigkeit als primäres und altersgemäßes Ausdrucks- und Entwicklungsmedium für die
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psychische Befindlichkeit des Kindes in den Vordergrund. Die darauf gründende und hier vorgestellte Behandlungskonzeption schließt aber prinzipiell auch andere kindliche Ausdrucksformen wie etwa Malen/Zeichnen/kreatives Gestalten, symbolische Gesten oder Ritualisierungen sowie Körper- und Bewegungsverhalten mit ein.
Indikationsfragen der Kinderpsychotherapie: Überindividuelle und psychische Integrationserfordernisse Um den hohen Stellenwert der kindlichen Spieltätigkeit für klinische Behandlungen zu verdeutlichen, möchte ich zunächst auf die Ausgangslage einer jeglichen Kindertherapie, also auf ihre Einleitung bzw. Indikation eingehen. In den meisten Fällen wird nämlich die Problematik des Kindes zunächst aus einer überindividuellen Perspektive beschrieben. Der/Die fragliche Hilfeempfänger:in hat Schwierigkeiten, sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Erziehungsinstitutionen (Familie, Schule, Kita etc.) sozial zu integrieren und fällt in diesen Zusammenhängen insbesondere mit seinem/ihrem Kontakt-, Interaktions-, Konflikt- und Leistungsverhalten auf. Er/Sie wird in seinem/ihrem sozialen Umfeld zumeist als »störend« und/oder »schwierig« wahrgenommen. Und in der Tat werden die Therapien nicht direkt vom Hilfsbedürftigen, also dem Kind selbst eingeleitet, sondern es wird entweder den Erziehungsberechtigten von dritter Seite, zumeist von wichtigen Vertreter:innen der gesellschaftlichen Institutionen (Lehrer:innen, Erzieher:innen, Kinderärzt:innen, Jugendamtsmitarbeiter:innen etc.), empfohlen, eine Therapie für das Kind oder für die/den Jugendliche:n zu beantragen – oder aber die Eltern haben für die Problematik bereits eine eigene Sensibilität entwickelt. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn sich die Störung als familiäre Integrationsschwierigkeit darstellt, wodurch die Eltern wiederum persönlich berührt sind, sodass sie auch eine eigene, vom Kind unabhängige Auftragslage in die Therapie mit einbringen. Die Störung des Kindes auf sozialer, interaktiver und Verhaltensebene wird dann von diesen gesellschaftlichen Vertreter:innen und/oder den Eltern als eine psychische Problematik des Kindes identifiziert, sodass letztlich auch ein:e Psychotherapeut:in mit dessen Behandlung beauftragt wird. Abgesehen davon, dass durch diese Einleitung die psychotherapeutische Beziehungsaufnahme und Vertrauensbildung wesentlich schwerer erscheint als die zu einem sich selbst meldenden Kind, das durch seinen eigenen Leidensdruck den Weg zur Therapie gefunden hat, birgt diese Art der Indikation ein weiteres Problem für Psychotherapeut:innen. Integration wird hierbei gewissermaßen von außen definiert als der Erwerb von bestimmten sozialen, interaktionellen,
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kognitiven, sensomotorischen, verhaltens-, handlungs- und leistungsmäßigen Kompetenzen, die über gesellschaftliche Institutionen und Erziehungsinstanzen bzw. -personen vermittelt werden und die beim Kind nicht hinreichend angeeignet und verinnerlicht zu sein scheinen. Damit sei keineswegs gesagt, dass das Kind nicht selbst unter seinen Integrationsschwierigkeiten leidet; es kann jedoch zunächst keine eigene, von dieser Störungszuschreibung abhebende persönliche Sichtweise über seine Schwierigkeiten einnehmen. Aufgrund dieser Diskrepanz treten Psychotherapeut:innen unmittelbar in ein Spannungsfeld zwischen überindividuellen und sehr subjektiven Wahrnehmungen, Wertungen und Perspektiven ein, zwischen denen bislang allenfalls eine unzureichende Vermittlung stattgefunden hat. Die überindividuelle Definition von Integration geht dabei zwar implizit von gleichbleibenden und durchschaubaren Anpassungs- und Integrationserfordernissen aus; diese können aber durch die einzelnen Institutionen unterschiedlich, ja sogar widersprüchlich vermittelt werden und unterliegen darüber hinaus auch einer ständigen gesellschaftlichen Wandlung. Somit können einzelne Leistungen und Kompetenzen (z. B. Leistungs- und Anpassungsverhalten, Konfliktaustragungs- und -bewältigungsverhalten, soziale Kommunikationsund Verkehrsformen) in den verschiedenen Institutionen (z. B. Schule, Familie, Peer-Gruppen etc.) eine unterschiedliche Wertung erhalten und unterschiedliche Lebensbereiche und Inhalte betreffen. In diesem Zusammenhang wird die Frage der Integration nochmals von einer ganz subjektiven – und damit auch psychischen – Perspektive aufgeworfen. Das Kind wird in seiner sozialen Lebenswelt mit unterschiedlichen Normen und Bewältigungsmustern konfrontiert; und während es nun die (institutionelle) Erwartungshaltung ist, dass es sich diese möglichst schnell und reibungslos aneignet, steht das Kind erst einmal vor der Herausforderung, sie vor dem Hintergrund seiner vielfältigen Lebenswirklichkeit miteinander zu vermitteln und intrapsychisch zu integrieren. Dies erfährt das Kind insbesondere bei einer sehr widersprüchlichen Vermittlung der Kompetenzen in und zwischen den einzelnen Institutionen als subjektiv überfordernd, sodass die psychische Integrationsleistung in vielen Fällen nicht oder nur unzureichend mit den äußeren Integrationserfordernissen übereingeht – und dadurch ein Bedarf an sozialer Integration überhaupt erst identifiziert wird. Das Kind aber kann durchaus bereits eine eigene subjektive Lösung in dem Maße gefunden haben, dass es einzelne Integrationsansprüche und Kompetenzen in einem sehr persönlichen Sinn und mit einer sehr persönlichen Bewertung psychisch widerspiegelt und so die Widersprüche auf einem bestimmten Niveau subjektiv reguliert. In einem ganz einfachen Fall könnte es sich bestimmte Kompetenzen und Normen einer einzigen Vermittlungsinstanz (z. B. der Familie) zu eigen gemacht haben, die in Widerspruch zu denjenigen stehen, die in einer anderen Institution (z. B. der
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Schule) vermittelt werden, sodass es lediglich in dem zuletzt genannten sozialen Zusammenhang auffällig wird, was wiederum als eine Anforderung auf das Kind zurückwirkt, die es nicht bewältigen kann und unter der es psychisch leidet. Dieses einfache Beispiel soll zunächst nur Folgendes verdeutlichen: erstens, dass die vorläufig gebildeten psychischen Regulationssysteme von subjektiv widergespiegelten Entwicklungsparametern, welche mit einem bestimmten sozialen System (in unserem Beispiel der Familie) im relativen Gleichgewicht stehen, in der vielfältigen und widersprüchlichen Lebenswirklichkeit dennoch stets beirrt und ins Ungleichgewicht gebracht werden können; zweitens, dass so eine ständige Neuregulierung des psychischen Systems, also auch eine ständige Re- und Neuorganisierung seines Verhaltens und seiner emotionalen Stellung zu sich selbst und zur Welt erforderlich ist; und drittens, dass dies vorläufige Einstellungen zur Folge hat, die nicht mit den gegenwärtigen Entwicklungs- und Integrationserfordernissen in einem oder mehreren Lebensbereichen des Kindes übereinstimmen müssen.
Der Beitrag der Entwicklungspsychologie: Das Spiel als Medium zur Widerspruchsverarbeitung von Integrationserfordernissen Nach Ansicht der Entwicklungspsychologie bildet nun gerade das Streben nach Re- und Neuregulierung der Tätigkeitsstrukturen und ihrer emotionalen Bewertung den motivationalen Kern der kindlichen Spieltätigkeit. Der Spielinhalt hat damit auch immer einen konkreten Umweltbezug: Er stellt für das Kind alltägliche Sachverhalte, Tätigkeitsformen und Themenkreise symbolisch dar, die für seine Persönlichkeit von größter Bedeutung sind. Das Kind strebt also in seiner Spieltätigkeit zu einer Verarbeitung von sozial vermittelten und psychisch widergespiegelten Widersprüchen. Die Entwicklungspsychologie begreift dabei das kindliche Spiel als eine dialektisch strukturierte Tätigkeit des Spielsubjekts (des spielenden Kindes) mit einem Objekt (dem Spielinhalt), in der die Nachgestaltung und die Veränderung des alltäglichen Lebens sowohl aufseiten des Subjekts als auch aufseiten des Objekts in einem freiheitlichen und relativ angstfreien Rahmen ermöglicht werden. Dies erfolgt durch eine gewisse Verfremdung der Spielinhalte, die auf persönlichkeitsrelevante Aspekte des alltäglichen Lebens verweisen, entweder in Form einer Symbolisierung bei Rollenspielen oder in Form einer Abstraktion bei Regel-, Gestaltungs- und Bewegungsspielen (z. B. durch Regelsetzung für bestimmte hintergründige Tätigkeits-, Kommunikations-, Interaktions- und Verkehrsformen).
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Das Spielsubjekt hat dabei vom Spielinhalt immer gewisse Vorstellungen entwickelt, die in seiner Psyche weniger sprachlich und begrifflich, sondern mehr bildhaft repräsentiert sind und die sich prinzipiell in zwei Aspekte differenzieren lassen. In der Widerspiegelungs- oder Vergangenheitsdimension sind der Spielinhalt und das damit verbundene Thema so repräsentiert, wie sie im realen Leben vermittelt und erfahren wurden. In der Wunschdimension bildet sich dagegen die Vorstellung ab, wie das Objekt aus dem subjektiven und sehr persönlichen Blickwinkel eigentlich sein sollte. Auch das Objekt, das den Spielinhalt äußerlich repräsentiert, stellt sich in zwei Aspekten dar. Es verkörpert bzw. simuliert als Ersatzobjekt einerseits die subjektiven Vorstellungen, trägt aber auch beim individuell-gegenständlichen Spiel in seiner objektiven Eigenart und Dinghaftigkeit neue Erfahrungen an das Kind heran, die es in seiner Spieltätigkeit zu integrieren hat. Letzteres ist umso mehr beim intersubjektiven Spiel, also bei mehreren Spielpartner:innen, der Fall, wobei die neuen Erfahrungen auch sprachlich, das heißt auf einem sehr artikulierten Niveau vermittelt werden. Die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass die motivational angestrebte Neuregulierung und Widerspruchsverarbeitung durch die verschiedenen Identifizierungen, Perspektivsetzungen und die Aufnahme neuer Erfahrungen, die durch diese dialektische Spielstruktur und im freiheitlichen Rahmen ermöglicht werden, hinreichend gelingen kann, indem die subjektiven Vorstellungen vom Spielinhalt im dialektischen Spielprozess so weiterentwickelt werden, dass eine intrapsychische (und bei intersubjektiven Spielen auch soziale) Integration erreicht wird.
Der Beitrag der Klinischen Psychologie: Klinische Spielformen und der systematische Einsatz diverser spieltherapeutischer Methoden Unter klinisch-psychologischen Gesichtspunkten ist jedoch hervorzuheben, dass sich in der dialektischen Spielstruktur gewisse Dominanzen zwischen der Widerspiegelungs- und der Wunschdimension in ihrem Verhältnis zum Spielobjekt einstellen können, die verhindern, dass sich der Spielinhalt progressiv entwickelt, und die dazu führen, dass sich stets die gleichen Spielresultate einstellen. Dies hat sich in zahlreichen klinischen Spielstudien immer wieder gezeigt. Der Grund für diese Stagnationen (andernorts auch Wiederholungszwang genannt) hat meist sehr persönliche und emotionale Gründe. Deshalb ist bei der kindlichen Spieltätigkeit unter klinisch-psychologischen Aspekten noch weiter zu differenzieren zwischen den produktiven, reproduktiven, stagnativen und regressiven Spielfor-
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men.1 Diese Differenzierung hebt ebenso auf nicht widersprüchlich strukturierte (selbstregulierende) und widersprüchlich strukturierte (beharrende) Spielprozesse mit einem bestimmten Thema ab wie auch auf solche, bei denen die Vorstellungen auf eine Zeit rekurrieren, die der sozialen Vermittlung des Spielthemas vorgängig ist (regressive Spielprozesse). In gravierenden Fällen kann sich auch eine sehr beharrliche stagnative Spieltätigkeit einstellen. Diese kann so weit um sich greifen, dass die Spieltätigkeit des Kindes insgesamt zum Erliegen kommt, also zur vollständigen Spielhemmung führen. Es ist offensichtlich, dass stagnative und regressive Spielprozesse und die stagnative Spieltätigkeit vermehrt bei Klient:innen der Kinderpsychotherapie auftreten. Diese Spielformen bedürfen einer therapeutischen Behandlung, weil sie nicht von allgemeinen Integrationsleistungen des Spiels, so wie es die Entwicklungspsychologie beschreibt, profitieren können. Meist haben sie quälende widersprüchliche Widerspiegelungen von Spielobjekten, also von bedeutsamen Themen und Inhalten zum Hintergrund. Eine psychotherapeutische Behandlung, die sich dem Medium Spiel annehmen und es methodisch nutzen möchte, muss auf die Motive der einzelnen Spielprozesse abzielen, also auf das, was das Kind mit seinem Spielinhalt mehr oder weniger bewusst ausdrücken und regulieren möchte. Deshalb enthält eine spieltherapeutische Behandlung genauso wie bei anderen therapeutischen Prozessen eine Problemkenntnis- und eine Problemlösungsphase. Bei dem hermeneutischen Prozess, der auf ein Verständnis für die Symbolik und für die Abstraktion der Spielinhalte hinsichtlich ihrer hintergründigen Motive abhebt, sind Therapeut:innen zunächst auf Informationen und Eindrücke angewiesen, die sie nach und nach in der Umfeld- und Elternarbeit sowie während der Problemerkenntnisphase in der Therapie gewinnen. In der Therapie sollten sie sich schon von Beginn an als aktive Spielpartner:innen anbieten, das Kind aber die Spiel1 Spielprozesse sind einzelne Spiele mit bestimmten Spielobjekten bzw. Spielinhalten oder -themen. Diese Spielprozesse sind dann produktiv, wenn der Spielprozess ein höheres Erkenntnisniveau vom Spielobjekt als die bisherigen Vorstellungen vom Objekt erreicht, sie sind dann reproduktiv, wenn ein bislang bestehender Widerspruch vom Objekt gelöst wird. Diese Spielprozesse regulieren sich selbst, bedürfen also keiner Beeinflussung von außen und sind somit nicht Gegenstand spieltherapeutischer Interventionen. Stagnative Prozesse erreichen diese Spielergebnisse aufgrund der derzeit unauflösbaren Widersprüchlichkeit des Objekts nicht. Bei hinreichend vielen stagnativen Spielprozessen kommt die gesamte Spieltätigkeit zum Erliegen. Eine stagnative Spieltätigkeit ist also davon gekennzeichnet, dass das Kind nur noch wenige, sich wiederholende Spiele oder im Extremfall gar nicht mehr spielt. Bei regressiven Spielprozessen umgeht das Kind den derzeit unauflösbaren Widerspruch, indem es das problematische Spiel einstellt oder erst gar nicht angeht, sondern auf frühere, nicht mehr altersgemäße, oft kleinkindliche Spielprozesse zurückgreift, die auf einem niedrigeren Niveau mit dem problematischen Spielobjekt in Verbindung stehen. Wenn das Kind überwiegend in dieser Spielform tätig wird, kann man von einer regressiven Spieltätigkeit ausgehen. Der Begriff der Spielform umfasst also sowohl einzelne Spielprozesse als auch die gesamte Spieltätigkeit des Kinds.
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inhalte auswählen und im Spielprozess Regie führen lassen, damit es seine Vorstellungen über den Spielinhalt zunächst frei entfalten kann. Bei einer stagnativen Spieltätigkeit ist hierzu noch ein gewisser Vorlauf notwendig. Hierbei müssen Therapeut:innen zunächst von ihrer Seite einige Spielprozesse sensibel und vorsichtig einleiten, damit das Kind den genuin angstfreien Charakter des Spiels (wieder) erfährt und seine emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten im Schutz der therapeutischen Beziehung (wieder) nutzen kann. Mit Entwicklung der Spielfreude wird das Kind allmählich auch selbst Spielprozesse gestalten, die dann auch zunehmend persönlich bedeutsamer werden. In dem daraufhin einsetzenden hermeneutischen Prozess sind nun auch schon wichtige Anteile des anschließenden Problemlösungsprozesses enthalten. Das liegt daran, dass sich in der andauernden gemeinsamen Spieltätigkeit nicht nur bei Therapeut:innen allmählich ein Verständnis für die spielinitiierenden und spielgestaltenden Motive entwickelt, sondern auch dem Kind die persönliche Bedeutung des Spielinhalts zunehmend bewusster wird. Dieser Prozess der Bewusstwerdung kann allerdings auch methodisch unterstützt werden. Hier bieten sich zunächst Methoden aus der personenzentrierten Spieltherapie an, die in der Lage sind, die spielbegleitenden Emotionen zu sondieren und in ihrer Erlebnisqualität zu verdeutlichen. Ihr Einsatz kann während des gemeinsamen Spielprozesses und/oder in den anschließenden (Nach-)Gesprächen erfolgen, in denen der gemeinsame Spielprozess reflektiert wird. Insbesondere auch zur Sondierung und zur Entflechtung der widersprüchlichen subjektiven Vorstellungen vom Spielinhalt können personenzentrierte Methoden einen wichtigen Beitrag leisten. Tiefgehender sind jedoch die psychotherapeutischen Deutungen, die Therapeut:innen dann einsetzen können, wenn sie sich ihrer Interpretation des Motivs weitgehend sicher sind und die therapeutische Beziehung an sich für solche Deutungen tragfähig ist. In der psychoanalytischen Diskussion um den Stellenwert der Deutung in der Kindertherapie haben sich Ansätze entwickelt, die symbolische Deutungen auf der Handlungsebene vorziehen, da sie im Vergleich zu verbalen Deutungen weniger angstauslösend sind. Psychoanalytiker:innen wie Zulliger und Berna haben schon sehr früh aufgezeigt, wie die symbolischen Deutungen in die Spielhandlungen der Therapeut:innen einfließen und in einer spieltherapeutische Behandlung untergebracht werden können. Dies setzt allerdings eine aktive Beteiligung der Therapeut:innen am Spiel voraus, was in der Psychoanalyse umstritten ist. Davon abweichende Psychoanalytiker:innen wie die beiden oben genannten haben jedoch aktiv und erstmals den Spielinhalt im Sinne ihrer Deutung mitstrukturiert. Die von Therapeut:innen ausgehende Veränderung des Spielinhalts auf der Handlungsebene beinhaltet demnach die Deutung, die auf die subjektiv mehr oder weniger bewussten Vorstellungen des Kindes abhebt.
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Personenzentrierte und spezielle psychoanalytische Methoden sind also geeignet, die subjektive Seite des Spielprozesses zu erhellen. Es wurde bereits gesagt, dass der Spielprozess bei der Widerspruchsverarbeitung nicht nur die symbolische Nachgestaltung des Themas, sondern auch seine Veränderung in der Spieldialektik anstrebt, was auch eine Aufnahme neuer Erfahrungen im Spielprozess miteinschließt. Diese Veränderungsfunktion des Spiels kann im Sinne eines Problemlösungsprozesses methodisch genutzt werden. Insbesondere bei stagnativen Spielprozessen kann das Kind dabei auf die aktive Mithilfe seines Gegenübers angewiesen sein. Hierzu können verhaltenstherapeutische Methoden zum Einsatz kommen, vor allem wenn sie dazu dienen, dass der Spielprozess durch bestimmte Strukturhilfen, Modellvorgaben und Verstärkungen derart verändert und aufbereitet wird, dass die Widerspruchsverarbeitung im Spielprozess potenziell und auch von seiner Objektseite her möglich wird. Dies kann z. B. durch gezielte Modifikationen der räumlichen Spielsituation und der Spielsymbolik sowie eines problemlösenden Spielverhaltens der Therapeut:innen erreicht werden. Weitere Möglichkeiten bieten sich auf interaktiver und systemischer Ebene, wobei insbesondere in der Gruppentherapie die Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten des Spiels dadurch verbessert sind, dass mehrere Spielpartner:innen in das Spiel einbezogen werden, die ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Spielobjekt einbringen. Hierbei müssen sich zur Steuerung des gemeinsamen Spielprozesses die subjektiven Vorstellungen der am Spiel Beteiligten artikulieren, damit das gemeinsame Spiel allseits als befriedigend empfunden wird. Auch andere Interpretations- und Umgangsweisen mit dem Spielobjekt werden hierüber vermittelt, was sich den am Spiel Beteiligten als neue Erfahrung mitteilt. Dies ist aber auch in gewisser Hinsicht in einer vertrauten Spielpartnerschaft möglich, bei der die Spielebene durch gemeinsame Steuerungen und Kommentierungen auf verbaler Ebene reguliert wird. Bei den genuin verhaltenstherapeutischen Methoden, die auf die Veränderungsfunktion des Spiels abheben, ist jedoch stets darauf zu achten, dass das Kind tatsächlich selbst und eigenständig in einer neuen Spielform tätig werden kann und sich nicht nur den veränderten Bedingungen des Spielgefüges anpasst. Die Widerspruchsverarbeitung, die im Spielprozess geleistet wird, vermittelt sich zunächst über die veränderten Spielziele und Spielresultate, die das Kind durch eine veränderte Regulierung der verschiedenen Aspekte und Perspektiven im Spiel erreicht hat. Die Spielziele können dabei als subjektive und prototypische Lösungen für Konflikte und Widersprüche gelten, die im sozialen Lebenskontext des Kindes entstanden sind. Das Kind erhält im Spiel eine Vorstellung davon, dass es sich diesen Konflikten und Widersprüchen gegenüber bewusster und aktiver verhalten kann; dies bewegt es dazu, auch im realen Alltag handlungsfähiger zu werden und Lösungen anzustreben, in denen so-
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wohl die subjektiven Bedürfnisse als auch die objektiven Integrationserfordernisse der Außenwelt berücksichtigt sind.
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»Ich fühle eine Welt in mir entstehen.« Paula Modersohn-Becker und ihr Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag
Abb. Paula Modersohn-Becker, Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag, 25.5.1906, Öltempera auf Pappe, 101,8 x 70,2 cm, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen, Foto: © Paula-Modersohn-BeckerStiftung, Bremen.
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»… die Seele jeder großen Kunst ist das Intime …« (Modersohn-Becker, 1902) – Claudia Heinze Paula Modersohn-Becker wurde am 8. Februar 1876 als Minna Hermine Paula Becker in eine bildungsbürgerliche Familie in Dresden geboren. Nach der künstlerischen Ausbildung in Berlin und London führte es sie in die Künstlerkolonie Worpswede. Hier heiratete sie 1901 den elf Jahre älteren Landschaftsmaler Otto Modersohn (1865–1943), der seine Tochter Elsbeth aus seiner ersten Ehe mitbrachte. In dieser Zeit ging Modersohn-Becker weiterhin der Malerei in ihrem eigenen Atelier nach. Neben Landschaftsbildern in der freien Natur galt ihr Interesse verstärkt und erkennbar der Darstellung von Menschen. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit schreibt sie in ihr Tagebuch jedoch über Einsamkeit, Zweifel und Enttäuschung; sie sehnte sich nach einer erfüllten Partnerschaft (Busch/v. Reinken, 1979). Darunter verstand sie, im Gegensatz zu Otto Modersohn, auch die körperliche Liebe. Diese hatte ihr Otto Modersohn auch nach fünf Jahren Ehe noch verwehrt. Auch den Wunsch nach einem Kind hegte sie in ihrem Inneren. Insgesamt vier Mal zwischen 1900 und 1907 reiste sie nach Paris, das für sie ein Ort der Zuflucht und künstlerischer Selbsterfahrung wurde. In der Tat befand sich Modersohn-Becker in ihrem kleinen Pariser Atelier, als sie ihr sogenanntes Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag malte, welches in der Kunstgeschichte als erster Selbstakt einer Frau gilt. Noch nie zuvor hatte sich eine Frau selbst nackt gemalt – und zusätzlich auch noch schwanger. Ein gleich doppelter Tabubruch. Und dann handelt es sich auch noch um eine Scheinschwangerschaft! Für das Verständnis von der Entstehung des Bildes ist es von großer Bedeutung, dass sich Modersohn-Becker Anfang des Jahres 1906 entschied, Worpswede und ihren Mann Otto Modersohn zu verlassen. In Worpswede fühlte sie sich zunehmend eingeengt und nicht verstanden. Noch im Jahr der Trennung malte sie ihre mitunter bedeutendsten Selbstbildnisse, Stillleben und Porträts. Kommen wir näher zum Werk.
Werkbeschreibung Das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag von Paula Modersohn-Becker entstand im Jahr 1906. Es misst 101,5 x 70,2 cm und wurde in Öltempera auf Pappe im Hochformat angefertigt. Heute befindet es sich in der Ludwig-Roselius-Sammlung in Bremen. Modersohn-Becker stellte sich selbst in einem Halbakt dar, stehend vor einer gepunkteten Fläche.
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Sie trägt eine bernsteingelbe Kette, die ovalförmig um ihren Hals bis zu ihren Brüsten reicht. Um ihre Hüfte trägt sie ein weiß-bläuliches Tuch, welches ihre primären Geschlechtsmerkmale bedeckt. Außer der Kette und dem Tuch trägt sie weiter nichts. Sie hält den Kopf leicht zur Seite geneigt und blickt direkt aus dem Bild heraus in unsere Richtung. Das rotbraune Haar ist nach hinten zusammengesteckt und in der Mitte gescheitelt. Über den großen, braunen, mandelförmigen Augen sind zwei Linien, welche Augenlider und Augenbrauen darstellen. Die Schultern fallen tief ab und verleihen der Haltung ihres Oberkörpers eine gewisse Gelassenheit. Beide Arme sind angewinkelt, ihr rechter Arm etwas stärker; er liegt oberhalb ihres nach außen gewölbten Bauchs. Der rechte Arm rahmt den oberen Teil des Oberkörpers ein. Dabei entsteht eine Zweiteilung des Oberkörpers: in Busen und Kette oberhalb und den gewölbten Bauch unterhalb des rechten Arms. Der linke Arm befindet sich an ihrem Unterbauch vor dem Tuch, ohne es jedoch zu halten oder zu greifen. Zusammen umschließen beide Arme den gewölbten Bauch auf ihrer linken Seite und lassen auf ihrer rechten Seite eine Öffnung zu, die uns einen uneingeschränkten Blick auf ihren Bauch gewährt. Gleichzeitig ergibt die Armhaltung auch die Form einer S-Linie, die bei der Neigung ihres Kopfes anfängt, über ihre rechte Schulter verläuft und bei ihrer linken Hand unterhalb des Bauchs endet. Die Hände sind jeweils leicht geschlossen und abgerundet, als würde sie sich selbst festhalten. Im gesamten Bild überwiegt eine runde, modellierte, geschlossene Formgebung. Diese kommt sowohl in der Kontur des abgerundeten Körpers als auch in den einzelnen Körperteilen wie den Augen, den Brustwarzen, dem Bauchnabel und in den einzelnen Steinen der Kette zum Ausdruck. Das Gesicht und der Körper setzen sich aus unterschiedlichen Farbflächen zusammen. Leichte Rottöne zeigen sich in den Lippen und Wangen, der Nasenspitze und dem Ohr. Abgeschwächt kommen diese noch einmal in den runden Brustwarzen vor. Die Haut ist in pastellen Tönen gemalt und »vibriert« aufgrund von deutlichen Pinselstrichen und -ritzungen. Schattierungen wie beispielsweise unter ihren Brüsten oder unterhalb des rechten Arms sind etwas dunkler herausgearbeitet. Die Künstlerin setzt sich bildfüllend in die Mitte und in den Vordergrund des Bildes. Mit klaren Konturen grenzt sich der Körper vom Hintergrund ab. Die Hintergrundfläche ist gefüllt mit zahlreichen getupften Punkten. Die gelbgrünlichen Tupfer umgeben sie von beiden Seiten, auf der rechten Bildhälfte etwas mehr als auf der linken. Der Hintergrund enthält keinerlei Information über Ort oder Zeit.
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Rechts unten auf dem Bild sieht man die in die Farbe gekratzten Worte: »Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6. Hochzeitstag P. B.« In Schreibschrift fügte sie diese Information als Bildelement hinzu.
Selbstakt Das Bild ist nicht nur Selbstbildnis, sondern auch Selbstakt. Es ist ein intimer Einblick, den uns Modersohn-Becker auf sich wie auch in sich gewährt. Sie offenbart ihren Blick auf sich selbst in Bezug zu ihrer Umwelt. Der unbekleidete Oberkörper erscheint zunächst ausgeliefert und ungeschützt. Die Haltung der Arme sowie die Bernsteinkette verleihen ihrem zunächst ausgeliefert erscheinenden unbekleideten Oberkörper etwas Schützendes. Die gepunktete Fläche im Hintergrund, die sie umgibt, wirkt verspielt und lässt das Bild, auch weil es keine konkrete Raumsituation gibt, von der Realität losgelöst erscheinen. Diese Isolation ist auch der Grund für den träumerischen Charakter des Bildes. Hierdurch wird der intime Eindruck des Bildes verstärkt; sie erlaubt es uns, uns ungestört in das Bild einzufühlen und uns dabei völlig auf die dargestellte Person zu konzentrieren. Modersohn-Beckers Blick ist es, der uns bei der Betrachtung des Selbstbildnisses auf Anhieb fesselt. In sich ruhend, dennoch herausfordernd, selbstentschlossen und zuversichtlich, aber auch fragend blicken die großen, braunen Augen direkt in unsere Richtung. Es ist ein eindringlicher Blick, der fast schon unausweichlich ist. Ein wohlwollender und prüfender Blick, der womöglich auf das Spiegelbild des nach außen gewölbten Bauches gerichtet ist und fragt: Was trage ich da in mir? Möglicherweise ist es auch die Frage eines jeden Selbstporträts, nämlich die nach der eigenen Identität: Wer bin ich? Woher aber kam bei Modersohn-Becker das Verlangen, den Selbstakt zum Bildthema zu machen? Aus einem Brief an Otto Modersohn geht hervor, dass sie den nackten Körper direkt mit ihrer Innenwelt, ihrem Seelischen verknüpft. Sie schreibt im Februar 1903: »Du bist mein lieber Schatten, in dem ich mich kühle und das kühle Wasser, in dem ich meine kleine runde Seele bade, von der ich das Gefühl habe, dass sie so aussieht wie mein Akt« (Busch/v. Reinken, 1979, S. 340). In diesem Selbstakt ist es Modersohn-Becker aber dennoch wichtig, sich nicht vollständig nackt zu zeigen. Sie trägt ganz bewusst das Tuch um ihre Hüfte und stellt sich im Halbakt dar. Sie verhüllt ihre primären Geschlechtsmerkmale mit dem Tuch. Sie scheint danach zu greifen, greift es aber nicht, denn es hält wie von allein. Selbstbewusst entscheidet sie, wie viel sie von sich zeigt. Bewusst legt sie ihren gewölbten Bauch sowie ihren Busen frei. Die Form der Arme als geschlungene S-Linie lässt sich in diesem Sinne näher deuten: In der Darstellung des zerteilten Körpers könnten zwei Entwicklungs-
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phasen angesprochen werden. Der obere Teil des Oberkörpers stellt eine junge, noch mädchenhafte Heranwachsende dar. Der gewölbte Bauch spiegelt dagegen eine Frau wider, in der nun etwas heranreift. Geht man von dieser Deutung aus, lässt sich weiter ausführen, dass sie auch innerlich die Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht zweigeteilt erlebt hat. Modersohn-Becker sucht danach, sich den eigenen, fruchtbaren weiblichen Körper über das Malen anzueignen. Durch ihren Selbstakt kommt sie sich näher, erforscht sich innerlich wie äußerlich und setzt sich mit ihrer Weiblichkeit auseinander, die sie mit geschlossenen, harmonischen Formen betont und modelliert. Mit beiden Armen umarmt Modersohn-Becker ihren Bauch, was schützend und wohltuend wirkt. Die obere, auf dem Bauch liegende Hand hebt noch mehr die Wölbung des Bauches hervor. Sie lässt selbstbewusst einen freien Blick auf ihren nackten Bauch gewähren. Die geschlossenen Formen sowie die Festigkeit der Kontur könnten darauf hindeuten, dass sie sich selbst genug ist und nunmehr von selbstbewussten Vorstellungen erfüllt ist. Die Neigung des Kopfes deutet auf den prüfenden und fragenden Moment hin, in dem sie sich fragt, ob und wie sie sich schwanger fühlt. Wie aus biografischen Daten überliefert ist, war Modersohn-Becker zu diesem Zeitpunkt nicht schwanger (Busch/v. Reinken, 1979). Sie wünschte sich zwar ein Kind, wollte es zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr von Otto Modersohn haben. Schon in früheren Malereien und Zeichnungen fing Modersohn-Becker an, Mutter-Kind-Darstellungen im Akt zu behandeln. Krininger schreibt: »Ihre Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper konzentriert sich auf die Darstellung von Mutterschaft an sich und wie diese durch Farbe und Form künstlerisch erfassbar wird« (Krininger, 1986, S. 103). Mit dem Thema der Mutterschaft spricht Modersohn-Becker in ihrem Selbstbildnis ganz individuelle Empfindungen aus und möchte diese in ihrer Malerei deutlich machen. Die Frage danach, wie es wohl sei, schwanger zu sein, allein, ohne Mann, aber doch mit Kind, beschäftigte sie und wird im Bild deutlich, in dem der Mann nicht auftaucht. Auch die Art, wie sie selbst, wie aus dem Tuch heraus, entsteht, vergleichbar mit einer Blüte, hebt ihre neue Eigenständigkeit hervor. Das Tuch, die Verschleierung, mag auch für die Welt des Traums stehen: eine Traumgebärende! Sie unterschreibt das Bild mit ihrem Mädchennamen: P. B. (Paula Becker). An Rilke, mit dem sie eng befreundet war, schreibt sie: »Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker. Ich bin Ich, und hoffe, es immer mehr zu werden« (Zitat Paula Modersohn-Becker an Rilke, 17. 11. 1906; Busch/v. Reineken, 1979, S. 434). In Modersohn-Beckers Selbstakt wird der Wunsch, etwas zu erschaffen, erkennbar. Das Alleinsein gab ihr ein neues Gefühl von Freiheit und Unabhän-
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gigkeit. Der Rückzug von ihrer gewohnten Umgebung bot ihr schöpferische Energie und malerische Eigenständigkeit in ihrer künstlerischen Produktion (Busch/v. Reinken, 1979, S. 448–464). Sie malte sich aus, wie es wäre, in sich Leben zu schaffen. Kein nur reproduzierender Körper, sondern ihre schöpferische Fähigkeit als Frau, aufgeteilt in Mutter und Künstlerin zugleich, stehen im Zentrum ihres Bildes. In ihrem Selbstakt macht sich Modersohn-Becker nicht zum Objekt männlichen Begehrens. Sie verzichtet auf eine genrehafte, idealisierende Darstellung. Vielmehr malte sie ihren Körper so, wie sie sich selbst sah und sehen wollte. Das Tuch um ihre Hüfte liegt zwar noch schwer an ihrem Körper, gleichzeitig spielt sie mit diesem Element im Bild, in dem sie ihre primären Geschlechtsmerkmale verdeckt halten oder auch zeigen kann. Es ist der weibliche Blick auf den eigenen Körper, den Modersohn-Becker unternimmt; ein aktiver Blick, kein ErblicktWerden. Ihr Selbstakt ist eine Annäherung an ihren ganz eigenen Körperraum und die damit verbundenen eigenen Weiblichkeitsvorstellungen. Die Art und Weise, wie sie die Farbe auftrug, in ihr Bild kratzte, damit eine raue Oberfläche ihrer Haut entsteht, spiegelte ihre ganz eigene Form von Körperausdruck wider und bringt uns den aufgewühlten Moment näher, in dem sie sich befand. Sie erforschte das diffuse Innere und wuchs dabei vielleicht auch über sich selbst hinaus. Wie sich demnach abschließend zeigen lässt, ist es auch die Welt in sich, die sie entdeckte und deren Innenraum sie mit Wunschgedanken füllte.
Modersohn-Becker blickt uns an. – Bettina Ganse Es ist die Blickordnung, die den Akt ausmacht. Zumindest bis Anfang des 20. Jahrhunderts ist es so: Der Mann schaut auf die Frau. Sie wird nicht als sie selbst in ihren Gefühlen, ihrem Begehren erkannt, sondern spiegelt männliche Erwartungen. Die Männer schauen und die Frau zeigt passiv ihren Körper. Modersohn-Beckers Akt bildet hier einen Umbruch: Sie bemächtigt sich des Aktes auf ihre ganz eigene Weise. Der Akt der passiven, schönen Frau soll den Schrecken der Versehrtheit, der Sterblichkeit und des Geborenwerdens abwehren. Modersohn-Becker wendet das Thema ins Aktive und zeigt sich selbst als Leben schaffende Frau, die damit zugleich auch Macht über Leben und Tod besitzt. Sie zeigt sich in ihrer Ganzheit, die den Kreislauf von Geburt – Leben – Tod in sich trägt. Der Verlust durch die Trennung von ihrem Mann wird geleugnet durch die Vorstellung, durch ein Kind omnipotent und unsterblich zu werden, auch unversehrt durch Trennung.
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Hier liegt eine neue Ausformung des (bis dahin männlich geprägten) Aktthemas vor: Der Schrecken des Versehrtseins soll im Akt gebannt werden. Die mögliche Ankunft eines Kindes verleiht erneut Unsterblichkeit. Die Integrität von Soma und Psyche wird im Bild verifiziert. Fragend (vielleicht: Was heißt Weiblichkeit für mich?), prüfend, herausfordernd, matt lächelnd, vielleicht auch einladend blickt sie. Die großen, dunklen und forschenden Augen könnten dafür stehen, dass es um die Suche nach Selbsterkenntnis geht. Modersohn-Becker erforscht sich selbst – und auch uns? Wir spüren ihre Zeigelust. Sie malt den Wunsch, in unseren Augen als Schwangere gespiegelt zu werden. Körpererfahrungen in Beziehung zu anderen zu symbolisieren, ist ein frühes Bedürfnis der Kinder. Frau braucht einen kulturellen Raum, ein Gegenüber, das sich mit der weiblichen Potenz identifizieren kann, oder ein:e Analytiker:in, der:die sie bei der Versprachlichung der körperlichen Erfahrungen unterstützt. Der Blick hat auch etwas Triumphierendes: Geht es um den Triumph über die Kränkung, vom Mann, Otto Modersohn, ausgeschlossen worden zu sein aus dem Begehrtwerden? Das Triumphale könnte auch die Mächtigkeit betreffen: Ich kann aktiv aufnehmen oder ausstoßen! Gleichzeitig kann der Blick als verführend erlebt werden, wozu die S-Linie passt: das S als Schlange! Freud beschreibt als typisches Urszenenbild: Die dritte Person schaut auf das Paar. Sind wir es, die aus der Urszene ausgeschlossenen werden, indem Modersohn-Becker sich zum Paar kreiert? Oder ist es der Mann? Modersohn-Becker schließt ihn einerseits aus, indem sie das Bild erstmals mit ihrem Mädchennamen signiert. Andererseits ist er doch präsent: Der Hochzeitstag als Tag des Paares wird zur Rahmung genutzt. Werden wir also appellativ in ein Rollenspiel hineingezogen, in dem Mutter und Kind das Paar sind und der Mann der Ausgeschlossene? Oder wird er verführt, mit dazuzukommen? Es scheint, als finde eine Triangulierung statt: Die Zwei-Einheit aus Malerin und Kind wird durch uns zu einer Dreiecksbeziehung und schützt so vor Fusionsphantasien und der Auflösung von Grenzen. Das Bild hat etwas von einer Kostümprobe, sie wird im sicheren privaten Rahmen der Dyade vorgenommen – und doch ist der Andere, der Dritte, der zeugende Mann gegenwärtig. Das Bild erinnert an eine Adoleszente, die sich im Spiegel ausprobiert. Als möchte sie uns herausfordernd verführen zum Bejahen ihrer Weiblichkeit. Es gelingt ihr, sich im Akt so zu malen, dass sie nicht zum Objekt männlichen Begehrens wird: Sie ist es, die herausfordert, lockt. Es geht ums Erkennen und Erkannt-Werden. Sie stellt ihre phantasierte sinnliche Erfahrung aktiv in einen intersubjektiven imaginativen Raum. In uns möge der Körper Sprache finden. Sie schafft einen Phantasieraum, in dem ein noch ungezeugtes Kind willkommen geheißen wird.
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Schwangerschaft als Phantasma Das Bild beschäftigte mich auch deshalb, weil ich bemerkte, wie oft Analysand:innen (auch Männer) als Initialtraum eine Schwangerschaft erleben oder in der Probatorik schwanger werden. Voll guter Hoffnung in Bezug auf eine Psychoanalyse Verbindungswünsche mit der Analytikerin erträumend – eine ideale Mutter/Kind-Einheit. Mit einem Kind der Mutter nah? Die Schwangere berührt ihre eigene Mutter, indem sie sich das Kind wünscht, sie wird ihre Mutter, setzt sie fort und differenziert sich. In Identifikation mit dem Kind erträumen sich Analysand:innen die Nähe zur Mutter. Mittels des Babys mögen sie meinen, endlich das ideale Kind der eigenen Mutter zu werden. Das imaginäre Kind wird seine Mutter auf ideale Weise lieben, es wird der Frau ihr Ich–Ideal wiedergeben und sie so der idealen Mutter gleichmachen. Es wird Vollständigkeit bringen. Chasseguet-Smirgel beschreibt die Schwangerschaft als Möglichkeit der Frau, mit der Mutter eins zu werden durch die phantasierte Einheit mit dem Fötus und so ein primäres unbewusstes fusional-ozeanisches Verschmelzungserleben mit der Mutter »wiederzufinden« (vgl. Moré, 2005). Und oft imaginieren Patient:innen ihre Selbstentwicklung als Geburt. Die Analyse, so die Hoffnung, möge eine bessere Geburt des Selbst ermöglichen.
Modersohn-Becker mag sich gefragt haben: Kann ich eine gute Mutter sein? Zunächst erschien sie mir als Person unbeschwert, froh, voller Lebenslust. Mich beschäftigte dann, dass ich und andere Ausstellungsbesucher:innen teilweise ihr Werk als schwer, beschattet erlebten. Sie scheint das Depressive nicht zu vermeiden. Sie sieht die Menschen mit Einsamkeit und Ernst. Ich las, dass sie vierjährig einen Bruder bekam. Es ist das Alter, in dem sich Mädchen intensiv ein Kind vom Vater wünschen (nachdem sie es sich in der Phase davor von der Mutter wünschten). In den unbewussten Phantasien wird das neugeborene Geschwister als eigenes Kind erlebt (und gleichzeitig als Rivale). Zwei Jahre später starb der Bruder. Psychoanalytisch gesehen könnte Modersohn-Becker für sich den Tod so interpretiert haben: Der »verbrecherische« Wunsch, ein Kind vom Vater zu wollen, die ödipale Sünde, wird bestraft mit dem Tod des Bruders. Modersohn-Becker erlitt dann im Alter von neun einen weiteren Verlust: Mit ihrer »sehr geliebten Cousine« bohrte sie Löcher in eine Sandgrube, eine Sandwand stürzt ein und begräbt die Cousine. Modersohn-Becker wird bis über den
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Kopf verschüttet. Sie habe ihren Kopf in den Sand gesteckt, um das »Furchtbare nicht zu sehen«. Still habe sie zur toten Cousine gesagt: »Du bist mein Vermächtnis.« Gegen Ende ihres Lebens schrieb sie: »Und sie ist es geblieben.« Und Modersohn-Becker schrieb immer wieder: »Ich weiß, dass ich nicht lange lebe« (Busch/v. Reinken, 1979). Sie meinte als erwachsene Frau, sie werde sterben, wenn sie ein Kind bekomme. Überlebensschuld mag an ihr genagt haben. Der psychoanalytische Begriff der Nachträglichkeit lässt sich auch so verstehen, dass vergangene Ereignisse nicht nur über eine Veränderung der Triebstruktur im Nachhinein Bedeutung erfahren, sondern auch über ein neues Erlebnis durch assoziative Verbindung eine tiefere Dynamik bekommen. Es ist anzunehmen, dass Modersohn-Becker Schuldgefühle hatte, dass sie das Unglück überlebte und dass sie es durch ihr Spiel mit hervorgerufen hat. Dies wird sich verknüpft haben mit früheren Phantasien bezüglich des Bruders, so mögen unbewusst die Phantasien um den Tod der Cousine den Tod des Bruders nochmals interpretiert haben. Zweifel an ihrer Liebesfähigkeit, ihrer Fürsorge, ihrer möglichen Destruktivität mögen durch den Tod der geliebten Cousine verstärkt worden sein, zumal Modersohn-Becker an dem Spiel aktiv beteiligt war. Es muss schwer geworden sein, auch aggressive Empfindungen zu integrieren. War sie keine gute Mama? Vielleicht haben diese Konflikte eine Identifizierung mit der eigenen Mutter erschwert, weil sie deren Rache (kleine Kinder phantasieren sich als verantwortlich für Schicksalsschläge) fürchtete. Könnte ein eigenes Kind Verrat bedeuten am Vermächtnis der Cousine? Es mag eine unbewusste Angst gegeben haben vor Rache und Vergeltung, wenn sich Wünsche realisieren. Liegt darin, sich schwanger zu malen, der Wunsch, sich selbst zu verzeihen? Ist das Bild der Versuch einer Versöhnung mit der alten »Schuld« am Tod der Kinder?
Sehnsucht guter Hoffnung zu sein – Modersohn-Becker macht »Luftreisen« So nennt sie ihre Tagträume, und in unserem Bild greift sie tatsächlich Luft. »Ich glaube, mein Glück besteht in der Hoffnung auf das Erfülltwerden meiner Wünsche. Habe ich es dann erst in der Hand, scheint es mir gar nicht mehr so reizvoll.« Darum sei die Pariser Zeit so glücklich, »da hatte ich so viele starke Hoffnung«. »Das unentwegte Brausen dem Ziele zu, das ist das schönste im Leben.« So ist es auch in dem Akt: Die linke Hand greift, aber hält nichts. Dies
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lässt sich als Ausdruck des Noch-nicht-Realisierens verstehen. Und so datiert sie das Bild auf den sechsten Hochzeitstag – es war der fünfte! Dass das Glück Modersohn-Beckers eher in der Sehnsucht und weniger in der Realisierung liegt, erinnert an Freud, der beschreibt, wie er aufgrund eines Schuldgefühls seinem Vater gegenüber das Begehrte (Besuch der Akropolis) psychisch nicht realisieren darf, obwohl er sich so viele Jahre danach gesehnt hat. Es sei eine »Regung der Pietät« seinem toten Vater gegenüber gewesen, die ihm den Genuss verwehrte. Der Tod der Cousine war Modersohn-Beckers Vermächtnis: Die Sehnsucht wird vorgezogen, weil die Realisierung letztlich noch mit zu großer Schuld den frühen Objekten gegenüber verbunden wäre. So gesehen spiegelt das Bild die Differenz zwischen Triebwunsch und Triebrealisierung. Übernimmt das gemalte Bild eine Funktion, gerade weil die eigenen weiblichen Körperrepräsentanzen und Wünsche noch nicht in der Gänze ausgebildet sind? Dann wäre der Akt ein Wunschbild, der das Ängstigende am versteckten weiblichen Genital versteckt hält und qua Imagination abwehrt. Die Aneignung soll qua Visualisierung im Malen konkret passieren, weil das Realisieren noch zu ängstigend ist. Tragischerweise bleibt ihr ihre eigene Mutterschaft bis auf die Schwangerschaft und wenige Tage mit der Neugeborenen verwehrt. Auch in der Wahl ihres Mannes zeigt sich: Das Paar bleibt fast bis zu ihrem Tod vor der Realisierung als Liebespaar stehen. Im Akt zeigt sie den Verrat ihres Mannes an ihr an: Er hat mich nicht zur Frau gemacht, ich trage noch den Mädchennamen. So gesehen ist das Bild auch eine Anklage. Vielleicht auch eine Art Rache. Gleichzeitig spielt sie mit ihren Wünschen an Modersohn, spricht zu ihm, indem der Akt auch wie ein Zitat eines Bildes von Rembrandt wirkt (was beide kannten). Er war der Lieblingsmaler von Otto Modersohn. Rembrandts Bild heißt »Die jüdische Braut« und zeigt Rebecca (die ja auch sehr lange auf ein Kind gewartet hat) in der identischen Gestik wie im Akt hier. Im Unterschied dazu berührt jedoch der Bräutigam die Hand der Braut in berührender Weise. Es dämmert Modersohn-Becker, dass sie eine Liebesbeziehung braucht, dass die Freiheit nicht alles ist, und einige Monate später projiziert und delegiert sie die Abhängigkeitswünsche nicht länger in und an Otto, sondern geht die Bindung erneut ein. Sie hat sich als autonomes Subjekt im Selbstakt erschaffen; vielleicht gelingt es ihr, darüber auf neue Art Teil der Paarbeziehung zu werden.
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Ambivalenz In dem Akt bindet Modersohn-Becker sich an ein Kind. Sie malt es in der Stadt Paris, in der sie ihre »Freiheit« , wie sie betont, erlebt. Sie macht ihren Körper zu einem Körper für zwei. Die Freude, die sie in der »Freiheit« in Paris findet, erfährt einen Gegenentwurf durch die Kinderwunschphantasie. Gleichzeitig scheint sie zu fragen: Wozu brauche ich dich, ja überhaupt andere Menschen? Es wirkt, als erschaffe sie sich selbst und reproduziere sich; selbstgenügsam, autoerotisch und prokreativ zugleich. Ambivalenz der Bindung: Sie ist dem gemalten Bauch zufolge schwanger im fünften Monat. Wäre die Trennung von Otto im Januar der imaginäre Zeugungsmoment, so wäre sie am 25. Mai im fünften Monat der Schwangerschaft. Neun Monate nach der Trennung kommt es dann real zur Versöhnung. Sie ist nicht mehr allein. Ist es eine Einheit, nach der sie sucht? Regressive Wünsche nach Vereinigung und Geborgenheit werden berührt. ModersohnBecker stellt eine symbolische Wunscherfüllung her. Mit dem Mädchennamen wird nahegelegt, dass es nicht primär um die Verankerung des Kindes zwischen Mann und Frau geht. Ist die Empfängnis unbefleckt? Modersohn-Becker wird die Marienbilder kennen, die um 1400 entstanden: Sie zeigen die schwangere Jungfrau Maria in ähnlicher Haltung. Das Bild zeigt beides: die Anerkennung des Zeugungsaktes und dessen Verleugnung. Vielleicht steht der Embryo hier auch für die frühe Mutter, die angesichts der Trennung von Otto aufgesucht wird. Modersohn-Becker kreist um ein Trennungsunglück, in dessen Hintergrund auch der Tod vom Bruder und der Cousine stehen. Das Bild strahlt ein Einssein aus mit einem im Körper erlebten guten Objekt. Diese Anwesenheit genießt sie! Sie hat es selbst erschaffen, wie ein Übergangsobjekt, das ihren Bindungswunsch in der Pariser Freiheit symbolisiert. Es verlässt sie nicht. Auch die Kette lässt sich hier als Bindungssymbol verstehen und mag vielleicht auch für narzisstische Ganzheit stehen. Die Kette ist wie das gesamte Bild, das Ganzheit und Geschlossenheit ausstrahlt und seelische narzisstische Unvollkommenheit aufzuheben scheint. Das imaginäre Kind wird Vollständigkeit bringen. Sie hat sich einen intermediären Übergangs-Raum erschlossen, der, wie Winnicott (2002) schreibt, zwischen Autoerotik und Objektbeziehung liegt. Er liegt zwischen der eigenen inneren und der äußeren realen Welt. Letztendlich hilft die Übergangserfahrung, Abwesenheit und Trennung zu ertragen – und Modersohn-Becker hat ja gerade eine Trennung initiiert und gleichzeitig erlitten. Das Übergangsobjekt tritt an Stelle der Abwesenheit des Objekts mithilfe eigener malender Aktivität und stellt die phantasierte Einheit wieder her.
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Das phantasierte gemalte Kind könnte als Verbindungsglied zwischen dem verlorenen Liebesobjekt und der Künstlerin stehen. So mag nach der erlittenen Kränkung eine narzisstische Rückgewinnung des Körpers gelingen. Ziel eines Übergangsobjekts ist es letztlich, den Verlust der Mutter rückgängig zu machen. 1907 wird Modersohn-Becker ihrer Tochter den Vornamen ihrer Mutter geben.
Weiblichkeit Modersohn-Becker betont in dem Bild weibliche Eigenschaften. Vielleicht sucht sie im Malen nach einem fühlbaren Körperwissen, das mit körperlicher Resonanz verknüpft ist. Der Körper wird zum fruchttragenden, lebensspendenden Gefäß, das sie narzisstisch besetzt und stolz in die Welt trägt. Der Körper ist potent und die reproduzierenden Organe sind positiv besetzt. Das Nackte wird zur fruchtbaren weiblichen Natur. Die weibliche psychosexuelle Entwicklung (bis ins Alter) zeichnet sich durch ausgeprägte Veränderungen des Körperbildes aus, das immer wieder neu definiert werden muss (vgl. Berger, 2011). Die Veränderungen betreffen vor allem die Verbindung zur Mutter, aber auch verschiedenste körperliche Veränderungen.
Was könnte in dem uns gezeigten bewohnten Bauch sein? Das Bild hat etwas Rätselhaftes. Es könnte sich um die Darstellung einer Selbstgeburt handeln. Es ist, als frage Modersohn-Becker: Was gehört zu meinem Inneren? 1902 schreibt sie enttäuscht über ihre Ehe und die Erkenntnis, dass sie eine »Schwesternseele« dort nicht finden werde. Im Akt scheint sie sie zu malen. Wiedergegeben wird ein mögliches, schöpferisches Selbst. Es wird eine Sehnsucht dargestellt, sich der Körper-Innenwelt zuzuwenden, sie zu erforschen und zu erkennen, ein »neugieriges Begehren nach sinnlich-affektiver Körperaneignung« (Krüger-Kirn, 2016). Die sinnliche Referenz auf den Körper verbindet sich mit dem Ausloten des Selbst. Im Bild geht es auch um die Aneignung und libidinöse Besetzung der weiblichen Potenz, sodass Schwangerschaft als sinnlich und als Teil der Sexualität erlebt werden kann. Dies ist zugleich ein körperlicher und ein psychischer Transformationsprozess (vgl. Krüger-Kirn, 2016). Psychische Grenzen werden in der realen Schwangerschaft durchlässiger, tiefere vor- und unbewusste Schichten werden berührbarer. So lässt sich der innere geheime Raum in unserem Akt auch als Container für die Projektion des Unbewussten verstehen. Ist es ein heimlicher, ein unheimlicher Ort? Das Un-
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bewusste äußert sich, so Freud (1978), vor allem körperlich. Die Malerin mag den erfüllten Leib auch als Ausdruck ihres wahren Selbst, als ihr eigenes Sein erleben, als Selbstbestimmung über ihren Körper. »Jetzt komme ich!« Der gebärmütterliche Innenraum scheint als guter besetzt. Das Innere ihres Körpers – ihr Innenleben – wächst und wird erfüllt, ihr Selbst erweitert sich. Die Schwangerschaft steht auch für ein autonomes sexuelles Körperbild: Der schwangere Bauch ist ein Bild für den Ort der gelebten Sexualität. Schwangerwerden wird von Modersohn-Becker zunächst malerisch ins Körperbild integriert. Um es sich so psychisch anzueignen? Um sich der somatischen Identität, der Potenz des Körpers zu nähern? Solche Luftreisen, wie sie es nennt, durchleben unsere Analysand:innen oft an dem Punkt, an dem sie beginnen, eine Schwangerschaft in sich zu repräsentieren, sie malen sich dann schwanger, es gibt aber noch innere Kräfte – Ängste vor Kontrollverlust, Verbote, Scham –, die die Realisierung verhindern. Eine ausgemalte Schwangerschaft ist nicht durch die realen Mutterschaftsängste geprägt: Werde ich eine gute Mutter sein? Eine von Schwangeren oft beschriebene Phantasie aufgrund der Identifizierung mit dem Ungeborenen besteht darin, sich zu fühlen, als wäre man in den Körper der eigenen Mutter übergegangen und mit ihr wiedervereinigt. Vielleicht wird deshalb die Schwangerschaft manchmal als narzisstischer Höhepunkt der eigenen weiblichen Identität empfunden (vgl. Berger, 2011). Dies könnte eines von vielen möglichen Phantasmen sein, die sich in dem Akt ausdrücken. Auch Erikson (1993) geht davon aus, dass zur weiblichen Körperbildvorstellung die Symbolisierung der potenziellen Möglichkeit, schwanger zu werden, gehört. Das kleine Mädchen ist aufmerksam seinem inneren Raum im Körper gegenüber. Die präödipale und ödipale Verbindung mit dem mütterlichen Körper formt spezifisch weibliche Körpervorstellungen und prägt den Wunsch, der Mutter zu gleichen. Soule (1990) beschreibt, dass die Aufnahme der Frau in den Kreis der Mütter eine Neugestaltung des weiblichen Identitäts- und Körpergefühls erfordere. Die Identifikation mit den aktiven mütterlichen Aspekten der eigenen Mutter sichert die innere Distanz zu ihr gegen das Überschwemmtwerden von passiven Abhängigkeitswünschen in einer Schwangerschaft. So lässt sich die Armhaltung verstehen als Grenzsetzung zwischen den Generationen, die schützt vor der Verwischung der Objekte, vor der Illusion der primären narzisstischen Union mit der Mutter. Die Arme stehen für die Generationenschranke und für die Trennung zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen, nur so können die Phantasien und Emotionen bezüglich Schwangerschaft als eigene erlebt werden und nicht im Körper der eigenen Mutter verortet werden. Die Arme schützen und begrenzen, sie distanzieren auch, vielleicht auch vor in die Intimität dringenden Blicken. Die Arme stehen symbolisch auch für eine
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bergende Trennung zwischen Mutter und Kind, zwischen Ich und Du, sie schützen vor einem Ineinanderfließen. Vielleicht malt Modersohn-Becker hier das ideale imaginäre Kind (und die dazugehörige Mutter) mit all den projektiven phantasmatischen Momenten. Soule (1990) schreibt, dass nicht die biologische Reproduktion oder der Embryo die Mutter beglücke, sondern das Traumkind. Dieses phantasmatische Kind muss betrauert werden, sodass das reale Kind ein abgegrenztes Objekt werden kann und im Kind nicht einfach die eigene narzisstische Erweiterung erlebt wird. Im malerischem Prozess mag diese Ablösung vom Kind als Phantasma befördert werden – und letztlich wurde Modersohn-Becker dann neun Monate später real schwanger. Eine reale Schwangerschaft ersetzt nicht die Notwendigkeit, die infantilen Kinderwunschphantasien und deren unbewusste Phantasmen durchzuarbeiten. Das Bild kann das Missverständnis wecken, dass befriedigende weibliche Identität und der Einklang mit dem Körper nur über ein reales Kind hergestellt werden können. Weibliche und mütterliche Identitätssicherheit, die Annahme des weiblichen Körpers, ist nicht gebunden an reale Schwangerschaft. Deshalb ist es so bedeutsam, dass Modersohn-Becker eine imaginäre Schwangerschaft malt.
Das Tabu Ich sah das Weibliche, runde, fließende, das »S«, das Weiche und Schöne, die Zartheit. Ich sah den schmalen femininen linken Arm, meinte im Zeichen der Hand eine Vagina zu sehen. Ich sah die vornehme Blässe der Haut. Es brauchte ein Jahr intensiver Beschäftigung, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Ich hatte auf einen Teil konsequent nicht geschaut. Was ich nicht sah, war die Pranke. Bräunlich, breit, ein Männer-Unterarm! Eine Tierpranke? Hält sie selbst ihren Bauch oder wird er gehalten? Verbirgt sich dahinter männliche Gewalt, Brutalität? Die eigene Wut? Oder symbolisiert sie die Phantasie des zugreifenden Todes? Ist der Griff brutal oder schützend? Erscheint so die paranoide Angst, dem Tod nah zu sein, dem strafenden Tod, der nach ihrem Kind greift und mit den frühen Toden in Verbindung steht? Ist das, was sie in sich trägt, neu? Verbunden mit dem Vermächtnis? Nun erscheinen mir die zarten Tapetentupfer, die übergehen auf das zart betupfte Tuch, wie rieselnder Sand – jedes Sandkorn möglicherweise verbunden mit Schuld, die eine Spur von Schwermut auf Modersohn-Beckers Gesicht legt. Damit thematisiert sie nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern – vielleicht universelle – Konflikte in Schwangerschaften. Schwangerschaft setzt unser Unbewusstes in Bewegung: Es kommt zum Erleben von nicht mehr gesicherten Grenzen, von Verfolgungsgefühlen und -phantasien, von Ängsten, verschlungen
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zu werden. Die archaische Furcht vor dem Raub des Babys findet sich unbewusst bei allen Eltern. Sie speist sich auch aus den tief verdrängten Wünschen, der eigenen Mutter die Babys zu rauben (Langer, 1988). So berichten Schwangere, sich wie von innen ausgeraubt zu fühlen (vgl. Krüger-Kirn, 2014, S. 260), was eine Empfindung sein könnte, die aus der Phantasie entsteht, gestraft zu werden. So ließe sich die Armhaltung auch als ein Festklammern verstehen. Alte Beziehungsmuster werden unbewusst ausprobiert. Gambaroff (1984, S. 79) schreibt: »Vater und Mutter werden zu Föten in ihrem Leib; ihre Regressionsbereitschaft ist stark erhöht.« Gambaroff spricht von der Schwangerschaft als Moratorium, »während der eine Neuordnung in den Selbst- und Objektrepräsentanzen der werdenden Mutter stattfindet« (ebd., S. 82). Es handele sich um eine Phase unklarer Grenzen, um eine neue Identität und neue Objektbeziehungen entstehen zu lassen. Die frühesten Erfahrungen mit der eigenen Mutter können die Einfühlung in das Ungeborene bereichern. Oder sie könnten die Abwehr mobilisieren, wenn die Gefahr von Abhängigkeit und Desintegration zu groß werde (ebd.).
Psychoanalyse und Kinderwunsch Im Kontext des Ödipuskomplexes wurde der phantasmatische Kinderwunsch als Penisersatz konzipiert (Freud, 1978). Freud hat die Bedeutung der Mutterschaftsphantasien und der weiblichen Körpererfahrung für die Psychosexualität der Frau nicht erkannt. So richtet sich Modersohn-Beckers herausfordernder, prüfender Blick auch an die Psychoanalyse: Auch sie beachtet die Themen Schwangerschaft und Fruchtbarkeitslust wenig und oft nur normativ, mit wenig narzisstischer Spiegelung der weiblichen Körperlichkeit. Das körperliche Potenzial der Gebärfähigkeit bestimmt das weibliche Körpergefühl und die Identität. So wie in der Kunst vor dem Akt – also vor Modersohn-Becker – bleibt auch in der Psychoanalyse der Platz der Frau und Mutter als begehrendes und schöpferisches Subjekt immer wieder eine Leerstelle (vgl. Krüger-Kirn, 2016). Die Erforschung des weiblichen Körper- und Innenraums ist in der Psychoanalyse unterrepräsentiert und war nicht nur Freud ein dunkler Kontinent. ModersohnBecker bringt ihn ins Licht.
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Literatur Berger, M. (2011). Zur Bedeutung des Anna-selbdritt-Motivs für die Beziehung der Frau. In M. Hirsch (Hrsg.), Der eigene Körper als Objekt (S. 241–277). Gießen: PsychosozialVerlag. Busch, G. & von Reinken, L. (1979). Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern. Frankfurt a. M.: Fischer. Erikson, E. H. (1993). Childhood and Society. New York: W. W. Norton & Co. Freud, S. (1978). Gesammelte Werke, Bd. 16. Frankfurt a. M.: Fischer. Gambaroff, M. (1984). Utopie der Treue. Hamburg: Rowohlt. Krininger, D. (1986). Modell – Malerin – Akt. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand. Krüger-Kirn, H. (2016). Die konstruierte Frau und ihr Körper: eine psychoanalytische, sozialwissenschaftliche und genderkritische Studie zu Schönheitsidealen und Mutterschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag. Langer, M. (1988). Mutterschaft und Sexus. Freiburg: Traute Hensch Verlag. Moré, A. (2005). Psychoanalyse der weiblichen Sexualität. In M. Löw & B. Mathes (Hrsg.), Schlüsselwerke der Geschlechterforschung (S. 59–71). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Soule, M. (1990). Das Kind im Kopf. In J. Stork (Hrsg.), Neue Wege im Verständnis der allerfrühesten Entwicklung des Kindes (S. 20–80). Stuttgart: Frommann-Holzboog. Winnicott, W. (2002): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
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Transgenerationale Weitergabe von Traumata – Eine problematische Diskursverschiebung von den Holocaustüberlebenden zu den Kriegskindern?
»Ich verstecke mich in einem Keller vor Soldaten, die nach mir suchen. Ich bin überwältigt von Angst – ich weiß, wenn Sie mich finden, werden sie mich auf der Stelle töten … Dann stehe ich in einer Selektionsschlange; der Geruch von verbranntem Fleisch liegt in der Luft und ich kann Schüsse hören. Gesichtslose und unterernährte Menschen mit gestreiften Uniformen marschieren zum Krematorium. Dann bin ich in einer Grube voller toter, skelettierter Körper. Ich versuche verzweifelt, die Kadaver im Schlamm zu begraben, aber immer wieder ragen Gliedmaßen aus der nassen Erde und treiben an die Oberfläche. Ich fühle mich schuldig für das, was geschehen ist, obwohl ich nicht weiß, warum. Ich wache schweißgebadet auf und erinnere mich sofort daran, dass dies die Art von Albträumen war, die ich schon als Kind hatte« (Kellermann, 2011, S. 256; Übersetzung des Autors).
Man könnte vermuten, dieser Traum stamme von einer Person, die die Schrecken eines Konzentrationslagers durchleben musste. Tatsächlich wird er jedoch vom Sohn einer Holocaustüberlebenden im Rahmen seiner Psychotherapie berichtet. Seine Mutter hatte als Jüdin das Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau überlebt. Doch wie kann es sein, dass der Sohn in seinem Traum Dinge durchlebt, die eigentlich nicht seiner eigenen Geschichte, sondern dem Erlebten seiner Mutter entstammen? Ausgehend von der psychotherapeutischen Behandlung von Holocaustüberlebenden und deren Nachfahren sowie der zunehmenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beschäftigung mit den psychosozialen Auswirkungen der Schoah wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren Konzepte zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata entwickelt (Faimberg, 1987; Kestenberg & Kahn, 1998). Grundlage war die Beobachtung, dass sich auch bei den Kindern von Holocaustüberlebenden, also bei Menschen, die diese Traumata nicht direkt miterlebt hatten, holocaustspezifische Assoziationen, Träume, Ängste oder Fantasien zeigten und diese häufig unter psychischen Problemen litten (Kellermann, 2011). Die konkreten Konzeptionen von Traumata, deren Auswirkungen auf die Nachkommen sowie die latenten Mechanismen der Weitergabe wurden aller-
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dings von Beginn an kontrovers diskutiert (Kellermann, 2011). Insbesondere hinsichtlich der Frage nach den Mechanismen der Weitergabe wurden zahlreiche Theorien und Konzepte entwickelt. Diese lassen sich in psychodynamische, familiensystemische, soziokulturelle und biologisch-genetische Mechanismen unterteilen (Glaesmer et al., 2011). Psychodynamische Ansätze fokussieren dabei vor allem auf die Theorie, dass unbewusste und nicht verarbeitete Traumaanteile und Emotionen von den Eltern an die Kinder übertragen werden und dann in diesen weiterwirken (Freyberger et al., 2015; siehe hierzu auch Ganse, 2022 in diesem Band). Die verdrängten und ungenügend verarbeiteten traumatischen Erfahrungen sowie die Wünsche und Erwartungen der Eltern werden demnach von den Kindern absorbiert und unbewusst verarbeitet. So entstehen z. B. spezifische Vernichtungsängste, Selbstwertzweifel, Pflichtgefühle zur Trauerarbeit und Wiedergutmachungsversuche hinsichtlich der Erniedrigungs- und Ohnmachtserfahrungen der Elterngeneration. Häufig sei dabei das Muster zu beobachten, dass gerade dadurch, dass die Eltern ihren Kindern die Traumatisierungserfahrung zu ersparen versuchten, diese nur mit den unbewusst vermittelten Emotionen und Bildern konfrontiert und überfordert würden. Dem israelischen Psychologen Natan Kellermann (2001a) zufolge kann die transgenerationale Weitergabe von Traumata in der psychodynamischen Sichtweise über verschiedene Mechanismen erfolgen. Dazu gehören Identifikation, Verstrickung oder Internalisierung von Selbst- und Objektrepräsentanzen. Insbesondere der Mechanismus der projektiven Identifizierung wurde häufig als Übertragungsmechanismus diskutiert. Nach dieser Theorie findet die Weitergabe folgendermaßen statt: »Projektion von holocaustbezogenen Gefühlen und Ängsten durch die Eltern auf das Kind; Introjektion durch das Kind, als ob es die Konzentrationslager selbst erlebt hätte; und Rückgabe dieses Inputs durch das Kind in Form von nachgiebigem und fürsorglichem Verhalten, das mit Verstrickungs- und Individuationsproblemen verbunden ist« (Rowland-Klein & Dunlop, 1998, S. 358; Übersetzung des Autors).
Die Kinder nehmen demzufolge also die Traumaanteile der Eltern auf und geben sie in veränderter Form wieder zurück. Eine aktive Verarbeitung finde dabei allerdings nicht statt, weshalb die Kinder auch unter dem traumatischen Material litten und mit ihren Eltern verstrickt blieben. In den familiensystemischen Ansätzen werden die innerfamiliären Interaktionsmuster und Bindungstypen betrachtet (Klütsch & Reich, 2012). Im Unterschied zur Psychoanalyse werden allerdings nicht vorwiegend unbewusste Prozesse untersucht, sondern eher beobachtbares Beziehungsverhalten und soziales Lernen fokussiert. In der Literatur wird häufig vermutet, dass Holocaustüberlebende ungenügende Eltern seien, da sie aufgrund ihrer Verlusterfahrungen und Traumata ihren Kindern ein Übermaß an Vorsicht und Misstrauen vermitteln
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würden. Diese Hypothese hat sich aber empirisch nicht bewiesen (Kellermann, 2001b); gleichwohl berichtet Kellermann (2001a) von einem mittlerweile erwachsenen Kind zweier Holocaustüberlebenden. Der Sohn verfüge über eine sehr geringe Stresstoleranz und habe seine Eltern folgendermaßen beschrieben: »Mein Vater schrie immer in der Nacht und meine Mutter schrie tagsüber. Beide waren hochgradig gestört und konnten nichts tolerieren, was sie aus der Fassung bringen könnte. Ich musste als Kind immer aufpassen, nicht zu spät nach Hause zu kommen, nicht krank zu sein, keine Anzeichen von Kummer zu zeigen und so ruhig wie möglich zu sein« (ebd., S. 262; Übersetzung des Autors).
Auch im familiensystemischen Ansatz wurden von verschiedenen Autor:innen Schwierigkeiten bei den Themen der Individuation und Separation (Barocas & Barocas, 1980; Klein, 1971; Klütsch & Reich, 2012) sowie Bindungsprobleme (Bar-On et al., 1998) beschrieben. Vor allem das Schweigen über das Erlebte wurde als pathogen eingeschätzt. Auch die soziokulturellen und historischen Hintergründe des Umgangs mit Trauma, Schuld und Wiedergutmachung sind als wesentliche Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe beschrieben worden (Glaesmer et al., 2011). Hierbei wird vor allem der gesellschaftliche Diskurs, in dem die Traumata verarbeitet werden können, als zentral angesehen – also der gesellschaftliche Umgang mit dem Erlebten und den Erinnerungen daran. Was wird als historische Wahrheit angesehen? Wer definiert Schuld und Anerkennung von Verursachung und Verantwortung? Glaesmer et al. (2011) unterscheiden – aufbauend auf Konrad (2001) – drei Phasen der Vergangenheitsverarbeitung des Holocausts. In der ersten Phase habe die Nicht-Thematisierung sowie Tabuisierung des Holocausts den gesellschaftlichen Diskurs sowohl in Deutschland als auch in Israel dominiert. In beiden Ländern habe der Fokus auf dem Aufbau und dem Blick nach vorne gelegen. Während in Deutschland die Aussage verbreitet gewesen sei, man habe von all dem nichts gewusst, habe es in Israel im Zuge großer Einwanderungswellen, der Staatsgründung und kriegerischer Konflikte ebenfalls relativ wenig Interesse an den Traumata der Überlebenden gegeben. In der Auseinandersetzung mit dem Holocaust habe der Fokus einerseits auf den jüdischen Widerstandskämpfer:innen, z. B. im Warschauer Ghetto, gelegen; anderseits sei den Opfern der Massenvernichtung sogar teilweise vorgeworfen worden, sie hätten sich wie »Lämmer zur Schlachtbank« führen lassen (Konrad, 2001). Erst mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem im Jahr 1961, den Ausschwitzprozessen in Frankfurt von 1964/65 und dem Beginn der Studierendenproteste in den 1960er-Jahren seien die Verbrechen des Nationalsozialismus in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und von der wissenschaftlichen Forschung aufgenommen worden. Auch in den Familien habe in dieser zweiten Phase eine intensivere Beschäftigung mit
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der Rolle der eigenen Eltern im Holocaust begonnen (Glaesmer et al., 2011; Konrad, 2001). Die dritte Phase in Israel und Deutschland reiche bis heute und umfasse eine zunehmende Enttabuisierung des Umgangs mit dem Holocaust sowie eine emotionale Wiederannäherung an die Opfer (Glaesmer et al., 2011; Konrad, 2001). Gleichzeitig wird in Deutschland auch von manchen Seiten argumentiert, man müsse in Beschäftigung mit dem Holocaust ein Ende finden, und es werden neue Formen der Erinnerungspolitik in einer postmigrantischen Gesellschaft gesucht (Assmann, 2020). Dabei spielt sicherlich auch eine Rolle, dass die noch lebenden Opfer, wie auch die Täter:innen, mit der Zeit immer weniger werden. Dadurch treten die zweite und auch die dritte Generation mehr in den Fokus der Öffentlichkeit (Bar-On et al., 1997; Frieden, 2014). In den letzten Jahren wird auch zunehmend zu den biologischen Grundlagen der Weitergabe von Traumata geforscht. Hierbei spielt neben dem Modell der »fetalen Programmierung« (Yehuda et al., 2000), das die Auswirkungen von Stress während der Schwangerschaft auf die Entwicklung des Fötus umfasst, vor allem die Epigenetik eine zentrale Rolle. Neben der Untersuchung der Überlebenden der Anschläge auf das World Trade Center wurden auch Tierexperimente durchgeführt, um konfundierende Faktoren in der Erforschung grundlegender biologischer Mechanismen besser kontrollieren zu können. Dias und Ressler (2014) konnten in einem Experiment an Mäusen zeigen, dass traumatische Erfahrungen von einer Generation auf die nächste vererbt werden können. Sie sprühten Kirschblütenduft in die Käfige, während männliche Mäuse schmerzhaften Elektroschocks über die Gitterstäbe ausgesetzt waren. Somit fand bei den Mäusen eine Verknüpfung zwischen dem Schmerzreiz und dem Kirschblütenduft statt. Anschließend ließen sie die Mäuse sich mit weiblichen Mäusen paaren. Die dabei entstandenen Nachkommen wurden wiederum von anderen Mäusen aufgezogen, die selbst nie die Verbindung von Kirschblütenduft mit Elektroschocks erfahren hatten. Dies war wichtig, um soziales Lernen, z. B. über Nachahmung, als Übertragungsmechanismus auszuschließen. Interessanterweise zeigten nicht nur die den Elektroschocks ausgesetzten Mäuse, sondern auch deren Nachkommen beim Geruch von Kirschblüten eine erhöhte Nervosität und körperliche Erregung. Selbst die dritte Generation der »traumatisierten« Mäuse zeigte eine erhöhte Sensitivität gegenüber dem Kirschblütenduft. Die Forscher konnten darüber hinaus zeigen, dass sich diese Sensitivitätsveränderungen über Modifikationen der Sperma-DNA vollzog. Bei den Nachkommen der »traumatisierten« Mäuse zeigte sich eine erhöhte Anzahl von Riechrezeptoren im Gehirn, die für das Detektieren des Kirschblütenduftes verantwortlich sind. Die Autoren fassten die Ergebnisse so zusammen, dass nicht die Angst selbst vererbt wird, sondern die erhöhte Sensitivität gegenüber dem angstauslösenden Reiz. Dies könnte nach Dias und Ressler (2014) auch eine Erklärung
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dafür sein, dass die Auswirkungen von Traumata in der Elterngeneration auf die Kinder relativ unspezifisch seien. Selbstverständlich lassen sich diese Forschungsergebnisse nicht direkt von Mäusen auf Menschen übertragen. Sie geben allerdings Hinweise darauf, dass neben den soziokulturellen und psychologischen Mechanismen auch biologische Faktoren eine wichtige Rolle bei der Transmission von Traumata spielen könnten. Diese Befunde decken sich auch mit Erkenntnissen der epidemiologischen Forschung zu diesem Thema. Demnach zeigen Kinder von Holocaustüberlebenden nicht generell eine erhöhte Ausprägung von psychischen Störungen (Fridman et al., 2011; Levav et al., 2007). Es gibt allerdings einige Hinweise darauf, dass sie eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber Stress aufweisen. Kinder von Holocaustüberlebenden weisen in klinischen Stichproben erhöhte Prävalenzen für psychische Störungen auf (Kellermann, 2001c). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Brustkrebspatientinnen, deren Eltern Holocaustüberlebende waren, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe stärkere psychische Belastungen durch ihre Krebserkrankung berichteten (Baider et al., 2006; Baider et al., 2000). Kellermann (1999) bezeichnet diese Befunde mit dem Begriff des »Second Generation Syndrom« und sieht die Besonderheit dieser Gruppierung nicht in der erhöhten Prävalenz spezifischer psychischer Störungen, sondern eher in unflexiblen Copingstrategien sowie einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber psychosozialen Belastungen. Wie dargestellt, entwickelte sich die Konzeption der transgenerationalen Weitergabe von Traumata aus der Erforschung der psychosozialen Folgen des Holocausts und fokussierte dabei auf die Überlebendengeneration der Schoah sowie deren Nachkommen in Israel. Ungefähr seit den 2000er-Jahren findet allerdings auch in Deutschland eine zunehmende Auseinandersetzung mit diesem Thema statt. Dabei stehen die Gruppe der sogenannten Kriegskinder sowie deren Nachkommen im Fokus. Die Auseinandersetzung geschieht zum einen in der populärwissenschaftlichen Literatur (Bode, 2009, 2011, 2015; Dautel, 2019), aber auch in der empirischen Psychologie (Glaesmer, 2014) und Psychotherapie (Ermann, 2010; Radebold et al., 2008; Reddemann & Gahleitner, 2016). Auch in der Presse, etwa im Spiegel, der Zeit oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, findet dieses Thema Anklang (Demmer, 2009; Jaeger, 2015; Lohre, 2016). Weiterhin bilden sich Gruppen und Foren, die sich diesem Thema in Form von Vorträgen, Coachings und Bildungsarbeit widmen (www.kriegsenkel.de; www.forumkriegsenkel.de; www.kriegskinder.de; www.kriegsenkel.eu). Die grundlegende These lautet, dass sich auch die Traumata nicht-verfolgter Menschen in Deutschland, insbesondere der Kinder, die durch Kriegshandlungen und die damit verbundenen Flucht- und Vertreibungserlebnisse traumatisiert wurden, negativ auf deren aktuelle Gesundheit auswirken sowie auch ihre Nachfahren und die deutsche Gesellschaft insgesamt prägen (Bode, 2009, 2015).
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Hierin wird auch das Konzept der transgenerationalen Weitergabe von Traumata auf die sogenannten Kriegsenkel übertragen (z. B. Schneider & Süss, 2015). Wie Glaesmer (2014) in ihrer Übersichtsarbeit darlegt, scheinen traumatische Erfahrungen in der älteren deutschen Bevölkerung eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Vor allem in den hochaltrigen Gruppen berichten fast sechzig Prozent von kriegsbezogenen Traumata (Maercker et al., 2008). Auch scheint das Vorliegen eines Traumas und vor allem einer posttraumatischen Belastungsstörung mit einer erhöhten Prävalenz für somatoforme und kardiovaskuläre Störungen einherzugehen (Glaesmer, Brähler et al., 2011; Glaesmer et al., 2012). Dies spricht dafür, sich auch dieser Gruppierung mehr zu widmen, um sie besser medizinisch und psychotherapeutisch behandeln zu können. Gleichzeit hat die intensivierte Beschäftigung mit den Traumata der sogenannten Kriegskinder und deren Nachkommen auch eine Kontroverse ausgelöst (Brockhaus, 2010; Heinlein, 2011; Langer et al., 2020b). Der Kern der Kritik besteht vor allem darin, dass die Beschäftigung mit den Traumata der Kriegskinder als zu einseitig medizinisch und dabei dekontextualisiert und ahistorisch bewertet werde. Dieter Graumann von der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main warnte im Vorfeld eines Kongresses zum Thema der Transgenerationalen Weitergabe von Traumata der Kriegskinder vor einem Einebnen der Unterschiede und einer Ausblendung der Schuldfrage (Jachertz & Jachertz, 2013). Vor allem die Beschreibung von Kriegserfahrungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft als kollektives Trauma wird kritisch bewertet. Langer, Dymczyk, Brehm und Ronel (2020c) schreiben: »Sicherlich kann man bei Nachkommen von Täter*innen auch von einer kollektiven Erfahrung sprechen, aber problematisch wird es, wenn diese dekontextualisiert das Sprechen über die eigene Leiderfahrung ohne historische Bezüge zu einem gemeinsamen Leid verklärt« (ebd., S. 31).
Die Autor:innen diskutieren den Begriff des kollektiven Traumas, der nur allzu leicht instrumentalisiert und politisch eingesetzt werden könne. Wer stilisiert sich zum Opfer, wer wird Täter:in? Dabei werfen sie die heikle Frage auf, ob Täter: innen sich gar durch ihre Taten selbst traumatisieren können (Langer et al., 2020a). Eine ähnliche Kritik bringt auch der Soziologe Michael Heinlein vor (2011). Er beschäftigt sich vor allem mit dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die neue Erinnerungskultur konstituiert oder sogar gefunden bzw. erfunden wird. Vor allem die Konzeption von kollektiven Traumata, welche an die Nachkommen weitergegeben werden und damit bis heute die deutsche Gesellschaft prägen, so wie z. B. bei der Journalistin Sabine Bode (2015, 2016) dargestellt, wird von Heinlein kritisiert. Er sieht insbesondere die Verbindung mit politischen und
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gesellschaftlichen Problemen, die als Folge der unverarbeiteten Traumata postuliert werden, kritisch. So schreibt er: »Im Zuge der Entdeckung der Kriegskinder wird dieses Konzept [die transgenerationale Weitergabe von Traumata] jedoch nicht nur von der Opfer- auf die Täterseite übertragen, sondern auch in ein kulturelles Erinnerungsnarrativ verwandelt, dass das deutsche Kriegsleid auf verschiedenen Ebenen festmacht« (Heinlein, 2011, S. 114).
In seiner Auffassung läuft eine Fokussierung auf das Leiden der Kriegskinder Gefahr, in Form einer Europäisierung der Erinnerung an die Kriegsleiden politisiert zu werden und damit Unterschiede zwischen verschiedenen beteiligten Gruppen des Zweiten Weltkriegs, wie z. B. Polen und Deutschen, zu verwischen. Er führt hier vor allem die Arbeit der Studiengruppe »weltkrieg2kindheiten« auf, deren ausgewiesenes Ziel es sei, »Europa psychisch zusammenwachsen zu lassen« (Heinlein, 2011). Gerade darin bestehe aber die Gefahr, das Trauma des Krieges als etwas darzustellen, dass einfach so über Europa hereingebrochen sei, ohne zu benennen, von wem die Aggression ursprünglich ausgegangen sei. Er warnt davor, »die Traumata der deutschen Kriegskinder […] unabhängig von ihren politischen, kulturellen und historischen Kontexten als menschliche Tragödien […]« zu begreifen (Heinlein, 2011, S. 122). Kritisch muss angemerkt werden, dass die von Heinlein genutzte Wortwahl des »deutschen Leidens« eine etwas einseitige Nationalorientierung der Täter: innen-Opfer-Perspektive aufweist. So waren auch Deutsche Opfer des Nationalsozialismus, etwa deutsche Jüdinnen und Juden. Und auch unter deutschen Staatsangehörigen, die nicht zu verfolgten Minderheiten wie Jüdinnen und Juden oder Sinti:zze und Roma:nja gehörten, gab es viele Opfer. Dazu gehörten z. B. Kommunist:innen, Sozialdemokrat:innen, psychisch Kranke, Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen, Angehörige der »Zeugen Jehovas« oder Homosexuelle, um nur einige Gruppen zu nennen (Benz, 2015; Hohendorf et al., 2002). Auch wird immer wieder diskutiert, welche Mitschuld Verbündete mit Nazi-Deutschland, nicht-deutsche Kollaborateur:innen oder »fremdvölkische Arbeiter« auf sich genommen haben, die auch zu KZ-Aufseher:innen ausgebildet wurden, z. B. Iwan Martschenko, der aufgrund seiner besonderen Grausamkeit auch »Ivan der Schreckliche« genannt wurde (Kühl, 2009; Wefing, 2011). Hier wird deutlich, dass die Unterteilung in Opfer und Täter:innen des Nationalsozialismus nicht so leicht zu treffen ist, wie es vordergründig scheint. Es ist unstrittig, dass die Hauptverantwortung für den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust sowie die zahlreichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei der politischen Führung der Nationalsozialist:innen liegt. Die Frage nach einer »Kollektivschuld« der deutschen Bevölkerung wird hingegen bis heute kontrovers diskutiert (Paul, 2002; Wolbring, 2009). Die Verantwortung zumindest der Soldaten der Wehrmacht für entsprechende Kriegsverbrechen
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wird allerdings zunehmend eindeutiger in Richtung einer Mitschuld beantwortet (Förster, 2015). Die Psychoanalytikerin Gudrun Brockhaus (2010) sieht das große öffentliche Interesse an der Beschäftigung mit den Traumata der Kriegskindheit ebenfalls kritisch. Sie diagnostiziert ein fortwirkendes Bedürfnis nach Schuldentlastung, das hinter dem Wunsch nach Anerkennung des eigenen Leids stehe. Gerade die psychologischen Arbeiten zum Thema der Kriegskindheit würden diese Kritik, die nach den Ursachen und Funktionen des neuen Kriegskindheitsbooms fragt, jedoch häufig ignorieren oder sogar bekämpfen. Brockhaus stellt darüber hinaus die interessante Frage, was »die Kriegskindheit« eigentlich sei, und merkt an, dass die meisten Arbeiten sich dem Thema mittels retrospektiver Interviews und Autobiografien nähern würden. Ansätze, die zeithistorische Quellen nutzen, seien wenig vertreten. Damit gehe es hauptsächlich um die Erinnerungen der Zeitzeug:innen, die ihr zufolge mehr oder weniger akkurat sein können. Der Begriff des Traumas trage dabei eine »Aura der Wahrheit und Nichtmanipulierbarkeit der Erinnerung« und stehe damit der Subjektivität und Konstruktivität der Erinnerung entgegen (Brockhaus, 2010, S. 319). Eine mögliche Mitbeteiligung an den Verbrechen der Nationalsozialist:innen wird so eher ausgeblendet. Dies passt zu den Beobachtungen von Dörr (2007) und Ermann (2007) aus zahlreichen Interviews mit Zeitzeug:innen. Politische Hintergründe und familiäre Verstrickungen seien ihnen zufolge in den Gesprächen so gut wie nie direkt angesprochen worden, die Antworten auch auf gezieltes Nachfragen eher unscharf gewesen. Manche Interviewte hätten sogar äußerst aggressiv auf entsprechende Nachfragen zu Naziverstrickungen reagiert und die allgemeinen Schrecken jedes Krieges betont, ohne auf die Besonderheiten der Kriegserlebnisse aus einer deutschen Perspektive einzugehen. Brockhaus schlussfolgert: »Viele der befragten Kriegskinder scheinen die Konjunktur des Themas dazu zu nutzen, diesen Zusammenhang auseinanderzureißen, sodass nur noch die Seite des Leidens und Opferseins lebendig bleibt und der Bezug auf die Naziverbrechen höchstens eine rhetorische Floskel wert ist« (2010, S. 320).
Weiter schreibt sie, dass der Begriff der Kindheit auch mit einer – vielleicht etwas vorschnellen – Antizipation der Reinheit und Unschuld einhergehe und dabei vernachlässige, dass es sich bei der beschriebenen Gruppe um durchaus sehr unterschiedliche Alterskohorten handele. Auch junge Menschen seien nicht per se völlig frei von einer Beteiligung an Taten der Nationalsozialist:innen gewesen. So hätten auch Kinder und Jugendliche verfolgte Gruppen verhöhnt, sich an Versteigerungen jüdischen Besitzes oder Denunziation etc. beteiligt (Bajohr, 2008). Daran würden sich die Kriegskinder in den Interviews selten erinnern, wohl aber die Verfolgten (Brockhaus, 2010). Weiterhin weist sie darauf hin, dass die Mehrheit der Arbeiten zu Kriegskindheiten ganz selbstverständlich die Per-
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spektive der nicht-verfolgten Mehrheitsgesellschaft einnehme (Brockhaus, 2010). Dies werde dort allerdings in der Regel nicht deutlich formuliert. Somit drängt sich die Frage auf, wie ein differenziertes, historisch-kontextualisiertes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und dessen Folgen möglich ist, das unterschiedliche Rollen klarstellt und gleichzeitig Leid und Traumata auf allen Seiten anerkennt. Eine Antwort erweist sich auch deshalb als schwierig, da der Begriff des Traumas immer schon politisch und juristisch aufgeladen war. Anders als die meisten psychischen Erkrankungen wird bei Traumafolgestörungen von einem recht eindeutig ursächlichen Erlebnis ausgegangen (Haase & Schützwohl, 2013). Das potenziell traumatische Erlebnis muss zwar nicht automatisch zu einer psychischen Störung führen, ist aber ein notwendiges Kriterium. Diese Begebenheit führt auch dazu, dass sich nicht selten rechtliche Fragestellungen an die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) angliedern, z. B. die Frage, wer die Kosten für eine psychotherapeutische Behandlung sowie für anhängige Strafverfahren, Begutachtungsverfahren etc. übernimmt (Haenel, 2019; Keller et al., 2019). Damit gliedert sich das Thema der Schuld schnell an den Traumabegriff. Auch im Zusammenhang mit dem Holocaust spielt die Frage nach der Verantwortung für die Traumatisierung von Verfolgten seit Langem eine Rolle. Zentral waren hier die großen Gerichtsprozesse wie die Nürnberger Prozesse, der Auschwitz-Prozess oder die Verfahren gegen Adolf Eichmann, Klaus Barbie und John Demjanjuk. All diese Gerichtsverhandlungen gingen stets auch mit einem enormen öffentlichen Interesse und hitzigen Diskussionen einher (Aron & Stark, 1993; Löffelsender, 2013; Pendas, 2013; Wefing, 2011; Weinke, 2006). Dies lag vermutlich auch daran, dass neben der persönlichen Schuld Einzelner auch über die historische Schuld der Kollektive verhandelt wurde. Dementsprechend lösten die jeweiligen gesellschaftlichen Debatten auch wissenschaftliche Forschung aus (Eichmüller, 2009) und trugen zugleich zur gesellschaftlichen Aufklärung bei. Neben der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der Schuldfragen ging es auch schon früh nach Kriegsende um die Entschädigung der Opfer durch die BRD, die als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs gilt. Hier zeigte sich sehr deutlich, wie komplex das Ringen um die Anerkennung von persönlichem Leid sein kann und welche besondere Bedeutung der Begriff des Traumas hier spielt. Zahlreiche jüdische Holocaust-Überlebende, die in die USA emigriert waren und teils unter beträchtlichen psychischen Folgen durch die Traumatisierungen in den Konzentrationslagern litten, klagten vor deutschen Gerichten. Ziel war es meist, ihre Behandlungskosten erstattet und Schmerzensgeld zu bekommen. Dies erwies sich als durchaus schwierig, da viele deutsche Psychiater:innen, die zur Begutachtung eingesetzt wurden, die Beschwerden der Kläger:innen auf deren Konstitution vor dem Trauma zurückführten und nicht auf die Erlebnisse im Nationalsozialismus (Haenel, 2019). Dies löste eine erbitterte Debatte in den
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psychiatrischen Kreisen aus und brachte den Psychiater Kurt R. Eissler dazu, einen Artikel mit der provozierenden Überschrift zu verfassen: »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« (Eissler, 1963). Erst langsam änderte sich die medizinische und juristische Einschätzung und die psychischen Störungen wurden vermehrt als direkte Folge der traumatisierenden Verbrechen anerkannt. Auch heute noch werden Kämpfe um die gesellschaftliche, medizinische und juristische Anerkennung von Leid, Schuld und Verantwortung ausgetragen. Die Frage der Einordnung der Vertriebenenverbände (Lange, 2015) sowie der Bombardierung von deutschen Städten wie Dresden werden teils noch immer kontrovers diskutiert und von rechtsextremer Seite als »Bomben-Holocaust« betitelt (Botsch, 2019). Dabei spielen auch die Erinnerungen von Zeitzeug:innen eine wesentliche Rolle. Zum Beispiel wird von einzelnen Zeitzeug:innen erinnert, die Dresdner Zivilbevölkerung sei während der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg mit Tieffliegern angegriffen worden, obwohl dies auf Grundlage ausgiebiger historischer Forschung ausgeschlossen werden muss (Dresdener Historikerkommission, 2010). Hierbei wird deutlich, dass Erinnerungen immer rekonstruiert sind und stets in einen Erinnerungsdiskurs und eine Erinnerungspolitik eingebettet sind. Welches Gewicht wird einzelnen Aussagen eingeräumt und wie werden Erinnerungen für politische Zwecke instrumentalisiert? Dabei spielen auch transgenerationale Themen eine wichtige Rolle. So konnte der Sozialpsychologe Harald Welzer anhand von Familieninterviews zeigen, wie Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus innerhalb von Familien tradiert werden (Welzer et al., 2014). Durch das Beispiel einer interviewten Familie wird deutlich, wie solche Veränderungsprozesse ablaufen können. Die Zeitzeugin Elli Krug (92) berichtete in einem Interview, dass sie bis Kriegsende nicht gewusst habe, was Konzentrationslager seien. Später gab sie allerdings eine Szene an, in der ehemalige Häftlinge des Lagers Bergen-Belsen durch ihr Dorf gezogen seien. Sie sei von der britischen Besatzungsmacht dazu verpflichtet worden, ihnen Quartier bereitzustellen. Dies habe ihr deutlich missfallen. Sie sagte: »Also die Juden waren nachher die Schlimmsten. Also die haben uns richtig schikaniert. […] Wir hatten ja so’n großes Heufach, da schliefen die immer drin, nachtsüber. […] Also Juden hab’ ich immer gesehen, nachher hab’ ich das anders gemacht. Da Juden und Russen, die hab’ ich immer gesehen, daß ich die nicht kriegte. Die waren ganz widerlich, nich’. Und dann hab’ ich mich immer unten an’ner Straße gestellt, vor’n Tor, und wenn se sagten: ›Quartier!‹ ›Nee‹, sag’ ich, ›schon alles voll!‹ Äh, wenn nun die Juden oder sowas kamen, denn sagt’ ich: ›Sind alles voll Russen, könnt ihr mit reingehen!‹ ›Nein, nein, nein, nein!‹. Und wenn die Russen kamen, denn hab’ ich das auch denn irgend so einem gesagt, sind Juden da oder irgend sowas« [F1Z, 687–710] aus (Welzer et al., 2014).
Später im Interview wird die 26-jährige Enkelin von Frau Krug zu den Erlebnissen ihrer Großmutter befragt. Sie schildert die Erlebnisse etwas anders und
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vermischt sie mit einer Geschichte ihrer Tante, die jedoch ebenfalls nicht ganz richtig erinnert wird: »Und dann hat sie auch noch mal irgend’ne Geschichte erzählt, das fand ich dann irgendwie ganz interessant, daß unser Dorf dann ja schon auf dieser Strecke nach Bergen-Belsen lag, und daß sie dann schon mal irgendwen versteckt hat, der halt geflohen ist von irgend so ’nem Transport und den auch auf ganz interessante Art und Weise in irgend ’ner Getreidekiste irgendwie mit Strohhalm, und so rausgucken, hat die den dann echt versteckt. Und es kamen halt auch Leute und haben den gesucht bei ihr auf ’m Hof und sie hat da echt dicht gehalten, und das find’ ich; ist so ’ne kleine Tat, die ich ihr wohl echt total gut anrechne, so« [F1E, 64–72] aus (Welzer et al., 2014).
Welzer bezeichnet diesen Prozess als kumulative Heroisierung und verdeutlicht damit die dynamische Verklärung der eigenen Familiengeschichte. Wie in dem Beispiel gezeigt wurde, lässt sich dieses Phänomen beobachten, obwohl die Zeitzeugin selbst wenig zurückhaltend mit ihren antisemitischen Einstellungen war. Erinnerungen sind immer konstruiert und werden auch unbewusst verändert und angepasst. Deshalb ist es auch gefährlich, den gesellschaftlichen Diskurs auf ihnen aufzubauen, ohne historische Quellen zurate zu ziehen. Die Tradierungen von Erinnerungen sind sicherlich auch bei der Beschäftigung mit dem Thema der Kriegskinder sowie der Weitergabe ihrer Traumata zu beachten. Auch der aktuelle Diskurs um die transgenerationale Weitergabe von Traumata hat eine politische Seite. So forderten z. B. erst kürzlich Nachkommen von Holocaustüberlebenden genau auf dieser Grundlage Reparationszahlungen. Hierbei ging es vor allem um die Übernahme der medizinischen Behandlungskosten der »Second Generation« von Holocaustüberlebenden durch die Bundesrepublik (Smith, 2017). Diese Forderungen werden durchaus mit Nachdruck gestellt: »Wenn diese Gespräche, die wir jetzt führen, nicht fruchtbar sind, dann wird es eine sehr starke, entschiedene und klare Forderung geben, die zu 100 Prozent von der Öffentlichkeit hier unterstützt wird« (Baruch Mazor, Generaldirektor des Fisher Fund, zitiert nach Smith, 2017, Übersetzung des Autors).
Auch die Kriegskinder fordern Anerkennung und Aufmerksamkeit, durchaus auch in einer Art Konkurrenz zu den Überlebenden des Holocaust. So wird z. B. im Informationstext zu Sabine Bodes Buch »Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter zitiert: »Mit den Holocaust-Opfern habe man sich eingehend beschäftigt, mit der Kriegskindergeneration nie. Ihnen wurde gesagt: ›Sei froh, daß du überhaupt überlebt hast. Vergiß alles und schau lieber nach vorne!‹ Sie haben den Bombenkrieg miterlebt oder die Vertreibung, ihre Väter waren im Feld, in Gefangenschaft oder sind gefallen« (Bode, 2015).
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Diese Aussage könnte auch als Forderung verstanden werden im Sinne von »Jetzt sind wir mal dran«. Es lässt sich festhalten, dass der Traumabegriff sowohl auf gesellschaftlicher als auch juristischer Ebene nicht vom Thema der Schuld und Verantwortung zu trennen ist und auch deshalb einer kontextuellen Einordnung bedarf. Um einen angemessenen Umgang im Spannungsfeld zwischen berechtigten Forderungen nach Anerkennung von Kriegsleid auf allen Seiten und einer kontextualisierten Differenzierung verschiedener Gruppierungen finden zu können, empfiehlt es sich, verschiedene Diskursebenen zu unterscheiden. Erstens lässt sich die Frage stellen, wie auf medizinisch-psychotherapeutischer Ebene mit individuell erlittenen Traumata und der Weitergabe von Leid an zukünftige Generationen umgegangen werden sollte. Zweitens besteht die Frage, wie der gesellschaftliche, also die kollektive Ebene betreffende Diskurs gestaltet werden sollte. Und drittens, wie eine wissenschaftliche Erforschung beider Bereiche gelingen kann. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Individuen lässt sich ein angemessener Umgang vermutlich einfacher finden als im gesellschaftlichen Diskurs, also hinsichtlich kollektiver Erfahrungen. In der individuellen Psychotherapie können verdrängte Traumata, psychische Belastungen – auch solche, die nicht direkt traumatisch waren – sowie tiefsitzende Schuld und Schamgefühle vor dem Hintergrund möglicher Verstrickungen der eigenen Familiengeschichte bearbeitet werden (Reddemann & Gahleitner, 2016). Behandler:innen kommt dabei die Aufgabe zu, individuelle Schicksale vor dem Hintergrund zeithistorischer Kontexte einzuordnen und zu verstehen. Schwierig kann es werden, wenn der Eindruck entsteht, dass Patient:innen sich sehr einseitig in der Opferrolle sehen und eigene, eventuell abgewehrte Schuldgefühle nicht betrachtet werden können oder wollen (Moré, 2014). Es besteht aber vermutlich Einigkeit darin, dass der Auftrag der medizinisch-psychotherapeutischen Behandlung nicht in der historischen Wahrheitsfindung, sondern in der Besserung von krankheitswertigen Symptomen liegt. Dies kann auch bedeuten, die Abwehr von vernichtenden Schuldgefühlen bei hochaltrigen Patient:innen zu bewahren oder sogar zu stärken. Heinlein schreibt dazu: »Es geht dabei nicht darum, Kriegskindern ihr subjektiv empfundenes Leid abzusprechen, sondern um eine dringend notwendige öffentliche Reflexion und Diskussion der Erinnerung an das deutsche Leiden im und am Krieg, deren Argumente nicht allein einem medizinisch-psychologisch geprägten Diskurs entstammen« (Heinlein, 2011, S. 125).
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Kriegskinder steht ebenfalls vor der Herausforderung, einen geeigneten Umgang in dem beschriebenen Spannungsfeld zu finden. Hierbei scheint eine differenzierte Un-
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terscheidung von individuellen und kollektiven Erfahrungen vor dem Hintergrund zeithistorischer und kontextueller Faktoren wichtig. So unterscheiden sich z. B. die Erfahrungen von verfolgten und nicht-verfolgten Gruppierungen meist deutlich voneinander: »In Deutschland hat man es sehr häufig mit Ausbombung, Vertreibung und Kriegshandlungen zu tun […]. Die Holocaustüberlebenden hingegen haben deutlich andere Spektren schwerer und mehrfacher Traumatisierungen […]« (Glaesmer et al., 2011, S. 339). Es ist deshalb anzunehmen, dass auch die Prozesse und Inhalte der transgenerationalen Weitergabe dieser Erlebnisse vermutlich anderer Art sind und Erkenntnisse aus der Holocaustforschung nicht ohne Weiteres übertragbar sind. Mit einer spezifischeren Betrachtung von Differenzen und einer zeithistorischen Einordnung kann auch die Gefahr der Vereinnahmung durch rechtsradikale Diskurse reduziert werden. Es gibt auch Beispiele für Forschungsprojekte, denen eine solche historischkontextuelle Einbindung von Traumaforschung bei Kriegskindern gelungen ist. Besonders nennenswert ist hier das interdisziplinäre Forschungsprojekt »Kriegskindheit im Hamburger Feuersturm« (Lamparter et al., 2010; WiegandGrefe, 2012; Wiegand-Grefe & Möller, 2013). Die Forscher:innen haben im Rahmen einer Mehrgenerationen-Perspektive und anhand von ausführlichen Interviews verschiedene Prozesse und Themen herausgearbeitet und dabei spezifische kontextuelle und zeithistorische Aspekte berücksichtigt. Dabei wirkten sowohl Psychotherapeut:innen wie auch Historiker:innen mit und ermöglichten dadurch eine Verbindung zwischen psychosozialen und zeitgeschichtlichen Aspekten des Themas. Mithilfe von qualitativen und quantitativen Methoden wurden sowohl individuelle, transfamiliäre als auch gesellschaftliche Fragestellungen bearbeitet. Weiterhin ist hervorzuheben, dass eine spezifische Subgruppe untersucht wurde. Alle Proband:innen hatten die Bombardierung Hamburgs im Jahre 1943 durch die Alliierten miterlebt. In der Arbeit wurde der Begriff der »transgenerationalen Weitergabe von Kriegserlebnissen« verwendet, auch weil deutlich wurde, dass nur ein geringer Teil ein Trauma im klinischen Sinne aufzeigte (Lamparter et al., 2010 S. 367). Die Autor:innen weisen allerdings auch darauf hin, dass ihre Untersuchungsmethode nicht geeignet ist, die tatsächliche Prävalenz psychischer Störungen abzubilden. In der Auseinandersetzung mit den Daten wurden auch Aspekte von Schuld- und Scham-Verstrickungen sowie die Rolle der tiefgreifenden Ambivalenzerfahrung der Gleichbedeutung von Untergang/Niederlage mit Sieg und Befreiung betrachtet. So wurden, wenn auch nur vereinzelt, verklärend-idealisierende Blicke in die Vergangenheit gefunden, etwa bei der Kritik einer Teilnehmerin, dass »man sich um die Juden viel mehr kümmere« (Lamparter et al., 2010, S. 381). Eine direkte Opferkonkurrenz sei nicht offen gezeigt worden, wenngleich es an manchen Stellen durchaus latente Hinweise darauf gebe. Die Autor:innen schreiben:
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»Die Verwicklung der eigenen Familie in den Nationalsozialismus bleibt in der überwiegenden Anzahl der Fälle undeutlich: ›Da waren ein paar braune Stiefel im Schrank‹. Im Interview kommt es oft zu einer spontanen Inbeziehungsetzung des Feuersturms zum Holocaust, dabei eher thematisch assoziativ als deklarativ und explizit. Eine Opferparallelität wird dabei nicht gesucht, kommt aber in Klagen über mangelnde Anerkennung des eigenen Leids durchaus vor. Die Bewertung der Bombenangriffe im Zusammenhang mit der Beseitigung der nationalsozialistischen Diktatur bleibt angesichts der eigenen Schrecklichkeitserfahrung und unmittelbaren Betroffenheit unauflösbar ambivalent« (Lamparter et al., 2010, S. 383).
Auch gesamtgesellschaftlich stellt sich immer wieder die Frage nach einer angemessenen Erinnerungskultur und -politik hinsichtlich des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Wie bereits angedeutet, kommt dabei auch gesellschaftlichen Veränderungen wie dem Versterben von Zeitzeug:innen, Migration, neuen Forschungserkenntnissen oder einem Kulturwandel eine bedeutsame Rolle zu (Assmann, 2011). Auch muss die Erinnerungskultur immer wieder neu kritisiert und verhandelt werden. Die Thesen der Psychoanalytiker:innen Alexander und Margarete Mitscherlich zur Unfähigkeit zu trauern scheinen auch heute noch relevant für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus (2017). Ihnen zufolge war für die deutsche Mehrheitsgesellschaft das Leiden unter dem Krieg auch gleichzeitig das Leiden unter der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten. Damit ist die Rolle der Kriegskinder durchaus eine andere als z. B. von Holocaustüberlebenden, die Opfer eines Genozids wurden. Die Mitscherlichs sahen drei Formen der Schuldabwehr in der Nachkriegsgesellschaft. Erstens die Gefühlskälte gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, zweitens die Identifizierung mit den Siegern und Besatzern und drittens ein manisches Ungeschehenmachen durch den Wiederaufbau (Mitscherlich & Mitscherlich, 2017). Diese Reaktionsweisen treffen sicherlich nicht auf alle Menschen im Nachkriegsdeutschland zu, sind jedoch vermutlich bedeutsam für die Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur und -politik, auch hinsichtlich der Beschäftigung mit dem psychischen Leid der im Nationalsozialismus nicht-verfolgten Deutschen. Auch aktuelle Positionen zur Erinnerungskultur nehmen kritische Standpunkte sein. Peter Ambros, jahrelang Pressesprecher der Jüdischen Gemeinde in Berlin, nimmt in seinem Buch »Das wortreiche deutsche Schweigen« die deutsche Gedenkkultur unter die Lupe (Ambros, 2013). Er schlägt darin – vielleicht etwas ironisch – vor, ein HolocaustMahnmal zu errichten, das an die Verbrechen der Täter:innen erinnert: »Das Gelände sollte als große Wiese gestaltet werden, in deren Mitte eine Konstruktion in Form eines kleinen Hakenkreuzes. An den Enden der vier Swastika-Arme jeweils ein Häuschen mit einem Archiv-Zugang. Dort könne der einzelne Besucher die Namen seiner Eltern, Großeltern und sonstiger Verwandter eingeben, um zu erfahren, wie diese sich verhalten haben« (Szkloz, 2013).
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Dieser Vorschlag ist sicherlich provokant, kann aber vielleicht dazu dienen, eingefahrene Vorstellungen über das Erinnern und Vergessen zu überdenken. Auch regt er dazu an, immer wieder kritisch über möglicherweise ritualisierte Erinnerungskultur nachzudenken, um die Auseinandersetzung mit der Geschichte lebendig zu halten. Das zunehmende Versterben von Zeitzeug:innen und das damit verbundene Nachrücken der Nachkommen beinhaltet die Gefahr der Verklärung historischer Debatten, kann aber auch neue Impulse schaffen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das breite Interesse an dem Thema der Erfahrungen von nicht-verfolgten Deutschen im Nationalsozialismus und der Folgen für die nachkommenden Generationen deutlich die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesem Thema zeigt. Dabei scheinen jedoch weder die reflexartige Befürchtung einer Relativierung des Holocausts durch die Anerkennung des Leids von nicht direkt durch die Nationalsozialist:innen verfolgten Deutschen noch eine einseitige Medizinalisierung von historischen Ereignissen, eine undifferenzierte Adaption von Konzepten aus der Holocaustforschung oder eine unkritische Übernahme rechtsnationaler Diskurse der Komplexität der Zusammenhänge gerecht zu werden. Wie gezeigt wurde, ist eine kritische und medizinisch-psychotherapeutische, wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung durchaus möglich und kann sehr von einem interdisziplinären Austausch profitieren. Dabei wird insbesondere deutlich, dass sowohl psychisches Leid als auch die eigene Geschichte und das Erinnern immer auch Gegenstand kontextueller Faktoren sind, gemeinsam konstruiert werden und damit auch als im stetigen Wandel begriffen, verstanden werden müssen. Wie William Faulkner (1961) bereits meinte: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.«
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Johanna Sprenger
»Welche Bedeutung hat Gender für die Psychologie?«
Zunächst möchte ich von einer Situation erzählen, die mir deutlich gemacht hat, dass der Begriff Gender nur durch den Austausch mit Menschen in meiner Umgebung und jenen, die ich während meines Studiums getroffen habe, greifbar geworden ist, und wie Erlebtes die Relevanz und Tragweite der Materialität von Gender, eine Zuschreibung dessen, wie Gender gesellschaftlich wahrgenommen und definiert wird oder zu sein hat, deutlich macht. Während meines Masterstudiums teilten meine Kommiliton:innen in einer Facebook-Gruppe Veranstaltungen, Texte und Fragen zum Thema Gender und Feminismus miteinander. Eine Kommilitonin lud uns zu einer Drag Show ihres besten Freundes im Londoner Stadtteil Camden ein. Viele sagten mit großem Interesse zu. Eine Person wies jedoch mit deutlichen Worten darauf hin, dass beim Teilen von Angeboten bitte darauf geachtet werden solle, inwieweit diese für Beteiligte in der Gruppe problematisch sein können, und teilte mit, dass drag Transmisogynie sei. Diese Person identifiziert sich als trans Frau. Drag kommt aus der Trans-Szene, wird allerdings häufig stereotyp und gendernormativ aufgeführt und karikiert damit den eigentlichen Ursprung und das Leid, das trans Personen aufgrund des Überschreitens der Gendernormen durch das z. B. nicht normative Kleiden ihres Körpers erfahren haben (vgl. Butler, 1993; Litwiller, 2020; Riedel, 2018). Falls Ihnen die Netflix-Serien »Drag Race« oder »Queer Eye« etwas sagen und die damit verbundenen Debatten, wird die Reaktion eventuell nachvollziehbarer (Cuby, 2018; Riedel, 2018). In der Serie »Drag Race« wird drag oft als sehr glamourös dargestellt bzw. es wird sich nicht tiefergehend mit dem Ursprung von drag beschäftigt. Die Philosophin Judith Butler hat drag als eine Methode bezeichnet, mit der durch Genderüberkreuzungen ein heterosexuelles Paradigma ausgeübt wird (Butler, 1993). Sprich, ein Mann in identifizierter Frauenkleidung adaptiert den »typischen« Frauengestus und wird somit automatisch als homosexuell identifiziert. Die Kommentare unserer Kommilitonin lösten eine angeregte Debatte unter uns aus, die viele Meinungen zum Vorschein brachte. Wie diese Person uns auf unsere Naivität, Ignoranz oder Unwissenheit hinwies, gefiel mir zunächst persönlich nicht – was auch auf meine
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eigene Unwissenheit und internalisierte Diskriminierungsstrukturen zurückzuführen ist; ihren Ärger und ihre Traurigkeit über die Thematik begann ich jedoch mit jeder neuen Woche immer besser zu verstehen. Wir fragten sie, ob sie bereit wäre, uns Texte über trans und Transmisogynie bereitzustellen, anhand derer wir uns informieren könnten. Und auch das kann nicht unkommentiert bleiben, denn als bis dato unwissende Gruppe baten wir eine betroffene Person, uns ihre freie Arbeit zur Verfügung zu stellen, etwas, das gerade im Kontext antidiskriminierender Arbeit sehr häufig der Fall ist. Wir hatten eine Woche Zeit, diese Texte zu lesen, dann trafen wir uns alle in der Cafeteria, stellten letzte Fragen. Es war ein gutes Gespräch. Abschließend baten wir sie um Verständnis, dass wir mit großer Sicherheit noch einige Anläufe brauchen würden, um unseren Horizont zu erweitern. Und tatsächlich brauchten wir diese auch. Nicht immer verstanden wir ihr Verhalten, eckten häufig mit ihr an und realisierten ebenfalls, dass ihre eigenen Erfahrungen einen Einfluss darauf hatten, inwieweit sie in der Lage war, die Arbeit aufzubringen, sich mit uns auseinanderzusetzen. Diese Situationen nutzten wir, um voneinander zu lernen. Doch warum erzähle ich diese Geschichte? Es ist eine kleine Erinnerung daran, dass viele Menschen sich täglich mit Situationen konfrontiert sehen, die nicht hinterfragt werden. Bestimmte Mechanismen und Prozesse sind so sehr verinnerlicht, dass ihnen nicht in den Sinn kommt, wie die eigenen Handlungen für andere eine große Last sein können. Diese Geschichte soll zeigen, wie wichtig es ist, dass wir uns nicht davor verschließen, die eigenen Handlungsmechanismen zu verstehen und zu hinterfragen, gegebenenfalls zu ändern und uns aktiv mit bisher fremden Themen auseinandersetzen, ohne uns direkt eine vorgefertigte Meinung darüber zu bilden. Denn viele Themen fußen auf selektiver Wahrnehmung, Hierarchisierung, Einteilung in wichtig oder unwichtig und gesellschaftlichen Strukturen, die bis heute patriarchalisch ausgelegt sind. Dieser Artikel plädiert deshalb einerseits für einen interdisziplinären Ansatz in der Wissenschaft, der Gender miteinbezieht, und möchte das andererseits explizit mit dem Blick auf die Psychologie tun. Die Geschichte zeigt zudem, wie sehr ein historisch-kulturell geprägtes heteronormatives Verhalten Grund dafür ist, dass ein großer Teil der Gesellschaft permanent damit konfrontiert wird, vermeintlich nahezu nirgendwo hineinzupassen. Eindrücke aus dem Leben anderer sollen daher zu Beginn dieses Textes stehen, um anschließend zu formulieren, warum die Auseinandersetzung mit Gender und feministischer Theorie sehr wichtig für den Umgang mit Menschen ist. Anhand dieser Beispiele sowie einer historischen und kulturellen Einordnung von Gender und anschließender Definitionen zu Genderidentität soll ein Ausblick für Handlungsempfehlungen in der Psychologie gegeben werden, der soziologische Dimensionen miteinbezieht.
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Der Fokus auf den Erlebnis- und Erfahrungsraum ist eine soziologische Praxis, die viel in der feministischen Forschung zu finden ist. Ich verstehe meinen Ansatz hier als feministische Forschungsmethodologie, die männliche Dominanz und den Mann als gesellschaftliches Subjekt in einer patriarchalen Gesellschaft hinterfragt. Um es mit Allison Jaggars Worten zu sagen, ist feministische Forschung »distinguished by its commitment to producing knowledge useful in opposing the many varieties of gender injustice […]. Instead of being a specific body of knowledge, feminist research is a tradition of inquiry that seeks knowledge for emancipation« (2014, S. x).
Dazu ist das Führen von Interviews und Hinzuziehen von Geschichten, die von normativen Narrativen abweichen, enorm wichtig. Folgende Beispiele1 dienen daher als Leitfaden für weiterführende Erläuterungen dieses Artikels.
Beispiel 1: Transerfahrung Es gibt eine Vielzahl an Transerfahrungen (Barker, 2017; Bishop, 2016; Stryker, 2017) und gleichzeitig aber so etwas wie eine universale Erwartungshaltung, wie es wahrscheinlich sein wird, trans zu sein. Oft beinhaltet das nicht nur die Änderung sozialer Marker, wie des Namens oder von Dokumenten, sondern auch operative und somit körperliche Veränderungen. Lara ist 26, kommt aus Deutschland2 und wohnt in Berlin, hat sich vor einem Jahr als trans geoutet und ist mittlerweile im Prozess einer Hormontherapie. Sie beschreibt ihre Transition als einen hoch euphorischen und kreativen Prozess, in dem sie endlich das Gefühl hat, »einfach sein zu dürfen«. Früher, so sagt sie, hätte sie nur bis zu einem gewissen Grad wachsen dürfen, bevor dann »auch irgendwie Schluss« gewesen sei. Trotzdem beschreibt auch sie die gesellschaftlichen Bedingungen und Normen als großen Druck. Lara erzählt, dass sie die gesellschaftlichen Erwartungen deutlich spürt und sich oft mit der Erwartungshaltung konfrontiert sehe, sich – ihr Sein – zu erklären. »[E]s werden oft so Narrative in der Gesellschaft [verbreitet], wie eine Transition zu sein hat, wie man dysphorisch zu sein hat, oder wie man sich als trans Person fühlt oder nicht. Bei jedem ist das anders […]. Manche wissen das, nachdem sie geboren sind, sofort, manche trauen es sich einfach nicht zu sagen.«
Sie berichtet auch von dem Druck, Maßnahmen ergreifen zu müssen, die für trans Personen vermeintlich üblich seien, wie z. B. eine Geschlechtsangleichung.
1 Die Namen der im Beispiel aufgeführten Personen wurden geändert. 2 Zum Zeitpunkt des Interviews, das im November 2020 geführt wurde.
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Es sei ein konstanter Prüfstand, meint Lara, da ihre Person ständig mit gesellschaftlichen Normen und Anforderungen an Transidentität überprüft werde. Sie selbst sehe sich nun in der Lage, ihre eigene Geschlechtsidentität so auszudrücken, wie sie sich damit wohlfühle, auch, indem sie mit Kleidung und Make-up experimentiere, was für sie ein großer Teil der Transition sei. Es verändere sich gefühlt alles in ihrem Leben, meint Lara, auch, weil sie zum Teil verlernen müsse, was ihr in ihrem Leben die ganze Zeit über ihre Identität vermittelt worden sei. »Gender wird auf alles projiziert und es fängt bei meiner Stimme an. Mein ganzes Leben vor meiner Transition ist irgendwie männlich. Und jetzt wird mir gesagt, dass ich mich transitionieren muss, um auch als Frau erkannt zu werden. Das ist manchmal fast sogar auch ein Verlustgefühl. Es fühlt sich richtig und schön an und toll und ich identifiziere mich viel mehr damit, aber trotzdem bin ich immer noch am Herausfinden, was davon nicht einfach auch Teil meines Charakters oder meiner Persönlichkeit war, was ich wirklich mochte und was nicht.«
Das habe auch damit zu tun, dass ihr Wohlbefinden davon abhänge, wie andere Menschen ihr Geschlecht aufnähmen, sei es auf der Straße oder z. B. beim Dating; es sei auch schon vorgekommen, dass sie von einer Frau auf Instagram über ihre Identität ausgefragt worden sei. Es sei so, als würde die eigene Person ständig auf einem Serviertablett präsentiert werden, was auch irritieren könne und auf das Gefühl Einfluss nehme, dass etwas mit ihrer Geschlechtsidentität nicht stimmen könnte: »Ich merke oft so eine Erwartungshaltung von Menschen, dass ich mich so vor ihnen persönlich outen muss. Dass die Leute nicht einfach auf die Idee kommen, mich nach meinen Pronomen zu fragen und zack fertig, sondern es ist immer so, dass mein Gender nicht ausdrücklich dafür ausreicht, um mich richtig zu gendern.«
Beispiel 2: Bisexualität und Hyperfemininität Unsere ersten Gedanken beim Thema Geschlecht landen unweigerlich bei Mann und Frau. Selten geht unser Verständnis aufgrund der Art und Weise, wie wir aufgewachsen sind, über diese Dualität hinaus. Auch das bedeutet einen enormen Druck, der Kategorie Frau oder Mann angehören zu müssen. Anna kommt aus Großbritannien, ist 27 Jahre alt und identifiziert sich als cis Frau und bisexuell. Ihre Erscheinung (damit meint sie ihren Kleidungsstil, ihre Frisur und ihr Make-up) werde hingegen von außen als hyperfeminin gedeutet. Hinzu komme, dass sie sich in der Vergangenheit von Freunden oft habe anhören müssen, dass sie sie unterschätzt hätten. Man habe sie als eher dumm gesehen,
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schließlich sie sei sehr feminin, dazu blond, lächle und kichere sehr viel. Eine gegenderte Erfahrung, die sie als sehr schwer beschreibt. Des Weiteren werde ihre Sexualität aufgrund ihrer Erscheinung beurteilt und ihre Bisexualität dementsprechend angezweifelt. Damit entstehe bei ihr das Gefühl, sie müsse sich für ihre queere Identität verteidigen bzw. dass sie nicht bi sein könne, also nicht dazugehöre. Wie sie ihre eigene Femininität sehe, habe sie selbst viel hinterfragt, genauso, wie sie von außen gelesen werde. Dass sie stets viel Arbeit in die Erhaltung ihrer femininen Erscheinung gesteckt habe, sei auch deshalb passiert, weil sie gelernt habe, genau das zu tun – von der Familie, Freund*innen, der Gesellschaft und den Medien. Feminin als Frau zu sein, bedeute, so Anna, dass man als heterosexuell gesehen werde. Für Anna ist Femininität materiell. Eine dekorative Schicht, die auf dem Körper platziert werden könne. Die Reflexion der eigenen Wirkung, die durch die Beschäftigung mit Gender Studies und feministischer Theorie passiert sei, habe sie kritischer werden lassen, aber genauso darin bestärkt, an ihrem Stil festzuhalten. »Ich fühle mich feminin, und das will ich nicht verweigern. Es geht hier auch um die Frage, warum und für wen tue ich das? Mache ich das aufgrund heteronormativer Strukturen? Ich weiß, dass es nicht so ist, aber es ist manchmal nicht so leicht, andere davon zu überzeugen.«
Beispiel 3: Genderfluidität Noah ist 27, lebt in Spanien und ist in Kolumbien geboren und aufgewachsen. Die Genderstrukturen dort beschreibt Noah als sehr rigide – auch aufgrund der Landesgeschichte. Geprägt durch die Mafia und Drogenhandel, erzählt Noah, habe sich eine bestimmte Form und Struktur von Ästhetik entwickelt. Die Frau als Trophäe, mit großen Brüsten und großem Po, einem flachen Bauch. So habe sich eine Kultur der Schönheitsoperationen entwickelt, um den Körper an diese Normen anzupassen. Seitdem Noah klein ist, wird sie als eher »männlich« wahrgenommen und beschrieben. Noah beschreibt den stets vorhanden enormen Rückhalt der eigenen Familie: Als sie in der Schule Röcke hätte tragen müssen, hätten die Eltern sich stark gemacht und ausgehandelt, dass Noah Hosen tragen durfte. Trotzdem, so Noah, habe sie sich nie wirklich komplett dazugehörig gefühlt; die einzige Person, mit der sie sich habe identifizieren wollen, sei ihr Bruder gewesen. Noah beschreibt, dass es immer etwas am eigenen Körper gegeben habe, weshalb sie sich nicht dazugehörig gefühlt habe. Als Noah für das Studium nach London gezogen sei, habe sie begriffen, dass sie den Teil ihres Körpers, mit dem sie sich nicht wohlgefühlt habe, ändern könne
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– ihre Brust. »Das war ein großer Schritt für mich, da ich bald eine tiefe Verbindung mit meiner Identität fühlen könnte. Das erste Mal würde ich eine Verbindung mit meinem Körper haben, mit der Person, die ich bin.« Noah wollte sich die Brüste in Kolumbien stark reduzieren lassen, sodass Noah sowohl als Frau als auch als Mann wahrgenommen werden könne. Noah wollte, dass Menschen verwirrt von ihrer Erscheinung wären. Sowohl die Familie als auch der Chirurg begannen, so Noah, die Entscheidung zu hinterfragen. Eine Abnahme der Brust bedeutete für die Familie den Wechsel vom weiblichen zum männlichen Geschlecht. Noah wurde operiert. Das Ergebnis war anders als vereinbart. Ihre Brust wurde zwar leicht reduziert, aber an die normative Frauenbrust angepasst. Der Arzt redete sich heraus, dass das nur die Nachschwellung sei. Doch es schwoll nicht ab. »Die Operation bedeutete mir so viel. Ich war so unglaublich traurig, weil ich so sicher war, dass ich das erste Mal eine engere Verbundenheit mit meinem Körper fühlen würde. Nach einer Weile realisierte ich, dass das Problem nicht war, dass ich nicht bekommen hatte, was ich wollte, aber dass ich unsichtbar war. Dass meine Belange für die ästhetischen Normen in meiner Heimat nicht sichtbar sind. Es geht nicht darum, dass der Chirurg ein schlechter Chirurg war, sondern es geht um das System einer ästhetischen Infrastruktur drum herum. Er hatte einfach Angst, mir zu viel abzunehmen, vielleicht, weil ich ihn sonst hätte verklagen können. Was ich will, ist nicht möglich, daher wird mir auch nicht zugehört, wenn ich davon spreche, was ich will.«
Noah identifiziert sich als genderfluid. Manchmal benutzt er ein männliches, manchmal benutzt sie ein weibliches Personalpronomen. Noah möchte sich nicht an die Formalien halten, damit riskiert sie, dass sie auch in öffentlichen Toiletten oft böse Blicke zugeworfen bekommt oder viel misgendered wird. Doch sie sieht die Reaktionen auf die genderfluide Identität als einen Beweis für die Angst der Leute, die wissen müssen, was sie ist, und dabei allein von einem binären System ausgehen. Einen Umgang damit, wie Noah an gesellschaftliche Grenzen stößt, hat er vor allem dadurch gefunden, dass er Menschen getroffen hat, die ähnlich denken oder seine Identität anerkennen. Sich gesehen fühlen ist das, was ihr mehr Selbstbewusstsein gegeben hat, so zu leben, wie sie möchte, und sich auch so zu kleiden. Auch wenn sie selbst oft maskulin und feminin in normativen Kategorien denkt, versucht sie, das zu dekonstruieren. Es geht nicht darum, für wen etwas vorgesehen ist oder war, sondern, ob es zu dir passt, sagt Noah.
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Gender und Gesellschaft Inwieweit sagen diese Beispiele nun etwas darüber aus, wie unsere Gesellschaft Gender wahrnimmt? Beziehungsweise gibt es einen gesellschaftlichen Konsens, der versteht, was Gender bedeuten kann, und die vielen Bereiche erkennt, in denen Gender Einzug erhält? Also: Was ist Gender? Ganz normativ gedacht, wird Gender meist gesellschaftlich so begegnet: Es ist etwas, das vermeintlich alle brauchen und das für das ganze Leben fixiert und nicht änderbar ist. Es ist binär, es gibt also nur zwei Möglichkeiten. Damit wird aus Gender allgemein und in seiner einfachsten und universalen Form das gemacht und verstanden, was es bedeutet, Mann zu sein, und was es bedeutet, Frau zu sein. Das wiederum basiert auf dem biologischen Geschlecht und ist mit Sexualität verknüpft. Das sogenannte »Normal« ist, wenn Mann und Frau heterosexuell sind. Zusätzlich wird die Frau stereotyp als das »schwächere« Geschlecht inszeniert, der Mann als das »starke« (Barker, 2017). Eine kurze historische und kulturelle Einordnung lässt erkennen, dass viele der heutigen binären Strukturen und unsere Wahrnehmung dieser als prägender Kategorien recht jung sind und dass Kultur und auch Religion einen großen Einfluss auf das Interpretieren von Geschlechtsidentität haben (vgl. Hausen, 1976; Wetterer, 2008; van Schaik und Michel, 2020; Federici, 2004; Beard, 2017). Wie Gender mittlerweile als Kategorie verstanden wird, ist immer geprägt von einer Lesart, die insbesondere aus der Zeit vom 18. bis zum 20. Jahrhundert stammt, als der Prozess der Zwei-Geschlechter-Gesellschaft durch Biologie, Anthropologie, Medizin und in der Sozialwelt verfestigt wurde (Hausen, 1976). So wurde die Zweigeschlechtlichkeit unter anderem auch auf die Tier- und Pflanzenwelt erweitert. Die Produktion wissenschaftlichen Wissens zielte auf eine Geschlechterkonstruktion ab, eine Kolonialisierung von Gender, die von der Bestimmung und einem so interpretierten vermeintlichen Beweis aus Biologie und Bestimmung der Natur und auch Religion abgeleitet ist: Damit wurden innere Wesensmerkmale der Menschen – bzw. damals von Mann und Frau – definiert (ebd.). Laut der Historikerin Karin Hausen fand in dieser Zeit ein Wechsel von Standes- zu Charakterdefinitionen statt, ein partikulares wurde durch ein universales Zuordnungsprinzip ersetzt (ebd.). Dazu muss nur ein Blick in die Lexika oder Wissenschaft aus dieser Zeit geworfen werden, die genaue Beschreibungen des binären Systems festsetzen und viele der noch heute gängigen Stereotype als Wesensmerkmale der Frau bzw. des Mannes definieren: Zum Beispiel werden der Frau Emotionalität und das häusliche Leben zugeschrieben, während der Mann mit Rationalität und Aktivität assoziiert wird (ebd.). Insbesondere die Zeit der Industrialisierung und das Festsetzen eines kapitalistischen Systems förderten in diesem Sinne die Institutionen Familie und
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Ehe – wichtige Bestandteile für die Reproduktion patriarchaler Strukturen auf ideologischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene (Federici, 2004). Mit anderen Worten, eine antithetische Einordnung von Mann und Frau bedeutete, dass Frauen dem Haushalt, dem Erziehen und Gebären sowie der Produktion einer neuen Generation dienten. Der Mann wiederum war der natürlich Starke und Dominante, der Arbeitende und Schützende. Dieses binäre Geschlechtersystem ist allerdings sehr westlich geprägt – in anderen Kulturkreisen werden Femininität und Maskulinität anders verstanden bzw. Gender und Sexualität als eine alle zusammenfassende Kategorie gesehen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In Mexiko gibt es eine Stadt, in der das Matriarchat herrscht; und es gibt amerikanische indigene Völker, die nur einen Genderbegriff haben und eher in Spiritualität einteilen. Dass Genitalien als Marker für Geschlecht fungieren, ist auch nicht überall der Fall; zum Beispiel gab es früher Initiationsriten, in denen Kinder erst im Ritus ein Geschlecht bekamen und davor praktisch geschlechtslos waren (Wetterer, 2008). Was viel wichtiger ist, wenn hier über die Rolle von Gender und damit auch der Gender Studies gesprochen wird, betrifft die Art und Weise, wie Wirklichkeit konstruiert wird und mit welchen Mitteln das getan werden kann: in welchem kulturellen Raum oder in welcher Gesellschaft und wer wie viel Teilhabe dabei erhält (Blackman and Walkerdine, 2001). Dementsprechend sind Gender Studies vor allem auch ein Feld, das auf feministischer Forschung sowie auf feministischen, interdisziplinären Forschungsansätzen aufbaut, um die Dominanz von genau diesen heteronormativen und patriarchischen Gesellschaftsstrukturen zu hinterfragen (Jaggar, 2014). Hinterfragt wird damit nicht zuletzt, wie in solchen Gesellschaften Wissen produziert wurde und wird. Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Joan Wallach Scott weist in dem Paradigma der Differenzierung auf einen wichtigen Punkt hin, der das Dilemma der binären Kategorisierung offenbart. Wenn sich auf eine antithetische Kategorisierung der Unterschiede zwischen Mann und Frau konzentriert wird, werden die Unterschiede innerhalb der Kategorie für irrelevant und unsichtbar erklärt. Generell können Kategorisierungen, auch in der Geschichte, absolute und essenzialisierende Züge annehmen, die über die Zeit naturalisiert werden (Scott, 1988). Sprich, wenn diese Kategorisierungen oft genug vorgenommen und nicht hinterfragt werden, gelten sie als Norm und werden als wahr empfunden. Anstatt das aber komplett ins Gegenteilige umzuwandeln, muss die Struktur hinterfragt und abgewogen werden: Wann ist es sinnvoll, zu schauen, ob festgeschriebene Eigenschaften hinterfragt werden sollten? Und wann ist es sinnvoll, Personen in einer angenommenen Rolle zu stärken? Hier ein Beispiel auf heute angewandt: Ist es notwendig, Frauen vermehrt in sogenannte »Männerberufe« zu holen und sie dort zu fördern, oder sollten sogenannte »Frauenberufe« (wie Pflegeberufe) gestärkt werden? Auch wenn gleiche Rechte für alle gefordert werden, könnte
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vorher abgewogen werden, ob es wirklich sinnvoll ist, sich an Strukturen anzupassen, die eigentlich unterdrücken. Zum Beispiel: Sollten alle das gleiche Recht auf Ehe bekommen, oder sollte eher das Konzept der Ehe reformiert und gleich allen zugänglich gemacht werden? Die Anerkennung von Unterschieden und das Verständnis für Differenzen ist das, was nach vorne bringt; allerdings unterliegt Differenz gleichermaßen dem Dilemma der normativen Konstruktionen. Das verlangt nach der Auseinandersetzung mit zwei Problemen beim Hinterfragen von Differenz und Gleichberechtigung. Folgendes sollte in Betracht gezogen werden: »[T]he systematic criticism of the operations of categorical difference, the exposure of the kinds of exclusions and inclusions – the hierarchies – it constructs, and a refusal of their ultimate ›truth.‹ A refusal, however, not in the name of an equality that implies sameness or identity, but rather (and this is the second move) in the name of an equality that rests on differences – differences that confound, disrupt, and render ambiguous the meaning of any fixed binary opposition. To do anything else is to buy into the political argument that sameness is a requirement for equality, an untenable position for feminists (and historians) who know that power is constructed on and so must be challenged from the ground of difference« (Scott, 1988, S. 48).
Heißt, dass erstens die Hierarchien, die die Differenzierung von Menschen nach sich ziehen, dekonstruiert und hinterfragt werden müssen mit der Überlegung, wer von dieser Einteilung eingeschlossen und wer ausgeschlossen ist bzw. wer davon profitiert. Allerdings, und das ist Punkt zwei, nicht im Sinne von »alle müssen gleich sein« oder Differenzierung basierend auf Gleichheit, sondern eher in dem Sinne, dass Gleichberechtigung auf Differenzierungen beruht, die binäre Strukturen dekonstruieren. Erst so können fixierte Machtstrukturen wirklich dekonstruiert werden. Darüber hinaus wird bei Diskussionen über Gender und Rollenbilder häufig vergessen, inwieweit andere Bedingungen einen Einfluss auf das Ausleben der eigenen Identität haben. Es ist insbesondere wichtig, zu erkennen, inwieweit ein großer Teil gemachter Annahmen auf einem westlichen Denken fußt. Das wichtige kulturwissenschaftliche Konzept der Intersektionalität, geprägt durch die feministische Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw, weist auf die Unterschiedlichkeit der Erfahrungsräume aller Menschen hin (Crenshaw, 1991; Collins 2016). Crenshaws Forschungen zur Critical Race Theory sind enorm wichtig bei der Dekonstruktion aller Formen von Privilegien. Jeder Mensch ist geprägt durch Geschlecht, Herkunft, soziale Schicht, Behinderung, Religion, Alter usw. Menschen bestimmter Herkunft, Schicht und Geschlecht sind demnach viel privilegierter als andere. Eine Sensibilität für die Wechselbeziehungen und Verflechtungen sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Bedingungen muss stets gegeben sein, um Ungerechtigkeiten zu erkennen und zu adressieren.
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Ohne die Kreation von Superioritäten gäbe es keine Minoritäten, beide erhalten sich gegenseitig und bedingen damit den Definitionsbereich des jeweils anderen (Mohanty, 1988). Was die Norm ist, die sich gegen »das andere« definiert, ist dabei allerdings durch rigide Systeme, die durch stereotypes und kategorisches Denken weiterproduziert werden, geschützt. Dabei bleibt ein Fundament bestehen, das gerade auch durch Begriffe wie »normal«, »natürlich« oder »die anderen« kaschiert wird, denn mit der Verwendung dieser Begriffe wird durch eine normative Brille differenziert. Auch dann, wenn gesagt wird, es gebe wichtigere Dinge, mit denen es sich zu beschäftigen gelte, findet eine Hierarchisierung und ein Abwägen statt; dann wird differenziert und ein Thema, also hier Gender, anderen beliebigen Sachverhalten gegenübergestellt als ein Komplex, der verglichen werden kann, als etwas vermeintlich Wichtigeres oder Unwichtigeres. Es wird dementsprechend zur Wahl gestellt, ob es nun wichtiger sei, sich über Gender zu unterhalten oder über Wirtschaft, Erziehung und Klimawandel. Dass Gender aber in diesen Gebieten mitgedacht werden sollte, ist ein Faktor, der durch die Produktion von Gender als Entität und Nischenthema abgetan wird. Denn Forschung in den Gender Studies hat durchaus Einfluss auf viele andere Bereiche: Donna Haraway (1991) z. B. war eine der ersten, die den digitalen Wandel mit feministischer Theorie verband und schon sehr früh verstand, wie wichtig dieser für die Zukunft sein wird. Auch in den Umweltbewegungen gibt es die Strömung des Eco-Feminism (vgl. Mies und Shiva, 1988), der beschreibt, inwiefern Klimawandel und die patriarchale Gesellschaft miteinander verflochten sind bzw. eine Analogie der Unterdrückung aufweisen. Auch auf sozialpolitischer Ebene werden momentan eine Menge Themen besprochen, die von Genderforschung profitieren könnten: Schwangerschaftsabbrüche, häusliche Gewalt oder der Gender Pay Gap. Gender Studies und feministische Theorie setzen genau da an, wo das aktuelle System aufhören möchte, weiterzufragen. Gender ist kein Reflex auf die Natur des biologischen Geschlechts, welches ebenfalls nicht nur binär ist. Die Fähigkeit, Kultur zu produzieren und Kultur zu besitzen sowie ihre Marker zu bestimmen, hat genauso Einfluss auf die Interpretation von Biologie, was bedeutet, dass alle möglichen Interpretation von angeblich rein natürlicher Wissenschaft immer im Wechselspiel mit einem kulturellen Denken passieren (van Schaik & Michel, 2020). Die Definitionsmacht der Biologie ist oft gegeben – doch dass es auch in der Biologie durchaus Streitigkeiten um die Legitimität der Binarität gibt und von einer viel größeren Fluidität insbesondere in Bezug auf Gender und sexuelle Orientierung ausgegangen wird, wird durch die normative, soziale und kulturelle Konstruktion von Gender verwischt (vgl. Fine, 2010; Fausto-Sterling, 2000; van Schaik & Michel, 2020; Barker, 2017). Beziehungsweise wird Biologie oft absolut gedeutet, anstatt auch hier anzuerkennen, dass es Menschen auszeichnet, in der Lage zu sein, Dinge aufgrund kultureller Prägung ändern zu können (Fine, 2010;
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van Schaik & Michel, 2020). Dadurch passiert auch, dass eine Transition als eine reine Transformation des biologischen Körpers gesehen wird, der bei der Geburt klar als Mann oder Frau definiert wurde, oder dass bestimmte dekorative Marker wie Schminke und rosa Kleidung als ein Ausdruck der heterosexuellen Feminität verstanden werden oder dass von einer Person verlangt wird, dass sie sich entweder als Mann oder Frau sehen muss, um das eigene Bedürfnis, es wissen zu müssen, zu stillen. Wird Gender auf einer diskursive Ebene verstanden, lässt das die Performativität von Gender erkennen. Viel zitiert, kritisiert und hinterfragt wird die Performativität von Gender nach der Philosophin Judith Butler: »Gender is the repeated stylization of the body, a set of repeated acts within a highly rigid regulatory frame that congeal over time to produce the appearance of substance, of a natural sort of being« (Butler, 2006). Wird eine Erwartung oft genug wiederholt, wird sie zur Realität. So verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was sein kann, und dem, was ist. Der regulative Rahmen, in dem Gender passiert, reproduziert die naturalisierende Annahme über Geschlechter (ebd.). Während das Verkleiden und das Produzieren eines heterosexuellen Stereotyps durch z. B. drag eine Performanz einer Idee davon ist, was Gender vermeintlich sein soll, ist Performativität hingegen keine Selbstdarstellung oder Präsentation, sondern der Effekt eines regulierenden, sich selbst produzierenden Regimes von Genderdifferenz (Butler, 1993). Das heißt, die eigene Genderidentität oder die Annahme darüber, wie oder wer eine Person ist, unterliegen kulturellen und sozialen Regulierungen, die suggerieren, wie Gender zu sein hat. Alle Beispiele aus den geführten Interviews zeigen, inwiefern ein Ausbrechen aus naturalisierten Strukturen Unbehagen auslöst oder ein Hinterfragen der Identität der Personen. Am Beispiel von Noah ist die Angst der Leute vor dem Unbekannten, sprich: vor seinem fluiden Geschlecht, zu erkennen. Das Fremde löst in den Menschen Unverständnis aus, weil es aus einem Rahmen zu fallen scheint, daher gibt es böse Blicke für die als Mann wirkende Frau in der Damentoilette. Beim Beispiel der Transerfahrung wird eine Person angestarrt, ihre Identität hinterfragt oder sie zu Erklärungen ihrer Identität gezwungen. Der eigene Körper – oder das, was vom Erscheinungsbild gesellschaftlich erwartet wird – ist eine Art und Weise des Selbstausdrucks. Gender ist keine Entscheidung, Rolle oder Konstruktion bei einem selbst, sondern das, was man ist. Allerdings fest umklammert von sozialen Einschränkungen, die durch ständige Wiederholungen ihrer Regeln Gender doch konstruieren und stabilisieren (Butler, 2004, 2006). Mit anderen Worten: Wie Personen sich anziehen oder schminken wollen oder wie ihr Auftreten ist, hat bedingt mit Gender per se zu tun; wie sie auftreten wollen, wird aber auf eine bestimmte Art und Weise von außen aufgenommen und bewertet. Hier greift die heterosexuelle Matrix, die einen Körper als eher weiblich oder männlich liest bzw. mit Unverständnis
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reagiert, wenn der Körper nicht mit den Erwartungen von Mann und Frau übereinstimmt. Das wird dann mit Sexualität in einen Topf geworfen. Erscheinungsbild und Sexualität sollen einander spiegeln, tun sie das nicht, wird das binäre Denken umgedreht: Weibliche Männer sind schwul, männliche Frauen lesbisch. Der Raum ist damit sehr eng gesteckt. Sexualitäten, die aus dem Raster fallen, finden nicht automatisch Beachtung. Siehe in Annas Fall Bisexualität: Bei Anna wird die Femininität als Marker der Heterosexualität gesehen, egal, ob aus der queeren Community oder aus heterosexueller Sicht. Die Annahme, sich ohne Bestätigung ein Urteil über die Sexualität eines Menschen zu erlauben, ist, was häufig geschieht. Nicht nur beim äußeren Auftreten, auch beim Verhalten, das z. B. als besonders feminin oder maskulin gesehen wird. Wie oft passiert es, dass emotionale Männer als »bestimmt schwul« kategorisiert werden? Oder welches Bild entsteht in den Köpfen der Menschen, wenn einfach nur an das diffamierende Wort »Kampflesbe« gedacht wird? Das Wort hat eine spezielle Ästhetik, die als besonders unweiblich beschrieben werden würde. In Fällen wie diesen lastet ein enormer Druck auf den Betroffenen; wie etwa von Lara beschrieben, die selten als feminin genug gesehen wird und die ihre eigene Transition als eine männliche beschreibt aufgrund dessen, wie andere ihre Stimme oder ihre Erscheinung von außen wahrnehmen. Des Weiteren lassen sich Operationen auf einem interessanten Spektrum verorten. Auf der einen Seite verlangen eine gesellschaftliche Hypersexualisierung (vgl. McRobbie, 2008; Gill, 2007) und die mediale Verbreitung des perfekten Frauen- bzw. Männerkörpers nach Schönheitsoperationen (Gill, 2007), um diesem Ideal entsprechen zu können. Auf der anderen Seite stehen Operationen, die aufgrund des Wunsches nach einem Erlebbarmachens des eigenen Körpers durchgeführt werden, um ihn von außen als das wahrzunehmen (Bishop, 2016), wonach er sich schon immer anfühlt, sowie auch die Erwartung, dass eine Operation unabdingbarer Wunsch sein muss, um sich ganz fühlen zu können. Lara möchte mit weiblich klingender Stimme wahrgenommen werden und macht eine Hormontherapie, die für sie zu ihrer Erfahrung dazuzählt. Das hat zwar auch mit der Idee zu tun, wie Femininität oder Maskulinität selbst definiert werden, vor allem aber auch mit dem Wunsch, von außen eine bestimmte Wahrnehmung zu erzeugen. Noah sagt dazu, dass es nicht darum geht, welche Erwartungen Menschen von der Materie des Körpers oder der Kleidung haben, sondern darum, was es mit einem selbst macht. Ähnlich wie bei Anna, die ihre Erscheinung nicht ändern möchte und ihre Selbstbestimmung wahrt, wenn sie ihre Femininität als Materialität wahrnimmt. Egal, in welchem Szenario, stets müssen Menschen, die dem heterosexuellen Paradigma nicht entsprechen, sich selbst outen. Mal umgedreht: Heterosexuelle Menschen tun das nicht. Aber auch beim Outing fällt oft vieles, das nicht binär ist, hinten ab. Allem, das sich beweglich zeigt, wie Genderfluidität oder Bise-
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xualität, wird oft mit der Frage begegnet: Aber du musst doch »entweder oder« sein? Ist das nicht der Fall, und eine bisexuelle Person ist nach einer Beziehung mit einem Mann nun doch wieder in einer Beziehung mit einer Frau, wird sie eher als heterosexuell oder als lesbisch gesehen. Genauso verhält es sich mit dem Druck, den eine trans Person spürt, eine Transition vorzunehmen, die gesellschaftlich erwartet wird, um als trans zu gelten, z. B. durch Geschlechtsangleichung oder einen hyperfemininen Kleidungsstil, der dann das Geschlecht, so wie es normativ gelesen wird, spiegelt. Wie wird Kraft geschöpft? Auch das wurde mit den Interviewpartner:innen besprochen und auch das ist ein sehr wichtiger Teil, der unabdingbar ist, um sich ganzheitlich mit der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Relevanz von Gender zu beschäftigen und handlungsfähig zu werden. Nämlich durch die Akzeptanz der Differenz zu dem, was der eigene Horizont bisher ermöglicht hat; durch die Erkenntnis, dass die Verschiedenheit aller im Vergleich zur eigenen Identität verbindet und dass wir uns gegenseitig dabei unterstützen können, die eigene Identität so zu leben, wie wir es wollen. Es ist ein Netz an Solidarität und Community-Gefühl, aber auch Sorgearbeit. Anna erzählte, dass es besonders ihre feministischen Kreise und Arbeitskolleg:innen seien, die ihr bei den Problemen helfen würden, mit denen sie sich konfrontiert sehe. Lara meinte, dass sie sich generell schon mit eher offenen und kreativeren Leuten umgebe, sodass sie das Gefühl habe, sich dort sicherer fühlen zu können.
Gender-Definitionen Die folgenden Definitionen können als Leitfaden dienen, wie momentan bestimmte Begriffe verstanden werden. Mit diesen kann zusätzlich auch auf Probleme hingewiesen werden. Zunächst geht es um eine ganz generelle Einordnung in das Geschlechtersystem: Stimmen das biologisches Geschlecht (sex) und das soziokulturelle Geschlecht (gender) überein, wird von cis gesprochen, stimmen sie nicht überein, sind Menschen trans, sind sie aus biologischer Sicht nicht klar in das binäre Geschlechtersystem einzuteilen, sind sie intersexuell, identifizieren sie sich als weder Mann noch Frau, sind sie non-binär. Dabei darf vor allem eines nicht vergessen werden, wie Psycholog:in und Aktivist:in Meg-John Barker postuliert: »A person’s bodily sex, their psychological experience of gender, and the cultural norms and ideals of gender in the world around them, are so inextricably linked that it is impossible to tease them apart« (Barker, 2017). Das bedeutet, dass es eine ständige Wechselwirkung zwischen biologischem Geschlecht, psychologischer Erfahrung von Gender, kulturellen Normen und Genderidealen und auch der
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sexuellen Orientierung gibt. Die folgenden Einordnungen werden sich viel auf Meg-John Barkers Forschung beziehen.
cis Die Entstehung des Begriffs cis setzt den Gegenpol zu trans. Damit kann auch zum Ausdruck gebracht werden, dass es viele Begriffe auf einem Genderspektrum gibt, die nicht in ein binäres System passen. Des Weiteren kann so dargestellt werden, dass es ein großes Machtungleichgewicht gibt, und sich ein Raum zur Diskussion über Identität eröffnen. Weniger sollte cis als ein Gegensatz zu trans gesehen werden, um eine erneute binäre Konstruktion zu vermeiden, sondern eher als ein Außenpunkt eines Spektrums, das die Fluidität von Identität beschreibt.
Frau Das Anpassen an einen kulturellen Kontext und soziale Normen macht aus, was ganz normativ als Frau verstanden wird. Immer noch ähneln viele der sogenannten typisch weiblichen Merkmale denen aus alten Lexika: sozial sein, sich kümmern, emotional, verletzlich, auf das Äußere bedacht (vgl. Hausen, 1976). Dazu gehört z. B. auch, dass die Arbeitswelt eine klare Teilung vorsieht, was typische Frauenberufe sind, wie Pflegearbeit, Hausarbeit oder Sorgearbeit. Auch der in den 1980er-Jahren durch die Soziologin Arlie Hochschild (2012) geprägte Begriff der emotionalen Arbeit zeigt auf, inwieweit Anforderungen an ein Frauenbild durchaus von Altruismus, Aufopferung und Emotionalität geprägt sind. Dieser Begriff ist mittlerweile um viele andere erweitert worden, die die Anforderungen des emotionalen Managements, das auf Frauen ruht, beschreiben: Frauen als die, die insbesondere damit beschäftigt sind, für andere da zu sein, schön zu sein oder begehrt zu werden.
Mann Ebenso wie bei Frauen bedeutet, Mann zu sein, die Normen im kulturellen und sozialen Kontext zu erfüllen. Der Mann ist stark, unabhängig, rational, sexuell, dominant, Risiken liebend, ein Arbeitstier. Auch hier ist der Unterschied zu der Definition des 19. Jahrhundert gar nicht so groß. Die Erfahrung des Mannes ist durch die Vorlage der Männlichkeit – oder auch des Mensch-Seins – geprägt. Das
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bedeutet, er ist weiß, aus der Mittelschicht, nicht behindert, heterosexuell, cis und physisch gut gebaut und fit.
trans Trans ist ein Überbegriff für eine Vielzahl verschiedener Erfahrungen. Die Beziehung von Gender und Sex, also biologischem Geschlecht, wird durch trans im normativen Verständnis so durchbrochen, dass die neue Beziehung zum Körper und der Wunsch der körperlichen Veränderung die eigene Bezeichnung der sexuellen Identität untergraben. Die wahrscheinlich gängigsten Begriffe sind transsexuell und transgender, der Unterschied dabei ist, dass transsexuell sozusagen die Sexualität »kreuzt« und der eigene Körper sich mit der Genderperformance kohärent anfühlen soll, also die dominanten kulturellen Ansichten spiegeln will (vgl. Bishop, 2016; Barker, 2017; Stryker & Sullivan, 2009). Der Begriff transgender wird in der Regel verwendet, da »transsexuell« auch historisch gesehen oft eher als veraltet gilt bzw. argumentiert wird, dass der Fokus zu sehr auf dem biologischen Geschlecht liege. Leider ist es nun häufig auch noch so, dass die deutsche Gesetzgebung (siehe das Transsexuellengesetz, kurz TSG, von 1980) sich der alten Sprache bedient bzw. die Diagnostik noch bei diesen Begrifflichkeiten steckt. So auch bei Transsexualität, obwohl der Großteil transidenter Personen den Begriff transgender wählt. Es gibt die soziale Transition, wobei Name, Pronomen, Aussehen und Dokumente geändert werden. Es gibt die medizinische Transition, wobei der Körper dem Geschlecht angeglichen werden soll, beispielsweise durch Operationen und Hormone. Es ist wichtig zu verstehen, dass trans Erfahrungen vielschichtig und verschieden sind. Es gibt nicht den einen Weg – dass das oft angenommen wird, ist wiederum dem binären Denken unterworfen. Trans Personen können sich als intersex, nonbinär, Frau oder Mann, transfeminin, transmaskulin identifizieren. Das verdeutlicht einmal mehr, dass Genderidentität ein Spektrum umfasst. Wichtig ist auch, auf die Sprache zu achten, wenn über trans gesprochen wird. Zu häufig wird noch von einer »Geschlechtsumwandlung« gesprochen oder von »dem Mensch, der im falschen Körper steckt«. Das Geschlecht wird gerade nicht umgewandelt, da der Mensch sich bereits als z. B. Frau begreift. Eher wird daher von einer Angleichung gesprochen, sprich die Genitalien, Hormonbehandlung usw. werden dem Geschlecht angepasst. Ebenso hilfreich ist es, darauf hinzuweisen, dass einer Person ein Geschlecht zur Geburt zugewiesen wird. Das drückt sich auch durch die Begriffe AFAB und AMAB aus (also assigned female at birth und assigned male at birth, heißt, zur Geburt dem weiblichen Geschlecht bzw. dem männlichen Geschlecht zugewiesen).
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Eine genaue Angabe über die Anzahl an Personen, die trans sind, zu finden, ist schwierig aus folgenden Gründen: Es gibt eine hohe Dunkelziffer an Menschen, die nicht geoutet werden wollen bzw. sich nicht outen können. Es muss in Betracht gezogen werden, dass Menschen aufgrund kultureller, religiöser, finanzieller Faktoren ihre Identität nicht ausleben können (Dalia Research, 2016).
Non-binär Non-binär bedeutet, dass eine Einordnung in das binäre System nicht vorgenommen wird. Im Deutschen gibt es bisher keine einheitliche Anrede für nonbinäre Personen, aber eine Menge verschiedener Optionen. Zum Beispiel können die dritte Person Plural verwendet werden, er/sie oder das englische Pronomen they bzw. them; manche Menschen benutzen gar keine Pronomen oder die Pronomen dey, xier, sier etc. Die dritte legale Geschlechtsoption divers wird bei der Geburt allerdings nur intersexuellen Kindern zugewiesen, sprich denjenigen Kindern, bei denen das biologische Geschlecht nicht eindeutig ist. Es gibt eine Vielzahl an Varianten bzw. Möglichkeiten eines Spektrums. Einige sollen hier kurz genannt werden. Genderfluid bedeutet, dass sich ein Mensch zwischen den Geschlechtern bewegt, was situativ abhängig ist. Bigender bezeichnet die Option, dass sich eine Person mit zwei Gendern identifiziert, agender eine Person, die sich mit keinem Gender identifiziert, und genderfuck Menschen, die das westliche System komplett ablehnen. Was die Fülle an Möglichkeiten aber deutlich zeigt, ist, dass das kulturell dominante Verständnis von Geschlechtsidentität durch eine Vielzahl von verschiedenen Erlebnisräumen durchbrochen und hinterfragt wird. Gerade bei den Genderformen, die nicht in die dominante Struktur fallen, fällt auf, dass die Außenwirkung und das Empfinden des Körpers dennoch viel gemessen werden an dem, wie andere ihn verstehen würden. Das ist das wahrscheinlich im Moment dominanteste Problem, wenn es um das gegenseitige Verständnis geht. Foucault wies in seinen Werken des Öfteren darauf hin, dass die Seele das Gefängnis des Körpers ist (Foucault, 1994). Im Inneren sitzt die Wahrheit darüber, wie Menschen sich fühlen. Allerdings gibt es ebenso den Drang, dass das Innerliche dem Äußerlichen gleichen muss. Es geht aber vielleicht viel eher darum, dass die Materialität des Körpers und das, was als typisch männlich bzw. weiblich bezeichnet wird, fortbesteht, während versucht wird, es gleichzeitig zu hinterfragen und zu dekonstruieren.
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Sexualität und Beziehungskonzepte in Zusammenhang mit Gender Sexualität ist unweigerlich mit Gender verknüpft, auch schon deswegen, weil sexuelle Orientierung genauso auf einem Spektrum liegt wie die Geschlechtsidentität. Obwohl es sehr viele andere Marker gäbe, Sexualität festzumachen, wird sie am Geschlecht der anderen Person festgemacht. Sexuelle Identität, Attraktion und auch sexuelles Verhalten spielen dabei zusammen und sind ebenso weitgefächert. Dementsprechend sollen hier einige Möglichkeiten der Sexualität erklärt werden, die durch ein heteronormatives Bild ebenfalls unsichtbar gemacht werden.
Asexuell Bei Asexualität ist keine Erfahrung sexueller Anziehung vorhanden, aber auch hier gibt es ein Spektrum. Es wird dabei oft vergessen, dass es asexuelle Menschen gibt, die romantische Beziehungen wollen oder eine Beziehung bei einer starken emotionalen Verbundenheit eingehen. Stigmatisierung erfahren Asexuelle dadurch, dass es als gesund angesehen wird, sexuelle Beziehungen zu führen. Oft wird ihnen attestiert, dass es wahrscheinlich nur eine Phase sei, es wird versucht, sie zu heilen, und es kann demzufolge zu Übergriffigkeiten kommen.
Bisexuell, pansexuell, Spektrum Bisexualität bedeutet, dass sich eine Person zu einem/einer Partner:in von mehr als einem Geschlecht angezogen fühlen kann. Pansexualität geht darüber hinaus und verweigert sich der Kategorie Gender gänzlich, wenn es um die Beurteilung der Anziehung geht, viel eher spielen andere Faktoren eine Rolle. Was oft getan wird, ist, dass Anziehung, die mehr als ein Gender mit einbezieht, in binären Gesellschaftsstrukturen unbeachtet bleibt oder als Phase abgetan wird. Tatsächlich ist es aber so, dass gerade unter jungen Leuten die Zahl der sich auf einem Spektrum Identifizierenden enorm wächst (vgl. Dalia Research, 2016).
Lesbisch und schwul Lesbisch und schwul sind Monosexualitäten. Auch in der queeren Community gibt es verschiedene Bezeichnungen für das eigene Auftreten und die äußere Erscheinung. Begriffe wie butch, also eher männlich aussehend, oder femme,
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eher weiblich aussehend, gehören dazu. Es gibt eine Vielzahl von Varianten für lesbische und schwule Identitäten. Der Anteil aller LSBT3-Personen in Deutschland liegt laut Zahlen einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 2016 bei 7,4 Prozent (Dalia Research, 2016). Unter Jugendlichen ist der Anteil noch höher, er liegt in Deutschland zwischen 10 bis 12 Prozent. In Spanien z. B. liegt er bei 14 Prozent (ebd.). Das heißt nicht, dass das die absoluten Werte sind. Statistiken dazu sind mit Vorsicht zu genießen aus folgenden Gründen: Viele Gesellschaften sind meist heterosexuell und eher homophob. Auf vielen Personen lastet ein hoher Druck, sich outen zu müssen, viele halten es aufgrund der Angst vor der eigenen Familie oder dem engen Umfeld geheim. Aus der Dalia-Studie geht ebenfalls hervor, dass acht Prozent der Befragten gar keine Aussage treffen wollten. Es kann also davon ausgegangen werden, dass der Anteil definitiv höher ist (ebd.).
Beziehungskonzepte Zum Zusammenspiel von Gender und Sexualität gehört auch die Idee eines manifestierten Beziehungskonzeptes. Wie im Abschnitt zur Geschichte erläutert, ist in vielen westlichen Gesellschaften die monogame Ehe und eine nukleare Familie als Ziel formuliert; und wenn nicht explizit als Ziel formuliert, so ist eine Ehe insofern erstrebenswert, als sie sozialen und ökonomischen Druck nimmt und mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Zum Beispiel sind rechtliche oder ökonomische Hürden für unverheiratete gleichgeschlechtliche Paare oder alleinerziehende Mütter höher. Damit wird es als normal gesehen, eine Beziehung romantischer Art anzustreben, und darüber hinaus wird die romantische Beziehungen gegenüber anderen Beziehungen priorisiert (ausgenommen vielleicht die Liebe der Mutter zum eigenen Kind). Doch das ist schon lange nicht mehr der Regelfall. Es gibt viel mehr Singles, getrenntlebende Partner:innen, offene Beziehungen, die Hälfte aller Ehen in Deutschland endet in einer Scheidung, es gibt Adoptivfamilien, Stiefeltern, platonische Beziehungen, Polyamorie usw.
Queer Zuletzt soll kurz auf den Begriff queer eingegangen werden, der immer häufiger Verwendung findet. Queer Studies ist kein Teil der Gender Studies, eher ist es ein komplett eigenes Feld, steht aber in einer engen Beziehung oder Wechselwirkung 3 Lesbisch, schwul, bisexuell, trans.
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mit den Gender Studies. Queer ist ein Begriff, der »reclaimed« wurde, heißt, ein Begriff, dessen diffamierender Ursprung umgeschrieben wurde und nun die Erfahrung vieler Menschen beschreibt. Queer wird von Menschen als Identitätsmarker benutzt, die sich weder als cis noch als heterosexuell verstehen, sondern als Teil einer fluiden Identität. Queer wird mittlerweile auch häufiger benutzt, wenn es um Handlungen und Taten von Menschen geht, die von einer vorherrschenden Norm abweichen. Der Begriff wird häufig benutzt, da er viel umfasst, wird aber aufgrund dessen auch kritisch gesehen (vgl. Jagose, 2001; Butler, 1991; Sullivan 2003).
Inwieweit kann das wichtig für die Psychologie sein? Wer schreibt Wissenschaft und wer hat Wissenschaft geschrieben? Welche Wissenschaftler:innen sind Teil des Kanons? Was sagt auch das über unser Verständnis von Wissenschaft aus? Das meiste, und da können sich viele Disziplinen nicht ausnehmen, basiert auf Forschung weißer, westlicher und hauptsächlich männlicher Denker und Schreiber, die das westliche Verständnis von Geschlecht in ihrer Forschung fortführen bzw. es selbst kreieren und kreiert haben. Viele Annahmen, die eigentlich schon lange widerlegt sind oder widerlegt werden können, werden heute noch in einigen Bereichen diskutiert oder als Wahrheit anerkannt (vgl. Fine, 2010). Dementsprechend basiert der größte Teil der Forschung und Statistiken auf der Annahme von Cis-Identitäten, Heterosexualität und Monogamie. Wie Psychologie studiert wurde, hat einen Langzeiteffekt, der erst über Jahre mit neuen Bewegungen, neuen Studien und neuen Vergleichsgruppen wirklich geringer wird. Denn Forschende können nie komplett frei von eigener Voreingenommenheit sein und forschen, ohne dabei problematische Strukturen zu reproduzieren (Patai, 1994). Es darf natürlich nicht verkannt werden, dass die Konstruktion von Gender allein als kulturelle Instanz so auch nicht gegeben ist. Gender ist immer ein Zusammenspiel aus Biologie, Psychologie und sozialen Faktoren. Aber – und das ist das große Aber – Biologie wird oft als eine übergeordnete Größe und Instanz in der Wissenschaft betrachtet, die Naturwissenschaft gilt als wichtiger als die Sozialwissenschaft (Barker, 2017; Fine, 2010). Jedoch wird auch die Biologie mit einem kulturell geprägten Verständnis interpretiert, was wiederum dazu führt, diese in einer bestimmten Form zu verwenden – und das ist oft die Bestätigung des binären Systems sowie gleichzeitig eine Etablierung der Unterschiede von Gender. Das sollte hinterfragt werden.
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Daher müssen hier einige Annahmen besprochen werden, die das »Wir und ›die Anderen‹«-Denken aufrechterhalten (vgl. Barker, 2017; Krell, 2013; Krell und Oldmeier, 2015): – Das, was oft als nicht gender-konformes Verhalten gesehen wird, ist häufiger Subjekt von Diskriminierung oder Mobbing, das auch schon im jungen Alter. – Die Genderidentität queerer Menschen wird teilweise hinterfragt, wenn sie sich nicht mit der binären Vorstellung von Geschlecht deckt. – Häufig werden gängige normative Vorstellungen und ein dementsprechender Lebensstil angenommen, solange es nicht zu einem Coming-out kommt, oder Druck auf die Person ausgeübt, die eigene Identität preisgeben zu wollen und zu können. Speziell zum Thema Coming-out gibt es oft die Annahme, dieses als die gesündeste Maßnahme anzusehen, was mit Vorsicht zu betrachten ist. In bestimmten Gesellschafts- oder Familiengefügen kann es durchaus sein, dass ein Coming-Out die Gesundheit des Menschen gefährden würde. Zum Beispiel könnten hoch religiöse Eltern das Kind verstoßen, Gewalt anwenden oder eine Konversionstherapie in Betracht ziehen (Konversionstherapie soll, Stand 2020, jetzt erst verboten werden, und es gibt nur wenige Länder bzw. Staaten, in denen sie komplett verboten ist). Laut Studien, bei denen trans und non-binäre Personen zu ihren Therapieerfahrungen befragt wurden, und auch in den geführten Interviews kristallisieren sich demnach gerade bei trans und non-binären Personen folgende Probleme heraus (vgl. Krell/Oldemeier, 2015; Elder 2016; Mizock & Lundquist 2016): – Sie verspüren Druck, die eigene Identität erklären zu müssen. – Gender wird zum Fokus des Problems, und damit werden andere wichtige Probleme negiert. – Gender wird umgangen und gar nicht thematisiert. – Es findet eine Generalisierung statt: Es wird davon ausgegangen, dass z. B. jede trans Erfahrung gleich abläuft. – Trans zu sein, wird als Problem angegangen, das behoben werden soll. – Trans ist die Ursache des zu therapierenden Problems. – Der:die Therapeut:in verhindert, dass der:die Patient:in Zugang zu medizinischen Ressourcen erlangt. All diese aufgelisteten Punkte können dazu führen, dass Personen sich keine Hilfe suchen oder – verständlicherweise – nur mit Menschen sprechen wollen, die ähnliche Erfahrungen machen bzw. gemacht haben. Was kann also getan werden aufseiten der Forschung und speziell in der psychotherapeutischen Praxis? Zunächst sind eine Selbstreflexion und Analyse der eigenen Person und Ansichten wichtig. Wie sehe ich mich selbst, welche Privilegien besitze ich, wie denke ich über das Geschlecht anderer Menschen nach?
»Welche Bedeutung hat Gender für die Psychologie?«
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Der eigene Kopf sollte dekolonialisiert werden und Kategorien sollten dekonstruiert werden. Jeder Mensch hat Vorurteile und denkt stereotyp. Das Gehirn muss natürlich auch kategorisieren, um Dinge einzuordnen, zu lernen und zu verstehen, das heißt aber nicht, dass eine Person nicht trotzdem in der Verantwortung stehen kann, gesellschaftliche Strukturen und das eigene Denken zu hinterfragen. Dafür sollte ein Bewusstsein entstehen, das auf intersektionalem Denken fußt. Gender kann als nicht-binär verstanden werden, womit eine Bandbreite verschiedener Identitäten möglich ist. Weder Sexualität, Gender oder Beziehungsreferenzen sollten einfach angenommen werden. Zum Beispiel ist es möglich, sich selbst mit dem gewünschten Personalpronomen vorzustellen und zu fragen, welches von der anderen Person präferiert wird. Machtdynamiken können offen angesprochen werden: Was sind relevante Unterschiede oder Gemeinsamkeiten, und wie fühlen sich beide Seiten damit? Eigene Stigmatisierungen können hinterfragt und die individuellen Erzählungen und Erlebnisse der zu therapierenden Person ernst genommen werden. Es kann sich selbst zu den möglichen Gendererfahrungen weitergebildet werden. Es existiert eine Vielzahl an Bildungsinitiativen, die Materialien bereitstellen,4 um sich genauer mit Gender auseinanderzusetzen. Dazu gibt es eine Vielzahl an Glossaren5 online, die unbekannte Begriffe erklären, oder es können primär Bücher gelesen werden,6 die von trans Personen geschrieben wurden oder sich mit der Geschichte auseinandersetzen.
Fazit Dieser Artikel soll eine von vielen Bestandsaufnahmen sein, die die Realität von Menschen näherbringen, die in einer kulturell konstruierten und naturalisierten Norm oft nicht mitgedacht werden. Zu häufig werden Gender und Genderdiversität zu wenig beachtet bzw. als eine nur eine Minderheit betreffende Thematik abgetan. Es wird und es sollte immer angeregte Diskussionen darüber geben, wie und von wem Wissen produziert wird und in welchem Kontext es steht, damit gesellschaftliche Gefüge und 4 Einige gute Beispiele sind die Aufklärungs- und Beratungsstellen ABqueer oder QueerFormat, eine Fachstelle für queere Bildung. 5 Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet ein umfangreiches Glossar für LSBTIQ-Begriffe: das »Gender Glossar«, welches Teil der Initiative Open Digital Gender Studies (ODGS) ist und viele Themen rund um Gender Studies aufgreift sowie kurze Erklärungen gibt. 6 Linus Gieses »Ich bin Linus« sowie Felicia Ewerts »Trans.Frau.Sein« haben sich beide mit ihrer eigenen Biografie und Transsein im gesellschaftlichen Kontext beschäftigt.
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die eigenen Ansichten hinterfragt und gegebenenfalls aktualisiert werden. Denn was schlussendlich auch zählt, ist, dass marginalisierte Menschen zu Wort kommen, von ihren Aussagen gelernt werden kann, eigene normative Annahmen aktualisiert werden können. So gelingt eine gegenseitig würdevolle Behandlung und es wird die Angst vor fremden Thematiken genommen, um sich fundiert und ernsthaft damit beschäftigen zu können.
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»Welche Bedeutung hat Gender für die Psychologie?«
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Interviews * alle Namen der Interviewten wurden geändert Lara – persönliches Interview, November 2020, Berlin Anna – persönliches Interview, Januar 2019, Berlin Noah – Telefoninterview, Februar 2020, Madrid
Thorsten Bendias
Der soziale Infarkt, die Scham und die therapeutische Offenbarungssituation
Jeder Sprachwandel macht stille Veränderungen des kollektiven Bewusstseins sichtbar, deren Verständnis erst möglich wird, wenn die Stimmung der Masse einen neuen Begriff bekommt, welcher dann wie ein Lauffeuer rückwirkend den »Nerv« der Menschen trifft. Das neue Wort verbreitet sich wie eine Infektion und wird von jedem verstanden. Als das Wort »Rettungspaket« 2008 in der Deutschschweiz zum Wort des Jahres wurde, gefolgt von »Rettungsschirm« in Österreich 2011 und dem Wort »Rettungsroutine« 2012 in Deutschland, war ein Symptom für eine Veränderung des Wirtschaftssystems aufgetaucht. Damals waren ganze Staaten durch Effekte von Finanzpolitik und Globalisierung scheinbar abrupt von einer nicht hinterfragten Stabilität in Existenzkrisen abgeglitten. Ein solches Ereignis ist durchaus mit einem medizinischen Infarkt zu vergleichen. Im Fall drohender Staatsbankrotte musste in großer Eile ein Rettungsschirm erfunden werden, und die gewaltige Anstrengung war begründet. Ein sozialstaatliches Regulatorium für Infarkte des Einzelnen, analog zum »Rettungsschirm« für Staaten, existierte nicht. Die Coronakrise hat nun Modelle für solche hervorgebracht, die Eile war nicht geringer.
Soziale Infarkte in der Mitte der Gesellschaft Menschen mit wirtschaftlichem Eigenengagement, häufigen Reisen, Offenheit und flexiblen Bindungen gelten als jung, und ihre Lebensorientierung als lebensbejahend und modern. Sie stehen für eine moderne Arbeitswelt. Freelancer:innen verkörpern diese Lebensart besonders und werden im folgenden Beitrag fokussiert. Psychosoziale Krisen von Berufsgruppen mit hoher Autonomie zeigen einige Besonderheiten. Durch Überweisungen von Hausärzt:innen wurde dem Autor ein dynamisierter Typ solcher Krisen anvertraut, der im Folgenden Sozialer Infarkt (SI) genannt wird. Der Begriff »Prekariat« wird dabei gestreift. Er ist etwas unscharf. Der Autor folgt der Datenlage fachkundiger Institutionen (Creditreform, Boniversum &
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Microm 2020; Paritätischer …, 2016 & 2021). Die »Prekären« sind oft Selbstständige. Sie sind beruflich erfolgreich und dennoch nicht abgesichert, sie wechseln oft ihre Lebensumstände. Sie fühlen sich keiner benachteiligten Schicht zugehörig, prekäre Gründer:innen kämpfen nicht für Tarifverträge wie organisierte Arbeiter:innen. Viele weisen eine hohe Lebenszufriedenheit auf.1
Fallbeispiel einer Freelancerin Eine 38-jährige Patientin kommt in die Praxis. Sie führt eine Fernbeziehung, hat eine Dépendance in Asien. Sie beschreibt sich als wohlhabend und optimistisch. Sie habe im Business schon »zwei Talsohlen mithilfe der Bank durchschritten«. Eine prominente Geschäftspartnerin bleibt nun säumig wegen eines Rechtsstreits. Die Patientin muss selbst Anwältinnen bemühen. Sie bekommt von der Bank keinen Kredit zur Regulierung von Schulden, sondern nur für neue und ambitionierte Projekte. So hat sie die früheren Krisen gelöst. Eine günstigere Wohnung in Deutschland bekomme sie nun nicht, da sie »momentan« keinen tauglichen Einkommensnachweis hat. Sie wohne nun diskret in den eigenen Geschäftsräumen. Die Möbel und Weiteres seien »kurz« in der Mietbox. Da sie bei der privaten Krankenversicherung sparen wollte, hatte sie »gedowngraded« auf den Basistarif. Sie hat bisher keine Altersvorsorge betrieben, da Gewinne in neue Projekte investiert wurden. Durch Zerstreutheit habe sie dann »wahrscheinlich« wichtige Daten gelöscht und habe Passwörter verwechselt oder dreimal falsch eingegeben. Sie erfährt einen digitalen Infarkt, welcher zur Sperrung bei bestimmten Diensten führt, dadurch entstehen rasch Folgeprobleme. Ihre Notlage sei dann »durchgesickert«, nun zögen sich Geschäftspartner diskret zurück, ließen sich am Telefon als abwesend verleugnen u. Ä. Die Patientin habe versucht, »ihren ganzen Stress durch Rescue-Tropfen runterzukriegen«. Der Partner melde sich nicht. Sie sei dann beklaut worden, jedenfalls seien die Papiere weg. Sie hoffe noch, dass sie in der Mietbox etwas wiederfinde. Als sie von der Polizei befragt wurde, habe sie die Nerven verloren und gefragt, ob sie 1 Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2018 hat durch brauchbare Daten bestätigt, dass das Prekariat kein überzogener Begriff ist (Promberger, Jahn, Schels, Allmendinger & Stuth, 2018). Aus Städten wie München und Berlin lassen sich prekäre Lebenslagen anhand der Wohnungsfrage extrapolieren. Während sich die Zahl von Menschen ohne festen Wohnsitz seit 2015 etwa verdoppelt hat, stieg der Anteil von Menschen mit festem Einkommen innerhalb dieser Gruppe höher als der Gesamtwert. Weniger beliebt dürfte auch die Frage sein, ob ein Teil der Psychotherapeut:innen in Ausbildung (PiA, PiW) sozialökonomisch zum Prekariat zählen. Es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass Werkverträge und Einzelunternehmertum überhaupt das Modell der Zukunft sind und Unternehmen sich das Risiko der Festanstellung sparen werden. Diese Entwicklung der Arbeitswelt wird an den psychotherapeutischen Praxen nicht vorbeigehen.
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sich umbringen soll. Die Beamten hätten sie einem Arzt »vorgeführt«. Dieser habe sie ohne Auflagen entlassen, da sie dort schon ihre alte Fassung wiedergewonnen habe und souverän auftreten könne. Eine direkte Frage an die Therapeutin habe sie nicht, aber sie habe neuerdings manchmal Angst, zusammenzubrechen.
Die Globalisierung und ihr Einfluss auf die Dynamik unseres Alltags Der Zusammenhang von neuer Arbeitswelt, lösbaren Bindungen und Risikomanagement ist vom Autor a.a.O. beschrieben worden (2017). Dort finden sich Daten zitiert zum Risiko von Altersarmut, zu Zusammenhängen von Wirtschaftskrisen und Selbstmordraten sowie eine Darstellung gesundheitspolitischer Regulationsversuche. Drei Risikobündel gesunder Menschen für soziale Infarkte seien kurz gestreift. Zunächst haben kreative Menschen Veränderungsbereitschaft und ein hohes Lebenstempo, sie pflegen Verbindlichkeiten als souveräner Wirtschaftsakteur:innen. Es besteht eine erhöhte Risikobereitschaft durch Gewinnerwartung. Ein zweites Risikobündel ist die fehlende sozialökonomische Rückfallposition, ein drittes die Hyperkonnektivität, d. i. eine hohe Ereignis-Vulnerabilität durch die Interdependenz der Erfolgsbedingungen. Auf nervösen Märkten haben die Akteur:innen keine gute Kontrolle über das Geschäftsfeld und müssen Risiko streuen. Sie müssen eine gewisse Persönlichkeitsstärke mitbringen, um die permanente Unsicherheit psychisch zu binden. Wenn diese Menschen aus einer dynamischen Lebensorientierung in Krisen abgleiten, sind diese dynamisierter als bei Festangestellten. Wir Psychotherapeut:innen stehen schnell in der Versuchung, einen SI personal zu erklären. Unsere Stärke ist ja das einzelfallbezogene Verstehen einer Symptomatik auf Grundlage einer Entwicklungsstörung. Wir schnüren ohnehin therapeutische »Rettungspakete«, beispielsweise für Menschen mit Borderlinesymptomen, Paniken oder Menschen mit maligner Abhängigkeitsthematik. Den SI einer Person aus einer Neurose abzuleiten, wäre keine unlösbare Aufgabe. Ein Beispiel mag dies durch situationale Faktoren ergänzen. Digitale Repräsentationen der Persönlichkeit (wie Webseiten, Messenger, Profile, Konten, Blogs usw.) sind die Türen zu geschäftlichen und privaten Kontakten. Sie haben 24/7-Aufforderungscharakter. Sie verlangen engmaschiges Einloggen, Monitoring, Zuwendung, Aufräumen, Ranking-Überwachung und Schutz vor Diebstahl. Sie sind psychologisch »die Haustiere des modernen Menschen«. Ihr Portfolio veraltet schnell. Diese Arbeitsmedien tolerieren keinen Rückzug. Das Zeitfenster, in dem das digitale Ich an Wert verliert, schmilzt in gleichem Maß wie die Potenz dieser Technologien. Psychologisch bedeutet ein Web-Portfolio eine Repräsentation. Diese rutscht heute schneller unter eine
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Wahrnehmungsschwelle. Die Folge einer digitalen Abwesenheit sind nicht nur weniger Klicks, sondern auch weniger Deals. Die Systeme erfordern auch ohne gelungenes Geschäft »Traffic«, die Besitzer:innen sind diesen Kommunikationsmitteln gegenüber in eine Arbeitspflicht geraten. Freelancer:innen sind die deutliche Avantgarde dieses Wandels. Sie tun dies abends in ihrer »Freizeit«. Diese Dynamik der Mensch-Maschine-Kopplung und ihre Risiken unterscheidet den SI vom klassischen Burnout. Burnouts entwickeln sich nicht plötzlich. Die Spezifik eines SI sei kurz präzisiert. Zum Leben gehört gelegentlich Krankheit. Dann passieren Arbeitsrückstände. Meist bleibt der Leistungsverlust vorübergehend. Der Stress kann sich verstärken, wenn während der Krankheit Zwischenfälle wirtschaftlicher Art bewirken, dass dringende Verbindlichkeiten wegen Krankheit liegen bleiben, das Projekt oder die technischen Systeme aber »Care« verlangen. Freelancer:innen können das selten delegieren. In einer hohen Infektionsdynamik können in der modernen Arbeitswelt schon kurze Abwesenheiten in Funktionsausfälle oder Vertragsverletzungen münden. Diese interferieren leicht und verbinden Lebensbereiche, die beim klassischen Burnout noch getrennt stehend funktionieren. Es kommt dann zur Fusion von privaten, juristischen, psychischen, finanziellen und digitalen Krisen. In Wirtschaftstheorien wird diese Dynamik als »Hyperconnectivity« bezeichnet. Ausfälle erzeugen wechselseitig Wirkungen zwischen Person/Maschine oder Maschine/Maschine, ohne dass die Person grobe zusätzliche Fehler macht. Die Betroffenen konsultieren unter Zeitdruck Spezialist:innen (Schuldnerberater:innen, Anwält:innen, Banken usw.), so wie sie es bisher gemacht haben. Solche Einzelkonsultationen können die Eigendynamik kaum aufhalten. Die Betreffenden rutschen dann in die psychische Dekompensation (Burnout) inmitten eines sozialen Wirrwarrs. Aus der Erschöpfung passieren vielleicht weitere Schadensereignisse wie fatale Fehlentscheidungen, Unfälle, Stürze u. Ä. Die Grafik (siehe Abb. 1) zeigt die vier graduellen Unterschiede der Destabilisierung: Stress, Funktionsverluste, Eigendynamik/Eskalation und Kollaps. Der soziale Infarkt im Endstadium ist ein Pan-Infarkt und betrifft alle Lebensbereiche: Accounts, Zugang zu Bargeld, um zumindest Gebühren für nötige Dokumente zu begleichen, gesperrte Kreditkarten und auflaufende Mahnungen oder Klagen. Zudem erscheinen schnell selbst besorgte Geschäftspartner:innen, die sich massiv aufdrängen oder sich aus früherer Unterstützung zurückziehen. Die Risikogruppe der Freelancer:innen bietet kaum Ansatzpunkte für Prävention. Sie beansprucht im Vorfeld selten Psychotherapie und hilft sich unter Stress selbst. Sie nimmt durch eine hohe Autonomie auch den Infarkt oft noch ichfremd wahr. Ist der SI eingetreten, müssen diese Personen soziale Hilfe in Anspruch nehmen, viele haben das noch nie getan und erwähnen es stolz. Sie gehen deshalb
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Abb. 1: Graduelle Unterschiede der Destabilisierung. Quelle: eigene Darstellung
mit ihren Geldsorgen zur Bank statt zum Amt oder zur Behörde, an die sie sich eigentlich wenden müssten. Bereits im Suchen nach Psychotherapie kann ein gefährliches Agieren stecken. Sie erwägen evtl. eine Psychotherapie, anstatt ihren SI anzuerkennen. Eine steigende Zahl von Freelancer:innen betreibt »Geoarbitrage«. Sie leben in mehreren Ländern, wohnen häufig in einem Land, wo das Wetter schön ist und die Lebenshaltungskosten geringer sind. Sie erzielen weiter ihr Einkommen über Arbeit in der EU, wo Honorare höher sind und die Sozialleistungen günstig. Wenn die Patient:in im Ausland gelebt hat und durch ihren SI nach Deutschland zurückkehrt, um die hiesigen Hilfesysteme in Anspruch zu nehmen, kennt die Hausärzt:in ihre Katamnese nicht. Beide Seiten bräuchten Zeit zur Orientierung. Gleichzeitig benötigt die Patient:in nun schnell recht viel Unterstützung. Patient:in und Ärzt:in geraten in Übertragungs- und Widerstandsphänomene, die aus einer »Notidentifikation« (Bendias, 2017) stattfinden. Natürlich können reaktivierte intrapsychische Konflikte ein wesentlicher Auslöser für die Krise sein. Stoffliche oder Verhaltenssüchte sind zu erwägen. Menschen mit manisch-depressiver Abwehrstruktur können eine immense Zähigkeit in der Bewältigung zyklischer Krisen haben, sodass die Diagnose übersehen wird. ADHS spielt bei Sozialinfarkten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Nervosität im SI verdeckt dann komplett die ADHS-Symptomatik. Dritte belasten zuweilen just in der Not Patient:innen mit »alten Rechnungen«. Übersehen werden auch Fälle von »Romance Scamming« bei Menschen in finanziellem Wohlstand.2 Im Weiteren soll es aus methodischen Gründen wieder um den Sozialinfarkt im engeren Sinn gehen. 2 »Romance Scamming« ist eine Strategie vorgetäuschter Liebe. Zielgruppe sind finanziell Vermögende auf der Suche nach Partnerschaften. Die Scammer:innen agieren in bekannten
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Die subjektive Notlage der Therapeut:in Durch eine Strukturreform wurde 2017 auch die Psychotherapie-Richtlinie dynamisiert, mit der Einführung der Akutbehandlung als EBM-Ziffer. SI-Patient:innen wenden sich in der Hoffnung an Therapeut:innen, dass diese sie sofort und ohne Wartezeit annehmen. Auch die Ärzt:innen nehmen SI-Patient:innen als Notfälle wahr und vermuten, dass Psychotherapeut:innen Therapie anbieten und gleichzeitig das soziale Wirrwarr mit ordnen können. Eine Approbation in Psychotherapie bereitet nicht auf diese Situation vor. Den Patient:innen ist das alles nicht bekannt. Die psychotherapeutische Wissenschaft hält für Akutfälle zwar einiges bereit. Einige Arbeiten, wie bei Schmidbauer (2017), beschäftigen sich mit einer Modulation von Lebensstilen. Diese Überlegungen sind inmitten eines sozialen Infarkts jedoch kaum umzusetzen. Aus der Suizidprävention können Erfahrungen nahtlos angewendet werden (Dorrmann, 2016). Anregungen für Kriseninterventionen können auch aus psychiatrischen und traumatherapeutischen Erfahrungen gewonnen werden, etwa bei Abilgaard (2013), C. Kunz (2004), S. Kunz, Scheuermann et al. (2004) und Nikendei (2017). Notfallpsycholog:innen im wörtlichen Sinn helfen nach Typ-I-Traumata vor Ort und versorgen nicht die hier gemeinte Zielgruppe. Schwere Krisen werden oft stationär behandelt. Kliniken bieten eine regressive Arbeit in stressarmer Umgebung, dort arbeiten Sozialdienst und Psychotherapie parallel. Für SI-Patient:innen haben vollstationäre Einweisungen jedoch zu schweren juristischen Folgeproblemen geführt, wenn nicht alle Postadressen (Briefkästen) während des Klinikaufenthaltes engmaschig überwacht werden. Amtliche Bescheide können den Charakter eines »vollstreckbaren Titels« haben, beispielsweise bei Räumungsklagen. Sie wirken unerbittlich und werden u. U. wirksam, während die Patient:in noch in der Klinik ist. Für SI ist sowohl das ambulante wie auch das tagesstationäre Vorgehen prinzipiell möglich. Das psychodynamische Vorgehen bei Tress et al. (2003) legt darauf Wert, dass die Therapeut:in die Selbstachtung stärkt und die zentralen Objekte nicht zu früh infrage stellt. Auch das klient:innenzentrierte Vorgehen bei Hinkelmann & Hinkelmann (2017) kann hilfreich sein. Vom Autor (2017) gibt es Überlegungen zur Nutzung der offenliegenden neurotischen Struktur für eine spätere Psychotherapie nach der Krisenintervention. Kontaktbörsen unter falscher Identität. Sie erzählen viel »über sich«, eigene Schicksalsschläge, gehen durch geschickte Feinabstimmung auf die Zielperson ein und verführen sie zu einer romantischen Fernbeziehung. Letztlich inszenieren die Täter:innen eine plötzliche und fingierte Notlage, aus der die Zielperson ihr größere Geldsummen auf ausländische Konten »leiht«. Das Geld wird meist verloren. Aus Scham, in den persönlichsten Sehnsüchten durchschaut worden zu sein, erstatten viele Opfer nie Anzeige bei der Polizei.
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Wenn eine Patient:in ihre Psychotherapeut:in in eine Rolle verführt oder »nötigt«, ist die Therapeut:in überidentifiziert und es inszeniert sich ein neurotisches Thema. Dies wird oft mit dem Begriff der Projektiven Identifikation verständlich. Im sozialen Infarkt fehlen uns jedoch Zeit und das Moment der Wiederholung, um das herauszufinden. Ein Wiederholungszwang mit interpersonaler Abwehr müsste sich in einer entwickelten Übertragung abbilden; aber das hieße, die Übertragung sich entwickeln zu lassen und dabei zuzusehen, wie sich der SI entwickelt. Ein solches Verfahren ist ethisch nicht hinnehmbar. Deshalb scheint es nützlich, sich hier abzugrenzen und von einer Notidentifikation zu sprechen, die sofort und ohne Umschweife eintritt. Recht schnell fällt jede Therapeut:in die Entscheidung, ob sie die Patient:in ohne Alternative abweist, weiterschickt (oft mit Verlegenheits-Überweisungen) oder ob sie sich zur Verfügung stellt. Falls die Therapeut:in sich für eine Begleitung entscheidet, vor welcher Situation steht sie dann? Fragen nach der aktuellen Lebensbewältigung bringen so viele Defizite zutage, dass es gar nicht zu einer standardisierten Anamnese kommt. Eine Indikation nach PT-Richtlinie ist nicht lupenrein und selbst eine gelungene Psychotherapie wird nicht ausreichen zur Lösung der Krise. Sie selbst hat keine Ausbildung in Sozialarbeit. Gutachter:innen könnten bei einer Prüfung kritisieren, ob sie rein richtliniengemäß behandelt. Es gäbe mehr als ein Motiv, die Patient:in nicht zu nehmen. Eine Indikation zur Psychotherapie ist schon deshalb gegeben, weil die Therapeut:in oft am ehesten unter den Helfenden in der Lage ist, eine maligne Regression abzufangen. Sie kann aufgrund ihres Fachwissens die etablierten Ichfunktionen und Sozialkompetenzen der Patient:in herausfiltern, fördern und nutzbar machen. Sie kann reaktualisierte oder reinszenierte innere Konflikte in Form einer Hypothese ordnen. Sie wird darum aufgebrochene Grundkonflikte wahrnehmen, in Beziehung zu den Risikofaktoren setzen und die Patient:in restabilisieren. Sie hilft durch ihre Fachkunde anders als Freund:innen oder die Patient:in im Modus der Selbsthilfe, in dem sich evtl. ungünstige Strategien wiederholen.
Soziale Beratungslandschaften und »gefährliches Halbwissen« bei uns Eine Patient:in im SI braucht mehr als Psychotherapie. Staatliche und private Förderungen zielen prinzipiell auf die Pole der Hochleistung und der chronischen Problemlagen. Es schadet nicht, dies nüchtern zu wissen. So kann es passieren, dass die Therapeut:in überidentifiziert ist mit der Angst der Patient:in vor Wohnungsverlust. Sie sucht im Browser eine Allgemeine Sozialberatung
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heraus (was die Patient:in prinzipiell selbst tun könnte) und gibt ihr diesen »Tipp«. Die Patient:in geht zu dieser Beratung, wo ihr gesagt wird, sie könne wiederkommen, nachdem sie die Wohnung verloren hat, vorher könne man nichts tun. Mit dieser Nachricht konfrontiert sie in der Folgewoche die Therapeut:in. Leistungen der Krankenkassen wie Soziotherapie, Betreuungsstrukturverträge und DMP richten sich an chronisch Kranke, ebenso psychosoziale Prozessbegleitung, Hilfen des Sozialpsychiatrischen Dienstes, die Wohnungshilfe oder die Ambulante Psychiatrische Fachpflege nach SGB V. Viele greifen derzeit wegen einer Diagnosebegrenzung nur, wenn eine Chronifizierung bereits eingetreten ist, damit sie überhaupt finanziert werden. Sie sind damit für SI nutzlos. Sozialstaatliche Institutionen wie Öffentlicher Gesundheitsdienst, Meldeamt, Amtsgericht oder Grundsicherungsamt stehen den Bürger:innen offen. Sie bedeuten quasi immer eine regionale und behördliche Konkurrenz. Es wirken Datenschutzhürden, selbst innerhalb derselben Behörde. Die Hilfe einer Behörde kann an knappe Fristen gebunden sein, die andere Behörde kann durch Überlastung diese Frist evtl. nicht halten. Das führt zu Schuldumkehr und juristischen Eskalationen. So kann eine Patient:in der Therapeut:in mitteilen, dass sie in eine billigere Wohnung umziehen wolle, um die Verschuldung abzubremsen. Die Psychotherapeut:in ermutigt die Patient:in vielleicht dazu, weil sie es einfach menschlich sinnvoll findet. Bei einem Umzug im SI »ohne das Amt« entstehen fast immer Konflikte zwischen Zustell-Adressen, regionaler Zuständigkeit von Ämtern, Zeitverlust und evtl. rechtliche Schritte gegen die Bürger:in. Das weiß die SI-Patient:in nicht, sie nimmt die Ermutigung der Psychotherapeut:in, umzuziehen, als fachkundig wahr. Die Therapeut:in sollte deshalb mit sozialrechtlichen Tipps sehr zurückhaltend sein. Ambulante Psychotherapeut:innen sind wenig damit vertraut, dass die diffus verstreuten thematischen Beratungsstellen ebenfalls dynamisiert wurden. Es bestehen meist Zeitverträge und projektbezogene Förderung (in Berlin auf zwölf Monate begrenzt). Das hat dazu geführt, dass Beratungsstellen häufig umziehen, fusionieren oder angefangen haben, Angebote kostenpflichtig zu machen. Die Therapeut:in überweist die Patient:in evtl. dorthin, weiß aber nicht, dass mit einem Trägerwechsel das Angebot nicht mehr unentgeltlich ist. Die Patient:in berichtet in der Folgestunde vielleicht, eine Beratungsstelle stehe zwar im Internet, aber vor Ort sei alles leer gewesen. Die Beispiele zeigen deutlich auf: Therapie und Beratung haben verschiedene Paradigmen. Sie unterscheiden sich in ihren Denkweisen und Rollen. Von daher ist besonders zu erwägen, inwieweit es von Patient:innen sowohl einen Beratungs- als auch einen Therapieauftrag zur Lösung des SI-Problems gibt. Damit würde die Therapeut:in auf zwei verschiedenen Ebenen handeln. Diese Abgrenzung muss die Therapeut:in für sich finden und sollte es auch mit der
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Patientin klar aushandeln. Sonst sendet sie verwirrende Botschaften. Die Therapeut:in kann zu Beginn der Stunde beratend handeln und mittendrin zu einer therapeutisch-reflektiven Begegnung umschalten, für die Patient:in verschwindet sie aber als unterstützendes Gegenüber mit allen unbewussten Fantasien, etwa: »Jetzt gibt sie mir keinen Halt mehr. Vorhin hat sie noch ganz klar gesagt, was ich zu tun habe, und jetzt tut sie so, als ob sie dazu keine Meinung hat.« Die deutlichsten Formen des Widerstandes der Behandler:in vor dieser Herausforderung bestünden darin, dass sie die Übernahme der Patient:in gar nicht in Erwägung zieht, oder in einer subjektiven und fachlichen Überforderung sich als seelische Begleiter:in anbietet, ohne die Regression und Desorientierung der Patient:in behandeln und abfangen zu können.
Crash-Kurs Sozialinfarkt für Psychotherapeut:innen Es wäre für uns Psychotherapeut:innen kaum möglich, uns ein ausreichendes Grundwissen in Sozialarbeit anzueignen. Was können wir tun? Zwei strategische Knotenpunkte sollen herausgegriffen werden: die sozialrechtliche Grundorientierung für die Therapeut:in und das Überstehen und Begleiten einer Offenbarungssituation. Meist bleiben einige Wochen Zeit, um zu handeln. Doch selbst, wenn die Freelancerin ihren SI realisiert und akzeptiert, wohin soll die ambulante Psychotherapeut:in sie schicken? Dazu müsste sie das Feld kennen. Es ist im Grunde keine Schande, es nicht zu kennen, daran sind schon andere gescheitert. Ein wenig Grundwissen: Die Patient:in kann sich arbeitsunfähig schreiben lassen, wenn ein:e Ärzt:in zu dieser Einschätzung kommt. SI-Patient:innen vergessen dies manchmal. Ihre letzte Krankschreibung ist vielleicht zwanzig Jahre her. Der nächste Weg einer finanziellen Regulierung der Krise wäre der Rückgriff auf eine private Absicherung, wie eine Risiko- oder Berufsunfähigkeitsversicherung. Für den hier beschriebenen Auslöser des einbrechenden Geschäfts ohne Krankheitsgrund gibt es nicht einmal Versicherungsprodukte. Also wird sich die Freelancerin an die öffentliche Hand wenden müssen. Das Grundsicherungsamt ist zuständig für Menschen, die in nahezu keinem Beruf mehr arbeiten können, also erwerbsunfähig sind. Falls es zutrifft, kann sich die Selbstständige aus unserem Fallbeispiel nicht selbst diesen Status erteilen, sondern wird einer gutachterlichen Bewertung unterstellt. Sie muss kooperieren und ist nicht mehr subjektiv so frei wie bisher. Im Regelfall ist das Jobcenter die beratende Stelle und ALG 2 die mögliche Leistung, auf die ein Anspruch bestünde. Die Freelancerin sucht ein Einkommen und ist noch erwerbsfähig, sie kann lediglich von ihrem Business momentan nicht leben. Das Jobcenter wird
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den bisherigen Lebenswandel völliger Freiheit in der Tätigkeit eingrenzen und für die eigene Leistung »finanzielle Grundversorgung« eine Gegenleistung verlangen. Die Kundin muss eine Bereitschaft haben, für den Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Sie muss zu Fragen Stellung nehmen, die Vermögenslage offenlegen, bereit sein, evtl. neigungsferne Tätigkeiten auszuführen oder einer Arbeitsmediziner:in Auskunft zu geben. Sie muss zu Terminen erscheinen. Geoarbitrage ist erschwert. Hier kommt es erheblichen Konfliktinszenierungen. Diese können aus einer narzisstischen Erwartung herrühren oder aus der Unkenntnis, man sei als Bürger:in vom Staat disziplinarisch gezwungen, sich beim Jobcenter zu melden. Die freiberufliche Grafiker:in kann es als Zumutung erleben, an Bewerbungstrainings teilzunehmen, sie kann die Meinung vertreten, der Vertrag mit dem Jobcenter sei gebrochen, wenn die Angebote nicht zu ihr passen. Die Sachbearbeiter:in im Amt vertritt ein Interesse des Staates nach Verringerung der Hilfeleistungen. Im Fall der Verstrickung erlebt jede Seite die andere als Zumutung. Die sachliche Aufklärung ist Aufgabe der Mitarbeiter:in der Agentur. Die Psychotherapeut:in sollte lediglich den Charakter dieses Jobcenter-Vertrages kennen und verstehen. Sie kann damit schweres Agieren verhindern. Es gibt keinen Anspruch einer Bürger:in gegenüber dem Staat auf volles Einkommen in Verbindung mit einem neigungsorientierten Berufsleben unabhängig von ihrem Betriebsergebnis. Der SI ist somit oft mit schweren narzisstischen Kränkungen verbunden, die über den Infarkt hinausgehen. Werden diese Kränkungen agiert, passieren Folgen wie diese: Die Klient:in muss dem Jobcenter gegenüber angeben, für wie viele Stunden sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünde. Aus einer affektiven Reaktanz gibt sie statt 40 nur 20 h/Woche an. Sie phantasiert, die Hälfte der Woche »für sich gerettet« zu haben. Sie bekommt die halbe Versorgungsleistung und wird sich dessen erst später bewusst. Kommt Überschuldung dazu, kann die Patient:in aus der finanziellen Unterstützung des Jobcenters auch ihre auflaufenden Schulden nicht decken. Sie muss dann eine Insolvenz erklären. Vorschalten sollte sie eine kostenlose und anonyme Schuldner:innenberatung. Die Insolvenz kann eine Privatinsolvenz sein oder eine geschäftliche. Bei Einzelunternehmer:innen wird meist eine Privatinsolvenz eröffnet. Nach neuem Insolvenzrecht heißt Überschuldung nicht automatisch das Ende der Berufsausübung, was oft noch kolportiert wird. Anlaufstellen sind kommerzielle, besser aber öffentliche Schuldnerberatungen (wobei entsprechende Suchanfragen kommerzielle Schuldnerberatungen priorisieren). Psycholog:innen sollten in diesem Punkt jedoch nicht inhaltlich beraten. In Kriseninterventionen verfolgen Psycholog:innen oft ein direktiveres Vorgehen. Vier Faktoren sollten aktiv erfragt werden: Risikoverhalten, Drogen und
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Selbstmedikation, Suizidgefahr und Gewalt. Das Thema Gewalt ist vielleicht nicht so naheliegend, wenn die Patient:in schwach erscheint. Sackgassen-Perspektive, Schwächung des psychischen Systems und regressive Affekte können die Gewaltbereitschaft auch bei Personen wecken, die sonst nicht dazu greifen würden. Eine Patient:in kann sich an die radikale Hoffnung binden, den SI durch das Eintreiben woanders ausstehender Gelder doch zu verhindern. Kriminelle Bedroher:innen sind aus dem Business evtl. schon bekannt. Im Falle des Deals schuldet sie diesen Partner:innen jedoch wieder Geld oder »einen Gefallen«. Die Therapeut:in kann nach der Opfer- und nach der Täter:innenrolle fragen. Die Patient:in kann auf die Frage mit Ja/Nein antworten und muss niemanden benennen oder indirekt in Bedrängnis bringen. Die Antwort »Ja« bezüglich Gewalt zu umgehen, verbietet sich. Für die Handlungskontrolle bei Gewalt, die sich nicht gegen die Therapeut:in richtet, finden sich Hinweise bei Everstine & Everstine (1988). Ein SI tangiert die verschiedensten Institutionen und Behörden. Einige Beispiele seien genannt: Versicherung, Bank, Anwält:innen, Vermieter:innen, Stromversorger:innen, MPU, Schuldner:innenberatung usw. Für Psychotherapeut:innen verbessert ein Überblick über das Netz der beteiligten Akteur:innen schnell die Orientierung. Eine solche Arbeitshilfe kann kostenfrei gedownloaded werden (Bendias, 2021). Wichtig ist die soziale Macht der Körperschaft. Die Institutionen fungieren als Hilfs-, Kontroll- oder Strafinstitution. Hier drei eindeutige Beispiele: Hilfefunktion
Kontrollfunktion
Sanktionsfunktion
Schuldnerberatung
Schufa
Gericht
Abb. 2: Körperschaften und ihre Funktionen. Quelle: eigene Darstellung
Nicht alle Institutionen sind eindeutig festzulegen. Manche können Mischfunktionen haben. Das führt häufig zu Irritationen und Reaktanz. Ein typisch ambivalenter Akteur ist z. B. das Jugendamt. Die Patient:in kann Dinge verschweigen, wenn sie befürchtet, die Therapeut:in meldet dem Jugendamt, was sie in der Therapie sagt, und man würde ihr das Kind wegnehmen. Ebenso können kriminelle Strukturen alle drei o. g. Funktionen abdecken; sie können Geld verleihen, sich dafür kontrollierend in das Geschäft einweben und später bestrafen, was in Aussicht auf das schnell fließende Geld übersehen wird. Die Hilfeinstanz »Familie« ebenso; manchmal spaltet sie sich wegen der Notlage. Die Geschwister unterstützen, während die Eltern eine Hilfe befürworten, aber an Bedingungen knüpfen, welche alte Konflikte neu aufwühlen u. Ä. Die ambulante Richtlinien-Therapie befindet sich in dieser Matrix meist »rein« auf dem Hilfe-Pol, im Unterschied zu vielen Berufskolleg:innen. Everstine & Everstine pointierten die Rolle der ambulanten Psychotherapeut:innen in der
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Beschreibung, jene würden inmitten dieser Pankrisen einen »Horchposten« einnehmen und sonst wenig Hilfreiches beitragen (1988, S. 13). Ein solcher »Horchposten« ist in der Tat naheliegend, etwa das Entlastungsreden mancher Patient:innen, sie hätten sich in einer Behörde als Bittsteller:innen gefühlt, seien von der Bearbeiter:in in ein Machtverhältnis gepresst worden. Das kann eine Projektion von Selbstherabsetzung sein. Der SI gibt erheblichen Raum für Verstrickungen psychodynamischer Natur. Es passieren aber auch real autoritäre Reaktionen von Behörden. Die Therapeut:in muss solche Berichte weder als übertrieben abwerten noch sich als Richter:in anbieten. Der SI kann schnell zehn bis zwölf Parteien auf den Plan rufen. Je höher diese Zahl, desto höher die Gefahr, dass sich ein Berg an Papier aufhäuft und das Problem »hyperconnectet«. Es wird immer schwerer, die Bescheide zu verstehen. Es ist wichtig, dass die Patient:in ihre Schriftstücke selbst ordnet. Die Therapeut:in kann zwar Hinweise geben, diese sollten aber eher die Form als den Inhalt betreffen, z. B. ein SI-Logbuch zu führen, keine Originale an Behörden zu schicken oder eine alternative Erreichbarkeit abzusprechen für den Fall, dass der SI auf die Wohnung oder den Telefonvertrag übergreift.
Die Hilfestellung der Therapeut:in bei Offenbarung und Scham Scham ist einer der wichtigsten Prädiktoren für innere Konflikte. Sie zeigt sich in Psychotherapien häufig erst im Verlauf. Im Fall eines SI ist die Scham sofort wirksam vom Moment des ersten Augenkontakts an, egal, ob beide Seiten das erspüren oder nutzen. Direkt nach der ersten Exploration sollte die Therapeut:in ihre Patient:in mit der Frage konfrontieren, wie geheim der soziale Infarkt bleiben soll, sonst kommen beide Seiten evtl. in schweres Agieren. Oft ist die Frage nicht geklärt. Patient:innen machen dann vage Andeutungen, wie sie die Sache robust lösen wollen, und die Therapeut:in wird in konkordanter Gegenübertragung Angstsignale spüren und die Andeutungen nicht überzeugend finden. Sie müsste einen ihr unbekannten Menschen respektvoll damit konfrontieren, dass autarke Problemlösungen wie Geheimhalten oder riskante Umgehungsgeschäfte die Probleme schüren. Sie kann anbieten, dass eine Entscheidung »Offenbarung – Ja oder Nein?« hier mit ihr passieren kann. Ein schonender Umgang könnte sein, ihr die Sicht anzubieten, dass die autarken Lösungsversuche alte Kompetenzen abbilden, dass jetzt aber eine neue Situation entstanden ist, wo sie den SI verschlimmern würden. Die Therapeut:in kommt damit nicht umhin, einem fast unbekannten Menschen die Offenbarung der Gesamtsituation nahezulegen. Da die Suizidgefahr hoch sein kann, sollte sie für kurz nach dem evtl. Termin bei der Insolvenzberatung einen neuen Kontakt in der Praxis anbieten.
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Die Therapeut:in hätte damit die Offenbarung evoziert und reaktiviert psychodynamische Prozesse, die sie nicht kennen kann. Sie wird Scham, Mitleid und Hemmungen in sich bemerken, ohne zu wissen, in welche Übertragung oder Projektion sie kommt. Nicht selten wird sie die Ohnmacht der Klient:in – als vegetative Identifikation – am eigenen Leibe spüren oder sogar deutlicher als die Patient:in selbst. Klient:innen, welche den SI geheim halten, »wollen« dies ja nicht voll bewusst, sondern erleben sich ohnmächtig zwischen überfordernden Emotionen; zentral sind die drei defensiven Gefühle Angst, Scham und Schuld. Daraus ergeben sich widersprüchlich erscheinende Botschaften, wie »Bitte helfen Sie mir (Angst), aber ich möchte nicht zu viel über mich erzählen (Scham)«. Das überforderte Ich der Patient:in evoziert evtl. Mischaffekte als Kontaktangebot, Deckaffekte wie Ärger oder springt emotional. Der unbewusste Versuch, allen überfordernden Regungen zu entkommen, wird für die Therapeut:in zur Chance. Sie kann jedes der drei Spannungsfelder zwischen Angst, Scham und Schuld spiegeln und thematisieren. Sie arbeitet in dem Sinne regressiv, da die Klient:in emotional abgeholt wird und ihr ein Verständnisrahmen angeboten wird, der die Selbstkohärenz stärkt. Am häufigsten wird die Therapeut:in Schamgefühle wahrnehmen. Der Wunsch nach Schuldvermeidung durch Selbstoffenbaren kann durch Scham gehemmt sein, die ein Kaschieren verlangt. Beide Motive sind sehr stark und zugleich unvereinbar. Solange die Patient:in die Emotionen als übermächtig erlebt, bleibt sie auch gedanklich arretiert. Aus der Fixierung reinszeniert sie Folgeprobleme, etwa in Ämtern, und verstrickt sich dann in diese. Das Entlasten der Abwehr in der Begegnung mit der Therapeut:in kann die Problemtrance auflösen und den Weg frei machen für eine Empathie mit sich und für eigene Lösungsschritte. Ist der Widerstand trotz guter Integration von Scham hartnäckig, kann ein Schuld-Schuld-Dilemma vorliegen. Unter dem SI kann ein weiteres Geheimnis liegen, das die Therapeut:in noch nicht kennt. Ein früherer Betrug kann durch Vermögensklärung nachträglich aufgedeckt werden, versteckter Besitz vor dem: der Ehepartner:in und anderes. Die juristische Offenbarung setzt die emotionale Offenbarung voraus, und der geeignete Raum ist die psychotherapeutische Praxis und nicht die Behörde. Aber was ist eine Offenbarung? Das Konstrukt Offenbarung spielt zwar in der Allgemeinen Psychologie keine zentrale Rolle. Untersucht man jedoch das semantische Feld, stößt man auf mehrere Aspekte, die direkt unsere Arbeit betreffen. Die Offenbarung trägt häufig die Bedeutung des Entblößt-Werdens von außen, unbewusst ist sie unfreiwillige Nacktheit. Selbst wenn sie als Selbstoffenbarung beginnt – ab einem bestimmten Punkt ist dieser Prozess nicht mehr voll
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zu kontrollieren. Die Offenbarung wiederholt damit ebenjene Dynamik des Kontrollverlustes, die die Patient:in eigentlich hinter sich lassen will. Prozeduren greifen auf die Betreffenden über. Es existiert zudem in der Breite ein sozialer Voyeurismus für Misserfolge, vor allem wenn sie Prominenten passieren. Enthüllte Intimitäten haben einen Tauschwert für Medien. Die Schwäche einer prominenten SI-Patient:in kann für politische Gegner:innen einen dingfesten Vorteil haben; sie wird evtl. von Journalist:innen gestalkt werden. Offenbarung bedeutet daneben eine Umkehr der Wahrheit. Eine »Ent-Hüllung« trennt die Decke von dem, was unter der Decke liegt, macht beides getrennt sichtbar und reinterpretiert auch beides. Die Enthüllung bringt eine neue Sicht hervor, und die Wahrheit wechselt meist die Seite. Diese Symbolik hat Parallelen zum theologischen Begriff der Offenbarung. Der Kern der Sache erscheint, und die bisherige Sicht wird falsch. SI-Patient:innen äußern Ängste, ihre Umwelt könnte ihr früheres Leben als eine absichtliche Täuschung wahrnehmen. Alles, was vorher liebenswert an ihnen war, würde nun der falschen »Hülle« zugerechnet, und alles Gute entwertet. Das Bild der Ent-Deckung geht über Scham noch hinaus und aktiviert den malignen Affekt der Schmach. Durch Offenbarung bricht auch das digitale Impressionsmanagement zusammen. Die Betreffende hat bis heute in digitalen Repräsentationen eine positive Selbstoffenbarung betrieben, die nun nicht mehr stimmt, aber noch öffentlich im Netz steht. Die Offenbarung ist zudem das Ende einer Lebensperspektive. Sie ist manchmal eine existenzielle Niederlage. Für die Meisterung schwerer Situationen sind bereits Erfahrungen da, aber keine Ressourcen. Offenbarung macht die Daten »gläsern«. Wenn eine Bürger:in mit SI Unterstützung beantragt, wird von vielen Stellen eine pauschale Schweigepflichtentbindung verlangt, für alle Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen. Solche bürokratischen Offenbarungen bedeuten in der Konsequenz den Verlust des Selbstbestimmungsrechtes über bestimmte Daten. Die Patient:innen ringen intuitiv dagegen. Im Grunde sind sie als Freelancer:innen ohnehin schon oft »gläsern« gewesen, das Prinzip Offenheit entzieht sich nun aber ihrer Steuerung. Die eigene Offenbarung kann außerdem nolens volens eine Offenbarung Anderer nach sich ziehen. Loyalitätskonflikte brechen auf, die neue Schuld bedeuten können. So könnte die Offenbarung Hilfe Dritter auslösen, verbunden mit der Forderung, Anzeigen gegen jene vor Gericht zurückzuziehen, auf bisherige Gewohnheitsrechte zu verzichten u. Ä. Behörden, Gerichte und Hilfestellen sind Symbole der Offenbarung. Zugleich sind sie mit diesen o. g. Bedrohungsprojektionen aufgeladen. Das ist nicht unbegründet. Eine Kandidatur zur Wahl, ein Wunschberuf oder andere Lebenspläne können vereitelt werden. Die Therapeut:in kann nicht nach Manual eine
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Offenbarung »durchziehen« oder sie formal verlangen. Die Entscheidung fällt die Patient:in, denn sie muss mit den Konsequenzen leben. Lohmer & Wernz (2015) haben sich in einem interessanten Aufsatz mit der Frage beschäftigt, wie beherzt Therapeut:innen an solche Konstellationen herangehen. Sie beobachteten unter psychodynamisch arbeitenden Therapeut:innen einen »Besetzungsmangel« zu Patient:innen, sowohl libidinös als auch aggressiv. Für die Autor:innen gehört beides zusammen. Hintergrund sei der persönliche Lebenslauf vieler Therapeut:innen. Offene Auseinandersetzungen würden häufig vermieden. Infolgedessen komme es zu einer »eher rezeptiven« Ausrichtung der Therapie, damit die Therapeut:in in ihrer Kernkompetenz nicht bedroht werde. Wenn diese Beobachtungen weniger von der Wahrheit entfernt sind, als wir es gern hätten, begegneten sich im Auge des Sturms eine Therapeut:in mit einem »Besetzungsmangel« auf der einen und eine (häufig überkompensierte) Patient:in ohne flexible Einsicht in ihren SI auf der anderen Seite. Wenn die Therapeut:in hier resigniert und die Patient:in weiterschickt, gewinnt sie mehrfach. Sie löst sich aus der Notidentifikation, evtl. aus der Erinnerung an eigene Not, gewinnt die alte Sicherheit der freien Reflexion zurück, bekommt Abstand zu einem realen Notfall und zur Frage der eigenen Besetzungsschwäche. Resigniert sie nicht, wird sie wahrscheinlich die Notidentifikation nutzen und die Patient:in aggressiv oder libidinös besetzen, damit die beiderseitige Angst durchbrochen und eine Begegnung möglich wird. Diese Besetzung wirkt als Angst bindende und Ich synthetisierende Kraft. Da sie die Patient:in nicht erschöpfend kennt, kann sie Irrtümer dabei nicht ausschließen. Sobald das Berufsfeld aber ermutigend ist, die Kolleg:innen in Supervision und Evaluation frei und redlich mit Fehlern und Unsicherheit umgehen und die Unterstützung ebenso beherzt ist wie der Einsatz der Kolleg:in, wird die Akutbehandlung zu einer echten Chance in der ambulanten Versorgungslandschaft.
Literatur Abilgaard, P. (2013). Stabilisierende Psychotherapie in akuten Krisen. Stuttgart: KlettCotta. Bendias, T. (2017). Soziale Infarkte in der Richtlinien-Psychotherapie. Online: Grin. Bendias, T. (2021). Instanzen in sozialen Krisen. Verfügbar unter: http://www.psychologie -bendias.de/Sachthemen/. Creditreform, Boniversum & Microm (2020). SchuldnerAtlas Deutschland. Verfügbar unter: https://www.boniversum.de/aktuelles-studien/schuldner-atlas/schuldneratlas-do wnloads.
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Förderung körperlicher Aktivität in der Psychotherapie
Einführung: Warum sollte körperliche Aktivität in der Psychotherapie eine Rolle spielen? Dass zwischen regelmäßiger körperlicher Aktivität und der Gesundheit enge Zusammenhänge bestehen, ist schon seit vielen Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden bekannt. Dabei konzentrierte sich die wissenschaftliche Forschung lange Zeit insbesondere auf Zusammenhänge zwischen körperlicher Aktivität und körperlicher Gesundheit (Warburton et al., 2006). So existiert inzwischen eine beeindruckende Datenlage, die zweifelsfrei belegt, dass regelmäßige körperliche Aktivität eine der wichtigsten Determinanten körperlicher Gesundheit ist, präventiv gegenüber der Entstehung von dutzenden chronischen Erkrankungen wie beispielsweise kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes oder Krebs wirkt (Peters et al., 2019) und auch bei bestehenden körperlichen Erkrankungen als effektives Therapieverfahren eingesetzt werden kann (Warburton et al., 2006). Auch bei Fokussierung lediglich der Wirkung körperlicher Aktivität auf die körperliche Gesundheit ergibt sich daraus eine Relevanz für eine Förderung körperlicher Aktivität in der Psychotherapie. So gehen akute und chronische körperliche Erkrankungen mit einer erhöhten psychischen Belastung und einer höheren Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer psychischen Erkrankung einher (z. B. Hüfner et al., 2019). Daher kann die Förderung der körperlichen Gesundheit eine wichtige Rolle bei der Prävention psychischer Erkrankungen und dem Erhalt der psychischen Gesundheit spielen. Während die körperlichen Auswirkungen regelmäßiger körperlicher Aktivität seit Langem beforscht wurden, gerieten die psychischen Auswirkungen körperlicher Aktivität erst in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Forschung. Dabei lässt sich in den letzten zwanzig Jahren ein fast exponenzieller Anstieg von Publikationen zu diesem Thema feststellen (siehe Abbildung 1). In diesen zeigt sich, dass körperliche Aktivität nicht nur vielfältige positive Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit, sondern ebenso vielfäl-
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tige positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat (Ströhle, 2019). Da zudem ein großer Teil der Menschen mit psychischen Erkrankungen ein zu geringes Ausmaß körperlicher Aktivität betreibt (Barker et al., 2019; Petzold et al., 2017; Suetani et al., 2019), ergibt sich durch eine Steigerung ihres Aktivitätsniveaus für viele Menschen mit psychischen Erkrankungen ein großes Potenzial hinsichtlich der Verbesserung ihrer psychischen Gesundheit. In diesem Kontext können Psychotherapeut:innen eine wichtige Rolle dabei spielen, ihre Patient:innen zu unterstützen, ihr Aktivitätsniveau zu steigern (Bendau et al., 2021; Petzold et al., 2021; Petzold, Bendau et al., 2020). In den folgenden Kapiteln werden aktuelle Befunde zur Rolle körperlicher Aktivität in der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen zusammengefasst und Empfehlungen hinsichtlich Art und Intensität körperlicher Aktivität zur Förderung der psychischen Gesundheit gegeben. Zudem werden Ansatzpunkte, wie körperliche Aktivität im Rahmen von psychotherapeutischen Behandlungen gefördert werden kann, dargestellt.
Abb. 1: Anzahl jährlicher wissenschaftliche Publikationen zum Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und psychischer Gesundheit in den letzten fünfzig Jahren. Daten basierend auf der Pubmed-Suche mit folgendem Suchbegriff: »(»physical activity«OR »exercise«OR»sports«)AND(»mental health«OR»mental disorder«OR»mental illness«OR»substance abuse disorder«OR»depression«OR»bipolar disorder«OR»Schizophrenia«OR»OCD«OR »anxiety disorder«OR»personality disorder«OR»PTBS«)«
Welche Rolle kann körperliche Aktivität in der Prävention psychischer Erkrankungen spielen? Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, dass Menschen, die regelmäßig körperlich aktiv sind, eine bessere psychische Gesundheit aufweisen. So existieren inzwischen große, bevölkerungsrepräsentative Untersuchungen, die zei-
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gen, dass regelmäßig körperlich aktive Menschen geringere Ausprägungen beispielsweise von depressiven Symptomen oder Ängsten aufweisen (Bennie et al., 2020; Hassmén et al., 2000; Kim et al., 2012; Kim et al., 2019). Solche Studien, die korrelative Verbindungen berichten, stellen zwar eindrucksvolle Beweise für einen starken Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und psychischer Gesundheit dar, lassen jedoch zunächst keine Schlüsse über die Richtung des Zusammenhangs zu. So scheint neben einem positiven Einfluss körperlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit auch denkbar, dass Menschen, die psychisch gesünder sind, sich beispielsweise aufgrund eines ausgeprägteren Antriebs und besserer Vitalgefühle häufiger körperlich aktiv zeigen. Um die Natur des Zusammenhangs zwischen Bewegung und psychischer Gesundheit weiter zu beleuchten, wurden daher in den letzten zehn Jahren zahlreiche Längsschnittstudien durchgeführt. Durch die Analysen der Zusammenhänge über einen längeren Zeitraum und die Kontrolle zahlreicher konfundierender Variablen sollen dabei bessere Aussagen über die kausale Rolle körperlicher Aktivität möglich werden. Dabei zeigte sich, dass das Ausmaß körperlicher Aktivität auch bei Kontrolle zahlreicher potenziell konfundierender Variablen auch über einen längeren Zeitraum von teils mehreren Jahren in signifikantem Zusammenhang mit der allgemeinen psychischen Gesundheit steht (Bélair et al., 2018; DeMello et al., 2018; Doré et al., 2020). Bezüglich des Neuauftretens psychischer Erkrankungen zeigt sich in zahlreichen Studien ein protektiver Effekt regelmäßiger körperlicher Aktivität. Dass regelmäßige körperlicher Aktivität Menschen vor dem Neuauftreten einer psychischen Erkrankung schützen kann, zeigt sich dabei über eine breite Zahl unterschiedlicher psychischer Erkrankungen wie beispielsweise Demenz (Wu et al., 2019), Bipolare Störung (Sun et al., 2019), Depression (Hallgren et al., 2019; Hamer et al., 2020; Schuch et al., 2018) und Angststörungen (McDowell et al., 2018; Petzold, Bendau et al., 2020; Schuch et al., 2019). Hinsichtlich der Frage, ob bei der Entwicklung von Psychosen ein protektiver Effekt körperlicher Aktivität existiert, ist die Befundlage dagegen uneinheitlich (Brokmeier et al., 2019; Sun et al., 2019). Wie groß ist nun der schützende Effekt körperlicher Aktivität? In den meisten Studien zeigen sich deutliche Effekte; so reduziert regelmäßige körperliche Aktivität die Chance der Entwicklung unterschiedlicher psychischer Erkrankungen um etwa 20–50 Prozent (Odds Ratio = OR = .5–.8). Abbildung 2 zeigt die Reduktion der Chance der Entwicklung unterschiedlicher psychischer Erkrankungen für körperlich aktive im Vergleich zu inaktiven Menschen. So konnte in einer großen Meta-Analyse über 49 prospektive Kohortenstudien mit über 260.000 Teilnehmer:innen und einem durchschnittlichen Beobachtungszeitraum von 7.4 Jahren festgestellt werden, dass regelmäßige körperliche Aktivität die Chance, eine Depression zu entwickeln, um 22 Prozent reduzierte (OR = .78). Bezüglich der Entwicklung von Angsterkrankungen zeigte sich in unterschiedlichen Studien teils sogar eine über
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fünfzigprozentige Reduktion der Chance, eine solche zu entwickeln (Have et al., 2011; Petzold, Bendau et al., 2020; Ströhle et al., 2007). Reduk!on der Chance der Entwicklung einer psychischen 0.83 Erkrankung: 0.49
Regelmäßige körperliche Ak!vität
0.52 0.48 0.62 ?
Odds-Ra!os
Depression Bipolare Störung Angststörungen Sucht Demenzen Psychose
Abb. 2: Protektiver Effekt körperlicher Aktivität hinsichtlich der Entstehung psychischer Erkrankungen. Dargestellte Odds-Ratios basierend auf Schuch et al., 2018; Ströhle et al., 2007; Sun et al., 2019; Wu et al., 2019
Diese Ergebnisse zeigen, dass regelmäßige körperliche Aktivität eine herausragende Rolle bei der Prävention psychischer Erkrankungen spielen kann. Daher kann die Förderung regelmäßiger körperlicher Aktivität im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen zur Verhinderung des Neuauftretens psychischer Erkrankungen dienen.
Welche Rolle kann körperliche Aktivität in der Therapie psychischer Erkrankungen spielen? Auch bei bereits bestehenden psychischen Erkrankungen lässt sich körperliche Aktivität als effektive Therapie einsetzen. In zahlreichen randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs) konnte die Wirksamkeit körperlicher Aktivität zur Reduktion der spezifischen psychopathologischen Symptomatik im Vergleich zu einer Kontrollgruppe für eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen nachgewiesen werden (Ströhle, 2019; siehe Abbildung 3). Dabei liegt für eine große Zahl von unterschiedlichen psychischen Erkrankungen eine gute Datenlage mit hochwertiger Evidenz für die Wirksamkeit körperlicher Aktivität vor (Evidenzlevel 1a oder 1b). Hinsichtlich der Effektstärke finden sich je nach Störungsbild und Studienlage kleine bis sehr große Effekte, wobei die Effekte in der Be-
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handlung einzelner Störungsbilder sich vom Ausmaß durchaus mit denen von pharmakotherapeutischen oder psychotherapeutischen Behandlungsoptionen vergleichen lassen (Ströhle, 2019). ICD 10 F0
Psychische Störung
Evidenzlevel
Effektstärke Klein Mittel Groß
Milde kognitive Störung Alzheimer Demenz
1a
Alkoholabhängigkeit
1a
·
Nikotinabhängigkeit Illegale Substanzen
1a 1a
·
F2
Schizophrenie
1a
F3
Unipolare Depression
F1
F4
F5
· ●
• •
●
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Bipolare Störung
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Angststörungen
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Panikstörung/Agoraphobie
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Generalisierte Angststörung
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Soziale Phobie
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Zwangsstörung Posttraumatische Belastungsstörung
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Somatoforme Störungen Anorexia Nervosa
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Bulimia Nervosa Binge Eating Disorder
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Abb. 3: Evidenzlevel und Effektstärke von körperlicher Aktivität in der Behandlung unterschiedlicher psychischer Erkrankungen (modifiziert nach Ströhle, 2019)
Körperliche Aktivität in der Behandlung von unipolarer Depression Die beste Evidenzlage existiert dabei für unipolare Depression. Über zwanzig Meta-Analysen, die die Wirksamkeit körperlicher Aktivität in der Behandlung von Depression untersuchten, kamen einhellig zu dem Schluss, dass körperlicher Aktivität einen positiven Effekt aufweist (Bendau et al., 2021). In einer aktuellen Metanalyse fand sich insgesamt ein großer Effekt körperlicher Aktivität (Standard Mean Difference = SMD = 1.11), wobei sich insbesondere moderate Aktivität, aerobes Training und durch Expert:innen supervidierte Trainingsprogramme als besonders effektiv erwiesen (Schuch et al., 2016). Als Wirkmecha-
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nismen für diese ausgeprägten Effekte werden auf biologischer Ebene insbesondere eine Normalisierung der Aktivität der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse, eine Reduktion von Entzündungsmarkern, eine Reduktion von oxidativem Stress, thermoregulatorische Veränderungen, ein Einfluss auf das serotonerge und nordadrenerge System sowie die vermehrte Ausschüttung von Nervenwachstumsfaktoren wie beispielsweise des Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) diskutiert (Bendau et al., 2021). Auf psychologischer Ebene wird davon ausgegangen, dass insbesondere eine Steigerung von Selbstwirksamkeitserwartung und Selbstwert, eine verbesserte Emotionsregulation, Ablenkung und eine Förderung sozialer Unterstützung und sozialer Kontakte als potenzielle Wirkmechanismen eine wichtige Rolle spielen (Bendau et al., 2021).
Körperliche Aktivität in der Behandlung von Angsterkrankungen In Bezug auf Angsterkrankungen liegen, wenngleich bisher nicht im selben Ausmaß wie bei depressiven Erkrankungen, umfassende Befunde vor, die zeigen, dass körperliche Aktivität eine effektive Behandlungsoption darstellen kann (Petzold, Bendau et al., 2020). Dabei zeigen sich sowohl akute Effekte, also die unmittelbare Reduktion von Ängsten durch eine Einheit körperlicher Aktivität, als auch mittel- und längerfristige Effekte bei Menschen, die regelmäßig körperlich aktiv sind (Bendau et al., 2021). In einer aktuellen Metanalyse, in der die Effekte über sechs randomisiertkontrollierte Interventionsstudien zusammengefasst sind, zeigte sich ein Effekt im mittleren Bereich (SMD = -0.58) (Stubbs et al., 2017). Hinsichtlich der Wirkmechanismen, über die diese Effekte vermittelt werden, scheinen auf biologischer Ebene insbesondere die Effekte der Neurotransmitter GABA, Norephedrin und Serotonin sowie des Nervenwachstumsfaktors BDNF eine Rolle zu spielen (Petzold, Bendau et al., 2020). Auf psychologischer Ebene wird insbesondere von einer Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung sowie einer Exposition gegenüber gefürchteten Körperempfindungen ausgegangen (Petzold, Bendau et al., 2020).
Körperliche Aktivität in der Behandlung von Psychosen Während hinsichtlich eines potenziellen protektiven Effekts körperlicher Aktivität noch widersprüchliche Befunde vorliegen, zeigen sich bei der Behandlung von Psychosen überzeugende Belege für eine Effektivität von körperlicher Aktivität (Bendau et al., 2021). So existieren inzwischen mehrere Metaanalysen, die
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positive Effekte regelmäßiger körperlicher Aktivität bei Schizophrenie belegen. So zeigten sich in einer Metaanalyse über 29 Interventionsstudien (Dauwan et al., 2016) deutliche Effekte körperlicher Aktivität hinsichtlich der allgemeinen Symptomschwere (Hedges’ g = .39), der Positiv- (Hedges’ g = .32) und Negativsymptomatik (Hedges’ g = .49), der Lebensqualität (Hedges’ g = .55), des allgemeinen Funktionsniveaus (Hedges’ g = .32) und depressiver Symptome (Hedges’ g = .71). Dabei stellt körperliche Aktivität insbesondere durch ihre Effekte auf die pharmakologisch oft nur schwer behandelbare Negativsymptomatik sowie durch ihr Potenzial zur Reduktion von (metabolischen) Nebenwirkungen der Therapie mit Antipsychotika eine attraktive Therapieoption dar (Bendau et al., 2021). Hinsichtlich potenzieller Wirkmechanismen fällt der Forschungsstand bei Schizophrenie aktuell eher gering aus, wobei tendenziell ähnliche Wirkmechanismen wie bei anderen psychischen Erkrankungen angenommen werden (Bendau et al., 2021). Wie bereits dargestellt, existieren überzeugende Belege für eine Wirksamkeit körperlicher Aktivität bei einem breiten Spektrum weiterer psychischer Erkrankungen. Für eine ausführlichere Darstellung dieser Effekte siehe Bendau et al. (2021) oder Stubbs und Rosenbaum (2018).
Körperliche Aktivität in der Behandlung somatischer Komorbiditäten psychischer Erkrankungen Neben dem Einsatz als Therapieverfahren, das auf eine Reduktion der spezifischen Symptomatik der psychischen Erkrankung abzielt, eignet sich körperliche Aktivität zudem hervorragend als Intervention zur Reduktion der mit psychischen Erkrankungen häufig einhergehenden somatischen Risikofaktoren und Komorbiditäten. So zeigt sich in großen Untersuchungen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen im Durchschnitt eine massive Reduktion der Lebenserwartung aufweisen (Plana-Ripoll et al., 2020). In einer großen dänischen Kohortenstudie mit über 500.000 Teilnehmer:innen zeigte sich bei Menschen mit affektiven Störungen (ICD-10:F3) oder neurotischen Störungen (ICD-10:F4) eine jeweils um knapp sechs Jahre reduzierte Lebenserwartung, bei Menschen mit Schizophrenie sogar eine um etwa 13 Jahre reduzierte Lebenserwartung (PlanaRipoll et al., 2020). Wenngleich die Ursachen hierfür vermutlich vielfältig sind und teils auch auf gemeinsame Risikofaktoren rückzuführen sein werden, existieren doch zahlreiche Hinweise, dass das Vorhandensein einer psychischen Erkrankung dabei teils auch eine ursächliche Rolle spielen könnte. Mögliche Erklärungen stellen dabei z. B. Auswirkungen der Erkrankung auf das Gesundheitsverhalten, das Inanspruchnahme von somatischen Behandlungsverfahren,
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Nebenwirkungen von Pharmakotherapie, Armut, soziale Isolation oder chronischer Stress dar. Hinsichtlich des Gesundheitsverhaltens existiert hochqualitative Evidenz, die zeigt, dass Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkoholkonsum, schlechte Ernährung, schlechte Schlafhygiene und ein körperlich wenig aktiver Lebensstil bei Menschen mit unterschiedlichen psychischen Erkrankungen häufiger vorkommen als in der Allgemeinbevölkerung (Firth et al., 2020). Dies kann als eine wichtige Ursache dafür betrachtet werden, dass sich beim Vorliegen von psychischen Erkrankungen ein deutlich erhöhtes Risiko für die Entwicklung von (chronischen) körperlichen Erkrankungen zeigt (Scott et al., 2016). Regelmäßige körperliche Aktivität stellt in diesem Zusammenhang eine wichtige Maßnahme dar, um präventiv der Entstehung chronischer somatischer Erkrankungen und den verbundenen Konsequenzen für die Lebenserwartung entgegenzuwirken.
Empfehlungen zu Art und Ausmaß körperlicher Aktivität zur Förderung der psychischen Gesundheit Hinsichtlich der Förderung der psychischen Gesundheit durch körperliche Aktivität kann sich an den allgemein geltenden Empfehlungen von internationalen Organisationen orientiert werden. So empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation für Erwachsene mindestens 150–300 Minuten moderate Aktivität pro Woche oder mindestens 75–150 Minuten intensive Aktivität pro Woche oder eine Kombination aus beidem (World Health Organization, 2020). Zudem werden wöchentlich zwei Einheiten Krafttraining empfohlen (World Health Organization, 2020). Aus der bisher vorliegenden Evidenz ergeben sich keine konkludenten Hinweise dafür, dass hinsichtlich der spezifischen Förderung der psychischen Gesundheit andere Empfehlungen als diese bereits existierenden allgemeineren Empfehlungen notwendig sind. Insgesamt zeigt sich, dass auch bereits bei geringeren Umfängen als den empfohlenen 150 Minuten pro Woche deutliche positive Effekte für die psychische Gesundheit auftreten. So zeigt sich in den meisten Studien ein besonders steiler Anstieg der positiven Effekte im Bereich zwischen gar keiner Aktivität und etwa sechzig Minuten körperlicher Aktivität pro Woche (Bendau et al., 2021). Daher sollte Patient:innen stets vermittelt werden, dass sie auch bereits bei einer kleinen Steigerung ihrer körperlichen Aktivität positive psychische Effekte erwarten können und sich nicht von dem gegebenenfalls sehr hoch erscheinenden Ziel von 150 Minuten moderate Aktivität pro Woche demotivieren lassen sollten. Hinsichtlich der Art der körperlichen Aktivität sollte sich an den individuellen Präferenzen der Patient:innen orientiert werden. So existieren die meisten wis-
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senschaftlichen Belege für die Wirksamkeit von Ausdauertraining, in neuen Studien konnten jedoch zunehmend auch Belege für die Wirksamkeit anderer Aktivitätsformen, wie beispielsweise Krafttraining oder Yoga, gefunden werden. Da eine Aktivitätswahl, die den individuellen Präferenzen folgt, mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer längerfristig erfolgreichen Aufrechterhaltung dieser Aktivität führen kann, sollte sich also an den individuellen Wünschen, z. B. hinsichtlich der Sportart, orientiert werden. Zudem kann auch körperliche Aktivität, die nicht in den Bereich der sportlichen Aktivitäten fällt, wie beispielsweise Spazierengehen, Treppensteigen oder eine Reduktion von inaktivem Verhalten wie beispielsweise Sitzzeiten, zu positiven psychischen Effekten führen.
Wie kann körperliche Aktivität in der Psychotherapie gefördert werden? Erfassung körperlicher Aktivität Einen wichtigen ersten Schritt hin zur Förderung körperlicher Aktivität in der Psychotherapie stellt zunächst die Erfassung körperlicher Aktivität dar. So sollte das Ausmaß körperlicher Aktivität zu Beginn jeder Psychotherapie sowie im weiteren Verlauf und bei Behandlungsende erfasst werden. Die körperliche Aktivität kann dabei mittels einfacher Fragen erfasst werden. So kann mit den beiden kurzen Fragen »An wie vielen Tagen pro Woche betreiben Sie durchschnittlich moderate bis intensive körperliche Aktivität?« und »Wie viele Minuten sind Sie dabei durchschnittlich aktiv?« das Ausmaß moderater bis intensiver körperlicher Aktivität pro Woche erfasst werden (Petzold, Ernst et al., 2020; Thornton et al., 2016). Die Erfassung als Routine zu Beginn der Behandlung hat dabei den Vorteil, dass sowohl Patient:in als auch Behandler:in das Thema körperliche Aktivität bereits einmal angesprochen haben und das Thema somit gleich zu Beginn als ein wichtiges markiert wurde (Petzold et al., 2021). Für eine differenzierte Erfassung einzelner Aktivitätskategorien eignen sich standardisierte Fragebögen wie beispielsweise der »International Physical Activity Questionnaire« (IPAQ; Craig et al. 2003; kostenfrei verfügbar unter: www.ipaq.ki.se) oder strukturierte Interviews wie der Simple Physical Activity Questionnaire (SIMPAQ; Rosenbaum et al., 2019; kostenfrei verfügbar unter: www.simpaq.org).
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Empfehlung körperlicher Aktivität Die resultierenden Minuten moderate bis intensive körperliche Aktivität pro Woche können daraufhin mit den gültigen internationalen Empfehlungen, z. B. der Weltgesundheitsorganisation (mindestens 150 Minuten moderate oder 75 Minuten intensive körperliche Aktivität), abgeglichen werden. Nach Abgleich des aktuellen Aktivitätsniveaus mit den internationalen Empfehlungen können Psychotherapeuten ihren Patient:innen eine Empfehlung zur Steigerung ihrer körperlichen Aktivität aussprechen, sofern diese mit ihrem Aktivitätsniveau unter den gängigen Empfehlungen liegen. Dabei sollte insbesondere beachtet werden, dass auch darüber aufgeklärt wird, dass eine langsame, graduelle Steigerung des Aktivitätsniveaus zu empfehlen ist und positive Effekte auch bereits bei Aktivitätsniveaus unterhalb der gängigen Empfehlungen auftreten (Petzold et al., 2021). Für gesunde Menschen ist eine graduelle Steigerung körperlicher Aktivität sicher und eine leichte bis moderate Aktivität kann ohne vorherige ärztliche Abklärung betrieben werden (Thornton et al., 2016). Da bei bestehenden Vorerkrankungen und Risikofaktoren eine ärztliche Abklärung erforderlich werden kann, können Patienten beispielsweise mit dem »Physical Activity Readiness Questionnaire« (PAR-Q; Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention, 2007) vertraut gemacht werden, mit dem sie anhand von einfachen Fragen selbst feststellen können, ob sie vor Aktivitätsaufnahme eine ärztliche Abklärung durchführen lassen sollten.
Psychoedukation Im Rahmen psychoedukativer Maßnahmen können Patient:innen über die positiven Effekte körperlicher Aktivität aufgeklärt werden. Die hierbei entstehenden positiven Handlungsergebniserwartungen können im Rahmen motivationaler Prozesse eine wichtige Rolle bei der Intentionsbildung zur Ausführung regelmäßiger körperlicher Aktivität spielen (Petzold et al., 2017). Dabei können allgemeine positive Auswirkungen körperlicher Aktivität auf die körperliche und psychische Gesundheit und zudem auch spezifische Wirkmechanismen und zu erwartende Effekte bei entsprechend behandlungsrelevanten psychischen Erkrankungen dargestellt werden. Wissen darüber, dass eine Steigerung körperlicher Aktivität nicht einfach nur »guttut«, sondern häufig tatsächlich eine relevante Reduktion der Symptomatik der vorhandenen psychischen Erkrankung bewirken kann, kann einen positiven Einfluss auf die Motivation zur Steigerung dieser ausüben.
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Weiterführende Unterstützung bei der Steigerung körperlicher Aktivität Neben der einfachen Erfassung, Empfehlung und der Vermittlung von Wissen über die positiven Effekte körperlicher Aktivität eignet sich das Setting einer psychotherapeutischen Behandlung hervorragend für komplexere Interventionen zur Unterstützung bei der Steigerung körperlicher Aktivität. So sind Psychotherapeut:innen Expert:innen darin, ihre Patient:innen dabei zu unterstützen, über Veränderungen nachzudenken, Veränderungsmotivation zu erzeugen und bei konkreten Verhaltensveränderungen zu unterstützen. Die in diesem Bereich vorhandenen Kompetenzen lassen sich gut auch auf das Thema der körperlichen Aktivität transferieren. Zur Ableitung von Interventionen stehen zahlreiche Modelle, beispielsweise aus der Gesundheitspsychologie, zur Verfügung, die sich mit der Frage beschäftigen, was Menschen dazu bewegt, Gesundheitsverhalten zu zeigen. Für eine Übersicht über verschiedene Modelle, die sich hier eignen, siehe Lippke und Vögele (2006). Ein hilfreiches Modell stellt beispielsweise das Motivations-Volitions-Modell dar (MoVo-Modell; Fuchs [2013]; siehe Abbildung 4). Selbstwirksamkeitserwartung
Barrierenmanagement Inten!on Selbstkonkordanz
Handlungsplanung
Körperliche Ak!vität
Handlungsergebniserwartungen Mo!va!onale Phase
Voli!onale Phase
Abb. 4: Das Motivations-Volitions-Modell (modifiziert nach Fuchs, 2013)
Dieses unterscheidet im Prozess zur Aufnahme und Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität zwei Phasen. In der motivationalen Phase geht es darum, welche Variablen Einfluss darauf nehmen, dass Menschen den Entschluss fassen, körperlich aktiv zu werden (Intentionsbildung). Dabei werden als wesentliche Determinanten die Selbstwirksamkeitserwartung (Menschen, die davon ausgehen, dass sie es schaffen, regelmäßig aktiv zu sein, nehmen sich dies häufiger vor) und Handlungsergebniserwartungen (Menschen, die sich von regelmäßiger Aktivität positive Konsequenzen versprechen, nehmen sich dies häufiger vor) angenom-
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men. Zudem wird postuliert, dass die Selbstkonkordanz der Intention, körperlich aktiv zu sein, also das Ausmaß, in dem diese Intention aus intrinsischen oder extrinsischen Motiven gebildet wird, eine wichtige Rolle spielt. Ist der Vorsatz (Intention), körperlich aktiv zu sein, einmal gebildet, beginnt der volitionale Prozess, in dem die entsprechende Intention in konkrete Handlungen umgesetzt werden soll. Dabei postuliert das MoVo-Modell eine wichtige Rolle von Handlungsplanung (sehr konkrete Pläne, in denen die 5-W-Fragen »Wer, Wo, Was, Wie, mit Wem?« beantwortet werden, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich als allgemeinere Pläne), Barriereplanung (Planung, wie mit auftretenden Schwierigkeiten, wie z. B. schlechtem Wetter, umzugehen ist) und situativen Auslösern (z. B. sich am Abend zuvor schon die Schuhe rauszustellen). Für eine genauere Beschreibung des Modells siehe Fuchs (2013). Die Kenntnis dieses Modells ermöglicht Psychotherapeut:innen bei der Förderung körperlicher Aktivität, bei einzelnen Patient:innen Hypothesen anzustellen, wo aktuelle Schwierigkeiten liegen könnten. Beispielsweise könnten negative Handlungsergebniserwartungen, wie z. B. Sorgen, im Fitnessstudio ausgelacht zu werden, eine Rolle spielen oder eine fehlende Barriereplanung, wie z. B. eine regelmäßige körperliche Aktivität im Sommer draußen, die im Winter beendet wird, weil kein Alternativplan für schlechtes Wetter existiert. So liefert das Modell Ansatzpunkte, was hilfreiche Interventionen in der Psychotherapie sein könnten. In den gerade genannten Beispielen könnten dies z. B. die Analyse und Reduktion negativer Handlungsergebniserwartungen (Analyse der bisherigen Erfahrungen und deren Ursachen) und der Aufbau positiver Handlungsergebniserwartungen (Suche nach Umständen, in denen diese Erwartung nicht zutrifft, bzw. Aufbau sonstiger positiver Erwartungen) sowie die gemeinsame Barriereplanung (Planung von alternativen Aktivitäten im Winter) sein. Für eine ausführlichere Darstellung der Anwendungsmöglichkeiten des MoVo-Modells in der Psychotherapie siehe Petzold et al. (2021). Neben dem MoVo-Modell gibt es weitere hilfreiche Modelle, die herangezogen werden könnten, wie beispielweise das transtheoretische Modell oder die Theorie der Selbstdetermination (siehe hierzu Lippke und Vögele, 2006 und Seelig und Fuchs, 2006). Zudem scheinen allgemeine Techniken im Rahmen von Psychotherapien, wie z. B. Situationsanalysen, Problemanalyse, Problemlöseverfahren, Klärung, Konfrontation und Arbeit am Widerstand, ohne größere Schwierigkeiten auch auf die Förderung körperlicher Aktivität übertragbar.
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Zusammenfassung Körperliche Aktivität geht mit zahlreichen positiven Konsequenzen für die psychische Gesundheit einher. Neben der allgemeinen Förderung psychischer Gesundheit zeigen sich in zahlreichen Studien deutliche positive Effekte in der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen. Da in der Allgemeinbevölkerung ein Großteil der Menschen mit seinem Aktivitätsniveau die Empfehlungen internationaler Organisationen hinsichtlich eines gesundheitsförderlichen Ausmaßes körperlicher Aktivität nicht erreicht und Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig ein noch geringeres Ausmaß körperlicher Aktivität zeigen, liegt in einer Steigerung körperlicher Aktivität für viele Menschen mit psychischen Erkrankungen ein großes Potenzial zur Verbesserung ihrer psychischen (und körperlichen) Gesundheit. Psychotherapeut:innen sollten ihre Patient:innen bei Bedarf daher unterstützen, ihr Ausmaß körperlicher Aktivität zu steigern. Dabei können schon die einfache Erfassung, Empfehlung und Erläuterung positiver Auswirkungen von körperlicher Aktivität hilfreich rein. Darüber hinaus können Psychotherapeuten umfassendere Interventionen einsetzen, für deren Ableitung beispielsweise gesundheitspsychologische Modelle wie das MoVo-Modell hilfreich sein können.
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Förderung körperlicher Aktivität in der Psychotherapie
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Lars Hauten
Psychotherapiegeschichte in Deutschland: Schuld, Scham, Verantwortung
In diesem Band beschäftigen sich zwei Beiträge mit der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Bettina Ganse (Kap 10) untersucht das Zusammenspiel interpersonaler und intrapsychischer Prozesse, mit denen traumatische Erfahrungen transgenerational transportiert werden. Karl Haller (Kap 5) kontextualisiert das Thema der transgenrationalen Traumaweitergabe gesellschaftspolitisch. Ein dritter Beitrag von Stefan Trobisch-Lütge (Kap 1) untersucht das Traumakonzept historisch und verfahrensübergreifend. Daher lag es für uns als Herausgabeteam nahe, auf unser eigenes Fach einen Blick zu werfen, der in der Psychotherapie eigentlich ganz selbstverständlich ist: nämlich den Untersuchungsgegenstand (»Kontexte der Psychotherapie«) nicht nur im Querschnitt, sondern auch in seiner historischen Perspektive zu betrachten. Ich habe an anderer Stelle die Geschichte der Tiefenpsychologischen Psychotherapie (Hauten, 2021) sowie die Geschichte des Verhältnisses von Medizin und Psychotherapie (Hauten, 2020) in Deutschland schon einmal behandelt. Eigentlich habe ich also schon alles gesagt, was mir dazu eingefallen ist. Jedoch ergaben sich erst im Nachgang der genannten Veröffentlichungen für mich neue Perspektiven, welche eine Wiederholung der Argumente vielleicht rechtfertigen. Ich danke in diesem Zusammenhang Ulrich Rüger für den fachlich und persönlich sehr bereichernden Austausch.
Historie Am 10. 05. 1933 wurden auf dem Berliner Opernplatz auch »die Schriften der Schule Sigmund Freuds« verbrannt (vgl. DHM, 2000). Dieser Umstand begründet eine Art »Verfolgungsmythos«, welcher sich um die Psychoanalyse während des Nationalsozialismus rankt.1 Die Psychoanalyse könnte als insgesamt »verfolgt und verbannt« aufgefasst werden. Da es zu diesem Zeitpunkt zudem nur drei 1 So spricht Jones (1962) von einer »Liquidation« der Psychoanalyse im Nationalsozialismus.
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»Psychotherapien« gab (namentlich Freuds Psychoanalyse, Adlers Individualpsychologie und Jungs Analytische Psychologie) ließe sich diese Annahme des Weiteren auf die Psychotherapie in Gänze ausweiten, womit dann alle Psychotherapeut:innen automatisch als »Verfolgte des Nazi-Regimes« deklariert werden könnten. Eine dergestalt verkürzte Geschichtsauffassung wäre indes falsch. Denn die Werke, welche sich mit der Geschichte von Psychotherapie und Psychoanalyse während des Nationalsozialismus beschäftigen, zeichnen ein deutlich differenzierteres Bild. Zu nennen sind hier zuerst die Werke von Lockot (1985 sowie 1994/ 2013) und Cocks (1985). Geuter (1984) beschreibt die Entwicklung der akademischen Psychologie im Nationalsozialismus. Eine Ausstellung der International Psychoanalytic Association von 1985 richtet einen starken Fokus auf den Aspekt der Verfolgung (vgl. Brecht et al., 2010). Peglau (2017) legt mit seiner Studie über Wilhelm Reich eine Untersuchung der Psychoanalyse und ihrer institutionellen Verankerung im Nationalsozialismus vor. Ausgangspunkt für die Bewegungen der institutionalisierten Psychoanalyse nach der nationalsozialistischen Machtergreifung war ein Dilemma: »Anpassen oder Untertauchen?« Sollte die als »jüdische Wissenschaft«2 kategorisierte Psychoanalyse sich aus Deutschland zurückziehen? Oder sollte sie versuchen, sich durch Anpassung an die neuen Verhältnisse eine Überlebenschance zu verschaffen? Müller-Braunschweigs Beitrag »Psychoanalyse und Weltanschauung« in der Zeitschrift Reichswart kann als Versuch gesehen werden, in gewissermaßen vorauseilender Unterwerfung die Psychoanalyse auch unter der neuen Herrschaft abzusichern (Müller-Braunschweig, 1933/1983).3 Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) entschied, dass ihre jüdischen Mitglieder »freiwillig« die Gesellschaft verlassen sollten, in der Hoffnung, dass damit die Psychoanalyse als solches »überleben« könnte. Dieser Vorgang war kein Alleingang der DPG, sondern fand in Absprache mit der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) statt: »I should still say that I prefer Psycho-Analysis to be practised by Gentiles in Germany than not at all« (Ernest Jones an Anna Freud, 11. 11. 1935, zit. nach Lockot, 2013a, S. 43f.). Die Psychoanalyse sollte also um jeden Preis gerettet werden, auch wenn dafür der Ausschluss der jüdischen Psychoanalytiker:innen in Kauf genommen werden musste. Durch diesen Vorgang wurde die Mitgliederzahl der DPG um zwei Drittel 2 Dührssens (1994) Lesart der Geschichte der Psychoanalyse hat ihr den Vorwurf des Antisemitismus eingehandelt, weil sie die Frage nach der »jüdischen Wissenschaft« theoriesoziologisch aufgriff. 3 Der Artikel wurde fünfzig Jahre später in der Zeitschrift Psyche (1983, 37 [12]) erneut abgedruckt und diente als Aufhänger für eine Auseinandersetzung um die Rolle der Psychoanalyse in »Hitlerdeutschland«.
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reduziert. Den »freiwillig« Ausgetretenen wurde eine Mitgliedschaft in der IPV angeboten. Dieser »Rettungsversuch« war jedoch nicht erfolgreich für die DPG, welche 1938 dennoch aufgelöst wurde (vgl. Lockot, 2013a, S. 324; Dührssen, 1994, S. 175). Psychoanalytiker:innen wurden während des Nationalsozialismus, verfolgt, vertrieben, eingesperrt und ermordet – jedoch nicht, weil sie Psychoanalytiker: innen waren, sondern weil sie Jüd:innen und/oder politische Aktivist:innen waren, wie Peglau (2017, S. 29) betont. Psychoanalyse und Psychotherapie waren im Nationalsozialismus keine »Untergrundtätigkeit«. Das Verbot der DPG »liquidierte« die Psychoanalyse nicht. Das 1936 gegründete »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« (im Folgenden auch »Deutsches Institut« genannt) übernahm Funktion und Räume der 1920 gegründeten Berliner psychoanalytischen Poliklinik. Dorthin wurde die psychoanalytische Tätigkeit »verlagert«. Ebenfalls ist es nicht richtig, dass sämtliche Werke von Freud während der Nazi-Zeit »verbannt« worden wären. Vielmehr war es so, dass grundlegende Schriften, welche Psychoanalyse und Individualpsychologie darstellen, von den Bücherverboten explizit ausgenommen wurden, auch wenn die Verbreitung der Lehren unterbunden werden sollte, sofern sie im Widerspruch zur nationalsozialistischen Weltanschauung standen. Peglau (2014, S. 155) fasst es folgendermaßen zusammen: »[N]ur was dem Nationalsozialismus widersprach und keine grundlegende wissenschaftliche Bedeutung hatte, sollte ›ausgemerzt‹ werden.« Solange diese beiden Bedingungen nicht kumulativ erfüllt waren, durfte und sollte psychoanalytisch-psychotherapeutische Literatur weiterhin verwendet werden. Psychotherapie als solche wurde auch vom nationalsozialistischen Regime als wichtig erachtet (vgl. Cocks, 1985, S. 216). Lockot (1985, S. 212ff.) konstatiert einen steigenden Bedarf an Psychotherapie auch und gerade unter den Bedingungen der Diktatur. Nitschke (2011, S. 7) zitiert Kurt Gauger (SA-Mann und Psychotherapeut): »Die politischste Disziplin von allen Disziplinen aber ist die Psychotherapie!« Psychotherapie sollte erhalten und zu einer »neuen Deutschen Seelenheilkunde« umgebaut, dabei aber von allen »jüdischen« Inhalten befreit werden. Cocks (1985, S. 103) beschreibt es so: »[…] [I]n proper racial hands even Jewish thought could be beneficial to non-Jewish practitioners and patients.« Für das Verständnis des komplexen Machtgefüges im Gesundheitswesen ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Psychotherapie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar innerhalb der ärztlichen Zunft entwickelt wurde, aber außerhalb der universitären Medizin. Im Nationalsozialismus erlangte die Psychotherapie eine gewisse »Aufwertung« dadurch, dass das »Deutsche Institut« von einem Vetter Hermann Görings geleitet wurde, nämlich Matthias Heinrich Göring. Diese persönliche Verknüpfung mit dem Regime verlieh der Psychotherapie durchaus Gewicht im Gesundheitswesen.
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Als »institutioneller Gegenspieler« der Psychotherapie ist die in der akademischen Medizin verwurzelte Psychiatrie aufzufassen. So äußert De Crinis über das »Deutsche Institut«, diese Institution habe »[…] die jüdische Richtung der Freudschen Psychoanalyse nicht aufgegeben, und die deutsche Psychiatrie wird in der nächsten Zeit wohl auch genötigt sein, gegen diese Entartungserscheinungen, die ein nationalsozialistisches Mäntelchen tragen, vorzugehen« (DeCrinis, 03. 04. 1944; zit. nach Hammerstein, 2019).4 Vor diesem Hintergrund sind vor allem zwei »Weichenstellungen« während des Nationalsozialismus als wichtige Faktoren für die spätere Entwicklung der Psychotherapie in Deutschland bedeutsam. Die eine betrifft die Integration von Behandler:innen, die andere die Integration von Theorien. Um die Frage der »Laienanalyse«, also die Durchführung von Psychoanalyse durch Nicht-Ärzt:innen, gab es eine jahrzehntelange Kontroverse. Freuds Position war in dieser Frage sehr eindeutig (vgl. Freud, 1926): Ein Studium der Medizin bedeutete für ihn keinen Vorteil gegenüber einer anderen Vorbildung beim Erwerb psychoanalytischer Kompetenzen. Es war für ihn die psychoanalytische Ausbildung selbst (und hier vor allem die in der Lehranalyse gemachten Erfahrungen), welche zum psychoanalytischen Handeln befähige. Freuds Position konnte indes die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Länder, in denen Psychoanalyse angewandt wurde, nicht beeinflussen. So herrschte in Deutschland durch eine Klausel in der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 eine »faktische Kurierfreiheit«, während in Österreich als Schutz vor »Kurpfuscherei« die Heilbehandlung Ärzt:innen vorbehalten war (vgl. Jütte, 1997). Diese Lage änderte sich in Deutschland mit der Einführung des Heilpraktikergesetzes 1939. Fortan wäre es eigentlich auch in Deutschland Ärzt:innen vorbehalten gewesen, psychotherapeutisch tätig zu werden. Die Frage war, ob die »Behandelnden Psychologen« den Regularien des Heilpraktikergesetzes zu unterstellen waren oder als »Hilfskräfte in der Gesundheitspflege« jenseits dieses »Gesetzes gegen die Kurpfuscherei« anzusiedeln seien. Ein »Schlupfloch« für die Zulassung nichtärztlicher Behandler:innen ergab sich durch den sogenannten »Göring-Erlass«5, mit dem die »Behandelnden Psychologen« in die Psychothe4 Hintergrund war ein Berufungsantrag von G. R. Heyer ans »Reichsinstitut«. De Crinis war nicht nur Ordinarius der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin, sondern ab 1940 auch Referent für medizinische Sachfragen im »Amt Wissenschaft« des Reichserziehungsministeriums. 5 Faber & Haarstrick (1989, S. 83) datieren den Göring-Erlass auf 1940. Lockot (1985, S. 238ff.; 2010, S. 1208) sortiert die unübersichtliche Quellenlage (eine Reihe von Rundschreiben, die kriegsbedingt nicht Gesetzesstatus erlangten) etwas anders, sodass der Göring-Erlass auf den 18. 03. 1943 datiert wird. Allerdings sei bereits mit einem Vertrag zwischen dem »Deutschen Institut« und dem »Verband der Angestellten Krankenkassen« am 01. 10. 1942 die Möglichkeit zum Einbezug der nichtärztlichen Psychotherapeuten ermöglicht worden (Lockot, 2019, pers. Mitt.). Geuter (1984, S. 243f.) schildert, dass das Reichsinnenministerium dem »Göring-In-
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rapie einbezogen wurden. Der individualpsychologisch ausgebildete Arzt Matthias Göring legte damit den Grundstein für das sogenannte Delegationsverfahren, also die eigenständige Patient:innenbehandlung durch Psycholog:innen unter ärztlicher Anordnung. Nun war es auch Nicht-Ärzt:innen möglich, psychotherapeutisch tätig zu werden, sofern die Hauptverantwortung der Behandlungen in ärztlicher Hand lag und sie ihre Ausbildung am »Deutschen Institut« absolviert hatten. Verbunden waren damit eine leichte Verschiebung sowie eine starke Verschärfung der Konfliktlinie: War die Frage der Laienanalyse zunächst eine Auseinandersetzung innerhalb der psychoanalytischen Zunft, so verhärtete der Göring-Erlass die Frontstellung zwischen Psychotherapie und Psychiatrie. Denn das »Deutsche Institut« hatte innerhalb des nationalsozialistischen Gesundheitsapparates, wie erwähnt, vor allem die Psychiatrie als mächtigsten Gegenspieler (vgl. Cocks, 1987, S. 36 sowie Cocks, 1985, S. 171ff.). Mit dem Göring-Erlass wurde nun quasi offiziell eine neue Gruppe von Behandler:innen in die öffentliche Gesundheitspflege eingeführt. In gewisser Hinsicht hat also die Psychologische Psychotherapie Matthias Göring viel zu verdanken. Nun war es aber wohl nicht so, dass Göring das Delegationsverfahren aus einer inhaltlichen Einsicht in die Wichtigkeit der Psychologie für die Psychotherapie einführte. Vielmehr war die Einführung des Delegationsverfahrens ein pragmatischer Akt, der aufgrund der Versorgungsrealität notwendig war: Wenn das »Deutsche Institut« eine flächendeckende Heilbehandlung anbieten wollte, mussten hinreichend Behandler:innen vorgehalten werden. Diese standen jedoch nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung (nicht zuletzt aufgrund des Ausschlusses jüdischer Ärzt:innen), sodass auch Nicht-Ärzt:innen Behandlungen übernehmen mussten. Der Einbezug der zahlenmäßig durchaus relevanten Gruppe der »Behandelnden Psychologen« sollte als Zwischenlösung dienen, bis hinreichend ärztliche Psychotherapeut:innen ausgebildet sein würden, welche dann die nichtärztlichen Psychotherapeut:innen überflüssig machen würden (vgl. Lockot, 1985, S. 243). Genau dieses Prinzip der »Delegation« wurde 1972 wieder aufgegriffen. Die seinerzeit noch recht jungen Psychotherapie-Richtlinien (BMA, 1967) sollten eine flächendeckende Versorgung mit Psychotherapie ermöglichen. Der Bedarf konnte jedoch nicht allein von den ärztlichen Psychotherapeut:innen gedeckt werden, sodass im »Delegationsverfahren« wieder Psycholog:innen – formal auf ärztliche Weisung – Psychotherapie anbieten konnten. Dies stellt in gewisser Hinsicht das »Einfallstor« dar, durch welches in den folgenden Jahrzehnten die Psychologie den Anspruch für sich erheben konnte, Grundlagenwissenschaft für stitut« eine Zuordnung der »Behandelnden Psychologen« zu den ärztliche Hilfsberufen zugesichert habe, es zu einer Ausformulierung der entsprechenden Bestimmungen im Krankenpflegegesetz aber kriegsbedingt nicht mehr kam.
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die Psychotherapie zu sein. Schulte (2019) beschreibt den langen Weg zum entscheidenden Etappensieg der Psychologie durch die Einführung des »Psychotherapeutengesetzes«. Das »PsychThG« wurde 1998 beschlossen und trat am 1. Januar 1999 in Kraft. Fortan waren Psychotherapeut:innen mit psychologischer Grundausbildung den Fachärzt:innen für Psychotherapie gleichgestellt. Das bedeutete berufspolitisch einen enormen Machtzuwachs der Psychologie gegenüber der Medizin. Die bis dato eher geduldeten nichtärztlichen Psychotherapeut:innen bekamen einen festen Platz im Gesundheitssystem, verbunden mit eigenen Kassensitzen für Nicht-Ärzt:innen. Die Einführung dieses ersten »Psychotherapeutengesetzes« war ein wichtiger Zwischenschritt in der Entwicklung der Psychotherapie in Deutschland. Das »Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung vom 15.11.19«6 konkretisiert und zementiert diese Position: »Psychotherapie« wird als im Grundsatz psychologische Tätigkeit aufgefasst; »ärztliche Psychotherapie« quasi als Ausnahme von der Regel. Dies entspricht der Versorgungsrealität, zumindest im ambulanten Bereich: Dort wird Psychotherapie zu etwa 82 Prozent von Psycholog:innen durchgeführt (KBV, 2020). Die Integration nichtärztlicher Behandler:innen in die Psychotherapie im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie war eine wichtige Vorbedingung für die Installation des ersten »Psychotherapeutengesetzes« 1998/99. Die psychologische Psychotherapie in Deutschland lässt sich historisch auf einen »Integrationsprozess von Behandler:innen« aufgrund von gesundheits- und versorgungspolitischen Prozessen während des Nationalsozialismus beziehen. Die zweite Linie der Integration betrifft den »innerpsychoanalytischen Schulenstreit«. Die personelle Besetzung des »Deutschen Instituts« war insofern klug gewählt, als Vertreter aller drei Richtungen bestellt wurden. Namentlich wurden für die Freud’sche Richtung Boehm, Müller-Braunschweig und SchultzHencke, für die Jung’sche Richtung Moritz, Kranefeld und Weizsäcker und für die Adler’sche Richtung Künkel und Herzog in den Verwaltungsbeirat des von Göring geleiteten Instituts berufen (vgl. Lockot, 1985, S. 193). Cocks (1985, S. 53ff.) »sortiert« Schultz-Hencke und Rittmeister als Freudianer, Heyer als Jungianer, Göring, Künkel und Seif als Adlerianer sowie Hattingberg und Schultz als Unabhängige. Inhaltliche Vorgabe für das »Deutsche Institut« war es, die Psychoanalyse von der »jüdischen Lehre« der Sexualtheorie zu befreien, um ihren für die nationalsozialistische Ideologie wertvollen Gehalt (namentlich Trieb- und Entwicklungslehre) in den Dienst der »Volksgemeinschaft« zu stellen (vgl. Lockot, 1985, S. 192). Damit verbunden war eine »Abkopplung« der Theorien von ihren Gründern. Dies folgte nicht einer erkenntnistheoretischen Einsicht, sondern war 6 Ausgegeben zu Bonn am 22. 11. 2019, BGBl JG 2019 Teil I Nr. 40, S. 1604–1621; vgl. BMG 2019.
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Ergebnis einer weltanschaulichen Notwendigkeit: Wenn Psychoanalyse und Individualpsychologie als »jüdische Ideen« galten, dann musste »das Jüdische« daraus getilgt werden, um eine »Neue Deutsche Seelenheilkunde« zu schaffen. Die verschiedenen Strömungen sollten daher von ihren Erfinderpersönlichkeiten gelöst und unter einem mit der nationalsozialistischen Ideologie kompatiblen theoretischen Dach integriert werden (vgl. Lockot, 1985, S. 193). Auch dieses zweite im Nationalsozialismus angelegte Momentum erfuhr eine Wiederholung in der Nachkriegszeit. In gewisser Hinsicht ist die »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« mit den Psychotherapie-Richtlinien 1967 als eine Art »Leerkategorie« eingeführt worden, um eine theoretisch weniger festgelegte Psychotherapie »jenseits der Psychoanalyse« entwickeln zu können (vgl. Hauten, 2021). Im deutschsprachigen Raum wird die Entwicklung einer »allgemeinen« Psychotherapie vor allem mit der Arbeitsgruppe um Grawe in Verbindung gebracht (Grawe et al., 1990, 1994), während international bereits etwas früher nach einer schulenübergreifenden Psychotherapie gesucht wurde (Norcross, 1986). Die Untersuchung der »allgemeinen Wirkfaktoren« führt direkt auf die Spur der therapeutischen Beziehung (vgl. Wampold & Imel, 2015; Castonguay & Hill, 2017; Norcross & Wampold, 2018). Eine tatsächliche »Integration« verschiedener therapeutischer Ansätze ist damit indes noch nicht geleistet. Am »Institut für Psychologische Psychotherapie und Beratung Berlin e. V. (ppt)« wurde vor der Einführung des ersten Psychotherapeutengesetzes eine schulenunspezifische, pädagogisch-psychologische Psychotherapie entwickelt und gelehrt. Das gemeinsame Band war in technischer Hinsicht eine Fokussierung auf das therapeutische Beziehungsgeschehen und mit Blick auf die Wissenschaftsverortung eine Orientierung an der akademischen Psychologie (in Abgrenzung zum »Medizinsystem«). Seit Einführung des ersten Psychotherapeutengesetzes 1999 werden Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Verhaltenstherapie parallel, aber in enger Verzahnung gelehrt. Unseren »irgendwie integrativen« Ansatz haben wir nach etwa anderthalb Jahrzehnten Praxis kritisch analysiert. Das Ergebnis war, dass eine »Integration« von Psychotherapieschulen auf diesem Wege zwar nicht zu haben war, wir aber sehr wohl einen konzeptionellen Ansatz finden konnten, den Geckle (2016/2020) mit dem Begriff des »Verfahrensdialoges« treffend beschreibt. Die Frage der »Schulenspezifität« erhält vor dem Hintergrund der Reform des Psychotherapeut:innengesetzes (BMG, 2019) neue Brisanz. Auf der einen Seite scheint es dringend nötig, die Gräben im »Schulenstreit« zu überbrücken, um an die in allen Therapien wirksamen gemeinsamen Faktoren heranzukommen. Psychotherapie als im Kern soziales Geschehen lässt sich über eine Analyse des therapeutischen Beziehungsgeschehens besser verstehen als durch »zementierte« technische Positionen.
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Auf der anderen Seite aber besteht die Gefahr, durch einen als Integration »getarnten« Eklektizismus gerade das genuin Psychologische an der Psychotherapie – nämlich das Potenzial zur gesellschaftlichen und historischen Kontextualisierung – wieder zu verspielen (vgl. Hauten, 2020).
Schuld und Scham Somit lässt sich festhalten, dass die Psychotherapie, wie sie heute in Deutschland etabliert ist, zwei wesentliche historische Vorbedingungen im Nationalsozialismus aufweist. Zum einen wurden dort erstmals Psycholog:innen offiziell als Behandelnde zugelassen. Und zum anderen wurde mit der »Neuen Deutschen Seelenheilkunde« der Versuch unternommen, eine »schulenübergreifende« Psychotherapie zu konstruieren. Doch was bedeutet das? Müssen wir uns schlecht fühlen, wenn wir uns über den »Siegeszug der Psychologie« im Ringen um die Hoheit über die Psychotherapie freuen? Und wenn Psychoanalyse und Psychotherapie eben nicht »verstummt« waren während des NS-Regimes, waren dann jene in Deutschland verbliebenen und weiterhin aktiven Psychotherapeut:innen automatisch »alle Nazis«? Auf den ersten Blick sieht es so aus. Die bereits erwähnte Schrift von MüllerBraunschweig aus dem Jahre 1933 klingt sehr viel mehr nach »Mitmachen« als nach »Mitlaufen« – und schon gar nicht nach »Verstecken«7. Und im »Deutschen Institut« wurde unter anderem auch an einem »Diagnosen-Schema« gearbeitet, welches eine Unterscheidung zwischen mit Psychotherapie veränderbaren und unbehandelbaren seelischen Erkrankungen erlauben sollte. Damit hat das »Deutsche Institut« zwar nicht (wie ich mich gegenüber 2021 korrigieren muss) den theoretischen Grundstein für Euthanasie gelegt. Vielmehr schließt das »Diagnosen-Schema« hier an konzeptionelle Überlegungen der selektiven Indikation an, wie sie bereits früher im Berliner Psychoanalytischen Institut durchgeführt wurden (vgl. Fenichel, 1930),8 hat also nicht unmittelbar etwas mit Euthanasie zu tun. 7 »Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes- und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern des Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt neu herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung wertvoll zu dienen« (Müller-Braunschweig, 1933/1983, S. 1139). 8 Unter selektiver Indikation wird hier die Frage verstanden, ob Patient:innen für die Therapie geeignet sind. Konzepte der adaptiven Indikation (also die Frage, ob die Methode für die
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Auf der anderen Seite aber hat die Unterscheidung in »behandelbar« und »unheilbar« vor dem Hintergrund rassenpolitischer Maßnahmen eine Parallele im Konzept »lebenswert« und »lebensunwert«. In theoretischer Hinsicht wurde die Euthanasie viel früher aus medizinischer und juristischer Perspektive in der Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« gerechtfertigt (Binding & Hoche, 1920). In praktischer Hinsicht wurde die »Zuweisung« zur Euthanasie jedoch nicht in öffentlich sichtbaren Institutionen (wie dem »Deutschen Institut«) durchgeführt, sondern im Geheimen (Husemann, 2015). Und doch zitiert Schultz (1940, S. 113) aus genau diesem Werk von Binding & Hoche mit Verweis auf den Bereich, in dem die Psychotherapie nichts »ausrichten« kann. Und auch in personeller Hinsicht gab es Verstrickungen und Verwicklungen. Im Verwaltungsbeirat des »Göring-Instituts« saß auch Herbert Linden (1899–1945), der maßgeblich an der Organisation der »T4-Morde«9 beteiligt war. Indes, diese einzelnen Informationen sind noch nicht kontextualisiert.10 Die Widersprüchlichkeiten bleiben: Während in der Ärzt:innenschaft der Organisationsgrad in der NSDAP etwa fünfzig Prozent betrug, trifft das auf die Mitarbeitenden im »Deutschen Institut« nicht zu (Rüger, 2008, S. 252). Und MüllerBraunschweig wurde (trotz der oben erwähnten Schrift) moralisch rehabilitiert, indem die von ihm gegründete »Deutsche Psychoanalytische Vereinigung« (DPV) 1952 in die »Internationale Psychoanalytische Vereinigung« (IPV) aufgenommen wurde, die »Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft« (DPG)11 jedoch nicht. Die im Text bisher zitierten Arbeiten von z. B. Lockot, Cocks, Peglau, Nitschke und Geuter zielen darauf ab, durch ein gründliches Quellenstudium die Beteiligungen einzelner Menschen am Nationalsozialismus zu klären und einen Eindruck von den strukturellen Zusammenhängen von Psychoanalyse, Psychotherapie und Medizin mit dem NS-Regime zu vermitteln. Dieser Ansatz kann die individuelle Verstrickung von Personen im Machtgefüge des Nationalsozialismus zu klären helfen, und es kann ein Bild von den Strukturen gezeichnet werden. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit scheint Patient:innen geeignet ist) wurden erst viel später entwickelt (z. B. Dührssen, 1972; vgl. Rüger, 2020). 9 »Die Zentraldienststelle T4« – benannt nach ihrem Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 – war eine Tarnorganisation der »Kanzlei des Führers«, welche mit der Umsetzung der Euthanasie beauftragt war. Die systematischen »Krankenmorde« werden seit dem Kriegsende häufig als »Aktion T4« bezeichnet. 10 Zum Beispiel lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die Mitarbeitenden des »Deutschen Instituts« aufgrund der Konkurrenz mit der Psychiatrie sich nach außen und öffentlich als besonders »linientreu« darstellten, in der Praxis hingegen zu »milderen« Diagnosen der Patient:innen neigten. Diese Hypothese lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres überprüfen. Menschenverachtend und systemtreu bleiben die Veröffentlichungen dennoch. 11 Aus der 1950 durch Abspaltung die DPV entstand.
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aber noch eine weitere Ebene zu haben, welche mit solchen deskriptiven Forschungsmethoden nicht erschöpfend zu klären ist: die Frage der Schuld. Das transgenerationale Band der Geschichtsrezeption scheint emotionaler, und es scheint mit kollektiven (nicht individuellen und strukturellen) Verflechtungen verbunden. Die sogenannte »68er-Bewegung« kann in Deutschland (unter anderem) verstanden werden als Konfrontation einer Generation mit dem Schweigen und der Schuld ihrer Elterngeneration. Eine Aufarbeitung der Verstrickungen verschiedener gesellschaftlicher Institutionen und Personen mit dem NS-Regime hat dann noch einmal bis in die 1980er-Jahre hinein auf sich warten lassen – und dauert bis heute an. Ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende löste das Buch »Hitler’s Willing Executioners« (Goldhagen, 1996) einen »Historikerstreit« aus, der sehr polarisiert und emotional geführt wurde. Hilbert z. B. befand, Goldhagen »was totally wrong about everything. Totally wrong. Exceptionally wrong« (Hilberg, 2007). Obwohl Goldhagen den Begriff der »Kollektivschuld« nicht verwendet (im Vorwort der deutschen Übersetzung seines Buches sogar explizit von sich weist), scheint er mit seinen Thesen genau diesen Nerv zu treffen.12 Noch in der Enkel- und eventuell auch in der Urenkelgeneration scheinen zwei sehr entgegengesetzte und unvereinbare Reaktionen auf die Frage der »Deutschen Kollektivschuld« vorzuherrschen. Zwischen »Opa war kein Nazi« (Welzer et al., 2002) und »Die Nazis, das waren wir« (Leitlein, 2020) scheint es wenig Zwischenraum zu geben. Ich kann beide Impulse in mir aufsteigen lassen und emotional nachvollziehen – verbinden kann ich sie nicht. In seiner Schrift »Die Schuldfrage« von 1946 widmet sich Karl Jaspers dem Thema moralphilosophisch und erörtert in diesem Zusammenhang auch die Frage der »Kollektivschuld«. Jaspers schreibt vor dem Hintergrund der laufenden »Nürnberger Prozesse« (1945–1949). Er konstatiert: »Daß wir Deutschen, daß jeder Deutsche, in irgendeiner Weise schuldig ist, daran kann […] kein Zweifel sein.« (Jaspers, 1946, S. 65). Für die Logik eines Kriegsverbrecherprozesses war es jedoch notwendig, die Schuld individualisiert zu verhandeln. Jaspers nähert sich dem Thema der Kollektivschuld, indem er vier Schuldbegriffe voneinander unterscheidet: kriminelle Schuld, politische Schuld, moralische Schuld und metaphysische Schuld. Diese Differenzierung erlaubt es auch zu unterscheiden, welche »Schuldbereiche« individualisiert (kriminelle und moralische Schuld) und welche kollektiv (politische und metaphysische Schuld) zu 12 Die Mittel, die Verstrickungen der Deutschen in die Installation des NS-Regimes zu untersuchen, liegen dabei schon sehr viel länger vor. In seinem methodisch ebenso genialen wie methodenethisch fragwürdigen Ansatz hat Abel bereits 1936 reichhaltiges Material gesammelt, welches m. W. n. noch immer der psychologischen (in Ergänzung seiner soziologischen) Analyse bedarf (Abel, 1938).
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betrachten sind. Dabei übersieht Jaspers nicht, dass diese Zergliederung auch dazu dienen kann, der jeweils individuell oder kollektiv zu tragenden Schuld auszuweichen. Er verbindet diese vier Linien dann zu einem Prozessmodell, welches »Reinigung« (Jaspers, 1946, S. 89ff.) durch Reflexion und Wandel erlaubt. Man könnte also behaupten: »Die Schuldfrage ist doch eigentlich geklärt«. Und doch erzeugt die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte regelhaft emotional aufgeladene, polare Reaktionen. Das wird vielleicht verständlicher, wenn wir uns vor Augen halten, dass die transgenerationale Weitergabe, wie sie Ganse (Kap 10) für Traumata beschreibt, nicht nur für traumatische, sondern viel allgemeiner für seelische Inhalte funktioniert. Diese »Vererbung« seelischer Inhalte findet in komplexen intrapsychischen und interpersonellen Prozessen statt, welche weitestgehend unbewusst ablaufen. Diese Vorgänge folgen nicht einer moralphilosophischen Logik, sondern sind mit Psycho-Logik zu untersuchen. Wie Haller (Kap 5) betont, ist für eine angemessene kontextualisierte Betrachtung ein multiperspektivisches Herangehen nötig. Richten wir also einen psychologischen (nicht soziologischen, moralischen, politischen oder juristischen) Blick auf das Thema, dann erscheint »Kollektivschuld« als eben solch ein seelischer Inhalt, der interpersonell und intrapsychisch vor dem Hintergrund gesellschaftlich-historischer Kontexte tradiert wird. Rüger hinterfragt an dieser Stelle, ob der zur »Kollektivschuld« gehörende Leitaffekt tatsächlich Schuld bzw. Schuldgefühl ist, oder ob sich hier an den Begriff (bzw. Seeleninhalt) der (Kollektiv-)Schuld nicht ein ganz anderer Affekt heften könnte, nämlich der Affekt der »Kollektivscham«13 (Rüger, pers. Mitt., 2021). Das scheint plausibel: Die oben geschilderten Reaktionen aus der Enkelgeneration (die Großeltern waren »alle Nazis / keine Nazis«) wirken in ihrer Unvereinbarkeit wie ein Abwehrmechanismus auf einer sehr frühen Reifungsstufe. Das strikte Trennen seelischer Inhalte nennen wir in psychodynamischer Sprache »Spaltung«. Es handelt sich um einen entwicklungspsychologisch sehr frühen Mechanismus, welcher auf eine nicht gut entwickelte Ambivalenztoleranz und einen instabilen seelischen Binnenraum verweist. Möglicherweise wird hier im »kollektiven Unbewussten« ein »historisch erworbenes Entwicklungsdefizit« tradiert. Nach der Scham als möglichem Leitaffekt zu suchen, ergibt auch Sinn vor dem Hintergrund, dass das Gegenstück zur Scham der Stolz ist. Die mit der geschilderten gespaltenen Reaktion (alle Nazis / keine Nazis) verbundenen Selbstaus-
13 Der Begriff »Kollektivscham« wurde von Theodor Heuss als Alternative zum Begriff »Kollektivschuld« verwendet (Heuss, 1949).
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sagen könnten lauten: »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« versus »Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein«. Mit Wurmser (1981, 1998) könnten wir die »Zeitperspektive« des Schamaffekts14 sowie seine Richtung15 untersuchen. Vor allem aber weist diese Suchrichtung auf entwicklungspsychologisch frühere Prozesse als Schuld. Denn wenn Schuldgefühl als »Aggression des Über-Ichs« aufgefasst wird (Freud, 1930), dann setzt diese Prozessvorstellung bereits eine gewisse ich-strukturelle Reife16 voraus. Das Schuldgefühl bezieht sich auf (tatsächliche oder phantasierte) Handlungen oder Wünsche, welche aus unterschiedlichen Gründen »verboten« sind und daher verhindert und/oder unbewusst gehalten werden sollen. Die Scham hingegen wirkt »basaler«17, sie bezieht sich nicht auf Handlungen, sondern auf die bloße Existenz. Sie ist damit wesentlich näher an den entwicklungspsychologisch früheren Prozessen der Bildung einer narzisstischen Homöostase. Oder anders ausgedrückt: Schuld bezieht sich auf Tun, Scham bezieht sich auf Sein. Sollte diese Hypothese zutreffen, dann könnte dies auch einen Erklärungsansatz dafür bieten, warum der von Jaspers bereits 1946 skizzierte (und von Mitscherlich & Mitscherlich 1967 ausdifferenzierte) Weg der Schuldverarbeitung so beschwerlich zu sein scheint, dass er noch immer kaum zu bewältigen scheint. Die Bearbeitung von Schuldgefühlen ist in der Psychotherapie unser täglich Brot. In sehr vielen Behandlungen geht es auf individueller Ebene genau darum. Dabei haben wir aber stets im Blick, auf welchem seelischen Reifegrad die Thematik sich entfaltet. Wenn wir den Eindruck haben, dass es mehr um Scham als um Schuld geht, passen wir unser therapeutisches Vorgehen entsprechend (strukturbezogen) an. Gleiches ließe sich auch auf gesellschaftlicher bzw. kollektiver Ebene vollziehen: Die Thematik einer (Kollektiv-)Schuld könnte durchaus mit einem anderen Leitaffekt als Schuld verbunden sein. Und auch hier wäre dann ein differenzierter »diagnostischer Blick« auf die mit den Inhalten verbundenen Affekte wünschenswert. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Psychotherapie ist also auch um diese Perspektive zu ergänzen: Wie wir sie erzählen und wie wir sie hören, hat auch einen kollektiven Kontext, der emotional mit Schuld und Scham verknüpft ist.
14 »Schamangst« ist zukunftsgerichtet, der »eigentliche Schamaffekt« bezieht sich auf die Gegenwart. 15 Subjektpol / Objektpol: Wofür / vor wem wird sich geschämt? 16 In kritischer Rezeption von Wurmsers Scham-Theorie erweitert Seidler (1997) den theoretischen Blick um die Strukturperspektive. 17 Hier ist eine Nähe zu erkennen zu Hirschs Begriff der »Basisschuld« (Hirsch, 2017, S. 127ff.).
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Verantwortung Zusammenfassend lässt sich feststellen: Der »Blick zurück« auf die Geschichte der Psychotherapie in Deutschland ist kein sachlich neutraler. Wir können die Geschichte der Psychotherapie nicht einfach als eine Auflistung von Stationen und Wendepunkten erzählen. Denn dieses Narrativ ist durchzogen von individuellen und kollektiven seelischen Inhalten, welche eben nicht neutral oder gar objektiv, sondern emotional aufgeladen sind. Wir können aber mehrere Perspektiven zugleich einnehmen, können uns dem Thema historisch, gesellschaftspolitisch und psychologisch zugleich nähern. Die aus diesem Befund nahegelegten Schlussfolgerungen scheinen mir beinahe banal: Die Beschäftigung mit der Geschichte sollte den Blick eben gerade nicht nur auf das Vergangene richten. Weder ein moralisch erhobener Zeigefinger noch ein Verschließen der Augen vor der Schrecklichkeit der eigenen Geschichte erscheinen angemessen. Sondern der Blick zurück sollte es uns im Gegenteil ermöglichen, auch den Blick für die Gegenwart und für die Zukunft zu weiten. Es gibt keine »unschuldige« Psychotherapie im Sinne einer objektiven Anwendung der »richtigen Interventionen« bei definierten seelischen Problemlagen. Psychotherapie ist notwendig verwoben mit gesellschaftspolitischen Prozessen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Insofern ist Gaugers Ausspruch, dass die Psychotherapie eine politische Disziplin sei, durchaus zutreffend. Die naheliegende Schlussfolgerung lautet, diese Zusammenhänge kritisch zu untersuchen, statt sie zu verleugnen. Das scheint zunächst einmal recht einfach. Sofern wir den therapeutischen Raum als abgesicherten Raum der Exploration und Entwicklung intrapsychischen Geschehens im interpersonellen Kontext zur Verfügung haben, müssen wir »nur« den Widerhall der gesellschaftlichen Verhältnisse in den spezifischen therapeutischen Begegnungen mitbedenken. Ansätze einer »machtsensiblen Psychotherapie« gibt es durchaus (vgl. Schmechel et al., 2015; Grubner, 2017; Mader et al., 2019). Voraussetzung dafür aber ist es, dass dieser therapeutische Raum auch wirklich sicher ist. Die Schweigepflicht und das Schweigerecht sind dabei nur die äußeren Faktoren, welche die Notwendigkeit einer »Abdichtung« der therapeutischen Begegnung gegen äußerliche Einflüsse verdeutlichen. Komplizierter wird es, wenn dieser Raum bedroht wird, wenn die Grenzen der therapeutischen Begegnung von außen durchbrochen werden sollen. Wenn unsere Behandlungen in irgendeiner Weise relevant sind für straf-, aufenthalts-, entschädigungsrechtliche Fragen, dann ist dieser Rahmen in Gefahr. Wenn unsere Behandlungsberichte dafür verwendet werden sollen (müssen), Entscheidungen über geschlechtsangleichende Maßnahmen von Transpersonen zu tref-
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fen, dann greift das unseren therapeutischen Entwicklungsraum an (vgl. Rauchfleisch, 2016). Wenn die Abschaffung des Gutachtenverfahrens in der ambulanten Psychotherapie in Verbindung mit einer »gesteuerten und gestuften Versorgung« dazu führt, dass wir als Psychotherapeut:innen zukünftig »strategisch diagnostizieren« müssen (vgl. Hauten & Jungclaussen, 2022; Jungclaussen & Hauten, 2022, i. V.), dann stellt auch das eine Gefahr für die psychotherapeutische Integrität dar. Wenn es eine Lehre aus der Geschichte gibt, dann vielleicht diese: Psychotherapie kann einen Raum darstellen, in welchem Menschen als Patient:innen einen gesicherten Ort der Entwicklung und der Linderung ihres Leidens finden können. Psychologisch-psychotherapeutisches Denken kann dabei helfen, die Verbindung von individuellen mit gesellschaftlichen (historischen wie politischen) Prozessen zu untersuchen. Psychotherapie muss geschützt werden: nicht nur als individueller Ort der Behandlung, sondern auch als gesellschaftlicher Ort der Reflexion und Entwicklung. Dafür bedarf es nicht nur unseres professionellen, sondern auch unseres persönlichen und politischen Engagements.
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Transgenerationale Weitergabe von erlittenem Schmerz »Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden davon die Zähne stumpf.« (Jer. 31:29)
In der transgenerationalen Weitergabe von erlittenem Schmerz wird das eigene Unerträgliche in die Söhne und Töchter gelegt. Können traumatische Erfahrungen nicht in der Beziehung zu anderen Menschen verarbeitet werden, werden diese unverarbeitet an Söhne und Töchter weitergegeben. Oft müssen Trauer und Aggression aufgrund der eigenen Überforderung abgewehrt werden, weil das Erlebte zu mächtig ist und nicht mit anderen geteilt werden kann. Manchmal geschieht dies vielleicht in der unbewussten Hoffnung, dass die Kindergeneration das Traumatische aufnehmen und sich dem nicht Integrierbaren annehmen kann. Die Kinder sind überfordert, und das Trauma der Elterngeneration wird zum Fremdkörper, zum Fremden im Subjekt. Es entsteht Leere, etwas nicht Repräsentierbares. Libeskind hat dies in den »voids«, den leeren Räumen, im Jüdischen Museum in Berlin erfasst und künstlerisch umgesetzt. Traumatische Erfahrungen übertragen sich auf die nächste Generation hauptsächlich dann, wenn sie von den Betroffenen nicht verarbeitet und nicht in die Konstruktion eines lebensgeschichtlichen Sinnzusammenhangs eingebettet werden können oder wenn sie nicht verarbeitbar sind (vgl. Tress, 1986). »Nicht die Gestorbenen sind es, die uns heimsuchen, sondern die Lücken, die aufgrund von Geheimnissen anderer in uns zurückgeblieben sind«, schrieb der Psychoanalytiker Nicolas Abraham (1991, S. 692) über die verstörenden Lücken zwischen den Generationen. Der folgende Aufsatz ist aus meiner klinischen Erfahrung mit Analysand:innen entstanden. Nicht zuletzt, um die Intimität des psychoanalytischen Raums zu wahren, werde ich mich auf den Roman »Fluchtstücke« von Anne Michaels beziehen. Der Roman beschäftigt sich unter anderem mit Ben, einem Wetterforscher. Er wird vier Jahre nach der Befreiung seiner Eltern aus einem Vernichtungslager in Kanada geboren. Ich habe das Buch gewählt, weil es Michaels gelingt, sinnlich und lyrisch zu schreiben, ohne abstrakt zu werden. Es beschäftigt sie die Frage, wie Vergangenes verabschiedet werden kann, ohne dass es verraten wird. Es ist ein intensives Buch, das uns tief in Liebe, Schmerz, Trauer, Verzweiflung hineinnimmt, ohne uns als Leser:innen wissen zu lassen, ob es
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Entwicklung geben kann. Die zentralen Stellen, die sich mit dem Aufwachsen Bens beschäftigen, möchte ich im Folgenden zitieren und kommentieren.
Der Schatten Als junger Mann schreibt Ben: »In meiner Familie gab es keinerlei erzählerische Energie, nicht einmal die Kraft der Elegie. Stattdessen trieben unsere Worte davon, als ob unser Haus den Elementen offenstünde und wir ewig in einen starken Wind flüsterten. Meine Eltern und ich wateten durch eine klamme Stille – des Nichthörens und Nichtsprechens. Sie drang in die Möbel, in den nasskalten Lehnstuhl meines Vaters, überzog die Wände mit Schimmel. Wir verständigten uns durch knappe Gesten, Chirurgen im Operationssaal. Als meine Eltern starben, wurde mir klar, dass ich erwartet hatte, die Wohnung würde sich schlagartig mit Geräuschen füllen, die nun in den so lange verbotenen Raum fluteten. Aber kein Laut drang in die Wohnung. Und obwohl ich allein war, Umzugskartons packte und ihre Sachen ordnete, war die Stille jetzt gespenstisch. Weil mir die Räume fast unverändert vorkamen. Ich war überrascht, als ich entdeckte, dass nicht jeder den Schatten, der um die Dinge liegt, wahrnimmt, das Mal der Zersetzung, den schwarzen Umriss, der selbst im hellen Licht an ihnen haftet. Ich sah die Aura der Sterblichkeit, so wie die Schlange ihr Beutetier in Infrarot sieht.« (Michaels, 2000, S. 219f.)
Tod, Sterblichkeit, die Möglichkeit von Vernichtung sind allgegenwärtig. Der Tod als Angst dringt viel zu früh in Bens Leben, Tod als das Ende jeglicher Bedeutung. Nicht jede:r sieht den Schatten der Dinge. Es ist unhörbar, unsichtbar und geheimnisvoll, auf welche Weise Ben die Wahrnehmung der Schatten entwickelt hat. Als gespenstisch erlebt er die Stille der Räume. Das Bild des Gespenstes kommt in vielen Schriften zum transgenerationalem Trauma als Metapher vor. Gespenster existieren eben genau an der Grenzlinie zwischen Leben und Tod, sie sind da und doch nicht da, sind zeitlos, wie die Introjekte der »zweiten Generation«.1 Dass es nicht die Kraft von Erzählung und Elegie gegeben habe, steht vielleicht dafür, dass die Zentrierung aufs Überleben unter permanenter Morddrohung und die Überflutung durch Gewalt die Eltern in eine Welt ohne Metaphorik 1 Unter »zweiter Generation« wird in der psychoanalytischen Literatur primär die Generation der Kinder von Holocaustüberlebenden verstanden. Viele der dabei gewonnen Erkenntnisse gelten auch bezogen auf Kinder, deren Elternteil(e) schwere Traumata und schwere Verluste in anderen Zusammenhängen erlebt haben, z. B. auch Kinder von Kriegskindern. Gerade die psychoanalytischen Studien zur zweiten Generation der Holocaustüberlebenden haben auch gezeigt, dass es vielen Familien aus eigener Kraft gelang, sich mit ihren Kindern Neues aufzubauen, ohne die Kinder in das erlebte Grauen projektiv identifikatorisch hineinzuziehen (Grubrich-Simitis, 1979).
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führte. Ich fühle mich erinnert an Adornos Satz: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (Adorno, 1951). In der psychoanalytischen Traumaforschung wurde wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die Fähigkeit zur Phantasiebildung durch Traumata zerstört werden kann (vgl. Bergmann, 1998, S. 344ff.). Wenn Eltern nicht oder nur affektabgespalten über Traumata sprechen können, stellt sich eine besondere Gefährdung her: »Meine Eltern und ich wateten durch eine klamme Stille des Nichthörens und Nichtsprechens.« Später spricht Ben davon, wie unzusammenhängende Bilder in ihn gepflanzt worden seien. So zeigt der Vater ihm wortlos Fotografien des Grauens. Ich empfinde es als schweres Dilemma, eine gewaltige Herausforderung, über real geschehenes Grauen zu sprechen. In dem Schweigen über unerträgliche Verluste liegt immer primär auch das Bedürfnis, das Kind zu schützen. Das Schweigen wiederum kann bei Kindern zu noch erschreckenderen Phantasien führen (z. B., dass die Eltern selbst gemordet haben) als die reale Erzählung.
Sehnsucht »Ich war nicht älter als fünf Jahre, als ich meine Mutter mit ihren Gartenhandschuhen voller Stolz bei ihren Rosen sah. Selbst damals wußte ich, dass ich mich mein Leben lang danach sehnen würde: meine Mutter, die sich bückt, um Unkraut zu ziehen, Sonnenlicht, ein endloser Tag.« (Michaels, 2000, S. 220)
Der Fluss des Erlebens erfährt Einschnitte, um Gutes zu speichern, um nicht zu vergessen, dass es eine ersehnte Mutter gibt. Das Unkrautziehen mag der Mutter ermöglicht haben, Schlechtes vom Guten zu scheiden, was eine befreiende Wirkung hat, weil es ermöglicht, dass das Böse nicht als Teil des eigenen Selbst erlebt wird. Ein Kind, das mit schwer traumatisierten Eltern aufwächst, nimmt die Erfahrungen oft schon sehr früh in sich auf. Greenacre (1967) schreibt und bezieht sich dabei auch auf vor der Geburt des Kindes liegende Traumata: »[Sie können] vom Kind unmittelbar, fast als ob es ihm selbst zugestoßen wäre, erlebt werden, wenn es sich dabei in einer Phase oder einem Zustand befindet, wo Mechanismen der Introjektion/Projektion vorherrschen.« Gemeinsam hört Ben mit seinem Vater Lieder von Mahler: »Diese Stunden wortloser Nähe formten mein Bild von ihm. Ich atmete ihn ein. Seine Lebensgeschichte, die ich von meiner Mutter kannte, […] vermischte sich mit der Musik. Kuhatem, Kuhmist und frisches Heu auf der schlammigen nächtlichen Straße auf Mahlers Nachhauseweg, das Mondlicht ein Spinnengewebe über den Feldern. In demselben Mondlicht, auf dem Marsch zurück ins Lager, war die Zunge meines Vaters ein pelziger Riemen. […]
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Solange die Symphonie währte, der Liederzyklus, das Quartett, hatte ich Zugang zu ihm. Ich konnte so tun, als gelte seine Aufmerksamkeit mir statt der Musik. Seine Lieblingsstücke waren mir vertraut. […] Seine abwesenden Finger fuhren mir durchs kurze Haar. Die Musik war untrennbar mit seiner Berührung verbunden. Durch den Hosenstoff spürte ich die Form seiner dünnen Beine und konnte kaum glauben, dass es dieselben Beine gewesen waren, die jene Strecken gelaufen waren, die so viele Stunden gestanden hatten. […] Anstatt Geschichten von Drachen, Trollen und Hexen zu lauschen, hörte ich unzusammenhängende Erwähnungen von Kapos, Häftlingen, einer Ess Ess und von dunklen Wäldern, ein Scheiterhaufen aus schwarzen Wörtern.« (Michaels, 2000, S. 232ff.)
Wie bedrohlich sind Märchen, Mythen, Phantasien, wenn sie in der Realität bestätigt werden oder diese noch grausamer ist. Speziell für Kinder von Überlebenden aus Vernichtungslagern wie Ben gilt hier, worauf Grubrich-Simitis (1979, S. 1012) verweist: »Wenn Entsetzlicheres, als sich in oral-kannibalischen oder anal-sadistischen Phantasien ausdenken lässt, unter Zertrümmerung aller Abwehren und reifen Überich-Gebote wirklich und tatsächlich ausgeübt wird, und zwar in unvorstellbarer Größenordnung, so muss dies für die, die Zeugen waren, in einer tiefen psychischen Schicht gleichzeitig den Untergang des Sekundärvorgangs und die Machtergreifung des Primärvorgangs bedeutet haben. Dies wiederum könnte zum Erleben einer totalen inneren Bedrohung durch das eigene Unbewusste und einem verheerenden Schwund des Vertrauens in Symbolisierungs- und Sublimierungsfähigkeit […] geführt haben.«
Übertragungen Um Subjekt zu werden, braucht es die Phantasien und Übertragungen der Elterngeneration. Eine Transmission zwischen den Generationen passiert immer. Laplanche (1988) unterscheidet von diesem ubiquitären Prozess die »Intromission«, in der ein Elternteil in die Seele des Kindes eindringt. Dieser Prozess verhindere die Entstehung von psychischem Raum und von Differenzierung. Ich denke, dass sich die Übertragungen zwischen schwer traumatisierten Eltern und ihren Kindern durch die Schwere und ihren zwingenden Charakter von ubiquitär stattfindender Transmission unterscheiden. Hinzu kommt möglicherweise auch eine Widersprüchlichkeit in den Übertragungen, die zwischen Opfer- und Täter:in-Introjekten oszillieren. Die Rollen wechseln, beides wird projiziert. Judith Kestenberg (1979) beschreibt den Mechanismus, wie sich Kinder der zweiten Generation in ihre Eltern versetzen, als »Transposition« und betont, dass dieser Vorgang jenseits der Identifizierung liege. Kinder würden sich in die Vergangenheit ihrer Eltern so total zurückversetzen, dass sie sowohl in der
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Vergangenheit der Eltern als auch in ihrer eigenen Gegenwart lebten: »Die Vergangenheit meiner Eltern ist molekularisch auch die meine« (Michaels, 2000, S. 301). Teile von Bens Seele leben bei den Toten. »Selbst der Humor meines Vaters war schweigsam. Er zeichnete Dinge für mich, Bildgeschichten, Karikaturen, Haushaltsgeräte mit menschlichen Gesichtern. Seine Zeichnungen gaben einen flüchtigen Eindruck: wie er die Dinge sah. Ist ein Apfel etwas zu essen? Ja. Und du wirfst Essen weg? Du – mein Sohn – du wirfst Essen weg? Er ist verfault. Iss ihn … iss ihn auf! Pa, er ist verfault – den ess ich nicht! Er drückte ihn mir gegen die Zähne, bis ich den Mund aufmachte. Ich würgte, schluchzte und aß. Der übersüße, braune Geschmack, Tränen. Jahre später, als ich allein lebte und Essensreste wegwarf oder im Restaurant etwas auf dem Teller zurückließ, wurde ich in meinen Träumen von traurigen Karikaturen verfolgt.« (Ebd., S. 235)
Die Szene verdeutlicht, wie je nach Traumatisierung die psychosexuelle Entwicklung des Kindes unterschiedlich berührt wird. So lässt sich vorstellen, dass eine Mutter, die einen schweren frühen Verlust erlebte, diesen in »oraler Sprache« an ihr Kind weitergibt. Oder dass eine Mutter, deren Leben durch Hunger bedroht war, möglicherweise beim Stillen und Füttern ihres Kindes die unbewusste Phantasie haben wird, es gehe um Leben und Tod.
Narzisstische Wiedergutmachungsversuche Ben versucht für den Vater, zum virtuosen Klavierspieler zu werden, scheitert aber an dessen Perfektionismus. Fühlt Ben, dass er die Ideale des Vaters nicht wird erfüllen können? Der Auftrag, Ordnung, Ganzheit wiederherzustellen, wird verfehlt. Als Lagergefangener wird der Vater über lange Zeit und weitgehend ohne narzisstische Zufuhr von außen gelebt haben und sich unbewusst vom Sohn narzisstische Wiederherstellung wünschen. Kestenberg beschreibt, dass überlebende Väter manchmal das (erstgeborene) Kind zu überragenden Leistungen antreiben wollten, um das eigene Überleben zu rechtfertigen (Kestenberg, 1998, S. 185). Ben fühlt sich in den Vater und seine Musik ein, um ihm nahe zu sein, möglicherweise mit der unbewussten Phantasie, die narzisstische Wunde des Vaters zu heilen. Ben erinnert sich, wie er seinen Vater erlebte, nachdem er das Klavierspielen aufgegeben hatte:
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»Mein Vater und ich gingen am Ufer entlang, als ihm ein kleiner Stein auffiel, der die Form eines Vogels hatte. Als er ihn aufnahm, bemerkte ich das kurze zufriedene Aufleuchten in seinem Gesicht und spürte in dem einen Moment, dass ich ihn weniger zu erfreuen imstande war als ein Stein.« (Michaels, 2000, S. 236)
Diese Erinnerung erscheint wie eine Deckerinnerung, die die narzisstische Konflikthaftigkeit der Vater-Sohn-Beziehung verdichtet. Die Nicht-Perfektion im Klavierspiel führt in der Phantasie von Ben / in der inneren Realität des Vaters zur katastrophalen narzisstischen Ausstoßung. Als sage der Vater: »Du vermagst es nicht, mich glücklich zu machen. Lieber hätte ich einen Stein zum Sohn, der nicht enttäuscht.« An anderer Stelle wird erwähnt, dass Ben eine Steinsammlung hatte, vielleicht eine Sammlung traumatisch versteinerter Seelen, vielleicht auch ein versteinertes Denkmal. Wichtig ist mir, dass es sich bei den Übertragungsprozessen zwischen den Generationen (wie auch allgemein bei Übertragungen) nicht um die realen Erlebnisse der Eltern handelt, die im Kind ankommen. Das Aufgenommene wird vielfach umgeformt, den eigenen Phantasien und Konflikten unterworfen und entlang der eigenen Schöpfungskraft des Kindes bearbeitet. Dies wird dann nochmals durch die Trieb- und Ich-Entwicklung gebrochen: Je nach Entwicklungsphase wird die Transmission in orale, anale, narzisstische, ödipale Themen etc. eingeflochten.
Retter Als Ben elf ist, klettert er nachts aus dem Fenster und rennt voller Angst durch den Wald: »Am Morgen sah ich, dass meine Beine mit Schlamm und teerfarbenem Blut von Stichen und Schrammen verschmiert waren.« (Ebd., S. 238)
Er wiederholt den Gang noch zweimal, in der Hoffnung, dadurch seine nächtliche Angst zu verlieren. So entsteht eine Szene, die dem ursprünglichen Trauma der Eltern nahekommen mag: »Meine Abenteuer bestanden immer aus genialen Plänen, die darauf zielten, meine Eltern vor Feinden zu retten, vor Soldaten von einem anderen Stern.« (Ebd., S. 264)
Er wird zum Beschützer seiner Eltern, versucht, die Rettung nachzuholen. Durch eine Handlung soll der Schrecken genommen werden. Ben mag unbewusst hoffen, der inneren Realität das Grauen nehmen zu können, indem er konkret handelt. Vielleicht erscheint sein Vater ihm auch als Held des Überlebens, und Ben ringt damit, es ihm gleichzutun.
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Gleichzeitig benutzt er seine Phantasien dazu, die Getrenntheit nicht wahrzunehmen, keinen Unterschied zwischen sich und den Eltern zuzulassen. Es wird die Illusion geschaffen, schon im Prätraumatischen zusammen gewesen zu sein. Dies ist tröstend und erlaubt es dem Sohn, sich nicht ausgeschlossen fühlen zu müssen aus diesem so entscheidenden Teil des Lebens seiner Eltern. Diese sollen gerettet werden, und es wird die Einheit gesucht, um Schutz zu finden. Der Sohn wird zum memorial seiner Eltern, was seine Autonomie begrenzt und ödipale aggressive Wünsche zumindest sehr schwer erträglich macht oder verunmöglicht. Faimberg (1985) hat den Begriff »telescoping« geprägt, um zu beschreiben, wie sich zwischen den Generationen die innerpsychischen Themen, die emotionalen Erblasten, ineinanderschieben, sodass Ablösung und Differenzierung zwischen Eltern und Kind verunmöglicht werden. Von Troje (2000) stammt das Bild einer »Verzahnung des Unbewussten« zwischen Subjekten verschiedener Generationen. Das Zeiterleben der zweiten Generation verschiebt sich. Psychisch leben die Kinder auch dort, wo der Fluss des Lebens der Eltern gewaltsam unterbrochen wurde. Die reale Zeit bleibt stehen, die Zeit im »damals« wiederholt sich ewiglich. Sie übernehmen die Rollen, die die Eltern gebraucht hätten, oder suchen danach, die Verluste zu ersetzen. Das Schreckliche soll wiedergutgemacht werden. Das Kind braucht dringlich heile Eltern und versucht, die Eltern heil zu machen. Es ist sehr schmerzhaft für Ben, wenn er spürt, dass es nicht gelingt. Dies macht er mit der Erinnerung an den Stein deutlich. Orientiert sich das eigene Leben an der Lebenszeit der Eltern, friert das eigene Zeitgefühl ein, die Zeit bleibt stehen. Grubrich-Simitis (1979, S. 1008f.) beschreibt als Auftrag an Kinder von KZÜberlebenden: »[S]ie sollen als Retter in die psychotische Welt des Konzentrationslagers zurückkehren und dafür sorgen, dass die Eltern diesmal nicht als beschädigte, gedemütigte Opfer daraus hervorgehen; sie sollen den abgewehrten Haß der Eltern agierend, die an ihnen vergangenen Verbrechen rächen oder, im eigenen ungelebten Leben wie versteinert, als Denkmal für diese Verbrechen zeugen […]; sie sollen die Eltern trösten, […] für sie die Trauerarbeit tun.« »Als ich elf oder zwölf war, erfuhr ich aus Gesprächen mit meiner Mutter, dass die, die ein Handwerk konnten, eine größere Überlebenschance hatten.« (Michaels, 2000, S. 242)
Begierig stürzt Ben sich auf Bücher wie »Elektronik für Anfänger«. Er möchte es gut machen, ein Existenzrecht haben neben Eltern, denen es unter mörderischen Verhältnissen gelungen war, zu überleben. Es lässt sich vorstellen, wie schwer es für den kleinen Jungen ist, mit dem Vater zu rivalisieren. Vielleicht haben Bens Eltern die Phantasie, durch ihre Geschicklichkeit, durch ihren Arbeitseinsatz,
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überlebt zu haben. Handwerk wird zur Existenzrettung. Dies kann zur Folge haben, dass freies Spiel als unnütz begriffen wird. Kestenberg (1998, S. 206) hat den Eindruck, dass das Bild eines verfolgten hilflosen Vaters bedrohlicher ist als das einer zum Opfer gewordenen Mutter. Und Väter, so schreibt sie, würden sich mehr schämen und deshalb möglicherweise mehr darauf angewiesen fühlen, dass ihr Überleben durch ihre Kinder gerechtfertigt werde.
Wache halten »Ich wußte, dass meine Eltern ebenfalls wach lagen, unsere Schlaflosigkeit, ein altes Übereinkommen, Wache zu halten.« (Michaels, 2000, S. 249)
Die Angst der Eltern führt dazu, dass der Sohn sich einflicht in die Phantasiewelt der Eltern. Ben nimmt die Todesangst seiner Eltern auf und birgt sie in seiner Seele. In der Schlaflosigkeit kann nicht geträumt werden; die Möglichkeit, über das Träumen Bedrohliches zu bearbeiten, Unerträgliches, Ängste und auch Wünsche zu verwandeln, in Reiferes zu verwandeln, ist genommen. Winnicott (1960) hat den Traum mit der größeren Freiheit in Verbindung gesetzt, mit »internalisierten Objekten zu spielen«; Michaels mag die Schlaflosigkeit auch deshalb beschrieben haben, um zu zeigen, wie dieses »freiere Spiel« in der ersten und zweiten Generation verfolgter Jüd:innen erschwert war. Das Traumatische für die zweite Generation liegt nicht in Vernachlässigung, Verlusten, Misshandlungen etc., sondern in der sich kumulierenden Erfahrung von Überforderung, darin, sich für das Wohlergehen des Elternteils zuständig zu fühlen. Dafür mussten Ich-Funktionen wie Wachsamkeit, Sorge und Verantwortung übermäßig früh und stark ausgebildet werden. So kommt es zu einem Nebeneinander von Reife und Nichtreife (Letzteres z. B. im psychosexuellen Bereich und im Körper-Ich). Da es um Leben und Tod geht, lastet auf den Kindern eine Verantwortung und Schwere. Die Eltern wollen durch das Kind zum Leben finden – anstatt dass es von ihnen ins Leben verführt wird. Erfahrungen aus Psychoanalysen weisen darauf hin, dass besonders Erstgeborene und Einzelkinder in der zweiten Generation den Projektionen und projektiven Identifizierungen der Eltern ausgesetzt sind (Grubrich-Simitis, 1979). Paul Williams (2005) beschreibt auf dem Hintergrund von Bion die Invasivität von Introjekten, die vom Kind als Fremdkörper erlebt werden, die es nicht kontrollieren kann. Dies kann sich auch im körperlichem Erleben unerträglicher innerer Zustände zeigen. Introjiziert werden Aspekte des Elternteils, die als überwältigend und vereinnahmend erfahren werden.
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Trennendes als Gefahr »Eine lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich meine ganze Energie damit aufgebraucht hatte, die Wohnung meiner Eltern zu verlassen.« (Michaels, 2000, S. 250)
Selbst kleine Trennungen können von traumatisierten Eltern als Verlassenwerden erlebt werden. Im Kind kommt es zu unerträglicher Trennungsschuld. Autonomie/Trennungsschritte werden im Erleben zum Töten-der-Eltern. Bei Ben könnte sich die Überlebensschuld der Eltern in seine Trennungsschuld mischen. Er ist den Eltern etwas schuldig dafür, dass er lebt. Die Trennung von den Eltern könnte für Ben bedeuten, sie doch dem Tod zu überlassen. Aggressives und Trennendes bedeuten Gefahr und Gewalt für die erste Generation, die von Verlust und Gewalt traumatisiert wurde. Das bedeutet, dass das Kind Aggression, auch Trennungsaggression, vermeidet, um die Eltern zu schützen. Aggression und Destruktivität verschwimmen. Dies hat zur Folge, dass normale aggressive Impulse, Lebendigkeit und Lautheit als Angriff erlebt werden. Der Vater wird sich kaum zur Verfügung haben stellen können zum Erproben von Aggression, wobei gerade für Jungen die Modulierung aggressiver Affekte und Phantasien bedeutsam ist für die männliche Kernidentität. Wie sich mit Todeswünschen auseinandersetzen, wozu es die »Winnicott’sche« Gewissheit braucht, dass Phantasien nicht gefährlich sind, das Objekt also überlebt, wenn Eltern sich tatsächlich angegriffen fühlen von kindlicher Phantasie? Das eigene Destruktive kann nicht entgiftet werden. Vielleicht ist es deshalb so still in Bens Familie, weil es gefährlich ist, zu verbalisieren, wenn man nicht weiß, ob den Worten Taten folgen. Und die Eltern mussten selbst viel Aggressives zurückhalten, gegenüber den Täter:innen, aber möglicherweise auch gegenüber den verlorenen Familienmitgliedern. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Eltern das Kind unbewusst mit den Verfolger:innen in Verbindung setzen. Die Unmöglichkeit, Wut offen zu zeigen, ohne dadurch zum »kleinen Hitler« zu werden, kann im Kind Todesangst auslösen und Überlebensschuld steigern (vgl. Bergmann, 1998, S. 350). Grubrich-Simitis (1979, S. 1010) beschreibt, dass traumatisierte Eltern oftmals erschrecken »vor den entwicklungsgemäßen aggressiven Äußerungen des Kindes; dessen Sich-Abgrenzen, Rivalisieren, wird nicht zuletzt deshalb als so zerstörerisch wahrgenommen, weil es die prekäre Abwehr der Eltern gegen die aus der Zeit der Verfolgung aufgestauten Haß- und Racheimpulse zusätzlich unter Druck setzt.« So werde das Austragen von Konflikten, das Einüben von Ambivalenz erschwert, was zu einem archaischen Über-Ich des Kindes beitragen könne.
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In Phasen der Individuation braucht es rivalisierende, aggressive Impulse und eine möglichst schuldfreie Bewegungsfähigkeit. Ben fasst dies in Worte: »Meine Eltern und ich wateten durch eine klamme Stille« (Michaels, 2000, S. 219).
Verschwinden »[D]ie Geschichte läßt nur scheinbar von dir ab, während sie in Wirklichkeit in dir weiterwächst, bis sie dich ganz zugeschüttet hat und du dich nicht mehr regen kannst. Und dann verlierst du dich in einem Musikstück, in einer Kommode, vielleicht in dem einen oder anderen Krankenbericht, du verschwindest, verlassen selbst von denen, die behaupten, dich am meisten zu lieben.« (Ebd., S. 262)
Die eigene Individualität wird aufgegeben. Um seine Eltern vor dem Tod zu schützen, hält Ben seine Seele in einem Zustand der Abgestorbenheit. Die Identifizierung nimmt die Geschichte der anderen auf, die wie ein Fremdkörper in der Romanfigur lebt. Dieser Fremdkörper hat ihn mehr und mehr absterben lassen. Ben nähert sich dem Schmerz, anzuerkennen, dass er nicht als eigenständiges Subjekt geliebt wurde, und fühlt sich verlassen. Dies würde auch in einer analytischen Behandlung gespürt werden, umfangen durch den:die Analytiker:in und seine:ihre Anwesenheit. Ben hat nun eine Freundin, Naomi. Doch wie soll eigene Intentionalität und Sinnhaftigkeit entstehen in einer Vorgeschichte von industrialisiertem Mord, einer unglaublichen Sinnlosigkeit von Vernichtung? Wie kann es gelingen zu lieben? »Aber für mich war die Liebe, als hielte ich den Atem an. Naomi stand auf festem Boden und streckte ihren Arm aus. Ich ergriff ihre Hand, aber sonst rührte ich mich nicht.« (Ebd., S. 252)
Wie kann es gelingen, Liebe und Aggression zu trennen? Wie kann es gelingen, sich zu befreien aus der Verstrickung von Schuld und Mörderischem? Ben fürchtet, dass die Geschichte immer weiterwächst. »Naomi sagt, dass ein Kind die Furcht nicht erben muss. Aber wer kann die Furcht vom Körper trennen? Die Vergangenheit meiner Eltern ist molekularisch auch die meine. Naomi glaubt, sie könnte den Soldaten, der in den Mund meines Vaters gespuckt hat, daran hindern, dass er über das Blut meines Vaters auch in meinen spuckt. Ich möchte daran glauben, dass sie mir die Furcht aus dem Mund spülen kann. Aber ich stelle mir vor, dass Naomi ein Kind hat und ich die Schrift auf seiner Stirn nicht daran hindern kann, gemeinsam mit ihm zu wachsen. Es ist nicht der Anblick der Nummer, der mir Angst macht, selbst wenn sie sich wuchernd über seine Haut ausbreitet. Es ist die Angst, dass ich dies durch mein Zusehen, meine Erwartung bewirke.« (Ebd., S. 301)
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Die Geschichte schüttet Ben zu. »Seine« Schuld wird sich in die nächste Generation übertragen, so empfindet er. Das zeigt, dass die Realität des Traumas seiner Eltern von ihm als Teil seiner selbst phantasiert wird. Die traumatische Gewalt, die der Elterngeneration widerfuhr, überrollt das Ich des Kindes. Hirsch (2007, S. 287) schreibt, dass umso eher Introjekte implantiert werden, die im Kind als Fremdkörper, »als wahrlich Fremdes« wirken, je früher Eltern Verluste erlebt haben und je weniger sie trauern konnten. Nicht die Trauer werde introjiziert, sondern das Loch, also der unbewältigte Verlust. Diese Form von Introjekten könne nicht assimiliert werden. Schon in den Eltern blieben sie unverdaut. Hirsch beschreibt, dass diese unverdauliche psychische Nahrung nicht verweigert werden kann, sie könne nur isoliert gehalten werden. Die fremdkörperhaften Introjekte seien in Symptomen, Träumen, Emotionen wirksam, entzögen sich aber dem Verstehen. Die Kinder versuchen, die Eltern lebendiger zu machen, z. B. sie zu bemuttern oder ihnen Leben ins Haus zu bringen. »Naomi trampelte mit einer Offenheit herein, ihrem kanadischen guten Willen, scheinbar blind gegen die feinen Linien des Schmerzes, der zärtlich gepflegten Bitterkeit, das Netz der Absprachen, die kunstvollen Tabus. […] Eine Ausländerin, eine Fremde in unserer Mitte, drang in die Intimsphäre unserer Wohnung ein und anstatt unsere Heimlichkeiten auffliegen zu lassen, hatte sie einfach Blumen mitgebracht.« (Ebd., S. 270) »Die Vergangenheit ist verzweifelte Energie, aufgeladen, ein Spannungsfeld. Sie sucht sich für ihr Eindringen einen bestimmten Moment, eine so gewöhnliche Situation, dass wir nicht einmal merken, dass sie plötzlich da ist, einen Moment, der uns hinterrücks überfällt und alles, was folgt, unwiderruflich verändert.« (Ebd., S. 272)
Angela Moré (2013, S. 10) beschreibt, wie sich die Kinder in der zweiten Generation teilweise wie in zwei parallelen Zeiten lebend erfahren, von welchen sie die eine als gegenwärtig empfänden, die andere dagegen oft nicht wirklich konkret fassen könnten, »sondern als einen dunklen Sog in etwas unbekanntes Vergangenes« erlebten. Was von den Erfahrungen der Überlebenden in der zweiten Generation in Träumen, Affekten, Stimmungen und bewussten wie unbewussten Vorstellungen ankommt, seien »rätselhafte, unintegrierbare Bilder«, Gefühle von (Selbst-)Fremdheit und Rätselhaftigkeit. Die Eltern Bens nehmen ein Geheimnis mit ins Grab. Ben findet ein Foto, auf dem die Eltern Anfang der vierziger Jahre in Europa mit ihren zwei kleinen Kindern – von denen er nichts wusste – zu sehen sind. Dies ist ein kaum erträglicher Schock für ihn, an dem fast die Beziehung zu seiner Frau Naomi zerbricht. Bens Eltern ließen ihn mit dieser Information nach ihrem Tod allein. Er mag in der Tiefe spüren, wie er unbewusst versucht hat, den Eltern ihre verlorenen idealisierten Liebesobjekte zu ersetzen, und dass es ihn erdrückt hat.
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Gleichzeitig hat er sich selbst ausgelöscht, so wie die beiden Geschwister gewaltsam ausgelöscht wurden. Grubrich-Simitis (1979) beschreibt, wie Kinder der zweiten Generation in abgebrochene Biografien schlüpfen sollen, also den Verlust der ermordeten Kinder ungeschehen machen sollen. So zeigt auch die Arbeit von Familientherapeut:innen, dass Kinder durch reale Ereignisse beeinflusst werden, die sie nicht kennen, die ein Familiengeheimnis bilden (Herzog, 1998, S. 130). Ben verkörperte ein Stück weit die verlorenen Kinder, ohne von ihnen zu wissen. Es ist ihm wichtig, zu erzählen: »Meine Eltern hofften, dass der Todesengel vielleicht an ihnen vorübergehen würde, wenn sie mir keinen Namen gaben. Ben – nicht von Benjamin, sondern nur ben – das hebräische Wort für Sohn.« (Michaels, 2000, S. 273)
Ilany Kogan (1990) geht davon aus, dass Kinder von Eltern, die schwere Verluste erlebt haben, versuchen, die inneren Objekte der Eltern wiederherzustellen, was mit der Aufgabe des eigenen Selbst einhergehe. Auch der Mentalisierungstheoretiker Fonagy (2003, S. 180ff.) beschäftigt sich mit dem Übertragungsvorgang zwischen den Generationen. Dem Säugling erscheinen laut Fonagy die psychischen Stimmungen der Mutter (Angst, Verzweiflung, Trauer), die mit Traumata, Verlusten etc. in Zusammenhang stehen, als »Antworten auf sein Sein« und er internalisiere sie. Es entstehe ein fremdes Selbst. Dieses Fremde und Unerträgliche müsse dann per Dissoziation oder Projektion wieder externalisiert werden, was unter anderem zu einem Gefühl der Leere führe. Diese Selbstanteile existieren Fonagy zufolge im »Niemandsland«, getrennt von der übrigen Psyche. »Die meisten entdecken für sich selber, was Verlust ist; Bäume werden ausgerissen, und Trauer überflutet die Lichtung. Dann wissen wir, was wir geliebt haben. Aber ich wurde schon in den Verlust hineingeboren. Die Geschichte hatte bereits einen Ort mit moderndem Unterholz hinterlassen, mit Würmern, die sich durch Erde fressen, in der es keine Wurzeln mehr gibt. […] Da lebte ich mit meinen Eltern. Ein von Schmerz gezeichnetes Versteck.« (Michaels, 2000, S. 251f.)
Hierbei handelt es sich nicht um wirkliche Trauer, eher um ein trauriges Sein im entlehnten Leben.
Entweihung und Akzeptanz Es ist etwas passiert: Ben befreundet sich mit einem jüdischen Mann, Jakob, der als Junge in einem Erdloch in Polen überlebt hat. Zwischen den beiden und Jakobs Frau entwickelt sich eine tiefere Beziehung. Als die beiden bei einem Unfall sterben, fährt Ben nach Griechenland, um ihre Wohnung aufzulösen. Ben holt dann die Amerikanerin Petra in das Haus hinein. Sie ist seit drei Monaten seine Geliebte und sie begreift, benennt, dass es sich bei dem Haus um
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eine Weihestätte, »einen Schrein«, handele; »sie ging hindurch wie in einem Museum« (Michaels, 2000, S. 299). Petra zieht sich nackt aus und sie lieben sich auf dem Fußboden des Hauses. Ben schläft ein und Petra reißt währenddessen die Bücher aus den Regalen, durchwühlt die Sachen Jakobs. Petra wütet. Als er erwacht, wirft Ben sie hinaus, stellt die Ordnung wieder her. »Im Zeitraum von vielleicht einer Stunde hatte sie jedes Zimmer geplündert. Den größten Schaden hatte sie in deinem [Jakobs] Arbeitszimmer angerichtet. Die Gegenstände auf dem Tisch waren durcheinander geworfen, die Schubladen hingen heraus, offengelassene Bücher, die kurz angesehen und dann wieder weggelegt worden waren, türmten sich willkürlich auf einem Stuhl.« (Ebd., S. 305)
Freigelegt durch die Lücken im Bücherregal, findet Ben nun die Tagebücher Jakobs, nach denen er bisher vergeblich gesucht hatte. Ben liest: »Die Zeit ist eine blinde Führerin … bei den Toten bleiben, heißt sie verlassen …« (ebd.). Petra hatte in ihrem Wüten die räumliche Voraussetzung geschaffen, dass Ben die Tagebücher finden konnte. Wieder stoßen wir auf eine Konkretisierung im Räumlichen: Anfangs waren es die an Tod gemahnenden Schatten der Möbel, in die projiziert wurde. Nun werden die Einrichtungsgegenstände konkret attackiert. Ohne diesen blasphemischen Akt hätte Ben die Bücher nicht gefunden. Petras Wut (ich sehe Petra hier auch als Selbstanteil Bens) hat ganz konkret den Blick auf die Bücher freigelegt und einen inneren Prozess in Ben befördert. Sie wehrt sich gegen die Zerstörung der Menschlichkeit durch verfluchte Erbschaften, gegen den Missbrauch der zweiten Generation. Sie haut Ben seine ZweiteGeneration-Identität um die Ohren als die Zumutung, die sie ist. Nachdem Ben monatelang nur den Schrein abstauben und hüten konnte, birgt nun das Chaos auch die Hoffnung auf Neuordnung. Es brauchte den Mut, die Eltern/Jakob zu enttäuschen und eine bisherige Ordnung willkürlich zu zerstören, ohne zu wissen, was daraus erwächst. Es brauchte die Unverfrorenheit Petras. Erwachsenwerden bedeutet immer auch, schuldig zu werden. In der unbewussten Phantasie, so Winnicott (1974), ist das Erwachsenwerden naturgegeben etwas Aggressives. Der Schritt des Erwachsenwerdens werde über die Leiche eines Erwachsenen vollzogen. Jeder junge Erwachsene hat berechtigterweise Angst vor diesem Schritt, und wie viel schwerer ist es für Kinder von traumatisierten Menschen. Ben findet zu der Erlaubnis einer Ablösung von den toten Eltern und deren Schicksal. Die Suche Bens wirkt auch wie eine Trauerreise, auf der er seine Fixierung auf die Trauer der Eltern ein Stück weit auflösen kann und zum »Recht« auf eigene Trauer und eigenes Unglück findet. Die Wut schafft die Möglichkeit zur Trauer und Entidealisierung. Die paranoide Schuld wird im Weiteren nach und nach zu depressiver Schuld, zu Sorge um den Nachlass und zur Auseinandersetzung mit
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den Erinnerungen Jakobs. Dies ist eine Entwicklung, deren Beförderung auch eine Psychoanalyse zu bewirken sucht. Es wird möglich, in der eigenen Zeit anzukommen und das Eigene von dem der Eltern zu trennen. Grubrich-Simitis (1998, S. 361) beschreibt als wichtige Phase in der Analyse von Patient:innen, die Kinder von Holocaust-Überlebenden sind, die »Phase des gemeinsamen Akzeptierens der Holocaust-Wirklichkeit«. Dieses Akzeptieren des Gewesenen scheint Ben durchlebt zu haben mithilfe der Freundschaft zu Jakob, einem Überlebenden, und über seine erneute Auseinandersetzung mit dessen Nachlass. Diese Phase des Akzeptierens sei essenziell, und zu ihr gehöre auch, zu erkennen, dass diese Wirklichkeit vergangen ist »und sie als solche allein zum Leben der Eltern gehört, also vom Patienten nicht rückgängig gemacht werden kann« (ebd., S. 373). Ich denke, dass diese Phase mit einer Ablösung von unbewusst übernommener Schuld einhergeht. Nun kann Ben eigene Aggression und eigene Schuld erleben; z. B. schmeißt er Petra raus und macht sich durch den Betrug an Naomi schuldig, was er auf dem Rückflug in Worte fassen kann. Ben fand im Entflammtsein in einer erotischen und aggressiven Begegnung zum befreienden Blick auf sich und kann nun Abschied nehmen von dem Haus. Verschoben auf Jakob, bearbeitete er seine transgenerationalen Konflikte mit seinen Eltern. Dies scheint eine Triangulierung zu ermöglichen und für Ben leichter zu sein als die direkte Auseinandersetzung mit den Eltern. Wieder sind es Dritte (Jakob, Petra), die Entwicklung ermöglichen. Das Buch endet mit dem Rückflug zu seiner Frau. Fast der allerletzte Satz des Romans lautet: »In meinem Hotelzimmer […] erlebe ich zum ersten Mal das Gefühl gewöhnlicher Trauer. Endlich gehört mein Unglück mir allein.« (Ebd., S. 315)
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Die Autor:innen
Dipl.-Psych. Torsten Bendias arbeitet in eigener Praxis mit den Schwerpunkten tiefenpsychologische Therapie, Psychotraumatherapie sowie Behandlung von Arbeitsstörungen. Er engagiert sich im Beratungsprojekt Avancadi. Dr. phil. Bettina Ganse ist Psychoanalytikerin und Gruppenanalytikerin (d3G) sowie Lehranalytikerin (DPG/IPA). Ihre Schwerpunkte sind Psychoanalyse und Kunst, Psychoanalyse und Weiblichkeit sowie Prozesse in Großgruppen. Dr. phil. Dipl.-Psych. Roland Geckle ist niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut und Mitarbeiter am Institut für ppt mit Schwerpunkt »Analyse und Gestaltung der therapeutischen Beziehung«. Dr. phil. M.Sc. Psych. Karl Haller ist Psychologischer Psychotherapeut und in der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie (CVK), Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie in einer psychotherapeutischen Praxis in Berlin tätig. Kontakt: [email protected] Dr. phil. Dipl.-Psych. Lars Hauten ist niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut (TP/AP) in Berlin. Zudem hat er diverse Lehraufträge und arbeitet als Psychotherapie-Gutachter (TP). Claudia Heinze studierte Bildende Kunst und Spanisch auf Lehramt an der Universität der Künste Berlin, der Humboldt Universität zu Berlin sowie an der Universidad Nacional de las Artes in Buenos Aires. Den Master of Education wird sie voraussichtlich im Juli 2022 an der Universität der Künste Berlin abschließen. Katrin Kriszick ist Diplom-Sozialpädagogin und systemische Beraterin (DGSF). Sie ist tätig in den Bereichen der psychosozialen Mitarbeiter:innenberatung, des Coachings und des Gesundheitsmanagements. Sie verfügt über langjährige Er-
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Die Autor:innen
fahrungen in der psychosozialen und sozialrechtlichen Beratung sowie der Wohnungslosenhilfe. Dr. rer. medic. Dipl.-Psych. Moritz Petzold ist Psychologischer Psychotherapeut und arbeitet in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (CCM), Charité – Universitätsmedizin Berlin. Kontakt: [email protected] Fritzi Rother ist Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, M.A. Sozialmanagement, Systemische Beraterin (DGSF) und aktuell tätig als Fachberatung im Bereich der sozialraumorientierten Arbeit. Kontakt: [email protected] Johanna Sprenger studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft, Anglistik und Gender, Media and Culture in Leipzig, Valencia und London und arbeitet derzeit als Medienpädagogin. Neben der Arbeit in der Erwachsenenbildung hält sie soziologische Seminare mit einem Schwerpunkt auf Gender und leitet eine Mädchen-AG an einer Schule. Zu ihren Themenschwerpunkten zählen soziale Medien und Selbstdarstellung, Diversität und Intersektionalität sowie gendersensible pädagogische Begleitung. Dr. phil. Dipl.-Psych. Stefan Trobisch-Lütge ist Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, und Trauma-Therapeut (EMDR). Er ist Leiter der Beratungsstelle Gegenwind für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur und tätig als Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut und Supervisor in eigener Praxis.