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German Pages [341] Year 2020
Birgit Huemer, Ursula Doleschal, Ruth Wiederkehr, Katrin Girgensohn, Sabine Dengscherz, Melanie Brinkschulte, Carmen Mertlitsch (Hg.)
Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin Diskursübergreifende Perspektiven
Schreibwissenschaft Band 2
Schreibwissenschaft, Band 2 Herausgegeben von Sabine Dengscherz, Birgit Huemer, Markus Rheindorf, Karin Wetschanow Wissenschaftlicher Beirat Gerd Bräuer, Melanie Brinkschulte, Ursula Doleschal, Christiane Donahue, Ursula Esterl, Ilona Feld-Knapp, Katrin Girgensohn, Helmut Gruber, Sara Hägi-Mead, Carmen Heine, Věra Janíková, Dagmar Knorr, Otto Kruse, Benedikt Lutz, Daniel Perrin, Angelika Redder, Martin Reisigl, Annemarie Saxalber-Tetter, Sabine Schmölzer-Eibinger, Andrea Scott, Christine Sing, Winfried Thielmann
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed
Birgit Huemer, Ursula Doleschal, Ruth Wiederkehr, Katrin Girgensohn, Sabine Dengscherz, Melanie Brinkschulte, Carmen Mertlitsch (Hg.)
Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin Diskursübergreifende Perspektiven
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Robert Dengscherz Korrektorat: Dore Wilken Umschlaggestaltung: Michael Haderer nach einer Idee von Robert Dengscherz Satz: Bettina Waringer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-20976-8
INHALT
Über diesen Band: Ergebnisse eines innovativen Tagungskonzeptes . . . . 9 Birgit Huemer, Ursula Doleschal, Jennifer Steiner, Carmen Mertlitsch Teil 1: Grundsätzliche Überlegungen zur Schreibwissenschaft Disziplin Schreibwissenschaft? Kritische Überlegungen zur Entwicklung einer „Practical Art“ . . . . . . Katrin Girgensohn, Stefanie Haacke, Andrea Karsten
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Methoden für die Schreibwissenschaft: Ein vergleichender Literaturüberblick systematischer Darstellungen . . . Melanie Brinkschulte, Ella Grieshammer, David Kreitz
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Die deutschsprachige Schreibwissenschaft unter interkultureller Perspektive: Vorschläge für ein Forschungsprogramm . . . 65 Helmut Gruber Teil 2: Querschnittsthemen der Schreibwissenschaft Schreibzentrumsarbeit als Gegenstand der Schreibwissenschaft: Skizzierung diskursübergreifender Forschungs- und Entwicklungsfelder . . 89 Gerd Bräuer „Mein Thema ist, dass Emotionen darüber bestimmen, wie wir uns im Schreibprozess verhalten“ – ein Interview mit Gabriela Ruhmann . . . 111 David Kreitz
Digitale Schreibtechnologie: Entwicklungen, Anforderungen und Kompetenzen . . . . . . . . . . 129 Otto Kruse und Christian Rapp Sprachensensibilität als Merkmal der Schreibwissenschaft . . . . . . . 153 Dagmar Knorr Teil 3: Disziplinenspezifische Perspektiven auf die Schreibwissenschaft Linguistische Zugänge zum wissenschaftlichen Schreiben . . . . . . . 173 Angelika Redder Schreibprozesse erforschen und darstellen – literaturwissenschaftliche Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Anke Bosse Deutschdidaktische Forschungsfelder als Bezugspunkte im Handlungsraum der deutschsprachigen Schreibwissenschaft . . . . . . 211 Sandra Reitbrecht Schreib- und Übersetzungswissenschaft: Ein Vergleich . . . . . . . . . 227 Carmen Heine Die Erforschung des Schreibens aus kognitionspsychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Christian Weinzierl Schreibende Expert*innen – Ein Blick auf die Domäne Technik . . . . . . 261 Annette Verhein-Jarren
Teil 4: DACH-Gesellschaften der Schreibwissenschaft Schreiben an Deutschschweizer Hochschulen: Entstehung und Kontext des Vereins „Forum wissenschaftliches Schreiben“ . . . . . . . 281 Katrin Burkhalter, Ruth Wiederkehr Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS . . . . . . . . . . . . . 297 Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow Die Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. (gefsus): Ihr Beitrag für eine aufstrebende Schreibwissenschaft . . . . . . . . . 317 Melanie Brinkschulte Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .327 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
ÜBER DIESEN BAND: ERGEBNISSE EINES INNOVATIVEN TAGUNGSKONZEPTES Birgit Huemer, Ursula Doleschal, Jennifer Steiner, Carmen Mertlitsch
Schreiben als Schlüsselkompetenz in Wissenschaft und Lehre ist in allen Disziplinen zentral, daher untersuchen Forscher*innen unterschiedlicher Disziplinen die eigene Schreibpraxis. So haben sich durch die verschiedenen disziplinenspezifischen Herangehensweisen an das Thema Schreiben Bezeichnungen und Konzepte parallel entwickelt. Einerseits bereitet diese Parallelität Schwierigkeiten für die Verständigung über das Schreiben, andererseits kann sie als Gewinn gesehen werden, da sich aus ihr diverse methodische und theoretische Zugänge ergeben, die einander ergänzen. Zu den Disziplinen, die bereits auf eine lange Tradition in der Schreibforschung zurückblicken, zählen die Deutschdidaktik, die Literaturwissenschaft, die Psychologie, die Sprachwissenschaft und die Translationswissenschaft. Aber auch in den Disziplinen Geschichte, Philosophie, Rechtswissenschaft und Soziologie zeigt sich zunehmendes Interesse am Thema Schreiben. Dieses Interesse stammt einerseits aus dem zentralen Untersuchungsgegenstand der Disziplinen, nämlich der Beschäftigung mit Texten und deren Interpretation oder Auslegung. Andererseits entwickelt sich dieses Interesse aus der Notwendigkeit, selbst (wissenschaftliche) Texte zu verfassen und Studierende dazu anzuleiten, wie etwa in den technischen Wissenschaften, in denen sich einzelne Personen mit den Schreibusancen ihres Faches auseinandersetzen. Seit den 1990er Jahren leisten die Schreibzentren an deutschsprachigen Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz einen zentralen Beitrag für das systematische Zusammentragen der Ergebnisse aus den unterschiedlichen disziplinären Ansätzen der Schreibforschung1. Zusätzlich findet an den Schreibzentren Begleit- und Entwicklungsforschung statt, die auf Grund der didaktischen Ausrichtung stark anwendungsbezogen ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die drei deutschsprachigen Fachgesellschaften für wissenschaftliches Schreiben, Schreibdidaktik und Schreibforschung sowohl aufgrund der Initiative von Forscher*innen und Praktiker*innen aus den 1
Die Tagung zu diesem Band fand 2019 an der Universität Klagenfurt anlässlich des 15-jährigen Bestehens des dortigen SchreibCenter statt. An demselben SchreibCenter wurde 2009 ebenfalls bei einer Tagung die österreichische Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben (GewissS) gegründet.
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Schreibzentren als auch aus den genannten Disziplinen entstanden sind. Die Rede ist hier vom Forum wissenschaftliches Schreiben (FwS, Schweiz, gegründet 2005), der Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben (GewissS, Österreich, gegründet 2009) und der Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. (gefsus, Deutschland, gegründet 2013). Diese drei deutschsprachigen Gesellschaften wurden mit Blick auf eine Verbesserung der Schreibpraxis ins Leben gerufen und versammeln Mitglieder mit unterschiedlichen Hintergründen, beruflichen Interessen und Zielen, die das gemeinsame Interesse an der Förderung von Schreibkompetenz vereint. Darunter sind Forscher*innen an Universitäten und Hochschulen, Mitarbeiter*innen der deutschsprachigen Studien zum literarischen, wissenschaftlichen oder zum kreativen Schreiben und Schreib-Lese-Zentren, studentische Schreibberater*innen, Schreibdidaktiker*innen und Lehrende an Schulen, Universitäten und Hochschulen, freiberufliche Schreibberater*innen und -trainer*innen sowie Personen, die das Schreiben als Werkzeug in ihren Berufen weiterentwickeln – etwa im Feld der Psychologie und der Psychotherapie oder im Journalismus. Viele arbeiten (auch) in praktischen Berufsfeldern, die das systematische Wissen der Schreibwissenschaft auswerten und anwenden können. Die erste gemeinsame länderübergreifende Tagung der drei deutschsprachigen Fachgesellschaften für wissenschaftliches Schreiben, Schreibdidaktik und Schreibforschung, als deren Ergebnis dieser Band entstanden ist, hat diese Perspektivenvielfalt auf das Thema Schreiben in den Blick genommen.2 Im Mittelpunkt stand die Frage „Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin?“, mit der sich sowohl die Plenarvortragenden als auch die Teilnehmer*innen3 von 30.5. bis 1.6.2019 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt intensiv auseinandersetzten.
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DIE KLAGENFURTER TAGUNG
Die Vielfalt der bereits erwähnten Herangehensweisen hat uns veranlasst, bei der Klagenfurter Tagung Fragen danach zu stellen, ob sich eine deutschsprachige Schreibwissenschaft als (Inter-)Disziplin herausbildet oder bereits herausgebildet hat, was die Merkmale dieser Disziplin sind, und inwieweit sie bereits in der 2
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Im gesamten Band wird die Schreibweise der jeweiligen Standardvarietät des Deutschen berücksichtigt. D.h. bundesdeutsche Beiträge verwenden die bundesdeutsche Standardvarietät des Deutschen, österreichische Beiträge die österreichische Standardvarietät des Deutschen und Schweizer Beiträge die Standardvarietät der Deutschschweiz laut Duden. 144 Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Luxemburg, den USA, Dänemark, Liechtenstein, Italien und Kamerun nahmen teil.
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deutschsprachigen akademischen Landschaft verankert ist. Um diese Fragen zu beantworten, wurden Forscher*innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und aus dem Bereich der Schreibberatung, die sich seit Jahren intensiv mit dem Schreiben auseinandersetzen, eingeladen, aktuelle Fragen dieser möglichen Schreibwissenschaft zu erörtern. Sie wurden gebeten, in ihrem Plenarvortrag Einblick in ihre fachlichen Perspektiven auf das Thema Schreiben zu geben und sich dabei an den folgenden Leitfragen zu orientieren: 1) Welche Forschungsfragen und -ergebnisse zum Thema Schreiben werden in Ihrer Disziplin aktuell diskutiert oder sind in Ihrer Disziplin besonders rezipiert? 2) Mit welchen Forschungsmethoden nähert sich Ihre Disziplin dem Schreiben? 3) Was bedeuten die aktuellen Diskurse zum Schreiben in Ihrer Disziplin für die Praxis? 4) Bitte beenden Sie den Satz: „Eine deutschsprachige Schreibwissenschaft ist...“ In den Plenarvorträgen wurde der jeweilige schreibwissenschaftliche State of the Art zusammengetragen und diskutiert – für die Literaturwissenschaft von Anke Bosse, für die Übersetzungswissenschaft von Carmen Heine, für das Schreiben in der Zweitsprache und die Schreibzentrumsarbeit von Dagmar Knorr und für die Sprachwissenschaft von Angelika Redder. Die Deutschdidaktik wurde durch Sandra Reitbrecht vertreten, Annette Verhein-Jarren beleuchtete die technischen Wissenschaften und Christian Weinzierl die Psychologie. Die Plenarvorträge der hier genannten Personen sind als wissenschaftliche Beiträge in diesen Band eingegangen. Die Vorträge der Vertreter*innen der deutschsprachigen Gesellschaften FwS, GewissS und gefsus ergänzten diese disziplinären Perspektiven und zeigten die (Weiter-)Entwicklung der Interdisziplin gewissermaßen aus der Innenperspektive ihrer Mitglieder auf. Auch sie finden Eingang am Ende dieses Bandes. Die Außenperspektive wurde durch eine Keynote von Andrea Scott4 eingebracht, die zusammenfasste, welche aktuellen Diskurse in der deutschsprachigen Schreibwissenschaft im Mittelpunkt stehen und welche Forschungsfragen, -methoden und -ergebnisse in der deutschsprachigen Schreibwissenschaft diskutiert und rezipiert werden.
4 Prof.in Andrea Scott forscht als US-amerikanische Schreibwissenschaftlerin und Schreibzentrumsleiterin u.a. zu der Frage, wie Schreibkulturen durch unterschiedliche soziale Kontexte geprägt werden, und hat sich dabei aus einer Außenperspektive intensiv mit den Entwicklungen im deutschsprachigen Raum befasst.
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Weiterhin wurden als Doyens und Doyennes der deutschsprachigen Schreibwissenschaft Gerd Bräuer, Konrad Ehlich, Helmut Gruber, Eva-Maria Jakobs, Otto Kruse und Gabriela Ruhmann eingeladen, als Moderator*innen von Diskussionsgruppen an der Tagung teilzunehmen oder in Videointerviews ihre Sicht auf die Entwicklung der deutschsprachigen Schreibwissenschaft darzustellen. Gabriela Ruhmann, Helmut Gruber und Eva-Maria Jakobs konnten nicht zur Tagung kommen, die beiden letzteren haben aber Interviews gegeben, die elektronisch zur Verfügung stehen und die die Beiträge in diesem Band ergänzen.5 Gabriela Ruhmann weilt mittlerweile nicht mehr unter uns, sie ist 2019 verstorben. Ein ausführliches Interview mit ihr führt uns im zweiten Teil dieses Bands an ihren Elan, an ihre einmalige Herangehensweise sowie an ihre besondere Art des Nachdenkens über das Schreiben heran und lässt sie uns in guter Erinnerung bleiben. Um die aktive Partizipation aller Teilnehmer*innen an der Diskussion des Tagungsthemas anzuregen, wurden zu Beginn der Tagung zwölf Diskussionsgruppen gebildet, die aus je einer/-m Moderator*in und rund zehn Diskutant*innen bestanden6. Die Gruppen trafen sich nach jeweils drei Plenarvorträgen und diskutierten die folgenden einheitlich vorgegebenen Fragen: 1. Welche Inhalte haben euch/Sie besonders angesprochen? 2. W as hat euch/Sie erstaunt und warum? 3. Welche Bezüge seht ihr/sehen Sie zu der eigenen praktischen Arbeit und/oder zur eigenen Herkunftsdisziplin? 4. Was könnte vor dem Hintergrund der Inputs für „die Schreibwissenschaft“ besonders wichtig sein und sollte vertieft werden? Die Ergebnisse der Diskussionen wurden auf Plakaten festgehalten und anschließend von den Moderator*innen auf einem Tagungspadlet7 online gestellt, für Kommentare geöffnet und laufend ergänzt. Am Ende der Tagung kamen je drei Diskussionsgruppen zusammen und besprachen auf Grundlage der Vorträge und der vorangegangenen Diskussionen die folgenden, ebenfalls für alle einheitlich vorgegebenen, zentralen Fragen der Tagung: 5 6 7
Die Videos wurden von Ursula Doleschal, Carmen Mertlitsch und Elisa Rauter produziert. Diese und weitere Interviews, produziert von Ruth Wiederkehr, sind auf dem Tagungspadlet https://padlet.com/schreibcenter/schreibwissenschaft2019 gepostet. Informationen zu den Diskussionsgruppen können unter folgender Adresse eingesehen werden https://conference.aau.at/event/169/page/11, Letzter Zugriff: 31.1.2020 https://padlet.com/schreibcenter/schreibwissenschaft2019 Letzter Zugriff: 31.1.2020
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1. Gibt es eine (deutschsprachige) Schreibwissenschaft? 2. Was folgt daraus für die Schreibwissenschaftler*innen, Praktiker*innen, die Universitäten, die Fachhochschulen und die Schreibzentren? Diese Ergebnisse wurden bei der Schlussveranstaltung im Plenum präsentiert, von den Plenarvortragenden aus den verschiedenen Disziplinen in ihren Abschlussstatements kommentiert und im Plenum diskutiert. Sie sollten zur Beantwortung der Tagungsfrage beitragen.
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ERGEBNISSE AUS DEN DISKUSSIONSGRUPPEN
Wir haben uns dazu entschieden die wichtigsten Ergebnisse aus den Diskussionsgruppen an dieser Stelle vorzustellen.8 Sie sollen einleitend zeigen, welchen Themen und Herausforderungen sich eine (Inter-)Disziplin Schreibwissenschaft nach Ansicht der Tagungsteilnehmer*innen zu stellen hat und wo ihr Potenzial und ihre Grenzen liegen. Überwiegend bestand Konsens unter den Teilnehmer*innen, nur weniges wurde kontrovers diskutiert. Im Folgenden werden die Ergebnisse nach thematischen Schwerpunkten zusammengefasst, nach Gewichtung, d.h., nach der Häufigkeit ihres Vorkommens in den verschiedenen Diskussionsgruppen, geordnet und möglichst wortgetreu wiedergegeben. 2.1
Definition Schreibwissenschaft
Die Diskutant*innen stellen das „Schreiben“ als zu beforschenden und zu verhandelnden Gegenstand in den Mittelpunkt der Schreibwissenschaft. (Gruppe 9) Die Schreibwissenschaft wird in den Diskussionsgruppen großteils als Interdisziplin bezeichnet, auch wenn Worte wie Multidisziplin und Transdisziplin fallen. Dies soll heißen, dass sich die Schreibwissenschaft als Summe von Schnittstellen mit anderen Wissenschaftsdisziplinen versteht, bzw. dass sie in Bezug auf Ergebnisse, Methoden und Theorien aus anderen Disziplinen schöpft. (Gruppe 1) Als Disziplinen oder Forschungsbereiche mit Relevanz werden hier die Deutschdidaktik, die Fachsprachenforschung, die Fremd-, Zweitsprach-, und Sprachdidaktik, die Hochschuldidaktik und die Hochschulforschung, die Kommunikationswissenschaft, die Kulturwissenschaft, die Linguistik, die Literaturwissenschaft, die Medienwissenschaft, die Philosophie, die Psychologie, die Translationswissenschaft, die Soziologie und 8
Wir bleiben hier sehr nahe an den Plakaten und den Zusammenfassungen auf dem Padlet. Wörtliche Zitate aus dem Material sind in Anführungszeichen gesetzt.
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die Schreibzentrumsforschung genannt. (Gruppe 4) Eine Bestandsaufnahme der verschiedenen Disziplinen und Forschungsbereiche, aus denen die Schreibwissenschaft schöpft, sowie eine klarere Abgrenzung zu den Begriffen der Multi- oder Transdisziplin wäre wünschenswert. Durch ihre Interdisziplinarität muss sich die Schreibwissenschaft auch mit der „Epistemologie, also ihrem eigenen Verständnis von Wissenschaft und Wissen, und wissenschaftstheoretischer Terminologiebildung auseinandersetzen“. (Gruppe 6) In Bezug auf die Terminologie ist eine „diffuse Begriffsbildung zu bemerken, die aus dem gleichzeitigen Schöpfen aus verschiedenen Disziplinen herrührt“. (Gruppe 8) Der wissenschaftstheoretische Metadiskurs, der auf dieser Tagung eingesetzt hat, sollte nach Ansicht der Diskutant*innen daher fortgeführt werden. „Der spezielle Charakter der Schreibwissenschaft als eigenständige Disziplin tritt bereits jetzt und langfristig durch selbst generiertes Wissen hervor, welches innerhalb von Bachelor- und Masterstudiengängen an einen wissenschaftlichen Nachwuchs vermittelt wird und damit die Weiterentwicklung der Disziplin sichert.“ Dieses „Emergent-Werden“ einer eigenständigen Schreibwissenschaft „reagiert auf den Umstand, dass Schreiben in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft immer wichtiger wird“. (Gruppe 1) Da „Schreiben Handeln ist“, ist die Schreibwissenschaft in ihrem Kern handlungsorientiert. Ein wesentliches Ziel ist das „Erfassen und Konstruieren von individuellen und institutionellen Gelingensbedingungen für das Schreiben und für die Schreibenden“. Die Schreibwissenschaft ist also eine angewandte Wissenschaft. Es ist eine „gewisse Präferenz für Didaktik und Forschen aus der Praxis bzw. der Erfahrung heraus erkennbar“. Außerdem wird die Frage aufgeworfen, wer nun die Adressat*innen einer Schreibwissenschaft sind. (Gruppe 1) Die Rede ist „von all jenen, die sich mit Schreiben auseinanderzusetzen haben“: Schreibdidaktiker*innen, Bildungspolitik, Schule, Hochschule und Medien. (Gruppe 3) Diese Liste ist nicht erschöpfend und es besteht Bedarf an einer weiteren Bestandsaufnahme. Was anhand der Akteur*innen, die in dieser Liste genannt werden, allerdings deutlich sichtbar wird, ist „die soziale und politische Dimension der Schreibwissenschaft“, auf die die Diskutant*innen Wert legen. (Gruppe 7) In Hinblick auf den angewandten Charakter der Schreibwissenschaft stellen sich die Diskutant*innen auch die Frage, „wie rein praktisch orientiert und angewandt eine Schreibwissenschaft sein muss und ob es nicht auch wichtig sei, theoretisch und ohne didaktische Intention das Forschungsfeld der Schreibwissenschaft abzustecken“. (Gruppe 9) Um den Forschungsbereich der neuen Disziplin noch genauer einzugrenzen, wird diskutiert, welche Formen des Schreibens in die Schreibwissenschaft miteinbezogen werden sollen. In diesem Zusammenhang werden literarisches, kreatives und wissenschaftliches Schreiben in den Diskussionsgruppen genannt – und welche Berei-
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che die Schreibwissenschaft noch zu ihrem Gegenstand zählt – hier werden neben den Texten als Untersuchungsgegenstand auch die Schreibberatung, Schreibkulturen und Schreibzentrumsarbeit (vgl. dazu Bräuer sowie Kreitz & Ruhmann in diesem Band) angeführt. (Gruppe 5 und 8) Das Fazit, das aus den Ergebnissen der Diskussion zur Definition der Schreibwissenschaft gezogen werden kann, ist, dass es bereits große Übereinstimmung unter den Diskutant*innen darüber zu geben scheint, was Schreibwissenschaft ist, dass jedoch darüber hinaus ein Abgrenzungsdiskurs zu anderen Disziplinen und Interessen wie auch ein wissenschaftstheoretischer Metadiskurs weiterzuführen sind (siehe auch Girgensohn, Haacke, & Karsten in diesem Band). 2.2
Verankerung/Verortung der Schreibwissenschaft
Die Schreibwissenschaft ist zurzeit (noch) nicht als volle eigenständige Disziplin an einer Institution verankert. Sie wird jedoch schon seit Jahren von verschiedenen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen betrieben. Diese sind zum Teil in wissenschaftlichen Institutionen, wie Universitäten und Fachhochschulen, oder als freie Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen tätig. Es gibt zudem vereinzelt Studiengänge mit schreibwissenschaftlichen Inhalten. In den Diskussionen wird ein „deutlicher Wunsch nach institutioneller Verankerung“ formuliert, „die auch neue Berufs- und Forschungsfelder eröffnen könnte“. Andererseits „bringt eine Institutionalisierung möglicherweise auch Probleme mit sich“ bzw. wirft die folgenden Fragen auf: 1) Wie kann die der Schreibwissenschaft inhärente Interdisziplinarität erhalten werden, falls sie institutionalisiert werden sollte? 2) Wie kann durch Verankerung Finanzierung und damit Sicherheit und Kontinuität gewährleistet werden, ohne die nicht an Universitäten oder Fachhochschulen verankerten Personen aus der Diskursgemeinschaft auszuschließen? Es wird hier also „ein Spannungsfeld zwischen Disziplinierung – die eine Institutionalisierung wohl unweigerlich mit sich bringt – und Offenheit gegenüber Interakteur*innen und Disziplinen“ sichtbar. (Gruppe 6) Die institutionelle Verankerung der Schreibwissenschaft bringt außerdem die Notwendigkeit mit sich, die „Terminologie zu vereinheitlichen“ und genauer zu betrachten, welchen Beitrag die einzelnen Disziplinen zur Theoriebildung in der Schreibwissenschaft leisten können. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Wunsch nach einer institutionellen Verankerung vorhanden ist, auch wenn man sich bewusst ist, dass sich dadurch gewisse Schwierigkeiten ergeben. Allerdings ist man sich noch nicht ganz im Klaren darüber, wie eine solche Verankerung erreicht werden kann. Vorschläge, die hierfür genannt werden, sind ein Gesamtsprachencurriculum, um die Spra-
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chenbildung an der Universität in allen Fächern zu stärken, und eine Rückführung der Arbeit der Schreibzentren auch in die Lehrer*innenfortbildung (Gruppe 3). 2.3
Methoden der Schreibwissenschaft
Eine wissenschaftliche Disziplin ist auch durch ihre Methoden gekennzeichnet. In den Diskussionen wird mehrfach festgestellt, dass die Schreibwissenschaft noch keine eigenständigen Methoden entwickelt habe. Dies wird einerseits als Manko angesehen, andererseits auch als Chance: „Die Schreibwissenschaft ist offen für empirische Methodik anderer Disziplinen, sie kombiniert verschiedene Methoden, sie arbeitet quantitativ und qualitativ und häufig mixed-methods.“ (Gruppe 4) Die Methodenvielfalt hänge mit der Inter- und Transdisziplinarität der Schreibwissenschaft zusammen. Eine Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist die Notwendigkeit, „sich selbst besser in der eigenen Rolle als Schreibwissenschaftler*in zu verstehen, um die in anderen Disziplinen bereits bestehenden Modelle, Konzepte und Methoden sinnstiftend für den eigenen Gegenstand zu adaptieren“. (Gruppe 1) Es wird kritisch angemerkt, dass die Forschung in der Regel „serviceorientiert“ sei und Forschung zur „Optimierung dieser Serviceleistung“ erwünscht sei. Gleichzeitig wird die Beratungsforschung als ein wichtiger und eigenständiger Teil der Schreibwissenschaft hervorgehoben. Dies weist auf eine angewandte, an der Didaktik und Beratung orientierte Ausrichtung der Schreibforschung hin. Die Beforschung der eigenen Praxis könne aber für die Modell- bzw. Theoriebildung fruchtbar gemacht werden. (Gruppe 1) Wichtig sei hervorzuheben und zu begreifen, dass auch „Entwicklungsarbeit als Wissenschaft (Richtung Scholarship of Teaching and Learning/Design-Based Research)“ verstanden werde. (Gruppe 4) Eine Gruppe erachtet als wesentlichen Maßstab den zu beforschenden Gegenstand, das „Schreiben“: „Uns ist es wichtig, dass eine Schreibwissenschaft das ‚Schreiben‘ als zu beforschenden und zu verhandelnden Gegenstand in den Mittelpunkt stellt. Für uns ‚weiß‘ diese Wissenschaft, was sie aus anderen Disziplinen benötigt, um Theoriebildung und Methodenentwicklung zu betreiben.“ (Gruppe 9) Methoden sollten sinnvoll adaptiert werden. Eine Bestandsaufnahme dieser Methoden wird als Desiderat vorgebracht (vgl. dazu Brinkschulte, Grieshammer, & Kreitz in diesem Band). Als Fazit lässt sich der Methodenpluralismus als Kennzeichen der gegenwärtigen (emergenten) Schreibwissenschaft ansehen, ebenso wie ihre angewandte – praktische – Ausrichtung (Praxiswissenschaft, siehe den Beitrag von Girgensohn, Haacke, & Karsten in diesem Band).
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2.4 Theorien der Schreibwissenschaft
Mit den Theorien verhält es sich ähnlich wie mit den Methoden: „Die Schreibwissenschaft hat noch keine grundlegenden eigenen Theorien, sie arbeitet mit Theorien aus anderen Disziplinen (z.B. Collaborative Learning, Motivationstheorien).“ (Gruppe 4) Diese könnten und sollten für die Schreibwissenschaft adaptiert werden. Auch hierfür ist eine Bestandsaufnahme erwünscht. Die Beforschung der eigenen Praxis kann für die Modell- und Theoriebildung genutzt werden. Zudem gilt es, die Ergebnisse der Leseforschung stärker miteinzubeziehen. Die Interdisziplinarität erfordert einerseits eine Auseinandersetzung mit der Epistemologie und der spezifischen wissenschaftstheoretischen Terminologieverwendung (Gruppe 6) und andererseits damit, welchen Beitrag die einzelnen Disziplinen, mit denen sie in Wechselwirkung steht, zur Theoriebildung in der Schreibwissenschaft leisten. „Theoriebildung und Empirie stehen dabei im Austausch mit verschiedenen Bezugswissenschaften und müssen aufeinander bezogen sein.“ (Gruppe 8) Auch die Frage nach der praktischen Orientierung der Schreibwissenschaft, der Angewandtheit, wird wieder gestellt. Wie viel „Theorie“ braucht es, um sich jenseits von „aus der Praxis in die Praxis“ disziplinär zu verorten? (Gruppe 9) Insgesamt bleibt die Behandlung der Theoriebildung vage. Einerseits möchten die Diskutant*innen auf Theorien anderer Disziplinen zurückgreifen, andererseits wird die Notwendigkeit von Theorie für eine praktisch orientierte Wissenschaft selbst hinterfragt (was eine Parallele zu den technischen Wissenschaften darstellt). 2.5
Forschung(sethik) der Schreibwissenschaft, Normen und Wertvorstellungen
Zwei Gruppen (4 und 7) heben hervor, dass sich die Schreibwissenschaft mit ihrer Forschung zu bildungspolitischen und gesellschaftlichen Fragen positionieren soll. Durch die schreibdidaktische Erfahrung kennt die Schreibwissenschaft sowohl die Prozesse auf Seiten des Individuums als auch die Anforderungen der Gesellschaft und vermittelt zwischen diesen. Sie sollte daher „sozial, politisch, empathisch“ sein. In diesem Zusammenhang wird auch die Problematik der sprachlichen und textuellen Normativität angesprochen: „Welche Forschungsfragen sollte die Schreibwissenschaft stellen, um den Stellenwert von Normativität in Texten zu erfassen?“ Es wird darüber hinaus diskutiert, ob „die Schreibwissenschaft schreibdidaktische Normen für Schreibunterricht, schreibintensive Lehre und Schreibberatung zur Verfügung stellen“ und sich direkt in die Entwicklung von (Schreib-)Curricula einbringen solle (Gruppe 1). Einerseits wird eine kritische Haltung gegenüber Normen betont, andererseits aber auch das Desiderat, Textqualität messen zu können.
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In der Diskussion wird deutlich, dass die Schreibwissenschaft als Wissenschaft Normen der Schreibdidaktik kritisch durchleuchten und hinterfragen und Platz für Differenz schaffen soll („transformative Schreibwissenschaft“, Girgensohn, Haacke, & Karsten in diesem Band). 2.6 Querschnittsthemen
Neben den oben zusammengefassten Hauptdiskussionsthemen, die von den meisten Gruppen angesprochen werden, kommen auch folgende Themen zur Sprache: Mehrsprachigkeit, Medien und Digitalisierung, sowie der Zusammenhang zwischen Lesen, Tun und Schreiben. Mehrsprachigkeit Gruppe 2 formuliert die Behauptung, dass „Schreibwissenschaft von Haus aus mehrsprachig angelegt ist“. „Sprachen sind die Ressource für das Schreiben.“ Studierende und Lehrende bringen jedoch ein „unterschiedliches Verständnis von Sprache und Sprachen“ mit. Mit zunehmender Mobilität und Internationalisierung ist davon auszugehen, dass sich Gruppen zusammenfinden, die unter „verschiedenen soziokulturellen Bedingungen und eventuell auch in verschiedenen Schriftsystemen literarisiert“ wurden. Neben der Beherrschung der Sprache und der Schrift für das Verfassen eines Textes sollten darüber hinaus auch „sprachübergreifende Strategien beim Schreiben und bei der Schreibvermittlung“ berücksichtigt werden. Gruppe 3 befindet, dass „die Wissenschaftssprachkomparatistik Perspektiven für das Schreiben, die Schreibanalyse, wie auch für die Vermittlung bereithält“. Dabei sollte auch „die Kulturspezifik der unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen explizit“ gemacht werden. Der Beitrag von Gruber (in diesem Band) betrachtet die deutschsprachige Schreibwissenschaft unter interkultureller Perspektive und liefert Vorschläge für ein Forschungsprogramm, das u.a. die sprachlichen Praktiken muttersprachlich englischer, deutscher und Lingua-franca-Schreibender miteinbezieht. Gruppe 3 schlägt zudem ein „Gesamtsprachen-Curriculum vor, das eine Neupositionierung von Sprachen in Schulen und [in] universitärer Sprachbildung“ zum Programm hätte. Gruppe 6 diskutiert Konzepte wie „Translanguaging“ und Übersetzen. Neben dem Schreiben erfolgt auch das Lesen und das „Tun“ mitunter mehrsprachig simultan. Translanguaging betrifft zudem nicht nur Sprache, sondern auch Tätigkeiten wie das Programmieren, das Gestalten von Tabellen, Grafiken, Zeichnungen oder auch die Verwendung unterschiedlicher Jargons. Weiter wird diskutiert, dass das
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Konzept des Übersetzens produktiv für die Schreibwissenschaft sein kann, ohne genauer darauf einzugehen wie. Gruppe 8 erwähnt zudem die „Sprachvarietäten des Deutschen“ und regt an, die „Bildungssprache Deutsch mehr als Erwerbsprozess“ zu begreifen (vgl. Knorr in diesem Band). Medien und Digitalisierung Hier wird die „Wechselwirkung zwischen Schreiben und Medien“ diskutiert (Gruppe 2) und die medialen Veränderungen, die einen Einfluss auf die Textproduktion und Veröffentlichung von Texten haben („archive publications vs. journal publications“). (Gruppe 3) Gruppe 4 diskutiert über das „Textsortenverständnis der Schreibwissenschaft“, insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung. Gruppe 6 führt zudem eine Diskussion über „Text-Bild-Kombination“ in den Medien, die auch für die Textproduktion und -vermittlung relevant sind. Diese Themen werden von einigen Diskussionsgruppen zwar angesprochen und als zukünftige wichtige Themen genannt, allerdings werden darüber hinaus in den Diskussionen weder klare Positionen sichtbar noch konkrete Forschungsdesiderate genannt. Einen weiterführenden Einblick in diese Thematik kann der Beitrag von Kruse und Rapp (in diesem Band) bieten. Lesen, Tun und Schreiben Gruppe 4 identifiziert ein spannendes Forschungsfeld, das auf der im Plenarvortrag von Annette Verhein-Jarren gemachten „Unterteilung zwischen Schreiben, das auf Lesen basiert, und Schreiben, das auf Tun basiert“, beruht (siehe den Beitrag von Annette Verhein-Jarren in diesem Band). Auch Gruppe 6 greift dieses Thema auf und diskutiert, „dass auch Lesen Tun sei, das sich in der Schreibentwicklung zunehmend mit dem Schreiben verschränkt“. Daraus ergibt sich ein Forschungsdesiderat, das – so scheint es – nach einer stärkeren Verschränkung oder auch klareren Abgrenzung dieser drei für das wissenschaftliche Arbeiten relevanten Forschungsbereiche verlangt. 2.7 Abschlussrunde
Zum Abschluss besprachen je drei Diskussionsgruppen ihre Erkenntnisse und erstellten gemeinsame Abschlussplakate. So entstanden vier Plakate, die anschließend im Plenum präsentiert wurden. Dabei wird deutlich, dass der Wunsch nach einer Bestandsaufnahme und einem wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspraktischen Diskurs groß ist. Insbe-
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sondere wird die Entwicklung einer gemeinsamen Terminologie und Metasprache sowie einer Definition von Forschungsmethoden als wichtig angesehen. Dies bedingt auch die Notwendigkeit einer gemeinsamen Vision („Wo wollen wir hin?“). Weiterhin wird die Wichtigkeit von Abgrenzung und institutioneller Verankerung, insbesondere im Hinblick auf Forschung und Nachwuchsförderung, sowie Studiengänge genannt. Eine Institutionalisierung wird aber auch kritisch gesehen. Es zeichnet sich Konsens darüber ab, dass die Schreibwissenschaft als Summe aller Schnittstellen mit anderen Wissenschaften betrachtet werden kann. Darüber hinausgehend soll sie sich etablieren: „Sie wird von einer Querschnittsmaterie zu einer eigenen Forschungsdisziplin mit einem eigenen Handlungsfeld.“ Besonders hervorgehoben wird von allen Beteiligten die notwendige Grundhaltung als „offene Disziplin“ – „Offenheit ist am wichtigsten“. In der abschließenden Diskussion mit den Plenarvortragenden und dem Plenum werden insbesondere die Fragen der Institutionalisierung und der Offenheit diskutiert. „Disziplin bedeutet immer auch Disziplinierung“, ist eine der genannten Haltungen, die in der Disziplinwerdung Vor-, aber auch Nachteile erkennt. Es wird die Parallele zur Entwicklung der Gender Studies gezogen, bei denen durch die Etablierung und Institutionalisierung die ursprüngliche Nähe zur Praxis teilweise verloren gegangen ist. Der Unterschied zwischen Interdisziplinarität, als Austausch zwischen den Disziplinen, und Transdisziplinarität wird thematisiert – bei letzterer entsteht durch diesen Austausch mit der Praxis etwas Neues, was es in den Disziplinen selbst nicht gibt, wie die gerade emergent werdende Schreibwissenschaft.
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DIE BEITRÄGE IN DIESEM BAND
Der Band gliedert sich in vier Teile. Er beginnt mit Grundsätzlichen Überlegungen zur Schreibwissenschaft. Die Beiträge in diesem ersten Teil nähern sich dem Thema Schreibwissenschaft aus wissenschaftstheoretischer oder methodischer Sicht und versuchen die Fragen zu klären, als welche Art von Disziplin sich die Schreibwissenschaft bilden könnte und welche Methoden für diese Disziplin Relevanz haben. Zusätzlich werden Vorschläge für ein Forschungsprogramm eingebracht (Girgensohn, Haacke, & Karsten; Brinkschulte, Grieshammer, & Kreitz; Gruber). Teil 2 widmet sich verschiedenen Querschnittsthemen der Schreibwissenschaft. Die Beiträge in diesem Teil versuchen auf Basis thematischer Schwerpunktsetzung die eingangs gestellten Fragen zur Schreibwissenschaft zu beantworten (Bräuer; Kruse & Rapp; Knorr). Das von David Kreitz geführte Interview mit Gabriela Ruhmann schildert zudem die persönlichen Erfahrungen einer Pionierin der Schreib-
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wissenschaft rund um die Entwicklung der Berufsfelder Schreibdidaktik/Schreiblehre, Schreibberatung und Schreibforschung im deutschsprachigen Raum (Kreitz). In Teil 3 nähern sich die Beiträge aus Disziplinenspezifischen Perspektiven den Fragestellungen deutschsprachiger Schreibwissenschaft (Redder; Bosse; Reitbrecht; Heine; Weinzierl; Verhein-Jarren). Schließlich stellen sich in Teil 4 die deutschsprachigen DACH-Gesellschaften der Schreibwissenschaft vor: Das Forum wissenschaftliches Schreiben (FwS) in der Schweiz (Burkhalter & Wiederkehr), die Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben (GewissS) in Österreich (Dengscherz, Mertlitsch, & Wetschanow) und die Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. (gefsus) in Deutschland (Brinkschulte). Sie geben einen Einblick in die Gründungsgeschichte und die Tätigkeitsbereiche der einzelnen Dachverbände und zeigen auf, wie sich eine deutschsprachige Community zur Schreibwissenschaft entwickelt hat. Wir widmen diesen Band Gabi Ruhmann und ihrer Pionierarbeit für die Schreibwissenschaft.
TEIL 1: GRUNDSÄTZLICHE ÜBERLEGUNGEN ZUR SCHREIBWISSENSCHAFT
DISZIPLIN SCHREIBWISSENSCHAFT? KRITISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUR ENTWICKLUNG EINER „PRACTICAL ART“ Katrin Girgensohn, Stefanie Haacke, Andrea Karsten1
ABSTRACT Formiert sich eine Disziplin „Schreibwissenschaft“? Wir versuchen, die Form, den Gegenstand und mögliche Ziele des Feldes zu beschreiben, aus dem sich aktuell so etwas wie eine Disziplin zu bilden scheint. Nach einer Vergewisserung, was in der Wissenschaftssoziologie überhaupt unter Disziplin verstanden wird, arbeiten wir Spezifika einer Schreibwissenschaft als einer Practical Art heraus und diskutieren dann, welche Türen sich mit der Institutionalisierung einer Disziplin möglicherweise öffnen werden und welche sich vielleicht schließen.
1 EINLEITUNG „Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin“ lautet der Titel dieses Bandes. Ungeachtet der Frage, wie nah dieser Übergang zur Disziplin bevorsteht, und zunächst sogar ungeachtet der Frage, ob er überhaupt möglich und wünschenswert ist, versuchen wir in diesem Beitrag herauszuarbeiten, was für eine Art von Disziplin sich aus dem Praxisfeld der Schreibdidaktik und Schreibforschung bilden könnte, und was das für die Communities bedeuten könnte, die in diesem Feld miteinander diskutieren. Wie könnte es aussehen und was würde es für die Schreibdidaktik und Schreibforschung bedeuten, zur Disziplin zu werden? Beginnen wir von hinten: Wir, die Autorinnen dieses Beitrags, sind und waren lange Jahre Mitarbeiterinnen von Schreibzentren in Deutschland, deren Arbeit die Formierung des Wissensfelds geprägt hat, um das es hier geht. Die Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Schreiben in der Beratung und Begleitung von Stu1
Dieser Artikel ist in einem langen Diskurs entstanden. Wir haben uns für eine alphabetische Reihung der Autorinnen-Namen entschieden und möchten an dieser Stelle auch der SIG Forschung der gefsus für die produktive Diskussion mehrerer Texte danken, auf die wir in diesem Text verweisen.
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Katrin Girgensohn, Stefanie Haacke, Andrea Karsten
dierenden, Forschenden und Lehrenden ist selbst eine Art von Forschung im Sinne permanenter Erkenntnisproduktion (Ruhmann, 2014a; Girgensohn, 2017, S. 259), und als Mitarbeiterinnen von Schreibzentren sind alle Autorinnen Wissensarbeiterinnen2: Ihre tägliche Arbeit generiert Wissen über die Vielfalt individueller Zugänge zum Schreiben und darüber, wie und mit welchen Vorstellungen, Haltungen und Strategien Schreibende sich im kommunikativen Raum der jeweiligen Handlungskontexte positionieren und realen oder imaginären Erwartungen und Anforderungen begegnen. Alle drei Autorinnen rezipieren und diskutieren im Zuge ihrer Arbeit Konzepte, Modelle, Theorien und empirische Forschung zum Schreiben (insbesondere an Hochschulen) aus unterschiedlichen Fachdisziplinen (Sprachwissenschaften, Psychologie, Wissenschaftssoziologie, Pädagogik, Kulturwissenschaften, Hochschulforschung usw.) und zahlreichen Ländern (insbesondere aus den USA, Großbritannien und Skandinavien). Katrin Girgensohn ist nach Gründung und langjähriger Leitung des für sein Peer-Tutoring-Programm besonders bekannten Schreibzentrums an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder) und nach ihrer Habilitation im Fach Hochschulforschung mittlerweile Professorin für Schreibwissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences. Stefanie Haacke arbeitet seit über zwanzig Jahren als Beraterin im Schreiblabor der Universität Bielefeld, das konzeptionell das Schreibenlehren und -lernen in den Fachdisziplinen ins Zentrum stellt. Andrea Karsten koordiniert das fachsensibel ausgerichtete Kompetenzzentrum Schreiben an der Universität Paderborn. Sie betreibt seit Beginn ihrer wissenschaftlichen Arbeit qualitative Schreibforschung, die zwischen Sprachwissenschaft und Psychologie angesiedelt ist, und die sie mit schreib- und hochschuldidaktischer Praxis verbindet. Die unterschiedlichen Erfahrungen der Autorinnen mit den Wissenspraktiken im Feld und ihre unterschiedlichen Standpunkte und Perspektiven prägen diesen Text und haben die Diskussion im Prozess seiner Erstellung begleitet. Was meinen wir als diese Personen mit diesem institutionellen, konzeptionellen und praktischen Hintergrund, wenn wir vom Feld der Schreibdidaktik und Schreibforschung oder auch von der „Schreibwissenschaft“ sprechen? Aus unserer Perspektive geht es bei schreibwissenschaftlicher Arbeit um die Untersuchung und theoretische Konzeptualisierung von Prozessen und Praktiken des Schreibens und Schreibenlernens, -lehrens und -beratens in unterschiedlichen Funktionen 2
Wir haben uns hier für den Begriff Wissensarbeiter*innen entschieden, weil er unabhängig davon passt, ob wir uns als Forscher*innen definieren oder nicht. Laut Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation sind Wissensarbeiter*innen „hoch qualifiziert und haben eine besondere wissenschaftliche bzw. akademische Ausbildung. Ihr individuelles Wissen und ihre Fähigkeiten sind stark mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt ihres Fachbereichs verbunden […].“ (Fraunhofer IAO, 2013, o. S.)
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und Kontexten. Da die Frage, wie Schreiben gelernt wird, auch immer das gesamte Bildungssystem und insbesondere das der Hochschulbildung betrifft, die sich an der Wissensentwicklung durch Forschung orientiert, ist ein wichtiger Fokus schreibwissenschaftlicher Aufmerksamkeit das wissenverarbeitende und wissengenerierende, also das wissenschaftliche und akademische Schreiben. Dies nicht zuletzt, weil das Schreiben im Hochschulstudium auf das Schreiben und Schreibenlehren in allen akademischen Berufen von der Jurisprudenz bis zur Lehrerbildung vorbereitet. An den Rändern des derzeitigen Feldes geht es deshalb auch um Prozesse des schulischen und des literarischen, journalistischen, therapeutischen oder anderer Formen des beruflichen Schreibens. Die epistemische Dimension, die Dimension der in den Wissenschaften gebräuchlichen Genres und die Handlungsdimension des Schreibens und der Schreibsozialisation stehen dabei im Zentrum. Ob sich aus dem schon bestehenden thematischen Feld, das wir so beschrieben haben, so etwas wie eine Disziplin entwickelt, hängt unserer Meinung nach davon ab, ob und wie ein gemeinsamer Diskurs in Form von Publikationen, Konferenzen und institutionellen Entwicklungen vertieft und konturiert werden wird. Und dies wiederum hängt einerseits von den Beiträgen der mitdiskutierenden Vertreter*innen der verschiedenen beteiligten Disziplinen ab und andererseits von denen der Expert*innen in den sich institutionalisierenden Zentren und Arbeitsbereichen schreibdidaktischer Unterstützung an Hochschulen. Da es den Gegenstand Schreiben an sich gar nicht gibt, sondern nur als Schreiben in den oben skizzierten Funktionen und Kontexten, und weil die Beschäftigung mit dem akademischen Schreiben aus der beratenden Praxis von Schreibzentren und -programmen erwachsen ist, gehen wir davon aus, dass die Entwicklung zur Disziplin ohne die Expert*innen für prozessorientierte Schreibdidaktik an Hochschulen nicht möglich ist. Die Wissensformen und -praktiken einer potentiellen Schreibwissenschaft werden in der reflexiven Praxis der jeweiligen Kontexte verankert sein.
2 DISZIPLINEN Es scheint also ein sehr praxisbezogenes Wissens- oder Wissenschaftsfeld zu sein, das sich da herausbildet. Kann daraus eine klassische Fachdisziplin werden? Und was sind überhaupt Wissenschaftsdisziplinen? Wir folgen dem Wissenschaftssoziologen Rudolf Stichweh (2003) und begreifen wissenschaftliche Disziplinen als „soziale Systeme“ der Wissenschaft, die spezifische Gegenstände mit spezifischen Herangehensweisen untersuchen, wobei spezifisches Wissen, spezifische Theorien und ggf. spezifische Praktiken genutzt
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und geprägt werden. So entwickeln Disziplinen neues Wissen. Entsprechend bestimmen Disziplinen auch, was als gültiges Wissen gilt, sie produzieren Ausschlüsse und grenzen sich ab von anderen Disziplinen. Da Wissenschaft sehr stark durch Publikationen bestimmt ist, formen Disziplinen zudem typische Genres mit entsprechenden inhaltlichen, textstrukturellen und stilistischen Konventionen (Bazerman, 1988, 2016). Außerdem etablieren sie Journals und andere Publikationsorgane, in denen sie schriftlich kommunizieren. Die mit der Disziplin verbundenen Wissenschaftler*innen und ggf. auch Praktiker*innen bilden eine Scientific Community, die miteinander kommuniziert und deren Interaktionen eine eigene Prägung gewinnen. Die Interaktionen der Scientific Communities haben die Form von Publikationen und Tagungen, Verbands- und Öffentlichkeitsarbeit. Mitglieder der Scientific Communities verstehen sich selbst als Expert*innen und werden auch von außen als Expert*innen wahrgenommen. Sie melden sich zu Wort und werden angefragt für Einschätzungen zu ihren Gegenständen. Entsprechend ist Disziplinarität eine Ressource für bestimmte Berufsrollen, für Status, für finanzielle Mittel und für Karrieren. Praktische Wissenschaften prägen zudem bestimmte Praktiken, wie beispielsweise in den Heilberufen (Datler & Felt, 1996). Stichweh bezeichnet solche Wissenschaftsgebiete als „Practical Arts“, die „nicht nur praktisch und angewandt, sondern zwangsläufig auch interdisziplinär konzipiert werden“ (Stichweh, 2013, S. 3), weil die Expertise verschiedener Disziplinen für die entsprechenden Praktiken und ihre Wissenschaft nötig ist. Die dazugehörigen Praktiker*innen agieren unterschiedlich orthodox, spezialisiert oder experimentell (Hansen, 2018). Wenn sie sich zu einer Disziplin entwickelt, dann wird die Schreibwissenschaft wohl eine solche Practical Art werden, denn auch sie erwächst aus einem Praxisfeld. Ihre Bezugspraxis ist das oben skizzierte Feld. Sollte dieser Bezugspunkt stark genug sein, dass immer mehr Wissenschaftler*innen aus eingeführten Disziplinen dazu immer mehr spezifische Fragestellungen, Herangehensweisen, Methoden und Wissensbestände entwickeln, könnte das interdisziplinäre Feld, das sich so entwickelt, selbst die Form einer Disziplin annehmen. So beschreibt es Stichweh: Any interdisciplinary field which really establishes itself in science normally will take the route of becoming a new discipline itself. Interdisciplinarity and transdisciplinarity do not at all conflict with the disciplinary structure of science. Instead, they function as the modes of knowledge transfer and innovation transfer in a cognitive world structured by disciplinary social systems. (Stichweh, 2003, S. 5–6)
Disziplinen bzw. die zugehörigen Scientific Communities entwickeln gesellschaftlich relevantes Wissen (weiter) und generieren Innovationen. Ein wichtiges Ele-
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ment der Etablierung und Reproduktion von Disziplinen ist auch die Förderung von Nachwuchs. Dafür sind eigene Studiengänge und Professuren entsprechender Denominationen nötig, die über Promotionsrecht verfügen. Eine solche Institutionalisierung kann nur stattfinden, wenn die Dynamiken des Wissenschaftssystems sie zulassen. Legitimität kann sich keine Institution selbst verschaffen, sie kann nur von außen zugesprochen werden (Deephouse & Suchman, 2008). In Deutschland gibt es sogar konkrete Kriterien, die ein Feld erfüllen muss, damit es als Fach an Hochschulen anerkannt wird. Laut Beschluss der Hochschulrektorenkonferenz von 2016 muss ein „kleines Fach“ folgende fünf Kriterien erfüllen: 1. Selbstverständnis als eigenständiges Fach: Die Professorinnen und Professoren, welche den jeweiligen Wissenschaftszweig an deutschen Universitäten vertreten, verstehen diesen als eigenständiges Fach. 2. Fachgesellschaft: Der jeweilige Wissenschaftszweig verfügt über eine nationale oder internationale Fachgesellschaft oder wird in Ausnahmefällen von einer übergeordneten Fachgesellschaft als eigenständiges Fach anerkannt. 3. Fachzeitschrift: Der jeweilige Wissenschaftszweig verfügt über eigene – nationale oder internationale – einschlägige Publikationsorgane. 4. Eigene unbefristete Professuren: Für den jeweiligen Wissenschaftszweig gibt es an deutschen Universitäten eigene Professuren mit spezifischen Denominationen. 5. Eigene Studiengänge/-schwerpunkte: Der jeweilige Wissenschaftszweig ist mit eigenen Studiengängen oder mit eindeutig sichtbaren Studienschwerpunkten (Bachelor/Master/Magister/Diplom/Staatsexamen) an deutschen Universitäten vertreten. (Zimmer, Bahlmann & Hoffmann, 2019, S. 6–7).
Legt man diese fünf Kriterien an, scheint die Schreibwissenschaft auf dem Weg zum „kleinen Fach“ zu sein. Ein Selbstverständnis bildet sich heraus, und es gibt neben den Fachgesellschaften der drei deutschsprachigen Länder mit der EATAW3 und der EWCA4 auch europäische und darüber hinaus viele weitere internationale Fachgesellschaften. Zudem gibt es eigene nationale und internationale Publikationsorgane. Unbefristete Professuren mit spezifischen Denominationen gibt es in den deutschsprachigen Ländern bisher zwar nur auf Fachhochschul- und W1-Ebene,5 und es gibt aktuell auch nur wenige eigene Studiengänge oder Schwer3 4 5
European Association for Teaching Academic Writing. European Writing Centers Association. An der SRH Berlin University of Applied Sciences gibt es zwei Professuren für Schreibwissenschaft. Eine W1-Professur für Angewandte Linguistik mit Tenure Track mit dem Schwerpunkt Textproduktionsforschung ist derzeit an der Universität Bremen ausge-
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punkte.6 Aber das kann sich ändern. Die Frage nach dem disziplinären Status der wissenschaftlichen und professionellen Beschäftigung mit dem Schreiben als Forschungspraxis, Lehr- und Lerngegenstand (eine genauere Definition folgt unten) wird auch unter den US-amerikanischen Kolleg*innen viel diskutiert (vgl. z.B. Bazerman, 2002; Harris, 2006; Horner, 2015; Ianetta, 2010; Malenczyk, MillerCochran, Wardle & Yancey, 2018; Micciche, 2007; Miller, 2002; Wetherbee Phelps & Ackerman, 2010; Trimbur, 1995). So schreibt beispielsweise Mendenhall (2013, S. 1): Today one can no longer really refer to “composition studies” without wondering whether “writing studies,” “rhetoric and composition,” “literacy studies,” or some other moniker better suits the work that we do. Our meta-discourse also shifts, as we define composition alternately as a discipline, subdiscipline, postdiscipline, field, interdiscipline, and other such terms.
Die hier aufgelisteten unterschiedlichen Bezeichnungen für das, was die Wissensentwicklung im Feld ausmacht, verdanken sich nicht nur verschiedenen Ansätzen und institutionellen Verankerungen der Schreibdidaktik in den USA wie beispielsweise Writing Studies, WAC/WID oder Composition Studies. Auch die Frage, ob Disziplinarität bedeutet, sich auf bestimmte Theorien, bestimmte Methoden und bestimmte Wissensbestände festzulegen, sorgt für Uneinigkeit zwischen den beteiligten Denkkollektiven7. Disziplinen sind sozial konstruiert, und ihre Grenzen sind, um mit Mittelstraß (2007) zu sprechen, nicht objektiv und auch nicht theo-
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schrieben. Im literarisch-künstlerischen Bereich gibt es zum Beispiel eine Professur für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim, eine Professur für Literarisches Schreiben und weitere Professuren mit Schwerpunkt auf literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig und eine Professur für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste in Berlin. Schreibstudiengänge sind zum Beispiel: BA Studiengang Kreatives Schreiben und Texten an der SRH Berlin University of Applied Sciences; BA Studiengang Sprachkunst, Universität für angewandte Kunst Wien; BA Studiengang Literarisches Schreiben, Universität Leipzig; BA Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, Universität Hildesheim; Master Theorien und Praktiken professionellen Schreibens, Universität Köln; Master Biografisches und Kreatives Schreiben, Alice-Salomon-Hochschule Berlin; Master Literarisches Schreiben, Universität Leipzig; Master Literarisches Schreiben und Lektorieren, Universität Hildesheim. Mit dem Begriff „Denkkollektiv“ beziehen wir uns auf Ludwik Fleck (1935/1980). Nach Fleck ist ein Denkkollektiv eine „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ und „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils“ (S. 54 f.) sind.
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retisch klar begründbar, sondern historisch gewachsen. „Disciplines are the contexts in which disagreement can be deliberated“, schreibt Ken Hyland (2004, S. 11). Ob sich eine Schreibwissenschaft bildet, wird nicht zuletzt davon abhängen, in welchem Ausmaß die Beteiligten die Auseinandersetzung über einen gemeinsamen Gegenstand weiterführen und sich damit ein gemeinsamer Kontext konstituiert.
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PRACTICAL ART „SCHREIBWISSENSCHAFT“?
Wie die Darstellungen und Überlegungen in z.B. Ruhmann (2014b), Frank & Lahm (2016), und Hirsch-Weber, Loesch, & Scherer (2019) zeigen, hat sich das Feld der Schreibdidaktik, -beratung und -forschung in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Diese Entwicklung scheint aus unserer Sicht hin zur Schreibwissenschaft als einer Practical Art zu führen. Diese untersucht nicht nur die Kontexte, Prozesse und Praktiken des Schreibens selbst und die Vorstellungen, die in spezifischen Kontexten mit dem Schreiben und dem Schreibenlernen einhergehen, sondern sie fragt auch danach, welche Formen der Unterstützung des Schreibenlernens dort gebräuchlich sind und wie sie weiterentwickelt werden können. Wichtig für die Schreibwissenschaft als Practical Art wird die Frage sein, wie sie selbst differenzierte Diskurspraktiken entwickeln kann, um über Schreiben in unterschiedlichen Formen und Kontexten zu sprechen. Welche Begrifflichkeiten können die Praktiken und Prozesse des Schreibens in dieser Vielfalt beschreiben? Mit welchen Begriffen werden die Artefakte gefasst, die in diesen Prozessen entstehen? Wie können schreibendes Lernen, Schreibenlernen und Schreibenlehren beschrieben werden und mit welchen Fragestellungen werden diese Prozesse analysiert? Welche Rolle spielen die sozialen Kontexte, in denen Schreiben gelernt wird – unterscheiden sich also beispielsweise formelle oder formal methodisierte von informellen Lernprozessen, und wenn ja wie? Welche Besonderheiten finden sich für hochschulisches, wissenschaftliches, berufliches, schulisches, journalistisches oder literarisches Schreiben, und wo liegen die Gemeinsamkeiten von Schreiben in diesen und anderen Domänen? Welchen Einfluss haben mediale Shifts und medientechnische Weiterentwicklungen auf Schreibpraktiken? Eine Schreibwissenschaft als Practical Art wird diese Fragen bearbeiten und verallgemeinerungsfähige, aber vor allem die reflexive Praxis unterstützende Hypothesen, Theorien und Konzepte zur Verfügung stellen und diskutieren müssen. Wenn Schreibwissenschaft als Practical Art entsprechend der oben vorgestellten Definition betrieben wird, müssten situierte Vollzüge des Schreibens im Mittelpunkt stehen, und zwar nicht als bloßer Anwendungsfall eines zuvor erzeugten
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vermeintlich objektiven und abstrakten ,Grundlagenwissens‘. In dem sich entwickelnden Feld sind die Unterstützer*innen reflektierter Praxis – also Schreibberater*innen und -didaktiker*innen – im Gespräch mit schreibwissenschaftlich Arbeitenden – also Schreibforscher*innen. Häufig kommen beide Rollen sogar in einer Person zusammen. In jedem Fall sind die Grenzen dieser Felder durchlässig. Deshalb wird Schreiben immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Fragestellungen theoretisiert werden. Entsprechend sind Diskussionen um Theorien und Begriffe zu erwarten. Es stellt sich schon jetzt in diesem Zusammenhang die Frage, welche Theorien und Methoden die reflexive und damit im Sinne von Lillis und Scott (2007, S. 13) potentiell transformative Arbeit einer Schreibwissenschaft stützen können: […] it is a transformative interest in meaning making set alongside a critical ethnographic gaze focusing on situated text production and practice. This involves a commitment to staying rooted in people’s lived experiences and an attempt to explore what may be at stake for them in specific contexts.
Lillis und Scott richten sich damit gegen Traditionen, die akademische Textkonventionen als statisch behandeln und identifizieren und dann darüber nachdenken, wie Studierenden diese Konventionen möglichst gut beigebracht werden können. Ihnen zufolge basiert ein transformatives Verständnis von Schreibenlehren und lernen auf einem ethnographischen Blick auf konkrete Schreibpraktiken und -kontexte. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, die (defizitären) Leistungen von Studierenden durch möglichst geschickte Lehrpraktiken zu verbessern, fokussiert der ethnographische Blick die „hidden features“ (Street, Lea, & Lillis, 2015, S. 385) akademischer Schreibpraktiken und versucht, sie transparent zu machen. Eine so geartete Beschäftigung mit den Praktiken des Schreibens in den sozialen und gesellschaftlichen Kontexten, in denen es stattfindet, kann „aus der Reflexion heraus“ zu kontextspezifischen Veränderungen führen, schon allein dadurch, dass die Perspektiven der Lernenden und Lehrenden in Dialog gebracht werden. Eine in diesem Sinn transformative Schreibwissenschaft wird das Schreiben und Schreibenlernen also nicht isoliert von den sozialen Kontexten betrachten können, in denen geschrieben wird. Sie kann hierfür an schon bestehende Ansätze anknüpfen, die Schreiben als soziale Tätigkeit verstehen, die je nach Kontext, Kultur und Genre andere Formen annimmt und in der Schreibende jeweils andere Positionen und Beziehungen zu realen und imaginären Adressat*innen und Diskursen entwickeln. Hierzu gehören unter anderem soziokulturelle und dialogische Schreibtheorien (u.a. Bazerman & Russell, 2003; Dysthe, 1996, 2012; Karsten, 2014; Prior, 1998, 2006) und Academic-Literacies-Ansätze (u.a. Gee, 2015;
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Lea & Street, 1998, 2006; Lillis, 2003; Lillis & Scott, 2007) mit ihrem Fokus auf Genres (z.B. Bazerman, Bonini, & Figueiredo, 2009) und auf Schreibenlernen als Identitätsentwicklung (z.B. Castelló & Donahue, 2012; Ivanič, 1998). Darüber hinaus wird sie die Kontextabhängigkeit von Theorien des Schreibens, Schreibenlehrens und Schreibenlernens selbst diskutieren. Entsprechend wird sie gewiss nicht eine einheitliche „ausgearbeitete Theorie des wissenschaftlichen Schreibens“ anstreben (Scherer, 2019, S. 22), ja nicht einmal einen vereinheitlichten Theoriekanon. Methodisch betrachtet scheint es uns für eine Practical Art „Schreibwissenschaft“ zentral, Zugänge zu entwickeln, die vor allem die verborgenen Seiten und ,stillen‘ Anteile von Schreibpraktiken und -prozessen greifbar und verstehbar machen. Es gibt bereits einen reichhaltigen Fundus an Methoden, die in der entstehenden Schreibwissenschaft genutzt werden, um solche unsichtbaren Anteile aufzudecken (vgl. Brinkschulte, Grieshammer, & Kreitz in diesem Band). Dazu gehört beispielsweise die Methode der think-aloud-Protokolle, mit denen zunächst Janet Emig (1971) und dann Linda Flower und John Hayes die Geburtsstunde der modernen Schreibprozessforschung eingeläutet haben (Hayes & Flower, 1980). Doch auch Keylogging und Screencapturing, besonders als Basis qualitativer Analysen (Breuer, 2017), retrospektive Interviews (Dengscherz, 2017; Karsten, 2017) oder die Analyse von Schreibberatungen (Everke Buchanan & Oberzaucher, 2017; Grieshammer 2018) sind Beispiele für Methoden, die beleuchten sollen, was im Verlauf von Schreibprozessen geschieht. Dazu kommen verschiedene textanalytische Vorgehensweisen, die den Text als Spur unterschiedlicher interaktiver und kognitiver Prozesse lesen. Hier sind beispielsweise die Analyse metadiskursiver Marker (einschlägig: Hyland, 2005, 2010), Analysen von Schreibhandlungen (einschlägig: Swales, 1990) oder Stimme(n) (z.B. Castelló & Iñesta, 2012; Hyland & Sancho Guinda, 2012; Nelson & Castelló, 2012; Karsten & Stock, 2017) in Texten, sowie die wissenschaftshistorische (z.B. Hoffmann, 2018; Rheinberger, 2018), literaturwissenschaftliche (z.B. Giuriato & Zanetti, 2004; Zanetti, 2012) oder philosophische (z.B. Graßhoff & Wüthrich, 2012; Zembylas & Dürr, 2009) Forschung zu Schreibpraktiken und -prozessen zu nennen. Und auch im Kontext der Schreibdidaktik und -beratung und am Schnittpunkt von Forschung und Beratung sind Methoden entwickelt worden, die vielleicht noch expliziter verborgene Aspekte von Schreibprozessen und Schreibpraktiken beobachten oder zur Sprache bringen. Hier sind vor allem ethnographische Ansätze zu nennen (z.B. Babcock & Thonus, 2012; Beaufort, 2014; Brandt, 2015; Everke Buchanan & Oberzaucher, 2017; Lillis, 2008; Sheridan, 2012; siehe auch Themenheft Journal der Schreibberatung 18, 2/2019), schreibbiografische Reflexionen (z.B. Knappik, 2018) und die Decoding-the-disciplines-Methode (z.B. Middendorf &
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Pace, 2004; Pace, 2017; für Schreiben: Lahm & Kaduk, 2016; Neumann, 2015). Insofern sie das Schreibenlernen in Kontexten fokussieren, haben sie das Potential, es als Element der Enkulturation in verschiedene Wissens- und Praxisgemeinschaften (Bartholomae, 1986; Bruffee, 1999; Prior & Bilbro, 2012) sichtbar zu machen. Unter dem Begriff „Scholarship of Teaching and Learning“ schließlich ist eine Literatur entstanden, die im Sinne von „Praxisforschung“ den Austausch über und die Weiterentwicklung von Lehrpraxis zum Ziel hat (vgl. Huber, 2014). Diesen Ansatz für die Schreibdidaktik fruchtbar zu machen, empfehlen auch verschiedene Beiträge in Hirsch-Weber, Loesch, & Scherer (2019). Empirische Methoden helfen in jedem Fall, sichtbar und besprechbar zu machen, was Schreiblernsettings bewirken können, was Schreibende tun, wenn sie schreiben, oder Beratende, wenn sie beraten. Genauso wie hinsichtlich der Theorien ist aber auch hinsichtlich der Methoden in der Schreibwissenschaft als Practical Art damit zu rechnen und darauf zu hoffen, dass Pluralismus kennzeichnend bleiben wird.
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WISSENSCHAFTSDISZIPLIN WERDEN: STRATEGISCHE ASPEKTE – UND IHRE AMBIVALENZEN
Wie schon angedeutet, werden für die Sache, um die es auf dem Praxis- und Wissensfeld der Schreibwissenschaft geht, neue Möglichkeiten entstehen, wenn sie zur Fachdisziplin werden sollte. Dass einmal Professuren, Forschungsfördermittel, Studiengänge und Stellen da sein werden, die es erlauben, die Praktiken und Prozesse des Schreibens, Schreibenlehrens und Schreibenlernens zu theorisieren, zu erforschen und zu lehren, erscheint natürlich vor allem denjenigen in unserem Feld erstrebenswert, die eine akademische Laufbahn verfolgen. Manche der anderen, die sich als schreibdidaktische Berater*innen der Schreibzentrumsarbeit zurechnen, schwanken zwischen Zustimmung und Besorgnis, wenn sie die Tendenzen zur Verwissenschaftlichung des Feldes betrachten. Auf der Besorgnisseite steht die Befürchtung, dass es zu einer hierarchischen Ausdifferenzierung des bisherigen Praxisfeldes in (leitende) Wissenschaft und (dieser dienend folgenden) Praxis kommen könnte, also einer Trennung von Kopf und Hand, Wissen und Erfahrung. Auf der Zustimmungsseite steht die Hoffnung auf einen spannenden Fachdiskurs und die Möglichkeit einer Wissenschaft, die die Praxis durch Theorien, Beschreibungen und Überprüfung oder Objektivierung von Erfahrungswissen bereichert. Im Folgenden umreißen wir kursorisch die Ambivalenzen, die mit einer Institutionalisierung der Schreibwissenschaft einhergehen. Welche Türen würden sich
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in unserem Feld mit der Erringung des Status einer Wissenschaftsdisziplin öffnen, und welche könnten sich vielleicht schließen? 4.1
Third Space
Schreibdidaktische Einrichtungen an Hochschulen sind häufig nicht in Fächern verortet, sondern jenseits der Disziplinen und in einem neutralen Bereich des ,Dazwischen‘ (auch „Third Space“ genannt, vgl. Salden, 2013; Whitchurch, 2010). Ihre Verpflichtung auf die Unterstützung der Wissenschaftspraxis der anderen (vgl. Haacke & Frank, 2012) öffnet in der Organisation Hochschule und für die handelnden Akteur*innen Räume für reflexive Praxis (ähnlich wie die in diesem Artikel antizipierte Schreibwissenschaft). Diese Arbeit hat den Charakter von Beratung und erfordert deshalb Neutralität und Diskretion. Sie kann Fragen stellen, die aus anderen Rollen heraus nicht gestellt werden könnten. Sie trägt keine externen Vorstellungen von ,Richtig‘ und ,Falsch‘ an die Studierenden, Lehrenden und Forschenden in den Fachdisziplinen heran, sondern sie zielt darauf, diese Akteur*innen bei der Reflexion und Weiterentwicklung ihrer eigenen Praxis zu unterstützen. Sie fokussiert die subjektive, der Öffentlichkeit meist abgekehrte Seite von Forschung, Lehre und Betreuung (Hjortshoj, 1995). Dabei geht sie vom Einzelnen, Individuellen und Besonderen aus und nähert sich auch dem Strukturell-Institutionellen (z.B. der Entwicklung von Modulen und Studiengängen) nur mit einer beraterischen Haltung. Da sie nicht involviert ist, kann sie auch Konflikte besprechbar machen, die außerhalb des geschützten Raums von Beratung nicht angesprochen werden können. Sie erlaubt es, vom Standpunkt des Nichtwissens die Prozesse der Wissensproduktion in Forschung und Lehre zu befragen. Scharlau und Klingsieck (2019, S. 218–219) zufolge können sie durch ihre nichtfachliche Beobachtungsperspektive dabei unterstützen, „differenzierter und passender über die Praxis des Schreibens an den Hochschulen zu sprechen“. Gerade dies kann die Rolle der Berater*innen und Befrager*innen zur Quelle für eine Art von hochdifferenziertem Kontext- und Gegenstandswissen machen, das reflektierte Praxis stützt (Ruhmann, 2014a). Würde sich diese Rolle von Schreibzentren verändern, wenn sich eine Schreibwissenschaft etablieren würde? Müssten oder würden die Mitarbeiter*innen und Leiter*innen von Schreibzentren sich der Wissenschaft zuordnen und ihren besonderen Status als ,Dritte‘ zwischen Forschung und Lehre aufgeben, die das Lehren und Lernen in den Fächern aus einer neutralen Perspektive der Beratung in den Blick nehmen? Würden ,wir‘ Wissenspraktiker*innen mit dem Wechsel in eine Wissenschaftsdisziplin die fundierte und kritische Außenperspektive auf akademische Schreib- und Schreiblehrpraktiken aufs Spiel setzen, die sich an vielen
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Schreibzentren vielleicht gerade wegen ihrer Position außerhalb des Disziplinensystems entwickelt hat? Oder können Schreibzentren und programme in ihrer Arbeit sogar von der Genese einer Wissenschaftsdisziplin profitieren? Zumindest stellt sich die Frage, wie sich die Wissensarbeit in Schreibzentren zur Wissensarbeit einer möglichen Disziplin „Schreibwissenschaft“ verhalten würde, die thematisch auf dieselben Praktiken bezogen wäre. 4.2 Wissensentwicklung
Andererseits: Die Existenz von schreibwissenschaftlichen Professuren und die Möglichkeit, als Vertreter*innen einer Disziplin „Schreibwissenschaft“ Forschungsmittel zu beantragen, würde es Kolleg*innen ermöglichen, die vielen Forschungsvorhaben zu verfolgen, die seit dem Aufkommen von Schreibdidaktik und Schreibforschung entstanden sind: Empirische Langzeitstudien, Ethnographien, Forschung zu Praktiken und Kontexten des Schreibens in neuen digitalen Umgebungen, zu individuellen Schreiblernbiographien und zur Geschichte und Genese von Genres, Forschung zu den Auswirkungen spezifischer didaktischer Praktiken, zum Schreiben in unterschiedlichen disziplinären oder anderen Praxiskontexten usw. Hier gibt es eigentlich keine Ambivalenz. Wissensentwicklung und Erkenntnisproduktion haben keine Nachteile, sondern nur Vorteile für alle. 4.3 Verortung
Mit der Etablierung einer Disziplin „Schreibwissenschaft“ würden schreibwissenschaftlich Forschende eine disziplinäre Heimat gewinnen. Das ist relevant, denn in den etablierten Disziplinen finden schreibwissenschaftlich Arbeitende mit einem praxisorientierten Verständnis oft wenig anschlussfähige Diskurse und nicht genügend Unterstützung für ihre Projekte und Fragestellungen. Besonders kritisch ist dies ganz konkret in den Fällen, in denen (Post-)Graduierte Schwierigkeiten haben, überhaupt Betreuungsverhältnisse und fachliche Kontexte zu finden, in denen sie ihre schreibbezogenen praxiswissenschaftlichen Qualifikationsprojekte verorten können. Mit der Entstehung einer Disziplin „Schreibwissenschaft“ könnten Menschen in schreibwissenschaftlichen Studiengängen studieren und danach promovieren und habilitieren. Es gäbe dann Professuren, Methodenmodule, Kolloquien und regelmäßige wissenschaftliche Konferenzen. Die Logik des Ungenügens, die schreibwissenschaftlich arbeitende Kolleg*innen am Rande etablierter Disziplinen immer wieder beschreiben, würde einer Logik der Andersartigkeit weichen. Eine eigene fachliche Theorie- und Methodenentwicklung wäre Grundlage für diszip-
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linäre und interdisziplinäre Arbeit. Die Ambivalenz: Die Unterscheidung der Schreibwissenschaft von anderen Wissenschaften erfordert boundary work, das heißt die permanente semantische Abgrenzung des eigenen disziplinären Raums mit rhetorischen Mitteln (Gieryn, 1995). Essentialistische Bestimmungen und Abgrenzungen der Schreibwissenschaft und ihrer Substanz („Was mit dem Schreiben zu tun hat, gehört uns“) könnten die produktive Spannung und die an der Sache orientierten Diskussionen mit Vertreter*innen verschiedener etablierter Disziplinen ersticken, die schon jetzt an den Praktiken und Prozessen des Schreibens interessiert sind. 4.4 Verbesserung der Praxis
Aus der Anerkennung als Disziplin erwächst Legitimität für die Praxis und auch die Möglichkeit, die Qualität des praktischen Handelns weiterzuentwickeln. Wenn durch wissenschaftliche Herangehensweisen und eigene Forschung und Evaluation normative Setzungen entstehen, so glauben viele, trägt das zur Qualitätsentwicklung der Schreibberatung und -lehre an Hochschulen bei. Die Ambivalenz: Schreibwissenschaftliche ‚Schulen‘, Evaluation und Qualitätskontrolle können die Handlungsspektren von Berater*innen auch verengen. Menschen sind fehlbar, und so ist es denkbar (und auf anderen Feldern schon vorgekommen), dass Ausbildungsgänge und Qualitätskontrollen (vor allem bei enger Ressourcenlage) den Praktiker*innen im hierarchisch ausdifferenzierten Feld die methodischen Steckenpferde der einflussreichen Spieler und formalen Kotau aufzwingen. Auch hier können die Effekte des boundary work problematisch sein. Ein Ausweg – so die Hoffnung – könnte die schon skizzierte, weniger invasive Reflexions- und Transformationsarbeit einer kontextsensitiv arbeitenden Practical Art sein, die keine normativen Setzungen macht und doch dazu beitragen kann, Veränderung anzustoßen, die von forschender und beforschter Seite getragen werden. 4.5 Prestige
Wetherbee Phelps und Ackermann (2010) glauben – Steven Mailloux folgend – dass der Disziplinstatus Zeichen des gesellschaftlichen und akademischen Respekts ist, den Vertreter*innen des Feldes brauchen, um stabile Arbeitsidentitäten als Lehrende, Berater*innen und Forschende entwickeln zu können: To be recognized as a discipline is a powerful measure of whether we have earned the respect of others, because, as Steven Mailloux points out, “Placing oneself in a specialized field when one speaks, writes, publishes, teaches, hires and engages in other
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rhetorical [and, we would add, writing] practices ... constitutes perhaps the most powerful condition of academic work” (125). A disciplinary identity is necessary for such work to be taken seriously within the meritocracies of higher education and to help sustain the working identities of practitioners, scholars, teachers, and administrators [...]. (Wetherbee Phelps & Ackermann, 2010, S. 181)
Das stimmt. Etablierte Berufsrollen, vor allem feste Stellen, sind Grundlage sinnvollen professionellen Handelns. Der Disziplinstatus würde jedoch auch – und hier kommt die Ambivalenz – dazu führen, dass die Angehörigen dieser neuen, zwischen den anderen eingereihten Disziplin, das akademische Handeln und seine Kontexte nicht mehr aus der neutralen Beratungsperspektive (siehe oben zum Third Space) sehen, sondern dass das Handeln der Vertreter*innen dieser anderer Disziplinen zu ihrem Forschungsobjekt würde. Zudem würde eine Schreibwissenschaft als Mitspielerin in der Konkurrenz der Fächer um Prestige und Ressourcen vielleicht den innerhochschulischen Logiken der Antragstellung und der Statuskonkurrenz mit anderen Disziplinen folgen und mit dem Versprechen wuchern müssen, ,Wissen‘ und ,Lösungen‘ zu produzieren. ,Befragen‘ könnte sie dann nur Forschungsobjekte aus der Perspektive des Forschungssubjekts, und sie müsste ,Ergebnisse‘ in Aussicht stellen, die in Verallgemeinerungen bestünden. Lässt sich so eine Entwicklung verhindern? Und wie würde dies das Verhältnis der Schreibwissenschaft zur Praxis in Schreibzentren beeinflussen? 4.6 Macht, Gestaltungsmöglichkeiten und Einfluss
Als Fachdisziplin würde die Schreibwissenschaft vielleicht mitreden können, wenn es um die Gestaltung des Bildungssystems geht. Zusammen mit anderen Disziplinen oder disziplinären Feldern wie der Hochschulforschung oder Bildungswissenschaft wird sie womöglich Einfluss haben auf die Gestaltung von Schul- und Hochschulcurricula und damit das Schreibenlehren und -lernen in Schule und Hochschule stärken. Natürlich wird dem Schreiben nicht mit derselben Macht zur Geltung verholfen werden wie z.B. der Digitalisierung oder anderen politisch an das Bildungssystem herangetragenen Prioritäten, aber – und hier kommt die Ambivalenz – vielleicht in ähnlichen Formen: Top-down, ohne hinreichende Berücksichtigung von Ressourcen, als freundliche Verordnung, was bei den betroffenen Akteur*innen in Schulen und Hochschulen möglicherweise die Logiken von Gehorsam und Widerstand mobilisieren würde.
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4.7 Gesellschaftlicher Nutzen
Institutionalisierte Reflexion und Erkenntnisproduktion über das Schreiben – einer im digitalen Zeitalter immer verzweigter, umfangreicher und bedeutsamer werdenden zentralen Wissenspraxis – bedeutet, darüber zu arbeiten, wie und in welchen Formen sich die Mitglieder der Gattung Mensch im Kleinen und im Großen über sich selbst und ihr gesellschaftliches Leben verständigen, wie sie Wissen generieren, transformieren, kritisieren und tradieren. Schreibfähigkeiten und die Bedingungen ihrer Entstehung zu untersuchen, stellt Wissen zur Verfügung, das die Bildungsinstitutionen nutzen können, um die Handlungsfähigkeit der Mitglieder ihrer Gesellschaften zu stärken. Lesen und schreiben zu können garantiert gesellschaftliche Teilhabe. Wenn eine Schreibwissenschaft entsteht, die die vielfältigen Ausformungen dieses Könnens untersucht und Menschen ausbildet, die sie fördern, ist dies gesellschaftlich nützlich. Auch hier gibt es eigentlich keine Ambivalenz. 4.8 „Practical Art“ als Ambivalenz
Eine weitere Ambivalenz liegt womöglich auch im Begriff „Practical Art“ selbst. Wie schon angedeutet, könnte es sein, dass das derzeitige Feld sich auseinanderentwickelt, mit einer Disziplinentwicklung einerseits und einer Professionsentwicklung (Kreitz, Röding, & Weisberg, 2019) andererseits. Die Nutzung des Begriffs „Practical Art“, die wir für diesen Artikel gewählt haben, versucht das Entstehen einer solchen Kluft zu verhindern. Dazu gehört auch die Überlegung, dass die Tätigkeiten von Praktiker*innen, beispielsweise das Konzipieren und Durchführen von schreibdidaktischen Lehr-Lernsettings oder Beratungen, akademische Tätigkeiten sind und als solche ebenso karriererelevant wie Forschung sein sollten (Dew, 2009). In eine ähnliche Richtung gehen die oben skizzierten Versuche, Schreibdidaktik als Scholarship of Teaching and Learning zu konzipieren. Zugleich stellt sich die Frage, ob damit nicht die Gefahr bestünde, dass der Begriff „Practical Art“ zu sehr ausgedehnt und strapaziert würde. Was zählt alles als Forschung? Und wird die entstehende Disziplin ernst genommen, wenn auch konzeptionelle und beratende Tätigkeiten im weiteren Sinne in die Kategorie Forschung fallen? Und: Forscher*in ist ein anderer Beruf als Schreibzentrumsakteur*in oder Schreibberater*in. Eines davon wird vermutlich immer die Hauptsache, die Berufsidentität, sein. Wird die Entscheidung, sich entweder als denkende und publizierende Praktiker*innen zu verstehen oder als auf die Erforschung einer bestimmten Praxis spezialisierte Wissenschaftler*innen nicht trotz aller Bemühungen unumgänglich? Und kann es sein, dass Vertreter*innen einer Forschungsdisziplin
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„Schreibwissenschaft“ qua Forscher*innenrolle keinen unmittelbaren Zugang zu der Art von Wissen hätten, das die Praktiker*innen entwickeln? Aber auch jede Praxis hat ihre blinden Flecken. Eine Utopie könnte die gegenseitige Beratung von Forschenden und Berater*innen sein.
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DESIDERATA UND AUSBLICK: SCHREIBWISSENSCHAFT ALS REFLEXIVE PRACTICAL ART
Geschrieben wird überall. Nicht nur in Form von Aufsätzen, Laborprotokollen, Zeugnissen, Gutachten, Anträgen und Büchern in Schule und Hochschule, sondern auch in Tagebüchern, Romanen, Strafbefehlen und Geschäftsberichten, Steuererklärungen, Chats, Zeitungsmeldungen usw. „Writing forms the playing fields of our literate times and each piece of writing we do claims a place, identity, meaning, and action on those fields of life“ (Bazerman, 2013, S. 3). Schreibwissenschaft, wie wir sie verstehen möchten, betrachtet nicht in erster Linie die zahllosen Textsorten, die es gibt, und ihre Kontexte, sondern sie fokussiert vor allem die verborgenen Seiten des Geschriebenen, nämlich die Praktiken, Prozesse und Perspektiven, in denen Texte zustande kommen, und die Wirkungen, die das Schreiben selbst auf die Schreibenden hat: Die Formung des Denkens durch die Prozesse des schriftlichen Formulierens. Gegenstand von Schreibwissenschaft sind die Artefakte, Technologien, Formen der Kooperation und Kommunikation, die von Menschen genutzt werden, um zu Geschriebenem zu kommen, und sie zielt darauf, diese Situationen, Haltungen und Prozesse zu beleuchten, besser zu verstehen, zu lernen und zu lehren – für ein menschliches Wissenshandeln, das mehr ist und kann als wissensverarbeitende Textmaschinen. Um den Blick auf die Tiefe von Schreibprozessen und Schreibpraktiken, auf ihre kontextuelle und individuelle Spezifik und auf die Wirkung dieser Prozesse auf die Schreibenden selbst lenken zu können und um eine Kultur der Offenheit und der Interdisziplinarität im Feld gewähren zu können, darf die Schreibwissenschaft keine Disziplin werden, die vergisst, was sie selbst tut. Auch die Schreibwissenschaft schreibt. Reflexivität der eigenen Diskursförmigkeit und ihrer praktischen Anker und Adressat*innen ist Grundbedingung für eine Wissensproduktion, deren Gegenstand und Untersuchungsobjekt die Produktion von Wissen und die Konstitution von menschlicher Selbst- und Weltverständigung ist. Dazu gehört, explizit und offensiv die eigene(n) Geschichte(n), Position(en) und die jeweiligen Zwecke zu reflektieren, die mit Forschung und praktischer Arbeit verfolgt werden. Teil dieser Selbstreflexion ist, Fragen wie diese zu stellen, die wir mit diesem Beitrag aufwerfen. Was verstehen wir unter Disziplin und Disziplinarität? Unsere
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Antwort war ein systemisch-diskursives Verständnis, das auch betont, dass Disziplinarität ein Label ist, für das sich Scientific Communities zwar aktiv einsetzen können, das aber letztlich immer einem „discourse of privilege“ (Mendenhall, 2012, S. 2) und Urteilen von außen unterliegt. Wird das Feld der Schreibwissenschaft aus dieser Perspektive eine Disziplin und wenn ja, was für eine? Auf diese Frage hin konnten wir einen aktuellen Übergangsstatus beobachten, einen Weg hin zu einer Practical Art, die praktisch, angewandt und zwangsläufig interdisziplinär ist und als solche konkrete Praktiken in der Welt prägt. Was aber sind die Gegenstände, Fragen, Theorien, Begrifflichkeiten, Methoden und – als Practical Art – die wissenschaftlichen und praktischen Ziele der Schreibwissenschaft? Hier deuteten unsere ersten Antwortversuche in Richtung eines kontextsensitiven Verständnisses von Schreiben, das stille und implizite Anteile von Schreibpraktiken sicht- und besprechbar macht, um Personen, die selbst schreiben, die Schreiben lernen oder Schreiben lehren, die Reflexion ihrer Praxis und Handlungsvielfalt zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist eine wichtige Frage: Wie kann das Verhältnis zu anderen angrenzenden Disziplinen gestaltet sein? Besonders aber fragen wir uns: Was bedeutet der aktuelle Übergangsstatus für das Feld, mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen und welche Ambivalenzen gibt es? Insbesondere: Was passiert mit den Schreibzentren und ihrer Praxis jenseits der Disziplinen? In welches Verhältnis zu dieser Praxis setzen sich die Proponent*innen der Disziplin „Schreibwissenschaft“? Es ist deutlich geworden, dass wir auf diese letzten Fragen zum aktuellen Zeitpunkt nur mit weiteren Fragen und Spekulation reagieren können. Da finden wir uns nun mitten in dieser Gruppe freundlicher Menschen, die über die Diskussion über Schreibprozesse, Schreibenlehren, Schreibenlernen, Schreibberatung miteinander verbunden sind, und miteinander streitend und diskutierend mitten in die unsichtbare Nervenzentrale der so genannten Wissensgesellschaft hineinblicken: Die Verständigung und den Ausdruck in schriftlicher Form. Und es drängen sich Vergleiche mit der Frauenbewegung oder der grünen Partei in den 1980er Jahren auf. Immer mehr von uns plädieren für den Marsch durch die Institution Wissenschaft, und die Frage steht im Raum: Werden wir dazu beitragen, die institutionalisierte Wissenschaft zu verändern? Oder verändert die Institution Wissenschaft uns? Provokant formuliert: Wer mit dem Teufel essen möchte, sollte sich einen langen Löffel besorgen. Unser Löffel besteht aus der Orientierung an der Sache, der Bereitschaft zur Kritik und zur Weiterentwicklung, aus dem Verzicht auf schnelle individuelle Befriedigung und Eitelkeiten, und immer wieder aus der Orientierung an den Subjekten, den Menschen, die sich schreibend Welt erschließen und deren Recht es ist, die Sprachlichkeit ihrer Gattungsexistenz zum Besten ausprägen zu können, Technologien zu nutzen, anstatt von ihnen benutzt zu werden. Gutes Schreiben, elaborierte Schreibprozesse sind ohne Refle-
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xivität nicht zu denken, und Reflexivität, Verlangsamung, ist es, was unsere Gesellschaften benötigen. Wir hoffen auf Kritik und Diskussion. Wir hoffen auf Stimmen nicht nur von Kolleg*innen auf dem Weg in die (Schreib-)Wissenschaft, sondern auch von Kolleg*innen aus Schreibzentren und Schreibprogrammen. Der aktuelle Band ist eine Einladung, eine derartige Diskussion zu beginnen. Für uns und für unser professionelles Feld wird viel davon abhängen, ob und wie diese Diskussion weitergeht: Wissens- und wissenschaftstheoretisch und -praktisch.
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METHODEN FÜR DIE SCHREIBWISSENSCHAFT: EIN VERGLEICHENDER LITERATURÜBERBLICK SYSTEMATISCHER DARSTELLUNGEN Melanie Brinkschulte, Ella Grieshammer, David Kreitz
ABSTRACT Seit ein wissenschaftliches Interesse an Schreibprozessen, Schreibprodukten sowie der didaktischen Unterstützung des Schreibens besteht, werden zur Erforschung dieser Gegenstände zahlreiche unterschiedliche Methoden eingesetzt, die verschiedenen Herkunftsdisziplinen entstammen. Um in dieser Methodenvielfalt Orientierung zu geben und eine Ordnung herzustellen, haben mehrere an Schreibforschung interessierte Autor*innen auf der Basis publizierter Studien Systematiken hierzu entwickelt. Dieser Beitrag soll Forschenden und Forschungsnoviz*innen einen differenzierten Zugang zu schreibwissenschaftlichen Methoden und ihrer Systematisierung bieten. Hierzu werden exemplarisch seit 2005 veröffentlichte Systematiken aus dem deutschsprachigen und angelsächsischen Raum ausgewertet und vorgestellt. Die Auswertung zeigt, dass die Systematiken sich zum einen in ihren Zielsetzungen unterscheiden, indem sie unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und unterschiedliche Bereiche schreibwissenschaftlicher Forschung fokussieren (z.B. fremdsprachliches oder berufliches Schreiben oder Schreiben als Übersetzen). Zum anderen wird deutlich, dass eine Systematisierung von Methoden nach unterschiedlichen Kriterien realisiert werden kann: Die untersuchten Systematiken lassen sich danach unterscheiden, ob sie von der Art der Datenerhebung, vom Forschungszweck, vom Forschungsgegenstand, vom Forschungsablauf oder von der Forschung zugrunde liegenden Paradigmen ausgehen. Damit unterscheiden sie sich auch darin, ob sie einen eher praktisch ausgerichteten Überblick geben oder eine vertiefte Reflexion mit Methoden und den dahinter liegenden Annahmen ermöglichen.
1 EINLEITUNG Schreibwissenschaft im deutschsprachigen Raum ist eine Interdisziplin in der Entstehungsphase. Sie umfasst dabei im wesentlichen Schreibforschung und Schreibdidaktik sowie damit einhergehende Theoriebildung (siehe Girgensohn, Haacke,
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& Karsten in diesem Band). Etablierte Forschungsmethoden gehören, neben in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als relevant angesehenen Forschungsfragen, zu den Kriterien, die eine Forschungsrichtung zu einer wissenschaftlichen Disziplin werden lassen (Stichweh, 2013). Im Jahr 2019 waren Disziplinwerdung, Forschung und Forschungsmethoden der Schreibwissenschaft vielfach Gegenstand von Tagungen und Publikationen. So gehört dieser Artikel zum Tagungsband zur Klagenfurter Tagung der drei deutschsprachigen Schreibgesellschaften, auf der Fragen zur Disziplinwerdung diskutiert wurden. Auch die Tagung der Sektion Schreibwissenschaft der Gesellschaft für angewandte Linguistik (GAL) im September 2019 stand unter der Frage nach angemessenen Methoden. Teilweise wird noch die Frage gestellt, ob Forschung für die Schreibdidaktik notwendig und möglich ist – so titeln Hirsch-Weber, Lösch, & Scherer (2019): „Forschung für die Schreibdidaktik: Voraussetzung oder institutioneller Irrweg?“ Diese Frage scheint jedoch im Hinblick auf die Beiträge in Werken wie Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik (Becker-Mrotzek, Grabowski, & Steinhoff, 2016), Qualitative Methoden der Schreibforschung (Brinkschulte & Kreitz, 2017), Methods in Writing Process Research (Knorr, Heine, & Engberg, 2014), oder Handbook of Writing and Text Production (Jakobs & Perrin, 2014) bereits beantwortet. Ein Blick über den Atlantik zu den US-amerikanischen Vorläuferinstitutionen zeigt, dass sich dort diese Frage nicht mehr stellt, sondern dass eine Schreibforschung und auch eine Schreibzentrumsforschung möglich, notwendig und bereits seit Jahren etabliert ist (siehe u.a. Babcock & Thonus, 2012; Mackiewicz & Thonus, 2019). Auch ist ein Bezug auf Forschung integraler Bestandteil schreibdidaktischer Aus- und Weiterbildungen, so dass die Notwendigkeit von Schreibforschung als Voraussetzung für die Schreibdidaktik außer Frage steht. Forschungsmethoden in der Schreibforschung werden vielfältig angewendet, wobei sie unterschiedlichen Herkunftsdisziplinen entstammen, z.B. der Linguistik oder den Sozialwissenschaften. Insbesondere in empirischen Arbeiten werden seit den 2000er Jahren im deutschsprachigen Kontext zunehmend Forschungsmethoden aus den Sozialwissenschaften für den Forschungsgegenstand ‚akademisches Schreiben‘ genutzt. Dies führt zu einem breiten Methodenspektrum in der akademischen Schreibforschung, das für Nachwuchswissenschaftler*innen in seiner Vielfalt und Komplexität nicht einfach zu durchblicken ist. Es existieren bereits einige systematische Darstellungen (auch aus angrenzenden Bereichen wie der Translationswissenschaft), die aus verschiedenen – zumeist disziplinären – Perspektiven Kriterien für eine Ordnung vorhandener Forschungsmethoden vorschlagen. Diese Systematiken sollen in diesem Beitrag vorgestellt werden. Ziel ist dabei, diese Systematiken zu bündeln und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede darzustellen, so dass Schreibforscher*innen einen Überblick
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über diese bekommen und je nach Interessen entscheiden können, mit welcher Systematik sie sich vertieft auseinandersetzen möchten. Mit den vorgestellten Systematiken erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern verdeutlichen, wie in aktuellen und rezipierten Veröffentlichungen zu Schreibforschung die Vielfalt der Methoden geordnet wird. Weitere Systematiken könnten dazu führen, dass die hier im Abschnitt „Zur Systematisierung von Forschungsmethoden“ dargelegten Kriterien erweitert werden müssen. Jedoch lässt unsere auf einer umfangreichen Literaturrecherche basierende exemplarische Auswahl eine vorläufige Gesamtschau von Möglichkeiten der Systematisierung von Methoden zu. Weiterhin geht es nicht darum, die überzeugendste Systematik zu identifizieren, sondern vielmehr den Lesenden einen transparenten Zugang zu Methodensystematiken in der Schreibforschung zu eröffnen. Daher beschreiben wir in unseren Reviews vornehmlich die Potentiale der Methodensystematiken und weisen ggf. auf Schwächen für die Anwendung in der Schreibforschung hin. Auf diese Weise können Forschende aus diesen Systematiken eine für ihre Zwecke geeignete auswählen, um angemessene Methoden für ihre Forschungsfrage zu erkennen oder angewendete Methoden einordnen zu können. Somit gibt der Beitrag insbesondere Nachwuchswissenschaftler*innen eine Orientierung in der unter Umständen verwirrenden Methodenvielfalt empirischer Schreibforschung.
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ZUR SYSTEMATISIERUNG VON FORSCHUNGSMETHODEN
Systematisieren ist in der Wissenschaft ein gängiges Prinzip, um eine Vielfalt von Sachverhalten nach Kriterien zu ordnen und dadurch einen Überblick und Zugang zum Gegenstand zu erhalten. Eine der weltweit anerkannten Systematisierungen ist beispielsweise die Pflanzensystematik nach Carl Linné, in der eine Einteilung der Pflanzen nach ihrer evolutionär-biologischen Entstehung entscheidend für die Klassifikation ist. Systematisierungen (nicht nur von Forschungsmethoden) stellen für die Theoriebildung in einer Wissenschaft eine Notwendigkeit dar: Durch die Offenlegung der Einteilungskriterien werden eine wissenschaftliche Ausbildung, ggf. eine interdisziplinäre Ausrichtung und Perspektiven auf den Sachverhalt deutlich (Balzer, 2009, S. 24). Systematisierungen sind ein wesentlicher Bestandteil von Theoriebildung, da sie nicht allein der ordnenden Bündelung von Wissen dienen, durch die eine weitergehende Abstraktion möglich wird. Vielmehr ermöglichen Systematisierungen eine wissenschaftlich zuverlässige Überprüfbarkeit von Methoden und empirischen Daten (Balzer, 2009, S. 35, S.49–51; Balzer & Brendel, 2019, S. 21 f.).
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Systematisierungen von Methoden der Schreibforschung haben bereits verschiedene Autor*innen, insbesondere aus dem angelsächsischen Raum, vorgenommen. Teilweise kann auch bei den oben angesprochenen Sammelbänden von Systematisierungen gesprochen werden, da die Struktur, nach der Methoden vorgestellt werden, bereits eine gewisse Systematisierung darstellt: So werden die Kapitel bei Brinkschulte & Kreitz (2017) sortiert nach Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung, womit eine grobe Systematisierung vorgenommen wird. Differenziertere Systematisierungen finden sich in Artikeln in Sammelbänden oder Kapiteln von Monographien, die sich allein der Darstellung von Methoden der Schreibforschung widmen. Derartige Systematisierungen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) stammen von Krings, 2005; Schultz, 2006; Liggett, Jordan, & Price, 2011; Babcock & Thonus, 2012; Girgensohn & Sennewald, 2012; Grésillon & Perrin, 2014; Prior & Thorne, 2014; Hyland, 2016; Manchón, 2016; Casanave, 2016; Linnemann, 2017 und Schramm, 2018. Dabei sind die Zielsetzungen, mit denen diese Systematiken verbunden sind, durchaus unterschiedlich: Auch wenn diese von den Autor*innen meist nicht explizit gemacht werden, konnten wir feststellen, dass es zum einen eine eher didaktische Zielsetzung gibt: Hierbei soll insbesondere Forschungsnoviz*innen im Bereich der Schreibforschung veranschaulicht werden, welche Forschungsentscheidungen zu treffen sind. Zum anderen kann die Zielsetzung beim Aufstellen einer Systematik auch darin bestehen, im Sinne eines Überblicks über den Gegenstandsbereich bisher angewandte Methoden systematisch als State of the Art festzuhalten. Als eher didaktisch orientiert sind in diesem Sinne die Systematiken von Schramm (2018), Hyland (2016) und Girgensohn & Sennewald (2012) zu betrachten. Diese lassen sich so einordnen, weil die Erläuterungen zu notwendigen Forschungsentscheidungen, zu Methoden und zu möglichen Fragestellungen so dargestellt sind, dass sie auch Leser*innen nachvollziehen können, die mit diesen Themen der Forschung noch relativ unvertraut sind. Andere Systematiken, wie die von Krings (2005), Casanave (2014), Prior & Thorne (2014) und Manchón (2016) setzen bereits ein forschungstheoretisches Grundwissen bei den Leser*innen voraus und zielen darauf ab, Erkenntnisse zu Forschungsmethoden so zu bündeln, dass sie für eine weitere Verarbeitung in den Disziplinen – u.a. in der Schreibwissenschaft – dienlich werden, z.B. um Desiderata in Forschungsmethoden aufzuzeigen. Zudem unterscheiden sich die Systematiken danach, welchen Gegenstandsbereich der Schreibwissenschaft sie abdecken: Besonders häufig ist bei den Systematiken eine Fokussierung auf das Forschungsfeld des fremd- oder zweitsprachlichen Schreibens anzutreffen; dies gilt für Casanave (2014), Hyland (2016) und Manchón (2016), aber auch für Schramm (2018). Eine Fokussierung auf das Feld Schreib-
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zentrumsforschung – im US-amerikanischen Sinne von Forschung zu Peer-Schreibberatungen, die an Writing Centers stattfinden – nehmen Babcock & Thonus (2012) vor. Einen anderen Fokus gibt es bei Krings (2005), der sich auf die Methoden zur Erforschung von Übersetzungsprozessen konzentriert. Da es sich bei Schreiben und Übersetzen durchaus um verwandte Prozesse handelt (vgl. Dam-Jensen, Heine, & Schrijver, 2019) und da die hier vorgestellten Methoden zur Erforschung von Übersetzungsprozessen auf die Erforschung von Schreibprozessen übertragbar sind, soll auch diese in der Schreibforschung häufig rezipierte Systematik berücksichtigt werden. Unterschieden werden kann weiterhin danach, ob die Systematiken Forschungsmethoden insgesamt aufgreifen oder gleich eine Eingrenzung vornehmen z.B. auf quantitative Methoden (wie bei Manchón, 2016) oder qualitative Methoden (wie bei Schultz, 2006; Casanave, 2014 sowie Brinkschulte & Kreitz, 2017).
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ORDNUNGSKATEGORIEN IN METHODENSYSTEMATIKEN DER SCHREIBFORSCHUNG
Für eine Systematisierung als Ordnungsgebung ist insbesondere interessant, wie eine Ordnung zustande kommt, also nach welchen Kriterien jeweils systematisiert wird. Prinzipiell tauchen in allen Systematiken ähnliche Kriterien auf, wie etwa Forschungsgegenstand, theoretischer Bezugsrahmen oder Forschungszweck. Allerdings werden diese Kriterien in der Darstellung jeweils unterschiedlich gewichtet, d.h. der Forschungsgegenstand kann beispielsweise einmal ein übergeordnetes Kriterium sein, nach dem alle Methoden zunächst einmal kategorisiert werden; er kann jedoch auch ein untergeordnetes Kriterium sein, das erst dann zur Kategorisierung dient, nachdem auf einer höheren Ebene bereits nach einem anderen Kriterium – z.B. dem Forschungszweck – kategorisiert wurde. Für uns stand bei der Analyse der Systematiken daher die Frage im Vordergrund, welches das oberste Ordnungskriterium, also der Ausgangspunkt der Systematisierung, ist. Folgende Ausgangspunkte im obigen Sinne konnten wir identifizieren (wiederum unter Berücksichtigung, dass diese in den Systematiken nicht durchgehend explizit genannt werden, sondern sich bei vergleichender Analyse zeigen): 1. Art der Datenerhebung 2. Forschungszweck 3. Forschungsgegenstand 4. Forschungsablauf 5. Der Forschung zugrundeliegende Paradigmen
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Im Folgenden stellen wir die einzelnen Systematiken anhand dieser Einteilung kurz vor und verdeutlichen, wie die jeweilige Form der Systematik Forschenden dienlich sein kann. 3.1
Systematische Darstellung ausgehend von der Art der Datenerhebung
Dass Systematisierungen von der Art der Datenerhebung ausgehen, meint, dass hier die Frage, auf welche Weise auf den Forschungsgegenstand zugegriffen wird, an erster Stelle steht. Diese Art und Weise stellt dabei noch nicht konkrete Methoden wie etwa Interview, Lautes Denken etc. vor, sondern beschreibt übergeordnete Merkmale, die verschiedene Methoden gemeinsam haben können. Diese Art der Systematisierung ist in Methodensystematiken der Sozialwissenschaften und Linguistik weit verbreitet, z.B. die Einteilung nach introspektiven und retrospektiven Verfahren. Hier seien exemplarisch zwei Systematiken aus der Schreibwissenschaft vorgestellt, die diesem Ordnungsprinzip folgen: Linnemann (2017) unterscheidet Erhebungsmethoden anhand ihrer Synchronizität (während oder nach der Schreibaktivität), Direktheit (direkte Aussagen der Schreibenden oder Interpretation von Beobachtungen) und dem Grad der Detailliertheit (der erhobenen Daten). Diese Dimensionen werden in einer zusammenfassenden Tabelle (S. 337) dargestellt, der Beitrag selbst orientiert sich im Aufbau an der Dimension Synchronizität (von asynchron zu synchron). In der Tabelle werden die Methoden anhand dieser drei Dimensionen eingeordnet. So wird beispielsweise die Erhebungsmethode eines retrospektiven Interviews, das sich auf das Vorgehen im Schreibprozess bezieht, als asynchron, direkt und eher wenig detailliert eingeordnet. Als synchron, indirekt und stark detailliert werden hingegen Methoden wie Keystroke Logging, Screen Capturing, Eye-Tracking oder bildgebende Verfahren charakterisiert. Linnemann fokussiert maßgeblich Erhebungsmethoden und technische Unterstützung beim Sammeln von Daten, erwähnt aber auch Möglichkeiten der Auswertung und des Methodenmixes. Wie Linnemann präsentiert auch Krings eine grafische Typologie der Erhebungsmethoden der Übersetzungsprozessforschung (2005, S. 348), wiederum orientiert an Methoden der zeitlich parallelen (während des Schreibens) oder zeitlich nachgelagerten (nach Abschluss des Schreibens) Datensammlung. Die zeitlich nachgelagerten Methoden (er spricht von Offline-Verfahren) teilt er weiter auf in Methoden, die sich auf das Produkt beziehen, und Methoden, die verbale Daten erheben. Bei der Betrachtung des Produktes spielen verschiedene Formen der Analyse eine Rolle, so die des übersetzten Textes selbst, aber auch von Überarbeitungen, Notizen etc. Verbale Daten können erhoben werden durch retrospektive oder generalisierte Interviews oder Fragebögen oder aber durch Kommentierungen.
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Auch die zeitlich parallelen Erhebungen lassen sich aufteilen, einmal in Verhaltensbeobachtung, einmal in verbale Daten. Methoden zur Verhaltensbeobachtung sind z.B. Beobachtungs- bzw. Computerprotokolle, Videoaufzeichnungen, EyeTracking oder Gehirnfunktionsmessungen. Methoden zur Erhebung zeitlich paralleler verbaler Daten sind Think Aloud, Talk Aloud und Dialogprotokolle. Durch diese Art der Systematisierung wird erreicht, dass Forschungsmethoden (hier mit Fokus auf Datenerhebungsmethoden) im Hinblick auf die Situation, in der der Forschungsgegenstand verortet ist, systematisiert werden. Dies bedeutet für Forschende, die mit einer derartigen Systematik arbeiten, dass sie ausgehend von ihrer Forschungsfrage prüfen können, welche Forschungsmethoden für die eigene Untersuchung situationell passend sein könnten. Insbesondere können sie kriteriengeleitet prüfen, wie die Erhebungssituation im Forschungsdesign kreiert werden müsste, um die Forschungsfrage angemessen zu bearbeiten. 3.2
Systematische Darstellung ausgehend vom Forschungszweck
Eine weitere Systematisierung besteht darin zu fragen, welchen Zweck bestimmte Methoden verfolgen, also nicht – wie oben – wie sich dem Forschungsgegenstand genähert wird, sondern mit welchem Erkenntnisinteresse. Die nachfolgenden Systematiken verdeutlichen diese Einteilung: Liggett, Jordan, & Price (2011) entwickeln ausgehend vom Gegenstand Schreibzentrumsforschung, die sie als Teilgebiet der Composition Studies und nicht als eigenständige Disziplin einordnen, eine Taxonomie (S. 55) in Form eines Organigramms für den ordnenden Überblick und eine Map of Methodologies in Writing Center Research (S. 81). Ihre Grundlage für diese Systematik stellen Forschungssystematiken dar, die aus den Composition Studies, New Literary Studies und US-amerikanisch rezipierter Schreibprozessforschung stammen. Dabei folgen sie weitgehend einer Einteilung von Bereiter & Scardamalia (1983), die sie ergänzen und differenzieren. Die Systematik von Liggett, Jordan, & Price legt den Forschungszweck als oberste Kategorie an. Es wird danach gefragt, wozu bzw. mit welchem Erkenntnisinteresse geforscht wird. Hierbei spielt der Kontext (die Verortung des Erkenntnisinteresses) die entscheidende Rolle für die Einteilung. So kommen die Autor*innen zu einer Einteilung, die die folgenden zentralen Kategorien beinhaltet: 1. ‚Practitioner Inquiry‘: Im Fokus steht Forschung von Praktiker*innen für die Praxis der Schreibzentrumsarbeit, z.B. um didaktische Fragestellungen zu bearbeiten; 2. ‚Conceptual Inquiry‘: Das Erkenntnisinteresse liegt in der Erforschung zugrundeliegender Konzepte der Schreibzentrumsarbeit durch die Analyse von Doku-
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menten, z.B. um Veränderungen von Arbeitsweisen in Schreibzentren durch eine historische Analyse aufzudecken; 3. ‚Empirical Inquiry‘: Entsprechend der sich unterscheidenden Erkenntnisinteressen in deskriptiver („descriptive inquiry“, S. 66) oder experimenteller Ausrichtung („experimental inquiry“, S. 71) werden im ersten Fall ethnographische oder explorative Forschungsmethoden angewandt, während in Interventionsstudien experimentelle Methoden zum Einsatz kommen. Diese Kategorien, die als teilweise nicht trennscharf angesehen werden können, differenzieren Liggett, Jordan, & Price weiter aus und ordnen ihnen charakteristische Forschungsmethoden zu. Dabei betonen sie besonders die Funktion von Mixed-Methods-Verfahren, um dem jeweiligen Erkenntnisinteresse angemessen nachgehen zu können. Da das Erkenntnisinteresse zum Teil mehrere Kategorien ihrer Taxonomie einschließt, entwickeln sie abschließend eine Map of Methodologies in Writing Center Research (Liggett, Jordan, & Price, 2011, S. 81), die als eine Mindmap die Zusammenhänge der Kategorien veranschaulicht, um Entscheidungs- und Kombinationswege zu verdeutlichen. Manchón (2016), die sich mit quantitativen Methoden der L2-Schreibforschung befasst, unterscheidet zwischen deskriptiven, also Phänomene beschreibenden Ansätzen, und erklärend-interventionellen Ansätzen, die das Ziel haben, die Effekte von Variablen zu messen. Bei den deskriptiven Ansätzen unterscheidet sie zwischen denjenigen, die das Produkt, und solchen, die den Prozess untersuchen. Bei den erklärend-interventionellen Ansätzen unterscheidet sie zwischen Experimenten, in denen Bedingungen einer Aufgabe variiert werden, sowie der Messung pädagogischer Interventionen, wie z.B. Instruktionen. Die Systematisierung nach dem Forschungszweck setzt folglich das Erkenntnisinteresse als oberste Kategorie an. Dabei können Systematiken, wie z.B. jene von Liggett, Jordan, & Price (2011), Forschende dabei unterstützen zu erkennen, wo ihr Erkenntnisinteresse verortet ist. Hierüber erhalten sie Anhaltspunkte, welche Forschungsmethoden und ggf. MixedMethods-Verfahren in ihrer spezifischen Methodenverknüpfung für das eigene Forschungsprojekt passend sein könnten. Systematiken, die den Forschungszweck als Ausgangspunkt für ihre Einteilung nehmen, helfen Forschenden das Erkenntnisinteresse und seine Verortung zu explizieren, damit sie eine Methodenwahl hinreichend begründen oder ggf. anvisierte Methoden hinterfragen können. Eine solche Systematik, die vom Forschungszweck ausgeht, hat für diejenigen, die nach einer für sie geeigneten Methode suchen, den Vorteil, dass sie gezwungen werden zu reflektieren, mit welchem Erkenntnisinteresse und in welcher methodologischen Einbettung sie forschen – und erst nach der Klärung des Forschungszwecks eine geeignete Methode auszuwählen.
Methoden für die Schreibwissenschaft
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Systematische Darstellung ausgehend vom Forschungsgegenstand
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Methoden danach zu systematisieren, auf welchen Forschungsgegenstand mit ihrer Hilfe zugegriffen werden kann. Diese Differenzierung ergibt sich daraus, dass beim Forschungsbereich Schreiben mehrere konkrete Forschungsgegenstände denkbar sind, die sich mit durchaus sehr unterschiedlichen Methoden erforschen lassen, angefangen bei der Unterscheidung zwischen Prozess und Produkt des Schreibens. Anhand von drei Systematiken soll diese Einteilung verdeutlicht werden: Die Darstellung von Methoden bei Perrin & Grésillon (2014) orientiert sich an vier Forschungsausrichtungen und diesen zugeordneten Analysen: Materieller Fokus (Variationenanalyse: Was wird am Text verändert?), Schreibstrategien-Fokus (Progressionsanalyse: Wie werden Textveränderungen von Autor*innen begründet?), Adressat*innen- bzw. Community-Fokus (Versionenanalyse: Wie wird in einer Gruppe bzw. für eine bestimmte Gruppe geschrieben?) und sozial-kognitiver Fokus (Metadiskursanalyse: Wie wird Sprachverwendung ausgehandelt?). Grundsätzlich stellen sie einzelne Methoden (z.B. Keystroke Logging, Screen Capturing, Versionenvergleiche) im Kontext dieser vier Ausrichtungen vor. Deutlich werden soll, dass Forschung zu Real Life Writing (also keine experimentelle Forschung) – handle es sich um literaturwissenschaftliche Textgeneseforschung oder Forschung zur Erstellung journalistischer Texte – auf diese vier Ausrichtungen eingehen kann. Casanave (2016) geht bei der Systematisierung von qualitativen Forschungsmethoden für die Erforschung des (meist englischsprachigen) L2-Schreibens von vier großen Themen bzw. Gegenständen der Forschung aus: Als solche identifiziert sie die Entwicklung L2-Schreibender, die Interaktion zwischen L2-Schreibenden und anderen Beteiligten wie Mentor*innen, Betreuer*innen, Reviewer*innen, die Texte von L2-Schreibenden sowie deren digitale Praxis. Für diese vier Bereiche nennt sie Beispiele für Studien, die mit sehr unterschiedlichen Methoden arbeiten. Den Forschungsfeldern werden also nicht explizit bestimmte geeignete Methoden zugeschrieben, so dass sich dieser Artikel an der Schnittstelle zwischen einer Methodensammlung und einer Methodensystematik einordnen lässt. Für Leser*innen wird trotz fehlender ausdifferenzierter Systematik durch die Beispiele deutlich, welche Möglichkeiten es gibt, innerhalb der vier genannten Felder Forschung zu betreiben. Ähnlich unterteilt Schramm (2018) die empirische Erforschung des Schreibens in Deutsch als Zweitsprache nach drei Untersuchungsschwerpunkten: Schreibprodukt, Schreibprozess und Interaktion (Gespräche über das Schreiben). Der Gegenstand Schreibprozess kann wiederum differenziert werden in die Untersuchung des Schreibhandelns (aktionale Aspekte) und die Gedanken beim Schreiben (Int-
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rospektion), wobei letztgenannter Punkt wiederum in simultane und retrospektive Verfahren aufgeteilt ist. Auffällig ist, dass es im Text von Schramm vornehmlich um Methoden der Datenerhebung geht, Methoden der Datenauswertung werden zwar benannt, aber weit weniger ausgeführt. Da für viele Forschende der Gegenstandsbereich, der sie interessiert, relativ zu Beginn eines Forschungsprozesses feststeht, bietet diese Art der Systematik eine gute Möglichkeit für Forschende, sich zu informieren, welche Methoden ihnen für ihren Gegenstandsbereich zur Verfügung stehen. Da für jeden Gegenstandsbereich meist mehr als eine Methode geeignet sein kann, gibt sie auch Forschenden, die über Möglichkeiten der Methodentriangulation nachdenken, einen ersten Einblick. 3.4 Systematische Darstellung ausgehend vom Forschungsablauf
Ein weiterer Ausgangspunkt für die Darstellung von Methoden kann der Ablauf des Forschungsprozesses sein: Klassischerweise sind Forschungsprozesse mindestens in die zwei Schritte der Datenerhebung und Datenauswertung unterteilt, für die sich jeweils unterschiedliche Methoden nutzen lassen. Diese Zweiteilung nehmen mehrere Texte als Grundlage für die Darstellung von Methoden: Babcock & Thonus (2012, S. 35–49) beziehen sich in ihrer Methodendarstellung allein auf Schreibzentrumsforschung. Im US-amerikanischen Kontext der beiden Forscherinnen lässt sich dieser Begriff, auch anhand der in diesem Band vorgestellten Untersuchungen, verstehen als Forschung, die sich mit (zumeist von Peer-Tutor*innen durchgeführten) Writing Tutoring Sessions an Schreibzentren befasst. Die Autorinnen unterscheiden zwischen Methoden der Datenerhebung und Methoden der Datenauswertung. Die Methoden der Datenerhebung sind dabei auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, teilweise handelt es sich eher um methodische Ansätze als um Erhebungsmethoden. So nennen sie hier einmal das Experiment (das im Kontext von Schreibzentrumsforschung nur äußerst selten und nur mit sehr eng gefassten Forschungsfragen durchgeführt wird). Eine weitere Methode benennen sie als „Teacher Research“ oder „Tutor Research“. Gemeint ist hier das Sammeln schriftlicher oder auch mündlicher Reflexionen von Lehrenden bzw. Beratenden über erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Tutoring Sessions. Als ähnlich hierzu beschreiben sie den Ansatz des Action Research, bei dem jedoch die Lernenden stärker in die Forschung einbezogen werden. Weitere Ansätze, die sie nennen, sind Ethnographie und Fallstudien. Bei den Auswertungsmethoden unterscheiden sie einmal zwischen qualitativer und quantitativer Analyse und danach, ob Texte (und deren Überarbeitung) oder Gespräche (zwischen Tutor und Tutee) untersucht werden. Auch wenn die Unterscheidung für den Untersuchungsgegenstand „Writing Tutoring Session“ sinnvoll erscheint, bleibt diese
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Darstellung insgesamt etwas lückenhaft, da offenbleibt, wie andere im Rahmen der oben genannten Forschungsansätze erhobene Daten wie z.B. Interviewdaten oder Beobachtungen ausgewertet werden können. Sennewald & Girgensohn (2012, S. 51–57) rahmen die Darstellung der Methoden der Datenerhebung und -auswertung, indem sie zunächst darlegen, dass es quantitative, qualitative und Mixed-Methods-Forschungen gibt. Die Methodensystematik orientiert sich dann allerdings am Forschungsablauf, sodass zunächst die Erhebungsmethoden und dann die Auswertungsmethoden dargestellt werden. In einem Folgekapitel werden einige exemplarische Schreibforschungsprojekte (qualitativ, quantitativ und Mixed Methods) präsentiert (2012, S. 58–73). Der Sammelband von Brinkschulte & Kreitz (2017) strukturiert die Artikel, exemplarische Darstellungen von konkreten Forschungsprojekten, bezüglich der Erhebungs- und dann der Auswertungsmethoden, ergänzt um Artikel zur Verschriftlichung der Daten und Darstellungen zur Verschränkung schreibdidaktischer Praxis und Schreibforschung. Er bietet somit Leser*innen einen Einblick in die Arbeit an empirischen Forschungsprojekten mit qualitativer Ausrichtung. Systematiken, die sich am Forschungsablauf orientieren, haben den Vorteil, dass sie den Forschungsprozess umfassender abbilden als viele der anderen Systematiken, in denen es häufig eine Beschränkung auf die Datenerhebung gibt. Gerade Forschungsnoviz*innen kann eine solche Systematisierung eine erste Orientierung darüber geben, welche Schritte sie gehen müssen und welche Methoden ihnen für diese Schritte zur Verfügung stehen. 3.5
Systematische Darstellung ausgehend von zugrundeliegenden Paradigmen
Ein etwas anderer Ansatz besteht darin, Methoden danach zu systematisieren, welche Denkweisen, Auffassungen oder Schulen ihnen zugrunde liegen. Schultz (2006) geht auf qualitative Methoden in der Schreibforschung ein. In ihrer Systematik wählt sie einen historischen Ansatz, um verschiedene Forschungsfelder zu identifizieren, die durch einen Paradigmenwechsel in der Schreibforschung zustande kommen. Als einen entscheidenden Wendepunkt für die Zunahme qualitativer Studien in US-amerikanischer Schreibforschung setzt Schultz die einflussreiche Arbeit von Emig (1971) an. Da sich Erkenntnisinteressen in der US-amerikanischen Schreibforschung im Laufe der Zeit (Ende der 1960er bis in die 2000er Jahre) von der Textanalyse vermehrt auf die Untersuchung von Schreibprozessen verschoben haben, geht dies mit einer veränderten Nutzung von Forschungsmethoden einher. Als aktuelles Forschungsparadigma für die 2000er Jahre gibt Schultz den „social turn“ (S. 365) an, der Erkenntnisinteressen zu literacy
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practices in ihrer soziokulturellen Einbettung zum Gegenstand hat und abgelöst wird durch den „visual turn“ (S. 368), in dem die Erforschung von Multimodalität und -medialität beim Schreiben den Forschungsfokus bildet. In ihrer Übersicht stellt Schultz die historisch abgeleiteten Forschungsparadigmen mit charakteristischen Forschungszielen und -fragen vor: Wenn beispielsweise das derzeitig weit verbreitete Erkenntnisinteresse ‚multimediales und -modales Schreiben‘ in empirischen Studien verfolgt wird, könnten Forschungsfragen nach der Integration multimedialer Schreibwerkzeuge in Schreibprozesse bearbeitet werden. Durch diese Systematik werden Themenschwerpunkte in empirischer Schreibforschung sichtbar. Als nachteilig ist anzusehen, dass Forschungsmethoden zwar erwähnt, jedoch nicht näher in diese Systematik integriert werden. Prior und Thorne (2014) stellen zunächst fest, dass die gewählte Forschungsmethode vom Gegenstand der Forschung abhängt – wie oben für die Systematiken der dritten Kategorie (ausgehend vom Forschungsgegenstand) dargestellt. Sie benennen hierzu die Gegenstände Text, Person, Aktivität des Schreibens, Medium/Technologie/Modalität, Gesellschaft bzw. soziale Praxis. Zu diesen Gegenständen merken sie jedoch an: „Of course, the object of research is also shaped by the mix of theoretical frameworks and methodological tools used to investigate the phenomena. Different theories typically give different degrees of prominence to one or more of these dimensions of writing.“ (2014, S. 35). Der Forschungsgegenstand kann also nicht losgelöst von zugrundeliegenden Annahmen über das Schreiben betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund stellen Prior und Thorne eine „multidimensional map of writing research“ (2014, S. 36 f.) dar. In dieser ordnen sie nicht bestimmten Forschungsinteressen bestimmte Methoden zu, sondern listen verschiedene Dimensionen auf, die für die Schreibforschung von Bedeutung sind. Dies sind der Forschungsgegenstand, die „epistemological stance“, der theoretische Rahmen, die Datenerhebung, die Datenanalyse sowie die Präsentation der Forschung. Den Autoren zufolge soll diese Forschungslandkarte heuristisch als multidimensionale Topographie die verschiedenen Optionen darstellen, die Schreibforschende haben. Die Autoren stellen damit eine sehr umfassende, auf verschiedene Dimensionen eingehende Übersicht derjenigen Entscheidungen dar, die Schreibforschende (bewusst oder unbewusst) treffen. Hyland (2016) richtet sich mit seiner Systematik explizit an Forschungs noviz*innen bzw. an writing teachers, die Action Research betreiben wollen. Obwohl er – wie in unserer ersten Kategorie dargestellt – damit beginnt, Arten der Datenerhebung vorzustellen, führt er seine Ausführungen zur Methodik letztlich in einer Tabelle zusammen, die verdeutlicht, dass die Wahl der Methode vom Forschungsparadigma, in dem man sich verortet, und damit von der Perspektive abhängt, aus der man auf den Gegenstand Schreiben blickt. Diese Perspektive erläutert er so,
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dass Schreiben als expressive Tätigkeit gesehen werden kann, als kognitive Tätigkeit oder als bereits abgeschlossene Tätigkeit. Letzteres würde dann einen Fokus auf den Text als Produkt des Schreibens bedeuten. Schreiben kann Hyland zufolge aber auch als situierte Tätigkeit gesehen werden – wobei dann die politischen und institutionellen Kontexte, in denen sich die Schreibenden befinden, sowie ihre Erfahrungen im Mittelpunkt stehen. Eine weitere Perspektive ist die auf Schreiben als soziale Tätigkeit mit dem Fokus auf Diskurse durch Texte und auf die Gemeinschaft, in der diese Texte geschrieben werden. Eine etwas andere Perspektive findet sich in der von Schreiben als einer Tätigkeit, die von zugrunde liegenden Machtstrukturen und Ideologien beeinflusst wird. Diesen Blickrichtungen ordnet Hyland „main methodologies“ (S. 15) zu wie Ethnographie, Fallstudien, Textanalysen, Kritische Analyse und Experiment, wobei einige davon mehreren Perspektiven zugeordnet werden können. Diese wiederum gehen mit bestimmten Arten der Datenerhebung einher. Dabei beschränkt er sich auf vier: Die Elizitierung (das Erheben von Aussagen durch Interviews, Fragebögen, Fokusgruppen etc.), die Introspektion (durch Lautes-Denken-Protokolle oder Tagebücher), die Beobachtung (durch Aufnahmen verschiedener Art) sowie die Analyse von Texten (Korpora, Reihen von Texten oder einzelne Texte). Systematiken, die von zugrunde liegenden Paradigmen ausgehen, haben gegenüber den übrigen Systematiken den Vorteil, dass sie stärker in die Tiefe gehen und beleuchten, welche grundlegenden Annahmen hinter der Wahl eines bestimmten Forschungsgegenstands oder einer Art der Datenerhebung stecken. Auf diese Weise erhalten Forschende, die sich mit einer solchen Systematik befassen, Anregungen zur Reflexion ihres Vorgehens und ihrer Methodenwahl. Für Forschungsnoviz*innen kann eine solche Auseinandersetzung auf den ersten Blick überfordernd sein, jedoch in der tiefergehenden Auseinandersetzung sehr erhellend – gerade wenn wie bei Hyland auch konkrete Fragen gegeben werden, die Forschende sich stellen sollten, um ihre Methode zu wählen.
4 FAZIT Die vorliegende Review von Systematiken schreibwissenschaftlicher Methoden zeigt, dass Schreibforschung ein stark empirisch geprägtes Forschungsfeld ist, das die Methodenvielfalt unterschiedlicher Herkunftsdisziplinen für die diversen Erkenntnisinteressen nutzt. Dabei werden Methoden teilweise verknüpft und transformiert (siehe z.B. Heine in diesem Band), um sie auf eine adäquate Bearbeitung einer Fragestellung auszurichten. Hierdurch entstehen unter Umständen innovative Forschungsmethoden, die einer Schreibwissenschaft in ihrer interdis-
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ziplinären Verortung zugeordnet werden. Methodensystematiken dienen dazu, dieser Methodenvielfalt mit ihren Hintergründen gerecht zu werden und Forschungsmethoden nach expliziten Kategorien zu ordnen. Vorhandene Methodensystematiken zeigen zudem die Verankerung von Forschungsmethoden in der Schreibwissenschaft auf und tragen somit zur Begründung einer wissenschaftlichen Disziplin bei. Denn neben einer Theoriebildung gehören etablierte Forschungsmethoden als maßgebliche Einflussgrößen zur Begründung einer Wissenschaft (Stichweh 2013). Insbesondere in Hylands Beitrag wird deutlich, dass die Auswahl von Methoden nicht beliebig und neutral zustande kommt, sondern immer auch gebunden ist an bestimmte disziplinäre und paradigmatische Denkweisen, die den Blick auf das Schreiben bestimmen (siehe allgemeiner auch Balzer, 2009, S. 24 aus Sicht der Wissenschaftstheorie). Hinzu kommt, dass sich Schreibforschende in der Ausrichtung und Realisierung ihrer Forschung auf Herkunftsdisziplinen beziehen, durch die sie selbst geprägt und/oder die in der Schreibwissenschaft etabliert sind (Liggett, Jordan, & Price, 2011; Brinkschulte, 2019). Dass Schreibwissenschaft als neues, interdisziplinäres Feld offen ist für diverse Sichtweisen auf den Forschungsgegenstand Schreiben und damit auch offen für eine Vielzahl möglicher Forschungsmethoden, scheint uns eines der Potentiale dieser sich neu gründenden Disziplin zu sein. Dies bedeutet auch, dass weiterhin eine Aktualisierung oder Neukonzeption von Methodensystematiken erforderlich sein wird, um innovative Forschungsmethoden der Schreibforschung adäquat ordnen zu können.
Literatur Babcock, R. D., & Thonus, T. (2012). Researching the Writing Center. Towards an EvidenceBased Practice. New York: Peter Lang. Balzer, W., & Brendel, K.R. (2009). Die Wissenschaft und ihre Methoden: Grundsätze der Wissenschaftstheorie. Ein Lehrbuch. Freiburg, München: Verlag Karl Alber. Balzer, W. (2019). Theorie der Wissenschaften. Wiesbaden: Springer VS. Becker-Mrotzek, M., Grabowski, J., & Steinhoff, T. (Hg.). (2016). Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Münster New York: Waxmann. Bereiter, C., & Scardamalia, M. (1983). Levels of Inquiry in Writing Research. In P. Mosenthal, L. Tamor, & S. A. Walmsley (Eds.), Research on Writing: Principles and Methods. (pp. 3–25). New York: Longman. Brinkschulte, M. (2019). Wissenschaftliche Methoden in empirischer Schreibforschung. Einblick in Forschungspraktiken und didaktische Implikationen für eine wissenschaftsbasierte Methodenausbildung. In A. Hirsch-Weber, C. Loesch, & S. Scherer (Hg.), For-
Methoden für die Schreibwissenschaft
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DIE DEUTSCHSPRACHIGE SCHREIBWISSENSCHAFT UNTER INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE: VORSCHLÄGE FÜR EIN FORSCHUNGSPROGRAMM Helmut Gruber
ABSTRACT Angesichts des sinkenden Stellenwerts des Deutschen als Wissenschaftssprache stellt dieser Beitrag die Frage, ob und inwiefern eine deutschsprachige Schreibforschung heutzutage überhaupt sinnvoll sein kann. Ausgehend von der Tatsache, dass in den Geistes- und Sozialwissenschaften Deutsch immer noch die primäre Ausbildungs- und wissenschaftliche Umgangssprache in tertiären Bildungseinrichtungen ist, wird diese Frage zwar positiv beantwortet, allerdings nur, wenn die notwendigen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden: Angesichts der Dominanz des Englischen als Lingua franca der internationalen Wissenschaftskommunikation kann eine deutschsprachige, transkulturell sensitive, Schreibforschung ihre relevanten Konzepte und theoretischen Konstrukte nur unter Berücksichtigung der sprachlichen Praktiken muttersprachlich englischer, deutscher und Lingua-franca Schreibender auf unterschiedlichen Karriereniveaus und unter systematischer Berücksichtigung institutioneller und individueller Einflussfaktoren gewinnen. Der Beitrag liefert einige Vorschläge, wie dies im Rahmen empirischer Projekte durchgeführt werden könnte.
1
EINLEITENDE BEMERKUNGEN
Das Deutsche hat als Wissenschaftssprache im internationalen Vergleich heute keinen großen Stellenwert mehr. Das wird klar, wenn man einen Blick auf die Ranglisten wissenschaftlicher Zeitschriften wirft. In der internationalen Zeitschriftenrangliste der Kategorie „Language and Linguistics“ des „Scimago journal rankings“ des Elsevier Verlags für das Jahr 2018 findet sich auf den ersten 100 Plätzen keine einzige nicht-englischsprachige Zeitschrift.1 1
Basierend auf dem „Scimago Journal Ranking“, https://www.scimagojr.com/journalrank. php?type=d (Zugriff: 14.05.2020). Hier muss angemerkt werden, dass der „Scimago Journal Ranking“ Index nicht auf der Berechnung eines klassischen Impact Faktors beruht,
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Helmut Gruber
Tab. 1: Anzahl der auf Englisch bzw. Deutsch publizierten Zeitschriften in der BRD, Österreich und der Schweiz BRD Deutsch
Österreich Englisch
Deutsch*
Schweiz Englisch
Deutsch** Englisch
1. Quartil
0
12
0
0
0
1
2. Quartil
8
17
0
0
0
1
3. Quartil
13
10
1
0
1
0
4. Quartil
15
10
2
0
1
0
Teilsumme
36
49
3
0
2
2
Gesamt 85 3 4 * Publikationssprachen: Deutsch/Englisch/Französisch ** Publikationssprachen: Deutsch und andere romanische Sprachen
In Tabelle 1 ist die Auswertung der nationalen Listen dieser Rankings in dieser Kategorie für die drei deutschsprachigen Länder (BRD, Österreich, Schweiz) zusammengefasst. Die drei in Österreich publizierten Zeitschriften publizieren auf Deutsch, Englisch und Französisch und befinden sich im 3. bzw. 4. Quartil der Zeitschriftenrangreihe. In der Schweiz werden zwei Zeitschriften veröffentlicht, die sich im 1. bzw. 2. Quartil befinden, beide publizieren ausschließlich auf Englisch. Die anderen beiden befinden sich in den Quartilen drei und vier und publizieren (soweit feststellbar) deutsch- und romanischsprachige Beiträge.2 Von den 85 in Deutschland publizierten Zeitschriften haben 45 englische Titel und publizieren ausschließlich auf Englisch. Zwölf dieser Zeitschriften sind im 1. Quartil der Rangreihe, in dem sich keine einzige deutschsprachige Zeitschrift befindet. Erst im 2. Quartil findet man zehn Zeitschriften mit einem deutschen Titel, von denen aber nur acht (auch) deutsche Beiträge publizieren. Im 3. Quartil finden sich 14 Zeitschriften mit einem deutschen Titel, von denen 13 (auch) auf Deutsch publizieren. Im 4. Quartil schließlich finden sich 16 Zeitschriften mit deutschen Titeln, von denen 15 (auch) Artikel in deutscher Sprache publizieren. Speziell bei den Zeitschriften im 3. und 4. Quartil, die auch auf Deutsch publizieren, finden sich relativ viele mit einem Gründungsdatum im 19. Jahrhundert, die Beiträge in allen größeren europäischen Sprachen publizieren.
2
sondern auf der gewichteten Kombination mehrerer Einflussmaße. Trotzdem korreliert er mit dem klassischen Impact Faktor relativ hoch (González-Pereira et al., 2009). Allerdings gelten auch für dieses Ranking-Verfahren alle Einwände, die in der Literatur gegen Zeitschriftenrankings generell thematisiert werden (siehe etwa Lozano et al., 2012). Das „Scimago Journal Ranking“ berücksichtigt in der Zeitschriftenrangreihe für die Schweiz auch einige Buchreihen, die nicht in diese Auswertung einbezogen wurden.
Die deutschsprachige Schreibwissenschaft unter interkultureller Perspektive
67
Insgesamt zeigt diese Auswertung, dass Deutsch als Sprache der Spitzenforschung auch in den Sprach- und Literaturwissenschaften international kaum mehr eine Rolle spielt und dass Zeitschriften, die ausschließlich (oder zumindest auch) deutschsprachige Beiträge publizieren (zumindest in den Journal-Rankings) hauptsächlich in den letzten beiden Quartilen der Rangskalen zu finden sind und somit maximal lokale und/oder nationale Bedeutung haben. Nun mag man Zeitschriftenrangreihen durchaus kritisch sehen (was auch zunehmend der Fall ist, weil empirische Studien zeigen, dass die Impact-Faktoren von Zeitschriften immer weniger darüber aussagen, welche Publikationen in einem Fach die höchsten Zitationsraten haben, vgl. etwa Lozano et al., 2012), sie haben jedoch immer noch einen unmittelbaren Einfluss auf Publikationsgewohnheiten und Karrieremöglichkeiten, da sie für viele Wissenschaftler*innen am Beginn ihrer Karriere wichtige Orientierungshilfen bieten, in welchen Zeitschriften sie ihre Publikationen bevorzugt unterbringen möchten, um in den wissenschaftlichen Institutionen, in denen sie arbeiten, beruflich voranzukommen (und wenn möglich irgendwann einmal eine unbefristete Stelle zu ergattern; vgl. dazu etwa Rushforth & de Rijcke, 2016). In dieses eher düstere Bild der schrumpfenden Bedeutung des Deutschen als Wissenschaftssprache passt auch, dass der österreichische FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Österreichs einzige Förderungsinstitution für Grundlagenforschung) seit Jahren Förderungsanträge nur mehr auf Englisch entgegennimmt, Ausnahmen (d.h. deutschsprachige Anträge) sind nur nach schriftlicher Rückfrage an und Genehmigung durch die Gremien des FWF möglich und außerhalb des Faches Germanistik praktisch nicht zu erlangen. Angesichts dieser Lage könnte man fragen, wozu es dann überhaupt eine deutschsprachige Schreibforschung braucht? Abgesehen von sprachenpolitischen Überlegungen, die dahingehen, dass eine Öffentlichkeit, die Forschung über ihre Steuergelder finanziert, auch ein Anrecht haben muss, die Ergebnisse dieser Forschung (zumindest prinzipiell) auch in (zumindest) einer der offiziellen Landessprachen präsentiert zu bekommen und dass außerdem eine voll ausgebaute Sprache auch in der Wissenschaftskommunikation voll funktionsfähig bleiben muss, gibt es auch gewichtige schreibdidaktische Gründe, die dafür sprechen, das Projekt einer deutschsprachigen Schreibforschung nicht einfach ad acta zu legen und stattdessen alle verfügbaren Ressourcen auf die englischsprachige Schreibforschung und -didaktik zu konzentrieren, um den internationalen Anschluss nicht zu verpassen. Eine deutschsprachige Schreibforschung kann allerdings nur dann sinnvoll entwickelt werden, wenn sie sich in einem interkulturellen und sprachvergleichenden Kontext positioniert und dafür sensibilisiert ist, dass Wissenschaftskommunikation (so wie alle anderen Felder öffentlicher und privater Kommunikation) in modernen Gesellschaften prinzipiell mehrsprachig ist und dieser Mehrsprachig-
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Helmut Gruber
keit auch Rechnung trägt. Mit „Mehrsprachigkeit“ ist hier nicht nur die schon eingangs erwähnte Tatsache gemeint, dass das Englische immer mehr zur dominanten Wissenschaftssprache wird, sondern auch, dass die Akteur*innen des Wissenschaftsdiskurses zunehmend auch in ihren individuellen Biographien nicht einfach als ursprünglich einsprachige Individuen zu denken sind, die dann in einer (oder mehreren) Fremdsprachen publizieren wollen/müssen (siehe zu diesem Aspekt der individuellen Mehrsprachigkeit Hochschulrektorenkonferenz, 2019). Dieser letztere Aspekt kann hier allerdings nicht weiterverfolgt werden, vielmehr wird es in diesem Beitrag darum gehen, für eine interkulturell orientierte Basis einer deutschsprachigen Schreibdidaktik zu plädieren, in der das Verhältnis zur dominanten Wissenschaftssprache Englisch theoretisch und methodisch reflektiert wird. Deutsch ist (v.a. in den Geistes- und Sozialwissenschaften, aber zumindest auch in den BA-Studiengängen vieler anderer Disziplinen) immer noch die Ausbildungsund wissenschaftliche Umgangssprache in tertiären Bildungsinstitutionen der deutschsprachigen Länder (Gnutzmann & Rabe, 2014a, 2014b). Studierende (und vielfach auch Jungwissenschaftler*innen am Beginn ihrer Karriere) schreiben ihre Texte auf Deutsch und erwerben somit zuerst eine deutschsprachige wissenschaftliche Schreibkompetenz – von der Fachterminologie bis zum Textsortenwissen. Doch was heißt „deutschsprachige wissenschaftliche Schreibkompetenz“ in einem sozialen und institutionellen Umfeld, in dem ein beträchtlicher Teil der Fachliteratur eben nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch publiziert, dieses Englisch aber von einer internationalen Autor*innenschaft produziert wird, bei dem die muttersprachlichen Autor*innen inzwischen in der Minderzahl sind und das deshalb ein Lingua-Franca-Englisch3 ist. Wie wirkt sich die Rezeption von Texten, die von Schreiber*innen mit einer sprachlichen und diskursiven „Multikompetenz“ (Donahue, 2019) verfasst wurden, auf die Entwicklung der Schreibkompetenz Studierender auf unterschiedlichen Qualifikationsniveaus (von Bachelor über Master bis zu PhD-Student*innen) aus? Kann man in der heutigen globalisierten Wissenschaftswelt, die geradezu ein Paradebeispiel für eine „Transkultur“ (Welsch, 2010) darstellt und in der „Translanguaging“ (Donahue, 2019) eher die Regel als die Ausnahme darstellt, überhaupt noch sinnvoll von „nationalen Wissenschaftskulturen“ sprechen wie es etwa Kruse noch (2006) bei der Darstellung der Tradition des seminaristischen Schreibens in Deutschland tut? Welche Bedeutung hat der Kulturbegriff überhaupt in der linguistischen Schreibforschung und schließlich, wie beeinflussen sich etwaige unterschiedliche sprach(-kulturelle) und disziplinspezifische Textsortennormen gegenseitig? – Auf all diese Fragen kann der vorliegende Beitrag keine ausführlichen oder letztgültigen Antworten geben, es soll aber 3
Zum Konzept des Englischen als Lingua Franca vgl. z.B. Seidlhofer (2011).
Die deutschsprachige Schreibwissenschaft unter interkultureller Perspektive
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versucht werden, einige relevante theoretische, methodische und empirische Aspekte zu diskutieren, um daraus ein Forschungsprogramm für eine deutschsprachige Schreibforschung abzuleiten, die für die Internationalität des heutigen Wissenschaftsbetriebs nicht blind ist, sondern sie kreativ nützt. Denn interessanterweise gibt es bis heute relativ wenige Untersuchungen, die sich mit den Unterschieden (aber auch Parallelen) zwischen deutsch- und englischsprachigen wissenschaftlichen Textsortenkonventionen beschäftigen (siehe Abschnitt 3).
2
DAS KULTURKONZEPT DER INTERKULTURELLEN SCHREIBFORSCHUNG
Seit der Veröffentlichung von Kaplans bahnbrechenden Aufsatz über „kulturelle Denkmuster“ (Kaplan, 1966), die sich in kulturspezifischen Textmustern niederschlagen würden, hat der Kulturbegriff in der interkulturellen Schreibforschung Konjunktur. Davon zu unterscheiden ist das Konzept der „disziplinspezifischen (Schreib-)Kulturen“, das sich seit Ende der 1980er Jahre v.a. in der rhetorisch ausgerichteten Schreibforschung der New-Rhetoric-Bewegung durchgesetzt hat (vgl. Bazerman, 1988). Beide sollen hier kurz dargestellt werden, um daran anschließend zu diskutieren, wie sie produktiv in einem Forschungsprogramm für eine interkulturell sensitive deutschsprachige Schreibwissenschaft verwendet werden könnten. Die sich im Anschluss an den oben erwähnten Aufsatz von Kaplan etablierende „kontrastive Rhetorik“ in der Schreibforschung war in hohem Maße textzentriert, d.h. sie verglich die Produkte wissenschaftlicher Schreibprozesse in verschiedenen Sprachen (die oft relativ kurzschlüssig mit Kulturen und diese wiederum u.a. mit „Denkmustern“ gleichgesetzt wurden, obwohl bereits Kaplans Zuordnung von Sprachen zu „Kulturen“ höchst zweifelhaft und kritisierbar war). Dabei wurden häufig englischsprachige Texte (implizit) als Norm gesetzt, anhand derer die „Abweichungen“ in Texten anderer Sprachen festgestellt wurden, auf die dann gezielt im Rahmen von Schreibtrainings fokussiert wurde, um nichtmuttersprachliche Schreibende an die Textnormen des Englischen heranzuführen. Als Erklärung für die gefundenen Unterschiede zwischen dem Englischen und „Sprache X“ wurden häufig relativ simple dichotome Unterscheidungen zwischen Leser- vs. Schreiber-orientierten Kulturen, kollektivistischen vs. individualistischen Schreibnormen etc. herangezogen (vgl. Belcher, 2014; Connor, 2004). Um die offensichtlichen theoretischen und empirischen Schwächen dieses Ansatzes zu überwinden, erfolgte eine Wende zur „interkulturellen Rhetorik“, die versucht, historisch und prozessorientiert die Unterschiede verschiedener Wissenschaftskulturen mit den Schreib- und Textstilen in verschiedenen Sprachen und
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Helmut Gruber
Kulturen in Beziehung zu setzen, ohne von vorneherein normative Wertungen vorzunehmen (Connor, 2004; Belcher, 2014). Doch auch diese Richtung wurde dahingehend kritisiert, dass sie von einem relativ homogenen Kulturbegriff ausgehe, anstatt die lokalen, individuellen Schreibpraxen einzelner Autor*innen im Spannungsfeld biographischer, institutioneller und disziplinärer Kontexte zu erforschen (vgl. etwa Kubota & Lehner, 2004). Dieser (häufig auch als postmoderne Richtung der interkulturellen Rhetorik bezeichnete) relativ rezente Ansatz versucht Aspekte der feministischen, kritischen, und postkolonialen Theorie zu integrieren und dabei das Verhältnis instabiler, fragmentierter disziplinärer Identitäten im Kontext temporär stabilisierter institutionalisierter Kontexte und deren Auswirkungen auf individuelle Schreibpraxen zu erforschen (Canagarajah, 2002; Kubota, 2010). Wie dieser sehr kurze historische Abriss der interkulturellen Schreibforschung zeigt, gibt es eine Entwicklung von der (ursprünglichen) Annahme relativ statischer Unterschiede zwischen (unreflektiert vorausgesetzten) kulturell bedingten Schreib- und Denkstilen hin zur (gegenwärtigen) Überzeugung, dass Unterschiede in den wissenschaftlichen Texten, die in unterschiedlichen Sprachen von Muttersprachler*innen und Nichtmuttersprachler*innen verfasst werden, auf ein Konglomerat sehr verschiedener, individueller, institutioneller und sozialer Faktoren zurückgeführt werden können, was nicht nur auf der theoretischen, sondern auch auf der methodischen Ebene reflektiert werden muss (vgl. unten Abschnitt 4). Dieser neue („postmoderne“) Ansatz ermöglicht es auch, das Konzept der „disziplinären Kulturen“ wie es in der New-Rhetoric-Bewegung entwickelt wurde, in die interkulturelle Schreibforschung zu integrieren. Unter „disziplinären Kulturen“ verstehen Forscher*innen wie Bazerman (1988) oder Berkenkotter & Huckin (1995) disziplinspezifische Denk- und Argumentationstraditionen und Muster, die systematisch mit textuellen Strukturen zusammenhängen. Die Sozialisierung eines/ einer Jungwissenschaftler*in (Student*in) in eine bestimmte wissenschaftliche Disziplin ist damit ein komplexer Prozess, in dem Denk- und Argumentationsmuster, das Erlernen methodischer Verfahren und der Erwerb einer disziplinspezifischen Schreibkompetenz dialektisch miteinander in Beziehung stehen. Dieser disziplinspezifische Kulturbegriff steht aber offensichtlich quer zum Kulturbegriff der interkulturellen Rhetorik: Denn die disziplinspezifische Kultur von Fächern wie der Soziologie oder Psychologie gilt per definitionem nicht (nur) für eine sprachlich definierte Kultur, sondern für die gesamte (internationale) Disziplin. Um beide Kulturaspekte gemeinsam denken zu können, bietet sich Hollidays Unterscheidung zwischen großen („big“) und kleinen („small“) Kulturen in der Schreibforschung an (Holliday, 1999). Große Kulturen sind demnach „nationale“ oder „transnationale“ sprachlich geprägte Kulturen (etwa auch im Sinne von Galtungs
Die deutschsprachige Schreibwissenschaft unter interkultureller Perspektive
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Wissenschaftskulturen, Galtung, 1985), während disziplinspezifische (kleine) Kulturen einerseits durch die große Kultur, in die sie eingebettet sind, aber auch durch lokale institutionelle Kulturmerkmale geprägt sind. Nationale disziplinspezifische Kulturen sind somit Hybride, die sich in manchen Aspekten unterscheiden, in anderen aber übereinstimmen (Atkinson, 2004). Kriterien dafür, wo eine „kleine Kultur“ endet und eine „große“ beginnt, sind aber in diesem Ansatz nur schwer festzumachen. Das Konzept der „Transkulturalität“ (Welsch, 2010) geht einen Schritt weiter, indem es die Frage stellt, ob es in unserer modernen globalisierten Welt überhaupt noch „unvermischte“ Kulturen geben könne. „Transkulturen“ sind durch Hybridisierungsprozesse auf einem lokalen wie auf einem globalen Niveau gekennzeichnet, das heißt, dass einerseits Individuen in verschiedenen Situationen ihres Alltagslebens in verschiedene kulturelle Kontexte eingebettet sind (so arbeite ich, H.G., beispielsweise in einer Institution mit Kolleg*innen aus verschiedenen Herkunftsländern, die aber auch schon in anderen Ländern gearbeitet haben, schreibe und publiziere in zwei Sprachen und gehe öfter am Abend in ein indisches Restaurant essen, das die indische Küche dem österreichischen Geschmack [aus der Perspektive der indischen Besitzer] angepasst hat). Andererseits ist auch die mich umgebende „globale“ Kultur dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur aus Menschen mit sehr vielfältigen kulturellen Hintergründen besteht (die von den relevanten politischen Akteur*innen und anderen einflussreichen sozialen Gruppen sehr unterschiedlich bewertet werden), sondern auch dadurch, dass viele ökonomische Akteure nicht mehr national, sondern international agieren und damit transnationale soziale Praktiken einen zunehmenden Stellenwert haben. Was kann dies alles nun für die Theorie und Praxis einer interkulturell orientierten deutschsprachigen Schreibforschung bedeuten? Das soziale Feld der Wissenschaft ist eine „Transkultur“ schlechthin: Nicht nur arbeiten in wissenschaftlichen Institutionen heutzutage meist Forscher*innen aus sehr unterschiedlichen Herkunftsländern zusammen, sondern sie sprechen und publizieren (im deutschsprachigen Kontext) auch in mindestens zwei Sprachen: Auf Deutsch und auf Englisch, wobei Deutsch (zumindest in den kulturwissenschaftlichen Fächern) häufig die Sprache der (wissenschaftlichen) Alltagskommunikation und Englisch die Publikations- (und Tagungs-)Sprache ist. Der sprachlich-kommunikative Aspekt dieser Verhältnisse wurde von Donahue (2019) mit den Konzepten der „Multikompetenz“ für die Auswahl adäquater kommunikativer Ressourcen in einem superdiversen Kontext und des „Translingualismus“, d.h. des (metalinguistischen) Bewusstseins für sprachliche Funktionen in unterschiedlichen Sprachen und Kontexten, beschrieben. Die heutzutage immer wichtiger werdende Interdisziplinarität fügt dem einen weiteren transkulturellen Aspekt hinzu: Wenn Wissenschaft
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Helmut Gruber
ler*innen aus verschiedenen Fächern miteinander zusammenarbeiten und gemeinsam publizieren, stehen disziplinäre Textsortenkonventionen immer wieder auf dem Prüfstand und werden gegebenenfalls verändert oder miteinander kombiniert. Diesen Aspekten der Transkulturalität stehen allerding auf Seiten der Publikationsinstitutionen nicht nur sehr einflussreiche, sondern häufig auch in vieler Hinsicht „bremsende“ konservative Faktoren gegenüber: Gerade in geisteswissenschaftlichen Publikationsorganen gilt häufig immer noch der/die muttersprachlich Schreibende mit einer muttersprachlichen Textsorten- und Sprachkompetenz als normgebend, was den eben diskutierten transkulturellen und translingualen Verhältnissen in der Wissenschaft diametral entgegensteht. Auch damit hätte sich eine interkulturell geprägte deutschsprachige Schreibwissenschaft kritisch auseinanderzusetzen.
3
BISHERIGE UNTERSUCHUNGEN ZUM VERGLEICH DEUTSCHER UND ENGLISCHER WISSENSCHAFTSTEXTE
Obwohl schon im Jahr 1996 geäußert, ist Ulla Connors Feststellung, dass „[r]elatively few studies have examined German-English contrasts in an applied linguistics context“ (Connor, 1996, S. 46) immer noch zutreffend. Das ist insofern erstaunlich, als die Notwendigkeit für deutsche Wissenschaftler*innen auf Englisch zu publizieren (insbesondere in den Naturwissenschaften, aber in zunehmendem Maße auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften, siehe Abschnitt 1) in mehreren Untersuchungen dokumentiert wurde (für einen Überblick siehe eine der letzten derartigen Untersuchungen von Gnutzmann & Rabe, 2014a, b). Damit bildet Clynes Vergleich der Textstrukturen englischer und deutschsprachiger wissenschaftlicher Aufsätze (Clyne, 1984, 1987), trotz ihrer für heutige Standards sehr beschränkten empirischen Basis und ihrer theoretischen Schwächen (die u.a. bereits von Sachtleber, 1990; und Duszak, 1997 diskutiert wurden), immer noch einen Referenzpunkt für interkulturelle Vergleichsstudien deutscher und englischer Wissenschaftstexte. Es gibt zwar spätere Untersuchungen, in denen entweder einzelne funktionale Phasen englischer und deutscher wissenschaftlicher Aufsätze verglichen wurden (Einleitungen, Gnutzmann & Lange, 1990; Abstracts, Busch-Lauer, 2001; Hutz, 1997; Schlussfolgerungen, Oldenburg, 1992) oder auf einzelne textuelle Phänomene fokussiert wurde (Sprecherperspektive, Trumpp, 1998; Herstellung interpersonaler Beziehungen, Kresta, 1995; Formen der Intertextualität, Griffig, 2006; Formulierungsmuster, Steinhoff, 2007; Brommer, 2018). Viele dieser Arbeiten entstanden allerdings als Dissertationen, deshalb fokussieren sie inhaltlich meist auf Texte einer Disziplin und untersuchen ein relativ beschränktes Text-
Die deutschsprachige Schreibwissenschaft unter interkultureller Perspektive
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korpus. Ihre Ergebnisse sind deshalb untereinander nur schwer vergleichbar und die Generalisierbarkeit ihrer Resultate ist beschränkt. Es gibt natürlich seit den 1990er Jahren (eine ebenfalls nicht allzu große Zahl von) einsprachigen Studien, in denen unterschiedliche textuelle Merkmale deutschsprachiger wissenschaftlicher Aufsätze (oder auch studentischer Seminararbeiten) untersucht wurden (für einen nicht ganz aktuellen Überblick siehe Gruber, 2010). Der englische wissenschaftliche Aufsatz hingegen ist wahrscheinlich die bestuntersuchte Textsorte überhaupt, eine Übersicht über die einschlägige Literatur kann hier nicht einmal ansatzweise erfolgen (für eine ebenfalls nicht ganz rezente Übersicht siehe etwa Bawarshi & Reiff, 2010; eine neuere, allerdings selektivere Übersicht bietet Huemer, 2019). Allerdings können die Ergebnisse dieser einsprachigen Untersuchungen (oder im Falle der englischsprachigen Literatur der Vergleiche zwischen englischen wissenschaftlichen Aufsätzen und solchen in einer anderen Sprache) kaum miteinander in Beziehung gesetzt werden, da sie sehr häufig verschiedene theoretische Rahmen verwenden, aber auch weil die untersuchten Textkorpora einfach nicht miteinander vergleichbar sind. Trotzdem kann aus diesen Studien ein tentativer Schluss gezogen werden (der weiter unten gleich wieder relativiert werden wird): Unterschiede zwischen wissenschaftlichen Aufsätzen, die auf der Basis vergleichbarer Korpora in zwei Sprachen gefunden wurden, scheinen weniger die Textmakrostrukturen (d.h. allfällige sprachspezifische strukturelle Charakteristika der Textsorte „wissenschaftlicher Aufsatz“) zu betreffen, sondern eher Aspekte der textuellen Meso- und Mikrostruktur (Arten der Argumentation, Ausdruck der Sprecherperspektive, Herstellung interpersoneller Beziehungen, Formen der Intertextualität, siehe oben) und auch sog. lexikalische Bündel (i.S. von Hyland, 2008), d.h. also Merkmale der lexikalischen Ebene. Allerdings muss dies folgendermaßen eingeschränkt werden: Die meisten der Studien, die keine (oder nur geringe) Unterschiede zwischen den Textmakrostrukturen wissenschaftlicher Texte verschiedener Sprachen finden, haben Disziplinen aus dem Bereich der Sozial- und Naturwissenschaften untersucht, die sich durch eine relativ hohe Standardisierung und Orientierung an der IMRD4 (Swales, 1990) bzw. der ILMRD5 (Lin, 2014) Textstruktur auszeichnen. Doch je stärker „kulturorientiert“ (Gnutzmann & Lange, 1990) oder „weicher“ (Hyland, 2000) Disziplinen sind, umso sprachspezifischere Textmakrostrukturen sind zu erwarten (Gnutzmann & Rabe, 2014). Darüber hinaus wenden viele Studien im Bereich der interkulturellen Rhetorik zum einen relativ unreflektiert das Swales’sche Textsortenmodell an, in dem sie in den Texten die Abfolge von funktionalen Phasen und 4 5
„Introduction – methods – results – discussion“ „Introduction – literature review – methods – results – discussion“
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Helmut Gruber
innerhalb dieser Phasen die Abfolge einzelner kommunikativer Schritte identifizieren und vergleichen. „Textsorten“ werden damit als geordnete Listen funktional-kommunikativer Einheiten gesehen, die auf maximal zwei hierarchischen Ebenen realisiert werden können. Diese Konzeption ist schon unter deskriptiven Gesichtspunkten sehr (zu) einfach, weil sie (möglichen) komplexeren hierarchischen Beziehungen zwischen den funktionalen Bestandteilen von Texten, die eine Textsorte realisieren, nicht gerecht wird. Zum anderen wird dabei auch völlig außer Acht gelassen, dass auch in Swales’ Modell pragmatische Faktoren (wie der soziale Zweck einer Textsorte, die [soziale Struktur der] Gruppe, die sie verwendet etc.) eine konstitutive Bedeutung haben. Diese pragmatischen Aspekte gehen aber nie systematisch in die Analysen ein bzw. werden gar nicht erst untersucht (dafür sind die einleitend in diesem Abschnitt kurz referierten Untersuchungen zu deutschsprachigen wissenschaftlichen Aufsätzen, denen das Swales’sche Textsortenmodell zugrunde gelegt wurde, ein gutes Beispiel). Damit wird implizit unterstellt, dass die institutionellen und sozialen Rahmenbedingungen, in denen in unterschiedlichen (Sprach-)Kulturen6, wissenschaftliche Aufsätze produziert und rezipiert werden, innerhalb einer Disziplin vollkommen homogen seien. Gerade das aber weisen die neueren Ansätze der interkulturellen Rhetorik und besonders der der Transkulturalität dezidiert zurück (siehe Abschnitt 2).
4
METHODISCHE ASPEKTE DER KORPUSERSTELLUNG UND UNTERSUCHUNGSDURCHFÜHRUNG
Wie eben in Abschnitt 3 erwähnt, finden sich viele sprach- und disziplinspezifische Textsortenunterschiede auf der textuellen Meso- und Mikroebene. Zu deren Untersuchung (aber auch zum Herausfinden von Gemeinsamkeiten) kommen in der interkulturellen Schreibforschung sehr häufig korpuslinguistische Verfahren zu Anwendung, da spezifische kommunikative Funktionen nie durch nur ein einziges, sondern durch verschiedene sprachliche Muster realisiert werden, deren unterschiedliche Verwendungshäufigkeit Rückschlüsse auf ihre jeweilige Typizität zulässt (vgl. Brommer, 2018). Sollen solche Muster und ihre Typizität in verschiedenen Sprachen untersucht werden, so ist es notwendig, gleichwertige (parallele) Korpora in den zu vergleichenden Sprachen zu erstellen. Mit den Schwierigkeiten, die dabei auftreten können, und Lösungsmöglichkeiten dafür beschäftigt sich dieser Abschnitt. 6
Ich verwende den Terminus (Sprach-)Kultur hier als deutsches Äquivalent zu Agars Konzept der „languaculture“ (Agar, 2006).
Die deutschsprachige Schreibwissenschaft unter interkultureller Perspektive
4.1
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Aspekte der Erstellung paralleler Korpora
Bei der Erstellung paralleler Korpora in kontrastiven Untersuchungen wird häufig auf Morenos Kriterien zur Konstruktion funktional äquivalenter Korpora zurückgegriffen (Moreno, 2008). Moreno konzediert, dass das Kompilieren paralleler Korpora im engen Sinne in kontrastiven Untersuchungen illusorisch sei, da sich die kleinen Kulturen (d.h. die (sprach)kulturspezifischen fachlichen Kulturen) innerhalb einzelner Fächer immer in relevanten Kontextfaktoren unterscheiden würden. Um diese Kontextfaktoren (die sie aus unerfindlichen Gründen Störvariablen [„confounding variables“] nennt) systematisch in die Korpuserstellung einzubeziehen, skizziert sie (primär auf der Basis der Gesprächsmodelle von Hymes und Jakobson) ein Kontextmodell, das dabei helfen soll, diese Faktoren zu systematisieren und zu parallelisieren, um dadurch maximal ähnliche (statt paralleler) Korpora zu erstellen. Ich will hier einige Probleme aufzeigen, die auch dann entstehen können, wenn man Morenos Kriterien zur Kompilierung funktional äquivalenter Korpora in der Untersuchungsplanung anwendet.7 Nehmen wir an, wir würden einen möglichst umfassenden Vergleich zwischen deutschen und englischen Realisierungen der Textsorte „wissenschaftlicher Aufsatz“ im Bereich der Sprachwissenschaft planen. Das erste Vergleichskriterium ist hier natürlich die Disziplin, aus der die Texte stammen. Doch „die“ Sprachwissenschaft gibt es nicht, vielmehr gliedert sie sich in eine ganze Reihe von Subdisziplinen. Wollen wir ein tatsächlich möglichst umfassendes zweisprachiges paralleles Korpus erstellen, dann können wir uns nicht auf Texte einer (oder einer beschränkten) Anzahl von Subdisziplinen in den beiden Sprachen beschränken. Ein erster Blick in die Inventarien der Subdisziplinen, die für die deutschsprachige (germa7
Das Modell selbst hat theoretische Merkwürdigkeiten, die hier nur kurz erwähnt werden können: So bildet die (Sprach-)Kultur die unabhängige Variable, die textuellen Merkmale, die untersucht werden sollen, die abhängigen Variablen und die Kontextfaktoren die bereits erwähnten „Störvariablen“. Abgesehen von der eigenartigen Konzeption von Kontext, die durch diese Terminologie zum Ausdruck kommt, verwundert die offenbar im Modell angenommene Unabhängigkeit der (Sprach-)Kultur von den kontextuellen Faktoren, d.h. von den Kontexten, in denen sie aktualisiert und im Rahmen performativer Akte schlussendlich zu (wissenschaftlichen) Texten konkretisiert und materialisiert wird. Diese Trennung scheint mir einer unreflektierten Übernahme der methodologischen Grundannahmen quantitativer Forschung geschuldet zu sein, in der eine klare Trennung von unabhängigen, abhängigen und intervenierenden Variablen zur Grundvoraussetzung der methodisch einwandfreien Untersuchungsplanung gehört. Ob die Übernahme dieser methodologischen Präliminarien in einen Forschungskontext sinnvoll ist, in dem Quantifizierungen häufig erst das (ergänzende) Endresultat umfangreicher qualitativer Analysen sind, sei dahingestellt und kann hier nicht diskutiert werden.
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nistische) und die englischsprachige Linguistik zu Rate gezogen werden könnten, zeigt allerdings Unterschiede: So stimmen die linguistischen Fächer, die etwa die „Zeitschrift für Germanistische Linguistik“ (ZGL) ihrer jährlich publizierten „Zeitschriftenschau“ der wichtigsten (deutschsprachigen) sprachwissenschaftlichen Artikel zugrunde legt, nur zum Teil mit dem Katalog der linguistischen Subdisziplinen überein, die die „Open Language Archives Community“ (OLAC) für die Klassifikation linguistischer Daten und Quellen vorschlägt (http://www.languagearchives.org/REC/field.html). Um dieses Problem zu umgehen, könnte man entweder bei der Korpuserstellung nur Aufsätze berücksichtigen, die Subdisziplinen entstammen, die offensichtlich in beiden Sprachen relevant sind, oder man inkludiert Texte, die in der jeweils anderen Sprache kein thematisches Pendant haben. Die erste Lösungsmöglichkeit mag auf den ersten Blick als die „sauberere“ scheinen, allerdings unterschlägt ein derartiges Vorgehen schon bei der Korpuserstellung die epistemologischen Unterschiede, die in der Linguistik in den beiden (Sprach-)Kulturen offensichtlich existieren und die durch die unterschiedlichen Subdisziplinen zum Ausdruck kommen. Die zweite Lösungsmöglichkeit führt zum offenkundigen Problem, dass in jedem einsprachigen Teilkorpus Texte enthalten sind, die kein exaktes thematisches Pendant im jeweils anderssprachigen Teilkorpus haben. Ein weiterer Aspekt, der bei der Erstellung funktional äquivalenter Korpora nicht zu vernachlässigen ist, sind die schon oben angesprochenen (Abschnitt 1), sehr unterschiedlichen Impact Faktoren der Zeitschriften, in denen englischsprachige und deutschsprachige wissenschaftliche Aufsätze im Bereich der Linguistik publiziert werden. Abgesehen von der oben angesprochenen generellen Problematik dieser Kennzahlen, bilden sie außerdem (wie ebenfalls oben schon erwähnt) relevante Kontextfaktoren (die interessanterweise von Moreno überhaupt nicht thematisiert werden): Zeitschriften mit höheren Impact Faktoren werden international wahrgenommen, während Zeitschriften mit niedrigeren Impact Faktoren (ganz zu schweigen, von denen, die in den Zeitschriftenrankings, aus welchen Gründen auch immer, gar nicht erfasst sind) eher ein eingeschränktes lokales Publikum erreichen. Auch hier muss also danach gestrebt werden, abseits der Vergleichbarkeit der Impact Faktoren der Zeitschriften, in denen Aufsätze publiziert werden, Kriterien zu finden, die eine Vergleichbarkeit auf andere Art herstellen können. Eine Möglichkeit wäre wieder der Rückgriff auf die schon oben erwähnte jährliche „Zeitschriftenschau“, die die ZGL publiziert und die (fast ausschließlich) deutschsprachige Aufsätze umfasst, die im jeweils vorangegangenen Jahr publiziert wurden und die die Redaktion der ZGL für besonders relevant hält. Diese jährliche Rückschau umfasst ca. 100 Aufsätze, so dass (wenn man über ein paar Jahre hinweg kompiliert) ein relativ großes deutschsprachiges Korpus zustande
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kommen würde, das (nach einem nachvollziehbaren Kriterium klassifizierte) qualitätsvolle Texte umfasst. Dieses könnte dann mit einem englischsprachigen Korpus verglichen werden, das auf der Basis von Impact Faktoren erstellt wurde. Ein einheitlicher (sprach-)kulturunabhängiger Textsortenzweck von wissenschaftlichen Aufsätzen wird in interkulturellen Vergleichen interessanterweise immer vollkommen unhinterfragt vorausgesetzt und wird für den wissenschaftlichen Aufsatz meist damit umschrieben, dass die Autor*innen ihrem Publikum die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse mitteilen wollen (siehe etwa auch Moreno, 2008). Das ist zweifellos richtig, aber m.W. hat es noch niemanden interessiert, was Schreibende in unterschiedlichen (Sprach-)Kulturen darunter verstehen, einer Leser*innenschaft die „neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse“ mitzuteilen. Bedeutet dies, einen einzelnen Aspekt einer Frage/einer Problemstellung in einem Text systematisch im Rahmen einer globalen „Problem-Lösung“Textstruktur zu behandeln und alle anderen (möglicherweise mit diesem Einzelaspekt verbundenen Aspekte) explizit auszuklammern (und in anderen Aufsätzen zu behandeln)? Oder bedeutet es, miteinander verbundene Aspekte einer Frage/ einer Problemstellung in einem Text möglichst systematisch im Rahmen einer (notwendigerweise) komplexeren „Problem(e)-Lösung(en)“-Textstruktur zu bearbeiten. Oder kann es auch überhaupt etwas anderes bedeuten (etwa ein Problem/ eine Fragestellung unter unterschiedlichen Perspektiven zu bearbeiten und eine Synthese dieser Bearbeitungen zu präsentieren)? Alle diese Möglichkeiten (und sicher noch eine Reihe weiterer Denkvarianten) sind nicht unplausibel und könnten in unterschiedlichen (Sprach-)Kulturen den „Zweck“ der Textsorte darstellen. Es ist allerdings eine empirisch (mit sozialwissenschaftlichen und nicht mit textanalytischen Methoden, siehe unten Abschnitt 4.2.) zu beantwortende Frage, ob dies tatsächlich der Fall ist und ob diese verschiedenen „Zweckvarianten“ mit unterschiedlichen (Sprach-)Kulturen (und Textstrukturen) korrelieren. Eine weitere Einflussvariable, die Varianten im Textsortenzweck des wissenschaftlichen Aufsatzes mitbedingen könnte, ist der Laufbahnstatus der Autor*innen. Wenn Moreno (2008) individuelle, autorenspezifische Variationen beim Verfassen wissenschaftlicher Aufsätze zwar zugesteht, aber als individuelle Variation bewertet, die durch eine Zufallsauswahl von Texten bei der Korpuserstellung ausgeglichen werden könnte, übersieht sie den möglichen systematischen Einfluss der Stellung von Autor*innen im sozialen Feld der jeweiligen Disziplin als möglichen Einflussfaktor. Was ist damit gemeint? Für Forschende auf dem Prä-Doc-Niveau kann (die u.U. erste) Publikation auf Deutsch nicht nur von viel größerer individueller Bedeutung sein als eine englischsprachige Publikation für einen nichtmut-
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tersprachlichen („NNS“8)-Schreibenden, der/die eine Dauerstelle und bereits eine jahrelange Karriere als Fachwissenschaftler*in hat. Darüber hinaus wird die Textsortenkompetenz eines/einer Prä-Doc höchstwahrscheinlich (noch) nicht das Niveau eines/einer arrivierten Wissenschaftler*in haben. Doch Unterschiede in diesem Bereich können nicht nur unterschiedliche Motivationslagen und Kompetenzniveaus widerspiegeln, sondern sie können auf einem viel systematischeren Niveau zu Unterschieden in der Schreiber*innenintention führen: Ein/e Prä-Doc präsentiert mit einem Aufsatz nicht nur seine/ihre wissenschaftlichen Resultate, sondern muss sich in der für sie/ihn relevanten Forscher*innengemeinschaft positionieren bzw. überhaupt erst einen Platz erkämpfen und dem gemäße Textstrategien anwenden. Ein/e arrivierte Forscher*in hingegen hat diese Position in der Regel schon und kann deshalb auf ein ganz anderes Repertoire an textuellen Strategien zurückgreifen. Für die Erstellung paralleler Korpora bedeutet dies, dass in beiden zu untersuchenden Sprachen, Teilkorpora erstellt werden sollten, die von Autor*innen auf unterschiedlichen Stufen der wissenschaftlichen Karriere (etwa auf den Stufen Prä-Doc, Post-Doc, Inhaber*in einer Dauerstelle) verfasst wurden. Für die Erstellung funktional äquivalenter mehrsprachiger Korpora im Bereich der wissenschaftlichen Schreibforschung bedeuten die eben diskutierten Probleme, dass Morenos Kriterien zur Korpuserstellung auf keinen Fall das leisten, was versprochen wird: Nämlich dabei zu helfen, tatsächlich funktional äquivalente zwei- (oder mehr-)sprachige Korpora zu erstellen. Sie können allenfalls dazu dienen (unter Berücksichtigung der oben erwähnten Problemlagen), ansatzweise vergleichbare Korpora zu erstellen, ihre wichtigste Funktion ist aber m.E., dass sie während der gesamten Datenanalyse als Ansatzpunkte für eine kritische Reflexion der Ergebnisse dienen können. 4.2 Methodische Aspekte der Untersuchungsplanung und -durchführung
Die oben skizzierten Aspekte und Probleme bei der Erstellung paralleler Korpora in interkulturellen Studien zum wissenschaftlichen Schreiben haben auch Auswirkungen auf die Methoden, die in solchen Studien zur Anwendung kommen (müssen): Viele relevante Faktoren, die in Abschnitt 2 und hier diskutiert wurden, sind mit textanalytischen Methoden allein nicht untersuchbar. D.h., dass in einer systematischen interkulturellen Untersuchung wissenschaftlicher Aufsätze ein Methodenmix aus sozialwissenschaftlichen und textanalytischen Verfahren zur Anwendung kommen müsste (vgl. dazu auch Connor, 2004). Offene, problemzentrierte Interviews (Witzel, 2000) etwa können dazu dienen, die subjektiven motivationa8
NNS: „non-native speaker“
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len und kognitiven Faktoren der Textsortenkompetenz (und ihrer Variation) bei Angehörigen unterschiedlicher Gruppen innerhalb der einzelnen Sprachgruppen wie auch zwischen diesen zu untersuchen, wobei im Bereich der englischsprachigen Publikationen auch die NNS-Schreibenden als eine eigene Gruppe (mit den oben skizzierten drei Untergruppen) untersucht werden muss. Interviews können aber auch dazu eingesetzt werden, um kultur- und institutionsspezifische Charakteristika und (sprach-)kulturspezifische Aspekte der Wissensproduktion, der Organisation des wissenschaftlichen Feldes und relevanter Macht- und Statusfaktoren innerhalb des Feldes zu rekonstruieren. Interviews sind aber auch das adäquate Erhebungsinstrument für die oben angesprochene (Abschnitt 2) Untersuchung der Rolle von Herausgeber*innen, Gutachter*innen und Verlagsrepräsentant*innen v.a. bei der Publikation englischsprachiger wissenschaftlicher Aufsätze. Eine solche Interviewstudie kann durch Fokusgruppen ergänzt werden, in denen Angehörige der verschiedenen Gruppen von „stake-holdern“, mit denen Interviews geführt werden, miteinander relevante Aspekte der wissenschaftlichen Textproduktion diskutieren. Ein relevanter Aspekt bei der Erstellung von (größeren) Textkorpora, der Untersuchenden häufig vor Beginn einer Studie nicht bewusst ist, sind Fragen des Copyright-Schutzes jener Texte, die in das Korpus inkludiert werden sollen. Um ein korpuslinguistisches Vorgehen zu ermöglichen, müssen Texte in elektronischer Form kompiliert werden. Das ist technisch heutzutage kein Problem mehr, da praktisch alle (relevanteren) Zeitschriften ihre Texte (auch) in einer Onlineversion zur Verfügung stellen. Diese Onlineausgaben sind für Forschende meist über die Bibliothek der Institution, an der sie arbeiten, zugänglich. Zumindest bis vor kurzem war es allerdings nicht möglich, über einen derartigen Onlinezugang größere Textmengen (d.h. mehrere 100 Texte oder mehr) in einem Schritt von einem Arbeitsplatz aus herunterzuladen, da die an wissenschaftliche Institutionen lizensierten Datenbankschnittstellen in einem solchen Fall automatisch davon ausgehen, dass es sich um einen Hackerangriff handelt, durch den Copyright geschütztes Material in großem Stil abgesaugt werden soll. Eine sofortige Blockade des entsprechenden Arbeitsplatzes wäre die Folge. Absurderweise waren (zumindest bis vor kurzem) die großen Anbieter von Onlinezeitschriftenpaketen laut eigenen Angaben auch aus rechtlichen Überlegungen nicht in der Lage, für wissenschaftliche Projekte in solchen Fällen Ausnahmegenehmigungen zu gewähren. Dabei ging es allerdings nicht nur um den Download dieser großen Datenmengen, sondern auch um ihr Zugänglichmachen während des Projekts und nach Projektende. Forschungsförderungsorganisationen wie der FWF fordern in zunehmendem Maße, dass nicht nur Publikationen, die im Rahmen von geförderten Projekten entstehen, als Open-Access-Publikationen veröffentlicht werden, sondern auch,
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dass die im Rahmen von Projekten erhobenen Daten für spätere Forschungen zugänglich gemacht werden. Und das ist der Knackpunkt: Aus Sicht der großen Anbieter, stellt ein Textkorpus, das aus mehreren 1000 wissenschaftlichen Artikeln besteht und mehr oder weniger öffentlich zugänglich ist, einen Verstoß gegen bestehende Copyright-Regelungen dar. Deshalb wird auch die Kompilation derartiger Korpora nicht unterstützt. Natürlich können einzelne Forschende durch Guerillataktiken dieses Problem unterlaufen – etwa die Beschäftigung einer größeren Gruppe von Studierenden, die von mehreren Arbeitsplätzen einer Institution zu verschiedenen Zeitpunkten relativ kleine Textmengen herunterladen, die dann zu einem umfangreichen Korpus zusammengestellt werden können. Dabei bewegen sich allerdings alle Beteiligten am Rande der Legalität. Sinnvoll wäre es deshalb, wenn Interessensverbände (wie etwa GewissS aber auch die Verbände für Angewandte Linguistik) bei den großen Anbietern Druck für eine Lösung dieses Problems machen würden (das diesen durchaus bewusst ist).
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ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN
Ich will nun abschließend die oben formulierten theoretischen und methodischen Überlegungen so zusammenfassen, dass daraus die Konsequenzen für eine interkulturell sensitive deutschsprachige Schreibwissenschaft ersichtlich werden. Eine derartig ausgerichtete Schreibwissenschaft müsste folgende Aspekte berücksichtigen: • Theoretische Überlegungen und empirische Forschungen müssen systematisch den transkulturellen Charakter des modernen wissenschaftlichen Feldes berücksichtigen. Die relevanten Konzepte und theoretischen Konstrukte, auf denen eine interkulturell orientierte Schreibwissenschaft basiert, können nie nur aus den Resultaten von Untersuchungen von Daten aus nur einer Sprache abgeleitet werden. • In empirischen Projekten müssen die Texte in den beiden untersuchten Sprachen systematisch vergleichbar sein (vgl. Abschnitt 4), wobei davon auszugehen ist, dass eine funktionale Äquivalenz von Vergleichskorpora kaum erreichbar sein wird. Vielmehr müssen jene Aspekte, in denen die Korpora nicht vergleichbar sind, systematisch dokumentiert und diese Unterschiede müssen reflektiert in die Untersuchungsmethodik, die Datenanalyse und Interpretation der Ergebnisse einfließen. Sie geben wichtige Hinweise auf transkulturelle „Leerstellen“, also auf Konzepte oder Aspekte, die in einer (Sprach-)Kultur vorhanden sind, in der anderen aber nicht. • Es können nicht einfach „englischsprachige“ und „deutschsprachige“ Texte mit-
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einander verglichen werden, sondern im Bereich der englischsprachigen Texte muss zwischen solchen, die tatsächlich von NS (native speaker) des Englischen verfasst wurden und solchen, in denen NNS Englisch als Lingua Franca verwendet wird unterschieden werden. Auch zwischen diesen beiden Gruppen von Texten können systematische Unterschiede erwartet werden. D.h. ein Gesamtkorpus muss insgesamt drei Vergleichskorpora beinhalten: Ein deutschsprachiges, ein englischsprachiges mit Texten, die von NNS-Autor*innen verfasst wurden und ein englischsprachiges, das Texte von NS-Autor*innen umfasst. Bei deutschsprachigen Schreiber*innen, die regelmäßig wissenschaftliche Texte auf Englisch als Lingua Franca verfassen, ist zu erwarten, dass es einen sprachlich-kulturellen Transfer auch vom Englischen ins Deutsche gibt. Sprachlichkulturelle Transferprozesse bei NNS-Autor*innen müssen deshalb in zwei Richtungen untersucht werden: Von der Muttersprache in die Fremdsprache und von der Fremdsprache in die Muttersprache. Bei Schreibenden auf unterschiedlichen Karrierestufen (Studierende, Jung wissenschaftler*innen [Prä-Doc vs. Post-Doc], etablierte Wissenschaftler*innen) sind unterschiedliche sprachlich-kulturelle Transferprozesse zu erwarten. Dies muss im Forschungsdesign und bei der Korpuserstellung reflektiert werden. Das Textkorpus muss deshalb nicht nur nach den eben dargestellten sprachlichen Kriterien (Deutsch – NNS Englisch – NS Englisch), sondern auch nach unterschiedlichen Karrierestadien der Autor*innen geschichtet werden. Die verschiedenen Aspekte der fachlichen, (sprach-)kulturspezifischen, institutionellen, sozialen und individuellen Einflussfaktoren müssen durch Interviews und Fokusgruppengesprächen mit Schreibenden in beiden (Sprach-)Kulturen (wiederum differenziert nach den eben erwähnten Karrierestadiengruppen) rekonstruiert werden und bilden eine wichtige Quelle für die Modellierung kontextueller Faktoren, die für die Textproduktion relevant sind. Art und Ausmaß der sprachlichen Erwartungen und Normierungen im Rahmen von Publikationsprozessen durch Zeitschriftenherausgeber*innen, Gutachter*innen und Verlage müssen systematisch in die Analyse einbezogen und ebenfalls durch Interviews und Fokusgruppengespräche rekonstruiert werden. Interdisziplinarität und ihre Auswirkung auf wissenschaftliche Schreibkonventionen müssen systematisch in die Untersuchung mit einbezogen werden.
Eine theoretisch reflektierte Untersuchung der Unterschiede zwischen wissenschaftlichen Texten in zwei (oder mehreren) (Sprach-)Kulturen muss auch ein adäquates pragmatisch orientiertes Textsortenmodell anwenden, das folgende Aspekte systematisch miteinander in Beziehung setzt (und in der empirischen Arbeit auch umsetzt):
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• Der soziale kommunikative Zweck, den eine Textsorte für die Gruppe ihrer Verwender*innen erfüllt, muss empirisch festgestellt werden. Er kann nicht einfach aus den sprachlichen Merkmalen der Textsorte abgeleitet werden, sondern muss durch ergänzende, sozialwissenschaftliche Methoden (z.B. Interviews) mit unterschiedlichen Beteiligten (in unterschiedlichen Laufbahnstadien) rekonstruiert werden. • Mit diesen Methoden lassen sich auch die textsortenspezifischen Zwecke und Beteiligtenrollen rekonstruieren, die bei der Produktion und Rezeption der Textsorte in den verschiedenen (Sprach-)Kulturen relevant sind, sowie die relevanten Situationsaspekte von Produktion und Rezeption erheben und rekonstruieren. • Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Rekonstruktion (sprach-)kulturspezifischer Lehr-/Lern-/Sozialisationsprozesse, durch die Noviz*innen die Produktion (und Rezeption) muttersprachlicher und nichtmuttersprachlicher Fachtexte erwerben. • Erst wenn diese pragmatischen Faktoren rekonstruiert werden, kann eine sinnvolle Analyse der textinternen Merkmale und Strukturen und ihrer Zusammenhänge sowie ihrer systematischen Bezogenheit auf die vorher angeführten Aspekte erfolgen, für die aber ebenfalls ein Analysemodell angewandt (oder entwickelt) werden muss, das der sprachlichen Komplexität der Textsorte „wissenschaftlicher Aufsatz“ gerecht wird und mehr als nur eine geordnete Liste verschiedener funktionaler Phasen oder Stadien umfasst. Diese Zusammenstellung zeigt, dass all diese Aspekte nicht (oder kaum) innerhalb eines einzelnen Forschungsprojekts gleichzeitig zu untersuchen sind (außer es würde sich über Jahre erstrecken und ein großes Team von Forschenden umfassen). Vielmehr handelt es sich bei den skizzierten Punkten um Aspekte, an denen sich eine interkulturell orientierte deutschsprachige Schreibforschung orientieren sollte, wenn in ihrem Rahmen empirische Projekte umgesetzt werden sollen. Didaktisches Ziel einer interkulturell orientierten Schreibforschung sollte dabei die Entwicklung eines kritischen Sprachbewusstseins bei translingualen Sprechenden und Schreibenden im wissenschaftlichen Feld sein, das es ihnen ermöglicht, flexibel und kontextadäquat jene Kommunikationsstrategien anzuwenden, die der jeweiligen „großen“ und „kleinen“ (Sprach-)Kultur, in der sie sich gerade bewegen, am adäquatesten ist.
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TEIL 2: QUERSCHNITTSTHEMEN DER SCHREIBWISSENSCHAFT
SCHREIBZENTRUMSARBEIT ALS GEGENSTAND DER SCHREIBWISSENSCHAFT: SKIZZIERUNG DISKURSÜBERGREIFENDER FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELDER Gerd Bräuer
ABSTRACT Schreibzentrumsarbeit an Hochschulen und Universitäten liefert durch die Anleitung, Begleitung und Beratung von Schreibenden in unterschiedlichen Phasen ihrer Schreibentwicklung als Verfasser*innen akademischer, beruflicher oder künstlerischer Texte viele Gegenstände und Impulse für das Handlungsfeld der Schreibwissenschaft. Entsprechend vielfältig sind die Forschungs- und Entwicklungsfelder und der Erkenntnisbedarf, welcher sich für die Expert*innen an Schreibzentren im Spannungsfeld von theoretischer und angewandter Schreibwissenschaft mittel- und langfristig ergibt. Im folgenden Beitrag wird die Herausbildung im ursprünglich englischsprachigen Diskurs zur Schreibzentrumsarbeit und die mögliche weitere Profilierung von acht Forschungsund Entwicklungsfeldern der Schreibzentrumsarbeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz (D-A-CH) skizziert. Auf dieser Basis wird der potenzielle Beitrag der Schreibzentrumsarbeit für den zukünftigen Diskurs in der europäischen Schreibwissenschaft umrissen.
1 VORBEMERKUNGEN Als in den 1990er Jahren die ersten Schreibzentren an deutschsprachigen Universitäten entstanden, gab es in den USA an jedem College und jeder Universität ein writing center. In jedem der 50 Bundesstaaten existierten so genannte National Writing Projects, die den Brückenschlag zwischen dem Schreiben an der Schule und der Hochschule organisierten, verbunden mit dem Ziel, wie Gabriele L. Rico (1996) formuliert, Menschen durch bzw. im Schreiben als Lernende zu aktivieren. Deswegen soll zu Beginn dieses Beitrags eine angelsächsisch geprägte Entwicklungslinie zur Herausbildung von Schreibzentrumsarbeit als Gegentand der Schreibwissenschaft nachvollzogen werden. Bereits seit Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt es dazu in den angelsächsischen Ländern umfassende wissenschaftliche Diskurse, nicht zuletzt unter dem
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US-amerikanischen Pendant zur Schreibwissenschaft, Composition Studies. Schwerpunkte wie basic writing, first-year composition, second language writing, writing across the curriculum, writing in the disciplines, multiculturalism, political literacy (etc.) formen seit den 1960er Jahren ein komplexes Bild von den Wechselwirkungen zwischen der Entfaltung gesellschaftlicher Prozesse und der Entwicklung von Schreibenden. Um diese Komplexität im Einzelnen genauer zu erforschen, haben sich seit den 1990er Jahren innerhalb der Berufsorganisation Conference on College Composition and Communication (4Cs) viele so genannte Special Interest Groups (SIGs) und Sektionen herausgebildet (z.B. Writing Across the Curriculum, Writing and STEM, Creative Writing) bzw. nutzen Berufsverbände, die mit 4Cs assoziiert sind, die alljährlich stattfindende Tagung von 4Cs mit oft über 500 Einzelveranstaltungen, um der speziellen Rolle des Schreibens in den o.g. Schwerpunkten nachzugehen. Einer dieser Verbände, die International Writing Center Association (IWCA), ist speziell der Arbeit von Schreibzentren in Bildungseinrichtungen gewidmet. Schreibzentrumsarbeit als Forschungs- und Entwicklungsgegenstand etablierte sich in den USA auf der Basis einer langen Tradition interdisziplinären Arbeitens im Rahmen von Composition Studies. Das betrifft z.B. die seit den 1970er Jahren aktiven und regional agierenden Gruppen des National Writing Project – das erste dieser Art war das Bay Area Writing Project in Kalifornien – zur Profilierung des Schreibens in der Schule, oft in Kooperation mit den Composition Studies Programs, den Writing Across the Curriculum Programs und der Writing in the Disciplines Initiative an den Universitäten (vgl. Bräuer, 1996; Girgensohn & Sennewald, 2012). Mit dieser ausgeprägt diskursübergreifenden Forschungs- und Entwicklungskooperation der o.g. Akteure unter dem Dach des National Writing Project soll u.a. der Übergang vom schulischen zum akademischen bzw. wissenschaftlichen Schreiben sinnvoller gestaltet und dabei besser verstanden werden, welche Lernbedürfnisse und Leistungspotenziale Schüler*innen mit in das Studium bringen bzw. im Studienverlauf weiterentwickeln. Die Klärung dieser grundsätzlichen Bedarfsanalyse geschah mit sichtbarem Erfolg bereits in den späten 1980er Jahren (vgl. Sternglass, 1997; Beaufort, 2007; Anson, 2017), nicht zuletzt beeinflusst von den ersten umfassenderen Studien zum schulischen Schreiben und zur Entwicklung von Schreibcurricula, vorgelegt u.a. von Britton (1975), Emig (1971, 1977, 1979) und Moffett (1968, 1983) bzw. zur Interaktion von Peer-Schreibenden im universitären Kontext (vgl. u.a. Bruffee, 1984; Gere, 1987). Eine weitere treibende Kraft in der Profilierung von Schreibzentrumsarbeit als Diskursgegenstand für schreibwissenschaftliche Forschung und Entwicklung war die Etablierung von nationalen Publikationen diskursübergreifender Art wie Wri-
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ting Lab Newsletter – A Journal of Writing Center Scholarship, The Writing Center Journal und College Composition and Communication. Lerner (2009) zeigt in seiner Monografie, The Idea of a Writing Laboratory, die historische Entwicklung von Schreibzentren anhand der grundlegenden Laborkonzeption, die später auch die Herausbildung von Schreibberatung, die Einrichtung von Schreibkursen in der Studieneingangsphase (First Year Composition), aber auch die Etablierung einer fächerübergreifender Schreibanleitung und -begleitung (Writing Across the Curriculum/WAC) beeinflusst. Bei seiner historischen Darstellung dieses so genannten Laborkonzepts bezieht er sich auf wichtige frühe Arbeiten der amerikanischen Schreibzentrumsarbeit: North, The Idea of a Writing Center (1984) und Murphy & Law, Landmark Essays on Writing Centers (1995) bzw. Murphy, Law, & Sherwood (1996), Writing Centers: An Annotated Bibliography als systematische Darstellung eines über Jahrzehnte gewachsenen, interdisziplinären Theorierahmens zu Schreiben und Schreibzentrumsarbeit. Weitere Sammelbände wie Writing Centers and Writing Across the Curriculum Programs (Barnett & Blumner, 1999), Writing Programs Worldwide (Thaiss et al., 2014), Stories from the Center: Connecting Narrative and Theory in the Writing Center (Briggs & Woolbright, 2000), bis hin zu Writing Centers at the Center of Change (Essid & McTague, 2020) zeigen Meilensteine dieser diskursübergreifenden Diskussion und die darin enthaltene Vielfalt an Fragestellungen und forschungsmethodischen Ansätzen. Essid & McTague (ebd.) lassen außerdem das immense Potenzial für zukünftige Forschung im Rahmen der Schreibwissenschaft deutlich werden. Das Lehrbuch zur Schreibzentrumsarbeit (Writing in the Center. Teaching in a Writing Center Setting), das Irene L. Clark bereits 1985 herausgegeben hat, ist seitdem in vier veränderten und ergänzten Auflagen mit diesem Diskurs zur Schreibzentrumsarbeit und deren Erforschung bzw. Weiterentwicklung quasi mitgewachsen (dies., 2008, 4. Aufl.). Die deutschsprachige (D-A-CH) Schreibzentrumsarbeit wird seit ihren Anfängen – die Gründung der ersten beiden Schreibzentren in Deutschland geschah 1993 bzw. 1997 an den Universitäten Bielefeld und Bochum – in Tagungsbeiträgen und Publikationen kommuniziert und zunehmend systematisch wissenschaftlich aufgearbeitet. Meilensteine im Kristallisierungsprozess dieses neuen Forschungsgegenstandes sind sicherlich die Gründung der European Writing Centers Association (EWCA) im Jahre 1998 und, in den Jahren danach, der Start länderspezifischer Berufsvereinigungen in der Schweiz (Forum Schreiben), in Österreich (Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben) und in Deutschland (Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung). Auf publizistischer Ebene wirken die online-basierte Zeitschrift Schreiben seit 2006 und das Printmedium JoSch (Journal der Schreibberatung) seit 2010 diskursetablierend bzw. diskursprägend. Girgensohn & Peters (2012) forderten dabei schon früh ein kritisches Reflektieren der
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ursprünglich oft unter dem Eindruck der US-amerikanischen Writing-CenterTradition und aufgrund pragmatischer Umstände an oft chronisch unterfinanzierten Hochschulen etablierten Konzepte für Schreibzentrumsarbeit. Mehr noch: Sie plädierten für ein konsequentes Hinterfragen der mit den Ansätzen der ersten Jahre erzielten Ergebnisse und, als Ergebnis daraus, die sukzessive Entwicklung strategisch angelegter, nachhaltig wirkender Konzepte, abgestimmt auf die speziellen Bedingungen an den Hochschulen im D-A-CH-Raum (ebd., S. 2). Als Fazit lässt sich sagen: Schreibzentrumsarbeit bietet eine große Chance für interdisziplinäre Forschung und Entwicklung im Spannungsfeld von Rhetorik, Linguistik, Schreibdidaktik, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Sprach- bzw. Fremd-/Zweitsprachendidaktik und anderen Disziplinen, die den (schriftlichen) Umgang mit Informationen zum Zweck der Entwicklung, Verbreitung und Diskussion von Wissen in den Blick nehmen. Das schließt spezielle Herausforderungen an Forschungsdesign und -methodik, Theoriebildung und Praxisentwicklung angesichts dieser Interdisziplinarität mit ein. Die bereits seit Jahrzehnten aktive amerikanische Schreibzentrumsforschung bewegt sich nach Einschätzung von Grimsehl (2015) methodologisch im Spannungsfeld von conceptual inquiry – Schreibzentrumspraxis aus theoretischer Sicht zu erklären und auf dieser Basis Theoreme weiterzuentwickeln – und educational research – Schreibzentrumspraxis datenbasiert zu analysieren und zu evaluieren, um Vorschläge für Praxisalternativen zu schaffen (vgl. ebd., S. 8). Vielleicht sind das auch für die deutschsprachige Schreibzentrumsforschung praktikable Wege. Als Ausgangspunkt für die in Zukunft noch zu leistende Schreibzentrumsforschung und -entwicklung werde ich im Folgenden mögliche Diskurs- und Handlungsfelder skizzieren. Diese sind nicht zuletzt auch gedacht als Einladung an nachfolgende Generationen von Schreibspezialist*innen, um zur langfristigen, kontinuierlichen Optimierung wissenschaftlich gestützter Schreibzentrumsarbeit beizutragen. Diese potenziellen Forschungs- und Entwicklungsfelder werde ich aus pragmatischer Sicht skizzieren, d.h. stets ausgehend vom Erkenntnisbedarf, den ich auf der Basis meiner eigenen Schreibzentrumsarbeit und aktiven Teilnahme an der Formierung der Schreibwissenschaft in Europa für die Optimierung von Schreibzentrumsarbeit vermute. Natürlich bedarf es im Einzelfall einer genaueren Analyse der Rahmenbedingungen, in denen die von mir skizzierten Forschungs- und Entwicklungsfelder realisiert werden sollen. Bei meinen Überlegungen spielt auch das Narrativ der Existenzberechtigung des Schreibzentrums gegenüber der Institution Hochschule/Universität nach wie vor eine wesentliche Rolle und zwar hinsichtlich eines Rollenverständnisses von Schreibzentrumsarbeit, das weit über das einer Serviceeinrichtung hinausgeht, indem Schreibzentrumsarbeit auf vielfältige, komplexe Weise wirkt: Persönlich-
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keitsbildend (Selbstverständnis als kritisch reflektierte Schreibende), kompetenzbildend (akademische Literalität) und kreativitätsstiftend (multiple Ausdrucksund Darstellungsfähigkeit) – ein Aspekt, welcher letztlich auch entscheidend zur Persönlichkeitsbildung und Kompetenzbildung beiträgt. Zum Abschluss dieser Vorbemerkungen sei dazu noch einmal Rico (1996) zitiert: „People write best when they are in-volved so that both form and content can e-volve more naturally.“ (S. 7)
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FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: DAS SCHREIBZENTRUM ALS HYBRIDER LERNORT
Angesichts dessen, dass Lernen grundsätzlich räumlich und zeitlich situiert ist, fordert Grimsehl (2015) die Weiterentwicklung eines scheinbar immer noch einseitig institutionell fokussierten Lernortkonzepts (vgl. u.a. Dehnbostel, 2011). Anstatt das Schreibzentrum also per se als Lernort zu bezeichnen, nur, weil dort Studierende zur Bearbeitung von curricular verankerten Aufgaben aktiv sind, geht es um die Entwicklung von Handlungsanlässen und die Erforschung des Lernpotenzials für deren Handlungsträger*innen weit über den physischen Ort des Schreibzentrums hinaus. Dieses Lernpotenzial muss also nicht zwangsläufig zwischen den Wänden eines Schreibzentrums entfaltet werden. Vor allem die Nutzung des Internets als fluider Handlungsrahmen erweitert die ursprünglichen Grenzen des Lernorts und vermittelt dem Schreibzentrum eine hybride Qualität (Schroer, 2006; Grimsehl, 2015; Kruse & Rapp, in diesem Band). Die bisher vorliegenden deutschsprachigen Untersuchungen zu diesem Forschungs- und Entwicklungsfeld (z.B. Bräuer, 2002; Girgensohn & Peters, 2012; Grimsehl, 2015; Knorr, 2016; Alagöz-Bakan, Knorr, & Krüsemann, 2016; Girgensohn, 2017; Römmer-Nossek et al., 2018; Bräuer, 2020) bauen auf dem in der Einleitung dieses Kapitels zitierten angelsächsischen Diskurs auf. Viele der o.g. Studien sind im Kontext einer Gründungswelle von Schreibzentren im Rahmen der Initiative der Bundesregierung Deutschland „Exzellenz in der Lehre“ (seit 2012) entstanden. Es ist zu vermuten, dass aufgrund dessen Schreibzentren, stärker als das in den USA bisher der Fall war, im Zusammenhang mit der hochschuldidaktischen Profilierung der jeweiligen Hochschuleinrichtung wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass es die disziplininternen Debatten in den USA, die vor allem in den 1990er Jahren im Diskurs von English Studies um den Gegenstand Composition ausgetragen wurden, in den deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich, Schweiz) zu keiner Zeit zwischen Germanistik und Schreibwissenschaft gab und damit wohl auch in Zukunft kaum zu rechnen ist. Zwar gibt es innerhalb der Angewandten Linguistik bereits seit vie-
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len Jahrzehnten einen sehr differenzierten Diskurs zum Schreiben, nicht zuletzt auch zur fremd- und zweitsprachigen Textproduktion. Allerdings spielen Fragen zu möglichen curricularen Konsequenzen der Schreibforschung bisher eher eine marginale Rolle (vgl. Steinhoff, 2007; Gruber, Huemer, & Rheindorf, 2009; Ulmi et al., 2014, Schindler & Fischbach, 2015; Schmölzer-Eibinger et al., 2018). Institutionelle Fragen, z.B. zu Rolle und Funktion des Schreibzentrums in der Hochschule, haben anscheinend bisher keinen Platz im Diskurs der Germanistik. Dies mag einerseits die Chance zu eröffnen, die Wirkungsforschung zur Schreibzentrumsarbeit im Kontext der so genannten zentralen Einrichtungen (u.a. Bibliothek, Sprachenzentrum, Hochschuldidaktik) anzusiedeln. Andererseits besteht damit gleichzeitig die Gefahr, das Schreibzentrum (wie die Bibliothek) als reine Serviceeinrichtung zu verstehen und damit dessen Forschungs- und Entwicklungspotenzial – hier v.a. mit Blick auf hochschuldidaktische Gestaltung – bei der Neudefinierung des Schreibens als studienbegleitendes und fächerübergreifendes Lehrund Lernmittel bzw. -medium zu übersehen. Auf der Basis der bisher erzielten Erkenntnisse bleiben noch viele Fragen zur Wirksamkeit von Schreibzentren als Lernort offen, u.a. die nach dem Verhältnis von physischer (z.B. Standort auf dem Campus) und digitaler Präsenz, dem Bezug von curricularem (formales Lernen) und extra-curricularem Handeln (nicht-formales bzw. informelles Lernen) in- und außerhalb der Hochschule. Hinzu kommt der Einfluss von anderen potenziellen Nutzer*innen des Schreibzentrums, die neben der Gruppe der traditionellen Studierenden existieren: Teilnehmende am Senior*innenstudium und Hobbyschreibende (autobiografisches und literarisches Schreiben), beruflich Schreibende bzw. Auszubildende und Schüler*innen aus der unmittelbaren Umgebung des Hochschulstandortes. Es wäre in Zukunft wichtig, deren Bedürfnisse als Schreibende genauer zu eruieren und deren mögliche Erwartungen an das Schreibzentrum zu ermitteln, um darauf in der Weiterentwicklung des Angebots des Schreibzentrums adäquat reagieren zu können.
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FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: INTERAKTION IN DER INDIVIDUELLEN SCHREIBBERATUNG
Die Rezeption der amerikanischen Forschung zum Wesen der individuellen Schreibberatung an Hochschulen setzte im deutschsprachigen Raum – vor allem in Österreich, Deutschland und der Schweiz – bereits mit der Gründung der ersten Schreibzentren Mitte der 1990er Jahre (Bielefeld und Bochum) ein. Damals tendenziell noch als coaching verstanden, das von erfahrenen wissenschaftlich Schreibenden angeboten wird (vgl. u.a. Kruse, Jakobs, & Ruhmann, 1999; Büker & Lange, 2010),
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verschiebt sich seitdem der Fokus individueller Schreibberatung zur Peer-Beratung, einem Angebot in der Schreibzentrumsarbeit, welches durch speziell ausgebildete und begleitete Studierende für ihre Peers ausgebracht wird. Besonders deutlicher Ausdruck dieses sich verändernden Verständnisses von Schreibberatung sind die seit 2010 jährlich stattfindende Schreib-Peer-Tutor*innen-Konferenz (SPTK) und der Sammelband, Zukunftsmodell Schreibberatung (Grieshammer et al., 2012/2016). Die Erforschung von Wirkung und Effizienz der Schreibberatung, nicht zuletzt im Vergleich unterschiedlicher Beratungskonzepte (z.B. direktiv, nicht-direktiv, systemisch), wurde durch die Etablierung der Zeitschrift JoSch transparent. Hierfür sind vor allem die Themenhefte Peer-Learning in Writing (JoSch, 2018) und Akademisches Schreiben in mehrsprachigen Kontexten (JoSch, 2019) hervorzuheben. Initiator*innen von potenziellen Schreibzentren oder aber auch gegründete und sogar bereits etablierte Schreibzentren sehen sich permanent verpflichtet, den Sinn und Zweck ihrer Existenz durch konkrete Fakten zu belegen und damit eine kontinuierliche Weiterarbeit bzw. feste Verankerung innerhalb der hochschulinternen Strukturen zu gewährleisten. Aufgrund zumeist sehr begrenzter Ressourcen konzentrieren sich bisher die Forschungsbemühungen auf kleinere Untersuchungen und daraus folgend, kürzere Publikationen. Dafür ist die Zeitschrift JoSch genauso geeignet wie die bereits vor JoSch entstandene Onlinepublikation Zeitschrift Schreiben (2008). Eine erst kürzlich an der Universität Wien ins Leben gerufene Open Access Zeitschrift für interdisziplinäre Schreibforschung (zisch, 2019)1 forciert die bereits vorhandenen Bemühungen um die Profilierung des schreibwissenschaftlichen Diskurses in Europa. Wobei man sich bei all dem des Eindrucks nicht erwehren kann, dass vor allem in Österreich und Deutschland die Forschung zu Schreibberatung als Teil von Schreibzentrumsarbeit auf Qualifizierungsarbeiten und nicht bzw. nur indirekt geförderte Projekte beschränkt bleiben muss.2 Deswegen ist es also nicht verwunderlich, dass die erste forschungsbasierte Monografie speziell zur Schreibberatung in den D-A-CH-Ländern eine Dissertation ist, nämlich die von Ella Grieshammer (2018), Textentwürfe besprechen. Analysen aus der akademischen Schreibberatung. Einige Jahre davor erfolgte im Sammelband, Schreiben, eine Zusammenstellung des bis dahin vorhandenen Theorierahmens für Schreibberatung (Dreyfürst & Sennewald, 2014) anhand von Grundlagenliteratur aus der internationalen Schreibprozessforschung und zur Entwicklung hochschuldidaktischer bzw. schreibdidaktischer Konsequenzen für den D-ACH-Sprachraum. Dieser Band enthält außerdem Vorschläge zur Weiterentwicklung 1 2
Die Publikation in zisch ist ausschließlich den Absolvent*innen der SchreibmentoringAusbildung am CTL der Uni Wien möglich. Danke an Karin Wetschanow für diesen Hinweis.
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von Beratungsansätzen (Bräuer, 2014; Lange & Wiethoff, 2014; Stahlberg, 2014; Dreyfürst, Dieter, & Fassing, 2014) bzw. grundsätzliche konzeptuelle Vorstellungen zur Schreibberatungstätigkeit und der Ausbildung von studentischen Schreibberater*innen im Kontext von Schreibzentrumsarbeit (Tschirpke & Breford, 2014; Grieshammer & Peters, 2014). Trotz der bereits geleisteten Arbeit ist die Liste der noch vorhandenen Erkenntnislücken zum Forschungsfeld Schreibberatung immer noch lang. Abschließend werden einige grundsätzliche Forschungsfragen zu diversen Schwerpunkten der Schreibberatung (u.a. Kompetenztransfer, Reibungsverlust, Schreibendentyp) genannt, die nicht zuletzt Handlungsbedarf seitens der Schreibzentren verdeutlichen, damit Hochschulen und Universitäten die qualitative Profilierung von Lehre und Studium in Zukunft realisieren können: Worin bestehen ausgeprägte „Reibungsverluste“, wie Perrin (1999) Schreibprobleme aufgrund einer latenten Überlastung des mentalen Arbeitsspeichers bezeichnet, in der akademischen Textproduktion von Studierenden in der Studieneingangsphase, während des Studiums und im Übergang zum Beruf? Welche Beratungsstrategien und -methoden sind für die unterschiedlichen Phasen der Textproduktion besonders virulent und wie sollten diese an die besonderen Bedürfnisse unterschiedlicher Typen von Schreibenden angepasst werden? Worin besteht das Lernpotenzial von individueller Schreibberatung hinsichtlich der Fähigkeit der Schreibenden, ihr Schreibhandeln zu optimieren und die Textproduktion als Teil von Studierfähigkeit flexibel zu steuern? Wie verändert sich die Textqualität auf der Basis von individueller Schreibberatung? Welche Handlungsmotivation liegt der dafür aufgebrachten Textrevision zugrunde? Worin bestehen die Besonderheiten fremd- und zweitsprachiger Textproduktion und Schreibentwicklung in der Migrationsgesellschaft (vgl. Knappik, 2018) und die damit einhergehenden konkreten Beratungsbedürfnisse?
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FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: WORKSHOPDESIGN IM SPANNUNGSFELD VON GENRE- UND PHASENORIENTIERUNG
Schreibzentren bieten längst nicht mehr nur individuelle Schreibberatung an. Ambitionierte Schreibzentren entwickeln Konzepte für Workshopangebote als weiteres wichtiges Standbein von Schreibzentrumsarbeit (vgl. u.a. Knorr, 2016). Mit diesem Workshopangebot werden zum einen Übungsmöglichkeiten für das erfolgreiche Umsetzen einzelner Phasen der Textproduktion (z.B. Zeitplanung, Gliedern, Entwerfen, Überarbeiten) angeboten. Andererseits reagiert das Workshopangebot des Schreibzentrums auf spezielle Bedürfnisse des fach- bzw. disziplinspezifischen Schreibens und die dafür benötigten Textsorten: z.B. den „Unter-
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richtsentwurf “ in den Praktikumsphasen der Lehrpersonenausbildung, das „Versuchsprotokoll“ in diversen naturwissenschaftlichen Fächern, das „Konzert- bzw. Ausstellungsportfolio“ in Musik bzw. Bildender Kunst (etc.). Das Workshopkonzept zielt außerdem auf den Bedarf besonderer Phasen im Studium und die dafür benötigten Genres: z.B. „Referat“ und „Posterpräsentation“ in der Studieneingangsphase; „Erklärvideo“ und „Wissenschaftsblog“ für das Fachstudium; „Klausur“, „Hausarbeit“ und „Portfolio“ als Prüfungsformate; das „Exposee“ als Dokument zur Themenzulassung für die Studienabschlussarbeit und natürlich die „Studienabschlussarbeit“ selbst. Spezielle, situierte Bedürfnisse, auf die mit Workshops flexibel reagiert werden kann, ergeben sich auch aus den sich ständig verändernden Rahmenbedingungen und Tools zur digitalen Textproduktion, -rezeption und -distribution. Hier ergeben sich zwei Handlungs- bzw. Entwicklungs- und Forschungsfelder: a) Die Schreibenden selbst und deren Kompetenz, neue bzw. sich verändernde Rahmenbedingungen und Tools zur digitalen Textproduktion im Studium kennenzulernen und b) diese Gelingensbedingungen sinnvoll in das eigene, individuelle Literacy Management, d.h. den Umgang mit Informationen zum Zwecke der Textproduktion, -rezeption und -distribution, zu integrieren bzw. an die Bedürfnisse des eigenen Schreibhandelns anzupassen. Durch Bedarfsanalysen und Machbarkeitsstudien müssen die Parameter der zu leistenden Entwicklung und Umsetzung regelmäßig abgeklärt und mit den Erfordernissen der jeweiligen Organisationsentwicklung im Spannungsfeld von Schreibzentrum und Institution – hier vor allem mit den anderen so genannten zentralen Einrichtungen wie Bibliothek, IT, Sprachenzentrum, Hochschuldidaktik – abgeglichen werden.
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FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: MATERIALDESIGN IM SPANNUNGSFELD VON PRINT- UND WEBBASIERUNG
In zunehmendem Maße wird von den Nutzer*innen der Schreibzentren wie von anderen Unterstützungsbereichen der Hochschule (z.B. Bibliothek) eine ständig wachsende Präsenz von webbasierten Materialien erwartet. Studierende wollen auf diese Materialien lokal und zeitlich unabhängig zugreifen, ohne die Webauftritte des Schreibzentrums (Homepage, Lernplattform, soziale Medien) zwecks neuer Informationen ständig im Auge behalten zu müssen. So genannte Apps werden deshalb immer wichtiger, um Studierende über die Weiterentwicklung des vielfältigen Materials von Schreibzentren auf dem Laufenden zu halten, aber auch, um auf diesem Wege zum selbstgesteuerten, eigenverantwortlichen Handeln zu motivieren und anzuleiten. Durch integrierte Feedbackschleifen erschließen sich
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dem Schreibzentrum Nutzungsgewohnheiten und sich verändernde Bedürfnisse der Studierenden. Darauf wird mit fortlaufender Weiterentwicklung und Erneuerung der Angebote reagiert. Während es zur Digitalisierung des Schreibens und zu den dafür nötigen Tools bereits einen intensiven Forschungsdiskurs gibt – dazu liefern Kruse & Rapp (2021) mit ihrem Beitrag in diesem Band einen wertvollen Überblick – betritt man mit der Entwicklung digitalisierten Materialdesigns im Kontext des Schreibens Neuland. Die Grundlagen aber sind im Bereich der Schreibdidaktik längst gelegt (vgl. u.a. Bachmann & Feilke, 2014; Schmölzer-Eibinger et al., 2018; Feilke et al., 2018) und harren einer sinnvollen Adaption für die web basierte Textproduktion, aber auch für das Schreiben in Blended-Learning-Szenarios. Ein weiterer wichtiger Bereich der Forschung und Entwicklung liegt im Schaffen von authentischem Gebrauchswert für die Selbstlernmaterialien im Zusammenspiel mit der o.g. Forschung zur individuellen Schreibberatung (vgl. Punkt 3), zum Workshopangebot des Schreibzentrums (vgl. Punkt 4) und der später noch vorzustellenden Schreibkurse (vgl. Punkt 6). Angestrebt wird ein integrierter Anleitungs-, Selbstlern- und Beratungszyklus, dessen Optimierung wachsende Ressourcen (Personal, technische Ausstattung) u.a. Überlegungen zur Organisationsentwicklung erfordern. Zur Konkretisierung dieses Bereichs der Schreibzentrumsarbeit sind weitere umfangreiche Forschungsleistungen erforderlich.
6 FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: KURSDESIGN IM SPANNUNGSFELD VON FAKULTATIVEN UND CURRICULAREN ANGEBOTEN Immer noch sind die wenigsten Ausbildungsfächer an den Hochschulen bereit, Ressourcen in Form von Lehrdeputat und ECTS-Punkten für curricular verbindliche Schreibkurse abzugeben. Akademisches Schreiben wird als so genannte Querschnittskompetenz verstanden und damit oft als etwas missverstanden, das sich en passant entwickelt und daher keiner weiteren Unterstützung bedarf. Dieses Dilemma wurde bisher für den deutschsprachigen Raum zwar mehrfach im Kontext von Konzepten wie „Schreiben in den Fächern“ und „Writing Fellows“ benannt, aber nicht wirklich ursächlich diskutiert (vgl. u.a. Lahm, 2016; Dreyfürst, Liebetanz, & Voigt, 2018; Voigt, 2018). Im Gegensatz dazu wurde die infrastrukturelle Marginalisierung für die angelsächsische Hochschullandschaft schon seit Längerem im englischsprachigen Diskurs detailliert aufgearbeitet (vgl. Berlin, 1987; Bartholomae, 1995; Bartholomae & Elbow, 1995; Elbow, 1995; Russell, 2002) und bestehende Interessenskonflikte (z.B. zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft bzw. English Studies und den anderen Ausbildungsfächern) zumindest teilweise
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gelöst: Indem z.B. institutionell verankerte Gremien nicht nur die Existenz von Schreibkursen, schreibintensiven Fachseminaren und Schreibzentren absichern, sondern auch die Qualität dieser Angebote überwachen. Spätestens seit dem Sammelband von Barnett & Blumner (1999) sind die Ergebnisse dieser Bemühungen solcher institutionellen Kooperationen in Sachen Schreiben bekannt. Hilfreich für diese Konfliktlösung ist in der angelsächsischen Bildungstradition die Unterscheidung zwischen Grundstudium (college) und Fachstudium (university), wodurch die in der Studieneingangsphase erworbenen akademischen Schreibkompetenzen im weiteren Studienverlauf im Kontext fachspezifischer Diskurse und den damit verbundenen wissenschaftlich-literalen Gepflogenheiten weiterentwickelt und profiliert werden. Für den deutschsprachigen Raum (v.a. in D-A-CH) liegen zwei Vermutungen hinsichtlich der oben erwähnten Ablehnung von curricular verankerter Unterstützung auf der Hand: a) Der Geniegedanke der deutschen Aufklärung, welcher mit der auch heute noch unter Lehrenden an Hochschulen verbreiteten Vorstellung verbunden ist, dass man entweder Schreiben kann oder aber diese Kompetenz nur beschränkt durch das Einüben sprachlich-formaler Richtigkeit erwirbt; b) dass Schreiben in der Schule (und nicht weiter an der Hochschule) gelernt wird, wobei auch hier das Schreibenlernen wieder stark auf die sprachlich-formale Richtigkeit von Texten reduziert wird (Schindler & Fischbach, 2015). Inzwischen hat sich zumindest hinsichtlich der Schreibenden aus anderen Herkunftssprachen die Position an den Hochschulen durchgesetzt, dass hier durchaus Schreibunterstützung geleistet werden sollte. Dies passiert jedoch oft außerhalb des Faches (z.B. in Sprachenzentren) und ohne curriculare Anbindung und Anerkennung, d.h. ECTS-Vergabe (vgl. Knorr, 2016). Genauso verhält es sich mit Einführungs- und Unterstützungskursen, die z.B. durch Schreibzentren (o.ä. Einrichtungen) als fakultative, oft digital gestaltete Veranstaltung angeboten werden: in der Schweiz z.B. an der PH Nordwestschweiz (Mezger, 2018), in Österreich z.B. an der FH Wien, in Deutschland z.B. an der Universität Stuttgart. Bei solchen fakultativen Kursen zeigt sich jedoch die Gefahr, dass die Teilnahme sporadisch erfolgt und es zu deutlichen Transferverlusten kommt, wenn das im Kurs Gelernte (z.B. während der Studieneinstiegsphase) erst lange danach bei der Anfertigung einer ersten Modularbeit oder gar erst am Ende des Studiums zum Verfassen der Studienabschlussarbeit seine Anwendung findet (vgl. Bräuer, 2019). Hier muss in Zukunft noch genauer geprüft werden, was z.B. fakultative Onlinekurse zur Einführung in die akademische Literalität im Vergleich zu obligatorischen Schreibkursen für die Entwicklung akademisch Schreibender im Studium grundsätzlich bewirken können und was deren Grenzen sind. Es gilt zu fragen, worauf dieses eingeschränkte Wirkungspotenzial zurückzuführen ist und durch welche gezielten Maßnahmen
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diese Einschränkungen reduziert werden könnten. Es stellt sich außerdem die Frage, wie sich solche längerfristigen, systematisch gestalteten Angebote wiederum mit punktuellen Angeboten wie Schreibberatung, Workshops und der Nutzung von Selbstlernmaterialien im Sinne eines gesteigerten, weil konkret situierten Gebrauchswertes effizient verknüpfen lassen. Erste Überlegungen in dieser Richtung wurden in einem Schwerpunktheft der ZFHE (2016) zum Thema „Curriculare Aspekte von Schreib- und Forschungskompetenz“ skizziert.
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FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: HOCHSCHULDIDAKTISCHE STRATEGIEN FÜR DAS SCHREIBEN IN DEN FÄCHERN
Eine erste Öffnung der unter Punkt 6 beschriebenen Situation hinsichtlich der Verantwortungsübernahme der Fächer für die Ausprägung akademischer Schreibfähigkeit scheint sich im Zusammenhang mit der von der Bildungspolitik zunehmend eingeforderten Schreib- und Forschungskompetenz im Studium anzudeuten. Defizitäre Schreibkompetenz wird bei dieser Forderung nicht mehr auf fehlende Ausdrucks- bzw. Mitteilungskompetenz reduziert, sondern als grundsätzliches Hindernis für die Erkenntnisfähigkeit wahrgenommen und daher als Gefahr für das (Weiter-)Lernen und Forschen in Studium und Beruf erkannt. Die breite Palette der Beiträge im bereits unter Punkt 6 genannten Themenheft der ZFHE (2016) verdeutlicht den Handlungsbedarf, aber auch den sich entwickelnden Handlungswillen der Akteure an den Hochschulen Österreichs, Luxemburgs, Deutschlands und der Schweiz, den o.g. Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Rolle des Schreibens für Lehre und Studium durch schreibwissenschaftliche Forschung und Entwicklung zeitnah und nachhaltig zu gestalten. In Deutschland hatte sich dieser Paradigmenwechsel bereits im Kontext des von der Bundesregierung initiierten „Qualitätspakt Lehre“ (2012) angedeutet: Seitdem wurden u.a. Projekte gefördert, die sich eine Stärkung der Rolle des Schreibens als Mittel und Medium von Lehre und Studium im Allgemeinen und die Herausbildung fachwissenschaftlicher Textkompetenz (Kuhn, 2019) im Besonderen zum Ziel gesetzt haben. Diese Zielorientierung kann ganz besonders deutlich bei der hiesigen Umsetzung des ursprünglich aus den USA stammenden Konzepts, „Writing Fellows“ (vgl. Haring-Smith, 1992), beobachtet werden, bei dem es darum geht, dass studentische Hilfskräfte, die vom Schreibzentrum speziell ausgebildet und begleitet werden, die Lehrenden bei der Konzeption und Durchführung von so genannten schreibintensiven Lehrveranstaltungen aus schreibdidaktischer Sicht unterstützen (Dreyfürst et al., 2018). Auf diese Weise kommen Textformate wie z.B. Lektürezusammenfassung, Abstract, Exposee, Förderantrag (vgl. Huemer, Rheindorf, & Gruber, 2012) in den
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Fokus, die in traditionellen hochschuldidaktischen Settings bisher nur Zielobjekte waren. Sie werden nun aber zum Einsatz gebracht als Texte für „schreibendes Lernen“ und als schreibdidaktisch inszenierte Zwischenschritte – Hilfs- und Transfertexte – (Bräuer & Schindler, 2011), auf dem Weg zur Erledigung komplexer Schreibaufgaben bzw. Leistungsnachweise im weiteren Verlauf des Studiums (vgl. Knorr, 2016; Alagöz-Bakan, Knorr, & Krüsemann, 2016). Die Wirksamkeit dieses hochschuldidaktischen Szenarios zwecks erfolgreicher Lehre im Allgemeinen und für die Weiterentwicklung akademischer Schreibkompetenz im Besonderen wurde bereits in mehreren deutschsprachigen Studien nachgewiesen (vgl. Alagöz-Bakan et al. 2016; Dreyfürst et al., 2014; Voigt, 2018) und es ist damit zu rechnen, dass Writing-Fellows-Initiativen auch in Zukunft im Rahmen von Impulsen aus der Politik rund um die Verbesserung von Lehre und Studium gefördert werden. Diese Gelegenheiten sollten zu weiterführender Forschung und Entwicklung zumindest in den folgenden Bereichen bzw. zu diesen Aspekten genutzt werden: Welche Textsorten im funktionalen Spanungsfeld von Hilfs- und Transfertexten eignen sich besonders für nachhaltig wirkendes, vertieftes Lernen? Welches Aufgabendesign wird benötigt, um vor allem so genannte Hilfstexte (Lektürezusammenfassungen, Kommentare etc.) seitens der Schreibenden nicht als extra Arbeit für die Lehrkraft zu erleben, sondern mit authentischem Gebrauchswert für die eigene Erkenntnisgewinnung? Wie können derartige Zwischenschritte noch vielfältiger – lehrveranstaltungsübergreifend, studienbegleitend – eingesetzt, d.h. von Lehrenden als Bereicherung (u.U. im „flipped classroom“-Format) bei den Studierenden eingefordert werden? Wie lassen sich derartige langfristige und verzweigte Arbeitsprozesse administrativ-institutionell sinnvoll abbilden (z.B. durch elektronische Portfolios, siehe Punkt 8), damit an den Hochschulen eine Lehr-/Lernkultur – und als Teil dessen eine proaktive Assessment-Kultur – entsteht, die sowohl Arbeits- und Lernprozesse als auch ausbildungsadäquaten Erkenntnisgewinn und adressatenwirksame Erkenntnisdarstellung ins Auge fasst?
8 FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: REFLEXIVE PRAXIS ALS MITTEL UND MEDIUM FÜR LERNBEGLEITUNG UND LEISTUNGSERFASSUNG Die Notwendigkeit reflexiver Praxis zur Selbstregulierung im Studium wurde bereits mehrfach nachgewiesen und die Wirkung von Medien reflexiver Praxis wie z.B. Lerntagebücher und Portfolios wurde zumindest punktuell analysiert. Auch hierzu gibt es im angelsächsischen Bildungsraum einen beträchtlichen Forschungsund Entwicklungsvorsprung, welcher sich u.a. in den regelmäßigen Publikationen im International Journal of ePortfolio (IJeP, 2020) manifestiert. Aber auch umfas-
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sende Einzelstudien zum Thema stehen seit den 2000er Jahren zur Verfügung (vgl. u.a. Cambridge et al., 2009; Yancey, 2019). Auf dieser Basis sollte es in absehbarer Zeit auch für den deutschsprachigen Raum gelingen, die hier bereits getätigten Anfänge in der Erforschung des reflexiven Schreibens substanziell zu verstärken. Aktuell besteht der Forschungsstand darin, dass erkenntnistheoretische Modelle und schreibdidaktische Ansätze zum reflexiven Schreiben (vgl. u.a. HimpslGutermann, 2012; Bräuer, 2016; Spielmann, 2018; Sennewald, in Vorb.) in konkreten hochschuldidaktischen Kontexten mittels explorativer Fallstudien auf deren Verwendbarkeit überprüft und auf dieser Basis Vorschläge zur Weiterentwicklung von Portfolio-Systemen an den Hochschulen erarbeitet werden. Die dazu entstandenen bildungspolitischen Vorschläge (vgl. u.a. Arimond et al., 2019) und hochschuldidaktischen bzw. –organisatorischen Umsetzungen (vgl. u.a. Spielmann, 2018; Sennewald, in Vorb.) gilt es nun, weiter im Detail zu untersuchen. Dabei sollte u.a. den folgenden Fragen nachgegangen werden (vgl. Arimond et al., 2019): Worin besteht der konkrete Handlungsbedarf und das Handlungspotenzial einer Institution und der dort involvierten Lehrenden und Studierenden hinsichtlich elektronisch basierter Reflexion? Welche hochschuldidaktischen Konzepte und Aufgabendesigns eignen sich zur kompetenzorientierten Gestaltung von reflexiver Praxis? In welchem Verhältnis befinden sich Anleitung und Begleitung von reflexiv Schreibenden? Welches spezielle Textsortenwissen und technische Knowhow sind für die erfolgreiche Anfertigung elektronischer Portfolios nötig?
9 FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSFELD: WISSENSTRANSFER IN DIE BERUFSFELDER Schreibzentren im deutschsprachigen Raum sind, nicht zuletzt aufgrund ihrer limitierten Ressourcen, derzeit fast ausschließlich auf die Anleitung und Begleitung wissenschaftlich Schreibender beschränkt. Im Mittelpunkt steht die Absicherung der Studierfähigkeit im literalen Bereich. Das weiterführende Ziel der meisten Studierenden besteht jedoch darin, nach dem Studienabschluss in einem Berufsfeld Fuß zu fassen und auch dort in den jeweils vorhandenen Diskursen mündlich und schriftlich erfolgreich handeln zu können. Darauf werden sie durch die aktuell üblichen Angebote von Schreibzentren nur bedingt vorbereitet. Die Textsorten des Studiums bilden in den wenigsten Fällen die literalen Anforderungen von schreibintensiven Berufsfeldern ab. Hinzu kommt, dass selbst im Idealfall – die Absolventin eines Masterstudiengangs beginnt eine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin – nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein automatischer Kompetenztransfer in Sachen wissenschaftlicher Literalität vom Studium zum
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Arbeitsfeld als Lehrkraft erfolgt. Transferstau ist, ähnlich wie beim Übergang von der Schule zum Studium, aufgrund der sich verändernden Umstände für bzw. die komplexeren Anforderungen an das literale Handeln zu vermuten (vgl. Beaufort, 1999, 2007, 2012; Knorr et al., 2017). Das Phänomen des Kompetenztransfers ist noch längst nicht hinreichend untersucht und Schreibzentren sollten sich dieses wichtigen Forschungsdesiderats vor allem mit Blick auf die Transfers „Schule–Studium“ und „Studium–Berufsfeld“ annehmen. Mit Blick auf die bereits vorliegenden Erkenntnisse zu den Bedürfnissen von Schreibenden in der Studieneingangsphase drängt sich die Vermutung auf, dass auch für den Transfer in das Berufsfeld eine so genannte Abschlusskommunikation von Bedeutung ist: Das Bewusstmachen der bisher geleisteten literalen Entwicklung und das Abgleichen der erworbenen Fähigkeiten mit den neuen Anforderungen, verbunden mit dem Planen von konkreten Schritten zur sukzessiven Adaption und Erweiterung der vorhandenen literalen Kompetenzen. Die Studierenden auf diese Anschlusskommunikation als eine Form der Selbstreflexion und -optimierung vorzubereiten bzw. dafür zu sensibilisieren, darin besteht eine wichtige Aufgabe zukünftiger Schreibzentrumsarbeit. Es ist zu vermuten, dass Angebote während des Studiums zum Schreiben im Beruf in ihrer Wirkung ähnlich begrenzt sind, wie das von der im deutschsprachigen Raum immer noch gerne propagierten Wissenschaftspropädeutik in der gymnasialen Oberstufe bekannt ist (vgl. Schindler & Fischbach, 2015; Struger, 2017; Bushati et al., 2018; Schmölzer-Eibinger et al., 2018; Feilke et al., 2018). Für die Vorbereitung der Fähigkeit zur Selbstreflexion und -optimierung vor dem Übergang ins Berufsfeld sollte also Entwicklungsarbeit u.a. zu den u.g. zwei Punkten geleistet werden. Diese Aspekte müssten entsprechend des Wirkungsbereichs des jeweiligen Schreibzentrums konkretisiert werden: a) Analyse der beruflichen Textsorten und deren speziellen Anforderungen an die (u.U. fremd- oder zweitsprachige) Textproduktion: Welche vergleichbaren Textsorten des Studiums sind bekannt und welche vorhandenen Strategien der Textproduktion können dafür genutzt bzw. müssten wie adaptiert werden? b) Analyse des institutionellen Literacy-Managements in der für ein Berufsfeld typischen Institution (z.B. im Zusammenspiel der dort üblichen digitalen Medien): Worin bestehen die Auswirkungen auf das bisher (während des Studiums) praktizierte individuelle Literacy-Management? Auf der Basis der o.g. Analysebereiche gilt es in der Schreibzentrumsarbeit, entsprechende Weiterbildungsangebote zu konzipieren, durchzuführen und deren Wirksamkeit langfristig zu evaluieren.
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Als Beispiel dafür sei hier das Berufsfeld Schule angeführt. Die Ergebnisse der PISA-Studie 2018 (vgl. PISA, 2019) zeigen deutlich, dass es bisher nur bedingt gelungen ist, die an Hochschulen vermehrt angebotene Schreibzentrumsarbeit für das Berufsfeld „Schule“ fruchtbar zu machen. Nach wie vor gibt es nur vereinzelt Schreibzentren an Schulen im deutschsprachigen Raum und dies, obwohl der stetig steigende individuelle Förderbedarf einer immer heterogener werdenden Schüler*innenschaft solche Einrichtungen schon länger dringend erfordert. Hier gilt es, den Faden aus den 2000er Jahren wieder aufzunehmen, als so genannte Schreib- und Lesezentren an deutschsprachigen Schulen in Österreich, der Schweiz, Luxemburg, Deutschland, Belgien und Italien initiiert wurden (vgl. Bräuer, 2009). In diesem Zusammenhang wäre es dringend nötig, die Frage zu klären, in welchem Umfang und welcher Form digitale Literalität zum Gegenstand schulischen Schreibens und Lesens werden muss. Neue Forschungserkenntnisse dazu sollten durch universitäre Schreibzentren schon recht bald in die Umsetzung diverser „Digitalpakte“ mit den Schulen in den o.g. Ländern eingebracht werden, damit digitale Medien gezielt für eine effiziente literale Entwicklung zukünftiger Generationen von Studierenden genutzt werden.
10 SCHLUSSBEMERKUNGEN Anhand der in diesem Beitrag skizzierten Forschungsfelder zukünftiger Schreibzentrumsarbeit wird die Vielfalt der Fragestellungen für die Schreibwissenschaft deutlich. Es wird auch deutlich, dass die Tätigkeit in und mit Schreibzentren vor allem praktischer Natur ist: Es geht um die Begleitung von Schreibenden. Diese Begleitung zu optimieren, d.h. sie wirkungsvoller werden zu lassen, braucht Bedarfsund Wirkungsforschung im Kontext individuellen und institutionellen LiteracyManagements. Literacy-Management umfasst den Umgang mit Informationen zum Zwecke der Produktion, Rezeption und/oder Distribution von Texten – wobei hier ein sehr weiter Textbegriff gemeint ist, der Zeichensysteme verschiedenster Art und Darstellung zum Zwecke erfolgreicher Kommunikation umfasst. Dazu gehört im Umfeld des Studiums das Poster für eine Tagung genauso wie der Text auf einem Blog, der Forenbeitrag auf einer Lernplattform oder die Grafik in einer Studienabschlussarbeit. Mit der Forschung in den hier vorgestellten Erkenntnisbereichen zur Schreibzentrumsarbeit soll nicht zuletzt das Zusammenspiel zwischen curricularen Ausbildungsstrukturen, Schreibauftrag, individuellem Schreibhandeln, (digitalem) Schreibmedium und Schreibprodukt und dessen Bewertung im Sinne einer nachhaltig wirkenden Weiterentwicklung von Schreibenden und der Institution optimiert werden. Um dieses vielschichtige Forschungsfeld effektiv und effizient bearbeiten zu können, werden neue Wege im Forschungsdesign –
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und zwar im Verbund von qualitativen und quantitativen Methoden – nötig werden (vgl. Brinkschulte & Kreitz, 2017; Becker-Mrotzek, Grabowski, & Steinhoff, 2017; Shibani et al., 2019).
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„MEIN THEMA IST, DASS EMOTIONEN DARÜBER BESTIMMEN, WIE WIR UNS IM SCHREIBPROZESS VERHALTEN“ – EIN INTERVIEW MIT GABRIELA RUHMANN David Kreitz
ABSTRACT In der Entwicklung des Berufsfelds Schreibdidaktik und Schreibberatung im deutschsprachigen Raum gab es einige prägende Pionier*innen. Ihre Reflexionen zum Schreiben, zu Lehr-Lern-Bedingungen und -Formaten, sowie zur Schreibforschung sind immer noch aktuell und ihre Erfahrungen in Lehre, Beratung und Institutionalisierungsarbeit können hohe Relevanz besitzen für kommende Generationen von Schreibdidaktiker* innen. Das folgende Interview mit Gabriela Ruhmann versucht daher eine Zusammenfassung und Sicherung ihrer persönlichen Erfahrungen und ihres Nachdenkens über die genannten Aspekte. Zentral ist dabei ihre Fokussierung auf Schreiben als ein ganzheitliches Phänomen, das gleichzeitig handwerklich, kognitiv, sprachlich und emotional bewältigt wird. Diese Ganzheitlichkeit zu untersuchen, wäre eine Aufgabe der Schreibwissenschaft.
1 EINLEITUNG Die retrospektive Betrachtung der Berufsfeld- und Institutionsentwicklung der Schreibdidaktik an Hochschulen und Universitäten ist notwendig. Erst ein Verständnis für die bildungspolitischen Debatten, kooperativen Anstrengungen und spezifischen Kontexte, die die Entstehung schreibdidaktischer Unterstützungsangebote beeinflussten, ermöglichen eine Einschätzung von Kontinuitäten, Unterschieden sowie möglichen und nötigen disziplinären und professionellen Entwicklungsschritten (ähnlich für die Hochschuldidaktik: Meister & Stolz, 2013, S. 17). Dabei ist nicht das gesamte berufspraktische, wissenschaftliche und hochschulpolitische Wissen, welches die Protagonist*innen dieser historischen Entwicklung angesammelt haben, in Publikationen verfügbar, sondern liegt oft als implizites Wissen vor („tacit knowledge“, Polanyi 1966). Dieser professionelle Erfahrungsschatz kann u.a. mithilfe einer Mischung von berufsbiografischen und Expert*innen-Interviews gehoben werden und so für nachfolgende Gene-
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rationen von Schreibdidaktiker*innen und Schreibforscher*innen bewahrt werden. Das folgende Interview mit Gabriela Ruhmann hat deshalb zum Ziel, die persönlichen Erfahrungen der Interviewten mit der Schreibdidaktik als Berufsfeld, der Etablierung von Schreibzentren und dem Verhältnis von Schreibdidaktik und Schreibforschung in die Diskussion um eine sich (womöglich) etablierende Schreibwissenschaft einzubringen. Das gesamte Interview umfasst weitere Aspekte, für diese Veröffentlichung wurden jedoch die Antworten von Gabi Ruhmann ausgewählt, die mir – dem Interviewer – zum Thema des vorliegenden Sammelbandes passend erschienen. Dabei handelt es sich sowohl um persönliche als auch um professionelle Erfahrungen und Einschätzungen Gabi Ruhmanns zu den Themen: Anfänge der Schreibdidaktik, nationale und internationale Zusammenarbeit in der Schreibdidaktik, Schreibberatung, Schreibforschung, Hochschuldidaktik und das eigene Schreiben. Das Interview wurde in Zwischenabschnitte gegliedert, um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Zunächst wird Gabi Ruhmann kurz vorgestellt und das Setting des Interviews geschildert. Der erste Aspekt, zu dem ich Gabi Ruhmann befragte, ist unter die Überschrift: Ihr Weg in die Schreibdidaktik (3.1.) gestellt. Darauf folgen Fragen und Antworten zur Zusammenarbeit in der frühen Schreibdidaktik sowie mit anderen Beratungseinrichtungen (3.2). Mich interessierte, welche Einflüsse auf ihr Denken (3.3) Gabi Ruhmann hervorhebt. Ich befragte sie ebenfalls zu ihrem eigenen Schreiben (3.4), ihrer Sicht auf die Hochschullehre (3.5) und schließlich über ihre Erfahrungen zum Verhältnis von Schreibforschung und Institutionalisierungsarbeit (3.6).
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EINFÜHRUNG IN DAS INTERVIEW
Gabriela Ruhmann (1958–2019) war eine Pionierin der deutschsprachigen Schreibberatung. An gleich zwei Universitäten, in Bielefeld und in Bochum, baute sie zwei Schreibzentren, das Schreiblabor (Bielefeld) und das Schreibzentrum (Bochum), mit auf und war maßgeblich für die inhaltliche Arbeit verantwortlich. An der RuhrUniversität Bochum leitete sie über viele Jahre das Schreibzentrum, zunächst innerhalb der Germanistik, dann an der Fakultät für Philologie, schließlich als fakultätsübergreifende Einrichtung. Sie entwickelte Übungen und Konzepte für Schreibberatung und Schreibworkshops und ist dadurch an sehr vielen Schreibzentren präsent. Darüber hinaus sind einige der derzeitig aktiven Schreibdidaktiker*innen von Gabi Ruhmann aus- und fortgebildet worden.1 1
Mehr über Gabriela Ruhmann findet sich in der Festschrift „Aus alt mach neu“ (2017)
ein Interview mit Gabriela Ruhmann
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Am 15.3.2018 besuchte ich Gabi Ruhmann zu Hause in Stolberg-Vicht am Rand der Eifel nahe Aachen und wir sprachen gut eineinhalb Stunden miteinander. Ich kannte sie persönlich erst seit dem Jubiläum des Schreibzentrums der Ruhr-Universität Bochum im Jahr 2017 und durch ein Interview für JoSch – Journal der Schreibberatung (Nr. 16, 02/2018), doch war sofort eine persönliche Ebene getroffen, eine offene Gesprächshaltung gegeben und auch ihr Interesse geweckt an meinem Interviewprojekt.2 Die folgenden Ausschnitte aus dem Interview mit Gabi Ruhmann3 machen deutlich, wie sie über Schreibdidaktik, insbesondere Schreibberatung dachte, was der theoretische und praktische Rahmen ihres Nachdenkens über das Schreiben und die Schreibberatung war und wie sie die Beziehung von Schreibforschung und Schreibberatung einordnete. Gabi Ruhmann spricht dabei auch über ihre eigenen Emotionen beim Schreiben und erklärt ihre ganzheitliche Sicht auf das Schreiben.
3 3.1
DAS INTERVIEW Ihr Weg in die Schreibdidaktik
Nachdem ich Gabi Ruhmann gefragt hatte, was sie sagen würde, wenn ich sie als Pionierin der Schreibdidaktik bezeichnete, beschrieb sie das Bielefelder Schreiblabor als erste Institution dieser Art in Deutschland. Sie machte dabei – und das erschien mir generell typisch für Gabi Ruhmann – wenig Aufheben um ihre Per-
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und im Nachruf unter https://www.zfw.rub.de/sz/panel/gabriela-ruhmann, zum Schreiblabor der Universität Bielefeld siehe u.a. https://de.wikipedia.org/wiki/Bielefelder_Schreiblabor; zum Schreibzentrum der RUB siehe Wiethoff & Ruhmann (2018); zur Entwicklung der Schreibdidaktik in Deutschland aus Sicht von Gabriela Ruhmann (2014a). Die Idee, Interviews mit Pionier*innen der Schreibberatung/-didaktik an deutschen Hochschulen zu führen, entstand in einem Gespräch mit Prof. Dr. Joachim Grabowski von der Leibniz Universität Hannover. Ich hatte zum Zeitpunkt des Interviews mit Gabi Ruhmann bereits Otto Kruse und Gisbert Keseling zu den Anfängen der Schreibdidaktik an deutschen Hochschulen und ihrer eigenen Pionierarbeit interviewt. Das Ziel dieser Interviews – weitere mit Gerd Bräuer, Dagmar Knorr und Andrea Frank folgten – war es, einen Überblick über die Anfänge der Schreibdidaktik, v.a. auch der Schreibberatung, in der Bundesrepublik Deutschland, ihre unterschiedlichen Protagonist*innen und interdisziplinären Wurzeln zu gewinnen. Das Interview wurde inhaltlich transkribiert und einzelne Formulierungen für eine bessere Lesbarkeit angepasst. Inhalte wurden selbstverständlich nicht verändert. Gabriela Ruhmann gab mir schriftlich ihr Einverständnis dazu, dass das Interview für Publikationen zu den Anfängen der Schreibdidaktik genutzt werden darf.
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son, stellte vielmehr das Schreiblabor in den Vordergrund. Auf die Fragen hin, wie sie zum wissenschaftlichen Schreiben gekommen sei, was sie daran besonders interessierte und was eine Auseinandersetzung damit begünstigte, erzählte Gabi Ruhmann zunächst von ihrem Studium. GR: Ich bin gelernte Philosophin und habe mit Schwerpunkt analytische Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes studiert und habe das geliebt und für diesen Zweig der Philosophie ist das schreibende Denken einfach Pflicht. Man schreibt das hin, um zu gucken, was man denkt. Insofern habe ich eine berufliche Nähe zum wissenschaftlichen Schreiben. Darüber hinaus war es ihr wichtig, einen ihrer akademischen Lehrer hervorzuheben, der früh die Potentiale des Feedbacks für die Denkentwicklung der Studierenden sowie die Potentiale des Textfeedbacks unter Peers erkannt hatte. GR: Ich hatte diesen begnadeten Lehrer: Eike von Savigny4. Der hat vom ersten Semester an seine Rohfassungen an uns Studierende gegeben, hat sich Feedback geholt und sich in den Fußnoten bedankt. Und da habe ich irgendwie mitbekommen, ja gut, die schreiben auch Rohfassungen und ich habe es insofern als ganz normales Handwerk und auch so eine Behandlung auf Augenhöhe erfahren, immer im Studium. Und weil du das mit der Pionierin gefragt hast, ich glaube, wir waren die Ersten in Bielefeld. Eike von Savigny hatte damals ein Essay-Training verpflichtend gemacht für alle Philosophiestudierenden und mich als Tutorin eingestellt, die denen auf Rohfassungen Feedback gibt. Und das ist dann richtig ein Teil der Studienordnung geworden […] Gabi Ruhmann erzählte von ihrem Nebenjob, der ihr vielfältige Gelegenheit bot, über das Schreiben ins Gespräch zu kommen. GR: Das klingt jetzt bescheuert, aber das ist ein Teil der Wurzel: Ich habe mir mit Haareschneiden mein Studium verdient. Das waren überwiegend Studierende, die natürlich ihre Hausarbeiten schreiben mussten. Wenn man jemandem auf dem Kopf rummacht, fangen sie an zu erzählen. Und ich habe so viele Geschichten über Examensarbeiten und Schreibblockaden erzählt bekommen (lacht) und eine meiner Kundinnen war Andrea Frank. Daher kenne ich die. Und sie war damals am Promovieren und wir haben uns bestens unterhalten übers Schreiben.
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Eike von Savigny, Prof. em. für Philosophie (an der Univ. Bielefeld tätig: 1977–2006) besonders bekannt durch Veröffentlichung zur Philosophie der Sprache und des Rechts.
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Der dritte Aspekt, der Gabi Ruhmann zu einer Beschäftigung mit dem Schreiben brachte, war der persönlichste: Ihre eigenen Schwierigkeiten. GR: Ich glaube, ich bin eine der berühmtesten Schreibhemmungen in Bielefeld. Ich war eine recht gute Studentin, aber ich habe das mit der Magisterarbeit nicht auf die Kette gekriegt. Ich habe acht Jahre lang geschrieben an meiner Arbeit; und als dann gar nichts mehr ging mit Verlängerung – ich hatte zwischendurch das Studium abgebrochen – dann ist sie dann in einem Gewaltakt von Pragmatismus innerhalb von zwei Wochen entstanden. Ich glaube, dadurch habe ich die Innenperspektive auf Schreibblockaden. Ich brauchte das nur zu externalisieren. Ich habe im Grunde genommen aus meiner Schacke5 ‘nen Beruf gemacht. Ja, ich habe mit nichts weiter angefangen. Ich hatte keine Beraterausbildung. Aber ich habe ein ziemlich gutes Gespür, wo es sitzen könnte, weil ich es alles aus der leidvollen Innenperspektive kenne. Ich tue mich ja auch heute noch wahnsinnig schwer mit dem Schreiben. Ich kann es, aber es tut weh, und ich glaube, ich verstehe Leute gut, denen das Schreiben weh tut. Und das ist übrigens erst im Laufe der Jahre entstanden. Diese Schreibschmerzen, habe ich den Eindruck, die bekommen eher Leute, die das nicht so habituell mitbekommen von zuhause. Also Leute aus Akademikerfamilien, die schon über mehrere Generationen Akademiker sind, die lernen das durch Mitlaufen, meinen sie zumindest, also die haben ganz viel Habituelles dabei. Und Leute, so wie ich, die aus einem Arbeiterhaushalt kommen, haben, glaube ich, viel höheren emotionalen Aufwand beim Schreiben. Sich das zu gestatten, nach vorne zu gehen, sich zu fragen: „Ist das wirklich handfest?“ Ich würde sagen, ich bin Spezialistin für Schreibschmerzen. Diese emotionale Seite ist für Gabi Ruhmann ganz stark und überhaupt kein Widerspruch zur rationalen Seite des Schreibens. GR: Der Umstand, dass ich beim Schreiben alles, was ich denke, in so ein rationales Korsett pressen muss, das tut weh, das sind Begrenzungsschmerzen. Wir haben in Bielefeld damit angefangen, erst mal Witzchen zu machen und haben kleine Döschen verteilt mit Dolorscript, also so kleinen Pillen gegen Schreibschmerzen (lacht). 3.2 Zusammenarbeit
Vor dem Hintergrund des Begriffs Schreibschmerzen interessierte mich die Zusammenarbeit mit anderen Beratungsstellen, die sich emotional bzw. psychisch schwierigen Studiensituationen annehmen. Ich hatte aus meiner Schreibberatungsausbildung noch im Hinterkopf, dass relativ früh ein Artikel zur Darstellung von Schreibberatung und Studienberatung bzw. psychosozialer Beratung erschienen war.6 5 6
Umgangssprache für ein psychologisches Problem, eine Macke, eine Verrücktheit. Furchner, I., Großmaß, R., & Ruhmann, G. (1999). Schreibberatung oder Studienberatung? Zwei Einrichtungen, zwei Zugangsweisen.
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GR: Das war eine wichtige Kooperation [mit der psychologischen Beratung], weil, damals war ja längst nicht so ausgelotet wie heute: Was ist rein Psycho und was hat mit dem Schreiben zu tun und was ist in der Schnittmenge? Und auch in Bochum habe ich angefangen mit einer Fortbildung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Studienbüro. Einfach um Multiplikation zu bekommen und ich fand die Zusammenarbeit mit den Psychostellen immer extrem spannend, weil die was wiedererkannt haben von ihren Grundthemen: Nähe, Distanz und Ambivalenz. Das haben die alles in diesen Schreibprozessen wiederentdeckt und das fand ich immer hochinteressant. Mich interessiert auch wirklich diese psychologische Seite des Schreibens sehr. Da mich nicht nur die individuellen Pionierinnen und Pioniere der Schreibdidaktik als Individuen interessieren, sondern vor allem auch die Kontakte und Zusammenarbeit untereinander, fragte ich Gabi Ruhmann danach, mit welchen anderen Personen aus der Frühzeit der Schreibdidaktik an deutschen Hochschulen sie zu tun hatte. GR: Also ich hatte zunächst zu tun mit der Initiatorin des Schreiblabors, der Andrea Frank. Sie hatte die Leitung dieses Projekts, was ja aus Landesmitteln finanziert worden war. Die hat aber nicht an der Front mitgearbeitet, die war in der Verwaltung, was übrigens der Umstand ist, dass das überhaupt zustande gekommen ist. Das wäre so schnell an keiner Uni zustande gekommen, weil in der Bielefelder Uni dann die Leitung des Schreiblabors sowohl etwas von Verwaltung als auch von der Sache verstand und die ganze Zunft leidet ja im Moment darunter, dass die Verwaltung nicht wirklich versteht, was wir machen. Und Andrea habe ich dann immer berichtet, was ich wahrgenommen habe, und die fand das immer hochspannend und sie hat immer ein bisschen geguckt, dass ich nicht so sehr in der Beratung versacke7, sondern dass das Ganze systematisch auch wieder in die Fakultäten zurückgeht. Sie hat mich immer gedrängt auch wieder mit den Lehrenden zusammenzuarbeiten. Das war ein sehr wichtiger Kontakt. Dann hat es ein Initialerlebnis gegeben. Ja, ich kann dir sagen, ich wollte diesen Job im Schreiblabor ja eigentlich gar nicht. Ich war zu der Zeit ins Kloster gegangen und habe da als Gärtnerin gearbeitet, was mein erster Beruf ist, und dann hat Andrea Frank angerufen und hat gesagt: „Du musst das machen. Niemand kennt so viel von Schreibblockaden wie du.“ Und dann hat mich die Mutter Oberin nach Bielefeld geschickt und hat gesagt: „Machen Sie das.“ Und ich hatte ja null. Ich kam am 29. September 1993 aus dem Kloster und am 7
Umgangssprache für ein negatives Fokussieren auf eine bestimmte Sache, ein Steckenund Stehenbleiben.
ein Interview mit Gabriela Ruhmann
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30. hat Otto Kruse einen Tag Workshop gemacht. Mit Andrea, mit mir, mit einem Kollegen aus der Hochschuldidaktik, wo wir damals unsere Kostenstelle hatten, der fand das interessant, und ein Hochschullehrer. Otto hat mit uns zwei, drei Schreibübungen gemacht und dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, woran das bei mir liegt mit den Schreibschmerzen, also dieses Zu-viel-auf-einmal-Wollen. Und das war das Rüstzeug, mit dem ich begonnen hab. Und dann habe ich sehr viel mit Otto zu tun gehabt. Er kam von der Prozessseite. Und ich kam quasi von der normativen Produktseite. Als Philosophin wird man ja gezwungen präzise zu denken und zu formulieren. Und das ist in Dauergesprächen irgendwie zusammengewachsen. Also Otto war ein Ansprechpartner. Dann habe ich Gisbert [Keseling]8 über die Linguistik kennengelernt und wir haben lange korrespondiert. Also ich habe ihm immer, wenn ich die Schreibblockaden hatte, mein Innenleben geschrieben. Und er fand das hochspannend und hat dabei den fehlenden inneren Adressaten entdeckt, der mir offensichtlich fehlt. Das war eine schöne, irgendwie informelle und trotzdem sehr wissenschaftliche Kommunikation. Wie man sich das eigentlich vorstellt: freie Wissenschaft. Ich habe leider die Briefe nicht mehr, die waren noch handschriftlich. Dann hatte ich erst mal mit Rüdiger Weingarten aus der Linguistik zu tun. Mit Herrn Baurmann und Weingarten, die waren in so einer Arbeitsgruppe in Bad Homburg zur Schriftsprache. Und die hatten mich angesprochen. Die haben gesagt, das ist ja hochinteressant, was du da machst, kannst du nicht irgendwie einen Beitrag für unseren Band9 schreiben, was du für erste Einsichten hast? Und das war für mich ganz wichtig, das kennst du ja auch, dass das Handlungswissen und das, was man darüber wissenschaftlich präzise aussagen kann, sehr weit auseinanderliegen. Und da habe ich eben viel mit Rüdiger Weingarten zu tun gehabt, weil das die erste wissenschaftliche Publikation war in diesem Bereich, also keine Praxispublikation, sondern eine wissenschaftliche. Und dann weiß ich schon gar nicht mehr, wie ich an Prowitec10 gekommen bin. Ich glaube, die sind auf mich zugekommen, und innerhalb einer Prowitec-Tagung haben Otto und ich eine Didaktiksektion aufgemacht.
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Gisbert Keseling ist in der Schreibforschung und -didaktik bekannt durch seine Arbeiten zu Textzusammenfassungen (1993) und zu Schreibblockaden (2004). 9 Gemeint ist der Artikel: Ruhmann, G. (1995). Schreibprobleme – Schreibberatung. 10 Die AG Prowitec: PROduktion WIssenschaftlicher TExte mit und ohne Computer wurde 1993 von Jakobs, Knorr und Molitor-Lübbert gegründet. Mehr unter http://www.prowitec.rwth-aachen.de.
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3.3
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Einflüsse auf ihr Denken
Nachdem Gabi Ruhmann diese Verbindungen dargelegt hatte, wollte ich außerdem wissen, welche Personen und Ideen sie am stärksten beeinflusst haben. Ihre Antworten sind auch jetzt, beim erneuten Lesen, erstaunlich, kommt doch niemand aus dem direkten Bereich der Schreibdidaktik vor. GR: Eike von Savigny, das war mein Philosophielehrer. Ich bin mit drei Fragen groß geworden. Die haben sich mir eingebrannt. Wenn jemand was gesagt hat, hat er gefragt: Was heißt das? Und warum soll ich das glauben? Diese beiden Sätze. Und dann hat er einen Satz gesagt, wenn Leute gelabert11 haben im Seminar: „Interessanter Beitrag, auf welche Frage?“ (lacht). Also er hat mich sehr geprägt und dann Peter Bieri. Dem habe ich beim Schreiben quasi zugeguckt, wir haben uns aus Raumgründen in Bielefeld über zwei Jahre ein Büro geteilt. Und der hat ja nun auch einen großen Hang zum Schreiben und hat viel über das Schreiben geredet und über die Entwicklungsprozesse, die dabei sind. Also zwei Philosophen, die ich da nennen möchte. Und was mich total geprägt hat, war mein Gärtnermeister, der immer gesagt hat, wenn man irgendwie anfängt, so die Erde wegzukratzen: „Oh, nicht so feierlich!“ Der hatte irgendwie etwas Handfestes. Und das hat mich sehr geprägt. Ich verstehe mich als wissenschaftlichen Handwerker [sic!]. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erläuterte Gabi Ruhmann, warum sie das Erlernen eines Handwerks als wichtig ansieht. Ihr geht es dabei vor allem um die Verantwortung für das eigene Tun, woraus sie für die Schreibdidaktik u.a. eine Verpflichtung zur Präzision ableitet, ein Anliegen, das sie auch in Publikationen aufgegriffen hat.12 GR: Ich würde das jedem wünschen, der an die Hochschule geht [ein Handwerk zu können]. Also ich habe tiefen Respekt vor Leuten, die irgendwie eine ehrliche Wissenschaft betreiben. Aber ich habe auch eine gewisse Respektlosigkeit, wenn ich Schaumschlägerei entdecke. Und dieses, was mir aus dem Beruf mitgegeben ist, wofür ich extrem dankbar bin. Du lernst als Lehrling Verantwortung zu übernehmen, für das, was du tust. Und das fehlt mir manchmal in der Wissenschaft. Das ist auch eine große Ursache für Schreibprobleme. Dass man für seine Sätze nicht zur Verantwortung gezogen wird. Das macht für mich die Arbeit mit Ingeni11 Umgangssprache für das wortreiche Äußern von Belanglosigkeiten, viele überflüssige Worte machen. 12 Vgl. dazu Ruhmann, G. (2003). Präzise denken, sprechen, schreiben – Bausteine einer prozessorientierten Propädeutik.
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euren beglückend: Wenn bei denen der Satz nicht stimmt, dann bricht die Brücke zusammen. Wenn in der Germanistik irgendwie unspezifische schaumige Sätze geschlagen werden, dann passiert doch nichts. Und für mich ist der Kern einer Schreibdidaktik im akademischen Bereich, wenn es uns gelingt, Studierende davon zu überzeugen, dass sie keine Sätze aufschreiben, die sie nicht selber verstehen, dann ist schon ein großer Teil der Miete da. Dieses Sichhinter-unspezifischen-Sätzen-Verstecken, weil man nicht genau weiß, ist das wissenschaftlich, was ich hier mache oder nicht, ist eine Geißel. Sich wegducken, darauf zu warten, dass hoffentlich keiner mitkriegt, dass ich etwas nicht verstanden habe. Das finde ich tragisch, finde ich richtig tragisch und da bin ich anders geprägt worden. Ein philosophisches Seminar, das bestand aus sechs Leuten. Da konnte sich keiner wegducken. Und wenn ich mir das angucke, Riesenvorlesungen bei uns in der Germanistik. Einführung in die Fachdidaktik für Germanisten – 1200 Leute im Audimax. Wie soll man da lernen und selbstbewusst denken? Ich denke, dass [es] die Aufgabe der Schreibdidaktik ist, die Leute zu klaren, selbstbewussten, autonomen, aufgeklärten Denkern, dass sie die dabei unterstützt, das zu werden. 3.4 Über das eigene Schreiben
Ich habe alle meine Interviewpartner*innen gefragt, was sie über ihr eigenes Schreiben gelernt haben. Gabi Ruhmann kam dabei noch einmal auf die emotionale Seite des Schreibens zu sprechen, die ihr zu wenig erforscht, zu wenig verstanden und deren Wichtigkeit oft unterschätzt oder als Gefühlsduselei abgetan wird. GR: Ich habe etwas darüber gelernt, wie ich schreibe. Was ich kann und was ich nicht kann. Ich halte nicht besonders gut aus, in Rohversionen unklare Sätze zu schreiben. Also auf der Satzebene klar zu bleiben brauche ich, um denken zu können. Was ich gelernt habe, ist durch die Erfahrung – ich habe ja relativ viel Publikationserfahrung –, dass das am nächsten Tag kommt. Also ich habe gelernt, dass es für mich gut ist, an die Grenze zu gehen. Bis es dann wirklich Blockade ist, weglegen, schlafen und am nächsten Morgen wieder dran gehen. Was ich gelernt habe, ist, ich komme raus aus diesen Blockadesituationen. Die gehören offenbar für mich dazu, diese Grenzerfahrungen, und hab so eine handwerkliche Zuversicht, dass das am nächsten Tag, wenn das Kurzzeitgedächtnis sich erholt hat, dass das schon wird. Ich halte gut aus, fleckenartig zu schreiben, weil ich weiß: Übergänge bilden sich später. Aber ich halte nicht aus, unklare Sätze zu schreiben, das habe ich über mich gelernt. Dann, glaube ich, hab ich so was, was für Philosophen naheliegend ist. Ich schreibe überwiegend epistemisch, wenn ich nicht selber was dabei lerne, interessiert es mich nicht und das ist eine Qual für Leute, die mit mir zusammen publizieren. Ich
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höre nicht auf dann weiter zu frickeln13 und deswegen ist es manchmal gut für mich, mit anderen zu publizieren, weil mich das in den Pragmatismus zwingt, weil, ich stemme auch selber viele Bereiche mit. Ich setze nicht an dem Stand der Adressaten an, sondern an dem, was ich jetzt über das Thema weiß und dann geht die Mühle los. Dann kommen ja immer mehr Fragen und deswegen verstehe ich auch Leute sehr gut, die darunter leiden und deswegen nicht zu Potte kommen14. Und was ich über die Auseinandersetzung mit dem Schreiben gelernt habe, ist, wie wunderbar der Schreibprozess durch die emotionale Seite konstituiert ist. Das ist für mich etwas, was ich auch wirklich noch machen möchte in meinem Leben. Emotionen werden immer als eine Begleiterscheinung [abgetan], entweder, wie sagt man, wenn man sich darüber freut, also diese Lustempfindungen beim Schreiben, wenn man vorwärtskommt, ja hedonistisch. Ja, und das andere ist: Diese ganzen frustrierenden Gefühle, die man aushalten muss, weil es eben ein hartes Geschäft ist. Ich bin der Ansicht nach allem, was ich mitkriege in Beratungsprozessen, dass diese Emotionen konstitutiv sind, dass es die Emotionen sind, die darüber entscheiden. Man kann ja sagen, dass das Problemlösen beim Schreiben ein kontinuierliches Management zwischen Entscheidungskonflikten ist. Wenn ich in die eine Seite reingehe, verletze ich die andere Seite, die da verlangt wird: Breite konkurriert mit Tiefgang und ich muss ja irgendwie mich drin verhalten. Was ich extrem gelernt habe, aber noch nicht in der Lage gewesen bin irgendwie wissenschaftlich auszuformulieren, ist, wie sehr die individuelle Lerngeschichte den emotionalen Umgang mit diesen Konflikten bestimmt. Man muss ja beim wissenschaftlichen Schreiben extrem viel Ambivalenz aushalten. Und wie gut man das aushält und wie produktiv man damit umgeht, das wird bestimmt durch all die Ambivalenzerfahrungen, die ich in meinem Leben zuvor gemacht habe. Diese tiefe psychische Seite des Schreibens ist meines Erachtens nicht richtig erkannt und ich bin da fest davon überzeugt. Ich bin noch in einem Stadium, wo man etwas spürt und es nicht wissenschaftlich belegen kann. Aber das würde ich gern machen, weil ich glaube, wenn man so etwas wie ein Markenzeichen sagen will, das ist es, von der Seite komme ich. Und ich weiß, dass die Initialzündung war, dass mich der Rüdiger Weingarten damals gefragt hat, was ich glaube, was die Emotionen da für eine Rolle spielen und von da an hat mich das nicht losgelassen. Dieses Gezwungen zu sein, was Rationales, Lineares zu machen, löst eine bestimmte emotionale Befindlichkeit aus und je nachdem wie man gelernt hat, mit dieser auch schwer auszuhal13 Umgangssprache für die Beschäftigung mit einer relativ kleinteiligen Sache, die verändert bzw. verbessert werden soll. 14 Umgangssprache für Nicht-fertig-Werden, nur langsam vorankommen.
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tenden Befindlichkeit umzugehen, bestimmt darüber, wie ich im Schreibprozess vorwärts gehe. Ob ich versuche, dieser Ambivalenz auszuweichen, weil sie so unaushaltbar ist, oder ob ich mich in dem Zentrum bewegen kann und dadurch eine Ausgewogenheit in der Gestaltung meines Textes bekomme. Das habe ich gelernt, dass diese Emotionalität keine Begleiterscheinung ist, sondern eine Konstituente, die ich hoch spannend finde. Die Emotionen gehören zu uns, genauso wie der Frontallappen. Und das wird häufig missverstanden. Das finde ich schade. Diesen Gedanken aufnehmend merkte ich an, dass Emotionen oft als etwas Weiches, Unwissenschaftliches abgetan werden und möglicherweise vor allem deswegen kaum beachtet würden. Gabi Ruhmann betonte, dass es sie vor allem störe, dass ein einseitiger Fokus auf Mitgefühl mit den Ratsuchenden gelegt werde. GR: Natürlich bin ich davon überzeugt, kann ich meine Arbeit nur machen, wenn eine Beziehungsebene getroffen ist. Das heißt aber, ich nehme die Person ganzheitlich wahr und ernst. Aber das ist nicht mein Thema. Mein Thema ist, dass diese Emotionen darüber bestimmen, wie wir uns im Schreibprozess verhalten. Ich wünschte, ich stieße da auf offenere Ohren. Ich bin ein bisschen traurig darüber. Ich habe vor vier Jahren gedacht, so, jetzt packe ich nochmal all meine Kraft zusammen und hab das versucht irgendwie, so weit wie ich es im Moment denken kann, zu Papier zu bringen15. Es ist null Reaktion darauf gekommen. Ich hatte gehofft, dass irgendeiner sagt: „Spannende Hypothese.“ Ich bin keine Empirikerin. Ich kann nur die theoretische und prä-empirische Arbeit machen. Aber dass diese empirische Schreibforschung da nicht dran geht, das bedrückt mich. Und damit würde ich mir gerne mehr Gehör verschaffen. Dass diese Ganzheitlichkeit [des Schreibens], auch wenn sie nicht mit harten Daten erforscht werden kann, trotzdem wissenschaftlich erforscht werden kann. Wissenschaft ist ja nicht nur Empirie. Auf der Prowitec-Tagung in Hamburg (2013) hatte Gabi Ruhmann zum Thema der Ganzheitlichkeit des Schreibens und über den Schreibprozess in Schreibberatungen gesprochen. Sie machte deutlich, dass es ihrer Meinung nach wenig bis keine empirische Forschung gibt, die diesen ganzheitlichen Prozess – wie er in Schreibberatungen deutlich wird – also die verschiedenen Phasen des Schreibens, die diversen Schwierigkeiten und Entscheidungskrisen, die er hervorbringt, untersucht. GR: Das ist ein absolut natürliches Untersuchungsfeld, diese Gedehntheit der wis15 Es handelt sich dabei um Ruhmann. G. (2014b). Between experience and empirical research: Writing process counseling as a natural setting for writing process research.
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senschaftlichen Schreibprozesse in kleinen Momenten empirisch zu erfassen – das wäre die Schreibberatung. Es ist im Grunde genommen das Datenfeld und zwar nicht in Form, dass man Schreibende untersucht, sondern dass man untersucht, was tun wir da eigentlich in der Schreibberatung, was passiert da. Das hatte ich mir erhofft anzustoßen. Das ist leider nicht passiert.16 3.5
Über Hochschullehre
Eine weitere Frage, die sich derjenigen nach den wahrgenommenen Desideraten in der Schreibforschung anschloss, war bei allen Interviewten diejenige nach den Möglichkeiten und Mängeln in der Lehre wissenschaftlichen Schreibens. GR: Jetzt könnte ich anfangen ganz vieles zu sagen. Ich versuche mal, es minimalistisch zu machen. Das Erste, was in der Lehre fehlt, ist etwas, wovon ich wahnsinnig profitiert habe in meinem Studium: Seminare so zu gestalten, dass sie wissenschaftliche Gespräche sind. Moderierte wissenschaftliche Gespräche, weil, wenn das passiert, habe ich sofort eine Anschauung, was auch in einem Text passiert. Das ist ja auch ein moderiertes wissenschaftliches Gespräch. Also dass einer die Moderation übernimmt, in das Thema einführt, die Protagonisten dazu einlädt, dass sie etwas dazu sagen, zusammenfassen und vielleicht noch selber Stellung beziehen. Wenn unsere Lehrveranstaltung eher so wie Presseclub wären oder wie heißt der, der die Kulturzeit so lange gemacht hat, in 3sat. Der hatte so ein schönes wissenschaftliches Format versucht. Gert Scobel! Der hatte ein wunderbares Format, nach dessen Modell man Veranstaltungen machen könnte. Also nicht Wissen vermitteln, sondern Überzeugungen abtasten in einem wissenschaftlichen Gespräch. Dann wäre schon viel getan. Ich finde das insgesamt, in der gesamten Didaktik. Ich halte das für einen Fehler, den Wissensbegriff als Grundbegriff zu nehmen. Weil es zum Begriff des Wissens gehört, dass es wahr ist und es geht uns nicht um Wahrheit. Es geht uns darum, Überzeugungen abzuklopfen und zu begründen. Und wenn das stärker im Zentrum der Lehre wäre, wären auch schon viele Hürden beim wissenschaftlichen Schreiben genommen, weil, im Schreiben wird man da drauf geworfen. Und du merkst, ich fange gar nicht beim Schreiben an, was ich in der Hochschule beobachte und worunter ich gelitten habe und was auch ein Grund ist, weshalb ich gesagt habe, ich habe jetzt lange genug hier gearbeitet, das ist diese Kontaktlosigkeit in den Veranstaltungen: Lernen braucht Kontakt. Und wenn es in der Veranstaltung mehr darum ginge umzulernen. Ich unterschrei16 Bisher ist in Qualifikationsarbeiten im deutschsprachigen Raum v.a. das Textfeedback in der Schreibberatung untersucht worden, siehe Grieshammer (2018) und Lammers (2017).
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be ziemlich vieles von dem, was im Konstruktivismus behauptet wird, dass der Lernprozess eigentlich beschrieben werden kann als,… dass das, was man vorher zu einem Thema parat hatte an Einstellungen, dass die sich verändern, wenn es darum ginge an das Vorwissen anzuknüpfen und den Studierenden die Möglichkeit zu geben, sich zu verändern. Und wenn das noch mit Hilfe von Schreiben passierte, dann wäre wahnsinnig viel getan. Also ich freue mich auf die Zeit, wo schreibintensive Seminare, forschendes Schreiben irgendwie zur Selbstverständlichkeit geworden ist und hoffentlich nicht zu hoch gehängt wird. Mir geht es um die gedanklichen Bewegungen im Kleinen, wenn die sauber durchgeführt werden, dann passiert ganz vieles von allein. Wenn sich dieses „Weniger ist mehr“ durchsetzen würde. Lieber einen Gedanken gut begründen und verstehen, warum das eine gute Begründung ist, als sich sieben Tonnen Wissen in den Kopp zu kloppen17. An dieser Stelle musste ich nachhaken und fragte Gabi Ruhmann, ob dann ihrer Ansicht nach das Argument die Grundeinheit der Wissenschaftlichkeit und somit auch des wissenschaftlichen Schreibens sei. GR: Die Überzeugung und damit in Folge natürlich das Argument; weil ich von etwas überzeugt bin, dann habe ich ja Gründe dafür, davon überzeugt zu sein. Und das Argumentieren liegt für mich absolut brach […]. Auch noch in unseren Multiplikatoren-Ausbildungen. Das ist einfach eine schwierige Geschichte. Wenn die Freude am Argumentieren, mit dem, was ich im Kopf habe, wenn die entzündet würde, dann würde sich wahnsinnig viel tun. Diese Freude am präzisen kritischen Denken, wenn ich anfange Sätze hinzuschreiben und wenn ich mich dann frage, warum soll ich das glauben, was da steht, dann fange ich schon an. 3.6 Zum Verhältnis von Schreibforschung und Institutionalisierungsarbeit
Meine nächste Frage zielte darauf ab zu ergründen, ob und inwiefern schreibdidaktische Dienstleistungen und schreibdidaktische Forschung an Schreibzentren parallel verlaufen sollten oder ob es, nach Gabi Ruhmanns Erfahrung, nicht vor allem wichtig sei, sich zunächst an der eigenen Universität unentbehrlich zu machen, also eigene Schreibforschung gegenüber Institutionalisierungsarbeit zurückzustellen. GR: Es ist ein Spagat, wenn ich meine Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch mache, dann kommt da zwangsläufig raus, dass ich dann auch, wenn ich Einsichten gewonnen habe, sie publiziere. Historisch, wenn ich mich zurück entsinne, ist es ganz 17 Umgangssprache für den Versuch, möglichst schnell, möglichst viel Wissen aufzunehmen und zu behalten.
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eigenartig gewesen. Der Rufer im eigenen Haus hat ja immer ein größeres Problem, nach innen zu kommunizieren als nach außen. Und ich habe zweimal bei Entscheidungsträgern einen Blick gesehen, wo ich gemerkt habe, da ist jetzt ein Groschen gefallen und das war Folgendes. Es war auf der Tagung, wo die EATAW18 gegründet wurde, da hat ein Entscheidungsträger irgendwie mitgekriegt, ach die Frau Ruhmann hat ja eine Community. Ja, da wurde wahrgenommen, dass meine Arbeit eingebunden ist in einen wissenschaftlichen Diskurs und das hat zu einem Umdenken geführt. Dasselbe war nochmal auf der EATAW 2007 [an der Ruhr-Univ. Bochum], da habe ich nochmal so ein Gesicht gesehen, das heißt, es kann durchaus auch von Vorteil sein, wenn die eigene Hochschule wahrnimmt, dass man eine wissenschaftliche Reputation hat. Aber meine große Sorge ist – aus eigener leidvoller Erfahrung – dass zu viel Energie weggeht mit der Schreibzentrumsarbeit und auch mit der Schreibzentrumsforschungsarbeit, die notwendig ist, um mit der Verwaltung ins Gespräch zu kommen. Diese Prozesse mit den Entscheidungsträgern, die sind länger, als man sich das vorstellt. Das ist meine Erfahrung. Und ich glaube, ich habe eine tiefe Erfahrung mit diesen 20 Jahren, die ich das gemacht habe. Tiefe Erfahrung mit den Gremien und mit der herausfordernden Kommunikation, die damit verbunden ist, und es ist zwingend notwendig, dass es dann in der Verwaltung wenigstens ein, zwei Personen gibt, die verstanden haben, was wir da machen in den Schreibzentren. Das ist zwingend, wenn das nicht passiert, nützt die ganze gute Arbeit nichts. Und diese Personen werden das nicht darüber verstehen, dass ich Schreibzentrumsforschung mache, sondern dass ich beharrlich versuche deutlich zu machen, was für eine Art von Arbeit das ist, die ich mache, und inwiefern die nützlich ist. Und ich weiß das noch aus eigener leidvoller Erfahrung, dass in diesem Arbeitsalltag keine Zeit zum Publizieren war. Ich frage mich manchmal, woher diese Zeit eigentlich kommt. Wir haben das am Wochenende immer gemacht. Und als ich diesen Artikel schrieb, diesen Vortrag verschriftlicht habe aus Hamburg, wurde dann am Ende mir plümmerig19, als ich mich daran erinnert habe, wie schwer das ist, selbst wenn man gewertschätzt wurde, jemanden zu finden, der davon überzeugt ist und sich dafür einsetzt und so jemanden braucht man. Weil, wir können aus den Schreibzentren selbst heraus keine institutionelle Rahmung schaffen. Unser Glück in Bochum – in Anführungszeichen – war lange Jahre, dass man uns nicht gesehen hat und wir uns inhaltlich entwickeln konnten. Aber das war auch gleichzeitig die Gefahr. Also ich denke, wie alles im Leben: Balanciert halten. 18 EATAW: European Association for the Teaching of Academic Writing, existiert seit 1993 als informelles Netzwerk, 2001 fand die erste Konferenz in Groningen statt. Welche Tagung Gabi Ruhmann an dieser Stelle genau meint, ist leider unklar. Seit 2007 ist EATAW ein offizieller Verein (NGO). (http://eataw.eu/constitution.html). 19 Regionale Form von blümerant: schwindelig werden.
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Aber ich glaube, dass die Arbeit im eigenen Haus ein bisschen unterschätzt ist. Also was das für ein Typ von Arbeit ist. Ja, das ist ja in Fakultäten. Man nennt das dann Klinkenputzen: In Sitzungen präsent sein, sich auf die Tagesordnung setzen lassen, freundlich beharrlich immer wieder versuchen deutlich zu machen, dass das Lernunterstützung im allerakademischsten Sinne ist. Abschließend fragte ich Gabi Ruhmann, ob ich ihrer Meinung nach etwas zu fragen vergessen hätte. Sie überlegte kurz und fasste dann noch einmal für sich zusammen, welche Erkenntnisse sie aus dem Gespräch gezogen habe. GR: Also mir ist nochmal durch unser Gespräch deutlich geworden, wie sehr ich dieser Genauigkeit im Kleinen verhaftet bin und der Ganzheitlichkeit des Phänomens, die damit zu tun hat.
4 REFLEXION Ich habe mich lange gefragt, ob es sinnvoll ist, dieses Interview mit einer Art Nachwort zu versehen. Mein Anliegen ist es nicht, dass hier eine Zusammenfassung das Lesen des Interviews ersetzt, denn die Persönlichkeit Gabi Ruhmann wird ebenso durch den Inhalt, wenn nicht noch mehr durch die Art und Weise des Gesagten sichtbar. Meine Notizen nach dem Interview kreisten um drei Stichpunkte: Emotionen im Umgang mit dem Schreiben, die pädagogische Beziehung in der Hochschullehre und das Argumentieren. Bei den Emotionen fand ich die Überlegung einleuchtend, dass die vorherigen Ambivalenzerfahrungen einer Person natürlich auch ihren Umgang mit Ambivalenzen beim Schreiben beeinflussen. Als Soziologe fielen mir dazu gleich der bourdieusche Habitus20 und weiterführende Studien zum Lernhabitus (Herzberg, 2004) ein. Eine Schreibwissenschaft könnte hier möglicherweise ansetzen, Ambivalenzerfahrungen untersuchen oder gar die Frage nach einem Schreibhabitus stellen. Als Schlagwort zu pädagogischer Beziehung hatte ich mir „Bildung braucht Beziehung“ notiert (garantiert hatte ich den Slogan irgendwo aufgeschnappt). Meines Erachtens ist es einer der ganz großen Vorteile von Schreibberatung, dass sie die von Gabi Ruhmann beklagte Kontaktlosigkeit auflöst. Im Sinne einer hochschuldidaktisch ausgerichteten Schreibdidaktik ließe sich überlegen, wie die Beziehungen Studierender und Lehrender trotz Massen20 Der Habitus ist nach Pierre Bourdieu ein Konglomerat aus sozialisationsbedingten, verinnerlichten, weitestgehend unbewussten Denk-, Bewertungs- und Handlungsschemata (Bourdieu, 1976, S. 165, 1987, S. 101). Zu Habitus-Struktur-Konflikten im Studium, siehe Schmitt, 2010. Überblick zu Lernhabitus unter: https://www.die-bonn.de/zeitschrift/22007/Lernhabitus.htm [Zugriff: 14.05.2020].
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veranstaltungen durch „writing-to-learn“-Aktivitäten gestärkt werden könnten. Hierzu passen dann auch meine Notizen zum Stichpunkt Argumentieren: kürzere argumentative Texte, Essays, schriftliche/mündliche Streitgespräche. Für eine Schreibwissenschaft lässt sich m.E. aus dem Interview schlussfolgern, dass ein Fokus auf Forschung und Wissenschaft die Beratung und Lehre bereichern und keinesfalls verdrängen sollte.
Literatur Baurmann, J., & Weingarten, R. (Hg.). (1995). Schreiben: Prozesse, Prozeduren und Produkte. Opladen: Westdeutscher Verlag. Bourdieu, P. (1987). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, P. (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ehlich, K., & Steets, A. (2003). Wissenschaftlich schreiben – lehren und lernen. Berlin & New York: de Gruyter. Furchner, I., Großmaß, R., & Ruhmann, G. (1999). Schreibberatung oder Studienberatung? Zwei Einrichtungen, zwei Zugangsweisen. In O. Kruse, E.-M. Jakobs, & G. Ruhmann (Hg.), Schlüsselkompetenz Schreiben. Konzepte, Methoden, Projekte für Schreibberatung und Schreibdidaktik an der Hochschule (S. 37–60). Bielefeld: UVW. Grieshammer, E. (2018). Textentwürfe besprechen. Analysen aus der akademischen Schreibberatung. Bielefeld: wbv Media. Herzberg, H. (2004). Biographie und Lernhabitus. Eine Studie im Rostocker Werftarbeitermilieu. Frankfurt a.M., New York: Campus. Keseling, G. (1993). Schreibprozess und Textstruktur. Empirische Untersuchungen zur Produktion von Zusammenfassungen. Tübingen: Niemeyer. Keseling, G. (2004). Die Einsamkeit des Schreibers. Wie Schreibblockaden entstehen und erfolgreich bearbeitet werden können. Wiesbaden: VS. Knorr, D., Heine, C., & Engberg, J. (Hg.). (2014). Methods in writing process research. Frankfurt am Main, New York: Peter Lang. Knorr, D., & Neumann, U. (Hg.). (2014). Mehrsprachige Lehramtsstudierende schreiben: Schreibwerkstätten an deutschen Hochschulen. Münster, New York: Waxmann. Kruse, O., Jakobs, E.-M., & Ruhmann, G. (Hg.). (1999). Schlüsselkompetenz Schreiben. Konzepte, Methoden, Projekte für Schreibberatung und Schreibdidaktik an der Hochschule. Bielefeld: UVW. Lammers, I. (2017). Sprechen über Texte. Tutorielle Textfeedbackgespräche mit fremdsprachigen Studienbewerber/innen. Berlin: LIT.
ein Interview mit Gabriela Ruhmann
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DIGITALE SCHREIBTECHNOLOGIE: ENTWICKLUNGEN, ANFORDERUNGEN UND KOMPETENZEN Otto Kruse und Christian Rapp
ABSTRACT Der Beitrag hat das Ziel, digitale Schreibtechnologie für schreibwissenschaftliche Diskurse zugänglich zu machen. Dabei stellt er zunächst die Frage, wie sich schreibwissenschaftliche Herangehensweisen von anderen Disziplinen unterscheiden und mit welchen Fragen digitale Technologien untersucht werden sollten. Der Beitrag liefert dann einen komprimierten Überblick über die technologische Entwicklung des Schreibens seit der Einführung erster Textverarbeitungstools bis zur Entstehung von Writing Analytics und dem Einsatz von Machine Learning für automatische Texterstellung. Ein spezieller Blick ist den Veränderungen von Schreibkompetenzen unter dem Einfluss der Digitalisierung gewidmet. Den Abschluss bildet ein Plädoyer für eine verstärkte Berücksichtigung technologischer Fragestellungen in der Theoriebildung, Forschung und Didaktik der Schreibwissenschaft.
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EINLEITUNG UND ZIEL DES BEITRAGS
Digitale Technologie verbessert nicht einfach unvollkommene Schreibwerkzeuge, sondern sie verändert das Schreiben selbst (vgl. z.B. Haas, 1996). Schreiben ist unter dem Einfluss der Digitalisierung nicht nur variabler, mobiler und komfortabler geworden, sondern erfüllt auch neue Aufgaben, verlangt unterschiedliche kognitive Operationen, bedient sich neuer Rhetorik und stellt auf unterschiedliche Art Beziehungen zu anderen Schreibenden her. Die Kontexte, in denen das Schreiben steht, haben sich verschoben und die Grenzen zu benachbarten Handlungsfeldern wie dem Publizieren, Kommunizieren, Kooperieren, Recherchieren, Organisieren und Gestalten sind durchlässiger geworden oder haben sich ganz aufgelöst (Kruse & Rapp, 2019). Ebenso haben sich auch die Zugehörigkeiten bestimmter Schreibarten zu den Disziplinen verflüssigt, wie Roozen & Erickson (2017) in einer Beschreibung „literaler Landschaften“ bemerken. Es geht also, wenn man sich mit Digitalisierung beschäftigt, nicht einfach darum, Tools zu beschreiben, die für bestimmte Aufgaben oder für den Schreib
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unterricht nutzbar sind, sondern darum, die neuen Realitäten zu verstehen, die die Digitalisierung geschaffen hat. Wie in vielen Bereichen beschert uns auch die Digitalisierung disruptive Technologien, die Gewohntes aus den Angeln heben und völlig neue Praktiken, seien sie kognitiver, methodischer, sozialer oder organisatorischer Art, in Szene setzen. Dabei beginnt die Digitalisierung des Schreibens nicht, wie in medienwissenschaftlich geprägten Kontexten heute oft angenommen wird, mit dem Internet, sondern mit der für das Schreiben grundlegenderen Einführung von Textverarbeitungssoftware, die mehr als eine Dekade Vorlauf hatte, ehe sie mit dem Internet verschmolz und auf neuer Grundlage weitergeführt wurde. Ziel dieses Beitrags ist es, Entwicklungen der Schreibtechnologie aufzuzeigen und ein Verständnis dafür zu vermitteln, welche Auswirkungen dies auf akademische Schreibpraktiken und deren Vermittlung hat. Wir sehen es dabei als Aufgabe der Schreibwissenschaft, die Nutzung von neuen Schreibtechnologien nicht nur zu analysieren, sondern sie auch in Beziehung zu vorhandenen Modellen des Schreibens zu setzen und diese entsprechend zu erweitern oder zu modifizieren. Wir werden besonders auf die Frage eingehen, welche Kompetenzen sich dabei neu entwickeln. Die Übersicht muss zwangsläufig kursorisch sein, da die schiere Menge an neuen Technologien Grenzen setzt und weitere neue Technologien schneller auf den Markt kommen, als man sie analysieren kann.
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DISZIPLINÄRER RAHMEN
In der Auseinandersetzung um neue Technologien ist es nicht ganz einfach, die Schreibwissenschaft in dem Geflecht an traditionellen und neu entstandenen Disziplinen zu positionieren. Im Folgenden führen wir einige Diskurse auf, die den schreibwissenschaftlichen Themengebieten benachbart sind und mit denen es naturgemäss viele Überschneidungen gibt. „Literacy“ ist ein Konzept, das unmittelbar mit dem Schreiben verbunden ist, das jedoch in einer sehr viel breiteren Weise die Veränderungen von Literalität, Kommunikation und Kultur als Folge der digitalen Medien ins Auge fasst. So legt Forschung unter Bezeichnungen wie „New Literacy“ (Coiro, Knobel, Lankshear, & Leu, 2008; Lankshear & Knobel, 2008; Leu, Kinzer, Coiro, Castek, & Henry, 2013) einen starken Schwerpunkt auf die Veränderungen des Lesens unter dem Einfluss von Digitalität. „Multiliteracy“ (Cope & Kalantzis, 2009; The New London Group, 1996) ist stark auf Multimodalität bezogen und bezieht visuelle und akustische Elemente in die Konstruktion von Bedeutung mit ein (z.B. Bateman, Wildfeuer, & Hiippala, 2017), fokussiert also auf die Verbreiterung von sinnbildenden Zeichen-
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systemen über das geschriebene Wort hinaus. „Digital Literacies“ (Lankshear & Knobel, 2008) hingegen gehen bevorzugt auf Medienkompetenz ein und beschäftigen sich vor allem mit veränderten Kompetenzprofilen bei wachsendem Mediengebrauch in der Bildung. Andere Modelle fassen den Begriff „Digital Literacies“ wesentlich weiter und gehen über den Mediengebrauch hinaus, wie z.B. das JISC Modell (https://www.jisc.ac.uk/full-guide/developing-digital-literacies), das sieben Kompetenzfelder benennt, in denen Lesen und Schreiben jedoch nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Die ausgedehnten US-amerikanischen Diskurse zu „Digital Writing and Rhetoric“ (z.B. Alexander & Rhodes, 2018) bieten im Grossen und Ganzen einen reflexiven Ansatz zur Digitalisierung des Schreibens und präsentieren viele Detailbetrachtungen zu deren Folgen, Auswirkungen und textuellen Niederschlägen. Die technologischen Grundlagen werden dabei mitbedacht, sind aber kein Schwerpunkt der Forschung. Digital Rhetoric befasst sich vor allem mit den Wandlungen der Rhetorik angesichts der neuen Medien (z.B. Eyman, 2015). Digitales Schreiben ist in der Schulforschung ein weit verbreiteter Begriff und hilft dabei, den Übergang von handschriftlichem zu computerbasiertem Schreiben zu managen (z.B. Anderson & Mims, 2014). Im vorliegenden Zusammenhang wird der Begriff „digitale Schreibtechnologie“ bevorzugt, um zwischen einzelnen Tools und Tendenzen unterscheiden zu können. Es gibt viele pädagogische Fragestellungen und Untersuchungsfelder, die digitale Lernformen bzw. E-Learning mit Themen des Schreibens verbinden (z.B. Inglis, Ling, & Joosten, 2002). Hier gibt es beträchtliche Überschneidungen zur Schreibwissenschaft, die für uns von Interesse sind, jedoch auch einen systematischen Gegensatz, insofern als pädagogische Forschung immer auf ein Verständnis des Lernens abzielt, während Schreiben einen kreativen, sinnbildenden und kommunikativen Prozess darstellt, der nicht nur in Bildungskontexten stattfindet. Die ergiebigste Quelle für schreibdidaktische Forschung ist vermutlich die Zeitschrift „Computers & Composition“, die dem amerikanischen Fach Rhetoric/Composition nahesteht. Ein Grossteil der medienpädagogischen Diskurse betrifft die Schulbildung. So haben Schneider & Anskeit (2017) das digitale Schreiben an deutschen Schulen zum Thema gemacht, der amerikanische Diskussionsstand findet sich sowohl in dem programmatischen Band „Because digital writing matters“ wieder, der vom National Writing Project, DeVoss, Eidman-Aadahl & Hicks (2010) herausgegeben wurde, als auch bei Anderson & Mims (2014).
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ENTWICKLUNG DIGITALER SCHREIBTECHNOLOGIE – EIN ÜBERBLICK
Beiträge zur Schreibtechnologie im engeren Sinne kommen u.a. aus den Medienbzw. Computerwissenschaften. So stellt Heilmann (2012) in einem medienwissenschaftlichen Ansatz die Vorgeschichte des digitalen Schreibens dar und zeigt auf, welche technischen Voraussetzungen gegeben sein mussten, damit der Computer als Schreibmaschine verwendet werden konnte. Klahold & Fathi (2019) stellen Textverarbeitungssoftware als „computerunterstütztes Schreiben“ dar und zeichnen dann wichtige technologische Entwicklungsschritte nach, die schliesslich zur automatischen Texterstellung führen. Schreibwissenschaftliche Beiträge wie der von Mahlow & Dale (2014), die die Entwicklung von Technologie in den Vordergrund stellen, befassen sich eher mit der Frage der Nutzung von Technologie für das Schreiben, ähnlich wie die Zusammenstellung von Pytasch & Ferdig (2014), die Verwendungsmöglichkeiten von Technologien über alle Bildungskontexte aufzeigt, während Schcolnik (2018) auflistet, welche digitalen Tools Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Arbeit einsetzen. Ein Einstieg in diese Diskussion findet sich auch in der von Bräuer & Spielmann (2018) herausgegebenen Ausgabe des Journals der Schreibberatung zum Thema „Digitales Schreiben und Schreiben in digitalen Umgebungen“. Strobl et al. (2019) versuchen, den Entwicklungsstand neuer Tools zur Unterstützung wissenschaftlichen Schreibens zu dokumentieren, und verbinden ihre Darstellung von Technologien mit dem einer Analyse der pädagogischen Nutzung. Ein Fach „Technology-enhanced writing development“, wie Deane & Guasch (2015) vorschlagen, oder ein „Computer-aided writing“, wie Klahold & Fathi (2019) ihre jüngst erschienene Darstellung zur Schreibtechnologie nennen, ist jedoch als eigenes Forschungs- und Entwicklungsgebiet nie entstanden. Fragestellungen einer Schreibwissenschaft in Bezug auf die Bedeutung einzelner neuer Tools oder Technologien sind folgende: 1. Veränderungen von Schreibprozessen und -routinen: Welche verallgemeinerbaren, neuen Muster bei der Textherstellung lassen sich feststellen? 2. Schreiben und Denken: Wie verändert das neue Medium kognitive Abläufe? Wie beeinflusst es das Denken der Schreibenden? 3. Qualität der Schreibprodukte: Welchen Nutzen hat die Technik für die Schreibenden und wie verändert sie die Textqualität? Wie beeinflusst sie den Gebrauch von Sprache? 4. Anforderungen und Kompetenzen: Welche neuen Anforderungen stellt eine neue Technologie an ihre Nutzer und welche Kompetenzen werden erforderlich? Welcher Lehr- und Lernbedarf besteht in Bezug auf die neue Technologie?
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5. Hilfen für den Umgang mit Sprache: Wie werden sprachbezogene Ressourcen in den Schreibprozess eingebunden und inwiefern unterstützen sie über automatisierte Korrektur- bzw. Feedbackfunktionen die Textherstellung? 6. Verbindung von Schreiben und Lernen: Wie unterstützt neue Technik durch Instruktion und Produktionshilfen das Schreiben? Welche Art von Instruktion ist nötig, um neue Schreibtechniken zu erlernen? Wie verändern sich das Learning-to-Write und das Writing-to-Learn dabei? 7. Kontextualisierung des Schreibens: Wie verändert die neue Technologie Kollaboration und Koproduktion beim Schreiben? Wie verändern sich organisatorische Abläufe im schulischen, hochschulischen und beruflichen Schreiben? Neben den unmittelbaren Auswirkungen neuer Schreibtechnologien auf die Schreibenden finden sich weitere, indirekte Folgen, die sich aus Veränderungen der Textgenres, der Diskursgemeinschaften, der externen Speicherung und Verwaltung von Texten und schliesslich auch aus veränderten Identitäten und Autorenrollen der Schreibenden ergeben. Da diese Veränderungen selten auf eine einzelne technologische Neuerung zurückzuführen sind, werden sie hier nur kursorisch einbezogen. Wir beginnen mit der Darstellung von Textverarbeitungsprogrammen als Ausgangspunkt für den ersten grossen Digitalisierungsschub im Schreiben. Diesem ersten Schub folgte die Entstehung des Internets und in der Folge auch die Entwicklung erster Content-Management-Systeme, die die Bereitstellung und den Austausch von Texten im Web auch ohne Programmierkenntnisse erlaubten. Webservices verlagerten Programme vom lokalen Rechner ins Netz. Cloudcomputing ermöglichte aber nicht nur das Schreiben via Webbrowser, sondern eröffnete auch völlig neue Möglichkeiten des kollaborativen Schreibens. Der dritte Schritt schliesslich besteht in der Erschliessung von Ressourcen aus dem Bereich der Writing Analytics, die komplexe sprachbezogene Unterstützung für das Schreiben bieten bis hin zu automatischem Feedback und automatischer Texterstellung. 3.1 Textverarbeitungssoftware
Für die Schreibwissenschaft beginnt die Digitalisierung nicht mit der Entstehung erster Computer, sondern etwa in den 1980er Jahren mit der Verfügbarkeit von Kleincomputern mit intuitiv nutzbarer Schreibsoftware. Auch wenn die Entwicklung des Computers als Schreibinstrument einen langen Vorlauf hatte (Heilmann, 2012) und es verschiedene digitale Übergangstechnologien gab wie etwa die digitalen Schreibmaschinen, so führte erst die Verbindung von Desktop-Computern mit leistungsfähigen Textverarbeitungsprogrammen dazu, dass digitales Schreiben massentauglich wurde und seinen Siegeszug durch Büros, Hochschulen und pri-
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vate Schreibstuben antreten konnte. Abgelöst wurde damit die Gutenberg’sche Mediengeneration durch eine neue Technologie, die Schrift nicht auf einem Beschreibstoff fixiert, sondern in digitale Codes auflöst und dadurch flexibel gestaltbar, modifizierbar und in elektronischen Medien visualisierbar macht. Mit der Textverarbeitungssoftware wurde ein neues Schreibwerkzeug geschaffen, das in verschiedenen, z. T. mobilen, Endgeräten heute professionelles Schreiben dominiert. Trotz vieler ähnlicher Programme (Übersicht bei: https://en.wikipedia.org/ wiki/List_of_word_processors) hat sich MS Word hier als unangefochtener Marktführer etabliert und bildet heute das grundlegende Werkzeug des Schreibens über alle Kulturen, Bildungsstufen und Berufe hinweg. Ausnahmen sind professionell Schreibende im technischen Schreiben oder im Design, die eigene Tools verwenden. Die wichtigsten Funktionen von Textverarbeitungsprogrammen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Tab. 1: Funktionen in Textverarbeitungssoftware Zeichenketten herstellen:
Buchstaben und andere Zeichen einsetzen, löschen, verschieben, copy & paste, suchen und ersetzen
Schriften
Mehrere Dutzend Schriften verfügbar, Schriftgrösse variierbar
Hervorhebungen und Pointierungen
Fett, Kursiv, farbig hinterlegt, Unterstreichung, Durchstreichung
Layout gestalten
Paginierung und Satzspiegel, Zeilenabstand, Einrückungen, Absatzgestaltung, Zentrierung: Rechts- oder linksbündige, mittige Schriftsetzung
Register und Verzeich- Generieren von Abbildungs-, Tabellen- oder Stichwortvernisse zeichnissen Text- und Gedankenorganisation
Bullet Points, nummerierte Listen, Hierarchisierungen, Gliederungserstellung, Inhaltsverzeichnisse, Verweise im Text, Fussnoten, Tabellen
Hyperlinks
Aktive Verweise auf Webseiten oder Textstellen im gleichen Dokument
Multimedia
Integration von Graphik- und Zeichenprogrammen, Verfügbarkeit von visuellen Elementen wie SmartArt; Einbettung von Graphiken, Bildern, Audios und Videos
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Quellen- und Literaturverwaltung
Anlegen einer Literaturdatenbank; automatische Integration von Referenzen, Erstellen von Literaturverzeichnis
Sprachsupport
Rechtschreibe- und Grammatik-Prüfung, automatische Trennung, Synonyme, durchsuchbarer Thesaurus, Wörter und Buchstaben zählen
Feedback
Kommentarfunktion
Änderungen nachverfolgen
Speicherung aller Textversionen, Wiederherstellung gelöschter Elemente, Markieren von Veränderungen
Textformate
Word, pdf, power point, text
Die Aufzählung der Funktionen von MS Word ist mit dieser Liste noch nicht vollständig, und es gibt zusätzlich noch einige Dutzend Add-Ins für Word, die weitere Funktionen zugänglich machen und vor allem beliebig erweiterbar sind. Es geht hier also nicht um eine komplette Leistungsbeschreibung von Word, sondern vielmehr darum, darzustellen, dass Word nicht einfach ein Schreibprogramm ist, sondern ein digitaler „Hub“, der einige hundert Funktionen bündelt und diese den Schreibenden zur Verfügung stellt. Der Umfang dieser Leistungen ist so gross, dass Microsoft kein Handbuch mehr dazu herausgibt. Word ist heute das dominierende Schreibprogramm und damit die Schreibtechnologie, die praktisch universell eingesetzt wird. Verblüffenderweise gibt es sehr wenig Forschung über Word und man hat den Eindruck, dass es wie eine Art Naturgegebenheit betrachtet wird, die nicht mehr selbst Gegenstand von Untersuchungen ist. 3.2
Web-2.0-Technologie und Cloud Computing
Der zweite technologische Schub nach der Einführung der Textverarbeitungssoftware begann mit dem Internet und dem Web, mit dem ein neues, von überall her erreichbares Transaktionsmedium geschaffen wurde, das den Austausch von Texten revolutionierte. Hatte das Textverarbeitungsprogramm die Herstellung von Texten verändert, so revolutionierte das Internet die Kommunikation und Publikation von Texten und schuf damit auch einen Ersatz für die Druckerpresse. Das Web war ursprünglich sehr statisch und es bedurfte einiger Programmierkenntnisse, um Inhalte online zu stellen. Der Begriff „Web 2.0“ (bekannt geworden
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v.a. durch einen Artikel von Tim O’Reilly, 2007) bezeichnet eine sowohl technische Evolution, die sich in sogenannten Content-Management-Systemen ausdrückte (sie erlauben es auch Laien, Inhalte relativ problemlos ins Web zu stellen), als auch eine soziale Innovation: Nutzende werden vermehrt von Konsumenten zu Produzenten. Das Cloud Computing stellt einen weiteren Schritt in der Evolution dar: Speicherplatz (z. B. Dropbox, Google Drive) und Software als Dienstleistung (am bekanntesten wohl die verschiedenen Google-Dienste wie Google Docs) werden zur Verfügung gestellt und via Webbrowser genutzt, statt sie lokal installiert zu haben. Die Skalierbarkeit der Programme wuchs ins Unendliche (siehe Rapp & Kauf, 2018; Rapp & Kruse, 2016). Die wichtigsten schreibrelevanten Vertreter dieser Technologie sind: Lernplattformen: Learning Management Systeme (LMS) stellen den Ausgangspunkt für eine digitalisierte Lehre dar, die teils ergänzend (blended learning), teils selbständig (distance education) gegenüber dem Präsenzunterricht auftritt. Sie haben zwischenzeitlich den tertiären Bildungsbereich fast vollkommen durchdrungen (Dahlstrom, Brooks, & Bichsel, 2014) und werden als Mittel der Unterrichtsorganisation eingesetzt (zur Geschichte: Downes, 2017; Rhode, Richter, Gowen, Miller, & Wills, 2017). LMS fördern vor allem die Verfügbarkeit und den Austausch von Texten. Sie haben neue Formen der Interaktion über Foren und Unterrichtsblogs eingeführt und unterstützen Austausch, Feedback und Benotung von Texten (Hurlburt, 2008; Laflen & Smith, 2017). Kritisiert werden sie, weil sie sehr lehrendenzentriert sind und den Nutzenden wenig Gestaltungsraum geben. Auch scheinen sie gewisse schreibdidaktische Unterrichtsformen nicht zu unterstützen. E-Portfolios: Ein zweiter Anwendungsfall für Content-Management-Systeme sind E-Portfolios, bei denen es im Kontrast zu den Lernplattformen jedoch nicht primär um den Austausch von Texten, sondern um das Sichtbarmachen von Artefakten aller Art, insbesondere von Texten und Textsammlungen geht. Sie sind vom Grundgedanken her als digitale Sammelmappen zu verstehen, die dazu dienen, den Schreibenden selbst, ihrer Institution oder externen Adressaten die produzierten Texte zu präsentieren. Baumgartner, Himpsl, & Zauchner (2009) unterscheiden dabei Reflexions-, Entwicklungs- und Präsentationsportfolios. Sie sind eher nutzenden- als lehrendenzentriert angelegt, erlauben also mehr Autonomie als die Lernplattformen. Für eine Übersicht über und Evaluation von E-PortfolioSoftware siehe Baumgartner et al. (2009, S. 5). Auch E-Portfolios dienen nicht primär der Herstellung von Texten, sondern deren Verwaltung und Kommentierung. Sie enthalten Funktionen für das Anlegen eines Nutzerprofils, für die Präsentation der Texte und für Austausch, Kommunikation und Rechteverwaltung. Feedback-Management-Systeme: Hierbei handelt es sich um Plattformen, die speziell dafür geschaffen wurden, um Feedback in Institutionen auszutauschen.
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Das erste System war SWoRD, jetzt unter dem Namen „Peerceptive“ vertrieben. Cho & Schunn (2007) beschreiben es als ein flexibles Tool, das es erlaubt, Kursteilnehmende einzuschreiben und dann die Themen- und Terminvergabe automatisch zu regeln. Sowohl für Entwürfe als auch für die fertigen Arbeiten gibt es sechs Feedbacks von verschiedenen Kursteilnehmenden (default), das in drei Kategorien gegeben wird: Flow (sprachliche Gestaltung, Textfluss), Logik (Kohärenz, argumentative Genauigkeit) und Verständnis (Originalität und Vermitteln von Einsichten). Dabei werden sowohl numerische Bewertungen als auch offene Kommentare gegeben. Die Feedbacks zeigen sowohl den generellen Tenor auf als auch die Breite der Beurteilungen. Feedback gibt es auch für das Feedback, da alle Feedback-Gebenden sehen, wie sie im Vergleich zu fünf anderen geurteilt haben. Ein anderes System, das an der University of South Florida entwickelt wurde (Branham, Moxley, & Ross, 2015), ist MyReviewers. Es hat eine stärkere Betonung selbst gewählter Urteilskategorien und unterstützt Textkommentare mit „Community Comments“. Damit sind Listen von Standardkommentaren gemeint, die sich auf Klick in den Text einfügen lassen und mit weiteren Hilfsangeboten oder Literatur verlinkt sind. Als Drittes sei auf „Peergrade“ verwiesen (www.peergrade.io), ein Open-Source-Tool, das vorwiegend an Schulen verwendet wird. Literaturverwaltungsprogramme: Für wissenschaftliches Schreiben wurde fast zeitgleich mit den ersten Textverarbeitungsprogrammen auch separate Software angeboten, die das Verwalten von Literaturverweisen und das Zitieren erleichtern sollte. Fast alle Programme erlauben heute auch kollaborativen Zugriff und Pflege der Sammlungen. Obwohl Teil der Textproduktion, findet diesbezügliche Forschung fast ausschliesslich in den Bibliothekswissenschaften statt (z.B. Mead & Berryman, 2010). Ein Vergleich verbreiteter Programme findet sich bei Zhang (2012) und Murphree, White, & Rochen Renner (2018). Annotation Environments: Unter Annotation versteht man die Zuordnung von einem Kommentar, einer Bewertung oder einer Frage zu einem Textelement (Wort, Satz, Absatz, Text) oder zu einem Bild, Video- oder Audioelement etc. Annotationssoftware erlaubt sowohl maschinengetriebene als auch manuelle Zuordnungen. Sind die zugeordneten Elemente standardisiert, spricht man vom Kodieren. Ziel dabei ist es, grössere Textsammlungen (Korpora) auszuwerten, um sie zusammenzufassen, zu analysieren oder mit anderen zu diskutieren. Die Erwartung an solch eine Technologie besteht darin, dass sich durch Annotationen die Substanz von Wissen besser zugänglich machen lässt als durch individuelles Lesen und Zusammenfassen allein. Annotationstools befinden sich heute in den meisten Literaturverwaltungssystemen (wie Zotero oder Citavi), in denen man in PDFs Passagen markieren und dann annotieren kann. In der Regel gibt es dann Funktionen, mit denen man die Annotationen exportieren oder über einen Filter auswählen kann.
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Ziel ist hier in der Regel, zu einem besseren Textverständnis zu gelangen und – wenn man, wie beispielsweise bei einem Review, viele Texte zu bearbeiten hat – kompetente Literaturberichte anzufertigen. Weitere Annotationstools sind computergestützte Verfahren der qualitativen Forschung wie ATLAS.ti (www.atlasti. com) MAXQDATA (www.maxqdata.de) oder NVivo (www.nvivo.de), die alle erlauben, grössere Textmengen mit Annotationen zu versehen und dann auszuwerten. Zudem gibt es Bestrebungen, ein Annotationssystem über das ganze Web zu legen, sozusagen als eine zweite Ebene, auf der Texte dauerhaft annotiert werden können. Diese „Annotating All Knowledge“-Initiative, die von über vierzig namhaften Institutionen getragen wird, ist unter https://hypothes.is/annotatingall-knowledge/ aufzufinden. Document Sharing: Die Cloudtechnologie eröffnete neue Möglichkeiten, Dateien nicht nur auszutauschen, sondern auch gemeinsam an Texten zu arbeiten. Statt diese per E-Mail zu versenden, können sie an einem Ort zentral verwaltet und von verschiedenen Orten und Personen aufgerufen werden. Document Sharing bietet damit völlig neue Möglichkeiten für die Zusammenarbeit an Texten. Eine Übersicht über kollaborative Schreibsoftware findet sich auf der Webseite von Social Science Software unter www.sosciso.de/de/software/publication/kollaborativesschreiben. Zusammenarbeit bezieht sich dabei sowohl auf die gemeinsame Produktion von Text (Kooperation), als auch auf die Revision, die sich in Feedback oder Korrekturvorschlägen ausdrücken kann (Kollaboration). Beides kann, muss aber nicht zusammenfallen und findet sich auch in den neusten Varianten von webbasierter Textverarbeitungssoftware wie zum Beispiel in Google Docs oder Word online. Olson, Wang, Olson, & Zhang (2017) haben die Entwicklungen und Forschung zum Thema „gemeinsames Schreiben“ detailliert nachgezeichnet und legen eine der ersten empirischen Studien zu gemeinsamer Textproduktion auf Basis von Logfiledaten vor. Neu ist dabei die gemeinsame Eigentümerschaft für einen Text, bei dessen Herstellung Fragen nach Rollen, Aktivitäten, Kontrolle über das Dokument und Schreibstrategien (Posner & Baecker, 1992) auftauchen. Da meist asynchron gearbeitet wird, sind Elemente wie Trackchange, Anzeige der Änderungen inklusive Versionierungen, Kommentare usw. sehr wichtig (Olson et al., 2017). Herausforderung für die Lehre wird wohl sein, Studierenden und Dozierenden die Möglichkeiten, aber auch mögliche Stolpersteine dieser neuen Technologien aufzuzeigen und für ihre sinnvolle Integration in Lehre und Lernen zu sorgen. Dabei scheint es wichtig, das Document Sharing als eine Schreibpraktik eigener Art zu betrachten, die neue Dynamiken, Strategien und Denkprozesse erfordert und ermöglicht.
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Writing Analytics
Ein weiterer, eigenständiger Strang technologischer Entwicklung lässt sich am besten unter dem Begriff „Writing Analytics“ zusammenfassen (Überblick siehe Lang, Aull, & Marcellino, 2019), wiewohl mehrere separate technologische Neuerungen darin verwickelt sind und erste Applikationen bereits mit den frühen Versionen der Textverarbeitungssoftware verfügbar waren. Die erste Komponente betrifft das Feld des Natural Language Processing (NLP), das diejenigen Bemühungen der Informatik zusammenfasst, mit natürlichen Sprachdaten umzugehen und die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine über Sprache zu gestalten. Die zweite Komponente ist die Computerlinguistik, die zwar ähnliche Themen bearbeitet, zusätzlich aber noch korpuslinguistisches Knowhow einbringt. Der dritte Ansatz wird auch unter dem Begriff „Big Data“ abgehandelt und betrifft Techniken, die mit der Auswertung grosser Datenmengen in Internetkontexten befasst sind. Hier wird auch der Begriff „Data Mining“ verwendet, bei dem es im Kontext von Writing Analytics weniger um gut strukturierte Daten oder Korpora, sondern vielmehr um die Analyse unstrukturierter Daten geht. Schliesslich kommt als letzter Ansatz noch das Machine Learning oder Deep Learning dazu, das in den letzten Jahren zu einer Wiederbelebung von Vorstellungen einer künstlichen Intelligenz geführt hat. Diese Programme sind in der Tat geeignet, Leistungen hervorzubringen, die nicht einfach über einen linearen Algorithmus eingegeben werden, sondern die in einem Modus paralleler Verarbeitung Daten selbst erkunden und dann Lösungen optimieren (z.B. Goldberg, 2017; LeCun, Bengio, & Hinton, 2015). Das führt auch beim Thema Schreiben zu neuen Möglichkeiten, die sich u.a. in automatischer Textproduktion ausdrücken. Mit den Ansätzen der Writing Analytics hat die Technologie erstmals den Zugang zu den Texten selbst gefunden. Waren sie anfangs noch auf Grammatik- und Rechtschreibprüfung festgeschrieben, wurden mit der Zeit immer weitere Aspekte von Texten erschlossen (z.B. Mahlow & Dale, 2014). Der Beitrag zum Schreiben, den diese Technologien leisten, liegt vor allem darin, die sprachliche Dimension der Textproduktion den Schreibenden zugänglich zu machen und entsprechende Hilfen für das Formulieren und Überarbeiten zu schaffen. Der Computer beginnt, sich in die Textherstellung einzumischen und tritt in einen Dialog mit den Schreibenden über die sprachliche Gestaltung des Textes ein. Anwendungen dieser Art finden sich heute in E-Mail-Filtern, Autokorrektur- und Autovervollständigungsapps, Übersetzungstools, automatischer Textevaluation und maschinellem Textfeedback. Im Folgenden werden einige davon, die uns für das Schreiben besonders wichtig scheinen, exemplarisch dargestellt.
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Korpuswissen verfügbar machen: Die Idee, Korpuswissen für die Textproduktion verfügbar zu machen, stammt aus den Anfängen der digitalen Textverarbeitung, jedoch erlaubt die heutige Technologie Echtzeitsuchen in Korpora, die mit der Textverarbeitungssoftware gekoppelt sind (Chitez, Rapp, & Kruse, 2015). So setzt beispielsweise Thesis Writer (Chitez et al., 2015; Kruse & Rapp, 2018) nach einer Idee von Hsieh, & Liou (2009) ein Konkordanzprogramm ein, mit dem ein Korpus von jeweils über 20.000 deutschen und 22.000 englischen Texten durchsucht werden kann. Konkordanzen sind automatisch aus einem Korpus genierte Auflistungen von Begriffsverwendungsbeispielen, die zeigen, wie Wörter in einem bestimmten Kontext verwendet werden. Eine zweite Anwendung des Thesis Writer, ebenfalls als Real-Time-Suche umgesetzt, kann eine Korpusabfrage nach Kollokationen durchführen, in der als Ergebnis Kollokationen zum Suchbegriff aufgelistet werden, die nach Häufigkeit sortiert und mit dem Zusatz V (Verb), N (Nomen) und A (Adjektiv) versehen sind. Eine weitere Technologie, die ebenfalls im Thesis Writer zum Einsatz kommt, ist die Vermittlung von linguistischem Wissen mittels eines Phrasebooks, das die Ergebnisse einer umfangreichen Korpusanalyse den Schreibenden verfügbar macht (Kruse & Rapp, 2018). Automatisches Feedback: Einen wichtigen, für die Entwicklung von automatischem Feedback besonders relevanten Zugang zur Textanalyse bahnten Graesser, McNamara, Louwerse, & Cai (2004) mit der Entwicklung von Coh-Metrix, einer Sammlung von etwa 200 bedeutungsvollen Indikatoren relevanter Textmerkmale, die über die anfänglich untersuchten, eher oberflächlichen Merkmale von Rechtschreibung, Wortverwendung und lexikalischer Häufigkeit hinausgehen. Mit dem Fokus auf Textkohärenz bzw. -kohäsion untersuchen sie Textmerkmale, die auf die Verbundenheit einzelner Texteinheiten untereinander und mit übergeordneten Ideen und Themen abzielen. Dabei interpretieren sie Kohäsion als objektive Charakteristika der Texte, während sie Kohärenz als Charakteristik der mentalen Repräsentation des Textinhalts verstehen. Aufgabe „guter“ oder verständlicher Texte wäre es dem entsprechend, sie so kohäsiv zu gestalten, dass die Kohärenzbildung durch die Leser gelingt und dem entspricht, was die Schreibenden intendierten. Die wichtigsten Indikatoren sind: Lexikalische Information wie z.B. Gebräuchlichkeit von Wörtern, Vorstellbarkeit (imageability), Konkretheit, Worthäufigkeit, Wortart, Dichtescores (Verhältnis von Wortarten zueinander), syntaktische Komplexität, Lesbarkeit und einige komplexere Masse, die hier nachzuvollziehen zu aufwändig wäre (vollständige Übersicht in: McNamara, Crossley, & Roscoe, 2013). Neuere Ansätze versuchen, automatisches Feedback fachspezifischer zu gestalten und es enger an bestimmte Genres oder Lernumgebungen anzupassen. Ein Weg, der in den letzten Jahren oft begangen wurde, ist die Analyse von Texten nach dem Move-/Step-Modell von Swales (2000). Sie greift komplexe rhetori-
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sche Elemente auf und kann damit tiefer in die kommunikativen Absichten von Texten eindringen. Für eine Automatisierung dieses Ansatzes ist eine korpusanalytische Untersuchung von Beispieltexten nötig, die dann als Grundlage für eine automatisierte Auswertung von gegebenen Texten dient (Cotos, 2015). Intelligente Tutorensysteme (ITS): ITS sind in vielen Fächern entstanden und werden als Technologien verstanden, die versuchen, das Verhalten menschlicher Tutoren zu imitieren (Übersicht: Steenbergen-Hu & Cooper, 2014) und dabei Lernen adaptiv und flexibel zu gestalten, indem sie auf individuelle Lernbedürfnisse eingehen. ITS zum Thema „Schreiben“ lassen sich nicht exakt von automatischem Feedback abgrenzen und greifen in der Regel auf die gleichen textanalytischen Methoden zurück, verstärken sie jedoch mit einem analytischen Schritt, der den Ergebnissen einen instruktiven Wert für die Schreibenden beigibt. ITS sind oft analog zu Lernplattformen als komplexe Lernumgebungen organisiert und können neben elektronischem Feedback auch weitere Lerneinheiten enthalten, wie z.B. Writing Pal (Dai, Raine, Roscoe, Cai, & McNamara, 2011; Roscoe, Allen, Weston, Crossley, & McNamara, 2014) oder sie können mit Steuerungs-, Evaluationsund Trackingtools für die Lehrenden versehen sein wie z.B. das von Pearson vertriebene WriteToLearn-System (https://mypearsontraining.com/products/writetolearn). Das beste Beispiel für ein ITS zur Unterstützung von wissenschaftlichen Arbeiten ist der Research Writing Tutor der Iowa State University (Cotos, 2015; Cotos, Huffman, & Link, 2015, 2017), der auf der Basis der Swales’schen MoveAnalyse (Swales, 2000) arbeitet. „Moves“ sind dabei umgrenzte rhetorische Absichten, die die Schreibenden verfolgen, während „Steps“ deren Untereinheiten mit konkreten sprachlichen Realisierungen sind. Die Moves und Steps dieses Ansatzes wurden aus einem sorgfältig zusammengestellten Korpus mit jeweils 30 Publikationen aus 30 (meist naturwissenschaftlichen) Disziplinen extrahiert und geben den Schreibenden automatisch Auskunft, welche rhetorischen Moves bzw. Steps sie in ihrer jeweiligen Arbeit realisieren bzw. welche fehlen. Dabei kann das System auch fachspezifische Hinweise geben, etwa in dem Sinn, dass ein textuelles Element entsprechend den Konventionen eines Fachs stärker oder weniger stark betont werden sollte. Ein ähnliches analytisches Vorgehen, jedoch auf das Schreiben von Reflexionen in juristischen Texten bezogen, sind die Arbeiten von Buckingham Shum, Sándor, Goldsmith, Bass, & McWilliams (2017) und Gibson, Sandor, Buckingham Shum, Tsingos-Lucas, & Knight (2017). Automatische Texterstellung: Das letzte Kapitel, das wir aufschlagen, beschäftigt sich mit Programmen, die selbst Texte in natürlicher Sprache verfassen, auch Natural Language Generation (NLG) genannt (Technologie: Klahold & Fathi, 2019). Sie sind derzeit ein Trend der Informatik, versprechen sie doch, den Menschen von den Mühen der Textproduktion zu erlösen. Entsprechend viele Startups gibt
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es, die neue Produkte dazu anpreisen, deren Qualität derzeit zwar nicht überprüfbar ist, deren Versprechungen aber umso grösser sind. Die bekanntesten Vertreter dieser Gattung von Maschinen sind Bots, die sich mit selbst verfassten Mitteilungen in Social Media und Internetforen einschalten. Sie folgen definierten Algorithmen, die die Meinungen ihrer Erschaffer in möglichst grosser Zahl von Posts und Messages im Web unterbringen sollen. Im positiven Sinne finden sich solche Tools derzeit überall dort in Gebrauch oder in Entwicklung, wo es um wiederkehrende Textroutinen geht (z.B. bei Finanz- oder Sportnachrichten, Wetterberichten oder bei der Fachkommunikation von Rechtsanwälten und Ärzten), und in verschiedener Weise lassen sich diese Tools mit automatischer Rechercheaktivität verknüpfen, sodass das Web nach relevanten Ideen oder relevanter Literatur durchforstet werden kann, was dann wiederum zum Ausgangspunkt für die Textproduktion gemacht wird. Mehr als bei allen anderen bisher aufgeführten Technologien ist die automatische Textherstellung allerdings eine disruptive Neuerung, die nicht nur gewohnte Routinen der Textproduktion radikal zu verändern droht, sondern auch zu unethischen Zwecken (Ghostwriting, Plagiatverschleierung, politische Manipulation, Internet-Mobbing) eingesetzt werden kann. Ein Beispiel für den Einsatz in den Wissenschaften ist uns bis jetzt nicht bekannt.
4 KOMPETENZENTWICKLUNG Nach dem Parforceritt durch relevante Schreibtechnologien auf den vorherigen Seiten stellt sich jetzt die Frage, wie sich Schreibkompetenzen angesichts der Digitalisierung verändern. Diese Frage ist insofern schwer zu beantworten, als alle auf Hochschulniveau Schreibenden bereits digitale Werkzeuge verwenden. Es stellt sich also eher die Frage, ob wir auf angemessene Kompetenzmodelle zurückgreifen können, die das Schreibmedium einbeziehen und ob wir Vorstellungen dazu haben, wie sich digitale Schreibkompetenzen weiterentwickeln, denn digitale Technologie ist alles andere als statisch. Die Darstellung der verschiedenen Technologien im Zusammenhang mit Schreiben und Textproduktion zeigt, wie breit digitale Schreibtechnologie angelegt ist und in wie viele Bereiche sie hineinragt. Daraus ergibt sich die Frage, welche dieser Technologien tatsächlich den Schreiballtag beeinflussen und auf welche die Schreibdidaktik daher zurückgreifen sollte. Eine weitere Frage ist, welche Voraussetzungen Studierende ins Studium mitbringen und welche übergeordneten Meta-Skills vorhanden sein müssen, um mit der Digitalisierung des Schreibens Schritt halten zu können. Nachdem der Mythos von den „Digital Natives“ geplatzt ist, scheint es geboten, digitale Kompetenzentwicklung detaillierter zu betrachten und auch detaillierter zu unterrichten. Persi-
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ke & Friedrich (2016) zeigen an einer Stichprobe von knapp 27.500 Studierenden eine hohe Verbreitung von digitalen Medien unter Studierenden: Digitale Texte sind zu 98 Prozent verbreitet, dicht gefolgt von E-Mail (95 %) und digitalen Präsentationstools (95 %), dann folgen soziale Netzwerke (82 %), Wikis (78 %) und Videos (75 %). Darunter war allerdings nur eine geringe Anzahl von Befragten, die alle Medien nutzen, also scheint hier die Selektivität beachtenswert zu sein. SchmidtHertha & Rott (2014) zeigen an einer grossen Stichprobe aus der Universität Tübingen, dass die Studierenden Schreibsoftware relativ gut beherrschen, auch wenn die jeweils am besten ausgebildeten Kompetenzen (neben Tabellenkalkulation, PowerPoint, Recherchetools usw.) fachspezifisch variieren, sich also BWL-Studierende beispielsweise im Gebrauch von MS Word selbst besser einschätzen als Medizinstudierende. Hier scheint es also durchaus auch Defizite bezüglich so fundamentaler Programme wie MS Word zu geben. Purcell, Buchanan, & Friedrich (2013) befragten über 2000 Lehrerinnen und Lehrer aller Fächer an amerikanischen High Schools und kamen zu dem Schluss, dass digitale Medien das Schreiben in einer „Myriade unterschiedlicher Weisen“ beeinflussen, davon einige positiv, andere negativ. Es ist lohnend, einen Blick darauf zu werfen, worin sich die Befragten einig waren (die angegebenen Prozentzahlen beziehen sich auf die Zustimmungswerte für „agree“ plus „strongly agree“): • dass die digitale Technologie es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, ihre Arbeiten mit einem weiteren und unterschiedlicheren Adressatenkreis zu teilen (96 %), • dass sie mehr Zusammenarbeit unter den Studierenden ermöglicht (79 %) und • dass sie Kreativität und persönlichen Ausdruck (78 %) fördert. Auf die Frage nach den Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler in der Zukunft brauchen, gab es relativ einhellige Meinungen in Bezug auf das Wichtigste (hier sind die beiden Antwortkategorien „essential“ und „important but not essential“ aufgeführt): • Beurteilen der Qualität von Information: Essential: 91 %/important but not essential: 9 % • Effektiv schreiben: 91 %/8 % • Sich im Internet verantwortlich verhalten: 85 %/14 % • Vertraulichkeitsfragen im Internet verstehen: 78 %/20 % • Ideen in einer kreativen, engagierten und interessanten Weise kommunizieren: 59 %/38 % • Information schnell auffinden: 56 %/40 %
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• Sich selbst effektiv in sozialen Netzwerken präsentieren: 31 %/41 % • Mit Audio, Video oder graphischen Inhalten arbeiten: 23 %/54 % Diese Liste deutet auch an, dass Kompetenzen sich nicht auf Schreiben im engeren Sinne beschränken lassen, sondern zudem Mediennutzung, Lesen und Kommunizieren einschliessen. Entsprechend wird „digitales Schreiben“ in diesen Kontexten auch als hybrides Paket von Fähigkeiten diskutiert, nicht mehr einfach als Konstruktion eines Textes. Im wissenschaftlichen Schreiben finden wir vermehrt eine Verknüpfung von wissenschaftlicher Methodenkompetenz mit der Verwendung von innovativer Schreibtechnologie, sodass eine Verzahnung beider sinnvoll erscheint. Das geschieht z.B. mit der Literaturmanagement-Software, mit deren Hilfe auch Recherchieren, Zitieren und das Verfassen von Literaturberichten unterstützt wird. Hier ist die Beherrschung von Schreibtechnik mit dem Erwerb von Wissenschaftsverständnis gepaart. In einigen Feldern ist das, was die Technik anbietet nicht mehr mit dem vergleichbar, was man in traditionellen Kontexten „Schreiben“ nennt. Dazu gehören beispielsweise die Feedback-Plattformen, die eine neue Form der Interaktion zwischen den Teilnehmenden anbieten und sie dabei Dinge lehren, die es bisher nicht gegeben hat, wie z.B. gemeinsam Verantwortung für einen Text zu übernehmen. Annotation Environments und Document Sharing führen zu neuen Vorgehensweisen in der Wissenskonstruktion. Beide Ansätze sind kollaborativem Arbeiten verpflichtet und erlauben, Zusammenarbeit auf eine neue Weise zu praktizieren, die mit gemeinsamem Wissensgewinn verbunden ist. Hier verändert wissenschaftliches Handeln nicht nur seine Form, sondern auch seine Bedeutung als Produkt gemeinsamen Denkens und Formulierens wandelt sich.
5 DISKUSSION Für die Schreibwissenschaften ist es notwendig, die Digitalisierung des Schreibens bzw. die Entwicklung von Schreibtechnologie als einen elementaren Teil ihres Faches zu verstehen und sie nicht an andere, techniknähere Disziplinen abzutreten. Dabei ist das, was die Schreibwissenschaft zu leisten hat, nicht identisch mit der Medienforschung, da diese sehr viel breiter angelegt ist und das Schreiben immer nur als einen einzelnen Aspekt neben anderen Medien und Technologien verfolgen wird. Auffällig ist der Mangel an neueren Untersuchungen von elementarer Schreibsoftware, wie sie MS Word darstellt – sofern man angesichts ständiger Erweiterung noch von „elementar“ sprechen kann. Mit Word 365 ist nun auch der Sprung in
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die Cloud erfolgt und Word wird in Zukunft noch mehr Funktionen, die heute separat als web-basierte Dienste angeboten werden, integrieren. Es stellt sich die Frage, was ein solches universelles Schreibtool, das seit langem ein unangefochtenes Monopol besitzt, für die Schreibkultur eigentlich bedeutet. Es fehlt nicht nur Forschung zu den einzelnen Elementen von MS Word, sondern auch dazu, wie es überhaupt von den Nutzenden wahrgenommen und eingesetzt wird. Die oben beschriebenen Technologien führen nicht nur zu neuen Schreibpraktiken, sondern erschliessen auch neue pädagogische Arbeitsfelder und Möglichkeiten der Schreibdidaktik. Wir dürfen annehmen, dass sich Textroutinen dadurch nachhaltig ändern, wissen aber nicht, welche Veränderungen in Bezug auf Autorenrollen, Identitäten, Textqualitäten und Denkprozesse sich daraus ergeben. Es fragt sich, ob die dominierenden Theorien und Modelle der Schreibforschung die digitale Wirklichkeit noch adäquat abbilden. Mahlow & Dale (2014) weisen auf Lücken in der Schreibforschung hin, vor allem auf das Fehlen des Begriffs „Schreibwerkzeug“ in Modellen des Schreibprozesses wie jenes von Hayes & Flower (1980) und Flower & Hayes (1981). Modelle dieser Art tendieren dazu, das Schreiben als invarianten kognitiven Prozess anzusehen, der im Durchlaufen einer immergleichen Kette von Verarbeitungs- und Entscheidungsschritten besteht. Das Modell von Hayes & Flower ist noch in der vor-digitalen Zeit entwickelt worden, als Tools zu Ideengenerierung, Recherche, Zitieren, Feedback, kollaborativem Schreiben, Grammatikprüfung, Synonymfindung usw. noch nicht existierten. Kognitive Prozesse beim Schreiben sind heute sehr viel sozialer und medienbezogener, als das Modell von Hayes & Flower (auch in der Version von Hayes, 2012) es darstellt, und sie beziehen sich in grossem Masse auch auf die Auswahl, Beherrschung und Ausführung von Schreibwerkzeugen für die Erledigung definierter Teilhandlungen des Schreibens. Neben den Schreibtechnologien entwickeln sich auch neue Forschungsmethoden, die unterrichtet und eingesetzt werden müssen. Ein guter Ausgangspunkt dazu ist die Zusammenstellung von Linnemann (2017). Zusätzliche Technologien stammen aus dem Bereich des Key Logging mit etablierten Tools zur Analyse von Schreibprozessen, von denen Inputlog (Leijten & Van Waes, 2013) das in der Schreibforschung am weitesten verbreitete ist (www.inputlog.net), sowie dem Feld der Writing Analytics, einem Gebiet, das die Untersuchung von Big Data mit computerlinguistischen Ansätzen verbindet (Shibani, Liu, Rapp, & Knight, 2019). Die Themen für entsprechende Forschung sind weiter oben genannt worden. Webbasierte Schreibtools erlauben Zugriff auf viele Nutzerdaten, so dass sich damit Schreibprozesse wirkungsvoll untersuchen lassen. Sicherlich eines der heikelsten Themen für die Schreibwissenschaft ist die Frage, welche Schreibwerkzeuge in den Unterricht einzubeziehen sind und wie ihr Gebrauch vermittelt werden soll. Hier ist zu beachten, dass die meisten der oben
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genannten Tools sehr komplex sind und es Erfahrung braucht, um z.B. eine Portfoliosoftware oder ein Feedback-Tool in den Unterricht und die Kursorganisation einzubinden. In diesen Fällen sind Praxisberichte, Praxisforschung und Austausch aus schreibdidaktischer Sicht besonders wichtig. Forschung und Austausch sollte dabei aber nicht nur in Richtung einer Verwendung von Technologie und deren Nutzen, sondern auch in Richtung der Frage gehen, wie solche Tools das Schreiben verändern. Hier sind auch elementare Fragen der Funktionen in MS Word ungeklärt, z.B. wie sich das Verständnis von Textorganisation verändert, wenn eine Gliederungsfunktion verwendet wird. Danksagung
Der Artikel entstand im Rahmen des Projekts „Seamless Academic Writing Technologies“. Das Projekt wird im Rahmen des IBH-Labs „Seamless Learning“ (www. seamless-learning.eu) gefördert. Die IBH-Labs sind auf Initiative der Internationalen Bodensee-Hochschule (IBH) und der Internationalen Bodenseekonferenz (IBK) entstanden und werden aus Mitteln des Interreg V-Programms „AlpenrheinBodensee-Hochrhein“ gefördert.
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SPRACHENSENSIBILITÄT ALS MERKMAL DER SCHREIBWISSENSCHAFT Dagmar Knorr
ABSTRACT Der Beitrag plädiert für eine plurilinguale Entwicklung akademischer Literalität. Hierfür bietet die sprachensensible Schreibwissenschaft einen theoretischen Rahmen. Hierfür werden zunächst die Forschungslinien nachgezeichnet, aus denen sich eine sprachensensible Schreibwissenschaft speist. So wurden in sprach- und erziehungswissenschaftlichen Diskursen schriftsprachliche Textproduktionen vor dem Hintergrund von Mehrsprachigkeit untersucht. Allerdings zeigt sich, dass in der deutschsprachigen Schreibforschung zwar der Aspekt „Mehrsprachigkeit“ benannt, aber nicht konsequent in die theoretischen Modellierungen einbezogen wird. Diese Lücke schließt das sprachensensible Kompetenzmodell wissenschaftlichen Schreibens. Es dient als Ausgangspunkt für einen Vorschlag, wie wissenschaftliches Schreiben unter Berücksichtigung der sprachlichen Bedürfnisse und Potenziale der Studierenden in der Studieneingangsphase angebahnt werden kann. Vorgeschlagen wird die Fokussierung auf drei Aspekte wissenschaftlichen Schreibens: 1) Wissen über den (eigenen) Schreibprozess aufbauen, 2) Prinzipien von Intertextualität und Zitation verstehen sowie 3) Grundlagen der Nutzung elektronischer Umgebungen zum Schreiben, InformationenVerwalten etc. schaffen. Abschließend wird dafür plädiert, dass eine sprachensensible Schreibwissenschaft das Dach für multidisziplinäre und multilinguale Grundlagen- und Lehr-Lern-Forschung bilden könnte. Um die Schreibwissenschaft selbst zu etablieren, bedarf es zudem einer institutionellen Rahmung. Hierfür ist Überzeugungsarbeit in Leitungsgremien zu leisten, die darauf abzielt, institutionelle Bedingungen einer Schreibkultur zu schaffen, in denen Schreibkompetenzförderung als grundlegender Bestandteil universitären Lehrens und Lernens verstanden wird.
1 EINFÜHRUNG Dieser Beitrag beginnt mit einer Skizze der Wurzeln der Schreibwissenschaft. Die Perspektive ist durch meine eigene wissenschaftliche Sozialisation in der Sprach-
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und Erziehungswissenschaft geprägt und stellt daher nur einen Ausschnitt der disziplinären Entwicklungslinien dar. Es wird gezeigt, wie sich aus einem Nebeneinander bestehender Diskurse ein Miteinander entwickelt und aus monolingualen und monodisziplinären Ansätzen multilinguale und multidisziplinäre werden. Hierauf basiert mein Vorschlag für die Verankerung einer sprachensensiblen Schreibwissenschaft an Hochschulen im deutschsprachigen Raum. Ich lege damit bewusst einen Schwerpunkt auf den hochschulbezogenen Teil der Schreibwissenschaft.
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DIE ROLLE VON SPRACH- UND ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTLICHEN DISKURSEN FÜR DIE ENTWICKLUNG EINER SPRACHENSENSIBLEN SCHREIBWISSENSCHAFT
Für das Nachzeichnen der Entwicklungslinien einer sprachensensiblen Schreibwissenschaft ist es hilfreich, auf die Auslöser der Entwicklungen zu schauen. Im Falle des Gegenstands Schreibens sind dies zwei zeitlich versetzte, aber inhaltlich ähnliche Ereignisse: Die writing crisis in den 1970er Jahren in den USA und der „PISA-Schock“ 2001 in Deutschland. In beiden Fällen wurden gravierende Mängel in den Schreibfähigkeiten von Schüler*innen festgestellt und Änderungen des Bildungssystems gefordert. Nun wäre es zu einfach zu konstatieren, dass Deutschland dieselben Prozesse durchläuft wie die USA – nur 30 Jahre später. Es bedarf nämlich der Einbeziehung der institutionellen Rahmenbedingungen, in denen im deutschsprachigen Raum geforscht und gearbeitet werden kann. Schreibwissenschaft kann sich als Disziplin nur etablieren, wenn sie ihr Erkenntnisinteresse mit den bildungsinstitutionellen Strukturen verbindet. Meine weiteren Ausführungen versuchen daher einen Spagat zwischen der Auseinandersetzung mit den Inhalten auf der einen und der institutionellen Angliederung auf der anderen Seite. Hierbei konzentriere ich mich auf die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum und verweise ggf. auf entsprechende Parallelen aus den englischsprachigen Bereichen. Für den deutschsprachigen Raum können u. a. zwei Motivationen für die Beschäftigung mit Schreibprozessen identifiziert werden: 1. Das zunehmende Interesse an prozessorientierten Ansätzen zur Betrachtung von kommunikativen Handlungen im Allgemeinen und der schriftlichen Textproduktion im Besonderen. Dem Sammelband von Gregg und Steinberg (1980) „Cognitive Processes in Writing“ ist hier eine katalysatorische Wirkung zuzuschreiben, denn er enthält den Beitrag von Hayes und Flower (1980). Diese präsen-
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tieren dort ihr writing model, das im deutschen Sprachraum vielfach rezipiert und sogar als „Urmodell“ (Pospiech, 2004, S. 16) der Textproduktionsforschung bezeichnet wird. In der Angewandten Linguistik setzen Antos und Krings (1989) mit ihrem Sammelband „Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick“ einen Meilenstein und begründen eine prozessorientierte Textproduktionsforschung im deutschsprachigen Raum. Allerdings handelt es sich hierbei um Ideen von einzelnen Wissenschaftler*innen oder Forschungsgruppen, die an verschiedenen Institutionen und mit unterschiedlichen fachlichen Ausrichtungen arbeiteten. Fachgesellschaften, wie die Gesellschaft für Angewandte Linguistik, oder Arbeitsgruppen, wie die Prowitec, boten in den 1990er Jahren die Foren für einen interdisziplinären Austausch (vgl. für einen Überblick Ruhmann, 2014). 2. Die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit und mehrsprachigen Lerngruppen, die zu einer Betrachtung von Deutsch als Wissenschaftssprache (vor dem Hintergrund anderer Sprachen) und der Rolle des Deutschen in Bildungsinstitutionen führte. Hier waren drei – während ihrer Entstehung noch nicht verbundene – Diskurse und Arbeitsfelder wegweisend für die Entstehung einer sprachensensiblen Schreibwissenschaft: - Im funktional-pragmatischen Diskurs wird sprachliches Handeln untersucht. Besonders einflussreich sind die sprachtheoretischen Betrachtungen des Deutschen als Wissenschaftssprache und der Entwicklung des Konzepts der alltäglichen Wissenschaftssprache (Ehlich, 1983, 1986, 1993, 1999). - Der textlinguistische Diskurs umfasst verschiedene Strömungen, von denen hier der kognitivistische Ansatz hervorgehoben werden soll, da dieser „die Prozesse der Produktion und Rezeption von Texten in den Vordergrund stellt“ (Adamzik, 2004, S. 1). So untersucht bspw. Jakobs (1999) Phänomene, wie mit Zitaten und Verweisen sprachlich gehandelt wird, und arbeitet die kulturellen Einflüsse heraus, die auf die Schreibenden einwirken, und Portmann-Tselikas (2001) entwickelt das Konzept der „Textkompetenz“. Rezeption und Produktion von Texten stehen also in einem engen Austausch. - Textproduktion wird dabei als „Sprachproduktion im Hinblick auf die Überwindung bestimmter Barrieren – oder präziser ausgedrückt: die Sprachproduktion unter Bedingungen“ (Antos, 1989, S. 6) verstanden. Je nach Ausrichtung der Forschung wird dann auch danach gefragt, wie die auftretenden Hürden überwunden werden können. Diese werden besonders dann auffällig, wenn mit sprachlich heterogenen Lerngruppen gearbeitet wird. An dieser Stelle ist es nicht mehr möglich, exakt
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zwischen fachlich zuzuordnenden Diskursen zu unterscheiden. Denn Sprachendidaktik und prozessorientierte Textproduktionsforschung werden verbunden. So entwickelt Portmann-Tselikas (1991) eine fremdsprachliche und Hornung (2002) eine plurilinguale Schreibdidaktik. Angesiedelt in der Erziehungswissenschaft entstand in den 1990er Jahren ein Arbeitsfeld, das sich mit der Rolle und dem Einfluss von Sprache auf den Bildungserfolg auseinandersetzte. Gogolin (1994) prägte den Begriff des „monolingualen Habitus“ und meint damit eine Haltung, die von Einsprachigkeit als Regel ausgeht. Diese Einstellung hat Folgen für die Gestaltung von Unterricht und wirkt sich auf die Bildungserfolgschancen von Schüler*innen aus. Über das Modellprogramm FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund) (Gogolin, 2008) wurden deshalb Konzepte entwickelt, die die Rolle sprachlicher Bildung im Unterricht und die Notwendigkeit, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der Lehrerbildung zu berücksichtigen, hervorheben (vgl. Gogolin et al., 2010).
Fächer und disziplinäre Grenzen verschwimmen, sobald es um die Didaktik der deutschen Sprache geht. Diese können in der Linguistik und/oder in der Erziehungswissenschaft institutionell aufgehängt sein. In den letzten 15 Jahren ist zu beobachten, wie die Diskurse in Austausch miteinander treten und ihre Ergebnisse zueinander in Beziehung setzen, sich abgrenzen oder verbinden. So setzt sich Redder (2014) mit den Begriffen der Bildungs- und Wissenschaftssprache auseinander. Feilke verbindet basierend auf dem Ansatz der funktionalen Pragmatik Textkompetenz mit dem Konzept der Bildungssprache und entwickelt hieraus didaktische Konzepte zu Textprozeduren und Textroutinen (Feilke, 2012, 2014a). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass am Gegenstand Schreiben/ Textproduktion seit 30 Jahren an vielen Stellen geforscht und gearbeitet wurde und wird. Vorbildhaft für die Etablierung eines Themas auch im forschungspolitischen Kontext kann der Forschungsschwerpunkt „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“ (www.kombi-hamburg.de, 14.12.2019) angesehen werden, der im Rahmenprogramm der empirischen Bildungsforschung angesiedelt ist. Hier ist es gelungen, Akteure aus Linguistik und Erziehungswissenschaft zusammenzubringen und einen Rahmen für Kollaboration zu schaffen. Die Projekte sind alle auf das Handlungsfeld „Schule“ ausgerichtet und mehrere beschäftigen sich explizit mit dem Schreiben. Für das Arbeitsfeld Schreiben an der Hochschule fehlt eine solche Rahmung. Dies liegt nicht an dem Engagement der in dem Feld tätigen Akteure. Vielmehr sind hier strukturelle Bedingungen der Arbeitsumgebung ausschlaggebend. Während
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die von mir referierten Autor*innen in universitär etablierten Strukturen eingebettet sind, gilt dies weder für die Akteure, die die Etablierung einer Schreibwissenschaft an Hochschulen vorantreiben, noch für die Institutionen, in denen sie arbeiten. Schreibzentren sind in der deutschsprachigen Hochschullandschaft unterschiedlich institutionell angekoppelt. Hier reicht die Bandbreite von eigenständigen zentralen Einrichtungen oder Abteilungen darin bis hin zur Aufhängung an Fakultäten oder einzelnen Instituten bzw. Fächern. Dementsprechend unterscheiden sich ihre Reichweiten und Aufträge. Die Mitarbeitenden gehören dem wissenschaftlichen oder dem Verwaltungspersonal an und sind vielfach prekär beschäftigt. Um also eine Schreibwissenschaft an Hochschulen zu etablieren, bedarf es einer Verankerung von schreibwissenschaftlichen Inhalten an der Hochschule selbst. Einen Vorschlag hierfür gebe ich im folgenden Abschnitt.
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VORSCHLAG FÜR EINE VERORTUNG EINER SPRACHENSENSIBLEN SCHREIBWISSENSCHAFT AN HOCHSCHULEN
Eine sprachensensible Schreibwissenschaft kann sich an den Diskurs zur Literalitätsentwicklung von Erwachsenen anschließen. So untersuchen Cumming und Geva (2012, S. 6) die literalen Entwicklungen von Heranwachsenden vor dem Hintergrund kultureller Diversität. Sie betonen, dass es notwendig ist, eine „ökologische Perspektive“ auf die Prozesse einzunehmen, um die vielfältigen Einflussfaktoren einbeziehen zu können: We combined these different theoretical orientations by adopting an ecological perspective on the composite individual, family, school, and community variables that shape adolescents’ literacy development. Various prior studies have demonstrated that a multifaceted perspective on these intersecting social domains is necessary to understand the complexity of interrelations and processes related to adolescents’ literacy development in culturally diverse urban settings.
Cumming (2016, S. 80) skizziert vor dem Hintergrund der verschiedenen Ansätze der Schreibforschung das Problem in der Untersuchung mehrsprachiger Schreibprozesse wie folgt: Although sociocultural, cognitive, or genre theories may provide explanations generally for how L2 writing abilities develop, there is the vexing problem for assessment and curricula that people can achieve comparable levels of proficiency in L2 writing
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with distinctly different types of rhetorical, discourse, lexical, and syntactic performances.
Cumming benennt hier ein Problem, dem sich die Schreibwissenschaft als „SchreibLehr-und-Lern-Forschung“ (Brinkschulte & Kreitz, 2017, S. 14) stellen muss: Die Umsetzung von Erkenntnissen über Schreibprozesse und -kompetenzentwicklung in testbare Prüfungsleistungen, an denen sich Bildungsinstitutionen orientieren können. Gleichzeitig sollte eine sprachensensible Schreibwissenschaft Konzepte zur Förderung der Schreibkompetenzentwicklung in Abhängigkeit der sprachlichen Eingangsbedingungen bereitstellen und helfen, Bildungsbarrieren abzubauen (vgl. hierzu die Forderung von Schmölzer-Eibinger, 2018, S. 4). Allerdings bedarf es hierfür weiterer Modellierungen. So konstatiert Feilke (2014b, S. 36) das Fehlen eines Modells „literaler Kompetenz“. Das „sprachensensible Kompetenzmodell wissenschaftlichen Schreibens“ (Knorr, 2019) versucht, diese Lücke zu schließen. Die Einbeziehung der Forschungen zur literacy/Literalität ermöglicht eine sinnvolle, da ökologische und somit komplexe Perspektive. Gleichzeitig ist dann mit der Schwierigkeit umzugehen, dass Definitionen und Beschreibungen immer verkürzen. Molle (2015, S. 3f.) schlägt daher eine Spezifikation des Begriffs vor. Sie verwendet academic literacies, womit eine Zuspitzung auf den tertiären Bildungssektor erfolgen kann. Meines Erachtens sind noch vielfältige Diskussionen notwendig, wenn in einer deutschsprachigen Schreibwissenschaft diese Forschungsrichtung in den Diskurs integriert werden soll. Ich werde daher diese Diskussion hier nicht vertiefen, sondern auf den Aspekt der curricularen Integration fokussieren. Eine Schwierigkeit in der Abnahme von Prüfungsleistungen besteht bspw. im Umgang mit sprachformalen Normen. Wie soll mit Abweichungen in Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik umgegangen werden? Soll es hier in der Bewertung Abzüge geben? Welche Relevanz wird diesen Aspekten zugewiesen? Sollen für fremdsprachlich Schreibende andere Bewertungsmaßstäbe gelten als für muttersprachlich Schreibende? Tragen Hochschulen Verantwortung dafür, dass Studierende mögliche Defizite im Laufe ihres Studiums ausgleichen können? Wann und in welcher Form werden Rückmeldungen auf sprachliche Kompetenzen gegeben – und welche wären erforderlich? Sicherlich wird es disziplinäre Unterschiede in der Relevanz der Beurteilung dieser Fragen geben, was sich auf die Beschäftigung mit ihnen auswirken wird. In der Lehrer*innenbildung sind diese Fragen eventuell brennender als in anderen Disziplinen. Dennoch möchte ich festhalten, dass sich die Schreibwissenschaft diesen sprachlichen Fragen noch viel zu wenig stellt. Dies liegt einerseits daran, dass sprach
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formale Aspekte in der Regel zu den later-order-concerns gezählt werden, die erst bearbeitet werden sollten, wenn „der Text ansonsten verständlich ist“, da es „wenig effektiv ist, Textteile zu korrigieren, die hinterher umgeschrieben oder wieder gelöscht werden. Allerdings sollten Schreibtutor*innen „wiederkehrende Fehler“ identifizieren und Schreibende auf die Problematik hinweisen“ (Girgensohn & Sennewald, 2012, S. 91). Die Aussagen von Girgensohn und Sennewald zeigen verschiedene Problemfelder auf: Zum einen müssen Personen (Tutor*innen, Dozierende), die Rückmeldung auf sprachliche Aspekte zu Texten geben wollen, über die Fähigkeit verfügen, diese erstens überhaupt zu erkennen und zweitens in einer angemessenen Sprache darüber zu kommunizieren. Dass sich hier bereits ein Problem abzeichnet, wird bei Frohn (2018) deutlich, der die provokante Frage stellt: „Wie sollen Lehrkräfte vermitteln, was sie selbst nicht können?“ Zum anderen schimmert in der Beschreibung von Girgensohn und Sennewald das monolinguale Paradigma durch. Denn in Sprachlernkontexten kann es durchaus sehr effektiv sein, Text auf einer sprachlichen Ebene zu bearbeiten (Dengscherz, 2019, S. 471–475), um zu einer „angemessenen“ schriftsprachlichen und wissenschaftssprachlichen Ausdrucksfähigkeit zu gelangen. Steinhoff (2007, S. 19f.) diskutiert die Ergebnisse der Fachsprachenforschung und kommt zu dem Schluss: In den Mittelpunkt des Interesses rückt der fachsprachliche Text und mit ihm das gesamte fachliche Interaktionsgeschehen. Die Aufmerksamkeit richtet sich so zwangsläufig auch auf die Ausdrucks- und die Appellfunktion der Fachsprachen. (ebd., S. 20).
Schreibwissenschaft sollte im Sinne einer Schreib-Lehr- und Lernforschung also zum einen Prozesse untersuchen, was es bedeutet, sich kommunikativ angemessen auszudrücken. Zum anderen ist in den Bereichen der Schreibdidaktik zu fragen, wie „Angemessenheit“ in verschiedenen Fachdiskursen diskutiert und vermittelt werden kann. Hier bedarf es intensiver weiterer Diskussionen. Einen Ansatzpunkt hierfür könnte das sprachensensible Kompetenzmodell wissenschaftlichen Schreibens (Knorr, 2019) liefern. Das Modell wird durch drei Dimensionen beschrieben: Die erste Dimension Anforderungsbereiche wissenschaftlichen Schreibens ist dem Problemlöseansatz verbunden. Durch ihre Benennung wird der komplexe Prozess des wissenschaftlichen Schreibens in Teilbereiche gegliedert. Die zweite Dimension ist Wissen. Es werden vier Wissensarten angenommen. Die Dimensionen Anforderungsbereiche und Wissen stehen orthogonal zueinander, so dass sich eine Feldstruktur mit beschreibbaren Zellen ergibt. Die dritte Dimension Sprache durchdringt die Feldstruktur. Sprache im Singular bezeichnet alle Literalisierungserfahrungen einer Person. Hinzu
Abb. 1: Sprachensensibles Kompetenzmodell wissenschaftlichen Schreibens (vereinfacht).
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kommen einzelsprachliche Prägungen. Der Einfluss von Sprache bzw. einzelsprachlichen Fähigkeiten ist in den vier Wissensarten unterschiedlich. So gehe ich davon aus, dass das prozedurale Wissen generell durch Sprache beeinflusst wird, während Einzelsprachen das deklarative Wissen in sprachformalen Anforderungsbereichen prägen. Abbildung 1 zeigt eine vereinfachte Form des Modells, in dem auf die Ausführungen der Einzelzellen verzichtet wird. Diese sind in Knorr (2019) ausführlich dargelegt. Die fachübergreifenden und fachspezifischen Komponenten wissenschaftlichen Schreibens zeigen sich in den prozessualen, textuellen, sprachlichen, sprachformalen und medialen Anforderungen. Literalisierungserfahrungen (Zusammenschluss aus allen Sprachen) zeigen sich besonders in den hellgrau gefärbten Bereichen; einzelsprachliche Kompetenzen besonders in den dunkelgrau gefärbten Teilen des sprachlichen und sprachformalen deklarativen Wissens. Das Modell veranschaulicht die Komplexität wissenschaftlicher Schreibkompetenz. Welcher Weg beschritten werden kann, damit sie schrittweise erworben werden kann, wird im nächsten Abschnitt dargestellt.
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SPRACHENSENSIBEL WISSENSCHAFTLICHE SCHREIBKOMPETENZ AUFBAUEN – ERSTE SCHRITTE ZUR VERANKERUNG AKTIVER FÖRDERUNG WISSENSCHAFTLICHER SCHREIBKOMPETENZ AN HOCHSCHULEN
Untersuchungen zur Entwicklung wissenschaftlicher Schreib- und Textkompetenz haben ergeben, dass es sich hierbei um einen langwierigen Prozess handelt, „bei dem man keinesfalls davon ausgehen kann, dass er mit dem Eintritt in die Hochschule bereits abgeschlossen ist“ (Girgensohn, 2017, S. 70; vgl. dazu auch Heine, 2019; Schindler, 2012). Vielmehr bedarf es der Möglichkeit zur Einübung dieser spezifischen Form literaler Praktik, wobei Rückmeldungen auf eigene Texte und die Möglichkeit zur Überarbeitung sowie Anleitungen zur Selbstreflexion des eigenen Schreibhandelns (vgl. Heine & Knorr, 2017) hilfreich sind. Im Sinne von Flower und Hayes (1980) kann als „schreibkompetent“ eine Person bezeichnet werden, die mit allen Anforderungen erfolgreich „jonglieren“ kann, um ein kommunikativ angemessenes Produkt zu erzeugen. Aus schreibdidaktischer Perspektive ergibt sich hieraus die Forderung, Studierenden einen Weg aufzuzeigen, wie sie diese Fähigkeiten erwerben können. Es sollte also zunächst eine Basis für das wissenschaftliche Schreiben gelegt werden. Um im Bild des Jonglierens zu bleiben: Es gilt also, Studienanfänger*innen nicht zwölf Bälle hinzulegen und zu erwarten, dass sie diese sofort kunstvoll in der Luft
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Abb. 2: Basale Anforderungen wissenschaftlichen Schreibens.
halten können, sondern das Jonglieren/Schreiben mit wenigen Bällen/Anforderungsbereichen zu beginnen und die Komplexität, die Anzahl der Bälle/Bereiche, schrittweise zu steigern. Für die Studieneingangsphase bietet sich vor diesem Hintergrund an, sich zunächst auf drei Aspekte wissenschaftlichen Schreibens zu fokussieren (vgl. Abb. 2): 1) Wissen über den (eigenen) Schreibprozess aufbauen: Kenntnisse über den Schreibprozess unterstützen den Prozess, das eigene Schreibhandeln zu reflektieren und Schreiben als Werkzeug des kritischen Denkens zu nutzen. 2) Prinzipien von Intertextualität und Zitation verstehen: Die Grundlage guter wissenschaftlicher Praxis ist das Verständnis für Diskurse und den Umgang mit Positionen Anderer. Zitationskonventionen können auf dieser Basis als Konventionen, also willkürliche Festlegungen, erkannt und angewendet werden. Dies kann als vorbeugende Maßnahme gegen unbeabsichtigtes Plagiieren eingesetzt werden. 3) Grundlagen der Nutzung elektronischer Umgebungen zum Schreiben und Verwalten von Informationen und Daten schaffen. Mediale Kompetenz hat viele Facetten. Im Hinblick auf das wissenschaftliche Schreiben wird zum einen Informationskompetenz für die Recherche und Verwaltung von Fachliteratur benötigt. Zum anderen bedarf es textproduktionsspezifischer medialer Kompetenz: Digitale Werkzeuge müssen anforderungsspezifisch ausgewählt und kompetent bedient werden (Knorr, 2008). Obgleich Studierende heutzutage alle sehr flink ihr Handy bedienen können, zeigt sich zumindest in meiner Praxis sehr wohl Bedarf zur Weiterbildung. In Abbildung 2 sind die fachübergreifenden Kompetenzen wissenschaftlichen Schreibens dunkelgrau, fachspezifische hellgrau hervorgehoben. Während die Vermittlung fachlicher Konventionen und der Fachsprache innerhalb einer Disziplin erfolgt bzw. erfolgen sollte, können die fachübergreifenden Kompetenzen über verschiedene hochschulische Einrichtungen vermittelt werden (für die Kooperation von Schreibzentren und Bibliotheken vgl. Sühl-Strohmenger & Tschander,
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2019). Allerdings genügt die alleinige Konzentration auf die drei basalen Anforderungen nicht, da sie die heterogenen sprachlichen Eingangsvoraussetzungen der Studierenden nicht ausreichend einbeziehen. Dies ist allerdings vor dem Hintergrund einer zunehmenden Diversifizierung der Studierendenschaft notwendig und daher wesentlich für den sprachensensiblen Ansatz und gleichzeitig der Überlappungsbereich von Angewandter Linguistik und Schreibwissenschaft. Die Verfügbarkeit sprachlicher Mittel ist Ressource und Constraint gleichermaßen (Kruse & Jakobs, 1999, S. 22). Der Einfluss einzelsprachlicher Kompetenzen zeigt sich daher vor allem in den sprachlichen und sprachformalen Anforderungsbereichen. Der sprachliche Anforderungsbereich beinhaltet Phänomene des grammatischen und des lexikalischen Wissens. Die Lexik wiederum kann differenziert werden in Aspekte des allgemeinen Wortwissens, der alltäglichen Wissenschaftssprache und der Fachsprache. Wie oben dargelegt, ist der Erwerb der alltäglichen Wissenschaftssprache für Fremdsprachenlernende besonders schwierig (vgl. Roncoroni, 2011). Beim akademischen und wissenschaftlichen Schreiben greifen inhaltliche Erkenntnis- und sprachliche Darstellungsprozesse ineinander (Knorr, 2016, 2018). Das Ringen mit dem Gegenstand, also die zu leistenden Erkenntnisprozesse, führt für alle Schreibenden unabhängig von ihrer Expertise zu Herausforderungen. Dengscherz (2020) unterscheidet zwischen Herausforderungen und Anforderungen einer Schreibaufgabe. Die Anforderungen werden durch die Aufgabe gesetzt, während die Herausforderungen subjektiv vom Schreibenden empfunden werden. So kann ein und dieselbe Aufgabe für zwei Schreibende in der Bearbeitung mit verschiedenen Herausforderungen verbunden sein. Meine These ist, dass es aufgrund der Komplexität des wissenschaftlichen Schreibprozesses, der von der ersten Idee für ein Schreibprojekt bis hin zum Endprodukt reicht, notwendig ist, die verfügbaren kognitiven Kapazitäten gut einzuteilen. Dies bedeutet, dass in kognitiv äußerst anspruchsvollen Prozessen wie der Ideengenerierung und Argumentationsentwicklung möglichst nur auf solche kognitiven Ressourcen zurückgegriffen wird, die leicht zugreifbar sind. Zusätzliche kognitive Lern- und Suchprozesse sollten vermieden werden.
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Diese These beruht auf dem oben dargestellten Diskurs sowie auf qualitativen Studien über den Einsatz verschiedener Sprachen beim Schreiben (Alagöz-Bakan, Ali, & Hansmeier, 2016; Knorr, Andresen, Alagöz-Bakan, & Tilmans, 2015), das wissenschaftliche Schreiben in der Fremdsprache (Breuer, 2015; Breuer, Lindgren, Stavans, & Van Steendam, in Vorb.; Canagarajah & Jerskey, 2009; Göpferich, 2014, 2015) und den subjektiven Einschätzungen der eigenen sprachlichen Ressourcen beim wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben (Knorr, 2019). Hieraus leite ich folgende weitere Thesen ab, die einer weiteren empirischen Überprüfung bedürfen: Um Studienanfänger*innen den Einstieg in den Erwerb wissenschaftlicher Schreibkompetenz zu erleichtern, ist nicht nur eine Konzentration auf die basalen Anforderungen sinnvoll, sondern auch die Möglichkeit zur Nutzung ihrer Wohlfühlsprache. Wohlfühlsprache meint die sprachliche Form, „in der Gedanken und Emotionen ohne Einschränkungen ausgedrückt werden können“ (Knorr, 2019, S. 701). Ob es sich hierbei um ein-, zwei- oder vielsprachliche Ausdrucksformen handelt, ist unerheblich. Personen verfügen zudem in der Regel über Sprache(n), die sie in bestimmten Situationen nutzen oder nutzen müssen, um ein kommunikatives Ziel zu erreichen. Diese bezeichne ich als Arbeitssprache(n). Darüber hinaus verfügen viele Personen über „weitere Sprachen“. Das sind solche, die zwar vorhanden, aber selten verwendet werden. Personen schätzen ihre Sprachkompetenz hier eher gering ein. Ein typisches Beispiel hierfür sind in der Schule gelernte Fremdsprachen, die im Erwachsenenalter nicht (mehr) verwendet werden. Diese Spracheneinteilung greift bewusst nicht die Kompetenzniveaus des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen auf, sondern orientiert sich an den subjektiven Einschätzungen, weil dieses subjektive Empfinden den Gebrauch der Sprachen beim Schreiben wesentlich prägt (vgl. Dengscherz, 2019, S. 537–539 und 557–559). Denn je weniger kompetent sich eine Person in der Sprache fühlt, in der sie einen Text schreiben muss, desto größer werden die Herausforderungen für sie. Dies zeigt sich in der Suche nach den passenden Wörtern und der Unsicherheit in der Verwendung grammatischer Konstruktionen. Und je mehr kognitive Kapazität auf die Bearbeitung dieser sprachlichen Anforderungsbereiche gerichtet werden muss, desto weniger bleibt für die Erfüllung anderer. Dies möchte ich an einem Beispiel erläutern: Das Paraphrasieren ist für die meisten Studienanfänger*innen unabhängig von ihrer sprachlichen Vorbildung eine Herausforderung. Denn es bedarf Muts, wohlgeschliffene Formulierungen in eigenen Worten wiederzugeben. Fühlt sich die Person zusätzlich in der zu benutzenden Sprache nicht wohl, beginnt sie, ausweichende Strategien zu verwenden. Anstatt das Wagnis einzugehen, selbständig zu formulieren, nutzen sie vorhandene sprachliche Bausteine, die sie neu zusammensetzen.
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Püschel (1997) prägte für das willkürliche Zusammensetzen verschiedener inhaltlicher Bausteine den Begriff „Puzzle-Text“. Ortner (2000) übernimmt den Begriff des Puzzles und wendet ihn für die Benennung einer Schreibstrategie: „Schreiben nach dem Puzzleprinzip“ (ebd., 543–547). Püschel und Ortner beschreiben das Puzzeln auf inhaltlicher Ebene: Es geht um das Zusammensetzen inhaltlicher Bausteine. Wenn das Puzzeln jedoch auf sprachlicher Ebene eingesetzt wird, besteht die Gefahr des unbewussten Plagiierens, indem „Collagen“ aus vorhandenen sprachlichen Bausteinen erstellt werden (vgl. Hornung, 1997, S. 85). Um unbewusstem Plagiieren vorzubeugen, benötigten Personen zweierlei: Metakognitives Wissen über Prinzipien und Funktionsweisen von Intertextualität und Zitation sowie deklaratives sprachliches Wissen zur Realisierung von Paraphrasen. Hier kann eine sprachensensible Schreibwissenschaft einen Beitrag leisten.
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FAZIT UND AUSBLICK – PLÄDOYER FÜR EINE SPRACHENSENSIBLE SCHREIBWISSENSCHAFT
In diesem Beitrag wurden verschiedene Diskurslinien der Schreibwissenschaft aus sprachwissenschaftlicher Perspektive nachgezeichnet. Meine Überlegungen gehen hin zu einer ökologischen Betrachtungsweise des Gegenstands wissenschaftlichen Schreibens als ein komplexes System aus individuellen Fertigkeiten, aufgabenspezifischen Anforderungen und institutionellen Rahmenbedingungen. Daher schließe ich mit einem Plädoyer für das Potenzial einer sprachensensiblen Schreibwissenschaft, die das Dach für multidisziplinäre und multilinguale Grundlagen- und Lehr-Lern-Forschung bilden kann. Hier ist noch viel theoretische und methodische Arbeit zu leisten. Erkenntnisse aus Diskursen, die ich in diesem Beitrag nicht berücksichtigen konnte, wie der Translationswissenschaft oder der Korpuslinguistik, sollten ebenso einbezogen werden, wie solche aus den Sozialwissenschaften, der Psychologie, Informatik usw. Eine sprachensensible Schreibwissenschaft kann durch mixed-methods- und multidisziplinäre Ansätze nur gewinnen. Eine sprachensensible schreibdidaktische Perspektive überträgt die Ergebnisse aus der Schreibforschung in Instruktionen für die ressourcenorientierte Weiterentwicklung der Schreibkompetenzen, weil sie Auffälligkeiten in Texten als Lernchancen versteht. Allerdings bedarf ein solcher Ansatz einer entsprechenden hochschulischen Rahmung: Studierende müssen die Möglichkeit erhalten, sich schriftsprachlich weiterzuentwickeln zu dürfen. Sie müssen Rückmeldungen auf ihre sprachlichen Fähigkeiten erhalten und Wagnisse eingehen dürfen, die als Lernchancen begriffen – und nicht als Fehler geahndet – werden.
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Als wichtigsten Schritt in der Etablierung einer sprachensensiblen Schreibwissenschaft an Hochschulen sehe ich daher die Überzeugungsarbeit in Präsidien und Leitungsgremien an, dass Förderung von studentischer Schreibkompetenz eine gesamtuniversitäre Aufgabe ist, die von allen Beteiligten getragen und auf fachlicher und institutioneller Ebene umgesetzt werden muss. Auf diese Weise kann eine akademische Schreibkultur entstehen, die die plurilinguale Entwicklung akademischer Literalität aktiv unterstützt.
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TEIL 3: DISZIPLINENSPEZIFISCHE PERSPEKTIVEN AUF DIE SCHREIBWISSENSCHAFT
LINGUISTISCHE ZUGÄNGE ZUM WISSENSCHAFTLICHEN SCHREIBEN Angelika Redder
ABSTRACT Der Beitrag widmet sich theoretischen, genauer: sprachanalytischen Zugängen zum wissenschaftlichen Schreiben in seiner Komplexität (Abschnitt 1). Er bietet keinen Forschungsüberblick, sondern den Versuch, Gegenstandsbestimmungen und Zielsetzungen linguistisch zu systematisieren – exemplarisch an deutschsprachiger Forschung (Abschnitt 2). Diese Systematisierung basiert auf der sprachtheoretisch fundierten Gegenüberstellung von semiotischer und handlungsanalytischer Sprachkonzeption. Die gegenstandsanalytisch bekannten Parameter wissenschaftlichen Schreibens – in Abb. 1 als Zeilen einer Matrix angeführt – werden vor diesem Hintergrund schrittweise charakterisiert und nach wichtigsten Erkenntnissen kritisch ausgelotet (Abschnitt 2.1–2.5). Seine Gliederung erfährt der Beitrag also durch die sprachtheoretisch abgeleitete Matrix. In Konsequenz (Abschnitt 3) werden Eigen-Disziplinarität der Schreibforschung, institutionelle Strukturerfordernisse und Forschungsdesiderata diskutiert.
1 VORAUSSETZUNGEN Wissenschaftliches Schreiben ist höchst komplex. Als ein sprachliches Handeln hat wissenschaftliches Schreiben, erstens, selbstverständlich interaktive Qualität. Das Schreiben ist also notwendigerweise im Wechselverhältnis zum Lesen zu begreifen. Wie für jedes sprachliche Handeln sind demnach auch für wissenschaftliches Schreiben produktive und rezeptive, medial abstraktiv gesprochen: sprecherseitige und hörerseitige Handlungen in ihrem Ineinandergreifen zu analysieren. Und diese Handlungen haben eine im Interaktionsraum wahrnehmbare und eine sprachlich-mentale Dimension; beide Dimensionen sind im Allgemeinen und im Besonderen zu rekonstruieren. Als ein Element von Wissenschaftskommunikation, kurz: als wissenschaftliche Kommunikation, dient wissenschaftliches Schreiben, zweitens, primär dem erkenntnisstiftenden, epistemischen Zweck von Sprache und daher vor allem der Kommunikation von wissenschaftlichem Wissen sachlicher wie methodischer Art. Dazu entwickelte sprachliche Strukturen stellen also
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eine Besonderheit des Gegenstandes dar. Drittens wird beim wissenschaftlichen Schreiben eine zur situativen Entbindung und insofern zur Überbrückung einer systematisch „zerdehnten Sprechsituation“ geeignete sprachliche Handlungsform in Anspruch genommen: der ‚Text‘ (Ehlich, 1983). Damit gehen besondere Formungen des Sprechhandlungsensembles einher, und dies bereits in der oralen Ausprägung von Texten. Viertens wird nun beim wissenschaftlichen Schreiben, d.h. bei der Produktion einer literalen Form von Texten, mit dem Medium Schrift eine aus der Mündlichkeit abgeleitete Kommunikationsform beansprucht. Deshalb ist die eigene Systematik von Struktur und Funktion schriftlicher Kommunikation, wie Ehlich (1994) sie darlegt, analytisch einzubeziehen. Diese vier wesentlichen Bestimmungsmomente (Interaktivität, primär epistemische Funktion, Textqualität und Schriftlichkeit) von wissenschaftlichem Schreiben verdeutlichen bereits, dass es sich um einen eigens herausfordernden Gegenstand sprachwissenschaftlicher Analyse und sprachdidaktischer Vermittlung handelt. Insbesondere die Angewandte Linguistik hat sich dieser Herausforderung anzunehmen, wobei die sprachtheoretische Rückbindung grundlegend bleibt. Der gesellschaftliche Handlungsbereich von Wissenschaftskommunikation, soziolinguistisch gesprochen: die Domäne wissenschaftlicher Kommunikation, ist vor allem in Universitäten, Hochschulen und Akademien oder sonstigen Forschungseinrichtungen verortet. Sie weist zugleich aber Vorstufen in der schulischen Bildung sowie Vermittlungsformen bei der gesellschaftlichen Rückbindung und Popularisierung bis hin zur Nutzung diverser massenmedialer Formate auf. Über eine arbeitsteilige Ausdifferenzierung der analytischen und praktischen Befassung mit wissenschaftlichem Schreiben nachzudenken und nach Grundlagen für eine – sachgemäß linguistisch geprägte – Teildisziplin ‚Schreibwissenschaft/wissenschaftliches Schreiben‘ nachzudenken, wie es dieser Band anregt, hat demnach erkennbare Grundlagen im Gegenstand. Es dürfte eine hochschulpolitische Frage sein, in welcher Granulationsstufe sich disziplinäre Arbeitsteilung konkret nahelegt. An anderer Stelle (Redder, 2019a) habe ich (exemplarisch für den deutschsprachigen Raum) institutionelle Konsequenzen zu ziehen versucht und ausgeführt, wie ich mir eine universitäre Verankerung vorstelle. Hier bin ich nun gebeten, eine Diskussion der wichtigsten linguistischen Zugänge zum Gegenstand zu führen, wie sie sich aus meiner – gewiss beschränkten – Kenntnis heraus darlegen. Es wird also kein Überblicksartikel über den Forschungsstand vorgelegt, sondern – in notwendigerweise groben Zügen – eine Systematisierung der Forschungsgegenstände und Forschungsziele unter sprachtheoretischer Perspektive versucht.
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2 DISKUSSION Linguistische Einzelforschung zum wissenschaftlichen Schreiben existiert im deutschsprachigen Raum bereits langjährig und theoretisch durchaus vielfältig sowie reich empirisch basiert. Leider nimmt die sogenannte internationale, genauer: die angelsächsisch orientierte Forschungsdiskussion davon kaum Kenntnis, was wiederum Selbstvergessenheit befördert. Im oben genannten Artikel habe ich diesen deutschsprachigen Forschungsstand in groben Zügen skizziert und will das hier nicht wiederholen. Hinsichtlich Forschung und Praxis verschaffen beispielsweise Gruber & Huemer (2016) einen guten Überblick. Zudem bieten die jüngsten Publikationen etwa von Schmölzer-Eibinger, Bushati, Ebner & Niederdorfer (2018), Hirsch-Weber, Loesch, & Scherer (2019) und Huemer, Lejot, & Deroey (2019) oder, stärker auf argumentative Formate konzentriert, von Steinseifer, Feilke, & Lehnen (2019) weitere Einblicke – abgesehen vom Forschungshandbuch zur empirischen Schreibdidaktik, das Becker-Mrotzek, Grabowski, & Steinhoff (2016) verantworten. Im Folgenden sei lediglich der Frage nach den für die deutschsprachige Diskussion prägenden sprachtheoretischen und sprachmethodischen Zugriffen auf den Gegenstand des wissenschaftlichen Schreibens nachgegangen. Die thematisch einschlägigen Ausführungen lassen sich meines Erachtens grundlegend nach ihrem Sprachverständnis differenzieren. So stehen sich semiotische (zeichentheoretische) und handlungstheoretische1 Analysen gegenüber. Semiotische Zugriffe gehen vom sprachlichen Zeichen als der Basiseinheit aus. Sie fragen insofern nicht systematisch zurück nach dem Warum und Wozu dieses sprachlichen Zeichens und seiner Geformtheit als solches.2 Es interessiert vielmehr der verschiedentliche, empirische Gebrauch der Zeichen, die als vorfindliche genommen werden. Handlungstheoretische Zugriffe verflüssigen das sprachliche Zeichen als eine zweckgemäße Handlungsform, indem sie es als ein gesellschaftlich-historisch entwickeltes sprachliches Mittel zur Realisierung eines kommunikativen Zwecks rekonstruieren. Diese Mittel-Zweck-Relation gehört – freilich in routinierter oder 1 2
Eine überblicksartige Ausführung für empirische Sprachanalysen findet sich zuletzt in Redder (2017a). Vielmehr werden für die Verwendung des Zeichens (oder ganzen Systems von sprachlichen Zeichen) im Einzelfall – konzipiert als Sprachgebrauch – die konkreten sprachlichen Aktanten und ihre Bedürfnisse additiv hinzugefügt und gegebenenfalls als quantifizierbarer Usus verallgemeinert. Basis der Argumentation bleibt also die klassische Distinktion des französischen Strukturalismus in ‚langue‘ und ‚parole‘, welche durch die forschende Umfokussierung auf die ‚parole‘ kritisch erweitert wird.
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mehr oder minder bewusster Form – zum Sprachwissen der Interaktanten, das sie im Zuge ihrer Sozialisation erworben haben. Die Äußerung des sprachlichen Mittels in der konkreten Kommunikation bedeutet mithin eine mittelspezifische Aktivierung des in ihm verallgemeinerten zweckmäßigen Handelns. Das heißt: Vermöge des Sprachwissens wird die dem Mittel entsprechende sprachlich-mentale Tätigkeit auf Sprecher- (S) und Hörerseite (H) aktiviert und prozessiert. Die Äußerung eines bestimmten Ausdrucks etwa bedeutet den sprecherseitigen Vollzug der ausdrucksgemäßen Prozedur beim Verbalisieren und Formulieren sowie den hörerseitigen Vollzug dieser Prozedur beim Perzipieren und Rezipieren; die Äußerung einer Sprechhandlung bedeutet den jeweiligen Vollzug einer komplexen, musterartig rekonstruierbaren Handlungsstruktur.3
Abb. 1: Überblick über sprachtheoretische Zugriffe auf einzelne Parameter.
3
Atomare Mittel, d.h. die einfachsten derartigen Handlungsformen, sind solche, die dem Vollzug einer Prozedur dienen; die komplexesten sprachlichen Mittel sind funktionale Ensembles aus Sprechhandlungen (selbst konstituiert aus Äußerungsakt, propositionalem und illokutivem Akt), wie sie, bei Kopräsenz von S und H, im Diskurs und bei fehlender Kopräsenz im Text vorliegen.
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Stellt man die Forschungsinteressen, Gegenstände und analytischen Bestimmungen zum wissenschaftlichen Schreiben anhand dieser sprachtheoretischen Differenzierung einander gegenüber, lässt sich – vereinfacht – eine tabellarische Übersicht erstellen (siehe Abb. 1). Die Zeilen sind durch die thematisierten Parameter gebildet, durch die beiden Spalten werden der jeweilige semiotische und der handlungstheoretische Zugriff stichwortartig wiedergegeben. Ich diskutiere im Folgenden die wichtigsten Forschungserkenntnisse beider – keineswegs sich polar ausschließender – sprachtheoretischer Zugangsweisen Parameter pro Parameter, d.h. Zeile für Zeile. 2.1 Medialität
Einem semiotischen Zugriff auf das wissenschaftliche Schreiben imponiert seine Medialität, die Schrift. Dies gilt auch für den schreibhemmenden Negativfall des vielzitierten „leeren Blatts“, das der Psychologe Otto Kruse (2007) unter Rekurs auf die US-amerikanische Schreibprozessforschung mit breiter Resonanz zu überwinden sucht. Bezogen auf Schrift wird semiotisch darüber hinaus die norm orientierte, orthographische Kompetenz des Schreibens zum Thema. Wissenschaftliches Schreiben hat demgemäß auch Anteil an der Aneignung der elementaren Kulturtechnik in der Dimension des Rechtschreibens, nunmehr bezogen auf wissenschaftsrelevante und insofern oft ungeübte Ausdrucksmittel (etwa fremdsprachig abgeleitete Termini), aber auch auf spezifische Layoutformate bis hin zur Anlage von Fußnoten und Zitationsformen. Zu den Schriftsystemen, die für mehrsprachige Studierende komparativ erwerbsrelevant werden, gibt es erst erstaunlich wenige linguistische Untersuchungen. Die frühe empirische Arbeit von Berkemeier (1977) zur lateinischen versus griechischen Zweitalphabetisierung wirft, aus funktionaler Perspektive, bereits intra- und interskripturale Fragen zu Wahrnehmungs-, Bewusstseins- und Lernprozessen im schulischen Kontext auf. Dabei werden phonologische und morpho-syntaktische Befähigungen in ihrem Wechselverhältnis ernst genommen. Mit Blick auf die mehr oder minder sichere Handhabung von Graphem-Phonem-Relationen in textuellen Darstellungsformaten sind sie, wie etwa bei Şimşek (2018) deutlich wird, bis heute aktuell. Das gilt auch für die auf literacy erweiterte Debatte um Zweit-/Mehrschriftlichkeit (z.B. in Erfurt, Leichsering, & Streb 2013; Woerfel et al., 2014; Rosenberg & Schroeder, 2016). Das Schreiben in der Zweitsprache fordert literale Qualifikationen, und zwar komplexe ebenso wie elementare, bei der L2-Alphabetisierung heraus, wie auch das jüngste Handbuch konstatiert (Grießhaber, SchmölzerEibinger, Roll, & Schramm, 2018). Zwar sind beim akademischen Schreiben Alphabetisierungsprozesse – insbesondere auch von nichtalphabetischen Schriften her
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– wegen der Studieneingangsvoraussetzung bereits absolviert und insofern leserund textartbezogene Aspekte weitaus wichtiger, doch bleiben Konsequenzen des sprach- bzw. schriftspezifisch notwendigen Umdenkens bis in die Technik (Handschrift vs. Tastatur etc.), die äußerliche Textorganisation und multimodale Gestaltung hinein beim Schreibprozess virulent. Des Weiteren sind sprachwissenschaftliche Untersuchungen zur orthographischen Fehlertoleranz unter handlungstheoretischer Berücksichtigung des zum sprecherseitigen Planen und Formulieren komplementären Perzeptionsprozesses und schließlichen Verstehens bei der Rezeption erforderlich. Qualitative Grenzen einer Bewertungstoleranz und Verständlichkeit trotz orthographischer Unsicherheiten oder Abweichungen bleiben – ähnlich den stärker fokussierten grammatischen oder lexikalischen oder gar pragmatischen Unkonventionalitäten4 – noch empirisch auszuloten. Verschafft man sich über das Wechselverhältnis von Rezeption und Produktion keinen analytischen Einblick, lässt man das wissenschaftliche Schreiben interaktiv schon am lesenden Zugang scheitern und insofern als ineffizienten Versuch allein der Produktionsverbesserung in der Luft hängen. Eine formale Normdebatte hilft da nicht weiter. Ein darüber hinausgehender Aspekt des Parameters Medialität betrifft das Verhältnis der semiotischen Systeme Schrift und Bild als eine Ausprägung der sog. Multimodalität. Die interessanten funktional-pragmatischen Analysen von Hanna (2003) zur Wissensvermittlung in ingenieurwissenschaftlichen Texten mit Visualisierungen (Diagrammen etc.) und Bildern sowie unlängst die Studien zur wissensprozessierenden Nutzung supportiver Medien (Tafel, OH-Projektor, interactive white-board) in mündlicher Lehre der Natur-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften bei Krause (2019) oder in DaF bei Brinkschulte (2015) öffnen einen neuen linguistischen Horizont, der spätestens bei der Umsetzung von Mündlichkeit in Schriftlichkeit in den Textarten ‚Wissenschaftliches Protokoll‘ (Moll, 2001) und ‚Mitschrift‘ (Steets, 2003; Breitsprecher, 2010; Hu, im Druck) zum Tragen kommt. Empirische Forschungen und funktionale sprachtheoretische Systematisierungen dazu stehen dennoch weitgehend am Beginn. Kommen wir zu einem Übergangstheorem zwischen Medialität und Textualität. In zeichenbezogener Schreibforschung wird die Medialität konsequent mit dem von Koch & Oesterreicher (1985) etablierten Modell eines Spektrums von „konzeptioneller Schriftlichkeit oder konzeptioneller Mündlichkeit“ bemessen und nach sprachlichen Formen von „Distanz oder Nähe“ bewertet. Wie an anderer Stelle ausgeführt (Redder, 2019b, 55 f.), mündet die bei den beiden Autoren unterbleibende Differenzierung von ‚Diskurs‘ und ‚Text‘ in einer Überblendung von 4
Einen weiteren Diskussionsanstoß (allerdings im Grundschulkontext) bietet N. Kruse et al. 2014.
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textspezifischer Formalität zweiter Stufe (im Sinne von Ehlich) und von Charakteristika eines schriftlichen Stils, der durch die Formalität dritter Stufe beim schriftsprachlichen Handeln bedingt ist. Diese handlungsanalytische Kritik basiert, wie bereits zu Beginn dieses Beitrags (Abschn. 1) angeschnitten, auf einer systematischen Ableitung von ‚Text‘ aus ‚Diskurs‘ (siehe oben Fn. 33). ‚Text‘ ist gemäß Ehlich (1983 u.ö.) ein zweckmäßiges Ensemble aus Sprechhandlungen bei fehlender Kopräsenz von Sprecher S und Hörer H, d.h. bei diatopisch und diachronisch zerdehnter Sprechsituation, so dass ein Text eine Formalität aufweist, die zur situativen Herauslösung und Überbrückung dieser Zerdehnung geeignet ist. Diese Formalität zweiter Stufe (im Unterschied zur zweckbedingten Formalität jeglichen Handlungsmittels) ist mithin oralen Texten als solchen eigen. Eine zusätzliche Verdauerung durch Schrift bedingt eine dritte Formierung. Mündlichkeit und Schriftlichkeit stehen demgemäß quer zur Differenz von Diskurs und Text. 2.2 Text
Eine breite semiotisch fundierte Diskussion – und hierin liegt ein weiterer Übergang vom Parameter Medialität zum Parameter Text – gilt auch beim wissenschaftlichen Schreiben den Schreibprozessen im kognitionspsychologischen Kontext, wie er durch Hayes & Flower (1980) begründet und mit Blick auf diverse Aspekte weiterentwickelt wurde (vgl. zuletzt in Feilke & Pohl, 2014; oder Becker-Mrotzek, Grabowski, & Steinhoff, 2016). Die damit einhergehenden Modellierungen rekonstruieren den Schreibprozess von nur einem Aktanten aus. Dies gilt auch dann, wenn dieser eine Aktant als lesender Schreiber, d.h. Schreiber mit Leseerfahrung bzw. mit entsprechend intertextueller Einbindung, konzipiert wird oder wenn zuweilen seine Antizipation auf potentielle Leser hin in den Blick kommt. Der von dem Aktanten produzierte Text gilt – turnkonzentrierten Pragmatiken gemäß – als eine monologische Makroeinheit, die durch eine Verkettung von Sätzen charakterisiert ist. Daher werden die klassischen textlinguistischen Fragen nach Kohäsion und Kohärenz, allgemeiner: nach Konnektivität, auch für wissenschaftliches Schreiben verfolgt. Textartspezifische Differenzierung und illokutionsgebundene sprachlich-mentale Analyse sind dabei jedoch sehr unterschiedlich einbezogen und lassen strukturdeskriptive und handlungsrekonstruktive Ausführungen vergleichsweise unverbunden nebeneinander stehen. Allerdings wird heute auch in semiotischer Argumentation über den einen Aktanten hinaus eine Beziehung von Schreiber und Leser zueinander gefolgert und, in spezifischer Anknüpfung an russische Sprachtheorien (vgl. Redder, 2017b), Intertextualität und Textsortenvernetzung geltend gemacht (Adamzik, 2016). D iese
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Argumentation dient gleichsam, handlungsanalytisch betrachtet, dazu, den Mangel einer systematischen Grundlegung sprecherseitiger und hörerseitiger Prozesse bei der Bestimmung von Text und Diskurs zu reparieren: Das sprechsituativ herausgehobene Handlungsprodukt, der Text, wird zum Gegenstand, ja verdinglichten Gegenüber von Interaktion. Der Schreiber interagiert damit beim Schreiben, der Leser beim Lesen. Schreiben und Lesen bleiben so aber nicht bloß heuristisch im Sinne arbeitsteiliger Forschung, sondern auch analytisch entkoppelt. Dies ist forschungsmethodisch ebenfalls nicht zielführend, weil so Erwartungsstrukturen, Bewertungskriterien und Verstehensprobleme kaum integral bearbeitet werden, was vor allem beim wissenschaftlichen Schreiben unter den Bedingungen von Interkulturalität und Mehrsprachigkeit zu unnötigen Divergenzen der Befundstudien oder Förderansätze führt. Eine Wendung erfährt (im deutschsprachigen Raum) die empirische Forschung zum wissenschaftlichen Schreiben durch die Kompetenzdiskussion im Umfeld von Feilke. Da heißt es etwa emphatisch: „Das Grundproblem der Studierenden beim wissenschaftlichen Schreiben ist gar kein Prozessproblem. Es ist ein Problem der dem eigentlichen Schreibprozess vorgelagerten domänentypischen Kommunikations-, Text- und Schreibkompetenz!“ (Feilke & Steinhoff, 2003, S. 113 f.). Im Folgenden lassen die Autoren das Problem aus Studentenmund anklingen: „Wie muss ich schreiben, damit ich mit meiner Textäußerung einen Anspruch auf Erkenntnis und somit – pragmatisch formuliert – auf „Geltung“ in der Fachkommunikation erheben kann?“ (ebd.). Es geht also um ein kompetentes Herstellen von Passung und ein Durchsetzen von Geltungsanspruch in der wissenschaftlichen Community. Ein an sprachliches (Nach-)Denken gebundenes Sachproblem beim wissenschaftlichen Schreiben verlagert sich hier zu einem sozialen Problem der membership-categorization, um es mit CA-Termini zu formulieren. Diese Verschiebung spiegelt freilich den modernen, global ökonomisierten Wissenschaftsbetrieb als solchen. Konzeptuell entspricht sie einer Fortführung von Feilkes Ausführungen zur „common sense-Kompetenz“ (1994) im Anschluss an Habermas. Die wissenschaftlich Schreibenden – und das gilt schließlich für die Novizen gleichermaßen wie für die permanente Positionierung der institutionell etablierten Player – müssen das entscheidende Werkzeug haben, um an wissenschaftlicher Kommunikation zu partizipieren. Theoretisierend formuliert: Die konkrete Instanz ihrer sprachlichen Kommunikation, die nunmehr discours-linguistisch verstandene Einheit namens Text, muss mittels eines kompetent genutzten Schlüssels erfolgreich in den discours eingebracht werden, also in die Größe, die mit der wissenssoziologischen Kategorie von Foucault erfasst wird. Der Schlüssel wird von der Forschergruppe um Feilke in einer Reihe von sprachlichen Ausdrucksmitteln identifiziert, die zur Bildungs- oder Wissenschaftsspra-
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che gehören. Diese Zuordnung geschieht hier kaum denk- oder wissensmethodisch (anders z.B. Köhne et al., 2015), sondern im Wesentlichen usage-based und korpusanalytisch, d.h. festgemacht an usuellen Elementen des Äußerungsaktes und ihrer Häufigkeit (siehe unten unter 2.4). Insofern wird in diesem Kontext m.E. die funktional-pragmatische Bestimmung von „alltäglicher Wissenschaftssprache“ bzw. „wissenschaftlicher Alltagssprache“ durch Ehlich (1993 u.ö.) als strategisch probate sprachliche Varietät in Anspruch genommen, statt handlungs- und wissensrekonstruktiv verstanden und analytisch fortgeführt zu werden. Die zunächst als ‚Textroutinen‘ (Feilke, 2012), inzwischen als ‚Textprozeduren‘ (Feilke, 2014) bezeichneten „Verfahren“, wie ich sie einschätze (Redder, 2019b, Abschn. 3), werden vor dem angeführten wissenschaftsstrategischen Hintergrund verständlich: Sie verbinden die alltägliche Wissenschaftssprache der Community als einen ‚Metadiscourse‘ (im systemisch-linguistischen Sinne von Hyland, 2005) mit den Äußerungen in der Textinstanz und bilden insofern beim Planen des wissenschaftlichen Schreibens klug auszutarierende Verfahren zwecks Teilnahme am vielstimmigen Ganzen, am discours. Dass sie nach den „Ebenen Kultur, Handlung und Struktur“ abgeklopft werden (z.B. Feilke et al., 2019, 23–25), nimmt den linguistischen Forschungsstand zur interkulturellen Pragmatik faktorenanalytisch (in „Kultur“) auf – jüngst bezogen auf eine literale Streitkultur. Schreibende Partizipation an wissenschaftlicher Eristik durch, beispielsweise, das Verfassen von „Kontroversenreferaten“ (z.B. Feilke, Lehnen, Schüler, & Steinseifer, 2016) bedeutet dann eine akzeptable Synthese aus, wie es heißt, referierendem, qualifizierendem und diskutierendem Vorgehen mittels wiedererkennbarer, insofern typischer Formulierungen – weitgehend ungeachtet eigener Denkund Erkenntnisprozesse der Schreibenden, vielmehr im Einklang mit im Forschungsstand positionierten und insofern kollektiv anerkannten Elementen eines thematisch Gewussten.5 Wenn man demgegenüber handlungstheoretisch die Formen des sprachlichen Handelns als solche gesellschaftlicher Problemlösungen rekonstruiert, leitet sich die komplexe Form des Textes aus der des Diskurses ab und steht die Unterstützung von textueller Überlieferungsqualität durch die Entwicklung von Schrift systematisch quer dazu (siehe oben Ende Abschn. 2.1). So kann etwa für mündliche Hochschulkommunikation eine Differenzierung von ‚textueller und diskursiver Eristik‘ in universitären Seminaren und Vorlesun5
Es übersteigt die Möglichkeit dieses Beitrags, eine theoretische Wissensdiskussion zu führen sowie die deutlichen Tendenzen in der globalen Wissenschaftsentwicklung weg von einer erkenntnisgetriebenen hin zu einer mainstreamgerechtes Gewusstes vermarktenden Unternehmung zu diskutieren.
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Angelika Redder
gen erkannt werden (vgl. anhand komparativer deutsch-italienischer Analysen Redder, Thielmann, & Heller, 2014). Das differentium specificum ist die Art der Prozessierung von Wissen, das produktive oder bloß rezeptive Einbringen von ∏-Strukturen6 kommunikativ beteiligter Interaktanten. Die textuelle Eristik ist durch eine sprecherseitige Verbalisierung gekennzeichnet, welche auf Überlieferung hin strukturiert ist. Ihr Zweck ist die entsprechende Übernahme des Verbalisierten durch den Rezipienten in seine ∏H-Struktur, so dass dann zwischen S und H konvergentes Wissen besteht. Bei textueller Wissensprozessierung – sei sie mündlich oder schriftlich – sind zwar im Zuge der Wissenseinarbeitung durchaus komplexe Rezeptionstätigkeiten gefordert (z.B. Carobbio & Zech, 2013), es kommt jedoch keine eigenständige Verbalisierung eines π-Elementes seitens eines Interaktanten zur Geltung, d.h. kein diskursiver Beitrag zum schließlich gemeinsamen Gesamtwissen. Eine textuelle Eristik bei mündlicher Wissensvermittlung, wie sie etwa für romanische Hochschulkommunikation prägend ist, hat also grundsätzliche Parallelen zur schriftlich verfassten textuellen Eristik, etwa in Lehrwerken oder Einführungen, und dies auch unter Einschluss bestimmter rhetorischer Traditionen (z.B. Heller, Hornung, & Carobbio, 2015). Keineswegs aber ist hinsichtlich der Formulierungen ein „Reden wie gedruckt“ das Kennzeichen textueller Eristik, sondern eben eine propositionale und illokutive Verbindlichkeit gemäß ∏S-Struktur. Im Unterschied dazu tragen die Interaktanten, systematisch also S und H, bei der diskursiven Wissensprozessierung und insofern beim entsprechenden Ringen um Erkenntnis mit eigenen Verbalisierungen in ihren Diskursbeiträgen zur (sequentiell angelegten) Gesamtstruktur des erarbeiteten Wissens bei. Dass genau diese Gesamterarbeitung mittels diskursiver Eristik für eher mit textueller Eristik vertraute Studierende große Probleme bereitet, erkennt man nicht zuletzt an der notwendigen Reproduktion im Wissenschaftlichen Protokoll. Wie Moll (2001) fallanalytisch nachweist, werden Negationen positiv nivelliert und z.B. Exkurse und Kritik mit gedanklichen Fort- und Weiterführungen gleichgesetzt. Ehlich (2018) diskutiert unlängst die wesentlichen Interrelationen zwischen Diskursen und Texten akademischer Lehre und plädiert für eine grundsätzliche Diskussion des Zusammenhangs von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auch für wissenschaftliches Schreiben.
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Die mentale Widerspiegelung von Wirklichkeit im Kopf von Sprecher S und Hörer H, wozu Wissen im engeren Sinne, aber auch Emotionen, Glaubenssysteme etc. gehören, wird in der Funktionalen Pragmatik mit dem griechischen Kürzel ∏ zusammengefasst und zuweilen im weiten Sinne als Wissen bezeichnet (siehe Graphik in Ehlich & Rehbein, 1986, S. 96).
Linguistische Zugänge zum wissenschaftlichen Schreiben
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2.3 Textarten
Eine sprach- und kulturgeschichtlich interessante Frage betrifft die Genese von Texten, von ihren ‚Typen und Arten‘ oder ‚Sorten‘. Einem beim wissenschaftlichen Schreiben relevanten Beispiel hat sich Pohl (2009) mit der ‚Studentischen Hausarbeit‘ gewidmet. Dabei kommen auch veränderte Handlungsbedingungen in der Institution Wissenschaft zur Sprache. In der Sache liegen Berührungspunkte zum Wissenstransfer aus dieser Institution heraus vor, der – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die massenmedialen Bedingungen und die Opposition von Experten- und Laienwissen – etwa gemessen an Antos’ rhetorischem Formulierungskonzept eigene Textsorten generiert (z.B. Antos & Wichter, 2005). Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. Seit einiger Zeit hat nicht nur textlinguistisch, sondern auch (schreib-)didaktisch (Gürsoy, 2018) eine „Genre“-Klassifikation an Selbstverständlichkeit gewonnen. Diese Klassifikation geschieht merkmalsanalytisch und konstruktionistisch. Denn sie hat ihre Grundierung in der Systemischen Linguistik der Halliday-Schule (vgl. Rose & Martin, 2012).7 Dem entsprechend geht es um die Option für eine semiotische Strukturform, die Schritt für Schritt an der sprachlichen Oberfläche in Erscheinung tritt. In Fortführung früherer Textsorten-Diskussionen besteht das Neue darin, dass unter Aufnahme des Bachtinschen Konzeptes der sozialen Vielstimmigkeit, welche aus den Zeichen spricht, eine Relation zu Sprechergruppen und ihrer Perspektive hergestellt wird, die Zugehörigkeiten bedient. Es ist einer österreichischen Forschungsgruppe zu verdanken, dass derartige Genre-Diskussionen bereits seit einiger Zeit in die Schreibforschung Eingang finden und bewirken, dass Linguistik und Schreiblehre miteinander verknüpft werden – auch in kritisch-komparativer Absicht (z.B. Gruber et al., 2006; Huemer, Rheindorf, & Gruber, 2012; Rheindorf, Huemer, & Gruber, 2014). Dem stehen handlungstheoretische Textanalysen gegenüber. Sie differenzieren sprachliche Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur systematisch dadurch, dass letztere als Zweckstruktur rekonstruiert wird, d.h. als eine durch gesellschaftliche Zwecke und deren historisch bewährte Realisierungswege bedingte Struktur. Solche zweckgemäßen Tiefenstrukturen werden als ‚Handlungsmuster‘ begriffen. Sprecher können sich für ihre individuellen Ziele dieser Zweckstrukturen bedienen und sie konstellationsgemäß modifizieren, so dass sich variante Oberflächen ergeben (Ehlich & Rehbein, 1986, Kap. 7). Eine paraphrasierende Beschreibung textueller (oder diskursiver) Oberflächen mag zwar ein erster methodischer Schritt 7
In Redder (2017a) werden einige grundsätzliche Unterschiede zur handlungstheoretischen Funktionalen Pragmatik diskutiert.
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im Zuge einer empirischen Untersuchung sein, jedoch kann diese sich nicht darin erschöpfen, sondern muss zu einer Erklärung voranschreiten, wie dies durch tiefenstrukturelle Analyse von Handlungsmustern (mikroanalytisch: von Prozeduren) geleistet werden kann. Als funktionales Ensemble von Sprechhandlungen mit der ihnen je eigenen Tiefenstruktur, eben dem Handlungsmuster, weisen Texte hochkomplexe Tiefenstrukturen auf. Dies macht eine Analyse wie auch Klassifikation von Texten zu einem anerkannt schwierigen Unternehmen. Auf der Basis von Zweckstrukturen und ihrer Relation wird in der handlungstheoretischen Textlinguistik zwischen übergeordnetem Typ und untergeordneter Art von Texten differenziert. Handlungspraktische Konsequenzen der beiden hier (siehe die Spalten in Abb. 1) diskutierten theoretischen Zugänge zum wissenschaftlichen Schreiben lassen sich vielleicht gut an der Behandlung von ‚Argumentieren‘ und ‚Kritisieren‘ im Kontext wissenschaftlicher Eristik darlegen. Ein argumentatives Genre umfasst – im üblichen Einleitungs-, Haupteil- und Schluss-Format – Perspektiven auf ein sowie Einstellungen zu einem umstrittenen Thema, die sich als Instanzen von ‚stance‘ und ‚propositional attitude‘ ausweisen und von einer autorseitigen Positionierung her sukzessive die inhaltliche Überzeugung des Rezipienten bewirken sollen (z.B. Feilke, 2014, S. 26). Dazu dienen, wie dort weiter dargelegt, vor allem Begründungen (argumentative Backings) und Konzedierungen. Hiermit steht die Genre-Bestimmung in der Tradition der rhetorischen Pro-und-Contra-Konzeption. Handlungsanalytisch wird das Argumentieren als ein Texttyp (oder, je nach Konstellation der Kopräsenz, als Diskurstyp) rekonstruiert, der sich in zwei Modi der interaktiven Bearbeitung von Wissensungleichheiten ausdifferenziert: In das ‚persuasive Argumentieren‘ mit dem Zweck, eine Wissens-Divergenz zu bearbeiten, und in das ‚explorative Argumentieren‘ mit dem Zweck, eine Wissens-Differenz zu bearbeiten (Ehlich, 2014). Nur Ersteres kommt in der Genre-Diskussion in den Blick, obwohl Letzteres gerade wegen seiner kooperativen Überwindung von Wissenslücken für wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung von hohem Stellenwert ist. Insofern ist es für das wissenschaftliche Schreiben – wie bereits für die schulische Engführung in Curricula (Ehlich: Kap. E in der Expertise; Ehlich, Valtin, & Lütke, 2012) konstatiert – außerordentlich misslich, die damit verbundenen pragmatischen und diskursiven sprachlichen Qualifikationen unberücksichtigt zu lassen und das textuelle oder diskursive Format des Ringens um Erkenntnis auf dasjenige der Divergenzbearbeitung zu reduzieren. Dies hat weitere Konsequenzen. Eine Textart (bzw. Diskursart), die funktional besonders in den Dienst des Texttyps Argumentieren tritt, ist das Kritisieren (Red-
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der, 2014). Es bildet mit dem Zweck seiner Identifizierung und systematischen Bestimmung von notwendigen (!) Grenzen eines Handelns bzw. eines handlungsbasierten Wissens ein ebenfalls wissenschaftlich höchst relevantes Mittel wissenschaftlicher Kommunikation. Eine tiefenstrukturelle Zweckanalyse erlaubt es darüber hinaus, die Handlungsmuster von Begründen (Ehlich & Rehbein, 1986, Kap. 5) und Erklären (Hohenstein, 2006) systematisch zu scheiden, welche beide – wiewohl an funktional differenten Positionen und in verschiedenem Anteil – zum Sprechhandlungsensemble gehören, das ins Argumentieren eingeht. Derartige analytische Bestimmungen gehen in ihrer Differenziertheit, die nicht zuletzt sprachpsychologische Dimensionen und damit Wissensprozessierungen im weiten Sinne betreffen, deutlich über gewohnte Alltagsbestimmungen hinaus und bergen insofern mehr Potential für ein kritisches Durchschauen dessen, was sich beim wissenschaftlichen Schreiben interaktiv wesentlich abspielt. Mit den angeführten Sprechhandlungen ist die Schnittstelle zum Parameter der illokutiven Akte erreicht, der nun mit den propositionalen Akten und den Äußerungsakten zusammen diskutiert werden soll, soweit dies für wissenschaftliches Schreiben von Relevanz ist. 2.4 Illokutive, propositionale und Äußerungs-Akte
Die Differenzierung einer Sprechhandlung in die drei konstituierenden Akte, nämlich in ‚illokutiven Akt‘ (die Handlungsqualität betreffend), ‚propositionalen Akt‘ (den gedanklichen Gehalt betreffend) und ‚Äußerungsakt‘ (die einzelsprachliche Formung betreffend), geht bekanntlich auf die handlungstheoretische Revolutionierung der Sprachwissenschaft durch Austin sowie seinen Schüler Searle zurück. Sie ist in einer integralen Pragmatik fortzuführen. Dies ist in semantisierenden, eher additiv konzipierten pragmatischen Theorien nicht mehr gleichermaßen der Fall. Vielmehr rückt die Illokution aufgrund von deren intentionaler Konzeptualisierung und im Wege von Implikaturen an den propositionalen Gehalt heran (vgl. Liedtke, 2016). Dem gemäß wird in semiotisch orientierten Textanalysen auf eine systematische Bestimmung der illokutiven Qualität – und entsprechend auch auf die Kategorie der Illokution – zunehmend verzichtet. Bei interpretativ fälliger Zuordnung tritt tendenziell Alltagskonsens an die Stelle. Der propositionale Gehalt wird zumeist kognitiv-semantisch als Informationsstruktur behandelt und im Text als deren Zeichenträger vergegenständlicht gesehen. Im Kontext des wissenschaftlichen Schreibens kommt daher prozessual – gleichsam als Vorgeschichte für das Vorliegen einer derartig textuell greifbaren Information – der Konstitution von Äußerungsakten ein zentraler Stellenwert zu. Genau hieran setzen die Untersuchungen zu textkonstitutiven Äußerungsmitteln
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(„Prozedurenausdrücke“ Feilke, 2014, S. 26; „Routineausdrücke in Prozeduren“ Schmölzer-Eibinger & Fanta, 2014, S. 168) in der literalen Eristik an (siehe oben 2.2). Sie werden auf der sog. Strukturebene verortet. Wie stellt sich die Kategorie des Formulierens mit Blick auf derart präferierte Wort- und Konstruktionslisten dar, und wie ist sie systematisch zu verstehen? Im Sinne der kognitiv-linguistischen Schreibprozessierung ist das Formulieren ein wesentlicher Teil der Umsetzung von Schreibplan in Schreibprodukt, d.h. in den Text. Um dies im Sinne der oben zitierten Kompetenz leisten zu können, erscheint eine Orientierung am sprachlichen Usus ratsam. Dazu bieten sich die korpuslinguistisch ermittelten und in ihrer Gebrauchsbedeutung charakterisierten Wort- und Konstruktionslisten an. Sie stellen usuell probate Mittel der Konstruktion von Äußerungen („Textkompositionsverfahren“ bei Steinseifer, 2019) dar. Die textuelle Oberfläche gewinnt derart – kontextuell an Genre und Kulturspezifik rückgekoppelt – eine akzeptable Struktur, die dann freilich noch mit der Informationsstruktur thematisch unterfüttert werden muss. Das Wechselverhältnis damit gerät aber kompetenzanalytisch an den Rand der Betrachtung. In einer Handlungstheorie von Sprache lässt sich das Formulieren funktional vom Verbalisieren und Versprachlichen unterscheiden (Redder et al., 2020, Abschn. 4). Das ‚Formulieren‘ begreift solche sprachlich-mentalen Prozesse, die der Umsetzung des propositionalen Gehaltes in den Äußerungsakt dienen. Dies geschieht selbstverständlich in einem Wechselverhältnis zur verbalen Planung des propositionalen und illokutiven Aktes. Die Anwendung von grammatischem Wissen im prozeduralen Sinne (Hoffmann, 2003) gehört selbstverständlich ebenso dazu wie hörerorientiertes (Um-)Formulieren (Bührig, 1996) und die Wahl des Stils im pragmatischen Sinn (Rehbein, 1983). Beim Formulieren verzahnen sich solche sprachlichen Mittel, die im Sinne von Ehlich (2007/I, B1) zu internen, Sprache als Sprache konstituierenden Zwecken dienen, besonders eng mit solchen, die zu sprachexternen, kommunikativen Zwecken dienen. Das ‚Verbalisieren‘ begreift hingegen diejenigen sprachlich-mentalen Prozesse, die zur Bildung einer „elementaren propositionalen Basis (epB)“ (Ehlich 2007/III, H7) als den Kern des propositionalen Gehaltes erforderlich sind, sowie diejenigen, die die epB zu einem propositionalen Akt entfalten, der dem Gedanken im Wechsel zum illokutiven Akt angemessenen ist. Insofern ist das Verbalisieren ein im ∏S-Bereich angesiedelter Komplex der verbalen Planung, während das Formulieren beim Umschlagen von der mentalen in die sprachliche Realität zur Geltung kommt, zuweilen auch retardierend oder reparativ. Methodisch lassen Untersuchungen zum lauten (kollektiven) Planen von Texten (z.B. Wrobel, 1995) beide Anteile an der sog. Produktion von Äußerungen erkennbar werden. Die Planung des zielgemäßen illokutiven Aktes ist selbstver-
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ständlich auch, eben interrelativ, am Verbalisieren beteiligt. Das ‚Versprachlichen‘ begreift nun die Umsetzung einer Wirklichkeitswahrnehmung (Widerspiegelung von P in ∏) bzw. eines nicht-sprachlichen Wissenselementes (π-Elementes) in ein sprachliches, um in einen sprachlichen Gedanken einzugehen. Dies geschieht beispielsweise bei Aktivierung einer bildlichen, episodalen oder emotionalen Wissensform für sprachliche Interaktion. Beim wissenschaftlichen Schreiben wird ein solcher wissens- und verstehensverarbeitender Transfer in das Interaktionsmedium Sprache durchaus relevant. Dabei geht es beim Versprachlichen nicht erst um die Phase der Wahl eines geeigneten Darstellungsmittels (etwa Formel, Graphik oder sprachliche Äußerung, siehe oben 2.1), sondern genuin um die denkende oder nachdenkende und verstehende Erfassung eines individuell noch nicht sprachlich zugänglichen Wissenselementes. Letzteres ist – in für wissenschaftliches Schreiben textartenspezifisch nicht unerheblicher, jedoch selten thematisierter Distinktion – ein Element des Forschungsprozesses, d.h. der Erkenntnisgewinnung, während Ersteres ein Element des Darstellungsprozesses bildet. 2.5 Sprachenspezifik
Oben (2.3) wurde bereits die Differenz zwischen Begründen und Erklären als Beispiel für eine Analyse von Handlungsmustern angeführt. Pointiert lauten die Bestimmungen im Einzelnen: Das ‚Begründen‘ dient der Bearbeitung eines hörerseitigen Verstehensproblems und somit der ∏H-gemäßen (Nach-)Lieferung eines Verstehenselementes, so dass durch diese Handlung zweiter Stufe ein ansonsten suspendierter Interaktionsablauf (Handlung erster Stufe) fortgeführt werden kann; Handlungsbegründung, Rechtfertigung und kognitive Begründung sowie Absichts- und Sollensbegründung stellen besondere Ausprägungen dar (a.a.O., S. 120). Das ‚Erklären‘ dient demgegenüber der Bearbeitung einer hörerseitigen Wissensdefizienz durch Lieferung von komplexem Sachwissen, d.h. von Wissen gemäß P-Struktur, das als solches handlungspraktisch relevant ist.8 Von der Bearbeitung einer Wissenslücke mittels einer ‚Assertion‘ unterscheidet sich das Erklären durch eine komplexere, auf den inneren Zusammenhang des Erklärungsgegenstands hin angelegte Wissensvermittlung und insofern auch durch Nutzung einer wissenserschließenden Methodik.9 8 9
Wie Bührig (1996) empirisch nachweist, dient das ‚Erläutern‘ lediglich einer Nachlieferung von P-bezogenem Wissen, insoweit es für den aktuellen Handlungszusammenhang zwischen S und H relevant ist. Komplementäre Frageformate diskutieren zusammenfassend Redder & Thielmann (2015).
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Nun sind diese Tiefenstrukturen keineswegs einzelsprachunabhängig. Dies gilt erstens bereits für die alltagssprachliche Relevanz, wie sie in der Ausbildung von illokutionsbenennenden Ausdrücken sprachlich in Erscheinung tritt. Das Englische hat interessanterweise kein illokutionsbezeichnendes Verb, das mit ‚begründen‘ äquivalent wäre. Zweitens mag in verschiedenen Sprachen die Pragmatik, d.h. der funktionale Einsatz der Handlungsmuster in Diskurs und Text differieren. Das gilt in einer für das wissenschaftliche Schreiben erheblichen Konsequenz etwa für das Begründen in der deutschen versus englischen ‚Einleitung‘ von wissenschaftlichen Artikeln, wie Thielmann (2009) im Einzelnen empirisch nachweist. Ohne eine derartige Handlungsanalyse erschließt sich jedoch, wie dort weiter ausgeführt wird, die differente Textstruktur und damit auch die Erwartungsstruktur der englischsprachigen Rezipienten an den Texttyp ‚Wissenschaftlicher Artikel‘ nicht. Nachweislich greifen drittens Orientierungen am englischen Textmodell sprachvergleichend zu kurz. Das gilt auch für eine schlichte Übernahme von textlinguistischen Kategorien, sofern sie semiotisch am Englischen gewonnen wurden, wie Thielmann relativ zu den ‚introduction‘-Bestimmungen von Swales (1990) ausführt. Viertens kann das Handlungsmuster neben einer differenten Pragmatik auch eine modifizierte innere Struktur aufweisen, wie Hohenstein (2006, 2015) bis in situierende prädikative Konstruktionen hinein für das Japanische zeigt. Fünftens ist die sprachlich-mentale Prozedur, zu deren Vollzug z.B. ein deutsches ‚weil‘ als Ausdrucksmittel dient, keineswegs identisch zu derjenigen eines englischen ‚because‘ (Thielmann, 2009, 2014). Weder auf Makro-, noch auf Meso- oder gar auf Mikroebene kann sich eine Wissenschaftssprachkomparatistik also einer sprachpsychologisch und funktional differenzierten sprachwissenschaftlichen Analyse enthalten. Hierfür ist freilich noch ein erheblicher Forschungsbedarf zu konstatieren. Seit den 1990er Jahren ist zwar eine intensive empirische Forschung dazu aufgenommen worden – exemplarisch sei nur an solche zum deutsch-englischen (Fandrych & Graefen, 2002) und zum deutsch-italienischen Vergleich von Textkommentierungen (Carobbio, 2015), zum Argumentieren in deutschen und italienischen Wissenschaftlichen Artikeln (da Silva, 2014) oder zu ‚Tesine‘ relativ zu deutschen Qualifikationsarbeiten (Nardi, 2017) erinnert. Doch sind diese Erkenntnisse für das wissenschaftliche Schreiben noch nicht wirklich ausgeschöpft und in der Sache noch keineswegs für alle einschlägigen Phänomene vorgenommen. Eine innovative Weiterung der oben unter 2.1 bereits genannten Mehrschriftlichkeitsdiskussion bezieht jüngst mit Roll et al. (2019) im interrelativen Vergleich die Disziplinenunterschiede bis in einzelne Textarten hinein in die Untersuchung ein. Derartige, grundsätzlich weit über translatorische Fragestellungen hinausgehende, Wissenschaftssprachkomparatistik bedarf freilich einer Etablierung von Vergleichskorpora in verschiedenen Sprachen.
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3 EIGEN-DISZIPLINARITÄT Grundsätzlich gebietet es eine sachorientierte Organisation von Wissenschaft, nicht durch Disziplingrenzen tendenziell reduktive Gegenstandsbestimmungen oder Erkenntniszugänge zu befördern, die dann mittels Inter- und Transdisziplinarität nur höchst mühsam wieder theoretisch und methodisch repariert und aufgehoben werden können. Wissenschaftsgeschichtlich hat sich eine zunächst aus der notwendigen Differenziertheit der Forschung entstandene Emanzipation von Einzeldisziplinen – man denke etwa an die Scheidung von Psychologie und Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert – angesichts der Einsichten in die quer dazu verlaufende Komplexität der Gegenstände zuweilen als erkenntnishemmend erwiesen, mit der Konsequenz, dass z.B. Sprachpsychologie und Psycholinguistik sowie Kognitionsforschung nunmehr in ein neues und durchaus kritisches Kooperationsbündnis zu überführen sind. Auch Ausdifferenzierungen aufgrund theoretischer Gewichtungen von faktischen Einzeldimensionen eines wissenschaftlichen Gegenstandes haben nicht selten Verselbständigungen gezeitigt, die in unreflektierten Abstraktionen münden. Insofern ist der Frage nach einer Eigen-Disziplinarität einer Schreibforschung durchaus skeptisch zu begegnen. Andererseits mag die praktische Relevanz von analytischen Kenntnissen zum wissenschaftlichen Schreiben im derzeitigen akademischen Bildungsbetrieb durchaus dafür sprechen, eine besondere wissenschaftliche Verantwortlichkeit zu reklamieren. Meines Erachtens ist dies jedoch im Sinne der Denomination einer Professur zu verstehen und nicht einer ganzen Disziplin. Welche Verantwortlichkeit ist dafür sachangemessen? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich die alte wissenschaftstheoretische Diskussion um Beschreiben (oder Deskription) versus Erklären in Erinnerung rufen. Obige Ausführungen zu den theoretischen Zugriffen auf das wissenschaftliche Schreiben haben, denke ich, folgendes ergeben: Wenn das wissenschaftliche Schreiben nicht bloß im Sinne einer kurzfristigen Qualifizierung praktiziert, sondern als solches analytisch durchschaut, erklärt und in seinem Stellenwert für akademische Wissenskommunikation über Sprachen hinweg erschlossen werden soll, ist eine linguistische Fundierung unabdingbar. Im Besonderen ist eine Verankerung in der Angewandten Linguistik angezeigt. Genauer geht es um eine Angewandte Linguistik, die Wissenschaftssprachkomparatistik als ihre Teildisziplin enthält. Von den theoretischen Zugriffen her dürfte ein wissensanalytischer, sprachlich-mentale Prozesse rekonstruierender Zugang besonders förderlich sein. Wie dies – mit Blick auf Zentren wie auch auf Institute – institutionell eingegliedert sein kann, habe ich an anderer Stelle genauer ausgeführt (Redder, 2019a).
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Ob es sich als sinnvoll erweist, das Wissenschaftliche Schreiben als einen Zweig der Wissenschaftssprachkomparatistik in einer eigenständigen Angewandten Sprachwissenschaft zu etablieren, oder ob in den Einzellinguistiken bzw. in der Allgemeinen Sprachwissenschaft dafür zu plädieren ist, dass jeweils eine solche Subdisziplin einen obligatorischen Bestandteil bildet, dürfte nicht zuletzt von der Größe der Universität und ihrer Gesamtkonfiguration in Fachbereichen bzw. Departments abhängen. Bei einem hauptsächlichen Gewicht auf Deskription und daraus abgeleiteter Vermittlung wäre sicher ein stärker didaktischer Zweig der Wissenschaftssprachkomparatistik in die Pflicht zu nehmen, bei einem weitergehenden Gewicht auf dem Erklären ein stärker theoretischer Zweig. Jedenfalls aber müsste Kooperation dazwischen durchlässig gestaltet werden. Und es muss gesichert sein, dass wissenschaftliche Forschung zum Gegenstandsbereich tatsächlich verantwortlich durchgeführt werden kann und wird. Als Desiderata für eine solche Forschung möchte ich hier hervorheben: Anlage sprachen- und disziplinenübergreifender Korpora; Interrelation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bzw. Diskurs und Text in akademischer Kommunikation; Komparatistik der Makro- relativ zur Mikrostruktur von Texten und Diskursen; Differenzierung von sprachlich-mentalen und sprachlich-äußerungsbezogenen Prozessen, kurz: von Verbalisierung und Formulierung (Redder et al., 2020), um erkenntnisbezogenes Nachdenken und routiniertes Handeln beim wissenschaftlichen Schreiben und Reden scheiden zu können. Literatur Adamzik, K. (2016). Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin: de Gruyter. (2. völlig neu bearbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuauflage) Antos, G., & Wichter, S. (Hg.). (2005). Wissenstransfer durch Sprache als gesellschaftliches Problem. Frankfurt/M.: Lang. Becker-Mrotzek, M., Grabowski, J., & Steinhoff, Th. (Hg.). (2016). Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Münster: Waxmann Berkemeier, A. (1997). Kognitive Prozesse beim Zweitschrifterwerb. Frankfurt/M.: Lang. Berkemeier, A. (2018). Schrifterwerb und L2-Alphabetisierung. In H. Roll, W. Grießhaber, S. Schmölzer-Eibinger, & K. Schramm (Hg.), Schreiben in der Zweitsprache (S. 282–299). Berlin: de Gruyter. Breitsprecher, C. (2010). Studentische Mitschriften. In D. Heller (Hg.), Deutsch, Italienisch und andere Wissenschaftssprachen (S. 201–216). Frankfurt/M.: Lang. Brinkschulte, M. (2015). (Multi-)mediale Wissensübermittlung in universitären Vorlesungen. Heidelberg: Synchron. Bührig, K. (1996). Reformulierendes Handeln. Tübingen: Narr.
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SCHREIBPROZESSE ERFORSCHEN UND DARSTELLEN – LITERATURWISSENSCHAFTLICHE ZUGÄNGE Anke Bosse
ABSTRACT Schreib- und Literaturwissenschaft verbindet ein entscheidender ‚turn‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Umorientierung vom Produkt ‚Text‘ auf den Prozess der Textwerdung, ja schließlich auf den Schreibprozess selbst. Die je spezifischen Schreibprozesse eines Autors, einer Autorin zu erforschen und darzustellen, hat sich die literaturwissenschaftliche Schreibprozessforschung zum Ziel gesetzt. Sie blickt dafür in die ‚Werkstatt‘ des Autors, der Autorin und wertet die Materialien ihrer Vor- und Nachlässe in den Literaturarchiven aus. Dafür hat sie eine Palette methodologischer Konzepte entwickelt. Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die ‚Schreibszene‘, den konkreten Schreibakt, auf die ‚Schreib-Szene‘ als Selbstinszenierung des Schreibens im Buch vor den Lesern und Leserinnen und auf die Überlappungszone, in der Autoren und Autorinnen während des Schreibens über ihr Schreiben schreiben und es vor sich selbst inszenieren. Diese Konzepte werden kurz am Beispiel von Florjan Lipuš, Werner Kofler und Josef Winkler erläutert. Da es hier grundsätzlich um Gelingensbedingungen des Schreibens geht, sind diese Konzepte sehr wohl in die Schreibwissenschaft übertragbar.
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SCHREIBEN UND ‚LITERATUR‘
Das Wort ‚Literatur‘ ist von lat. ‚littera‘ = Buchstabe abgeleitet, trägt also ‚Schrift‘, ‚Verschriftlichung‘, ‚Literalität‘ immer schon in sich. Die Literaturwissenschaft blickt auf den ‚fertigen‘ Text als Produkt, meist in Form eines Buchs. Als sei er immer schon ‚da‘. Nur die Teildisziplin der Editionswissenschaft beschäftigt sich mit der Konstituierung von Texten, doch auch sie zielte lange auf das Endprodukt Text. Erst im 20. Jahrhundert rückte die Frage in den Fokus, durch welchen Vorgang etwas überhaupt erst Schrift und Text wird. Nämlich durch das Schreiben. Dahinter steht ein entscheidender ‚turn‘, der Literatur- und Editionswissenschaften mit der Schreibwissenschaft zusammenbringt: Die Umorientierung vom Produkt auf den Prozess. Der Text als etwas Gewordenes. Die Textgenese und damit
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auch textgenetische Ausgaben waren ‚geboren‘ und rückten ins Zentrum der Editionswissenschaften (Bosse & Fanta, 2019). Für die Literatur- und Editionswissenschaften stellten sich nun folgende Fragen: Wie ist der Text überhaupt entstanden? Was geschah in der ‚Werkstatt‘ der Autorin, des Autors, bis der Text als Buch gedruckt wurde? Dies führte direkt in die Literaturarchive, denn dort konnte man hoffen, die Vorarbeiten, Skizzen, Entwürfe, Überarbeitungen, Materialien des Autors, der Autorin zu finden und, genauso spannend, auch das Liegengelassene und Verworfene. Aus Frankreich kam dann in den 1970er Jahren ein weiterer wichtiger Impuls: Die ‚critique génétique‘ fragte nicht mehr nach dem Text und seinem Werden, sondern nach dem literarischen Schreiben selbst (Grésillon, 1999). Wie schreibt ein Autor, eine Autorin? Es ging nun um die hochkomplexen und höchst individuellen Abläufe des Schreibprozesses selbst. Und um Fragen wie: Was ist künstlerische Kreativität? Was sind die Gelingensbedingungen literarischen Schreibens? Wie generiert sich eine für die Autorin, den Autor spezifische Poetologie? Die Impulse aus der deutschsprachigen ‚Textgenese‘ und der ‚critique génétique‘ fließen in der aktuellen Schreibprozessforschung zusammen (Stingelin, 2004; Zanetti, 2012). Sie ist das Querschnittsthema am Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der Universität Klagenfurt, das ich seit Oktober 2015 leite (Universität Klagenfurt, online). Ich habe mich sehr über die Einladung des Klagenfurter SchreibCenters zur Tagung Schreibwissenschaften – eine neue Disziplin? Diskursübergreifende Perspektiven gefreut – denn so können wir mögliche Schnittstellen eruieren. Eine ist ganz klar: Es ist das ‚Schreiben‘ als basale Kultur- und Anthropotechnik – ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem sich Ausdifferenzierungen finden lassen wie die des literarischen Schreibens, auf das sich die noch sehr junge Schreibprozessforschung konzentriert. Im Folgenden möchte ich auf drei Konzepte fokussieren, die ich zwar an Beispielen literarischen Schreibens erläutern werde, die aber auf jede Art des Schreibens übertragbar und damit auch für die Schreibwissenschaft von Interesse sind. Es handelt sich um die ‚Schreibszene‘, ‚Überlappungszone‘ und die ‚Schreib-Szene‘.
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DIE ‚SCHREIBSZENE‘
Die ‚Schreibszene‘ geht auf Rüdiger Campe zurück (Campe, 1991; vgl. Stingelin 2004). Er bezeichnet damit die konkrete Schreibsituation, wie wir sie alle kennen. Doch Campe macht auch klar, dass wir zum Schreiben nicht nur das Wissen brauchen, wie wir mit Sprache – Vokabular, Grammatik und Orthographie – umgehen müssen, damit verständliche Sätze entstehen. Vielmehr bedürfe Schreiben bestimmter medi-
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aler und materieller Bedingungen. Zur ‚Sprachlichkeit‘ des Schreibens träten daher noch zwei weitere Elemente hinzu: ‚Körperlichkeit‘ und ‚Instrumentalität‘. Um unsere sprachlich formulierten Gedanken konkret festhalten zu können, brauchen wir Schreibinstrumente und Schreibmaterialien. Sie sind abhängig von der jeweiligen medientechnischen Entwicklung seit der Erfindung der Schrift. Dies führte vom Holzkeil zum Tablet, von der Tontafel zur digitalen Datei. Jedes dieser Instrumente und Materialien setzt spezifische, je andere Kenntnisse und Fertigkeiten, Gesten und Körperhaltungen voraus. Hier verbindet sich die ‚Instrumentalität‘ des Schreibens mit seiner ‚Körperlichkeit‘. Ich habe Campes Ansatz ergänzt, denn nicht zuletzt vermittelt bereits der Begriff ‚Schreibszene‘, dass Schreiben immer ein dynamisches Handeln und eine Performance vor Publikum ist (Bosse, 2019, S. 294). Das Publikum dieser Performance sind zunächst die Autorin und der Autor selbst, die während des Schreibens Leserin und Leser ihrer eigenen Texte sind. Später sind es die Leser und Leserinnen der Bücher. Schreiben ist also immer theatral, eine Performance, die sich selbst inszeniert. Und nicht zuletzt ist Schreiben als Performance immer auch ein In-Szene-Setzen seiner Gelingensbedingungen. Aus diesen Gründen ergänze ich Campes ‚Sprachlichkeit‘, ‚Körperlichkeit‘ und ‚Instrumentalität‘ um die ‚Theatralität‘ des Schreibens. Hinter diesen nunmehr vier grundlegenden Elementen des Schreibens stehen wissenschaftsgeschichtlich vier entscheidende ‚turns‘. Hinter der ‚Sprachlichkeit‘ steht der ‚linguistic turn‘, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Philosophie und dann in fast allen Geistes- und Sozialwissenschaften zu einer sprachkritischen und sprachanalytischen Fokussierung führte und damit zu der Erkenntnis, dass die menschlichen Sprachen mitnichten ‚verlässliche‘ Welterfassungssysteme bieten (vgl. Rorty, 1967). Als Ergänzung dazu schuf der ‚medial turn‘ seit den 1960er Jahren ein Bewusstsein dafür, dass jegliche menschliche Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Kommunikationsmöglichkeit nicht nur sprachlich bedingt, sondern zugleich unausweichlich medial geprägt ist (vgl. McLuhan, 1964). Sprache fungiert dabei als audio-visuelles Archimedium, das seit je an den menschlichen Körper gebunden ist (vgl. Jäger, 2001, 2002) – und sie ist das Material, aus dem Literatur entsteht. Daher verband sich mit dem ‚medial turn‘ seit den 1980er Jahren der ‚material turn‘, so dass sich ‚Körperlichkeit‘ und ‚Instrumentalität‘ verschränkten (vgl. Kittler, 1985; Gumbrecht & Pfeiffer, 1988). Die Literatur- und Kulturwissenschaften begannen, sich für die konkrete Materialität insbesondere ästhetischer Wahrnehmung, Erkenntnis und Kommunikation zu interessieren und danach zu fragen, wie Wissen und Fertigkeiten des Menschen in kulturell geschaffenen Objekten wirken. Zu diesen Objekten gehören alle Textzeugen von – literarischen – Schreibprozessen, wie sie die ‚critique génétique‘ seit Ende der 1960er Jahre untersucht (vgl. Grésillon, 1999). Schreibprozesse beruhen auf dem bewussten Einsatz einer techné, einer erlernten und erprobten Kunstfertigkeit, in der ‚Körperlichkeit‘ und ‚Instrumentalität‘ mit der ‚Sprach-
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Abb. 1: Schreibszene nach R. Campe und A. Bosse.
lichkeit‘ zusammenfließen: der des Schreibens. Der ‚performative turn‘ wiederum richtet den Fokus auf menschliches Handeln, auf Kultur, auf Sprache/Sprechen und natürlich auch auf Schreiben als spezifische Praktiken – und zwar vor Publikum (vgl. Wirth, 2002). Sie sind genuin theatral. Damit Schreiben gelingt, müssen Sprachlichkeit, Körperlichkeit, Instrumentalität und Theatralität ineinandergreifen. Dies gilt umso mehr für literarisches Schreiben, das weitaus komplexer ist als das alltägliche Schreiben. Wenn Autorinnen und Autoren ins Ungesagte vordringen, fiktive Welten erfinden und sprachlich einzigartig formen wollen, brauchen sie umso mehr eine wohlinszenierte Schreibszene mit spezifischen Gelingensbedingungen. Dies ist überhaupt Voraussetzung ihrer Autorwerdung. Und es ist Voraussetzung dafür, auch über einen längeren Zeitraum Autorin, Autor sein zu können – schreiben zu können. Schauen wir uns drei Beispiele an. Florjan Lipuš, Kärntner slowenischer Autor und Träger des Großen Österreichischen Staatpreises für Literatur 2018, ist ein äußerst minutiös arbeitender Autor. Der besonders harte Bleistift ist notwendige Gelingensbedingung seines literarischen Schreibens: „Ich schreibe mit Bleistift, soweit ich mich zurückerinnern kann, Literarisches nur mit dem Bleistift, sonstiges mit allerlei Schreibbarem. Und ich schrei-
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Abb. 2: Florjan Lipuš – Schachtel mit Bleistiftstummeln. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv: 164_Bestand Lipuš.
be bis zum letzten Schriftzug der Mine.“ (Waldner-Petutschnig, 2018, S.70) Dass er die Bleistifte zu winzigen Stummeln herunterschreibt und dass er als Schreibmaterial Schmierblätter, ja die Rückseiten von Postwurfsendungen benutzt, bezeugt eine außergewöhnliche Sparsamkeit, die aus der entsagungsvollen Kindheit herrührt. Lipuš’ Schrift ist sehr klein, aber gut leserlich. Seine Schreibhaltung ist leicht gebückt. Textpassagen, die er in typographische Reinschrift überträgt, versieht er mit einer nur bei ihm beobachtbaren Streichung, einem Schleier mit weichem Bleistift. Dieser Schleier eliminiert den Text nicht, sondern lässt ihn leserlich. Dazu passt, dass Lipuš die Manuskripte sorgfältig datiert und aufhebt. Es könnte ja sein, dass der eine oder andere Satz noch einmal gebraucht wird … Das passiert übrigens nicht, aber er braucht dies als offene Möglichkeit und als Selbstvergewisserung. Erst in dieser, in allen Details wohlinszenierten Schreibszene hat Florjan Lipuš seine und nur seine Schreibszene und damit die Gelingensbedingungen seines Schreibens gefunden.10 10 Am Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv betreue ich aktuell Dominik Srienc, dessen Dissertation auf Florjan Lipuš’ Schreiben fokussiert: Im „Wörterholz“. Zum Gestus literarischen Schreibens bei Florjan Lipuš (https://www.aau.at/musil/literaturforschung/ schreibprozessforschung/#diss-srienc, Zugriff am 31.01.2020).
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Abb. 3: Florjan Lipuš – Manuskript. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv: 164_Bestand Lipuš.
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Abb. 4: Werner Kofler – Typoskript mit handschriftlichen Ergänzungen. Robert-MusilInstitut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv: Bestand Haderlap II-1.
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Werner Kofler hingegen, fulminanter Wortkünstler und -berserker in der Nachfolge Thomas Bernhards, brauchte eine deutlich anders inszenierte Schreibszene zum Gelingen seines Schreibens: Er schrieb fast ausschließlich an der Schreibmaschine, auf der er wie besessen herumhackte: „Mehrere Schreibmaschinen verschiedenen Kalibers“ habe er zur Hand, zur Waffe stilisierte Instrumente der „Wirklichkeitsvernichtung“ und „Verbrechensbekämpfung“ (Kofler, 1988, S. 125). Mit dieser ‚Waffe‘ hämmerte Kofler seine Texte. Mit der Hand schrieb er nur vereinzelte Notizen und punktuelle Überarbeitungen. Bevorzugtes Handschreibinstrument war der heute seltene Tintenbleistift, der so weich wie ein Bleistift ist und sich daher für das schnelle, spontane Schreiben eignet. Anders als der Bleistift aber ist er nicht radier- und damit auch nicht eliminierbar: Das Bleibende als Gelingensbedingung und Selbstvergewisserung.11 Josef Winkler, Suhrkamp-Autor und Büchner-Preisträger, beginnt sein Schreiben mit handschriftlichen Aufzeichnungen in blauer Tinte, mit der aus der Schule übernommenen Füllfeder und dem A6-Notizbuch als Schreibmaterial. Beides wird zum Fetisch, zur absoluten Gelingensbedingungen: „Meine Füllfeder, mein Tagebuch; meine steten Begleiter. […] Sie helfen mir, meine Gedanken zu verwirklichen.“ (Winkler, 1974) Winkler schreibt nicht nur in ein Buch, er schreibt immer ein Buch. Dieses Phantasma ist sein Antrieb und darin eine weitere, absolute Gelingensbedingung. Die erste Phase des Schreibens, ihre charakteristische Instrumentalität und Körperlichkeit (Flanieren, Beobachten, erste sofortige Notate) sowie das antreibende Phantasma, ein Buch zu schreiben, behält Winkler bis heute bei – seit über 40 Jahren. Dies ist stets seine erste, wohlinszenierte Schreibszene. Ihr folgt eine zweite: Seine Notizbuchnotate tippt Winkler ab – erst mit mechanischer, später mit elektrischer Schreibmaschine und seit den 2000er Jahren am Laptop. Im Gegensatz zur ersten Schreibszene verändert sich diese zweite also in ihrer Instrumentalität. Während z.B. ein Werner Kofler radikal seinen Schreibmaschinen verbunden blieb, gehört Winkler zu den Autoren und Autorinnen, die ihr Schreiben und dessen Gelingensbedingungen an die mediale Entwicklung der Schreibinstrumente anpassen. Was aber auch bei ihm über die vielen Jahrzehnte und unabhängig vom Instrument gleichbleibt: Abtippen, tippen, abtippen, tippen, manisch-exzessiv. Grundlegend ist: Das Abtippen aus dem privaten Notizbuch ist selbst schon die Entscheidung, einen literarischen, später als Buch zu publizierenden Text zu schaffen – und damit eine Gelingensbedingung eines nun dezidiert literarischen Schreibens. 11 Am Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv läuft aktuell der zweite Teil eines FWF-Projekts zu Werner Kofler (https://www.aau.at/musil/literaturforschung/kofler/, Zugriff am 31.01.2020).
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Literarisches Schreiben und damit literarische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie im höchsten Maße mehrdeutig, autoreferentiell und autoreflexiv sind. Hier kommt die ‚Schreib-Szene‘ ins Spiel.
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SCHREIB-SZENE UND ÜBERLAPPUNGSZONE
Von der konkreten ‚Schreibszene‘, dem materialen Akt des Schreibens, unterscheidet Rüdiger Campe die ‚Schreib-Szene‘ (Campe, 2005, S. 120). Sie entsteht dadurch, dass der Autor, die Autorin das Schreiben selbst reflektiert, thematisiert, problematisiert. Schreib-Szenen finden wir im gedruckten, publizierten Buch. Dort heben Autoren und Autorinnen ihr Schreiben gleichsam auf eine Bühne, auf der es theatral, szenisch dargestellt wird. Dort treten Schreib-Szenen als inszenatorische Selbstdarstellungen wie im Theater vor ein Publikum – vor die Leserinnen und Leser. Die Theatralität und Inszeniertheit des Schreibens ist in der Schreib-Szene des publizierten Buchs also besonders evident. Doch haben wir dort wenig bis keine Indizien, die es uns erlauben, den Grad des Inszenatorischen zu ermessen. Es sei denn, wir suchen die dem publizierten Buch vorgängigen Textzeugen im Literaturarchiv auf. Dort treffen wir auf etwas, das ich die Überlappungszone zwischen Schreibszene und Schreib-Szene genannt habe (Bosse, 2019, 297 f.). Denn bereits während des Schreibens reflektieren, thematisieren, problematisieren Autoren und Autorinnen ihr Schreiben. Während des Schreibens schreiben sie über das Schreiben – in der Überlappungszone. Hier findet während des Schreibakts eine Überlappung von Schreibszene und Schreib-Szene statt. So aber nie im gedruckten, publizierten Buch. Die Schreib-Szene im Buch ist Inszenierung, öffentliche Bühne des Autors, der Autorin, weil fremdadressiert an die Leser und Leserinnen. Während des Schreibens aber, in der Überlappungszone, sind die Reflexionen zum Schreiben und das Schreiben über das Schreiben selbstadressiert – und dementsprechend anders inszeniert … Diese selbstadressierten Textpassagen des Autors, der Autorin haben sie selbst als Publikum, verbleiben in der Regel in der Überlappungszone und ‚schaffen‘ es nicht ins Buch. Sie bilden einen autozentrierten Echoraum des Schreibens. Er bleibt dem Buchpublikum zwangsläufig verschlossen. Einblicke in diesen Echoraum und in das Schreiben eines Autors, einer Autorin erlangen nur ForscherInnen, die Zugang zu den Textzeugen im Archiv haben. An ihnen (wie mir) liegt es, diese Einblicke einem größeren Publikum zu vermitteln. Das erläutere ich kurz am Beispiel Josef Winklers. Was Winkler aus den Notizbüchern abtippt, sind Beobachtungen oder Gedanken in Textsplittern. Er weiß um ihren Entwurfscharakter und gibt sich daher selbst Schreibanweisungen wie diese: „Noch einzelne Teile auszuarbeiten!“ (Winkler
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Abb. 5: Josef Winkler – Doppelseite aus dem Notizbuch 15 von April 1977. Robert-MusilInstitut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv: 173_Bestand Winkler I.
T47_MENSCH) Dies ist eine typische Schreibanweisung des Autors, die er in der Überlappungszone an sich selbst adressiert. Er löst sie im Schreibprozess ein oder auch nicht oder modifiziert sie – in jedem Falle erschöpft sie sich darin, verbleibt also immer in der Überlappungszone und ‚schafft‘ es nie ins Buch. Winkler hat tatsächlich hunderte von „einzelnen Teilen“ überarbeitet und erneut abgetippt. Wieder und wieder und wieder. Es gibt allerdings auch selbstadressierte, dem Schreiben gewidmete Textpassagen, die es aus der Überlappungszone bis ins Buch ‚schaffen‘ und dort als SchreibSzene vor das Lesepublikum treten. Ihre Genese, ihre Modifikationen zu rekonstruieren und darzustellen, ist insofern besonders aufschlussreich, weil sich so herausarbeiten lässt, wie sich des Autors (Selbst-)Inszenierung verändert, je mehr sich sein Schreibprojekt der Publikation vor Publikum nähert. Im Notizbuch 15 vom April 1977 reflektiert der 24-jährige Winkler während des Schreibens auf die eigene Sprachmacht als Gelingensbedingung seines Schreibens: „Oft fürchte ich mich vor der eigenen Sprache, die zu bekämpfen / beschimpfen Wortlosigkeit genügt.“ (Winkler, 1977) Wortlosigkeit wird als Kampfmittel gegen die Furcht vor der eigenen Sprache vorgestellt. Doch der Logik dieses Satzes zu folgen, hieße zu verstummen, ja in letzter Konsequenz das Schreiben aufzugeben! Es ist daher überaus bedeutsam,
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wie Winkler diesen Satz im nächsten Schritt, beim Abtippen, verändert. „Oft fürchte ich mich vor der eigenen Sprache, die zu bekämpfen selbst Wortlosigkeit nicht genügt.“ (Winkler T55_MENSCH) Durch das Einfügen der Negation „nicht“ und ihrer Verstärkung durch „selbst“ wird der ursprüngliche Satz umgekehrt: Der Wortlosigkeit, dem Verstummen, wird jetzt gerade abgesprochen, ein Mittel gegen die Furcht vor der eigenen Sprache zu sein. Dieser Satz lässt nur noch eine andere Option zu, wenn auch implizit: Die Furcht ist durch Weitersprechen, Weiterschreiben zu bekämpfen. Dieser Satz wird zur Selbstermächtigung des Sprechenden, des Schreibenden. Der Kampf mit der Sprache als Voraussetzung und Gelingensbedingung seines Schreibens wird bei Winkler zum stehenden Topos – bis heute. Dieser Satz erhält sich bis in den Druck seines ersten Buchs, Menschenkind, und fungiert dort als Schreib-Szene. Nur das verstärkende „selbst“ fällt weg. Als der Roman Menschenkind 1979 bei Suhrkamp erschien, zog er sofort großes Lob auf sich. Doch wunderte man sich darüber, dass einige Passagen kursiv gedruckt sind und dass der Roman so wenig „Roman“ ist, nämlich eine assoziative CollageStruktur hat. Ich kann darauf eine Antwort geben – dank des Vorlasses, der im Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv liegt. Menschenkind ist aus immer wieder bearbeiteten Textsplittern entstanden, die immer wieder neu collagiert wurden. Und der Kursivdruck? Nun, in einem Typoskript hat sich Winkler eine äußerst bedeutsame Schreibanweisung gegeben: „regiesätze“ (Winkler T58_MENSCH). Sie gehört zu den selbstadressierten Schreibanweisungen, die im Schreiben umgesetzt werden und deswegen in der Überlappungszone verbleiben. Dieses eine Wort hat im Schreibprozess zu Menschenkind eine enorme Wirkung. Winkler hat nämlich alle Textsplitter nachträglich theatralisiert, indem er sie durch „regiesätze“ inszenierte. Und diese hat er schon beim Tippen – wie bei Regieanweisungen in Theatertexten – kursiv getippt. Diese „regiesätze“ befeuern beim Lesen unsere Imagination dergestalt, dass sich in unserem ‚Kopfkino‘ jedes Mal eine kleine Bühne aufbaut: Überall auf seinem Körper sieht man Fußspuren, Ferse neben Ferse, Ferse neben Vertiefung, Zehe neben Zehe, Fuß über Fuß. Vor seinen Augen entfaltet sich ein Schirm aus Pfauenfedern. Er kauert mit gekreuzten Beinen auf seinem wirren Kopfhaar. Mit einer Geste schlägt er langsam den Takt. Eine Kaffeeschale sitzt auf dem Tischrand, baumelt mit dem Löffel über der Kante, das gierige, silberne Besteck zeigt spöttisch auf die beiden Liebenden. (Winkler, 1979, 32 f.)
Die Szenerie ist bereitet, es folgt direkt der Auftritt des Textsplitters „Oft fürchte ich mich vor der eigenen Sprache, die zu bekämpfen Wortlosigkeit nicht genügt.“ (ebd., S. 33) Bisher war dieser Textsplitter autobiographisch mit dem Autor-Ich
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verklammert, hier nun wird er durch die vorgeschalteten „regiesätze“ aus dieser Verklammerung gelöst: Das „ich“, das hier spricht, ist der zuvor eingeführt „er“, ein Leidensmann, dessen gemarterter Körper „überall […] Fußspuren“ trägt. Theatrale Inszenierungen wie diese hat Josef Winkler mit aberhunderten von Sätzen gemacht – bis daraus sein erster Roman wurde. All das können wir im Druck nicht erkennen – obwohl dieses Prinzip für das ganze Buch Menschenkind gilt. Doch wer wie wir den Weg dieses Beispielsatzes zurückverfolgt in den Textzeugen im Archiv, kann sehr konkret erkennen, wie sich die Inszenierung und damit die Theatralität des Schreibens je nach Publikum ändern – nämlich sobald die Selbst adressierung des Autors in der Überlappungszone übergeht zur Fremdadressierung an die Leserin, den Leser in der Schreib-Szene im Buch. Dies ist sind nur wenige kleine Einblicke in das, was wir am Musil-Institut/ Kärntner Literaturarchiv der Universität Klagenfurt als Schreibprozessforschung betreiben.12
4 SCHREIBWISSENSCHAFT Was folgt daraus für die Schreibwissenschaft? Zunächst einmal sicher, dass die gemeinsame Schnittmenge mit der hier skizzierten Schreibprozessforschung in den Literaturwissenschaften zu nutzen wäre. Konkret lassen sich die hier dargelegten Beobachtungen zu Schreibszene, Überlappungszone, Schreib-Szene und Gelingensbedingungen aus dem Bereich des literarischen Schreibens in den Bereich des allgemeinen Schreibens übertragen und damit für die Schreibwissenschaft fruchtbar machen. Wer immer seine/ihre Schreibszene nicht gefunden hat und damit die basalen Gelingensbedingungen, wird nicht schreiben können. Wer über sein/ihr Schreiben während des Schreibens selbstadressiert reflektiert, es thematisiert, problematisiert, bewegt sich in der Überlappungszone, im Echoraum eigenen Schreibens, in dem man sich sehr wohl vor sich selbst inszenieren kann. Wer immer dies aber vor Publikum, fremdadressiert, betreibt, bewegt sich in der Schreib-Szene und vollzieht gerade aufgrund der Fremdadressierung eine Selbstmodellierung und Selbstinszenierung, die Pierre Bourdieu „Habitus“ nannte und Jérôme Meizoz zur „posture“ ausformulierte (Bourdieu, 1999, 2007; Meizoz, 2007). 12 Aktuell betreue ich am Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv auch die Dissertation Christina Stephanie Gliniks: „Nur wenn ich schreibe, lebe ich“. Schreibprozesse und Schreibszene/n im Frühwerk Josef Winklers (https://www.aau.at/musil/literaturforschung/ schreibprozessforschung/#diss-glinik, Zugriff 31.01.2020).
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Abschließend sei noch auf die beiden allen Beiträgern und Beiträgerinnen gestellten Fragen eingegangen: 1. Welche theoretischen und methodischen Diskurse beeinflussen die Schreibwissenschaft in Ihrer Disziplin und wie unterscheiden sie sich von den Herangehensweisen anderer Disziplinen? Die theoretischen und methodischen Diskurse habe ich zu Beginn und am Ende dieses Beitrags erläutert. Dies betrifft einerseits ihren breiteren Kontext mit den genannten ‚turns‘, mit der Umorientierung vom ‚Produkt‘ Text auf den ‚Prozess‘ der Textwerdung sowie mit dem Ausblick auf die literatursoziologische Kontextualisierung durch Bourdieus „Habitus“ und Meizoz‘ „posture“. Dies betrifft andererseits meine Fokussierung auf die literaturwissenschaftliche Schreibprozessforschung, die sich aus der ‚critique génétique‘ im französischsprachigen Raum und aus textgenetischen Editionen im deutschsprachigen Raum entwickelte und dabei unter anderem methodologische Konzepte wie die ‚Schreibszene‘, die Überlappungszone und die ‚SchreibSzene‘ ausformulierte. Damit geht die Emanzipation von der (traditionellen) Editionswissenschaft einher – doch bleibt allen gemeinsam die grundlegende Arbeit an den literarischen Vor- und Nachlässen in Archiven, der Blick in die ‚Werkstatt‘ der Autorin, des Autors. 2. Was braucht es, um eine „Schreibwissenschaft“ in der Hochschullandschaft zu verankern und welche Bedeutung hätte sie für die Wissenschaft allgemein und für die Gesellschaft? Aus Sicht der Literaturwissenschaft gibt es zwei Richtungen – das Creative Writing und die literarische Schreibprozessforschung – die idealerweise miteinander verbunden würden und der Verankerung einer allgemeinen Schreibwissenschaft an den Hochschulen und Universitäten zugutekämen. Der gemeinsame Nenner ist das Schreiben als Performance und als Prozess, bei dem dieser mehr als ein ‚Produkt‘ im Fokus des Interesses steht. Nicht zuletzt ist Schreiben eine basale Kultur- und Anthropotechnik, die sich über die Jahrtausende ausdifferenziert hat. Ohne sie funktionieren weder Wissenschaft noch Gesellschaft. Dass sich beide ihren Funktionsbedingungen stellen, diese reflektieren und mehr denn je bewusst einsetzen – dazu kann die Schreibwissenschaft wesentlich beitragen. Literatur Bosse, A., & Fanta, W. (2019). Vorwort. Wozu Textgenese in der digitalen Edition? Fragestellungen und Lösungsmodelle. In A. Bosse & W. Fanta (Hg.), Textgenese in der digitalen Edition (=Beihefte zu editio 45) (S. XII–X). Berlin u.a.: de Gruyter Bosse, A. (2019). „Die Wortmaschine … wird jetzt in Betrieb genommen“. Schreibszene, Überlappungszone und Schreib-Szene bei Josef Winkler. In A. Bosse & W. Fanta (Hg.),
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Anke Bosse
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DEUTSCHDIDAKTISCHE FORSCHUNGSFELDER ALS BEZUGSPUNKTE IM HANDLUNGSRAUM DER DEUTSCHSPRACHIGEN SCHREIBWISSENSCHAFT Sandra Reitbrecht
ABSTRACT Der vorliegende Beitrag thematisiert nach einer vorrangig synchronen Skizzierung der Deutschdidaktik als Bezugsdisziplin für die deutschsprachige Schreibwissenschaft zwei deutschdidaktische Forschungsfelder näher. Es sind dies rezente Forschungsbestrebungen zur Wirksamkeit sogenannter sprachlich profilierter Schreibaufgaben sowie der Lern- und Forschungsgegenstand des wissenschaftspropädeutischen Schreibens in der Sekundarstufe II. In der Auseinandersetzung mit diesen beiden ausgewählten Forschungsfeldern geht der Artikel der Frage nach, welchen Beitrag sie als Bezugspunkte für den sich entwickelnden Handlungsraum der deutschsprachigen Schreibwissenschaft leisten können. Beantwortet wird diese Fragestellung sowohl hinsichtlich thematisch-inhaltlicher als auch forschungsmethodologischer Aspekte. Das abschließende Fazit gibt auf Basis dieser Ausführungen eine Antwort auf die von den Herausgeberinnen gestellte Frage nach der Bedeutung der deutschsprachigen Schreibwissenschaft für die Wissenschaft allgemein sowie die Gesellschaft.
1 EINLEITUNG „Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. […] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.“ (De Certeau, 1988, S. 218)
De Certeaus Verständnis von Raum und Ort folgend lese ich das Programm der Klagenfurter Tagung Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin? Diskursübergreifende Perspektiven gemeinsam mit dem vorliegenden Sammelband wie folgt: Der Austausch von Akteur*innen aus unterschiedlichen Bezugsdisziplinen und Hand-
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Sandra Reitbrecht
lungsfeldern ermöglicht das Festlegen von Bezugspunkten, das Ziehen von Bezugslinien sowie das Setzen von Grenzen in einem Koordinatensystem der deutschsprachigen Schreibwissenschaft, innerhalb, zwischen beziehungsweise längs derer interdisziplinäres schreibwissenschaftliches Forschen und Handeln stattfinden kann, sodass die deutschsprachige Schreibwissenschaft zum gelebten und – unter Berücksichtigung der zeitlichen Dimension – sich wandelnden Handlungsraum wird. Der vorliegende Artikel möchte dazu einen Beitrag leisten und nimmt in diesem Zusammenhang eine deutschdidaktische Perspektive ein. Er nimmt zunächst eine knappe, vorrangig synchrone Rahmung der Deutschdidaktik als Bezugsdisziplin für die weiteren Ausführungen des Artikels vor (Abschnitt 2). Anschließend skizziert er vor diesem Hintergrund im Abschnitt 3 zwei ausgewählte auf das Schreiben bezogene Forschungsfelder der Deutschdidaktik (Wirksamkeit profilierter Schreibaufgaben und wissenschaftspropädeutisches Schreiben als Lerngegenstand der Sekundarstufe II) und geht in weiterer Folge der Frage nach, welchen Beitrag diese als Bezugspunkte für die deutschsprachige Schreibwissenschaft leisten können (Abschnitt 4). Dabei werden nicht nur thematisch-inhaltliche Räume für zukünftiges interdisziplinär-schreibwissenschaftliches Handeln und Forschen anhand der zwei Beispiele antizipiert, sondern auch forschungsmethodische Aspekte hinsichtlich der oben genannten Fragestellung herausgearbeitet. Das abschließende Fazit (Abschnitt 5) resümiert die Ergebnisse mit Blick auf die von Seiten der Herausgeberinnen gestellte Frage, welche Bedeutung die Schreibwissenschaft für die Wissenschaft allgemein und für die Gesellschaft habe.1
2
DEUTSCHDIDAKTIK ALS BEZUGSDISZIPLIN
Die Deutschdidaktik als zentrale Bezugsdisziplin dieses Beitrags ist bei einer vor allem synchronen Betrachtung als eine vergleichsweise junge, aber in der Hochschullandschaft der deutschsprachigen Länder etablierte Wissenschaftsdisziplin zu verstehen (vgl. Ulrich, 2010, S. IX). Bis dato verfügt sie über mehrere Publikationsorgane, z.B. die Zeitschriften ide. informationen zur deutschdidaktik, Didaktik Deutsch oder Praxis Deutsch, und Verbände wie das forum deutschdidaktik (fdd) in der Schweiz, das Österreichische Forum Deutschdidaktik (ÖFDD) in Österreich oder das Symposion Deutschdidaktik (SDD) in Deutschland, die mit der Organi1
Mein besonderer Dank gilt den beiden Gutachter*innen, die im Zuge der Begutachtung wertvolle Anmerkungen zu Konzeption und inhaltlicher Gestaltung des vorliegenden Beitrags gemacht haben.
Deutschdidaktische Forschungsfelder als Bezugspunkte
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sation von Tagungen und weiteren Aktivitäten einen zentralen Beitrag für das Fach leisten. In der hochschulischen Lehre hat sie den zentralen Auftrag, Lehrende für den Unterricht im Fach Deutsch in den verschiedenen Schularten und -stufen fachdidaktisch auszubilden (bzw. auch fort- und weiterzubilden), und differenziert sich dabei in unterschiedliche Themen-, Forschungs- und Handlungsfelder2 aus. In der Forschung verfolgt sie Fragestellungen zum didaktischen Dreieck (Lerner*innen – Lehrer*innen – Lerngegenstand) mit dem Ziel, das Lehren und Lernen in den für das Fach Deutsch relevanten Lerngegenständen zu verstehen und davon ausgehend den Deutschunterricht weiterzuentwickeln. Neben einer (intensivierten) empirischen Ausrichtung (vgl. die drei Bände zur Empirischen Forschung in der Deutschdidaktik; Boelmann, 2016, 2018, 2019) arbeitet die Deutschdidaktik auch interdisziplinär-rezipierend3 und theoretisch-konzeptionell4. Zudem steht sie als angewandte Wissenschaftsdisziplin in Interdependenznetzen einerseits zur schulischen Praxis und zu bildungspolitischen Entwicklungen sowie andererseits zur „Dachdisziplin“ Germanistik. Innerhalb dieser ist sie in Hochschulstrukturen zumeist verortet, wobei den weiteren germanistischen Teilbereichen (zumeist Literatur- und Sprachwissenschaft, je nach institutioneller Verankerung aber auch Medienwissenschaft, u.a.) in der Lehrer*innenbildung für das Fach Deutsch die Rolle der Vermittlung fachlicher/fachwissenschaftlicher Inhalte zukommt. Diesem komplexen Netz an Interdependenzen begegnet die Deutschdidaktik mit einer selbstreflexiven Haltung. So zeigt Esterl (2020) beispielsweise, wie das (Selbst-) Verständnis einer „praktischen Wissenschaft“ (Wintersteiner, 2007) die Zeitschrift ide. informationen zur deutschdidaktik in ihrer Konzeption entscheidend prägt. In der Zeitschrift Didaktik Deutsch wurden in den letzten Jahren sowohl Debatten zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Deutschdidaktik (Pieper, Pohl, Wieser, & Kern, 2018a, 2018b) als auch zum Verhältnis von Germanistik und dem Schulfach Deutsch (Pieper, Pohl, Wieser, & Kern, 2019a, 2019b) geführt. 2 3
4
Vgl. für einen Überblick bspw. die elf Bände der Reihe Deutschunterricht in Theorie und Praxis (Ulrich, 2010, S. XI–XII) oder die Sektionenstruktur des Symposiums Deutschdidaktik (z.B. SDD Tagung, online). Ein aktuelles und zugleich schreibdidaktisch relevantes Feld als nur ein Beispiel dafür ist die Aufarbeitung von Erkenntnissen aus anderen Sprachdidaktiken zur Entwicklung hierarchiehoher Schreibprozesse und Schreibstrategien und zur Wirksamkeit entsprechender Vermittlungskonzepte in deutschdidaktischen Fach- und Handbüchern (vgl. z.B. Lindauer & Philipp, 2017; Philipp, 2014; Sturm, 2017). Vgl. dazu bspw. für beide Beispiele in Abschnitt 3 zentralen Schritt der Konzeption von Schreibaufgaben, wobei diese angesichts der aktuellen bildungspolitischen Forderung nach Evidenzbasierung vermehrt auch einer empirischen Wirksamkeitsprüfung unterzogen werden (vgl. Steinhoff, Grabowski, & Becker-Mrotzek, 2017, S. 10 f.).
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Konkret für die deutschdidaktische Schreibdidaktik lässt sich der fachliche Rahmen vergleichbar bestimmen. Auch hier stehen Fragen des Lehrens und Lernens, konkret eben des Schreibenlehrens und Schreibenlernens, im Zentrum des Interesses (Steinhoff, Grabowski, & Becker-Mrotzek, 2017, S. 9). Dabei zeigt sich nach dem sogenannten „PISA-Schock“ und im Kontext der Standardisierungsmaßnahmen in den Schulsystemen der deutschsprachigen Länder ein deutliches Interesse am Schreiben, sodass es aktuell einen viel beachteten und beforschten Lerngegenstand innerhalb der Deutschdidaktik darstellt. Von dieser Intensität und Breite der Auseinandersetzungen mit dem Schreiben in der Disziplin zeugen neben Themenheften der oben genannten Zeitschriften, Monografien und Sammelbänden die Beiträge des Handbuches Schriftlicher Sprachgebrauch. Texte verfassen (Feilke & Pohl, 2014). Das Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik (Becker-Mrotzek, Grabowski, & Steinhoff, 2017) liefert zudem eine aktuelle Bestandsaufnahme mit Fokus auf die empirische Ausrichtung der Schreibdidaktik.5 Die Herausgeber verstehen diese im deutschsprachigen Raum als eine junge Interdisziplin, die sich dem Schreibenlernen und Schreibenlehren widmet. Dabei nimmt sie Perspektiven der Psychologie, Linguistik und Sprachdidaktik6 sowie weiterer Disziplinen ein. Wissenschaftshistorisch schließt sie u.a. an Theorien und Methoden der Schriftlichkeits- und texttheoretischen Forschung, der Spracherwerbs- und entwicklungspsychologischen Forschung sowie der psycholinguistischen und sprachpsychologischen Forschung an (Antos, 1989). Wichtige internationale Einflüsse kommen außerdem aus der prozessorientierten Schreibforschung, 5
6
Die im Jahr 2020 bereits zum elften Mal stattfindende dieS – Sommerschule für didaktisch-empirische Schreibforschung ist ein weiterer Beleg für die empirische Auseinandersetzung mit dem Schreiben innerhalb der Disziplin. Siehe zu weiteren Informationen die dieS-Homepage: https://www.uni-giessen.de/fbz/fb05/dies [Zugriff: 14.05.2020]. Nicht explizit erwähnt wird dabei das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, das eigene Forschungsbestrebungen zum Schreiben im schulischen Kontext verfolgt (vgl. z.B. das Handbuch Schreiben in der Zweitsprache Deutsch: Grießhaber, Schmölzer-Eibinger, Roll, & Schramm, 2018). Zudem hat es eine zentrale Vorreiterrolle für die fachdidaktikenübergreifende Auseinandersetzung mit dem Register der Bildungssprache im Sinne durchgängiger Sprachbildung sowie dem Schreiben in fachlichen Lernkontexten eingenommen (vgl. hierzu vor allem die wegweisenden Arbeiten der FörMig-Initiative (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund), z.B. Gogolin & Lange, 2010; weiters Schmölzer-Eibinger & Thürmann, 2015; Budke, Kuckuck, Meyer, Schäbitz, Schlüter, & Weiss, 2015, u.a.). Für den Gegenstand des Schreibens führt diese Entwicklung zu einer verstärkten Berücksichtigung seiner epistemisch-heuristischen Funktion als Medium des Lernens und der Reflexion; vgl. Bräuer (1998) sowie Struger (2016) für entsprechende Auseinandersetzungen innerhalb der Deutschdidaktik.
Deutschdidaktische Forschungsfelder als Bezugspunkte
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die sich in den 1970er und 1980er Jahren in den USA konstituierte. (Steinhoff et al., 2017, S. 9)
Die Forschungslinien der empirischen Schreibdidaktik bündeln sie dabei in fünf Fragenkomplexe, die sich (a) mit der Modellierung und dem Verständnis von Schreibkompetenz und ihren zentralen Komponenten, (b) mit der Entwicklung von Schreibkompetenz unter Berücksichtigung individueller Einflussfaktoren der Lernenden, (c) mit dem Einfluss der Lehrperson und ihrer Kompetenzen sowie der Unterrichtsinteraktion auf die Schreibentwicklung und mit der Wirksamkeit (d) didaktischer Konzepte sowie (e) konkreter Schreibarrangements und Aufgabentypen in der Schreibförderung beschäftigen (Steinhoff et al., 2017, S. 16 f.). Angesichts dieser Bandbreite an Forschungslinien, die sich wiederum weiter ausdifferenzieren lassen, wählt der Beitrag für die folgenden Ausführungen ein exemplarisches Vorgehen. Er bezieht also – um es mit de Certeau zu sagen – nicht den gesamten deutschdidaktischen „Stadtplan“ für die Beantwortung der Forschungsfrage mit ein, sondern zoomt in diesen hinein und wählt zwei Punkte aus, von denen aus interdisziplinäre Handlungsräume ergangen werden können. Die dafür gewählten Forschungsfelder, nämlich die aktuelle Auseinandersetzung mit profilierten Schreibaufgaben zum einen sowie das wissenschaftspropädeutische Schreiben als Lerngegenstand der Sekundarstufe II zum anderen, wurden dabei anhand folgender Kriterien ausgewählt: Es handelt sich in beiden Fällen um Bereiche der Deutschdidaktik, die in den letzten Jahren mehrfach empirisch beforscht wurden beziehungsweise auch weiterhin beforscht werden. Darüber hinaus verknüpfen sie jeweils mehrere theoretische und methodische Diskurse der Auseinandersetzung mit dem Schreiben in der Deutschdidaktik, sodass diese Forschungsbereiche innerhalb der Deutschdidaktik derzeit selbst als raumgewordene Plätze oder Kreuzungspunkte zu verstehen sind, an denen sich zentrale Forschungsinteressen konzentrieren und Diskurslinien kreuzen.7
7
Die Autorin des Beitrags ist sich der Tatsache bewusst, dass durch dieses exemplarische Vorgehen andere aktuell zentrale Forschungslinien (siehe z.B. Christian Weinzierls Ausführungen zur evidenzbasierten Kompetenzmodellierung in diesem Band) und oftmals nur von einzelnen Forscher*innen aufgegriffene Fragestellungen zum Schreiben in der Deutschdidaktik nicht den ihnen angemessenen Raum erhalten. Für den Umfang des vorliegenden Beitrags erschien das Prinzip der Auswahl aber ein zielführend „gangbares“.
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DEUTSCHDIDAKTISCHE FORSCHUNGSFELDER – ZWEI BEISPIELE
Beispiel I: Zur Wirksamkeit profilierter Schreibaufgaben Das erste ausgewählte Beispiel ist in der Forschungslinie zur Wirksamkeit von Aufgabentypen verortet. Es greift damit das Spezifikum schulischen Schreibens auf, dass dies zumeist aufgabenbasiertes inszeniertes Schreiben mit dem vorrangigen Ziel des Schreibenlernens ist. Aufgaben und ihrer Qualität kommt dabei nicht nur bei der (standardisierten) Überprüfung von Kompetenzen zentrale Funktion zu. Die Deutschdidaktik verfolgt darüber hinaus auch gezielt die Frage, welche Rolle sie bei einer entsprechenden Konzeption als Instrument der Schreibförderung spielen können. Bachmann & Becker-Mrotzek (2010) entwickelten in diesem Zusammenhang das Konzept der sogenannten „Aufgaben mit Profil“. Darunter sind situierte und profilierte Schreibaufgaben zu verstehen, die für die Schreibenden folgende Punkte beinhalten: eine identifizierbare Textfunktion bzw. ein kommunikatives Problem inkl. Schreibziel und Adressat*innen, Aneignungsmöglichkeiten für das zum Lösen der Aufgabe notwendige Welt- und Sprachwissen, eine Gelegenheit für das Verfassen des Textes in sozialer Interaktion sowie eine Möglichkeit zur Überprüfung der Wirkung der Texte auf Leserinnen und Leser (Bachmann & Becker-Mrotzek, 2010, S. 195). Schreiben wird im Konzept der profilierten Aufgaben also als kommunikatives Schreiben und kompetenzorientiert, nämlich als das Lösen von Aufgaben im Sinne erfolgreicher Kommunikation, konzeptualisiert. Die Forderungen nach Möglichkeiten zur Interaktion sowie zur Wirkungsüberprüfung berücksichtigen dabei die Zerdehnung der Sprechsituation beim Schreiben (Ehlich, 2007) und beziehen sich auf Prinzipien der prozessorientierten Schreibdidaktik. Studien der letzten Jahre (Anskeit, 2019; Rüßmann, 2018; Wenk, Marx, Rüßmann, & Steinhoff, 2016) griffen dieses Aufgabenkonzept in quantitativ angelegten Wirksamkeitsstudien auf und setzten vor allem bei der Untersuchung der Relevanz des zur Verfügung gestellten sprachlichen Wissens an. Dafür verknüpften sie das Konzept der profilierten Schreibaufgaben mit einem weiteren aktuell intensiv diskutierten Diskursstrang der Deutschdidaktik, nämlich jenem der Textprozeduren und der prozedurenorientierten Didaktik: Textprozeduren stellen historischsozial gewachsene textmusterspezifische Bausteine dar, die zwischen Schreibprozess und Schreibprodukt anzusiedeln sind und aus einem Handlungsschema sowie entsprechenden Prozedurausdrücken bestehen (Feilke, 2014). Diesem Verständnis von Textprozeduren folgend erhielten Schüler*innen in den oben genannten Studien Aufgabenstellungen, die hinsichtlich des Sprachwissens in bis zu vier verschiedenen Graden profiliert waren (sprachlich nicht profiliert, mit Prozedurausdrücken profiliert, mit Schemawissen profiliert bzw. mit
Deutschdidaktische Forschungsfelder als Bezugspunkte
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Prozedurausdrücken und Schemawissen profiliert). Ohne auf die einzelnen Studien näher eingehen zu können, zeigte sich schreibförderliches Potenzial vor allem bei einer Aufgabenprofilierung mit Schemawissen (in Kombination mit Prozedur ausdrücken). Die Ergebnisse der Studie Wenk et al. (2016) deuten zudem darauf hin, dass Schüler*innen mit Erstsprache Türkisch das Schemawissen auch bei der Textproduktion im Türkischen sinnvoll zur Verbesserung der Textqualität einsetzen konnten, obwohl die entsprechende Profilierung ausschließlich in den Aufgabenstellungen für die Zweitsprache Deutsch erfolgte (zu einem detaillierten Vergleich der Untersuchungsgruppen siehe Wenk et al., 2016, S. 170-175). Beispiel II: Wissenschaftspropädeutisches Schreiben als Lerngegenstand der Sekundarstufe II Das zweite gewählte Forschungsfeld, nämlich das wissenschaftspropädeutische Schreiben als Lerngegenstand der Sekundarstufe II, kann nicht losgelöst von bildungspolitischen Veränderungen der letzten Jahre betrachtet werden. Für Österreich ist dies das verpflichtende Verfassen einer vorwissenschaftlichen Arbeit als Säule der Matura (BMBWF, 2012), wobei vergleichbare Arbeiten auch in Deutschland und der Schweiz existieren (vgl. zu einem Überblick und weiterführender Literatur: Niederdorfer, Ebner, & Schmölzer-Eibinger, 2018). In Deutschland erhielt die Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand durch die Einführung der materialgestützten Schreibaufgabe als Aufgabentyp für die allgemeine Hochschulreife durch die Kultusministerkonferenz (KMK, 2014) weitere Impulse. Das wissenschaftspropädeutische Schreiben stellt damit einen Lerngegenstand dar, den es unter Berücksichtigung institutioneller Grenzen zu konturieren gilt und der dabei innerhalb der Deutschdidaktik intensiv (und auch kritisch) verhandelt wird,8 denn „Propädeutik ist nicht als vorgezogene Wissenschaftssozialisation zu verstehen, sie soll vielmehr auf diese Spitzenpraxis vorbereitende (Schreib-)Fähigkeiten ermöglichen“ (Schindler & Fernandez, 2016, S. 66). 8
Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. die Debatte in der Zeitschrift Didaktik Deutsch: Weinhold, Pieper, Pohl, & Wieser, 2017a, 2017b und den Sammelband Feilke, Lehnen, Rezat, & Steinmetz, 2018 zum materialgestützten Schreiben sowie das ide-Heft Vorwissenschaftliche Arbeit (Esterl & Wetschanow, 2014), das OBST-Heft Akademisches Schreiben – Lehren und Lernen (Bräuer & Brinkschulte, 2016) sowie die Ausgabe Zwischen Schule und Hochschule: Akademisches Schreiben der Zeitschrift Schreiben (Schindler & Fischbach, 2015). Ebenso stellen die Ergebnisse von Wetschanow (2018) zu einem Textkorpus bestehend aus 19 vorwissenschaftlichen Arbeiten einen ersten interessanten empirischen Befund zu dem in Österreich implementierten Format dar, sodass die Diskussion um die bildungspolitischen Vorgaben und ihren Mehrwert bzw. ihre Angemessenheit zukünftig auch verstärkt evidenzbasiert geführt werden könnte.
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Eine wichtige konzeptionelle Leistung innerhalb der Deutschdidaktik stellt auch in diesem Zusammenhang die Entwicklung eines Aufgabentyps und einer entsprechenden Textform dar. Es ist dies das Kontroversenreferat, in dem die Positionen zu einem strittigen Thema aus mehreren (zumeist drei) Ausgangstexten referierend darzustellen sind. Es handelt sich damit um ein materialgestütztes Aufgabenformat mit wissenschaftspropädeutischem Anforderungsprofil, das einerseits auf Erkenntnisse zum wissenschaftlichen Schreiben und zu seiner Ontogenese im Hochschulkontext (u.a. Ehlich, 1999; Pohl 2007; Segev-Miller, 2007; Steinhoff, 2007) Bezug nimmt, andererseits aber auch an Lerngegenstände des Deutschunterrichts (z.B. das Argumentieren) anknüpft und dabei Anforderungen des wissenschaftlichen Schreibens didaktisch reduziert und für den schulischen Rahmen angemessen operationalisiert. Verwendung fand das Aufgabenformat bis dato in Untersuchungen, die sich vorrangig der wissenschaftlichen bzw. wissenschaftspropädeutischen Schreib-/Textkompetenz von Schüler*innen (Bushati, Ebner, Niederdorfer, & Schmölzer-Eibinger, 2017; Schüler & Lehnen, 2014; Schüler, 2017) sowie der Wirksamkeit didaktischer Konzepte für ihre Förderung und Anbahnung (Bushati et al., 2017) widmeten. Untersucht wurden in den Studien sowohl Strukturierungs- und Syntheseleistungen als auch die Verwendung von Textprozeduren des diskursiven und argumentierenden Referierens als Teilkompetenzen des wissenschaftlichen Schreibens. Die Studien belegen diesbezüglich, dass es sich um fordernde, aber (bei entsprechender didaktischer Unterstützung) durchaus zielführende Kandidaten für die Wissenschaftspropädeutik auf der Sekundarstufe II handelt. Methodisch arbeiteten die Studien vorrangig mit textanalytischen Verfahren. Die Untersuchungen von Schüler & Lehnen (2014) sowie Schüler (2017) umfassten zudem auch computergenerierte Prozessdaten sowie Schreibgespräche von Schülerinnen und Schülern während des Lösens der Schreibaufgabe.
4
DEUTSCHDIDAKTISCHE FORSCHUNGSFELDER ALS BEZUGSPUNKTE
Betrachtet man die Ausführungen zu den zwei ausgewählten deutschdidaktischen Forschungsfeldern hinsichtlich deren Potenziale als Bezugspunkte für die deutschsprachige Schreibwissenschaft, so lassen sich auf thematisch-inhaltlicher Ebene folgende Handlungsräume erkennen: Die konzeptionellen Leistungen sowie empirischen Befunde zu den profilierten Schreibaufgaben bieten zunächst vor allem für weitere außerschulische didaktische Handlungsfelder innerhalb der Schreibwissenschaft einen interessanten Bezugspunkt. Konkret können dies beispielsweise Kontexte mehrsprachigen wissenschaftlichen Schreibens wie in studienvorbereitenden und -begleitenden Sprachlernangeboten oder der Bereich schreibinten-
Deutschdidaktische Forschungsfelder als Bezugspunkte
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siver Lehre im Hochschulkontext sein.9 In diesem Zusammenhang stellt auch die konkrete Textform des Kontroversenreferats aus dem zweiten Beispiel einen interessanten Bezugspunkt dar. Studien zu entsprechenden Aufgabenkonzeptionen in diesen Handlungsfeldern können die empirische Evidenz durch Untersuchungen zu anderen Zielgruppen und anderen Schreibanforderungen weiter stärken bzw. relativieren und dadurch entsprechend weiterentwickeln. Die Fokussierung auf Schema- und Ausdruckswissen zu Textprozeduren macht die deutschdidaktische Schreibdidaktik zudem in hohem Grad anschlussfähig an weitere sprachensensible Konzeptualisierungen von Schreibkompetenz aus der Schreibwissenschaft (vgl. z.B. Knorr, 2019). Für das wissenschaftspropädeutische Schreiben liefern die oben gezeigten Studien erste zentrale Erkenntnisse zu schüler*innenseitigen Kompetenzen und Herausforderungen. Die Konturierung wissenschaftspropädeutischen Schreibens und seiner Teilkompetenzen steht dabei aber erst am Anfang, auch liegen bisher keinerlei Longitudinalstudien vor, welche die schulische Phase berücksichtigen und damit Aussagen über die Entwicklung wissenschaftlicher Schreibkompetenzen über einen längeren Zeitraum zulassen. Kooperationen zwischen Deutschdidaktiker*innen und Schreibwissenschaftler*innen stellen in diesem Zusammenhang eine zielführende Möglichkeit dar, diesem Forschungsdesiderat zu begegnen und Kompetenzentwicklungen über die Transition von Schule und Universität hinweg zu untersuchen. Eine damit einhergehende bilateral geführte Auseinandersetzung zu den Spezifika des Schreibens in den jeweiligen institutionellen Kontexten kann darüber hinaus gewinnbringende Erkenntnisse für beide Seiten liefern und zur Reflexion der eigenen Praxis anregen. Neben diesen vorrangig thematisch-inhaltlich konzipierten Handlungsräumen lassen sich aber auch auf Ebene der Forschungsmethoden Potenziale der beiden deutschdidaktischen Forschungsfelder herausarbeiten. Ein zentraler forschungsmethodischer Entwicklungsschritt der oben zitierten Studien zur Wirksamkeit profilierter Schreibaufgaben ist durch die Erarbeitung von textmusterspezifischen Analyseinstrumenten zur Bestimmung der verwendeten Textprozeduren gegeben (vgl. u.a. Anskeit, 2019, S. 191–207). Sie stellen somit Vorlagen für textanalytische Verfahren dar, deren Nutzen und Einsatz keinesfalls ausschließlich auf didaktisch motivierte Forschungsfelder zum Schreiben begrenzt sein muss. Differenzierter zu betrachten ist die Tatsache, dass in beiden ausgewählten Forschungsfeldern produktorientierte Zugangsweisen vorherrschen, also vorrangig 9
Vgl. z.B. Göpferichs (2016, S. 291f) Ausführungen zu Schreibarrangements als Mittel der integrierten Vermittlung von literalen Kompetenzen und Fachwissen; sie nimmt dabei Bezug auf Bräuer & Schindler (2013).
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die Textprodukte der Schüler*innen in den Blick genommen werden und den Schreibprozessen in der Datenerhebung und -auswertung nur bei Schüler & Lehnen (2014) sowie Schüler (2017) Rechnung getragen wird. Dabei könnten aber auch zum Forschungsfokus der Studie Wenk et al. (2016) Schreibprozessdaten erkenntnisreiche Einblicke in etwaige interlinguale Transferprozesse beim Schreiben in mehreren Sprachen geben. Konkret für das materialgestützte Schreiben haben Deutschdidaktiker*innen die Diskussion um den Mehrwert und die Notwendigkeit prozessorientierter Erhebungsverfahren bereits selbst innerhalb des Faches eröffnet, wenn auch nicht primär aus einer forschungsmethodologischen Perspektive, sondern aus Beweggründen einer fairen Leistungsbeurteilung beim materialgestützten Schreiben (Rezat, Lehnen, & Bergmann, 2018). Die Autor*innen zeigen anhand von Auszügen aus dem Schreibgespräch zweier Schüler*innen sowie aus retrospektiven Interviews, dass diese Daten Ansätze einer synthetischen Verarbeitung von Informationen aus mehreren Quellen offenlegen, die in den Textprodukten keine entsprechenden Spuren hinterlassen, und verweisen damit auf die Relevanz prozessorientierter Zugänge in der weiteren Auseinandersetzung mit dem materialgestützten Schreiben. Betrachtet man die soeben genannten Erhebungsmethoden an sich, so stellen diese allerdings wiederum interessante Bezugs- und Diskussionspunkte für die Schreibwissenschaft dar. Rezat et al. (2018) wählten mit der Analyse konversationeller Schreibinteraktionen (Schreibgespräche) nämlich ein in der Deutschdidaktik etabliertes prozessorientiertes Forschungsverfahren, das einerseits zwar (im Gegensatz zu Laut-Denk-Protokollen) individuelle Handlungsprozesse durch die Kollaboration im Team verschleiert, andererseits aber dem interaktionalen Charakter von Unterricht und auch vielen außerunterrichtlichen Schreibsituationen entspricht sowie „Zugänge zu Vorstellungen der Schreiber*innen über das (richtige) Vorgehen, die (passenden) Formulierungen und das (angemessene) Überarbeiten“ (Schindler, 2017, S. 36) eröffnet. Ein empirisch fundierter Methodenvergleich im Handlungsraum der Schreibwissenschaft könnte hier weitere Erkenntnisse zu Potenzialen und Grenzen der jeweiligen methodischen Zugänge liefern. Ebenso interessant kann für das schreibwissenschaftliche Methodenspektrum die bei Schüler & Lehnen (2014) und Schüler (2017) verwendete computerbasierte Lern- und Forschungsumgebung SKOLA (genauer beschrieben bei Schüler, 2017, S. 263–276) sein. Als Lernumgebung strukturiert SKOLA das Lösen der Schreibaufgabe zur Textform des Kontroversenreferats in die Arbeitsbereiche Lesen, Ordnen und Schreiben und hält für jeden dieser Arbeitsbereiche spezifische, didaktisch motivierte Hilfen und Werkzeuge bereit. Als Forschungsumgebung zeichnet S KOLA nicht nur Textproduktionsprozesse und im Prozess entstandene Daten und Schreibzwischenprodukte auf, sondern generiert auch Arbeitsprotokolle mit bereits vor-
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strukturierten und teilausgewerteten Daten (z.B. zur Verweildauer in den jeweiligen Arbeitsumgebungen). Das Programm stellt damit ein vielversprechendes Tool für quantitative schreibwissenschaftliche Studien zu Schreibprozessen dar, da durch die teils automatisierte Datenauswertung der zeitaufwändige Prozess der Aufbereitung und Analyse von Schreibprozessdaten verkürzt und unterstützt wird. Die oben genannten Longitudinalstudien verkörpern dafür ein erstes potenzielles Anwendungsfeld. Eine begleitende forschungsmethodologische Diskussion sowie ein Methodenvergleich im Kontext der Schreibwissenschaft können darüber hinaus auch in diesem Fall gezielt Potenziale und Grenzen der einzelnen Methoden ermitteln.
5 FAZIT Bezüglich der soeben aufgezeigten spezifischen Potenziale der ausgewählten deutschdidaktischen Forschungsfelder soll abschließend nicht verschwiegen werden, dass neben mehreren eindeutig erkennbaren Forschungsdesiderata einzelne der skizzierten Bezugslinien im Handlungsraum der Schreibwissenschaft durchaus bereits „begangen“ werden. Beispielhaft genannt sei dafür die Tatsache, dass der oben zitierte Beitrag zu konversationellen Schreibinteraktionen (Schindler, 2017) im Band Qualitative Methoden in der Schreibforschung (Brinkschulte & Kreitz, 2017), dem ersten Band der Reihe Theorie und Praxis der Schreibwissenschaft, veröffentlicht wurde. Die Frage der Herausgeberinnen nach der Bedeutung einer deutschsprachigen Schreibwissenschaft für die Wissenschaft allgemein und für die Gesellschaft ist trotz dieser Belege für bereits vorhandenes interdisziplinäres Handeln aber keinesfalls obsolet. Die deutschsprachige Schreibwissenschaft könnte als Handlungsraum derartige Initiativen nicht nur intensivieren, sondern sie könnte dabei vor allem auch eine „Meta-Funktion“ übernehmen: Sie könnte zu einer Systematisierung von Forschungslinien, Forschungsmethoden, Forschungsergebnissen, theoretisch-konzeptionellen Leistungen und Fachbegriffen aus den einzelnen Disziplinen beitragen und damit Rezeptionslinien sowie Gemeinsamkeiten/Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Disziplinen ordnend herausarbeiten. Ein Mehrwert für die Wissenschaft wäre damit sowohl quantitativ (Intensivierung) als auch qualitativ (Systematisierung) gegeben. Die gesellschaftliche Bedeutung der deutschsprachigen Schreibwissenschaft ist meines Erachtens bereits durch ihren Forschungsgegenstand gegeben: Schreiben ermöglicht Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und Entscheidungen. Als konkretes Beispiel sei in diesem Zusammenhang noch einmal das oben aufgezeigte
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Forschungsdesiderat zur Entwicklung wissenschaftlicher Schreibkompetenzen über den institutionellen Wechsel von Schule zu Hochschule hinweg genannt: Eine disziplinenübergreifende Beforschung und in weiterer Folge eine institutionenübergreifende Gestaltung dieser Transition könnte Schreiber*innen in einer wichtigen Phase ihrer Bildungsbiografie unterstützen und stärken und ihnen weitere Partizipationsmöglichkeiten eröffnen. Da ich davon ausgehe, dass sich der Handlungsraum der deutschsprachigen Schreibwissenschaft in den nächsten Jahren durch weitere Bewegungen füllen und erweitern wird und unter Berücksichtigung der Dimension der Zeit auch selbst in Bewegung sein wird, möchte ich am Ende dieses Beitrags den thematisch-inhaltlichen und forschungsmethodischen Bezugslinien zur Deutschdidaktik einen weiteren Aspekt hinzufügen: An mehreren Stellen des Beitrags wurde deutlich, dass die Deutschdidaktik ihr Handeln als Disziplin in den Bedingungsgefügen und Interdependenznetzen, in denen sie sich bewegt, (selbst-)kritisch reflektiert und die Debatte als wissenschaftliche Praxis lebt. Die deutschsprachige Schreibwissenschaft hat mit der Klagenfurter Tagung ebenfalls eine diskursiv-reflexive Grundhaltung unter Beweis gestellt, die es bei allen zukünftig erwartbaren Bewegungen und gerade wegen dieser Bewegungen beizubehalten gilt.
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SCHREIB- UND ÜBERSETZUNGSWISSENSCHAFT: EIN VERGLEICH Carmen Heine
ABSTRACT Untersuchungsgegenstand, Verwandtschaftsbeziehungen der zugrundeliegenden Produktionsprozesse, Interdisziplinarität, Forschungsmethoden, theoretische Ausgangsbasis und Bezugsdisziplinen – Schreib- und Übersetzungswissenschaft haben viel gemeinsam. Dieser Beitrag beleuchtet die Entstehungsgeschichte der Disziplinen, ihre Schnittstellen und Überlappungsbereiche und illustriert am Beispiel des Konzepts der „Strategien“ das Vergleichspotential der beiden Wissenschaftsbereiche und regt zu einem Blick auf die Nachbardisziplin an.
1 EINLEITUNG Die Schreib- und die Übersetzungswissenschaft haben zweifellos Gemeinsamkeiten. Beide Disziplinen befassen sich mit Schreiben, Adaptieren, Rekontextualisieren, Paraphrasieren und Transferieren und vielem mehr, und damit, wie Textprodukte entstehen. Die kognitiven Prozesse der TextproduzentInnen sind ähnlich, die Disziplinen teilen sich z.B. die (Angewandte) Linguistik als Ausgangsbasis und entlehnen z.B. Unterrichtsstrategien der Lernpsychologie. SchreiberInnen und ÜbersetzerInnen führen in ihrer praktischen Tätigkeit ähnliche und teils sogar gleiche Aufgaben durch und verwenden dafür gleiche oder ähnliche Strategien auf der Makro- und Mikroebene der Textproduktion. Die externen, untersuchbaren und direkt zugänglichen (Workflow-)Prozesse und die internen, mentalen, nicht direkt beobachtbaren Prozesse unter denen in diesen Disziplinen Textprodukte entstehen, weisen Ähnlichkeiten auf und werden mit demselben Methodeninstrumentarium untersucht, das wiederum aus Bezugsdisziplinen wie der Psychologie, der Soziologie und der Anthropologie entlehnt wurde. Nicht zuletzt teilen die Disziplinen die Sorge, inwiefern sie als Disziplin überhaupt etabliert bzw. anerkannt sind. Während der Kontakt zwischen den Schreib- und Übersetzungswissenschaft in den letzten Jahren vorsichtig hergestellt wurde (DamJensen & Heine, 2009, 2013; Schrijver et al. 2014), gibt es vor der Folie der oben
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angerissenen Gemeinsamkeiten noch zu viel Nebeneinander und zu wenig Miteinander. Ziel des Beitrags ist es, die Schreibwissenschaft zu einem Blick auf die Nachbardisziplin anzuregen. Dazu wird die teils noch als strittig gesehene Disziplinarität der Übersetzungswissenschaft beleuchtet (Kapitel 2) und ein Fokus auf die Übersetzungsprozessforschung, ein Nachbarfeld der Schreibprozessforschung gelegt (Kapitel 3). Die Forschungsmethoden, die diese Forschungsfelder einen, und ihr Gegenstand – die Textproduktion – werden näher betrachtet (Kapitel 4) und das übersetzungswissenschaftstheoretisch elaborierte Konstrukt der Übersetzungsstrategien wird für die Schreibwissenschaft zugänglich gemacht (Kapitel 5). Abschließend wird ein Schlaglicht auf potentielle interdisziplinäre Zusammenarbeitsfelder geworfen.
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IST ÜBERSETZUNGSWISSENSCHAFT EINE DISZIPLIN?
Die Frage, ob die Übersetzungswissenschaft eine eigenständige Disziplin ist, ist in der übersetzungswissenschaftlichen Literatur noch strittig. Im deutschsprachigen Raum herrscht die Disziplin-Auffassung vor, im angelsächsischen Raum betrachtet man sie eher als eine Interdisziplin (Siever 2015, S. 6). Es scheint darauf anzukommen, wen man fragt, was man unter Disziplin versteht und wo und wann man sie und ihren Beginn verortet. Unstrittig ist, dass es seit dem Altertum Texte gibt, „deren Autoren über die Kunst und die Probleme des Übersetzens reflektieren“ (Schubert 2011, S. 192). Eine markante deutschsprachige Publikation, die eine solche Reflexion enthält, ist der Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen, den Luther (1530) auf der Veste Coburg verfasst hat. Er rechtfertigt nämlich Verdeutschungen der Bibel sprachlich und sachlich. In neuerer Zeit markiert die Akademierede vom 24. Juni 1813, die Schleiermacher vor der philosophischen Klasse der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin gehalten hat, den Beginn der Übersetzungswissenschaft. Die berühmte, erstmalige schriftliche Forderung nach einer Übersetzungswissenschaft wird in übersetzungswissenschaftlicher Literatur ebenfalls Schleiermacher zugeschrieben: Ueberall sind Theorien bei uns an der Tagesordnung, aber noch ist keine von festen Ursätzen ausgehende, folgegleich und vollständig durchgeführte, Theorie der Uebersetzungen erschienen [...]; nur Fragmente hat man aufgestellt: und doch, so gewiß es eine Alterthumswissenschaft giebt, so gewiß muß es auch eine Uebersetzungswissenschaft geben.
Schreib- und Übersetzungswissenschaft: Ein Vergleich
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Schubert (2011, 2015) geht allerdings den Originalquellen nach und argumentiert schlüssig, dass dieses Zitat vermutlich nicht von Schleiermacher ist, sondern von Pudor (1814, S. 104). Über diese Personalie hinaus verorten WissenschaftlerInnen die deutschsprachige Übersetzungswissenschaft als Disziplin am Übergang von vorwissenschaftlicher Reflexion zu wissenschaftlicher Theoriebildung etwa ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts (Kade 1968, S. 7; Wilss 1988; GerzymischArbogast, 2002, S. 18; Schubert 2007, S. 176, 2009, S. 18). Damit ist Übersetzen alt, Übersetzungswissenschaft dagegen jung (Siever 2015, S. 8). Chesterman (1997) beschreibt die Evolution der Translation in der englischsprachigen Literatur entlang von Entwicklungsstufen über Metaphern, beginnend mit 1000 vor Christus: „Translating is rebuilding“ über das 19. Jahrhundert: „Translating is creating“ und die 1970er-Jahre: „Translating is communicating“ bis zu den 1980er-Jahren: „Translating is thinking“. Diese Stufendarstellung zeigt nicht nur die Interessenlage zu gegebenen Zeiten, sondern benennt auch das Erkenntnisobjekt und Kerngebiet der Disziplin, über das relative Einigkeit besteht: Das Translat und die Translation; im weitesten Sinne das Produkt „Übersetzung“ und dessen Produktion. Die Benennung der Disziplin ist dagegen wiederum strittig. Je nach wissenschaftlicher Schule wird sie als Translatologie und/oder Translationswissenschaft benannt, Lebedewa (2007) merkt dazu an, dass der ebenfalls verwendete Begriff der Übersetzungswissenschaft „unscharf, aber eingebürgert“ sei. Holms berühmte Einteilung von Translation Studies (diese im englischsprachigen Raum verwendete Benennung stammt ebenfalls von Holms) in „Applied“ und „Pure“ – mit theoretischen und deskriptiven Ausprägungen – hilft bis heute die thematischen Stränge, die so genannten „schools of thought“, einzuordnen. Siever unterscheidet innerhalb der fast siebzigjährigen Geschichte der Übersetzungswissenschaft in ihrer wissenschaftlichen Periode sieben Paradigmen: Linguistisches Paradigma, handlungstheoretisches Paradigma, semiotisch-interpretationstheoretisches Paradigma, verstehenstheoretisches Paradigma, systemisch-kultursemiotisches Paradigma, machttheoretisches Paradigma, systemtheoretisches Paradigma (Siever 2015, S. 226). Mit diesen Paradigmen geht prozessorientierte, produktorientierte und holistische Theoriebildung einher, die vor allem von den Funktionalisten der Übersetzungswissenschaft um Hans Vermeer in den 1980er-Jahren vorangetrieben wurde, um eine eigenständige Disziplin herauszubilden und diese zu institutionalisieren. In dieser Zeit wurden translationswissenschaftliche Studiengänge gegründet, Institute entsprechend (um-)benannt und die ersten Professuren eingerichtet. Die Paradigmen haben sich nacheinander herausgebildet, überlappen sich teilweise und verlaufen parallel. Mit ihren Wurzeln in der Linguistik sieht sich die Übersetzungswissenschaft als angewandte, theoretische und deskriptive Dis-
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ziplin, die eng mit ihren Nachbarn verbunden ist, z.B. mit der Computerlinguistik, der Fachsprachenforschung, Kommunikationswissenschaft, Kultursoziologie, Psychologie, der technischen Kommunikation und der Terminologielehre [alphabetische Reihung].1 In diese nicht-exhaustive Nachbarschaftsliste gehört auch „die“ andere Disziplin, die sich mit dem Produzieren von Text beschäftigt, die Schreibwissenschaft. Mit dieser teilt die Übersetzungswissenschaft nicht nur die Wurzeln in der Linguistik und den Gegenstand, Schreiben, mit ihr verbindet sie auch der, wenn auch zeitlich um 10–15 Jahre nach hinten verschobene, paradigmatisch-historische Verlauf ihrer Ansätze und Grundideen. Eine zentrale Unterscheidung, die beide Disziplinen früh in ihrer Disziplinengeschichte getroffen haben, ist die Unterscheidung in Textprodukt und Textproduktionsprozess, an dem sich heute das Prozess-/Produktparadigma festmachen lässt, das in den 1980er und 1990er Jahren seinen Ursprung hat. In den beiden Disziplinen wird mit der Produkt- und Prozessunterscheidung unterschiedlich umgegangen. Da Schreiben weit spannt – vom „learning to write“ bis zum „writing to learn“ – und Übersetzen dem Schreiben nachgeschaltet ist, da beim Übersetzen ein geschriebener Text bereits vorliegt, spielt das Textproduktionsprodukt in den Disziplinen unterschiedliche Rollen. Die Prozesse hingegen weisen starke Verwandtschaftsbeziehungen auf. Es ist daher auch die Prozessforschung beider Disziplinen, bei der die Schnittflächen besonders deutlich werden. Dies gilt für Untersuchungsgegenstand und Kontext ebenso, wie für methodische Ansätze und die in der Schreibwissenschaft langsam anlaufende Theoriebildung. Vergleicht man den historischen Verlauf der Paradigmen von Übersetzungs- und Schreibwissenschaft, macht man zunächst aus paradigmatischer Sicht an der Jahrhundertwende ein pädagogisch-didaktisches Paradigma und ein sprachlich-kommunikatives Paradigma sozio-kulturellen Handelns in der Textproduktionsforschung aus (Antos, 2001). Parallel dazu verläuft das kognitive Paradigma einerseits und eine Fokusverschiebung auf den situativen Kontext andererseits (Ludwig 1983; Molitor-Lübbert, 1996). Die Situiertheit spielt auch in der Übersetzungswissenschaft eine einflussreiche Rolle. Sie ist als „situated translation“ eher implizit im 1
Bei der Tagung „Gibt es eine deutschsprachige Schreibwissenschaft? Diskurs- und disziplinenübergreifende Perspektiven“ in Klagenfurt 2019, die diesem Band als Ausgangspunkt dient, wurde aus schreibwissenschaftlicher Sicht von einer Diskussionsgruppe eine ähnliche Liste erstellt: Angewandte Linguistik, Deutschdidaktik, Fachsprachen- und Fachkommunikationsforschung, Fremd- und Zweitsprachendidaktik, Hochschuldidaktik, Hochschulforschung, Kommunikationswissenschaft, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Schreibzentrumsforschung, Soziologie, Translationswissenschaft [alphabetische Reihung].
Schreib- und Übersetzungswissenschaft: Ein Vergleich
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Handlungsparadigma verortet. Risku hat mit ihrer Arbeit (2010) das Konzept der Situated Cognition ins Wahrnehmungsfeld der Übersetzungswissenschaft gerückt. Über das kognitive Paradigma und die Fokusverschiebung auf situative Kontexte hinaus markieren die frühen 1990er-Jahre die Entstehung erster Arbeitsgemeinschaften zum Schreiben und die Jahrhundertwende das Electronic-LiteracyParadigma (Hess-Lüttich, 1997; Knorr & Jakobs, 1997; Jakobs, Knorr, & Pogner, 1999). Die ersten 20 Jahre des neuen Jahrtausends sind geprägt von schreibpädagogisch-didaktischen Ansätzen und einer sich im deutschsprachigen Raum etablierenden Schreibzentrumsforschung an Hochschulen, die mit der Bildung von Fachgesellschaften, Fortbildungen, Tagungen, Zeitschriften und Reihen einhergeht (Hoffmann 2019, S. 15). Der in diesem Bereich entstehende Publikationskanon und die sich herausbildenden organisatorischen Einheiten machen die Schreibwissenschaft als akademische Disziplin identifizierbar, zeigen aber gleichzeitig, nicht zuletzt mit diesem Band, unabdingbare Wechselwirkungen und Parallelitäten mit anderen Disziplinen. Während sich nämlich in der Schreibwissenschaft der didaktische Strang stark entwickelte, hat beim Übersetzen in den 1990er Jahren ein markanter Einschnitt stattgefunden, der bis heute in die Branche des Fachübersetzens und in die Fachübersetzungsforschung wirkt. Es ist die breite Einführung des maschinellen und maschinengestützten Übersetzens mit seinen Ausprägungsformen wie Lokalisierung, Transcreation und audiovisuelles Übersetzen. Tatsächlich reichen Ursprung und Einfluss dieses Interessenstrangs auf die Übersetzungswissenschaft in die Zeit des kalten Krieges zurück. Parallel dazu verläuft außerdem die Entwicklung des Forschungsfeldes der (interkulturellen) Fachkommunikation, welche die technische Redaktion und das Fachübersetzen einschließt und deren Scientific Community eigene Forschungsinteressen und -schwerpunkte, Studiengänge und Professuren auf Hochschul- und Fachhochschulniveau hervorgebracht hat. Eine vergleichbare akademische Verfestigung steht für die deutschsprachige Schreibwissenschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch aus, ist aber ein zwingend notwendiger Entwicklungsschritt.
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SCHREIB- UND ÜBERSETZUNGSPROZESSFORSCHUNG
Während eingangs allgemeine Ähnlichkeiten angerissen wurden, die auch einem Laienverständnis der beiden Disziplinen entsprechen, richtet sich in den Prozessforschungssträngen beider Forschungsgebiete der Blick auf das Handeln und die Tätigkeiten des Textproduzierens. Spricht man mit Schreibenden und Übersetzenden über dieses Tun, z.B. auf der Basis von Prozessforschungsmethoden, erschließt sich, dass Übersetzen, im Sinne
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von Übertragen von Gedachtem in Text (im Hayes & Flower Modell von 1980 auch als „Translation“ bezeichnet) Teil von Schreiben ist. Zu fremd- und mehrsprachigem Schreiben gehört Übersetzen ganz natürlich dazu, es wird sogar zwischen zwei (oder mehreren) Sprachen „übertragen“. „Schreiben“, im Sinne von Text schriftlich verfassen, ist inhärenter Teil von Übersetzen, allerdings nicht von Dolmetschen, das seinerseits wiederum Teil von Translatologie ist. Darüber, wo Schreiben einsetzt und wo die Grenze zwischen Schreiben und Übersetzen beim individuellen Textproduktionsprozess verläuft – und ob sie im praktischen Handeln ebenso wie in der theoretischen Reflexion überhaupt zu ziehen ist, herrscht bisher keine Einigkeit. Ein eher holistischer Ansatz, der beide Prozesse als Textproduktion betrachtet, scheint nahezuliegen (Dam-Jensen & Heine, 2020). Auch darf eine gegenseitige Befruchtung der Felder vorgeschlagen werden, da sich aus den Versuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Feldern herauszuarbeiten, ergibt, dass es sinnvoll sein könnte, Erfahrungen und Erkenntnisse aus der jeweiligen Nachbardisziplin einzubeziehen. So ist z.B. Wissen über den dem Übersetzen vorausgeschalteten Prozess der Ausgangstextproduktion für Übersetzende sinnvoll. Gleichzeitig bietet Wissen über Übersetzen und Übersetzung Anknüpfungsbereiche für Schreibende, nicht zuletzt für diejenigen, die in einer Fremdsprache schreiben. Ein untersuchungswürdiger Aspekt tut sich aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht auf, wenn man die Abgrenzung zwischen interlingualem Übersetzen, die so genannte „translation proper“, intersemiotischem Übersetzen und intralingualem Übersetzen (die Begrifflichkeiten stammen von Jakobson, 1959) genauer unter die Lupe nimmt, denn das intralinguale Übersetzen ist womöglich die Schnittstelle, an der sich Schreiben und Übersetzen verwischen. Schreiben und Übersetzen verwischen sich außerdem gewiss bei den Schreibformen, wo zum Schreiben hinzutritt, was eigentlich als Alleinstellungsmerkmal von Übersetzen gesehen werden könnte, nämlich das Vorliegen eines Ausgangstextes. Versteht man aus nicht-übersetzungsorientierter Sicht „Ausgangstext(e)“ eng als beeinflussende textuelle Quellen, kann man bei Textproduktion auch von Rekontextualisierung von Ausgangstextsegmenten sprechen, die bei erfahrenen Textproduzent*innen zu „transgressive intertextuality“ führen können (Chandrasoma, Thompson, & Pennycook, 2004 für wissenschaftliches Schreiben). Fasst man Ausgangstexte wiederum breiter als vorliegendes schriftliches Textmaterial und – noch breiter – als begleitende, geistige und/oder physisch greifbare Artefakte, wie z.B. Scaffolding-Aufgabenstellungen, die beim schulischen Schreibenlernen eingesetzt werden, um Textproduktionsprozesse anzustoßen, dann ist dies ebenfalls Rekontextualisierung (Cameron, Hunt, & Linton, 1996, S. 125 für kindliches Schreiben). Wodak und Fairclough (2010, S. 22) argumentieren damit, dass räumliche
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und zeitliche Beziehungen zwischen Texten und ihren Kontexten Rekontextualisationsbeziehungen umfassen, die Transformationen unterliegen. Die Transformation, dieses von einer textproduzierenden Person geleistete „Umformen“ und die Translation, „latio“ bedeutet helfendes Bringen, teilen sich also scheinbar nicht nur das lateinische Präfix „trans“ für „(hin-)über“ und „(her-)über“, sondern auch die Aufgabe, das oben erwähnte, schwer zu fassende „Handeln“. So gesehen gibt es Ausgangstexte also nicht nur beim Übersetzen, sondern auch bei vielen anderen Textproduktionsformen wie Adaptieren, Rekontextualisieren, Paraphrasieren und Transferieren. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Whyatt (2017), die intralinguales Übersetzen als linguistische Mediation versteht und erläutert, dass im Fall von interlingualem Übersetzen die textproduzierende Person und rezipierende Person zwar dieselbe Sprache verstehen, dies der rezipierenden Person aber nicht ausreicht, um den Inhalt zu verstehen. Damit die Kommunikation funktioniert, muss die Nachricht reformuliert, z.B. paraphrasiert werden. Der Council of Europe hat bereits 2001 Paraphrasieren ebenso wie Übersetzen und Dolmetschen als Mediationsaktivitäten bezeichnet (Common European Framework of Reference for Languages, 2001, S. 14). Als Beispiele für intralinguale Übersetzungen nennt Whyatt neben Übertragungen in leichte Sprache auch audiovisuelles Übersetzen, einschließlich Untertitelung und Audiodeskription, ExpertenLaien-Kommunikation, moderne Neufassungen von klassischen Werken etc. Als Forschungsbereich, der sich diesem Forschungsfeld annehmen sollte, schlägt Whyatt die Translationsprozessforschung vor: The potential results will help to tease apart the generic processing stages shared by the two kinds of linguistic mediation and to better understand the mental operations exclusive to either of the linguistic mediation activities. (Whyatt 2017, 186)
Diesen Vorschlag möchte ich nachdrücklich auf Textproduktionsprozessforschungsmethoden ausweiten und anregen, dass zum Zweck des Einschlusses und/oder der Trennschärfe zwischen den Textproduktionsarten vor allem die von der mediierenden Person genutzten Strategien betrachtet werden. Um diese Art Forschungsmethoden und Strategien – aus Inklusionsperspektive – geht es im Folgenden.
4 FORSCHUNGSMETHODEN Während gemeinhin das Erkenntnisobjekt das Arbeitsgebiet einer Einzelwissenschaft vorgibt, teilen sich Schreib- und Übersetzungswissenschaft zwangsläufig den Forschungsgegenstand, das Produzieren von Texten. Deshalb verwenden die
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Disziplinen auch ähnliche Fragestellungen, Forschungs- und Analysemethoden. Im oben angedeuteten Publikationskanon der Schreibwissenschaft ist das gemeinsam erarbeitete und akzeptierte Korpus wissenschaftlichen Wissens bezüglich der Forschungsmethodik das im Feld am breitesten ausgearbeitete Gebiet. Nicht zuletzt, weil hier Rückgriffe auf die Bezugsdisziplinen wie die Psychologie, die Soziologie und die Anthropologie gemacht werden können und konnten. Ob des gemeinsamen Gegenstands ist es um so erstaunlicher, dass in der Forschungsliteratur bisher mit wenigen Ausnahmen kaum transdisziplinäre Ansätze zu finden sind (DamJensen & Heine, 2009, 2013, 2020 im Druck; Dam-Jensen, Heine, & Schrijver, 2019; Heine & Koch, 2009; Schrijver, 2014). Tatsächlich lässt sich z.B. im deutschsprachigen Standardmethodenwerk zur Translationsprozessforschung (Göpferich, 2008) keine einzige Referenz auf Schreiben, Schreibforschung und Schreibmethodik finden. In den Methodenbänden der Schreibforschung und Schreibwissenschaft finden sich immerhin, jedoch auch nur vereinzelt, translationswissenschaftlich auf Schnittstellenforschung ausgelegte Beiträge (Dragsted & Carl, 2013; Ehrensberger-Dow & Perrin, 2013; Göpferich & Nelezen, 2014; Schrijver et al., 2014, 2016; Risku, Milosevic, & Pein-Weber, 2016). Verfolgt man jedoch die theoretisch-methodischen Linien anhand der zitierten Prozessforschungsliteratur zurück, und dies gilt für Schreiben ebenso wie für Übersetzen, landet man bei gemeinsamen methodischen Grundlagen. Wie etwa der introspektiven Datengewinnung für die die Arbeit von Ericsson/Simon (1993) zentral steht, der damit und parallel einhergehenden Softwareentwicklung von Prozesssoftware2 und Taxonomien und Typologien, die auch ganz allgemein für Textproduktion interpretiert werden können und damit für Schreiben und Übersetzen gleichermaßen relevant und anwendbar sind.
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TRANSLATIONSTHEORETISCHES KONSTRUKT UND DIDAKTISCHES BESCHREIBUNGSWERKZEUG
Neben den schon angeklungenen methodisch-theoretischen gemeinsamen Entwicklungslinien gibt es in der Übersetzungswissenschaft einen reichen Forschungsschatz, der konkrete Textproduktionsereignisse empirisch beschreibt und sich bemüht das Selbst- und Rollenverständnis von Übersetzerinnen und Übersetzern und ihre Strategien in Taxonomien und Modellen zu fassen. Hier lohnt m.E. ein Blick über den Tellerrand auf translationsdidaktische Erkenntnisse, nicht zuletzt 2
Für Übersetzen: Translog (Jakoben & Schou, 1999); für Schreiben: Inputlog (Leijten & Van Waes, 2013).
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für Forschende, die mit fremdsprachigem Schreiben und Mehrsprachigkeit beim Schreiben befasst sind. Einen „Dauerbrenner“ des translationsdidaktischen Diskurses möchte ich hier beispielhaft für die Schreibwissenschaft ein wenig zugänglich(er) machen: Übersetzungsstrategien. Übersetzungsstrategien
Laut Kearns konnotiert der Begriff Strategie eine teleologische Handlung (Kearns, 2009, S. 282), also eine Handlung, die ausgeführt wird, um ein bestimmtes Ziel in optimaler Weise zu erreichen. Dabei ist in der Übersetzungswissenschaft bis heute strittig, ob mit Strategien Handlungen in einem prozeduralen oder einem textuellen Sinne, oder beides, wie hier propagiert, gemeint sind. Ferner wird in lokale (sprachstrukturelle) und globale (textstilistische) Strategien unterschieden. Vinay & Darbelnet (1958/1989) und Schjoldager et al. (2008, S. 92) beschreiben interpretatorisch mit ihren Strategietaxonomien, was nach der Übersetzung aus den Übersetzungen hergeleitet, bzw. mit Hilfe von Selbstbeobachtung beim Übersetzungsprozess strategisch, d.h. bewusst, entschieden werden kann. Die Strategien und Strategietypen der Schreibwissenschaft (hier beispielhaft die von Ortner, 2000, und Keseling, 2004) sind, im Vergleich zu den Makro- und Mikrostrategien der Übersetzungswissenschaft, eher auf einer epistemisch-heuristischen Ebene oder Metaebene angesiedelt. In der Übersetzungswissenschaft richten sich die Strategien direkter bzw. produktorientierter auf den Text. Traditionell werden zwei Textebenen (Makro- und Mikroebene), oft auch drei (Makro-, Mesound Mikroebene) unterschieden. Auf diesen Ebenen entfalten sich Übersetzungsstrategien. Unter den didaktisch orientierten Produktionsstrategien ist Chestermans dreiteilige Unterscheidung die am meisten linguistische: Sie teilt Strategien in teilweise überlappende Kategorien: syntaktisch-grammatische Strategien, semantische Strategien und pragmatische Strategien (1997, S. 92–112). Der produkt- und prozessorientierter Ansatz von Schjoldager et al. (2008, S. 67–87 Makrostrategien, S. 89–112 Mikrostrategien) operiert mit zwei Ebenen und siedelt übergeordnet-strategische Entscheidungen auf einer Makroebene an, auf der die übersetzende Person entscheidet, ob ihre Übersetzungen eher ausgangsoder zieltextorientiert angelegt werden sollen. Für diese klassische Ausgangs- und Zieltext-Dichotomie gibt es in der Übersetzungswissenschaft zahlreiche weitere theoretische Ansätze. Schjoldager übernimmt die Makrostrategien von Nord (1991, 1997) und unterscheidet in dokumentarische und instrumentelle Übersetzung. Hat die übersetzende Person sich für eine übergeordnete Makrostrategie entschieden, werden auf der zweiten Ebene Mikrostrategien eingesetzt, um auf Satzebene den
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Übersetzungsauftrag zu lösen. Die Mikrostrategien (zwölf Strategien bei Schjoldager et al. 2008, S. 92) liegen auf einem Kontinuum zwischen ausgangstextorientierten Strategien (z.B. direkte Übernahme oder direkte Übertragung) und zieltextorientierten Strategien (z.B. Paraphrase oder Permutation). Zum besseren Verständnis sei hier angeführt, dass die Makrostrategien eher als „higher order concerns“ verstanden werden können, während die Mikrostrategien sowohl „higher order concerns“ als auch „lower order concerns“ sein können. Siever (2015, S. 138–139) schlägt für das Übersetzen des Sprachpaars SpanischDeutsch einen umfangreichen Modellkatalog mit drei Strategieebenen vor. Auf der übergeordneten Ebene und bezogen auf das Übersetzungsprojekt als Ganzes, siedelt Siever drei Globalstrategiepaare an, die sich auf die erwähnten Dichotomien stützen: dokumentarisches vs. instrumentelles Übersetzen, Konstanz vs. Varianz und einbürgerndes vs. verfremdendes Übersetzen. Bei Siever setzen auf der Makrostrategieebene acht Strategien die gewählte Makrostrategie um: Verständlichkeit vs. Genauigkeit, Verdichtung vs. Extension, Implizität vs. Explizität und Konventionalität vs. Kreativität (Siever 2015, S. 132). Siever formuliert klar, dass diese Makrostrategien unabhängig von konkreten Sprachenpaaren sind. Nicht zuletzt diese Aussage macht sie auch für intralinguale Textproduktionsaufträge interessant. Auf der dritten Ebene liegen bei Siever dreizehn Mikrostrategien, die die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Manifestationen der Makrostrategien in den Textteilen sind und sich auf einzelne Textpassagen (Sätze, Syntagmen und Wörter) beziehen. Im Gegensatz zu den als sprachenpaarabhängig definierten mikrostrategischen Übersetzungsverfahren bei Siever, sind die Mikrostrategien von Schjoldager et al. universal und sprachenpaarunabhängig einsetzbar. Diese sprachenpaarunabhängige und eine textproduktionstypunabhängige Verwendbarkeit der Übersetzungsstrategietaxonomien als Reflexionsinstrumentarium stellt man in der didaktischen Praxis fest, wenn man zu interlingualen und intralingualen Schreib- und Übersetzungsaufgaben akademisch-theoretische Kommentierungsaufgaben3 gibt, mit denen Studierende ihre strategischen Textproduktionsentscheidungen begründen sollen. Selbst wenn Studierende Strategieübersichten aus der Schreibwissenschaft kennen und im Unterricht diskutiert haben, verwenden sie für die Reflexion bevorzugt Strategietaxonomien der Über3
An der Universität Aarhus sind akademische Textkommentare gängige Teilelemente schriftlicher Unterrichts- und Prüfungsleistungen. Kommentierungsaufgaben sind zumeist sehr frei formuliert. Sie geben Studierenden die Möglichkeit, Textproduktionsentscheidungen anhand von Beispielen aus ihren Produktionsprozessen in Relation zur Kursliteratur zu diskutieren. Dabei steht den Studierenden frei, ob sie eher heuristische oder rhetorische Aspekte (vgl. Dengscherz, 2019) fokussieren.
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setzungswissenschaft oder vermischen Strategien über die inner- und außerfachlichen theoretischen Grenzen hinweg und passen sie an ihre Textproduktions- und Erklärungsbedürfnisse an. Ihre Begründungen dafür sind naheliegend und nachvollziehbar: Übergeordnete Strategietypen epistemisch-heuristischen Schreibens, wie Keselings „planendes oder nicht-planendes Schreiben“ und z.B. „Tempofragen“ (2004, S. 170) oder Ortners „Schreiben in einem Zug“ oder „Schreiben nach dem PuzzlePrinzip“ (2000), erscheinen Studierenden, die bei der Textproduktion mit linguistischen Textformulierungsproblemen und pragmatisch-inhaltlichen Entscheidungen auf der (rhetorischen) Textpassagenebene zu kämpfen haben, als zu übergeordnet und zu prozessual. Solche übergeordneten Strategien werden nicht als adaptierbares Regelset und Maßnahmenkatalog, sondern als theoretisches Gedankenkonstrukt empfunden, das beim Beschreiben von Einzelfallbeschreibungen beim Textproduzieren nur bedingt hilfreich ist. Studierende operieren im Spannungsfeld zwischen Normerfüllung und Rekonstruierbarkeit ihrer Schreibprozesse und dem Wunsch nach situationsspezifisch-individuell verwendbaren Beschreibungs- und Operationskomponenten. Solche gibt es m.W. in systematischer Form für das Schreiben auf der rhetorischen Ebene bisher nicht. An dieser Stelle setzen die Übersetzungsstrategien an. An den übersetzungswissenschaftlichen Strategietaxonomien schätzen Studierende, dass die einzelnen Strategien ausnahmslos eindeutig benannt, definiert und mit Beispielen belegt sind. Strategien wie z.B. Paraphrase, Adaption oder Kondensierung helfen somit Studierenden, ihre Prozesse zu beschreiben. Darüber hinaus wird von Studierenden geschätzt, dass die übersetzungswissenschaftlichen Strategien auch bei inhaltlich-verketteten textuellen Ereignissen greifen, z.B. bei kombinierten Rekonzeptualisierungs- und Übersetzungsaufgaben oder bei Zusammenfassungen. Sie sind flexibel einsetzbar und kombinierbar. Nicht zuletzt sind die übersetzungswissenschaftlichen Strategietaxonomien ein Werkzeug und ein Begriffsapparat zur Prozessbeschreibung gleichermaßen. Einen holistischeren Überblick über Strategien des Übersetzens und ihre Funktionen bieten Dam-Jensen & Heine (2020, S. 95–100). Aus der didaktisch-reflexiven Unterrichtspraxis an der Schwelle zwischen Schreiben und Übersetzen leite ich daher ein dringendes Forschungsdesiderat ab: Strategien aus funktionaler Perspektive und auf heuristischer und rhetorischer Ebene (wie bei Dengscherz, 2019) breiter über Schreiben und Übersetzen hinweg zu erfassen, zu beschreiben und für Textproduktionsdidaktik und Schreibberatung operationalisierbar zu machen.
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6 ABSCHLIESSENDE ANMERKUNGEN Eine von Beginn an interdisziplinär aufgestellte Schreibwissenschaft findet in den bereits etablierten Bezugs- und Nachbardisziplinen eine breite Basis für gemeinsame Ansätze, Denkweisen und Methoden. Der inter- und transdisziplinäre Hintergrund der Schreibwissenschaft ist hier als Stärke auf dem Weg der planvollen eigenen Disziplinetablierung zu sehen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Schreiben und Übersetzen auf der Ebene der Untersuchung des Forschungsgegenstands forscherisch weiter heranzuzoomen ist ein Schritt zur Zusammenarbeit. Gemeinsam bearbeitbare Probleme aufzuspüren, eine gemeinsame Sprache zur Verständigung geteilter Fachinhalte zu entwickeln und Kriterien für einen Verständigungsprozess auf dem Weg zum Wissenstransfer zwischen den Disziplinen zu entwickeln, könnte ein weiterer Schritt sein. Hier wurden überblicksartig paradigmatische Aspekte beleuchtet und Disziplinarität diskutiert. Aus der Vielfalt der vergleichbaren Aspekte und Elemente von Schreiben und Übersetzen wurden, ebenfalls zur Illustration des Vergleichspotentials, „Übersetzungsstrategien“ aus textueller und prozessualer, übersetzungswissenschaftlicher Sicht illustriert. Sie sind aber nur ein isoliertes Element unter vielen potentiell interessanten Untersuchungsgegenständen, auf die man zukünftig aus der Schreibwissenschaft einen Blick über den Tellerrand zur Übersetzungswissenschaft werfen kann.
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DIE ERFORSCHUNG DES SCHREIBENS AUS KOGNITIONSPSYCHOLOGISCHER SICHT Christian Weinzierl
ABSTRACT Schreibforschung wird aus dem Blickwinkel verschiedener Fachdisziplinen teils sehr unterschiedlich betrachtet. Wie sich aus der vorhandenen Heterogenität heraus eine Schreibwissenschaft als eigenständige Disziplin formulieren lässt, ist eine entsprechend komplexe Frage. Im vorliegenden Beitrag wird eine empirische Perspektive auf das Thema „Schreibforschung“ aus psychologischer Sicht präsentiert. Es werden zentrale Zugänge und Befunde zur Erforschung der kognitiven Grundlagen des Schreibens sowie der Anwendung dieser Grundlagen zur Förderung von Schreibfertigkeiten vorgestellt. Im Zuge der Darstellung werden auch die wichtigsten empirischen Methoden zur Untersuchung kognitiver Schreibprozesse (laute Denkprotokolle, retrospektive Interviews, Online-Aufzeichnung der Schreibspur, Produktanalysen) sowie Vorgehensweisen zum Nachweis der Wirksamkeit von Schreibinterventionen (Metaanalyse, Metasynthese) charakterisiert. Die vorgestellten Methoden und Zugänge entspringen einem interdisziplinär (u.a. Psychologie, Linguistik) geprägten Bereich und lassen sich als relevanten Baustein für die Findung einer eigenständigen Schreibwissenschaft betrachten.
1 EINLEITUNG Was macht eine allgemeine Schreibwissenschaft aus? So kurz und bündig, wie diese Frage formuliert ist, so schwierig ist sie doch bei genauerer Betrachtung zu beantworten. Lässt man unterschiedliche Disziplinen, die für die Erforschung des Schreibens relevant sind, Revue passieren – hierbei sind u.a. so unterschiedliche Fächer wie die (Deutsch)Didaktik, die Linguistik, die Literaturwissenschaften oder die Psychologie sowie der Bereich des academic writing zu nennen –, ergibt sich bei der Fassung dieses Begriffs eine nicht zu unterschätzende Komplexität. Die vorhandene Vielfalt an wissenschaftlichen Zugängen, die sich nicht zuletzt auch in den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes widerspiegelt, verweist auf ein lebhaftes Forschungsfeld mit vielversprechenden Ansätzen. Für eine Klärung der Fragestellung, was die Invariante einer genuinen Schreibwissenschaft darstellt und
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was mit dem Schreiben in diesem Zusammenhang gemeint sein soll, stellt diese große Heterogenität jedoch auch eine Herausforderung dar. Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, eine Perspektive auf Schreibforschung aus Sicht der Psychologie beizusteuern, und damit einen Baustein zur Klärung dieser Fragen zu liefern. Hierzu werden wesentliche Ansätze (kognitions-)psychologisch geprägter Schreibforschung vorgestellt und die Frage nach deren Rolle in einer allgemeiner gefassten Schreibwissenschaft aufgeworfen. Im nachfolgenden Abschnitt werden zunächst zentrale schreibwissenschaftliche Forschungszugänge der Psychologie und zugehörige Methoden skizziert, wobei die vorhandenen Überlappungsbereiche mit anderen Fachdisziplinen besondere Berücksichtigung finden. Sich daraus ergebende Implikationen für die Fassung des Begriffs „Schreibwissenschaft“ werden in Abschnitt 3 diskutiert.
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SCHREIBFORSCHUNG IN DER PSYCHOLOGIE
Die Erforschung der psychologischen Grundlagen, die der Produktion und dem Verstehen mündlicher und schriftlicher Sprache zugrunde liegen, ist ein klassisches Thema der Psychologie, das ungebrochene Aktualität aufweist (vgl. Rickheit, Herrmann, & Deutsch, 2003; Traxler & Gernsbacher, 2006). Neben einer Vielzahl von Arbeiten zur mündlichen Sprache liegt auch ein umfangreiches Korpus an psychologischer Forschung vor, das sich mit der Rezeption bzw. Produktion schriftsprachlicher Äußerungen beschäftigt. Es besteht zwar ein Ungleichgewicht zwischen Lese- und Schreibforschung,1 dennoch liegt auch im Bereich des Schreibens ein ansehnlicher Umfang an psychologischer Forschung vor. Typische Fragestellungen reichen dabei von der Untersuchung der kognitiven Grundlagen schriftlicher Sprachproduktion (Alamargot & Chanquoy, 2001; Hayes, 2012) über die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen beim Erwerb schriftsprachlicher Fähigkeiten (Bereiter & Scardamalia, 1987; Berninger et al., 2006) bis hin zur Entwicklung von Methoden und Trainings zur Messung und Förderung von Schreibkompetenz im schulischen (Graham, Harris, & Chambers, 2016) und hochschulischen (Kruse & Chitez, 2012) Bereich. Es gilt zu beachten, dass diese Fragestellungen in ihren Kernaspekten zwar auf das Fach Psychologie verweisen, bei näherer Betrachtung aber z.T. ebenso starke 1
In der psychologischen Fachdatenbank „Psycinfo“ ergaben sich z.B. am 8.10.2019 bei einer eine Suche nach Studien mit dem Begriff „reading“ im Titel für die Zeitspanne der Jahre 2000 bis 2019 19861 Treffer, während mit dem Suchbegriff „writing“ im Titel lediglich 7909 Treffer in demselben Zeitraum angezeigt wurden.
Die Erforschung des Schreibens aus kognitionspsychologischer Sicht
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Bezüge zu anderen Fächern aufweisen. Blickt man in deutschsprachige und internationale Schreibforschungshandbücher (Günther & Ludwig, 1996; MacArthur, Graham, & Fitzgerald, 2016) ergibt sich ein entsprechend interdisziplinär geprägtes Bild. Auf den ersten Blick primär psychologisch konnotierte Fragestellungen werden häufig in einem multidisziplinären Forschungsumfeld bearbeitet. Die in diesem Beitrag vorgestellten Modelle und Methoden stammen aus internationalen Arbeitsgruppen, die neben der Psychologie u.a. der (Computer-)Linguistik, den Kommunikationswissenschaften, den Sprachwissenschaften oder der Didaktik zugehörig sind. Trotz dieser diversen fachlichen Zuordnung lässt sich ein klarer gemeinsamer inhaltlicher Kern ausmachen: die Zugrundelegung des kognitiven Prozessgeschehens während des Schreibens. Wie nachfolgend gezeigt wird, betrifft dies die Untersuchung kognitiver Grundlagen (inklusive der damit einhergehenden Methodenentwicklung) ebenso wie hierauf aufbauende Ansätze zur (schulischen) Schreibförderung. In den folgenden Abschnitten werden zwei Stränge fokussiert, in denen Befunde und Methoden aus Grundlagen- und Anwendungsperspektive skizziert werden. In Abschnitt 2.1 wird die Untersuchung kognitiver Prozesse während des Schreibens mittels Prozess- und Produktanalysen fokussiert, während sich Abschnitt 2.2 um die Entwicklung und Validierung von Methoden zur Förderung von Schreibfertigkeiten (v.a. im schulischen Bereich) dreht. Angesichts des gerade genannten interdisziplinären Charakters dieser Bereiche bildet sich dabei ein fachlich breiterer Blickwinkel ab, der nicht ausschließlich auf genuin psychologischer Forschung basiert. 2.1
Kognitive Grundlagen des Schreibens
2.1.1 Kognitive Schreibmodelle Den theoretischen Ausgangspunkt für die Untersuchung der kognitiven Grundlagen des Schreibens bilden Schreibprozessmodelle, die ihren Ursprung in der klassischen Modellkonzeption von Hayes und Flower (1980) haben. Schreiben wird hier als komplexer Problemlöseprozess aufgefasst, welcher gekennzeichnet ist durch Planungs- und Revisionsprozesse, die hohen kognitiven Aufwand erfordern (High-Level-Prozesse), sowie durch i.d.R. automatisierte graphomotorische Transkriptionsprozesse, die – entsprechende Übung vorausgesetzt – kognitiv kaum bis gar nicht aufwendig sind (Low-Level-Prozesse). Nachfolgende Modellerweiterungen nahmen in den 1990er Jahren weitere wichtige psychische Funktionen wie das menschliche Arbeitsgedächtnis und motivationale Prozesse in die Modellierung auf (Hayes, 1996; Kellogg, 1999). In seiner neuesten Modellversion legt
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Hayes (2012) eine Modellarchitektur zugrunde, in der mehrere Ebenen unterschieden werden (control level, process level, resource level). In diesem Modellrahmen werden neben weiteren psychischen Einflussgrößen (u.a. Leseprozessen) auch unterschiedlichste Aspekte der Schreibumgebung (Medien, Aufgabenumgebung, kollaborierende Schreibende) eingebettet. Die Ebene der Schreibprozesse wird durch kognitive Komponenten repräsentiert, die nach wie vor auf die im Ursprungsmodell identifizierten Planungs- Überarbeitungs- und Transkriptionsprozesse verweisen (ausführliche Darstellungen der hier beschriebenen und weiterer Schreibmodelle finden sich bei Alamargot & Chanquoy, 2001 sowie MacArthur & Graham, 2016). Schreibmodelle, die ihren Fokus auf die maßgeblichen kognitiven Prozesse und Strukturen legen, die bei der Entwicklung von Schreibfertigkeiten eine Rolle spielen, sind mit diesen Annahmen kompatibel. In zwei klassischen von Bereiter und Scardamalia (1987) formulierten Schreibmodellen bildet sich als entscheidender Übergang in der Entwicklung von Schreibfähigkeiten die Transformation vom knowledge telling (gekennzeichnet durch eine narrative, lokal-assoziative Aneinanderreihung von Ideen, so wie sie den jungen Schreibenden „in den Sinn kommen“) zum knowledge transforming (gekennzeichnet durch wiederholte konzeptuelle und sprachliche Reorganisation im Abgleich mit pragmatischen und rhetorischen Zielen) ab. Kellogg (2008) erweitert diese Konzeptualisierung durch eine Phase, die den Erwerb höherer Schreibexpertise adressiert und die er als knowledge crafting bezeichnet. Diese Stufe ist durch eine zunehmend effiziente Koordination multipler mentaler Repräsentationen (zum geplanten Inhalt, zum bislang Geschriebenen, zum Adressaten) sowie der ablaufenden Schreibprozesse (Planung, Überarbeitung, etc.) innerhalb des Arbeitsgedächtnisses gekennzeichnet. Das „Simple-view-of-writing-Modell“ (Berninger et al., 2002) erfasst die zentralen kognitiven Voraussetzungen, die einer erfolgreichen Schreibentwicklung zugrunde liegen. Nach diesem Modellansatz stellen Transkriptionsroutinen (Graphomotorik, Rechtschreibung), selbstregulative Fähigkeiten sowie das Arbeitsgedächtnis die zentralen Faktoren für den erfolgreichen Erwerb von Schreibfertigkeiten dar. Um gute Schreibfertigkeiten auszubilden, müssen demzufolge in jungen Jahren vor allem das Generieren von Ideen sowie basale graphomotorische und orthographische Fertigkeiten geübt werden (Berninger et al., 2002). Insgesamt lässt sich an dieser Stelle eine wichtige Gemeinsamkeit festhalten: Alle genannten Schreibmodelle fassen Schreiben als kognitiv äußerst anspruchsvolle Aufgabe auf, deren Erfolg von der effizienten Nutzung vorhandener kognitiver Ressourcen (insbesondere im Arbeitsgedächtnis) abhängt. Angesichts der limitierten Kapazität des menschlichen kognitiven Systems ist kognitive Überbeanspruchung deswegen ein häufiges Phänomen. Insbesondere bei ungeübten Schrei-
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berinnen und Schreibern kommt es schnell zu kognitiver Überlastung, wenn diese die verschiedenen aufmerksamkeitsbindenden Prozesse, die beim Verfassen eines Textes notwendig sind, koordinieren müssen. Kognitive Überlastung kann sich aber auch schon auf Ebene graphomotorischer Low-Level-Prozesse ausbilden. Sind graphomotorische Transkriptionsroutinen noch nicht hinreichend automatisiert (z.B. bei sehr jungen Schreiberinnen und Schreibern), verbrauchen diese zentral-kognitive Ressourcen, die dann nicht mehr für höhere kognitive Schreibprozesse zur Verfügung stehen (MacArthur & Graham, 2016). Automatisierte Routinen auf Low-Level-Ebene (Graphomotorik, Rechtschreibung) sind demnach die Mindestvoraussetzung dafür, dass der schriftliche Diskurs auf einer global-inhaltlichen Ebene geplant und überwacht werden kann. Aber auch bei graphomotorisch geübten Personen stellt kognitive Überbeanspruchung beim Schreiben häufig eine Herausforderung dar. Umgekehrt gilt jedoch auch: Je höher die Schreibexpertise und je automatisierter die damit einhergehenden Schreibprozesse (auch auf High-Level-Ebene!), desto effizienter können die limitierten kognitiven Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses für höhere kognitive Prozesse genutzt werden. Die genannten theoretischen Zugänge sind Grundlage zahlreicher empirischer Studien. Typische Fragestellungen in diesem Bereich beschäftigen sich z.B. mit den Auswirkungen unterschiedlicher Revisionsformen (z.B. lokale oberflächliche Korrekturen vs. globale Korrekturen des Textaufbaus) auf die Textproduktion (vgl. z.B. Allal, Chanquoy, & Largy, 2004) oder mit der Frage nach den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Schreibprozessen und dem Arbeitsgedächtnis (vgl. z.B. Grabowski, Weinzierl, & Schmitt, 2010; Kellogg, Whiteford, Turner, Cahill, & Mertens, 2013). Nachfolgend werden zentrale Methoden skizziert, die im Feld kognitiver Schreibforschung zum Einsatz kommen. 2.1.2 Methoden Janssen, van Waes und van den Bergh (1996) schlagen Kategorien vor, mittels derer sich die Methoden zur Untersuchung kognitiver Schreibprozesse klassifizieren lassen. Die Autoren unterscheiden auf zwei Dimensionen (1) zwischen asynchroner und synchroner Datenerhebung sowie (2) zwischen direkter Beobachtung und indirekter Beobachtung. Auf diese Weise decken die Autoren das Methodenspektrum ab, welches in der kognitiven Schreibforschung zum Einsatz kommt. Kombiniert man die Ausprägungen dieser beiden Dimensionen ergeben sich demnach vier übergeordnete Kategorien. Die Kombination von direkter Beobachtung und synchroner Datenerhebung wird durch die Methode des lauten Denkens repräsentiert, bei der die schreibende Per-
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son fortwährend die eigenen Gedanken laut verbalisiert. Ein Vorteil dieser Methode lässt sich darin sehen, dass sie die inneren Prozesse einer Person auf möglichst unmittelbarem Weg zu erfassen sucht, die sich auf indirektem Weg (z.B. durch eine Videoanalyse) oft nicht erschließen. Dieser Vorteil wird allerdings dadurch eingeschränkt, dass die interessierenden kognitiven Prozesse die Schwelle zur Versprachlichung überschreiten müssen und nicht bewusste Prozesse somit weiterhin nicht (direkt) zugänglich sind. Nachteile bestehen ferner darin, dass das fortwährende Formulieren mit aufgabenfremden kognitiven Prozessen einhergeht, die eine zusätzliche kognitive Belastung darstellen und Reaktivität bei den Schreibenden erzeugen können. Eine direkte Beobachtung bei asynchroner Datenerhebung auf der anderen Seite lässt sich durch retrospektive Interviews realisieren. Dabei werden Personen gebeten, nach dem Schreiben (z.B. anhand einer Videoaufzeichnung des Schreibprozesses) über die Gedanken Auskunft zu geben, die sie während des Schreibens hatten. Auch retrospektive Interviews bieten direkten Zugang zu kognitiven Prozessen, weisen allerdings den Nachteil auf, dass Schreiberinnen und Schreiber im Nachhinein ihre Gedanken (sprachlich) rekonstruieren müssen. Indirekte Methoden sind allgemein dadurch gekennzeichnet, dass sie kognitive Prozesse durch Indikatoren abbilden. Die indirekte Beobachtung bei synchroner Datenerhebung nutzt Variablen, die während des zeitlichen Verlaufs des Schreibens („online“) erhoben werden (z.B. Unterbrechungen im Schreibfluss), während die indirekte Beobachtung bei asynchroner Datenerhebung auf Variablen des geronnenen Schreibprodukts abzielt (z.B. im Text sichtbare Überarbeitungen wie Durchstreichungen und Ersetzungen). Eine wichtige Grundvoraussetzung für die Anwendung indirekter Methoden sind im Vorfeld getroffene Annahmen darüber, welche inneren Prozesse die jeweiligen Variablen indizieren sollen. Die Dauer von Schreibpausen wird beispielsweise häufig mit der Höhe des kognitiven Aufwands in Verbindung gebracht, der gerade von der schreibenden Person investiert wird. Kognitiv aufwendige Prozesse (z.B. die inhaltliche Planung des Folgesatzes) resultieren demnach in längeren Unterbrechungen des Schreibflusses als dies bei der Planung orthographischer Oberflächenkorrekturen der Fall ist. Für eine valide Interpretation solcher Daten sind weitere Spezifikationen (z.B. Festlegung von zeitlichen Schwellenwerten, nach denen Schreibpausen kategorisiert werden können) und/ oder der Einbezug weiterer Datenquellen sinnvoll. In den Einschränkungen der einzelnen Methoden bildet sich die grundlegende Schwierigkeit ab, Zugang zu (nicht bewussten) inneren kognitiven Prozessen zu erhalten. Die vorhandenen Limitationen wiegen jedoch weniger schwer, wenn man das gesamte Spektrum an Möglichkeiten berücksichtigt, welches sich über die verschiedenen Methoden hinweg ergibt. Durch Koppelung der genannten bzw. Ein-
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bezug weiterer Methoden lassen sich Einblicke in die während des Schreibens ablaufenden kognitiven Prozesse eröffnen und deren komplexes Zusammenspiel besser verstehen. Um dies zu illustrieren, werden in der folgenden Darstellung zunächst Methoden betrachtet, die den Schreibprozess synchron („online“) untersuchen, und danach die Möglichkeiten skizziert, die sich bei der Kombination mit weiteren Methoden ergeben. Methoden zur Online-Erfassung des Schreibprozesses Um das Entstehen eines Textes in seinem zeitlichen Verlauf abzubilden, wurden in den letzten Dekaden eine Reihe computergestützter Verfahren für Schreibforschungszwecke entwickelt. Für das handschriftliche Schreiben mit Stift und Papier existieren softwaregestützte Lösungen, die die zeitliche Progression der Schreibspur entweder elektromagnetisch mittels Schreibtablett (z.B. „Eye and Pen“; Alamargot, Chesnet, Dansac, & Ros, 2006) oder mittels digitaler Stifte („HandSpy“; Alves, Leal, & Limpo, 2019) aufzeichnen. In beiden Fällen werden die Koordinaten der sich auf dem Papier bewegenden Stiftspitze mit zugehörigem Zeitstempel im Hintergrund festgehalten. Aus diesen Daten lassen sich anhand von Beschleunigungsmustern u.a. Unterbrechungen im Schreibfluss extrahieren oder die Schreibspur in einzelne Striche (aus denen die Buchstaben bestehen) segmentieren. Für das Tastaturschreiben existieren mehrere speziell für die Schreibforschung entwickelte Keystroke-Logging-Tools (z.B. „Scriptlog“, „Inputlog“; vgl. van Waes, Leijten, Lindgren, & Wengelin, 2016). Diese Programme zeichnen die einzelnen Tastaturanschläge beim Schreiben an einer Computertastatur (z.B. in einem Textverarbeitungsprogramm) auf und halten die Progression des Textes durch die automatische Erhebung sogenannter Inter-Key-Intervalle fest. Dabei wird für jeden einzelnen Tastaturanschlag festgehalten, wie viel Zeit zwischen dem aktuellen und dem unmittelbar vorhergehenden Tastendruck verstrichen ist, sodass der Schreibprozess zeitlich fein aufgelöst abgebildet werden kann. Da das Schreiben beim Keystroke-Logging unmittelbar am Computer erfolgt, können Logdateien automatisch im Hintergrund erstellt werden. Ein Vorteil der genannten Methoden besteht darin, dass die technische Umsetzung es sowohl beim handschriftlichen Schreiben als auch beim Schreiben an der Tastatur erlaubt, den Schreibprozess in einem natürlichen Schreibsetting aufzuzeichnen. Während der Datenerhebung wird der Charakter der Schreibhandlung kaum bis gar nicht verändert, da mit (äußerlich) herkömmlichen Stiften auf Papier bzw. an einer Standardtastatur in einer Textverarbeitungsumgebung geschrieben wird und die Datenaufzeichnung softwaregestützt unauffällig im Hintergrund stattfindet. Die resultierenden Daten lassen sich im Anschluss in gängige Dateiformate zur weiteren Aufbereitung und statistischen Analyse exportieren.
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Die Programme bieten aber auch selbst Auswertungsroutinen für die Datenanalyse an. Dies lässt sich an Keystroke-Logging-Programmen illustrieren, bei denen bestimmte Analysen besonders einfach zu automatisieren sind. In Keystroke-Logdateien ist jedem Tastendruck ein Buchstabe oder eine Funktion (z.B. Löschen, Navigieren im Text) zugewiesen. Anhand dieser Informationen ist es möglich, Inter-Key-Intervalle automatisch danach zu klassifizieren, ob sie z.B. zwischen zwei Kleinbuchstaben, zwischen einem Leerzeichen und einem Buchstaben oder nach einem Satzzeichen aufgetreten sind. In einem weiteren Schritt können so die Übergangszeiten von Inter-Key-Intervallen (und damit auch Unterbrechungen des Schreibflusses bzw. Schreibpausen) innerhalb von Wörtern, zwischen Wörtern oder zwischen größeren linguistischen Einheiten (Phrasen, Sätzen) automatisch bestimmt und verglichen werden. Mittels Keystroke-Logging lassen sich auch vergleichsweise einfach, Überarbeitungsvorgänge identifizieren und untersuchen, da Löschungen, Einfügungen und Copy-Paste-Vorgänge in den Logdateien unmittelbar abgebildet sind. Bei solchen Revisionsvorgängen sind allerdings i.d.R. manuelle Schritte bei der späteren Datenaufbereitung vonnöten. Das Zusammenspiel automatischer und manueller Datenaufbereitungsschritte lässt sich gut anhand einer weiteren, häufig verwendeten Variable illustrieren. Der sogenannte „Burst“ bezeichnet, wie viele Wörter „in einem Rutsch“ zwischen zwei Schreibpausen niedergelegt worden sind. Um diese Variable zu erheben, müssen zunächst relevante Schreibpausen identifiziert werden (was i.d.R. automatisiert möglich ist) und danach die Anzahl der Wörter bestimmt werden, die zwischen diesen beiden Pausen niedergelegt worden sind (was insbesondere bei handschriftlichen Daten, aber auch bei Keystroke-Logs, manuelle Datenaufbereitungsschritte bedingt). „Bursts“ lassen sich als Indikatoren für kognitive Prozesse heranziehen, wobei insbesondere deren Länge (Wie viele Wörter wurden auf einmal produziert?) und Kontext (Handelt es sich um neu geschriebenen Text oder um eine Überarbeitung?) von Interesse sind (Chenoweth & Hayes, 2003). An dieser Stelle sei betont, dass im Bereich der Methodenentwicklung zur Online-Erfassung des Schreibprozesses (ebenso wie bei Koppelungen mit anderen Methoden, die im nachfolgenden Abschnitt beschrieben sind) der multidisziplinäre Charakter kognitiver Schreibforschung besonders augenfällig ist. Die gerade beschriebenen Methoden wurden sowohl in psychologischen („Eye and Pen“, „HandSpy“), als auch in sprachwissenschaftlichen („Scriptlog“) und kommunikationswissenschaftlichen („Inputlog“) Arbeitsgruppen entwickelt. Ebenso bilden sich auf inhaltlicher Ebene Gemeinsamkeiten ab. Unabhängig von der disziplinären Verortung der jeweiligen Forschung werden die genannten Tools z.B. häufig dazu genutzt, mentale Schreibprozesse bzw. deren kognitiven Aufwand anhand von „disfluencies“ (insbesondere Art und Dauer von Schreibpau-
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sen) zu untersuchen. Dabei finden Grundlagen aus verschiedenen Disziplinen (z.B. sprachbezogene Grundlagen der Linguistik, Grundannahmen zum menschlichen kognitiven System der Psychologie) fachübergreifend Berücksichtigung. Die Koppelung mehrerer Datenquellen Wie bereits erwähnt, weist die alleinige Betrachtung indirekt erhobener Indikatoren Grenzen auf. Aus dem bloßen Vorliegen einer längeren Unterbrechung des Schreibflusses anhand eines Keystroke-Logging-Protokolls lässt sich beispielsweise nicht erkennen, ob die schreibende Person den nächsten Satz geplant, den Text noch einmal durchgelesen oder nur einen tiefen Schluck aus der Kaffeetasse genommen hat. Die Einbindung in ein gut geplantes Untersuchungsdesign, das z.B. die Koppelung mit weiteren Datenquellen oder den Einbezug anderer Aufgaben (z.B. als Kovariaten) vorsieht, ist deswegen häufig nötig. Dieser Notwendigkeit wird in der Grundfunktionalität vieler der genannten Programme entsprochen. „Scriptlog“ und „Eye and Pen“ bieten beispielsweise die Möglichkeit, Blickbewegungsdaten synchron zur Erfassung des Schreibprozesses zu erheben. Auf diese Weise lassen sich z.B. Leseprozesse identifizieren, die während Schreibpausen stattfinden, was Rückschlüsse über die kognitive Natur einzelner Pausen ermöglicht. Mit paralleler Blickbewegungsaufzeichnung lässt sich aber z.B. auch zeigen, dass bei geübten Schreibenden mehrere kognitive Prozesse parallel ablaufen können. Beispielsweise indiziert ein gleichzeitiger Blick auf eine schreibaufgabenrelevante Vorlage während der Schreibhandlung das gleichzeitige Ablaufen von High-Level-Prozessen (Planung) und automatisierten graphomotorischen Low-Level-Prozessen (Alamargot, Dansac, Chesnet, & Fayol, 2007). Neben der Nutzung von Blickbewegungsmessung bietet es sich ferner an, andere auf den Schreibprozess bezogene Variablen zu erheben. Da es die digitale Aufzeichnung von Koordinaten der Stiftspitze im Zeitverlauf bzw. der Sukzession von Tastendrücken auf einer Computertastatur erlaubt, den Verlauf des Schreibprozesses zu rekonstruieren und wie bei einer Videoaufnahme wieder abzuspielen, können entsprechende „Aufnahmen“ als Impulsgeber für retrospektive Interviews genutzt werden. Ebenso ist es möglich, die Aufzeichnung des Schreibprozesses mit der Methode des lauten Denkens zu koppeln. Produktbezogene Variablen lassen sich ebenfalls mit synchron erhobenen Schreibprozessdaten zusammenführen. So besteht ein typisches Vorgehen darin, schreibprozessbezogene Variablen zur Vorhersage oder Erklärung produktbezogener Variablen wie der „Textqualität“ einzusetzen. Ein Beispiel für die gekoppelte Untersuchung von prozess- und produktbezogenen Variablen liefert eine Studie von Breetvelt, van den Bergh und Rijlaarsdam (1994). Deren Analyse online erhobener lauter Denkprotokolle von Neuntklässlerinnen und Neuntklässlern während
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des Schreibens eines Aufsatzes zeigt im Verlauf des Schreibprozesses (z.B. Anfangsphase vs. Abschlussphase) systematische Veränderungen in der relativen Auftretenshäufigkeit von Planungs- und Revisionsaktivitäten. Anhand dieser Daten zeigen die Autoren, dass es davon abhängt, in welcher Phase bestimmte kognitive Aktivitäten auftreten, ob (und in welcher Richtung!) sich Zusammenhänge zwischen der jeweiligen kognitiven Aktivität und der Textqualität ergeben. Ein wichtiger Strang kognitiver Schreibforschung fragt ferner danach, welche Rolle das Arbeitsgedächtnis für das Schreiben spielt bzw. welche Arbeitsgedächtniskomponenten während des Schreibens von besonderer Bedeutung sind (vgl. z.B. Levy & Marek, 1999). Ein in diesem Zusammenhang häufig eingesetztes Mittel ist das Zweitaufgabenparadigma. Die Grundidee dieser Methode besteht darin, dass während einer Primäraufgabe (hier: dem Schreiben) eine zusätzliche Sekundäraufgabe parallel durchgeführt werden soll, die das Arbeitsgedächtnis zusätzlich auf spezifische Weise belastet (z.B. mittels einer kurzzeitigen Memorieraufgabe oder der Präsentation visueller oder auditiver Störreize). Von Interesse ist dabei, inwieweit sich diese zusätzliche Arbeitsgedächtnisbelastung auf den Schreibprozess (z.B. kürzere Bursts, längere Schreibpausen) oder das Textprodukt (z.B. geringere Textqualität) auswirkt (für eine ausführlichere Übersicht über den Einsatz des Zweitaufgabenparadigmas im Rahmen der Schreibprozessforschung vgl. Weinzierl & Wrobel, 2017). 2.2
Förderung von Schreibkompetenz
Ein zweites großes Feld psychologisch geprägter Schreibforschung beschäftigt sich mit der Vermittlung von Schreibfertigkeiten in unterrichtlichen Kontexten. Eine Herausforderung besteht dabei darin, tradierte und empirisch fundierte didaktische Fördermethoden zusammenzuführen. Dem begegnen Graham et al. (2016) in einem aktuellen Review, in dem sie einen umfassenden Überblick über vorhandene Metaanalysen zu evidenzbasierten Fördermaßnahmen („evidence-based practice“) für das Schreiben in der Schule geben und dabei auch qualitative Studien zum Vorgehen besonders versierter Lehrkräfte berücksichtigen. Nachfolgend werden zentrale Ergebnisse dieser aktuellen Übersichtsarbeit mit den in diesem Forschungsfeld eingesetzten Methoden integriert dargestellt. Grundlage von Metaanalysen sind quantitativ-empirische Studien, die experimentell, quasiexperimentell oder im Rahmen von Einzelfallanalysen prüfen, ob eine bestimmte Schreibfördermethode wirkungsvoll ist oder nicht. Im Rahmen quasiexperimenteller Zugänge kann man z.B. Schulklassen, deren Mitglieder einer bestimmten Schreibfördermaßnahme (z.B. einem Strategietraining) unterzogen worden sind, daraufhin überprüfen, ob sich deren Texte im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (Schulklassen, die eine andere Fördermaßnahme oder schreibbezoge-
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nen Regelunterricht im Fach Deutsch erhalten haben) im Zeitverlauf signifikant stärker verbessert haben oder nicht. Echte Experimente unterscheiden sich hiervon dadurch, dass die Fördermaßnahmen den einzelnen Personen randomisiert zugewiesen und unter Laborbedingungen durchgeführt werden. In Einzelfallanalysen werden die Leistungsverbesserungen einzelner Personen mit einer im Vorfeld erhobenen individuellen Baseline-Leistung verglichen. Unabhängig von der jeweils zum Einsatz gekommenen Methode lässt sich mittels Effektstärken quantifizieren, wie groß die Wirkung der einzelnen untersuchten Schreibfördermaßnahmen ist. Metaanalysen berechnen in einem weiteren Schritt die durchschnittliche Effektgröße der einzelnen Maßnahmen, die sich über verschiedene Studien hinweg ergibt. Auf diese Weise wird es möglich zu vergleichen, welche Maßnahmen besonders wirksam sind. In ihrer aktuellen Übersichtsarbeit fassen Graham et al. (2016) die Ergebnisse 19 unterschiedlicher Übersichtsarbeiten zusammen und führen eine metaanalytische Reanalyse durch, um die durchschnittliche Effektgröße der verschiedenen Maßnahmen auf Textqualität zu bestimmen. Sie identifizieren auf diese Weise insgesamt 27 effektive Maßnahmen mit signifikanten und substanziellen Effektstärken. Als Beispiel seien hier die drei wirksamsten Maßnahmen mit den höchsten Effektstärken angeführt: die Vermittlung von Schreibstrategien, die Anleitung zum selbstregulativen Einsatz von Schreibstrategien sowie die Nutzung computerbasierter Textverarbeitungswerkzeuge. Zusätzlich inkludieren die Autoren qualitative Forschungsbefunde. Dabei kommt die Methode der Metasynthese zum Einsatz, deren Ziel es (hier) ist, besonders häufig auftretende Vorgehensweisen von Lehrkräften, die eine hohe Expertise in der Vermittlung von Schreibfertigkeiten besitzen, zu identifizieren. Im Zuge dieser Analysen wird untersucht, welche Themen (z.B. kognitives Modellieren, vermehrtes Schaffen von Schreibgelegenheiten, etc.) sich in den Förderansätzen von erfolgreichen Lehrkräften, die in verschiedenen Untersuchungen qualitativ untersucht wurden, wiederholt finden lassen. Diese metasynthetisch herausgearbeiteten Vorgehensweisen weisen mit den metaanalytisch als wirksam identifizierten Maßnahmen hohe Überschneidungen auf, was die quantitative Ergebnislage untermauert. Die Autoren leiten aus der vorliegenden Gesamtbefundlage abschließend eine Reihe allgemeiner Empfehlungen ab, die bei der Findung optimaler Förderwege zur Vermittlung von Schreibfertigkeiten als Richtschnur dienen können (für eine ausführliche Übersicht vgl. Graham et al. 2016). Textqualität als Kriterium für die Wirksamkeit schreibfördernder Maßnahmen An dieser Stelle ist noch nicht ausreichend beleuchtet worden, wie sich Erfolg oder Misserfolg einer schreibfördernden Maßnahme überhaupt empirisch festmachen
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lässt. In so gut wie allen quantitativen Analysen wird hierzu Textqualität herangezogen (vgl. Graham et al. 2016). Grundsätzlich ist zwischen Ansätzen zu unterscheiden, in denen Textqualität durch menschliche Beurteilerinnen und Beurteiler bestimmt wird, und Ansätzen, bei denen eine automatische Bewertung mittels Computerprogrammen erfolgt. Die Möglichkeiten beider Zugänge werden nachfolgend kurz skizziert. Grabowski et al. (2014) beschäftigen sich mit der Frage, wie man Textqualität durch menschliche Ratings valide erfassen kann. Die Autoren präsentieren verschiedene Varianten, die sie im Rahmen der Beurteilung von Schüleraufsätzen miteinander vergleichen: (1) „naive“ Beurteilungen mittels sechs dichotomer globaler Kriterien (z.B. Textqualität: hoch vs. niedrig, Wortschatz: adäquat vs. nicht adäquat, etc.) durch nicht geschulte Beurteilerinnen, (2) kriterial orientierte Beurteilungen geschulter Beurteilerinnen und Beurteiler, bei denen auf vorhandene Kompetenzen der schreibenden Person geschlossen wird (vgl. National Center for Education Statistics, 2012), (3) eine Beurteilung entlang linguistischer Maße, wie sie z.B. im Zürcher Textanalyseraster (Nussbaumer & Sieber, 1994) abgebildet sind. Diese Maße unterscheiden sich auf mehreren Ebenen. Sie bilden unterschiedliche Facetten von Textqualität ab, sie sind unterschiedlich detailliert und sie erfordern unterschiedlich hohe Kenntnisse seitens der Beurteilenden. Dennoch zeigt sich in den Analysen von Grabowski et al. (2014), dass die verschiedenen Maße mittelhoch bis hoch miteinander korrelieren. Welches dieser Textqualitätsmaße das Passende ist, hängt von den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Studie ab. Bei sehr großen Mengen zu beurteilender Texte kann z.B. eine ökonomische Erfassung über „naive“ Beurteilungen die beste Lösung sein, auch wenn diese die Textqualität eher grob aufgelöst erfasst. Sind hingegen sehr spezifische Aspekte von Interesse, sind detailliertere Beurteilungsraster sinnvoll. Allerdings muss abgeschätzt werden, inwieweit sich der Aufwand lohnt, diese einzusetzen. Zusätzlich wird von Grabowski et al. (2014) die Verwendung globaler statistischer Maße wie der Textlänge oder der „Type-Token-Ratio“ (Quotient aus der Anzahl vorhandener unterschiedlicher Lexeme bzw. Wortformen und der Anzahl aller Wörter eines Textes), diskutiert. Diese Variablen lassen sich unabhängig von menschlichen Beurteilerinnen und Beurteilern automatisiert erfassen und sind mit den soeben genannten Maßen hoch korreliert. Sie eignen sich dazu, Textqualität mit sehr geringem Aufwand approximativ abzuschätzen. Wie elaboriert ausgefeiltere Lösungen zur automatischen Bestimmung von Textqualität mittlerweile sind, lässt sich mit Blick auf den englischen Sprachraum zeigen. Für den praktischen Einsatz gibt es mehrere Lösungen für die automatische Bewertung englischsprachiger Aufsätze (z.B. „Intelligent Essay Assessor“, „E-Rater“;
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vgl. Shermis, Burstein, Elliot, Miel, & Foltz, 2016). Für Schreibforschungszwecke stehen ferner verschiedene Freeware-Textanalyseprogramme im Rahmen der „Suite of Linguistic Analysis Tools“ (https://www.linguisticanalysistools.org/) zur Verfügung, mittels derer sich unterschiedlichste Maße erfassen lassen (z.B. das „Tool for the Automatic Analysis of Cohesion (TAACO)“, das die automatische Analyse von Textkohäsion ermöglicht; vgl. Crossley, Kyle, & McNamara, 2016). Für den deutschen Sprachraum befinden sich automatische Textanalyseprogramme aktuell in Entwicklung (z.B. Weiss, Riemenschneider, Schröter, & Meurers, 2019). Entwicklung von Skalen zur Messung von Schreibkompetenz Wie weiter oben dargestellt wurde, zielen evidenzbasierte Fördermaßnahmen auf die Verbesserung von Schreibkompetenzen ab, wie sie sich z.B. aus kognitiven Schreibprozessmodellen ableiten lassen. An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf einen Ansatz, der darauf zielt, den Begriff „Schreibkompetenz“ aus einem allgemeineren kognitiven Blickwinkel heraus zu erweitern, und der dabei Perspektiven der Psychologie und der Didaktik integriert (Becker-Mrotzek & Grabowski, im Druck). Schreibkompetenz wird in diesem Ansatz nicht ausschließlich auf Teilfertigkeiten bzw. -prozesse im Rahmen umgrenzter Schreibaufgaben bezogen, sondern vor dem Hintergrund allgemeinerer schreibbezogener Fähigkeiten gefasst. Im Zentrum stehen dabei vor allem zwei kognitive Konstrukte: die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und die Fähigkeit zum Kohärenzmanagement (BeckerMrotzek et al., 2015). Perspektivenübernahme verweist auf die Fähigkeit von Schreibenden, sich möglichst gut auf die individuelle Perspektive (räumlich, emotional, vorwissensbasiert) späterer Leserinnen und Leser einstellen zu können (Schmitt, im Druck), was dazu genutzt wird, eigene Texte adressatensensibel auszugestalten. Kohärenzmanagement bezieht sich auf die Fähigkeit, kohärente mentale Repräsentationen aus Texten oder Bildergeschichten aufbauen zu können und diese Erfahrungen beim Schreiben dazu zu nutzen, Textkohäsion durch die dosierte Nutzung geeigneter sprachlicher Mittel so anzulegen, dass spätere Leserinnen und Leser beim Aufbau einer kohärenten mentalen Repräsentation optimal unterstützt werden (Weinzierl, im Druck). Für beide Kompetenzkonstrukte wurden Testaufgaben zur Messung dieser Kompetenzen entwickelt, mit denen sich substanzielle eigenständige Anteile von Textqualitätsvarianz (unabhängig vom Textgenre) vorhersagen lassen (BeckerMrotzek & Grabowski, im Druck). Weiterentwicklungen dieser Messinstrumente sind derzeit in Arbeit. Zur schulischen Förderung wurden auf dieser Basis ferner didaktische Materialien entwickelt, die in der Unterrichtspraxis einsetzbar sind.
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IMPLIKATIONEN FÜR EINE SCHREIBWISSENSCHAFT ALS EIGENSTÄNDIGE DISZIPLIN
Wie gezeigt wurde, liegt im Bereich kognitiver Schreibforschung ein zunehmend umfangreiches Korpus an Forschung vor. Die Psychologie spielt in diesem Forschungsfeld zwar eine wichtige Rolle, kognitiv geprägte Schreibforschung zeichnet sich aber vor allem durch einen hohen Grad an Interdisziplinarität aus. Psychologische Fragestellungen zu kognitiven Grundlagen des Schreibens lassen sich i.d.R. nicht angemessen ohne hinreichenden Bezug zu anderen Fachdisziplinen beantworten. So stellen grundlegende Erkenntnisse aus der Linguistik ebenso eine wichtige Basis für Theoriebildung und empirische Zugänge im Grundlagenbereich dar, wie Erkenntnisse aus didaktischen Disziplinen wichtige Impulse für Entwicklung evidenzbasierter unterrichtlicher Interventionen zur Schreibförderung liefern. Umgekehrt lassen sich kognitiv orientierte Fragestellungen anderer Fachdisziplinen auch nicht ohne angemessene Berücksichtigung kognitionspsychologischer Grundlagen bearbeiten. Wichtige Gemeinsamkeiten der in diesem Beitrag beschriebenen Forschungszugänge bestehen darin, dass diese dieselben Grundannahmen zu relevanten kognitiven Prozessen und Strukturen teilen (z.B. zur Rolle kapazitätslimitierter Arbeitsgedächtnisressourcen) und die darauf aufbauenden Fragestellungen auf empirischem Weg bearbeiten. Trotz dieses gemeinsamen Kerns finden sich innerhalb der kognitiven Schreibforschung aber auch Unterschiede. Auf die Frage, auf was kognitiv geprägte Schreibforschung im Kern abzielt, kann man je nachdem, ob man sich auf kognitive Prozesse während des Schreibens, linguistische Eigenschaften von Textprodukten zur Bewertung von Textqualität oder auf die Entwicklung evidenzbasierter Fördermaßnahmen fokussiert, unterschiedliche Antworten formulieren. Zu Beginn dieses Beitrages wurde die Frage nach Invarianten einer eigenständigen schreibwissenschaftlichen Fachdisziplin aufgeworfen. Angesichts der hierzu notwendigen noch breiteren Perspektive stellen sich noch grundlegendere Fragen. Wie stehen grundlagenbezogene und praxisbezogene Zugänge zueinander? Wie spielen empirische und geisteswissenschaftlich geprägte Zugänge und Methoden zusammen? Welche Rolle spielen Erkenntnisse aus der internationalen Schreibforschung, die mit anderen Sprachen und in anders strukturierten Bildungssystemen bzw. -institutionen operiert? Und schließlich: Inwieweit lassen sich inhaltliche Aspekte aus den jeweils beteiligten Fachdisziplinen herauslösen, um diese in einem eigenständigen Fach aufgehen zu lassen? Die Beantwortung solch breit angelegter Fragen ist ein Unterfangen, das sich aus der Perspektive eines einzelnen Faches heraus allein kaum beantworten lässt.
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Vielmehr erscheint es notwendig, die Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen (wie sie sich z.B. in diesem Band abbilden) zunächst zu verbinden. Die hier dargestellte Forschung liefert einen Beitrag, an dem ein weiterführender Diskurs ansetzen kann, der mehrere solcher Perspektiven zusammenführt. Der Umstand, dass die in diesem Kapitel dargestellten empirischen Zugänge bereits einer interdisziplinär geprägten Community entspringen, bildet aus Sicht des Autors einen interessanten Ansatzpunkt. Um das Ziel der Formulierung einer eigenständigen Schreibwissenschaft zu erreichen, erscheint ferner eine stärkere Verknüpfung auf institutioneller Ebene sinnvoll. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung bestünde z.B. in einer (noch) stärkeren Etablierung von Verbindungen zwischen nationalen (z.B. „GewissS“, „gefsus“, „dieS“, etc.) und internationalen („Earli SIG Writing“) Forschungsverbünden. Die Formulierung einer eigenständigen deutschen Schreibwissenschaftsdisziplin sollte aus Sicht des Autors auf einem interdisziplinären Diskurs fußen, der nationale und internationale (empirische) Befundlagen stärker integriert. Die in diesem Band zusammengetragenen Perspektiven lassen sich als Impuls auffassen, der eine entsprechende Marschrichtung ermöglichen kann.
Literatur Alamargot, D., & Chanquoy, L. (2001). Through the models of writing. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers. Alamargot, D., Chesnet, D., Dansac, C., & Ros, C. (2006). Eye and Pen: A new device for studying reading during writing. Behavior Research Methods, 38(2), 287–299. Alamargot, D., Dansac, C., Chesnet, D., & Fayol, M. (2007). Parallel processing before and after pauses: A combined analysis of graphomotor and eye movements during procedural text production. In M. Torrance, L. van Waes, & D. Galbraith (Eds.), Writing and cognition: Research and applications (pp. 13–29). Amsterdam: Elsevier. Allal, L., Chanquoy, L., & Largy, P. (Eds.). (2004). Studies in Writing: Vol. 13. Revision Cognitive and Instructional Processes. Dordrecht: Springer. Alves, R. A., Leal, J. P., & Limpo, T. (2019). Using HandSpy to study writing in real time: a comparison between low- and high-quality texts in grade 2. In E. Lindgren & K. Sullivan (Eds.), Observing Writing (pp. 50–70). Leiden: Brill. Becker-Mrotzek, M., Brinkhaus, M., Grabowski, J., Hennecke, V., Jost, J., Knopp, M., Schmitt, M., Weinzierl, C., & Wilmsmeier, S. (2015). Kohärenzherstellung und Perspektivenübernahme als Teilkomponenten der Schreibkompetenz: Von der diagnostischen Absicherung zur didaktischen Implementierung. In A. Redder, J. Naumann, & R. Tracy (Hg.),
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Christian Weinzierl
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SCHREIBENDE EXPERT*INNEN – EIN BLICK AUF DIE DOMÄNE TECHNIK Annette Verhein-Jarren
ABSTRACT Welche schreibwissenschaftlichen Gegenstände haben sich mit Blick auf die Domäne Technik etabliert? Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach. Betrachtet wird das Umfeld technischer Studiengänge an Fachhochschulen in der deutschsprachigen Schweiz. Im Fokus stehen demnach die schreibenden Expert*innen: Angehende Ingenieur*innen, die berufsspezifische oder hochschulspezifische Aufgaben erledigen und entsprechende Textsorten verfassen müssen. Unterschieden wird zwischen dem Schreiben in technischen Berufen und dem Schreiben in technischen Fachhochschulstudiengängen. Für beide Themenfelder wird dargestellt, welche Modelle, Untersuchungen und schreibwissenschaftliche Unterstützung es bereits gibt. Aber auch, welchen weiteren Forschungsfragen nachgegangen werden könnte und welche Barrieren dafür zu überwinden sind. Als Fazit lässt sich festhalten, dass es viele gute Ansätze und viel Entfaltungspotenzial gibt. Um das Potenzial zu entfalten, ist eine institutionelle Verankerung der Schreibwissenschaft und interdisziplinäre Kooperation mit Ingenieur*innen wünschenswert.
1 EINLEITUNG Schreibenlernen, Schreibenlehren, Schreibenlernen und -lehren untersuchen – all das können Gegenstände einer (deutschsprachigen)1 Schreibwissenschaft sein. Was hat sich mit Blick auf die Domäne Technik etabliert, was sollte sich – noch, besser – etablieren, wenn es um das Schreibenlernen und -lehren geht? Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach. Dabei werden zunächst die Rahmenbedingungen in der Domäne Technik an Fachhochschulen in der Schweiz dargestellt und dann auf schreibende Expert*innen im Unterschied zu Schreibexpert*innen fokus1
Dieser Beitrag ist die schriftliche Fassung eines Vortrages an der trinationalen Tagung, Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin?, 31.05.–01.06.2019, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (A).
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Annette Verhein-Jarren
siert. Ein Blick auf das Schreiben im Beruf und das Schreiben an der Fachhochschule als Gegenstand von Forschung macht sichtbar, wo die Schreibwissenschaft steht, wie weiterführende Fragestellungen lauten können und welche Barrieren es für die Bearbeitung dieser Fragestellungen zu überwinden gilt. Erwähnenswert ist, dass nicht nur ich als Autorin dieses Beitrags nicht aus der Technik komme, sondern auch viele andere, die sich mit der Domäne Technik befassen. Die Herkunftswissenschaft ist vielfach die Sprachwissenschaft, in meinem Fall die angewandte germanistische Linguistik.
2 2.1
SCHREIBEN IN DER DOMÄNE TECHNIK Rahmenbedingungen an Fachhochschulen in der Schweiz
Schweizweit gibt es an den acht Fachhochschulverbünden (ohne Pädagogische Hochschulen) insgesamt ca. 78.000 Student*innen (Bundesamt für Statistik, 2019). Ingenieur-Abschlüsse werden in den Fachbereichen Technik und Informatik sowie Architektur, Planungs- und Bauwesen erworben. Diese Fachbereiche haben zusammen rund 18.000 Student*innen, ca. 1500 davon studieren an der Ostschweizer Fachhochschule – Hochschule für Technik in Rapperswil. Die Schweizer Fachhochschulen weisen zwei Besonderheiten auf. Zum einen ist die Zugangsvoraussetzung die Berufsmaturität. Die Student*innen bringen daher eine abgeschlossene Berufslehre mit. Die Matura (das Abitur) allein berechtigt nicht zu einem Studium an der Fachhochschule. Bei fehlender Berufsmaturität muss mindestens ein einjähriges Praktikum nachgewiesen werden. Auf die Einhaltung dieser Bedingung wird zumindest in den Ingenieur-Fachbereichen sehr viel Wert gelegt. Die Student*innen kennen aus ihrer Lehrzeit ein Unternehmen von innen und bringen daher Schreiberfahrungen nicht nur aus der Schule, sondern auch aus der Praxisgemeinschaft dieses Unternehmens (Pogner, 2007) mit an die Hochschule. Zudem gibt es in der Technik auch auf Fachhochschulstufe (noch) Organisationseinheiten und ECTS-Vorgaben für Kommunikation und Fremdsprachen, die nicht aus einem Sammelbecken ‚Studium Generale‘ oder ‚Schlüsselkompetenzen‘ stammen, sondern für einzelne Studiengänge bzw. Fachbereiche (Departemente) definiert werden. Auf diese Weise ist das Schreibenlernen modulgebunden im Curriculum der einzelnen Studiengänge verankert.
Schreibende Expert*innen
2.2
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Schreibende Expert*innen
Für den Blick auf die Domäne Technik ist es wichtig, zwischen schreibenden Expert*innen und Schreibexpert*innen zu unterscheiden. Als schreibende Expert*innen sind (angehende) Ingenieur*innen zu benennen, die berufsspezifische oder hochschulspezifische Aufgaben erledigen müssen und entsprechende Textsorten verfassen (Verhein-Jarren, 2006). Als Schreibexpert*innen sind hingegen diejenigen zu benennen, die als Fach- oder Technikjournalist*innen arbeiten oder in der Technischen Kommunikation/Dokumentation. Journalist*innen, Technische Redakteur*innen oder Public-Relations-Fachleute werden in ihrer Ausbildung zu Expert*innen im Schreiben mit einer sekundären fachlichen Orientierung, alle anderen hingegen zu Expert*innen mit einer primären fachlichen Orientierung, die zusätzlich auch schreiben (Jörissen & Verhein-Jarren, 2020). Der Fokus dieses Beitrags liegt wegen der primären fachlichen – und d.h. hier technischen Orientierung – auf den schreibenden Expert*innen. Schreibende Expert*innen schreiben – auch für sie selbst oft überraschend – noch recht viel, sowohl im Studium als auch später im Beruf: Es gilt vielfältige projektbegleitende und produktbegleitende Texte zu schreiben (Dokumente zu verfassen): Von der Konzeptstudie über das Protokoll bis hin zur Betriebsanleitung, zum Labor- und Projektbericht, zum Technischen Bericht oder Poster und nicht zu vergessen dem E-Mail reicht die Spanne (Jörissen & Lemmenmeier, 2016; Karras, 2017). In der Technik-Domäne gibt es eine starke Übereinstimmung zwischen den Textsorten, die im Studium geschrieben werden und denen, die nachher im Beruf geschrieben werden müssen. Ihr wichtigster Unterschied dürfte im Unterschied zwischen der Norm der Diskursgemeinschaft und der Norm der Praxisgemeinschaft in einem Unternehmen liegen. Im Rahmen des Hochschulstudiums, das eher disziplinär ausgerichtet ist (Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik, …) wird oftmals eine idealtypische, disziplinorientierte Norm vermittelt: So macht man das. So schreiben wir in dieser Disziplin einen technischen Bericht. Das ist unsere Norm als ‚Diskursgemeinschaft‘. Die Textsorte mag dann später im Beruf gleich benannt sein, z.B. als Protokoll oder als technischer Bericht. Die Unternehmenspraxis wird aber in der Regel von der Disziplin-Norm abweichen. An die Stelle des ‚So macht man das‘ tritt im Beruf das ‚So machen wir das hier‘, die Regel der Praxisgemeinschaft. Die Regel entsteht durch das gemeinsame Tun (Pogner, 2007). Von daher ist für eine Wissenschaft vom Schreibenlernen, Schreibenlehren neben der Fokussierung auf die schreibenden Expert*innen die Unterscheidung zwischen Schreiben im Beruf und Schreiben an der Fachhochschule wichtig. Was bietet die Schreibwissenschaft bislang in diesen beiden Feldern an?
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3
Annette Verhein-Jarren
Schreiben in technischen Berufen als Gegenstand einer Schreibwissenschaft
Mit dem Schreiben im Beruf für die Domäne Technik haben sich modellbildend die Linguistinnen Jakobs (2005) sowie Rothkegel (2010) befasst. Beide stellen das (schreibende) Individuum in den Mittelpunkt, betten es aber in unterschiedliche Kontexte ein. 3.1
Schreibkomponenten und Kommunikationsräume
Jakobs unterscheidet in ihrer Untersuchung ‚Writing at Work‘ verschiedene Komponenten des Schreibens am Arbeitsplatz. Die schreibenden Expert*innen schreiben eben nicht mehr nur als Individuum, sondern an ihrem Arbeitsplatz, eingebunden in ein Handlungskontinuum (z.B. einen Projektverlauf), für das der Wechsel zwischen mündlichem Austausch und schriftlicher Fixierung in Dokumenten charakteristisch ist. Das findet im Rahmen einer Abb. 1: Komponenten des Schreibens Organisation (z.B. einem Unternehmen) am Arbeitsplatz (Jakobs, 2005, S. 17). statt, die wiederum in einer bestimmten Domäne beheimatet ist (z.B. Technik oder genauer Maschinenbau), die wiederum in einem bestimmten Kulturraum verankert ist (z.B. Europa). Was geschrieben wird, wird von dieser Einbettung vielfältig überformt und geprägt. Rothkegel stellt in ihrem Modell verschiedener Kommunikationsräume ebenfalls das Individuum ins Zentrum, zieht aber die Grenze ihrer Betrachtung bei der Komponente ‚Organisation‘. Sie benennt bei dieser Grenzziehung das Individuum als Akteur*in im organisationalen Rahmen und nimmt damit das gesamte kommunikative Verhalten in den Blick und nicht nur das Schreiben. Sie unterscheidet stattdessen verschiedene Kommunikationsräume, in denen die Akteur*in sich bewegt: Arbeitsplatz- und Know-how-Kommunikation, sowie Image-Kommunikation und Experten-Nichtexperten-Kommunikation. Rothkegel präzisiert damit einerseits die Komponenten Organisation/Arbeitsplatz/Schreiber*in – und weitet damit andererseits den Domänenbezug wieder aus: Innerhalb einer Organisation werden verschiedene Domänen wirksam, z.B. Technik und Wirtschaft. Der Domänenbezug selbst wird überformt durch die
Schreibende Expert*innen
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Abb. 2: Kommunikationsräume (Rothkegel, 2010, S. 110).
Kommunikationsräume und die damit verbundenen Kommunikationsziele. Dokumente der internen Kommunikation, wie z.B. eine Weiterbildungsrichtlinie oder ein Pflichtenheft, vermitteln Mitarbeiter*innen die Möglichkeiten oder auch Verpflichtungen zur Weiterbildung oder sind handlungsleitend für die Entwicklungsarbeit an einem Produkt. Während Dokumente der externen Kommunikation, z.B. ein Bericht über das Weiterbildungskonzept des Unternehmens in einem Branchenmagazin oder eine Betriebsanleitung das Ziel verfolgen, das Unternehmen für potenzielle Mitarbeiter*innen interessant zu machen oder Laien die Nutzung eines komplexen Produkts zu ermöglichen. Modelle dieser Art zeigen den differenzierten Hintergrund des Schreibens im Beruf auf. Sie bieten den Reflexionshintergrund für das Einsortieren und Andocken dessen, was eine anwendungsorientierte Schreibwissenschaft machen kann. 3.2
Untersuchungen zum Schreiben in technischen Berufen
Zur Konzeptualisierung des Schreibens bei Ingenieur*innen, zum Bedarf einer Schreibausbildung aus betrieblicher Sicht, zur gängigen Schreibpraxis in Unternehmen und zu den dazugehörigen Anforderungsprofilen hat es in den vergangenen 20 Jahren eine Reihe von Untersuchungen gegeben (Göldi, 2001; Jakobs, 2005; Karras, 2017; Kuhn, 2019b; Lehnen & Schindler, 2008; Winkler, 2017). Karras liefert in ihrer Dissertation „Wie schreiben Ingenieure im Beruf “ einen guten Überblick über die einzelnen Studien. Die Kernfrage, was und wie viel überhaupt von Ingenieur*innen (in der Domäne Technik) geschrieben wird, zieht sich durch alle
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Annette Verhein-Jarren
Untersuchungen und hat für die unterschiedlichen Kontexte immer wieder dieselbe Antwort: Schreiben im Beruf ist ein fester Bestandteil der Ingenieursarbeit. Und wie Karras (2017, S. 263) in ihrer Zusammenfassung festhält, wird das Schreiben inzwischen auch von Ingenieur*innen selbst als beruflich relevant bewertet: „Es wird als grundlegende Voraussetzung für die Berufsausübung angesehen. Schreibkompetenz gilt darüber hinaus als Karrierefaktor für berufliches Vorankommen.“ Einige Erkenntnisse aus Karras’ Studie seien hier referiert, um die Aspekte des Schreibens in technischen Berufen beispielhaft näher zu erläutern. Die Daten für ihre Untersuchung gewinnt Karras anhand von teilnehmender Beobachtung wie auch aus qualitativen, problemzentrierten Interviews mit nach möglichst heterogenen Kriterien ausgewählten Ingenieur*innen (Karras, 2017). Die Aussage, dass Schreiben ein fester Bestandteil der Arbeitszeit von Ingenieur*innen ist, beziffert sie: Der zeitliche Anteil der Schreibarbeit am beruflichen Alltag variiert zwischen 20 % bei Projektingenieur*innen und 90 % bei Kaderingenieur*innen2 (Karras, 2017, S. 56). Bemerkenswert ist auch, dass alle beobachteten bzw. befragten Ingenieur*innen Textvorlagen verwenden, was sowohl Formulare als auch Templates oder Best-Practice-Textbeispiele umfassen kann. Die schreibenden Ingenieur*innen suchen demnach in ihrem Schreibprozess nach Wegen, das Schreiben zu beschleunigen und damit den notwendigen Zeiteinsatz zu begrenzen. Ergänzend zu Textvorlagen nutzen sie im Schreibprozess daher auch häufig Copy-Paste-Verfahren (Karras, 2017, S. 209). Die Arbeit mit Formularen und Templates ist im betrieblichen Kontext nicht unbedingt nur eine individuelle Strategie, den Schreibprozess effizient zu gestalten, sondern vielfach auch eine Vorgabe. Damit stellt das Unternehmen einen gewissen Standard sicher, damit der Text den Erfordernissen der Textsorte im Handlungskontext gerecht werden kann. So werden in einem Pflichtenheft z.B. die Anforderungen eines Auftraggebers festgehalten, damit der Auftragnehmer einen möglichst klaren Auftrag erhält. Die Qualität der abgelieferten Leistung kann zudem am Pflichtenheft gemessen werden. Texte können aber auch noch weitergehender einen rechtsverbindlichen Charakter haben, wie z.B. eine Nutzungsvereinbarung im Hochbau, in der die Nutzung eines Bauwerks auf der Basis von Statik und Konstruktion festgehalten wird. Verantwortlichkeiten und rechtliche Verbindlichkeiten werden in diesem Dokument schriftlich fixiert und haben rechtliche Folgen bei Unfällen oder Schadensfällen (Karras, 2017, S. 201 f.). Methodisch sind die oben genannten Untersuchungen empirisch angelegt. Gear2
Kaderingenieur steht in der Schweiz für eine Person (hier einen Ingenieur) mit Führungsfunktionen.
Schreibende Expert*innen
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beitet wird mit Fragebögen, Fokus-Interviews, qualitativen Interviews, teilnehmender Beobachtung oder ethnographischen Ansätzen. Die Stichproben werden so gewählt, dass qualitative Aspekte eine Rolle spielen. So bezeichnet Karras z.B. Untersuchungsmethode und -design für ihre Arbeit als qualitativ-explorativen Forschungszugang. Die subjektive Sichtweise der Zielgruppe solle erfasst werden und von individuellen Erfahrungen auf allgemeine Aussagen geschlossen werden (Karras, 2017, S. 41). So stehen neben wenigen quantitativen Aussagen, die aus einer schmalen Datenbasis abgeleitet werden, vor allem qualitative Beschreibungen und Ergebnisse. Der Bezug der Forschung zu einer qualitativ und hermeneutisch orientierten Geisteswissenschaft ist wahrnehmbar. Diese Zugänge sind für mich als Sprachwissenschaftlerin einleuchtend, die Ergebnisse erhellend – die schmale Datenbasis erleichtert aber die Rezeption und Verwertung der Ergebnisse durch Vertreter der Domäne Technik nicht gerade. Eine breitere Datenbasis wäre für diesen Zweck wohl förderlich. 3.3
Forschungsthemen und Barrieren
Weitergehende Forschungsthemen, die für das bessere Verständnis des Schreibens im Beruf bzw. im Unternehmen wichtig wären, wäre die Untersuchung • von Texten im Handlungsprozess – und die Schlussfolgerungen, die daraus für die Anforderungen an die Textsorte(n) selbst, ans Schreiben und ans Schreibenlernen bzw. lehren zu ziehen sind. Der Blick auf Texte ändert sich in dieser Betrachtungsweise. Es gilt, die Praxisgemeinschaft (Pogner, 2007) fassbar zu machen, in der Texte (und Gespräche) durch Interaktion der Entstehung von Wissen dienen, der Herausbildung einer Konvention des ‚So machen wir das hier‘. • des Wechsels zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit entlang des Handlungsprozesses. Wann wird gesprochen, was wird wann schriftlich dokumentiert? Wie überformt die praktizierte Mündlichkeit den Umgang mit dem in den Texten niedergelegten Wissen oder auch das Wissen selbst? Zur Illustration des oben beschriebenen Themas mag das folgende Beispiel dienen: Umfangreiche Prozessdokumentationen werden erfahrungsgemäss nicht regelhaft genutzt. Man verlässt sich lieber auf das eigene Erfahrungswissen oder auf das der Kolleg*innen. Das gilt ebenso für Dokumentvorlagen, die keiner mehr nutzt, weil man lieber ein lokal abgespeichertes Beispieldokument nimmt oder jemanden fragt (‚Wie machst du das denn mit den Protokollen?‘). • der Auswirkungen des Tätigkeitsfeldes auf Schreibprozess und Schreibprodukt. So dürften sich z.B. die Textsorten in beratenden oder ausführenden Tätigkeits-
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Annette Verhein-Jarren
feldern unterscheiden. Im projektorientierten beratenden Gewerbe ist wegen der vielen Beteiligten aus unterschiedlichen Unternehmen ein vollständiger technischer Bericht wichtig. Hingegen spielt er im produktorientierten ausführenden Herstellungsbetrieb eine geringere Rolle, weil der Informationsfluss ausschliesslich intern ist und daher u.U. die Weitergabe der Datenbasis ausreicht. • die Auswirkungen der Texterfassung und -distribution auf Schreibprozess und Schreibprodukt. So geht es im betrieblichen Kontext nie nur um den einzelnen Text, das Dokument. Dieses ist oftmals mindestens Bestandteil eines Datenmanagementsystems (DMS) oder gar eines übergreifenden Enterprise-ResourcePlanning-Systems (ERP-Systems). Damit verbunden sind Fragen der Standardisierung von Texten oder der Identifizierung und Standardisierung von Textbausteinen (Modulen), wie z.B. bei (Muthig, 2014) dargestellt. • der Multimodalität von Texten. Wie sieht die Praxis in Unternehmen aus? Welche Formen werden ausprobiert oder haben sich etabliert? Werden die verschiedenen Kanäle im Hinblick auf die Kommunikationsabsicht und die mit dem Kanal verbundenen Möglichkeiten zielführend eingesetzt? Für die skizzierten Forschungsthemen gibt es eine Reihe von Barrieren. Die größte Barriere ist der Zugang zum Unternehmen. Unternehmen haben mit Recht Bedenken vor zu viel Transparenz, geht es doch um ihr Betriebsgeheimnis, um ihr Know-how, das sie bei sich behalten wollen. Auch geht es um die Kultur des Unternehmens. Eine schlechte Praxis möchte man allenfalls erkennen und bearbeiten aber nicht nach außen kommunizieren. Und schließlich ist die Aktivität von Forschenden oder gar ihre Anwesenheit eine Störung des Arbeitsablaufs und ein allfälliger Nutzen lässt sich beim Thema Schreiben vielleicht erst im dritten Schritt erkennen und häufig genug nicht beziffern. Bisherige Studien wurden in der Regel möglich durch ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Forschenden und hinreichend einflussreichen Personen in einem Unternehmen. Als Barriere ist aber auch das Verhältnis von Praxis- und Diskursgemeinschaft (Pogner, 2007) zu betrachten. Wenn die Diskursgemeinschaft das Dokument als wissensgenerierend betrachtet und damit die Norm des ‚Das macht man so‘ verbindet – wie gut sind dann die auf die Praxisgemeinschaft gerichteten Texte und Schreibprozesse über die unternehmensspezifische Praxis hinaus verallgemeinerbar? Bevor eine solche Barriere abgebaut werden kann, wären jedoch erst einmal die unternehmensbezogenen Studien wünschenswert. Ein Vergleich solcher Studien könnte dann Aufschluss liefern, wie es um die Verallgemeinerbarkeit steht. Ein Bewusstsein von der Relevanz des Schreibens im beruflichen Kontext ist inzwischen vorhanden. Im Gespräch mit Praxisvertreter*innen entsteht jedoch schnell der Eindruck, dass dieses grundsätzliche Bewusstsein in umgekehrt pro-
Schreibende Expert*innen
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portionalem Verhältnis zur Vorstellung steht, wie viel Zeit das Schreibenlernen und Schreibenlehren beanspruchen darf.
4
SCHREIBEN IN TECHNISCHEN FH-STUDIENGÄNGEN ALS GEGENSTAND EINER SCHREIBWISSENSCHAFT
‚Schreiben bringen wir den Studierenden schon auch noch bei‘ – so lautet eine typische Äußerung von Professorenkollegen aus den Ingenieurwissenschaften. Aus ihrer Sicht funktioniert das Schreibenlernen ihrer Student*innen durch Vormachen und Nachahmung. Auch wenn man nach wie vor noch auf Vorstellungen dieser Art trifft, hat doch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Schreibenlernen und Schreiben die Begrenztheit dieser Vorstellung einer Meisterlehre sichtbar gemacht. Pohl (2007) hat in seiner Untersuchung zur Ontogenese des wissenschaftlichen Schreibens eindrücklich nachgewiesen, dass Schreibenlernen auch ein mit der fachlichen Sozialisation verknüpfter Entwicklungsprozess ist. Kuhn hat diesen Zusammenhang in ihrer Dissertation auch für die Domäne Technik nachgewiesen (Kuhn, 2019b). In Anlehnung an Pohl formuliert Schindler „Das gelungene Schreiben von Studierenden an der Hochschule wird nicht mehr vorausgesetzt, es wird als domänenbezogene Anforderung begriffen, die angeleitet und moderiert werden muss…“ (Schindler & Fischbach, 2015, Titelseite). 4.1
Modelle und Konzepte in der Lehre
Wie eine Verankerung des Schreibenlernens und -lehrens in einem Studium aussehen kann, haben Banzer and Kruse (2011) modellhaft beschrieben. Sie unterscheiden zwischen extracurricularen und curricularen Angeboten. Die extracurricularen Angebote bestehen in der Unterstützung bei Schreibaufgaben aus Modulen außerhalb der Lehrveranstaltungen. Unterstützung dieser Art wird z.B. von Schreib- oder Lehr-/Lernzentren angeboten. Bei den curricularen Angeboten handelt es sich um Module, die im Curriculum eines Studiengangs verpflichtend oder optional angeboten werden. Die Module können fachspezifisch oder fachübergreifend konzipiert sein.3 In sehr vielen technischen Studiengängen an Schweizer Fachhochschulen wird (überraschend) viel geschrieben: Projektberichte, Laborberichte, Studienarbeiten, Bachelorarbeit. Die Schreibanforderungen sind hoch: Über das gesamte Studium 3
Eine ausführliche Darstellung des Schreibens an Hochschulen erscheint im Sommer 2020: Verhein-Jarren & Jörissen (2020).
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hinweg müssen die Studierenden komplexe Aufgabenstellungen bearbeiten, die jeweils mit einer Dokumentation verbunden sind. In diesem breiten Anforderungsprofil werden an den Schweizer FHs unterschiedliche Konzepte der curricularen Instruktion realisiert. Der wichtigste Unterschied liegt darin, ob die Schreibaufgaben in ein disziplinär orientiertes Fachmodul eingebunden sind oder in nicht disziplinär gebundene Module im Themenfeld Kommunikation. „Es zeigen sich darin zwei unterschiedliche Konzepte, die im Rahmen der US-Diskussion um Schreibcurricula seit den 1960er-Jahren als Writing in the Disciplines (WID) und Writing Across the Curriculum (WAC) gefasst wurden (vgl. z. B. Bazerman, 2004; Russell, 2007)“ (Jörissen & Verhein-Jarren, 2020). Ein Blick auf Beispiele zeigt, wie die Vermittlung von Schreibkompetenzen ausgestaltet wird. So gibt es an verschiedenen Technik-Departementen, z.B. auch an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, die sogenannte Projektschiene, ein Beispiel für ein WID-Konzept. Die Studierenden bearbeiten ein Projekt, müssen die damit verbundenen Schreibaufgaben erledigen (z.B. Protokolle, Projektberichte, Präsentationen). Sie erhalten in diesem Rahmen auch theoretische Instruktion zum Schreiben, wie z.B. zu Textsorten oder zum Schreibprozess. Die Instruktionen sind aber der fachlichen Perspektive des Projekts stets untergeordnet. Unterrichtet wird im Team, d.h. neben dem Fachdozenten ist auch ein Sprachdozent am Unterricht beteiligt. Bei WAC-Konzepten werden Module mit unterschiedlichem Verpflichtungsgrad in das Curriculum integriert. Sie können frei wählbar oder aber auch Pflichtoder Wahlpflichtmodule sein. Diese Module werden in der Schweiz durch Sprachbzw. Kommunikationsdozierende unterrichtet. Sie instruieren das Schreiben explizit. Von den Themen her geht es um die verschiedenen akademischen oder berufsbezogenen Textsorten, um das wissenschaftliche Arbeiten oder genereller um Schreibkompetenzen. Durch den Bezug zum wissenschaftlichen Schreiben sind oft auch Recherche, Umgang mit Quellen oder Zitierrichtlinien Gegenstand dieser Module. Bei dem oben beschriebenen WID-Konzept steht also der fachliche Inhalt im Vordergrund. Die Studierenden sind davon ‚gefesselt‘ – und auch kognitiv gefordert. Die expliziten Instruktionen und Reflexionen zum Schreibenlernen, die vom Konzept her in die Projektschiene integriert sind, werden weniger aufmerksam wahrgenommen. Wird hingegen ein Schreibauftrag lediglich fachlich situiert, ohne auch fachlich in die Tiefe zu gehen, wird er sehr schnell als zu wenig fachlich eingeschätzt – die Motivation schwindet mit entsprechenden Folgen für Engagement und Lernbereitschaft. Schreibzentren bzw. Lehr-/Lernzentren als extracurriculare Angebote bieten individuelle Beratung bzw. Weiterbildung im Schreibprozess bzw. zum Schreib-
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produkt an. Ihr Vorteil ist, dass sie niederschwellig sind. Sie sind nicht mit Notendruck und Lehrveranstaltungen verbunden. Sie sind jedoch in der Domäne Technik praktisch nicht institutionalisiert. Coaching wird entweder doch in Lehrveranstaltungen integriert (siehe oben) oder findet als Einzelaktivität von Studiengängen oder Coaches punktuell – und jederzeit wieder rücknehmbar – statt. 4.2 Schreibwissenschaftliche Unterstützung
In schreibdidaktischer Hinsicht lässt sich festhalten, dass sich eine Schreibwissenschaft für die Domäne Technik bereits recht gut etabliert hat. Einen guten Überblick über thematische Aspekte und den Stand der Forschung geben. Vedral & Ederer-Fick (2015). Institutionelle und curriculare Einbindungen und Modelle sind zumindest allgemein beschrieben (Banzer & Kruse, 2011; Bazerman, 2004; Göpferich, 2015; Hirsch-Weber, Loesch, & Scherer, 2019; Jörissen & Verhein-Jarren, 2020; Russell, 2007) und manchmal mit einer systematischen Bedarfsklärung untermauert, wie z.B. bei Winkler (2017). Die vermutlich rhetorisch gemeinte Frage: Forschung für die Schreibdidaktik – Voraussetzung oder institutioneller Irrweg? Hirsch-Weber et al. (2019) verweist aber auch auf den Rechtfertigungsdruck, der auf einer Schreibwissenschaft (noch) liegt. Dabei sind die schreibdidaktischen Untersuchungen meist nicht speziell oder einzig auf die Domäne Technik ausgerichtet. Hingegen sind für die Domäne Technik eine ganze Reihe von Best-Practice-Beispielen beschrieben. Nicht alle diese Beispiele sind publiziert, sondern oftmals nur in Vorträgen an schreibwissenschaftlichen Tagungen, z.B. des Forums wissenschaftliches Schreiben, zur Diskussion gestellt. Publiziert sind z.B. die Berichte zu Postern im Hochschulkontext (Dubach, Gertiser, & Wiederkehr, 2019 (im Druck); Kuhn, 2019a) oder zur Multikodalität in Abschlussarbeiten des Maschinenbaus (Kuhn, 2019a). Interessanterweise beides Arbeiten, die sich mit Text-Bild-Kompositionen, also der Kombination verschiedener Zeichensysteme befassen. Auch existieren einige produktorientierte Ratgeber, Leitfäden oder Lehrbücher, die zur Produktion von guten technischen Texten anleiten möchten. So befasst sich z.B. Theuerkauf direkt mit dem Schreiben im Ingenieurstudium (Theuerkauf, 2012). Der Band „Schreiben in Ingenieurberufen“ von Jörissen & Lemmenmeier ist orientiert an den verschiedenen Textsorten, fußt auf sprachwissenschaftlichen Konzepten und greift Erfahrungen auf (Jörissen & Lemmenmeier, 2016). Hingegen ist „Schreiben für die Technik“ von Baumert & Verhein-Jarren auf den Nutzungskontext hin orientiert. Ingenieur*innen und technische Redakteur*innen sollen in der Produktion guter technischer Texte unterstützt werden, indem in dem Buch zusammengefasst wird, „was in Lehre und Forschung heute als solides
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Wissen über das Verfassen technischer Texte bekannt ist“ (Baumert & VerheinJarren, 2016, S. V). Ratgeber, Leitfäden und Lehrbücher existieren inzwischen auch in digitaler Form – d.h. weitergehender als E-Learning-Angebote ausgebaut. Damit sind sie nicht (mehr) öffentlich zugänglich, wie z.B. der Thesis-Writer der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)4. Nach der fröhlichen Begrüßung „Wir freuen uns euch ab sofort die neueste Version des Thesis Writers anbieten zu können“ scheitert der Nicht-Angehörige der ZHAW an der passwortgeschützten Zugangsschranke. Von anderen E-Learning-Angeboten erfährt man nur zufällig – sie sind nur über die jeweilige hochschulinterne Lernplattform und kursgebunden zugänglich. Dazu gehört z.B. ein E-Book über Schreiben im Architekturstudium an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur oder ein Blended-Learning-Kurs Academic Research für Wirtschaftsingenieure an der Ostschweizer Fachhochschule, Hochschule für Technik in Rapperswil. Es wäre wünschenswert, solche E-LearningAngebote auch für Interessent*innen von anderen Hochschulen nutzbar zu machen. Die methodischen Zugänge in den genannten Publikationen sind sehr vielfältig. Sie beruhen auf Befragungen, Modellen von Schreibprozessen, Erkenntnissen aus der Textsorten- und Verständlichkeitsforschung, auf der Weiterentwicklung und Anpassung von existierenden Konzepten für den eigenen Kontext und auf systematisiertem Erfahrungswissen aus Unterricht und Beratungsarbeit. Für die Domäne Technik scheint mir folgender Fokus erfolgsversprechend: Den Ingenieurwissenschaften wird nachgesagt, dass die Abduktion, also die Verbindung von Regel und Fall eine besonders wichtige Schlussweise des Problemlösens sei (Vogler, 2008, S. 125 f). Diese Schlussweise passt eigentlich gut auf die Integration von schreibwissenschaftlichen Erkenntnissen, ihre Gewinnung aus verschiedenen Disziplinen und ihre Anwendung zur Analyse, Instruktion und Produktion von Texten. Eine sprachwissenschaftlich inspirierte Schreibwissenschaft in und für die Domäne Technik muss daher Interesse am Muster, am Fall sowie deren Verbindung finden. Ingenieur*innen werden sich nur dann in das Feld der Schreibwissenschaft bewegen, wenn sie die Zeit, die diese Art von expliziter Sammel- und Reflexionsarbeit erfordert, als sinnvoll eingesetzt erleben. 4.3 Forschungsthemen und Barrieren
Aus den oben dargestellten Erkenntnissen, Modellen und Konzepten lassen sich Forschungsthemen ableiten: 4
Thesis-Writer der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW, online). https://thesiswriter.zhaw.ch/, Zugriff am 30.01.2020.
Schreibende Expert*innen
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• Wünschenswert ist die systematische Untersuchung realisierter Konzepte in der Domäne Technik auf Stufe Hochschule und Studiengang. • Eine systematische Auswertung von publizierten bzw. auf Tagungen vorgestellten Best-Practice-Beispielen. Welche Themen werden abgedeckt, welche Konzepte? Was heißt das auf Stufe Hochschule, Studiengang und Modul? Welche verallgemeinernden Schlussfolgerungen lassen sich ziehen? • Schreibaufgaben aus den Disziplinen sind (intuitiv und) am Fachlernen orientiert. Wie können sie – auch im Hinblick auf das Schreibenlernen – optimiert werden? Welche Schreibaufgaben, die das disziplinäre Lernen fördern, werden gar nicht gestellt? Für diese Fragen liesse sich Pohl (2007) sowohl als Theoriegeber wie auch als Ideengeber nutzen. • Texte müssen für viele technische Kontexte als Autor-Leser/Nutzer-Interaktion verstanden werden. Die Texte müssen eine sinnvolle Anschlusshandlung ermöglichen, wie z.B. die Weiterentwicklung eines Konzepts zum Prototyp, eine Konstruktion in der Werkstatt umsetzen, … Welche Schlussfolgerungen sind für die Anforderungen an Texte daraus zu ziehen? Wie lässt sich die Produktion dieser Art von Texten instruieren? • Aus dem agilen Projektmanagement, das inzwischen das Feld der Informatik verlassen hat und auch in vielen anderen Domänen sich etabliert, stammt der Grundsatz, ein Produkt in mehreren Schlaufen, Schritten, Iterationen, Sprints zu entwickeln (Beck et.al, 2001; Preußig, 2018). Agilität als Denkprinzip ist auf dem Vormarsch und damit die rasche Einbeziehung der Nutzer*innen und der Vorrang des Artefakts vor der Dokumentation. Wie verändern sich dadurch Schreibprozess, Autorschaft und Anforderungen an einen Text? • Auch wenn sich jemand mit sprachwissenschaftlichem Hintergrund zunächst erschreckt: Angehende Ingenieur*innen möchten wissen: Welches Regelwerk muss ich befolgen? Und: Wie werde ich schneller beim Schreiben? Zu den großen Barrieren gehört die Finanzierung. Wie lassen sich schreibwissenschaftliche Forschungen in der Domäne Technik finanzieren, wenn Geldgeber aus dieser Domäne als erstes wissen möchten: Was ist das Produkt, das durch diese Forschung entsteht? Als weitere große Barriere sind die Ansprüche an Interdisziplinarität in der Forschung zu nennen. Für das Schreiben in der Domäne Technik ist die Multimodalität, sind Fragen der Text-Bild-Komposition oder die Entscheidung für Text oder Video oder eine Kombination von beiden besonders wichtig. Durch die Herkunft vieler Schreibwissenschaftler aus dem nicht-technischen Bereich ist dieses Thema ständig in der Gefahr, zu wenig beachtet zu werden. Die sehr verdienstvollen Überlegungen von Klug and Stöckl (2016) zur Multimodalität von Texten
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blenden die Technik-Domäne völlig aus, ließen sich jedoch als Ideenlieferant sehr gut nutzen. Generelle gesellschaftliche Veränderungen rücken große Veränderungen hinsichtlich der Bedeutung von Texten, der Autorschaft, den Anforderungen an den Text als Produkt und an die Instruktion des Schreibenlernens in den Blick. Youtube ist inzwischen eine stark frequentierte Suchmaschine. Videos werden – gerade für jüngere Nutzer*innen – auch als Informationsquelle immer wichtiger. Wird das Schreiben weniger wichtig, weil wir ohnehin auf dem Weg in eine neue Mündlichkeit sind? Praktikumsvideo statt Praktikumsbericht, Video-Abstract zum Projektbericht, Erklärvideo statt Lehrbuch, und wenn schon Lehrbuch, dann mindestens interaktiv? Was bedeuten diese Tendenzen, die in der Domäne Technik bereits stark wahrnehmbar sind, für Schreibenlehren und -lernen an der Hochschule und für eine damit verknüpfte Schreibwissenschaft?
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EINE DEUTSCHSPRACHIGE SCHREIBWISSENSCHAFT IN DER DOMÄNE TECHNIK
Der Blick über das Schreiben in technischen Berufen und das Schreibenlernen und -lehren in der Domäne Technik (an Fachhochschulen in der Schweiz) lässt den Schluss zu, dass es einige wertvolle Untersuchungen zu Anforderungen und Bedarfen gibt, ebenso wie durchdachte und erprobte Konzepte und Best-PracticeBeispiele zur Integration des Schreibenlehrens und -lernens. Kurz: Es gibt viele Aktivitäten. Sie sind aber (noch) nicht besonders gut koordiniert und ihnen fehlt die institutionelle Verankerung. Auch in dieser Hinsicht haben die drei deutschsprachigen Fachgesellschaften Forum Wissenschaftliches Schreiben (FwS, CH), Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung (gefsus, D) und Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben (GewissS, A) große Verdienste. Sie haben doch immerhin all diese Aktivitäten sichtbar gemacht und die in diesem Feld engagierten Personen miteinander vernetzt. Eine deutschsprachige Schreibwissenschaft in der Domäne Technik ist von daher bereits auf den Weg gegangen und hat zugleich ein umfangreiches Entfaltungspotenzial. Für die Entfaltung des Potenzials notwendig sind 1. offene Unternehmen, die Zugänge zur Praxis am Arbeitsplatz ermöglichen; 2. Forschende, die mit Vergnügen und Gewinn zwischen den Fachwelten wandern – und dafür auch ihre Studierenden interessieren können; 3. institutionelle Verankerung in einem interdisziplinären Setting.
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Mein Fazit: Es ist an der Zeit! Es gibt eine Menge guter Ansätze – das haben meine Beispiele hoffentlich gezeigt. Es sind Ansätze, in denen Erfahrungen reflektiert und systematisiert werden, denen aber eine eigentliche theoretische Grundierung fehlt. Sie bieten im Alltag gute Orientierung und Ideen auf der Suche nach geeigneten Konzepten. Ihre Grundlage sind Beobachtungen und Erfahrungswerte, d.h. Plausibilitäten. Sie sind nicht immer und nicht ohne weiteres verallgemeinerbar. So besteht die Gefahr, dass gerade aus diesem Grund das Rad in vergleichbaren Kontexten immer wieder neu erfunden wird bzw. werden muss. Die Suche nach geeigneter theoretischer Grundierung wäre daher wünschenswert. In Richtung auf die Bezugsdomäne Technik wäre zudem interdisziplinäre Kooperation mit Ingenieur*innen ebenso notwendig wie der Blick auf den Nutzungskontext und die Multimodalität von Texten. Literatur Banzer, R., & Kruse, O. (2011). Schreiben im Bachelor-Studium: Direktiven für Didaktik und Curriculums-Entwicklung. G 4.8. In B. Berendt et al. (Hg.), Neues Handbuch Hochschullehre (S. 1–37). Berlin: Raabe. Baumert, A., & Verhein-Jarren, A. (2016). Texten für die Technik: Leitfaden für Praxis und Studium Lehrbuch. (2. aktualisierte und erweiterte Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer Vieweg. Bazerman, C. (2004). What writing does and how it does it: An introduction to analyzing texts and textual practices. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates. Beck, K. et al. (2001). Manifesto for Agile Software Development. Retrieved on May 14, 2020 from https://agilemanifesto.org/iso/en/manifesto.html. Bundesamt für Statistik. (2019, 27. März). Studierende an Fachhochschulen Basistabellen. Zugriff am 20.01.2020 auf https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildungwissenschaft/personen-ausbildung/tertiaerstufe-hochschulen/fachhochschulen.assetdetail.7746945.html. Dubach, R., Gertiser, A., & Wiederkehr, R. (2019, im Druck). Poster im Hochschulkontext – Multimodalität gezielt ausschöpfen. In S. Göldi, A. Äbi, & M. Weder (Hg.), Schrift-BildTon. Schreiben als multimodales Ereignis: 7. internationale Tagung des Forums wissenschaftliches Schreiben. Göldi, S. (2001). Kommunikative Ingenieure: Bedeutung der sozialen Kommunikation im beruflichen Alltag von Ingenieuren und Ingenieurinnen und Folgen daraus für die Ingenieurausbildung. Fachhochschule Solothurn Nordwestschweiz. (Reihe: A, Discussion paper: 2001–06 [ehemals 01-T01]). Olten: Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Wirtschaft. Göpferich, S. (2015). Text Competence and Academic Multiliteracy: From Text Linguistics to
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TEIL 4: DACH-GESELLSCHAFTEN DER SCHREIBWISSENSCHAFT
SCHREIBEN AN DEUTSCHSCHWEIZER HOCHSCHULEN: ENTSTEHUNG UND KONTEXT DES VEREINS „FORUM WISSENSCHAFTLICHES SCHREIBEN“ Katrin Burkhalter, Ruth Wiederkehr
ABSTRACT Der Beitrag legt das Schreiben an der Hochschule im politischen Kontext der Schweiz dar. Er zeigt, wann und aus welchen Gründen das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ 2005 gegründet wurde und wie sich dieser Verein in den vergangenen 15 Jahren entwickelt hat. Weiter gibt der Artikel einen Überblick über die in der Deutschschweiz existierenden schreibwissenschaftlichen Initiativen und zeigt auf, wie das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ zum deutschsprachigen Fachdiskurs beitragen kann.
1 EINLEITUNG Klein, komplex, dialogorientiert: Diese drei Adjektive charakterisieren die Schweiz in besonderem Masse – sei es für die Grösse des Landes an sich oder in Bezug auf politische oder kulturelle Prozesse. Diese Ausgangslage und die geringen Machtdistanzen, die die Schweiz kennzeichnen, ermöglichen insbesondere an Hochschulen eine Beweglichkeit, die bezüglich des Schreibens genutzt werden kann. In diesem Beitrag schildern wir erstens die soziokulturellen und politischen Gegebenheiten, ohne die die Situation des Schreibens an Hochschulen in der (deutschen) Schweiz nicht verstanden werden kann. Zweitens legen wir dar, wer das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ im Jahr 2020 ist und wie der Verein im Jahr 2005, vor 15 Jahren also, als erster seiner Art im deutschen Sprachraum gegründet wurde. Drittens gewähren wir einen exemplarischen Einblick in Schreibberatung und Schreibforschung an Deutschschweizer Hochschulen, um die Gesamtsituation, in der der Verein agiert, zu zeigen. Viertens skizzieren wir, welchen Beitrag das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ zur trinationalen Zusammenarbeit in Bezug auf die Weiterentwicklung der Schreibwissenschaft leistet. Für die Ausführungen stützen wir uns neben statistischen Quellen primär auf mündliche Informationen und Dokumente früherer Vereinsvorsitzender.
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DIE SCHWEIZ IST KLEIN UND KOMPLEX
Innerhalb des deutschen Sprachraums nimmt die Schweiz eine Randstellung ein; die Karte des deutschen Sprachraums macht dies deutlich (siehe Abbildung 1). Viereinhalb Millionen Deutschsprechende in der Schweiz stehen mehr als achtzig Millionen Deutschen und acht Millionen Österreichern und Österreicherinnen gegenüber. Die Zahl der Studierenden an Schweizer Hochschulen hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt. Waren im Jahr 1990/91 rund 86.000 Studierende an Hochschulen immatrikuliert, betrug die Zahl im Jahr 2018/19 über 250.000, rund 70 % davon im deutschsprachigen Landesteil. Das Wachstum betrifft sowohl die Universitäten als auch die Fachhochschulen und die pädagogischen Hochschulen. In der gesamten Schweiz gibt es insgesamt 45 Hochschulen, darunter zwölf Universitäten, sieben Fachhochschulen und 16 Pädagogische Hochschulen. Nur elf dieser Hochschulen haben mehr als 10.000 Studierende, wobei die Universität Zürich mit 26.000 Immatrikulierten die grösste ist (BfS, 2019). Zum Vergleich: Die Universität Wien hat rund 90.000, die Ludwig-Maximilians-Universität München rund 51.000 Immatrikulierte. In Deutschland studierten im Jahr 2018/19 rund 2,9 Millionen Menschen, in Österreich knapp 380.000 (Universität Wien, 2019; LMU München, 2019; DESTATIS, 2019; Statistik Austria, 2019). Hinzu kommt, dass nicht die ganze Schweiz deutschsprachig ist, sondern nur rund 70 Prozent. Im Grunde genommen ist die Schweiz nicht ein deutschsprachiges, sondern vielmehr ein auch deutschsprachiges Land. Die Grenze des deutschen Sprachraums führt mitten durch die Schweiz. In der Romandie spricht und schreibt man Französisch, im Tessin und in den vier Bündner Südtälern ist Italienisch die Amtssprache. Die drei Sprachen werden vor allem ausserhalb der Schweiz gesprochen – entsprechend ist die Schweiz Teil dieser Kulturräume. Anders verhält es sich mit dem Rätoromanischen, das ausschliesslich in der Schweiz gesprochen wird. Diese vier Sprachen sind Amtssprachen, in denen z.B. Gesetze verfasst sind. Zwar gilt in eidgenössischen Gremien des Bundes der Grundsatz, dass die Landessprachen angemessen vertreten sein sollen. So will man den gesamtschweizerischen politischen Dialog sicherstellen. In fachlichen Diskursen ist dieser Austausch allerdings weniger festzustellen. So gibt es kaum Berührungspunkte zwischen dem deutsch- und dem französischsprachigen Schreibdiskurs – auch in der Schweiz nicht, die immer wieder mit Stolz auf ihre Mehrsprachigkeit hinweist. Die Schweiz besteht aus 26 Kantonen. Mit Bezug auf die Amtssprache(n) gilt, anders als etwa für die Religion, das Territorialitätsprinzip. Das gilt auch für die Grundausbildung (Bachelor) an Hochschulen: In Zürich wird ein Bachelor-Studium zum Beispiel in Wirtschaft auf Deutsch absolviert, in Lausanne auf Französisch, an der Università della Svizzera Italiana studiert man Architektur oder Medi-
Schreiben an Deutschschweizer Hochschulen
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Abb. 1: Der deutsche Sprachraum umfasst Deutschland, Österreich, Liechtenstein sowie Teile von Belgien, Luxemburg, Italien und der Schweiz. Anders als für Deutschland und Österreich ist für die Schweiz charakteristisch, dass sich Sprach- und Landesgrenzen nicht decken. © www.forumschreiben.ch.
zin auf Italienisch. Die Abschlussarbeiten werden in aller Regel in der Studiensprache verfasst. Die Universität Freiburg/Schweiz ist die einzige zweisprachige Universität des Landes. Man kann dort beispielsweise Recht auf Deutsch oder auf Französisch oder aber zweisprachig studieren. Einzelne explizit international ausgerichtete Bachelor-Studiengänge werden (teilweise) auf Englisch angeboten. Auf Master-Stufe ist Englisch inzwischen eine wichtige Unterrichtsprache, dies beson-
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ders an international ausgerichteten Hochschulen oder bei Studiengängen, die in verschiedenen Landesteilen angeboten werden. Ein Beispiel dafür ist der „Master of Science in Engineering“ der Schweizer Fachhochschulen. Zentrale Wahlpflicht-Module werden grösstenteils auf Englisch unterrichtet. Der Schreibunterricht bleibt davon nicht unberührt. Während ein Modul zu Kommunikation in Unternehmen (u.a. zu beruflichem Schreiben) über zehn Jahre lang auf Deutsch abgehalten wurde, wird dies nun ausschliesslich auf Englisch der Fall sein.1 Deutschsprachige Texte im wissenschaftlichen Umfeld verlieren also tendenziell an Boden. In der Verwaltung hingegen ist Englisch weniger wichtig. Hier werden die Amtssprachen gleichwertig behandelt. Wer spricht und – zumindest informelle Texte wie etwa Mails – schreibt, hat das Recht, dies in der Verwaltung des Bundes und mehrsprachiger Kantone in der ihm oder ihr näheren Sprache zu tun. Die Struktur des Landes ist föderalistisch, wie das Kürzel CH deutlich macht, das für Confoederatio Helvetica steht. Die Kantone gelten als Staaten im Staat. Sie sind für den Bereich Bildung zuständig, nicht die Eidgenossenschaft. Die Universität Genf ist also die Universität des Kantons Genf. Eine Ausnahme von dieser föderalistischen Grundregel bilden die beiden eidgenössischen Technischen Hochschulen, die ETH in Zürich und die EPFL in Lausanne. Noch einmal anders verhält es sich mit den jungen Fachhochschulen, die nach 1990 als anwendungsorientierte Hochschulen entstanden sind. Hier haben sich Kantone teilweise zu Bildungsräumen zusammengeschlossen und tragen eine Fachhochschule gemeinsam. Ein Beispiel hierfür ist die Hochschule Luzern, die von den Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden und Zug („Trägerkantone“) als Fachhochschule im Sinne der Bundesgesetzgebung getragen wird.2
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DAS „FORUM“ HEUTE – UND SEINE GESCHICHTE
In dem skizzierten kleinkammrigen Umfeld agiert das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ als Verein nach schweizerischem Recht. Das schweizerische Zivilge1 2
Es handelt sich hierbei um den Master of Science in Engineering (MSE) (2019) https:// www.msengineering.ch/en/home.html [Stand: 8. Dezember 2019] und damit um ein Masterstudium der sieben Fachhochschulen der Schweiz. Diese Fachhochschule trägt zwar den Namen Hochschule Luzern, ihr Erscheinungsbild enthält aber die Bezeichnung FH Zentralschweiz, vgl. Zentralschweizer FachhochschulVerordnung Art. 2, http://srl.lu.ch/app/de/texts_of_law/520a/versions/1502 [1. März 2020] (persönliche Auskunft per Telefon und E-Mail von Rahel Imobersteg, Geschäftsführerin Kammer Fachhochschulen, swissuniversities.ch, 26. Februar 2020).
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setzbuch regelt vergleichsweise rudimentär: „Vereine, die sich einer politischen, religiösen, wissenschaftlichen, künstlerischen, wohltätigen, geselligen oder andern nicht wirtschaftlichen Aufgabe widmen, erlangen die Persönlichkeit [eines Vereins, d. Verf.], sobald der Wille, als Körperschaft zu bestehen, aus den Statuten [aus den Satzungen, d. Verf.] ersichtlich ist“ (ZGB 60, Abs. 1). Für die Gründung braucht es mindestens zwei Personen; die Eintragung im Handelsregister ist nur dann nötig, wenn der Verein „ein nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe betreibt“. Das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ ist folglich kein eingetragener Verein. Er wurde in Zürich gegründet und legte seit jeher den Fokus auf die deutsche Schweiz. Der Verein verfolgt, so der Zweckartikel in den Statuten, „wissenschaftliche, kulturelle und soziale Ziele“. Im Vordergrund steht dabei die Förderung des Diskurses zum Thema „Schreiben an der Hochschule“: Diskutiert werden „theoretische, praktische, hochschulpolitische und organisatorische Fragen zur Schreibpädagogik“. Dies gewährleistet der Verein durch die jährlich zwei bis vier Abendveranstaltungen mit dem Titel „Offenes Forum“ und die alle zwei Jahre stattfindenden Konferenzen. Jüngst hat sich die trinationale Zusammenarbeit mit Deutschland und Österreich verstärkt. Gegründet wurde der Verein am 6. September 2005 in Zürich in Anwesenheit von 17 Personen (Privatarchiv Otto Kruse, Gründungsprotokoll des Vereins vom 6. September 2005). Der erste Vereinsvorstand war durch sechs Personen besetzt, als erster Präsident amtierte Otto Kruse. Die Initiative zur Gründung des Vereins geht unter anderem zurück auf Monique Honegger und Peter Sieber (beide Pädagogische Hochschule Zürich) sowie Otto Kruse und Daniel Perrin (beide Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften).3 Bereits 2003 hatte Otto Kruse zusammen mit Pankraz Blesi, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, einen „Arbeitskreis wissenschaftliches Schreiben“ ins Leben gerufen (Privatarchiv Otto Kruse, Einladung für den 6. Mai 2003, datiert auf den 3. April 2003), an dessen Sitzungen Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Zürcher Hochschulen und vereinzelt freiberuflich Tätige teilnahmen. Hier wurde der Grundstein für den späteren Verein gelegt. In einer Sitzung vom 6. Mai 2003 sammelten und strukturierten die Initianten Vorstellungen der Anwesenden und Handlungsfelder eines solchen Arbeitskreises (Privatarchiv Otto Kruse, Protokoll vom 6. Mai 2003): • Austausch von Wissen und die Schaffung von Zusammenhängen • Schaffung eines theoretischen Bezugsrahmens • Entwicklung der Methodik des Schreibunterrichts 3
Die abschliessende Aufzählung der Gründungsmitglieder ist den Statuten zu entnehmen: http://www.forumschreiben.ch/statuten/ [Stand: 22. Dezember 2019].
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• • • • • •
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Bewertung von Texten Einbezug des Internets Etablierung eines Schreibunterrichts für „Basic Writers“ Entwicklung von Schreibenden Festlegung der Rolle von Schreibzentren Etablierung einer Schreibforschung
Fast all dies wurde und wird an Tagungen oder im Rahmen von Offenen Foren realisiert, das Handlungsfeld Einbezug des Internets ist keine zwanzig Jahre später hinfällig geworden, weniges (Etablierung eines Schreibunterrichts für „Basic Writers“, Entwicklung von Schreibenden) ist aus dem heutigen Kontext nicht mehr nachvollziehbar. Am 20. Mai 2005 fand an der Universität Zürich mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds eine Tagung unter dem Titel „Schreiben – Denken – Lernen: Schreibkompetenz an Hochschulen“ mit 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Es referierten Otto Kruse, Jonathan Monroe, Eva-Maria Jakobs, Gerd Bräuer und Monique Honegger zum Stand des wissenschaftlichen Schreibens an deutschsprachigen Hochschulen, über Writing in the Disciplines, über Schreiben in den Ingenieurwissenschaften und in der Technik sowie über Schreibzentren. Im Nachgang zu dieser Tagung wurde das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ gegründet. Kaum ein Jahr später fand die erste Tagung des „Forums“ zum Thema „Wissenschaftliches Schreiben und Bologna-Prozess“ statt. Im „Call for Contributions“ wird das Selbstverständnis offenbar: „Die Veranstalter verstehen wissenschaftliches Schreiben als interdisziplinäres Feld, zu dem alle Disziplinen Beiträge leisten können und müssen.“ Es werden in diesem Call sowohl „SchreibforscherInnen“ als auch „SchreibdidaktikerInnen“, aber auch Vertreter und Vertreterinnen aus der Administration und Verwaltung aufgefordert, Beiträge einzureichen (Privatarchiv Otto Kruse, Call for Contributions 2006, 2). Seither bilden internationale Tagungen zum Thema Schreiben an und nach der Hochschule das Rückgrat des einschlägigen Diskurses nicht nur in der Schweiz. Folgende vom Forum wissenschaftliches Schreiben organisierte und durchgeführte Tagungen fanden bisher statt: • • • •
2006 Zürich, „Wissenschaftliches Schreiben und Bologna-Prozess“ 2008 Luzern, „Schreiben und Lernen in Bildungskontexten“ 2010 Zürich, „Wissenschaftliches Schreiben als Schlüsselkompetenz“ 2012 Basel, „Text-Netze, Schreib-Netze, Denk-Netze – Schreiben in Studium und Beruf “
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• 2014 Winterthur, „Berufliches Schreiben – Schreiben im Beruf “ • 2016 Konstanz, „text | text | text – Zitat, Referenz, Plagiat und andere Formen der Intertextualität“ • 2018 Luzern, „Schrift Bild Ton. Schreiben als multimodales Ereignis“ Eine weitere Tagung zum Thema „Lesen und Schreiben: Texte rezipieren, inte grieren, produzieren“ ist 2021 in Brugg-Windisch geplant. Zahlreiche Publikationen von Tagungsbeiträgen finden sich in der „Zeitschrift Schreiben“,4 zur Tagung 2016 gibt es Publikationen in der Online-Zeitschrift „Sprache für die Form“,5 zur Tagung 2018 ist 2020 ein Tagungsband erschienen.6 Die Tagungsthemen sind aktuell und spielen im Alltag von Lehrenden eine wesentliche Rolle. Die Auflistung zeigt, dass der thematische Fokus im Laufe der Zeit grösser geworden ist: Zu den Themen gehört nicht nur das wissenschaftliche Schreiben im eigentlichen Sinne, sondern ebenso das Schreiben in multimodalen Kontexten, das Schreiben im Beruf sowie das Lesen. Die Überlegungen zu diesen weiteren Teilbereichen des Schreibens werden aber immer auf das wissenschaftliche Schreiben zurückgeführt, das von diesen Entwicklungen nicht unberührt bleiben wird. Die genannten Tagungen waren und sind für das Selbstverständnis des Vereins wesentlich. Sie sind im Laufe der Jahre grösser geworden. Keine dieser Veranstaltung war von lediglich lokalem Interesse, vielmehr haben sie dem Diskurs im gesamten deutschen Sprachraum Impulse verliehen. Nach der Gründung von Partner-Vereinigungen in Deutschland und Österreich ergab sich bald eine freundschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Tagungen, bei den letzten Tagungen (ab 2016) auch mit den gemeinsamen Pre-Conference-Workshops für Doktorierende. Explizit wurde die Trinationalität an der Tagung „Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin?“ in Klagenfurt im Mai/Juni 2019. Wir haben weiter oben die Tagungen als Rückgrat des Vereins bezeichnet; sie sind aber auch sein Herzschlag. Der Verein umfasst – Stichtag: 12. Dezember 2019 – 75 Mitglieder, davon acht Körperschaften als institutionelle Mitglieder sowie zwei Partnervereine (die Gefsus und die GewissS). Von den 65 Einzelmitgliedern sind fast ein Viertel freiberuflich, fast ein Viertel an einer Universität und knapp 60 % an einer Pädagogischen Hochschule (17 %) resp. an einer Fachhochschule (42 %) tätig. 60 % haben Germanistik, 9 % eine andere Sprache studiert, 51 % sind promoviert, 18,5 % haben das Lehr4 5 6
https://zeitschrift-schreiben.eu/ [Stand: 1. März 2020]. Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016 (https://www.designrhetorik.de/archiv/doppelausgabe-nr-8-und-9-herbst-2016/) [Stand: 1. März 2020]. Aebi, A., Göldi, S., & Weder, M. (Hg.). (2020). Schrift – Bild – Ton. Beiträge zum multimodalen Schreiben in Bildung und professioneller Kommunikation. Bern: hep Verlag.
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amt, 26 % ein CAS in Schreibberatung. Diese Aufzählung zeigt erstens die ansehnliche Qualifikation sehr vieler Vereinsmitglieder und zweitens die Heterogenität des Vereins. Diese Heterogenität ist nicht unproblematisch, denn eine Folge davon ist die oft fehlende kritische Masse – eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. Nur wenige Vereinsmitglieder arbeiten an hochschulischen Schreibzentren; denn diese gibt es kaum (siehe Abschnitt 4). Das „Forum wissenschaftliches Schreiben“ kann also nur zu geringen Teilen eine Vereinigung sein, die Schreibzentren der Deutschschweiz vertritt.
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SCHREIBBERATUNG UND SCHREIBFORSCHUNG AN DEUTSCH SCHWEIZER HOCHSCHULEN
Die Geschichte des „Forums“ ist unmittelbar geprägt von den genannten Rahmenbedingungen der Schreibberatung in der Schweiz. Schreibzentren gibt es – anteilsmässig – in der Schweiz deutlich weniger als in Deutschland und Österreich. Pionierin war die Pädagogische Hochschule Zürich, an der bereits 2005 ein Schreibzentrum gegründet wurde, das sich seither hat etablieren können und auch PeerTutorinnen und -Tutoren ausbildet (Honegger, 2005, 53–55). Das Schreibzentrum der Pädagogischen Hochschule Zürich ist institutionell der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung angegliedert und hat mit Maik Philipp eine Professur für Deutschdidaktik.7 Andere Schreibzentren oder ähnliche Einrichtungen unterstützen Dozierende bei der Konzeption von schreibintensiver Lehre oder bieten Schreibberatung für Studierende auf An- und Nachfrage.8 Für alle Deutschschweizer Schreibzentren gilt: Sie haben primär für einzelne Stunden verpflichtete Dozierende. Die meisten davon sind an derselben Hochschule primär in weiteren Ausbildungsformaten tätig (etwa Kommunikationsunterricht oder Unterricht im beruflichen Schreiben). Hochschulische Schreibberatung findet zu einem grossen Teil in anderen Gefässen denn in Schreibzentren statt, wie die Überblicksdarstellung „Schreiben an Hochschulen“ zeigt (Jörissen & Verhein, 2020). An vielen Fachhochschulen, aber zunehmend auch an Universitäten, ist die Lehre des wissenschaftlichen und beruflichen Schreibens curricular verankert. Schreiben wird somit zum obligatorischen Bestandteil eines Hochschulstudiums, so zum Beispiel an der Hochschule Luzern 7 PHZH: Professur Deutschdidaktik. http://phzh.ch/professur-deutschdidaktik/ [Stand: 24. Dezember 2019]. 8 Dazu gehören beispielsweise das „Zentrum Lesen“ an der Pädagogischen Hochschule oder das „Zentrum Schreiben“ an der Hochschule für Wirtschaft, beide FHNW.
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– Wirtschaft (HSLU W): Am schreibintensivsten angelegt ist das Modul „Mit Texten und Bildern informieren“ im ersten Semester. Unterrichtsmethode ist hier Flipped Classroom. Mit einem E-Book erarbeiten sich die Studierenden u.a. die Grundlagen der Semiotik, der Verständlichkeit und des wissenschaftlichen Schreibens. Im Kontaktunterricht schreiben und redigieren sie dann Texte zu praxisnahen Kommunikationsaufgaben und geben einander Peerfeedback. Die Dozierenden agieren als Coaches und geben formative und summative Feedbacks (persönliche Auskunft per E-Mail von Adrian Aebi, Hochschule Luzern – Wirtschaft, 11. Dezember 2019). 2015 haben sich Dozierende der Universität Basel zum „Netzwerk Schreiben“ zusammengeschlossen, um das Schreiben an der Universität Basel zu institutionalisieren und zu professionalisieren. Seitdem sind ein erheblicher Zuwachs und eine Differenzierung an Schreibangeboten zu beobachten. Das Netzwerk bemüht sich um eine Bestandsaufnahme der vielfältigen Schreibangebote und darum, diese Angebote in einem Internetportal für Studierende zu erfassen und übersichtlich darzustellen. Die Universitätsleitung misst dem Schreiben einen hohen Stellenwert bei und begrüsst die Initiative des „Netzwerks Schreiben“ (persönliche Auskunft per E-Mail von Stephan Meyer, Sprachenzentrum der Universität Basel, 11. Dezember 2019). Auch in der Lehrentwicklung sind Initiativen zu beobachten, die sich auf das Schreiben ausrichten: • An der eben erwähnten Universität Basel (Institut für Bildungswissenschaften IBW) hatte man, was das wissenschaftliche Schreiben anbelangt, eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Vorwissen der Studierenden und den Erwartungen der Lehrenden festgestellt. Um dieses Missverhältnis zu entschärfen, hat Olivia de Graaf 2016 einen ausführlichen Leitfaden für wissenschaftliche Arbeiten verfasst sowie den anwendungsorientierten Kurs „Einführung in das wissenschaftliche Schreiben“ konzipiert und seit 2016 mehrmals erfolgreich durchgeführt (persönliche Auskunft per E-Mail von Olivia de Graaf, Institut für Bildungswissenschaften IBW, Universität Basel, 11. Dezember 2019). • An der Pädagogischen Hochschule Zürich haben Daniel Ammann und Thomas Hermann 2012 den Leitfaden „Texte meistern“ (Ammann & Hermann, 2017) verfasst, der durch ein laufend wachsendes A–Z9 ergänzt wird, nicht nur zum Zitieren, sondern zunehmend auch zu weiteren Aspekten des wissenschaftlichen Schreibens wie Abstract, Argumentation, Fragestellung usw. Mit DigiPAL, 9 PHZH: A–Z des wissenschaftlichen Schreibens. stud.phzh.ch/zitieren/az [Stand: 22. Dezember 2019].
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einem Projekt der Rektorenkonferenz der Schweizerischen Hochschulen namens swissuniversities, entwickelt und erprobt das Schreibzentrum der PHZH in Zusammenarbeit mit ausgebildeten Peer-Tutorinnen und Tutoren zudem modularisierte Kurse, in denen Studierenden lese- und schreibbezogene Strategien für das Verfassen von Bachelor- und Masterarbeiten vermittelt werden (persönliche Auskunft von Daniel Ammann, Pädagogische Hochschule Zürich, 23. Dezember 2019). • An der jungen Universität Luzern ist unter der Leitung von Tobias Brücker (der von 2013 bis 2019 dort arbeitete) ein Fakultätsleitfaden zum wissenschaftlichen Schreiben entstanden, und zwar als kollaborative Arbeit. Das Alleinstellungsmerkmal des Leitfadens besteht darin, dass er von Anfang an von der Unterschiedlichkeit der Fächer aus gedacht war. Der Leitfaden erfreut sich seither einer gleichbleibend hohen Akzeptanz (persönliche Auskunft von Tobias Brücker, Zürcher Hochschule der Künste, 10. Dezember 2019). Eine neue Entwicklung zeigt sich bei den Hochschulbibliotheken, die im vergangenen Jahrzehnt dank mobiler Computer zu Arbeits- und zunehmend auch zu Schreiborten für die Studierenden geworden sind. Diese Erweiterung ist mit Blick auf das System Schreiben an der Hochschule interessant und erfreulich, die damit einhergehende grösser werdende Heterogenität allerdings auch nicht nur unproblematisch, wie wir weiter oben ausgeführt haben. Das „Forum“ hat in der Folge auch Mitglieder aus diesem Umfeld aufgenommen, da sie eng mit dem Thema Schreiben verbunden sind. Wir beschränken uns auf zwei Beispiele: Die Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich hat eine Schreibgruppe ins Leben gerufen, die sich wöchentlich trifft und besonders von Masterstudierenden und Doktorierenden sehr geschätzt wird (persönliche Auskunft per E-Mail von Susanna Blaser-Meier, Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich, 23. Dezember 2019). Diese im gesamten deutschsprachigen Raum neuere Entwicklung wurde kürzlich dokumentiert (Sühl-Strohmenger & Tschander, 2019). Die Pädagogische Hochschule Zürich macht unter dem Label Lernforum ähnliche Angebote: Offene Sprechstunde über den Mittag, Mittwoch-Schreibgruppe für Masterstudierende, Lange Nacht der aufgeschobenen Arbeiten u.a.m. (persönliche Auskunft per E-Mail von Daniel Ammann, Schreibzentrum der Pädagogischen Hochschule Zürich, 23. Dezember 2019). Schreibberatung für Studierende gibt es aber auch ausserhalb von Universitäten. So bieten freiberuflich Tätige Schreibcoachings oder Textfeedback an. Dazu gehört zum Beispiel die seit 2004 Jahren bestehende GmbH „Kopfwerken“, deren Inhaberinnen Madeleine Marti und Marianne Ulmi durch einzelne Lehraufträge
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eine Verbindung zu Hochschulen haben. Zusätzlich sind sie in der Forschung tätig (Ulmi, Bürki, & Verhein-Jarren, 2017) und bieten auch für Einzelpersonen, NGOs, Verbände und Firmen Coachings und Kurse in wissenschaftlichem und beruflichem Schreiben sowie Lektorate an. Gemäss den Geschäftsinhaberinnen schwankt der Umsatz ausserordentlich stark. Die Firma generiert rund einen Fünftel der Einnahmen über Kursleitungen an Hochschulen, den Rest über Coaching und Lektorate. Generell sei die Tendenz zu beobachten, dass Schreibkurse an Hochschulen zunehmend über eigenes Personal abgedeckt würden. „Kopfwerken“ schätzt das Marktpotenzial „für das Schreiben komplexer Texte als gross ein“. Der Markt müsse aber „bearbeitet werden“. Besonders im Bereich der Weiterbildungsangebote an Hochschulen, bei denen Abschlussarbeiten (für Certificates of Advanced Studies oder Masters of Advanced Studies) geschrieben werden, sei ein grosser Bedarf an externem Coaching vorhanden (persönliche Auskunft per E-Mail von Madeleine Marti, 3. Dezember 2019). Wo wird in der Deutschschweiz Schreibwissenschaft betrieben? In den Statuten des „Forums“ ist das Wort „Schreibwissenschaft“ nicht verankert, folglich hat sich das „Forum“ bisher nicht als Treiberin der Schreibwissenschaft, wenn doch als Förderin des Diskurses im Bereich Schreiben an der Hochschule verstanden. Als eigentliche Disziplin existiert Schreibwissenschaft in der Deutschschweiz nicht. Denn sämtliche erwähnten Schreibangebote werden durch vollamtliche Dozierende aus verschiedenen Disziplinen, von freien Schreibberatern oder von Bibliothekarinnen und Mitarbeitenden der Sprachzentren wahrgenommen. Die Dozierenden stammen aus unterschiedlichen Fachgebieten vornehmlich aus den Geisteswissenschaften und sind in eigene Fachdiskurse eingebunden. Die meisten sind jedoch ausschliesslich in der Lehre tätig und forschen nicht oder tun dies unbezahlt. In Qualifikationsarbeiten – im Folgenden werden drei Dissertationsvorhaben genannt – wird das Schreiben an der Hochschule thematisiert; und zwar jeweils im Rahmen unterschiedlicher Fachdisziplinen: • Anke Beyer (PHBern/IVP NMS, Germanistische Linguistik) erforscht, wie angehende Lehrpersonen Texte von Mitstudierenden kommentieren (Betreuung: Justus-Liebig-Universität Gießen) (persönliche Auskunft per E-Mail von Anke Beyer, Pädagogische Hochschule Bern/IVP NMS, 11. Dezember 2019). • Yves Furer (Pädagogische Hochschule Zürich, Deutschdidaktik) befasst sich mit den kognitiven Prozessen von Lehrpersonen beim Beurteilen von Schülertexten (Betreuung: Universität Zürich) (persönliche Auskunft per E-Mail von Yves Furrer, Schreibzentrum der Pädagogischen Hochschule Zürich, 11. Dezember 2019).
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• Alex Rickert (Pädagogische Hochschule Zürich, Deutschdidaktik) thematisiert in seiner Arbeit die Schreibleistung von Berufsschülern in den Kantonen Zürich und St. Gallen und nimmt dabei zwei Dinge in den Fokus: das sprachliche Register sowie die Vertextungsmuster Erklären, Erzählen, Berichten (Betreuung: Universität Zürich) (persönliche Auskunft von Alex Rickert, Schreibzentrum der Pädagogischen Hochschule Zürich, 11. Dezember 2019). Am nächsten bei der Disziplin Schreibwissenschaft ist die Fachdidaktik Deutsch an Pädagogischen Hochschulen. Ein Schwerpunkt der Schreibwissenschaft ist die Erfassung von Schreibkompetenzen. Ein Beispiel für die formative Erfassung von Schreibkompetenz ist der Schreibkompass. Dieser wurde am Institut Primarstufe der PH FHNW unter der Leitung von Maja Wiprächtiger-Geppert unter Mitarbeit von Afra Sturm und Res Mezger vom Zentrum Lesen entwickelt. Hier dient der Schreibkompass als ein Instrument zur Kohärenzherstellung der Textbewertung in der Primarlehrerausbildung. Fachübergreifend gibt er Rückmeldung zu konkreten Aspekten wissenschaftlicher Schreibkompetenz. Diese konsistente Rückmeldung findet wiederholt statt, und zwar mindestens einmal pro Fach, d.h. in der Summe etwa acht- bis zwölfmal während des Studiums. Dadurch sollen gute Voraussetzungen geschaffen werden, wissenschaftliche Arbeiten wie die Bachelor-Arbeit auf einem angemessenen Niveau schreiben zu können (persönliche telefonische Auskunft von Anke Wischgoll, zuständig für die Implementierung des Schreibkompasses, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, 11. Dezember 2019). Am jungen „Zentrum Schreiben“ der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten besteht gegenwärtig die Bestrebung, ein durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Projekt zur Erhebung der Schreibkompetenz der Studierenden durchzuführen. Methodische Überlegungen zur Messung dieser Kompetenz sind gegenwärtig im Gang.10 Bereits bewilligt ist ein Projekt, gefördert durch den „Fördertopf “ Lehrprojekte der Internationalen Bodensee-Hochschule (IBH), das sich 2020/21 unter dem Titel Professional Literacy mit Kommunikationskompetenzen für Ingenieurinnen und Ingenieure auseinandersetzen wird. Schreiben bildet hier einen Teil der breit gefassten Kommunikationskompetenzen. Mit dieser Analyse soll schliesslich eine Grundlage geschaffen werden, „didaktische Massnahmen zur Förderung von Professional Literacy“ zu entwickeln, die dann an den beteiligten Hochschulen genutzt werden können (persönliche Auskunft mit Projektbeschrieb 10 Verantwortlich ist Susan Göldi; aktuelle Informationen unter der Webseite von „Zentrum Schreiben“ https://web.fhnw.ch/plattformen/blogs/zentrumschreiben/ [Stand: 22. November 2019].
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per E-Mail von Oliver Winkler, 27. November 2019).11 An der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) liegt der Fokus auf der Erforschung der Digitalisierung im Bereich wissenschaftliches Schreiben.12 Hier haben Otto Kruse und Christian Rapp die Software Thesis Writer entwickelt; eine Schreibplattform, die automatisierte Prozessplanung anbietet. Hierbei werden der Rechercheprozess und die Überarbeitung von wissenschaftlichen Texten mittels Tutorials, Beispieltexten und Formulierungstipps unterstützt (Kruse & Rapp, 2018). Integriert ist ebenfalls eine Literaturdatenbank. Wer Thesis Writer nutzt, kann auf ein Korpus von 20.000 deutschsprachigen und 22.000 englischsprachigen Dokumenten zugreifen, um sich beim Schreiben auf authentische Beispiele der Wissenschaftssprache zu stützen. Pro Jahr nutzen rund 900 Studierende der Hochschule Thesis Writer zur Unterstützung ihres Schreibprozesses. An sechs weiteren europäischen Hochschulen wird Thesis Writer in kleineren Gruppen genutzt. Geplant ist nun die Beforschung der Auswirkungen der Nutzung digitaler Schreibwerkzeuge (z.B. Thesis Writer) auf Denk- und Schreibprozesse (persönliche Mitteilungen per E-Mail von Christian Rapp und Otto Kruse, 20. und 21. November 2019). Die Erforschung der Digitalisierung des wissenschaftlichen Schreibens mit besonderem Fokus auf die Weiterentwicklung von Plattformen und Tools ist naturgemäss inter- beziehungsweise transdisziplinär.
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DER BEITRAG ZUM FACHDISKURS
Zum Schluss möchten wir ein Schlaglicht auf zwei besondere Umstände werfen: auf den nicht immer selbstverständlichen Gebrauch der deutschen Sprache sowie auf die spezifische Ausrichtung von Lehrangeboten im deutschsprachigen wissenschaftlichen Schreiben in der Schweiz. Erstens: Wer sich in der Deutschschweiz mit Schreibdidaktik und Schreibwissenschaft befasst, arbeitet interdisziplinär und hat keine eindeutige disziplinäre Heimat. Die Herkunftsdisziplinen sind vielfältig. Folglich bewegen wir uns hier in unterschiedlichen Fachdiskursen, die nicht selten, sobald sie international sind, auf Englisch stattfinden. Dies ist in der Schweiz manchmal sogar dann der Fall, wenn ein Projekt den frankophonen und den ger11 Beteiligt sind an diesem Projekt mit dem Titel „Professional Literacy: Kommunikationskompetenzen für Ingenieurinnen und Ingenieure“, Laufdauer 1.1.2020–31.12.2021 die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (Oliver Winkler), die Hochschule Rapperswil (Annette Verhein), die Hochschule Kempten (Michael Märlein) und die Hochschule Ravensburg-Weingarten (Fabienne Ronssin). 12 Im September 2019 fand hier „The eighth international conference on writing analytics“ unter dem Titel „Academic Writing in Digital Contexts: Analytics, Tools, Mediality“ statt.
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manophonen Landesteil umfasst. Diese Entwicklung scheint uns mit Blick auf eine deutschsprachige Schreibwissenschaft, aber auch mit Blick auf den Zusammenhalt der Schweiz nicht unproblematisch zu sein. Zweitens: Die Dozierenden der zahlreichen Kurse in wissenschaftlichem Schreiben haben ein stark praxisorientiertes Interesse am Bereich der Schreibwissenschaft: Austausch ist primär über Didaktik und Methodik erwünscht, weniger hingegen über Forschung und Entwicklung. Was kann dies alles nun für eine Disziplin einer deutschsprachigen Schreibwissenschaft heissen? Wir möchten noch einmal auf eine Besonderheit der Schweiz hinweisen: auf ihre Kleinheit. Dank ihr und dank der föderalistischen Struktur ist die Schweiz beweglich. Das kann für Kooperationen mit Deutschland und Österreich, aber auch für die Institutionalisierung der Schreibwissenschaft ein attraktiver Umstand sein. Es sei hier noch einmal gesagt, dass die sieben vom „Forum wissenschaftliches Schreiben“ organisierten und durchgeführten Tagungen den Diskurs zum Thema Schreiben im gesamten deutschen Sprachraum wesentlich mitgeprägt haben. Die Kleinheit der Schweiz hat aber auch eine Kehrseite: Oft fehlt die kritische Masse – die Anzahl Köpfe, aber auch das geringe politische Gewicht vieler Akteure –, die für eine nachhaltige Entwicklung unabdingbar ist. Um Wirkung zu erzielen, ist es für die Schweiz von vitaler Bedeutung, Teil des Diskurses im gesamten deutschen Sprachraum zu sein. Wir halten die trinationale Ausrichtung der deutschsprachigen Schreibwissenschaft für elementar, besonders für den Austausch und die regelmässige kritische Reflexion des Erreichten und Versäumten über die Landes- und auch Sprachgrenzen hinaus. Ohne trinationale Zusammenarbeit droht die Stimme der Schweiz ungehört zu verhallen. Das wichtigste Kriterium für die Vitalität einer Disziplin ist eine scientific community, die durch Forschung stets Nachwuchs erhält. Will sich eine deutschsprachige Schreibwissenschaft weiter herausbilden, so muss sie, um sich auch hochschulpolitisch zu etablieren, die unterschiedlichen Praxis- und Theoriediskurse nicht nur kennen, sondern sich darüber auch austauschen. Hierfür ist Dialog von zentraler Bedeutung, und hierzu kann der Verein „Forum wissenschaftliches Schreiben“ Wesentliches beitragen. Die Schweiz ist klein und komplex – und sie ist dialogorientiert. Die beiden Autorinnen sind Vorstandsmitglieder des Vereins „Forum wissenschaftliches Schreiben“, Katrin Burkhalter amtet als Präsidentin.
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jonglieren in Sek II und Hochschule. 1. Auflage 2020. Bern: hep verlag (Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, 9). Bern: hep der bildungsverlag. Zeitschrift Schreiben. Zugriff am 2. März 2020 auf https://zeitschrift-schreiben.eu/.
GEBÜNDELTE VIELFALT – PERSPEKTIVEN AUF GEWISSS Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow
ABSTRACT Der Artikel stellt die Aufgabenfelder und Strukturen der Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben vor und untersucht die Beschäftigung ihrer Mitglieder mit der Schreibwissenschaft. Neben einer quantitativen Fragebogenstudie und einer klassischen Dokumentenanalyse werden ein Freewriting als Erhebungsmethode und eine ConceptMap als Darstellungsverfahren eingesetzt. Eine solche multimethodische Betrachtung bietet unterschiedliche Perspektiven auf den Verband und ist geeignet, seiner inneren Vielfalt gerecht zu werden. Die GewissS vernetzt unterschiedliche Interessens- und Berufsgruppen, die im Bereich Schreiben in Forschung, Beratung, Lehre und Ausbildung tätig sind. Der Verband schafft Strukturen, die es ermöglichen, sich über Disziplinenund Berufsgrenzen hinweg auszutauschen und Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Gleichzeitig ermöglicht die Einrichtung von Special Interest Groups (SIGs) eine Ausdifferenzierung der jeweils gruppeneigenen Arbeits- und Wissenskulturen. Mit ihrer lockeren Verbandsstruktur schafft die GewissS einen multiperspektivischen Diskursraum, in dem alle Mitglieder aktiv partizipieren können. Hoher persönlicher Einsatz und das ehrenamtliche Engagement von den beinahe ausschließlich weiblichen Mitgliedern kennzeichnen sowohl die Vereinsarbeit als auch die schreibwissenschaftliche Forschung.
1 EINLEITUNG Bei der Etablierung der Schreibwissenschaft als einer neuen Disziplin kommt unterschiedlichen Institutionen (u.a. Schreibzentren und Verbänden) eine zentrale Rolle zu. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich am Beispiel der österreichischen „Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben“ (GewissS) mit der Frage, welchen Beitrag ein wissenschaftlicher Fachverband für die Entwicklung einer Schreibwissenschaft leistet bzw. leisten kann. Die GewissS sieht ihre Aufgabe laut Gründungsstatuten (12.11.2009) in der Förderung des wissenschaftlichen Schreibens und engagiert sich in Bereichen wie Forschung, Lehre und Fortbildung. Seit der österreichische Verband vor zehn Jahren (2009) mit 23 Mitgliedern gegründet
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wurde, hat sich seine Mitgliederzahl mit heute 96 (Stand Jänner 2020) mehr als vervierfacht. Derzeit befindet sich die GewissS in einer Wachstums- und Umbruchphase: 2019 war ein besonderes Jahr für den Verband: Im April erschien der erste Band1 der Reihe Schreibwissenschaft im Böhlau Verlag, Anfang Juni fand die lang geplante trinationale Verbandstagung „Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin?“ in Klagenfurt statt, und im Herbst lud die GewissS ihre Mitglieder erstmals statt auf eine Fachtagung zu einer Klausur, um gemeinsam an den Verbandsstrukturen zu arbeiten und die wachsenden Aufgaben auszudifferenzieren und zwischen Vorstand und Arbeitsgruppen aufzuteilen. 2020 ist also ein guter Zeitpunkt für eine Bestandsaufnahme. Wir gehen in unserem Artikel folgenden Fragen nach: Wie entstand die Vereinigung und wie gestaltete sich ihr Entwicklungsprozess? Welche Aufgaben hat der Verein heute und wie ist er derzeit strukturiert? Wer sind seine Mitglieder und wie positionieren sie sich zur Schreibwissenschaft? Wir nähern uns diesen Fragen mittels eines Mixed-Methods-Designs, in dem wir mit traditionellen qualitativen und quantitativen Herangehensweisen, aber auch mit experimentellen Ansätzen2 arbeiten. Die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung der GewissS rekonstruieren wir anhand einer klassischen Dokumentenanalyse, die Ergebnisse präsentieren wir sowohl in einem historischen Abriss als auch in einer Concept-Map graphisch verdichtet (vgl. Abschnitt 2). Im Sinne eines „Oral-History-Ansatzes“ stellen wir der historischen Überblicksdarstellung zudem kontrapunktisch Erinnerungssplitter einiger Gründungsmitglieder gegenüber. Für die Beschreibung der Verbandsziele und Aufgabenfelder nutzen wir – einem partizipativen Ansatz verpflichtet – Flip-Chart-Kommentare, die Mitglieder auf der Klausurtagung 2019 verfasst haben (vgl. Abschnitt 3). Eine Übersicht über aktuelle Aktivitäten (vgl. Abschnitt 4) leitet über zu einer quantitativen Bestandsaufnahme des fachlichen Hintergrunds sowie der Forschungs- und Schreibtätigkeit der GewissS-Mitglieder (vgl. Abschnitt 5).
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Huemer et al. (2019) Die Fragebogenerhebung wurde von Sabine Dengscherz durchgeführt, die Dokumentenanalyse und Beschreibung der AGs und SIGs von Carmen Mertlitsch. Die Erhebung und Aufbereitung von Erinnerungs-Freewritings, die Flip-Chart-Textcollage und die Concept-Map stammen von Karin Wetschanow. Das Material dazu ausgewertet haben Carmen Mertlitsch und Karin Wetschanow. Eine volle Version der Oral-History zur Gründung der GewissS und der vollständige historische Abriss findet sich auf der Homepage des Verbands (www.gewisss.at).
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
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GEMEINSAM DIE GESCHICHTE DER GEWISSS REKONSTRUIEREN
In diesem Abschnitt erschließen wir Entwicklungsphasen und Meilensteine der GewissS anhand zweier Analysekorpora: Analysiert werden 1) alle gesammelten Dokumente des Vereinsgeschehens (Protokolle, Aussendungen, Tagungsprogramme und Einladungen) und 2) der dokumentierte E-Mail-Verkehr aus dem Vorstand sowie die ausgesendeten Newsletter.3 Die Dokumente wurden in einem ersten Schritt gesichtet und Ereignisse bzw. damit verbundene Informationen tabellarisch dokumentiert. In einem zweiten Schritt wurden die Ergebnisse graphisch in Form einer Concept-Map dargestellt4 und in einem dritten Schritt wurde auf deren Basis ein historischer Abriss verfasst. Dass Daten und Fakten nicht unfehlbare Zeuginnen der Geschichte sind, gilt in der Geschichtswissenschaft mittlerweile als weithin anerkannt.5 Dem haben wir Rechnung getragen, indem wir alle Gründungsmitglieder der GewissS6 dazu eingeladen haben, sich in einem „focused“ und „public freewriting“ (Belanoff, Elbow, & Fontaine, 1991, S. xiii ) an die Anfänge der GewissS zu erinnern. Auf diese Weise konnten wir subjektive Erinnerungen erheben, ohne die in der Oral History üblichen und vielfach kritisierten Interviews zur Erhebung persönlicher Informationen und Ansichten einzusetzen und zugleich eine dem Forschungsgegenstand angemessene Erhebungsmethode zum Einsatz bringen. Im Folgenden stellen wir die subjektiven Erinnerungen dem konventionell verfassten Abriss der Entstehungsgeschichte gegenüber und bedienen so zwei Seiten der Geschichtsschreibung: Eine „faktenbasierte“ konfrontieren wir mit einer „erinnerungsbasierten“ Darstellung.
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An dieser Stelle möchten wir uns bei Markus Rheindorf und Ursula Doleschal für die Ergänzung des Aussendungs- und Newsletter-Materials bedanken! Der Einsatz visueller Mittel für die Darstellung qualitativer Forschungsergebnisse wird zunehmend angeregt (z.B. Rheindorf, 2019), insbesondere für Prozesse der historischen Entwicklung. Eine Concept-Map ist nach Novak (2006) eine visuelle Organisation und Repräsentation von Wissen. Sie legt Konzepte, Ideen, Informationen und Ereignissen sowie deren Einflüsse untereinander offen und fasst sie zu einem Informationsfluss zusammen, der auf diese Weise neu gewonnenes Wissen darstellt. Ebenso wird die Befragung als eine stark von den Einstellungen der Forschenden abhängige Methode kritisiert, die durch die Auswahl der Fragen unbekannte oder unerwünschte Sichtweisen außer Acht lässt. Die Fragilität und Subjektivität von Erinnerungen ist daher seit langem ein Thema der Geschichtswissenschaft, die diesem Phänomen u.a. mit der Methode der „Oral History“ (siehe dazu u.a. Ritchie, 2014) zu begegnen versucht. Zehn Gründungsmitglieder wurden angeschrieben, fünf Personen reichten ihre persönlichen Erinnerungen ein.
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Abb. 1: Concept-Map: Entwicklung der GewissS.
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2004 trafen sich die ersten österreichischen Schreibforscher*innen und -didaktiker*innen zum Symposium „Academic Writing in Languages other than English“ an der Universität Klagenfurt.77 Um diese Zeit lagen auch schon die ersten Forschungsergebnisse der genreanalytisch arbeitenden Forschungsgruppe des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Wien vor. Ebenfalls 2004 wurde das erste Schreibzentrum in Österreich, das SchreibCenter (SC) in Klagenfurt gegründet, das sich als „besondere universitäre Einrichtung“ mit Forschung, Lehre und Beratung im Bereich „Schreiben“ in den 2000er Jahren zum Mittelpunkt der Lehre und Auseinandersetzung zum Thema „Schreiben“ in Österreich entwickelte. In Klagenfurt fanden bis zur Gründung der GewissS eine Reihe von Workshops mit wissenschaftlichen Vorträgen statt.8 Der Besuch einer Tagung des Forums wissenschaftliches Schreiben in Winterthur/Schweiz führte zu der Idee, einen „Schwesterverband“ zu gründen. Durch eine neue „Gesellschaft“ sollten an Universitäten angesiedelte Initiativen zur Förderung wissenschaftlichen Schreibens im akademischen Ausbildungskontext miteinander vereint werden.
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(BH) In meinen Kopf gibt es zwei wichtige Schauplätze für die Gründung der GewissS: Wien und Klagenfurt. […] Ich kann mich erinnern, dass das ein längerer Prozess war, vermutlich länger als ein Jahr. (CM) Mich hat die Idee einer Vereinsgründung in Anlehnung an die Schweizer Gruppe […] nicht losgelassen […] (KW) Damals war das SchreibCenter in Klagenfurt noch klein und es gab noch ausreichend Zeit […] im Büro zu sitzen und Ideen zu spinnen […] es [gab] viele Diskussionen und viele Pläne, die voller Inspiration, Hoffnung und Glaube an die Sache abgelaufen sind. (UD) An den Anfang kann ich mich nur schlecht erinnern. […] Ich kann mich erinnern, dass ich eine Sektion bei VERBAL9 gründen wollte, sodass VERBAL dann analog zur GAL10 verschiedene Sektionen haben würde. […] Gründe, die dagegen sprachen, waren vor allem, dass die Schreibforschung ja über die Sprachwissenschaft hinausgehe. Das hat mir auch eingeleuchtet, aber wirklich glücklich war ich damit nicht. […].
Der gleichnamige Tagungsband wurde von Ursula Doleschal und Helmut Gruber 2007 herausgegeben. 8 Zum Beispiel halbjährliche Workshops zur „Standardbildung“ zum wissenschaftlichen Schreiben, aber auch 2006 der Workshop „Von der Schreibforschung zur Schreibdidaktik“ bei der 34. Österreichischen Linguistiktagung in Klagenfurt, 2007 der Workshop „Vermittlung von Schreibkompetenz. Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen Schulen, Pädagogischen Hochschulen und Universitäten“, der in Klagenfurt vom neu gegründeten Kompetenzzentrum für Deutschdidaktik zusammen mit dem SC organisiert wurde, und 2008 ein Workshop des Kompetenzzentrums für Deutschdidaktik, aus dem der Ide-Band „Schreibprozesse begleiten. Vom schulischen zum universitären Schreiben“ mit Beiträgen u.a. von Hanspeter Ortner und Paul Portmann-Tselikas hervorgegangen ist. 9 „Verbal“ ist der Kurzname des österreichischen Verbands für Angewandte Linguistik (siehe www.verbal.at); er tagt i.d.R. im Rahmen der Österreichischen Linguistiktagung (ÖLT). 10 „GAL“ steht für die deutsche „Gesellschaft für Angewandte Linguistik“ (siehe www.galev.de), die eine Sektion für Schreibwissenschaft eingerichtet hat.
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Gegründet wurde die GewissS als Verein11 am 12.11.2009 im Rahmen des Symposiums „Wissenschaftliches Schreiben 2 – Writing across the curriculum. 5 Jahre SchreibCenter“12 in Klagenfurt. Den Gründungsmitgliedern waren Vielfalt und Breite wichtig. Die GewissS wollte Studierende, Hochschullehrende, Universitätsprofessor*innen, Schreibzentren, freien Schreibberater*innen und Deutschdidaktiker*innen13 sowie alle an der Qualitätsentwicklung Interessierte ansprechen und diese Heterogenität auch im Vorstand abbilden. Das „weit“ definierte Ziel war, das wissenschaftliche Schreiben zu fördern, indem auf unterschiedlichen Ebenen Impulse für die Auseinandersetzung mit theoretischen und praktischen Fragen gesetzt wurden: Etwa durch die Förderung von Schreibinitiativen an Hochschulen und Schulen sowie durch kollaborative Formen, die Veranstaltung von Tagungen und die Förderung von Publikationen, durch Aus- und Weiterbildungen, durch gemeinsames hochschulpolitisches Auftreten und durch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit schreibpädagogischen Fragen und die Arbeit an praktischen Lösungen.
(BH) Im Rahmen der Klagenfurter Tagung fand, glaub ich, die erste Generalversammlung statt. (CM) Am Tagungsprogramm stand am Abend des ersten Tages „Vereinsgründung“ […] (BH) Die erste Generalversammlung war spannend und schön. Zum Start gab es doch schon einige Gründungsmitglieder. Wo kamen die her? Bekannte KollegInnen und StudentInnen, die wir angesprochen hatten. Doch war ich überrascht, dass es gleich zu Beginn großen Anklang gab. (ED) Ich war das einzige studentische Gründungsmitglied, ich glaub, es wurde extra dafür ein Studierendenrabatt für den Mitgliedsbeitrag besprochen – oder besser gesagt, er war wohl von Anfang an vorgesehen, aber wurde irgendwie auf mich bezogen. (KW) Ich kann mich daran erinnern, dass wir einen Namen gesucht haben und dass irgendjemand „Gesellschaft“ vorgeschlagen hat. Ein Wort, an das ich nicht gedacht hätte, das mir aber sofort wahnsinnig gut gefallen hat, weil es das soziale und diskursive Element so in sich trägt. (ED) Es gab allerlei vereinsmeierliche Prozeduren und bei der Erdenkung des Namens war ich es, der die Abkürzung GEWISSS (mit drei S) vorschlagen sollte. (KW) Ich weiß noch, wie aufgeregt wir alle waren und wie toll wir uns und unsere Idee fanden.
11 Nach österreichischem Recht unterliegt die Gesellschaft den Statuten eines öffentlichrechtlichen Vereins. 12 Tagungsbeiträge wurden veröffentlicht in Doleschal, Mertlitsch, Rheindorf, & Wetschanow (2013). 13 Die Deutschdidaktiker*innen sind heute in einem eigenen Verband organisiert.
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
Die Gruppe war klein und einige Jahre stand ganz bewusst der interne Austausch im Vordergrund. Es galt, das Feld derer kennenzulernen, die sich mit wissenschaftlichem Schreiben beschäftigen. Für die Etablierung eines kollaborativen Netzwerkes und den Vertrauensaufbau waren dann viele persönliche Treffen notwendig, die allerdings aufgrund der alpinen Bedingungen in Österreich lange Reisezeiten von bis zu acht Stunden erforderten. Über die letzten zehn Jahre hinweg pendelte sich eine Frequenz von halbjährlichen bzw. zeitweise lediglich jährlichen Treffen ein. Im Laufe der Zeit wurden aus eintägigen Workshops zweitägige wissenschaftliche Tagungen und aus einfachen Vereinsversammlungen Klausuren mit Treffen der Peertutor*innen 14, Special-Interest-Groups (SIGs) und Arbeitsgruppen (AGs). Das Programm der Tagungen erweiterte sich dementsprechend: Zu den wissenschaftlichen Vorträgen, und der Methodenbörse kamen Gruppentreffen sowie eine immer längere Themenliste bei der Generalversammlung.
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(UD) In meiner Erinnerung war die Anfangszeit von GEWISSS aber sehr ruhig, das Engagement der Mitglieder für den Verein hat sich in Grenzen gehalten. Er war zu Beginn auch sehr klein. (KW) Wir haben uns damals sehr in dem universitären Spektrum bewegt […]. Dabei waren von Anfang an freie Schreibberaterinnen dabei. (CM) Uns war bei der Gründung besonders wichtig, die angestrebte Heterogenität der angestrebten Mitglieder aus Studierenden, Hochschullehrenden, Uni-Prof*innen, Schreibzentren und freien Schreibberater*innen, und alle an der Qualitätsentwicklung Interessierten im Vorstand abzubilden und in der Gesellschaft willkommen zu heißen.
14 Wir nutzen diesen Terminus als Sammelbezeichnung für Studierende, die auf Peerebene ihre Kommiliton*innen beim Schreiben unterstützen. In Österreich gibt es „Schreibberater*innen“, „Schreibassisten*innen“, Schreibtutor*innen“, „Schreibmen tor*innen“ und „Writing Fellows“. Ob das nur jeweils andere Bezeichnungen für gleiche Tätigkeiten sind, oder damit auch unterschiedliche Rollen bezeichnet werden, bedarf noch einer eingehenderen Analyse.
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Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow
Mit der Zeit traten nicht nur immer mehr Einzelpersonen bei, sondern auch neun Schreib-, Lern, und Lesezentren und deren Mitarbeiter*innen konnten als Mitglieder gewonnen werden. Die sukzessive Ausdifferenzierung in AGs und SIGs zeigt, dass die GewissS mittlerweile auch ein Ort für die Vernetzung von Berufsgruppen bzw. schreibfördernden Einrichtungen geworden ist und Funktionen einer Standesvertretung übernimmt. Die Etablierung SIG der „Peertutor*innen“ zeigt, dass es eine aktive Nachwuchsgemeinschaft gibt. Neben den Fachtagungen gab bzw. gibt es seit der Gründung einige Initiativen. Der Versuch, eine „Bibliographie zum wissenschaftlichen Schreiben in Österreich“ interaktiv zu betreiben, war eine der ersten Ideen, die allerdings versandete. Die Gestaltung einer interaktiven Landkarte, welche die Schreibszene in Österreich abbildet, trägt für Besucher*innen der Webseite dazu bei, sich zu orientieren und Kontakt herzustellen. Die Etablierung eines Newsletters, der regelmäßig über Terminavisos, Literaturneuerscheinungen, Projekte von Mitgliedern u.ä. informiert, fungiert als ein zentrales Element des Austausches für die GewissS-Mitglieder. Das Projekt einer österreichweiten „Langen Nacht der aufgeschobenen Seminararbeit“, das auf Betreiben des damals neu gegründeten Schreibzentrums der Karl-Franzens-Universität Graz ins Leben gerufen wurde, war der Anstoß für ein erstes gemeinsames öffentliches Auftreten.
(UD) Mehr Schwung ist hineingekommen, als sich auch andere Universitäten bzw. universitäre Einrichtungen begonnen haben, dafür zu interessieren. (BH) Es ist schön zu sehen, wie sich die Gesellschaft über die Jahre weiterentwickelt hat. So wie ich das sehe, wurde sie immer dynamischer. (BH) Vermutlich war auch die Zeit reif für mehr Aktion und Professionalisierung. (BH) Ich sehe bei allen, die mitmachen, großes Engagement und Offenheit für die unterschiedlichen Interessen. Ich hoffe das bleibt so. (KW) Wir sind fröhlich und unbeschwert in dieses Abenteuer losgezogen und jenseits von Statuten (die ich immer noch hemmend und öde finde) sind wir ein fröhlicher Haufen geblieben: Unbeschwert vielleicht nicht mehr ganz so viel, weil wir jetzt auch Verantwortungen tragen, aber wir haben immer noch viel Spaß miteinander. (BH) Es macht mir Spaß Mitglied zu sein und ich engagiere mich gern weiterhin. „Es ist mir eine Ehre.“
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
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GEMEINSAM DIE GEWISSS BESCHREIBEN
Traditionellerweise werden in der GewissS Verbandsziele gemeinsam ausgehandelt und gemeinsam weiterentwickelt. Diesem partizipativen Grundkonsens des Vereins fühlen wir uns verpflichtet. Daher haben wir uns dazu entschieden, die bei der GewissS-Klausur 2019 schriftlich festgehaltenen Meinungsäußerungen heranzuziehen, die uns in Form fotodokumentierter Flip-Chart-Kommentare vorliegen. Aus den wörtlichen Zitaten haben wir auf Basis einer Inhaltsanalyse eine Textcollage gebaut, die aufzeigt, welche Ziele, Strukturen und Herausforderungen des Verbandes aktuell wahrgenommen werden. Auf diese Weise bieten wir den Mitgliedern von GewissS die Möglichkeit selbst zu Wort zu kommen‘. Die schriftlichen Äußerungen der Mitglieder sind in diesem summ(ier)enden Text durch Kursivierung kenntlich gemacht. Ziele und Strukturen Die GewissS möchte das Berufsbild Schreibberater*in mit Qualitätsstandards konstituieren und damit das wissenschaftliche Schreiben in Österreich fördern. Die anwesenden Mitglieder sehen den Verband als eine super Initiative. Es hat Pionierarbeit gebraucht für den Aufbau von Expertise und Strukturen in der GewissS (vgl. Abschnitt 4) und für eine Communitypräsenz in der schreibwissenschaftlichen Szene. Da war oft auch Chaos, und zu Beginn gab es Schwierigkeiten Leute zu finden, die Aufgaben übernehmen wollten, um den Fachverband aufzubauen. Aber dann kamen Leute, deren Kolleg*innen schon dabei waren, die an Schreibzentren oder am Center for Teaching and Learning arbeiteten oder durch ihre Arbeit als Peer-Tutor*in zu uns fanden. Auch über das freie Unternehmen Writers’ Studio fanden einige den Weg zur GewissS. Manche suchten einen Zugang auch ganz explizit durch eine Recherche, was es so in Österreich gibt. Arbeitstreffen Der Alltag von GewissS gestaltet sich gar nicht illuster oder elitär, sondern überaus entspannt. Jährliche Tagungs- sowie Klausurteilnahmen, geben das Gefühl „up to date“ zu sein, was in dem Bereich besprochen wird. Dabei ist es nach einem Beitritt gleich recht intensiv, da es ein kleiner Kreis ist. Die Treffen sind immer inhaltlich und persönlich anregend, fast zu anregend, um alles zu verarbeiten.
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Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow
Heterogenität leben So repräsentiert der Verein heute eine Mischung aus Institutionen und Selbständigen, d.h. es sind Vertreter*innen von Schreibzentren oder dem Center for Teaching and Learning ebenso präsent und aktiv wie freie Schreibberater*innen oder Schreibforscher*innen in unterschiedlichen Kontexten und Vertragsverhältnissen. Das läuft auch nicht immer spannungsfrei. Aber es bietet die Möglichkeit für inhaltliche Arbeit und Diskussion bzw. Austausch und Netzwerken. Heute gibt es Arbeitsgruppen, die sich um bestimmte Vereinsagenden kümmern und Special Interest Groups, die als Interessenvertretungen fungieren (vgl. dazu auch Abschnitt 4). Vielleicht wird der Verband noch stärker zu einer Interessensvertretung, wenn wir ein Mission Statement gefunden haben. Aber wir gewähren jetzt schon Einblick in das (soziale) Feld der Schreibdidaktik und -wissenschaft. Derzeit befindet sich die GewissS gerade in einem weiteren Konsolidierungsprozess. Der Verband benötigt mehr Sichtbarkeit und mehr Struktur. Eine bessere Aufgabenteilung gehört da auch dazu und ein Auftritt nach außen. Manche wollen mehr „gewichtige“ Mitglieder anwerben (z.B. Univ.-Profs.), andere schätzen in der GewissS gerade die nicht hierarchische Atmosphäre. Für die Zukunft sehen manche die Aufgabe der GewissS darin, die Schreibwissenschaft voranzutreiben und sich der Öffentlichkeitsarbeit und der Politik zuzuwenden. Ehrenamtliche Tätigkeit – auch eine Genderfrage? Bei der Klausurtagung war in machen Zeitschienen kein Mann da: Was heißt das? Heißt das was?15 Hat das etwas mit der vielen Ehrenamtlichkeit zu tun, die vielfach thematisiert wurde? Dem Ehrenamt sollte Raum gegeben werden, ebenso wie dem Nachwuchs. Wissen sichern und disseminieren Überlegt wurde auch, wie wir im Verein das Wissen, das wir haben, sichern. Eine Idee, die dabei aufgetaucht ist, war, mit der Entstehungsgeschichte raus an die Öffentlichkeit zu gehen – was wir hiermit tun. Die Stimmen der Mitglieder halten die 15 Bei der Klausur 2019 arbeiteten 18 Frauen und drei Männer aktiv mit, am ersten Tag waren es zu Beginn nur Frauen. Das zeigt ein typisches Bild der Geschlechterverhältnisse im Verband – Ausnahmen sind Markus Rheindorf mit seinem unerlässlichen Engagement, die Präsidentschaft von Helmut Gruber sowie die Mitarbeit einiger Schreibberater sowie der studentischen Peertutoren in den SIGs – und darüber hinaus tendenziell auch in der Schreibdidaktik. Nur in der Schreibforschung scheint das Verhältnis etwas ausgewogener zu sein.
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
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wichtigsten Ziele der Gesellschaft fest. Das Fördern wissenschaftlichen Schreibens durch Forschung, Lehre, Beratung und Ausbildungen wird als leitendes Grundprinzip formuliert. Zudem sollen Strukturen für die Generierung und Sicherung der wissenschaftlichen und didaktischen Expertise auf- bzw. ausgebaut werden. Dazu zählt insbesondere die Aufgabe, ein Berufsbild für „Schreibberater*innen“ zu konstituieren und entsprechende Qualitätsstandards festzulegen. Aber auch Öffentlichkeitsarbeit sowie (bildungs-)politisches Engagement werden eingemahnt. Deutlich wird eine starke Partizipation der Mitglieder an den Prozessen und Strukturbildungen der Gesellschaft sowie eine lockere, basisdemokratische Verbandsstruktur.
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DERZEITIGE STRUKTUR DER GEWISSS
Insgesamt gibt es derzeit fünf aktive Arbeitsgruppen (AGs) sowie eine AG in der Gründungsphase, die sich allesamt mit Themen beschäftigen, die die GewissS als gesamten Verband betreffen. Darüber hinaus wurden bisher vier Special Interest Groups eingerichtet, die besondere Interessen bestimmter Mitgliedergruppen innerhalb des Verbandes verfolgen und befördern, wie etwa die der freiberuflich tätigen Schreibberater*innen und Schreibforscher*innen sowie die der hauptberuflichen und der studentischen Mitarbeiter*innen in der Schreibberatung. Zu den Arbeitsgruppen (AGs) Die eAG Schreiben beschäftigt sich mit dem Einfluss der Digitalisierung auf wissenschaftliche Schreibprozesse. Besonderes Augenmerk gilt der Frage, welche Medien, Artefakte und Umgebungen in den Phasen eines Schreibprojektes individuell und kollaborativ genutzt werden (können). Die AG Schreibtasche ist eine virtuelle Sammlung schreibdidaktischer Instrumentarien und reicht von einer Methodenbörse mit Schreibübungen bis hin zur Institutionalisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit von öffentlichen und privaten Schreibberatungseinrichtungen. Die AG Internationale Beziehungen befördert die Internationalisierung und Kooperation der GewissS mit Partnerverbänden in anderen Ländern. Die bisherige Zusammenarbeit mit der deutschen gefsus und dem Schweizer Forum wissenschaftliches Schreiben mündete 2019 in die Drei-Verbände-Tagung in Klagenfurt sowie in den vorliegenden Tagungsband. Weitere gemeinsame Aktivitäten sind
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Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow
die Organisation von Pre-Conference-Workshops für Dissertant*innen und die Planung von Tagungen bzw. gemeinsamen Tagungsbeiträgen.16 Die AG Aus- und Weiterbildung macht es sich zur Aufgabe, mögliche Felder der Kooperation im Hinblick auf die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Schreibdidaktiker*innen innerhalb der österreichischen Universitäts- und Hochschulorganisationen sowie auch in Zusammenarbeit mit nicht-universitären Einrichtungen auszuloten. Die AG Website und Newsletter befasst sich mit der Konzeption der neuen Website und der Aussendung der GewissS-Newsletter. Darüber hinaus wurde bei der Generalversammlung 2019 eine AG zum Thema Soziales Wohlbefinden gegründet. Special Interest Groups (SIGs) Die SIG Lese-, Schreib- und Lernzentren bietet den Mitarbeiter*innen der entsprechenden Einrichtungen an Universitäten, Fachhochschulen oder Pädagogischen Hochschulen in Österreich eine Plattform für Austausch. Das Netzwerk freie Schreibberater*innen ist ein Verbund von Personen, die Schreibberatung bzw. Schreibtraining anbieten. Eine neu eingerichtete SIG zu Themenbereichen der Schreibforschung will sich mit der Sondierung des Feldes der Schreibforschung in mehrfacher Hinsicht beschäftigen. Die SIG Österreichische Peer-Tutor*innen (ÖPT) wird – neben der fortführenden Abhaltung der österreichischen Peertutor*innenKonferenz bei der GewissS-Tagung – künftig institutionalisiert die Anliegen und Interessen der studentischen Schreib-Peer-Tutor*innen an österreichischen Hochschulen und Universitäten vertreten. Eine disziplinär ausgerichtete Schreibwissenschaft wird – wie aus der Darstellung der Verbandsstrukturen ersichtlich wird – durch jene Tätigkeitsbereiche der GewissS befördert, die zu einem Teil zu den Aktivitäten der Schreibforschung zählen und zu einem anderen Teil zu den reflektierenden Praktiken einer wissenschaftlich ausgerichteten Schreibdidaktik, mitsamt der dabei betriebenen Begleitforschung. So beschäftigen sich die AG Internationale Beziehungen und die SIG Schreibforschung mit dem Ausbau der Zusammenarbeit von Schreibforscher*innen und -didaktiker*innen. Das geschieht inner- und außerhalb Österreichs durch eine gemeinsame Recherche zu Möglichkeiten der Forschungsförderung, durch die Unterstützung wissenschaftlichen Nachwuchses (z.B. Dissertant*innen), aber auch durch die geplante Förderanträge gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungsprojekte und die Möglichkeit zur Verbreitung von Forschungsergebnissen auf 16 Etwa die Abhaltung eines weiteren länderübergreifenden Symposiums im Rahmen der Tagung des Forums wissenschaftliches Schreiben in Brugg-Windisch 2021.
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
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Tagungen und in Publikationen. Auch Einzelpersonen und weitere Untergruppen des Verbands, wie etwa die eAG und die AG Aus- und Weiterbildung, haben im Rahmen der GewissS bereits kleinere (Fragebogen-)Untersuchungen durchgeführt, didaktische Materialien entwickelt und sind in verschiedener Form auf (inter-) nationalen Tagungen und in Publikationen präsent, um österreichische Aktivitäten im Bereich der Schreibforschung bekannt zu machen. Persönliche Begegnungen und Zusammenarbeit sind wesentlich für die Professionalisierung und Qualitätssicherung in Forschung, Lehre und Beratung. Austauschtreffen dienen nicht nur der gegenseitigen sozialen Stärkung, und dem Lernen durch unterschiedliche Arbeitszugänge, sondern ermöglichen die Zusammenarbeit bei (hochschul-)politischen Anliegen, Forschungsinteressen oder Förderanträgen. Unterstützt wird das kollaborative Arbeiten in der GewissS durch den intensiven Austausch in den Untergruppen selbst. Hervorzuheben ist schließlich auch die AG Website und Newsletter, die die Mitglieder mit wissenschaftlich relevanten Informationen versorgt. Auf diese Weise fungiert die GewissS als eine Informations- und Austauschplattform für eine gemeinsame Wissensgemeinschaft.
5 DIE GEWISSS IN ZAHLEN In einer Fragebogenerhebung wurden die Mitglieder im Frühjahr 2019 eingeladen, ihre Perspektive auf die Gesellschaft und auf die Schreibwissenschaft einzubringen. Der Fragebogen ging an alle (zu dem Zeitpunkt 90) Mitglieder, 40 haben an der Umfrage teilgenommen, 37 haben den Fragebogen bis zum Ende ausgefüllt.17 Die Rücklaufquote des Fragebogens beträgt also 44 Prozent.18 Die Fragen kreisen um drei Hauptthemen: den fachlichen Hintergrund und die eigene Schreibtätigkeit der Mitglieder, ihre Tätigkeiten in der Schreibwissenschaft (inhaltlich und hinsichtlich der Rahmenbedingungen) und die Etablierung der Schreibwissenschaft als Disziplin. 17 Vielen Dank an Melanie Brinkschulte, Katrin Girgensohn und Ruth Wiederkehr für die Teilnahme an der Pretest-Runde und für ihre konstruktiven Kommentare zur Gestaltung des Fragebogens! 18 Eine Anmerkung im Sinne der Transparenz: Als damalige GewissS-Präsidentin, Erstellerin des Fragebogens und Auswerterin der Ergebnisse war ich mit einer Double-BindSituation konfrontiert: Soll ich „meinen eigenen“ Fragebogen selbst auch ausfüllen und mich dadurch als Forscherin in eine etwas problematische Rolle begeben – oder soll ich ihn nicht ausfüllen und dadurch die Ergebnisse ebenso verfälschen? Im Austausch mit Kolleg*innen und im Einvernehmen mit den Kolleg*innen im GewissS-Vorstand habe ich mich schließlich für das Ausfüllen entschieden. (Anm. Sabine Dengscherz).
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Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow
Zum fachlichen Hintergrund und zum eigenen Schreiben Zunächst wollten wir wissen, in welchen Bereichen des Schreibens die einzelnen Mitglieder tätig sind, auf welchen beruflichen Erfahrungen sie aufbauen und unter welchen Bedingungen sie arbeiten. Die Teilnehmenden (TN) wurden gefragt, welche Ausbildung/en sie mitbringen, Mehrfachnennungen waren möglich. Knapp die Hälfte der Befragten (19 TN von 40) verfügen über eine spezifische Ausbildung zum Schreiben (haben einen Lehrgang besucht). Ansonsten überwiegen sprach(en)spezifische Studienrichtungen (16-mal Germanistik, 6-mal Anglistik, 9-mal ein anderes philologisches oder sprachwissenschaftliches Studium). Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft, Translationswissenschaft bzw. Transkulturelle Kommunikation und naturwissenschaftliche Studienrichtungen sind je dreimal vertreten, andere geisteswissenschaftliche Studien, Psychologie und Kunst je zweimal; BWL, Cognitive Science, Kommunikationswissenschaft, Logotherapie, Soziologie, Vergleichende Literaturwissenschaft und eine Ausbildung für Coaching/Supervision je einmal. Die Mitglieder der GewissS bringen also vielfältige Expertise aus unterschiedlichen Bereichen in den Verband ein. Diese Vielfalt zeigt sich auch im eigenen Schreiben der Mitglieder, die entsprechende Frage haben 37 TN beantwortet. 36 davon, also fast alle, schreiben selbst wissenschaftliche Texte, 30 verfassen Texte für internen Gebrauch (z.B. Projektberichte, Protokolle o.ä.), 18 schreiben in der Geschäftskommunikation. Elf TN verfassen auch literarische Texte, zehn TN Ratgeberliteratur und sieben TN journalistische Texte. Darüber hinaus wurden als Zusatznennungen in einem offenen Feld vor allem verschiedene Arten von didaktischen Materialien genannt. Tätigkeitsbereiche und Forschungsthemen Die befragten GewissS-Mitglieder sind zum überwiegenden Teil in der Schreibdidaktik tätig: 33 (von 40) unterrichten wissenschaftliches Schreiben, 30 halten Schreibworkshops für Gruppen ab und elf beschäftigen sich mit schulischer Schreibdidaktik. 22 bieten Schreiberatung in Einzelcoachings an. Darüber hinaus wurden Tätigkeitsfelder wie schreibintensive Lehre, Ausbildung von Peer-Tutor*innen bzw. Schreibtrainer*innen genannt sowie psychologische bzw. systemische Beratung, reflexives und therapeutisches Schreiben oder das Lektorieren von Texten. 20 TN sind (auch) in der Schreibforschung tätig. Dabei spielen folgende Themen eine Rolle: Schreibprozesse (14), wissenschaftliches Schreiben (13), Textanalyse (12), Schreibentwicklung (7), Schreiben in einer Fremd- oder Zweitsprache (6), Beratungskommunikation (4) sowie Wissenschaftstheorie und Wissenschaftslinguistik, vorwissenschaftliches Schreiben, Genreanalyse, soziale Aspekte (New
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
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Literacies), Rahmenbedingungen und Schreiborte sowie das Zusammenspiel von Denk-, Schreib- und Leseprozessen. Von den 20 TN, die angegeben haben, Schreibforschung zu betreiben, tun dies elf im Rahmen ihrer Anstellung an einer Institution (Universität oder Pädagogische Hochschule), vier davon in einem Drittmittelprojekt (Fördergeber sind FWF, Ministerien, FFG, ÖNB und die Kärntner Sparkasse). Viel an Schreibforschung geschieht jedoch außerhalb der bezahlten Arbeitszeit: 13 TN haben angegeben (auch) privat in der Freizeit Schreibforschung zu betreiben und fünf TN forschen teils in der Arbeitszeit, teils in der Freizeit. Dieser hohe Anteil an unbezahlter „Freizeitforschung“ ist im Kontext der Rahmenbedingungen zu sehen, in denen sich Schreibwissenschaft derzeit bewegt (siehe unten). Schreibwissenschaft als Disziplin Dass Schreibwissenschaft eine vornehmlich weibliche Disziplin ist, dies zeigt sich auch in der GewissS-Umfrage: 83,3 % haben bei der Frage nach dem Geschlecht weiblich angegeben, 5,4 % männlich, 2,7 % nicht-binär, und 8,1 % haben keine Angabe gemacht. Die Tätigkeit in der Schreibwissenschaft ist vorwiegend intrinsisch motiviert: Ein Großteil der Befragten ist sehr zufrieden (32,43 %) bis recht zufrieden (37,84 %) mit den inhaltlichen Aufgaben. Bei den Gestaltungsmöglichkeiten ist die Zufriedenheit sogar noch höher: 45,95 % sind sehr zufrieden und 24,32 % recht zufrieden damit. Deutlich schlechter schneidet die Disziplin hinsichtlich Bezahlung, Karrieremöglichkeiten und Work/Life-Balance ab: Die gläserne Decke hängt niedrig – für das ganze Feld. Dementsprechend wird die Schreibwissenschaft als noch wenig etabliert und institutionell wenig verankert wahrgenommen und als finanziell schlecht ausgestattet (vgl. Tab. 1): Tab. 1: Verortung der Schreibwissenschaft und ihrer Rahmenbedingungen (TN: 36, Skalafrage)
Noch gar nicht etabliert.
(1) in %
(2) in %
(3) in %
(4) in %
(5) in %
(6) in %
5,56
52,78
22,22
13,89
5,56
--
Gut etabliert als Disziplin.
Ø
±
2,61
0,99
312
Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow (1) in %
(2) in %
Auf einige 13,89 25,00 wenige Themen beschränkt.
(3) in %
(4) in %
(5) in %
(6) in %
19,44
19,44
8,33
13,89
Ø
±
Weit verzweigt mit vielfältigen Themen.
3,25
1,61
Mit geringen Mitteln ausgestattet.
57,14 34,29
8,57
--
--
--
Finanziell gut ausgestattet.
1,51
0,66
Institutionell nicht verankert.
22,22 27,78
36,11
36,11
5,56
--
Institutionell gut verankert.
2,47
1,11
Hinsichtlich der vorhandenen oder nicht vorhandenen Themenvielfalt fällt die hohe Standardabweichung bei den Antworten auf (1,61 %). Diese kann einerseits mit tatsächlich sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Einstellungen gegenüber der Schreibwissenschaft zusammenhängen, andererseits mit individuellen Interpretationen von „Vielfalt“ und „Beschränkung“. Inwieweit mehr Vielfalt – oder mehr Einheitlichkeit – wünschenswert wären, ist (nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Aushandlungsprozesse, die die Disziplinwerdung der Schreibwissenschaft betreffen) noch einmal eine andere Frage. Das Feld der Schreibwissenschaft sehen die Befragten – je nach Bereich – verschieden gut entwickelt. Am besten schneidet der Austausch über Schreibdidaktik ab, am schlechtesten die Karrieremöglichkeiten. Tab. 2 zeigt eine Übersicht: Tab. 2: Entwicklungsstand einzelner Bereiche der Schreibwissenschaft (TN 37, Matrixfrage: 1 = sehr schwach ausgeprägt, 6 = sehr stark ausgeprägt, 0 = k.A.) Bereich
Ø
±
Austausch über Schreibdidaktik
4,08
1,25
Vernetzung innerhalb der Schreibwissenschaft
3,83
1,23
Austausch über Forschungsergebnisse
3,40
1.01
Etablierung von Schreibzentren
3,33
0,96
Zeitschriften, wissenschaftliche Reihen
3,28
1,23
Empirische Schreibforschung
3,03
1,27
Betreuungsmöglichkeiten für schreibwissenschaftliche Masterarbeiten und 3,00 Dissertationen
1,44
Berufsaussichten als Selbständige in der Schreibwissenschaft
1,40
2,90
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
313
Bereich
Ø
Austausch über theoretische Fragestellungen
2,79
0,96
Austausch über Forschungsmethoden
2,76
1,21
±
Vernetzung der Schreibwissenschaft mit anderen Disziplinen
2,56
1,11
Stellenangebote in der Schreibwissenschaft (Anstellungsverhältnisse)
1,72
1,02
Karrieremöglichkeiten in der Schreibwissenschaft (Führungspositionen)
1,52
0,72
Betreuungsmöglichkeiten für Masterarbeiten und Dissertationen in der Schreibwissenschaft werden von GewissS-Mitgliedern sehr unterschiedlich eingeschätzt. Dies dürfte einerseits mit diversen institutionellen Rahmenbedingungen zusammenhängen und andererseits erneut mit individuellen Interpretationen der Frage: Nämlich, ob darauf fokussiert wurde, inwieweit solche Qualifizierungsarbeiten schreibwissenschaftliche Themen behandeln dürfen (das ist zumeist kein Problem) oder inwieweit sie auf Schreibwissenschaft als Fach ausgerichtet sein können (das ist zumeist nicht möglich). Die disziplinäre Zuordnung wird auch in einer offenen Zusatzantwort zu dieser Frage angesprochen: Die Frage nach der Vernetzung der Schreibwissenschaft mit anderen Disziplinen finde ich schwierig/unmöglich zu beantworten, denn für mich ist die Schreibwissenschaft noch keine eigenständige Disziplin. Vielmehr ist sie in verschiedene Disziplinen eingewoben, daher bringt die jeweilige disziplinäre Verortung auch unterschiedliche Kontexte, Ansprüche, einen anderen Habitus, Schreibstil und ein anderes Methodenverständnis mit sich. Ich erlebe teilweise gegenseitige Ab-(bis zu Aus-)grenzungen und Vorurteile der Disziplinen anderen Zugängen gegenüber. Die Frage, welche Sicht auf „Schreiben“ die richtige ist, schwingt oft mit. (UmfrageID 56997746)
Die Disziplinwerdung der Schreibwissenschaft ist also in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich stark fortgeschritten: Auf der fachlich-inhaltlichen Ebene ist viel geschehen, es gibt Fachverbände, Austausch, Vernetzung, Tagungen, Publikationsorgane – wir reden und schreiben miteinander. In der institutionellen Einbindung wird Expertise aus dem Feld der Schreibwissenschaft zwar gebraucht, um Schreibberatungseinrichtungen zu versorgen, hinsichtlich der Forschung fristet die Schreibwissenschaft allerdings zumeist ein Dasein zwischen Obdachlosigkeit und Nomadentum, denn schreibwissenschaftliche Forschung wird häufig unter dem Label anderer Disziplinen betrieben. Dies hat Konsequenzen für die Wahrnehmung als Disziplin und für die (Nicht-) Verankerung in institutionellen Macht-Dispositiven. Umso wichtiger sind Fachverbände, Tagungen, Publikationen und andere Initiativen.
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Sabine Dengscherz, Carmen Mertlitsch, Karin Wetschanow
6 RESÜMEE UND AUSBLICK Die GewissS fasst Vertreter*innen unterschiedlicher Berufsfelder, Wissenskulturen und Disziplinen unter einem Dach zusammen. Ihre Aufgabe besteht darin, schreibspezifisches Wissen wissenschaftlich zu generieren, vorzustellen, zu diskutieren, zu bündeln, systematisch aufzubereiten und zu disseminieren. So werden kollaborative Räume für Forscher*innen, Lehrende, Schreibtrainer*innen und -berater*innen geschaffen und weiterentwickelt. Der Beitrag eines Interessensverbandes wie der GewissS für die Etablierung einer Schreibwissenschaft besteht neben diesen disziplinären Zielen aber vorrangig darin, einen Raum für formellen und informellen Austausch zu bieten, an dem allen Interessensgruppen eine aktive Teilnahme am Wissenschaftsdiskurs gleichermaßen möglich ist. Die lockere Verbandsstruktur und die überschaubare Anzahl an aktiven Mitgliedern bietet die Möglichkeit eines niedrigschwellig-partizipativen Einstiegs in wissenschaftliche Auseinandersetzungen für Nachwuchsforscher*innen und Praktiker*innen und schafft somit eine Disziplinen- und Berufsgruppengrenzen überschreitende Diskursgemeinschaft. Der geringe Institutionalisierungsgrad der Schreibwissenschaft zeigt sich darüber hinaus auch darin, dass schreibwissenschaftliche Forschungsprojekte zu einem Großteil als intrinsisch motivierte unbezahlte Freizeitarbeit erbracht wird. Schreibwissenschaft und ihre Förderung in einem Verband wie der GewissS, der ohne öffentliche Zuschüsse auskommt, baut auf eigenverantwortlichem und ehrenamtlichem Engagement auf und wird (vielleicht gerade deshalb?) zu einem hohen Prozentsatz von Frauen betrieben.19 Die Mitglieder der GewissS bauen auf unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen auf und haben unterschiedliche Zugänge zur Schreibwissenschaft. Diese Heterogenität ist herausfordernd und gestaltet sich nicht immer spannungsfrei. Der Vielfalt an Interessen und Wissenskulturen wird in der GewissS mit einem hohen Grad an Mitbestimmung begegnet sowie mit der Ausdifferenzierung in AGs und SIGs. Differenz wird gelebt und nicht unterbunden. Für die Zukunft ist noch einiges zu tun und einiges geplant: Ein Mission Statement will verfasst, Öffentlichkeitsarbeit strategisch geplant und die Interessensvertretung durch den Verein professionalisiert werden. Häufigere Arbeitstreffen stehen ebenso auf der Wunschliste wie das Einreichen von Forschungsprojekten und das Bemühen um öffentliche Förderungen.
19 Wir möchten an dieser Stelle hervorheben, dass ein Mann über viele Jahre hinweg eine ganz zentrale Rolle für den Aufbau der GewissS gespielt hat: Ohne Markus Rheindorfs Engagement wären viele Ideen nicht in die Tat umgesetzt worden.
Gebündelte Vielfalt – Perspektiven auf GewissS
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DIE GESELLSCHAFT FÜR SCHREIBDIDAKTIK UND SCHREIBFORSCHUNG E.V. (GEFSUS): IHR BEITRAG FÜR EINE AUFSTREBENDE SCHREIBWISSENSCHAFT Melanie Brinkschulte
ABSTRACT Die Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. (gefsus) ist der Verein für Schreibwissenschaft und -didaktik in Deutschland, der im Jahr 2013 gegründet wurde. Der Beitrag konzentriert sich auf die Aktivitäten der gefsus, die die Etablierung der Schreibwissenschaft unterstützen. In der kollaborativen Arbeit in Special Interest Groups (SIGs) setzen sich die gefsus-Mitglieder für verschiedene Belange in Schreibdidaktik und -forschung ein. Durch die Ausrichtung von und Beteiligung an internationalen Konferenzen, durch Fortbildungsangebote und Publikationsorgane wird der Austausch unter den gefsus-Mitgliedern und darüber hinaus gefördert.
1 EINLEITUNG Die Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. (gefsus) ist die Gesellschaft, die sich um die Fortentwicklung und Etablierung von Schreibprozessdidaktik und Schreibforschung in Deutschland kümmert. Der Hauptfokus liegt auf dem Schreiben in akademischen und beruflichen Kontexten, aber auch schulische Schreibprozessdidaktik ist in der Satzung der gefsus verankert. Mit den drei Zielgruppen der studentischen Schreib-Peer-Tutor*innen, Schreibzentrums mitarbeiter*innen sowie freiberuflich arbeitenden Schreibdidaktiker*innen spricht die gefsus sowohl Praktiker*innen als auch Forschende an. Teilweise vereinen sich diese Interessen, wenn z.B. Begleitforschungen durchgeführt werden. Die gefsus hat im März 2020 215 persönliche und 35 institutionelle Mitglieder – dies sind in der Regel schreibdidaktische Einrichtungen an Hochschulen, zumeist Schreibzentren. Die gefsus Mitglieder prägen durch ihre Aktivitäten und ihre Mitarbeit die Entwicklungen in der gefsus und darüber hinaus. Dieser Beitrag fokussiert die Aktivitäten der gefsus, die dazu beitragen, dass sich die Schreibwissenschaft an deutschsprachigen Hochschulen und Universitäten wei-
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Melanie Brinkschulte
ter etablieren und aktiv betrieben werden kann. Eine Voraussetzung und Unterstützung für dieses Vorhaben bieten Austauschmöglichkeiten und Netzwerke, Publikationsmöglichkeiten und eine Nachwuchsförderung sowie Fortbildungsangebote, so dass Schreibwissenschaftler*innen kollaborativ an schreibwissenschaftlichen Themen arbeiten, ihre Forschungsergebnisse teilen und diskutieren können. Diese Aktivitäten der gefsus werden in diesem Beitrag vorgestellt und ihr Nutzen für die Schreibwissenschaft im deutschsprachigen Raum sowie für die internationale Vernetzung beschrieben. Um den Kontext der gefsus als Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung in Deutschland zu erläutern, werden zu Beginn kurz die Gründungsgeschichte der gefsus sowie die Arbeitsweise in der Gesellschaft vorgestellt. Hieran schließt sich die Schilderung forschungsrelevanter Aktivitäten der gefsus an. Der Ausblick auf zukünftige Aktivitäten stärkt vor allem den Netzwerkgedanken, damit Forschungsprojekte und -ergebnisse in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und darüber hinaus diskutiert und verbreitet werden können.
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DIE GEFSUS E.V. – EIN KURZER ÜBERBLICK ÜBER IHRE GRÜNDUNG UND IHRE GRUNDSÄTZE
Die Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. (gefsus) wurde 2013 in Göttingen gegründet (gefsus, 2019a). Damit ist sie die jüngste Gesellschaft unter den drei deutschsprachigen Vereinen zur Schreibprozessdidaktik. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es erst seit 2013 eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der Schreibprozessdidaktik für akademische und freiberufliche Kontexte im Bundesgebiet gegeben habe. Vielmehr besteht seit den 1990er Jahren ein reger Austausch unter Schreibprozessdidaktiker*innen, die sich vor der Gründung eines Vereins in informellen Arbeitsgruppen getroffen haben, um sich gegenseitig Anregungen für ihre Arbeit zu geben. Diese Kreise lebten von den Teilnehmenden, die neu entwickelte Methoden, Übungen und weitere Anregungen für Schreibworkshops und -beratungen miteinander ausprobierten, sich Feedback zu ihrer Arbeit gaben und Ideen miteinander ausarbeiteten. Besonders ist hier zum einen der Arbeitskreis ‚Schreibdidaktik Berlin-Brandenburg‘ zu nennen, zum anderen der überregionale Arbeitskreis ‚Schreibdidaktik‘, der von Gabi Ruhmann ins Leben gerufen wurde (gefsus, 2019a). Mit der zunehmenden Etablierung schreibprozessdidaktischer Einrichtungen an Hochschulen und Universitäten und dem zunehmenden Bekanntheitsgrad von Schreibprozessdidaktik im akademischen und beruflichen Kontext wurden die Schreibprozessdidaktiker*innen, Schreibberater*innen, Schreibzentrumsmitarbei ter*innen immer zahlreicher, die Arbeitsweise professionalisierte sich zusehends
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(Kreitz, Röding, & Weisberg, 2019). Auf der Open-Space-Tagung zur ‚Vernetzung in der Schreibdidaktik‘ bildete sich eine Arbeitsgruppe, die die nötigen Voraussetzungen für die Gründung eines eingetragenen Vereins erarbeitete und schließlich die Gründung realisierte. Zu dem Gründungsvorstand gehörten Melanie Brinkschulte (1. Vorsitzende von 2013–2019), Katrin Girgensohn (2. Vorsitzende von 2013–2017, 2017–2019 Beisitzerin), Jana Zegenhagen (Schatzmeisterin 2013–2017), Andrea Frank (2013–2015), Ulrike Lange (2013–2017), Eva-Maria Lerche (2013– 2015), Daniela Liebscher (2013–2017), Maike Wiethoff (2013–2015). (gefsus 2019a). Ihrer Namensgebung entsprechend als ‚Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung‘ ist in der Satzung die Schreibforschung als ein zentraler Gegenstand neben der Schreibprozessdidaktik enthalten. In der Satzung werden die Nachwuchsförderung in schreibdidaktischer Forschung und Praxis, der Austausch unter Forschenden und Praktiker*innen durch wissenschaftliche Publikationen und Konferenzen als zentrale Anliegen hervorgehoben (Satzung der gefsus, 2013). Von den Mitgliedern wurde in einem moderierten World Café 2014 gemeinsam ein Mission Statement erarbeitet, das die Schreibforschung als zentrales Anliegen der gefsus herausstellt (gefsus, 2014) und die gefsus als Plattform für einen konstruktiven Austausch über Schreibprozessdidaktik in Anwendung und Forschung generiert. Den Austausch zu fördern über Forschungserkenntnisse, -methoden und deren Auswirkungen auf die Praxis setzt sich die gefsus zur Aufgabe, indem die gefsus-Mitglieder in verschiedenen SIGs (Special Interest Groups) zusammenarbeiten und sich die gefsus an der Ausrichtung von Tagungen und Publikationen beteiligt. Kurz zusammengefasst: Die gefsus lebt dadurch, dass ihre Mitglieder sich sehr aktiv für Schreibprozessdidaktik und Schreibforschung einsetzen. Die Aktivitäten der gefsus bzw. ihrer Mitglieder, die dazu beitragen, dass sich eine Schreibwissenschaft zunehmend etabliert und sichtbar in der deutschsprachigen und internationalen Hochschullandschaft wird, werden im folgenden Abschnitt beschrieben.
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3.1
BEITRAG DER GEFSUS ZUR ETABLIERUNG EINER SCHREIBWISSENSCHAFT Die SIGs: Ort für fachwissenschaftliche Diskussion und Erarbeitung wissenschaftlicher Standards
Wesentlich in der Arbeit der gefsus sind die SIGs, denn in ihnen erarbeiten gefsusMitglieder kollaborativ und eigenständig Inhalte, die die Schreibprozessdidaktik und Schreibforschung weiterentwickeln. In der Arbeitsorganisation bedeutet dies,
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dass sich gefsus-Mitglieder zusammenfinden, die zu einem Themenschwerpunkt Inhalte erarbeiten möchten. Die SIGs werden von der Mitgliederversammlung der gefsus bestätigt, in dem Sinne, dass der Themenschwerpunkt einer neuen SIG die Interessensgebiete der gefsus abbildet. Die Mitglieder einer SIG arbeiten an den Themen ihrer SIG eigenständig und stellen ihre Erkenntnisse bzw. Ergebnisse allen Mitgliedern der gefsus und ggf. einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung. Durch diese Arbeitsform wird gesichert, dass die gefsus-Mitglieder für sie relevante Themen und Anliegen der Schreibprozessdidaktik und -forschung einbringen können, die sie in eigenverantwortlicher Tätigkeit entwickeln. Diese Art des Arbeitens ermöglicht zudem, dass die gefsus aus der aktiven Auseinandersetzung ihrer Mitglieder ihre Erkenntnisse gewinnt, die Mitglieder der gefsus Art und Intensität von Auseinandersetzungen mit Themen aktiv mitbestimmen. Der gefsus-Vorstand unterstützt die Arbeit der SIGs, indem er ihnen Möglichkeiten bietet, gemeinsame Arbeitsplattformen zu nutzen, Ergebnisse zu veröffentlichen sowie die Organisation der SIGs koordiniert. Derzeit existieren 18 verschiedene SIGs, die sich mit verschiedenen Themengebieten auseinandersetzen (gefsus, 2019b). Exemplarisch werden die Arbeitsweise und einige zentrale Ergebnisse aus SIGs vorgestellt, die Themen der Schreibwissenschaft bearbeiten. Die SIG Forschung setzt sich mit dem Thema Schreibforschung auseinander, indem sie Voraussetzungen für Schreibforschung identifiziert und schafft: „Die SIG Schreibforschung zielt auf eine Professionalisierung der Schreibzentrumsforschung und -evaluation“ (gefsus, 2019b). Damit Schreibforschung im deutschsprachigen Raum ein theoriebasiertes Fundament erhält, ist in kollaborativer Arbeit das Positionspapier zu fächerübergreifenden Schreibkompetenzen im Studium (gefsus, 2018) entstanden. Es enthält eine theoretisch hergeleitete Definition von Schreibkompetenzen im Studium sowie begründete Empfehlungen für die Förderung von Schreibkompetenzen an Hochschulen. Somit dient das Positionspapier zum einen der weiteren bildungspolitischen, institutionellen und schreibdidaktischen Arbeit als theoriegeleitetes Fundament, und zum anderen ermöglicht es zukünftigen Forschungsprojekten auf wissenschaftlich fundierte Qualitätsstandards zurückzugreifen. Exemplarisch kann an der Erarbeitung des Positionspapiers die Arbeitsweise der SIGs verdeutlicht werden: Textentwürfe des Positionspapiers wurden in der SIG Forschung erarbeitet, anschließend Feedbacks von mehreren gefsus-Mitgliedern auf Arbeitstreffen oder Tagungen eingeholt, so dass die Entwürfe mithilfe des Feedbacks von einer großen Gemeinschaft von Schreibdidaktiker*innen überarbeitet werden konnten (gefsus, 2018, S. 2). Als zweites Beispiel der Arbeit in SIGs wird das gemeinsame Forschen zu schreibwissenschaftlichen Themen herausgegriffen. Da die Schreibzentrumsarbeit an
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deutschen Hochschulen ein relativ neues Arbeitsfeld ist, das 1993 mit dem Schreiblabor an der Universität Bielefeld startete (Ruhmann, 2014; Scott, 2017), gründet sich hierauf die Forschungsfrage nach dem Selbstverständnis von Vertreter*innen dieser neuen Profession. Aus der SIG ‚Berufsbild, Öffentlichkeitsarbeit, Verstetigung‘ heraus entwickelten Mitarbeiter*innen der SIG im Jahr 2014 eine Befragung zur Professionsentwicklung der Schreibprozessdidaktik an Hochschulen, die sie unter gefsus-Mitgliedern verteilten. Als ein Ergebnis dieser Befragung kann festgehalten werden, dass ‚Forschen‘ als berufliche Tätigkeit an vierter bzw. fünfter Position genannt wird (Kreitz, Röding, & Weisberg, 2019, S. 39). Schreibdidaktiker*innen sind also teilweise selbst Schreibforschende, sei es im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit oder zum Verfassen von Qualifikationsarbeiten. Insofern ist das Erforschen schreibdidaktischer Themen eine berufliche Tätigkeit von Schreibdidaktiker*innen. Detaillierter werden die forscherischen Aktivitäten von Schreibdidaktiker*innen an deutschen Hochschulen durch Erhebungen von Hoffmann (2019), Stahlberg et al. (2019) und Brinkschulte (2019) erfasst. Aus diesem Beispiel geht hervor, dass aus dem Austausch und der gemeinsamen Arbeit in verschiedenen SIGs Forschungsideen zum Teil kollaborativ entwickelt und umgesetzt werden. Die zur Verfügung stehende moderierte Liste von Schreiben an Hochschulen, die von der Universität Bielefeld gehostet und betreut wird, steht allen schreibdidaktisch interessierten Personen offen und bietet die Möglichkeit für einen niedrigschwelligen Austausch. 3.2
Austausch unter Schreibwissenschaftler*innen und Nachwuchsförderung
Zwei zentrale Ziele der gefsus sind der Austausch von Schreibdidaktiker*innen und -forschenden untereinander sowie die Nachwuchsförderung in Forschung und Praxis. Um diese Ziele zu verwirklichen, bietet die gefsus vier Maßnahmen an: a) Ausrichtung von Konferenzen, b) Teilnahme an internationalen Konferenzen, c) Publikationsmöglichkeiten, d) Fortbildungen durch Workshopangebote. a) Ausrichtung von Konferenzen Die gefsus richtet gemeinsam mit den beiden anderen deutschsprachigen Schreibgesellschaften dem ‚Forum wissenschaftliches Schreiben‘ (FwS, Schweiz) und der ‚Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben‘ (GewissS, Österreich) im Vorfeld der zweijährlichen Konferenz des FwS einen Pre-Conference-Workshop aus. Dieser richtet sich an Nachwuchswissenschaftler*innen, die im Themenfeld der Schreibwissenschaft forschen bzw. ein Forschungsprojekt planen. Der Pre-Conference Workshop entstand, weil in den deutschsprachigen Ländern Nachwuchs
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wissenschaftler*innen zu schreibdidaktischen Themen bzw. zur Schreibzentrumsarbeit forschen und diese wenig Fortbildungs- und Austauschmöglichkeiten haben. Eine kollegiale Fortbildung zu Fragen empirischer Schreibforschung sowie ein Austausch untereinander kann die Arbeit befördern, so der Ansatz des Pre-Conference Workshops. Bisher fand der Pre-Conference-Workshop zweimal in Konstanz und Luzern statt. Das didaktische Konzept sowie die Erfahrung aus dem ersten Durchlauf finden sich in einem Beitrag im Journal der Schreibberatung (JoSch) (Brinkschulte et al., 2016). Ein weiterer Pre-Conference Workshop ist auf der nächsten Konferenz des FwS in Brugg-Windisch 2021 geplant. Diese Pre-Conference-Workshops stellen eine erste Kooperation der drei deutschsprachigen Gesellschaften dar, die relativ niedrigschwellig realisierbar ist. Das eigentliche Ziel der Zusammenarbeit der drei deutschsprachigen Gesellschaften liegt in der Ausrichtung einer gemeinsamen Tagung, die mit der Klagenfurter Tagung zum Rahmenthema ‚Schreibwissenschaft – eine Disziplin?‘ im Mai/Juni 2019 startete und in diesem Sammelband ihre Publikation findet. Die drei Gesellschaften setzen ihre Kooperation fort, indem auch bei der Ausrichtung der zweijährlich stattfindenden Konferenzen des FwS die beiden anderen Schreibgesellschaften involviert sind. Aus der SIG ‚Schreiben in mehrsprachigen Kontexten‘ (ehemals L2 Writing) ist die Idee eines Writing Symposiums entstanden. Von 2014–2019 fand jährlich an wechselnden Orten, von den jeweiligen schreibdidaktischen Einrichtungen ausgerichtet, eine Tagung zum Schreiben in einer oder mehreren anderen Wissenschaftssprache/n bzw. zu Funktionen und Potential von Mehrsprachigkeit beim akademischen Schreiben statt. Der Fokus der Tagung liegt auf dem Austausch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Schreibforschung, die zumeist als Begleitforschung realisiert wird, und zu Berichten über theoriegeleitete Didaktisierungen. Somit ist das Writing Symposium ein Ort des fachwissenschaftlichen und didaktischen Austauschs über aktuelle Themen im Bereich des Schreibens im Kontext von Mehrsprachigkeit. Das Writing Symposium wendet sich nicht nur an gefsusMitglieder, sondern die Tagungen ermöglichen ein internationales Treffen von Schreibdidaktiker*innen und -forschenden, um ihnen einen direkten Austausch über Erkenntnisse aus der Schreibforschung zu bieten sowie die Ergebnisse aus Schreibforschungen in die Praxis zurückfließen zu lassen. Da vielfach empirische Schreibforschung als Begleitforschung zu Praxisprojekten realisiert wird, kann diese Tagung dazu beitragen, den Kreislauf wissenschaftlicher Erkenntnisse zu schließen, die aus der Praxis heraus theoretische Erkenntnisse erforschen, die wiederum in die Praxis einfließen. Wie das Writing Symposium fortgesetzt wird, ist derzeit noch unklar. Zum einen steigt die Anzahl schreibdidaktischer und -forscherischer Tagungen in den letzten Jahren sowohl im deutschsprachigen als auch
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im internationalen Raum stark an, und zum anderen wird es schwieriger, einen Ausrichter zu finden. Daher wird derzeit überlegt, das Writing Symposium als einen Arbeitskreis zu organisieren, bei dem an konkreten Fragen zur Schreibprozessdidaktik in mehrsprachigen Kontexten sowie deren Erforschung gearbeitet wird. b) Teilnahme an internationalen Konferenzen Die gefsus arbeitet mit anderen international aufgestellten Schreibgesellschaften wie der EWCA (European Writing Centers Association), EATAW (European Association for the Teaching of Academic Writing) und CCCC (Conference on College Composition and Communication) zusammen, indem sich gefsus-Mitglieder im Vorstand dieser Schreibgesellschaften engagieren oder an den Konferenzen teilnehmen. Hierdurch wird die internationale Netzwerkarbeit gefördert. Auf den Webseiten der gefsus wird auf zentrale Tagungen zu schreibwissenschaftlichen Themen verwiesen, so dass interessierte Schreibforschende eine aktuelle Übersicht finden. c) Publikationsmöglichkeiten und Lesen von Fachbeiträgen Um den gefsus-Mitgliedern sowie weiteren Schreibdidaktiker*innen und -forschenden Publikationsmöglichkeiten und eine aktuelle Fachdiskussion in schriftlicher Form zu bieten, stehen der gefsus zwei Publikationsorgane zu Verfügung: das Journal der Schreibberatung (ab Juni 2020 heißt es Journal der Schreibwissenschaft; ‚JoSch‘) und die Buchreihe ‚Theorie und Praxis der Schreibwissenschaft‘, die beide bei wbv media erscheinen. Das JoSch ist unabhängig, d.h. es hat ein eigenständiges Herausgeber*innenTeam, das aus erfahrenen Schreibdidaktiker*innen besteht. Zugleich ist es die Zeitschrift der gefsus für ihre Mitglieder, so dass alle gefsus-Mitglieder das zweimal jährlich erscheinende JoSch als Print- und E-Book-Ausgabe erhalten. Entstanden aus einer Initiative von Schreib-Peer-Tutor*innen hat das JoSch die Zielgruppe seiner Autor*innen und Leser*innen längst erweitert: Angesprochen werden Schreibwissenschaftler*innen, Schreibdidaktiker*innen und -berater*innen, die teils in schreibdidaktischen Einrichtungen an Hochschulen oder Universitäten oder freiberuflich arbeiten, von Schreib-Peer-Tutor*innen bis hin zu erfahrenen Praktiker*innen und zu Schreibforschenden, die ihre Karriere starten oder bereits sehr versiert in der Schreibwissenschaft sind. Seit der Umstellung auf Themenhefte beleuchtet das JoSch verschiedene Schwerpunkte aus der Schreibprozessdidaktik mehrperspektivisch, um auf diese Weise eine intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Themenschwerpunkt zu erreichen. Zusätzlich ist 2017 die Reihe ‚Theorie und Praxis der Schreibwissenschaft‘ gestartet, an deren Gründung der gefsus-Vorstand federführend mitgewirkt hat. An die-
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ser Reihe ist die gefsus als Mitherausgeberin beteiligt. Komplettiert wird das Herausgeber*innen-Team durch fünf weitere Schreibdidaktiker*innen mit theoretischer und praktischer Expertise, so dass eingehende Manuskripte auf ihre Qualität hin geprüft werden und eine Überarbeitung des Manuskripts inhaltlich begleitet wird. Ihrer Benennung entsprechend werden in dieser Reihe sowohl Forschungen zu schreibwissenschaftlichen Themen als auch praktische Handreichungen für schreibprozessdidaktische Umsetzungen publiziert. Bisher sind in der Reihe sieben Bände erschienen, die von einem Sammelband zur Forschungsmethodik (Brinkschulte & Kreitz, 2017) über vier Dissertationen (zuletzt Kuhn, 2019) bis hin zu Handreichungen für die Writing-Fellow-Arbeit (Dreifürst & Liebetanz, 2018; Voigt, 2018) reichen. Diese Reihe bietet Schreibwissenschaftler*innen eine Möglichkeit, fachlich hochwertig und in einer direkten Verbreitung unter dem Fachpublikum ihre Forschungsarbeiten zu veröffentlichen. Hierdurch wird Schreibwissenschaft ler*innen – von Nachwuchswissenschaftler*innen bis hin zu erfahrenen Schreib forscher*innen – eine Publikationsmöglichkeit geboten, die in der Scientific Community verbreitet werden. Zugleich erhalten Leser*innen, die an schreibdidaktischen Themen in Forschung und Praxis interessiert sind, eine Sammlung hochwertiger Erscheinungen, die eine lebendige Schreibwissenschaft zeigen. d) Fortbildungen durch Workshopangebote Einen weiteren Beitrag für die Community der Schreibdidaktiker*innen und Schreibforscher*innen stellen Workshops zu verschiedenen Themen der Schreibprozessdidaktik, Schreibzentrumsarbeit und Schreibforschung dar, die von der gefsus ausgerichtet werden. In der Regel finden zwei bis drei Workshops pro Jahr zu wechselnden Themen statt. Die Auswahl der Workshops mit ihren Referent*innen erfolgt nach festgelegten Kriterien durch den gefsus-Vorstand, so dass ein vergleichbarer, hoher Qualitätsstandard gewährleistet werden kann. Für 2021 ist ein Workshop zur Forschungsmethodik in der Schreibwissenschaft geplant, so dass mit diesem ein expliziter Beitrag für die Forschungspraxis geleistet wird. Gefsus-Mitglieder können zu stark vergünstigten Konditionen an den Workshops teilnehmen und werden bevorzugt zugelassen; externen Interessierten steht die Teilnahme ebenfalls offen, allerdings zu anderen Konditionen.
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4 AUSBLICK Es sind die Mitglieder mit ihren vielfältigen Aktivitäten in Schreibprozessdidaktik und -forschung, die die gefsus zu einer lebendigen Gesellschaft werden lassen. Dabei bewirkt das intensive Netzwerken der Schreibdidaktiker*innen und Schreibforschenden innerhalb der gefsus und darüber hinaus mit den deutschsprachigen und weiteren internationalen Schreibgesellschaften, dass ein intensiver Austausch über Forschungstätigkeiten und über Erkenntnisse aus Studien praktiziert wird. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse fließen zurück in die Praxis von Schreibzentrumsarbeit und von Freiberufler*innen, so dass hierdurch eine enge TheoriePraxis-Verschränkung erreicht wird. Erste Schritte zur Etablierung von Schreibwissenschaft als Disziplin sind mit der Einrichtung der Professur für Schreibwissenschaft an der Berlin School of Popular Arts und mit der Sektion Schreibwissenschaft bei der GAL (Gesellschaft für Angewandte Linguistik) erreicht. Insbesondere die Kooperation der drei deutschsprachigen Gesellschaften zur Ausrichtung einer ersten gemeinsamen Konferenz zur Etablierung einer Disziplin Schreibwissenschaft zeigt, wie vielfältig über das Themenfeld diskutiert wurde. Es zeigt aber auch, dass noch viel zu erforschen und zu institutionalisieren ist, bis beispielsweise Studierende sich für einen Studiengang Schreibwissenschaft immatrikulieren können oder Nachwuchswissenschaftler*innen systematisch ausgebildet werden, so dass sie sich in der Disziplin Schreibwissenschaft qualifizieren können. Die gefsus wird gern weiterhin in Kooperation mit den anderen Schreibgesellschaften dazu beitragen, dass die Schreibprozessdidaktik in Theorie und Praxis an Hochschulen und in der freien Marktwirtschaft bekannter und anerkannter wird. Weiterhin wird sie dahingehend aktiv sein, der Schreibwissenschaft zu mehr Aufmerksamkeit und zu einer stärkeren Verankerung in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft zu verhelfen.
Literatur Brinkschulte, M. (2019). Wissenschaftliche Methoden in empirischer Schreibforschung – Einblick in Forschungspraktiken und didaktische Implikationen für eine wissenschaftsbasierte Methodenausbildung. In A. Hirsch-Weber et al. (Hg.), Forschung für die Schreibdidaktik: Voraussetzung oder institutioneller Irrweg? (S. 61–76). Weinheim: Beltz Juventa. Brinkschulte, M., Girgensohn, K., Doleschal, U., & Jörissen, S. (2017). Workshop für Promovierende der drei deutschsprachigen Gesellschaften für Schreibdidaktik und Schreibforschung. Journal der Schreibberatung (JoSch), 13, 59–64.
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Brinkschulte, M., & Kreitz, D. (Hg.). (2017). Qualitative Methoden in der Schreibforschung. Bielefeld: wbv Media. Dreyfürst, S., Liebetanz, F., & Voigt, A. (2018). Das Writing Fellow-Programm: ein Praxishandbuch zum Schreiben in der Lehre. Bielefeld: wbv. gefsus (2019a). Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. Zugriff am 24. April 2020 auf https://gefsus.de/. gefsus (2019b). Spezielle InteressensGruppen (SIG). Zugriff am 24. April 2020 auf https:// gefsus.de/sigs.html/. gefsus (2018). Positionspapier ‚Schreibkompetenz im Studium. Zugriff am 24. April 2020 auf https://gefsus.de/images/Downloads/gefsus_2018_positionspapier.pdf. gefsus (2014). Mission Statement. Zugriff am 24. April 2020 auf https://gefsus.de/die-gefsus/ mission-statement.html/. gefsus (2013). Satzung der Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung e.V. Zugriff am 24. April 2020 auf https://gefsus.de/die-gefsus/ueber-die-gefsus.html/. Hoffmann, N. (2019). Schreibzentrumsforschung im deutschsprachigen Raum. Erhebungen zum aktuellen Stand und Desiderate. In A. Hirsch-Weber et al. (Hg.), Forschung für die Schreibdidaktik: Voraussetzung oder institutioneller Irrweg? (S. 14–30). Weinheim: Beltz Juventa. Kreitz, D., Röding, D., & Weisberg, J. (2019). Professionalisierungstendenzen der Hochschulschreibdidaktik. In A. Hirsch-Weber et al. (Hg.), Forschung für die Schreibdidaktik: Voraussetzung oder institutioneller Irrweg? (S. 31–46). Weinheim: Beltz Juventa. Kuhn, C. (2019). Studentische Textkompetenz im Fach Maschinenbau Eine qualitative Interviewstudie. Bielefeld: wbv media. Ruhmann, G. (2014). Wissenschaftlich Schreiben lernen an deutschen Hochschulen – eine kleine Zwischenbilanz nach 20 Jahren. In D. Knorr (Hg.), Mehrsprachige Lehramtsstudierende schreiben: Schreibwerkstätten an deutschen Hochschulen. (S. 34–53). Münster, New York: Waxmann. Scott, A. 2017. ‘We Would Be Well Advised to Agree on Our Own Basic Principles.’ Schreiben as an Agent of Discipline-Building in Writing Studies in Germany, Switzerland, Austria, and Liechtenstein. Journal of Academic Writing, 7(1), 1–10. Stahlberg, N., Salden, P., & Barnat, M. (2019). Professionalisierung durch Forschung und Publikation? Scholarship of Academic Development in schreibdidaktischen Einrichtungen. In A. Hirsch-Weber et al. (Hg.), Forschung für die Schreibdidaktik: Voraussetzung oder institutioneller Irrweg? (S. 47–60). Weinheim: Beltz Juventa. Voigt, A. (Hg.). (2018). Lehren und Lernen mit Writing Fellows: Beiträge zur Forschung, Evaluation und Adaption. Bielefeld: wbv media.
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN Anke Bosse ist Universitätsprofessorin für Neuere deutschsprachige Literatur an der Universität Klagenfurt (Österreich) und leitet dort das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv. Sie forscht und publiziert seit den 1980er Jahren zu literarischen Schreibprozessen und zur ‚critique génétique‘, zu Archiv und Edition und zuletzt zu den Digital Humanities. Gerd Bräuer war viele Jahre Associate Professor an der Emory University (USA) und Gastprofessor an anderen Universitäten. Seit 2002 bildet er Menschen als Schreibberater*innen aus und begleitet Hochschulen beim Aufbau von Schreibzentren und Schreibprogrammen. Melanie Brinkschulte ist promoviert in Sprachlehrforschung/Applied Linguistics. Sie leitet den Schlüsselkompetenzbereich Interkulturelle Interaktionen der Universität Göttingen. Seit 2001 praktiziert sie eine prozessorientierte Schreibdidaktik in Lehre, Forschung und Schreibzentrumsarbeit. Katrin Burkhalter ist Präsidentin von www.forumschreiben.ch, Redaktorin der Fachzeitschrift „Sprachspiegel“, freie Hochschullehrerin und Schreibcoach Bern/ CH. Sabine Dengscherz ist habilitierte Wissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Transkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeit sowie Schreibprozesse in akademischen und anderen professionellen Kontexten. Ursula Doleschal ist Slawistin und allgemeine Sprachwissenschaftlerin. Ihr langjähriges Anliegen ist eine Schreibdidaktik aus linguistischer Perspektive. Sie leitet seit 2004 das SchreibCenter der Universität Klagenfurt. Katrin Girgensohn ist Professorin für Schreibwissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences. Seit über 20 Jahren befasst sie sich mit wissenschaftlichen Perspektiven auf das Thema Schreiben aus der Perspektive der Germanistik, der Kulturwissenschaften und der Hochschulforschung.
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Die Autorinnen und Autoren
Ella Grieshammer leitet das Internationale Schreibzentrum der Universität Göttingen. Ihre Forschungsinteressen gelten der Interaktion in der Schreibberatung, dem Textfeedback und dem mehrsprachigen Schreiben. Helmut Gruber ist Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Textwissenschaft an der Universität Wien. Er beschäftigt sich seit über 15 Jahren u.a. mit dem wissenschaftlichen Schreiben aus sprachwissenschaftlich-diskursanalytischer Perspektive. Stefanie Haacke arbeitet seit mehr als 20 Jahren im Schreiblabor der Universität Bielefeld und hat dort mit Andrea Frank, Swantje Lahm und weiteren Kolleg*innen Konzepte für die Förderung des Schreibens in den Disziplinen entwickelt, erprobt und implementiert. Ihr aktuelles Hauptarbeitsfeld ist die Beratung von Forschenden beim Schreiben. Carmen Heine ist Associate Professor an der Universität Aarhus. Sie beschäftigt sich seit 20 Jahren mit übersetzungs- und schreibwissenschaftlichen Themen. Ihre Interessen gelten der Textproduktionsprozessforschung, der Translations- und Schreibdidaktik und der webbasierten Kommunikation. Birgit Huemer ist Assistant Professor an der Universität Luxemburg. Sie beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema wissenschaftliches Schreiben aus linguistischer Perspektive. Andrea Karsten ist Koordinatorin des Kompetenzzentrums Schreiben an der Universität Paderborn. Seit mehr als zehn Jahren nimmt sie in ihrer Forschung und schreibdidaktischen Praxis Schreibpraktiken und deren kontextspezifische Besonderheiten aus sprachpsychologischer Perspektive in den Blick. Dagmar Knorr leitet das Schreibzentrum/Writing Center der Leuphana Universität Lüneburg. Schreibprozesse unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit und Digitalität erforscht sie aus linguistischer und schreibwissenschaftlicher Perspektive seit über 25 Jahren. David Kreitz ist Mitarbeiter im Team Schlüsselkompetenz Schreiben der Universität Hannover und freiberuflicher Dozent für wissenschaftliches Schreiben. Sein Interesse gilt der Didaktik wissenschaftlichen und journalistischen Schreibens sowie kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf alltägliche Wissenschaftspraxis.
Die Autorinnen und Autoren
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Otto Kruse war Professor am Departement Angewandte Linguistik der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und ist jetzt in Rente. Er hat sich u.a. mit Schreibdidaktik und Schreibkulturen beschäftigt. Derzeit interessiert ihn vor allem die Digitalisierung des Schreibens. Carmen Mertlitsch, Studium der Germanistik, Psychologie und Philosophie, Doktoratsstudium der Angewandten Linguistik. Seit 2005 ist sie operative und stellv. wissenschaftliche Leiterin des SchreibCenters der Universität Klagenfurt. Christian Rapp leitet das Educational Technology Team am Zentrum Innovative Didaktik der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Er beschäftigt sich insbesondere mit Schreibtechnologie und Writing Analytics. Angelika Redder ist Seniorprofessorin für Germanistische Linguistik/Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg. Sie forscht unter anderem zu Wissenschaftskommunikation und sprachlichem Handeln in Bildungsinstitutionen unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit. Sandra Reitbrecht arbeitet als Hochschullehrerin am Didaktikzentrum für Text- und Informationskompetenz der Pädagogischen Hochschule Wien. Sie beschäftigt sich mit schreib- und sprechdidaktischen Themen im Kontext schulischen Lehrens und Lernens. Jennifer Steiner hat Anglistik und Pädagogik an der Universität Klagenfurt studiert und dort die Ausbildung zur wissenschaftlichen Schreibberaterin mit dem Schwerpunkt „Academic Writing in English“ abgeschlossen. Sie arbeitet derzeit als Lehrbeauftragte am SchreibCenter und forscht im Bereich Angewandte Sprachwissenschaft zum EU-Projekt WRILAB2, einer Lernplattform zur Förderung von Schreibkompetenzen in der Zweit- oder Fremdsprache. Annette Verhein-Jarren ist Professorin für Kommunikation an der Ostschweizer Fachhochschule – Hochschule für Technik Rapperswil. Sie befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Schreiben in der Technik – in der Lehre, der Forschung und der Curriculumsentwicklung. Christian Weinzierl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie an der Leibniz Universität Hannover. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der empirischen Erforschung kognitiver Prozesse während des Schreibens.
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Die Autorinnen und Autoren
Karin Wetschanow ist Senior Lecturer am SchreibCenter der AAU-Klagenfurt und Lektorin an der Uni Wien, sowie freie Schreibberaterin und Schreibwissenschaftlerin. Ihre schreibwissenschaftliche Forschungsarbeit konzentriert sich auf das Schreiben im akademischen und schulischen Ausbildungskontext. Ruth Wiederkehr arbeitet als Germanistin und Historikerin in Baden/Schweiz. Sie ist seit sechs Jahren als Dozentin für wissenschaftliches und berufliches Schreiben tätig. Ihre Interessen gelten dem technischen und dem journalistischen Schreiben.
INDEX A Adressat(en) 14, 32, 40, 57, 101, 117, 120, 136, 143, 203 ff, 216, 246, 255 Annotation Environments 137 f, 144 Anschlusskommunikation 103 Anthropologie 227, 234 Arbeitsgedächtnis 245 ff, 252 Aufgabentyp 215 ff Automatische(s) Feedback 140 f Texterstellung 132 f, 141 f Autorenrolle 133, 145 B Bachelorarbeit 290, 292 Bedarfsanalyse 90, 97 Begleitforschung 9, 308, 317, 322 Bibliothek (Hochschul-) 80, 94, 97, 290 Big Data 139, 145 Bildungsforschung 156 Blended-Learning 98, 272 Blickbewegung 251 Burst 250 C Cloud Computing 135 f Community (wissenschaftlich, scientific) 21, 28, 180 f, 231, 257, 294, 324 Composition Studies 30, 55, 90 Computerlinguistik 139, 145, 230 Concept-Map 297 ff Conceptual inquiry 55, 92 Content Management System 133, 136 Copy-Paste 134, 250, 266 Critique génétique 196 f, 207 f
D Deutschdidaktik 9, 11, 13, 211 ff, 220, 222, 230, 288, 291 f, 301 deutschsprachig 9 ff, 18, 21, 29, 49 f, 65 ff, 71 ff, 76 f, 80 ff, 89, 91 ff, 98 f, 101 ff, 111 f, 122, 153 ff, 157 f, 173 ff, 180, 196, 207, 211 f, 214, 218, 221 f, 228 ff, 234, 245, 261, 274, 281 f, 284, 286, 290, 293 f, 317 ff, 325 Digitalisierung 19, 38, 98, 129 ff, 142, 144, 293, 307 Digital(e/es) Lernformen 131 Literacy (siehe Literacy) Technologie 129 f, 142 f Writing and Rhetoric 131 Dissertation(en) 72 f, 312 f, 324 Diskurs(e) 11, 19, 25, 33, 36, 61, 89, 91 ff, 98 f, 124, 129 f, 131, 154 ff, 157 f, 162, 164, 176, 178 ff, 188 f, 207, 215, 230, 235, 247, 257, 285 f, 287, 291, 294 gemeinschaft 15, 263, 268, 314 Diversität 157 Document Sharing 138, 144 Dolmetschen 228, 232 f Domäne, Domain 31, 157, 174, 180, 261 ff E EARLI SIG Writing 257 E-Learning 131, 272 E-Portfolio 136 Editionswissenschaft 195 f, 207 f Emotionen, emotional 111, 113, 115, 120, 121, 125, 164, 182, 255 Empirie 17, 121 empirisch, empirical 16, 26, 34, 36, 50, 51, 56 f, 60, 65, 67, 69, 72, 77, 80 ff, 121, 138, 156, 164, 175, 177, 178, 180, 188, 214, 219, 243, 247, 256, 257, 312, 322
332
Index
englischsprachig 57, 65, 67, 69, 73, 76 ff, 79 ff, 89, 98, 154, 188, 229, 254, 293 Entwicklungsarbeit 16, 103, 265 epistemisch 27, 119, 173, 174, 214, 235, 237 Erziehungswissenschaft 92, 154, 156 Ethnografie, ethnographisch, ethnography 32 f, 56, 58, 61, 267 European Writing Centres Association 29, 91, 323 evidenzbasiert 217, 252, 255 experimental, experimentell 56f, 61, 253, 298 F Fachdidaktik, fachdidaktisch 119, 213, 214, 292 Fachhochschule 13, 15, 261 ff, 284, 287, 292, 308 Fachübersetzen 231 Fachsprache 159, 162 f Fachsprachenforschung 13, 159, 230, Fachverband 297, 205, 313 Feedback (Peer-) 114, 133, 135 ff, 140f, 144 ff, 318 Feedback-Management-System 136 Formulieren 40, 117, 139, 144, 164, 176, 178, 180, 186, 243, 248, 256 Formulierungen 113, 164, 181 f, 220 Forschungsmethoden 11, 20, 50 ff, 60 ff, 91, 145, 166, 180, 211 f, 219 ff, 227 f, 231, 233 f, 312, 324 Forschungsdesign, Untersuchungsdesign 55, 81, 92, 104, 251 Forschungssystematik 51, 52, 53, 54, 55, 57, 58, 59, 60, 61 Forum (wissenschaftliches) Schreiben 10, 21, 91, 274, 281 ff, 307, 321 Französisch 66, 282 f Freewriting 297 ff Fremdsprache 68, 81, 156, 164, 214, 230, 232, 310
G Ganzheitlichkeit, ganzheitlich 111, 113, 121, 125 Gelingensbedingungen 14, 97, 195 ff, 202, 206 Geisteswissenschaft(en), geisteswissenschaftlich 65, 68, 72, 114, 178, 197, 256, 267, 291, 310 Genre 27 f, 32 f, 36, 96 f, 133, 140, 157, 183 f, 186, 255 Genreanalyse, genreanalytisch 301, 310 Geschlecht, Geschlechterverhältnisse 306, 311 Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung (gefsus) 10 f, 21, 25, 91, 357, 274, 287, 307, 317 ff, 318, 320 ff Gesellschaft für wissenschaftliches Schreiben (GewissS) 9 ff, 21, 80, 91, 257, 274, 279 ff, 287, 297 ff, 300 ff, 310 f, 313 ff, 321 H handlungstheoretisch 175, 177 f, 181, 183 ff, 229 handschriftlich 249 Heterogenität 243 f, 288, 290, 302 f, 306 Hochschuldidaktik, hochschuldidaktisch 13, 26, 93 f, 96 f, 100, 111 f, 117, 126, 230, 288 Hochschulforschung 13, 26, 38, 230, 327 hochschulpolitisch 174, 285, 302 I Informationskompetenz 162 Informatik 139, 141, 165, 262 f, 273 Ingenieurswissenschaften 269, 272, 286 Instrumentalität 197 Institutionalisierung 15, 20, 25, 29, 34, 294, 314 Institutionalisierungsarbeit 111, 112, 123, 154, 307 Inszeniertheit 203
Index
Intelligente Tutorensysteme 141 Interdisziplin 10, 13, 49, 214, 228 Interdisziplinarität, interdisziplinär 14 f, 16 f, 20, 28, 37, 40 f, 51, 62, 71, 81, 90 ff, 95, 113, 155, 189, 196, 212 f, 215, 221, 227 f, 238, 243, 245, 256 f, 261, 273 ff, 286, 293 Interkulturalität 180 interkulturell 18, 65, 67 ff, 71 ff, 77 f, 80, 82, 83, 181, 231 interlingual 220, 232 f, 236 Intertextualität 72 f, 153, 162, 165, 179, 287 Italienisch 282 f J Journal der Schreibberatung (JoSch) 33, 113, 91, 322 f K Keystroke, Keylogging 33, 54, 57, 145, 249 ff Kognitiver Prozess 33, 145, 163, 227, 245, 246 ff, 291 Kohärenz 137, 140, 179, 255, 292 Kohäsion 140, 179 Kommunikationswissenschaft 13, 92, 230, 245, 250, 310 Kompetenztransfer 96, 102 f Kontroversenreferat 181, 218 ff Konvention(en) 28, 32, 141, 162, 236, Kollaboration, kollaborativ 133, 137 f, 144 f, 156, 220, 290, 302 f, 307, 309, 314, 317 ff Koproduktion 133 kooperativ 111, 184 Korpus (Korpora) 61, 73 ff, 137, 139 ff, 190, 217, 234, 244, 256 korpusanalytisch 141, 181 Korpuslinguistik, korpuslinguistisch 74, 79, 139, 165, 186 Körperlichkeit 197 f, 202 Kreativität 93, 143, 196, 236 Kreatives Schreiben 10,14, 30
333
L Lange Nacht der aufgeschobenen (Seminar)-Arbeit(en) 290, 304 Laut-Denk-Protokoll, lautes Denken 54, 61, 220, 247 f, 251 Lehrer(innen)bildung 27, 156, 158, 213 Lernort 93 f Lernplattform 97, 194, 136, 141, 272 Lerntagebuch 101 Lernumgebung 140 f, 220 Leseforschung 244, 290 Linguistik, linguistics 13, 29, 50, 54, 65, 72, 76 f, 80, 92f, 117, 155f, 163, 173ff, 183, 189, 197, 214, 227, 229f, 233, 243, 245, 251, 255f, 262, 291, 301, 325, 329, Literacy, Literacies 32, 59, 90, 97, 103, 104, 130 f, 158, 177, 292, 311 literal 99, 102-104, 129, 157f, 161, 174, 177, 181, 186, 219 Literalität (siehe Literacy) 93, 99, 102, 130, 153, 158, 166, 195 Literaturverwaltungsprogramm 137, 144 Literaturwissenschaft 9, 11, 13, 57, 67, 98, 195, 206 f, 213, 243 Logotherapie 310 Longitudinalstudie 219, 221 M Machbarkeitsstudien 97 Masterarbeit 290, 312 f, 320 Materialdesign (digitalisiert) 97 f Medienwissenschaft 13, 130, 132, 213 Mehrsprachigkeit (siehe Schreiben mehrsprachig, Schreiben plurilingual) 18, 67 ff, 79, 95, 153, 155 f, 157, 177, 180, 218, 232, 235, 282, 322, 323 Metaanalyse 243, 251 f Metadiskurs, Metadiscourse 14 f, 181 Mixed-methods, Methodenmix 16, 54, 56, 59, 78, 165, 298 Modell(e) 16 f, 74 f, 122, 130 f, 140, 145, 153, 155, 158 f, 161, 178 f, 215, 232, 234, 246, 264, 272
334
Index
Multiculturalism 90 Multidisziplin, multidisziplinär 13 f, 153 f, 165, 245, 250 Multiliteracy 130 Multimodalität 60, 130, 178, 268, 273, 275 Mündlichkeit 174, 178 f, 182, 190, 267, 274 N National Writing Project 89 f, 131 New Literacy 130 Norm(en), normativ 17 f, 37, 69 f, 117, 158, 263, 268 O Oral History 298 f Orthographie, orthographisch 196, 178, 248 P Pädagogische Hochschule 282, 285, 287 ff, 301, 308, 311 Peer-Beratung 95 Peer-Tutor*innen, -Tutoring, -Schreibberatung 26, 53, 58, 95, 288, 290, 305, 308, 317, 323 Political Literacy 90 Portfolio 97, 101 f produktorientiert 219, 229, 235, 268, 271 Practical Art 25, 28, 31 f, 39 f Professionalisierung 304, 309, 320 Professionsentwicklung 209, 321 Professional Literacy 292 f Prozessforschung (siehe Schreibprozess-) 230 f, 234 prozessorientiert 27, 69, 118, 154 ff, 214, 216, 220, 228 f, 235 Psychologie 9 ff, 26, 70, 92, 165, 189, 214, 227, 230 f, 234, 243 ff, 310 Q qualitativ 16, 26, 33, 50, 53, 57 ff, 75, 105, 221, 252 f, 266 f, 298 f
Qualitätssicherung 309 quantitativ 16, 53, 56, 58 f, 75, 105, 216, 221, 252 ff, 267, 297 f Querschnittskompetenz 98 R Rätoromanisch 282 Referieren (diskursiv und argumentativ), referierend, 181, 218 reflexive Praxis 27, 31, 35, 101, 161 Rekontextualisierung 227, 232 f Rekonzeptualisierung 237 retrospektive Interviews 33, 54, 220, 243, 248, 251 Revision 138, 245, 247, 250, 252 Rezeption 68, 82, 97, 104, 155, 178, 244 Roman 40, 205 f S Scientific Community 28, 41,231, 294, 324 Schemawissen 216 f Schlüsselkompetenz 9, 262, 286, 328 Scholarship of Teaching and Learning (SoTL) 16, 34, 39 Schreibakt 195, 203 Schreibarrangements 215, 219 Schreibaufgabe 101, 163, 211, 212 f, 215 ff, 255, 269 f, 273 Schreibberatung 11, 15, 17, 21, 33, 37, 41, 53, 91, 94 ff, 111 ff, 237, 281, 288, 290, 307 f, 322 f Schreibdidaktik, schreibdidaktisch 9 f, 17 ff, 20, 25 ff, 30, 31, 33 ff, 36, 39, 49 ff, 59, 67 f, 92, 95, 97 f, 100 ff, 111 ff, 116, 118 f, 123, 126, 131, 136, 142, 145 f, 156, 159, 165, 175, 213 ff, 219, 271, 274, 293, 301, 306 ff, 317 ff, 328 Schreibentwicklung 19, 89, 96, 215, 246, 310 Schreibförderung 215 f, 245, 256 Schreibforschung 65, 67 ff, 74, 78, 82, 91, 94 f, 111 ff, 117, 121 ff, 145, 153, 157,
Index
165, 173, 178, 183, 189, 214, 221, 234, 243 f, 247, 249 f, 252, 256, 274, 281, 286, 288, 301, 306, 308 ff, 317 ff Schreibgespräch 218, 220 Schreibhandeln 14, 57, 96 f, 104, 161 f, 190, 212, 231 Schreibinstrument 133, 197 Schreibintensive Lehre 17, 310 Schreibinteraktion 220 f Schreibkompetenz 10, 68, 70, 99 ff, 132, 153, 158, 244, 252, 255, 266, 270, 286, 292, 301, 320, 329 Schreibkultur 11, 15, 69, 145, 153, 166, 329 Schreibkurs 91, 98 f, 291 Schreibort 290, 311 Schreibpraxis 9 f, 70, 265 Schreibpraktiken 31 ff, 40 f, 130, 145 Schreibprobleme 96, 117 f Schreibprodukt 49, 57, 104, 132, 186, 216, 248, 267 f Schreibprogramm 42, 135 Schreibprozess 116, 120 ff, 132 f, 145, 153 f, 157 f, 162 f, 176 ff, 186, 196 ff, 213, 216, 220 f, 228, 237, 245 ff, 266 ff, 293, 301, 307, 310 Schreibprozessdidaktik 217 ff Schreibprozessforschung 33, 55, 95, 177, 196, 199, 206 f, 228, 252 Schreibsoftware 133, 138, 143 f Schreibszene, Schreib-Szene 195 ff, 202 ff Schreibunterstützung 99 Schreibwerkzeug 60, 129, 134, 145, 293 Schreibzentrum(s) 9, 13, 16, 25–27, 35–36, 38–39, 41–42, 56, 58, 89–97, 99–100, 102–104, 112f, 123–124, 157, 162, 270, 286, 288, 290f, 297, 301-303, 304-306, 312, 317 arbeit 11, 15, 34, 55, 89 ff, 124, 320, 322, 324 f forschung 14, 50, 55, 58, 92, 124, 230 f, 320 Schrift 18, 134, 174, 177 ff, 195, 197, 199, 287
335
schriftlich, Schriftlichkeit 28, 40, 92, 102, 113, 126, 154, 174, 178 f, 182,190, 228, 232, 247, 266 f, 305 Second language writing 90 Selbstlernmaterial 98, 100 semiotisch 173, 175, 177 ff, 183, 185, 188, (kultur~) 229, (inter~) 232 Situiertheit 230 Sozialisation 153, 176, 269 Soziologie (Wissenschafts-) 9, 13, 25 f, 70, 227, 230, 234, 310 Special Interest Group (SIG) 90, 297, 303, 306, 307, 308, 317, 319 Sprachhandeln (sprachliches Handeln) 155, 173, 179 Sprach(en)didaktik (Zweit-/Fremd-) 13, 92, 156, 174, 213 f, 230 (Sprach-)Kultur 74 ff, 79 ff Sprachlichkeit 41, 197 f, 240 Sprachraum deutscher ~ 95, 155, 255, 281, 283, 287, 294 englischer ~ 254 Sprachsensibilität (sprachsensibel) 153 ff, 219 Sprachwissenschaft 9, 11, 26, 75, 165, 174, 178, 185, 188 ff, 213, 245, 250, 262, 267, 272, 301 Sprechhandlung 176, 179, 184 f, 190 Strategie Beratungs ~ 96 Kommunikations ~ 82 Mikro ~ 227, 235 f Makro ~ 227, 236 f Schreib(prozess) ~ 18, 26, 57, 100, 138, 164 f, 213, 253, 266, 290 training 252 Text(produktions) ~ 78, 103, 233 Übersetzungs ~ 228, 234 ff
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Index
T Technische Wissenschaften (siehe Ingenieurswissenschaften) 9, 11, 17 Technische Kommunikation 230, 263 Technisches Schreiben 134, 261 ff Terminologie 14 f, 17, 19, 75 bildung 14 lehre 230 Textanalyse 59, 61, 140 f, 183, 185, 218, 254 f, 310 Textdistribution 97, 104, 268 Textform 218 ff Textgenese 57, 195 f, 207 f Textkompetenz 100, 155f, 161, 218 Textproduktion 19, 79, 81, 94, 96 ff, 103, 137 ff, 154 ff, 217, 227 ff, 247 Textprozedur 156, 181, 216, 218 f Textqualität 17, 96, 132, 145, 174, 217, 251 ff Textroutine 142, 145, 156, 181 Textsorte(n) 40, 73 ff, 77, 82, 96, 101 f,183, 261, 263, 266 ff kompetenz 78 f konvention 69, 72 modell 74, 81 wissen 68, 102 Textverarbeitungsprogramm 133 ff, 249 Theatralität 197 f, 203 Theorie(n) 13, 15 ff, 17, 26f, 30 ff, 36, 41, 70 f, 145, 185, 213 f, 221, 228, 323, 325 Theorie(n)bildung 15, 49, 51, 62, 92, 129, 229 f, 256 Transdisziplin 13 f Transdisziplinarität, transdisziplinär 16, 20, 189, 234, 238, 293 Transfer (Wissen, Kompetenz, SchuleStudium, Studium-Berufsfeld) 28, 81, 96, 102, 103, 183, 187, 220, 238 prozess 81, 220 stau 103 text 101 verlust 99
Transition (Schule und Universität) 219, 222 Transkultur, transkulturell 65, 68, 71 f, 80, 310, 327 Transkulturalität 71f, 74 Translation 229, 232 f Translationswissenschaft (siehe Übersetzungswissenschaft) 9, 13, 50, 165, 229 f, 310 U Überarbeiten, Überarbeitung 54, 96, 139, 196, 202, 204, 220, 246, 248, 250, 293, 320, 324, 334 Übersetzen 18 f, 48, 53, 228 ff Übersetzungswissenschaft (siehe Trans lationswissenschaft) 11, 227 ff Übersetzungs prozess(forschung) 53 f, 228, 231 ff tools 139 verfahren 236 Untersuchungsdesign siehe Forschungsdesign V Verein 124, 281, 284 ff, 294, 297 ff, 318 ff
W WAC/Writing-Across-the-Curriculum 5, 30, 90, 91, 270, 302 Web 2.0 135 ff WID/ Writing-in-the-Disciplines 30, 270 Wirkungsforschung 94, 104 Wissenschaftlicher Artikel 80, 188 Wissenschaftssprache 65, 67 f, 155 f, 159, 163, 181, 293, 322 Wissenschaftssprachkomparatistik 18, 188 ff Wissensproduktion 35, 40, 79 Work/Life-Balance 311
Index
Writing across the curriculum 90 f, 270, 302 Analytics 129, 139 ff, 145 Centre 53, 89 Center Research 55 f Fellows 98, 100 f, 303 in the disciplines 90, 270, 286 Laboratory 91 Studies 30 to Learn 126, 133, 230 Z Zeitschrift für interdisziplinäre Schreib forschung (Zisch) 96 Zweitsprache 11, 57, 156, 177, 214, 217, 310
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